Vergängliches und Zukünftiges im Futurismus

Autor(en): Giedion-Welcker, Carola

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Das Werk : Architektur und Kunst = L'oeuvre : architecture et art

Band (Jahr): 37 (1950)

Heft 11: Wohnmöglichkeiten für Alleinstehende

PDF erstellt am: 28.09.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-29081

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Carlo Carrä, Bildnis des Dichters F.T. Marinetti, 1910. Sammlung Benedetta Marinetti, Rom / Portrait du poete F.T. Marinetti / Portrait of the Poet F.T.Marinetti Photo: Giacometti, Venedig

Vergängliches und Zukünftiges im Futurismus

Von Carola Giedion-Welcker

/. Theorien: Zeitkritik und Neuformutig relle Hevolte und neuen Aufbaugedanken sich bald auch die bildenden Künstler anschlössen. Der Futurismus gehört chronologisch an die Spitze jener «Ismen», die als Revolten und Glaubensbekenntnisse Im Februar 190g erschien in Paris im «Figaro» das im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts sich erste futuristische Manifest von Marinetti, durchsetzt seismographisch abzeichneten. Im Grunde erwuchsen sie von anarchistischer Auflehnung, individuellen aus Gewissenskrisen, aus dem Bedürfnis, der eigenen Freiheitsansprüchen und erfüllt von schäumender Generations- und Zeitsituation gerecht zu werden. Vergangenheitsverachtung. Gleichzeitig war aber auch ein Dichter wurden nun häufig zu Anregern, Interpreten anderer Ton vernehmbar, eine begeisterte und Wortführern der Maler-Ideologien. Zuerst war es Zukunftsgläubigkeit und eine kühne Sprungbereitschaft, sich Guillaume Apollinaire in Paris, der den Kubismus auf ein ganz neues Abenteuer einzulassen: aus einem vertrat; in Italien war es der Dichter F.T. Marinetti, der stimulierenden Gegenwartsbewußtsein heraus Geist in Mailand eine Gruppe junger Dichter zu geistigem und Gesicht der eigenen Zeit künstlerisch zu prägen. Zusammenschluß (La Poesia) anregte, an deren kultu¬

345 m z -r.'.iv #/a m Das nächste, von (Rom), Umberto v Boccioni, Carlo Carrä und Luigi Bussolo 'Mailand) verfaßte Manifest, dem auch der in Paris lebende Gino dei A, Severini beitrat, «II manifesto pittori futuristi» '1910), zeigt schon weniger Aggression und betont && stärker das aufbauende Programm, durch das Gehalt und Gestalt einer neuen Malerei umrissen werden sollte. i Man spürt hier vor allem die klare Kraft und das sensible Zeit gewissen Boccionis, jenes großen Künstlers, der als Maler und vielleicht noch stärker als Bildhauer ** — gerade als Plastiker kann nur eine gesonderte Betrachtung ihn gebührend herausheben — jenes erwachende junge Italien vertrat. Als entscheidender Punkt: , Die Stadt steigt auf, 1909/1910. Galleria d'Arte freie Schöpfung anstatt sklavischer Nachahmung, eine Moderna, Rom/ La ville monte /The rising City Photo: Giacometti, Venedig Formulierung, wie sie ähnlich auch Apollinaire in seinen «Peintres cubistes» bringt. Besonders hervorstechend wieder der neue Schönheitsbegriff des Dynamischen, Es wäre falsch, nur Eitelkeit und Bluff aus diesen oft der sich aus der Tyrannei der «armonia» und des allzu pompösen Zukunftsfanfaren und radikalen «buon gusto» befreit und bis ins «anti-grazioso» und Vergangenheit sbilanzen herauszuhören. Wenn der junge Groteske vordringt. Das Thema soll aus Gegenwart Italiener von 1909 Erstickungsangst bekam vor der und Alltag kommen, «rendere e magnificare la vita Überfülle von gesicherter Schönheit, die ihn umgab, in odierna incessantemente e tumultuosamente trasfor- Originalen und Gipsabgüssen, und wenn er sich durch mata dalla scienza vittoriosa». Die Komposition soll das historische Erbe der Museen und den Kodex der aus dem Komplementarismus von Farbe und Form, Akademien in seinen persönlichen Außerungsrechten polyphon wie die Musik, wachsen. Nicht mehr ein Moment dem Sinne bedroht fühlte, so kam jener überdosierte Vergangenheitsprotest aus universalen Bewegungsspiel im immerhin aus einem gesund empfindenden des Impressionismus ist zu fixieren, sondern um «dynamische Gegcnwartsbewußtsein. Man ging allerdings radikal Bewegtheit an sich» geht es nun. Jener Divisionismus, vor: die Nike von Samothrake wurde entthront, um der der einst nur die Farbe ergriff, hat jetzt auch dynamischen Schönheit des Autos, einer «bellczza della die Form erfaßt, die, durch Licht und Bewegung velocitä», Platz zu machen. Da Kampf und Spannung aufgesplittert, alle körperliche Konsistenz aufgibt und von nun Leben bedeuteten, wurde auch der Krieg verherrlicht einem neuen Lebenstempo erfüllt ist. als «sola igienc del mondo». Überall war aus Szenen dem Dasein Straßen frechen Phrasen Auflehnung gegen bürgerliche Behaglichkeit, Alle jene aus täglichen auf Salonmuff mit seinen gemalten Aktidyllen und und Bahnhöfen, in Fahrzeugen, Restaurants, Dancings Bric-ä-Brac-Intimitäten spürbar. und Bars, die der Impressionismus in flimmerndem Farbglanz herausgeschält hatte, werden nun von einer ganz anderen Dynamik ergriffen, in ein bewegtes Spiel von Formelementen oder in ein großes Fluten tausendfältiger elastischer und transparenter Zellen verwandelt. Umberto Boccioni, Simultane Vision durch das Fenster, 1911. Privatbesitz, Die Stadt in ihrer vielfältigen Bewegtheit interessiert, Rom I Vision simultanie par la fenetre / Simultaneous vision als Beziehungsspiel zwischen Menschen, Straßen, Häusern through the window Photo: Cahiers d'Art und Vehikeln, als großer Komplex von architektonischen Innen- und Außenräumen, mit taghell durchstrahlendem und nächtlich phosphoreszierendem Licht, &* liier liegt das große Erlebnis, das zum dramatischen, '.' I lyrischen und burlesken Thema des Futurismus wird. '4 Das Idyll und Genrebild des offiziellen Geschmackes in lM v % Italien konnte kein stärkeres Gegenspiel erfahren. 'i- 1 Abseits von der italienischen Publikumsgunst jedoch standen \ I die Werke des französischen Impressionismus und Nachimpressionismus, denen sich eine kleine Zahl der tf älteren Künstler angeschlossen hatten, wegweisend und aufmunternd für die Jungen.

//. Die fünfführenden Maler in i/iren Hauptwerken und Malmethoden

« Für den aus Beggio di Calabria stammenden Umberto Boccioni wurde neben Previati und allem I Segantini vor 34G Hl T. s.

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Umberto Boccioni, Gemütszustände II, Die Wegfahrenden, 1911. Museum of Modern Art, New York / Etats d'iime II, Ceux qui s'en vont / Moods II, Those who are going away Photo: Giacometti, Venedig

der Plastiker, Zeichner und Maler Medardo Rosso zum ren in Smoking, die mit und ohne Kopf (wie bei Chagall) Ausgang einer entwicklungsfähigen, neuen künstlerischen eine lachende Frauenfigur umlagern, dringen Welt. Aus dem Frühwerk Boccionis, Landschaften, Fragmente der Außenwelt und diagonale Lichtstrahlen in Frauenporträts und Vorstadtbildern der Jahre den Baum. Innen und Außen, internes und externes i 906 bis 1 909, entwickelt sich der Versuch, impressionistische Geschehen sind eins geworden, ebenso wie Gegenwarts- Malweise mit Ideologischem zu durchsetzen. sensation und Erinnerungsvision. (Abbildung siehe In seinem Bilde «La cittä sale» («Die Stadt steigt auf», WERK, März 19(8, S. 82.) 1 909/10), wo riesige Pferdegestalten aus dem Formlosen sich erheben, durchwoben von einer minutiösen Kleinwell Jenes neue Gefühl für Raumdurchdringungen, jener menschlicher Aktivität, wird jene Verwandlung aktive Blick aus dem Fenster mit dem Einsaugen der aus dem organischen Wachstum ins [Mechanische des Außenwelt in das Zimmer hinein erfährt straffe modernen Lebens in hellem impressionistischem Gestaltung in dem Bilde «Visione simultanea dalla finestra» Farbauftrag symbolisch dargestellt. («Simultane Vision durchs Fenster», 191 1). liier verdichtet sich in grandiosem Doppelspiel die Versehwiste- Wieder an eine bestimmte gedankliche Zuspitzung rung der Raumsphären: ein Schlafzimmerstilleben von gebunden, «La Bisata» («Das Gelächter»), nun aber Waschschüssel, Krug und geblümtem Sofa keilt weniger in epischer Ausbreitung, sondern als Sensation, unmittelbar in eine wirbelnde Welt von Straßen, Häusern, die sich schlaghaft auswirkt. Ein humorvoller elan vital Fahrzeugen und Menschen hinein, die allseitig scheint sich allem Dinglichen und Menschlichen in diesem von Lichtkegeln durchgittert werden. Feste vielseitig geöffneten, ins Unabsehbare sich weiter Häuserfassaden schwingen und drehen sieh kinematographisch multiplizierenden Bestaurant mitzuteilen. Klare vor unseren Augen. Bobert Delaunays beinahe gleichzeitige Isolierungen unil Sphärentrennungen sind aufgehoben, um « F.iffelturnibilder» und «Fenetres simultanecs» in transparenter Durchdringung alles in Fluß zu bringen. gehören in diese neue kinetische Erfassung einer städli- Zwischen Tischen, Stühlen, Flaschen und Kavalie¬ schen Aktivität, während dagegen Legers «Paris par la

347 fenetre» (1912) ein festes Beziehungsgefüge ist und Chagalls konstruktionen, umwoben von farbig phosphoreszierenden «Blick durch ein Fenster auf den Eiffelturm» zu Rauchballen, finden sich mit den dahinfließenden einer traumhaft schwebenden Vision wird. Bei Boccioni Linien zu einer neuen Einheit zusammen. Einzig handelt es sich vor allem darum, eine moderne Bauiu- in unerbittlicher Ruhe, innerhalb dieses allgemeinen und Bewegungsrealität mit Phantasie zu umfassen und Fließens und Vorbeiziehens, die abstrakte Zahl, die in diesem Sinne suggestiv zu geben. Sein violett-grünes Nummer der Lokomotive und die rote Signalscheibe. Straßenbild «Le forze di una strada» (« Die Kräfte einer Die Verschwisterung von menschlicher Empfindung Straße», 191 1) bringt das Vielräumliche und Energiegeladene und maschineller Dynamik noch dichter gefaßt im einer Großstadtwelt expressiv zum Bewußtsein: zweiten Bild der Trilogic «Quelli che vanno» («Die durch den Wechsel der Niveauschichtungen Wegfahrenden»), wo hinter einem peitschenden Diago- sowie durch das Richtungs-Divergierende von Menschen nallincament Köpfe traumhaft aufleuchten, mit den und Fahrzeugen, deren schattenhafte Transparenz sich Maschinenteilen des fortrasenden Zuges verwoben. Das auf die Umgebung projiziert und medial durch die Ganze in ein fernes Blau getaucht, während das letzte Dinge hindurchzudringen scheint. Bild, «Quelli che restano» («Die Zurückbleibenden»), vom Hellen ins Grau sickert. Von dieser verhangenen Die Betonung des emotionalen Momentes in der Stimmung getragen, scheinen sich insektenhaft-gro- futuristischen Malerei, das schon in der «Bisata» spürbar teske Menschengestalten langsam zwischen bandartig und auch theoretisch in den Manifesten und Schriften herabfließenden Vertikalstrukturen bildeinwärts zu immer wieder hervorgehoben wird, bedeutet eine der bewegen. Die ersten Entwürfe zu diesen, damals wichtigsten Problemstellungen, die zu verschiedenartigen aufsehenerregenden und später bahnbrechenden Bildern Lösungen führte. Jener psychische Faktor, der in (da sie kühne Manifestationen eines neuen Lebens- und die Kunst eingedrungen war, sollte aber nun jenseits Gestaltungsbewußtseins waren) hatte Boccioni vor seiner aller literarischen Inszenierung (wie in der vorangehenden Pariser Beise (191 1) gezeichnet. In der früheren

naturalistisch dargestellten Gedankenkunst eines Fassung empfindet man noch deutlich die mehr impressio G. F. Watts, auf den sich Boccioni beruft) mit rein nistische Zartheit, sowie das Gespaltene zwischen der bildnerischen Mitteln erreicht werden. In einer Konferenz noch naturalistischen Menschendarstellung und dem im «Circolo artistico» in Rom (191 1) behandelt Boccioni Eindringen eines abstrakt florealen Jugendstillinea- dieses Problem anläßlich seiner Bild-Trilogie, «Gli mentes. Die damalige Begegnung Boccionis mit dem stati d'animo» («Die Gemütszustände», 191 1) betitelt. Kubismus hat sicherlich zur architektonischen Straffung Die elementaren Ausdrucksmittel der Malerei werden und Verdichtung seiner späteren Komposition hier zu direkten Vermittlern des psychischen Gehaltes: beigetragen. Aus peitschendem Linienspiel und müden « Konfuse, hüpfende, gerade oder krumme Linien bedeuten Begensträhnen entwickelt sich hier erst jene lebendige chaotische Gefühlserregungen. Wiederum geben Durchdringung von innerem und äußerem Geschehen, waagrechte, fliehende, eilende, kurzabgesetzte Linien von formaler und geistiger Dynamik*. die aufregende Bewegung wieder. » Mit dieser Interpretation Boccionis fühlt man sich dem «Geistigen in Während Boccioni in Schriften, Vorträgen und in der Kunst» von Kandinsky nahegerückt, jener damals seinem für den Futurismus grundlegenden Buche «Pittura, neuen Kunsttheorie, auf die sich auch Boccioni beruft, scultura futuriste. Dinamismo plastico»** den Kubismus, in der er aber die Einbeziehung der Musik beanstandet, in fanatischer Einseitigkeit, wegen seiner «Statik» ohne dabei die Methodenangleichung Kandinskys richtig fundamental angreift, arbeitet — der sich zu bewerten. Bei Boccioni und den Futuristen bleibt seit 1906 in einem ebenso harten Lebens- und Kunstkampf aber die Darstellung des Emotionalen vielfach bewußt in Paris durchschlägt wie seine futuristischen und betont im Gegenständlichen verhaftet, während Freunde in Mailand und Born — in starker Bejahung Kandinsky, völlig losgelöst von diesem, seelische Vibrationen des Kubismus und in engem Kontakt mit Picasso, zu fassen sucht. Ebenfalls spielt vornehmlich das Braque, Leger und Apollinaire. Vom Kubismus erfährt sensationelle Moment im Futurismus eine überwiegende seine Kunst spürbare Straffung in der Einzelform, während Bolle, während man in die profunderen seelischen die Komposition aus dem Architektonisch-Geschichteten Zonen, in denen sich auch Klee bewegte, nicht eindringt. auf das frei Gestikulierende einer vielfältigen und durchgehenden Bewegtheit ihre Akzente Mit «Gli Addii» («Der Abschied», 191 1) setzt die verlegt. Die herumwirbelnden Formfragmente scheinen dreifache Folge Boccionis ein, innerhalb dieser Ausdrucksmittel nur noch rhythmischen Gesetzen zu gehorchen, wie die ein neuer Versuch. Ein abfahrender Zug, der «parole in libertä» in Marinettis poetischer Bevolte jedoch nicht als zusammenhängender Körper in einer auf die evokative Kraft der freien Vokabel zurückgingen sichtbaren Bahnhofshalle existiert wie in Claude Monets und ein neues Beziehungsspiel der Analogien ent- «Gare St-Lazare», einem Bild, das gerade auf die futuristische Severini einen nachhaltigen Jugend (wie schreibt) * Die Bilder wurden in der ersten heftig umstrittenen Bei alles Eindruck machte. Boccioni wirbelt auf futuristischen Ausstellung in Paris bei Bernheim Jeune (1912) in Linien, Kurven und Formfragmenten sowie großen, gezeigt. farbigen Wellen von Blau, Gelb, Rot. Scharfwinklige * * Edizioni futuriste di«Poesia». Milano, Corso Venezia 61, Maschinenstücke, zylindrische Kamine, Teile von Eisen- 1914.

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ßtno Severini, Der Pan-Pan-Tanz im Monico, 1910/1911. Früher Sammlung Borchardt, Berlin j La danse du «Pan-Pan» au Monico j The Pan-Pan dance in the Monico

fachen sollten. Während sich bei Boccioni die Oberflächen erlebnis, das von der modernen Maschine aus bezogen wie elastische Häute dehnten, sehneidet und winkelt wird. Seine eigentliche Domäne wird aber das große bei Severini sich alles in dichterem Gefüge. Die Panorama kollektiver Lebendigkeit, das sich in den Atmosphäre ist weniger dramatisch und energievoll, nächtlichen Tanzlokalen, Bars und Cabarets des sondern sprudelt mehr in spontaner Lebendsfreudig- Montmartre entfaltet: eine zuckende, anonyme Splitterwelt keit. Die erste indirekte Begegnung mit der französischen von Bewegungsstadien, die sich erst als Gesamtrhythmus Kunst empfängt der junge Toskaner im Atelier des Tanzes wieder zusammenfindet. Bei Severini geht Ballas in Rom, wo er auch Boccioni kennenlernt (1901 es heiter, burlesk, ausgelassen zu. Auch etwas von der bis 1903). Balla, der bis 1900 in Paris gelebt hat, vermittelt superioren Ironie der französischen Welt, die ihn den Schülern durch eigene Arbeiten und durch umgibt, dringt in das Klima dieser Werke ein. Wie farbige mitgebrachte Abbildungen jene Welten, die noch fern ab Kaleidoskopbilder erscheinen die aus Einzelbewegungen vom offiziellen Geschmack des damaligen Italien lagen. gefügten Visionen seiner «Modistinnen», schwarzgelb «Das ästhetische Gefühl sensibilisierte sich damals» phosphoreszierenden «Katzen» oder «Ruhelosen — schreibt Severini* — «durch Loslösung von jeglicher Tänzerinnen», die er immer wieder in neuen Naturbeschreibung.» Auch hier wieder bezeichnend der optischen Varianten wirbeln läßt. «La Danza del Pan-Pan Abstand zu allem Imitativen, die Erweiterung der al Monico» (1910-1911), ein großformatiges Bild impressionistischen Malmethode und die tektonische (heute verschollen), ist wohl eine der lebendigsten und Straffung. Auch bei Severini war es die Bewegung der reichsten Kompositionen aus jener ganzen Epoche, wo Großstadt, die ihn inspirierte, «Fahrt im Autobus» in einem dichtgedrängten Fortissimo sich Vitales, (191 2) oder «Metro Nord-Süd» (19 12) sind die bezeichnenden Tolles und Groteskes einer solchen Welt entlädt. Häufig Themen, die er mit malerischer Verve löst: ein werden bei Severini als Wirklichkeitsfragmente und neues, in Wirklichkeitsfragmenten vorbeijagendes Seh- gleichzeitig als Strukturbelebungen Glanzpapiere, Pailletten und Stoffe humorvoll mit eingefügt, wie in den * Gino Severini, «Tutta la vita di un pittore». Edizioni Collagen der Kubisten und in den späteren Dadabildern. Garzanti, 1945.

349 Carlo Carrä, Das Begräbnis des Anarchisten Galli, 1908-11. Museum of Modern jirt, New York / Les funerailles de l'anarchiste Galli / Th Burial of Galli, the Anarchist Photo: Giacometti, Venedii

Carlo Cariä, der Norditaliener, wie Severini aus Farbe stimmungsvermittelnd. Die bekannte «Rüttelnde Handwerkerkreisen kommend, hat ebenfalls vom französischen Droschke» («Sobbalzi di carrozella», 191 1), wo die Impressionismus nnd Kubismus entscheidende Sensation des Fahrenden und gleichzeitig die des Anregungen empfangen. Um die Jahrhundertwende in Zuschauenden als Innen- und Außensituation zusammengefaßt Paris tätig, dann als Kritiker und Maler in Mailand, erscheinen soll, ist vornehmlich ein kühnes Zeit- arbeitet er von 1906—1908 in der Accademia della kuriosum, während die «Galleria di Milano» (1912), Brera und lernt 190g in literarischen Kreisen Marinetti eine transparente Komposition aus tonigen Formfugen, kennen, der ihn mit Boccioni und Bussolo zusammenführt. den kubistischen Vertikalschichtungen aus jener Zeit Carrä ist vielleicht der Behutsamste unter den nahesteht. Auch hier eine mehr schwebende als Futuristen. Er besitzt am wenigsten von jenem con brio stürmische Durchdringung von Glaskuppeln, Architekturteilen und vivace der andern. Seine Töne sind meist gedämpft, und Reklameschildern. Innerhalb der verschiedenartigen seine Rhythmen verhalten. Er ist ein mehr lyrisches futuristischen Bildnissen bedeutet Carräs «Porträt Temperament. Nur in seinem Frühwerk «I funcrali Marinettis» (19 1 2) einen der interessanten Beiträge, dell'anarchico Galli» («Begräbnis des Anarchisten Galli», wo impressionistische Zartheit und straffe Tektonik 1908-1911), das zugleich ein persönliches Erlebnis zu malerisch-poetischer Aussage vereinigt werden. Die enthält*, spricht eine betonte Dynamik aus den sitzende Gestalt des Dichters wird großzügig eingefaßt bewegten Silhouetten von Figuren und Fahnen, und überblendet von transparenten Vertikal- und Lichtgittern und Strahlen — «questo ribollimento e turbinc Horizontalscheiben. di forme c di luci sonore» nennt es Carrä —. Die Komposition ist reich orchestriert und die dumpfe rot-braune Innerhalb jener gemeinsamen Bewegimgsckstase der futuristischen Maler im Sinne eines «trascendentalismo * Carlo Carrä, «La mia vita». Rizzoli Editore, Mifano 1945. fisico» zeichnet sich der Beitrag Luigi Russolos eharak-

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Luigi Russolo, Durchdringung von Häusern+Licht Himmel, 1913. Öffentliche Kunstsammlung, Basel / Inter- penetration: Maisons-Ciel-Lumiere / Interpenetration of houses+ light±sky

teristisch ab. Eine gewisse mysteriöse und nervöse keit beobachteten und projizierten Armbewegungen des Spannung dringt in seine Interpretation jener «nuove Spielenden, die wie aneinandergereihte Momentaufnahmen terribilitä del mondo moderno ereato dalla scicnza» ein. wirkten. Die künstlerische Gestaltung einer Von den Freunden als melancholischer, nach innen solchen «Serien-Motion» erscheint voll entfaltet und als gewandter Typ geschildert - er war ursprünglich Musiker Hauptmotiv in «Biassunto plastico dei movimenti di romantischen —, schien er zunächst am stärksten einem una Donna» (191 1), ähnlich wie in Marcel Duehamps Symbolismus und einer jugendstilhaften «Nu descendant un escalier» (1912) oder in Klees Ausdrucksweise verhaftet zu sein. Sein erinnerungsverfolgter «Laufender» (1925), wo Bewegung als gleichzeitige, Nachtwandler «Riccordo di una Notte» (1910) ist incinandergestaffelte Volumen-Facettierung (Simul- von Dämonie überschattet, in einem Spiel von visionären taneitä) erfaßt wird. Bussolo geht auch an das Phänomen Überblendungen aus Erinnerung und Gegenwart der räumlichen Durchdringung heran und erreicht verwoben. Hier werden zeitliche Durchdringungen hier eine Einfachheit von gleichnishafter Prägung, wie optisch zur Erscheinung gebracht, wie es innerhalb der in seinem nächtlich phosphoreszierenden Straßenbild literarischen Gestaltung durch den «inneren Monolog» «C.onipenctrazionc di case + luce + cielo» (igi3). Im sprachlich unternommen wurde. Die allegorisch-figu- Gegensatz zu Boccionis Gestaltung des gleichen Themas rale Komposition «La Musica» (1914) ist als sind hier weder Menschen noch Maschinen sichtbar, großzügige Raumumspannung komponiert, als akustisches sondern nur ein großes bogenhaftes Konvergieren von Schwingungsreich in violett-blauer mystischer Ilauserfassaden und Lichtern, die sich zu transparenten Farbgebung. Aus diesem Geistesklima wächst auch die Raumhöhlen wölben und in ferne Horizonte öffnen. Sehattengestalt des Musikers, der aus dem Bild heraus- Jene phantastischen Licht- und Schattenwelten, wie sie /uragen scheint. Jenseits dieser jugendstilhaften von Autoscheinwerfern ins Leben gerufen werden, haben Symbolisierung aber die mit wissenschaftlicher Eindringlich¬ hier ihre künstlerische Transformation erfahren. Giacomo Balla, der in Rom lebende Piemontese, heute rausche und ihrer Instrumentierung, wie er es schon ein beinahe 8o-Jährigcr, hat sich schon in der Jugend igi3 in seinem «Manifesto dell'arte dei rumori» mit der mathematischen Phantastik von Guarino Gua- entwickelt hatte. Einzig Balla arbeitete weiter in der rinis sublimer Raumkunst auseinandergesetzt und in eingeschlagenen Biehtung. In seiner stilleren Tonart seiner Heimatstadt Turin diese Welt kühnster schreibt er während des Krieges 1 g 1 5 : « Nous futuristes architektonischer Imagination erlebt. Vom Divisionismus desirons realiser cette fusion totale, afin de reconstruire ausgehend, entwickelt er sich immer mehr in der Richtung l'univers en lui infusant la joie, c'est ä dire en la re- einer suggestiven vereinfachten Bewegungsdarstellung creant integralement. A l'invisible, ä Pimpalpable, ä auf geometrischer Basis. Das kilometerfressende l'imponderable nous donnerons un squelette et une Auto und die kollektiv-gestikulierende Großstadt chair. Nous decouvrirons des equivalents abstraits versinken als Motiv hinter der reinen Darstellung des pour toutes les formes et pour les elements de l'univers Dynamischen, jener «velocitä astratta» (igi3). Aus einem ...» minutiösen, in seine einzelnen Bewegungsphasen zerlegten und aneinander «Volo gereihten Schwalbenflug IV. Die Nachfolger di Bondini» (191 3) wächst ein polyphones Licht- und Schattenspiel der Formen, von poetischer Sensibilität Bei den Nachfolgern, die sowohl auf ideologischem wie und Suggestionskraft als «linee andamentali e sticces- auf künstlerischem Gebiete neue Akzente und Stilisierungen sioni dinamiche». Es ist eine Verdichtung und einführten, versank der echte psychische Impetus Subliniierung des Motorischen, das schon in früheren Bildern, des Anfangs immer mehr. Ihre «» die noch an bestimmte Themen gebunden waren, brachte lediglich eine veränderte reale Situation für einsetzt, wie in jenem «Cane al guinzaglio» («Hund an der eine neue Perspektive, die aber der imaginativen Kraft Leine», 1912), wo in zappelnder Vielfüßigkeit das Tier und der humanen Note entbehrte, die sich bei der älteren neben seiner fragmentarischen Herrin humorvoll daher- Generation schon zu einer weit phantastischeren rennt, während die in Schwung geratene Schnur sich in liealität des modernen Lebens aus Balkon- oder Fenstervisionen ein silbernes Bewegungsnetz verwandelt hat. Unsere bildnerisch verdichtet hatte. kinogewöhnten Augen empfinden zwar solche dynamischen Beibringen schon als selbstverständlich; damals Dekorative Glätte und technische Verhärtung gingen aber zeugte es von Kühnheit und Können, diese immer mehr Hand in Hand mit der aggressiven Phraseologie Probleme künstlerisch zu entfalten und poetisch zu gestalten. des aufblühenden Faschismus. Zu den wenigen, Auch Balla hat jenseits der faßbaren Welt in die innerhalb einer poetischen Abstraktion gestalteten, einfachen Linien, Flächen und Farbspannungen die gehört ebenso wie Gerardo Dottori, Darstellung seelischer Zustände gestaltet wie in seinem Tato und Benedetta. Heute hat sieh auch Severini Bild «Forme di stato d'animo» (1914) nnd vielen zu einer sensiblen, rhythmisch-flächigen Gliederung anderen graphischen und farbigen Projektionen inneren abstrakter Formen hingewandt («Pavillon de laMusico- Lebens. In dieser elementaren Sprache der Zeichen und logic», Universität Frvburg). Farben nähert auch er sich der Kunst Kandinskvs, seines den Generationsgenossen. Unter Futuristen V. Das Urteil der Zeitgenossen scheint er sogar am weitesten in diesem Sinne vorgedrungen, wenn auch seine Kampfgenossen aus jenen Die futuristischen Ausstellungen, die seit 1912 (Bernheim entscheidenden fünf Jahren sich alle in dieser Richtung Jeune, Paris) durch die Hauptstädte Europas der abstrakten Gestaltung geäußert haben. reisten, Diskussionen und Skandale erregten, hatten, neben vielfacher Ablehnung durch das Publikum, die entscheidenden Persönlichkeiten, die mit der modernen ///. Ausklang der Bewegung Bewegung kämpften, auf ihrer Seite. Apollinaire sah Boccioni starb im Kriege 1 9 1 6, im gleichen Jahre, als vom strengkubistischen Standpunkt aus zwar Gefahren Franz Marc fiel, dessen Kunst von ihm starke Anregungen des Literarischen, setzte sich aber manifestartig in der empfangen hatte. Mit dem Tod des 34-Jährigen «Antitradizione Futurista» (igi3) für ihre Grundideen hatte die Bewegung ihren inspirierenden Geist und und Methoden ein. In Deutschland hatten sie im Kreis Vorkämpfer verloren. Carrä war schon igi5 zu einer neuen um Herwarth Waiden und in seiner «Sturm»-Galerie, Malphilosophie und Gestaltungsweise, der «Pittura in der sie gezeigt wurden (1912), einen entscheidenden metafisica», im engen Anschluß an Chirico übergegangen, Erfolg und Einfluß auf die expressionistischen Maler während Severini die Biehtung des Neoklassizis- (z. B. Franz Marc) und Dichter. Nach den Ausstellungen mus im Sinne einer neuen Körperverfestigung einschlug, und Diskussionen in der , London wie sie auch Picasso damals vollzog. Außer sublimen, (1912), wurden in den avantgardistischen englischen graphischen Kriegserinnerungen, die Bussolo* Zeitschriften, wie in «Blast» — von dem bekannten heimbrachte, versinkt er nachher in die Probleme einer Maler-Dichter geleitet -, mit einem neuen musikalischen Gestaltung der Großstadtgc- Gemisch von Ironie und Anerkennung ihre Ideen und künstlerischen Methoden behandelt. Das Werk Ballas * Russolo starb 1947 zweiundsechzigjährig in Cerro di in seiner abstrakten Sprache erfuhr am meisten Laveno. Bewunderung. «Kann nicht Marinetti, sensibel und energisch

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> W*% % 'iacomo Balla, Schwalbenflug, Linienzüge und dynamischer Ablauf, 1913. Museum of Modern Art, New York j Vol d'hirondelles. Trajectoires et iquences dynamiques / Flight of swallows and their dynamic linear sequence

wie er ist, seine Sentimentalität für Automobile und psychischen Vitalität in die moderne Kunst, die vorher Aeroplane beiseite lassen und seinem Freund Balla in in der offiziellen Malerei nur als Ideologie ihr die reineren Regionen der Kunst folgen?» heißt es da. aufgepfropft worden war. Aus diesen beiden Faktoren, der In Italien zählt der bekannte Kunsthistoriker Boberto konstruktiven Straffung und der psychischen Entflammung, Longhi, der gleich am Anfang auf die Seite der Futuristen strömten entscheidende Anregungen auf die weitere trat, die Skulpturen Boccionis — die eine gesonderte Entwicklung der modernen Kunst, die sich dann Betrachtung verdienen — zu den großen italienischen später, im Konstruktivismus und Surrealismus, zu Leistungen aller Jahrhunderte, wie der Dichter speziellen Ausdrucksmethoden verdichteten. Papini und der Maler Soffici die Neuheit der futuristischen Vision und die Einsatzbereitschaft ihrer Vertreter Wenn Boccioni 1910 sein erstes Manifest mit den Worten einer diffamierenden Pressecampagne entgegenhielten. beschloß: «Voi ci credete pazzi. Noi siamo invece i primitivi di una nuova sensibilitä conipletamenle tras- Heute, nach vierzig Jahren, erscheinen vor allem zwei formata» — «Ihr haltet uns für Wahnsinnige; wir Momente dieser vielspurigen Bewegung entscheidend hingegen sind die Primitiven einer neuen, völlig verwandelten

und weiter wirkend: zunächst die künstlerische Sensibilität» —, so hatte er damit Situation und Verwandlung eines statischen Weltbildes in ein dynamisches, Ziel richtig umrissen. wodurch auch die Einzelform in ein neues bewegtes Spiel der Formrelationen einbezogen wurde. Dann als ebenso Das Zureiter Kunsthaus zeigt vom ./. November bis wichtig: die expressive Bestrahlung und Umgestaltung 1 J.Dezember i[)5o eine Ausstellung «.Italienische Futuristen der Form durch die Emotion, das Eindringen einer und Pittura metafisica».

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