Vergängliches Und Zukünftiges Im Futurismus
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Vergängliches und Zukünftiges im Futurismus Autor(en): Giedion-Welcker, Carola Objekttyp: Article Zeitschrift: Das Werk : Architektur und Kunst = L'oeuvre : architecture et art Band (Jahr): 37 (1950) Heft 11: Wohnmöglichkeiten für Alleinstehende PDF erstellt am: 28.09.2021 Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-29081 Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. 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Theorien: Zeitkritik und Neuformutig relle Hevolte und neuen Aufbaugedanken sich bald auch die bildenden Künstler anschlössen. Der Futurismus gehört chronologisch an die Spitze jener «Ismen», die als Revolten und Glaubensbekenntnisse Im Februar 190g erschien in Paris im «Figaro» das im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts sich erste futuristische Manifest von Marinetti, durchsetzt seismographisch abzeichneten. Im Grunde erwuchsen sie von anarchistischer Auflehnung, individuellen aus Gewissenskrisen, aus dem Bedürfnis, der eigenen Freiheitsansprüchen und erfüllt von schäumender Generations- und Zeitsituation gerecht zu werden. Vergangenheitsverachtung. Gleichzeitig war aber auch ein Dichter wurden nun häufig zu Anregern, Interpreten anderer Ton vernehmbar, eine begeisterte und Wortführern der Maler-Ideologien. Zuerst war es Zukunftsgläubigkeit und eine kühne Sprungbereitschaft, sich Guillaume Apollinaire in Paris, der den Kubismus auf ein ganz neues Abenteuer einzulassen: aus einem vertrat; in Italien war es der Dichter F.T. Marinetti, der stimulierenden Gegenwartsbewußtsein heraus Geist in Mailand eine Gruppe junger Dichter zu geistigem und Gesicht der eigenen Zeit künstlerisch zu prägen. Zusammenschluß (La Poesia) anregte, an deren kultu¬ 345 m z -r.'.iv #/a m Das nächste, von Giacomo Balla (Rom), Umberto v Boccioni, Carlo Carrä und Luigi Bussolo 'Mailand) verfaßte Manifest, dem auch der in Paris lebende Gino dei A, Severini beitrat, «II manifesto pittori futuristi» '1910), zeigt schon weniger Aggression und betont && stärker das aufbauende Programm, durch das Gehalt und Gestalt einer neuen Malerei umrissen werden sollte. i Man spürt hier vor allem die klare Kraft und das sensible Zeit gewissen Boccionis, jenes großen Künstlers, der als Maler und vielleicht noch stärker als Bildhauer ** — gerade als Plastiker kann nur eine gesonderte Betrachtung ihn gebührend herausheben — jenes erwachende junge Italien vertrat. Als entscheidender Punkt: Umberto Boccioni, Die Stadt steigt auf, 1909/1910. Galleria d'Arte freie Schöpfung anstatt sklavischer Nachahmung, eine Moderna, Rom/ La ville monte /The rising City Photo: Giacometti, Venedig Formulierung, wie sie ähnlich auch Apollinaire in seinen «Peintres cubistes» bringt. Besonders hervorstechend wieder der neue Schönheitsbegriff des Dynamischen, Es wäre falsch, nur Eitelkeit und Bluff aus diesen oft der sich aus der Tyrannei der «armonia» und des allzu pompösen Zukunftsfanfaren und radikalen «buon gusto» befreit und bis ins «anti-grazioso» und Vergangenheit sbilanzen herauszuhören. Wenn der junge Groteske vordringt. Das Thema soll aus Gegenwart Italiener von 1909 Erstickungsangst bekam vor der und Alltag kommen, «rendere e magnificare la vita Überfülle von gesicherter Schönheit, die ihn umgab, in odierna incessantemente e tumultuosamente trasfor- Originalen und Gipsabgüssen, und wenn er sich durch mata dalla scienza vittoriosa». Die Komposition soll das historische Erbe der Museen und den Kodex der aus dem Komplementarismus von Farbe und Form, Akademien in seinen persönlichen Außerungsrechten polyphon wie die Musik, wachsen. Nicht mehr ein Moment dem Sinne bedroht fühlte, so kam jener überdosierte Vergangenheitsprotest aus universalen Bewegungsspiel im immerhin aus einem gesund empfindenden des Impressionismus ist zu fixieren, sondern um «dynamische Gegcnwartsbewußtsein. Man ging allerdings radikal Bewegtheit an sich» geht es nun. Jener Divisionismus, vor: die Nike von Samothrake wurde entthront, um der der einst nur die Farbe ergriff, hat jetzt auch dynamischen Schönheit des Autos, einer «bellczza della die Form erfaßt, die, durch Licht und Bewegung velocitä», Platz zu machen. Da Kampf und Spannung aufgesplittert, alle körperliche Konsistenz aufgibt und von nun Leben bedeuteten, wurde auch der Krieg verherrlicht einem neuen Lebenstempo erfüllt ist. als «sola igienc del mondo». Überall war aus Szenen dem Dasein Straßen frechen Phrasen Auflehnung gegen bürgerliche Behaglichkeit, Alle jene aus täglichen auf Salonmuff mit seinen gemalten Aktidyllen und und Bahnhöfen, in Fahrzeugen, Restaurants, Dancings Bric-ä-Brac-Intimitäten spürbar. und Bars, die der Impressionismus in flimmerndem Farbglanz herausgeschält hatte, werden nun von einer ganz anderen Dynamik ergriffen, in ein bewegtes Spiel von Formelementen oder in ein großes Fluten tausendfältiger elastischer und transparenter Zellen verwandelt. Umberto Boccioni, Simultane Vision durch das Fenster, 1911. Privatbesitz, Die Stadt in ihrer vielfältigen Bewegtheit interessiert, Rom I Vision simultanie par la fenetre / Simultaneous vision als Beziehungsspiel zwischen Menschen, Straßen, Häusern through the window Photo: Cahiers d'Art und Vehikeln, als großer Komplex von architektonischen Innen- und Außenräumen, mit taghell durchstrahlendem und nächtlich phosphoreszierendem Licht, &* liier liegt das große Erlebnis, das zum dramatischen, '.' I lyrischen und burlesken Thema des Futurismus wird. '4 Das Idyll und Genrebild des offiziellen Geschmackes in lM v % Italien konnte kein stärkeres Gegenspiel erfahren. 'i- 1 Abseits von der italienischen Publikumsgunst jedoch standen \ I die Werke des französischen Impressionismus und Nachimpressionismus, denen sich eine kleine Zahl der tf älteren Künstler angeschlossen hatten, wegweisend und aufmunternd für die Jungen. //. Die fünfführenden Maler in i/iren Hauptwerken und Malmethoden « Für den aus Beggio di Calabria stammenden Umberto Boccioni wurde neben Previati und allem I Segantini vor 34G Hl T. s. ****. - ac a t hy'i E £d .>¦ Umberto Boccioni, Gemütszustände II, Die Wegfahrenden, 1911. Museum of Modern Art, New York / Etats d'iime II, Ceux qui s'en vont / Moods II, Those who are going away Photo: Giacometti, Venedig der Plastiker, Zeichner und Maler Medardo Rosso zum ren in Smoking, die mit und ohne Kopf (wie bei Chagall) Ausgang einer entwicklungsfähigen, neuen künstlerischen eine lachende Frauenfigur umlagern, dringen Welt. Aus dem Frühwerk Boccionis, Landschaften, Fragmente der Außenwelt und diagonale Lichtstrahlen in Frauenporträts und Vorstadtbildern der Jahre den Baum. Innen und Außen, internes und externes i 906 bis 1 909, entwickelt sich der Versuch, impressionistische Geschehen sind eins geworden, ebenso wie Gegenwarts- Malweise mit Ideologischem zu durchsetzen. sensation und Erinnerungsvision. (Abbildung siehe In seinem Bilde «La cittä sale» («Die Stadt steigt auf», WERK, März 19(8, S. 82.) 1 909/10), wo riesige Pferdegestalten aus dem Formlosen sich erheben, durchwoben von einer minutiösen Kleinwell Jenes neue Gefühl für Raumdurchdringungen, jener menschlicher Aktivität, wird jene Verwandlung aktive Blick aus dem Fenster mit dem Einsaugen der aus dem organischen Wachstum ins [Mechanische des Außenwelt in das Zimmer hinein erfährt straffe modernen Lebens in hellem impressionistischem Gestaltung in dem Bilde «Visione simultanea dalla finestra» Farbauftrag symbolisch dargestellt. («Simultane Vision durchs Fenster», 191 1). liier verdichtet sich in grandiosem Doppelspiel die Versehwiste- Wieder an eine bestimmte gedankliche Zuspitzung rung der Raumsphären: ein Schlafzimmerstilleben von gebunden, «La Bisata» («Das Gelächter»), nun aber Waschschüssel, Krug und geblümtem Sofa keilt weniger in epischer Ausbreitung, sondern als Sensation, unmittelbar in eine wirbelnde Welt von Straßen, Häusern, die sich schlaghaft auswirkt. Ein humorvoller elan vital Fahrzeugen und Menschen hinein, die allseitig scheint sich allem Dinglichen und Menschlichen in diesem von Lichtkegeln durchgittert werden. Feste vielseitig geöffneten, ins Unabsehbare sich weiter Häuserfassaden schwingen