Kladistisch-Molekulare Pflanzen- Systematik – Ein Schreckgespenst Nicht Nur Für Hobby-Botaniker? Botanische Verwandtschaftsforschung Von Linnaeus Bis Heute
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ZOBODAT - www.zobodat.at Zoologisch-Botanische Datenbank/Zoological-Botanical Database Digitale Literatur/Digital Literature Zeitschrift/Journal: Carinthia II Jahr/Year: 2013 Band/Volume: 203_123 Autor(en)/Author(s): Fischer Manfred Adalbert Artikel/Article: Kladistisch-molekulare Pflanzensystematik - ein Schreckgespenst nicht nur für Hobby-Botaniker? Botanische Verwandtschaftsforschung von Linnaeus bis heute. 349-428 ©Naturwissenschaftlicher Verein für Kärnten, Austria, download unter www.biologiezentrum.at Carinthia II n 203./123. Jahrgang n Seiten 349–428 n Klagenfurt 2013 349 Kladistisch-molekulare Pflanzen- systematik – ein Schreckgespenst nicht nur für Hobby-Botaniker? Botanische Verwandtschaftsforschung von Linnaeus bis heute Von Manfred A. FISCHER Inhaltsübersicht In gekürzter Form vorgetragen auf der Jahrestagung Einleitung 350 der Fachgruppe Botanik Was ist Systematik des Naturwissenschaftlichen Vereines für Kärnten und Taxonomie? 350 Klagenfurt/Celovec, am 10. November 2012 Exkurs: Nomenklatur – Zusammenfassung ärgerlich, weil unverstanden 356 Missverständnisse über Ziele und Methoden der Systematik und Taxonomie so- wie Unkenntnis der Nomenklaturregeln sind schuld an der Ablehnung der Ergebnisse Kurzer Blick neuerer Verwandtschaftsforschung und am Ärger über „neue Namen“. Biologische in die Geschichte Systeme sind grundsätzlich veränderlich: Neue Methoden und Theorien führen in der Pflanzen- Vergangenheit und Gegenwart zu Änderungen des Pflanzensystems. Seit Darwin systematik 362 soll das natürliche System ein phylogenetisches sein, das aktuelle kladistisch-mole- Kladistische kulare System bedeutet daher keinen Bruch mit der Tradition. Die Anwendung kladis- Methodik 396 tischer (phylogenetischer) Methoden in der Taxonomie offenbart allerdings gewisse Differenzen gegenüber einem um die Darstellung der Evolution bemühten System. Phylogenie und Unterschiede zwischen traditioneller und kladistisch orientierter Taxonomie werden Evolution – Para- am Beispiel der („alten“) Ordnung Scrophulariales, der Familien Ericaceen und Plan- phyla und ungleiche taginaceen s. lat. sowie der Gattungen Neottia, Silene und Veronica erläutert. Durch Schwestern einen signifikanten phänetischen Hiatus abgehobene, evolutiv innovative terminale (Gamsheide) 400 Taxa sollten taxonomisch hervorgehoben werden und die dadurch paraphyletisch Das kladistisch- werdende ursprünglichere („ungleiche“) Schwestergruppe als das einen Grade molekularphylo- (Organisationsstufe) repräsentierende Taxon akzeptiert, jedoch ausdrücklich als genetische Paraphylon markiert werden (etwa mit dem griechischen Buchstaben Π). „moderne“ System (Silene, Ericaceen, Abstract Plantaginaceen) 404 Cladistic-molecular plant systematics – a nightmare not only for botany enthu- siasts? Exploring plant relationships since Linnaeus up to present times. Disapproval Exkurs: Ähnlichkeit and rejection of recent taxonomic changes and irritation at „new“ names are due und Verwandtschaft to generally misunderstanding the objectives and methods of plant systematics and in der traditionellen taxonomy as well as to unfamiliarity with nomenclature. Biological systems have Taxonomie always been changing as a consequence of applying new methods and theories. 414 Since Darwin, the natural system is understood to be phylogenetic. Hence, the Diskussion des modern „cladistic-molecular“ system means no break with the tradition. Cladistic traditionellen (phylogenetic) principles, however, reveal certain discrepancies between genea- Systems im logic and evolutionary taxonomy. Such differences are exemplified by the (traditional) Vergleich mit order Scrophulariales, the families Ericaceae and Plantaginaceae s. lat. as well as the dem kladis tisch- genera Neottia, Silene and Veronica. Crown taxa representing evolutionary innova- molekularen tions and distinguished by a phenetic hiatus should be taxonomically accentuated and APG-System 418 their paraphyletic sister groups, forming grades, accepted as taxa explicitely marked as paraphyletic (e.g. by the symbol Π). Literatur 422 ©Naturwissenschaftlicher Verein für Kärnten, Austria, download unter www.biologiezentrum.at 350 Fischer: Kladistisch-molekulare Pflanzensystematik Schlüsselwörter E i n l e i t u n g Traditionelle und Größere Veränderungen im Pflanzensystem seit rund einem Dezen- „molekulare“ Pflanzen systematik, nium und, damit im Zusammenhang, veränderte Bedeutungen vertrauter Ähnlichkeit vs. Pflanzennamen verunsichern sowohl Botaniker (sofern sie nicht zur Mi- Verwandtschaft, norität der Taxonomen gehören) und „Botanophile“, aber auch Gärtner Kladistik, Prinzipien und andere an Pflanzen Interessierte und eigentlich alle Benützer von der Taxonomie, Prin- Pflanzennamen. Der ohnehin schlechte Ruf der Systematik und Taxono- zipien der Systema- mie leidet darunter noch mehr: Anstatt für Ordnung zu sorgen, bereitet tik, evolutive Taxono- diese „sonderbare Sorte von Botanikern“ Verwirrung und Ärger. Haben mie, Geschichte des Pflanzensystems, sie nichts Besseres zu tun als mit den Namen zu spielen? Der Gänsefuß Botaniker seit eine Amaranthacee, der Ahorn ein Seifenbaumgewächs? Wieso soll die Theo phrast, Floristik, Zyklame keine Primulacee mehr sein? Und die Asclepiadaceen und die Nomenklatur, An- Tiliaceen wurden abgeschafft? Seit wann ist der Ehrenpreis ein Wege- gio sperm Phylogeny richgewächs? Wie können denn Wasserlinsen Aronstabgewächse sein? Group, Paraphylie, Und die Knabenkräuter heißen nicht mehr Orchis? Darf denn das sein? Lamiales, Scrophula- riales, Scrophularia- Ist das richtig? Was steckt dahinter? Erkenntnisfortschritt oder modische ceae, Brassicaceae, Wichtigtuerei? Ist es die so modern klingende „molekulare“ Systematik, Ericaceae, Primula- die Schuld trägt an diesen Ärgernissen? ceae, Salicaceae, Oder ist nicht eher die weit verbreitete Unkenntnis der Grundprin- Plantaginaceae, zipien der Systematik und Taxonomie und Nomenklatur die Ursache je- Antirrhinaceae, nes Unbehagens? Bezeichnen übrigens diese drei Wörter nicht dasselbe, Veroniceae; Neottia, Listera, Kalmia, nämlich jene ungeliebte und altmodische Wissenschaft, die ständiges Leiophyllum, Umlernen von uns fordert? Loiseleuria, Silene, Cucubalus, Veronica. Was ist Systematik und Taxonomie? Die Systematik als Teil der Biologie heißt richtig Biologische Syste- Keywords matik oder Biosystematik und befasst sich mit der wissenschaftlichen Traditional and Beschreibung und dem Vergleich der verschiedenen Organismen – ge- „molecular“ plant nauer: der Sippen – und erfasst deren gegenseitige Beziehungen, ver- systematics, similarity vs. affinity, sucht Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten zu dokumentieren und cladistics, principles zu deuten. Sie erforscht die organismische Vielfalt, untersucht sie nach of taxonomy, Gesetzmäßigkeiten und ist somit Biodiversitätsforschung; seit der Mitte principles of syste- des 19. Jahrhunderts, seit Charles Darwin ist sie Verwandtschafts- matics, evolutionary forschung. taxonomy, history Eng damit verbunden ist das Bestreben, die der Mannigfaltigkeit der of the plant system, botanists since Organismensippen innewohnende Ordnung zu klassifizieren, in einem Theo phrast, System abzubilden. Dies ist Aufgabe der Taxonomie, die somit dem floristics, nomen- Wortsinn „Systematik“ eher gerecht wird. Biosystematik und Taxonomie clature, Angio - werden manchmal auch – unter der einen oder der anderen Bezeichnung sperm Phylogeny – zusammengefasst. Wesentlich ist, dass es um die Erfassung der in der Group, paraphyletic Natur vorgegebenen Ordnung, der objektiv existierenden Zusammen- taxa, grades, Lami- hänge und Beziehungen geht. ales, Scrophularia- ceae, Brassicaceae, Es ist nämlich ein häufig anzutreffendes Missverständnis, dass die Ericaceae, Primula- Systematiker die Organismen bloß „einteilen“ und sich bei dieser Eintei- ceae, Salicaceae, lerei oft nicht einig sind, weswegen es zu Änderungen kommt, die dem Plantaginaceae, Wunsch nach einem stabilen System, wie es etwa das System der che- Antirrhinaceae, mischen Elemente ist, entgegenstehen. Die chemischen Elemente lassen Veroniceae, Neottia, sich nach einfachen Zahlenverhältnissen im Aufbau der Atome ordnen, Silene, Cucubalus, Listera, Kalmia, das resultierende „Periodische System“ ist damit zweifellos als „natür- Leiophyllum, Loise- lich“ anzusehen und daher stabil, weil es die Zusammenhänge zwischen leuria, Veronica. den Elementen konkurrenzlos gut darstellt und erklärt. Ganz anders ver- ©Naturwissenschaftlicher Verein für Kärnten, Austria, download unter www.biologiezentrum.at Fischer: Kladistisch-molekulare Pflanzensystematik 351 hält es sich mit dem System der Organismen, also der Mikroben, Pflan- zen, Pilze und Tiere. Deren Beziehungen untereinander sind wesentlich verwickelter, und über das, was „natürlich“ ist, kann und muss man ver- schiedener Ansicht sein. Übereinstimmung herrscht darüber, dass die Zusammenhänge in der Evolution zu finden sind. Sind es aber die Ab- stammungsverhältnisse (Genealogie und Phylogenie) oder die evoluti- ven Errungenschaften, die Komplexität der Organe und der Organisa- tionsstufen, sind es die Verschiedenheiten oder Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten, die für ein natürliches System maßgebend zu sein haben? Damit sind wir übrigens schon bei einem aktuellen Thema der gegenwärtigen theoretischen Taxonomie, das später zu behandeln sein wird. Die traditionelle Unterscheidung von künstlichen und natürlichen Systemen ist in diesem Zusammenhang nach wie vor relevant (vgl. Abb. 1 und 2). Künstliche Systeme berücksichtigen ein oder wenige Kriterien, sie können bestimmten Fragestellungen