Thomas Nehrlich Sensationsfund Oder Falsche Fährte? Über Einen „Brief an Kleist“ in Der ‚Berner Ausgabe‘ Von Alexander Von Humboldts „Schriften“

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Thomas Nehrlich Sensationsfund Oder Falsche Fährte? Über Einen „Brief an Kleist“ in Der ‚Berner Ausgabe‘ Von Alexander Von Humboldts „Schriften“ Zeitschrift für Germanistik Neue Folge XXVIII – 3/2018 Herausgeberkollegium Ulrike Vedder (Geschäftsführende Herausgeberin, Berlin) Mark-Georg Dehrmann (Berlin) Alexander Košenina (Hannover) Steffen Martus (Berlin) Gastherausgeberin Anne-Kathrin Reulecke (Graz) Sonderdruck PETER LANG Internationaler Verlag der Wissenschaften Bern · Berlin · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien 604 Neue Materialien THOMAS NEHRLICH Sensationsfund oder falsche Fährte? Über einen „Brief an Kleist“ in der ‚Berner Ausgabe‘ von Alexander von Humboldts „Schriften“ Die Edition von Humboldts Schriften1 macht nächst wird ersichtlich, in wie großer Zahl Hum - nicht nur die zahlreichen Publikationen wieder boldts Briefe zu seinen Lebzeiten in Periodica verfügbar, die seine Zeitgenossen rezipierten. Auf ver öffent licht wurden, ob auf seine Veranlassung der Grundlage seiner nicht in Buchform, son- oder als eigendynamische Zirkulation seines dern ‚unselbständig‘ erschienenen Texte können Ruhms. Außerdem werden Humboldts Publi ka- außerdem seine wissenschaftlichen, literarischen tionsstra tegien nachvollziehbar: Mit einer ganzen und publizistischen Netzwerke rekonstruiert wer- Reihe von Briefen, die er an Redaktionen und Her- 2 den: Humboldts Aufsätze, Artikel und Essays ausgeber in Europa zur Veröffentlichung schick te, sind mit anderen Co-Autoren entstanden als seine konnte er gleich sam ‚live‘ von seiner Amerika- Bücher, so z. B. mit Jean-Baptiste Biot, Jean-Claude Reise 1799–1804 berichten, während er selbst Delamétherie, Antoine François de Fourcroy, Jo- noch unterwegs war. Seine Bekanntheit und die seph Louis Gay-Lussac, Jean-Michel Pro vençal Aufmerksamkeit für seine Expeditionen verdankt und Louis-Nicolas Vauquelin, wodurch die Humboldt zu einem großen Teil diesen Kor respon- Humboldt’sche scientific community insbesondere denz reportagen.4 um frankophone Kollaborationen erweitert wird. Um valide Aussagen über Humboldts Briefnetz- Humboldts Position innerhalb eines weitgespann- werke treffen zu können, müssen die Angaben der ten Gelehrten- und Schriftstellernetzwerks lässt historischen Veröffentlichungen zu Datierung und sich außerdem im Verhältnis zu Autoren situieren, Adressaten überprüft werden. Scheinbar eindeutige zu deren Werken er durch Vorworte, Einleitungen Fälle können sich dabei als irreführend erweisen. und Kapitel beitrug, darunter François Arago, Nachdem Oliver Lubrich den frühesten und den Leopold von Buch, Heinrich Wilhelm Dove, letzten Text des Corpus vorgestellt hat und Michael Friedrich Wilhelm Ghillany, Wilhelm Heine, Strobl Humboldts publizistische Präsenz und Wilhelm von Humboldt, Louise Kotz, Balduin sein öffentliches Engagement am Beispiel seiner Möllhausen, Carl Nebel, Adalbert von Preußen, Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung rekonstruiert Waldemar von Preußen und Robert Hermann hat,5 ist der vorliegende Beitrag als Fallstudie und Schomburgk. Zu Humboldts publizistischen Werkstattbericht der Verifikation eines kuriosen Kontakten gehören zudem die Herausgeber und Beispiels gewidmet: eines vermeintlichen Briefs Verleger von Zeitschriften und Tageszeitungen: Bei von Humboldt an Kleist. Heinrich Berghaus etwa veröffentlichte er u. a. in Bei den Recherchen für die ,Berner Ausgabe‘ den Annalen der Erd­, Völker­ und Staatenkunde, wurde ein Textfund gemacht, der das Potenzial zu bei Johann Friedrich Cotta im Morgenblatt und einer Sensation hätte: Im Magazin für die Literatur in der Allgemeinen Zeitung, bei Lorenz von Crell des Auslandes, herausgegeben von Joseph Lehmann in den Chemische Annalen, bei Ludwig Wilhelm in Leipzig, erschien am 7. Mai 1859, einen Tag Gilbert in den Annalen der Physik und bei Samuel nach Humboldts noch nicht bekannt gewordenem Heinrich Spiker in den Berlinischen Nachrichten Tod, in der Rubrik „Mannigfaltiges“ ein kurzer, von Staats­ und gelehrten Sachen.3 keine 30 Zeilen umfassender Artikel der Redaktion Auch zu Humboldts Kor respondenznetzwerk mit dem Titel Die Politik und die Wissenschaft vor werden nun neue Materialien zugänglich. Zu- sechzig Jahren, nach A. v. Humboldt.6 Der Text © Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVIII (2018), H. 3, S. 604–615 THOMAS NEHRLICH: Über einen „Brief an Kleist“ in A. von Humboldts „Schriften“ 605 spricht zunächst aber nicht von Humboldt, son- Diese unscheinbare Veröffentlichung eines dern von Heinrich von Kleist, von dessen Werken Auszugs aus einem Brief Humboldts an Kleist eine neue Ausgabe angekündigt wird.7 Darin seien wäre eine spektakuläre trouvaille nicht nur für „bisher ungedruckte Briefe berühmter Männer an die Berner Humboldt-Ausgabe, die einen weiteren Kleist“ enthalten, darunter auch einer des legen- prominenten Korrespondenzpartner verzeichnen dären Naturforschers. Den Inhalt dieses Briefs, der könnte. Sie wäre zugleich eine Novität für die auf den 9. April 1798 datiert wird und damit mehr Humboldt- und für die Kleist-Philologie sowie als 60 Jahre zuvor verfasst wurde, gibt der Artikel für die Erforschung literarischer Netzwerke um zunächst zusammenfassend und anschließend in 1800. Bis heute nämlich war keine Verbindung einem längeren Zitat wieder (vgl. Abb. 1). bekannt zwischen Kleist und Humboldt, der acht Humboldt schildert in dem Schreiben, dass er Jahre älter war als der Dichter und ihn um fast nach Paris fahren wolle, um sich von dort auf eine 50 Jahre überlebte. Humboldt hat zeitlebens nicht wissenschaftliche Orientreise zu begeben. Er übt nur mit Forschern, sondern auch mit Schriftstellern deutliche Kritik an Napoleons Ägypten-Feldzug teils enge Bekannt- und Freundschaften gepflegt, (1798–1801), bekennt sich aber emphatisch zum Re - vermittelt zum Teil durch seinen Bruder Wilhelm, publikanismus. Der Brief gibt also, wie der Titel des begünstigt durch seine effektvollen Auftritte in Artikels andeutet, Humboldts politische Haltung Salons10 und unterhalten durch intensiven Brief- zu erkennen. Er ist zudem als autobiographisches verkehr.11 Schon seine erste große Reise, 1790 von Zeugnis von Interesse, weil er Humboldt in einer Mainz über den Niederrhein nach England und ungewissen Zwischenphase vor Augen führt. Nach Paris, unternahm Humboldt zusammen mit dem dem Tod seiner Mutter 1796 quittierte er den Berg - Naturforscher und Reiseschriftsteller Georg Fors- baudienst in Preußen, in dem er eine rasante Kar- ter.12 Aus ihr ging seine erste Monographie hervor: riere bis zum Oberbergrat gemacht hatte, der ihn Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am aber nicht erfüllte. Anschließend vertiefte er seine na- Rhein.13 Goethe und Schiller kannte Humboldt turwissenschaftlichen Kenntnisse in Vor berei tung seit den 1790er Jahren, als er noch preußischer einer Forschungsreise, deren Ziel noch nicht fest- Bergbaubeamter war. In Schillers Horen veröffent- stand. In einem Brief Ende 1796 schrieb Humboldt: lichte er 1795 seinen einzigen fiktionalen Text,14 bevor sich das Verhältnis u. a. durch zwiespältige Meine Reise ist unerschütterlich gewiss. Ich Äußerungen Schillers abkühlte. Nichtsdestotrotz präparire mich noch einige Jahre und sammle stellte Humboldt seinen Ansichten der Natur (1808) Instrumente, ein bis anderthalb Jahr bleibe ich noch nach dessen Tod Verse von Schiller voran.15 in Italien, um mich mit Vulkanen genau be- Goethe war Humboldt bis zu seinem Tod eng kannt zu machen, dann geht es über Paris nach verbunden, sie standen in regem brieflichen Kontakt England, wo ich leicht auch wieder ein Jahr und rezipierten des anderen Veröffent lichungen.16 bleiben könnte […], und dann mit englischem Humboldts botanische und geologische Arbeiten Schiffe nach Westindien.8 waren wichtige Anregungen für Goethe: Humboldt widmete ihm die deutsche Ausgabe seiner pflanzen- In dem im Magazin abgedruckten Brief vom April geographischen Monographie, zu der Goethe eine 1798 erwägt Humboldt hingegen eine „levantini- Zeichnung publizierte,17 und seinen wichtigsten sche[ ] Reise“. Seine Ungeduld ist spürbar: „[I]ch vulkanologischen Aufsatz, den Goethe in seinem selbst aber fühle mich in allem Thun so gehindert, Faust II produktiv ver arbeitete.18 Daneben war daß ich täglich ein Vierzig Jahr früher oder später Hum boldt mit Lichtenberg, Mendelssohn und Au- gelebt zu haben wünschte.“ Dass Napoleons Krieg gust Wilhelm Schlegel im Austausch, später inten - in Ägypten seinen Reiseplänen tatsächlich einen siv mit Varnhagen von Ense.19 Und während seiner Strich durch die Rechnung machen wird, weil sein Zeit in Paris pflegte er auch dort enge Kontakte französischer Reisebegleiter Aimé Bonpland nicht zu Schriftstellern, u. a. zu Léonie d’Aunet-Biard, in die Region einreisen darf, und dass er ab 1799 François-René de Chateaubriand, Louis-Aimé stattdessen doch zu seiner berühmten Expedition Martin, Paul Meurice und Auguste Vacquerie.20 nach Amerika aufbrechen wird, ahnt Humboldt Klassische Autoren wie Aristoteles, Horaz, Pindar, hier aber noch nicht.9 Plinius und Vergil zitiert Humboldt regelmäßig; © Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVIII (2018), H. 3, S. 604–615 606 Neue Materialien © Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVIII (2018), H. 3, S. 604–615 THOMaS NEHRLICH: Über einen „Brief an Kleist“ in A. von Humboldts „Schriften“ 607 © Peter Lang AG Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVIII (2018), H. 3, S. 604–615 608 Neue Materialien Abb. 1. beeinflusst wird er u. a. durch Bernardin de Saint- ausgedehnten literarischen Netzwerk war Kleist Pierre, nach dessen Vorbild er seine Ansichten der bisher ein blinder Fleck. Dies gilt auch umgekehrt: Natur (1808) entwirft.21 Bis weit nach seinem In keiner Kleist-Ausgabe
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