Serie (IV): Im Untergrund „Wir wollen an die Front!“ Nach der Ausbildung bei Palästinensern versuchten die Gründer der RAF, ihr „Konzept Stadtguerilla“ umzusetzen. Im Mai 1972 starteten sie eine Serie von Anschlägen – doch schon kurz darauf saßen sie vollzählig hinter Gittern. Von Michael Sontheimer SPIEGEL TV (L.) RAF-Mitgründerin Meinhof, inhaftierter Baader (1969): „Ficken und Schießen ist ein Ding“

m 8. Juni 1970 machte sich in West- schrieben, „war auch kein Deckchen- Wunschgemäß brachten die Palästinen- eine Reisegesellschaft der be- sticken.“ Wohl wahr. Das Befreiungskom- ser sie in ein Fatah-Lager unweit von Am- Asonderen Art auf den Weg. Der An- mando hatte in Berlin einen Mann ange- man, in dem sich bald auch der Rest der führer der Gruppe war der Rechtsanwalt schossen und lebensgefährlich verletzt. Auf Berliner einfand. Nun standen für die 14 , der wegen der Befreiung allen fünf Beteiligten lastete deshalb der Lehrlinge der Weltrevolution Dauerlauf, Andreas Baaders von der Polizei gesucht Vorwurf des versuchten Mordes; Meinhofs Schießübungen und Nahkampf auf dem wurde. Mit ihm fuhren je zwei junge Män- Steckbrief prangte an den West-Berliner Ausbildungsprogramm. „Horst Mahler war ner und Frauen zum Ost-Berliner Flugha- Litfaßsäulen. Die Reise in den Nahen Os- so eifrig dabei“, erinnert sich ein Teilneh- fen Schönefeld. Sie sollten sich bald als ten war eine Flucht aus Berlin. mer, „als ob er schon immer Soldat werden „anarchistische Gewalttäter“ auf den Fahn- Nach einem ungeplanten Zwischenstopp wollte.“ habe, wie üblich, dungsplakaten der Polizei wiederfinden. in Beirut brachten Palästinenser die Vor- gleich angefangen zu motzen. Er fand es Das Quintett mit dem vergleichsweise ausabteilung aus Berlin in die jordanische für angehende Stadtguerilleros sinnlos, exotischen Reiseziel Damaskus war die Hauptstadt Amman. Die Vertreter der Fa- Nahkampf mit dem Bajonett zu üben. Vorhut jener Truppe, die sieben Jahre spä- tah, des bewaffneten Arms von Jassir Ara- Die Führung der Gruppe bestand aus ter die Bundesrepublik an den Rand des fats PLO, organisierten für ihre Gäste ein zwei Männern und zwei Frauen: dem Bo- Staatsnotstands bringen sollte: der RAF. Polit-Touristen-Programm. Die aber er- hemien Andreas Baader und dem Anwalt Ihre Gründer verstanden sich als Revo- klärten nach den obligatorischen Besuchen Horst Mahler, der Doktorandin Gudrun lutionäre, sie begriffen sich als Avantgarde in Flüchtlingslagern und Waisenhäusern: Ensslin und der Journalistin Ulrike Mein- der Arbeiterklasse. Vor allem aber sahen „Das ist ja alles sehr interessant, aber wir hof. Der Ex-Freund Meinhofs, Peter Ho- sie sich in einer antiimperialistischen Front wollen eine Ausbildung. Wir wollen Waf- mann, begann bald, gegen Baader und sein mit den Vietcong in Vietnam, den Tupa- fen. Wir wollen an die Front!“ Chefgehabe zu opponieren. Nach einer maros in Uruguay oder den Black Panthers in den USA. Sie meinten es ernst. „Die Baader-Be- Meinhof: ãDie Baader-Befreiungsaktion war freiungs-Aktion“, hatte ge- auch kein Deckchensticken.”

74 der spiegel 40/2007 Schlägerei zwischen den beiden wurde der auf „50 bis 100 Personen zu verstärken“, diese Unterstützung hätte die RAF nicht so Dissident von den Palästinensern nach Polizei und Justiz „zu demoralisieren“ und lange existieren können. Hause geschickt. das Volk „durch Schockwirkungen auf- Als die Gründer sich im August 1970 wie- Jürgen Bäcker, der einstige Geschäfts- zurütteln“. der in West-Berlin gesammelt hatten, muss- führer des Republikanischen Clubs in Ber- Kaum gegründet, hatte sich die RAF te endlich ein Name für die Gruppe her. lin und von RAF-Leuten später als Verräter schon in der Schattenwelt der Geheim- Horst Mahler plädierte für „Des Geyers verdächtigt (siehe seite 78), wurde in der dienste verstrickt, aus der sie sich nie mehr schwarzer Haufen“ – in Anlehnung an Flo- Heimat noch nicht von der Polizei gesucht. völlig befreien sollte. rian Geyer, einen Führer in den Bauernkrie- Er reiste deshalb nach dem Ende der knapp Besonders die Stasi, die exzellente Ver- gen des 16. Jahrhunderts. Das fanden die achtwöchigen Ausbildung als Erster zurück. bindungen zu arabischen Geheimdiensten meisten absurd. Da sie sich als Kommu- Er sollte herausfinden, ob die Route sicher und den Palästinensern hatte, war über nisten in der Tradition Lenins verstanden, ist. Doch auf dem Ost-Berliner Flughafen lange Phasen bestens über die Gruppe in- wurde schließlich Ensslins und Meinhofs Schönefeld wurde er festgenommen und formiert. Mielkes Männer wussten oft, wo Vorschlag angenommen: „Rote Armee“. INTERFOTO (L.); KEYSTONE (R.) (L.); KEYSTONE INTERFOTO Polizei-Steckbrief, PLO-Führer Arafat*: „In der selbständigen Herstellung von Spreng- und Brandsätzen unterrichtet“ an die Staatssicherheit übergeben. „Damit sich die RAF-Kader versteckten, während Den Zusatz „Fraktion“ wählten die Rot- Sie uns keinen Unsinn erzählen“, empfing die bundesdeutschen Terrorfahnder im armisten, um klarzumachen, dass die ihn ein Stasi-Vernehmer, „geben ich Ihnen Dunkeln tappten. Gruppe der bewaffnete Arm einer noch mal ein Beispiel, was wir über Ihre Truppe Nachdem die Stasi-Offiziere Bäcker 24 nicht existierenden, machtvollen kommu- wissen.“ Er nannte Bäcker den Deckna- Stunden lang verhört hatten, brachten sie nistischen Partei sei. men, den dieser gerade erst im Fatah-Lager ihn zum Bahnhof Friedrichstraße und Dass die Abkürzung RAF die meisten äl- bekommen hatte. schoben ihn durch eine Geheimtür auf teren Deutschen an die Royal Air Force „Harp“ alias Bäcker klärte daraufhin die einen Bahnsteig, der nur von West-Berlin und an die Zerstörung von Dresden und Vernehmer der Stasi ausführlich auf. Was aus zu erreichen war. Zu seinem Ärger hat- den Bombenkrieg der Briten erinnerte, die Gruppe damals plante, geht aus dem ten die Stasi-Männer ihm die Pistole, die er daran dachte niemand. bislang unbekannten Vernehmungsproto- in Amman gekauft hatte, und 25 Schuss Als Vorbilder dienten den RAF-Grün- koll hervor. Die RAF beabsichtigte, „ei- Munition nicht zurückgegeben. dern weniger die Palästinenser, sondern nen Anschlag gegen das Hauptquartier der Die RAF-Gründer hatten fast alle spani- Guerilla-Gruppen aus Südamerika, die US-Besatzungstruppen in der Clayallee, sche „Llama Especial“-Pistolen des Kali- dort einen Kleinkrieg gegen korrupte Dik- und zwar Sprengstoffanschläge gegen dort bers 9 mm erworben und von den Fatah- taturen aufgenommen hatten. Besonders stationierte Panzer, zu unternehmen“. Genossen passende Munition geschenkt imponierte ihnen der brasilianische Revo- Man sei im Fatah-Lager „in der selbständi- bekommen. Sie zerlegten die Waffen in lutionär Carlos Marighella. „Das Mini- gen Herstellung von Spreng- und Brand- ihre Einzelteile und schmuggelten sie über handbuch des Stadtguerillero von Mari- sätzen unterrichtet worden“. die DDR nach West-Berlin. ghella war die Bibel der RAF“, so ein Ein Brandsatz solle im Büro der US- Nur einen Monat aktiv, hatte die RAF Gründungsmitglied, „und ihr Laienpredi- Fluggesellschaft Pan Am gelegt werden, da schon ihre wichtigste strategische Allianz ger war Andreas Baader.“ sich dort ein „getarntes Büro der CIA be- geschlossen: die mit palästinensischen Ter- In der Anleitung heißt es: „Die Logistik findet“. Es sei zudem geplant, die Gruppe rorgruppen. In den folgenden Jahren konn- des Stadtguerilleros, der bei null anfängt ten RAF-Kader immer wieder im Nahen und zunächst über keine Stütze verfügt, * Im November 1971 in Ost-Berlin. Osten untertauchen und trainieren. Ohne kann mit der Formel ,M G W M S‘ be-

der spiegel 40/2007 75 RAF-Serie (IV): Im Untergrund DPA (L.); KLAUS MEHNER (R.) DPA Brief Baaders (1972), festgenommene RAF-Frau Goergens (1970): „Ihr Pigs könnt zufrieden sein, dass ich nicht zum Schießen gekommen bin“ schrieben werden: Motorisierung, Geld, Die Beute der RAF, über 209000 Mark, te einem Polizisten: „Ihr Pigs könnt zu- Waffen, Munition, Sprengstoff.“ nahm Gudrun Ensslin als Kassenverwalte- frieden sein, dass ich nicht zum Schießen Für Motorisierung sorgten die RAF- rin in Verwahrung. Die Gruppenmitglie- gekommen bin.“ Gründer auf zweierlei Weise. Zum einen der hatten – Ordnung musste sein – bei ihr Nach nicht mal fünf Monaten des be- mietete eine vormalige Rechtsreferenda- Listen mit ihren Ausgaben einzureichen. waffneten Kampfes hatte die RAF mit ei- rin in Nordrhein-Westfalen unter falschem Ulrike Meinhof regte sich immer wieder nem Schlag mehr als ein Viertel ihrer Mit- Namen acht Autos. Die Wagen wurden auf, wenn „Revolutionsgeld“ verschwendet glieder verloren, darunter den Strategen nach Berlin gebracht und mit gefälschten wurde. und eigentlichen Gründer der Gruppe, Nummernschildern ausgerüstet, vorzugs- Welch hohes Risiko die selbsternannten Horst Mahler. Noch am selben Tag ent- weise mit Doubletten von Autos gleichen Guerilleros eingingen, darüber dachten sie deckte die Polizei das Hauptquartier in Typs. Zum anderen wurden Wagen ge- nicht nach. Sie waren jung, das Durch- Berlin-Schöneberg. Die Fenster des Unter- stohlen, wobei zunächst Mercedes-Limou- schnittsalter lag bei 27 Jahren. „Dass wir schlupfs waren mit Alufolie zugeklebt, an sinen der Typen 220 oder 230 besonders uns bis zu 20 Jahre Knast einhandeln konn- den Wänden hingen Landkarten. beliebt waren. ten“, sagt eine von ihnen heute, „das ha- Da der Boden in West-Berlin zu heiß ge- „Baader war ein Kind seiner Zeit“, sagt ben wir verdrängt.“ Dass sie unter Um- worden war, verlagerte die RAF ihr Ak- . „Er liebte schnelle Autos.“ ständen den bewaffneten Kampf mit ihrem tionsgebiet nach Westdeutschland. Ulrike Nicht nur Proll, sondern auch andere RAF- Leben bezahlen würden, darüber sprachen Meinhof, die aus ihrer Zeit als Journalistin Leute bauten häufig Unfälle. Baader, der sie nicht miteinander. über zahlreiche Kontakte in der ganzen Re- zeitlebens keinen Führerschein hatte, kam publik verfügte, oblag die Quartierbeschaf- einmal mit 160 Stundenkilometern in ei- m 8. Oktober 1970, nur neun Tage fung. Sie und andere RAF-Genossen stiegen nem Porsche von der Autobahn ab und nach den Banküberfällen, erlitt die bei dem Psychologieprofessor Peter Brück- überschlug sich. AGruppe ihren ersten herben Rück- ner in Hannover ab, bei einem WDR- Außer den Autos hatte die RAF vier schlag: Ein anonymer Anrufer hatte einem Redakteur in Köln, einer Psychologin in konspirative Wohnungen in den West-Ber- Beamten der Politischen Polizei berichtet, Frankfurt und einem Pfarrer bei Oldenburg. liner Bezirken Wilmersdorf und Schöne- dass Andreas Baader sich in einer Woh- Noch gab es alte Freunde, die – wenn berg, die unter falschem Namen gemietet nung in der Knesebeckstraße 89, im gut- auch oft widerwillig – Unterschlupf gewähr- worden waren. Um die Miete zu bezahlen bürgerlichen Charlottenburg, aufhalte. ten. Unter den Linksliberalen in Hamburg, und das kostenträchtige Leben in der Ille- Nach kurzer Observation brachen Kripo- die Ulrike Meinhof seit langem kannten, galität zu finanzieren, griff die Gruppe zu beamte in die Wohnung ein und fanden wurde auf Partys mit wohligem Schaudern dem Mittel, das Marighella in seinem auf dem Balkon eine junge Frau, bewaffnet darüber spekuliert, was man tun würde, Handbuch als „Vorexamen, in dem die mit einer Pistole, die in ihrem Hosenbund wenn sie eines Nachts vor der Tür stünde. Technik der Revolution erlernt wird“, cha- steckte. Sie wurde als die Medizinstuden- Der Anspruch, ein Kollektiv gleichbe- rakterisierte: dem Bankraub. tin Ingrid Schubert identifiziert. Sieben rechtigter Mitglieder zu sein, erwies sich Ende September 1970 trat die RAF in Jahre später, im November 1977, erhängte schnell als irreal. Baader, Meinhof und West-Berlin zu einer kollektiven Prüfung sie sich in der Münchner Haftanstalt Sta- Ensslin bildeten die Führungsgruppe. Der an: Innerhalb von zehn Minuten registrier- delheim. Unternehmersohn und Soziologe Jan-Carl te die Polizei Überfälle auf drei verschie- Nur 20 Minuten nach Schubert ging den Raspe sowie der Kameraassistent Holger dene Bankfilialen. Polizisten in der konspirativen Wohnung Meins waren Baaders Adjutanten. Vor- In Anklageschriften und Urteilen hieß ein Mann ins Netz: Die Kripobeamten zo- nehmlich Frauen machten die zweite Rei- es später, dass die RAF die drei Überfälle gen Horst Mahler eine durchgeladene Pis- he aus. Dem überwiegend männlichen zu verantworten habe. In Wahrheit gingen tole aus der Gesäßtasche und eine Perücke Fußvolk wurden technische und logistische nur zwei auf das Konto der RAF, einen vom Kopf. „Kompliment, meine Herren“, Hilfsarbeiten aufgetragen. erledigte die anarchistische „Bewegung sagte der Anwalt, der in der Gruppe den „Die RAF“, sagt Ex-Mitglied Jürgen 2. Juni“. Der angebliche „Dreierschlag“ Decknamen „James“ trug. Bäcker, „das waren Bürgerkinder mit einer der RAF ist einer von etlichen Justizirrtü- Es dauerte nicht lange, bis noch drei wei- karitativen Macke.“ Die meisten Hilfs- mern, er wurde aber von den meisten tere Frauen in die Falle liefen. Irene Goer- kräfte hingegen kamen aus der Arbeiter- RAF-Chronisten als historische Wahrheit gens, die von Ulrike Meinhof aus einem klasse. Bei den wenigen der ersten Genera- übernommen. Mädchenheim geholt worden war, erklär- tion, die später aussagten und in den Augen der RAF zu Verrätern wurden, handelte es sich meist um sie. Ex-Mitglied Bäcker: „Die RAF, das waren Als ertragreiches Rekrutierungsfeld er- Bürgerkinder mit karitativer Macke.“ wies sich das „Sozialistische Patientenkol-

76 der spiegel 40/2007 RAF-Serie (IV): Im Untergrund Verräter und Verschwundene Von zwei RAF-Frauen, die zuletzt 1972 gesehen wurden, fehlt bis heute jede Spur. Es spricht einiges dafür, dass eine als Verräterin ermordet wurde, die andere bei einer Explosion starb.

m Abend des 27. März 1972 ging strecken – traf aber nicht. Später feuerte Jahre und stellt heute verwundert fest: im West-Berliner Büro der Deut- ein RAF-Mann in Hannover mit einem „Ich habe trotzdem nicht ausgesagt.“ Aschen Presseagentur ein anonymer Gewehr eine Ladung Schrot auf den Schnell stand die RAF auch vor einem Eilbrief ein. Was der Redakteur vom vermeintlichen Verräter. Bäcker konnte zweiten Problem: Wie sollte man mit Mit- Dienst darin fand, ließ ihn erschaudern: sich mit einem Sprung in den Straßen- gliedern umgehen, die sich von der Grup- ein Foto einer jungen Frau, deren Haare graben retten. Als er später im Gefängnis pe trennen wollten? Verachtung war ih- und Gesicht mit Teer verklebt waren; war, kratzte er sich ein paar Schrotkugeln nen sicher. Das Aussteigen, erklärte Bri- dazu einen Zettel: „Das ist Edelgard G.* aus der Kopfhaut. Bäcker saß sieben gitte Mohnhaupt, könne „immer nur ein Diese Denunziantin steckt mit den Kil- lerschweinen unter einer Decke. Es lebe die RAF!“ Der dpa-Redakteur rief sofort die Poli- zei an, und zwei Beamte der Sonderkom- mission Baader-Meinhof suchten G. in ihrer Wohnung auf. Die Mutter eines kleinen Jungen hatte für Gudrun Ensslin die Annahme von Paketen organisiert und andere kleine Hilfsdienste geleistet. Nach ihrer Verhaftung hatte sie detailliert über ihre Kontakte mit der RAF aus- gesagt. Und nun war sie von den Terroris- ten bestraft worden. Als die beiden Beamten sie vernahmen, „wurde Frau G. zunehmend unruhiger und fing an, am ganzen Körper zu zit- tern, was sie nur mit Mühe unter Kon- trolle halten konnte“, heißt es im Bericht der Polizisten. Fast jede illegale Gruppe sieht sich über kurz oder lang mit Mitgliedern konfron- tiert, die aussteigen wollen oder nach ei- ner Verhaftung Aussagen machen, mit de- nen sie die Existenz der gesamten Grup- pe gefährden. Für die Freikorps nach dem Ersten Weltkrieg galt etwa die Devise: „Verräter verfallen der Feme.“ Ob auch die RAF an ehemaligen Mit- kämpfern Rache nahm, liegt bislang im Dunklen. Rätselhaft ist insbesondere, was aus zwei ihrer Frauen wurde, die seit dem Frühjahr 1972 verschwunden sind. Schon im Oktober 1970, knapp fünf Monate nach der ersten Aktion, waren sich die RAF-Kader sicher, einen Verräter in den eigenen Reihen zu haben. Ein bis heute unbekannter Anrufer hatte der Polizei die Adressen von zwei konspirati- ven Wohnungen der RAF durchgegeben. Fünf Mitglieder der Gruppe wurden fest- genommen. Der Verdacht fiel auf Jürgen Bäcker, einen Außenseiter in der Gruppe (siehe Seite 75). Obwohl es keine Beweise gab, wurde zweimal aus den eigenen Reihen auf ihn geschossen: Eine RAF-Frau ver- suchte, Bäcker in West-Berlin niederzu- KEYSTONE (O.); STERN / PICTURE PRESS (L.); / PICTURE STERN (O.); KEYSTONE KLAUS MEHNER (R.) * Nachname von der Redaktion abgekürzt. Kronzeuge Müller (o.), Verschwundene Barz, Luther: „Andere Lösung“

78 der spiegel 40/2007 Schritt zurück sein, immer ein Schritt in „Mir war bekannt“, sagte Susanne Al- den Dreck zurück“. brecht später in einer Vernehmung, „dass Über Marianne H., eine Freundin von Verräter auch getötet wurden.“ Jan-Carl Raspe, die im Frühjahr 1971 die Ina Siepmann, die Barz verdächtigt RAF verlassen hatte, erregte sich Gudrun hatte, wurde 1974 wegen Banküberfällen Ensslin: „Sie zog anschließend unter der zu zwölf Jahren Haft verurteilt, aber im Fahne der RAF durch die Lande, um sich März 1975 bei der Entführung des Ber- Geld und Quartier bei den Genossen zu liner CDU-Landesvorsitzenden Peter Lo- beschaffen. Marianne ist eine Sau.“ renz freigepresst. Andreas Baader gab aus dem Gefäng- Ehemalige Genossen von ihr sagen, sie

nis in einem Kassiber den Illegalen Rat- sei dann aus dem Jemen zunächst nach VERLAG WEREK / SÜDDEUTSCHER schläge, wie sie mit einer Ausstiegswilli- Deutschland zurückgekehrt, aber schließ- BKA-Chef Herold (1976) gen verfahren sollten. Diese müsse „we- lich wieder in den Libanon gegangen. Visionär des Computerzeitalters nigstens begreifen, dass man aus der RAF Dort habe sie sich einer palästinensischen nicht einfach aussteigt wie aus einem Job Frauenbrigade angeschlossen. Im Süd- lektiv“ (SPK), eine antikapitalistische Psy- – also die Disziplin wenigstens noch ein libanon sei sie 1982 beim Einmarsch der chosekte in Heidelberg. Ihr Slogan lautete: Jahr weitergilt“. Baader schlug vor, sie Israelis „gefallen“. „Das System hat uns krank gemacht, ge- ins „sozialistische Ausland“ zu schicken So wie Barz ist Angela Luther seit 1972 ben wir dem kranken System den Todes- oder legte ominös „eine andere Lösung“ verschwunden. Die erste Ehefrau des Fil- stoß.“ Im Rahmen ihrer Gruppentherapie nahe. memachers Hark Bohm war im Herbst war auch ein „Arbeitskreis Sprengtechnik“ Es spricht manches dafür, dass Baader 1971 zur RAF gestoßen – zusammen mit gegründet worden. für seine Mitkämpferin Ingeborg Barz ihrem Freund Thomas Weißbäcker, der eine andere Lösung gefunden haben ein halbes Jahr später in Augsburg von um SPK gehörte auch die Psycholo- könnte: Die Berlinerin hatte 1971 die einem Polizisten erschossen wurde. Nach giestudentin . Immer „Schwarze Hilfe“ mitbegründet, eine an- den Aussagen von Gerhard Müller fühl- Z wieder quartierten sich Baader, Enss- archistische Gruppe zur Unterstützung in- te Luther sich nach dem Tod Weißbäckers lin, Meinhof und andere in ihrer Heidel- haftierter Genossen. Hier traf sie Inge einsam in der Gruppe und wollte aus- berger Wohnung ein. „Sie studierten tech- Viett, , Angela Luther und steigen. nische Pläne und Stadtpläne“, beschrieb Wolfgang Grundmann, die alle auch bald Baader habe sie allerdings noch dazu Schiller diese Besuche später, „reinigten in den Untergrund gehen sollten. überredet, beim Deponieren der Bomben ihre Waffen oder wollten einfach nur ent- Barz unterstützte zunächst die Be- in der Augsburger Polizeidirektion und spannen, ausruhen und Musik hören.“ wegung 2. Juni; im Herbst 1971 aber re- dem europäischen Hauptquartier der US- Außerdem fiel ihr auf: „Alle liebten Do- krutierte Gudrun Ensslin sie und ihren Armee in Heidelberg mitzumachen. Mül- nald-Duck-Hefte, lasen sie gemeinsam und Freund Grundmann für die RAF. Barz ler gab auch zu Protokoll, Baader habe lachten dabei wie Kinder.“ war nie mehr als eine Randfigur in der ihm versichert, „dass die Luther nicht wie Die Guerilleros tranken selten Alkohol, bereits festgefügten Gruppe. Anfang 1972 die Barz umgelegt werden würde“. sie zogen Haschisch vor. Doch die Jahre mietete sie eine konspirative Wohnung in hat einem Ver- des wilden Kommunelebens waren vorbei. Ludwigshafen. Dort soll sie Ende Febru- trauten einmal berichtet, Angela Luther Die RAF-Gründer sahen sich als Berufsre- volutionäre. Als der Verleger Klaus Wa- ãDiese Denunziantin steckt mit den genbach einmal mit Meinhof telefonierte und ihr sagte, dass er die nächsten drei Killerschweinen unter einer Decke.“ Wochen mit seiner Familie Urlaub mache, erwiderte seine einstige Autorin: „Der ar 1972 an einem Banküberfall der RAF sei 1972 bei einem Unfall, bei dem Vietcong macht auch keinen Urlaub.“ Mar- beteiligt gewesen sein, doch das ist nicht Sprengstoff unbeabsichtigt explodierte, grit Schiller fühlte sich von der „absoluten erwiesen. zu Tode gekommen. Genossen hätten sie Ernsthaftigkeit“ der RAF-Leute angezo- Sicher ist, dass Ina Siepmann von der dann bei Nacht und Nebel begraben. gen. „Sie lebten, was sie sagten, sie spiel- Bewegung 2. Juni Barz verdächtigte, für Mohnhaupt hat als Zeugin im Prozess ten nicht.“ den Verfassungsschutz zu spionieren. gegen Baader und die RAF-Führung über In Schillers Wohnung in Heidelberg Das RAF-Mitglied Gerhard Müller sag- den Umgang mit Aussteigern und Verrä- schrieb Ulrike Meinhof am ersten größeren te im Frühjahr 1975 aus, er habe drei Jah- tern ausgesagt: Diese „Trennungen“ seien Text der RAF. Sie rauchte Kette, trank re zuvor am Rhein in der Nähe von „ganz cool gelaufen“. Gleichzeitig räum- literweise Kaffee und arbeitete die Nächte Gernsheim mit zusammen te sie zum Stichwort „Liquidation“ ein: durch. eine Stelle gesucht, „wo die liquidierte „Wir wissen natürlich, dass das grundsätz- Sie versuchte zu begründen, warum das Ingeborg Barz begraben werden sollte“. lich möglich sein muss, da gibt es kein „Primat der Praxis“ das Gebot der Stunde Baader, Meins und Raspe hätten Barz er- Problem, in der Illegalität kämpfend ist sei. Garniert mit Zitaten von Lenin, Mao schossen. Baader habe ihm erzählt, „dass das einfach so.“ Zedong und dem Black-Panthers-Aktivis- die Leiche entkleidet wurde“. Eine Reise- Mohnhaupt dementierte aber katego- ten Eldridge Cleaver erklärte sie, dass die tasche mit Kleidern von Barz sei dann in risch Müllers Aussagen. Als Beispiel Linken genug theoretisiert hätten. „Stadt- eine konspirative Wohnung in Frankfurt dafür, wie die RAF in Wahrheit mit Ab- guerilla“, so definierte sie, „heißt trotz der gebracht worden. trünnigen umgesprungen sei, führte sie Schwäche der revolutionären Kräfte in der Müller hasste Baader. Das prägte seine Edelgard. G. an: „Sie hat ’nen Eimer Teer Bundesrepublik und West-Berlin hier und Aussagen. Doch viele Details stimmten. über die Fresse gekriegt und ein Schild jetzt revolutionär intervenieren!“ Das Nur: Im Frühjahr 1975 gruben Polizisten um den Hals.“ „Konzept Stadtguerilla“ schloss mit der in der Gegend, die Müller angegeben hat- Das Bundeskriminalamt hat Barz, Lu- Parole: „Sieg im Volkskrieg!“ te, aber die Leiche von Barz fanden sie ther und Siepmann schon lange von der In den Weihnachtstagen des Jahres 1970 nicht. Fahndungsliste gestrichen. traf sich der größte Teil der Gruppe in Stuttgart. Meinhof wollte die Gelegenheit

der spiegel 40/2007 79 RAF-Serie (IV): Im Untergrund ARD (L.); DPA (R.) ARD (L.); DPA RAF-Anschlagsziele US-Armee in Heidelberg und Springer-Hochhaus in Hamburg (1972): So viele Fahndungshinweise wie nie zuvor nutzen, um einmal in Ruhe über die Erfah- „die Revolutionäre im Volk wie Fische im zei und Justiz wurden zu Hauptfeinden rungen der letzten Monate zu sprechen. Wasser“ bewegten. der RAF. Sie war es leid, nachts Autos zu klauen und Grashof musste bald einen schweren Gut drei Monate nach dem Tod Petra tagsüber neue Autos und Banken „auszu- Schlag hinnehmen. Er hatte seine Freundin Schelms kam es in Hamburg am 22. Okto- checken“; sie war es müde, von einer Stadt Petra Schelm zur RAF gebracht. Sie war 20 ber 1971 zu einem weiteren fatalen Zusam- in die nächste zu hetzen. Meinhof zweifel- Jahre alt, hatte Friseurin gelernt und war mentreffen. Nachdem sich rund zehn RAF- te an der Praxis der RAF. Baader aber für die Tarnung der Gruppe mit gefärbten Leute in einer konspirativen Wohnung ver- blockte ab und machte für die ständigen Haaren oder Perücken zuständig. Als sie sammelt hatten, musste Ulrike Meinhof Standortwechsel Einzelne verantwortlich, am 15. Juli 1971 mit einem anderen RAF- noch einmal raus, um zu telefonieren. Zu die die Sicherheit der Gruppe gefährdet Mann in Hamburg in einem BMW 2002 ti ihrer Absicherung nahm sie Margrit Schil- hätten. Als Meinhof nicht lockerließ, brüll- unterwegs war, wussten die beiden nicht, ler und Gerhard Müller mit, die beide vom te Baader: „Ihr Fotzen, eure Emanzipation dass die Polizei in ganz Norddeutschland SPK zur RAF gestoßen waren. Zwei Polizis- besteht darin, dass ihr eure Typen an- unter dem Decknamen „Kora“ die bislang ten in Zivil, die Streife fuhren, erschien schreit!“ Das war selbst Gudrun Ensslin zu größte Fahndungsaktion gestartet hatte. Meinhof verdächtig. Die Beamten wollten viel. Sie sagte zu ihrem Geliebten: „Baby, Als das RAF-Duo an eine Straßensperre sie kontrollieren, doch da rannte sie los. das kannst du gar nicht wissen.“ der Polizei kam, gab Schelm Gas. Nach ei- Müller lief hinterher. Eine Frau erklärte geschockt: „Ich halte viel aus, aber das mache ich nicht mit.“ Straftäter, die derartig entschlossen und Baader hielt daraufhin einen Vortrag, dass „Stadtguerilla ein harter Job“ sei. Unter intelligent vorgingen, waren ein Novum. dem Druck der Illegalität würden sich die Aggressionen in der Gruppe nach innen ner wilden Verfolgungsjagd und Schieße- Als der Zivilfahnder Norbert Schmid wenden. „Und das musst du aushalten“, rei tötete ein Polizist die RAF-Frau mit und sein Kollege das verdächtige Paar fast sagte er, „sonst hast du bei uns nichts zu einem Kopfschuss aus seiner MP. Auf erreicht hatten, drehte Müller sich um und suchen.“ Die Frau trennte sich von der die Frage, warum der Beamte nicht ver- schoss sechsmal. Im Krankenhaus konnte RAF und wurde bald verhaftet. sucht habe, Schelm kampfunfähig zu schie- nur noch Schmids Tod festgestellt werden. Die Aussteigerin hatte zuvor noch ein ßen, antwortete der Hamburger Polizei- Der zweifache Vater war der erste von ins- einschneidendes Erlebnis mit Baader. Als sprecher: „Waren Sie eigentlich schon mal gesamt 33 Menschen, die von der RAF er- er in einer konspirativen Wohnung in im Krieg?“ mordet wurden. Frankfurt mit seiner Pistole herumhantier- Petra Schelm war das erste von insge- Gerhard Müller distanzierte sich vier te, löste sich versehentlich ein Schuss; das samt 21 Mitgliedern der RAF, die bis zum Jahre später von der RAF und sagte detail- Projektil streifte ihre Hüfte. Als ihre Freun- Jahr 1999 den bewaffneten Kampf mit liert aus. Für den Polizistenmord wurde er din eine legale Genossin anrief, die einen ihrem Leben bezahlen sollten. nicht bestraft. Er bekam eine Freiheitsstra- Arzt besorgte, machte Baader ihr eine Sze- Zur Wirkung von Schelms Tod auf die fe von zehn Jahren, wurde nach knapp sie- ne, wie sie denn die Gruppe so leichtsinnig Gruppe sagte die RAF-Frau Irmgard Möl- ben Jahren entlassen. Ein Teil von Müllers gefährden könne. ler später: „Der Zusammenhalt wurde da- Aussage – wahrscheinlich der, in dem er Nicht nur Ulrike Meinhof durch auch enger.“ Gleichzei- den Mord gesteht – wurde vom Bundesjus- beschlichen Zweifel. Manfred tig setzte die Dynamik der tizministerium „zum Wohle der Bundes- Grashof, der Fälscher der Rache ein. Schelms Freund republik“ gesperrt und liegt bis heute bei RAF, wurde im Januar 1971 wollte spontan in das Polizei- der Bundesanwaltschaft unter Verschluss. für einen Bankraub von West- revier einmarschieren, aus Polizei und Justiz standen der RAF zu- Berlin nach Kassel beordert. dem der Todesschütze kam, nächst ziemlich hilflos gegenüber. Straf- „Da stand ich plötzlich in ei- und dort ein Blutbad anrich- täter, die derartig entschlossen, organisiert ner Stadt, in der ich nicht ein- ten. Auch wenn die übrigen und intelligent vorgingen, waren ein No- mal den Weg zum Bahnhof Gruppenmitglieder der Grup- vum in der Bundesrepublik.

kannte“, erinnert er sich. Das DPA pe ihm das ausredeten, Poli- Im Juni 1971 beschloss das Kabinett Wil- habe nichts mehr mit der De- ly Brandts, den Nürnberger Polizeipräsi- vise Mao Zedongs zu tun ge- RAF-Frau Schelm denten Horst Herold zum Präsidenten des habt, fand er, nach der sich Kopfschuss aus einer MP Bundeskriminalamts (BKA) zu ernen-

80 der spiegel 40/2007 nen. Vier Monate später ordne- elektrischen Kaffeemühlen, von te Herold an, dass die BKA-Si- denen an die zehn heiß liefen cherungsgruppe Bad Godesberg und den Dienst versagten. eine „SoKo Baader-Meinhof“ Nach der Aussage des inoffi- bilden solle. Als Visionär des ziellen Kronzeugen Gerhard Computerzeitalters sorgte er Müller, der den Großteil der auch dafür, dass das aufwendige Chemikalien für den Sprengstoff Inpol-System schnell aufgebaut besorgt hatte, leitete die Grup- wurde. pe ihre lange vorbereitete Of- Herold brachte bald nicht nur fensive spontan ein. Nachdem bei Großfahndungen die Be- US-Präsident Richard Nixon fehlsgewalt für die Polizei aller angeordnet hatte, nordvietna- Bundesländer an sich, sondern mesische Häfen zu verminen, sicherte sich auch Agenten vom fuhren laut Müllers Aussagen Auslandsgeheimdienst BND für Raspe und Ensslin am 11. Mai Observationen. 1972 in Frankfurt zum Haupt- Die RAF war für das BKA ein quartier des V. US-Korps und gewaltiges Arbeitsbeschaffungs- erkundeten die Lage. Nur weni- programm. Die Zahl der Mitar- ge Stunden später explodier- beiter sollte in den nächsten ten zwei Bomben am Ein- zehn Jahren von 1113 auf über gang des einstigen Sitzes der 3000, das Budget von 55 auf 290 I.G. Farben. Der Oberstleut- Millionen Mark im Jahr steigen. nant Paul A. Bloomquist wurde Politiker aller Parteien nann- durch Metallsplitter getötet, ten die RAF – um sie nicht als 13 weitere Personen wurden politisch oder gar idealistisch schwer verletzt. motivierte Gruppe anzuerken- In der Erklärung des „Kom- nen – stets „Baader-Meinhof- mandos Petra Schelm“ – die Gruppe“. Konservative und die RAF wählte für ihre Einsatz- Springer-Blätter zogen „Baader- gruppen nach palästinensischem Meinhof-Bande“ vor. Verhindert Vorbild Namen getöteter wurde eine Diskussion darüber, Kampfgenossen – hieß es: „Für warum intelligente junge Men- die Ausrottungsstrategen von schen aus der Mitte der Gesell- Vietnam sollen Westdeutschland schaft den Staat mit Waffenge- und West-Berlin kein sicheres walt zerstören wollten. Horst Hinterland mehr sein.“ Herold allerdings war sich si- Einen Tag später gingen in cher: „Der Terrorismus reflek- der Polizeidirektion Augsburg tiert lediglich die Probleme, die zwei Bomben hoch, eine de- objektiv bestehen.“ tonierte auf dem Parkplatz des Brigitte Mohnhaupt sagte spä- Landeskriminalamtes in Mün- ter aus, die RAF habe Anfang chen. Es wurden 17 Menschen 1972 über acht Gruppen in sechs verletzt. Weitere drei Tage Städten verfügt. Sie seien in später explodierte in Karls- das „Logistiksystem integriert“ ruhe ein Sprengsatz, der unter gewesen und hätten Aktionen dem VW des Bundesrichters gemeinsam diskutiert, „aber Wolfgang Buddenberg ange- waren autonom in ihrer Ent- bracht war, als dessen Frau den scheidung über die operative Wagen startete. Der für die Durchführung“. Das hört sich Haftbedingungen der RAF-Ge-

wohlorganisiert an, doch in ARD FOTOS: fangenen verantwortliche Rich- Wahrheit musste die Gruppe Festnahmen in Frankfurt am Main (1972), Meins (o.), Baader (u.) ter fuhr ausnahmsweise nicht ständig improvisieren und war „Die einzige Chance, die Sie haben, ist aufzugeben“ mit, seine Frau wurde schwer politisch isoliert. verletzt. Den Linksradikalen, aus deren Szene die Decknamen „Pfirsich“ und schweißte – an- Die meisten Verletzten der „Mai-Offen- RAF-Mitglieder kamen, waren sie als „Le- geblich für Filmaufnahmen – Bomben- sive“ forderte ein Anschlag auf die Zen- ninisten mit Knarre“ von Anfang an sus- hülsen zusammen. trale des Axel Springer Verlags in Ham- pekt. Nach den großspurigen Erklärungen Als Anleitung für die Produktion des burg. Zwei Bomben explodierten in dem des Jahres 1971 war von den RAF-Leuten Sprengstoffs diente das „Anarchist Cook- Hochhaus, drei zündeten nicht. 34 Be- nur mehr zu hören, dass sie Banken über- book“ aus den USA, das Bastelanleitun- schäftigte wurden verletzt. Zwar waren fielen und schnelle Autos fuhren. Um nicht gen für Bomben enthielt. Verschiedene die Springer-Zeitungen bei den Linken al- die letzten Sympathisanten zu verlieren, Komponenten des Sprengstoffs wie Am- les andere als beliebt, aber mit Bomben mussten endlich politische Aktionen her. moniumnitrat und Kaliumnitrat mussten auf die Drucker und Setzer des Konzerns Anfang des Jahres 1972 bezog die Füh- zu feinem Pulver gemahlen werden. Tage- loszugehen, das kam überhaupt nicht gut rungsriege – Baader, Ensslin, Meins und lang saßen die RAF-Kader vor kleinen an. Die RAF-Frau Irmgard Möller räumte Raspe – in Frankfurt eine Wohnung in ei- nem anonymen Neubaukomplex. Meins kontaktierte einen Bekannten, einen frei- Als sie die Konturen einer Pistole schaffenden Metallbildner. Der bekam den ertastete, rief ihre Chefin die Polizei.

82 der spiegel 40/2007 RAF-Serie (IV): Im Untergrund später ein, der Anschlag sei „ein böses schleppten, trug er noch seine Ray-Ban- zwei Bullen, der Laden voll mit Bullen, Beispiel“ dafür gewesen, „wie man mili- Sonnenbrille. am Rand der Straße drei Bullenautos, also tante Politik auf gar keinen Fall machen Wenige Stunden später fanden Feuer- echt unklar, ob ich weggekommen wäre.“ kann“. wehrmänner in West-Berlin nach einem Horst Mahler, der schon fast zwei Jahre Vier Tage später beendete die RAF ihre Brand in einer konspirativen Wohnung ein in Berlin im Gefängnis saß, gab Durchhal- Offensive mit einem Anschlag auf das imposantes Arsenal: mehr als 200 Kilo- teparolen aus: „Ihr lebt. Das zählt“, schrieb Hauptquartier der 7. US-Armee in Heidel- gramm Chemikalien für Sprengstoff, ein er an Ensslin. „Das, was schon bisher ge- berg. Zwei mit insgesamt 125 Kilogramm Maschinengewehr, eine MP, zwei Pistolen leistet wurde, ist enorm, und das ist erst Sprengstoff gefüllte Bomben zerfetzten und über 1000 Schuss Munition. der Anfang.“ drei amerikanische Soldaten. Das Logo der RAF zierte – vor einem Nach Irmgard Möllers und Klaus Ulrike Meinhof schrieb in der Komman- fünfzackigen Stern – eine Heckler&Koch- Jünschkes Verhaftung im Juli in Offenbach doerklärung: „Die Menschen in der Bun- Maschinenpistole. Waffen wurden der RAF saß im Sommer 1972 nahezu die gesamte desrepublik unterstützen die Sicherheits- schnell zum Fetisch. Manche RAF-Männer RAF hinter Gittern. „Dass sie uns nicht kräfte bei der Fahndung nach den Bomben- zerlegten und reinigten ihre Waffen, als kriegen“, hatte Ulrike Meinhof zwei Jahre attentätern nicht, weil sie mit den Verbre- wäre es eine kultische Handlung. Baader zuvor gesagt, „das gehört sozusagen zum chen des amerikanischen Imperialismus sagte einmal: „Ficken und Schießen ist ein Erfolg der Geschichte.“ Jetzt waren bis auf und ihrer Billigung durch die herrschende Ding.“ Gleichzeitig sorgte die Maxime, 4 alle der mindestens 33 RAF-Mitglieder Klasse hier nichts zu tun haben wollen.“ stets eine Waffe zu tragen, für eine ständi- tot oder gefangen. Die RAF – so schien es ge Gefährdung. – war auf ganzer Linie gescheitert. as Gegenteil war der Fall: Während Als Gudrun Ensslin am 7. Juni 1972 in ei- Die Bundesregierung Willy Brandts und der Anschlagsserie, bei der insgesamt ner noblen Boutique am Hamburger Jung- besonders der liberale Innenminister Hans- D4 Menschen getötet und 74 verletzt fernstieg einen weißen Shetland-Pullover Dietrich Genscher konnten nach der Ver- worden waren, gingen bei der Polizei so viele Hinweise ein wie noch nie. Einer die- ser Tipps brachte Fahnder des BKA dazu, eine Garage in Frankfurt nahe des Haupt- friedhofs zu observieren. In den Morgen- stunden des 1. Juni 1972 erlebten Zivilbe- amte dort eine filmreife Szene. Drei junge Männer rasten in einem au- berginefarbenen Porsche falsch herum durch eine Einbahnstraße. Zwei gingen in die verdächtige Garage. Als sich Polizisten dem dritten Mann näherten, der draußen Schmiere stand, flüchtete der. Dann schoss er dreimal, traf aber nicht. Er ließ sich wi- derstandslos festnehmen. Es war Jan-Carl Raspe, der fähigste Techniker der Gruppe. Die zwei Männer in der Garage hatten, als sie die Schüsse hörten, sofort die Türen

geschlossen. Immer mehr Polizisten rück- ARD ten zur Belagerung an. Sie schoben ein Verhaftete Ensslin (1972): Befehle aus dem Gefängnis Auto vor die Garagentür, warfen durch kleine Fenster von hinten Tränengasgra- anprobierte und dafür ihre Jacke ablegte, haftungswelle erst einmal aufatmen. Be- naten hinein. „Die einzige Chance, die Sie fiel der Verkäuferin deren Gewicht auf. ständig hatten ihnen Christdemokraten haben“, rief der Einsatzleiter des BKA Als sie die Konturen einer Pistole ertaste- Untätigkeit vorgeworfen. „Müssen denn durch ein Megafon, „ist aufzugeben. Wer- te, rief ihre Chefin die Polizei. Die Fest- noch mehr Leute von Bomben zerrissen fen Sie die Pistolen in den Hof. Nehmen nahme erfolgte blitzschnell. werden“, hatte CSU-Chef Franz Josef Sie die Hände hoch, und kommen Sie ein- Zwei Tage nachdem die wichtigste Or- Strauß gepoltert, „bis bei uns einmal etwas zeln raus. Sie sind noch jung.“ ganisatorin der RAF ausgeschaltet war, geschieht?“ Walter Scheel, liberaler Au- Die beiden Männer öffneten die Tür und nahm die West-Berliner Polizei Brigitte ßenminister und Vizekanzler, erklärte im schossen auf die Polizisten. Schließlich ver- Mohnhaupt, die Residentin der RAF in der Sommer 1972 erleichtert: „Das Problem suchten diese vergeblich, mit einem Pan- Mauerstadt, zusammen mit ihrem Gefähr- Baader-Meinhof ist erledigt.“ zerwagen die Türen der Garage wieder zu- ten fest. Die Nächsten, die den Fahndern Aber das war eine Täuschung. Die zudrücken, um die beiden mit Tränengas sechs Tage später ins Netz gingen, waren Gründer der RAF fanden erst in den fol- auszuräuchern. Die Belagerung dauerte Ulrike Meinhof und Gerhard Müller. Ein genden Jahren im Gefängnis zu sich selbst. schon über zwei Stunden, als ein Scharf- Lehrer, bei dem sie übernachten wollten, Sie waren besonders harten Haftbedin- schütze auf eigene Faust aus 75 Meter Ent- hatte die Polizei informiert. gungen unterworfen. Als Opfer der Justiz fernung einem der beiden Männer den In Meinhofs Jacke fanden Polizisten ei- und des Staates erregten sie Mitleid und Oberschenkel durchschoss. nen Brief, zwei Seiten lang mit Schreib- Solidarität bei den Linken. Sie wurden als Der zweite Mann ergab sich, es war der maschine eng beschrieben. Er stammte von unbeugsame Märtyrer gesehen – und ent- Kameraassistent Holger Meins. Der Ange- der inhaftierten Gudrun Ensslin. Ganz im wickelten in dieser neuen Rolle mehr Wir- schossene war Andreas Baader. Er kroch Stile einer Kommandantin gab sie darin kung als mit ihren kryptischen Schriften unter einen gestohlenen Iso Rivolta IR 300, Befehle, welche konspirativen Wohnungen und selbstgebastelten Bomben. einen 55 400 Mark teuren italienischen geräumt werden sollten und wer jetzt wel- Sportwagen, von dessen Typ in Deutsch- che Jobs zu übernehmen habe. Im nächsten Heft: land nur 50 zugelassen waren – nicht exakt Über ihre Verhaftung schrieb Ensslin: Der Kampf geht weiter – Wie Baader und das Auto eines kommunistischen Revolu- „Ich gepennt, sonst wäre jetzt eine Ver- Ensslin aus dem Knast den Wiederaufbau tionärs. Als Polizisten ihn aus der Garage käuferin tot (Geisel), ich und vielleicht der RAF dirigierten.

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