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ARCTURUS 7 2019

Aue-Säätiön julkaisuja Skrifter utgivna av Aue-Stiftelsen Veröffentlichungen der Aue-Stiftung 41 Der Einfluss der Migranten auf Helsinki als Hauptstadt im 19. Jh.

Entfernte Partner? Gemeinsame Hoffnungen? Finnland und Deutschland in Europa

Finnland im Ersten Weltkrieg - mit deutschen Augen

Die Freien und Hansestädte und St.Petersburg Ulrich Simon ARCTURUS Inhalt Deutschsprachiger Raum und Vorwort ...... 3 europäischer Nordosten Der Einfluss der Migranten auf Helsinki als Hauptstadt Robert Schweitzer Blätter der Aue-Stiftung Helsinki Zur Einführung in das Seminar...... 6 für Geschichte und Kulturkontakt Asta Manninen Das multikulturelle Helsinki – Gegenwart und Zukunft ...... 10 Martti Helminen Hauptstadt Helsinki – 200 Jahre ...... 17 Antero Leitzinger Einwanderungspolitik des autonomen Finnland und der frühen Republik ...... 23 Marjatta Hietala Hauptstadtcharakteristika als Migrationsmagneten. Wissens- und Technologietransfer ...... 29 ------Veronica Shenshin Nr. 7 (2019) Die russischen Einwanderer und ihre Kultur in Finnland ...... 40 Veröffentlichungen Antero Leitzinger der Aue-Stiftung; 41 Aus dem „eurasischen Kaiserreich“: Tataren ...... 53 ------Erscheint nach Bedarf Entfernte Partner? Gemeinsame Hoffnungen? ------Finnland und Deutschland in Europa Aue-Säätiö Zum 25-jährigen Jubiläum des öffentlichen Wirkens der Aue-Stiftung ...... 58 Prof. Dr. Wolfram Hilz Munkkiniemen puistotie 18 B 47 Deutschlands „neue“ Rolle in Europa – Chancen und Probleme für FIN-00330 HELSINKI die EU-Partner ...... 59 Tel: +358 (0)50 4089416 Robert Schweitzer E-Mail: [email protected] 25 Jahre Wissenschaft und Forschung durch die Aue-Stiftung ...... 68 Internet: www..aue-stiftung.org Ilkka-Christian Björklund ------Rückblick ...... 71 ------Herausgeber: Finnland im Ersten Weltkrieg - mit deutschen Augen Uta-Maria Liertz Robert Schweitzer Uta-Maria Liertz Vertrauensmann in finnischen Angelegenheiten ...... 76 Manfred Menger Layout: Deutschland und Finnland 1914-1918 ...... 81 Jeanette Lindblom Matti Lackman Für Finnland oder für Deutschland? Aktivisten und Jäger vor Die Beiträge geben die Meinung einer schwierigen Entscheidung ...... 98 der Autoren wieder. ------Die Freien und Hansestädte und St.Petersburg Druck: Ulrich Simon BoD - Books on Demand, Partikulare Russlandinteressen im deutschen Gesamtstaat ...... 112 Norderstedt, Deutschland ------Aktuelles und Verschiedenes Bestellung: Aue-Stiftung Christoph Parry Einzelheft 12 € +Versand Olavi Paavolainens Zu Gast im Dritten Reich im Kontext des national- IBAN: FI2920801800021823 konservativen finnischen Deutschland-Diskurses der dreißiger Jahre ...... 166 SWIFT: NDEAFIHH Klaus Reichel Wipert von Blücher. Gesandter zwischen Diktatur und Demokratie ...... 181 ------Manfred Menger © Herausgeber & Aue-Stiftung Marjaliisa Hentilä - Seppo Hentilä, 1918 – Das deutsche Finnland ...... 189 Helsinki 2019 Jorma Heimonen ISSN 1797-6154 Fußspuren in Wiborg...... 194

2 ARCTURUS 7 • 2019 Zu guter Letzt

ir bedauern den halt dieses Bandes Wstarken Zeitver- wichtige Beiträge aus zug, mit dem diese dem Arbeitsgebiet der Ausgabe von ARC- Stiftung auf Dauer zu- TURUS erscheint. gänglich zu machen, Auch wenn nur für ein Erscheinen die ja als Produkte der Geschichts- nach Bedarf gedacht hielt er fast einen wissenschaft ihre Aktualität nicht so Jahrestakt ein, der dann nicht mehr schnell verlieren. Allerdings haben sich gehalten werden konnte. Von den viel- die Erwartungen an Leistungen eines fältigen Gründen seien doch einige solchen Organs auch verschoben. wichtige genannt. Das Vorhaben, die War es uns in den ersten Jahren noch Publikation v.a. zur Dokumentation von wichtig, auch Nachrichten über Institu- Aktivitäten der Stiftung und zur Ver- tionen der wechselseitigen und über- öffentlichung einzelner eingehender greifenden politischen und Kulturbezie- Untersuchungen zu nutzen, die kein hungen Finnlands und Deutschlands ganzes Buch rechtfertigen würden, er- zu veröffentlichen, so geschieht dies schwerte sich an den hierfür typischen längst aktueller auf den Websites die- Tücken. Einerseits war es das Warten ser Akteure. Da die Aue-Stiftung auch auf den Eingang aller Beiträge, bei dem selbst dazu übergegangen ist, mög- man erst spät erkennt, dass man es lichst alle früheren Publikationen auch früher hätte aufgeben sollen. Anderer- auf ihrer Homepage zugänglich zu ma- seits erwiesen sich einige als „Feature“- chen, ergab sich auch zunehmend die Artikel für die Mitte des Hefts geplanten Überlegung, Texte direkt über dieses Beiträge doch als einer Buchveröffent- Medium zu verbreiten. lichung als würdig, was aber den Pu- Als Konsequenz aus verschiedensten blikationstakt durcheinander brachte. Entwicklungen hat sich die Aue-Stif- Denn diese ungeplant-willkommenen tung entschlossen, das Periodikum Untersuchungen banden erhebliche ARCTURUS nicht mehr nach dem bis- Redaktionskapazitäten. Zum Schluss: herigen Konzept und in der bisherigen die Folge von Seminaren, Tagungen Form erscheinen zu lassen, sondern und Publikationsprojekten wurde im ihm einen aktuelleren Charakter zu vergangenen Jahrzehnt immer dichter. geben. Diesen wird freilich der „neue“ Die Wahl zwischen Veranstalten und ARCTURUS in seinem ersten Heft Dokumentieren fiel dann lange Zeit auf selbst darstellen. das erstere. Mit Dank für das Interesse verabschie- Trotzdem sind wir sicher, mit dem In- den wir uns von unserer Leserschaft.

Uta-Maria Liertz Robert Schweitzer

ARCTURUS 7 • 2019 3

Der Einfluss der Migranten auf Helsinki als Hauptstadt im 19. Jh.

9. Snellman-Seminar der Aue-Stiftung, 11.-12.10.2012

Veranstalter: Aue-Stiftung (Helsinki) und Amt für Statistik, Forschung und Stadtarchiv der Stadt Helsinki (Helsingin tietokeskus)

Redaktion: Robert Schweitzer und Uta- Maria Liertz

Helsinki 2019

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Robert Schweitzer, Forschungsleiter der Aue-Stiftung

Zur Einführung in das Seminar

illkommen zum IX. Snellman- und Geschichte im Europäische WSeminar! Aus diesem Anlass Nordosten“, für die sich die Be- möchte ich etwas zu der Reihe, zu zeichnung „Tallinner Symposien“ ihrer Philosophie und ihrer Organi- eingebürgert hat , dass sie nicht in sationsform sagen. erster Linie dem Austausch von For- Ins Leben gerufen wurden die Snell- schungsergebnissen dienen sollten. man-Seminare von der ersten, 2008 Vielmehr sollten auf ihnen Personen so früh und plötzlich verstorbenen aus Wissenschaft und Journalismus Geschäftsführerin der Stiftung, Wal- einerseits, Politik, Diplomatie und traud Bastman-Bühner. Sie hatte Wirtschaft andererseits aus Finn- eine Kooperation mit der Hamburger land und den deutschsprachigen Stiftung F.V.S. vereinbart, gemein- Ländern einen freien Gedankenaus- sam abwechselnd in Finnland und tausch über allgemein interessieren- im deutschsprachigen Mitteleuropa de oder aktuelle Themen von euro- diese Seminare zu veranstalten. Die päischem Interesse pflegen. Reihe begann in Klingenthal im El- Warum wurde Snellman als Na- sass 1993 mit dem Thema „Finnland menspatron gewählt? Wenn man und die europäische Integration“. nach Namen sucht, die Fest verbunden sind diese Veran- a) für die Verbindungen Finnlands staltungen mit dem Namen Peter zum deutschsprachigen Mitteleuro- Bazings, des langjährigen deut- pa Bedeutung haben und (vor allem) schen Botschafters in Helsinki, der b) in weiteren Kreisen der an diesem mit großer Sachkunde und geschick- schon an sich speziellen Thema In- ter Gesprächsführung alle Seminare teressierten bekannt sind, bis zum Jahre 2009 geleitet hat. so leuchten zwei Sterne am hellsten: Zur ursprünglichen Philosophie der Es sind die Namen des finnischem Snellman-Seminare gehörte – im Reformators und des Unterschied z.B. zu den von der finnischen Philosophen und Staats- Aue-Stiftung als Kooperationspro- manns Johan Vilhelm Snellman, jekt veranstalteten „Internationalen die jeweils eine Brücke schlagen zu Symposien zur deutschen Kultur zwei berühmten deutschen Namen:

6 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt dem des Reformators wie die Aue-Stiftung das gesamte und des Philosophen Georg Wilhelm deutschsprachige Mitteleuropa als Friedrich Hegel. Mit dieser Namens- Arbeitsgebiet sieht; es war beim 6. wahl konnten wir auch unseren da- und 7. Snellman-Seminar Mitveran- maligen deutschen Kooperations- stalter. partner überzeugen. Beim jetzigen Seminar ist die Stadt Helsinki unser Partner, und die Ak- Aber auch zur Philosophie der Se- tualität ergibt sich aus dem Haupt- minare passte der Name Snellmans stadtjubiläum einerseits, aber vor gut: er war Wissenschaftler, Philo- allem aus der andauernden Diskus- soph (was im 19. Jahrhundert oft sion über den Stellenwert von Mig- gleichbedeutend mit Politologe war), ration. aber auch ein streitbarer Journalist Es seien noch einmal die bisheri- und in seinen wenigen Amtsjahren gen Snellman-Seminare im Über- erfolgreicher Politiker. Er ließ kei- blick genannt; am Ende in Klam- nen Zweifel an der Verankerung mern stehen jeweils die Nummern Finnlands im europäischen Kon- der Schriftenreihe der Aue Stiftung text aufkommen, warnte aber seine („Veröffentlichungen der Stiftung zur Landsleute mit Recht davor, die Be- Förderung deutscher Kultur“, ab Nr. dingtheiten von Finnlands geogra- 10 „Veröffentlichungen der Aue-Stif- phischer Lage zu ignorieren. tung“), in denen die Ergebnisse pub- Die Snellman-Seminare blieben liziert wurden: auch weiterhin kooperativ angelegt, auch nachdem sich die Stiftung 1 1993 Schloss Klingenthal (Elsass): F.V.S. nach der fünften Veranstaltung Finnland und die europäische Inte- 1999 anderen Förderungsschwer- gration I (4) punkten zuwendete. Das große VIII. 2 1994 Aavaranta bei Helsinki: Finn- Snellman-Seminar freilich hat die land und die europ. Integration II (5) Aue-Stiftung im Alleingang 2009 als 3 1995 Haus Rissen in Wedel bei ihren Beitrag organisiert zum Ge- Hamburg: Zur Neuorientierung der denken an das finnische „Merkki- deutsch-finnischen Beziehungen vuosi (Denkwürdigkeitsjahr)“ 1809 nach 1945: Politik und Geschichte das Jahr der Trennung Finnlands (8; Zusammenfassung) vom schwedischen Reich einerseits 4 1997 Haus Rissen in Wedel bei und des Beginns seiner autonomen Hamburg: Zur Neuorientierung der staatlichen Existenz im Zarenreich deutsch-finnischen Beziehungen andererseits. nach 1945: Wirtschaft und Handel Besonders kam als Kooperations- (8) partner das Finnland-Institut in 5 1999 Aavaranta bei Helsinki: Zur Deutschland in Berlin in Frage, das Neuorientierung der deutsch-fin-

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 7 nischen Kulturbeziehungen nach tian Morgenstern im Ohr, der ein- 1945 (11) mal scherzhaft-ironisch den Mond 6 2001 Berlin, Finnland-Institut: als „völlig deutschen Gegenstand“ Finnland in der deutschsprachigen bezeichnete. Die Internationalität Presse (13) Helsinkis war eben keineswegs ein 7 2006 Rust am Neusiedler See: völlig deutscher Gegenstand. Schon Veränderte Arbeitswelt (19) in diese Ausstellung wurden deshalb 8 2009 Krapihovi bei Helsinki: Auto- Banner zu den Themen „Helsinki als nomie – Illusion oder Hoffnungs- Hauptstadt“, „Einwanderungspoli- schimmer? (28) tik Finnlands“ sowie über Russen, Schweden, Juden und Tataren als Die Idee für das jetzige Snellman- Elemente des multikulturellen Hel- Seminar nahm ihren Ausgang von sinki einbezogen. Trotzdem ist mit der Ausstellung, die hier unseren neun Persönlichkeiten und drei In- Saal schmückt. Die Aue-Stiftung hat stitutionen das deutschsprachige sich sehr früh an den Diskussionen Element noch stark vertreten. Um über die Veranstaltungen zum Stadt- diese Konzentration in der Ausstel- jubiläum beteiligt und vorgeschla- lung selbst durch ein Gesamtbild zu gen, die Internationalität der jungen ergänzen, haben wir dieses Seminar Hauptstadt Helsinki vor allem im lan- organisiert. gen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Es soll den Gesamtzusammenhang Weltkrieg zu thematisieren. Damit in Erinnerung rufen, vor dem sich sind wir auf offene Ohren gestoßen. die deutsche Migration in die Haupt- Unser Angebot war, darin das The- stadt vollzog. Geklärt werden sollten ma „Deutsche“ zu bearbeiten und zunächst die Rahmenbedingungen Nachhaltigkeit dadurch herzustellen, auf höherer Ebene. Das sind einer- dass dieser Teil der Ausstellung wie- seits die fast naturwüchsigen Ge- derverwendbar bliebe und auch im setze der Migrationsbewegungen – deutschsprachigen Raum gezeigt oft „push factors“ und „pull factors“ werden würde. Ich erinnere mich genannt. Andererseits sind es die noch an den frechen Arbeitstitel „Mi- gesetzlichen Einwanderungs- und granten – zum Beispiel Deutsche“, Einbürgerungsbestimmungen. Um der auch meine Landsleute stutzig aber den Anlass, das Hauptstadtju- machen sollte – dass sich nämlich biläum, nicht aus dem Auge zu ver- alle diese Erfolgsgeschichten um lieren, sollen dann die besonderen den Architekten Engel und die Kauf- Charakteristika thematisiert werden, leute Stockmann und Paulig auch die Helsinki in seiner besonderen um Migranten drehten. Stellung als Hauptstadt für Migration Freilich klang uns sofort die Mah- interessant machten. Sie und das nung des deutschen Dichters Chris- spätere Publikum werden die un-

8 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt erbittliche Frage „was brauchte eine tragenden gefunden. Eine Referen- Hauptstadt und was konnte … bie- tin für die nächsten und verwandten ten?“ in einer Sprechblase auf jeder Esten hatten wir, aber sie musste Stellwand der Ausstellung wieder- im letzten Augenblick absagen. Am finden. anderen Ende der Skala standen Dann sollten charakteristische Ein- die kleinen Gruppen, die der Migra- wanderergruppen behandelt wer- tionsszene Farbe gaben –eine Stadt den. Um den Wald nicht vor lauter kann eben nicht metropolitan sein Bäumen zu übersehen, mussten wollen und keine Exoten in ihren die Russen an erster Stelle stehen Mauern haben. Als Beispiele haben – Helsinki war ja durch den Über- wir Juden und Tataren gewählt. Wir gang an Russland Hauptstadt ge- danken Antero Leitzinger, dass er worden. Wir hätten auch gerne die für das zweite Thema im letzten Au- Reichsschweden thematisiert, die genblick eingesprungen ist. nach Zahlen auch noch vor den Ich wünsche uns allen interessan- Deutschen rangieren, aber eine te Beiträge und anregende Diskus- sprachlich so unauffällige Gruppe sionen und damit dem Seminar viel integriert sich leicht und ist schwer Erfolg. zu erforschen – wir haben keine Vor-

Foto: Robert Schweitzer. Aus der Ausstellung "Migranten in Helsinki"

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 9 Asta Manninen

Das multikulturelle Helsinki – Gegenwart und Zukunft

m Jahre 1900 waren acht Prozent gab es 68 000 Personen in Helsinki, Ider Einwohner Helsinkis im Aus- die eine andere Muttersprache als land geboren. Zwischenzeitlich sank Finnisch, Schwedisch oder Samisch ihre Anzahl auf unter zwei Prozent, hatten, und ihr Anteil an der Bevölke- aber seit 1991 hat sich die Zahl im rung beträgt jetzt 11,5 Prozent. Die Ausland geborener Menschen durch Russischsprachigen bilden darunter Einwanderung rasch erhöht. Zum mit ca. 14 500 Personen die größte Jahreswechsel 2011/2012 lebten Gruppe, gefolgt von den Estnisch- in Helsinki 48 000 ausländische sprachigen (ca. 9000 Personen) Staatsbürger, was einen Anteil von und den Somali-Muttersprachlern acht Prozent in der Stadtbevölke- (ca. 6800 Personen). Diese Sprach- rung ausmacht. Im Jahre 1900 hatte gruppen bilden zusammen 45 Pro- Helsinki eine Bevölkerung von 93 zent aller Fremdsprachigen. Weitere 217 Personen, und zu Beginn des größere Sprachgruppen sind Eng- Jahres 2012 waren es 595 384. Der lisch (4600), Arabisch (3200) und Anteil schwedischsprachiger Finnen Chinesisch (2500). In den Jahren unter den Einwohnern Helsinkis be- 2009-2011 konnten unter den größ- trug zum Jahreswechsel 2011/2012 ten Sprachgruppen (d.h. denjenigen 6 Prozent. mit über 1000 Sprechern), folgende Die Anzahl ausländischer Staats- das schnellste Wachstum mit einer bürger wächst langsamer als die Zunahme von über 30 Prozent ver- des Bevölkerungsanteils mit aus- zeichnen: Estnisch, Persisch bzw. ländischer Muttersprache, da im- Farsi, und Kurdisch. mer mehr Menschen die finnische Nach 2007 erhöhte sich die fremd- Staatsbürgerschaft erhalten, neuer- sprachige Bevölkerung durch Zu- dings ca. 1000-1200 im Jahr. Die zug aus dem Ausland jährlich um Anzahl und der Anteil fremdsprachi- 3500 Personen. Helsinki verliert ger Personen wächst in Helsinki und durch Umzug in Nachbargemeinden Umgebung schnell, in den letzten durchschnittlich 500 fremdsprachige Jahren um über 4000 Personen im Einwohner im Jahr, aber erhält eine Jahr. Zum Jahreswechsel 2011/12 vergleichbare Anzahl aus anderen

10 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Teilen Finnlands durch Zuzug. In also insgesamt sieben Prozent der diesem inländischen Zuzug stammt Bevölkerung sein. der größte Teil der Menschen aus Den Schätzungen nach werden im denjenigen Ländern, aus denen Jahr 2030 in Helsinki die Russisch- man für gewöhnlich als Flüchtling sprachigen die größte Gruppe stel- nach Finnland kam. len, in Espoo und Kauniainen wie- Die Bevölkerung mit ausländischem derum die sogenannte fernöstliche Hintergrund hat begonnen, sich Sprachgruppe, und in der weiteren gleichmäßiger als früher in Helsinki Umgebung der Hauptstadt die balti- und Umgebung zu verteilen, jedoch schen Sprachen. In Vantaa sind die rechnet eine im Februar 2013 fertig- baltische und die russische Sprach- gestellte Prognose über die fremd- gruppe in etwa gleich groß, und auch sprachige Bevölkerung im Jahr 2030 ihre Wachstumsgeschwindigkeit ist mit einem deutlich größeren Anteil sehr ähnlich. Der Anteil der nahöst- Fremdsprachiger in der Hauptstadt- lichen und afrikanischen Sprachen region (Helsinki, Espoo, Vantaa und innerhalb aller Fremdsprachigen Kauniainen) als in deren Umgebung wächst am meisten in Helsinki. (Kirkkonummi, Vihti, Nurmijärvi Tuu- Die Altersstruktur der fremdsprachi- sula, Kerava, Järvenpää, Hyvinkää, gen Bevölkerung ist im Vergleich mit Mäntsälä, Pornainen und Sipoo). der Gesamtbevölkerung jung. Darin Nach dieser neuen Prognose wird stellen Kinder, Jugendliche und Per- sich die Anzahl Fremdsprachiger in sonen im arbeitsfähigen Alter den Helsnki bis 2030 von den heutigen größten Teil, während es gleichzeitig 68 000 auf 146 000 Personen erhö- nur wenige fremdsprachliche Rent- hen, und ihr Anteil an der Bevölke- ner gibt. In Helsinki wird sich die An- rung damit von knappen 12 auf 21 zahl von Personen im arbeitsfähigen Prozent. In Espoo wird ihre Anzahl Alter zukünftig aufgrund des Wachs- von 26 000 auf 64 400 und der Anteil tums der fremdsprachigen Bevölke- von 10 auf fast 21% steigen. In Van- rung erhöhen. taa leben heute 22 000 Menschen mit fremder Muttersprache, und für 2030 rechnet man mit 56 000, was bedeutet, dass der Anteil dieser Gruppe an der Bevölkerung insge- samt von 11 auf 23% steigen wird. In der Umgebung um die Hauptstadt herum leben heute 10 500 Fremd- sprachige, und im Jahr 2030 werden es schätzungsweise über 25 000,

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 11 12 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 13 14 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 15 QUELLEN Die Autorin Helsingin tila ja kehitys 2013, S. 27-28. Helsingin kaupungin tietokeskus 2013. Helsinki 2013. Asta Manninen war 2001-2015 Leiterin des Informationszent- Helsingin seudun vieraskielisen väestön rums der Stadt Helsinki. Ihr ennuste 2013–2030. Tilastoja 2013:5. besonderer Forschungs- und Er- Helsingin kaupungin tietokeskus yhteistyössä fahrungsschwerpunkt sind Stadt- Espoon kaupungin kaupunkitiedon ja Vantaan kaupungin tietopalveluyksikön kanssa. und Regionalstatistik, sie ist Teil Helsinki 2013. der “Open Knowledge Foundati- on Finland“, Mitherausgeber des Helsingin väestö vuodenvaihteessa „Statistical Journal of Internatio- 2011/2012 ja väestönmuutokset 2011. nal Official Statistics“ (SJIAOS) Tilastoja 2012:23. Helsingin kaupungin tietokeskus 2012. Helsinki 2012. und Mitglied des International Statistical Institute, des IAOS und dessen ständigen Komitees für Stadt- und Regionalstatistik (SCORUS).

Multicultural Helsinki – pre- sence and future

Through statistical data this article presents the foreign elements in Helsinki and the capital area from 1900 until now and projects its probable development until 2030. The study differentiates the va- rious language groups and origins of the immigrants as well as their age structure, considering also the taking of Finnish citizenship.

16 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Martti Helminen

Hauptstadt Helsinki – 200 Jahre

n diesem Bild – die Alexander- kann man die mehr als hundert- Astraße in den zwanziger Jahren jährige, sogar die fast zweihundert- - kann man die Ähnlichkeit mit jährige Entwicklung unserer Haupt- dem urbanen mitteleuropäischen stadt Helsinki erzählen. Stadtbild sehen, z.B. mit der Am Stadtplan aus dem Jahr 1707 Friedrichstrasse in Berlin. Gemeint – während des nordischen Krieges ist natürlich die ehemalige Friedrich- – kann man sehen, dass die Stadt straße, die heute nicht mehr existiert. anders aussah (zum Beispiel reichte Ich versuche jetzt, die allgemeine die Kluuvi-Bucht noch zu Anfang Entwicklung in Helsinki darzustellen. des 19. Jahrhunderts bis in die Am Beispiel der Alexanderstraße Stadtmitte). Nach ein paar Jahren

Die Alexanderstraße war schon in den 20rn die wichtigste Geschäftsstraße in Helsinki, z.B. hatten die meisten Banken ihre Hauptkontore in dieser Straße (Stadtmuseum).

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 17 kamen die Russen und 1713 mussten von Langhans, dem Architekten des die Einwohner und die schwedisch- Berliner Brandenburger Tors, und ist finnische Armee flüchten und die im Jahr 1840 in Helsinki gestorben. Stadt wurde in Brand gesetzt - alles Zar Alexander I. interessierte ist abgebrannt, auch die Dokumente sich für Bebauungspläne und (im Stadtarchiv beginnen die ältesten architektonische Fragen, genauso Archivsammlungen erst nach 1721). sein Bruder und Nachfolger Zar Nach dem Krieg musste man wieder Nikolaus I. Beide Zaren haben Engel eine neue Stadt bauen. Die heutige mehrmals zu sich gerufen und sehr Alexanderstraße – die damalige gern mit ihm über die Pläne für Großstraße –, hatte man auch Helsinki gesprochen. wieder im neuen Stadtplan. Für den neuen Stadtplan waren die breiten Straßen typisch (z.B. 90 Jahre später war Finnland schon die Esplanade, der Bulevard) – das ein Teil des russischen Zarenreichs. Vorbild war St. Petersburg mit seinen Unter dem ersten Zaren, Alexander Palästen. Die prächtigen Gebäude I. wurde 1809 Finnland ein separates am Senatsplatz, der Dom, der Großfürstentum. Drei Jahre Senat, die Universität… Alles das ist später erklärte der Zar Helsinki vom Architekten Engel entworfen. zur Hauptstadt. Die mächtige Und natürlich viel mehr – überall Seefestung Viapori/Sveaborg (das in der Stadtmitte – Krankenhäuser, heutige Suomenlinna) spielte eine große Kasernen… wichtige Rolle in diesem kaiserlichen Die Stadt im Empirestil war fertig, Beschluss. Russland hatte Finnland als die Nikolaikirche – der heutige und die Festung Viapori im Interesse Dom – endlich eingeweiht wurde. Da der Sicherheit St. Petersburgs in lebte man schon im Jahr 1852. seinem Besitz gebracht. Gleichzeitig – 1812 – bekam Helsinki Sofort danach hat in Finnland und einen neuen Stadtplan, und wieder natürlich hier in der Hauptstadt war es an der Zeit eine neue Stadt zu die Industrialisierung begonnen. bauen, allerdings sollte sie diesmal Viele ausländische Geschäftsleute ein dem Zaren entsprechendes kamen nach Finnland, um bessere zeitgemäßes, möglichst prächtiges Kontakte über St. Petersburg Aussehen erlangen. auch auf den russischen Markt zu Das Komitee für den Wiederaufbau bekommen. Sehr große Bedeutung fand einen Architekten, der früher in spielte die Eisenbahnverbindung Reval/Tallinn und St. Petersburg tätig nach St. Petersburg – fertiggestellt war. Carl Ludvig Engel kam im Jahr im Jahr 1870. Heute ist es schwer 1816 nach Helsinki. Engel ist 1778 sich vorzustellen, wie es damals in Berlin geboren; er war Schüler während der Winterzeit noch war. Die

18 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Die Esplanade war am Anfang des 20. Jahrhunderts das lebendige Herz der Stadt. Viele Cafés, Restaurants u. Geschäfte sowie auch Kinos und Theater lockten die Helsinkier und Reisende. Die Esplanade ist immer noch die Prachtstraße der Stadt ähnlich wie ´Unter den Linden` in Berlin (Stadtmuseum).

Ostsee, vor allem der Finnische Geschäftsleute - die ersten waren Meerbusen, konnte fast ein halbes Russen. An der Alexanderstraße hat Jahr zugefroren sein, von Ende Fjeodor Kiseleff eine Zuckerfabrik Oktober bis Anfang Mai! Die ersten eröffnet. Alles war ihm gut gelungen, Eisbrecher kamen in den neunziger und bald hatte er eine neue moderne Jahren. Jetzt erst, also ab 1870, war Fabrik außerhalb der damaligen es möglich, das ganze Jahr hindurch Stadt in Töölö. Die Fabrik stand dort kommerzielle Kontakte zu halten. bis Mitte 1960. Heute haben wir das neue Opernhaus an der gleichen Nach Helsinki kamen schon Anfang Stelle, wo früher die Zuckerfabrik des 19 Jahrhunderts ausländische lag.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 19 Altes und neues Warenhaus. Georg Stockmann hatte sein erstes Warenhaus am Se- natsplatz von 1880 bis 1930. Schon um 1917 hatte er neue Ideen und bestellte beim Architekten S. Frosterus die Pläne für ein modernes Warenhaus (Stadtmuseum u. Architekturmuseum).

In Helsinki waren die wichtigsten Fleischereien in den Händen von Deutschen. Einer von ihnen war Carl Knief. Er hatte in den 20er Jahren seinen stilvollen Wurstladen an der Kaivokatu, gegenüber dem Hauptbahnhof (Stadtmuseum).

20 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Zurück zu der Alexanderstraße. nämlich ein modernes Warenhaus Das Gebäude in der Alexander- am Ende der Alexanderstraße bauen straße, in dem früher Kiseleff seine zu lassen. Damals war das Vorbild Zuckerfabrik hatte, kaufte der ein Kaufhaus in Berlin: Wertheim. Geschäftsmann Georg Stockmann Also wieder Berlin! Das moderne und baute bald alles um. Im Jahr Kaufhaus, vom Architekten Sigurd 1880 eröffnete er dort das erste Frosterus entworfen, wurde im Jahr Warenhaus. Er kam aus Lübeck, 1930 eröffnet. und das erste Geschäft öffnete vor Schon am Ende des 19. genau 150 Jahren, also 1862 in Jahrhunderts hatten viele Banken Helsinki seine Tore. Am Senatsplatz und große Firmen ihre Hauptkontore lag das Warenhaus 50 Jahre, bis an der Alexanderstraße. Noch 1930. Schon während des ersten größere Hauptkontore hat man auch Weltkrieges hatten die Brüder später, vor allem in den zwanziger Stockmann neue Pläne geschmiedet, und dreißiger Jahren gebaut.

Alexanderstraße im Februar 1944 Die Sowjetunion bombardierte Helsinki sehr oft während des II. Weltkriegs; die schwers- ten Angriffe waren im Februar 1944. Während dreier Nächte wurden etwa 16000 Bom- ben abgeworfen. Zum Schutz der Stadt gab es viele effektive, schwere Flakbatterien. Im Jahr zuvor, 1943, hatte Finnland aus Deutschland schlagkräftige Flakwaffen und Ra- dargeräte für den Schutz der Stadt bekommen. Der Luftschutz war deshalb erfolgreich und von diesen tausenden Bomben haben nur ungefähr 5 % das Stadtgebiet getroffen. 150 Einwohner wurden trotzdem getötet und etwa 400 verwundet. 109 Häuser wurden total zerstört (Armeearchiv).

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 21 Hier noch einige statistische Daten, Die Sprachen (%) um 1900: z. B. Einwohner: Finnischsprachige: 50.7 Schwedischsprachige: 42,5 1875 / 23 070 Russischsprachige: 4,7 1900 / 79 126 Deutschsprachige: 0,8 1950 / 368 519 Jiddischsprachige: 0,3 2000 / 551 123 Andere Sprachen: 2,0

Der Autor Publikationen:

Martti Helminen ist Forscher - Helsingin Suurpommituk- am Stadtarchiv von Helsinki und set helmikuussa 1944 mit As- Vorsitzender des stadt- und kul- lak Lukander 2004 [Die großen turgeschichtlichen Fördervereins Bombardierungen von Helsinki Helsinki-seura. Sein Schwerpunkt Februar 1944] ist die Stadtgeschichte, insbeson- dere die Geschichte der Gastro- - Helsinki Historiallinen kau- nomie. Weiterhin ist er Spezialist punkikartasto – Historic Towns für die Familiengeschichte des Atlas mit Marjatta Hietala und an- Grafen Berg (Generalgouverneur deren 2009 von Finnland 1856-1861). Helsinki as a capital – 200 1954 in Helsinki geboren years

1973 Abitur (Helsingin Suomalai- The development of Helsinki as nen Yhteiskoulu) a town from the beginning of the 18th century and then as a ca- 1980 Staatsexamen (finnische u. pital of the autonomous Grand skandinavische Geschichte / an Duchy under Tsar Alexander I. is der Universität Helsinki) demonstrated through architec- tonic descriptions and historical ab1978 Spezialforscher im Stadt- pictures. archiv von Helsinki

22 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Antero Leitzinger

Die Einwanderungspolitik des autonomen Finnland und der frühen Republik

innland wurde erstmals ein mehr und wollen keine Russen wer- FStaat durch die Eroberung von den, also lasst uns Finnen sein!” soll 1808, die Erklärung eines autono- Adolf Iwar Arwidsson den nationalen men Großfürstentums in Porvoo Stolz formuliert haben. im März 1809 und den Frieden von Die ersten spezifisch Finnland be- Hamina Ende 1809. Als Schweden treffenden Bestimmungen zur Ein- seine finnischen Provinzen an Russ- reise von Ausländern wurde schon land abtreten musste, erhielt die in 1811 erlassen und seit 1862 gab Bevölkerung die Option, entweder es eine einheitliche Ausländerver- als schwedische Untertanen aus ordnung. Bis zur Selbständigkeit Finnland auszuwandern oder als Finnlands war die Ausländerverwal- russische Untertanen in Finnland tung aber auf die Gemeinden und weiterzuleben. Diese Option wurde Provinzen verstreut. bis Ende 1815 erweitert, aber in wel- Die Wiedervereinigung im Januar chem Umfang sie genutzt wurde, ist 1812 brachte Finnland, dessen Be- unerforscht geblieben. Besonders völkerung zuvor aus Mitgliedern der in der schwedischen Hauptstadt evangelisch-lutherischen Gemein- Stockholm erhielt sich eine finnische den bestand, einige Besonderhei- Flüchtlingsgemeinde, aber nach den ten. Das Dorf Kyyrölä hatte eine rus- ersten noch unsicheren Jahren sind sisch-orthodoxe freie Bauernschaft viele Finnen zurückgekehrt. Da Finn- (anderswo gab es russische Leibei- land seine angestammten schwedi- genen, die aber nicht zur ständigen schen Gesetze behalten durfte und Wohnbevölkerung gerechnet wur- sogar durch eine Wiedervereinigung den). In den altfinnischen Städten mit der schon zuvor im 18. Jahrhun- (Wiburg, Hamina, Lappeenranta) derten eroberten Provinz von Wi- gab es sowohl russisch-orthodoxe burg (für die Russen “Alt-Finnland”) als auch römisch-katholische Bür- gestärkt wurde, entwickelte sich all- ger, sowie die ersten geduldeten jü- mählich die Idee einer finnischen dischen Händler. Mit der russischen Nation – ”Wir sind keine Schweden Armee kamen sogar muslimische

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 23 Soldaten nach Finnland, obwohl sie und Ausbürgerungsrecht dauerten kein Recht erhielten, nach erfüllter bis 30.6.1968. Dienstpflicht zu bleiben und ihre Fa- Es gibt keine Forschung und nicht milien nachziehen zu lassen. einmal Schätzungen darüber, wie Einbürgerung in Finnland war leicht. viele ausländische Frauen durch Ausländer konnten sich entweder in ihre Heirat mit einem finnischen die bürgerlichen Gilden oder einfach Mann automatisch eingebürgert in den Bevölkerungsregistern eines wurden. Man kennt schon aus dem Ortes eintragen lassen. Nähere Be- 19. Jahrhundert mehrere Schweizer stimmungen wurden seit 1819 er- Gouvernanten und Lehrerinnen, die lassen und eine zentralisierte Pra- in Finnland heirateten. Wenn sie im xis zum Einbürgerungsverfahren Ausland heirateten, galten solche gab es ab 1832, obwohl noch lange Frauen als finnische Staatsbürgerin- viele Leute versehentlich ein- oder nen schon bei ihrer ersten Einreise ausgebürgert werden konnten. Erst nach Finnland - ob es dann über- seit 1920 gab es ein einheitliches haupt noch um Einwanderung von Einbürgerungsgesetz und seit 1827 Ausländern geht, ist eine interessan- auch ein Ausbürgerungsgesetz. te Frage an sich. Manchmal ist es Auch wenn man über 3600 auslän- nicht ganz leicht zu bestimmen, wer dische Familien kennt, die während nun eigentlich Ausländer(in) war. der Autonomie (bis 1917) ordentlich Schon in den 1920er Jahren gab es eingebürgert wurden, gibt es viele Scheinehen von Ausländerinnen mit Lücken. Erstens weiß man nicht im- Finnen zwecks Erhalt einer Einreise- mer, ob sie auch den Treueid leiste- bewilligung: „Hiring Finnish men to ten, ohne den ein angenommenes marry Russian women to enable the Einbürgerungsgesuch wirkungslos latter to get out of Russia, has beco- blieb. Zweitens betrug die Zahl der me a popular and lucrative business ohne Zustimmung des Senats ein- in the border towns south of Viborg. gebürgerten Russen bis 1858 etwa The Finns exact a high price, but the 3200. Drittens wurden Ehefrauen method is unfailing.“ (El Paso Herald und Kinder nicht separat gerechnet, 21.9.1920) sondern folgten automatisch der Söhne wurden (bis 20.6.1969) mün- Ein- oder Ausbürgerung des Famili- dig mit 21 Jahren, Töchter eine Zeit- enoberhauptes: ”Waimo seura myös lang (von 1864 bis Ende 1899) erst miehensä säätyä ja tilaa”, bestimmte mit 25 Jahren. Dadurch konnten in das Erbrecht (Naimakaari) von 1734 Finnland wohnende junge Auslän- (9. Art. 1 §). Die Ehevormundschaft derinnen durch Heirat eingebürgert dauerte bis Ende 1929 und die ge- werden ohne je ihre eigenen Auf- schlechtlichen Unterschiede im Ein- enthaltsbewilligungen zu besitzen.

24 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Adoption jedoch zog keine automati- gab aber auch deutsche Bettler, die sche Einbürgerung mit sich. 1859 und 1860 für Ärgernisse sorg- Ein berühmtes Beispiel war Alina ten: ”Saksalaisia kerjäläisiä on ollut Frasa aus der Schweiz alias Hele- paljo tätä nykyä meidänkin kaupun- na Anderlé aus Bayern: sie war im gissamme. Positiiwien soitto on niillä September 1846 nach Finnland ein- ollut muka olewanaan ansiokeinona. gereist, in einem Alter von entweder Kyllä olisi parempi, jos sellaiset ihmi- 6–8 oder 12 Jahren, angeblich als set, jotka owat nuoria ja miehuuden Tochter eines Zirkusdirektors. Bald ijässä olewia, käyttäisiwät paremmin verbreiteten sich aber Gerüchte von aikansa hyödyllisempiin töihin ja kei- Kindsentführung und -missbrauch. noihin, kuin maan juoksuun, huono- Der Zirkusdirektor entpuppte sich in positiiwien rämpytykseen ja sen höchstens als Stiefvater, aber starb ohessa keräykseen.” (Oulun Wiikko- während der Ermittlungen, nach Sanomia 25.8.1860)1 denen er das Kind wahrscheinlich Flüchtlinge aus Russland und den von seiner unverheirateten Mutter baltischen Ländern gab es in Finn- gekauft hatte. Finnische Schriftstel- land seit eh und je: bis Mitte des 19. ler wie und Aleksis Jahrhunderts estnische Leibeigene, Kivi verehrten die junge Tänzerin. später Juden wegen Pogromen, am Schließlich wurde sie am 10. Febru- Anfang des 20. Jahrhunderts auch ar 1852 mit einer bayrischen Identi- liberale und sozialistische Künstler tät (als Anderlé) finnische Staats- und Politiker wie die zukünftigen bürgerin, heiratete 1865 Kaufmann Staatsoberhäupter Wladimir Ulja- Ahrenius, gebar drei Kinder und now (Lenin) und Konstantin Päts. starb am 31. Dezember 1899 als ge- Obwohl Lenin am 31. Dezember ehrte Tanzlehrerin, deren Gemälde 1917 formell die finnische Selbstän- das Nationalmuseum schmückt. digkeit anerkannte, besuchte er eini- Ausländer waren nicht immer be- ge Tage später das Bad von Halila in liebt in Finnland. Zigeuner wurden Finnland ohne sich um eine Einrei- abgeschoben in den 1830er Jahren, sebewilligung zu bekümmern. 1864, 1866, 1869, 1876 usw. bis ins Ausländische Arbeitskräfte wurden 21. Jahrhundert. Auch falsche As- manchmal aktiv rekrutiert. Schwei- syrier – nach einer Vermutung pol- nische Juden, die sich als verfolgte Christen aus dem Nahen Osten aus- 1 In letzter Zeit gab es auch in unserer Stadt viele deutsche Bettler. Das Drehorgelspiel sei gaben – wurden in den Zeitungen ihre Verdienstquelle. … Es wäre aber besser, entlarvt: zwei Bettler kamen 1858 wenn solche Menschen, die jung und im besten aus der Türkei, einer 1862 aus Per- Mannesalter sind, ihre Zeit mit nützlicheren sien, Pastor Simon und seine fünf Arbeiten und Mitteln verbringen würden als mit Schüler um 1873 aus Kurdistan... Es im Lande herumziehen, Drehorgelspielen und daneben sammeln.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 25 zer Käsemacher, Erzieher(innen) Als erste ”Quotenflüchtlinge” könn- und Sprachlehrer waren gesucht. te man die früheren Generalgou- Esten nutzte man, um Streiks zu verneure Gerard und Böckman be- brechen. Finnische Arbeiter ärger- zeichnen, die 1922 nach Finnland ten sich über ausländische Bauar- eingeladen wurden, da sie Asyl beiter: ”Näkee ja kuulee muukalaisia brauchten und während ihrer Amts- työntekijöitä, kaikenkarwaisia haa- zeit rechtmäßig gehandelt hatten. lattawan tänne idästä ja lännestä, Im selben Jahr wurde ein staatliches kun omat kyläläiset työn puutteesta Flüchtlingszentrum (Valtion Pako- nääntywät.“ (Kaiku 13.4.1887)2 Um laisavustuskeskus) gegründet. Finn- 1925 wetterte man in den Zeitungen land wollte mit anderen Ländern und gegen eine „Mechanikerflut“ aus mit dem Völkerbund enger zusam- Deutschland, was im nächsten Jahr menarbeiten, um die Lasten der rus- zur Einführung einer besonderen sischen Emigration gleichmäßiger Arbeitsbewilligung führte. zu verteilen. Visafreiheit wurde zu- Besonders heftige Besorgnis ver- erst 1926 mit Dänemark eingeführt, ursachten verständlicherweise eini- von 1929 bis 1939 gab es sogar ge plötzliche Flüchtlingswellen: Von Passfreiheit unter den nordischen Kronstadt überschritten im März Ländern und mit Estland. 1921 etwa 8000 Matrosen mit ihren Die finnische Ostgrenze wurde in Familien das zugefrorene Meer. den 1930er Jahren dichter, als es Nach den genauen Erforschungen den Sowjetbehörden gelang, einen von Harry Halén blieb ein Fünf- allgemeinen einheimischen Pass- tel davon in Finnland, während die zwang einzuführen und die mehr- meisten entweder unter Amnestie heitlich finnischstämmige Bevöl- zurückfuhren oder sich ins weite- kerung von der Grenznähe nach re Ausland zerstreuten. Noch mehr Zentralasien umzusiedeln. Ab 1933 Flüchtlinge kamen Anfang 1922 kamen Flüchtlinge aus Deutsch- aus Ostkarelien: 11.000, von denen land, in 1934-1935 aus Estland (die nach den Erforschungen von Pekka rechtsextremen “Vapsen” unter der Tiilikainen 5000 in Finnland blieben. Führung von Artur Sirk) und in 1938- Aus dem berüchtigten ”Gulag” bei 1939 (zumeist Juden) aus Öster- Solovetsk sickerten in 1929-1930 reich und der Tschechoslowakei. immerhin dutzende von Sträflingen Die erste Periode von Reisefrei- über die Grenze. heit wurde 1939-1940 (zuletzt mit Schweden) rückgängig gemacht. 2 ”Man sieht und hört, dass ausländische Die frühe Republik von Finnland, die Arbeiter, alle möglichen bärtigen hierher um eine möglichst weite Öffnung in streben aus Ost und West, während die das westliche Europa und um Be- eigenen Dorfbewohner aus Mangel an Arbeit festigung des Völkerrechts bemüht am Hungertuch nagen.“ (Kaiku 13.4.1887)

26 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt war, wurde von den Stürmen des russische Regierung zumeist kein Zweiten Weltkrieg hart getroffen. Interesse an einer erleichterten Ein- Finnland musste sich seitdem ab- bürgerung von Russen, denn sie wechselnd mit der kommunistischen fürchtete eine unkontrollierte Aus- Sowjetunion und dem nationalso- wanderung und liberale Einflüsse. zialistischen Deutschland irgend- Erst während der Russifizierungs- wie abfinden. Dennoch konnten von jahre zwischen 1899 und 1917 gab den 400 jüdischen Flüchtlingen alle es ernste Versuche, die von Rus- außer acht unglücklichen Auslän- sen benutzten Sommerferienorte im dern (gründlich erforscht von Han- Grenzgebiet von Finnland abzutren- nu Rautkallio und vielen anderen nen und auch alle russischen Unter- schon seit den 1970er Jahren) und tanen in Finnland gleichmäßig in den tausenden von jüdischen Kriegs- Bevölkerungsregistern eintragen zu gefangenen (kürzlich erforscht von lassen. Diese Versuche blieben letzt- Pekka Kauppala) die Kriegsjahre in endlich erfolglos, verursachten viel Finnland heil überleben. Leider wird administratives Durcheinander und diese ernüchternde Tatsache wegen machten Einwanderung für lange Zeit einiger international weitverbreite- zu einer politisch verdächtigen Ange- ter Falschmeldungen und verant- legenheit. Ab Mitte September 1918 wortungsloser Medienberichte (u.a. wurde die Ausländerverwaltung in zwei Artikel und statistische Tabellen Form eines staatlichen ”Passbüros” über den Völkermord an Juden in (passitoimisto) zentralisiert und von ”Der Spiegel”) nunmehr oft unnöti- 1919 bis 1948 der Sicherheitspolizei gerweise angezweifelt. (Etsivä keskuspoliisi, Valtiollinen polii- Nach Schweden, Russland und si) unterstellt. Amerika ausgewanderte Finnen Alle Ausländerstatistiken sind (bis wurden grundsätzlich bis 1928 als heute!) unzuverlässig. Die allge- finnische Staatsbürger betrachtet. meinen Volkszählungen berücksich- Danach wurde das Ausbürgerungs- tigten Ausländer landesweit (und gesetz bis 2003 oft ziemlich wider- nicht nur in den größten Städten, sprüchlich interpretiert. Eingebürgert wie zuvor) erstmals 1920. Man kann wurden Juden erst seit 1918, Mus- nur vermuten, dass um 1914 etwa lime und andere nicht christlichen 30.000 bis 40.000 Ausländer in Finn- Glaubensbekenntnisses seit 1920. land wohnten, mehr als in Schwe- Eine kleine Masseneinbürgerung den vor dem Zweiten Weltkrieg. Seit fand 1921 statt, als Petsamo ange- Kriegsende 1944 verminderte sich gliedert wurde und die dortige Bevöl- der Ausländerzahl in Finnland meh- kerung fast ausnahmslos den Treu- rere Jahrzehnte lang. Erst seit der eid ablegte. Jahrtausendwende hat sich Finnland Während der Zarenzeit zeigte die von dem Rückgang der Nachkriegs-

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 27 jahre sowohl absolut wie relativ er- unbedingt vom Ausland zu lernen, holt. Dadurch ist die überraschend wenn man sich ein wenig bemüht, offene und von vielen berühmten sich an die eigene Geschichte zu er- Einwanderern geprägte Epoche der innern und sie kennenzulernen. Autonomie und frühen Republik wie- der interessanter geworden. Viele der ausländerpolitischen Fragen, die Literatur: sich heute modern und oft bedroh- Antero Leitzinger: „Ulkomaalaispolitiikkaa lich anfühlen, finden ihren Ursprung Suomessa 1812–1972“ [Ausländerpolitik in oder vergleichbare Beispiele schon Finnland 1812-1972](Dissertation 2008) in der Geschichte. Wie man mit He- und „Ulkomaalaiset Suomessa 1812–1972“ rausforderungen und Problemen [Ausländer in Finnland 1812-1972] (auch zurechtkommt, braucht man nicht 2008 gedruckt)

Der Autor nationalization were developed. Through the unification with Old Antero Leitzinger ist Forscher Finland also religious diversity für politische Geschichte beim became part of the country. In the finnischen Immigrationsamt. 2008 autonomous period there have promovierte er zum Thema „Aus- been recorded at least 3600 na- länderpolitik in Finnland 1812- tionalized families; data about wo- 1972“ auf der Grundlage seines men who became Finns through Werkes „Ausländer in Finnland marriage, however, have not 1812-1972“. Zu seinen besonde- been researched yet. Certain ty- ren Forschungsinteressen gehö- pes of foreigners, such as gypsies ren der Kaukasus, Russland und or people of near east origin were der Islam. not appreciated and were expel- led at different stages beginning The immigration policy of with the mid-19th century. On the autonomous Finland and the other hand, foreign workers were early Republic recruited actively. Waves of refu- After the Diet of Porvoo the idea gees in the 1920ies caused addi- of being neither Swedish nor Rus- tional concern. sian but rather Finnish, grew. The first legal regulations on immigra- The article mentions also emigra- tion to Finland were promulgat- tion of Finns and their re-immigra- ed already 1811. During the first tion and comments on statistical half of the 19th century the legal data. processes of immigration and

28 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Marjatta Hietala meinen Rahmenbedingungen einge- hen, die die Mobilität von Fachleuten, Wissenschaftlern und Studenten im Hauptstadt- europäischen Nordosten im 19. Jahr- charakteristika als hundert ermöglichten. Zweitens werde ich einige Beispie- Migrationsmagneten. le über den Aufbau von Infrastruktur Wissens- und Technolo- nennen, wofür ja Modellösungen in 1 deutschen Städten gesucht wurden. gietransfer Drittens werde ich kurz die Attrakti- vität deutscher Universitäten, ganz besonders die der Universität Berlin, n den deutsch-finnischen Beziehun- für finnische Studenten und Wissen- gen geht es um eine mehrschichti- I schaftler ansprechen. Zum Schluss ge Wechselwirkung zwischen zwei werde ich die Einwirkungen deut- Kulturen seit der Hansezeit und dem scher Kontakte auf das Wachstum Studium der Finnen an den deut- von Helsinki analysieren. Die mei- schen Universitäten im Mittelalter, sten Beispiele stammen aus meinen wie auch um das Luthertum und das schon veröffentlichten und noch un- Schulwesen bis zu den lebhaften veröffentlichten Untersuchungen. Handelsbeziehungen im 20. Jahr- Meine zwei Hypothesen sind: hundert. Die Ostsee hat Finnland seit Hunderten von Jahren mit Mitteleuro- 1. Netzwerke sind wichtig pa verbunden. Seit dem 19. Jahrhundert spielen In diesem Aufsatz geht es in vieler Netzwerke und Mobilität eine ent- Hinsicht um Attraktivität, deren Kri- scheidende Rolle in der Entstehung terien wie folgt festgelegt werden neuer Innovationen und gleichzeitig können: ausreichender Zugang zu wird der Informationsfluss immer Informationen, gute Kommunikati- schneller. onsmöglichkeiten, gute Infrastruk- tur, Wille der städtischen Entschei- 2. Nur im rein geographischen Sinne dungsträger, auf den Zugang zum können Finnland und Helsinki als neuesten Stand des Wissens zu Peripherie definiert werden. setzen, eine gewisse Zusammen- schließung zwischen Wirtschaft und Mobilitätsmöglichkeiten Kultur, wie auch Innovativität. Ich werde zuerst kurz auf die allge- Mit der Industrialisierung und Urbani- sierung des 19. Jahrhunderts wurde 1 Für die deutsche Wiedergabe meines die Städtezusammenarbeit im Ost- Aufsatzes möchte ich mich bei Mag. Phil. seeraum intensiviert. Dampfschiffs- Leenamarja Thuring herzlichst bedanken.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 29 routen verbesserten Voraussetzun- Modelle deutscher Städte, gen für Forscher. Das Jahr 1870 Aufbau der Infrastruktur war ein wichtiger Meilenstein in der Verbesserung der Verkehrsverbin- Die Infrastruktur von Helsinki und dungen von und nach Finnland: die auch anderen finnischen Städten neue Eisenbahn vom finnischen wurde vom Ende des 19. Jahrhun- Riihimäki bis zur russischen Newa- derts bis zum Ausbruch des ersten Metropole St. Petersburg wurde fer- Weltkriegs unter aktiver Berück- tig. Dies bedeutete, dass die Finnen sichtigung und Anwendung des jetzt schneller und sicherer Mitteleu- deutschen Modells aufgebaut. Die ropa erreichen konnten, und zwar Referenzgruppe der Entscheidungs- unabhängig von der Jahreszeit. träger der Stadt Helsinki am Ende Was die Mobilitätsmöglichkeiten be- des 19. und am Anfang des 20. trifft, sind dafür folgende Faktoren Jahrhunderts befand sich in den eu- entscheidend: regelmäßiger Schiff- ropäischen Hauptstädten, wie z.B. verkehr seit den 1880er Jahren, Ein- Berlin, Paris und Stockholm. Bei der satz von Eisbrechern seit den 1890er Lösung solcher Fragen der städti- Jahren und Routen für Passagierver- schen Infrastruktur in Helsinki, wie kehr zur selben Zeit. Wachstum der Stadt, demographi- 1910 eröffnete die Finnische Dampf- sche Struktur, Energieversorgung, schifffahrtgesellschaft FÅA (Finska Wasseraufber-eitung wurde das Ångfartygs Aktiebolaget) 26 Linien zu Beispiel ent-sprechender Lösungen baltischen und deutschen Hafenstäd- und Anlagen in größeren Städten ten. In den 1920er und 1930er Jah- herangezogen. Stadträte tauschten ren wurden die Verkehrsmöglichkei- schriftliche Unterlagen miteinander ten im Ostseeraum weiter verbessert. aus, aber persönliche Beobachtung In den 1930er Jahren wurden die war das Allerwichtigste. Das bele- Schiffslinien von Helsinki nach Stettin gen viele Reiseberichte. eingerichtet und mit anschließenden Die Finnen verfügten über ein um- Zugverbindungen nach Berlin ange- fassendes Wissensinteresse, so- knüpft. Jede Woche konnten Reisen- wohl geographisch als auch be- de von Helsinki Kiel und Lübeck auch ruflich. Dies manifestierte sich in mit Schiff erreichen.2 einem starken Bedürfnis nach dem neuesten Stand des Know-hows, indem die verschiedenen Lösungen 2 Hietala, Marjatta mit Marjatta Bell, Helsinki miteinander verglichen und deren – The Innovative City. Historical Pespectives, eventuelle Folgen in Erwägung ge- Finnish Literature Society Editions 857, zogen wurden, wie es die klassische Finnish Literature Society & City of Helsinki Entscheidungstheorie vorsieht. Mit Urban Facts, Jyväskylä 2002, S. 277-278. persönlicher Vertrautheit und vielsei-

30 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt tigen, neu erworbenen Kenntnissen Keine unwichtige Rolle spielte dabei wollte man Fehllösungen und Fehlin- die Kreditvergabe deutscher Banken. vestitionen vermeiden. Das Beispiel Der gemeinsame Nenner für fin- oder Modell nur einer Stadt war nicht nische Infrastrukturaufbauer und genug für die Entscheidungsträ- Wissenschaftler ist darin zu finden, ger der finnischen Städte, sondern dass beide ihre Reisen dorthin un- beim Aufbau moderner Infrastruktur ternahmen, wo der Fortschritt am wurde sowohl schriftliches Material weitesten gekommen war.5 Rund- herangezogen als auch Fachleute fahrten im Ausland und Vergleich ins Ausland geschickt, um sich mit verschiedener ausländischer Lö- den vielen verschiedenen Lösungen sungen waren in allen Fachgebieten vertraut zu machen. Krankenhäuser, üblich.6 Die Wissenschaftler bildeten Schulen und Kindergärten wurden auf Grundlage vielseitiger, erwor- Beamten und von ehrenamtlichen Akteuren bener Kenntnisse geplant.3 Es lässt (Ausschußmitglieder u.dgl.) analysiert. Hietala, sich nicht leugnen, dass gerade das Marjatta, Services and Urbanisation at the Turn of the Century. Diffusion of Innovations, deutsche Modell in vielen Lösungen Studia Historica 23, Finnish Historical Society, überlegen war. Seit der zweiten Hälf- Helsinki 1987. te des 19. Jahrhunderts wurde be- 5 Das Quellenmaterial stammt aus Personal- wusst auf den Erwerb ausländischen akten, Matrikeln und ähnlichen Quellen. Mit Know-hows gesetzt. Beamten und einbezogen sind die Wissenschaftler, die Entscheidungsträger suchten fieber- zwischen den Jahren 1875-1950 ihr Amt haft nach Lösungen für zahlreiche angetreten haben. Bei diesen Personen ist es möglich, die Anzahl ihrer ausländischen gemeinsame Probleme: wie seien Kontakte vor und nach ihrem Amtsantritt z.B. die Energieprobleme und Aufbau zu untersuchen. Ein Teil der Personen, die der Infrastruktur am besten zu lösen.4 ihre Laufbahn an der Universität Helsinki angefangen haben, haben später an der Technischen Hochschule und an der 3 Hietala, Marjatta, Services and Urbani- Universität Turku gearbeitet. Wegen der Art zation at the Turn of the Century. The Diffusion des Materials werden die Quellen knapper of Innovations. Studia Historica 23. Finnish um Anfang und Ende der zu forschenden Historical Society, Helsinki 1987, S. 394–407; Zeitperiode. Am repäsentativsten ist unser Hietala, Marjatta, Transfer of German and aus Personalmatrikeln stammendes Scandinavian Administrative Knowledge: Quellenmaterial in der Zeitperiode 1860 – Examples from Helsinki and the Association 1960. of Finnish Cities, 1870–1939, in: Formation 6 Hietala, Marjatta, Kansainvälistymisen und Transfer städtischen Verwaltungswissens, vuosikymmenet, Tietoa, taitoa, asiantunte- hrsg. Nico Randeraad. Jahrbuch für musta, Helsinki eurooppalaisessa Europäische Verwaltungsgeschichte 15. kehityksessä., Osa I. Historiallinen Arkisto Nomos Verlags-gesellschaft, Baden-Baden 99:1, Helsingin kaupungin tietokeskuksen 2003, S. 109–130 Tutkimuksia 1992:5:1. Suomen Historiallinen 4 In meinen vorigen Untersuchungen habe Seura, Helsingin kaupungin tietokeskus, ich Kontakte und Netzwerke von städtischen Jyväskylä 1992.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 31 hier keine Ausnahme. Das Erwer- Deutsch verfasst.7 ben ausländischer Kenntnisse wur- Die Gesamtzahl finnischer Studen- de verständlicherweise dadurch an- ten an deutschen Universitäten und gespornt, dass man gleichzeitig mit Hochschulen gegen Ende der finni- den letzten Errungenschaften im ei- schen Autonomiezeit lässt sich nur genen Fachgebiet Schritt halten und schwierig beurteilen, weil finnische somit auf dem Laufenden bleiben Studenten in den Resümee-Tabel- konnte. Dazu kam noch der starke len der Immatrikulierten mit den Wille, Finnland mit anderen Kultur- russischen Studenten in derselben staaten auf gleiche Stufe zu stellen. Kategorie zusammengefasst wur- den. Eine bessere Einsicht in die Wissenschaftliche Kontakte Anzahl finnischer Studenten ist zu zwischen finnischen und deut- gewinnen, wenn man sich diejeni- schen Wissenschaftlern gen Studenten genauer anschaut, die für Kurse einzelner Fakultäten Die Internationalität von Universi- eingeschrieben waren. Zum Beispiel täten wurde in den letzten hundert kann man unter den Studenten, die Jahren in mehreren Projekten ge- sich für die Winter-, Frühjahrs- und forscht. Seit Jahrzehnten pflegten Sommerkurse der medizinischen finnische Wissenschaftler und Uni- Fakultät angemeldet hatten, viele versitätsleute Kontakte mit deutsch- Studenten finden, die ”Finnland” als sprachigen Ländern und Universitä- ihren festen Wohnsitz angeben. ten. Am Ende des 19. und Anfang Die Königliche, später Kaiserliche des 20. Jahrhunderts studierten Friedrich-Wilhelms-Universität zu viele Finnen an deutschen Univer- Berlin zog viele ausländische Stu- sitäten und Hochschulen. Ärzte fuh- denten aus allen europäischen Län- ren in deutsche Kliniken, um sich zu dern, wie auch aus den Vereinigten spezialisieren, und finnische Inge- Staaten und Japan, an. Besonders nieure legten weiterführende Prü- gerne zogen Medizinstudenten nach fungen ab. Gute Deutschkenntnisse Berlin, um sich mit den berühmten finnischer Studenten gaben bessere Berliner Kliniken vertraut zu ma- Möglichkeiten, sich in Mitteleuropa chen. Früher hatte man sich den zu bewegen. Die starke Position jeweilig neuesten Wissensstand in der deutschen Sprache als Sprache der Medizin aus Paris oder Wien der Wissenschaft blieb bis zum Aus- bruch des ersten Weltkriegs maß- 7 Hietala, Marjatta, Finnische Wissenschaftler in gebend. Zum Beispiel war die Prü- Deutschland 1860-1950. Allgemeine Bemerkungen mit fungsliteratur in der medizinischen besonderer Berücksichtigung medizinischer Kontakte, in: Fakultät der Universität Helsinki auf Deutschland und Finnland im 20. Jahrhundert, hrsg. von Edgar Hösch, Jorma Kalela und Hermann Beyer-Thoma, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1999, S.374-394.

32 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt geholt. Die Attraktivität Berlins wur- und Deutsch, sondern auch Franzö- de besonders dadurch intensiviert, sisch und Englisch. Sie fuhr 1894 dass die Königliche/Kaiserliche Uni- über Dänemark nach Berlin: als das versität zu Berlin Sommerkurse und Schiff in Kopenhagen anlegte, reg- Fortbildungskurse für ausländische nete es in Strömen. Ihre Freundin- Studenten veranstaltete. nen hatten sowohl die Unterkunft Studenten konnten sich nach ihrer als auch ein gemütliches Beisam- Ankunft an den Universitäten mit mensein in einer Wohnung des dä- solchen Zeitungen und Zeitschriften, nischen Frauenvereins organisiert. wie „Akademischer Rundschau“, Als Frau Friberg dann in Berlin an- „Berliner Akademische Wochen- kam, hatte sie den „Christlichen Rat- schrift“ und „Berliner Akademische geber für junge Mädchen und Frau- Nachrichten“ vertraut machen, die en” mit sich, einen Reiseführer, der eigens für Studenten konzipiert sich für sie während der Reise als waren. Dadurch konnten ausländi- sehr nützlich erwies.9 Im Reiseführer sche Studenten vielseitige Informa- befanden sich u.a. Adressen für Da- tionen über wichtige Adressen, wie men, die in verschiedenen Städten z.B. Botschaften und Konsulate ih- und Ländern unterwegs waren. Frau rer Heimatländer, Organisationen, Friberg hatte nur ein Reisekleid und Vereine und Klubs erfahren. In den drei Garnituren von Unterwäsche Zeitungen und Zeitschriften wur- mitgenommen, um die Dienste von den auch Diskussionen über das Trägern und Kutschern vermeiden freie Angebot der Wissenschaft und zu können. Sie beschreibt die da- Vorlesungen geführt.8 Im Jahr 1918 malige Situation in ihren 1927 einer wurden an der Kaiserlichen Uni- Stenographistin diktierten Memoiren versität zu Berlin insgesamt 4.669 folgendermaßen: „Ich hatte nur mein Gaststudentinnen und Gaststuden- Reisekleid aus braungrauem Stoff, ten angegeben. schmutz- und staubbeständig und Eine von diesen Studentinnen war eben deswegen sehr passend für Maria Elisabeth, kurz Maikki, Friberg die Reise. In diesem Kleid trapste (1883 – 1912), Lehrerin aus Helsin- ich dann umher, während die ande- ki, die in den Jahren 1895-1896 in Berlin (an der Königlichen Friedrich- Wilhelm-Universität) studierte. Sie 9 Christlicher Ratgeber für junge Mädchen konnte flüssig nicht nur Schwedisch und Frauen, welche sich in der Fremde ihr Brot verdienen und eine Liste der helfenden “Freundinnen”, Heimaten, Mägde- 8 Berliner Akademische Wochenschrift, hrsg. Herbergen, Heimat- und Jungfrauen- von der Akademischen Auskunftsstelle an der Vereine, Stellenvermittlungen, Hospitze, Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität Erholungshäuser u.s.w., hrsg. von dem 1906-; Berliner Nachrichten, ab 1904/05, Bureau des Deutschen National-Verbandes. später: Berliner Akademische Nachrichten. Berlin, März 1905.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 33 ren Damen Seide und Samt trugen.“ rungsarbeit ihren Gegenstand. Frau Frau Friberg wusste, dass an der Friberg war Mitglied des finnischen Universität auch Frauen Frauenverbandes „Suomalainen zugelassen waren, aber laut ihrer naisasialiitto“ und dessen Zentraldi- Memoiren „Tieni varrella tapaamia” rektion seit seiner Gründung 1906 wollte sie „in ein größeres Kultur- bis 1924 und Vorsitzende eines an- zentrum gelangen, um auch außer- deren Frauenverbandes, der Finni- halb der Vorlesungen mit solchen schen Frauenunion „Naisasialiitto Persönlichkeiten breiteren Maßsta- Unioni“ von 1920 bis 1927. bes treffen zu können, die dort zu Frau Friberg übte ihren Einfluss mit finden waren – der Hunger nach Vorträgen und Schreiben aus. Sie neuen Menschen war immer wenig- schrieb über den Bedarf, die Gedan- stens genau so stark wie die Lust kenwelt der Frauen zu erweitern und nach theoretischem Studium. Nach Frauen im Allgemeinen zu ermuti- lebendigen Menschen, die nach der gen, und führte dabei europaweite Wahrheit suchten, versuchten, ihre Beispiele an. Im Büro der Frauen- Ideen zu verwirklichen, eine neue zeitschrift „Naisten Ääni“ kamen ein und bessere Gesellschaft zu schaf- Frauenklub, sowie ein englischer fen“. und französischer Klub zusammen. Frau Friberg promovierte 1897 mit Es heißt, das Büro wurde eine Frei- der Doktorarbeit „Entstehung und stätte für alleinstehende Frauen, so- Entwickelung der Volkshochschu- wie eine Raststätte für die Frauen, len in den nordischen Ländern” in die aus dem Lande in die Stadt um- Bern. Das Thema sorgte für viel gezogen waren. Aufmerksamkeit, und sie erhielt Sie war aktiv in der finnischen Suf- mehrere Vortragseinladungen. Sie fragettenbewegung und Absti-nenz- hielt Vorträge über nordische Volks- bewegung. Als Herausgeberin von hochschulen in Berlin, Dresden und „Naisten Ääni“ veröffentlichte sie 17 Wien. Ihre Erfahrungen von Berlin, Artikel in deutschen, französischen, Zürich, Bern und Wien trugen weit- belgischen, öster-reichischen, nordi- tragende Früchte und kamen vielen schen und englischen Zeitschriften. Menschen zugute. Sie verfügte über Von 1892 bis 1912 verdreifachte ein umfassendes Netzwerk von aus- sich fast die Anzahl ausländischer ländischen Kontakten. Viele kamen Studentinnen und Studenten in nach Finnland, um sie zu besuchen. Deutschland. Im Jahr 1900 studier- In der von Frau Friberg gegründeten ten an den deutschen Universitäten Zeitschrift „Naisten Ääni“ (dt. Stim- 2.698 Studierende aus dem Aus- me der Frauen) fand das im Aus- land, aber im Wintersemester 1912- land erworbene Know-how seinen 1913 gab es schon 5.196 Studieren- Ausbreitungskanal und die Aufklä- de.

34 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Dies bedeutete, dass jeder zehn- den Finnen. An diesen Universitä- ter Studierender an den deutschen ten studierte man durchschnittlich Universitäten kein deutscher Staats- 1-2 Semester, aber an Technischen bürger war.10 Die Anzahl russischer Hochschulen üblicherweise mehrere Studierenden stieg sehr stark in den Semester. ersten 10 Jahren des 20. Jahrhun- derts. In dieser Anzahl sind also Wissenschaftler auch die Finninnen und Finnen ein- geschlossen. Während 1901 der An- Der Aufstieg der finnischen Wissen- teil russischer Studierender an der schaft am Ende des 19. und Anfang Gesamtzahl ausländischer Studie- des 20. Jahrhunderts ist wesentlich render in Deutschland 27,5 Prozent auf die Finnen zurückzuführen, die betrug, war ihr Anteil im Studienjahr ihr Wissen an den innovativen und 1912-1913 auf 47,1 % gestiegen. weitgefächerten mitteleuropäischen Der wichtigste Grund für die Be- Universitäten und Forschungsinsti- geisterung russischer Studieren- tuten erworben hatten. Hunderte von der, an deutschen Uni-versitäten zu finnischen Ingenieuren, Chemikern, studieren, bestand im Mangel von Physikern und Interessenten an ei- eigenen Universitäten zu Hause. ner kaufmännischen Fortbildung Darüber hinaus war das Studium an studierten an mitteleuropäischen russischen Universitäten für Frauen Universitäten und Hochschulen. Der und Juden verboten. 1901 kam die Finne Yrjö Kauko hörte die Vorlesun- zweitgrößte Gruppe ausländischer gen von Albert Einstein, und Gunnar Studierender in Deutschland aus Nordström schlug den Nobelpreis der Donaumonarchie Österreich- in Physik für Einstein vor. Die finni- Ungarn (19,5 %) und die drittgrößte schen Nobelpreiskandidaten Kustaa Gruppe aus den Vereinigten Staaten Komppa und Ossian Aschan hatten (12,4 %). im Hoffmann-Labor in Leipzig gear- Zwischen 1900-1914 genossen beitet. Finnische Ärzte suchten ihren die Universitäten Berlin, München, Weg in die Spitzenzentren der Medi- Göttingen, Leipzig, Jena und Mar- zin, wie zum Beispiel Professor Taa- burg die größte Attraktivität unter vetti Laitinen, später Generaldirektor des finnischen Zentralamtes für Ge- sundheitswesen, der in Marburg bei 10 Klotzsche, Mario, Die Perzeption Emil von Behring arbeitete. Emil von ausländischer Studenten durch die Deutsche Studentenschaft und die „Ausländerfrage“, Behring wurde 1901 mit dem Nobel- in: Peter, Hartmut Rüdiger (Hrsg.), Schnorrer, preis in Medizin für die von ihm ent- Verschwörer, Bombenwerfer? Studenten wickelten Schutzimpfungen gegen aus dem Russischen Reich and deutschen Keuchhusten ausgezeichnet. Hochschulen vor dem 1. Weltkrieg. Peter Ich habe Studienreisen untersucht, Lang, Frankfurt am Main 2001, S. 139.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 35 die von Professoren der Universität ler von besonderer Bedeutung war. Helsinki zwischen 1860 und 1960 Dies war der Fall in den Naturwissen- ins Ausland unternommen wurden. schaften und in der finnougrischen Dabei sammelte ich persönlich Anga- Sprachwissenschaft, aber für andere ben über 459 Personen. Die Anzahl Fachgebiete, wie Land- und Forst- der Reisen, die sich in dieser Peri- wissenschaft, Medizin und Theo- ode identifizieren lassen (d.h. deren logie, waren Deutschland und die Reiseziele bekannt sind) beträgt nordischen Länder die wichtigsten 7001. Als Quellen verwendete ich Reiseziele - wenigstens für längere verschiedene Matrikeln, Kataloge, Aufenthalts- oder Studienperioden. Reporte, Autobiografien, Biografien und Nekrologe, wie auch Reisebe- Offener Informationsfluss trug richte und Reisebeschreibungen. zur Mobilität und Freizügigkeit Als Variablen benutzte ich alle ver- bei fügbaren Kontakte: Studienreisen, Konferenz-reisen, Mitgliedschaften Die Wissenschaftler hatten im 19. an wissen-schaftlichen Organisatio- Jahrhundert eine Doppelaufgabe. nen. Erstens wurden die Kollegen infor- Deutschland wurde sehr wichtig zu- miert, zweitens sollte das Volk auf- erst für Doktoren der Medizin, dann geklärt werden. Besonders die Zeit für Humanisten, Naturwissenschaft- vor dem ersten Weltkrieg kann als ler und Forscher der landwirtschaft- das Zeitalter des offenen Informa- lichen Fakultäten in den 1930er tionsflusses bezeichnet werden. Jahren. Deutsche Metropolen wie Damals war der Zugang zu den Berlin, München, Tübingen, Leip- meisten europäischen Institutio- zig und Dresden zogen alle an. Ihre nen relativ leicht, wenn man nur ein Attraktivität variierte aber je nach Empfehlungsschreiben eines älte- Fachgebiet: Heidelberg und Leipzig ren Forschers oder Professoren mit waren für Philosophen, Göttingen sich führte. Durch diesen offenen und Tübingen für Theologen wichtig. Informationsfluss wurden auch die Finnische Rechtwissenschaftler stu- Besuche von finnischen Forschern dierten in Leipzig und Berlin. möglich. Die Fachleute verschiede- Die Professoren und Assistenz-pro- ner Gebiete, ob Ärzte, Lehrer oder fessoren der medizinischen Fakultät Ingenieure, schrieben Reiseberich- besuchten meistens Universitäten te, die für die Fachkollegen gemeint und Kliniken in Deutschland. An der waren, z.B. in solchen Veröffentli- zweiten Stelle dieser Rangordnung chungen wie „Teknikern“ (dt. Tech- liegen die Theologen. Vorher wurde niker), „Duodecim“ oder „Finska schon erwähnt, dass auch St. Pe- Läkarsellskapets Handlingar“ (dt. tersburg für finnische Wissenschaft- Abhandlungen des finnischen Ärz-

36 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt tevereins), aber auch allgemeinver- Kordelin Stiftung, und der amerika- ständliche Beschreibungen und Be- nischen Rockefeller Stiftung konn- obachtungen über die Verhältnisse ten die Studienreisen jedoch fortge- in anderen Ländern. Beide Schreib- setzt werden. In den1930er Jahren formen basierten auf den eigenen verlieh der Deutsche Akademische Reisen. Austauschdienst DAAD finnischen Forschern insgesamt 11 Stipendi- Beispiele für die Finanzierung en.11 von Wissenschaftlerreisen Einwirkungen deutscher Mo- Finnische Forscherinnen und For- delle auf Helsinki scher, besonders Doktoren der Me- dizin konnten Reisestipendien von Im 19. Jahrhundert wurde die deut- der Humboldt Stiftung beziehen. sche Kultur in Finnland auch durch Schon im Jahre 1909 bekam Doktor das Volksschulwesen verbreitet, als der Chirurgie Birger Runeberg die die Deutsche Schule 1881 in Hel- Finanzierung für seine Reise nach sinki gegründet wurde. In dem soge- Deutschland. 1913 konnte Doktor nannten Altfinnland (im Südosten des der Gynäkologie Seth Wichman, Landes) wurden deutschsprachige später Professor der Gynäkologie Schulen schon am Anfang des 19. an der Universität Helsinki, eine Jahrhunderts gegründet, u.a. eine Kongressreise nach Greifswald mit Mädchenschule in Wyborg. In Hel- den Mitteln von Humboldt Stiftung sinki wurden 1862 eine höhere Mäd- unternehmen. Besonders in den chenschule und 1868 eine katholi- 1920er und 1930er Jahren bekamen sche deutschsprachige Vorschule viele Doktoren der Medizin Stipendi- gegründet.12 en für Deutschlandreisen (der Phar- Welchen Nutzen haben die Deutsch- makologe Yrjö Airila, der Professor land-Beziehungen für Helsinki ge- für Physiologie Yrjö Reenpää und bracht? Die Stadträte von Helsinki seine Doktorandin Eeva Jalavisto und Berlin, sowie die Vertreter ver- 1943 nach Göttingen). schiedener Berufsgruppen bauten Die Universität Helsinki finanzierte im 19. Jahrhundert und zu Beginn 11 Hietala, Marjatta The Development of des 20. Jahrhunderts ein Drittel der International Contacts in the 20th Century, in. Reisen ihrer Professoren. Nach dem Research in Finland. A History (ed. Päiviö ersten Weltkrieg konnte wegen der Tommila) Yliopistopaino 2006, pp.131-146. inflatorischen Entwicklung nur jede 12 Hietala. Marjatta, Erik Gabriel fünfte Reise von der Universität Melartinin toiminta ja motiivit Viipurin läänin Helsinki finanziert werden. Mit Hilfe koulukaitoksen palveluksessa v. 1805–1814 finnischer Stiftungen, wie z.B. der Historiallinen Arkisto 79, Suomen Historiallinen Seura 1983, pp. 131-176 + appendices.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 37 während ihrer Studienreisen, auf Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Städteausstellungen und auf Kon- ersten Weltkriegs hatte Helsinki 6 gressen und bei Tagungen Netzwer- fremdsprachige Kindergärten. 1900- ke auf. Deutsche Städte boten auch 1901 waren drei deutschsprachige, ein Muster der Kommunalisierung zwei französische Kindergärten und von Dienstleistungen und Infrastruk- ein russischsprachiger Kindergarten tur sowohl für finnische als auch für in Helsinki tätig.13 Bis 1913-1914 nordische und englische Städte. war ihre Anzahl auf 4 gesunken, und Die Effektivität deutscher Städte in nachdem Finnland selbständig ge- Kommunaltechnik, Ausbildungspo- worden war, gab es nur noch einen litik, Stadtplanung und Förderung deutschsprachigen Kindergarten in von Unternehmertum wurde mit der der Adresse Unioninkatu 10.14 industriellen Revolution verglichen. Auf dem Hintergrund dieser Verän- Eine Kommunalisierung war keine derung kann man einen allgemei- Selbstverständlichkeit, sondern die neren Trend erblicken: die schon Vor- und Nachteile wurden genau in seit Ende des 19. Jahrhunderts zu Erwägung gezogen, unabhängig da- verzeichnende Verminderung des von, ob gerade von Wasserwerken, Anteils der fremdsprachigen Be- Elektrizitätswerken oder Straßen- völkerung an der Einwohnerzahl bahnen die Rede war. in Helsinki. Während der Anteil der In Deutschland gründeten die Städ- ausländischen Bevölkerung laut te miteinander Städtebünde und ver- anstalteten Städtetage. Bald kam es 13 Marjatta Hietala, Lastentarhat ja auch in Finnland dazu. päiväkodit, Kindergartens and day-care Und was konnten die Fachleute aus centres, in: Helsinki-Helsingfors. Historiallinen Helsinki ihren Gästen anbieten? kaupunkikartasto, Historic Towns Atlas, Nur ein Beispiel sei hier genannt. Marjatta Hietala, Martti Helminen, Merja Schon in der 1910er Jahren haben Lahtinen (toim./eds.). Scandinavian Atlas of Historic Towns, New Series No. 2, Suomi- Gruppen Helsinki besucht, um sich Finland. Helsingin kaupungin tietokeskus, City das finnische Schulwesen und die of Helsinki Urban Facts, Hämeenlinna 2009, finnischen Schulräume, u.a. die S. 196–205. Volksschule in der Ratakatu-Straße, 14 Die von Fr. Sanna Gylden benutzten anzusehen. Und in deutschen Hand- Quellen (Sanna Gyldenin käyttämät lähteet): büchern kann man sogar Grundrisse Berättelse angående Helsingfors Stads finnischer Volksschulen finden. Kommunalförvaltning år 1901. Jemte statistiska uppgifter för samma och föregående Helsinki war um die Jahrhundert- tid. Fjortonde årgången. Helsingfors 1902, wende zw. dem 19. und 20. Jahrhun- 217-219, 109*; Adress-och yrkeskalender dert eine sehr internationale Stadt, för Helsingfors jämte för orter 1900-1901, auch gemessen an der Anzahl von Helsingfors 1900, Afd.3, 21, Afd.3, .22, 59-60, Kindergärten. Vom Ende des 19. 64. Siiri Valli, 100 vuotta lasten päivähoitoa Helsingissä, Helsinki 1986, 12.

38 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Volkszählung 1870 noch 14,7 % be- Summa summarum: am Anfang des trug, war dieser Anteil bis 1920 auf 20. Jahrhunderts hatte Helsinki über nur noch 4,9 % gesunken. 15 100 000 Einwohner und konnte die Anforderungen einer fortgeschritte- 15 Åström, 35, nen Großstadt erfüllen.

Die Autorin what concern the infrastructure, like water supply, sewage, tram- Prof. Dr. Marjatta Hietala, emeri- ways and housing. Finnish experts tierte Professorin für Allgemeine participated congresses, exhibiti- Geschichte der Universität Tam- ons, made study tours and visits pere und Ehrenpräsidentin des to different plants and institutions. internationalen Historikerverban- Especially municipalization of dif- des CISH, ist eine ausgewiesene ferent services was one of the key Expertin auf dem Gebiet interna- questions under discussion. tionaler Wissenschaftskontakte. Finnish experts used the compa- rative method before decisions Capital characteristics as were made. Both state, cities and magnets for migration. foundations financed study tours Science- and technology of professionals and experts in or- transfer der to keep abreast with the latest know how. My presentation concerns the From the end of 19th century un- transfer of technology and know- til the Second World War German how from to Finland as universities were on the top of well as networks between Finnish all others. For example, Finnish and German scholars in the long doctors of medicine participated run. in summer courses in Berlin and My two hypotheses are: firstly net- visited clinics which were at that works and mobility are very impor- time the best in Europe. Finnish tant when looking at the diffusion engineers, chemists and physi- of innovations, secondly Finland cists knew which universities were and Helsinki can be classified to on the top in the respective field. be in the periphery only in the geo- Finnish experts knew where to go. graphical meaning - not regarding Chemists Kustaa Komppa and the diffusion of innovations. Ossian Aschan had worked at the For urban planners, for decision Hoffmann laboratory in Leipzig makers and municipal officials Ger- and both were proposed as Nobel man cities were ahead of others. Prize candidates.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 39 Veronica Shenshin Die Russischen Einwanderer und ihre Kultur in Finnland1

ie historischen Ereignisse in Art dazu, wie die Bereiche Handel, DRussland und der Sowjetunion Kultur, Architektur und Bildung und haben konkret auch viele Russen, auch sog. Graswurzelkontakte. die außerhalb des Landes gelebt Die Wurzeln der russisch-finnischen haben, betroffen. Persönlich Bevölkerung reichen schon bis ins habe ich durch meine familiären Jahr 1741 zurück, in die Zeit von den Wurzeln die Geschehnisse in der Zarinnen Elisabeth (1741-1761) und Sowjetunion sehr intensiv miterlebt. später Katharina II. (1762-1796). Nach dem Jahr 1992 hatte ich Nach dem Kampf um Lappeenranta zum ersten Mal die Gelegenheit, (er begann Ende Juli 1741)2 kamen Russland zu besuchen und mich mit russische Regimenter dorthin, den Landschaften ­– die Gegend um um eine Festung zu vergrößern, die Stadt Orel – bekannt zu machen, mit deren Bau die Schweden wo meine Familie seit dem 14. begonnen hatten. Im Gefolge des Jahrhundert gelebt hatte. Regiments kamen auch russische In der Geschichte der Migration aus Händler, die sich in verschiedenen Russland hat Finnland überwiegend Städten niederließen, wie in Wiborg, die Rolle eines Transitlandes gehabt. Käkisalmi und Sortavala und An den Grenzen zu Schweden- später auch in Loviisa, Hamina, Finnland und Finnland haben sich Lappeenranta und Savonlinna. Finnen, Karelier und Russen durch In den beiden zuletzt genannten die Jahre in den verschiedensten Städten betrug der Anteil von Zusammenhängen getroffen. Ob- Russen Ende des 18. Jahrhunderts wohl man zuerst an Kriege denkt, etwa 30%. gehören auch Kontakte anderer Nach dem Kampf um Lappeenranta 1741 wurde dort eine russisch- orthodoxe Gemeinde gegründet. 1 Shenshin, Veronica Venäläiset ja venäläinen kulttuuri Suomessa Kulttuurihistoriallinen katsaus Suomen venäläisväestön vaiheista autonomian ajoilta nykypäiviin, Helsingin 2 Eskola, Anton Suomen sodat ja rauhat, yliopisto 2008. Jyväskylä 2003. S. 134.

40 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Die erste orthodoxe Holzkirche den russischen Soldaten, die nach wurde von den Soldaten des Finnland kamen, kamen auch Vladimir-Regiments gebaut und viele Chinesen und Tataren, um dem Gedenken an die Gottesmutter Festungen zu bauen, sowie jüdische geweiht. Schuster, Schneider und Kaufleute. Diese Pokrova-Kirche wurde Im Jahr 1910 wohnten in Finnland später abgerissen, und eine neue nach offiziellen statistischen Steinkirche wurde im Bereich der Angaben 12 307 Russen, davon Festung gebaut und am 26.8.1785 6 352 in Helsinki, 617 in Turku, 4 eingeweiht.3 846 in Wyborg und 492 in Tampere, Nach der Machtergreifung des Vaasa und Oulu. Schwedenkönigs Gustav III. im Im Jahr 1812 wurde das sog. Alt- Jahr 1772 besuchte Marschall A.V. Finnland dem übrigen Finnland Suvorov (1730-1800), ein großer angegliedert, wodurch die russi- Kriegsheld seiner Zeit, Schweden- schen leibeigenen Bauern in Finnland im Februar 1773. Er wollte Krasnoselskoje (finnisch Kyyrölä) sich über die Absichten Schwedens auf der Karelischen Landenge, die in Bezug auf Russland informieren ursprünglich aus Jaroslawl an der und reiste durch Wiborg, Käkisalmi Wolga stammten, Finnen wurden mit und Savonlinna entlang der Grenze vollen Bürgerrechten. Sie behielten zu Russland. So lernte er lokale bis Ende der 1930-er Jahre ihre Vertreter von Klerus, Adel und eigene Sprache, Bräuche und ihren Bürgertum sowie Bauern kennen. Beruf als Töpfer. Sie werden als Da er Finnisch beherrschte, konnte eine klar eingegrenzte ethnische er sich über die militärische Situation Gruppe angesehen, die eine starke der Gegend informieren.4 Gruppenidentität besaß. 1930 sollen Im Jahr 1809 war Schweden dort noch 2 000 Personen gewohnt gezwungen, Russland auch den haben. Rest der finnischen Gebiete zu Die Geschichte der russischen überlassen und Finnland wurde ein Bevölkerung in Finnland unter- autonomes Großfürstentum unter scheidet sich in einer besonderen russischer Obrigkeit. Das noch aus Weise von der Geschichte der der schwedischen Zeit stammende russischen Bevölkerung in den Rechtssystem schränkte aber die baltischen Staaten und im übrigen russische Einwanderung ein. Mit Europa. Während der Zeit der finnischen Autonomie, in den Jahren 1808 bis 1917, befand sich Finnland 3 Aus: Prospekt der Pokrova Kirche in Lappeenranta. in einer besonderen, man könnte sogar sagen in einer privilegierten 4 Rekola, Kauko, Suvorov Gen-eralissimus- Lage in Bezug auf Russland. Später Genius, Helsinki 1989. S. 51-53.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 41 unterschied sich Finnland durch den und Angestellte von Heilbädern Finnisch-Sowjetischen Vertrag von - Fabrikbesitzer 1948 (Vertrag über Freundschaft, - die einheimische russische Zusammenarbeit und gegenseitigen Bevölkerung der Karelischen Beistand) sowohl vom westlichen Landenge (1917-1939), das Europa sowie auch von den heißt: Gutsbesitzer, Besitzer osteuropäischen Staaten. von Fabriken und deren Seit den Autonomiejahren hatte Arbeiter, der Klerus, Lehrer sich zwischen Finnland und sowie Vertreter verschiedener Russland eine ganz eigene Tradition Kulturkreise (Kunst, Musik, gegenseitigen Umgangs entwickelt. Fotografie etc.) Damals wie heute war sie mit Handelsbeziehungen verknüpft. In Helsinki betrug der Anteil Während der Zeit der Autonomie russischer Kaufleute im Jahr 1879 waren die Kontakte allerdings eher schon ein Viertel aller Kaufleute der unilateral, die Finnen sind nach Stadt. Die Einwohnerzahl der Stadt St. Petersburg gereist, um dort zu betrug etwa 20 000 Personen. Unter arbeiten. ihnen befanden sich die Kiseleffs Im 19. und 20. Jahrhundert kamen (die Gründer der Finnischen überwiegend russische Vertreter aus Zuckerfabrik), Jegor Ushakoff sowie folgenden Bereichen nach Finnland: Paul Sinebrychoff (der Gründer der berühmten Bierbrauerei). Andere - Offiziere: wovon die russischen berühmte russische Händler waren Offiziere und Soldaten auf Matrosoff, Tabunoff, Nikolajeff. der Festung Suomenlinna bei In Wyborg die Sergejeffs, in Helsinki eine eigene Gruppe Lappeenranta die Wolkoffs und in während der Autonomiezeit Loviisa die Terihovs, um nur einige bildeten.5 zu nennen. Während der Zeit der - Beamte Autonomie kümmerten sich die - Personen, die mit Tourismus zu russischen Kaufleute auch um die tun hatten – Besitzer, Besucher russischen Kinder und Jugendlichen und um deren Ausbildung – einer der berühmtesten unter ihnen war 5 Luntinen, Pertti, ”Viaporin venäläinen varuskunta.” Viaporista Suomen-linnaksi toim. Nikifor Tabunoff. Liisa Eerikäinen. Jyväskylä 2006. S. 117- 125. Während Polen sein Parlament und sekä Shuster, L. ”Viaporin satakymmenen seine Sonderstellung wegen der vuotta Venäjän palveluksessa.” Viaporista Revolte in den Jahren 1830 und 1863 Suomenlinnaksi toim. Liisa Eerikäinen. verlor, blieben die Finnen loyal und Jyväskylä 2006. S. 109-116. ziemlich konservativ das ganze 19. Halén, H. ”Viaporin upseereita ja sotilas- Jahrhundert hindurch und konnten virkailijoita.” Unholan Aitta 23. Helsinki 2006.

42 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt so unter vorteilhaften Bedingungen verschiedener gesellschaftlicher ihren Staat entwickeln, der ein Gruppierungen auch aus dem Ergebnis der Großmachtpolitik war. Ausland wurden in großen Finnland konnte sogar teilweise als Mengen mobilisiert, sich gegen die ein Modellgebiet dienen. Hier muss Russifizierung zur Wehr zu setzen. noch betont werden, dass die Finnen Der russische Generalgouverneur im russischen Imperium dieselben Nikolai Bobrikoff wurde ermordet. Rechte wie die russischen Bürger In dieser Situation trafen sich die hatten und dass die finnischen Interessen von Lenin und den Kaufleute Zollfreiheit genossen. Finnen vorzüglich. In den Jahren Dass Finnisch 1863 zur offiziellen 1904 -1917 fanden sich in Finnland Landessprache gewählt wurde, viele, die Lenin versteckten und kann als einer der Gründe dafür unterstützten, sowohl Arbeiter angesehen werden, dass Ende des als auch akademische Aktivisten 19. Jahrhunderts ein von Walter (Oscar Engberg, Konni Zilliacus, Runeberg entworfenes Monument Ola und Gunnar Castrén, Herman zu Ehren von Zar Alexander den II. Gummerus, Martta und Evert auf dem Senatsplatz von Helsinki Huttunen, Artur und Emilia errichtet wurde, ein Zeichen der Blomqvist, Lindström, Kustaa Rovio, Loyalität der Finnen den russischen K.H. Wiik, Arvid Neovius) und man Machthabern gegenüber. Außerdem hat deswegen Finnland auch „die hatte das finnische Großfürstentum rote Rückwand der Revolution“7 seine eigene Währung, die Mark, genannt. Sylvi-Kyllikki Kilpi schreibt und seine eigenen Briefmarken in ihrem Werk über Lenin und die bekommen - in vielerlei Hinsicht ein Finnen, dass „Lenin im Ausland mit einzigartiges Vorgehen. Interesse den passiven Widerstand Im Frühling 1912 trat ein der Finnen gegen die Russifizierung Gleichberechtigungsgesetz in Kraft, des finnischen Volkes verfolgte“.8 das den russischen Untertanen Als russische Kontaktperson zu dieselben Rechte wie den finnischen Lenin wirkte Vladimir Smirnov, der Staatsbürgern sicherte.6 Das führte in der slawischen Bücherei tätig dazu, dass die Konfrontationen war und der mit der Gruppe um zwischen den Beamten in Finnland Konni Zilliacus zusammenarbeitete. und Russland sich zuspitzten. Man sagt, dass Smirnov Lenin mit Die Situation in Finnland wurde Tageszeitungen und den neuesten immer schwieriger und Vertreter Nachrichten über die Entwicklung

7 Ibid., S. 16 6 Nevalainen, Pekka, Viskoi kuin Luoja kerjäläistä. Venäjän pakolaiset Suomessa 8 Kilpi, Sylvi-Kyllikki, Lenin ja suomalaiset, 1917-1939. SKS. Hämeenlinna 1999. S. 15. Helsinki 1967. S. 25.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 43 der russischen Revolution versorgte. bedeutet, als Flüchtling das Land Zwischen 1904 und 1905 sowie im verlassen zu müssen. Jahr 1917 versteckte sich Lenin in Finnland – in Turku, in Helsinki und Mit der ersten Welle in den Parainen. Im finnischen Tampere Jahren 1917 bis 1922 sind etwa gibt es bis dato das einzige Lenin- zwei Millionen Menschen aus der Museum in Europa. Sowjetunion geflohen oder wurden Nach der russischen Revolution 1917 nach der Revolution ausgewiesen. änderte sich die Lage der russischen Viele wurden unterwegs oder bei Bevölkerung in Finnland. Die einer Rückführung umgebracht. Die Handelsbeziehungen der Stamm- berühmteste Massenflucht geschah bevölkerung mit Russland hörten auf. in Kronstadt vom 17.-18.3. 1921, als Nach der finnischen Selbständigkeit mehr als 7 000 Personen übers Eis wurde die russische Bevölkerung als nach Finnland kamen. unerwünscht empfunden. Am 15. Mai Die Nachfahren der Kronstadt- 1918 beschloss man, alle russischen Flüchtlinge feiern seit etwa sechs Staatsbürger und Einwohner der Jahren in der russisch-orthodoxen Ostseeprovinzen auszuweisen, Kirche in Lappeenranta am 17.3. mit Ausnahme von den Bürgern einen Gedenktag zu Ehren der Polens und der Ukraine.9 Der Flüchtlinge, mit einem gemeinsamen Senatsbeschluss bedeutete, dass Gedächtnisgottesdienst. Die Forscher nur diejenigen Russen in Finnland sind sich noch nicht über die Anzahl bleiben durften, die finnische der Flüchtlinge einig, aber man geht Staatsbürger waren, das waren etwa von einer Zahl zwischen 6 500 und 5 000 Personen. 8 000 aus. Sie nehmen an, dass auch Ich habe die russischen Emigranten Familien und Kinder mit übers Eis in verschiedene Gruppen eingeteilt, kamen. Von den Flüchtlingen sind in verschiedene Wellen, nach etwa 1 600 in Finnland geblieben. historischen Kriterien je nach dem, Auf dem Höhepunkt der Flüchtlings- wann sie ihr Heimatland verlassen welle – um das Jahr 1922 herum – hatten, um nach Finnland zu befanden sich zeitweise fast 30 000 kommen. Wenn man die Migration Flüchtlinge aus den sowjetrussischen nach der Auflösung der Sowjetunion Gebieten in Finnland. Davon betrug (1991) betrachtet, ist es auch die Hälfte Russen und die andere wichtig, zwischen einer freiwilligen Hälfte Ingermanländer, andere und einer unfreiwilligen Migration finnisch-stämmige Völker und Ost- zu unterscheiden, das Letztere Karelier. Die wichtigste Überlebensstrategie der ersten Welle war die Arbeit. Die 9 Engman, Max, Raja. Karjalankannas 1918- Emigranten der ersten Welle sowie 1917. Helsinki 2007, S. 116-117.

44 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt die ehemaligen russischen Offiziere auf russisch für die Gegenseite aus Wiborg mussten physisch hart zu lesen. Außerdem wirkten sie arbeiten u.a. in den Arabia-Fabriken, als Dolmetscher und übernahmen bei Fazer und bei Skepps und Bro. andere militärische Aufgaben.10 Sie Man sammelte Geld für Hobbys waren Finnland gegenüber äußerst durch verschiedene Aktivitäten, zum solidarisch. Beispiel durch Benefizkonzerte, Im Jahr 1939 gab es unter den Theatervorführungen (in Helsinki Evakuierten aus Karelien auch gab es eine reiche Theatertradition eine Gruppe Russen, die finnische schon seit der Autonomiezeit), Staatsbürger waren, d.h. sie waren durch Eintrittsgelder für die Nachkommen der sog. Kyyrölä- Tanzveranstaltungen in Tabunoffs Russen. Sie wurden zusammen mit Schule, außerdem wurden Gelder den Kareliern evakuiert.11 für Notleidende durch Basare Im Winter 1941-1942 waren nach gesammelt. Mit den Gehältern wurden offiziellen Angaben ca. 47 000 (nach auch im Laufe der Jahre Gelder inoffiziellen Angaben ca. 64 000) zusammengespart, um die Bücherei sowjetrussische Kriegsgefangene in des russischen Handelsvereins zu Finnland. Die russischen Emigranten gründen. der ersten Welle halfen ihnen, den Es herrschte ein reiches Vereinsleben Hunger zu bekämpfen. Der finnische und einige Zeitungen wurden Marschall C.G. Mannerheim schreibt herausgegeben: Golos Russkoj im zweiten Teil seiner Memoiren über Kolonii und Russki Listok. die schwierigen Verhältnisse der russischen Kriegsgefangenen (Die Die zweite Welle Memoiren II, 385-388). Sie sind alle

Der Beginn des finnischen Winterkrieges 1939 führte zu einer 10 Schulgin, Kristiina Miksi en puhu venäjää. Dokumenttiohjelma. zweiten historisch schwierigen Phase Baschmakoff N. & Leinonen M. (2001) für die russische Bevölkerung in Russian Life in Finland 1917-1939: A local Finnland. and oral history. Hier möchte ich noch darauf Nevalainen, Pekka (1999) Viskoi kuin Luoja hinweisen, dass 600-700 Personen kerjäläistä. Venäjän pakolaiset Suomessa aus der alten russischen Bevölkerung 1917-1939. in Finnland sich am Winterkrieg 1939-1940 beteiligten (, der 105 11 Baschmakoff N. & Leinonen M. (2001) Tage dauerte) und auch am sog. Russian Life in Finland 1917-1939: A local and oral history. Fortsetzungskrieg 1941-1944. Zu Nevalainen, Pekka (1999) Viskoi kuin Luoja ihren Aufgaben gehörte es u.a., kerjäläistä. Venäjän pakolaiset Suomessa Radiosendungen und Nachrichten 1917-1939.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 45 in die Sowjetunion zurückgeschickt Wissenschaftler – überwiegend worden, mit Ausnahme von den Physiker und Computer-Experten – wenigen, die nach Schweden in die USA und nach Finnland. Viele geflüchtet sind. Russen verließen ihre Heimat, um Während der Kriege hat man 63 000 ihr Einkommen zu verbessern. Ingermanländer aus Gebieten, die Eine größere Gruppe von Menschen, von der deutschen Armee besetzt die nach Finnland kam, waren waren, nach Finnland verlegt, von Familien mit mindestens einem denen 55 000 später auf Befehl der finnisch-stämmigen Familienmitglied sowjetischen Kontrollkommission – Ingermanländer. Da viele von in die Sowjetunion zurückgeschickt ihnen trotz ihrer finnischen Wurzeln wurden. nicht Finnisch konnten, wurden sie Man geht davon aus, dass fälschlicherweise zu den Russland- mindestens 44 000 Flüchtlinge aus Finnen gezählt. In den Medien wurde dem Osten in den Jahren 1917-1939 viel über sie berichtet, was auch nach Finnland kamen, die für einige dazu geführt hat, dass Fragen zur Zeit oder auf Dauer in Finnland russischen Bevölkerung thematisiert geblieben sind. worden sind. Nach statistischen Informationen Bei der dritten Welle in den 1960er vom Jahr 2011 leben über 55 000 und 1970er Jahren handelte es sich russischsprachige Menschen in um den Umzug der sog. Dissidenten Finnland, 2005 waren es 39 653. in den Westen und 1975, nach Etwa 10 000 von ihnen wohnen der Konferenz für Sicherheit und in Helsinki und Umgebung; in Zusammenarbeit in Europa (KSZE), der ganzen Hauptstadtregion, im die in Helsinki gehalten wurde, ganzen Bezirk Uusimaa, der Region um Ehepartner, die nach Finnland um die Hauptstadtregion, sind es 17 gezogen sind, darunter oft auch aus 210. In den letzten zehn Jahren hat Scheinehen. ein enormer Zuwachs stattgefunden.

Die vierte Welle kam um das Jahr Die Lage der russischen 1991, als die Perestroika (angefangen Bevölkerung in Finnland – 1985) allen Bevölkerungsgruppen eine Untersuchung eine freie Ausreise sicherte. So wurde auch gewöhnlichen Ich habe eine kulturhistorische Un- russischen Bürgern ermöglicht, tersuchung über die Geschichte der ins Ausland zu reisen. Tatsächlich russischen Bevölkerung in Finnland reisten aber anfangs nur ehemalige und deren heutige Lage geschrie- Parteiaktivisten und Offizierskinder. ben. Darin geht es um die Strategien, Danach zog eine große Menge die Russen, die zu verschiedenen

46 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Zeiten nach Finnland gekommen Wissenschaftsakademie in St. Pe- sind, verwendet haben, um sich hier tersburg.12 anzupassen und zurechtzukommen. Finnlands berühmtester russischer In der Untersuchung wird die sozia- Kaufmann ist natürlich Paul Sinebry- le Geschichte der in Finnland ge- choff, der in Helsinki eine Brauerei borenen Russen zweiter und dritter gegründet hat. Die Geschäftstätig- Generation nachgezeichnet, sowie keit der Familie fing schon in den deren Einsatz für den finnischen 1790-er Jahren an, als Katharina II. Handel, die wirtschaftliche Entwick- den Befehl aussprach, die Festung lung, die Wissenschaft, die Kunst Ruotsinsalmi zu bauen. Zusammen und die Kultur. mit den Soldaten und den Bauarbei- Zum Schluss möchte ich beispiel- tern kamen auch Zivilisten, die Fa- haft ein paar russische Vertreter milien der Soldaten und Kaufleute, unterschiedlicher Fachgebiete vor- unter denen sich auch Pjotr Sine- stellen, die eine große Bedeutung brjuhov befand. Sein Sohn Nikolai für das finnische Kulturleben, für die (1788-1848) zog 1817 seinen Kun- Wirtschaft oder die Kunst gehabt den hinterher nach Helsinki. Da die haben. Familie später durch Paul den Älte- Während der Zeit, als Finnland ein ren (1799-1883), einen Bruder von Großfürstentum war, erwachte in ihm, in Helsinki schnell vermögend Russland das Interesse an der fin- wurde, wurde sie auch in finnisch- nischen und schwedischen Sprache nationalen Kreisen akzeptiert. Mit und Kultur. Der berühmte russische Spendengeldern der Gebrüder Si- Sprachwissenschaftler Jakov Kar- nebrychoff wurde die Ikonostase in lovitš Grot (1812-93) war Professor der russisch-orthodoxen Kirche der an der Kaiserlichen Alexander Uni- Heiligen Dreieinigkeit gebaut. Spä- versität in Helsinki 1840-1852. Sein ter verkehrten Paul Sinebrychoff der Buch ”Matka Suomessa” (Eine Rei- Jüngere mit seiner Finnland-schwe- se in Finnland) von 1846 erschien dischen Frau in schwedischen erst 1983 auf Finnisch. Darin erzählt Kreisen. So wurden die äußerst er über seine Reisen nach Kuopio, geschäftstüchtigen russischen Ge- Savonlinna, Oulu und Kajaani. Grot schäftsleute ein Teil der Geschichte übersetzte verschiedene finnische der finnischen KOFF-Brauerei. Heu- Werke ins Russische, u.a. von Ru- te ist sie in dänischem Besitz. neberg, Lönnrot sowie Teile aus dem Der in Finnland berühmte Bildhauer Nationalepos Kalevala. Als eine sei- ner wichtigsten Errungenschaften wird die Gründung der Slawischen 12 Pachmuss, Temira, A Moving River Bibliothek in Helsinki angesehen. Im of Tears, Russia´s Experience in Finland, Jahr 1856 wurde Grot Mitglied der American University Studies Series II, Vol. 15. New York, 1992. S. 51 – 83.

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 47 Michael Schilkin (1900-1962), war inspiriert worden. In den 1960-er ein Emigrant der ersten Welle und und 1970-er Jahren beschäftigte einer der Russen, der in der Arabia- sie sich mit globalen Problemen Keramikfabrik gearbeitet hat. wie Bevölkerungsexplosion, der Der Verlag W. Hagelstam hat ein Hungersnot und den Problemen Buch über sein Lebenswerk her- von Gewissenshäftlingen. Ihr Werk ausgegeben.13 Allen Finnen sind „Loppuunajetut“ (Die Aus-gedienten) seine Reliefs von der Arabia-Fabrik (1978) wurde zum ersten Mal im und von der Handelshochschule Jahr 1979 in der Galerie Sculptor bekannt. Ihm wurde 1958 die Pro ausgestellt, wo es die Aufmerksamkeit Finlandia-Medaille verliehen – ein der Kritiker weckte: es wurde teils Zeichen der Anerkennung hier in als ein gesellschaftskritisches Werk, Finnland für sein Lebenswerk – , aber auch als Abbildung einer was auch im Ausland wahrgenom- existentiellen Bürde angesehen. men wurde. Ternos Werk spricht die Finnen an, Über die sehr populäre Designerin denn es beinhaltet auch die Sorgen von Arabia, Olga Osol gibt es kein um den Bevölkerungsrückgang Buch und auch keine Publikation. ainus ländlichen Regionen sowie um Das von ihr entworfene Myrna-Ge- die verwundbare Lage, die zwischen schirr ist in finnischen Haushalten Mensch und Natur herrscht. sehr beliebt und im ganzen Land be- 1995 wurde Terno die Pro Finlandia- kannt. Olga Osol gehört zu der sog. Ehrenmedaille verliehen.14 russischen Stammbevölkerung aus Viele der Nachfahren der russischen Lappeenranta. Emigranten haben bei der Entwicklung Eine zweite berühmte Künstlerin ist der finnischen Wirtschaft und der die Bildhauerin Nina Terno, die am Handelsbeziehungen zwischen 31.5.1935 in Wiborg geboren wurde Finnland und der Sowjetunion/ und am 3.12.2003 in Helsinki starb. Russland mitgewirkt. Ihr Vater war ein Russe, der seinen Vadim Korzov bei Hollming, Hramov Nachnamen übersetzen ließ und bei Neste, Sergej Tulinov bei ihre Mutter eine geborene Lindström, Mahogany Jalokoivu, Yrjö Pauloff eine Finnland-Schwedin. bei Finn Karelia, Juri Bachmanov Verschiedene Tierfiguren – beson- bei Kaukomarkkinat, Alex Norilo ders Pferde – spielen eine zentrale ehem. Nikolajeff bei Valmet, Igor Rolle in Ternos Produktion. Sie ist Verhe ehem. Feoktistov bei Rauma auch von der Kalevala-Mythologie Repola, Georgij Buchanist als Chef

13 Ahtola-Moorhouse, Tuija, Kalha, Harri, 14 Lindgren, Liisa, Luonnon puolesta Tervo, Tuija (toim.) Michael Schilkin 1900- taiteen keinoin Kuvanveistäjä Nina Terno. 1962, Kaivopuiston kirjapaino 1996. Hämeenlinnan Taidemuseon julkaisuja 2/2001.

48 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt von Aspo, Wladimir Krestjanoff bei Lage der russischen Bevölkerung in Aspo. Finnland aufmerksam gemacht. In der Untersuchung werden Die Aktivitäten der russischen Ein- auch die zwischenmenschlichen wanderer werden vom finnischen Beziehungen der Finnland- Staat unterstützt. Über 50 Organi- Russen behandelt. Wie haben sationen sind schon gegründet wor- sich die Identitäten und Weltbilder, den und in den letzten Jahren hat Mentalitäten, kulturellen Hinter- u.a. auch das finnische Unterrichts- gründe, religiösen/antireligiösen/ ministerium seine Hilfe angeboten. atheistischen Ansichten, Interessen Die Russen haben ihre eigenen und Hobbys getroffen? Zeitungen – Spektr, finanziert vom Hier hätte man meiner Meinung nach Ministerium, die Literaturzeitschrift einen guten Ausgangspunkt für eine Literarus, ein Wirtschaftsblatt Tor- vergleichende Untersuchung nach govyj putj sowie die in Frankreich der Wiedervereinigung von Ost- und erscheindende Russkaja Myslj, eine Westdeutschland, wie trifft sich die ehemalige Emigranten-Zeitung und atheistische und christliche Welt in heutige staatliche russische Zeitung. der Praxis. Im Rundfunk gibt es schon seit Jah- Finnland ist nach dem Beitritt in die ren eine russischsprachige Nach- EU internationaler geworden und hat richtensendung und auch andere seine Stellung als eine selbständige, Sendungen. Man plant auch eine wirtschaftlich erfolgreiche Nation russischsprachige Nachrichtensen- verstärkt. Das internationale dung für das Fernsehen zusätzlich Bild von Finnland ist durch eine zu den schwedisch-, englisch- und erfolgreiche Politik und friedliche saami-sprachigen Sendungen, die Beziehungen zum Grenznachbarn es jetzt schon gibt. Russland positiv beeinflusst worden. Die russischsprachige Bevölkerung Finnland und die russischen Finnlands hat in einer leisen Art Migrationswellen dazu beigetragen, in verschiedenen historischen Phasen die Schlusswort wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Generell gesehen hat Finnland Beziehungen der beiden Länder die russischen Migrationswellen weiterzuentwickeln und vor allem unabhängig von den historischen die Kenntnisse der Finnen über ihre Ereignissen und dem Wechsel Nachbarn zu verstärken. Die EU- politischer Systeme während Kommission hat in ihrem Rapport verschiedener Kriege und Grenz- über die gesellschaftliche Situation änderungen und Evakuierungen der finnischen Minderheiten auf die größtenteils gut gemeistert. Finnland

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 49 war auch in den Jahren der größten Kultur der finnischen Bevölkerung russischen Migrationswellen über- zu integrieren, außerdem hat sie wiegend ein Transitland. Die dazu beigetragen, dass die Kinder Zahl der in Finnland wohnhaften in der Schule weniger gemobbt Russen ist verglichen mit den werden und dass sie leichter im Russen im übrigen Europa und im Berufsleben Fuß fassen konnten. Baltikum klein gewesen, auch in Der Menschenrechtsvertrag der den Jahren 1917-1922 während EU hat die finnischen Behörden der Revolution sowie nach der gezwungen, die Behandlung der Auflösung der Sowjetunion 1991, russischen Bevölkerung auch wo verstärkt Russen ausgewandert gesetzlich festzulegen. Momentan sind. Seit den 1960er Jahren ist haben die neuen russischen allerdings Heiratsmigration aus Bürger ein Recht auf eine doppelte der Sowjetunion und aus Russland Staatsbürgerschaft, wodurch sie ein Teil des finnisch-russischen ohne Visumzwang nach Russland Alltags. Heute gibt es außerdem einreisen dürfen. Dadurch können viele Russen, die wegen der Arbeit sie die Kontakte zu ihren Eltern und mit ihren Familien nach Finnland Verwandten aufrechterhalten. ziehen sowie Studenten. Auch als Die globale Finanzkrise macht sich Reiseland ist Finnland für Russen auch in Finnland bemerkbar, wobei interessant. die verschiedenen Schichten der Die russische Bevölkerung Finn- russischen Bevölkerung ein wert- lands hat viele außerordentliche volles Potential bilden. Das heuti- Konfliktsituationen während ver- ge Russland legt Wert darauf, die schiedener historischer und kultur- Traditionen des alten Russlands zu politischer Wenden durchleben bewahren. Es wäre schön, wenn es müssen. Die Nuancen der Integra- auch in Finnland so wäre, wo die tion und Assimilation sind vielfältig. gegenseitigen Beziehungen deutlich Es gibt Beispiele für eine totale erkennbar sind, in der Geschichte, in Assimilation, für die Ablehnung der Kultur, im Tourismus und in den der eigenen Vergangenheit und für Finnland so wichtigen Handels- Wurzeln, für eine Namensänderung beziehungen. und für eine moderate Integration mit In der Skizze sind die russischen der Majoritätsbevölkerung, während Migrationswellen in einer zeitlichen die Wurzeln, die Traditionen und Abfolge aufgeführt. Dabei werden die Bräuche sowie die Sprache deren Beziehung zu den historischen beibehalten wurden. Wendepunkten und den politischen Die Assimilation hat dabei geholfen, Systemen betont. die Kinder und Enkelkinder der russischen Bevölkerung in die

50 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt

Die Migration aus Russland, der Sowjetunion und dem heutigen Russland

Russland Das alte Finnland, 1700 - 1800 Europa

Finnland, Europa, die USA, - Russland Süd-Amerika, Australien ä Die Sowjetunion 1917 -1922 Die Sowjetunion Finnland, Europa, 1930 - 1940, Israel, die USA 1960 - Die ganze Welt, Rus sland Das Baltikum, Asien 1991 -

1741 Die Festungsbauer, die mit den russischen Regimentern nach Alt-Finnland (Lappeenranta) kamen 1812 die Einwohner aus Kyyrölä

Die Emigranten der ersten Welle 1917-1922

Die II. Welle, die Emigranten der 1930er und 1940er Jahre

Die III. Welle, die Dissidenten der 1960er Jahre und diejenigen, die nach der KFZE- Konferenz 1975 finnische Staatsbürger geheiratet haben

Die Sootechestvenniki, Landsmänner, Auslandrussen ab 1991 + die russische Bevölkerung der ehemaligen GUS-Staaten

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 51 Die Autorin Russian immigrants and their culture in Finland Dr. phil. Veronica Shenshin war nach ihrer Promotion an der Uni- In Russian migration history Fin- versity of Illinois at Urbana Cham- land was mainly a transit count- paign u.a. Forscherin am Alexan- ry, but especially along the eas- der-Institut und beim finnischen tern border economical, cultural Außenministerium. Ihr For-schun- and personal exchange between gsinteresse gilt der russischen Finns and Russians always took Bevölkerung in Finnland seit dem place. The roots of the Finnish 19. Jh. Russian population reach back to the mid-18th century. After 1809 however, the legal system in Fin- land limited immigration. The history of Russians in Finland is very different from the one of Russians in the Baltic countries. During the 19th and early 20th century, many merchants contri- buted largely to the development of the capital. After the Russian Revolution the- re was a change in the attitude to- wards Russians in Finland. Russian Emigrants can be divided into groups according to histo- rical criteria. During the first wave between 1917 and 1922 about 2 million people came into Finland. A second wave came during Wor- ld War II, the third in the 1960es and 70es and the final one after 1991. The last part presents research on the cultural-historical aspect of the Russian population in Finland and a few examples of Russian biographies in Finland.

52 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Antero Leitzinger se westlichen Tataren werden traditio- nell Mischären genannt und stammen aus dem Kasimovschen Khanat des Aus dem „eura- 16. Jahrhunderts. Nur 5 % der finni- schen Tataren stammen aus Kazan, sischen Kaiser- der Hauptstadt Tatarstans, oder aus ihrer Nähe, und weitere 5 % aus ande- reich“: Tataren ren türkischen Stämmen oder Völker- schaften. er sind die Tataren? Manchmal Viele finnische Tataren nennen sich Wbenennt man die Mongolen- auch einfach Türken, obwohl nur weni- horde Dschingis Khan pauschal als ge je einen Pass der Türkei besaßen. ”Tataren”, manchmal beschränkt man Die Suche nach der ”richtigen” Be- die Benennung auf die Völkerschaften nennung teilt die sonst sehr homoge- der Goldenen Horde (Wolga-, Krim-, ne Gemeinde (viele sind miteinander Astrachan/Nogaische und Sibirische verwandt) und garantiert Streitigkeiten Tataren) oder auf die Türkvölker au- bei öfters wiederkehrenden Versuchen ßerhalb der Türkei (etwa Bulgarische ihre Vereine umzubenennen. und Aserbaidschanische Tataren). Sie Die ersten Ahnen der heutigen finni- kann auch nicht mit der russischen au- schen Tataren kamen nach Finnland tonomen Republik von Tatarstan (”Ta- nach 1868 (Familie Hamidulla) und tarenland”) verknüpft werden, denn Ta- vor 1884 (Familien Salavat und Sa- tarstan ist viel kleiner (67.836 km2) als maletdin). Sie waren arme Bauern, der von den Wolgatataren um 1918 er- die sich zuerst während der Winter- träumte Sammelstaat ”Idel-Ural”, und zeit als Textilhändler betätigten (erst bietet ein Zuhause für kaum die Hälfte später stiegen einige in Geschäfte der wolgatatarischen Bevölkerung der mit Pelzen oder Teppichen ein). Nur Welt, es enthält in seiner Bevölkerung einzelne stammen von Soldaten der von 3,8 Millionen ebenso viele nicht-ta- russischen Armee ab, die nach der tarische (russische und finnischstäm- Selbständigkeitserklärung Finnlands mige) wie tatarische Bürger. 1917 im Lande blieben. Ihre Frauen Die Tataren in Finnland sind keine und Kinder folgten zum Teil erst in den Mongolen und kamen auch nicht aus 1920er Jahren von Sowjet-Russland dem Gebiet von Tatarstan. Von etwa nach Finnland, teilweise mit sowjeti- tausend finnischen Tataren stammen schen Pässen und teilweise illegal. Die 57 % aus dem Dorf Aktuk (russisch letzten kamen 1944 über Estland. Aktukovo, auch Yañapar genannt), Neben der Kettenwanderung von ta- 14 % aus dem Dorf Suksu und 20 % tarischen Händlern hielten sich um aus anderen Dörfern auf halbem Weg 1918 auch einige politische Aktivis- zwischen Moskau und Tatarstan. Die- ten (u. a. der Präsident von Idel-Ural,

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 53 Sadri Maksudi) in Finnland auf. Die- Obwohl die Tataren – sowohl die se wanderten meistens bald weiter, nach Russland zurückgekehrten wie schließlich in die Türkei, aber hielten auch die seit 1920 eingebürgerten Kontakte zu ihren Landsleuten durch – überwiegend gute Erinnerungen Briefwechsel und Vorträge. Da die an die Anpassung an finnische Ver- Tataren sich seit 1925 in einer mus- hältnisse haben, war es für sie nicht limischen Gemeinde (heute Suomen immer so leicht, wie man sich später Islam-seurakunta) versammelten, erinnerte. In finnischen Zeitungen war es auch einzelnen Türken, Per- findet man Vorurteile über die erste sern, Kaukasiern und Zentralasia- Händlergeneration – „tatarilaisia, wai ten möglich, durch die gemeinsame mitä lienewätkään, kaupustelioita“1 Religion mit den Tataren zusam- (Aura 10.11.1885). Sie wurden sogar menzukommen, ihre Sprache (eine als schlimmer als Juden eingestuft – türkische Mundart) zu lernen und ”tataarit yhtä inhoittawia kuin juutalai- untereinander zu heiraten. set ja muuten röyhkeämpiä käytök- Vier sowjet-tatarische Kriegsgefan- sessänsä”2 (Hämäläinen 22.5.1889). gene blieben nach dem Winterkrieg In der russischen Zeitung ”Moskovs- 1939-1940 in Finnland mussten aber ki Listok” wollten Panslawisten sich nach 1944 entweder weiter nach Wes- im August 1889 als Freunde der ten fliehen oder wurden (bis 1947) ge- Tataren ausgeben und beteuerten mäß Friedensvertrag an die Sowjets ihr Entsetzen wegen der Behand- ausgeliefert. Als finnische Truppen lung eines Tataren auf dem Markt die im Winterkrieg verlorenen Gebiete von Turku. Nach ihrer Überzeugung in Karelien in 1941 zurückeroberten, hätten sie als russische Untertanen traf man dort dutzende inzwischen gleiche Rechte haben sollen wie die angesiedelte tatarische Zivilisten, die eingeborenen Finnen. Es wurde als interniert wurden, aber alle zurück- Beleidigung aufgefasst, dass das kehren mussten; dabei verloren sich Gericht von Turku mit seinen Straf- die Spuren des Kriegsgefangenen anzeigen den Tataren bis in ihren Zekeriye Abdulla und der Internierten Heimatort folgte – und zwar in der da- Munglizifa Latipova, die 1942 in Jär- selbst unbegreiflichen Amtssprache venpää heirateten und samt ihrem Schwedisch! Die Tataren scheinen Kind im Januar 1945 deportiert wur- aber untereinander abgemacht zu den. Einige von den internierten Ta- haben, dass sie eher den etwas bü- taren sind in den 1990er Jahren im rokratischen finnischen Gesetzen fol- Fernsehen von Tatarstan aufgetreten, gen sollten, als mit den Russen glei- haben sich an ihre relativ friedlichen Kriegsjahre in Finnland erinnert und 1 Tataren oder was auch immer für Hausirer. haben ihre tatarischen Freunde von 2 Die Tataren (sind) genauso abstoßend wie damals in Finnland besucht. Juden und dazu noch viel frecher in ihrem Be- nehmen.

54 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt che Sache zu machen. Während der Tataren doch echt finnische Patrio- Russifizierungsjahre 1899 bis 1917 ten: ”Saattoväki, varsinkin naiset, wurden viele Tataren gut bekannt olivat niin suomalaisten näköösiä ja und befreundet mit Finnen. Dazu hat miehetkin niin kotoosesti puettuja, sicherlich auch das sprachwissen- toiset paremmin toiset aivan arkises- schaftliche Interesse finnischer Aka- ti, että ensi silmäyksellä olis luullu demiker an den Türkvölkern um die heitä aivan supisuomalaisiksi, mutta mittlere Wolga beigetragen, denn es lähemmin tarkastaessa silmän väri entstanden schon vor der Revolution ja pilke osoitti heidät etelämaalaisik- von 1917 freundschaftliche Bezie- si. Muuten voin sanoa, että meirän hungen zwischen finnischen und ta- turkkilaisemme, joita sanotaan taval- tarischen Politikern sowie finnischen lisesti tataareiksi, ovat suuria patri- Wissenschaftlern und tatarischen ootteja...“4 (Vaasa 19.4.1940) Händlern mit ihren Familien. Während der Kriegszeit wurde in Während des Zweiten Weltkrieges Tampere eine Tochtergemeinde (Tam- verschwanden die letzten Zweifel pereen islamilainen seurakunta) ge- gegenüber der Loyalität der Tataren gründet und in Järvenpää die damals als finnische Staatsbürger. Zinne- nördlichste Moschee der Welt (aus tullah Ahsen Böre, der selbst einen Holz) gebaut. Eine Kulturgesellschaft türkischen Pass trug, lobte die Fin- (Suomen turkkilaisten seura, FTB) nen in seinem Vorwort zur ersten verband die Tataren seit 1935, und Koranübersetzung: „Olen asunut ein Sportklub „Stern” (Yolduz) hat seit Suomessa yli neljännesvuosisadan 1945 aus den freundschaftlichen Fuß- ja huomannut, että suomalaiset ovat ballspielen mit dem jüdischen Verein valistuneita ja tahtovat saada oikean eine Tradition gemacht. In Helsinki käsityksen kaikista asioista.“3 (Zin- wurde 1961 auf eigene Kosten ein netullah Ahsen Böre‘s Vorwort zum ”Islam-Haus” (mit Gebetsraum, Biblio- finnischen Koran 20.8.1942) thek, Klub und Kindergarten) gebaut. Als Hasan Abdrahim im Winterkrieg Tataren haben in Finnland schon in diente, bezeugte sein Vorgesetzter der sechsten Generation ihre Mut- seine Vaterlandsliebe: „Toisuskoisu- tersprache und islamische Religion, us ei kuitenkaan vaikuta pienimmäs- säkään määrin hänen suomalaisuu- 4 Die Trauernden, besonders die Frauen, teensa.“ Als Abdrahim bald im Kampf sahen so finnisch aus und auch die Männer fiel, besuchte ein Kolumnist das für waren so einheimisch gekleidet, einige besser, andere sehr alltäglich, dass man sie auf ers- ihn merkwürdige Begräbnis und fand ten Blick für urfinnisch halten konnte, aber bei genauerem Hinsehen enthüllte die Augenfar- 3 Ich wohne seit über einem Vierteljahrhun- be und Ausdruck ihre südländische Herkunft. dert in Finnland und habe bemerkt, dass die Im Übrigen kann ich sagen, dass unsere Tür- Finnen aufgeklärt sind und ein richtiges Vers- ken, die gewöhnlich Tataren genannt werden, tändnis von allem erreichen wollen. große Patrioten sind …

ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt 55 mit eigenen Kultur (Musik, Literatur, Muazzez Baibulat: Tampereen Islamilai- Delikatessen) bewahrt, obwohl alle nen Seurakunta – juuret ja historia [Die isla- zwei- oder gar dreisprachig und gut mische Gemeinde in Tampere - Wurzeln und gebildet sind (die erste Studentin war Geschichte], (2004) Zeytüne Josepoff in 1927 und der ers- „Viaporin/Helsingin ja Viipurin linnoituk- te Doktor Ymär Daher). Eine eigene sen imaamien tataarinkieliset metrikkakirjat ”türkische” Volksschule (Turkkilainen 1851–1914“ [Die Metrikbücher der Imame der kansakoulu) bestand in Helsinki von Festungen Viapori/Helsinku und Wiburg 1851- 1948 bis 1969. Heutzutage leben die 1914], hg. Harry Halén, Unholan Aitta 7/1997 meisten Tataren wohl schon in Misch- ehen und wundern sich, wie lange sie Coming from the «eurasian ihren Nachkommen ihr eigenes kul- czarist empire»: the tartars turelles Erbe weitergeben können. Sie gelten als ein ausgezeichnetes After defining the concept «tar- Beispiel gelungener Integration mus- tars» ethnologically and geo- limischer Einwanderer und es wird graphically the article introduces höchstens bedauert, dass sie in den the origin and historical back- letzten Jahrzehnten ein allzu unsicht- ground of the so called Finnish bares Profil aufrechterhielten. Nicht tartars, whose ancestors came viele Länder der Europäischen Union to Finland between 1868 and (außer Litauen und Polen!) können 1884, and the last ones in 1944. schon auf sechs Generationen einer The article further examines their muslimischen Minderheit zurückbli- challenges to adapt and be ac- cken. cepted as foreigners and muslims in Finland. During the russificati- on 1899-1917 the tartars became good friends with Finns and final- Literatur: ly, in the Second World War they Tugan Tel – Kirjoituksia Suomen tataareista were even considered as great [Tugan Tel – Schriften über die Tataren Finn- Finnish patriots. lands], hg. Kadriye Bedretdin, 2011) In addition to their own moslem Antero Leitzinger: Suomen tataarit – Vuosina parishes in Helsinki and Tampere, 1868–1944 muodostuneen muslimiyhteisön there was a « turkish » school in menestystarina [Finnlands Tataren – die Er- Helsinki between 1948 and 1969. folgsgeschichte der in den Jahren 1868-1944 The tartars in Finland still main- entstandenen muslimischen Gemeinschaft] tain their mother tongue, religion (2006) and culture now already in the Suomen Islam-seurakunnan veteraaniteos sixth generation and could serve [Das Veteranenwerk der Islam-Gemeinde as an example of successful inte- Finnlands], hg. Tuomo Hirvonen, 2006 gration.

56 ARCTURUS 7 • 2019 Migranten in der Hauptstadt Entfernte Partner? Gemeinsame Hoffnungen? Finnland und Deutschland in Europa

Festseminar und Festakt zum 25-jährigen Jubiläum am 5.9.2013

Veranstalter: Aue-Stiftung (Helsinki)

Redaktion: Robert Schweitzer und Uta- Maria Liertz

Helsinki 2019

ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre offentliches Wirken 25 Jahre öffentliches Wirken der Aue-Stiftung

Entfernte Partner? Gemeinsame Hoffnungen? Finnland und Deutschland in Europa im Spannungsfeld bilateraler und globaler Entwicklung.

it einem Seminar feierte die Aue-Stiftung am 5. September 2013 das M25-jährige Jubiläum ihres öffentlichen Wirkens. Im Anschluss an das Seminar mit seinen Vorträgen und einer ausführlichen Podiumsdiskussion fand ein Festakt mit rückblickenden Gedanken eines Zeitzeugen und einem Überblick über ein Vierteljahrhundert Forschung sowie die Verleihung des Ulla-Aue-Jugendpreises an M.A. Numminen und der Medaille für Verdienste um Frieden und Verständigung an Jutta Zilliacus statt. Die Laudationes auf die Preisträger wurden bereits im Jahresbericht 2013 veröffentlicht.

Hier publizieren wir den Keynote-Vortrag von Wolfram Hilz sowie die histori- schen Rückblicke von Ilkka-Christian Björklund und Robert Schweitzer.

58 ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre offentliches Wirken Prof. Dr. Wolfram Hilz

Deutschlands „neue“ Rolle in Europa – Chancen und Probleme für die EU- Partner

enn man die Charakterisierun- Wenn wir uns mit dem außenpoliti- Wgen und Labels betrachtet, die schen Verhalten des größten und der Bundesrepublik in der internatio- ökonomisch stärksten EU-Mitglieds- nalen Presse in den letzten Jahren landes beschäftigen, das in jedem angeheftet wurden – vom „Domina- Fall erhebliche Auswirkungen auf tor“ bzw. „Zuchtmeister Europas“, die anderen Partner in der Integra- „neuen Reich“ oder „zaudernden tionsgemeinschaft hat, ist der Unter- Hegemon“ – scheint es keinen Zwei- schied jedoch von großer Relevanz. fel daran zu geben, dass Deutsch- Ändert sich das deutsche Verhalten, land eine neue Rolle in Europa über- spüren es alle anderen zwangläufig, nommen hat. und passen ihr eigenes Handlungs- Wenn man aber herauszubekom- schema an. Ändert sich „nur“ die men versucht, was wirklich neu ist, Wahrnehmung Deutschlands durch an der Rolle, die die Bundesrepublik die Partner in der Gemeinschaft in Europa spielt, dann wird es schon – wir sprechen in der Außenpolitik- etwas schwieriger. Es stellt sich bei forschung von der Relevanz von ge- genauerer Betrachtung die Frage, genseitigen Perzeptionen – hat aber ob „das Neue“ an Deutschlands Rol- auch das Einfluss auf die außen- le in Europa nicht so sehr ein „neu- politischen Aktions- und Reaktions- es“ deutsches Verhalten ist, sondern muster der anderen, wenn auch üb- es sich vielmehr um eine „neue“ licherweise in geringerem Umfang. Sichtweise von außen auf die Bun- Am Elefanten-Beispiel lässt sich die- desrepublik handelt. ser Effekt ganz einfach erkennen: Auf den ersten Blick scheint es gar Wenn wir die EU mit einer Zirkus- nicht so entscheidend zu sein, ob Manege vergleichen, in der alle Tiere das eine oder das andere richtig ist, gleichzeitig auftreten und Deutsch- da es ja primär um die Wahrneh- land der Elefant ist, wird jedes an- mung einer „neue“ Rolle Deutsch- dere Zirkustier genau darauf achten, lands geht, die in jedem Fall zu at- wie sich der Elefant verhält, damit es testieren ist. selbst nicht verletzt wird. Der Elefant wird, wenn er guten Mutes ist, darauf

ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre öffentliches Wirken 59 achten, dass er niemanden verletzt. senzeiten, wie wir sie alle bezogen Allerdings ist er nicht davor gefeit, auf die Wirtschaft und Währung seit dass er bei jeder Bewegung die an- nunmehr gut fünf Jahren in Europa deren in der Manege bedrängt – und erleben, sind besondere Zeiten. In dass er von ihnen als mögliche Be- der Krise zeigt sich oft erst der wah- drohung wahrgenommen wird, egal re Charakter von Partnerschaften – wie er sich verhält. das ist in der internationalen Politik Tatsächliches Verhalten und ein- nicht anders als in der Innenpolitik fache Wahrnehmung stehen in der oder im Privatleben. internationalen Politik in einer engen Inhaltlich waren die europapoliti- Wechselwirkung. Wir müssen uns schen Positionen der Regierungen aber auch im Klaren darüber sein, Merkel in Zeiten der Weltwirtschafts-, dass es schwer bis unmöglich sein Euro- und Staatsschuldenkrise der kann, Fremdwahrnehmungen zu än- letzten Jahre geprägt von der letzt- dern. Der Elefant muss damit leben, lich immer wieder erkennbaren Be- dass er aufgrund seiner Größe und reitschaft, einen angemessenen, Wahrnehmung durch alle anderen und damit großen deutschen Beitrag immer argwöhnisch betrachtet wird; zur Unterstützung der EU-Krisenlän- dem kann er nur bedingt entgegen- der, allen voran Griechenland, Irland wirken, da er nun Mal größer ist als und Portugal, aber auch Spanien, alle anderen. Mit dem Elefanten-Bild Italien und Zypern zu leisten, um de- vor Augen lassen sich die vermeint- ren Wirtschaft zu stützen und die ge- liche oder objektivierbare „neue“ meinsame Währung vor dem Zerfall deutsche Rolle in Europa, und die zu sichern. mögliche Konsequenzen für die Dabei machte die deutsche Regie- Partner in der EU hoffentlich leichter rung zugleich unmissverständlich einordnen. klar, dass sie die Währungsunion als Hierbei stellt sich zunächst die Fra- Stabilitätsunion erhalten bzw. stär- ge, ob sich das außenpolitische Ver- ken will, und dass die Unterstützung halten Deutschlands in den letzten für die Partner nur bei verlässlichen Jahren tatsächlich so verändert hat, Zusagen zur Einhaltung von Kondi- dass sich daraus eine „neue Rolle“ tionen erfolgen werden – immerhin ergibt, die die eingangs genannten beläuft sich diese Kredithilfe für den neuen Etiketten vom Zuchtmeister, deutschen Steuerzahler durch die Dominator oder gar Hegemon recht- Zusagen zum ersten Griechenland- fertigen würden? paket, den EFSF und den ESM mitt- Der zeitliche Kontext, in dem wir uns lerweile auf über 150 Mrd. Euro. historisch gesehen aktuell bewegen, Als Schutz vor einer erneuten Ver- ist sicherlich gut geeignet, um diese schuldungsspirale, an deren Ende Frage zu beantworten. Denn Kri- erneut alle Euro-Partner für die

60 ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre offentliches Wirken mangelnde Haushaltsdisziplin ein- ten EG-Finanzsystems 1988, ohne zelner zahlen müssten, drängte die die die Überlast des Agrarhaushalts Bundesregierung auf eine zusätzli- nicht hätte beseitigt werden können. che vertragliche Selbstverpflichtung Der Kohäsionsfonds durfte schließ- aller, den sog. Fiskalpakt, mit dem lich nur zur Verbesserung der natio- eine neue, niedrigere Verschul- nalen Infrastruktur eingesetzt wer- dungsgrenze im jeweiligen nationa- den, um die nationalen Haushalte zu len Recht verankert werden muss. entlasten und fit für den Euro-Beitritt Wenn wir diese inhaltlichen deut- zu machen. schen Positionen daraufhin unter- Die inhaltlichen Forderungen zur suchen, ob es sich dabei um eine strikteren Überwachung der nationa- Neuerung handelt, so lässt sich re- len Verschuldung sowie die vertrag- lativ schnell feststellen, dass diese liche Festlegung von Sanktionen hat allesamt bereits bekannte deutsche ebenfalls nichts wesentlich Neues Verhaltensweisen beinhalten: Die zu bieten, da dies alles bereits mit Bereitschaft der Bundesregierun- dem Maastrichter Vertrag festgelegt gen, einen erheblichen Eigenbei- wurde. Und der Fiskalpakt stellt le- trag für die Gemeinschaft zu leisten, diglich eine verschärfte Neuauflage wenn damit wichtige Integrationsan- des Stabilitäts- und Wachstumspak- liegen vorangebracht werden kön- tes aus dem Jahr 1997 dar. nen, gehört seit vielen Jahrzehnten Selbst die Entschiedenheit und er- zum Traditionsbestand deutscher bitterte Härte mit der in den letzten Europapolitik. Besonders markante Jahren um die Festschreibung ver- Beispiele zu Zeiten der Regierung pflichtender Konditionen und Sank- Kohl/Genscher waren die Gegenfi- tionen gerungen wurde, ist nicht nanzierung des sog. Briten-Rabatts wirklich neu, wenn man sich die Anfang, die Aufstockung der Regio- Streitigkeiten zwischen London und nalförderung Ende der 80er Jahre Bonn in Maastricht und das schier sowie die Einrichtung des Kohä- endlose Ringen zwischen Bonn sionsfonds zur Heranführung an die und Paris um den Stabilitätspakt Währungsunion in Maastricht 1991. zur dauerhaften Einhaltung eines In allen genannten Fällen erfolgte soliden Haushaltskurses Ende der der deutsche Finanzierungsbeitrag 1990er Jahre in Erinnerung ruft. jedoch immer auch konditioniert: Die Lediglich die inhaltliche Konse- Gegenfinanzierung des Briten-Ra- quenz mit der die Regierung Mer- batts machte den Weg frei zur Ver- kel diesen Konsolidierungskurs in handlung über das Binnenmarktpro- den letzten Jahren durchgehalten gramm 1985. Die Aufstockung der hat, ist ungewöhnlich für deutsche Regionalförderung ebnete den Weg Regierungen: wurde zur sog. Delors-Reform des gesam- im Nachhinein vielfach vorgewor-

ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre öffentliches Wirken 61 fen, den deutschen Stabilitätskurs le in Europa „neu“ ist? Neben dem an entscheidenden Stellen – bei Inhalt ist im immer komplizierter der Verabschiedung des Stabilitäts- gewordenen Geflecht der Europäi- paktes 1997 – gerade gegenüber schen Union der 28 bekannterma- dem französischen Partner nicht ßen auch wichtig, wie die jeweiligen konsequent genug durchgehalten Positionen kommuniziert und durch- zu haben. Nur so konnte sein Nach- bzw. umgesetzt werden. Es geht folger als Bundeskanzler, Gerhard also um Fragen des Stils und des Schröder, vor gut zehn Jahren im Umgangs miteinander. Schulterschluss mit Jacques Chi- Beim Vergleich der heutigen Kom- rac die bevorstehenden Sanktionen munikation mit der Anfangszeit gemäß Stabilitätspakt abwenden, der Währungsunion vor 20 Jahren und wesentlich zur Schwächung der fällt der Unterschied im Umgangs- Stabilitätsorientierung in der Wäh- ton sehr deutlich auf: Während rungsunion beitragen. Die deutsche Bundesregierungen bis zum Ende Position als Hüter und Verfechter der 1990er Jahre Divergenzen mit strikter Haushaltskonsolidierung den wichtigsten Partnern – allen unter dem Duo Merkel/Schäuble voran Frankreich – niemals öffent- wirkt folglich nur für diejenigen neu, lich ausgetragen, und deutliche die in kürzeren Zeiträumen denken. Konditionierungs-Forderungen im- Inhaltlich führen beide die Politik mer nur hinter verschlossenen Tü- ihrer Vorgänger Kohl und Waigel ren geäußert haben, ist dies heute zur Einhaltung der Maastricht-Krite- anders. Eingeleitet durch die Regie- rien für die Währungsunion fort bzw. rung Schröder/Fischer 1998 traten kehren zu deren Position zurück. Es deutsche Regierungen in der Öffent- handelt sich also inhaltlich nicht um lichkeit zunehmend selbstbewusster eine „neue“ deutsche Rolle, sondern und auch konfrontativer gegenüber um eine Rückkehr zur altbewährten den europäischen Partnern auf. deutschen europapolitischen Rolle, In der Euro-Krise führte dies mehr- die dieses Mal nur konsequenter mals zu erheblichen Spannungen durchgehalten wird. Die Bilder vom zwischen der Bundesrepublik und „deutschen Zuchtmeister“, der – in einzelnen Krisenstaaten, da die in- der Person von – die haltlich möglicherweise berechtigten Partner mit den harten Stabilitäts- Forderungen zu Sparanstrengungen kriterien „foltert“ gab es im Übrigen durch die Art und Weise des öffent- schon vor 20 Jahren mit Helmut lichen Auftretens von deutschen Kohl in der Hauptrolle. Regierungsvertretern oder Abgeord- Wenn der Inhalt deutscher Europa- neten teilweise zum diplomatischen politik nicht „neu“ ist, stellt sich die Affront gerieten. Frage, was an der deutschen Rol-

62 ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre offentliches Wirken Obwohl wir durch die Verflechtung tischen Gruppierungen, die in öko- vieler Politikbereiche in Europa nomischen Krisen ohnehin drohen, eine Vermischung von Außen- und dürfen nicht auch noch von außen Innenpolitik erreicht haben, die zusätzlich angefeuert werden. Damit diesbezüglich oft keine klare Unter- bin ich erneut bei der Wahrnehmung scheidung mehr zulässt, handelt Deutschlands und seines Verhaltens es sich im Verhältnis zwischen den in Krisenzeiten angelangt. Mitgliedstaaten formal doch noch Während die inhaltliche Verfechtung um diplomatische Beziehungen. des Stabilitäts- und Konsolidierungs- Undiplomatisches Verhalten – und kurses durch die Bundesregierung Rhetorik gehört ganz wesentlich zur zwar von den Partnern kritisiert wer- Außenpolitik – kann schnell zur Ver- den kann, aber als conditio sine qua schlechterung bilateraler Beziehun- non zur Etablierung der Währungs- gen führen. Das gilt unter den EU- union durch die Bundesrepublik von Partner ebenso wie es außerhalb Beginn an nun einmal respektiert der Gemeinschaft selbstverständlich werden muss, ist die Art und Weise seine Gültigkeit behält. der Vertretung deutscher Interessen Insofern stellt sich die Aufgabe der auf europäischer Ebene ganz offen- Rückbesinnung auf angemessene sichtlich zum Problem geworden. politisch-rhetorische Verhaltenswei- Zwar ist der gelegentlich auftauchen- sen aller politischen Akteure gerade de Vorwurf, die Bundeskanzlerin in Deutschland, damit die rhetori- würde in Brüssel etwas gegen den schen Entgleisungen Einzelner, die Willen der Partner „durchdrücken“, u.a. Griechen als „faul“ und italieni- haltlos, da auch im Kreis der Staats- sche Politiker als „Clowns“ diffamiert und Regierungschefs weiterhin alle haben, keine Nachahmer finden. zustimmen müssen, oder wie im Bisher stellt die aus den Fehlern Falle des Fiskalpakts, außerhalb der einzelner folgende Überzeichnung Verträge sich genügend Vertrags- „der“ Deutschen in mehreren Krisen- partner einigen müssen. Auch das staaten als arrogante Besserwisser, Lamento der Europaparlamentarier, die damit ihre neue dominierende dass die Euro-Krise im Rahmen von Rolle ausspielen, noch eine unge- endlosen Gipfelfolgen thematisiert rechtfertigte Verallgemeinerung dar. wurde, und nicht innerhalb der an- Die genannten Beispiele zeigen je- deren EU-Organe, scheint aufgrund doch, dass in Krisenzeiten, die mit der zeitlich gebotenen, raschen Ei- erhöhten Empfindlichkeiten einher- nigungs- und Handlungszwänge we- gehen, die Verantwortung der Politi- nig stichhaltig. ker ebenfalls eine größere ist. Wenn man jedoch das nach au- Die Radikalisierung von Gesell- ßen wahrnehmbare Auftreten der schaften und der Zulauf zu extremis- Bundesregierung während der

ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre öffentliches Wirken 63 unterschiedlichen Phasen der Wirt- dass die Spekulationen über eine schaftskrise seit 2008 betrachtet, so unilaterale deutsche Führungsrolle lassen sich durchaus Verhaltenswei- in Europa schnellstmöglich beendet sen erkennen, die zu einer neuen, werden. Die Angst vor einer deut- negativ behafteten Wahrnehmung schen Dominanz würde ansonsten der Bundesrepublik beigetragen viel zunichte machen, was durch haben. So ging die Vertretung des den europäischen Integrationspro- eigenen Stabilitätskurses nur selten zess seit über 60 Jahren erfolgreich mit einer angemessenen Würdigung eingedämmt wurde. der Interessen der anderen EU- Eine intensivere Abstimmung mit Partner in den schwierigen Brüsse- den vielen kleineren EU-Mitgliedern ler Verhandlungen einher. Bei der wäre noch aus anderen Gründen Kontaktpflege und Einbeziehung für die Handlungsoptionen und die der kleineren EU-Staaten haben die Wahrnehmung der Bundesrepublik Bundesregierungen bekannterma- in der EU wichtig, auch wenn dies ßen bereits seit Ende der Ära Kohl zweifellos aufwendig ist: zu wenig Energie aufgebracht, um Zum einen könnte die künftige sie ausreichend in die Vorabstim- Bundesregierung damit gegen- mungen von Positionen einzubinden über den derzeitigen Krisenstaaten oder ihre Rolle für das Zustande- klarmachen, dass sie ein grund- kommen von Kompromissen ange- sätzliches Interesse daran hat, die messen öffentlich zu würdigen. Anliegen der kleineren EU-Mit- Dabei war die Bundesregierung bei glieder zu berücksichtigen. Die der erneuten Verankerung des Sta- öffentlichkeitswirksame Abstimmung bilitätskurses für die Bewältigung zwischen den Regierungen könn- der Euro-Krise nicht zuletzt auf die te zudem wichtige Signale für die gleichgesinnten, kleineren Partner jeweilige Bevölkerung geben und angewiesen – gerade Finnland, aber auch einen Beitrag für die Mobilisie- auch die Niederlande haben hierbei rung der Wirtschaftsakteure leisten. ein besondere Rolle gespielt. In dieser Hinsicht ist das große Ver- Diese nach außen als Großmachtig- säumnis von Angela Merkel gegen- noranz interpretierbare, mangelnde über Griechenland für alle Welt deut- Sensibilität für die Rolle der kleine- lich geworden, als sie erst in diesem ren EU-Partner hat einen wesentli- Jahr zum ersten Mal seit Krisenaus- chen Anteil daran, dass das ansons- bruch in Athen war. Zwar wäre ein ten wenig substantielle Gerede von derartiger Besuch im ersten Euro- der „neuen“ deutschen Rolle in Eu- Krisenjahr 2010 voraussichtlich ropa bisher nicht verschwunden ist. auch wenig harmonisch verlaufen. Die Bundesregierung muss jedoch Das Signal an das griechische Volk ein großes Interesse daran haben, hätte jedoch positiv wirken, und die

64 ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre offentliches Wirken danach ausbrechenden anti-deut- tatsächlich alleine, ohne möglichen, schen Ressentiments dämpfen kön- gewichtigen Partner bei EU-Ver- nen. handlungen da. Zwar gelang es Prä- Ein weiteres Argument für die en- sident Hollande erwartungsgemäß gere, kontinuierliche Abstimmung nicht, eine Koalition der Südeuropä- mit den kleineren EU-Partnern ist er und Krisenländer zu schmieden, der derzeitige „Ausfall“ des traditio- die den Stabilitätskurs in der EU nellen Partners, Frankreich, für eine hätte verändern können. Die Regie- gemeinsame europapolitische Initia- rung Merkel hatte jedoch zunächst torenfunktion. Die Bundesregierung erhebliche Schwierigkeiten damit, muss sich darauf einstellen, dass die Gleichgesinnten unter anderen die traditionelle, enge Koordinierung EU-Mitgliedern zu organisieren. Kei- mit Paris auf absehbare Zeit kaum ner wollte nur als Ersatz- oder Not- mehr funktionieren wird. Seit der nagel für Sarkozy dienen, mit dem französische Partner bei der Krisen- die deutsche Bundeskanzlerin zuvor bewältigung schwächer geworden mehrmals Exklusivabsprachen ge- und schließlich ganz weggebrochen troffen hatte. ist, wurde die mediale Charakterisie- Als Konsequenz aus dieser Isolation rung der Bundesrepublik als neuer Deutschlands ab Mitte 2012 ver- Führungsmacht in Europa stärker. stärkte sich der Eindruck von einer Zeitlich lässt sich das klar an der „neuen“ deutschen Politik in der EU, Endphase der Präsidentschaft von die nunmehr eigenständiger werden Nicolas Sarkozy um die Jahreswen- würde, da der feste Partner Frank- de 2011/12 festmachen, als dieser reich weggefallen war. schließlich sein Heil darin suchte, Wenn wir uns vor diesem Hinter- das deutsche Modell und den deut- grund der vermeintlichen oder tat- schen Wirtschaftskurs zum Ziel sächlichen Veränderungen in der Frankreichs im Präsidentschafts- deutschen Europapolitik, die immer wahlkampf auszurufen. Für sich ge- ganz wesentlich auf den bilateralen nommen war dies ein beachtlicher Beziehungen zu den EU-Partnern Schritt in der deutsch-französischen aufbauen muss, mögliche Konse- Annäherung. Für die weitere, ge- quenzen ansehen, so fällt zweierlei meinschaftliche Bewältigung der auf: Krise war dies, und die daran an- Weder hat sich die Substanz deut- schließende Fundamentalopposition scher Politik in Europa, das Europa- seines Nachfolgers Francois Hollan- engagement sowie das glaubwürdi- de gegen den deutschen Kurs, je- ge Bekenntnis zu den vereinbarten doch kontraproduktiv. Zielen grundsätzlich verändert, noch Die Bundesregierung stand ab Mai ist von Seiten der Bundesregierung 2012 zum ersten Mal in der Krise erkennbar, dass sie selbst eine

ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre öffentliches Wirken 65 besondere Rolle in Europa bean- deutsche Tugenden anzuknüpfen. sprucht, obwohl das deutsche öko- Die Wirkung des deutschen Han- nomische Gewicht derzeit beson- delns auf die EU-Partner in den öko- ders groß ist. Die Bereitschaft zur nomischen Krisen der letzten Jah- Selbsteinbindung ist ungebrochen. re, insbesondere auf die kleineren Und auch die finanzielle Opferbe- und ökonomisch schwächeren, hat reitschaft ist bei entsprechenden gezeigt, dass die Bundesregierung Konditionierungsverpflichtungen al- kommunikativ und bei der bilateralen ler weiterhin vorhanden. Es gibt also Diplomatie dringenden Korrektur- in der Substanz keine „neue“ Rolle bedarf hat. Trotz vieler Treffen und Deutschlands in Europa. Aktivitäten im EU-Rahmen muss die Wenn man die Außen- und Sicher- Bundesregierung die bilateralen Be- heitspolitik der Regierungen Merkel ziehungen als eigenständiges An- der letzten Jahre mit einbezieht, so liegen zu allen EU-Partnern wieder ist ebenfalls keine „neue“ deutsche intensiver pflegen. Der Vorwurf der Rolle erkennbar. Es läßt sich viel- Arroganz und Großmachtpolitik wird mehr eine Rückkehr zu alter deut- nicht alleine durch tatsächliches scher Beteiligungsverweigerung an Machtgebaren gespeist. Mangelnde militärischen Verpflichtungen der Rücksicht und Beachtung der Be- Europäer erkennbar, die bis vor 20 dürfnisse der kleineren EU-Partner Jahren gängige Praxis war. Die Liby- tragen ebenfalls dazu bei. Empathie en-Politik des Jahres 2011 ist hierfür und demonstrative Würdigung der das beste Beispiel. bilateralen Beziehungen sind wich- Anders als die Inhalte hat sich jedoch tige Elemente moderner Außenpoli- die Wahrnehmung der deutschen tik. In Europa ist diese gegenseitige Rolle in Europa durch die Partner, Rücksichtnahme in den letzten Jah- insbesondere aufgrund der Kom- ren auf allen Seiten zu kurz gekom- munikation der Krisenpolitik und der men. Viele Reaktionen und Kom- phasenweise undiplomatisch wir- mentare über andere EU-Partner kenden deutschen Umsetzungsfor- waren ein erschreckender Beleg des derungen verändert. Verändert hat Unverständnisses für die innenpoliti- sich auch die Erwartungshaltung ge- sche Situation anderer Länder oder genüber Deutschland, da Frankreich schiere Unkenntnis auf allen Seiten. als Führungs- oder Initiativpartner Hierdurch wurde in der Krise deut- für die Bundesrepublik im Laufe der lich, dass auf dem Weg in ein ge- Krise weggebrochen ist. meinsames Europa manche not- Daraus ergeben sich für die künftige wendigen Schritte noch gar nicht Bundesregierung Anforderungen, begonnen haben. Sich dafür zu die bei genauerer Betrachtung z.T. interessieren, wie die Sozial- und Herausforderung bergen, an alte Arbeitsmarktsysteme mit funktionie-

66 ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre offentliches Wirken renden oder problematischen Leis- gen zu den kleineren EU-Partnern, tungen in den Nachbarstaaten aus- und nicht nur die oftmals demons- sehen, war bis vor wenigen Jahren trierte „Großmachtkoordinierung“, offenbar entbehrlich – obwohl fast wieder zur deutschen außenpoliti- alle die gleichen Probleme haben. schen Normalität werden. Ansons- Falls dieses Interesse für die gesell- ten wächst die Stagnationsgefahr in schaftlichen Spezifika über die Kri- den schwierigen EU-Aushandlungs- se hinaus aufrecht erhalten werden prozessen der nächsten Jahre, die kann, hätte die Krise mit all ihren ne- uns beispielsweise in den Fragen gativen Auswirkungen wenigstens der Migrationspolitik, des Umgangs etwas Gutes für die Gemeinschaft mit dem demographischen Wandel gehabt. Daran müssen aber die Re- oder der Arbeitskräftemobilität be- gierungen arbeiten, und natürlich vorstehen, noch weiter – das kann sind Initiativen wie die Aue-Stiftung, sich gerade die Bundesrepublik als die den zivilgesellschaftlichen Dia- größtes EU-Mitglied nicht leisten, log fördern, von enormer Bedeutung und die Partner ohnehin nicht. hierfür. Es lohnt sich also für alle, stärker Während die kleineren Mitgliedstaa- europäisch gemeinsam an einem ten gegenüber den Großen einen Strang zu ziehen – gegen eine kontinuierlicheren Dialog in allen EU- „neue“ deutsche Führungsrolle hier- relevanten Fragen einfordern soll- bei könnte dann auch niemand et- ten, muss die Pflege der Beziehun- was einwenden.

Der Autor

Prof. Dr. Wolfram Hilz ist Pro- fessor für Politische Wissen- schaft, Universität Bonn. Seine Forschungs- und Arbeitsschwer- punkte sind Europäische Integra- tion, Sicherheitspolitik, deutsche Außenpolitik und Konfliktmanage- ment.

ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre öffentliches Wirken 67 Robert Schweitzer schon in Finnland gefördert worden und hatte später in Deutschland Finnen gefördert. 25 Jahre Theodor Aue sah mich am Kopierer im Büro der Deutschen Wissenschaft und Gemeinde sitzen, in dem er als Kirchenbevollmächtigter ein und aus Forschung durch ging. Ich hatte das Kirchenbuch auf den Knien und war auf der Suche die Aue-Stiftung nach Deutschbalten, die nach Finnland ausgewandert waren. Vortrag anlässlich des „Guten Tag, ich bin Theodor Aue; darf ich Sie fragen, was Sie da machen?“ 25jährigen Jubiläums sprach er mich an – mit seiner des öffentlichen Kontaktfreude und der Neugierde an der Welt, die ihn auszeichnete. 1 Wirkens der Stiftung Als ich es ihm erklärte, wurde sein Interesse immer lebhafter. Schließlich war sein Vater auch aus uch wenn ich hier als der Estland nach Finnland gekommen Aehrenamtliche Forschungsleiter – aber noch von viel weiter her, von der Aue-Stiftung einige Worte an Usbekistan. Dahin war sein Vater aus Sie richte, brauchen Sie keinen Moskau gegangen, sein Großvater wissenschaftlichen Bericht zu aber war noch aus Schlesien in die fürchten. Denn ich möchte vor allem Stadt unter dem Kreml gewandert. Dank abstatten. Für diese Deutschen interessierte 25 Jahre öffentlichen Wirkens der er sich, Deutsche, die sich in die Aue-Stiftung bedeuten für mich schwedische, finnische, russische auch, dass Theodor Aue mit seinem Gesellschaft integriert hatten, die Werk mir entscheidend ermöglicht Sprachen beherrschten und doch zu hat, nach meiner Doktorarbeit über Hause, in ihren Kirchen und Schulen Finnland und Russland im 19. Deutsche geblieben waren. Wir Jh. und neben meinem Beruf als stimmten überein, dass diese Gruppe Bibliothekar in Deutschland weiter mehr erforscht werden müsse, finnische Geschichte zu erforschen. mit Stockholm und Petersburg, Ich hatte Russisch und Geschichte Tallinn und Helsinki zugleich im studiert, mein Doktorvater war selbst Blick. Theodor Aue sah darin auch 1 Der Charakter des mündlichen Vortrags einen bescheidenen Beitrag, die wurde beibehalten; die genannten Veröffent- Teilung Europas zu überwinden, lichungen lassen sich bei www.aue-stiftung. den er gerne ermöglichen wollte. org verifizieren.

68 ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre offentliches Wirken „Ich habe nämlich eine Stiftung wie die „Lübecker in Finnland“ und gegründet“, schloss er unsere die „Wiborger Deutschen“ neue Unterhaltung ab, „und jetzt habe Aufgaben treten. Wichtig war, neben ich auch ein Arbeitsprogramm.“ Wir meinen eigenen Arbeiten unsere blieben in Verbindung, und nach der Basis zu verbreitern. Wir brachten an öffentlichen Präsentation der Stiftung unserem Grundanliegen Interessierte wurde ich ihr erster Stipendiat. aus Finnland und Deutschland, aber Die Anfänge waren: Flugtickets auch aus dem gesamten Ostseeraum nach Finnland, ein Zimmer in Aues mit Einschluss Russlands zu den Elternwohnung und ein Telefon. – inzwischen acht – sogenannten Heute steht mir das Wohnbüro „Tallinner Symposien“ zusammen. der Stiftung und eine exzellente Wir gewannen ständige Partner wie Infrastruktur zur Verfügung – das Finnland-Institut in Deutschland Technik, Kommunikation und und das Stadtarchiv Tallinn. Zu einem Kontakte. Das danken wir Energie zweiten Standbein, das Theodor Aues und Engagement von Waltraud- Anliegen als Europäer verpflichtet Bastman-Bühner, die Theodor Aue ist, wurden die – inzwischen neun ‑ als Geschäftsführerin der Stiftung gegenwartsbezogen ausgerichteten gewann. Sie ist viel zu früh von uns Snellman-Seminare. 2009 diskutierten gegangen – nur gut, dass ich mit Uta wir mit Experten aus ganz Europa Liertz eine so tüchtige Nachfolgerin anlässlich des Gedenkens an 1809 an meiner Seite habe. Aue selbst vor dem Hintergrund der Erfahrung starb überraschend nachdem er des Großfürstentums Finnland noch die große Wende in Europa die Chancen von Autonomien in erlebt hatte. Als ich seine Biographie der Gegenwart. Die 25 Bände schrieb, hat mir Alexander Aue Veröffentlichungen der Aue-Stiftung die Welt der Familie erschlossen. liegen am Büchertisch aus, so dass Seitdem verfolgt ein aktiver Vorstand sie sich von der Themenbreite ein Aues Ziele beharrlich weiter und Bild machen können. unterstützt meine Arbeit; mir steht Das Jahr 2012 brachte zwei ein Wissenschaftsausschuss bera- Höhepunkte für meine Arbeit. Mit tend zur Seite. Ihnen allen sei Dank. Hilfe der Helander-Stiftung konnten wir das erste Zeugnis deutscher Auf diesem Fundament konn- Finnlandbegeisterung, ein über ten wir eine vielseitige For- 200 Jahre altes deutsches Gedicht schungsarbeit aufbauen und „Finnland“ in fast 600 klassischen anregen. Die Informations- und Versen eines Schulinspektors Kommunikationsexplosion durch aus Wiborg als Faksimile das Internet ließen neben klassische herauszubringen mit Übersetzungen Herkunfts- und Regionalstudien in die anderen drei Sprachen, die in

ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre öffentliches Wirken 69 der damals kosmopolitischen Stadt erklangen. Zugleich waren wir am 200jährigen Hauptstadtjubiläum Helsinkis mit einer Ausstellung beteiligt, die die großen Namen deutscher Einwanderer wie Engel, Stockmann und Paulig neben Russen, Schweden, Tataren und Juden darstellte ‑ also die kosmopolitische Buntheit der jungen Der Autor Hauptstadt. Suomalais-saksalaisten yhdistysten liitto, der Verband finnisch-deutscher Vereine, hat die erfolgreiche Tournee der 16 Banner Dr. Robert Schweitzer war bis durch Finnland organisiert, das 2008 wissenschaftlicher Bibliot- Berliner Finnland-Institut wird dies hekar, zuletzt als stv. Direktor für Deutschland tun. der Stadtbibliothek Lübeck. Als Wir hoffen, mit der wissenschaftlichen Spezialist für die Nationalitäten- Erforschung der vergangenen politik des Zarenreichs lehrte er Vielfalt bewusst zu machen, dass nebenamtlich Osteuropäische diese auch Reichtum bedeutete, Geschichte und engagierte sich und hoffen, dass auch heute wieder für die bibliothekarische Koope- Reichtum in der Vielfalt erkannt ration im Ostseeraum. Er war werden möge. An dieser Arbeit habe Forschungsleiter der Aue-Stiftung ich gerne meinen Anteil geleistet und ist jetzt ihr Theodor-Aue-Sti- und möchte daran gerne weiter pendiat. mitwirken.

70 ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre offentliches Wirken Ilkka-Christian Björklund

Rückblick

or zwei Monaten, am 1. Juli, er- Nun, Theodor Aue war eine außer- Vinnerte der russische Schriftstel- gewöhnliche Persönlichkeit, von ler Viktor Jerofejew in der Frankfur- Fleiß und Tatkraft, aber eben auch ter Allgemeinen, wie bedeutend die von Großmut und Herzensgüte ge- deutschen Apotheker und Wissen- prägt. Aues Geisteshaltung, von schaftler, Bierbrauer und Lehrer für Robert Schweitzer treffend als „illu- das alte Russland waren. Wie eben sionsloser Optimismus“ bezeichnet, auch der schlesische Webermeister hat sich in der Gründung der Stiftung Wilhelm Aue. manifestiert. Diese Deutschen haben das Leben Übrigens, die vom Spätromantiker in der europäischen Ferne entschei- Emanuel Geibel 1861 gedichteten dend mitgeprägt, nicht immer ohne Zeilen vom deutschen Wesen, an Kulturkonflikte. Im Roman von Iwan dem die Welt einmal noch genesen Gontscharow versucht der Deutsch- „mag“, gehören zu den am meisten russe Stolz dem trägen und schläf- missbrauchten Zitaten deutscher rigen Adelsmann Oblomow die Tu- Sprache, nicht am wenigsten genden des Fleißes und der Tatkraft deswegen, weil diese, von Kaiser beizubringen. Die Synthese mit rus- Wilhelm (II) travestiert, zur Losung sischer Herzensgüte und Großmut des germanischen Kolonialismus gelingt aber nicht. Am „Stolz’schen“ wurden. Geschrieben aber wurde Wesen war Oblomow nicht zu ge- das Gedicht in einer Zeit, in der die nesen. deutsche Kultur von einem starken In die medizinische Diagnostik ist er Nationalstaat weder getragen noch aber eingegangen. Das „Oblomow- vorgespannt wurde. Der arme Gei- Syndrom“ bezeichnet körperlich Ge- bel hat wohl eher friedensstiftende sunde, die aus mentaler Schwäche und selbstlose Tugenden gemeint, das Bett nie verlassen. Die ständige solche, denen auch die Aue-Stiftung Siesta machen und nur das dolce – „politisch korrekt“ – zustimmen far niente, das süße Nichtstun, ge- könnte. nießen.

ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre offentliches Wirken 71 Die „deutsche Kultur“ ist ein weit- ßenminister Sorsa hatten sich end- läufiger Begriff. Dazu zähle ich lich für die Mitgliedschaft im Euro- auch dieses Blatt, A-nelonen, A-fy- parat entschieden. Dadurch konnte ran, Deutsche Industrie Norm DIN Finnland (1989) durch die Hintertür A4. Gehört eindeutig zur Kategorie ins „neue alte“ Europa hineinschlüp- „kaikkea se saksalainen keksii“, was fen, gerade noch vor den Staaten der Deutsche nicht alles erfindet. des sich auflösenden Ostblocks. Für Theodor Aue war diese Kultur Die richtig Neutralen waren ja lange und diese Sprache ein Schlüssel zu schon drin: Österreich gleich 1956, den Werten des Humanismus und die Schweiz seit -63. der Aufklärung und zu einer toleran- Holkeris Reise ging nach Bonn. An- ten Vielfalt in Europa, die Staats- derswo zur gleichen Zeit, in Berlin – grenzen überschreitet und politische am Zentralinstitut für physikalische Systeme überwindet. Chemie der Akademie der Wissen- Waltraud Bastman-Bühner, der wir schaften der DDR – war eine cleve- alle für den Aufbau der Stiftungs- re junge Wissenschaftlerin gerade arbeit ewig dankbar sind, hat klar er- dabei, weiterzuarbeiten an ihrer Un- kannt, dass die Gedanken Aues ihre tersuchung des Mechanismus von Wurzeln in jener geschichtlichen Zerfallsreaktionen mit einfachem Epoche hatten, in der das Deutsche Bindungsbruch und Berechnung vermittelnd, ich zitiere, „europäische ihrer Geschwindigkeitskonstanten Anregungen aufnahm, verarbeitete auf der Grundlage quantenmecha- und weitergab“. Eben diese Pers- nischer und statistischer Methoden pektive ist für die mannigfaltigen Ak- (1986). Den Mechanismus von Zer- tivitäten der Stiftung von Anfang an fallsreaktionen hat sie, die Frau Dr. wegweisend. Angela Merkel, auch in anderen Bereichen bestimmt wiedererkannt. Aber gehen wir doch zurück ins Jahr Damals wie heute. 1988. Was war da eigentlich los? Zu den Zerfallsreaktionen, aus dem Als die „Stiftung zur Förderung deut- Jahr des öffentlichen Startschus- scher Kultur“ in der Finlandia-Halle ses der Aue-Stiftung -88, zähle ich an die Öffentlichkeit trat? auch den panischen Beschluss Damals waren europäische Regie- von Ost-Berlin, die Auslieferung rungschefs noch nicht ständig un- der November-Ausgabe der Zeit- terwegs zu Krisensitzungen. Somit schrift „Sputnik“ zu stoppen. Diese war es ein echtes Ereignis, als Harri Schundschrift, vor der die Bevölke- Holkeri als erster finnischer Minister- rung plötzlich bewahrt werden sollte, präsident zum offiziellen Besuch in war keine andere als die sowjetische die Bundesrepublik aufbrach. Und „Reader’s Digest“ in deutscher Spra- Staatspräsident Koivisto und Au- che, übrigens auf Hochglanzpapier

72 ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre öffentliches Wirken in Finnland gedruckt. Dem Honecker Europäischen Union und ihrer Clas- waren Glasnost und Perestroika der se politique. „Sputnik“ schlichtweg zu viel gewor- Nun, wie dem auch sei, meine Da- den, und der letzte Tropfen war ein men und Herren, meine sehr per- Artikel über den Hitler-Stalin (oder sönliche Überzeugung ist es, dass Ribbentrop-Molotow)-Pakt, den es wir in Finnland weder die gesamt- ja überhaupt nicht gegeben haben europäische Entwicklung noch un- soll. sere eigene Lage richtig einschät- Jetzt im Jahre 2013 scheint es, zen können, wenn wir sie nur in Bad dass dieser Pakt, der für Finnland English zu begreifen versuchen, den und das Baltikum zum Verhängnis ganzen deutschen Sprachraum qua- wurde, wieder dabei wäre, aus den si ausblendend. russischen Geschichtsbüchern zu Alles, was die Aue-Stiftung getan verschwinden. Jerofejew, den ich hat, und tun wird, um diesen Raum, eingangs zitiert habe, sagt auch, besonders für unsere Jugend, wie- dass die Russen von den Deutschen der und weiterhin zugänglich zu ma- heute „auch deswegen am besten chen, ist deshalb sinnhaft und wert- verstanden (werden), weil die na- voll. tionalsozialistische Vergangenheit Wobei der „illusionslose Optimis- und der Umgang mit ihr dort (in mus“ des Gründervaters der Aue- Deutschland, also) zum historischen Stiftung immer noch eine probate Horizont gehören. Die Hoffnung Richtschnur ist. der Deutschen freilich“, schreibt er, „dass auch Russland mit seiner Ver- gangenheit ins Gericht geht, hat sich nicht erfüllt“. Der Autor

Ja gewiss, so manche Hoffnung der Ilkka-Christian Björklund war Aufbruchsstimmung 1988 hat sich langjähriges Mitglied des finni- nicht erfüllt. Immerhin ist die Mauer schen Parlaments sowie Stadt- gefallen und der Kalte Krieg auf den verordneter, Generalsekretär des Scheiterhaufen der Geschichte ver- Nordischen Rates und die Jahre bannt. Aber die Enttäuschung in der vor seiner Pensionierung Vize- Bevölkerung breitet sich aus. Die stadtdirektor für den Bereich Kul- Dynamik von damals scheint ver- tur und Personal. Seit Gründung loren. Die Orientierung fehlt. Nicht der Aue-Stiftung war er aktiv an nur im Osten und im Süden, sogar deren Entwicklung beteiligt und im Kern herrscht Ohnmacht. Diag- zeitweise Vorstandsmitglied. nose: eine Oblomow-Lethargie der

ARCTURUS 7 • 2019 25 Jahre offentliches Wirken 73

Finnland im Ersten Weltkrieg – mit deutschen Augen

Seminar und Buchpräsentation, 8.11.2014

Veranstalter: Aue-Stiftung (Helsinki) in Zusammenarbeit mit der österreichischen Botschaft

Redaktion: Robert Schweitzer und Uta- Maria Liertz

Helsinki 2019

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg Uta-Maria Liertz

Vertrauensmann in finnischen Angelegenheiten Berichte, Briefe und Erinnerungen von Albert Goldbeck- Löwe zu Finnland und Deutschland im Ersten Weltkrieg1 Präsentation der Quellensammlung

„Wiederholt bin ich gebeten worden, meine Erinnerungen aus dem Feldzuge, soweit solche für Finnland von Interesse sind, niederzu- schreiben und zu veröffentlichen, doch habe ich stets davon abge- sehen, da es doch so viel Intima gilt, (…) Für mich selbst will ich aber versuchen, in kurzen Zügen für die Nächstinteressierten das schrift- lich niederzulegen, was für sie und für die richtige Einschätzung der Verhältnisse, wenn ich einmal nicht mehr bin, von Interesse sein kann.“ (S.15)

er war der Mann, der hier an seine Nachwelt dachte? WAlbert Goldbeck-Löwe, 1863 in Plön, Holstein geboren, war 1887 nach St. Petersburg gekommen um bei der Firma Lessing die Leitung der Finn- landabteilung zu übernehmen. 1894 siedelt er sich mit seiner Frau Sanja endgültig in Helsinki an und gründet sein eigenes Unternehmen, welches sich in einen sehr erfolgreichen Mehrbranchenkonzern des technischen und pharmazeutischen Handels entwickelt hat. Sehr bald nach seiner Ankunft in Finnland engagierte sich Albert Goldbeck-Löwe aktiv in der Deutsch-evan- gelischen Gemeinde, im Deutschen Verein, im Deutschen Männergesang- verein, im Deutschen Wohltätigkeitsverein und seinem Schulausschuss und später im Schulverein, dem Träger der Deutschen Schule. In allen diesen Vereinen wurde er schnell auch Vorstandsmitglied. 1899 übernimmt er das Ehrenamt des deutschen Vizekonsuls in Helsinki. In dieser Stellung

1 Helsinki 20172, Veröffentlichungen der Aue-Stiftung 35, 332 Seiten.

76 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg organisiert wer Anfang August 1914 die Evakuierung der Deutschen aus Finnland, übrigens gemeinsam mit dem österreichischen Konsul Stamer.

„Ich war damals als Handelssachverständiger in ehrenamtlicher Stellung bei der Gesandtschaft in Stockholm geblieben, besonders auch deswegen, weil mir dadurch Gelegenheit geboten wurde, als deutscher Vertrauensmann in finnischen Angelegenheiten in sach- licher und objektiver Weise mitzuwirken. Jeder Patriot hat wohl das Bestreben, in der einen oder andern Form seinem Vaterlande zu dienen. Dies als Handelssachverständiger allein zu tun, war mir nicht genügend, da ich sehr bald einsah, wie notwendig meine Hilfe als Vertrauensmann in finnischen Angelegenheiten sowohl für mei- ne alte wie für meine neue Heimat tatsächlich war. (…) Es galt also zielbewusst zum Besten beider Länder aufklärend zu wirken und zu handeln, und konnte ich dies umso leichter, da mir volles Vertrau- en von beiden Seiten entgegengebracht wurde. Ich beschloss also regelmäßig in Wort & Schrift für das Wohl beider Länder zu wirken. (…) Meine regelmäßigen Berichte (…) gingen im Gegensatz zu den amt- lichen Berichten, welche bekanntlich stets nur an eine Stelle gehen und oft dort liegen bleiben, gleichzeitig an alle die Stellen, bei denen es wichtig war, dass sie eine richtige & objektive Einschätzung der Verhältnisse, soweit sie Finnland betraf, erhielten. So gingen meine Berichte mündlich wie schriftlich regelmäßig an den Staatssekretär des Äußeren persönlich und (usw….), nicht zum wenigstens an die Gesandtschaft in Stockholm, bei welcher oft genug der Versuch ge- macht wurde, in einem für Finnland üblen Sinne einzuwirken.“ (S. 16 f)

Mit geschäftsmäßiger Akribie, aber auch mit Weitblick und Sinn fürs Detail, hat Goldbeck-Löwe seine Beobachtungen aufgeschrieben. Die Durchschläge dieser Berichte hat er selber ab 1931 unter Mitarbeit von Ludolf Bargum durch- gesehen und geordnet. Auch seine Korrespondenz aus dieser Zeit ist chrono- logisch geordnet von Juli 1914 bis April 1918 erhalten: Insgesamt 31 dicke Aktenordner sowie diverse Mappen mit Fotos, Telegrammen, Reisepässen, Gratulationen, Zeitungsausschnitten u.ä. Dies alles bildet die Grundlage für diese Edition. Dass es sich dabei nur um eine Auswahl handeln kann, ist klar. Zur Zeit befindet sich dieses Archiv in der Deutschen Schule und füllt einen

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 77 Archivschrank im Keller. Ich werde mich dafür einsetzen, dass es im National- archiv untergebracht und so für Forscher auch leichter zugänglich wird.2

„Meine übrige Tätigkeit, welche ich im Laufe des Krieges auf mich nahm, ich erwähne besonders meine Tätigkeit in neutraler Presse und meine häufigen Kriegsreisen, die ich als Mitglied des neutra- len Pressekomitees in Berlin unternahm, konnten mich von meiner Haupttätigkeit des finnisch-deutschen Vertrauensmannes, welche ich selbst gewählt hatte, nicht abhalten. Dass meine Bemühungen, welche mich mit meinen finnischen Freunden und den Finnland- Freunden in Deutschland vereinigten, nicht ohne Erfolg waren, und von Monat zu Monat an Realität zunahmen, konnte ich zu meiner großen Freude konstatieren. (…) So kam die Selbständigkeitserklärung Finnlands am 6. Dezember 1917. (...) Und als sodann die Frage an mich herantrat, ob ich als Beigeordneter des neu ernannten Gesandten, von Brück, zur weißen Regierung in Wasa gehen wollte, bejahte ich gern, um im selben Geiste wie während des Krieges fortsetzen zu können und die Ernte der Saat zu sehen, welche meine Freunde und ich während der langen Kriegszeit gesät hatten. Unvergesslich ist mir der Moment, als wir am 18. März 18 bei Torneå über die Grenze kamen, (…) und schliesslich der Einzug in Helsingfors am 4. Mai. Dies ist in kurzen Zügen meine Tätigkeit während des Weltkrieges, soweit sie Finnland betrifft. Jeder einzelne Abschnitt, ja fast jeder Monat all der Jahre ist ein Kapitel für sich. Bücher könnte ich schrei- ben, wollte ich auf die Einzelheiten eingehen. Vielleicht, dass mir später einmal hierzu Gelegenheit gegeben wird.“ (S. 18 f)

Goldbeck-Löwe selber ist dazu keine Gelegenheit mehr gegeben gewesen, aber ich hoffe mit dieser Zusammenstellung seine Absicht gewissermaßen in die Tat umgesetzt zu haben. Ein erster Teil umfasst Dokumente über Goldbeck-Löwes Bemühungen in und um Finnland von Anfang August 1914 bis Mitte 1915. Neben seinen Berichten beleuchten ausgewählte Dokumente unterschiedlicher Art aus der Korrespondenz seine Tätigkeiten und Einschätzungen. Der zweite Teil dagegen greift eigene, aber auch andere von ihm bewusst in sein Archiv aufgenommene Berichte über das Leben von Deutschsprachi- gen in Russland nach Kriegsausbruch von Mai 1915 bis Anfang 1917 auf.

2 Seit 2016 ist das Goldbeck-Löwe Archiv im Nationalarchiv zugänglich.

78 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg Auch hier fühlt er sich als Vermittler, wegen seiner finnischen Beziehungen und Petersburger Kontakte. Seine Tätigkeit im Hinblick auf Schweden hat Goldbeck-Löwe in einem Unterordner „Schweden“ gesammelt, überwiegend aus den Jahren 1916-17. Dabei handelt es sich in erster Linie um Fragen des Handels von und nach Deutschland durch das neutrale Schweden. Im dritten Teil geht es nun ganz konkret um Goldbeck-Löwes Berichte und Briefe aus dem Zeitraum von der finnischen Unabhängigkeitserklärung im Dezember 1917 bis zum Einzug der Weißen in Helsinki: Vor allem die Mo- nate in Vaasa hat Goldbeck-Löwe sehr intensiv erlebt. Über die Zeit ab Mai 1918 in Helsinki sind abgesehen von wenigen Ausnahmen nur mehr offiziel- le Akten im Archiv, deren Zahl ab Ende des Jahres rasant abnimmt und die nur bis Anfang 1920 reichen. Ein paar Anmerkungen zur Edition. Erstes Ziel war es, dieses Material einem größeren Kreise zugänglich zu machen. Dabei habe ich die Lesbarkeit im Auge gehabt und wollte sofern möglich durch Sachkommentare und biogra- phische Daten diese erleichtern. Hier möchte ich Dr. Robert Schweitzer ganz besonders danken, ohne dessen Hinweise dieser Apparat dürftiger ausgefal- len wäre. Diese Personensuche war, wie uns bald bewusst wurde, erschwert durch häufige falsche Namensschreibungen, aber auch sehr durch die Ver- teilung nicht zutreffender Titel (Abteilungsleiter zu Direktoren, PDs zu Profes- soren, Freiherren zu Grafen etc.). Steht dahinter vielleicht sogar der Versuch, die Hochrangigkeit dieser Kontakte zu betonen? Wie entstanden die Doku- mente – durch Diktat an zwar sprachlich geschulte, aber politisch unbedarfte Schreibkräfte? Sind daher Namen so oft verballhornt? (Gäld für Hjelt) Auf das Ganze gesehen fragt man sich vielleicht: Ist dies eine Goldgrube oder Geschwätz? Prof. Seppo Hentilä hat in einem der Berichte Goldbeck- Löwes in der Empfängerüberlieferung „am anderen Ende“ eine Randbemer- kung Kühlmanns (Staatssekretär im Auswärtigen Amt), gefunden – „Tref- fen nicht nötig - ist Wichtigtuer“! Aber man muss auch andere Randnotizen berücksichtigen: immerhin hat er differenzierte Ansichten, ist nicht einfach russophob, warnt vor dem naiven Glauben an einen Aufstand in Finnland. Dass jemand, der Finnland für mehr als geopolitisches Spielmaterial oder Faustpfand für Friedensverhandlungen hielt, die Manager der großen Politik nerven musste, ist klar. Bemerkenswert ist z.B. sein Eintreten gegen den wirtschaftlichen Knebelungsvertrag des Deutschen Reiches mit Finnland. Ich hoffe, diese – sicher in vielem noch verbesserungsfähige Quellensamm- lung – gibt neue Anstöße um solche und andere Fragen, etwa die Reaktio- nen Berlins und Stockholms zu beleuchten oder auszuloten, was ihre Haupt- person wirklich bewirkt hat. Und oft sind die Texte auch einfach spannend zu lesen.

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 79 Umschlag der 2. revidierten Auflage

Die Autorin

Dr. phil. Uta-Maria Liertz forschte zunächst im Bereich römische Epigra- phik und lateinischer Philologie. Seit 2005 beschäftigt sie sich vornehm- lich mit Fragen zur Präsenz von Deutschen in Finnland im 19. und 20. Jh. Von 2004-2019 war sie zunächst Kulturreferentin und seit 2008 Ge- schäftsführerin der Aue-Stiftung.

80 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg Manfred Menger

Deutschland und Finnland 1914-1918

as Weltkriegsgeschehen führte zu deutlichen Veränderungen im Ver- Dhalten des Deutschen Reiches gegenüber Finnland und der finnischen Frage. Vor 1914 galt fast alles, was Russland in oder gegen Finnland unter- nahm, aus offizieller deutscher Sicht als „innere Angelegenheit“ Russlands. Widerspruch erregten allerdings die russischen Bestrebungen, die für den deutschen Export günstige finnische Zollhoheit aufzuheben.1 Das war folger- ichtig angesichts der starken Position Deutschlands als Exportnation. Nach Finnland soll vor dem Krieg etwa ebenso viel ausgeführt worden sein wie in die Türkei und rund vier Fünftel des Volumens von Deutschlands Export nach China.2 Im Übrigen ist in Petersburg nicht zugunsten der Finnen interveniert worden. Vielmehr distanzierten sich die wilhelminische Diplomatie und die regierungsnahe Presse in den Vorkriegsjahren wiederholt, meist nach russi- schen Protesten, von der deutschen Pro Finlandia-Bewegung.3 Sympathie- bekundungen für Finnland widersprachen aus amtlicher Perspektive den Er- fordernissen deutscher Staatsräson. Sie galten als schädlich für Deutschland und nutzlos für Finnland. Zudem irritierte die deutschen Konservativen die

1 Seppo Rytkönen, Die wirtschaftlichen Interessen des kaiserlichen Deutschland in Finnland vor dem Ersten Weltkrieg, in: Deutschland und Finnland 1871 - 1914. Politik - Wirtschaft - Öffentliche Meinung. Herausgegeben von Olli Kaikkonen und Manfred Menger (University of Joensuu. Publications in the Humanities. N:o 13), Joensuu 1992, S. 88. Diese Maßnahme wur- de 1894 angekündigt, aber nicht verwirklicht. Im deutsch-russischen Handelsvertrag von 1904 verpflichtete sich Russland, die Reichsregierung mindestens zwei Jahre vor einem solchen Schritt zu informieren. 2 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 35. Jg. 1914, Berlin 1914, S. 258. 3 So am 6. Februar 1910 durch den Botschafter gegenüber einem Mitarbeiter der Zeitung „No- voje Vremja“. Am 6. April 1910 distanziert sich der Botschafter in einem Gespräch mit Außenmi- nister Izvolskij von den „in keiner Weise entschuldbaren Presseangriffen gegen den Herrscher des befreundeten Rußland“. Ausführlicher dazu: Manfred Menger (1), Zum deutschen Finn- landbild von der Jahrhundertwende bis zum ersten Weltkrieg, in: Robert Schweitzer (Hrsg.), Zweihundert Jahre deutsche Finnlandbegeisterung. Zur Entwicklung des deutschen Finnland- bildes seit August Thiemes „Finnland“-Poem von 1808 (Schriftenreihe des Finnland-Instituts in Deutschland, Bd. 11), Berlin 2010, S. 171-182.

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 81 Demokratisierung des finnischen politischen Systems im Gefolge der ersten russischen Revolution – die radikale Parlamentsreform, das Frauenwahl- recht und die starke Position der Sozialdemokratie. Neben Äußerungen des Unbehagens über dieses „gefährliche (finnische) Experiment“ gab es zudem sogar auch Stimmen, denen das Bestreben Russlands, den vermeintlichen finnischen „Revolutionsherd“ vor den Toren seiner Hauptstadt unschädlich zu machen, völlig gerechtfertigt erschien.4 Seit Kriegsbeginn änderte sich der Tenor. Nun beklagte die Presse unter- schiedlichster Couleur die „russische Niedertracht gegen Finnland“ und plädierte für dessen „Befreiung vom Joch des Moskowitertums“.5 Zugleich rückte Finnland im Interesse der Destabilisierung des russischen Gegners erstmals intensiver in das Blickfeld deutscher Politiker und Militärs verbun- den mit Spekulationen, Finnland, wie andere „Randstaaten“, möglichst in den deutschen Machtbereich einzubeziehen. Die Frage, ob die keineswegs nur in dem viel zitierten Septemberprogramm des Reichskanzlers6 anvisierte Loslösung Finnlands von Russland seit Kriegsbeginn ein ernsthaft verfolgtes oder wie u.a. Osmo Apunen meinte,7 lediglich „wünschenswertes“ Kriegsziel war, wurde in der Historiographie unterschiedlich beantwortet.8 Im Rahmen der Fischer-Kontroverse sowie in

4 Deutsche Tageszeitung vom 10. Dez. 1909. Die Bezeichnung der Parlamentsreform als „gefährliches Experiment“ stammt von dem deutschen Vizekonsul Albert Goldbeck-Löwe, s. Rytkönen S. 45. 5 So hieß es selbst im „Vorwärts“ vom 25. August 1914: „Befreiung vom Moskowitertum, Frei- heit und Unabhängigkeit für Polen und Finnland, freie Entwicklung für das große russische Volk selbst … das war das Ziel, das das deutsche Volk begeistert und opferbereit gemacht hat.“ 6 „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muss Frankreich so geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden.“ – Das Septemberprogramm Beth- mann-Hollwegs berührte sich in wichtigen Punkten mit der Denkschrift des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß, die die Befreiung Finnlands vom russischen Joch und seine Einbeziehung in den mitteleuropäischen Staatenbund forderte. Vgl. Karlheinz Schonau- er, 1914 – Protokoll eines gewollten Krieges, Berlin 2012, S. 528. Auch der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, war bei Kriegsbeginn zunächst ein entschiedener Befürworter der Abspal- tungspolitik. 7 Osmo Apunen (1), Suomi keisarillisen Saksan politiikassa [Finnland in der Politik des kaiser- lichen Deutschland] 1914-1915, Helsinki 1968, S. 258f.; Osmo Apunen (2), Deutschland und die finnische Befreiungsbewegung 1914-1915, in: Ernst Schulin (Hrsg.), Denkschrift Martin Göh- ring. Studien zur europäischen Geschichte (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, 50), Wiesbaden 1968, S. 315. 8 Fischer ordnete dieses Dokument wie folgt ein: „Einmal stellte das Programm keine isolierten Forderungen des Kanzlers dar, sondern repräsentierte Ideen führender Köpfe der Wirtschaft, Politik und des Militärs. Zum anderen waren […] die in dem Programm niedergelegten Richtli-

82 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg einer neueren Studie über die finnische Jägerbewegung9 ist kritisch vermerkt worden, der Hamburger Professor hätte, ebenso wie mehrere DDR-Histori- ker, Finnland undifferenziert und ungerechtfertigt als Demonstrationsobjekt einer zwischen 1914 und 1918 „ungebrochenen Linie deutscher Aktivitä- ten“ mit “gleichgerichteten Intentionen“ (Kriegszielpolitik) genutzt. Es gäbe jedoch nur eine äußerliche Kontinuität, es sei falsch, die deutschen Ambi- tionen der Jahre 1917/18 auf die Situation vor der russischen Revolution zurück zu projizieren. Die deutsche politische Führung habe sich gegenüber Finnland lange Zeit „indifferent“ verhalten, ohne klares Konzept und äußerst zögerlich.10 Und bei dem Revolutionierungsprogramm zur Aufwiegelung der Fremdvölker, also auch der Anweisung des Reichskanzlers vom 6. August 1914 in Finnland aktiv zu werden („mit leitenden Persönlichkeiten in Finn- land Fühlung zu nehmen“, dort Stimmung für Deutschland zu machen und eventuell einen antirussischen Aufstand zu entfachen) habe es sich vorwie- gend um eine propagandistische Aktion gehalten.11 Gewiss ist es zutreffend, dass es vor dem Umsturz in Russland angesichts des Kriegsverlaufs, des Zweifrontenkrieges und der realen Kräfteverhältnis- se in der Finnlandpolitik praktisch nicht um ein zweifellos für den Fall eines „Siegfriedens“ auch ins Visier genommenes Maximalziel, um ein in den deutschen Machtbereich einbezogenes Finnland ging, sondern um maßvol- lere akute militärische und politische, keineswegs aber nur propagandisti- sche Anliegen. Bei allen grundsätzlich von keinem Historiker jemals bestrittenen, also auch F. Fischer und anderen nicht entgangenen Wandlungen der konkreten Inten- tionen, Mittel und Voraussetzungen der deutschen Finnlandpolitik im Laufe der Kriegsjahre bestand indessen in einer entscheidenden Frage durchaus nien im Prinzip Grundlage der gesamten deutschen Kriegszielpolitik bis zum Ende des Krieges, wenn sich auch je aus der Gesamtlage auch einzelne Modifikationen ergaben.“ Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1964, u.a. S. 121, 239; Fritz Klein u.a., Deutschland im ersten Weltkrieg, Bd. 1, Autorenkollektiv unter Leitung von Fritz Klein, Berlin 1968) und Man- fred Menger (2), Die Finnlandpolitik des deutschen Imperialismus 1917/1918 (Akademie der Wissenschaften der DDR. Schriften des Zentralinstituts für Geschichte, Band 38), Berlin 1974 vertraten die Ansicht, dass dieses Anliegen 1914 als Maximalziel fixiert und im Prinzip während der gesamten Kriegszeit verfolgt wurde. 9 Agilof Keßelring, Des Kaisers „finnische Legion“. Die finnische Jägerbewegung im Ersten Weltkrieg im Kontext der deutschen Finnlandpolitik (Schriftenreihe der Deutsch-Finnischen Ge- sellschaft e.V., Band 5), Berlin 2005. 10 Helmut Böhme, Die deutsche Kriegszielpolitik und Finnland 1918, in: Imanuel Geiss, Bernd Jürgen Wendt (Hrsg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Fritz Fischer zum 65. Geburtstag, Düsseldorf 1974, S. 379. 11 Böhme, insbes. S. 378 f.,383; Keßelring S. 58 f, 124. Dagegen verdeutlicht Apunen (1) S. 42, dass es sich keineswegs nur um Agitation handelte.

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 83 Kontinuität: Trotz zeitweise unterschiedlicher Standpunkte deutscher Ent- scheidungsträger, ungeachtet vieler Unsicherheiten und zum Teil wech- selnder Ambitionen ist es seit 1914 permanent darum gegangen, finnisches Potential, finnische Bestrebungen und finnisches Territorium für die eigenen Ziele auszunutzen. Finnisches Freiheitsstreben war und blieb in deutschen Vorstellungen Kampfmittel gegen die Feindmacht Russland. Es gab eine Periode des Zweifelns und kontroverser Positionen, ob sich der Aufwand wirklich lohne und zweckmäßig war. Daher stand 1915 die Zu- kunft der Jägerbewegung zeitweilig auf Messers Schneide.12 Aber selbst in dieser Situation gab es keine allgemeine Indifferenz gegenüber dem finni- schen Separatismus oder Aktivismus. Vielmehr wurde der im Herbst 1914 eingeschlagene Kurs sogar unter erhöhtem Einsatz als Teil einer Gesamt- strategie zur Veränderung der Kräfteverhältnisse zu Gunsten Deutschlands weitergeführt.13 Ausschlaggebend waren und blieben dafür: Einerseits direkte militärische Zielstellungen: die Ausnutzung, Aktivierung und Stärkung finnischen Widerstandspotentials, einer Basis subversiver Aktionen, eines Unruheherdes, im Interesse der deutschen Kriegführung und ihrer Siegeschancen. Finnland schien dafür durch seine geographische Lage, die Nähe zur russischen Hauptstadt, seine Rolle als wichtiges Transit- gebiet der Entente (als letzter europäischer Verbindungsweg Russlands mit den Westmächten) und als Standort starker russischer Streitkräfte geradezu prädestiniert. Andererseits ging es bei der Förderung des finnischen Separatismus um politische Zielstellungen im Interesse der Kriegsführung und günstiger Frie- densaussichten darum, die Position Schwedens mit finnischer Hilfe im pro- deutschen Sinne zu beeinflussen und Stockholm als Verbündeten zu gewin- nen.14 Nicht zuletzt war die Hoffnung im Spiel, eine unter deutschen Einfluss

12 Vgl. Apunen (2) S. 313; Matti Lackman, Suomen vai Saksan puolesta? Jääkäreiden tun- tematon historia: Jääkäriliikkeen ja jääkäripataljoona 27:n (1915–1918) synty, luonne, mielia- lojen vaihteluita ja sisäisiä kriisejä sekä niiden heijastuksia itsenäisen Suomen ensi vuosiin saakka [Im Interesse Finnlands oder Deutschlands? Die unbekannte Geschichte der Jäger: die Jägerbewegung und das 27. Jägerbataillon (1915-1918); Entstehung, Charakter Einstellungs- schwankungen und innere Krisen sowie ihr Widerhall bis in die ersten Jahre des unabhängigen Finnlands]. Helsinki 2000, S. 275 ff.; Keßelring S. 66ff. Nach längeren Zweifeln erfolgte am 16. Juni 1915 die Entscheidung zur Aufstockung der Truppe. 13 Apunen (1) S. 45, 268. Für die Haltung des Auswärtigen Amtes und militärischer Instanzen (wie der Abteilung Fremde Heere im Stellv. Generalstab unter Oberst v. Zimmermann) spielte dabei auch die Hoffnung auf eine russische Revolution eine Rolle. 14 Um das zu erreichen, sollte Schweden ein finnischer Pufferstaat in Aussicht gestellt, durch einen finnischen Aufstand oder eine deutsch-finnische Landung auf den Ålandinseln zu einer

84 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg stehende finnische Freiheitsbewegung als militärisches, gegebenenfalls auch als politisches Druckmittel (Förderung russischer Friedensbereitschaft zu deutschen Bedingungen) gegenüber Russland nutzen zu können.15 Insgesamt hatten, militärisch wie politisch, die deutschen Bestrebungen ge- genüber Russland und Schweden Priorität. Finnland war lange Zeit nicht nur, wohl aber vorrangig Mittel zum Zweck zur Erreichung umfassenderer Ziele. Die finnische Karte sollte je nach Bedarf und Möglichkeit ins Spiel gebracht werden – zur Destabilisierung Russlands bzw. Aktivierung Schwedens. Vertreter des Deutschen Reiches sind im direkten Auftrag des Reichskanz- lers16 im Interesse dieser Zielsetzungen sofort nach Kriegsbeginn aktiv ge- worden. Sie reagierten nicht einfach auf „finnische Angebote“, sondern be- mühten sich zielstrebig um Kontakte17 zu den im Exil erreichbaren Aktivisten. Die Beachtung deutscher Aktivität ist wichtig, sie korrespondiert auch mit der von Matti Klinge schon vor längerer Zeit getroffenen und von M. Lackman bekräftigten Feststellung, dass der deutsche Anteil an der Entstehung der Jägerbewegung außerordentlich groß war und dass wichtige Wurzeln der Jägerbewegung in Deutschland lagen.18 militärischen Intervention provoziert und der Gewinn der Inselgruppe versprochen werden. Auf- schlussreich für die deutschen Offerten, Schweden die Ålandinseln zu überlassen sind u.a.: - Das Schreiben des Staatssekretärs von Jagow an den Gesandten Reichenau vom 11. Sept. 1914. (Menger (2) S. 29). - Das einschlägige Versprechen Prinz Max von Badens, dann 1918 letzter Kanzler des Kai- serreiches, bei seinem Besuch in Stockholm im November 1915. (Keßelring S. 86; Menger (2) S. 28). - Der Plan des Marineattachés R.S. von Fischer-Loßainen vom August 1915, Schweden durch die Landung eines finn. Freikorps zum Eingreifen zu bewegen. ( Keßelring S. 122; Carlgren, Neutralität oder Allianz, Stockholm, Göteborg, Uppsala 1962, S. 131-133). 15 Nach Apunen (1) S. 160 hatten die politischen Anliegen Priorität. 16 Entsprechend seiner Forderung vom 6. August: „Fühlung mit leitenden Persönlichkeiten der schwedischen Partei in Finnland aufnehmen“. 17 Folgende Verbindungsaufnahmen der finnischen Aktivisten wären zu nennen: H. Gummerus kam auf Veranlassung M. Erzbergers nach Berlin ( Apunen (1) S. 79). K. Zilliacus kam auf eigene Initiative zu Reichenau (Lackman S. 57), er und A. Taube, schwedischer Gesandter in Berlin, empfahlen den Deutschen finnische Kontaktpersonen (Keßelring S. 47); Jonas Castren wurde in Tirol von den Diplomaten Hofrat Wohlenberg aufgesucht (Apunen (1) S.72), traf sich dann auch mit Reichenau in Stockholm. Reichenau ersuchte Zilliacus, ihm Verbindungen zu finn. Politikern zu vermitteln, so kam er auf Einladung Reichenaus in Kontakt mit Adolf Törngren (Apunen (1) S. 75). Das finnische Unterstützungskomitee kam auf Initiative Erzbergers zustande. 18 Lackman S. 53 ff.(”Saksan panos liikkeen syntyyn ja toimintaan oli erittäin suuri”),S. 63 f.; Matti Klinge, Ylioppilaskunnan historia [Die Geschichte der Studentenschaft Finnlands] III, Vaasa 1978) S. 388 ff.,S. 391. Nach Klinge kann der Gedanke der Formierung des (späteren) Jägerbataillons durch die deutschen Kontaktpersonen in finnische Studentenkreise getragen worden sein.

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 85 Die Finnen kamen also nicht als hilflose Bittsteller, sondern weitgehend auch auf deutsche Initiative. Sie wurden gebraucht wie nützliche Exoten. Das so zustande kommende Zusammenwirken beruhte auf einer partiellen Interessengemeinschaft ungleicher Partner: Deutscher Reichsbehörden und finnischer Privatpersonen, die viel riskierten, aber zumindest bis zum Herbst 1917 keineswegs Finnland, sondern nur eine marginale Gruppe repräsentier- ten.19 Es war ein Zweckbündnis mit einigen übereinstimmenden, aber auch stark divergierenden Vorstellungen und Anliegen. Deutschland investierte finanziell ,20 stellte Waffen bereit und sicherte die militärische Ausbildung der Freiwilligen. Finnische Gegenleistungen waren u.a. subversive Aktionen und nachrichtendienstliche Erkundungen, Sabotageakte gegen russische Militär- anlagen und Transitverbindungen sowie Fluchthilfe für Kriegsgefangene.21 Die Hoffnung auf einen antirussischen Aufstand war und blieb indessen un- realistisch. Kenner der finnischen Situation wie Goldbeck-Löwe hatten diese keineswegs neue Idee schon früher als illusorisch bezeichnet.22 Selbst Anhänger des bewaffneten Aktivismus ließen keinen Zweifel daran, dass an einen Aufstand ohne eine deutsche bzw. schwedische Intervention überhaupt nicht zu denken war. Deutschland sah sich dazu außerstande und war im Übrigen auch generell nicht bereit, den Handlungsspielraum seiner Politik gegenüber Russland oder Schweden (Ålandfrage!) durch verbindliche Zusagen einzuschränken. Deutsche Garantien, namentlich auch die von fin- nischer Seite gewünschte bindende Verpflichtung, sich beim Friedenschluss

19 Das ist den Deutschen nicht entgangen (Apunen (1) S. 161ff.), so dass im Frühjahr 1915 Skepsis gegenüber dem Unternehmen aufkam und man über die Auflösung der Ausbildung- seinheit nachdachte. Vizekonsul Goldbeck-Löwe betonte in einem Bericht vom Mai 1915: Die Mehrheit der Finnen strebt nicht nach Loslösung von Rußland, am wenigsten das Großkapital. Deutsches Anliegen sollte es sein, einen den russischen Export nicht begünstigenden Zolltarif durchzusetzen (Lackman S. 107). 20 Am 5. Febr. 1915 erfolgte die Anweisung von einer Million Mark an die Botschaft Stockholm (Apunen (1) S. 136), zuvor waren schon Waffenkäufe getätigt worden, seit dem 16.6.1915 wur- den monatlich 5000 Mark für Nachschubbüros ausgegeben (Keßelring S. 71). 21 Manfred Menger (3), Finnland und Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1900- 1918), in: 50 Jahre Deutsch-Finnische Gesellschaft e.V. Festschrift zur Jubiläumsfeier in Mün- chen 2002. Herausgeber: Deutsch-Finnische Gesellschaft. Redaktion: Burkhart E. Poser u.a., Berlin 2002, S. 128f.; Lackman S. 324-337. 22 Äußerungen von Goldbeck-Löwe, des Konsuls Winckel und der Gesandtschaft in Peters- burg 1908, 1909. Vgl. Apunen (1) S. 56; Im Dezember 1914 äußerte Goldbeck-Löwe erneut: „Finnländische Erhebung setzt eine deutsche Landung voraus“. Vgl. Vertrauensmann in finni- schen Angelegenheiten. Berichte, Briefe und Erinnerungen von Albert Goldbeck-Löwe zu Finn- land und Deutschland im Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Uta-Maria Liertz (Veröffentlichungen der Aue-Stiftung, 35) Helsinki 2017, S. 72.

86 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg aktiv für die finnische Selbständigkeit einzusetzen, wurden jahrelang verwei- gert. Berlin wollte von den Finnen möglichst viel und bot selbst relativ wenig. Die russische Februar- und mehr noch die Oktoberrevolution bewirkten ent- scheidende Veränderungen in der auf ein totes Gleis geratenen Finnland- politik: Sie bestärkten finnische Selbständigkeitsbestrebungen, führten zu einer ver- hängnisvollen Eskalation der inneren sozialen und politischen Gegensätze und veränderten den Stellenwert Finnlands im deutschen Kalkül. In den Vor- dergrund der deutschen Überlegungen rückte nun viel deutlicher als zuvor die Absicht, Finnland dauerhaft aus der russischen in die deutsche Macht- sphäre einzubeziehen. Am 17. März 1917 telegraphierte der deutsche Außenminister an das Stock- holmer Komitee: „Der Augenblick zur Erklärung der Selbständigkeit Finn- lands scheint gekommen zu sein.“23 Wenige Tage später, am 27. März 1917, erhielten die Finnen erstmals eine amtliche, vom Kaiser gebilligte, wenn auch vertraulich zu behandelnde Bestätigung des deutschen Interesses an der finnischen Selbstständigkeit. In der zur Weiterleitung an finnische Partei- führer bestimmten Erklärung hieß es: „Die deutsche Regierung betrachtet es als ein deutsches Interesse, dass Finnland womöglich in den Besitz der vollen Selbstständigkeit gelangt. Infolgedessen ist die deutsche Regierung gewillt, bei dem Friedenschluss mit Russland für die Erreichung dieses Zie- les gemäß den zurzeit bestehenden Verhältnissen zu wirken. Sollte dennoch irgendein staatliches Band zwischen Finnland und Rußland bestehen blei- ben, ist Deutschland bereit, für die vertragsmäßige Einhaltung der finnischen Autonomie einzutreten.“ 24 Trotz verschiedener weiterer Anzeichen und Be- weise zunehmender deutsche Aktivität (so der seit Frühjahr 1917 eingeleite- ten vorbereitenden Maßnahmen zur Überführung des Jägerbataillons nach Finnland, der Bereitstellung der Ausrüstung für eine 100 000-Mann-Armee in Danzig, der Bewilligung weiterer finanzieller Mittel für den Finnenfonds, der am 9. August auf der 2. Kreuznacher Konferenz erklärten Bereitschaft, die

23 Zit. nach: Herman Gummerus, Jääkärit ja aktivistit [Jäger und Aktivisten], Porvoo 1928, S. 388, Tuomo Polvinen, Venäjän vallankumous ja Suomi [Die Russische Revolution und Finn- land], 1917-1920, I, Porvoo 1967, S. 138 f. Unterzeichner des Telegramms war Staatsekretär . 24 Zit. nach dem Schreiben des Zentralkomitees für die Befreiung Finnlands. Die Abordnung für das Ausland an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes vom 11. November 1917. In: Kansallisarkisto (KA), Auswärtiges Amt (AA), Weltkrieg, Abt. A 11 c. Geh. Unternehmungen in Finnland, Bd. 23, L 268 L 084045-47. Alle für diesem Beitrag herangezogenen Archivalien aus dem Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes sind im Finnischen Nationalarchiv (Kansallisar- kisto), das über Kopien der für die deutsch-finnischen Beziehungen relevanten Aktenserien des Auswärtigen Amtes verfügt, eingesehen worden.

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 87 Selbständigkeitsbestrebungen Finnlands und der Ukraine zu unterstützen sowie der schließlich im Oktober einsetzenden Waffenlieferungen)25 erfolgte der wirklich entscheidende Umbruch erst mit der russischen Oktoberrevo- lution. Die nun weitaus günstigeren machtpolitischen Voraussetzungen für eine Se- zession Finnlands von Russland und das sich nach der Oktoberrevolution stark ausprägende Schutzbedürfnis breiterer Kreise der finnischen Gesell- schaft und deren Hoffnung auf deutsche Rückendeckung boten der deut- schen Finnlandpolitik ganz neue Aktionsmöglichkeiten. Das Zukunftsbild einer deutschen Ostseeherrschaft mit Hilfe eines „an Deutschland angelehn- ten finnischen Staates“ verwandelte sich nun, nach einer Formulierung eines engen Beraters des Reichskanzlers, durch die Entwicklung der Verhältnisse in Russland „aus einem schönen Traum in eine diskutierbare politische Mög- lichkeit“.26

Entgegen der weiterhin eher zögerlichen Haltung der politischen Führung27 drängte Ludendorff, der später die finnische Selbständigkeit anmaßend als sein bleibendes Lebenswerk bezeichnete,28 schon wenige Tage nach dem Umsturz in Petrograd auf eine Erklärung, in der Finnland „den Wunsch zum Anschluss an Deutschland“ zum Ausdruck bringen sollte.29 Zudem forderte er bei einem Zusammentreffen mit den finnischen Bevollmächtigten Hjelt und v. Bonsdorff am 26. November 1917 in Bad Kreuznach ein klare und möglichst schnelle Proklamation des , in der das Selbstbestimmungsrecht für das finnische Volk sowie die Rückzug der russischen Truppen aus Finnland

25 Polvinen S. 139; Lackman S. 508, 515. 26 Kurt Riezler aus Stockholm an den Reichskanzler Graf Hertling, 17. Nov. 1917, in: KA, Auswärtiges Amt, Abt. A, Russland 63: Die Zustände und Verhältnisse Finnlands, Bd. 16, 6383 H 56567-568. 27 Die politische Führung war auch Ende 1917 noch nicht bereit, die Friedensverhandlungen mit Sowjetrussland durch eine der russischen Entscheidung vorgreifende Garantie- erklärung für Finnlands Selbstständigkeit zu belasten. 28 E. Hjelt, Från händelserika år. Upplevelser och minnen, II. Helsingfors 1919, S. 201. 29 Schreiben Ludendorffs an Staatssekretär Kühlmann v. 13. November 1917. Ferner hieß es in dem Schreiben: „Wie Eure Exzellenz wissen, werden die Finnländer von uns mit Waffen ver- sorgt; wir suchen durch das finnische Jägerbataillon Führer für die im Lande notwendig werden- den Aktionen auszubilden und haben durch Besprechungen mit angesehenen Männern unser Interesse für dieses Land bekundet. Wie aber die finnischen Herren selbst geäußert haben, fehlt ihnen jede Bestätigung von amtlicher Stelle, daß auch die Deutsche Reichsregierung den Bestrebungen Finnlands wohlwollend gegenübersteht.“ In: KA, AA, Abt. A. Russland 63: Die Zustände und Verhältnisse Finnlands, Bd. 16, 6383 H 56559-H 56560. Vgl. auch Polvinen S. 138f.; Yrjö Nurmio, Suomen itsenäistyminen ja Saksa [Der finnische Unabhängigkeitsprozess und Deutschland], Porvoo 1957 S. 11.

88 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg gefordert und Deutschland um Unterstützung dieser Bestrebungen ersucht werden sollte. Deutschland sei gewillt, für die Berücksichtigung dieser For- derungen bei den bevorstehenden Waffenstillstands- und Friedensverhand- lungen mit Sowjetrussland Sorge zu tragen.30 Es besteht weitgehender Konsens darüber, dass das Drängen, die Ver- sprechungen und die moralische Rückenstärkung der deutschen Seite die finnische Selbständigkeitserklärung beschleunigten.31 Deren formelle An- erkennung durch Sowjetrussland erforderte indessen wider Erwarten keinen deutschen Verhandlungsdruck in Brest-Litowsk sondern – im Gegenteil - entschiedene Appelle der deutschen Diplomatie an die finnische Regierung, selbst in Petersburg vorstellig zu werden.32 Auch dem finnischen Wunsch,

30 Schreiben des Gesandten in Stockholm an das Auswärtige Amt v. 17. Dezember 1917. In: KA, AA, Abt. A. Russland 63. Die Zustände und Verhältnisse Finnlands, Bd. 17, 6383 H 56606- 56607); Nurmio S. 12f., Polvinen S. 162; Lackman S. 514. 31 Es Ist auch die Auffassung vertreten worden, dass die dem am 4. Dezember von der Regierung vorgelegte Unabhängigkeitserklärung vermutlich auf deutsche Initiative zustan- de kam,(V. Tanner, Kuinka se oikein tapahtui [Wie es wirklich geschah], Helsinki 1949, S. 238). Diese Interpretation ist zumindest missverständlich. Die Unabhängigkeitsproklamation war von dem am 27. November durch die bürgerliche Mehrheit im Landtag gebildeten Senat unter Pehr Evind Svinhufvud von Anfang an fest ins Visier genommen. Es spricht jedoch alles dafür, dass Ludendorffs Begehren und Zusicherung die Regierung veranlasste, die Proklamation dem Landtag umgehend zur Entscheidung vorzulegen. „Der Funkspruch über die (in Kreuznach) ge- troffenen Abmachungen hat die Selbständigkeitserklärung Finnlands beschleunigt“. (E. Hjelt im Gespräch mit den deutschen Gesandten in Stockholm, Lucius v. Stoedten, am 17. Dez. 1917. In: KA, AA, Abt. A. Russland 63. Die Zustände und Verhältnisse Finnlands, Bd. 17, 6383/ H 56606-56607; Polvinen S. 166.) Er bestärkte die Regierung in ihrer Absicht, die Unabhängigkeit entgegen der Position der Sozialdemokratie ohne vorherige Konsultation mit Petrograd zu pro- klamieren. Schnelles Handeln erschien nun auch deshalb geboten, weil die deutsch-russischen Verhandlungen in Brest-Litowsk am 3. Dezember aufgenommen wurden und die sich daraus er- gebenden Chancen einer deutschen Einwirkung auf die russische Haltung gegenüber Finnland möglichst bald zum Tragen kommen sollten und nicht verpasst werden durften. Polvinens Inter- pretation ist: Die moralische Rückenstärkung führte zu dem einseitigen, auf deutsche Unter- stützung vertrauenden Beschluss, denn im Vertrauen auf Deutschland hielt es der Senat nicht für erforderlich, sich wegen der Anerkennung an Russland zu wenden (Polvinen S.165-166). 32 Es ist lange Zeit behauptet worden, die sowjetische Anerkennung der finnischen Selbst- ständigkeit sei „nur unter deutschem Druck“ erfolgt. In der Tat hatte der Selbständigkeitssenat zunächst gehofft, die sowjetische Zustimmung auf dem Umweg über Brest-Litowsk zu erwirken. (E. Hjelt im Gespräch mit Lucius am 17. Dez. 1917. - Wie in Anm. 31). Diese Rechnung ging nicht auf. Finnland spielte in den offiziellen Verhandlungen bis zum Jahresende faktisch keine Rolle. Mehr noch: Wie von allen anderen Staaten blieb Finnland auch deutscherseits eine der russischen Entscheidung vorgreifende Anerkennung seiner Selbstständigkeit versagt (Polvinen S.164). Die politische Führung war auch Ende 1917 noch nicht bereit, die Friedensverhandlun- gen mit Sowjetrussland durch eine der russischen Entscheidung vorgreifende Garantieerklä- rung für Finnlands Selbstständigkeit zu belasten. Für diese Helsinki irritierende Zurückhaltung gab es eine einfache Erklärung: Die von Mitgliedern der deutschen Verhandlungsdelegation

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 89 den Anschluss des Petsamogebietes und Ostkareliens an Finnland in Brest zur Sprache zu bringen,33 wurde nicht entsprochen. Mit der formellen Anerkennung der finnischen Selbständigkeit durch Sowjetruss- land waren weder Finnland noch Deutschland am Ziel ihrer Wünsche. Die sich bis zum Bürgerkrieg zuspitzende schwere innere Krisensituation und anhaltende Verunsicherung über die Absichten der Sowjets stellten das herrschende Gesell- schaftssystem, die Selbständigkeit und gleichermaßen auch die Durchsetzung der deutschen Interessen in und mit Finnland ernsthaft in Frage.

Vor diesen Hintergrund erfolgte am 14. Februar nach dem Abbruch der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk (10. Februar) auf deutsche Ver- in Brest-Litowsk in „unverbindlicher Weise“, außerhalb des offiziellen Verhandlungsrahmen „im Privatgespräch“ vorgenommen Sondierungen hatten ergeben, dass die Sowjetregierung bereit war, einen in einwandfreier Form vorgebrachten Wunsch Finnlands auf Anerkennung seiner Selbstständigkeit sofort zu akzeptieren. Dieser Standpunkt ist von russischer Seite in so glaubwürdiger Weise vorgetragen worden, dass die an einem schnellen Ostfrieden interessierte Reichsleitung keine Veranlassung sah, einen Konflikt in einer Frage zu provozieren, die offen- bar überhaupt keinen Konfliktstoff bot. Vielmehr sind die in Brest-Litowsk in Erfahrung gebrach- ten Informationen der finnischen Regierung mehrfach in aller Deutlichkeit übermittelt worden, verbunden mit der immer nachdrücklicher erhobenen Aufforderung, unverzüglich mit dem An- trag auf Anerkennung an die russische Regierung heranzutreten, da eine so günstige Konstel- lation für Finnland wahrscheinlich niemals wiederkehren werde. Den gleichen Rat erteilte auch der deutsche Reichskanzler den Bevollmächtigten der finnischen Regierung, die daraufhin am 27. Dezember an Svinhufvud telegrafierten: „Anerkennungsersuchen in östlicher Richtung un- vermeidlich.“ (Nurmio S.31) So musste die Regierung ihren Kurs revidieren und im Smolny, dem Sitz der Räteregierung, vorstellig werden. Die sowjetischen Anerkennung der Selbstständigkeit Finnlands war, nach der heute vorherrschenden Auffassung, in erster Linie ein Mittel zu dem Zweck, antirussischen Ressentiments entgegenzuwirken, damit die erstrebte sozialistische Re- volution in Finnland zu erleichtern und so einer späteren „freiwilligen Wiedervereinigung“ mit Sowjetrussland den Boden zu bereiten. Deutscher Druck war für die Entscheidung der Bolsche- wiki nicht maßgebend. Soweit Druck ausgeübt wurde, richtete er sich an die finnische Adresse mit dem Ziel, die Regierung im wohlverstandenen eigenen Interesse zur Kontaktaufnahme mit dem Smolny zu veranlassen. In gleicher Richtung agierte auch die finnische Sozialdemokratie. Bleibt noch die gleichfalls kontrovers beantwortete Frage, wie hoch der An- teil Deutschlands an der Bewahrung der Selbstständigkeit und Stabilisierung des Ende Januar 1918 in einen Bürgerkrieg gestürzten neuen Staates einzuschätzen ist. Heute bezweifeln selbst jene, die die Auseinandersetzungen zwischen Weißen und Roten weiterhin als Freiheitskrieg bewerten, kaum noch die feste Absicht der nicht bolschewistisch, sondern sozialdemokratisch geprägten Führungsspitze der „Roten“, die finnische Selbststän- digkeit zu bewahren. Aus der Sicht Lenins verhielten sie sich sogar geradezu „chauvinistisch“. Ein Wiederanschluss an Russland lag keineswegs in ihrer Absicht, nur hätten sie nach Lage der Dinge wohl kaum eine reale Chance gehabt, ihre nationalen Intentionen auf Dauer gegen sowjetischen Druck auch wirklich durchzusetzen. 33 Schreiben E. Hjelts und R. Erichs an den Reichskanzler vom 2. Januar 1918, in: KA, AA, Russland 63. Zustände und Verhältnisse Finnlands, L 261/L 80606-613.

90 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg anlassung ein finnischer Hilferuf um militärischen Beistand.34 In finnischen Darstellungen wird gern darauf verwiesen, dass sich Deutschland damit selbst dazu eingeladen hat, dem weißen Finnland zu helfen.35 Diese Sicht ist zumindest ergänzungsbedürftig. Richtig ist, dass Deutschland aus stra- tegischen, politischen und ökonomischen Erwägungen ein erhebliches Interventionsinteresse hatte. Ebenso aber auch das bürgerliche Finnland. Dessen bevollmächtigte Vertreter hatten seit Monaten schon mehrfach, seit November 1917 mindestens sechsmal, um eine militärische Intervention er- sucht.36 Dass dennoch Mitglieder des Vaasa- Senats im Unkenntnis der Vor-

34 Schreiben des finn. Gesandten Hjelt und R. Erichs an den Reichskanzler v. 14. Februar 1918. In: KA, AA, Russland 63. Zustände und Verhältnisse Finnlands, 6383 H 56674-677. 35 Osmo Jussila/Seppo Hentilä/Jukka Nevakivi, Vom Großfürstentum zur Europäischen Uni- on. Politische Geschichte Finnlands seit 1809, Berlin 1999, S, 135; Polvinen S. 255; Hannu Rautkallio, Kaupantekoa Suomen itsenäisyydellä. Saksan sodanpäämäärät Suomessa [Der Faktor Handel in der Unabhängigkeit Finnlands. Deutschlands Kriegsziele in Finnland] 1917- 1918, Helsinki 1977 S. 55. 36 Zu den Interventionsersuchen vgl. Menger (2) S. 72. Fragwürdig erscheint dagegen die These von Heikki Ylikangas, Der Weg nach Tampere. Die Niederlage der Roten im finnischen Bürgerkrieg 1918, Berlin 2002, S. 19: Deutschland versuchte dem Senat „mit allen Mitteln seine Hilfe aufzudrängen“. Im Einzelnen sind zumindest folgende Interventionsersuchen nachweisbar: 1. Am 11. Nov.1917 ersuchten H. Gummerus, S. Sario, R. Erich und V.V. Siven den Staatsse- kretär des Auswärtigen Amtes um eine deutsche Landung, „zumindest“ auf den Ålandinseln. In ihrer am 12. November eingegangenen Denkschrift „Zum gegenwärtigen Stand der finn- ländischen Frage“ hieß es: „Die Ankunft dt. Truppen wäre die Morgendämmerung nach einer langen Nacht“. Sie ersuchten um „ein schnelles kräftiges Eingreifen der deutschen Streitkräf- te“ zumal zu befürchten sei, dass verantwortungslose Elemente die Gelegenheit zu einem ge- waltsamen Umsturz benutzen würden. (KA, AA, Abt. A, Weltkrieg 11 c. Geh. Unternehmungen in Finnland, Bd. 23, L 268 L 84036-47, Gummerus S. 457f.; Menger (2) S. 63, 72f. 2. Svinhufvud, ab 27. November 1917 Senatsvorsitzender, soll E. Hjelt, ab Januar 1918 dann erster finnischer Gesandter in Berlin, in der Zeit des Generalstreiks (13. - 19. Nov.) aufgefordert haben: „Schaffe mir die Deutschen her, anders retten wir uns niemals.“ (Hjelt S. 50.) Es stellt sich die Frage, ob dies als Blanco-Vollmacht gewertet werden kann, ( Menger (2) S. 72), ist von Hjelt jedenfalls entsprechend verstanden und umgesetzt worden. 3. Am 18. Nov. 1917 äußerte Dr. Törngren „im Auftrag von Vertrauensmännern der drei bürgerlichen Parteien“ gegenüber Lucius, dem deutschen Gesandten in Stockholm, es sei notwendig, dass Finnland von Schweden oder Deutschland okkupiert werde, um die Ord- nung wiederherzustellen. (KA, AA, Russland 63. Die Zustände und Verhältnisse Finnlands, 6383 H 56557-H 56558). 4. Am 18. Nov. 1917 ersuchen Baron v. Bonsdorff und E. Hjelt in Begleitung des Haupt- manns von Hülsen, den Leiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes, Rudolf Nadolny, um eine militärische Hilfsaktion, am zweckmäßigsten um die Besetzung der Ålandinseln. (KA, AA, Weltkrieg 11 c. Geh. Unternehmungen in Finnland, Bd. 23, L 268 /L 84065-067). 5. Am 31. Jan. 1918 richten E. Hjelt und R. Erich an Staatssekretär R. Kühlmann ein Er- suchen um unmittelbares militärisches Einschreiten. ( Menger (2) S.114; Nurmio S. 65, 134;

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 91 geschichte von der Nachricht einer bevorstehenden deutschen Intervention überrascht und wegen der voraussehbaren problematischen Konsequenzen des deutschen Einschreitens beunruhigt waren, steht außer Frage. Aber auch sie fügten sich den Umständen. Man war in einer Zwangslage und „sah keine Alternative.“37 Mannerheims ablehnende Haltung war ein Sonderfall und ist zudem von ihm schließlich selbst wenn nicht in Frage gestellt, so doch relativiert worden.38

Mannerheim S. 195 f.). 6. Am 9. Febr. bittet E. Hjelt erneut um jede erdenkbare Hilfe (Nurmio S. 134 f.). Der schließlich auf der Sitzung des Kronrates in Bad Homburg am 13. Febr. 1918 nach dem Abbruch der Waffenstillstandsverhandlung in Brest-Litowsk u.a. auch von Finnland geforder- te neue Hilferuf ( Menger (2) S. 113) wurde schon am folgenden Tage vorgelegt (Nurmio S. 135). Am 16. Febr. vermerkte Unterstaatssekretär v. dem Bussche- Haddenhausen: „Hie- sige finnische Bevollmächtigte haben offizielles Schreiben an den Reichskanzler gerichtet, worin sie namens finnischen Staates und Volkes tatkräftige Hilfe deutschen Reiches anrufen, und in erster Linie Entsendung von Truppen verlangen.(KA, AA, Weltkrieg. Großes Haupt- quartier. Finnland 10. Bd. 1, L 269 L 84357). Am 3. März 1918, nochmalige Bitte Hjelts um Beschleunigung der zugesagten militärischen Intervention. Es spricht alles dafür, dass die Interventionsersuchen wegen der schwierigen Nachrichten- verbindungen zwar nicht immer auf direkte Veranlassung P. E. Svinhufvuds erfolgten, aber seinen Intentionen entsprachen und seine Billigung fanden. Gleiches gilt für die ohne seine Beteiligung zustande gekommenen deutsch-finnischen Verträge vom 7. März 1918. 37 Ylikangas, Der Weg nach Tampere S. 66 zitiert aus einem Brief des Senators Juhani Arajärvi an seine Frau in dem es hieß: „Schade, dass wir das Spiel nicht aus eigener Kraft ent- scheiden durften oder konnten, sondern uns von den Deutschen helfen lassen müssen.“ Das kann „ein sehr teures und lange vorhaltendes Vergnügen“ werden. 38 Reichskanzler Hertling vermerkte am 7. März in einem Schreiben an Wilhelm II., es gebe widersprüchliche Meldungen über Mannerheims Haltung. (Nurmio S. 150). Der Ge- neral hatte mit der Anforderung der deutschen Truppen nichts zu tun; er dankte zwar am 10. März in einem Telegramm an Ludendorff für die bereits bis dahin „gesandte Unterstüt- zung“… „ohne die wir jetzt nicht siegreich in Finnlands Freiheitskampf bestehen könnten“, ersuchte aber um die Unterstellung des erwarteten „deutschen Expeditionskorps“ unter finnischen Oberbefehl. (KA, AA, Weltkrieg, Großes Hauptquartier, 10. Finnland L269/L 84488). In einem viel zitierten Telegramm Mannerheims vom 20. März hieß es dann: „Bitte Thesleff (finn. Verbindungsoffizier bei dem deutschen „Expeditionskorps“- M.M.), daß ich es als seine unabweisbare Plicht ansehe, Ankunft der deutschen Expedition zu beschleunigen. Verzögerung schicksalsschwer.“ (Ebenda, L 84478) In Mannerheims Memoiren (G. Man- nerheim. Erinnerungen, Zürich und Freiburg im Breisgau 1952, S. 197) wird das Telegramm nur unvollständig zitiert. Mannerheim äußerte dann am 15. April gegenüber dem deutschen Gesandten: „Er sei vollkom- men der Ansicht, dass die finnische Armee die ihr gestellte Aufgabe nicht allein oder wenigstens nicht in so kurzer Zeit lösen konnte, wie es für das Wohl des Landes nötig sei, und er könne die deutsche Hilfe deshalb nur mit dem tiefsten Dank begrüßen.“ (KA, AA, Finnland, 6380, H 55821-55824, Bericht von Brücks an Reichskanzler Hertling, 15. April 1918).

92 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg Im Übrigen lieferte er mit seiner am 10. März an Ludendorff gerichteten Empfehlung, die deutsche Intervention nicht als Einmischung „in die inne- ren Kämpfe des finnischen Volkes“, sondern als Hilfe im „Kampf gegen die in unser Land eigenmächtig eingedrungenen fremden mörderischen Ban- den“ zu deklarieren eine Formel, die von deutscher Seite aus verschiedenen Gründen gern übernommen wurde.39 Als vermeintliche „mörderische Ban- den“ standen die Roten nach Auffassung der Ostseedivision zudem außer- halb des Völkerrechts.40

Dem als „Polizeimaßnahme“ gegen „Räuberbanden“ deklarierten Eingreifen kriegserfahrener deutscher Interventionsstreitkräfte (ca. 14 000 Mann) ver- mochten die militärisch unerfahrenen Roten kaum mehr als den Mut der Ver- zweiflung entgegenzusetzen. Wie wichtig die deutsche Intervention letzten Endes für den Ausgang des Bürgerkrieges war, welche Bedeutung in Rela- tion dazu die Rückführung des Jägerbataillons und die Waffenlieferungen hatten, ist offenbar schwer exakt zu bestimmen. Die Rolle der deutschen Interventen ist zunächst wohl häufig überschätzt worden,41 sollte aber auch nicht unterschätzt werden. Relativ überzeugend erscheint die Formulierung von Heikki Ylikangas, dass die Weißen „ihren Sieg nicht nur den Deutschen, sondern insbesondere den südostbottischen Schutzkorpstruppen verdank- ten“.42 Die deutschen Truppen kamen als Parteigänger in einem Bürgerkrieg. Für die Intervention war nach einer Äußerung Wilhelm II. „ein erhebliches und

39 Telegramm Mannerheims an Ludendorff, 10. März 1918, in: KA, AA, Weltkrieg. Gr. Haupt- quartier. Finnland 10. Bd. 2, L269/L84488-489. Auf der Beratung beim Reichskanzler am 11. März hieß es dementsprechend: „Die Expedition ist unbedenklich, wenn sie, wie in der von Mannerheim vorgeschlagenen Proklamation gesagt wird, nicht zur Unterstützung einer finni- schen Partei gegen die andere, sondern zur Säuberung Finnlands von fremden Banden unter- nommen wird.“ ( Menger (2) S.159f.). 40 „Die Division steht auf dem Standpunkt, daß ihre Gegner rechtmäßig außerhalb des Völker- rechts stehen.“ – R. v. d. Goltz: Die Lage in Finnland, 8. April 1918, in: Kansallisarkisto, Ostsee- Division: Ostsee-Division, Stab Nr. 5, S. 99. 41 So äußerte Paasikivi im August 1918: Ohne die Deutschen wäre Mannerheim heute noch nicht in Helsinki. Vgl. Vesa Vares, Kuninkaan tekijät [Die Königsmacher], Juva 1998, S. 112f. 42 Hekki Ylikangas, Der Weg nach Tampere. Die Niederlage der Roten im finnischen Bürger- krieg 1918, Berlin 2002, S. 407 u. 411. Seppo Hentilä schieb, die Hilfe der Deutschen für die Weißen habe den Ausgang des Bürgerkrieges nicht entschieden, aber den Kampf wahrschein- lich um einige Wochen verkürzt. (In: Politische Geschichte Finnlands seit 1809. Vom Groß- fürstentum zur Europäischen Union, Berlin 1999, S. 139). In seinem Vortrag in der Finnischen Botschaft Berlin am 30. November 2007 ergänzte er: „Aus Sicht des Sieges der Weißen waren die Jäger als Offiziere und Unteroffiziere unersetzlich, während die deutsche Intervention am Ende nur den Kriegsverlauf beschleunigt hat.“ (Unveröffentlichtes Manuskript).

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 93 unmittelbares Interesse des Reiches maßgebend“.43 Sie wurde indessen vertraglich wie eine Dienstleistung auf Bestellung und gegen Bezahlung ar- rangiert. Der Preis, den Finnland für diese von Deutschland im eigenen In- teresse geleisteten Beiträge zur Stabilisierung des finnischen Staatswesens zu zahlen hatte, war hoch. Durch ein ausgeklügeltes Vertragssystem und die Macht der Tatsachen war Finnland seit dem Frühjahr 1918 wirtschaft- lich, militärisch und politisch dem Zugriff Deutschlands ausgeliefert.44 Es avancierte faktisch zum Verbündeten der Mittelmächte, seine Streitkräfte, sein Territorium, die Schifffahrt und der Außenhandel unterlagen deutscher Kontrolle. Alle im Lande vorhandenen ausfuhrfähigen Vorräte und Erzeug- nisse sollten Deutschland zugutekommen und insbesondere zur Bezahlung

43 So Wilhelm II. am 7. März 1918 gegenüber dem Reichskanzler. (KA, AA, Weltkrieg. Gr. Hauptquartier, 10. Finnland L269/L84432. Ausschlaggebend für die vom Kaiser analog zum Vorgehen der Großmächte beim „Boxeraufstand“ in China als „reine Polizeimaßnahme“ gegen „Räuberbanden“ deklarierte „Expedition“ waren Machtinteressen und Revolutionsfurcht. Nach der Vorstellung Wilhelms II. konnte bei einem Sieg der finnischen Revolution eine „Katastro- phe“ in ganz Nordeuropa eintreten und damit die Gefahr „für den eigenen Thron“ unermesslich wachsen. Zudem schien Finnland wegen seiner geografischen Lage zum „natürlichen Bundesgenossen gegenüber Großrußland“, auf dem Deutschland ein „Recht“ hatte, prädestiniert. „Wir geben Finnland nur eine kleine Streitmacht“ schrieb Ludendorff und ergänzte: „Wir wollen dafür die gesamte finnische Macht gegen Rußland einsetzen können.“ ( Menger (2) S. 165) Nicht zuletzt interessierten, die „finnländischen Rohstoffe“. Selbst angeblich vorhandene „große Mengen Ka- kao und Kaffee“, die „dort von den Händlern zu unserer Verfügung gehalten werden“ schienen dem Kaiser ein plausibler Interventionsgrund (KA, AA, Weltkrieg. Gr. Hauptquartier, 10. Finn- land L 269 L84434). „Uns treibt die Stimme der Menschlichkeit...auch werden wir uns nicht in innere Parteistreitig- keiten einmischen“, hieß es in einem in 130 000 Exemplaren über Südfinnland abgeworfenen Flugblatt der Interventionstruppen, die am 3. April bei Hanko und am 7. April bei Loviisa an Land gingen. Dabei handelte es sich, was Disziplin und Ausrüstung betraf, um ausgesuchte Einheiten. Sie waren formell dem finnischen Oberbefehlshaber unterstellt, aber der deutsche Befehlshaber, General R. von der Goltz, „legte keinen Wert darauf, nach den Dispositionen des früheren russischen Generals von Mannerheim zu handeln“ (KA, AA, Finnland, 6380 H55901). Gleichwohl kam es zu einer gewissen Abstimmung des beiderseitigen Vorgehens. Die Weiße Armee profitierte erheblich von dem Einfall der deutschen Streitmacht in den Rücken des Geg- ners. Der Einsatz der kriegserfahrenen, für die spezifischen Kampfbedingungen zweckmäßig ausgerüsteten Truppen gegen die sich vielfach hartnäckig zur Wehr setzenden, aber militärisch ungeschulten, fast ausschließlich von Amateuren geführten Roten Garden hat den Verlauf und wahrscheinlich auch das Ergebnis des Kampfes erheblich beeinflusst. Anfang Mai verebbten die Kämpfe. Ihnen folgte eine gnadenlose Abrechnung mit den „Landesverrätern“, die mit dazu beitrug, die innere Zerrissenheit des Landes auf lange Zeit zu verfestigen. Die Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Lager bestimmte auch das Urteil über die deutsche Intervention. 44 Die umfassendsten Darstellungen darüber bieten: Hannu Rautkallio (wie Anm. 35) und jetzt auch Marjaliisa und Seppo Hentilä, 1918: Das deutsche Finnland. Die Rolle der Deutschen im finnischen Bürgerkrieg, Bad Vilbel 2018.

94 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg der gelieferten Kriegsmaterialien genutzt werden. Unter Berufung auf die vom Senat am 18. März 1917 übernommene Verpflichtung, die Kosten für die deutsche Intervention und Waffenlieferungen zu übernehmen,45 wurden gegenüber Finnland noch 1922 Ansprüche in Höhe von 37 230 023 Reichs- mark erhoben.46 Deutscherseits ging es nach der Niederlage der Roten darum, die in Finn- land gewonnene Machtstellung auszunutzen und zu stabilisieren. Einzelne Stimmen, die warnten, es nicht zu weit zu treiben,47 fanden kaum Gehör. Lu- dendorffs Mann in Helsinki, „Der Deutsche General in Finnland“, R. von der Goltz, der ihm unterstellte umfangreiche militärische und politische Appa- rat, Beauftragte des preußischen Kriegsministeriums, der Zentraleinkaufs- genossenschaft und anderer deutscher Instanzen waren einhellig darauf aus, die Gegenleistungen für die militärische Hilfsexpedition einzutreiben, die Verträge vom 7. März durchzusetzen und Finnland möglichst auf Dauer als „festen Bundesgenossen“ gegen Russland zu gewinnen, zugleich als „Partner am Nordmeer gegen England“ und als Eckpfeiler deutscher Macht im Ostseeraum.48

45 Schreiben der finnischen Gesandtschaft Berlin vom 18. März 1918. In: AA, Abt. A Finnland 3. Finanzen L 265/ L 83678. 46 Menger (2) S. 152f. 47 Mit den finnischen Verhältnissen vertraute Unternehmer, wie der Lübecker Kaufmann und Vorstandsmitglied der Deutsch-Finnischen-Vereinigung C. Fr. Dimpker, warnten vergeblich da- vor, Finnland mit Russland und der Ukraine über einen Kamm zu scheren. Am 25. September 1918 schrieb Dimpker in einer Aufzeichnung für das Auswärtige Amt, Deutschland habe durch die von ihm in Finnland geschaffenen wirtschaftlichen Bedingungen die ursprünglich großen Sympathien fast völlig verloren. Die Finnen hätten das Gefühl, dass Deutschland versuche, aus ihrem Land so viel wie möglich herauszuholen und dafür so wenig wie möglich zu bezahlen während den Finnen auf der anderen Seite fast jede Möglichkeit genommen werde, Waren in größerem Umfang von Deutschland zu beziehen. Für das, was man ihnen gäbe, würden zu- dem noch unverhältnismäßig hohe Preise verlangt. KA. AA. Finnland 1. Allgemeine Angelegen- heiten, L 263/L 82934- 941, Aufzeichnung des Präses Dimpker für Legationsrat Trautmann, 25.9.1918. 48 Die nach dem Sieg ernannte neue Regierung unter J. K. Paasikivi und der Reichsver- weser Svinhufvud verfolgten einen strikt auf Deutschland orientierten Kurs. Dazu hat vieles beigetragen: Die Fehleinschätzung der Weltkriegslage, außenpolitische Unerfahrenheit, Dank- barkeit gegenüber den „Befreiern“, die Furcht vor Sowjetrussland und neuen inneren Unruhen, aber auch die Hoffnung, mit deutscher Hilfe Ostkarelien und das Petsamogebiet an Finnland anschließen zu können. Im Interesse der Sicherung der Selbständigkeit, der inneren Stabilität und „sicherer Grenzen“ durch territoriale Ausdehnung fand die „Politik der geraden Linie mit Deutschland“ zunächst nahezu uneingeschränkte Unterstützung im bürgerlichen Lager. In einer Frage, hinsichtlich der von den Monarchisten mit Vehemenz verfolgten Absicht, die republikani- sche Staatsform aufzugeben und einen deutschen Prinzen, möglichst einen Sohn des Kaisers („Willen poika“), auf den Thron zu erheben, wurden allerdings sofort konträre Standpunkte er-

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 95 Das im Annexionsfieber des Jahres 1914 bezüglich Finnlands formulierte Maximalziel, seine Loslösung von Russland und Einbeziehung in die deut- sche Machtsphäre, schien 1918 erreicht zu sein. Indessen blieb die „Zeit des Grafen“ von der Goltz nur eine Episode. (Goltz schrieb in seinen Memoiren selbstgefällig, er sei in Finnland „von der Liebe des Volkes getragen und sein Wirken sei mit dem für Finnland glücklichen Wirken des Generalgouverneurs kennbar. Noch im Mai billigte die finnische Regierung einen von Goltz entworfenen Plan, der die völlige Umorganisation der Armee nach deutschem Muster und de facto auch unter deutschem Kom- mando vorsah. Daraufhin nahm Mannerheim, der mit dem Regierungskurs auch in anderen Fragen nicht konform ging, seinen Abschied. Im Juni entsandte die OHL zusätzlich zu den in die finnische Armee kommandierten Offizieren und Beamten eine „Militärmission“ unter Oberst von Reedern. Der Oberst, der den Titel „Chef des deutschen Generalstabs beim finnischen Heer“ führte, übte, nur an die Weisungen des Generals von der Goltz gebunden, faktisch das Oberkommando über die finnischen Streitkräfte aus. Im Juli wurde der Entwurf eines Militär- bündnisses vorgelegt, in dem es hieß: „Der finnische Oberbefehlshaber wird im Kriege der Deutschen Obersten Heeresleitung unterstellt.“ Nach den wechselnden Planungen war vorge- sehen, finnische Truppen entweder zum Sturz der Bolschewiki gegen Petrograd oder aber zu einem mit den Sowjets abgestimmten Vorgehen gegen die von Murmansk her vorrückenden Briten einzusetzen. Maßgebend waren stets die deutschen Ambitionen. Auf wirtschaftlichem Gebiet sah sich die Regierung Finnlands, nachdem ein Versuch, einige Festlegungen der Verträge vom 7. März zu modifizieren am deutschen Widerstand gescheitert war, wohl oder übel gezwungen, radikale Exportreglementierungen durchzusetzen durch die die Rohstoffe, Vorräte und Landesprodukte allein dem Zugriff deutscher Importeure überlassen blieben. Die finnischen Holzvorräte sollten nach Kriegsende als „wichtige Waffe“ in demzu erwartenden Wirtschaftskrieg gegen die Entente eingesetzt werden. Die Finnland auferlegten Exportverbote schränkten zusätzlich seine ohnehin nur geringen Möglichkeiten ein, zur Linde- rung der katastrophalen Versorgungslage Lebensmittel einzuführen, zu deren Lieferung Deut- schland nicht imstande war. Im Austausch gegen 500 t Butter erhielt Finnland zwischen Mai und Oktober 1918 alles in allem 3500 t Getreide und 1350 t Zucker aus Deutschland. Bestrebungen, „wirtschaftliche Ziele für die Zukunft“ durchzusetzen, insbesondere die Rechte für die Ausbeutung der finnischen Erzvorräte in die Hand zu bekommen, konnten nur infolge der radikalen Veränderung der militärischen und politischen Lage nicht zum Tragen kommen. Aus der gleichen Ursache scheiterte auch das „Königsabenteuer“, von dem sich die monarchis- tischen Kreise in Finnland die Sicherung ihrer Zukunftsvorstellungen und ihre deutschen Par- tner eine feste und dauerhafte Bindung Finnlands an Deutschland erhofften. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg setzte diesen Erwartungen ein jähes Ende. Anders als im Baltikum bestanden die Ententemächte im Falle Finnlands auf dem sofortigen Abzug der deut- schen Truppen, der am 16. Dezember 1918 abgeschlossen wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte Deutschland u.a. infolge der Finnland aufgezwungenen Wirtschaftspolitik schon manche seiner durch die „Rettungstat“ in den bürgerlichen Kreisen des Landes gewonnenen Positionen ein- gebüßt. Die Erkenntnis, dass sich das kaiserliche Deutschland in seiner Finnlandpolitik stets nur von seinen eigenen Interessen hatte leiten lassen , änderte jedoch auch auf Dauer nichts an der durchaus zutreffenden Ansicht, dass diese Interessen partiell und temporär - sowie ge- gen einen entsprechenden Preis – auch zur Durchsetzung einiger finnischer Anliegen genutzt werden konnten.

96 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg Graf Per Brahe, „kreivin aika,“ verglichen worden“.)49 Finnlands Selbständigkeit war und blieb vor allem eine finnische Eigenleis- tung, ist aber erst in einer internationalen Umbruchssituation und Periode russischer Schwäche erreicht worden. Deutschland spielte eine Rolle im Hinblick auf die Schaffung der machtpolitischen Voraussetzungen, die Finn- lands Selbstständigkeit ermöglichten, es hatte keinen nennenswerten Anteil am Prozess der formellen Anerkennung der Selbstständigkeit durch Sowjet- russland, leistete aber einen wichtigen Beitrag für die Bewahrung und Sta- bilisierung des bürgerlich-kapitalistischen Systems und damit langfristig und objektiv sehr wahrscheinlich auch für die Sicherung finnischer Unabhängig- keit. Ausschlaggebend für das deutsche Engagement waren immer nur die eigenen Interessen, die aber zeitweilig in verschiedener Hinsicht durchaus mit finnischen Anliegen harmonierten.

49 Vgl. R. v. d. Goltz, Meine Sendung in Finnland und im Baltikum, Leipzig 1920, S. 102.

Der Autor

Prof. Dr. Manfred Menger legte 1962 als erster DDR-Autor eine zeit- geschichtliche Arbeit über Finnland vor und spezialisierte sich in der Folge auf die deutsch-finnischen Beziehungen während der Zeit des Na- tionalsozialismus bzw. während des Zweiten Weltkriegs. An der Ernst-Mo- ritz-Arndt-Universität Greifswald, deren Sektion Geschichtswissenschaft er von 1982 bis 1990 vorstand, organisierte er ab 1973 gemeinsame Se- minare mit finnischen Historikern. Seit 1980 Ordentlicher Professor für Allgemeine Geschichte der neuesten Zeit in Greifswald.

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 97 Matti Lackman

Für Finnland oder für Deutschland? Aktivisten und Jäger vor einer schwierigen Entscheidung.

u Beginn des Großen Krieges versprach das Deutsche Reich, Schweden Zdie Åland Inseln und möglicherweise ganz Finnland als Belohnung, falls Schweden Deutschland zum Sieg verhelfen würde; aber die Regierung von Hjalmar Hammarskjöld wollte die Neutralität Schwedens bewahren. Deutschland bemühte auch andere Wege, um Verbündete zu erlangen. Es versprach den schwedischsprachigen Finnen eine Art Pufferstaat. Konsul Albert Goldbeck-Löwe soll eine wichtige Rolle dabei gehabt haben, sie zum Kriegseintritt zu bewegen. Deutschland beabsichtigte, die Finnen gegen Russland aufzurüsten. Von den zwei zu diesem Zweck gegründeten, rivalisierenden Komitees kam schließlich das von Fritz Wetterhoff geleitete in die Vorhand. Anfang 1915 wurde er als der politische Leiter dieser Bewegung gegen Russland bei den finnischen Studentenaktivisten respektiert und auch von Deutschland ak- zeptiert. Die Kriegsbegeisterung gegen Russland entstand in studentischen Kreisen: Sie wollten militärische Ausbildung. Allerdings richtete sich ihre erste Bitte um Hilfe nicht an Deutschland sondern an Schweden, mit welchem Finnland ja viele Jahrhunderte verbunden war. Inzwischen hatte Schweden jedoch seine Neutralität erklärt und weigerte sich, jegliche militärische Ausbildung durchzuführen. So fand sich die fin- nische Anti-Russland-Bewegung am Ende unter der Ägide und Kontrolle Deutschlands wieder. Deutsche Strategen gingen davon aus, dass Russland nicht ausschließ- lich durch reine Aufteilungen besiegt würde. „Revolutionieren” wurde zum Schlüsselwort und bedeutete die Unterstützung der russischen Revolutions- bewegung und der nationalen Separatistenbewegungen, die sich zum Bei- spiel unter Polen, Balten und Finnen entwickelt hatte. Diese Überlegung ging davon aus, dass Russland von innen nach außen zusammenbrechen würde.

98 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg Im November 1914 schickten die finnischen Studenten zwei Männer nach Stockholm. Diese setzten sich mit Dr. Herman Gummerus in Kontakt, der sich schon in den Dienst Deutschlands gestellt und im Oktober eine Erkun- dungsfahrt nach Finnland unternommen hatte. Er half den jungen Männern, einen Brief an Deutschland aufzusetzen mit der Bitte um militärische Aus- bildung für 200 Finnen. Deutschland begann im Februar 1915 im Lager von Lockstedt in der Nähe von Hamburg mit einem sogenannten Pfadfinderkurs, an dem 189 Finnen teilnahmen. Sie brachten selbst erstellte Karten mit und Informationen über russische Garnisonen, Truppen und Kriegsschiffe: Daten, die sie vorher ausspioniert hatten. Ihre Ausbildung konzentrierte sich auf Sabotage und Guerilla-Aktionen. Auch glaubten sie, eine kurze Ausbildung sei genug. Aller- dings muss man diese offensichtliche Leichtgläubigkeit im Kontext der Über- zeugungen deutscher Strategen sehen, die von einem kurzen, siegreichen Krieg ausgingen – wovon aber das völlige Gegenteil eintrat. Auch wenn die Finnen unter deutscher Aufsicht in Lockstedt trainierten, hoff- ten viele von ihnen, dass Schweden an der Seite Deutschlands in einen siegreichen Angriff auf Russland einsteigen würden. Das mag erklären, dass 68% der „Pfadfinder“ aus schwedischsprachigen Familien stammten und mindestens 132 schwedischsprachig waren. Im Sommer 1915 war noch nicht geklärt, ob diese jungen Männer die Schöpfer eines unabhängigen Finn- lands oder eines größeren Schwedens sein würden. Einer der bekanntesten „Pfadfinder“, Walter Horn schrieb ihnen, Schweden habe bei Kriegseintritt die einzigartige Gelegenheit, seine östliche Grenze an den Fluss Siestarjoki (schwed. Systerbäck, russ. Sestra) oder weiter nach Osten zu verschieben. Man fragt sich, wo hierbei ein unabhängiges Finnland geblieben wäre, denn dieser war damals der Grenzfluss zwischen Finnland und dem eigentlichen Russland und liegt nur 30 km vor St. Petersburg. Als Schweden nicht in den Krieg eintrat, mussten die jungen Männer bereits in Lockstedt oder später nach ihrer Ankunft ihren Traum, die schwedische Flagge zu hissen, begraben und sich unter der deutschen einrichten. Jedoch auch wenn Deutschland die Finnen stärker in deutschen Griff bekam, setzte sich deren Zusammenarbeit mit Schweden fort. Schwedens Neutralitätserklärung machte es nicht wirklich neutral. Schwe- den unterstützte den deutschen Krieg auf viele verschiedene Weisen. Etwa 60 schwedische Offiziere waren in verschiedenen Funktionen in Deutsch- land unterwegs, und die deutschen Erfolge interessierten die schwedische Presse sehr. Wir wissen nicht genau, welche Vereinbarungen Finnland und Deutschland bezüglich Finnland und der Finnen getroffen hatten. Schweden erlaubte

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 99 jedenfalls, dass Finnen frei durch ihr Territorium nach Deutschland reisen konnten, und unterstützte sie sogar dabei. Später, nach ihrer Ausbildung, durften die finnischen Jäger und Saboteure mit ihren Bomben beim Sam- meln von Aufklärungsinformationen und diversen nicht-konventionellen Operationen gegen Russland mitwirken. Wenn Schweden gewollt hätte, hätte es alle antirussischen Aktionen, die in Zusammenarbeit mit Deutschland ausgeführt wurden, verhindern können. Dies tat es aber nicht, da es selbst auf deutscher Seite stand. Schweden blieb in dieser Sache tatsächlich immer offen Deutschland gegenüber. In den ersten wenigen Wochen der Ausbildung war bei mehreren Gelegen- heiten von deren Auslaufen die Rede, so dass einige junge Männer Lock- stedt verließen. Deutschland sah in den Finnen jedoch ein wichtiges Kapital und beschloss im August 1915, die Ausbildung fortzuführen und auszubau- en. Deutschland bildete die sogenannte Ausbildungstruppe Lockstedt und begann mehr Männer aus allen Teilen der finnischen Bevölkerung zu rekru- tieren. Da Deutschland die Ausbildung bezahlte und Unterkunft und Waffen zur Verfügung stellte, nahm es die Rolle des Gastgebers ein und bediente sich der finnischen Soldaten nach eigenem Gutdünken. Bei einem Blick auf ver- gleichbare Bewegungen wird klar, dass keine von ihnen einen unbegrenzten Handlungsspielraum hatten. Die finnischen Jäger hatten ihr Hauptquartier während des Großen Krieges in Berlin. Deutschland verlangte von den Finnen einen Vertrag und einen militärischen Eid. Jeder musste versprechen, mit ganzer Kraft Deutschland zu dienen. Wenn er aber ernsthaft verletzt oder getötet würde, verpflichte sich Deutsch- land nicht zu irgendeiner Kompensation. Ein so harscher und einseitiger Vertrag empörte zwar die Finnen, die meis- ten aber, leichtgläubig wie sie waren, setzten weiterhin auf den guten Willen Deutschlands. Deutschland bildete ungefähr 1000 finnische Jäger aus. In Finnland kamen dazu noch etwa tausend Verbindungsleute, Quartiergeber und Kuriere. In ihrer frühen Phase zählte die Anti-Russlandbewegung also ungefähr 3000 Mann. Zu diesem Zeitpunkt war auch nicht die Rede von einer Jägerbewegung und Jägern. Ziemlich lange sprach man von der Befreiungsbewegung. Ihre Armee bestand aus Truppen, die vom deutschen Militär ausgebildet wurden. Sie hatten keine politische Macht. Die sogenannte Stockholm-Delegation benutzte das politische Potential der Bewegung und blieb in Verbindung mit Deutschland und Schweden. Gemäß dem finnischen Strafgesetzbuch von 1889 und dem Strafrecht des

100 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg kaiserlichen Russlands war die Jägerbewegung Landesverrat und stand unter Todesstrafe. Während des Krieges wurden 79 Männer, von ihnen waren 16 Jäger, inhaf- tiert und blieben im Gefängnis Špalernaja in St. Petersburg in Gewahrsam. Obwohl alle in Gefahr waren gehängt zu werden, waren die Russen unsicher und untersuchten die Angelegenheit so gründlich, dass sie alle im Februar mit Ausbruch der Revolution freikamen. Urteile über finnische Separatisten waren im internationalen Vergleich eher gering. Nur zwei Aktivisten wurden zum Tode verurteilt und exekutiert. Die Finnen mussten Deutschland in Dingen helfen, die es nicht selber tun konnte. So sollten Finnen von schwedischem Gebiet aus Rentier- und Pfer- detransporte von norwegischen und russischen arktischen Häfen unterbin- den. Sie erfüllten auch Spionage- und Sabotagemissionen in Finnland und jenseits der Grenze auf der Kola-Halbinsel, wo im Winter 1915 der Bau einer Eisenbahn vom arktischen Meer (Murmansk) nach St. Petersburg begann. Die Finnen testeten auch den Gebrauch neuer Waffen, eine große Breite an Bomben und z.B. Anthrax. Denjenigen, die nach Deutschland kamen, war in Finnland militärische Aus- bildung für die Befreiung Finnlands versprochen worden und, dass sie nicht an die Front geschickt würden. Aber einige Mitglieder der Stockholm-De- legation, von Deutschen angestachelt, forderten im Winter 1916, dass die Jäger an die Front kommandiert würden. Die finnische politische Führung der Bewegung so wie auch die Jäger selbst waren nicht glücklich darüber, und einige Jäger versuchten, dem zu ent- kommen. Allerdings wollten viele der Jäger an die Front, da der tägliche Drill sehr mo- noton war. Und zugegebenermaßen kann die Kriegskunst nicht durch Lesen und Theorie oder Marschieren bei einer Parade erlernt werden. Es bedarf eigener Erfahrung auf dem Schlachtfeld und Ausbildung im Kampf. Als Informationen über die Verlegung an die Front Finnland erreichten, hatte es klare negative Folgen. Die Abreise weiterer Männer zur Jägerausbildung wurde gestoppt. Obwohl die Finnen auf einen schnellen Angriff Deutschlands auf St. Peters- burg gehofft hatten, der Russland in einen Kampf um Finnland verwickeln würde, stagnierte die Lage Deutschlands an der Westfront bereits im Herbst 1914. Der deutsche Gesandte in Schweden von Reichenau, der der Jäger- bewegung wohlwollend gesinnt war, wurde abgelöst und durch Hellmuth Lucius von Stoedten ersetzt, der seinerseits für einen Separatfrieden mit Russland plädierte. Deutschland wandte seine Aufmerksamkeit der Ostfront nur zu, solange

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 101 die die Bedrohung durch Russland bestand und seine Truppen weiter nach Westen vordrangen. Als die Frontlinie sich gefestigt hatte, passierte lange Zeit nichts. Die deutschen Diplomaten bemühten sich, den Status quo zu erhalten und sahen nicht viel Sinn in einer Unterstützung der Gedanken fin- nischer Aktivisten. So war das Königlich-preußische Jägerbataillon 27, seit Mai-Juni 1916 an der Ostfront, bis zum Frühling 1917 nur ein Bataillon unter anderen deut- schen Bataillonen. Zunächst war es an der Misse (lett. Misa) stationiert, dann an der Küste des Golfes von Riga und schließlich entlang der Kurlän- dischen Aa (lett. Lielupe). Deutschland benutzte das Jägerbataillon für seine eigenen Interessen. Im September 1916 machte sich unter den Jägern die Befürchtung breit, dass sie in die Somme-Schlacht geschickt würden, in der über 2 Millionen Sol- daten fielen. Daher baten einige Jäger im Dezember 1916 um Fronturlaub. Die Jäger wurden dann nach Libau (lett. Liepāja) verlegt. Trotz des Versprechens, dass man sie nicht mehr an die Front schicken würde, mussten sie bereits im Januar 1917 einen Fronteinbruch an der Kur- ländischen Aa abriegeln. Hier nahmen die Jäger zusammen mit anderen an einer Gasschlacht teil. Als ein finnischer Offizier einen Jäger hinrichtete, brach in der derart gespannten Situation eine Rebellion aus, aufgrund derer zig Jäger in Strafkompanien landeten. Zusammenstöße mit den schwedischsprachigen Finnen und deutschen Of- fizieren und die Unzufriedenheit mit der Verwendung des Jägerbataillons führten zu vielen Bestrafungen. Als den Deutschen nichts wirksam genug ge- genüber den dickköpfigen Finnen schien, gründeten die zuständigen Stellen das „Arbeitskommando beim Artillerie-Depot Altona-Bahrenfeld“ (Heutiger Ortsname: Hamburg-Bahrenfeld), wohin 216 Mann geschickt wurden. Eini- ge gerieten in berühmt-berüchtigte Gefängnisse wie Cottbus, (heute: Berlin-) Moabit, Havelberg und (heute: Berlin-)Spandau. Die Deutschen und ranghöhere Jäger sahen den Grund für die Strafen in allgemeiner Nichtbeachtung militärischer Disziplin, allerdings wurde dadurch eine große Zahl von Jägern für die Operationen in Finnland gerettet. Absolu- ter Gehorsam hätte die Verlegung in gefährliche Schlachten bedeutet, wobei die Zahl der Gefallenen sehr wahrscheinlich weit höher gewesen wäre. Der Gesamtverlust an Jägern war wesentlich niedriger als der der finnischen Freiwilligen, die zu Beginn als Kriegsfreiwillige auf russischer Seite kämpf- ten. Nur 12 Jäger fielen im Kampf. Einer wurde von einem eigenen Offizier erschossen. Haupttodesursache waren dagegen Tuberkulose und andere Krankheiten. Insgesamt starben 96 Jäger in Deutschland. Obwohl finnische Aktivisten von einem deutschen Angriff auf die Åland-

102 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg Inseln träumten, war es einem schwedischen General (mit Verbesserungen durch die finnische politische Führung der Jägerbewegung) überlassen, einen operativen Plan zu entwickeln, der allerdings nicht umgesetzt wurde. Genausowenig unterstützten die Deutschen Anfang 1917 den Plan einiger schwedischer Offizieren, dass die Finnen mit einem Kommandounterneh- men weit im Norden an der Westküste Finnlands landen und das Gebiet eine Zeitlang halten sollten, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu erwecken. Während das Jägerbataillon an der Ostfront stand, entsandte Deutschland einige Jäger für Sabotage- und Spionageunternehmen in den Grenzbereich Nordschwedens. Im Juni 1916 sprengten sie ein Munitionslager in Kilpisjärvi und schlugen später noch an einer Reihe anderer Ziele zu. Zunächst wehrte sich die politische Führung der finnischen Aktivisten gegen Sabotageakte, da sie ein Risiko für die jungen Jäger darstellten und finni- sches Eigentum zerstören würden. Deutschland unterstrich jedoch, dass Aktionen nicht gestoppt würden, sofern sie für Deutschland von Vorteil seien. 38 Jäger dienten im Hauptquartier der deutschen Marine bei der Organisa- tion geheimer Operationen. Hinzu kamen 60 bis 100 finnische Aktivisten, die für das Marinehauptquartier selbst und andere Einrichtungen arbeiteten. Schwedische Aktivisten informierten diese Männer über Schiffe der Alliierten in den Häfen des Bottnischen Meerbusens. Die Finnen versenkten diese Schiffe mit Bomben. Deutschland bildete Jäger und Aktivisten in Berlin und anderswo aus. Zur Jahreswende 1916-1917 sollte ein Jägerkommando mit Rentierschlitten durch Lappland zur Halbinsel Kola fahren und mit Bomben Anschläge auf die dortige Eisenbahn und andere wichtige Ziele durchführen. Das Unter- nehmen wurde jedoch dann abgesagt. An dieser „Front“ handelten die Jäger und Aktivisten entgegen den inter- nationalen Vereinbarungen in Zivilkleidung und ohne eine militärische Aus- weisung als Angehörige des deutschen Heeres. Sie verletzten die Haager Landkriegsordnung. In heutigem Sinne war dies eine terroristische Aktivität. Die jungen Finnen wirkten gerne als Saboteure aus Hass auf die Russen. Sie waren recht gut ausgestattet und hatten Handlungsspielraum für ihre Aktivitäten. Sie kümmerten sich nicht um internationales Recht oder andere Vereinbarungen. Von 1915 bis 1918 benutzte Deutschland die Jäger und Aktivisten auch, um zu versuchen, deutsche und österreichische Kriegsgefangene zu befreien, die beim Bau der Murman-Bahn Zwangsarbeit leisteten. Wenigstens 12 Jä- ger waren dort postiert, um kleine Gruppen von Gefangenen durch die Wild- nis nach Norwegen und Schweden zu führen. Von rund 70000 Kriegsgefan-

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 103 genen wurden 1000 auf diese Weise gerettet. Im Sommer 1917 traten im finnischen Jägerbataillon Anzeichen der Revo- lutionsideologie in Erscheinung. Im Juni gründeten einige Jäger einen Sol- datenrat, der im August die Erlaubnis forderte, drei Jäger nach Finnland zu schicken, um herauszufinden, ob ein Jägerbataillon noch gebraucht werde. Im September wurde schließlich das „Exekutiv-Komitee der Jäger der Arbei- terklasse” (Työläisjääkäreiden toimeenpaneva komitea) gegründet, das an- kündigte, Befehle nur noch von der finnischen Sozialdemokratischen Partei entgegenzunehmen. Natürlich widersprach dies alles jeglichen Prinzipien des militärischen Lebens. Zwar wussten die Deutschen um die Unzufriedenheit und Ruhelosigkeit un- ter den Jägern, aber sie ließen sie gewähren, vielleicht weil niemand Diszi- plinarmaßnahmen zu ergreifen wagte, oder wegen der allgemeinen Kriegs- müdigkeit. Im Oktober 1917 schienen sich einige Jäger zum ersten Mal von der Vor- herrschaft der Aktivisten befreien zu wollen, jedoch ohne weitere Konse- quenzen. Der Versuch der ”Jäger der Arbeiterklasse“ und einiger Aktivisten, die Finnische Sozialdemokratische Partei auf einen Operationsplan für das Jägerbataillon zu verpflichten, scheiterte. 1916 hatte sich eine Gruppe finnischer Offiziere, die früher in der russischen Armee gedient hatten, der Befreiungsbewegung angeschlossen. Im folgen- den Jahr spielten diese Offiziere eine wachsende Rolle. Sie wollten dazu beitragen, eine im Herbst 1917 beabsichtigte Invasion in Finnland vorzube- reiten. Die Hilfe Deutschlands war wieder eher gering, unterstützt dagegen wurden die Finnen von einigen schwedischen Offizieren. Am sonderbarsten war vielleicht die fehlende Aussage Deutschlands über seine Teilnahme an einer möglichen Invasion im August 1917 („Kommando Litauen“). Erst als die Jäger schon im Aufbruch nach Finnland waren, wurde klar, dass die Invasion ohne deutsche Hilfe stattfinden würde. Auf diese Wei- se war die Expedition von vorne herein zum Scheitern verurteilt und wurde sofort abgeblasen. Man hat vermutet, dass Deutschland durch diese Invasion Druck auf die Flanke Russlands ausüben wollte, während Deutschland selbst seinen An- griff auf Riga begann. Trotz der schwachen Zusammenarbeit begannen die Aktivisten und Deutsch- land den Druck auf die Jäger zu verstärken. Deutschland schiffte heimlich Waffen nach Finnland. Der frühere Oberstleutnant der russischen Armee Wilhelm Thesleff reiste im Oktober 1917 nach Berlin und begann, in Zusam- menarbeit mit den Deutschen den Einsatz der Jäger zu planen. Während die Kooperation zwischen Deutschen und finnischen Aktivisten

104 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg sich besserte, gab es keinerlei Zeichen für eine Invasion nach Finnland und für eine finnische Unabhängigkeit. Im Oktober 1917 äußerte der bekannte Aktivist Kai Donner seine Überzeugung, dass Finnland mit Schweden ver- bunden sein würde. Die finnischen Aktivisten drohten, sich auf die Seite der Alliierten zu schla- gen, da keine deutsche Hilfe in Aussicht war. Als Deutschland die Situation besprechen wollte, zeigte Edvard Hjelt in Kreuznach bei weiteren Verhand- lungen im November 1917 auf, dass Finnland nur mit der Unterstützung Deutschlands von Russland wegbrechen könne. Finnland würde als “nörd- liches Kettenglied” in der Reihe der Länder, die einen Puffer gegen Russland bildeten, wichtig für Deutschland sein. Die Idee war wie eine Kopie des von dem Reichstagsabgeordnete Matthias Ertzbergers schon 1914 dargelegten Konzepts. General versprach nicht viel, er animierte jedoch zu einer Unabhängigkeitserklärung. Nach dem Generalstreik bildete P. E. Svinhufvud, im Glauben an Deutsch- land, in Finnland eine neue Regierung, den sogenannten Unabhängigkeits- senat, und folgte Ludendorffs Rat. Finnland erklärte am 6. Dezember 1917 seine Unabhängigkeit. Eine Unabhängigkeitserklärung ohne Polizeikräfte und eine eigene Armee war kopflos zu einem Zeitpunkt von Unruhen. In Finnland standen fast vier- zigtausend russische Soldaten, die mit der roten Garde verbrüdert waren. Die Jäger in Deutschland wären unmittelbar vor Ort vonnöten gewesen, um die Situation zu beruhigen, aber die meisten von ihnen kamen erst im Feb- ruar 1918 zurück, als ein Bürgerkrieg in Finnland ausgebrochen war und die „Weißen“ und die „Roten“ schon fast einen Monat gegeneinander gekämpft hatten. Die Jäger durften vorher nicht zurückkehren, weil Deutschland einen Sepa- ratfrieden mit der bolschewistischen Regierung in Russland aushandelte und der Außenminister, Richard von Kühlmann diese nicht verärgern wollte. Auch die außenpolitischen Instanzen Finnlands waren vorsichtig. Es ist un- möglich zu sagen, ob eine sofortige Rückkehr der Jäger nach Finnland den Aufstand der Roten hätte verhindern können. Der deutsche Geheimdienst hatte herausgefunden, dass Großbritannien eine Invasion in Murmansk vorbereitete und Deutschland von dorther bedro- hen würde. Aus diesem Grund trat Deutschland in diesen Konflikt ein. Es ist möglich, dass die Rückführung der Jäger absichtlich verzögert worden war. Finnlands Stellung wurde so prekär, dass seine Regierung (der Senat) sich gezwungen sah, Deutschland Ende Februar 1918 um Hilfe zu bitten, trotz der Warnungen des Oberbefehlshabers der „Weißen“, General Mannerheim. Auf diese Weise hatte Deutschland den notwendigen Anlass für seine Inter-

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 105 vention. Die deutsche Militärexpedition war für Lenin abschreckend genug, um die Rebellen nicht zu unterstützen. Russland blieb sehr passiv. Die meisten Finnen heute wissen nicht, dass Finnland und Deutschland im März 1918 einen Friedensvertrag mit einem geheimen Zusatzprotokoll schlossen, in dem Finnland sich voll unter Deutschlands Kommando stellte. Dieser Vertrag war unter der Aufsicht des deutschen Außenministers von Kühlmann vorbereitet und vom Reichskanzler Georg von Hertling unter- schrieben worden. Für Finnland unterschrieben die Aktivisten Edvard Hjelt und Rafael Erich auf Rat des Regierungschefs (Reichsverwesers)Svinhuf- vud. Die Deutschen veröffentlichten das Zusatzprotokoll 1918. Gemäß Überein- kunft sollte Finnland alle Kosten der Hilfsexpedition bezahlen. Formal unter- stand sie finnischem Oberbefehl. Die Bedingungen waren jedoch vernich- tend für Finnland. Es war an das deutsche Kaiserreich gekettet. Deutschland bekam Militärstützpunkte an der finnischen Westküste und kommerzielle Vorteile in jeglicher Hinsicht. Im geplanten, aber nicht ratifizierten Militär- Abkommen hätte die finnische Armee dem deutschen Militär unterstanden, d.h. Finnen hätten in den Kämpfe gegen die Franzosen an der Westfront eingesetzt werden können. Reichsverweser Svinhufvud bestellte den deutschen Oberst Konrad von Redern, unter dem unter anderem 90 deutsche Offiziere arbeiteten, zum Chef des Generalstabs und zum Stabschef der Abteilung III, der finnischen Geheimpolizei. Außerdem befanden sich fast 10000 deutsche Soldaten in Finnland. Die deutschen Generale Ludendorff und Rüdiger von der Goltz schrieben später, dass die deutsche Finnlandexpedition auf Deutschlands eigenen militärischen Interessen beruhte. Mannerheim trat aus Protest als Oberbefehlshaber zurück und ging nach Schweden. Die meisten in Deutschland ausgebildeten Jäger unternahmen keine Schritte. Diejenigen, die aus politischen Gründen in Deutschland ge- blieben waren, etwa 400 Jäger, glaubten, die Deutschen seien aus ihrem eigenen militärischen und imperialistischen Interesse nach Finnland gegan- gen. Als der Jägeroberst Aarne Sihvo sich über die Situation wunderte, wur- de er durch von Redern unter Geheimpolizeiaufsicht gestellt. Im Gegensatz zu Reichsverweser Svinhufvud, der gehofft hatte, dass die Deutschen in Finnland bleiben würden, schrieb Oberbefehlshaber Manner- heim an seine Verwandten, dass Finnland ein Vasallenstaat Deutschlands geworden sei. Später wiederholte er die selbe Behauptung in seinen 1951 veröffentlichten Memoiren. Auch viele Forscher hielten Finnlands Unabhän- gigkeit nach dem Krieg für fragwürdig. Die deutschen Truppen im Land gaben den Germanophilen sicherlich ein

106 ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg Gefühl der Sicherheit, aber gleichzeitig bestand die Gefahr eines deutschen Militärputsches. Während der Regierungszeit von J. K. Paasikivi war Finn- land keineswegs ein Wunderland der Demokratie. Als im Oktober-November in Deutschland die Revolution ausbrach, verließen die deutschen Truppen Finnland. Santeri Alkio, Vorsitzender der Reichstagsgruppe des Landbundes (Maalaisliitto) schrieb ziemlich passend: „Deutschland wird fallen, und Finn- land wird seine Freiheit erhalten.“

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Der Autor

Honorarprofessor Dr. phil. Pentti Matti Sakari Lackman, Dozent der Uni- versitäten von Oulu, Turku und Joensuu sowie Rektor der Universität von Oulu, hat u.a. die Jägerbewegung und die Geschichte der Polizei in Finn- land erforscht.

ARCTURUS 7 • 2019 Finnland im 1. Weltkrieg 109

Die Freien und Hansestädte und St.Petersburg

Partikulare Russlandinteressen im deutschen Gesamtstaat

von Ulrich Simon

Redaktion: Robert Schweitzer und Uta- Maria Liertz

Helsinki 2019

ARCTURUS 7 • 2019 Ulrich Simon

Partikulare Russlandinteressen im deutschen Gesamtstaat Die Vertretung von Lübecks Handelsinteressen von den letzten Jahrzehnten selbständiger Außenpolitik bis zum Vertrag von Rapallo1

Einleitung und Themenstellung

taatsrechtlich gesehen war die Hanse ein Unicum. Für die in der Frühen SNeuzeit entstehenden absolutistischen Staaten und ihr Staatsverständnis stießen selbständige diplomatische Beziehungen von Städten zum Erhalt von Handelsprivilegien im Ausland auf Unverständnis bzw. ließen vermuten, die Hanse sei ein den fürstlichen Landesherrschaften gleichzusetzendes souveränes Gebilde. Vom absolutistischen Staatsverständnis her bedeutete die selbständige Handelspolitik der hansischen Gemeinschaft daher so etwas wie einen Eingriff in die fürstlichen Souveränitätsrechte. Dass die Landesherren, für Lübeck war dies seit 1226 der Kaiser, dies hinnahmen, lag u.a. in der immensen Finanzkraft der Städte begründet, die den meist um Bargeld verlegenen Fürsten zugutekam. Wirtschaftlicher Niedergang der Hanse und Erstarken der frühmodernen absolutistischen Staaten gingen einher und führten dazu, dass seit der Mitte des 17. Jahrhunderts nur noch die drei Städte Lübeck, Bremen und Hamburg, inzwischen allesamt Reichsstädte, als Erben der Hanse übrig blieben. Sie überstanden auch das Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation (1803/06) und wurden, zusammen mit Frankfurt am Main, auf dem Wiener Kongress

1 Die zitierte Literatur befindet sich auf dem Stand z.Z. des Vortrags auf der Tagung in St. Petersburg im September 2003. Dasselbe gilt für die aus dem Archiv der Hansestadt Lübeck zitierten Quellen, deren Bezeichnung bzw. Signierung bes. nach dem Jahr 2007 u.a. durch die elektronische Verzeichnung geändert haben mag; sie sind aber ggf. über Konkordanzen auffindbar. Die Signaturen beziehen sich sämtlich auf dieses Archiv (abgekürzt AHL); Archivalien anderer Archive (Hamburg, Bremen, Koblenz, Berlin) wurden nicht herangezogen. – Für die Beschaffung von Aufsätzen der Zeitschrift „Strandgut“ danke ich Herrn Heinz Haaker, Rheinstetten (inzwischen Lübeck), sehr herzlich.

112 ARCTURUS 7 • 2019 (1815) in das neue Staatensystem des Deutschen Bundes als Freie Städte eingegliedert. In dieser Zeit weiteten sie ihre Handelsbeziehungen weltweit aus (z.B. Persien, China, USA usw.). Hiervon kündet eine Reihe von Verträgen2. Während 1866 infolge des preußisch-österreichischen Krieges Frankfurt a.M. seine Selbständigkeit verlor und in den preußischen Staat einverleibt wurde, wurden die drei Hansestädte Mitglieder des Norddeutschen Bundes unter der Führung Preußens und bewahrten diese Selbständigkeit auch im Kaiserreich von 1871 mit eigenen Stimmen im Bundesrat. Die im Ausland unterhaltenen Lübecker oder hanseatischen Konsulate beendeten ihre Tätigkeit im Jahr 1868 und gingen oftmals auf den Norddeutschen Bund, später auf das Kaiserreich über. Verhandlungen über Handel und Schifffahrtsangelegenheiten zwischen Lübeck bzw. den Hansestädten und Russland gab es im 19. Jahrhundert verschiedentlich, wobei auch besonders Finnland für Lübecks Kaufleute eine Rolle zu spielen begann.3 Zu den Themen der Verhandlungen gehörten vor allem immer wieder Zollfragen, die Behandlung von Ausländern auf russischen Schiffen, die Gleichstellung mit Schiffen anderer Nationen sowie die Auswanderung nach Russland und die Dampfschifffahrtsverbindung zwischen Lübeck und St. Petersburg4. Mit dem Verlust der selbständigen Außenpolitik in Lübeck werden die Möglichkeiten geringer, in der eigenen städtischen Überlieferung die politische Willensbildung und Einflussnahme auf Handelsvergünstigungen mit dem Ausland, hier speziell mit Russland und den zu ihm gehörenden Provinzen, zu verfolgen. Es ensteht daher die Frage, ob sie überhaupt noch möglich, notwendig oder existent war bzw.

2 Vgl. hierzu zuletzt: Antjekathrin Graßmann, Hanse weltweit? Zu den Konsulaten Lübecks, Bremens und Hamburgs im 19. Jahrhundert, in: Hansische Studien 12, Trier 2001, S. 43-65, mit weiterführender Literatur. 3 Die jüngste diesbezügliche Vertragsurkunde im Urkundenbestand Ruthenica des AHL ist die „Deklaration des kaiserlich russischen Gesandten in Hamburg, Staatsrat von Koudriaffsky [Kudrjavskij], betreffend Aufhebung der Abzugssteuer von den aus Russland nach Lübeck gehenden Erbschaften und anderweitigem Vermögen“ von 1860 Dez. 8/20 (Ruthenica 39). Sie ist von der kriegsbedingten Auslagerung der Lübecker Archivalien bisher nicht zurückgekehrt. ‑ Die Verhandlungen der Hansestädte mit Russland, u.a. über den Handelsverkehr mit Finnland, spiegeln sich in den Jahren 1842-1843 und 1845-1846 in den Akten des Senats (AHL Altes Senatsarchiv (im Folgenden ASA) Externa, Ruthenica 68 und 69) wider. 4 ASA Externa, Ruthenica 67 - 80 (1840-1869). – Von allgemein bekannten, bedeutenden Orten wird nur die deutsche Namensform angegeben, ebenso wenn die nicht deutsche Namensform nur orthographisch abweicht. Im Einklang mit der Sprache der Quellen sind Orte in Finnland mit ihrem schwedischsprachigen, Orte im Baltikum mit ihrem deutschsprachigen Namen aufgeführt, der finnischsprachige bzw. der in der jeweiligen Baltischen Sprache wird bei der ersten Erwähnung hinzugefügt.

ARCTURUS 7 • 2019 113 ob und wie sie gegebenenfalls weiterhin, unter geänderten administrativen Bedingungen, geführt wurde. Unter der Großhandel treibenden Kaufleuteschaft der Stadt Lübeck spielten traditionsgemäß die Novgorodfahrer neben den Riga- und Revalfahrern eine entscheidende Rolle im Handel mit Russland, dem Baltikum und Finnland. Durch die Verfassungsänderung von 1848 büßten sie allerdings ihre gleichzeitig innegehabte Funktion als bürgerschaftliches Kollegium in der Mitregierung der Stadt ein, existierten jedoch bis zur Bildung der Handelskammer im Jahr 1853 als selbständiges Kollegium weiter. Hier stellt sich nun die Frage, ob es nach dem Wegfall einer für spezielle Handelsregionen zuständigen Kaufleutevereinigung mit eigenem Lade- und Löschplatz noch möglich ist festzustellen, welche Lübecker Handelshäuser weiterhin Russlandhandel betrieben. Welchen Stellenwert besaß dieser Handel jetzt? War die neu gegründete Handelskammer ein Sprachrohr für u.a. im Russlandhandel engagierte Handelshäuser oder Firmen? Nahm sie nur Einfluss auf die städtische Politik, oder wirkte sie gegebenenfalls auch auf die Außenpolitik des Reichs ein? Da das Schriftgut einzelner Firmen und Handelshäuser nicht so selbstverständlich überliefert ist wie das eines kaufmännischen Kollegiums, das u.a. wegen seiner Mitregierung als bürgerschaftliches Kollegium gehalten war, eine eigene Registratur zu unterhalten, fragt es sich, ob sich Exponenten im Russlandhandel herausfinden lassen. Nach politischen oder administrativen Veränderungen in einem Land oder in einer Stadt sind frühere Funktionsträger nicht unbedingt sofort verschwunden oder mit anderen Aufgaben betraut. Hier soll daher zunächst gefragt werden, welche Personen bis 1848 bzw. 1853 bei den Novgorodfahrern eine hervorgehobene Position besessen hatten. Danach wird gefragt werden, inwieweit festgestellt werden kann, ob bzw. dass sie ihre bisherigen Ziele weiterverfolgen konnten.

Personelle Kontinuitäten im Russlandhandel

Der „Lübeckische Staats-Kalender auf das Schaltjahr 1848“ führt für die „Nowgorodfahrer-Compagnie“ Wilhelm Jacob Minlos als wortführenden Ältermann und Johann Friedrich von Brocken als Ältermann auf5. Letzterer, im Jahr 1797 geboren und 1864 gestorben, war Kaufmann in der Königstraße. Sein Geschäft lag später in der Hundestraße. Seit 1856/57 fungierte er als preußischer Konsul in Lübeck6. Wilhelm Jacob Minlos, im Jahr 1782 geboren,

5 S. 64. 6 AHL, Genealogisches Register sowie ASA Externa, Borussica 202, Adressbücher 1848 u. 1864.

114 ARCTURUS 7 • 2019 gestorben am 11. Juni 1852, war in erster Ehe mit Johanna Magdalena Friederike Hoyer, nach deren Tod 1817 in zweiter Ehe 1819 mit Friederike Auguste Amalie Stötzer verheiratet. Diese war Tochter des 1812 in Odessa verstorbenen Regierungsrats Ludwig Wilhelm Stötzer7. Wilhelm Jacob Minlos trat 1807 in die 1726 von Johann Friedrich Brühl gegründete Firma ein, die fortan den Namen „Thöl & Minlos“ trug. Wilhelm Jacob war Mitglied sowohl der Schonenfahrer- als auch der Novgorodfahrerkompanie8. Sein 1826 geborener Sohn Ludwig Wilhelm Minlos betätigte sich 10 Jahre lang im Ausland, darunter u.a. in Riga und St. Petersburg, bis er nach dem Tod des Vaters 1852 im Jahr 1855 die Firma übernahm, die neben Spedition und Kommission auch Dampfschiffreederei betrieb9. Ludwig Wilhelm Minlos war von 1860-1871 Mitglied der Handelskammer, zuletzt deren stellvertretender Präses, trat 1871 in den Senat ein, wo er u.a. in der Kommission für Handel und Schifffahrt tätig war. Nachdem er 1877 aus dem Senat ausgeschieden war, zog er nach Bonn, wo er 1894 starb10. Von seinen Söhnen waren im Jahr 1894 Eduard Kaufmann in London und Ludwig Kaufmann in St. Petersburg11. Es wird deutlich, dass Mitglieder der Familie Minlos auch über die Zäsur des Jahres 1853 hinaus, die den kaufmännischen Kollegien ein Ende bereitete, aktiv im Russlandhandel tätig waren. Nach dem Tod des Wilhelm Ludwig Minlos 1894 trat als neuer Teilhaber Hermann Lange in die Firma Minlos ein; 1895 kam der Sohn des Verstorbenen, Alfred Minlos, hinzu. Die Firma gründete 1909 eine Zweigniederlassung in Stettin und 1921 weitere in Berlin und Leipzig12. Vor allem erweckt die Person des Hermann Lange Interesse, der von 1876-1900 der Lübecker Handelskammer angehörte und von 1889 bis 1898 deren Präses war; denn er erwarb sich große Verdienste bei der Vorbereitung des deutsch-russischen Handelsvertrages in den Jahren 1893

7 AHL, Genealogisches Register. Wo Stötzer Regierungsrat war, ist nicht zu eruieren. Inwieweit der Todesort Stötzers, Odessa, auf engere Beziehungen zu Russland hinweist, ist ebenfalls vorerst nicht zu ermitteln. 8 Paul Plöger, Der Lübecker Hafen 1925, Lübeck 1925, S. 155-157 (Abriss der Firmengeschichte Minlos). Zur Geschichte der Reederei Minlos vgl. Reinhart Schmelzkopf, Wm Minlos, Lübeck, in: Strandgut 52, Cuxhaven 2002, S. 25-32. 9 E(mil) F(erdinand) Fehling, Lübeckische Ratslinie von den Anfängen der Stadt bis zur Gegenwart (Veröffentlichungen zur Geschichte der Freien und Hansestadt Lübeck 7,1) Lübeck 1925, Ndr. 1978, Nr. 1007 nennt als weitere Stationen Rotterdam und Antwerpen. Vgl. auch Plöger (wie Anm. 8), S. 157. – Ein Eduard Minlos, geb. 1814, ebenfalls Kaufmannssohn aus Lübeck, war seit 1836 in Russland tätig und bemühte sich 1850 vergeblich um Bürgerrecht in Finnland; s. Robert Schweitzer, Lübecker in Finnland (Veröffentlichungen der Stiftung zur Förderung deutscher Kultur 2), o.O. [Helsinki] 1991, S. 82. 10 Fehling (wie vor. Anm.) Nr. 1007, Plöger (wie vor. Anm.) S. 157. 11 AHL, Handelsregister (im Folgenden HR) A 147, 29. Jan. 1895 (Übergabe der Sterbeurkunde). 12 HR A 147.

ARCTURUS 7 • 2019 115 und 1894 als einer der drei Vertreter des gesamten deutschen Handels13. Aus den hierüber erhaltenen Akten wird deutlich, dass Lübecks Hafen und Kaufmannschaft auch nach der Reichsgründung von 1871 eine wichtige Rolle im deutschen Russlandhandel spielten. Hierauf soll später näher eingegangen werden. Wenn davon ausgegangen wird, dass potentiell die größten Fachleute für den Russlandhandel in der Novgorodfahrerkompanie etabliert waren, sollen zunächst die Mitglieder dieses Kollegiums zusammengestellt werden, wie es sich zuletzt präsentiert hat. Nachdem 1853 die Handelskammer gegründet worden war, wurden die Kaufleute in die Kaufmannsrolle eingeschrieben. Diese Rolle wurde 1856 revidiert. Ergänzend zu den Personennamen erscheint in der Rolle das Eintrittsdatum in das frühere Kollegium sowie der Name des Kollegiums selbst14. Die folgende Namenliste enthält somit Mitglieder des Kollegiums der Novgorodfahrer zum Zeitpunkt seiner Auflösung15:

Name, Vorname Eintrittsdatum Todesdatum Behrens, Heinrich Andreas 1826 Jan. 2 v. Brocken, Johann Friedrich 1824 Mai 10 Cordes, Johann Jochim 1831 Mai 4 Dettmer, Johann Carl Heinrich 1814 Feb. 28 1856 Okt. 10 Eschenburg, Johann Daniel (Senator) 1836 Mai 30 Forrer, Georg Ludwig 1808 Sep. 19 1857 Nov. 2 Gaedertz, Heinrich 1844 Mai 21 Müller, Ludwig (Senator) 1809 Mai 19 Meister, Johann Hermann 1841 Nov. 15 Petit, Charles 1838 Dez. 15 Pfeiffer, Johannes 1847 Jan. 11 Platzmann, Conrad 1838 Dez. 17 Rodde, Peter Hinrich 1847 Jan. 11 Siemsen, August Ferdinand 1839 Sep. 27 Uffhausen, J.J. 1824 Witte, Johann Joachim 1825 Jan. 26 Zeller, Gustav Wilhelm 1838 Nov. 5

13 Plöger (wie Anm. 8) S. 157. 14 Handelskammer Nr. 8 und 9. 15 Ergänzend sei hier auch der aus der Kaufmannsrolle von 1856 rekonstruierte ungefähre letzte Stand der Mitglieder der Rigafahrer wiedergegeben (Handelskammer Nr. 9): Borries, Johann Heinrich von, Krämer-Compagnie 1816 April 25, Rigafahrer 1816 Aug. 10.- Brunswig, Georg Heinrich, 1821 Sep. 30.- Heyke, Daniel Heinrich, Senator, 1822 Juli 26.- Rehder, August Peter, Krämer-Compagnie 1814 Okt. 10, Rigafahrer 1816 Aug. 7.- Sommer, Friedrich Christian Johann 1822 Juli 26.- Wiens, Detlev Hinrich 1824 Mai 10.- Als früheres Mitglied wird G.H.C. Ahrens, eingetreten 1827, geführt. Revalfahrer werden unter den in die Kaufmannschaft eintretenden Personen gar nicht mehr aufgeführt. Die Städte Riga und Reval (estn. Tallinn) waren traditionelle Zielorte, um den Handel ins Innere Russlands abzuwickeln.

116 ARCTURUS 7 • 2019 Ältermann Wilhelm Jacob Minlos war 1852 bereits gestorben und wird daher hier nicht mehr aufgeführt. Sein Sohn Ludwig Wilhelm steht nach Übernahme des väterlichen Geschäfts in der Rolle mit Eintrittsdatum 1855 April 13 darin, natürlich ohne Zugehörigkeit zu einem Kollegium16. Im September 1843 wurde der Lübecker Rat auf eine Eingabe der Lübecker Bürgerschaft hin zu einer Gesandtschaft nach St. Petersburg veranlasst, um über die für Lübeck nachteiligen finnischen Zolltarife zu verhandeln. In der Bürgerschaft dominierten noch verfassungsgemäß die Kollegien der Großkaufleute. Fragen wir, von welchen der Kollegien Initiativen nachgewiesen werden können, so zeigt sich, dass die Stockholmfahrer diesen Punkt besonders ausführlich behandelten. Von diesem „kleinste(n) der großhändlerischen Kollegien“ heißt es, dass sich das Fahrwasser seiner Mitglieder „... nicht nur auf Stockholm, sondern auch [auf] sämtliche finnischen Häfen“ erstreckte17. Auch das Protokoll der Schonenfahrern erwähnt den Verhandlungspunkt „Zollverhältnisse in Finnland“ mit einem Satz. Bei den Stockholmfahrern heißt es ausführlich, dass die „nach Finnland handelnden Kaufleute“ am 1. September 1843 ein Pro Memoria verfasst hätten und den Lübecker Rat bäten, Verhandlungen mit Russland zu führen, „um zu bewirken, dass entweder das Niederlagsrecht, welches für die aus der Nordsee kommenden Waaren bestehe, auf Lübeck ausgedehnt oder auf die wirklichen Producte der betreffenden Länder beschränkt werde“. Der Gesandtschaft möge der hierzu besonders geeignete Dr. Elder beigeordnet werden18. Im Protokoll der Schonenfahrer lesen wir zum 15. September 1843: „1.) Entwurf eines Memorials ad A(ltissimum) S(enatum) die Zollverhältnisse in Finnland und Abordnung einer Gesandtschaft zur Verhandlung darüber betreffend, welcher genehmigt ward“19. Am 16. September 1843 lesen wir in Punkt 13 des Senatsprotokolls, dass die finnischen Zollverhältnisse seit 1839 den Lübecker Handel benachteiligten, weshalb sich der Lübecker Senat entschlossen hätte, eine Gesandtschaft nach St. Petersburg zu entsenden, um über günstigere Bedingungen für Lübeck zu verhandeln. Der Gesandtschaft sollten wunschgemäß Senatsmitglied Dr. jur. Elder, außerdem Syndikus Dr. Buchholz angehören20. In der Begründung heißt es, Lübeck

16 Die Kaufmannsrolle muss also nicht in jedem Fall exakt den letzten Stand der Mitglieder von Kollegien widerspiegeln, ist hierzu aber unbedingt hilfreich. 17 Uwe Kühl, Von der kaufmännischen Korporation zur kommerziellen Interessenvertretung. Kaufmannschaft und Handelskammer zu Lübeck im 19. Jahrhundert bis zur Reichsgründung (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Reihe B, Bd. 22) Lübeck 1993, S. 25. 18 AHL, Archiv der Stockholmfahrer Nr. 9, Protokoll, 13. September 1843 unter der Überschrift „Finnländischer Handel“. 19 Ebd., Nr. 222. 20 AHL, Senatsprotokoll, 2. Serie, 1843, Sep. 16 Nr. 13.

ARCTURUS 7 • 2019 117 wolle dieselben „Vortheile ... erlangen, welche in der Seeglations-Ordnung für Finnland vom J(ahre) 1839 den Häfen außerhalb des Sundes bei der Einfuhr ... in finnische Häfen ... auch Hamburg zur großen Benachtheiligung des hiesigen Handels zu Theil geworden“. Versuchen wir, die Kaufleute, die am 11. September 1843 eine Denkschrift an das Commerz-Collegium wegen Beeinträchtigung des Lübecker Handels mit Finnland durch Zollbevorzugung von Kaufleuten aus Häfen außerhalb des Sundes formulierten, Kollegien zuzuordnen, so ergibt sich folgendes Bild: Die Denkschrift unterschrieben 15 Lübecker Großhandelsfirmen.21, und zwar: Havemann & Sohn, W. Bothe, J.L. Bruhns, Souchay & Suckau, J.J. Wedel, C. Grammann & Sohn, L. Harms & Sohn, J. Davenport u. Co., C. Ganslandt, F.W. Cowalsky, Haltermann & Brattström, P. F. Lange & Knuth, L. Behncke, A. P. Rehder und A. Rose22. Hiervon lassen sich nicht alle Firmeninhaber identifizieren. Keiner gehörte jedoch dem Kollegium der Novgorodfahrer an. Zur Kaufleutekompanie zählten zwei, zur Krämerkompanie zwei, zu den den Schonenfahrern und Rigafahrern je einer der Inhaber23. Dies bedeutet, dass damals weder die Novgorod- noch die Riga- oder Revalfahrer auf den Russland- bzw. Finnlandhandel spezialisiert waren bzw. gesondert

21 Hans Karl von Borries, Die Handels- und Schiffahrtsbeziehungen zwischen Lübeck und Finnland. Ein Beitrag zur Geschichte der Ostseewirtschaft (Schriften des Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Univ. Kiel 36) Jena 1923, S. 123 mit Hinweis auf eine Akte des Commerz- Collegii Nr. 105 (vgl. die folgende Anm.). 22 AHL, Commerz-Collegium 58 (frühere Nr. 105) „Erlangung des Zollkredits- und Niederlags- Rechts in Finnland“. 23 Verglichen wurden das Lübecker Adressbuch von 1844 mit den beiden Kaufmannsrollen (Handelskammer Nr. 8 und 9). Nach dem Adressbuch gehörte die Firma Johann Georg Havemann & Sohn J.H. Havemann; als Mitglied eines Kollegiums lässt sich aber allein Johann Friedrich Andreas Havemann für die Schonenfahrer nachweisen, der mit der Firma Havemann und Sohn nicht in Zusammenhang stehen dürfte. ‑ W. Bothe lässt sich gar nicht nachweisen. ‑ Bei J.L. Bruhns ist die Weinhandlung Untertrave/Ecke Braunstraße (1844) bzw. Untertrave/Ecke Holstenstraße (1858) gemeint, deren Inhaber laut Adressbuch 1844 Peter Gottlieb Bruhns, 1858 Carl Bruhns waren. Carl Bruhns war Schonenfahrer (Eintritt 1833; vgl. Handelskammer 9).- Für Firma Souchay & Suckau fehlen im Adressbuch die Vornamen der Inhaber. Ein Johannes Albrecht Suckau wurde nach Gründung der Handelskammer in die Kaufmannschaft aufgenommen. ‑ Johann Jacob Wedel findet sich nur im Adressbuch, ebenso steht es mit L(orenz) Harms, J. Davenport u.Co. (Inhaber H.A. Behrens) und P.F. Lange & Knuth. ‑ Alexander Wilhelm Carl Grammann führte die Firma Christian Grammann und Sohn. Er gehörte der Kaufleutekompanie ebenso an wie Conrad Ganslandt. ‑ F.W. Cowalsky lässt sich nicht nachweisen, dafür aber Theodor Heinrich Cowalsky, der Mitglieder der Krämerkompanie war wie auch Paul Friedrich Carl Rose, der die Firma Andreas Rose führte. ‑ Inhaber der Firma Haltermann & Brattström war Heinrich Wilhelm Haltermann, der zum Kollegium der Schonenfahrer zählte. ‑ August Peter Rehder war 1814 bei den Krämern eingetreten, wechselte jedoch schon 1816 zu den Rigafahrern.- Bei L. Behncke kommen sowohl der Inhaber der Weinhandlung Wilhelm Ludwig Behncke, der in keiner Kaufmannsrolle auftaucht, als auch Heinrich Leo Behncke, der der Kaufleutekompanie angehörte, in Frage.

118 ARCTURUS 7 • 2019 Interesse an Handelsvergünstigungen besaßen. Auch die ursprünglich den Finnlandhandel beanspruchenden Stockholmfahrer waren in der Denkschrift nicht eigens vertreten24, hatten aber offenbar nach wie vor, wie ihr Protokoll ausweist, am Finnlandhandel Interesse gezeigt. An Handelserleichterungen waren vielmehr auch Mitglieder anderer Kollegien bzw. Personen, die keinem Kollegium zuzurechnen waren, interessiert. Nehmen wir allerdings die Namen der Firmen, die 1891 in Lübeck Zuckerhandel mit Finnland betrieben, so finden wir mit Haltermann & Brattström und J.J. Wedel zwei Handelshäuser wieder, die schon 1843 im Finnlandhandel tätig gewesen waren25. Von den übrigen Handelshäusern, die in den 1890er Jahren Interesse an Vergünstigungen im Finnland- und Russlandhandel bekundeten, sind jedoch keine in den oben behandelten Zusammenhängen bereits genannt worden.

Das Verhältnis Lübecks zu Russland vor der Gründung des Deutschen Reiches

Lübeck bzw. die drei hansischen Schwesterstädte hatten mit denjenigen Nationalstaaten, die zu ihren wichtigsten Handelspartnern zählten, im Laufe der Neuzeit Handels- und Schifffahrtsverträge abgeschlossen. Dies setzte sich vor allem in der Zeit zwischen 1815 und 1866 weltweit fort. Der Übergang von reinen Privilegienvergaben und -bestätigungen, wie sie seit dem Mittelalter üblich waren, zu regelrechten Handels- und Schifffahrtsverträgen dürfte fließend gewesen sein. Schon die Verträge zwischen Lübeck und Frankreich unter Ludwig XI. 1463 und 1464 können als ausgesprochene Handelsverträge gelten26. In diesem Zusammenhang ist es daher bemerkenswert, dass trotz der seit Beginn des hansischen Handels nach wie vor zahlreichen Warenumschlagplätze mit dem klassischen Handelspartner Russland vor Gründung des wilhelminischen Kaiserreichs kein entsprechendes Vertragswerk zustandegekommen ist. Der im Oktober 1782 zwischen Dänemark und Russland abgeschlossene „Freundschafts und Kommerztraktat“ warf bei den Hansestädten allerdings die Frage auf,

24 Das Kollegium der Stockholmfahrer sei hier zum Zeitpunkt der Auflösung 1853 ebenfalls rekonstruiert (Archiv der Handelskammer 9): Andreas Hansen, eingetreten 12. Feb. 1830, Carl Heinrich Lenschau, Krämer 15. Sep. 1823, Stockholmfahrer 18. März 1827, Josias Aemilius Mielck, eingetreten 30. Mai 1800, Georg Heinrich Nölting, Senator, eingetreten 12. April 1820, und Georg Heinrich Voss, eingetreten 10. Mai 1824. 25 Die Namen der übrigen Handelshäuser waren Buck & Willmann, Piehl & Fehling, Cabell & Schwartzkopf, Taht & Severin, F.O. Klingström, die alle entweder mit Kolonialwaren handelten oder Kommissions- und Speditionsgeschäfte betrieben (28. Mai 1891, NSA I, 9, 11). 26 AHL, Gallica 9 und 10 (1463 Okt. und 1464 April).

ARCTURUS 7 • 2019 119 „ob man zum besten derselben auch bei Russland etwas auszuwürcken einen Versuch machen möchte“27. Noch 1787 wurden Wünsche formuliert, was von der Kaiserin zu erbitten sein würde, nämlich der freie Gottesdienst, „so wie die Protestanten in Russland damit allergnädigst begünstigt sind“, Gleichstellung mit den anderen Handel treibenden Nationen durch Befreiung vom holländischen Reichstalerzoll, in Kriegszeiten Aufnahme in ein Bündnis bewaffneter Neutralität [und] Befreiung von militärischer Einquartierung. In Lübeck ging man davon aus, dass Hamburg „nach dem Commerce- Traktat sonders streben würde, Lübeck und Bremen daher nachzuziehen gezwungen sein würden“28. Nach den Äußerungen des Lübecker Agenten in St. Petersburg Johann Nicolaus Willebrand, der ebenso auch Hamburg, Bremen, Danzig und Mecklenburg-Schwerin vertrat29, erachte es das russische kaiserliche Ministerium als Geringschätzung, wenn nicht alle drei Hansestädte zusammen um einen Handelsvertrag bäten. Willebrand bestätigte die Befürchtung, dass Hamburg wohl einen alleinigen Vorstoß plane30. Indessen führten die Verhandlungen weder mit Hamburg noch mit den beiden anderen Hansestädten zu einem Vertragsabschluss31. Für das 19. Jahrhundert gab es also keine vertragliche Grundlage, auf welcher der hanseatische Russlandhandel abgewickelt wurde. Es mag durchaus sein, dass das Bedürfnis danach in Lübeck gar nicht so stark bemerkbar war, weil „das Interesse unseres Handels ... unverkennbar in Russland nur schwach vertreten war“, wie Wilhelm (Jacob) Minlos, der schon genannte Ältermann der Lübecker Novgorodfahrer, am 1. Dezember 1844 äußerte. Die von ihm der Kommission für Handel und Schifffahrt mitgeteilten Straffälle, die bei Warensendungen nach Russland vorgekommen waren, erreichten daher wohl noch nicht die Reizschwelle, die zu politischem Vorgehen nötigten32

27 ASA Externa, Ruthenica 56, 27. Jan. 1783. Die Kommission „in hanseaticis“ erhielt vom Lübecker Rat am 24. Jan. 1783 zwar einen Auftrag zur Untersuchung, und am 30. April 1784 zählt ein Schreiben von privater Hand eine Reihe von Vorteilen auf, die ein Vertrag mit Russland bieten könnte, von einem Abschluss ist jedoch nichts bekannt. 28 ASA Externa, Ruthenica 56, zitiert aus der „Nochmaligen commissarischen Anzeige, den bey Rusland zu suchenden Commerz-Traktat betr.“, vom 26. März 1787. In Lübeck beschäftigte sich die Kommerz-Kommission mit dem Gegenstand. 29 ASA Externa, Ruthenica 130 (1761 ff.). 30 ASA Externa, Ruthenica 56, 26. März 1787 (s.o.): „Nach den neuesten Nachrichten möchte die Reichs-Stadt Hamburg wohl nicht gewillt seyn, um solchen Traktat gemeinschaftlich mit den anderen beiden Hanse-Städten sich zu bewerben“. 31 Freundliche Auskunft von Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt, Staatsarchiv Hamburg.. 32 Minlos an Syndikus Dr. Elder, 1. Dez. 1844 (ASA Interna, Commercium, 66,1). Minlos schreibt weiter, „es dürfte an der Zeit und von Nutzen sein, Fälle wie die vorliegenden der russischen Regierung zur Kenntnis zu bringen, da die verhängten Strafen nur von einer zu rigorosen Auslegung der Zollgesetze dictirt zu sein scheinen“. Minlos hatte am 29. Nov. 1844 an

120 ARCTURUS 7 • 2019 Zollpolitische Änderungen wurden in Lübeck gleichwohl beobachtet und fanden ihren Niederschlag in den Akten. So teilte Bürgermeister Heinrich Brehmer Ende 1851 aus Dresden nach Lübeck mit, dass seit Beginn des Jahres Polen von Russland nicht mehr zolltariflich getrennt sei33. Da die russischen Differentialzölle die Landgrenze begünstigten, entstand ein Nachteil für ausländische Exporteure zur See, als die russischen Häfen St. Petersburg und Riga mit der Eisenbahn vom südlichen Europa erreicht werden konnten. Hierzu trug die 1861 neu geschaffene Verbindung zwischen dem ostpreußischen Eydtkuhnen (heute russ. Černyševskoe) und dem russischen Wirballen (lit. Virbalis, russ. früher Veržbolovo) bei. Der Vorstand der Stettiner Kaufmannschaft wandte sich daher am 31. März 1863 in der Hoffnung an den Lübecker Senat, dass dieser sich mit dem Magistrat von Stettin ebenso für die Abschaffung der russischen Differentialzölle aussprechen und der Eingabe an die Börsenkomitees von St. Petersburg und Riga anschließen würde34. Der Lübecker Senat hielt es allerdings für angebracht, eigene Interessen durch einen zukünftig abzuschließenden Handelsvertrag mit Russland und Preußen bzw. den Staaten, die dem deutschen Zollverein angehörten, „fester zu regeln“35. Ein solcher Vertrag kam allerdings nicht zustande; außerdem trat Lübeck dem Zollverein erst 1868 bei36. Hervorzuheben ist jedoch an dieser Stelle, dass Lübeck seine aus dem Bereich von Justiz- und Militärverwaltung bereits genugsam bekannte Haltung, sich an die übermächtige norddeutsche Territorialmacht Preußen anzulehnen, auch in der Handelspolitik wahrnahm. Die Denkschrift des Deutschen Handelstages, welche im März 1864 an die Trave gesandt worden war, legt ausführlich dar, dass es bei den Hansestädten aufgrund eines „verhältnismäßig liberalen Finanz- und Zollsystems“ bis zum Jahr 1823 keinen Bedarf gegeben hatte, mit Russland einen Handels- und Schifffahrtsvertrag auszuhandeln37. Erst mit diesem Jahr sei Russland dazu übergegangen, die Industrialisierung im eigenen Lande durch ein Prohibitivzollsystem zu fördern. In der Folgezeit entstanden in der Textilbranche Fertigungsbetriebe, produzierten allerdings für den die Kommission für Handel und Schiffahrt über eine Reihe von Straffällen berichtet, „in welche ich bei Sendungen von Waaren nach St. Petersburg gerathen bin...“, und nennt als seinen St. Petersburger Geschäftspartner „Chr. Ludwig Zurhosen“ (ebd.). 33 Mitteilung vom 26. März 1851 (ASA Externa, Ruthenica 73). 34 Stettin, 31. März 1863 (ASA Externa, Ruthenica 73). 35 29. Juli 1863, Extractus Protocolli Curiae Lub. (ASA Externa, Ruthenica 73). 36 ASA Externa, Ruthenica 73. Der Akte liegt als jüngstes Schriftstück eine Denkschrift vom Februar 1864 bei. 37 16. März 1864, Extractus Protocolli Curiae Lub“; die gedruckte Denkschrift, Berlin, Feb. 1864 liegt bei. Aus ihr wird im folgenden referiert.

ARCTURUS 7 • 2019 121 Export ungeeignete schlechte und zu teuere Waren. Dahingegen wurde der stärkste Sektor der russischen Volkswirtschaft, die Landwirtschaft, sträflich vernachlässigt. Von 1850 an lockerte das Zarenreich dann allmählich die Einfuhrbedingungen vom anfänglichen Importverbot zu anfangs sehr hohen Zöllen. Erschwerend für den direkten Warenaustausch wirkte jedoch vor allem das sog. Gildewesen, das es nur russischen Kaufleuten „erster Gilde [erlaubte], in unbeschränkten Summen Waaren vom Auslande [zu] beziehen“, so dass sich z.B. „ein preußischer Geschäftsmann in Polen und Rußland der kostspieligen Vermittlung eines Gildekaufmannes bedienen“ musste38. Außerdem war die Verfolgung eines russischen Schuldners für einen ausländischen Gläubiger quasi unmöglich, und man zitierte den Ausspruch des russischen Finanzexperten Tengoborski: „En Russie, le debiteur ne paie que, quand il veut, ce qu’ il veut, et comme il veut“39. Dennoch wurden zwischen Lübeck und Russland im Lauf des 19. Jahrhunderts verschiedene Themen des Handels- und Schiffsverkehrs, u.a. Fragen der Gleichstellung, verhandelt und geregelt40. Ebenso unterhielten beide Staaten wechselseitig diplomatische Vertretungen. Mit Beitritt Lübecks zum Norddeutschen Bund (18. August 1866) verlor Lübeck seine außenpolitische Selbständigkeit. Sein Konsul Grevesmühl in Moskau wurde abberufen, der lübeckische Generalkonsul von Witt zu St. Petersburg wurde vom Norddeutschen Bund übernommen. Der Norddeutsche Bund übernahm auch die Lübecker Konsuln Grundfeldt in den finnischen Städten Ny Karleby (finn. Uusikaarlepyy), Wolff in Wasa (finn. Vaasa), Carlström in Christinestad (finn. Kristiinankaupunki), Wentzel in Björneborg (finn. Pori), Voß inÅbo (finn. Turku), Harff in Helsingfors (finn. Helsinki), Åberg in Borgå (finn. Porvoo) sowie Vizekonsul Lüders in St.Petersburgs befestigtem Vorhafen Kronstadt41. Auch in Riga und Reval, wo traditionell reger Schiffsverkehr zu verbuchen war, wurden bis zum Verlust der selbständigen Lübecker Außenpolitik Konsulate unterhalten.42

38 Denkschrift S. 2 f., Zitate S. 18 und 19 (ASA Externa, Ruthenica 73). 39 Ebd. S. 19. 40 ASA Externa, Ruthenica, passim. 41 Ebd., 154. 42 Ebd., 167 und 168. ‑ Alle drei Hansestädte pflogen diplomatische Beziehungen mit Russland und unterhielten in St. Petersburg ein Generalkonsulat sowie in Archangelk, Kronstadt, Narva, Odessa, Reval, Riga und Wiborg (finn. Viipuri, schwed. Viborg, heute russ. Vyborg) Konsulate. Ganz allein unterhielt Hamburg lediglich ein Konsulat in Rostov am Don, Bremen gar keines. Lübeck unterhielt zusammen mit Hamburg Konsulate in Helsingfors (Helsinki) und Moskau. Allein unterhielt Lübeck dagegen Konsulate in Åbo, Björneborg, Borgå, Christinestad, Libau, Ny Carleby (finn. Uusikaarlepyy), Taganrog, Uleåborg (finn. Oulu) und Wasa (Graßmann (wie Anm. 2) S. 64); zu den Konsulaten in Finnland erschöpfend Unio Sarlin, Corps consulaire en Finlande 1 (1779-1917) (Genealogiska samfundet i Finlands skrifter 28) Turku 1971). Hieraus ist ganz

122 ARCTURUS 7 • 2019 Lübecks Rolle bei den Verhandlungen zum deutsch- russischen Handelsvertrag 1894

Außenpolitische Voraussetzungen Das außenpolitische Verhältnis des Deutschen Kaiserreichs zu Russland war geprägt vom russisch-österreichischen Gegensatz einerseits und vom deutsch-französischen Gegensatz andererseits. Das vordem vorhandene freundschaftliche Verhältnis, vor allem der russische Einfluss auf Preußen, wurde zusehends distanzierter, zumal beide Staaten auch in wirtschaftlicher Hinsicht rivalisierten. Aufgrund des weltweiten Sinkens der Getreidepreise seit den 1870er Jahren wurden Einfuhrzölle erhoben, die schnell zu einem „allgemeinen Zollkrieg“ führten43. Gegen Ende der Ära des Reichskanzlers versicherten sich Deutschland und Russland im sogenannten Rückversicherungsvertrag vom 18. Juni 1887 unter der Bedingung, jeweils unprovoziert angegriffen worden zu sein, gegenseitiger Neutralität. Dennoch verschlechterten sich die deutsch-russischen Beziehungen schon von Herbst 1887 an zusehends, und Russland stand einem Bündnis mit Frankreich näher, als es der soeben mit Deutschland geschlossene Vertrag hätte glauben machen können, ja die deutsche Generalität rechnete sogar damit, zu einem Präventivkrieg gegen Russland schreiten zu müssen44. Nach der Abdankung von Bismarcks 1890 begann das Deutsche Reich, imperialistische Ziele zu verfolgen. Anders als Russland war das Reich an der Verlängerung des im Juni 1890 ablaufenden Rückversicherungsvertrags nicht interessiert. Reichskanzler General von Caprivi und Freiherr Marschall von Bieberstein, Staatssekretär des Auswärtigen Amts, sowie andere sahen in dem Vertrag das deutsche Verhältnis vor allem zu Österreich, aber auch zu Italien, England und der Türkei, gefährdet. Mit der Erneuerung des Dreibundes (6. Mai 1891) zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien war daher das Signal für eine russische Annäherung an Frankreich gegeben. So wurde zwischen beiden am 18. August 1892 eine Militärkonvention unterzeichnet und am 27. Dez. 1893 ratifiziert45. Am Anfang der 1890er Jahre konnte Russland deutlich ablesbar, dass von allen drei Hansestädten Lübeck sich am meisten im Russland- bzw. Finnlandhandel engagierte, Bremen hingegen am wenigsten. 43 Hierzu bes. Hartmut König, Die Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen 1871- 1890 in der sowjetischen Geschichtsschreibung, in: Rußland und Deutschland (Kieler Historische Studien 22), hrsg. von Uwe Liszkowski (=Festschrift für Georg von Rauch). Stuttgart 1974, S. 239-256. 44 Karl Erich Born, Von der Reichsgründung bis zum 1. Weltkrieg, in: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. 9. Aufl. hrsg. von Herbert Grundmann, Bd. 3. Stuttgart 1979, S. 307 ff. 45 Ebd., S. 332 ff.

ARCTURUS 7 • 2019 123 außenpolitisch nicht mehr als der natürliche Bündnispartner Deutschlands angesehen werden.

Innenpolitische Voraussetzungen Der Verlust einer selbständigen Außen- und Handelspolitik durch Bildung der von Preußen beherrschten neuen Staatsgebilde Norddeutscher Bund und Deutsches Reich wurde von den Hansestädten durchaus als einschneidende Maßnahme empfunden. Für Hamburg ist dies auch eingehend dargelegt worden46. Hier fürchtete man um die Wahrung des Schutzes der Handelsschiffe unter der in der ganzen Welt bekannten und respektierten Flagge und um Beibehaltung der ebenso weltweit von den Hansestädten geschlossenen Handelsverträge. Während mit den eigenen, in der ganzen Welt vertretenen Konsuln langjährig gute Erfahrungen zu verbuchen waren, richteten sich anfänglich Bedenken auch gegen das nun vom Norddeutschen Bund geführte Konsulatswesen im Ausland. Hamburg erreichte bei den Verhandlungen, dass seine Vorschläge bei der Besetzung der Bundeskonsulate überwiegend berücksichtigt wurden, bei der Korrespondenz zwischen den diplomatischen Vertretern und der Hansestadt musste jedoch der Umweg über Berlin in Kauf genommen werden, der als hinderliche Verzögerung eingestuft wurde47. In Lübeck wurde die Integration in den Norddeutschen Bund von der Kaufmannschaft zwar als Markstein gesehen, doch waren die Reaktionen eher von Wehmut als von Entschlusskraft zur Durchsetzung eigener politischer Vorstellungen begleitet48. Die eigentliche Willensbildung der deutschen Gliedstaaten für die Außenpolitik des Reichs vollzog sich im Bundesrat. Während Preußen etwa zwei Drittel des Reichsgebietes repräsentierte, besaß es im Bundesrat von insgesamt 58 Stimmen nur 17. Bevor der Reichstag Gesetze verabschiedete, wurden sie besonders im Bundesrat und seinen Ausschüssen beraten. Lübeck besaß im Bundesrat als Kleinstaat eine Stimme. Dem Bundesrat gehörten laut Reichsverfassung acht ständige Ausschüsse an. Jeder Ausschuss bestand in der Regel aus sieben Mitgliedern, und es führte in der Regel darin ein Staat nur eine Stimme. „Die Aufgabe der ständigen Vertretung und Stimmführung im Bundesrat fiel meist den Gesandten zu, die am preußischen Hofe akkreditiert waren und die Bundesstaaten bei der preußischen und

46 Hans-Georg Schönhoff, Hamburg im Bundesrat. Die Mitwirkung Hamburgs an der Bildung des Reichswillens 1867-1890 (Veröffentlichungen des Vereins für Hamburgische Geschichte 22) Hamburg 1967, S. 33 ff. und 64 ff. 47 Ebd., S. 64 f. 48 Kühl (wie Anm. 17), bes. S. 257.

124 ARCTURUS 7 • 2019 der Reichsregierung vertraten“49. Für die drei Hansestädte war dies Daniel Christian Friedrich Krüger (* 1819, + 1896), gemeinsamer hanseatischer Ministerresident bzw. Gesandter, der jedoch die Stimmen jeder Hansestadt einzeln führte50. Er hatte seine diplomatische Tätigkeit bereits am Bundestag in Frankfurt 1866 begonnen und wurde nach seinem Tod am 17. Januar 1896 als Vertreter beim Reich bzw. bei Preußen von Karl Peter Klügmann (* 1835, + 1915) abgelöst. Dieser war wie Krüger Gesandter der drei Hansestädte und führte im Bundesrat die lübeckische Stimme, während er von Bremen und Hamburg stellvertretend bevollmächtigt war. Er trat 1913 in den Ruhestand51. Wie schon genannt, war Lübeck im Kaiserreich von 1871 einer von 17 Kleinstaaten, die im Bundesrat über nur eine Stimme verfügten. Von diesen 17 Staaten beteiligten sich neun überhaupt nicht an der Ausschussarbeit dieses Verfassungsorgans, Lübeck dagegen, zusammen mit Sachsen-Weimar und Oldenburg, überdurchschnittlich; denn es war bis 1880 im Ausschuss für Eisenbahn-, Post und Telegraphenwesen, im Justizausschuss sowie im Ausschuss für Seewesen vertreten. Letzteren musste es 1880 wegen seiner „freihändlerischen Gesinnung“ verlassen und wurde erst im Jahr 1908 wieder dorthinein aufgenommen. Während der Kaiser die Ausschussmitglieder laut Reichsverfassung zu ernennen hatte52, präsidierte der Reichskanzler, „der zugleich die preußischen Stimmen als preußischer Minister des Auswärtigen“ führte, im Bundesrat. Die Möglichkeiten Bismarcks zur Einflussnahme sind daher unverkennbar. Nach der Reichsgründung wurde nicht nur die starke ausländische Konkurrenz auf dem deutschen Markt allgemein spürbar, sondern es wurde auch Bismarck selbst „durch seinen [eigenen, U.S.] Landwirtschafts- und Industriebesitz ... zum Leidtragenden des von keinen Zöllen aufgehaltenen Konjunktur- und Marktverfalls“53 in einem

49 Helmut P. Dahl, Lübeck im Bundesrat 1871-1914. Möglichkeiten und Grenzen einzelstaatlicher Politik im Deutschen Reich (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck 23) Lübeck 1969, S. 12 ff., Zitat S. 18. 50 Über ihn zuletzt zusammenfassend: Hedwig Seebacher, in: Lübecker Lebensläufe aus neun Jahrhunderten, hrsg. von Alken Bruns, Neumünster 1993, S. 214-216 (entspricht: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck 6, Neumünster 1982, S. 154-157 sowie 7, Neumünster 1985, S. 343). 51 Über ihn zuletzt: Hedwig Seebacher, in: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck 7, Neumünster 1985, S. 113-114. Auch er war bereits vor seiner hauptamtlichen Tätigkeit seit 1886 stellvertretender Bevollmächtigter beim Bundesrat gewesen. 52 Dahl (wie Anm. 49) S. 110 ff., bes. S. 111. Der Kaiser konnte daher allerdings erheblichen Einfluss auf die Zusammensetzung der Ausschüsse nehmen, denn laut Artikel 8 der Reichsverfassung hatte er die Ausschussmitglieder zu ernennen. (Ebd., S. 111, Anm. 353). 53 Wilhelm Treue, Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert, in: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, hrsg. von Herbert Grundmann, Bd. 3, 9.Aufl.

ARCTURUS 7 • 2019 125 zunächst nach wirtschaftsliberalistischen Grundsätzen regierten Staat. Der Reichskanzler gab von 1876 an seine liberale Wirtschaftspolitik langsam zugunsten einer Schutzzollpolitik auf. Um den Absatz von Produkten der wachsenden deutschen Industrie im Ausland zu verbessern, mussten im Gegenzug Importe nach Deutschland erleichtert werden. Bismarcks Nachfolger, General Georg Leo Graf von Caprivi, Reichskanzler vom 20. März 1890 bis 26. Oktober 1894, verfolgte daher das Ziel, durch Abschluss von Handelsverträgen mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien, der Schweiz und Rumänien bei gleichzeitiger Senkung deutscher Einfuhrzölle die Exportchancen der deutschen Industrie zu erhöhen. Dies führte zum Bruch des Reichskanzlers mit den Konservativen und besonders den Agrariern im Reich54. In Lübeck wurden vor allem die Leistungen Bismarcks im Hinblick auf die Reichseinigung, aber auch seine Position als Reichskanzler mit Anerkennung betrachtet55. Seine liberalistischen Handelsinteressen weitgehend entgegenstehende Politik scheint dabei keine offene Kritik56 herausgefordert zu haben. Es entsprach eher der traditionellen lübeckischen Diplomatie, sich nicht gegen das übermächtige Preußen zu stemmen, sondern mit dem Strom zu schwimmen und dabei nuanciert Vorteile für die eigene Position herauszuhandeln. Für die überwiegend noch vom Handel und Seeverkehr lebenden Hansestädte spielte sodann der Ausschuss für Zoll- und Steuerwesen eine wichtige Rolle. Unter den Hansestädten besaß Hamburg eindeutig die Führungsrolle.

Stuttgart 1970, S. 523. 54 Born (wie 44) S. 322 ff. 55 Klaus Friedland, Die Ehrenbürger der Hansestadt Lübeck, in: Der Wagen. Ein lübeckisches Jahrbuch, 1969, S. 8ff., bes. S. 20: Bismarck und Helmuth Graf von Moltke wurde nach Abschluss des Frankfurter Friedens am 20. 5. 1871 die Ehrenbürgerschaft in Lübeck zuteil (mit Anm. 30). Lübeck erhielt 1875 seine Bismarckstraße. Anlässlich des Ausscheidens als Reichskanzler hatte der präsidierende Bürgermeister Dr. Arthur Kulenkamp am 26. März 1890 an den Fürsten geschrieben, „man sei an der Trave davon ausgegangen, dass seine Reichskanzlerschaft lebenslang dauere“ (Peter Guttkuhn, Bismarck und Lübeck, in: Vaterstädtische Blätter 29, 1978, S. 56), waren doch die Lübecker Senatoren lebenslang im Amt. Eine von Prof. Schaper gefertigte Marmorbüste fand 1892 im Bürgerschaftssaal des Rathauses Aufstellung. Wie viele Städte erhielt Lübeck auch ein Bismarck-Denkmal, und zu dem Polit-Pensionär pilgerten wiederholt Delegationen aus Lübeck, die im Sachsenwald leutselig empfangen wurden (Guttkuhn, in: Vaterstädtische Blätter 30, 1979, S. 109; 31, 1980, S. 23, 37, 55; 32, 1981, S. 7). Diese Nachweise entsprechen offiziellen Verlautbarungen und dem Empfinden gut regierter und dankbarer Untertanen. 56 Wie der Leiter der lübeckischen Außenpolitik, Theodor Curtius, zu dem Ansinnen, Bismarck die Lübecker Ehrenbürgerschaft zu übertragen, am 28. Feb. 1871 bemerkte, war „gleich nach dem Falle von Paris Hamburg“ hier vorgeprescht, ohne sich mit den Schwesterstädten Lübeck und Bremen vorher abzusprechen. Man wollte jedoch „nicht so unmittelbar in Hamburg’s Fußtapfen treten“ (ASA Interna, Bürgerrecht, 71,7).

126 ARCTURUS 7 • 2019 Handelspolitische Interessen Lübecks und der Hansestädte am Russlandhandel, bes. mit Finnland: Übersicht Die Eroberung Wiborgs sowie die Besetzung weiter Küstenstreifen Finnlands durch Zar Peter den Großen im Jahr 1710 hatte den Lübecker Handel mit Finnland schwer beeinträchtigt und eine Bevorzugung des neu gegründeten St. Petersburg gefördert. Nach dem Sieg über Schweden im Krieg von 1808- 1809 verleibte Zar Alexander I. dem Russischen Reich auch die finnischen Gebiete jenseits des Flusses Kymmene ein, und erst 1917 wurde Finnland ein souveräner Staat57. Innerhalb des Zarenreichs blieb Finnland jedoch ein eigenständiger verwaltungsmäßiger und wirtschaftspolitischer Körper mit eigenem Zollgebiet und separater, wenn auch dem Zaren vorbehaltener Zollgesetzgebung. Durch Bekanntmachung vom 28. August 1844 wurde die Verpflichtung zur Angabe des Herkunftsortes von Waren außer Salz und Getreide bei der Einfuhr nach Finnland weggelassen. Dies begünstigte den Handel von Deutschland bzw. Lübeck nach Finnland deutlich. Der Zolltarif von 1886 begünstigte dann aber „die direkte transatlantische Einfuhr“, gleichzeitig wurde eine Zollerhebung von 50 Prozent auf solche Waren erhoben, die mit „Schiffen fremder Nationalität [nach Finnland] ein- oder ausgeführt wurden“58. Obwohl der Lübecker Verkehr nach finnischen Häfen auch „schon vorher in überwiegendem Maße unter der Flagge des Zarenreiches stattgefunden“ hatte59, wurde die Lübecker Handelskammer beim Senat von 1889 an vorstellig, dass er sich beim Reich um Verhandlungen über eine Meistbegünstigungsklausel bei Einfuhr französischer und spanischer Weine, von Kaffee und anderen Kolonialwaren aus Brasilien sowie von Zucker über die Häfen Lübeck, Hamburg und Stettin einsetzen möge60. Das Reich trat in Verhandlungen mit Russland ein, ohne zu einem Abschluss zu gelangen. Hierauf begann im Sommer 1893 ein deutsch-russischer Zollkrieg: Seit 29. Juli 1893 wurden auf Einfuhrartikel aus Russland Zollzuschläge erhoben; sie wurden am 17. August auf Waren aus Finnland ausgedehnt. Russland erhob aufgrund der Bekanntmachung vom 10. August 1893 auf deutsche Einfuhrartikel einen Zoll in Höhe von 50 Prozent des Warenwerts. Diesen Zollkrieg beendete erst der Handels- und Schifffahrtsvertrag zwischen

57 Hans Karl von Borries, Die Handels- und Schiffahrtsbeziehungen zwischen Lübeck und Finnland. Ein Beitrag zur Geschichte der Ostseewirtschaft (Schriften des Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Univ. Kiel 36) Jena 1923, S. 99 ff. 58 Ebd. S. 108, Zitate S. 110. 59 Ebd. S. 110. 60 7. Mai 1889; 28. Mai 1891, Jan. 1892 (AHL, Neues Senatsarchiv (im Folgenden NSA) I 9, 11).

ARCTURUS 7 • 2019 127 Russland und dem Deutschen Reich vom 10. Feb. (29. Jan.) 1894, der am 21. März 1894 in Kraft trat61.

Die Verhandlungen zum Abschluss eines Handels- und Schifffahrtsvertrags mit Russland im einzelnen 1891 meldeten sich die im Zuckerhandel mit Finnland befindlichen Firmen aus Lübeck zu Wort. Es waren dies Haltermann & Brattström, Buck & Willmann, Piehl & Fehling, J.J. Wedel, Cabell & Schwartzkopf, Taht & Severin, F.O. Klingström ‑ alle Vertreter im Kolonialwarenhandel oder im Kommissions- und Speditionsgeschäft62. Der Präses der Handelskammer, der oben erwähnte Hermann Lange, wandte sich dann am 31. Mai 1892 an den Senat mit der Bitte, sich bei Reichskanzler von Caprivi dafür einsetzen zu wollen, die für Lübeck äußerst nachteiligen Differentialzölle zu beseitigen. Hinter diesem Ansinnen ständen auch die Handelsvorstände von Königsberg, Danzig und Stettin. Der Eingabe liegen in Abschrift weitere Ansuchen von Lübecker Firmen bei, die alle vom 10. September 1892 datieren und die das Spektrum der damals im Russlandhandel tätigen Firmen zeigen: Carl Thiel u. Söhne, emaillierte und verzinnte Eisenblechwaren; Hansa-Brauerei von Johannes Uter u. Co; Etikettenfabrik Heinrich Erdtmann; die Tremser Eisenwerke für verzinnte Molkerei-Geräte, die Lübecker Konservenfabrik, vormals D.H. Carstens, Wachsmuth; Werner Brandes u. Co., Hersteller fertiger Wäsche sowie die Maschinenbaugesellschaft Volkering, die Baggermaschinen, Dampfbagger und Excavatoren herstellte63. Ja, am 27. Juni 1892 wandte sich die Schmirgelfabrik Miesner & Pape64 mit einer Eingabe sogar direkt an das Reichskanzleramt65. Die Firma erläuterte, dass ihr Hauptaugenmerk auf den Export mit Russland, besonders nach Moskau, St. Petersburg, aber auch Warschau, gerichtet war. Die Zollerhöhung auf ca. 50 Prozent des Warenwerts vom 1. Juli 1891 laste schwer auf ihren Absatzmöglichkeiten. Die Firma sei ersucht worden, in Russland selbst eine Schmirgelfabrik zu errichten, wodurch sich aber die Produktionskosten verdoppelten, ohne weitere Gewinne zu versprechen. Sie hoffe, dass bei Abschluss eines Handelsvertrags wieder Ermäßigungen eintreten würden. Die Eingabe verdeutlicht, dass die russische Zollpolitik nicht nur Großhandelsfirmen das Geschäft erschwerte, sondern dass auch

61 Borries (wie Anm. 57) S. 124. Reichs-Gesetzblatt 1894, S. 153-258. 62 28. Mai 1891 (NSA I, 9, 11). 63 31. Mai 1892 (NSA I, 9, 11). 64 Adressbuch 1892: Miesner & Pape, Schmirgelwerk, Inhaber: Th. Miesner und August Pape, Karpfenstraße 22, Comptoir Teichstraße 3. 65 NSA I, 9, 11.

128 ARCTURUS 7 • 2019 Produktionsbetriebe in Lübeck und Umgebung beim Absatz ihrer Produkte Einbußen erlitten. Die Erschwerungen wurden bereits empfunden, bevor der sogenannte Zollkrieg im Sommer 1893 für Turbulenzen sorgte. Offensichtlich ist das bisherige Bild zu korrigieren, dass der Lübecker Handel kaum betroffen gewesen sei, weil die Einfuhr nach Finnland meist auf finnischen Schiffen stattgefunden hätte66. Hiergegen sprechen schon die Eingaben der Handels- und Speditionsfirmen wegen des Zuckerexports. Bisher unbekannt scheint aber besonders zu sein, dass auch Lübecker Warenproduzenten Exportrückgänge beklagen mussten. Damit wird bestätigt, dass Lübeck in der Zeit des Kaiserreichs allmählich auch zum Industriestandort heranwuchs und sich bereits damals einige Firmen am Exportgeschäft nach Russland beteiligten. Aufgrund des Zollkriegs zwischen Russland und dem Deutschen Reich hatten Vertreter des deutschen Handels Verhandlungen über den Abschluss eines Handelsvertrags mit Russland gewünscht, um bei der Einfuhr nach Finnland und Russland eine Gleichstellung mit Spanien und Frankreich zu erhalten67. Einfuhrprodukte aus Russland bzw. Finnland stellten vor allem Getreide und Holz dar. Hierzu heißt es in einer „Zusammenstellung“ der Wünsche der Lübecker Handelskammer und „einzelner Gewerbetreibender“: „An der Beseitigung des Differentialzolles auf Getreide und Holz haben nicht nur der Handel, sondern auch die Rhedereien in Lübeck ein großes Interesse“68. Dass der Handelsvertrag zwischen Deutschland und Russland dennoch nicht zustandekam, lag schließlich daran, dass sich Vertreter der Landwirtschaft aus den östlichen Provinzen des Deutschen Reichs in 1033 von insgesamt 1036 Petitionen an den Deutschen Reichstag gegen einen Vertrag aussprachen, da sie fürchteten, Deutschland werde mit billigem Getreide aus Rußland überschwemmt werden, was den Absatz ihrer eigenen Produkte auf dem Markt deutlich erschwert hätte69. In einem Schreiben an den hanseatischen Gesandten beim Reich in Berlin Dr. Krüger vom 22. Dez. 1893 wird in einem Fall beispielhaft beschrieben, welchen Schwierigkeiten seit Eröffnung des sogenannten Zollkriegs der Handel unterworfen war70. Es heißt dort: „Obwohl ... für Rosinen ein

66 Borries (wie Anm. 57) S. 110. Der 50-prozentige Zolltarif wird hier gleichzeitig mit dem transatlantischen Einfuhrzoll von 15 Prozent aus dem Jahr 1886 genannt. 67 Schon im Auszug aus dem Lübecker Senatsprotokoll vom 8. Mai 1889 angesprochen (NSA I, 9, 11). 68 Undatiert, ca. Okt./Nov. 1892 (NSA I, 9, 11). 69 Elfter Bericht der Kommission für die Petitionen beim Reichstag, Berlin, 27. April 1893 (Druck) (NSA I, 9, 11). 70 NSA I, 9, 16, Konzeptschreiben des Senats.

ARCTURUS 7 • 2019 129 Ursprungsattest überhaupt nicht beizubringen war, wurde kürzlich von einem hiesigen Handlungshause über eine Partie von 100 Kisten Rosinen, die von Smyrna mittelst Dampfschiffs nach Hamburg, von dort mit Begleitschein nach Lübeck und von hier nach Finland in Theilsendungen versandt war, ein Ursprungsattest beigebracht, welches vom österreichischen Konsul in Smyrna ausgestellt war. Dies Attest wurde jedoch zurückgewiesen, dabei wurde bemerkt, dass, falls ein russischer Konsul in Smyrna nicht vorhanden sei, die dortige Stadtbehörde um ein Attest anzugehen sein werde. Ein Attest aus Budapest über serbische Pflaumen wurde zurückgewiesen und dagegen ein serbisches Attest verlangt.“ Besondere Kosten verursachten nun sogenannte „Creditlager“ in Finnland71. In der zweiten Jahreshälfte des Jahres 1893 und zu Beginn des Jahres 1894 bemühten sich etliche Firmen bei den zuständigen Ausschüssen des Bundesrats, beim Bundesrat selbst, beim Reichsschatzamt, bei der Hanseatischen Gesandtschaft und anderen Institutionen des Reichs darum, die vor Ausbruch des Zollkriegs mit Russland gültigen Zollsätze beim Lübecker Hauptzollamt zahlen zu müssen72. Es liegen als einzelne Eingaben von Firmen diejenigen der Getreidehandelsfirma Heinrich und Emil Magnus, die 50.000 kg Gerste aus Libau nach Lübeck verschifft hatte, sowie die Reklamation des Schiffsmaklers H.M. Gaedertz für die Firma Haltermann & Brattström wegen 262 Fässern Butter aus Kotka und 3910 Dutzend Brettern aus Trangsund (Außenhafen von Wiborg, finn. Uuras, russ. heute Vysock) bei. Mit W. Brügmann & Sohn lag auch eine Eingabe einer Dortmunder Holzhandlung vor, für die Lübeck als Importhafen fungierte. Der Antrag der Handelskammer beim Senat vom 15. Januar 1894, sich für Rückerstattung bzw. Nichtzahlung des Zollzuschlags einzusetzen, wird durch eine Übersicht unterstützt, die acht Holz- und vier Getreidehandelsfirmen73

71 . Weiterhin wird von kursierenden Gerüchten berichtet, dass in Finnland vom 1. Januar 1894 an der russische Zolltarif eingeführt werden solle. Dies widerspräche offiziellen russischen Verlautbarungen, besonders des russischen Finanzministers Witte, und würde einen Grund dafür abgeben, die Verhandlungen über den Handels- und Schifffahrtsvertrag von deutscher Seite abzubrechen. Letzteres wird durch ein Schreiben des Gesandten Dr. Krüger an Senator Dr. Klügmann vom 23. Dezember 1893 bestätigt (NSA I, 9, 16). 72 NSA I, 9, 17. 73 Holzhandelsfirmen: Witwe Friedrich Wilhelm Louis Drath, Wallstraße; Johannes O. Geffcken, Mengstraße (Haupt-Niederlassung für natürliche Mineralwasser); Gosmann & Jürgens, Alfstraße, Lager: Wallstraße; Jost Hinrich Havemann & Sohn, Holstenstraße, Lager und Sägemühle: Einsegelstraße; Wilhelm Lischau, Beckergrube; J. Rehder und Co, Untertrave; Johann(es) Schlie, Fischergrube; dazu kam die schon genannte Dortmunder Firma W. Brügmann u. Sohn. Getreidehandelsfirmen: H.W. Eschenburg, Beckergrube; Heinrich u. Emil Magnus, Geibelplatz, Lager: Beckergrube; Theodor Schlie, Carl Schlie Sohn, Breite Straße; Wendt und Co., Große Altefähre.

130 ARCTURUS 7 • 2019 mit entsprechenden Mengen- und Zollangaben aufführt; wobei sich die Zollzahlungen der Holzimporteure auf über 60.000 Mark bezifferten74. Nachdem die Verhandlungen 1893 gescheitert waren, scheint die Initiative, neuerlich über den Abschluss eines Handelsvertrags mit Russland zu konferieren, aus Kreisen des deutschen Handels und der Industrie gekommen zu sein. Hier soll zumindest versucht werden, den Anteil der Hansestädte, speziell Lübecks herauszufinden. Dass die Verhandlungen am 1. Oktober 1893 in Berlin beginnen sollten, teilte das Reichskanzleramt dem Lübecker Senat am 20. August mit. Damit ging der Wunsch einher, „den diesseitigen Kommissarien für die Dauer dieser Verhandlungen einen Beirath von Vertretern der am Handel mit Russland meistbetheiligten Bundesstaaten zur Seite zu stellen“, und dem Senat der Stadt wurde anheimgestellt, „einen dortseitigen geeigneten Beamten mit den entsprechenden Weisungen [zu] versehen“ und dem Reichskanzler „von der getroffenen Wahl ... gefälligst Mittheilung machen zu wollen“75. Der Senat schlug in seiner Sitzung vom 26. August aus seinen Reihen als kaufmännisches Mitglied Senator Wolpmann vor76. Senator Dr. Klügmann77 informierte einige Tage später, dass der preußische Gesandte bei den Hansestädten Max Baron von Thielmann die Verhandlungen leiten werde und bei seinem letzten Aufenthalt in Lübeck beim Präses der Handelskammer eingehende Erkundigungen über die Lage von Handel und Reedereien eingezogen hätte78. Kurz vor Verhandlungsbeginn lieferte am 28. September 1893 Senator Wolpmann einen detaillierten Bericht aus Berlin. Der deutsche Generalkonsul in Antwerpen, Freiherr von Lamezan, der ebenfalls an den Verhandlungen teilnehmen sollte, schätzte die russische Seite als wenig kompromissbereit ein, da deren Vorsitzender derjenige sei, „welcher den erhöhten Zolltarif von 1891 geschaffen habe, ...[der] sein Werk ... bis auf das Äußerste vertheidigen werde, der zweite ein Anhänger noch bedeutend höherer Zölle als derjenigen von 1891“, und beurteilte alle Beide als „Persönlichkeit(en) von wenig Selbstständigkeit“79. Nach demselben Bericht hatte der Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums, Staatssekretär des Innern Dr. von Boetticher, die Hoffnung geäußert, dass die „Kampfzölle“ bald aufgegeben würden, unter denen „namentlich Lübeck schwer leide“80. Das Ziel jedenfalls

74 NSA I, 9, 17. 75 NSA I, 9, 13. 76 Auszug aus dem Senatsprotokoll vom 30. August 1893 (NSA I, 9, 13). Emil August Wilhelm Wolpmann 77 Karl Peter Klügmann 78 Auszug aus dem Senatsprotokoll vom 6. September 1893 (NSA I, 9, 13). 79 Berlin, 28. September 1893 (NSA I, 9, 13). 80 Ebd.

ARCTURUS 7 • 2019 131 sei es, den Status von vor dem 1. August 1893 wieder zu erreichen. Vor den Verhandlungen mit den russischen Vertretern fanden Beratungen von Vertretern der deutschen Landwirtschaft, Industrie, des Handels und der Schifffahrt als Sachverständige im sogenannten Zollbeirat statt. Der Beirat bestand aus 27 Mitgliedern, nämlich neun Vertretern des Reichs, neun Vertretern von Regierungen der damals so genannten Bundesstaaten des Kaiserreichs sowie neun Vertretern aus Handel, Industrie und Landwirtschaft81. Der Lübecker Vertreter war der mehrfach genannte Hermann Lange, Präses der Handelskammer. Den Vorsitz führte Dr. von Boetticher82. Nach wie vor erwartete die deutsche Landwirtschaft großen Absatzrückgang, wenn bei niedrigerem Zolltarif russisches Getreide den deutschen Markt überschwemmte. Für diese Beratungen hatten am 25. September 1893 die Hansestädte ihre Wünsche formuliert: In erster Linie sollten die am 1. August 1893 eingeführten sogenannten Kampfzölle abgeschafft werden. Gewünscht wurde eine Meistbegünstigung zwischen Deutschland, Russland und Fin1nland, dass der höhere russische Zolltarif nicht in Finnland eingeführt würde sowie dass die Zollvergünstigungen, die Frankreich, Spanien und Italien in Finnland für ihren Export von Wein, Öl, Korkholz und Salz besaßen, aufgehoben würden. Zollermäßigungen wurden gewünscht für Obst und Gemüse, emaillierte Kochgeschirre und andere Emailwaren, Steingut und Porzellan, Kurzwaren, insbesondere Eisenwaren, sowie in Manufaktur hergestellte Stoffe (Baumwolle)83. In Lübeck nahmen an der Sitzung der Kommission für Handel und Schifffahrt vom 8. Oktober 1893 als Vertreter der Handelskammer Präses Hermann Lange und Sekretär Dr. Franck teil. Im Protokoll wird u.a. ausgeführt, dass Lübeck besonderes Interesse an den Bestimmungen über Soda, Blechfabrikate, Spielwaren, Schmirgel, Papier und Zellulose, Lappen und Lumpen habe und es außerdem wünsche, dass Mustersendungen vom Einfuhrzoll befreit würden84. Präses Lange betonte, dass zusätzlich zu einem Handelsvertrag auf Abschluss eines Schifffahrtsvertrags gedrungen werden solle, damit erhöhte russische Schifffahrtsabgaben den deutschen Wettbewerb nicht erschwerten. Weiterhin sollten die bereits geleisteten erhöhten Zollzahlungen und anderen Abgaben zurückgefordert werden. Senator Wolpmann erhielt den Auftrag, sich für das Zustandekommen des

81 Dahl (wie Anm. 49) S. 115. 82 Geheime Verhandlung, Berlin, 27. September 1893 (NSA I, 9, 13). 83 NSA I, 9, 13 (Druck), unterzeichnet von den Vertretern der Hansestädte Wolpmann, Lübeck, Achelis, Bremen, und von Melle, Hamburg. 84 Ebd. Das Konzept ist unterschrieben von Sekretär Bruns.

132 ARCTURUS 7 • 2019 Vertrags einzusetzen, „auch wenn Russland in vereinzelten Punkten nicht nachgeben sollte“85. Hierzu hatten bereits am 1. September 1893 die am Russlandverkehr interessierten deutschen Reedereien eine Eingabe an die deutsche Reichsregierung formuliert und darin auf die Dringlichkeit eines Schifffahrtsvertrags mit Russland „einschließlich Finland“ mit Meistbegünstigung, Zollfrieden und Rückzahlung der erhöhten Zahlungen hingewiesen86. Von den insgesamt 43 Reedereien waren nur zwei in Lübeck ansässig, nämlich die Hanseatische Dampfschiffahrts-Gesellschaft und die Neue Dampfschiffahrts-Gesellschaft87, die meisten übrigen in Stettin, Flensburg und Hamburg88. Die Eingabe wurde mit eindrucksvollen Zahlen untermauert: Deutsche Schiffe zahlten seit dem 2. August 1893 das Zwanzigfache der russischen Kronslastgelder, d.h. bezogen auf das Jahr 1891, in dem Schiffe von knapp 3 Millionen Kubikmetern Rauminhalt mit Russland verkehrten und dafür 120.000 M Abgaben zahlten, waren es jetzt ca. 2,5 Millionen Mark. Angesichts dieser Bedingungen speziell für den Russlandverkehr einen sehr großen Schiffstyp aufzulegen, leiste sich kein Reeder. Lübeck hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Exporthafen für Waren nach Finnland entwickelt. Nach Gründung des Kaiserreichs waren vor allem die Eisenbahnverbindungen von der Trave ins Reich funktionstüchtig genug, um die Güter aus dem Hinterland zur See umzuschlagen. Es kämpfte jedoch mit Hamburg um seine Vorrangstellung. Währenddessen entwickelte sich Stettin zum Importhafen für finnländische Waren89. Die Verhandlungen über den finnischen Zolltarif begannen Mitte November 1893 in Berlin. Hermann Lange sandte von dort am 15. November an Senator Wolpmann in Lübeck „die Entwürfe des Herrn Generalconsuls Annecke betr. Finnland und bat in seinem Schreiben, „mir dieselben mit event(uellen) Bemerkungen ... zurückzusenden“90. Dies tat Wolpmann am 16. 11. und bemerkte dazu: „Der Antrag ‘Lange’, wie irrtümlich derselbe bezeichnet ist, enthält die Vorschläge mit den von mir getroffenen Abänderungen“91. Es mag

85 Ebd. 86 Unterzeichnet von der geschäftsführenden Reederei Gläfcke &V. Hennings, Hamburg (NSA I, 9, 14). 87 Diese ist aufgeführt als „A.G. Neue Dampfschiffahrts-Gesellschaft“ bei Reinhart Schmelzkopf, Von Lübeck über die Ostsee. Kleine Aktiengesellschaften und Linienreedereien 1868-1918, in: Strandgut 53, 2003, S. 27. Das AHL verwahrt keine Handelsregisterakte. 88 Aus Hamburg unterzeichneten 6, aus Flensburg 7, aus Stettin 10, aus Danzig 4, aus Königsberg 4 Reedereien (NSA I, 9, 14). 89 von Borries, bes. S. 130 ff. 90 NSA I, 9, 14.- Vgl. hierzu bes. Dahl S. 115-118. 91 Randbemerkung auf dem Schreiben Langes vom 15. November 1893 (NSA I, 9, 14).

ARCTURUS 7 • 2019 133 sein, dass aufgrund dieses „Antrags Lange“, der sich in den Originalakten über die Vertragsverhandlungen genauso deklariert finden dürfte wie in den Lübecker Senatsakten, das Bild entstanden ist, dass Hermann Lange ganz entscheidenden Einfluss auf das Vertragswerk genommen hätte. Auf der nach Lübeck gesandten Abschrift (Kopie), die den Titel trägt „Anträge des Mitgliedes des Zollbeiraths Herrn Lange betreffend den Verkehr mit Finland“ klärte Senator Wolpmann durch eine Randnotiz den Sachverhalt mit folgenden Worten auf: „Herr Lange erklärte in der Sitzung am 21. 11. 93, dass diese Anträge nicht von ihm, sondern den Sachverständigen des Zollbeirathes ... zusammen gestellt seien. ...“92. Obgleich nun die Person des Hermann Lange im Rahmen der Gesamtverhandlungen nicht maßgebend oder überragend erscheint, so muss als Besonderheit an der Mitwirkung der Stadt beim Zustandekommen des Handelsvertrags mit Russland genannt werden, dass der Stadtstaat nicht nur über die üblichen Verfassungsorgane seine Wünsche gegenüber der Reichsregierung äußerte, sondern auch durch persönliche Vertreter an den Verhandlungen teilnahm. Betrachten wir den mit Russland geschlossenen Vertrag, so ist es auf die Initiative der Hansestädte zurückzuführen, dass zusätzlich zu dem reinen Handelsvertrag mit Festlegung der Zolltarife auch die Handelsschifffahrt (Artikel 13-18) berücksichtigt wurde: Artikel 13 gewährte 1.) wechselseitige Gleichstellung der Schiffe mit Ausnahme der im jeweiligen Land geltenden Bestimmungen für Fischfang, 2.) schloss er eine zukünftig zu bildende nationale Handelsflotte oder die Küstenschifffahrt mit ein93. Nicht im Vertrag aufgenommen war die von den Hansestädten formulierte Forderung nach Erstattung der seit Beginn des Zollkriegs erhöht gezahlten Zölle. Auf den Einfluss der Hansestädte ist es sodann zurückzuführen, dass Russland seine Absicht fallenließ, die Zollsätze des Großfürstentums Finnland sofort auf die Höhe derjenigen des Zarenreichs zu bringen. Es verpflichtete sich vielmehr durch zusätzlichen Notenwechsel, die finnischen Zollsätze nicht vor dem 19./31. Dezember 1898 schrittweise bis zur endgültigen Gleichstellung mit den russischen Zollsätzen am Ende des Jahres 1905 anzuheben94. Die Aufwertung der Hansestädte innerhalb des Reichsverbandes, wenn es um Handels- und Kolonialpolitik der wilhelminischen Ära ging, zeigt sich in dem hier gestreiften Zusammenhang noch in einem weiteren Punkt. Der Leiter der Verhandlungen, Max Freiherr von Thielmann, bis dahin

92 NSA I, 9, 14. 93 Reichs-Gesetzblatt 1894, . 153-167, die genannten Paragraphen ab S. 162. 94 Notenwechsel zwischen dem russischen bevollmächtigten Botschafter Graf Paul Schuwalow und Freiherrn von Marschall vom 10. Februar 1894 (Anhang zum Vertragstext), ebd., S. 255-258.

134 ARCTURUS 7 • 2019 preußischer Gesandter in , war im Mai 1890 zum Nachfolger Heinrichs von Kusserow als preußischem Gesandten in Hamburg bestimmt worden, der auf eigenen Wunsch nach Berlin zurückgegangen war. Aus diesem Anlass berichtete der Lübecker Senator Dr. Klügmann aus Berlin, dass diese Gesandtschaft in Hamburg wohl nicht aufgehoben werde, weil Preußen bei den Hansestädten immer „über Handels- und kolonialpolitische Verhältnisse Erkundigungen und Ermittlungen“ einziehen konnte95. Die Charakterisierung von Thielmanns durch den hanseatischen Gesandten in Berlin, Krüger, drückte ähnliche Hoffnungen aus96. Die Hansestädte durften sich also nach der Thronbesteigung Wilhelms II. mit seiner entschiedenen Öffnung zur Kolonialpolitik erhoffen, in ihren ureigensten Handelsinteressen beim Reich mehr Gehör und ein breiteres Betätigungsfeld zu finden.

Ergebnisse des Handelsvertrags Der „Hamburgische Correspondent“ fasste am 24. Januar 1896 die „Erfolge des deutsch-russischen Handelsvertrages“ zusammen. Die deutsche Einfuhr nach Russland hatte sich im Jahr 1894 um 92 Millionen Rubel gegenüber 1893 mit 488 Millionen Rubel um mehr als ein Fünftel erhöht. Davon entfielen über 60 Prozent auf deutsche Waren. Während die Einfuhr englischer Waren 1893 noch höher als die deutscher Waren nach Russland gewesen war, überwog bereits 1894 diejenige deutscher Waren. Auch der politische Verbündete Russlands, Frankreich, erreichte nicht die deutschen Exportzahlen nach Russland97. Reichskanzler von Caprivi hatte mit seinem handelspolitischen Vorgehen, hier betrachtet im Hinblick auf Russland, den beabsichtigten Erfolg für Handel und Industrie Deutschlands erzielt. Dennoch waren mit dem Inkrafttreten des Vertrags noch nicht alle Schwierigkeiten beseitigt, da die finnischen Zollbehörden sich nicht sofort nach den neuen Vertragsbestimmungen richteten, wie die Weingroßhandlung Lorenz Harms & Sohn bemängeln musste98. Dieses Lübecker Handelshaus war, wie oben erwähnt, bereits 1843 im Exportgeschäft mit Finnland tätig

95 Als Leiter der Verhandlungen genannt im Reichs-Gesetzblatt 1894, S. 153 f.- Der Bericht Klügmanns vom 8. Mai 1890 in: NSA I, 15, 1 96 Krüger an Senator Dr. Klügmann, Lübeck, vom 30. Juni 1890 (NSA I, 15,1): von Thielmann wurde preußischer Gesandter nicht nur bei den Hansestädten, sondern auch Mecklenburgs. Krüger schrieb: „von Thilemann, Sohn eines preußischen Generals, hat den Ruf eines gescheuten Mannes und tüchtigen Arbeiters, der namentlich auf handelspolitischem Gebiete gute Kenntnisse besitzt. Durch seine Mutter, die Tochter eines reichen Banquiers, hat er ein bedeutendes Vermögen erhalten“. Krüger bezeichnete seine Wahl als glückliche Entscheidung. 97 Enthalten in NSA I, 9, 20. 98 NSA I, 9, 19, 29. April 1894.

ARCTURUS 7 • 2019 135 gewesen. Mit der Schmirgelfabrik Miesner & Pape 189599 und und dem Tremser Eisenwerk Koch & Co. 1897 baten zwei bereits 1892 am Export nach Russland interessierte Lübecker Vertreter der Industrie um andere Zollbehandlung in Russland100. In Lübeck hatte sich die Anzahl der Industriebetriebe von 1880 mit 85 und 1342 Arbeitern bis 1890 mit 107 Firmen und 2873 Arbeitern zwar entscheidend vergrößert, dennoch besaß das Wirtschaftsleben der Stadt in den 1890er Jahren noch überwiegend kommerziellen Charakter101. Die Interessen Lübecks, das sei hier noch angemerkt, wurden noch einmal ähnlich entscheidend berührt, als das Deutsche Reich mit Schweden über einen Handelsvertrag konferierte, der am 8. Mai 1906 in Stockholm unterzeichnet wurde. Wiederum nahm Lübeck direkten Einfluss. Es waren erneut Zollbehinderungen, die die Lübecker Handelskammer initiativ werden ließen und den Lübecker Senat veranlassten, Verhandlungen einzuleiten. Die beiden Schwesterstädte Hamburg und Bremen verhielten sich in diesem Fall eher abwartend. An den Verhandlungen nahmen die Senatoren Possehl und Eschenburg aus Lübeck teil, „die auch die Senate von Hamburg und Bremen vertraten“, wobei Emil Ludwig Possehl „weniger als eigentlicher Regierungsvertreter, sondern als Sachverständiger, als Lübecker Industrieller, der auch in der schwedischen Industrie Fuß gefasst hatte“, auftrat102.

Der Einfluss des hanseatischen Gesandten in Berlin: Der Lübecker Daniel Christian Friedrich Krüger (1819-1896)

Es wurde dargelegt, dass die Hansestädte nach der Reichsgründung berechtigt waren, ihre außenpolitischen Interessen bei der Reichsregierung geltend zu machen. Neben den rein strukturellen Bedingungen, sind es jedoch immer bestimmte Personen bzw. Persönlichkeiten gewesen, die lenkend den Gang des Geschehens mehr oder weniger stark beeinflusst haben. Wie sehr das Kaiserreich von Bismarck geprägt wurde, ist allseits bekannt und teilweise auch hier gestreift worden. Für Lübeck ist der Einfluss des hanseatischen Ministerresidenten bzw. Gesandten in Berlin, Dr. Krüger,

99 NSA I, 9, 20. Die Firma hatte sich in zwei Eingaben am 27. Nov. und 13. Dezember 1894 direkt an das Reichskanzleramt gewandt (NSA I, 9, 20). 100 Eingabe an die Lübecker Handelskammer vom 21. Januar 1897 (NSA I, 9, 20). 101 Luise Klinsmann, Die Industrialisierung Lübecks (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Reihe B, Bd. 10) Lübeck 1984, Tabelle 12 (S. 54) (Zahl der Fabriken und darin beschäftigten Arbeiter). 102 Dahl (wie Anm. 49) S. 118 ff., Zitate S. 120 mit Anm. 290. Zu Possehl vgl. zuletzt: Jan-Jasper Fast, Vom Handwerker zum Unternehmer: Die Lübecker Familie Possehl (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Reihe B, Bd. 32).

136 ARCTURUS 7 • 2019 der dort seit 1866 tätig war, nicht hoch genug anzuschlagen. Krüger war nicht nur Vermittler von Interessen seiner Auftraggeber, sondern hat durch seine sachliche Kompetenz und Einfühlsamkeit auf die Politik am Berliner Hof auch wesentlich eingewirkt. Dass dies geschehen konnte, lag einmal daran, dass die Hansestädte sowohl im Norddeutschen Bund als auch im Deutschen Kaiserreich in hohem Ansehen standen. Nach dem Thronwechsel zu Wilhelm II. dürfte dazugekommen sein, dass der junge Monarch sich überwiegend mit jungen, unerfahrenen, seinen politischen Plänen und seinem Führungsstil anpassungsfähigen Personen umgeben hatte, die auch seinen berüchtigten „Plötzlichkeiten“ kaum etwas entgegenzusetzen hatten103. Krüger bestach seine Umgebung in jedem Fall durch fundiertes Sachwissen. Er brachte z.B. im Februar 1893 Finanzminister Miquel von seiner Meinung ab, der Dortmund- Ems-Kanal besitze eine geringe Bedeutung, und diskutierte mit dem Kaiser über den Elbe-Trave-Kanal und die Unterstützung von dessen Bau durch das Reich104. Er hatte schon das besondere Vertrauen Bismarcks besessen, der durch Übernahme des Ausspruchs von Savignys „Eine Großmacht ist und wird der Norddeutsche Bund durch Preußen, eine Weltmacht kann er nur durch die Hansestädte werden“ 105 seine Wertschätzung für diese unterstrich. Die Interessen der Hansestädte rangierten vor den partikularen Interessen der kleineren Staaten bzw. Fürsten. Dass sich das Deutsche Reich aktiv der Kolonialpolitik zuwandte, ging bekanntlich nicht unwesentlich auf Bitten

103 John C.G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900. München 2001, bes. S. 209 ff. 104 25. Feb. 1893 (NSA I, 15, 2): „Bald nach Tische knüpfte der Kaiser mit mir und dem Finanzminister Miquel, der neben mir stand, eine Unterredung an, die wohl eine halbe Stunde dauerte und die verschiedene Themata berührte... Minister Miquel, der von dem Dortmund- Ems-Kanal eine sehr geringe Meinung hat und denselben geradezu als eine verfehlte Anlage bezeichnete, empfahl dagegen dringend die möglichste Förderung des Rhein, Weser und Elbe verbindenden Mittellands-Kanals und äußerte selbst die optimistische Hoffnung, daß dieser Kanal sich rentieren werde ... Ich benutzte die günstige Gelegenheit, den Kaiser daran zu erinnern, daß das Debouché dieses Kanals nach der Ostsee der Elbe-Trave-Kanal sei, und brachte unsere noch schwebende finanzielle Differenz zur Sprache. Minister Miquel bemerkte zunächst, die Magdeburger Elbschiffer hätten erklärt, daß sie, auch wenn der Kanal gebaut würde, doch nach Hamburg fahren würden, weil sie dort immer Rückfracht fänden, worauf der Kaiser einwarf: ‚Nun, das könnte man ja abwarten!‘ Er wollte damit augenscheinlich sagen, daß die Schiffer sich eines Besseren besinnen würden, wenn der Kanal erst fertig sei. Nachdem ich bestätigt hatte, daß es bei der großen Menge voluminöser nordischer Importen an Rückfracht nicht fehlen werde, zog der Minister andere Seiten [!] auf und erkannte dem Kanal für die Elbgegenden eine erhebliche volkswirthschaftliche Bedeutung zu, namentlich bezüglich des Exports von Salz, welches das ganze Ostseegebiet aus dem Auslande beziehen müsse...“ 105 Georg Fink, Diplomatische Vertretungen der Hanse seit dem 17. Jahrhundert bis zur Auflösung der Hanseatischen Gesandtschaft in Berlin 1920, in: Hansische Geschichtsblätter 56, 1931, S. 112-155, Zitat S. 140 f.

ARCTURUS 7 • 2019 137 der Hansestädte, vor allem Hamburgs, nach politischem und militärischem Schutz in ihren kolonialen Handelsgebieten zurück. Ihr Schutzbedürfnis durch Flottenstützpunkte kam den militärischen Zielen Kaiser Wilhelms II. zum Ausbau der Flotte dabei entgegen106. Bei Bismarck und dem preußischen Kronprinzen, dem späteren Kaiser Friedrich III., besaß der Leiter der Lübecker Außenpolitik Theodor Curtius (+ 1889) „noch größeres Vertrauen als Krüger“107. Krüger wurde beim Thronwechsel von Wilhelm I. zu Friedrich III. vom Residenten zum Gesandten erhoben. Nach Aussage des Lübecker Senators Dr. Karl Peter Klügmann, seit 1883 Stellvertreter Krügers, widmete der preußische Staatsminister von Boetticher Krüger einen Nachruf, „wie er wohl noch keinem Mitglied des Bundesrates zuteil geworden ist“108. Weder Klügmann noch der Lübecker Senator Dr. Emil Ferdinand Fehling, seit 1905 Stellvertreter Klügmanns, besaßen die Geschliffenheit der Krügerschen Diplomatie. Nach dem Ausscheiden Klügmanns 1913 wurde der Hamburger Dr. Karl Sieveking Bevollmächtigter der Hansestädte beim Bundesrat und außerordentlicher Gesandter am preußischen Hof109. Es ist signifikant, welche bedeutende Rolle Lübeck als kleinste der drei hansischen Schwesterstädte hier - man kann wohl sagen, in alter hansischer Tradition - gespielt hat. Dass die handelspolitischen Interessen Lübecks und der Hansestädte unter Graf von Caprivi als Reichskanzler besser vertreten wurden als unter Bismarck, ohne dass dessen staatsmännische Erfolge dadurch verkannt wurden, soll im folgenden anhand der Gesandtschaftsberichte Krügers angerissen werden. Bismarcks Außenpolitik, nach heutiger Ansicht eher als Rückfall in die Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts bewertet110, sah

106 Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner. Hrsg. von Werner Jochmann und Hans-Dieter Loose, Bd. 2: Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart (hrsg. von Werner Jochmann). Hamburg 1986, bes. S. 31 ff. 107 Fink (wie Anm. 105) S. 142. 108 Ebd. S. 147 f., Zitat S. 148. 109 Ebd. S. 150 f. 110 So z.B. Franz Herre, Bismarck. Der preußische Deutsche. Köln 1991, S. 371: Hiernach fühlte sich das übrige Europa durch den neuen Nationalstaat im Herzen Europas bedroht, so dass Bismarck nicht nur aufrüsten ließ, sondern auch in die „Methoden der klassische Diplomatie“ zurückfiel, deren System von 1815 er gerade zerstört hatte. Johannes Willms, Bismarck, Dämon der Deutschen. Anmerkungen zu einer Legende. München 1997, sieht in der Außenpolitik Bismarcks, die „wegen ihrer vermeintlichen Klugheit noch heute viel Anerkennung und Bewunderung“ erführe, nicht nur die negative Ausgangsposition, nämlich Deutschlands Bedrohung abzuwenden, sondern stellt dagegen, dass es „weitsichtiger, dauerhafter und aussichtsreicher ...[gewesen wäre], mit der Macht des Deutschen Reiches das Konzept eines Europas der saturierten Nationalstaaten zu verfolgen“, um eine friedliche Entwicklung der Staaten zu gewährleisten (S. 257). Interessant ist auch die ähnliche Bewertung der Politik Bismarcks in der sowjetischen Historiographie, die

138 ARCTURUS 7 • 2019 Krüger durchaus positiv, ja wohl als die Domäne des Reichskanzlers an. Nicht nur der innere Zusammenhalt des aus vielen Fürstenwillen und Staaten bestehenden Deutschland, sondern auch die Sicherheit des jungen deutschen Nationalstaats im Konzert der europäischen Großmächte schien nur ein „eiserner“ Wille eines mit zunächst übermäßiger Machtfülle ausgestatteten Politikers zu garantieren111, auch wenn sich dies in handels- und zollpolitischen Fragen eher restriktiv auswirkte. Am 12. März 1890 schrieb Krüger an Senator Klügmann in Lübeck anlässlich der Gegensätze zwischen dem neuen Kaiser Wilhelm II. und Bismarck:, dass in der Verleihung des Schwarzen Adlerordens an Staatsminister von Boetticher ohne Vorwissen des Reichskanzlers bereits eine „Demonstration gegen den Letzteren“ gesehen werden könnte, die aber „dem Kaiser jedenfalls ferne gelegen“ hätte. „Nichts ist gewisser, als dass es des Kaisers, wie auch Herrn von Boettichers eifriges Bemühen ist, den Fürsten Bismarck schon im Interesse der auswärtigen Politik, für die er unersetzlich ist, in seiner Stellung zu erhalten“. Im selben Schreiben charakterisiert Krüger die Veränderungen, die nach dem Thronwechsel stattgefunden hatten. Sie ließen die„dictatorisch angelegte Natur“ des inzwischen „75jährigen Manns“ klar zutage treten, die für eine Zusammenarbeit wenig förderlich erschien. Denn Bismarck „hat Herrn von Boetticher die Leitung der Correspondenz mit den Bundesstaaten aus der Hand genommen, zeichnet jetzt die hierauf bezüglichen Schreiben selbst, lässt sich die Tagesordnungen der Bundesraths-Sitzungen zur Genehmigung vorlegen, um die er sich früher nie gekümmert, und hat ein System der Ueberwachung eingeführt, das den Staatssecretair äußerst peinlich berühren muss... Menschlich betrachtet, ist es sehr begreiflich, dass der Reichskanzler die Veränderung seiner Stellung schmerzlich empfindet und in einer gereizten Stimmung ist: Seit nahezu 30 Jahren sprach er in allen Fragen der inneren und äußeren Politik das

Hartmut König, Die Beurteilung Bismarcks in der Sowjetischen und DDR-Geschichtsschreibung, Köln, Wien 1972, bes. S. 256, zusammenstellt. Dort heißt es, seine Politik habe der Zeit nicht mehr entsprochen. Beide Staaten hätten sich als staatstragendes Element auf die Gutsbesitzerschicht gestützt, und „als sich diese Grundlagen nach 1871 zu wandeln begannen, verschlechterten sich auch die Beziehungen zwischen den Staaten“ (ebd.). 111 Krüger an Senator Dr. Klügmann, Lübeck, 22. März 1890, anlässlich der Entlassung Bismarcks: „Man kann alle Nachtheile zugeben, welche mit der Fortdauer des Regimentes des alternden Fürsten verbunden waren, und doch bleibt die Hauptfrage die: Wird nach seinem Ausscheiden nicht der schlimmste Feind Deutschland’s, die innere Zwietracht, ihr Haupt erheben, wird die Einigkeit der deutschen Regierungen und Stämme, die er nicht nur mit seiner eisernen Energie, sondern auch durch weise Beschränkung, Vorsicht und Schonung berechtigter Empfindungen herzustellen wußte, auch erhalten bleiben, wird andererseits unsere Machtstellung, der Schutz unserer Grenzen in Ost und West, wird der Europäische Friede so gefestigt bleiben, als seine unvergleichlicche Staatskunst sie seit 20 Jahren zu sichern vermochte?“

ARCTURUS 7 • 2019 139 entscheidende Wort; nichts konnte ohne seine Zustimmung geschehen; er verfügte unter dem ersten Kaiser thatsächlich über die Ministerportefeuilles in Preußen, wie im Reiche; er war im Besitze einer Machtfülle, wie sie in der neueren Geschichte ohne Gleichen ist:“ Mit Wilhelm II. musste er „jetzt einen Willen über sich anerkennen...“112. Am 18. März teilte Krüger nach Lübeck mit, dass Bismarck seine Entlassung eingereicht hätte, und beschrieb den als Nachfolger gehandelten von Caprivi als „unstreitig eine geistig hervorragende Persönlichkeit, von festem Charakter, sehr ernsten Gesinnungen und großem Mitgefühl für die Lage der unteren Volksklassen“ ‑ er brächte aber als Militär für das Amt „keine Erfahrungen mit“113. Als Bismarcks Entlassung vom Kaiser angenommen war, wich von Regierungsmitgliedern, aber auch vom Bundesrat ein lähmender Druck, und es regten sich Hoffnungen auf größere Spielräume für Handel und Industrie114. Nachdem der neue Reichskanzler General von Caprivi zum Mitglied des Bundesrats ernannt worden war, eröffnete er dessen Sitzung am 27. März 1890, indem er auf Zusammenarbeit mit den deutschen Regierungen und dem Bundesrat setzte, und sah zur Zeit als einzige wirkliche Gefahr „die socialdemokratische Agitation“, von der er jedoch glaubte, dass sie „in geeignete Bahnen zu leiten und in Schranken zu halten“ sei115. Obwohl sich Wilhelm II.im Mai 1890 vom Geist des Rückversicherungsvertrags abgewandt und Generalstabschef Alfred Graf von Waldersee einen Krieg gegen Russland beim Besuch des Zaren in Berlin im Oktober 1889 als bevorstehend angesehen hatte116, enstpann sich beim Gegenbesuch des Kaisers am russischen Hof im Herbst 1890 die Atmosphäre zwischen ihm und Zar Alexander als „sehr herzlich“117. Dennoch war der Kaiser über die gerade damals „einsetzende Russifizierungspolitik in Finnland“

112 NSA I, 15, 1. 113 Ebd. ‑ In seinem Bericht vom 20. März 1890 zeichnete Krüger die negativen Charakterzüge Bismarcks, der „sich in der That völlig isolirt [hatte]; er hat weder den Kaiser auf seiner Seite, noch seine Collegen, noch irgend eine der politischen Parteien, die er successive fallen ließ, nachdem er sie benutzt hatte“ (ebd.). Dieses Urteil teilte Krüger mit vielen anderen Zeitgenossen, u.a. mit der Kaiserin Friedrich (vgl. Röhl (wie Anm. 103) S. 367 mit Anm. 38). 114 Bericht Krügers vom 22. März 1890 (NSA I, 15, 1): „Auch der Bundesrath hat seit Delbrück’s Abgang diesen Druck empfunden. Jeder Widerspruch verstummte, jede abweichende Meinung wurde zurückgehalten, wenn man besorgen mußte, mit der Auffassung des Reichskanzlers in Widerspruch zu treten. Ohne Zweifel wird ein freierer Geist sich regen. Die Initiative wird größeren Spielraum gewinnen, die Auswüchse einer von agrarischen Interessen beherrschten Steuer- und Handelspolitik werden schwinden“. 115 Krüger an Senator Dr. Klügmann, 27. März 1890 (NSA I, 15,1). 116 Röhl (wie Anm. 103) S. 257 ff. 117 Krüger an Senator Dr. Klügmann, 5. Okt. 1890 (NSA I, 15,1). Reichskanzler General Caprivi empfing vom Zaren außerdem eine persönliche Auszeichnung.

140 ARCTURUS 7 • 2019 erbost118. Im Dezember 1891 besuchte Krüger von Caprivi, der in den Grafenstand erhoben worden war, und besprach mit ihm die Bedeutung der neu abzuschließenden Handelsverträge, die Deutschland in eine Führungsposition in der Welt brächten119. Im Januar 1892 war es wieder ein persönliches, vertrauliches Gespräch mit dem Reichskanzler, in dem die Verhandlungen über Handelsverträge mit Spanien, den Niederlanden, vor allem aber mit Russland und Finnland erörtert wurden120. Von Caprivi ging weder mit den kolonialen noch mit den maritimen Plänen des Kaisers konform, sondern favorisierte ein kontinentaleuropäisches Bündnissystem auf der Basis des Dreibundes mit Österreich-Ungarn und Italien121. Dass von Caprivi aus innenpolitischen Schwierigkeiten den Posten des preußischen Ministerpräsidenten abgeben musste, bot Krüger den Anlass, dessen „ungewöhnliche staatsmännische Begabung und die absolute Zuverlässigkeit und Reinheit seines Charakters“ herauszustellen, die „ihm das Vertrauen der Aliirten [!] und eine Europäische Stellung verschafft [hatten], in der er schwer zu ersetzen wäre“. Der hanseatische Gesandte sah in ihm vor allem ein willkommenes Gegengewicht zu dem unberechenbaren Kaiser122 und vermeldete vor allem, dass „die unersättlichen Agrarier“ es nicht vermocht hatten, den Minister für Landwirtschaft von Heyden zu stürzen123. Der Gegensatz zwischen Großagrariern und Industrie bzw. Handel innerhalb des Reiches war auch Thema des Gesandtschaftsberichts vom 29. Mai 1892: Das Reichsschatzamt hatte das Gesuch von Bremer und Rostocker Weinhändlern um Erstattung von erhöhten Zöllen „nicht aus zolltechnischen, sondern aus politischen Gründen“ abgelehnt. Politische Gründe verhinderten auch den Abschluss der Handelsverträge mit Spanien und Portugal, da hierzu die Einfuhr nach Deutschland hätte erleichtert werden müssen. Wichtig ist im hier betrachteten Zusammenhang besonders Krügers Hinweis, dass Russland bei deutscher Einführung von Differentialzöllen zwar „nicht besonders fühlbar leiden, jedenfalls aber mit Repressalien antworten würde, die für Deutschland sehr empfindlich sein würden“. Daher dürfte es ihn mit Genugtuung erfüllt haben, dass im Reichsamt des Innern die Meinung vertreten wurde, „dass aus Zollkriegen nichts Gutes zu erwarten ist, wie

118 Röhl (wie Anm. 103) S. 395. 119 Krüger, 21. Dez. 1891 (NSA I, 15,2). 120 Krüger, 19. Jan. 1892 (NSA I, 15,2). Der Reichskanzler äußerte darin, die Verhandlungen mit Russland seien festgefahren. 121 Röhl (wie Anm. 103) S. 400. 122 Krüger, 31. März 1892 (NSA I, 15,2): „Gerade bei der Unberechenbarkeit des Kaisers ‑ Wilhelm ist manchmal so plötzlich, ist ein geflügeltes Wort, welches man seiner Gemahlin in den Mund legt ‑ ist ein Mann von der Willensfestigkeit des Grafen Caprivi von unschätzbarem Werthe“. 123 31. März 1892 (ebd.).

ARCTURUS 7 • 2019 141 Oesterreich und Rumänien, Frankreich und Italien zur Genüge erfahren hätten“124. Dass die wirtschaftspolitischen Ziele der süddeutschen Industrie und, muss wohl hinzugefügt werden, die Interessen der Hansestädte „der bisherigen Haltung der Majorität des Reichstages“ entgegenstanden, könne, so Krüger, „nur durch allmählige, aber unverkennbare Einwirkung des mit dem politischen Gegensatz zu Frankreich und Russland im Zusammenhang stehenden Umschwunges in den wirtschaftlichen Anschauungen der leitenden Kreise“ verändert werden125. Doch zunächst besaßen die ostelbischen Agrarier, besonders der Bund der Landwirte, genug Einfluss126, den Abschluss des Handelsvertrags zu verzögern. Dass der hanseatische Gesandte Einfluss auf Kaiser und Minister nehmen konnte und auch nahm, weil seine Ansichten und Vorschläge nach seinen eigenen Worten z.T. auf profunderer Sachkenntnis beruhten, beweist der schon oben angeführte Bericht über das Diner am 24. Feb. 1893 bei Staatsminister von Boetticher. Hierbei ging es allerdings nicht um den Handelsvertrag mit Russland127. Der Kaiser begann bei diesem Diner sofort, die Rolle Russlands bei einem Krieg auszuleuchten, und dachte in erster Linie an den Ausbau der Flotte. Nachdem der Handelsvertrag im Reichstag verabschiedet worden war, ist dem Bericht Krügers ein deutliches Aufatmen zu entnehmen, da andernfalls entweder die Auflösung des Reichstags oder der Rücktritt des Reichskanzlers die Konsequenz gewesen wären, welche „beiden Eventualitäten [als] gleich verhängnisvoll“ angesehen wurden128.

Weitere Beziehungen Lübecks zu Russland

Politische und Handelsbeziehungen bis zum Vertrag von Rapallo Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen noch einige Nachrichten, soweit sie aus den Akten des Lübecker Archivs augenfällig zutagetreten, gestreift werden, z.B. auch um Anregungen für weitere Forschungen zu geben. Aktenkundig wurde das Importgeschäft von russischem Hafer durch die Lübecker Handelshäuser Heinrich Georg Radbruch und Johann Siegmund Mann durch die beim Zollamt geforderten Herkunftsnachweise 1887/88129. Vor

124 (NSA I, 15,2). 125 29. Mai 1892 (ebd.). 126 Senator Klügmann an Bürgermeister Dr. Kulenkamp, 4. Jan. 1894 mit Beilage eines Ausschnitts aus der Nationalzeitung vom 3. Jan. 1894 über den Bund der Landwirte. 127 Krüger, 25. Feb. 1893 (NSA I, 15, 2). 128 Krüger 17. Dez. 1893 (ebd.). 129 NSA V, 3, 10, 1. Firma Heinrich Georg Radbruch, Mengstraße 58; Firma Johann Siegmund Mann (Getreidehandel, Reederei), Inhaber: Senator Thomas Johann Heinrich Mann und Hans Christo(ph) Wilhelm Eschenburg, Beckergrube 52 (Lübeckisches Adressbuch für 1887).

142 ARCTURUS 7 • 2019 Entdeckung der Erdölquellen auf der Arabischen Halbinsel und in Nordafrika nach dem 2. Weltkrieg waren das Gebiet um Baku am Kaspischen Meer und die Erdölfelder von Ploeşti in Rumänien die wichtigsten Lieferanten dieser fossilen Energie. Der Rohstoff war früher unter der ursprünglich aus dem Assyrischen stammenden Bezeichnung Naphtha (russ. neft‘) bekannt. In Lübeck importierte die Firma Wilhelm Marty u. Co russisches Naphtha und beantragte dafür 1886 die Genehmigung eines Lagers auf der Teerhofsinsel. Die Firma war die Lübecker Vertreterin der Deutsch-russischen Naphtha- Import-Gesellschaft zu Berlin130. Während des russisch-japanischen Kriegs beschwerte sich am 30. April 1905 der „Vorwärts“, dass die Germania-Werft in Kiel zwei zerlegbare Torpedoboote über Lübeck nach Helsingfors zu senden gedächte, womit die offiziell vom Deutschen Reich eingehaltene Neutralität - genau wie während des Burenkriegs - verletzt würde. Wie das Polizeiamt daraufhin feststellte, wurden die Teile durch die Firma F.O. Klingström versandt und auf dem Dampfer Aegir verschifft131. Revolutionäre Unruhen erfassten das russische Reich als Folge des sogenannten „blutigen Sonntag“ in St. Petersburg vom 22. Januar 1905. In Lübeck kam es zu einem in der Zeitung veröffentlichten Aufruf zur Hilfe für die von fanatischen Gruppen verfolgten deutschen Volksgenossen der russischen Ostseeprovinzen. Den Aufruf unterzeichneten eine Reihe namhafter Personen. Wenn sich darunter Pastoren und Lehrer sowie Ärzte befanden, so spielte bei ihnen sicher das caritative Element die wichtigste Rolle. Die Masse der sich vor allem aus Politik und Wirtschaft zu Worte meldenden Personen besaßen Großhandels- oder Speditionsfirmen bzw. waren deren Teilhaber132. Als Inhaber von Industriebetrieben ist an erster Stelle Senator Emil LudwigPossehl zu nennen, aber auch die Handlungsfirma, Dampfmühle und Grützfabrik H.J. Brüggen, deren Teilhaber Adolf Mestorff war, sowie die Firma Simonsbrot, Lübeck, die Paul Schetelig innehatte. In unserem Zusammenhang ist alledings die Firma von F. Schwartzkopf besonders hervorzuheben, da sie speziell russische Marmelade produzierte. Von den Großhandelsfirmen ist auf den Importeur nordischer Hölzer und Holzartikel Kurt Seydell sowie auf Senator Emil August Wilhelm Wolpmann hinzuweisen, der auf Handel und Lagerung nordischer Produkte spezialisiert war. Im Zusammenhang mit den genannten revolutionären Unruhen meldete das

130 NSA V 3, 18, 11., Firma Wilhelm Marty u.Co., Schüsselbuden 20 (Lübeckisches Adressbuch für 1887). 131 NSA II, 5, 21 A. 132 27. Dez. 1905 (NSA II, 5, 21, A). Die Namen werden im Anhang 1 separat veröffentlicht.

ARCTURUS 7 • 2019 143 Auswärtige Amt in Berlin dem Lübecker Senat im Februar 1906, dass die russische Regierung die Einfuhr von Waffen, Kanonen, Bomben, Granaten und Munition in die Weichselprovinzen, ins Baltikum (Kurland, Livland, Estland) und nach Finnland verboten hatte; es erbat daher Mitteilung über entsprechende Transporte und Hinweis an deutsche Exporteure. Die Lübecker Handelskammer gab die Meldung an die zuständigen Reedereien und Schiffsmaklerfirmen weiter und empfahl, die gewünschten Meldungen durch das Hauptzollamt machen zu lassen133. Der Senat befasste sich mit dieser Angelegenheit nicht eingehender134. Die Waffenexporte unterblieben dadurch nicht, sondern wurden mengenmäßig verteilt. Der Ober-Zoll- Inspector meldete das ganze Jahr 1906 über an die Zollkommission des Senats insgesamt 58 Schiffe, die aus Lübeck in baltische, finnische oder russische Häfen ausgelaufen waren und Waffen oder Munition transportierten. Die meisten von ihnen waren Dampschiffe und hatten jeweils nur einige wenige Kisten an Bord. Die größte Lieferung beförderte am 29. Juni 1906 allerdings das Segelschiff Peter mit 138 Kisten alter Gewehre und 567 Kisten Munition, das, nach den Worten der Zollbehörde „angeblich nach Schweden“, in Wahrheit „vermutlich... nach Finland“ in See stach135. Das Mittel, kleine Mengen auf viele Schiffe zu verteilen, half und mag dem in Lübeck von früher bekannten Prinzip der Partenreederei entsprochen haben, wodurch das Risiko, von Seeräubern gekapert zu werden, auf mehreren Schultern lastete und die möglichen Verluste für den einzelnen gering gehalten wurden. Es wurde denn auch keines der aus Lübeck auslaufenden Schiffe aufgebracht oder beschlagnahmt, obwohl die russische Regierung die Kontrollen zur See im Juli 1906 verschärfte136. Lediglich die Durchsuchung des Bremer Dampfers Triton durch einen russischen Zolldampfer wurde im März 1906 aktenkundig137. Die Lübecker Zollbehörde nannte nur anfänglich Lübecker Handelshäuser bzw. Speditionsfirmen, durchgehend aber die Namen der Schiffe. Von den Dampschiffen „Aegir“, „Baltik“, „Bussard“, „Elbe“, „Finland“, „Linnea“, „Newa“, „Pehr (Peter/Petir) Brahe“, „Porthan“, „Primula“ und „Zar“ gehörten „Bussard“, „Elbe“, „Newa“ und „Zar“ zur damaligen Zeit der AG Hanseatische Dampfschiffahrtsgesellschaft, Lübeck138; der Dampfer

133 NSA II, 5, 30. 134 Senatsprotokoll von 1906, 3. Februar, Punkt 25: „Schreiben des Reichskanzlers vom 31. v(origen) M(onats) betr(effend) das Einfuhrverbot von Waffen pp für Rußland und Finnland“ und beschloss: „Beizulegen“. 135 NSA II, 5, 30. 136 Meldung des Auswärtigen Amts, Berlin, 4. Juli 1906 (ebd.). 137 Meldung des Auswärtigen Amts, Berlin, 15. März 1906 (ebd.). 138 Karl-Heinz Sauer, Hanseatische Dampfschiffahrts-Gesellschaft, Lübeck, in: Strandgut 18,

144 ARCTURUS 7 • 2019 „Finland“, 1855 in Hull gebaut, lief von 1869 an zwar für die Lübeck- Finländische Dampfschiffahrtsgesellschaft, wechselte 1885 jedoch zu A. Hedman in Nikolaistad in Russland. Die Dampfer „Elbe“ und „Zar“ waren sogar in Lübeck auf der Schiffswerft von Henry Koch 1886 bzw. 1896 gebaut worden. Der Dampfer „Aegir“, von dem wenig bekannt ist, lief in den Jahren 1872-1875 für F. Hartog & G.F. Sager in Lübeck, wurde 1875 jedoch aus dem Register gestrichen. Der 1906 in der Akte aufgeführte Dampfer „Aegir“ scheint demnach nicht aus Lübeck zu stammen139. Interessant sind auch die Namen der Handelshäuser und Speditionsfirmen, die hier im Zusammenhang mit dem Waffenhandel genannt werden, da hierunter mit Firma Petit und Co.140 die Firma eines Mitglieds der Kompanie der Novgorodfahrer wieder genannt wird.

Dampfschifffahrtsgesellschaften Vorbemerkung Die Schifffahrtsstatistik des Jahres 1834 für das am Finnischen Meerbusen westlich vor St. Petersburg gelegene Kronstadt belegt, daß Lübeck unter den drei Hansestädten hier mit 58 vor 20 Hamburger und 16 Bremer Ankunften eindeutig die Führung besaß. Den gesamten Schiffsverkehr, der Kronstadt erreichte, führte aber England mit 723 vor 302 preußischen, 189 dänischen und 132 holländischen Schiffen an141. Dennoch ist die Zeit vor der Reichsgründung in Lübeck im Hinblick auf den Russlandhandel bereits deutlich durch das Bestreben geprägt, sich den modernisierten Gepflogenheiten im Kredit- und Vorschusssystem und im Speditions- und

August 1988, S. 27-40. 139 Hans Jürgen Abert, Der Heimathafen Lübeck und das Seeschiffsregister 1870-1990. Die Lebensläufe der Seeschiffe. Bad Segeberg und Cuxhaven 1993. Das Werk besitzt keine Seitenzahlen. Die genannten Schiffe haben folgende Bezeichnung: „Aegir“: ss Aegir 91/ ? am; „Bussard“: ss 747/1889 238+308 (Der Dampfer wurde 1889 von der Rostocker AG für Schiffs- & Maschinenbau gebaut und fuhr für die Reederei Wilhelm Minlos in Lübeck; unter dem Namen „Marie Louise“; 1905 umbenannt in „Bussard“ fuhr das Schiff nun für die Hanseatische Dampfschiffahrtsgesellschaft und wurde 1913 nach Persien verkauft); „Elbe“: ss 658/1886 229; „Finland“: ss 149/1855 ad; „Newa“: ss 394/1872 185; „Zar“: ss Zar 877/1896 252. 140 Genannt am 24. Feb. und am 10. März 1906 (NSA II, 5, 30). Vgl. hierzu: Lübeckisches Adressbuch 1906: Petit & Co, Charles, Handlungsfirma, Comm. u. Spedit.; Inhaber: General- Consul Charles Hornung Petit, Untertrave 3 e und Kleine Altefähre 25. ‑ Weitere Handelshäuser, die 1906 Waffen nach Russland versandten, waren Firma Lüders (Hermann Lüders, Spedition und Kommission, Beckergrube 86), Nölting & Cordes (Spedition und Kommission, Inhaber J.E.A. Bock und P.C.C. Bock, Untertrave 33), Krock & Persson (Alexander Krock, Leder & Galanteriewaren, Königstraße 47; Johann Carl Hinrich Persson, Handlungsgehilfe, Wakenitzmauer 122), Stapelfeld & Ludwig (Inhaber Rudolph Ludwig & Martin Mitterhusen, Spedition, Dampfschiffspedition und Reederei, Mengstraße 54), Wilhem Schmidt (Spedition und Frucht-Export, Hafenstraße 20 b). 141 ASA Interna, Commercium 66,1.

ARCTURUS 7 • 2019 145 Kommissionshandel anzupassen, wie sie in Hamburg bereits gang und gäbe waren, und sich durch den Aufbau des deutschen Eisenbahnnetzes nicht von den neu entstehenden Hauptverkehrsstraßen abschneiden zu lassen142.

Erste Dampfschiffsverbindung nach St. Petersburg 1807 fuhr in Amerika das erste Dampfschiff, 1824 das erste Dampfschiff auf der Trave. Im selben Jahr wurde eine regelmäßige Dampfschiffsverbindung nach Kopenhagen, 1828 nach St. Petersburg eröffnet, und 1848 stellte erstmals eine Lübecker Reederei ein Dampfschiff in Dienst143. St. Petersburg war für Lübeck im frühen 19. Jahrhundert einer der wichtigsten Häfen. Dies belegt bereits die Statistik der 1820er und 1830er Jahre. Es lag nach Calmar mit 49 in Lübeck angekommenen und 45 abgegangenen Schiffen im Jahr 1823 an zweiter Stelle mit jeweils 45 bzw. 46 Schiffen144. Die Frequenz steigerte sich bis 1831 auf 67 Ankunften und 59 Abfahrten. Für Calmar steigerte sich die Schiffsfrequenz nur geringfügig, für Riga dagegen etwas mehr145. Im Postvertrag mit Russland hatte 1821 Preußen Russland dazu bewogen, „auf jegliche eigene Postbeförderung über See“ zu verzichten. Obwohl diese Post-Convention für Lübeck und Hamburg nicht bindend gewesen zu sein schien146, scheint die Absicht Preußens erkennbar zu sein, die

142 „P.P.“ des Präses des Commerz-Collegii Theodor Hach über Herstellung einer Dampfschiffahrt zwischen Lübeck, Copenhagen, Gothenburg und Christiana, vom 21. April 1846, weist auf das Kredit- und Vorschusssystem Hamburgs im Handel mit Norwegen hin. Lübeck hätte seine Chancen im Amerikahandel dadurch „heben können“, dass es unter vermehrter Ausschaltung des Zwischenhandels „sich den Fabrikorten und Produktionsländern selbst mehr zuwandte“ (ASA Interna, Commercium 62,4). Ein Auszug aus der St. Petersburger Handelszeitung vom 22. Nov. 1847 vermerkt die Eröffnung der Rostock-Hamburger Eisenbahn. Zur Nutzung der Strecke müssten Zollvergünstigungen mit Mecklenburg ausgehandelt werden (ASA Interna, Commercium 66,1). 143 Wolfgang Muth, Vom Wind zum Dampf ‑ von Holz zu Eisen und Stahl. Technische Innovationen in Schiffahrt und Schiffbau im 19. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf Lübeck, in: Seefahrt, Schiff und Schifferbrüder. 600 Jahre Schiffergesellschaft zu Lübeck 1401-2001, hrsg. für die Schiffergesellschaft zu Lübeck von Rolf Hammel-Kiesow. Lübeck 2001, S. 151-154. 144 ASA Interna, Commercium 62,2. 145 Calmar 1824: an 46, ab 40 Schiffe, 1829 an und ab jeweils 54, Schiffe, 1831 51 bzw. 49 Schiffe.- Riga 1823 an: 20, ab 29 Schiffe, 1829 26 und 23, 1831 42 und 26 Schiffe (ASA Interna, Commercium 62,2). 146 Herbert Schult, Anfänge und erste Entwicklung der Postbeförderung per Dampfschiff zwischen Lübeck und St. Petersburg, in: Aus der Geschichte der Post, Teil 1. Beiträge anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Museum am Dom, hrsg. von Antjekathrin Graßmann und Werner Neugebauer (Senat der Hansestadt Lübeck, Amt für Kultur, Veröffentlichung 13) Lübeck 1979, S. 35-48, Zitat S. 36. Dass die preußisch-russische Post-Convention nicht für Hamburg und Lübeck galt s. ebd. S. 39. Sie hatte aber gleichwohl Auswirkungen auf beide Hansestädte.

146 ARCTURUS 7 • 2019 Postverbindungen ins Baltikum zu kontrollieren. Hiernach bestand in Lübeck grundsätzlicher Bedarf an einer schnellen und vor allem wohl direkten Postbeförderung nach St. Petersburg. Es wurde folglich im selben Jahr 1821 über die Einrichtung einer Reihefahrt (turnusmäßiger Fahrbetrieb durch verschiedene Schiffer) und Einsatz eines Paketboots nach Kronstadt diskutiert147. Schon im Frühjahr 1823 gab es offenbar eine englische Initiative, eine „allgemeine Dampfschiff-Compagnie“ ins Leben zu rufen148, und im Oktober 1825 war in einer Versammlung der „englischen ostseeischen kaufmännischen Dampf-Packet-Association“ der Plan entstanden, eine Dampfschifffahrtsverbindung nach St. Petersburg einzurichten. Darüber war der Hamurger Senat unterrichtet worden. Dessen Senator Sillem149 wandte sich am 7. Nov. 1825 an den Lübecker Amtskollegen Conrad Platzmann150. Der Lübecker Rat erteilte Platzmann sodann den Auftrag, Erkundigungen darüber einzuziehen und dem Rat zu berichten151. Daraufhin

Der sehr gut illustrierte Aufsatz des inzwischen verstorbenen Kenners der Lübecker Schiffs- und Schiffahrtsgeschichte Schult zeigt, wie detailliert die Lübecker Landesgeschichtsforschung trotz der nicht vorhandenen kriegsbedingt ausgelagerten älteren Bestände des Archivs der Hansestadt Lübeck zu arbeiten in der Lage war. Aus heutiger Sicht wird aber auch deutlich, dass für die gesamthistorische Sicht die Senatsakten, die 1979 Schult fehlten, unverzichtbar sind. An der Materie Interessierten wird daher empfohlen, die Darstellung Schults sowie die hier vorgelegten Ausführungen heranzuziehen, um ein annähernd vollständiges Bild zu erhalten. 147 ASA Interna, Seesachen 77,1. ‑ ASA Interna, Commercium 62,4: am 21. März 1821 wurde angenommen, dass bei einer wöchentlichen Fahrt von Travemünde nach Kronstadt ca. 300 Briefe hin- und 200 zürückbefördert würden; die Anzahl der Passagiere wurde auf 3-4 geschätzt, die Höhe der Ladung auf 25-30 Last. Von lübeckischer Seite wurde erwogen, das Segelschiff „Pauline“ unter Kapitän H.H. Reimers einzusetzen. P.A. Stolterfoht berichtete am 21. Juni 1821 aus Edinburg, dass der Schotte Baird u.U. ein Dampfboot zwischen Kiel und St. Petersburg einsetzen würde. 148 Senatsdekret vom 5. April 1823 (ASA Interna, Commercium 62,4) Darin wird auf ein Schreiben des hanseatischen Ministerresidenten in London James Colquhoun an Ratssekretär Roeck vom 21. März 1823 mit diesem Inhalt hingewiesen. Der Lübecker Rat verwies die Angelegenheit an die Kommission für Handel und Schiffahrt. 149 Garlieb Martin Sillem, * 18.6. 1769, † 24.2. 1835, beide Male Hamburg, in den Rat erwählt am 31.8. 1814, Bürgermeister am 4.5. 1829 (freundliche Auskunft von Klaus-Joachim Lorenzen- Schmidt). Sillem besaß weder einen akademischen Grad noch war er Hamburger Postdirektor (so Schult, passim). Aber er war von 1822-1828 Mitglied der Hamburger Postdeputation und als solches von seiten Lübecks „politischer“ Ansprechpartner in dieser Sache. 150 Der Lübeckische Staats-Kalender auf das Jahr 1825 nennt Senator Conrad Platzmann u.a. als Mitglied der Commission für Handel und Schiffahrt, auch des Leihhauses und der Steuer-Deputation für die Stadt, Nicolaus Hermann Müller als Mitglied des Commerz-Collegiums (Bürger). Der Staats-Kalender von 1828 verzeichnet abweichend Platzmann nicht mehr bei der Leihhausbehörde, dafür aber als eines der zwei Mitglieder des Rats bei der Stadtpost und bei den Herren des Zolls und der Zulage. 151 Senatsdekret, Lübeck, 9. Nov. 1825 (ASA Interna, Commercium 62,4).

ARCTURUS 7 • 2019 147 äußerte sich der hanseatische Generalkonsul in London, James Colquhoun, dass von London aus damals schon eine Dampfschiffsverbindung nach Kopenhagen bestehe Eine Verbindung nach St. Petersburg hätten Londoner „Dampfschiffahrts-Associations“ zwar früher einmal geplant gehabt, ohne sie jedoch zu realisieren. Bei den neuerlichen Verhandlungen rechne man dort dafür jetzt mit Lübecker Unterstützung152. Der Lübecker Rat trat allem Anschein nach dem Projekt positiv entgegen, denn er verwies am 1. Feb. 1826 das Ansuchen „mit dem Auftrage“ an die Kommission für Handel und Schifffahrt, sich gutachtlich zu äußern, „auf welche Weise etwa eine ... Paket-Reihe-Fahrt auf St. Petersburg einzurichten seyn mögte“153. Hiernach ersuchte Nicolaus Hermann Müller den Lübecker Rat um das ausschließliche Privileg für eine Dampfschifffahrtslinie zwischen Lübeck und St. Petersburg auf 15 Jahre154. Zu welchem kaufmännischen Kollegium Müller gehörte, ist nicht festzustellen155. Am 19./31. März 1826 teilte der hanseatische Ministerresident zu St. Petersburg Carl Godeffroy nach Lübeck mit, dass das von Müller beim russischen kaiserlichen Ministerium eingereichte „Memorial“ dort „sehr einflussreiche Männer für sich hat“, jedoch „definitiv noch nichts ... ausgemacht [sei], eine entscheidende Antwort aber sehr bald ... erfolgen“ werde156. Die Engländer ließen allerdings dann Taten sprechen und kamen damit „schneller zum Ziel als alle Correspondenz“. Denn am 16./28. Mai 1827 langte „das erste englische Dampfschiff in St. Petersburg an, ohne vorher mit dem russ(ischen) Gouvernement etwas abgemacht zu haben“, und fuhr am 9./21. Juni wieder zurück157. Es war nicht nur unbehelligt geblieben, sondern ihm wurden Zollvergünstigungen, vor allem für Passagiergut, versprochen, die in einem neuen Reglement festgeschrieben werden sollten. Der Lübecker Rat billigte für den hiesigen Kaufmann Müller die Konditionen, die die Kommission für Handel und Schifffahrt ausgearbeitet hatte, für den 1828 in Ausicht genommenen Betrieb. Erwartet wurden höchstens zwölf jährliche Fahrten des Dampfschiffs. Vermutlich handelte Müller Bedingungen

152 10. Nov. 1847 (ebd.). 153 1. Feb. 1826 (ebd.). 154 ASA Interna, Seesachen 77,1, vgl. u.a.: Senatsdekret vom 8. Feb. 1826; vgl. auch Senatsdekret vom 1. März 1828 (ASA Interna, Commercium 62,4). 155 Nicolaus Hermann Müller, * 16. Aug. 1771, Kaufmann, † 1. Aug. 1842, oo am 12. Feb. 1801 in Memel Charlotte Christine Juliane Giese verwitwete Bitt aus Greifswald. Seine Wohnadresse in Lübeck lag in der Königstraße. Die Eltern Müllers waren Carl Gustav Müller, Kaufmann, * 1735, † 1820, oo 1767 Catharina Dorothee von Melle (1747-1815), Tochter des Predigers Johann Jakob von Melle. Von den Kindern des Nicolaus Hermann Müller heiratete Charlotte Dorothee, * 1802, Carl von Franzius in Danzig und Emil, * 1807, zog nach Hamburg. 156 Auszug aus dem Schreiben Godeffroys vom 19./31. März 1826 (ASA Interna, Commercium 62,4). 157 Undatierter Bericht als Beilage ebd.

148 ARCTURUS 7 • 2019 aus, die das englische Dampfschiff-in Lübeck bzw. bei seinem Anlaufen in Travemünde erhalten sollte, und ließ sie über den Rat bzw. über dessen Syndikus Gütschow nach London weiterleiten158. Allerdings lehnte die Lübecker Bürgerschaft ab, Müller ein Privileg für 15 Jahre auszustellen. Hierauf beschloss der Lübecker Rat, dem Gesuch Müllers stattzugeben, dass das „zwischen London, hier und St. Petersburg fahrende Dampfschiff Georg IV.“ bei Abfahrt in Travemünde statt der üblichen Last- und Lotsengelder 30 Mark Aversionalzahlung an das Departement der Zulage zu entrichten hätte und die als Heizmaterial verwendeten Steinkohlen von der Consumtions- Akzise befreit seien159. Die Wichtigkeit der Schiffsverbindung durch das englische Dampfschiff Georg IV. zur direkten Beförderung der Post zwischen beiden Städten unterstreicht von russischer Seite das Schreiben des St. Petersburger Postdirektors Constantin Bulgakow (Bulhakow) vom Juli 1828160. Für die Hansestädte Hamburg und Lübeck war damit nicht nur eine „schnellere Communication“, sondern zugleich ein Stück „Unabhängigkeit von dem [das Postwesen] sonst monopolisirenden Nachbarstaat“ Preußen erreicht161. Festzuhalten ist unbedingt aber auch, dass in den 1820er Jahren zuerst englische Dampfschifffahrtsgesellschaften die Ostsee bis nach Russland eroberten. Dies entsprach wohl nicht nur den kommerziellen Interessen englischer Kaufleute, sondern vor allem dem Know-how der damals führenden Industrienation Europas162.

158 Müller schrieb am 14. Nov. 182[8 ?] an Syndikus Gütschow: „Ew. Hochwohlgeohren ersuche ich um die Gefelligkeit, die Einlage mit ein paar freundlichen Worten versehen mit der Post abgehen zu laßen“. Auf diesem Schreiben ist ein Expeditionsvermerk Güttschows an Colquhoun notiert: „eod(em) kurz an H(errn) Colquhoun geschr(ieben) mit dem Einschluß“ (ebd.). 159 Senatsdekret vom 23. April 1823 (ebd.). 160 ASA Interna, Postwesen 66,1: St. Petersburg, 10./22. Juli 1828 (Abschrift des Ratssekretärs Kindler): „J’ai recu la lettre, que Vos Excellences m’ont fait l’honneur de m’écrire, le 20 Mai, et qui contenoit la proposition de profiter de l’établissement du bateau à vapeur Georges IV., pour la transmission de la correspondance entre St. Petersbourg et Lubeck. Il n’y a aucun doute, qu’un mode d’expédition de ce genre, pourrait devenir utile au public et principalement aux négocians de notre capitale, au moins pendant la saison de la navigation, qui est, en même tems, celle, où le commerce a le plus d’activité...“. 161 Auszug des Schreibens von Syndikus Sieveking, Hamburg, an Syndikus Gütschow, Lübeck, vom 19. April 1828 (ASA Interna, Postwesen 66,1). Zu den Postverbindungen Lübecks mit Russland nach 1813 vgl. aus dem Konvolut 66 die weiteren Faszikel 2-6. 162 Vgl. hierzu ein nicht unterzeichnetes Schreiben aus Lübeck in englischer Sprache vom 14. Nov. 1825, das sogar von einer geplanten Zusammenarbeit zwischen Mitgliedern einer russischen Kompanie und einer „Anglo-Baltic Merchant’s steam Navigation Company“ spricht und einige englische Ansprechpartner namentlich erwähnt (ASA Interna, Commercium 62,4)..

ARCTURUS 7 • 2019 149 Weitere Dampfschiffsverbindungen nach Russland und Finnland Nach Riga wurde seit 1830 eine Dampschiffsverbindung unterhalten. 1852 wurde unter dem Namen Riga-Lübecker Dampfschiffahrtsgesellschaft erneut eine Gesellschaft mit dem Ziel der Schiffsverbindung nach Riga ins Leben gerufen. Deren Direktorium bestand aus drei Mitgliedern, nämlich Johann Friedrich von Brocken, Joachim August Hasse und Hermann Schroeder163. Wie bereits früher erwähnt, war Johann Friedrich von Brocken einer der damaligen Älterleute der Novgorodfahrer. Unter den am 30. und 31. Dezember im Lokal der Gesellschaft für Gemeinnützige Tätigkeit versammelten Inhabern von Aktien der neu gegründeten Dampfschifffahrtsgesellschaft zeichnete von Brocken für das Kollegium der Novgorodfahrer und Heinrich Georg Reddelien für das Kollegium der Schonenfahrer Aktien164. Um einen regelmäßigen Dampfschiffsverkehr mit Riga einzurichten, hatte sich sodann 1857 das Lübecker Handelshaus Franz Oscar Klingström an die Reederei des unter schwedischer Flagge fahrenden Dampfschiffs „Wädershatt“ gewandt, um anschließend beim Lübecker Senat um Befreiung vom Lastgeld zu bitten165. Klingström war 1852 in das Kollegium der Schonenfahrer aufgenommen worden166.

163 ASA Interna, Seesachen, 80, 3: Gesuch der Gesellschaft um Bestätigung der Statuten, 19. April 1852. ‑ Nach Reinhart Schmelzkopf (wie Anm. 87) S. 5-36, wurde 1833 erstmals „ein Liniendienst nach Riga aufgenommen, angeblich durch eine ‚Lübeck-Rigaer Dampfschiffahrts- Gesellschaft‘, der sich jedoch kein Schiff zuweisen läßt“ (S. 9). Schmelzkopf nennt sodann zum Jahr 1856 die „Gründung der ‚Riga-Lübecker Dampfschiffahrts-Gesellschaft‘ (das war vermutlich schon die zweite dieses Namens)“. Die von ihm genannten Johannes Fehling, Damm & Geslien, D.G. Witte, J.A. Wolpmann, H.J. Damm, vor allem aber Wilhelm Minlos, die „sich Dampfer (anschafften) und versuchten, sie später in Actien-Gesellschaften einzubringen“ (ebd. S. 10), sind nicht im Direktorium oder Vorstand genannt. Wieso Schmelzkopf sie zu dieser Dampfschiffahrts- Gesellschaft aufführt, ist rätselhaft wie das von ihm genannte Gründungsdatum der „vermutlich zweiten“ Gesellschaft dieses Namens. Von 1869-1882 existierte nach Schmelzkopf (ebd. S. 13) die „Neue Riga-Lübecker Dampfschiffahrts-Gesellschaft. Die 1884 gegründete ‚Riga-Lübecker Dampfschiffahrts-Gesellschaft‘ ... war nun schon die vierte dieses Namens, und wenigstens dieses Mal klappte es mit dem Erfolg!“ (ebd. S. 14). Reinhart Schmelzkopf hat nach der Archivalienrückführung 1987 und 1990 das Archiv der Hansestadt Lübeck nicht benutzt, Karl- Heinz Sauer (vgl. Anm. 138) nur 1987 und 1988 (Altregistratur des Archivs, Benutzerbogen), als die zurückgekehrten Archivalien noch nicht wieder für die Öffentlichkeit zugänglich waren. Die von Ihnen genannten Daten entstammen daher wohl kaum den für diesen Aufsatz zugrundeliegenden Archivalien. 164 Ebd. sowie ASA Interna, Seesachen 80,3. 165 ASA Interna, Seesachen 80,5 (2. Juli 1857). ‑ „Lastgeld“ war eine Abgabe von einer „Schiffslast“. Hierbei handelte es sich um spezielle Maßeinheiten. In Lübeck galt ein Schiffspfund 135,25 kg, 7,39 Schiffspfund ergaben eine Tonne, eine „Last“ Tonnage entspricht 1,33 Nettoregistertonnen (vgl. hierzu Antjekathrin Graßmann [Hrsg.], Lübeckische Geschichte, 4. verbesserte Auflage Lübeck 2008, S. 942). 166 Handelskammer Nr. 9.

150 ARCTURUS 7 • 2019 Als AG wurde 1884 eine Riga-Lübecker Dampfschiffahrts-Gesellschaft gegründet, die 1935 liquidiert wurde167. Die Interessenten an einer Finnländisch-Lübeckischen Dampfschiffahrtsgesellschaft fanden sich am 9. September 1850 in Lübeck zusammen, um u.a. ein Direktorium zu wählen. Die Wahl fiel auf A.F. Siemsen, G.F. Harms, M. Brattström und C.H. Suckau. An Stelle von C.H. Suckau befand sich am 18. April 1851 Joachim August Hasse, als die Direktion der Gesellschaft darum bat, sich die Vergünstigungen bestätigen zu lassen. Der Fahrbetrieb spielte sich zwischen Lübeck, Åbo und Helsingfors ab168. Siemsen gehörte dem Kollegium der Novgorodfahrer an. Mit M. Brattström ist der 1809 in Philippstad geborene, 1838 zum Lübecker Bürger angenommene Kaufmann Marcellus Brattström gemeint, dessen Sohn Carl Alfred, geboren 1847, mehrfach bereits im Zusammenhang mit der Firma Haltermann & Brattström im Russland- bzw. Finnlandgeschäft genannt wurde169 Die Südfinnländische Dampfschiffahrtsgesellschaft wollte für ihr zwischen Lübeck, Reval und Helsingfors verkehrendes Dampschiff Alexander im Jahr 1858 Befreiung vom Lastgeld erhalten und ließ ihren Antrag über ihren Lübecker Bevollmächtigten, das Handlungshaus Jacob Ludwig Bruhns & Sohn, beim Lübecker Senat vortragen170. Während das Handlungshaus J.L. Bruhns zu denjenigen Lübeckern gehörte, die schon 1843 im Finnlandhandel tätig gewesen waren171, ist die Lübecker Kommissions- und Speditionshandlung Piehl & Co., die sich 1864 für die Porthan-Dampfschiffahrtsgesellschaft als deren Kommissionär ebenfalls für Befreiung vom Lastgeld in Lübeck einsetzte172, bisher noch nicht genannt worden. Inhaber der Firma waren Christian August Heinrich Piehl und deren Teilhaber Hermann Wilhelm Fehling173. Die Gesellschaft hatte ihren Sitz im finnischen Åbo und beabsichtigte, ihren Schraubendampfer Porthan vom Sommer 1865 an regelmäßig zwischen Lübeck, Helsingfors, Åbo und Räfsö (finn. Reposaari, Vorhafen von Björneborg (finn. Pori)) verkehren zu lassen.

167 Handelsregister B Nr. 13. 168 ASA Interna, Seesachen, 80, 2. 169 Marcellus Brattström starb am 28. Mai 1874. Sohn Carl Alfred, geboren am 28. Sep. 1847, ebenfalls Kaufmann, wurde 1874 Bürger in Lübeck und alleiniger Inhaber des von seinem Vater sowie Senator Haltermann begründeten Handlungshauses Haltermann & Brattström, 1892- 1899 Senator; er starb am 4. August 1911. Vgl. zu ihm auch Fehling (wie Anm. 9) Nr. 1020.- Zum Handelshaus Haltermann & Brattström vgl. HR A Nr. 48. 170 ASA Interna, Seesachen 80,6 (3.Mai 1858). 171 s.o. Anm. 22. 172 ASA Interna, Seesachen, 80, 7 (6. Sep. 1864). 173 Adressbuch 1864.

ARCTURUS 7 • 2019 151 Werfen wir einen Blick auf die Hanseatische Dampfschiffahrtsgesellschaft Lübeck. Sie wurde 1869 gegründet und fusionierte 1927 mit der Rhederei Aktien- Gesellschaft von 1896 in Hamburg174. Ihre Gründer und Vorstandsmitglieder waren Hans Joachim Damm, Kaufmann in Lübeck, August Rehder für die Firma August Peter Rehder in Lübeck und der Hamburger W. Schernikau. Zweck des Unternehmens war in erster Linie der Reedereibetrieb zwischen Lübeck und St. Petersburg, wenn es allerdings vorteilhaft erscheinen sollte, auch zwischen anderen Plätzen175. Der Vorstandsvorsitzende Hans Joachim Damm war 1852 in die Krämerkompanie in Lübeck eingetreten176, mit August Rehder steht aber ein Sohn wiederum eines der letzten Mitglieder des Kollegiums der Lübecker Rigafahrer, nämlich August Peter Rehder, vor uns177 - ein weiteres Beispiel für personelle und wirtschaftliche Kontinuität im Sinne der Ausgangsfragestellung. Betrachten wir nun den Bericht des Vorstandes an den Aufsichtsrat für das Jahr 1897 - damals war Heinrich Doehring Vorstand - so ist die Bemerkung, dass „mit Beginn der Petersburger Fahrt ... alle vier Dampfer Newa, Trave, Elbe und Zar in diese Linie eingestellt“ wurden, weil sich „das Geschäft von Petersburg recht lebhaft entwickelte, ... was zweifellos auf den Handelsvertrag zurückzuführen sein dürfte, dessen Segnungen sich da bemerkbar machen“178, eine deutliche Rückmeldung von unternehmerischer Seite auf die von Lübecker Seite auf Reichsebene erfolgte Vertretung der Interessen der eigenen Wirtschaft. Das Geschäft mit Hamburg, so der Bericht, hatte nachgelassen, da von dort über den Kaiser-Wilhelm-Kanal ohne Berührung Lübecks die Ostsee erreicht werden konnte. Dagegen wird gemeldet, dass nach dem witterungsbedingten Ende der Petersburger Schifffahrt die Dampfer „Zar“ und „Elbe“ „in wilder Fahrt“, d.h. unregelmäßig nach Ladungsaufkommen, nach Reval fuhren, „da nach Reval ein derartiger Mangel an Ladung sich zeigte, wie wohl kaum in je einem Jahre zuvor“179. Vor allem waren es die Dampfer „Newa“ und „Moskau“ der Hanseatischen Dampfschiffahrtsgesellschaft in Lübeck, die neben Waren zusätzlich 16-20 Personen als Passagiere mitnehmen konnten180. Die Saison für

174 Handelsregister B Nr. 20. 175 Ebd. ‑ Gründungsdatum (Protokoll) 19. April 1869; darin: Statuten der Gesellschaft (Druck, Lübeck 1868), bes. § 2 und 8. 176 Handelskammer Nr. 9. 177 August Peter Rehder, * 21. Mai 1792, Bürger 1814, † 31. Juli 1873, wurde 1814 zunächst Krämer, dann 1816 Rigafahrer (Handelskammer Nr. 9; siehe auch oben). Sein Sohn August Rehder, * 13. Juli 1819, Bürger 1845, starb am 18. März 1885. 178 Handelskammer Nr. 740. 179 Ebd. 180 Handelskammer Nr. 749, F.H. Bertling an die Handelskammer Lübeck, 29. Mai 1913.

152 ARCTURUS 7 • 2019 Passagiere erstreckte sich auf Mai bis Mitte September; die übrige Zeit des Jahres mussten die Dampfer, wollten sie rentabel fahren, im Frachtverkehr eingesetzt werden. Derjenige deutsche Hafen, der sich mit zwei Dampfern eine regelmäßige Passagierbeförderung nach St. Petersburg leistete, war Stettin, da die meisten Personen als Abfahrts- oder Zielort Berlin hatten. Für sie wäre der Hafen Lübeck ein Umweg gewesen. Betrachten wir die übrigen in Lübeck ansässigen Dampschifffahrtsgesellschaften, die Verbindungen mit baltischen, russischen oder finnischen Häfen unterhielten: In der Lübeck-Wyburger Dampschiffahrts- Gesellschaft181 saßen 1896 Hermann Warncke (Konsul), Alfred Brattström und G.J.G. Schwartzkopf im Vorstand182. Im Zusammenhang mit dem deutsch-russischen Handelsvertrag war Alfred Brattström (Haltermann & Brattström) bereits genannt worden. Zum Vorstand der Lübeck-Königsberger Dampfschiffahrts-Gesellschaft183 hingegen gehörte 1896 neben F.H. Bertling auch H. Gaedertz184. Hier muss es sich um den 1844 in das Kollegium der Novgorodfahrer eingetretenen Heinrich Gaedertz gehandelt haben185. Nach Libau in Kurland unterhielt wiederum die Libau-Lübecker Dampfschiffahrts- Gesellschaft186 ständigen Fahrtbetrieb. Während 1898 im Vorstand H.Pape und G. Ed. Tegtmeyer saßen, findet sich im Aufsichtsrat u.a. Charles Hornung Petit wieder187, Sohn Charles Petits, eines der letzten Novgorodfahrer. Aber auch die Lübeck-Bremer Dampfschiffahrts-Gesellschaft188 befuhr die Ostsee bis Danzig und Memel, aber im Vorstand oder Aufsichtsrat scheinen keine schon im Handel mit Russland oder dem Baltikum genannten Personen gesessen zu haben189.

Handelsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs begann ein völlig neuer Zeitabschnitt. Deutschland hatte keinen Kaiser, Russland keinen Zaren mehr. Erstmals in der Geschichte Deutschlands machte die Republik von Weimar ungelenke

181 AHL, keine Handelsregisterakte. Vgl. hierzu: Reinhart Schmelzkopf (wie Anm. 87) S. 5 ff., hier S. 14 mit Hinweis auf Forschungen von Karl-Heinz Sauer. Die Lübeck-Wyborger Dampfschiffahrtsgesellschaft wurde 1876 gegründet. 182 Handelskammer Nr. 740, Abrechnung für das Jahr 1896. 183 Handelsregister B Nr. 6. Nach Schmelzkopf (wie. Anm 88) S. 14 entstanden 1881. 184 Handelskammer Nr. 740, Gewinn- und Verlust-Conto 1896. 185 s.o.; * 13. Okt. 1813, 1844 Mai 29 Bürger, † 16. Aug. 1904. 186 Keine Handelsregisterakte. Nach Schmelzkopf (wie Anm. 87) S. 14, 1878 gegründet. 187 Handelskammer Nr. 740, Bilanz ultimo Januar 1898. 188 Handelsregister B Nr. 8. Nach Schmelzkopf (wie Anm. 87) S. 14, 1883 gegründet. 189 Handelskammer Nr. 740, Bericht des Vorstandes für 1912.

ARCTURUS 7 • 2019 153 demokratische Gehversuche, und Russland versuchte als erster Staat der Welt, ein kommunistisches Gesellschaftssystem zunächst im eigenen Land aufzubauen, um es dann ‑ befruchtend und beglückend ‑ in der ganzen Welt zu verbreiten. Während das Deutsche Reich zwar nicht durch eine Kriegführung im eigenen Land, aber nach dem Friedensschluss von Versailles durch immense Reparationen belastet war, litt Russland sowohl unter Schäden des Kriegs als auch unter den Folgen der Oktoberrevolution. Beide Staaten spielten im Konzert der Mächte eine Außenseiterrolle und waren daher in der Lage, trotz ideologisch mehr oder weniger starker Vorbehalte auf diplomatischem, wirtschaftlichem und militärischem Gebiet aufeinander zuzugehen. Die bisherigen politischen und wirtschaftlichen Abkommen zwischen beiden Ländern waren durch den Weltkrieg zunächst unwirksam geworden und wurden danach durch den Frieden von Brest-Litowsk im März 1918 und das deutsch-russische Privatrechtsabkommen vom August 1918 neu geregelt. Die Waffenstillstandsverhandlungen vom 11. Nov. 1918 zwangen Deutschland dann allerdings dazu, diese Verträge aufzuheben, so dass erst das deutsch-russische Abkommen vom 6. Mai 1921 den vertragslosen Zustand zwischen beiden Staaten beendete. Beide Staaten erkannten sich dann am 16. April 1922 im Vertrag von Rapallo als gleichberechtigt an und verzichteten auf alle Ansprüche aus der Zeit des Kriegs.190. Beide Staaten einigten sich auf wechselseitige Meistbegünstigung. Anders als der oben besprochene Handelsvertrag zwischen Deutschland und Russland von 1894 kam der Vertrag von Rapallo nicht zustande, weil beiderseitige Vertreter des Handels, der Wirtschaft und Industrie auf Kooperation drangen. Auf der am 10. April 1922 beginnenden Internationalen Konferenz von Genua und bei den sich davon abspaltenden Sonderverhandlungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland in Rapallo ging es in erster Linie um Forderungen und Ansprüche aus dem gerade beendeten Weltkrieg. Private Initiativen des Handels spielten daher für den Beginn der politischen Verhandlungen keine Rolle191. Wohl aufgrund des deutsch-russischen Abkommens vom Mai 1921 teilte das Reichsministerium des Innern in Berlin nach Lübeck mit, dass die russische Regierung demnächst Handelsschiffen das Anlaufen deutscher

190 Rundschreiben des Auswärtigen Amts vom 17. Aug. 1922 an den Lübecker Senat, dort eingegangen am 18. Sep., bei der Handelskammer am 2. Okt. 1922 (NSA II, 5, 21). Das am 19. April 1920 geschlossene Abkommen hatte nur die Heimschaffung der beiderseitigen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten geregelt. 191 Vgl. Horst Günther Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo (Abhandlungen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 22) Köln 1970, bes. S. 198 ff.

154 ARCTURUS 7 • 2019 Häfen erlauben würde. Diese Häfen waren vor allem Stettin und Hamburg192. Nach Abschluss des Vertrags von Rapallo empfahl das Auswärtige Amt besonders, dass „deutsche Wirtschaftsträger mit den Trägern der russischen Wirtschaft in Russland selber in unmittelbare Geschäftsverbindung“ träten sowie das Niederlassungsrecht, Geschäftsreisen, zollfreie Transitläger und die Personenunterbringung in St. Petersburg und Moskau geregelt würden. Außerdem müsste der Zahlungsverkehr bei dem neuen russischen Staatsbankmonopol mit seinen „unmöglichen Zwangskursen“ verbessert werden193. Wie im Folgenden ersichtlich wird, hatten Lübecks Wirtschaft und Handel nach dem Krieg, nach der öffentlichen Meinung zu folgern, nichts oder nur wenig unternommen, ihre Stellung im Russland- und Finnlandgeschäft wieder aufzubauen. Die Lübecker Handelskammer wies in ihrem Schreiben, von Präses Boie und Syndikus Dr. Keibel, an das Auswärtige Amt vom 14. Okt. 1922 bereits auf ihre Eingabe an den Lübecker Senat vom 11. Juli 1922 hin und forderte in erster Linie im Hinblick auf den Handelsverkehr mit Russland, dass Rechtsunsicherheiten und das staatliche Monopol des russischen Außenhandels beseitigt würden194. Die deutsche Seite hatte offenbar bald erreicht, dass sich die russische staatliche Aufsicht des Außenhandels auf eine Kontrolle des vom Ausland freien Handels mit russischen Gouvernementsstädten beschränkte. Dadurch war Handel mit bestimmten Warenmengen (Kontingentierung) möglich, wofür allerdings Kredite verlangt wurden, die „in keinem Verhältnis zu dem in Frage kommenden Geschäfte stehen“195. Da deutsche Bankunternehmen in Russland nicht zugelassen waren, sollte ermöglicht werden, dass an den russischen Haupthandelsplätzen bei der russischen Staatsbank ein Vertreter der Deutschen Reichsbank eingestellt würde: Er sollte die Zahlungen der deutschen Kaufleute übernehmen. Auf Lübeck bezogen ist vor allem wichtig, welche Waren im- bzw. exportiert wurden: Aus Russland kamen in Frage: „Holz, Hanf, Flachs, Roßhaare, Wolle, Felle, Pelze, Platin, Sanalodin, Kiefernadelöl, Ameiseneier, Hausenblasen, Rohlakritze,

192 17. Aug. 1921 (NSA II, 5, 21, A. 193 Ebd.. 194 Ebd.. – Hingegen wurde die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zu Finnland energischer betrieben. Es waren Lübecker Reeder und Kaufleute, die an der Spitze der drei Hansestädte noch vor der finnischen Unabhängigkeitserklärung durch die Gründung einer Hansa- Gruppe mit eigenem Vorstand die Führung in einer Deutsch-Finnischen Vereinigung übernahm, die bis dahin im Fahrwasser kontinental ausgerichteter deutscher Exportinteressen fuhr. Sie forderten, Finnland handelspolitisch den skandinavischen Neutralen gleichzustellen. (Vgl. Robert Schweitzer: 20 Jahre Deutsch-Finnische Handelskammer – 80 Jahre Deutsch-Finnische Vereinigung, Lübeck 1998, S. 38-42). 195 Ebd. (14. Okt. 1922).

ARCTURUS 7 • 2019 155 Abbrände und Schrott. Zur Ausfuhr nach Rußland: Fertigwaren aller Art, z.B. Flußfahrzeuge, Maschinen verschiedener Art, Chemikalien usw.“196 Vor allem die Einfuhrartikel aus Russland zeigen weitgehend die traditionellen Waren; die Ausfuhrartikel nach Russland erlauben einen Blick auf den Stand der Industrialisierung Deutschlands, inwieweit auch Lübecks, wird weiter unten gestreift werden. Die internationale Bereitschaft, über neue Wirtschaftsbedingungen und Leistung der Reparationszahlungen zu verhandeln, wie es dann auf der Konferenz von Genua (10. April - 19. Mai 1922) geschah (die dann allerdings ergebnislos abgebrochen wurde), war wohl schon zum Jahresbeginn zu spüren. Die Lübecker Neuesten Nachrichten fragten am 26. Januar 1922: „Ist Lübecks Kaufmannschaft für den Verkehr mit Rußland gerüstet?“ und zitierten auch das Wort von Lloyd George, dass „der Wiederaufbau Rußlands ohne Deutschland unmöglich“ sei197. Doch die Voraussetzungen dafür hatten sich an der Trave im Vergleich zur Vorkriegszeit erheblich verschlechtert. Eine Zuschrift aus Lübecker Kaufmannskreisen, die die Zeitung in dem Artikel abdruckte, belegt dies. Positiv sei zwar die Erweiterung der Hafenanlagen am Konstinplatz und die Vertiefung des Fahrwassers der Trave, die erhöhten Eisenbahntarife ließen Lübeck jedoch gegenüber Hamburg und Stettin zurückfallen. Von Hamburg aus gingen ‑ nach Bedarf ‑ zwei- bis dreimal wöchentlich Dampfer, „von Stettin ... mindestens 2 Mal wöchentlich kombinierte Fracht- und Passagierdampfer“, während in Lübeck „die vor dem Kriege so regelmäßige Schiffahrt nach Reval und Riga vollkommen eingeschlafen“ sei. Ja, der „vor dem Krieg so ruhige Stettiner Hafen“ habe sogar den Finnlandverkehr an sich gerissen ‑ vor dem Krieg unbestreitbar eine Domäne der Lübecker Kaufmannschaft: „Zwei deutsche große Dampfergesellschaften und eine finnische wetteifern miteinander, die besten Passagierschiffe von Stettin nach den Nordstaaten fahren zu lassen“. Die Zuschrift beantwortet die „Untätigkeitkeit“ der Lübecker Kaufmannschaft mit der Frage: „Haben die leider so früh verstorbenen, weitschauenden Kaufleute wie Senator Possehl und Konsul Bertling keine Nachfolger gefunden?“ Curt Drews von der Firma Deecke & Boldemann äußerte sich am 24. Juli 1922 in den Lübecker Neuesten Nachrichten: „Es sind jetzt fünf volle Jahre vergangen, ohne daß die Lübecker Kaufmannschaft sich entschließen konnte, etwas zu unternehmen, um die Handelsverbindung Lübeck-Petersburg wieder herzustellen“198. Und am 30. September richtete sich ein vierseitiger anonymer Aufruf mit der Überschrift „Was fehlt Lübeck?“

196 Ebd. (14. Okt. 1922). 197 Ebd.. 198 Ebd..

156 ARCTURUS 7 • 2019 offenbar an die maßgeblichen Bürger der Stadt. Er beginnt mit den hehren Worten: „Es fehlt der grosse Gedanke für eine zukünftige Entwickelung des Wirtschaftslebens unserer Stadt. Es fehlt das Ziel, nach dem wir streben müssen, um unsere Stadt und unseren Staat wieder wirtschaftlich stark zu machen und ihr das Ansehen und die Stellung als Handels- und Industriestadt zu geben, die ihr nach der geographischen Lage und ihrer Tradition als Ostseehafen im deutschen Lande gebührt!“ Bremen und Kiel machten Lübeck den Rang im Russlandhandel streitig usw.199 Der auch in der Geschichtsschreibung stets wiederkehrende Streit, ob Strukturen oder Personen den Gang der Geschichte maßgeblich und mehr beeinflussten, wird erneut eindeutig zugunsten von Personen bzw. herausragenden Persönlichkeiten entschieden, wenn der „nach den Randlagen verkehrenden Reederei“ in Lübeck der Vorwurf gemacht wird, sie stehe auf dem Standpunkt: „erst muß die Ware da sein, dann wird auch Schiffsgelegenheit geschaffen“, denn er sei „jedenfalls in der Jetztzeit nicht haltbar, und die Folgen haben wir oben beschrieben“200. Dies bestätigen auch die gedruckt erschienenen Schiffsnachrichten der Handelskammer. Russland wurde ‑ begreiflicherweise ‑ damals gar nicht angelaufen, Riga alle zehn Tage, nach Libau und Reval fuhren monatlich zwei bis drei Dampfer. Nach Riga wickelte den Personenverkehr F.H. Bertling,, Große Altefähre, ab, den Frachtverkehr Johannes Burmester, Beckergrube, nach Libau war für Personen- und Frachtverkehr die Hanseatische Dampfschiffahrts-Gesellschaft zuständig. Für Finnland wurden immer noch relativ viele Häfen erwähnt, doch waren in dieser Zeit des Frühjahrs (April) Helsingfors, Wiborg, Kotka, Raumo (finn. Rauma), Mäntyluoto und Wasa noch wegen Eises geschlossen. Passierbar war Hangö (finn. Hanko) und wurde wöchentlich einmal sonnabends von der Deutsch-Finnischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft und von der Linie Lübeck-Finnland „etwa“ zweimal monatlich erreicht. Zwischen Åbo und Lübeck fuhr die in Åbo ansässige Gesellschaft „Ångfartygs-Aktiebolaget ,Transito‘“ wöchentlich sonnabends. Die Lübecker Vertretung übernahm das Schiffahrtskontor Piehl & Fehling, Beckergrube 89. Ein- bis zweimal monatlich übernahm die Lübecker Firma C.F. Schütt & Co, Untertrave den Personen- und Frachtverkehr in das finnische Åbo201.. Es sei auch hier wieder auf einige personelle Kontinuitäten hingewiesen: Der eben genannte F(riedrich) H(einrich) Bertling, geboren in Northeim, ließ sich

199 30. Sep. 1922 (ebd.). 200 Ebd. sowie Lübecker Neueste Nachrichten vom 26.1. 1922). 201 Mitteilungen der Handelskammer zu Lübeck vom 18. April 1922. S. 99-100 (auch in NSA II, 5, 21).

ARCTURUS 7 • 2019 157 zwar erst 1864 in Lübeck mit einer Speditions- und Kommissionshandlung nieder, so dass sein Name nicht unter den eingangs behandelten einschlägigen Russlandinteressierten auftauchen kann. Er war seit 1877 in der Handelskammer, seit 1893 im Senat und starb 1914202. Er gehörte aber dem Vorstand sowohl der Riga-Lübecker als auch der Lübeck-Königsberger Dampfschiffahrts-Gesellschaft an203. Erwähnt worden waren jedochbereits die Hanseatische Dampfschiffahrts-Gesellschaft sowie die Firma Piehl & Fehling. Nicht erwähnt worden waren bisher die Firmen Burmester und Schütt, da ihre Inhaber nicht zu den letzten Novgorod- oder Rigafahrern gehört hatten. Dennoch gibt es hier Kontinuitäten, da J.J. Burmester zum Aufsichtsrat der Riga-Lübecker Dampfschiffahrts-Gesellschaft und L. Schütt zum Aufsichtsrat der Lübeck-Königsberger Dampfschiffahrts-Gesellschaft gehört hatte204. Es handelte sich bei ihnen um Familienunternehmen, die sich aus Anfängen als Schiffer bzw. Schiffsmakler zu Reedereien oder Großhandelsfirmen entwickelt hatten205. Bei einer vom Reich gebildeten Kommission von privaten Sachverständigen, die Russland 1922 bereiste, um die Anknüpfung von Wirtschaftsbeziehungen zu erleichtern, war Lübeck nicht vertreten206. In Lübeck hatten sich die Handelskammer, der Leiter des Nachrichtenamts Dr. R. Stucken und der Direktor der Oberrealschule zum Dom Dr. Sebald Schwarz vergeblich bemüht, „eine Persönlichkeit zu gewinnen, welche neben der Erteilung von russischem Unterricht zur Bearbeitung der wirtschaftlichen Vorgänge geeignet wäre“207. Vor einem geschlossenen Kreis von Lübecker Wirtschaftsinteressenten hielt lediglich Geheimrat Cleinow am 17. Mai 1922 einen Vortrag über „die sozialen Verhältnisse Rußlands im Zusammenhang ihrer Bedeutung für den Vertrag von Rapallo“208. Es kann daraus geschlossen werden,

202 Fehling (wie Anm. 9) Nr. 1021. 203 Vgl. Handelskammer Nr. 740, z.B. für das Jahr 1896. 204 Vgl. Handelskammer Nr. 740, z.B. f.d. Jahr 1896. 205 Von Georg Heinrich Bernhard Burmester, * 25. Juni 1803, Schiffer, Bürger und Heirat 1833, zur See verschollen 1850, stammte Johannes Jacob Burmester, Schiffsmakler, ab, * 22. Jan. 1842, Bürger und Heirat 1870. Der Sohn und Geschäftsnachfolger Hans Heinrich Hermann Burmester, * 12 Feb. 1872, Bürger 1898, war Kaufmann. ‑ Der Sohn des Heinrich Nicolaus Schütt, * 10. Okt. 1773, Schiffsmakler, † 30. Mai 1831, Johann Christian Friedrich Schütt, gründete die Firma, die bis in die hier betrachteten 1920er Jahre den Namen C.F. Schütt & Co. trug. Er wurde am 25. Sep. 1808 geboren, wurde 1831 Bürger, heiratete 1832 und starb am 6. Juli 1884. Dessen Sohn Heinrich Gotthard Ludwig, * 21. Mai 1835, war Schiffsclarier, wurde 1863 Bürger und starb 1903. Sein Sohn Wilhelm Ludwig, * 11. Nov. 1875, war dann Kaufmann. 206 Meyer-Lürsen, Lübeckische Gesandtschaft in Berlin, an Bürgermeister Dr. Neumann, 9. März 1922 (NSA II, 5,21). 207 Nachrichtenamt an Senatskommission für Handel und Schiffahrt, 27. April 1922 (ebd.). 208 Mitteilung des Lübecker Industrie-Vereins vom 15. Mai 1922 (ebd.).

158 ARCTURUS 7 • 2019 dass die ungewohnten politischen Verhältnisse in Russland das zaghafte Vorgehen mit verursacht hatten. Zum 14. Juni 1922 wurde eine vertrauliche Besprechung über die derzeitigen wirtschaftlichen Verhältnisse in Russland mit dem langjährig als Stahlwerksleiter in Russland tätige Ingenieur Schott anberaumt. Neben einer Reihe von Sachverständigen bereisten aus Lübeck Curt Drews von der Firma Deecke & Boldemann und ein Herr Ahrendt von der Firma Possehl Russland. Die am Russlandgeschäft interessierten Firmen sollten sich jedoch, so die Lübeckische Gesandtschaft in Berlin, an die in Bremen geschaffene Gesellschaft „Mercator anschließen209. Wie im Schreiben des Auswärtigen Amts bereits angerissen, waren es Vertreter von Handel und Industrie aus Lübeck, die aktiv wurden. Erschwerend kam jedoch für die Ausgestaltung des Vertrags von Rapallo auf deutscher Seite die Geldentwertung hinzu. Das Handelshaus Deecke & Boldemann erklärte am 2. Okt. 1922 gegenüber Senator Kalkbrenner, es sei zwar bereit, einen sofortigen Kredit von 5 Millionen Mark „für die Abwickelung des ersten Geschäftes zu gewähren“, während die russische Handelsstelle in Berlin 50 Millionen Mark verlangte. Es bat daher zu prüfen, ob vielleicht „der Staat sich an dieser Kreditgewährung für Petersburg beteiligen würde“210. Auch das Drägerwerk meldete sich in einem Schreiben an die Handelskammer zu Wort211. Es wünschte vor allem die Sicherung von Patentrechten. Aufschlussreich ist eine Liste der „Interessenten für den deutsch-russischen Handelsverkehr“ (zu ergänzen ist: aus Lübeck), die der Senatsakte beiliegt212. Von den insgesamt 39 Positionen entfielen immerhin 16 auf Industriebetriebe. Hiervon waren vier Maschinenbaubetriebe, darunter das Travewerk in Siems, das speziell Bagger-, Schiffs- und Maschinenbau betrieb, und die Georg Harder AG mit landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten. Dazu kamen Werften, darunter Flender, sowie der Possehl-Konzern, die Stanz- und Emaillierwerke Carl Thiel & Söhne, als Vertreter der Blechindustrie ebenfalls die Lubeca-Werke, und das Hartgusswerk „Sirius“ AG. Drei Unternehmen gehörten zur Branche der Schiffsreeder bzw. Schifffahrtsgesellschaften, vier Personen vertraten Großbanken. Unter den 14 für Lübeck traditionell in diesem Zusammenhang zu erwartenden Handelshäusern, die im Adressbuch in erster Linie unter Spedition, Kommission, Im- und Export firmierten, sind die auf den Handel mit russischen bzw. finnischen Waren spezialisiert erscheinenden Firmen Havemann & Sohn(Holzhandel) und Dahlberg & Co.(Hanf-Import) zu

209 7. Juli 1922, (ebd.). 210 2. Okt. 1922 (ebd.). 211 27. Sep. 1922 (ebd.). 212 Undatiert (ebd.).

ARCTURUS 7 • 2019 159 nennen. Daneben war die Firma Buck & Willmann Vertreter der finnischen Messe, und J.A. Wolpmann war auf den Handel mit nordischen Produkten en gros spezialisiert. Die Liste belegt, dass Lübeck sich in den zurückliegenden ca. 30 Jahren zu einem nicht unbedeutenden Industriestandort entwickelt hatte, für dessen Erzeugnisse in Russland unzweifelhaft großer Bedarf bestand. Dies erscheint auch darum von Wichtigkeit, weil das reine Großhandelsgeschäft, das Lübeck in den Jahrhunderten vorher zu seiner Stellung innerhalb der Hanse verholfen hatte und auch noch charakteristisch für die Stadt im 19. Jahrhundert gewesen zu sein scheint, inzwischen über Hafenplätze wie Hamburg, Bremen und Stettin günstiger und schneller abgewickelt werden konnte. Es dürfte daher die Behauptung richtig escheinen, dass wohl nur durch die zunehmende Industrialisierung der Stadt auch Großhandel und Reedereien ihre Berechtigung beibehalten konnten. Es kann hier nun allerdings nicht mehr verfolgt werden, ob, wie weit und mit welchem Erfolg die als Interessenten 1922 aufgeführten Personen oder Firmen wirklich in das Russlandgeschäft eingestiegen sind. Den beginnenden Warenaustausch zwischen beiden Staaten wickelte als vermittelndes Unternehmen die Deutsch-Russische Transportgesellschaft mbH (Derutra) ab, die eine Zweigniederlassung in Hamburg unterhielt. Für diese Gesellschaft war die Lübecker Firma Wilhelm Minlos mehrfach tätig gewesen213, womit wir ein in diesem Zusammenhang sehr früh bereits im Russlandhandel genanntes Handelshaus wiederfinden. Es handelte sich dabei aber nur jeweils um einzelne Aufträge, wie aus dem Schreiben der Zweigniederlassung der Deutsch-russischen Transportgesellschaft an die Senats-Kommission für Handel und Schifffahrt in Lübeck vom 6. Juni 1922 hervorgeht: Es heißt darin: „… dass Sie scheinbar von einer irrtümlichen Auffassung ausgehen, denn der im Herbst vorigen Jahres der Fa. Minlos übergebene Speditionsauftrag bezog sich auf ein ganz bestimmtes Quantum Ladung, für dessen Umschlag uns der Lübecker Hafen besonders geeignet erschien... Es handelte sich keineswegs darum, generell einen bestimmten Umfang unserer Verschiffungen über Lübeck zu leiten, sondern um ein besonderes, in sich abgeschlossenes Geschäft“214. Die Lübecker Bemühungen, eine Zweigniederlassung der Gesellschaft an die Trave zu ziehen, scheiterten zugunsten von Kiel215. Die Derutra suchte allerdings

213 Dt.-russ.Transportges., Hamburg, an Senatskommission f. Handel u. Schiffahrt, Lübeck, 17. Mai 1922 (ebd.). 214 Ebd.. 215 Schreiben von Dr. Hasselmann, Hamburg-Amerika-Linie, Hamburg, an Senator Dr. Kalkbrenner, Lübeck, 29. Dez. 1922 (NSA II, 5, 21): „Es ist richtig, dass die Derutra beabsichtigt,

160 ARCTURUS 7 • 2019 Lagerplätze im Lübecker Hafen. Sie wurden vor allem für die Lagerung von aus Russland eingeführtem Holz benötigt. Russisches Holz hatte 1913 einen Anteil von 50 Prozent der gesamten Einfuhrmenge an Holz nach Deutschland besessen216

Nachwort

Nach der Fülle des ausgebreiteten Materials möge statt einer Zusammenfassung ein Nachwort genügen: Während des gesamten betrachteten Zeitraums steht mit den Beziehungen Lübecks zu Russland und speziell zu St. Petersburg immer auch sein Verhältnis zu Preußen ‑ und nach der Reichsgründung zu Preußen-Deutschland ‑ im Blick. Trotz dessen Dominanz war die Politik an der Trave bei der auf allen Gebieten opportunen Annäherung an den starken Nachbarn nie mit Selbstaufgabe gleichzusetzen. Im Gegenteil erscheinen die führenden Personen in Politik und Wirtschaft in der Stadt an der Trave sehr selbstbewusst, und sie führten sehr einfühlsam die Interessen ihres Stadtstaats außenpolitisch – unter den veränderten Bedingungen – innerhalb des Kaiserreichs mit Erfolg weiter. Die Findigkeit kaufmännischen Geistes und das traditionelle diplomatische Geschick besaßen hier bis zum Ersten Weltkrieg weiterhin einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert, wenn auch das wirtschaftliche und finanzielle Übergewicht Hamburgs innerhalb der Hansestädte nicht geleugnet werden kann und für die Politik des Reichs von größerer Bedeutung blieb.

in Kiel sich einen Stützpunkt zu suchen“. 216 Dies geht aus einer Anlage vom 23. Jan. 1923, ausgefertigt in St. Petersburg, zu einem Rundschreiben des Auswärtigen Amts vom 17. Feb. 1923 an den Lübecker Senat hervor (ebd.).

ARCTURUS 7 • 2019 161 Anhang 1: Unterzeichnete des „Aufrufs“ zur Hilfe für verfolgte Deutsche der russischen Ostseeprovinzen (Lübeckische Anzeigen, 27. Dez. 1905)217. Ergänzungen erfolgen nach dem Gedankenstrich anhand des Adressbuchs von 1906

1.) Bürgermeister Dr. Eschenburg, ‑ Dr. jur. 2.) A. Behn & Sohn Inhaber: Eduard Behn und Max Carl Wilhelm Schiemann: Tee und Kolonialwaren en gros 3.) Dr. Benda, Erster Staatsanwalt 4.) J. Bertling i(n): F(irma) F.H. Bertling ‑ Inhaber: F.H. und J.F.H. Bertling: Speditions- und Dampfschiffs-Reederei, Vertretung der Magdeburg-Lübecker Dampfschiffahrts- Gesellschaft Andreae & Bertling 5.) Bertram & Graf ‑ Inhaber: C.H.L. Graf in Hamburg, Th. C. Walter, C.J.H.A. Köhncke und Carl Bertram, Lübeck: Handlungsfirma 6.) F. Boldemann i(n): F(irma) Deecke & Boldemann ‑ Handlungsfirma, Assekuranz-, Agentur- und Commissions-Geschäft (Großanzeige bes. für Versicherungen) 7.) J. Boye i(n): F(irma) Boye & Schweighoffer ‑ Inhaber: Johs. Christ. Gottfr. Boye und Gust. Wilh. Heinr. Max Boye: Kolonialwaren en gros 8.) Direktor Christensen ‑ Carl Iwer Christian Christensen, Eisenbahn-Betriebsdirektor, Lübeck- Büchener Eisenbahn-Gesellschaft 9.) Konsul C. Dimpker i(n): Firma) Dimpker & Sommer ‑ Carl Friedrich Robert Dimpker, kgl. württemb. Konsul, Teilhaber der Firma Dimpker & Sommer (Export, Import, Spedition; General-Agentur der Hamburg-Bremer Feuer-Versicherungs-Ges. in H a m b u r g ) und Direktor der Cigarettenfabrik „Lubeca“ 10.) Pastor Joh. Evers ‑Johannes Hermann Friedrich Evers, Pastor der St. Gertrud-Gemeinde, Roeckstraße 11.) Senator Dr. Fehling ‑ Emil Ferdinand Fehling, Dr. jur. 12.) H.W. Fehling i(n): F(irma) Piehl & Fehling ‑ Hermann Wilhelm Fehling, Teilhaber der Firma Piehl (Richard) & Fehling (H.W.): Spedition und Kolonialwaren en gros 13.) Direktor Gebhard ‑ Hermann August Wilhelm Carl Gebhard, Direktor der Landes- Versicherungs-Anstalt der Hansestädte 14.) Rechtsanwalt Dr. Görtz ‑ Adolf Heinrich Görtz 15.) Professor Dr. Hausberg ‑ Heinrich Hausberg, Dr. phil., Professor, Oberlehrer am Katharineum 16.) W. Heinsohn ‑ (vermutl.) Wilhelm Anton Bernhard Heinsohn senior, Malermeister 17.) H.C. Horn ‑ Dampfschiffsreederei, Inhaber: Franz Horn, Lübeck & Henry Horn, Schleswig 18.) Professor Hoyer ‑Carl Ludwig Eduard Hoyer, Professor, Oberlehrer am Johanneum 19.) Ad. Mestorff i(n): Firma) H.J. Brüggen ‑ Peter Johann Adolph Mestorff, Teilhaber der Firma H. & J. Brüggen: Handlungsfirma, Dampfmühle und Grützfabrik 20.) Landrichter Dr. Meyer ‑ Ernst Meyer, Dr. jur. 21.) Konsul A. Minlos i(n): F(irma) W(ilhel)m Minlos ‑ Alfred Minlos, kgl. portugiesischer Vizekonsul, Inhaber der Firma Wilhelm Minlos: Spedition, Kommission und Dampfschiffsreederei 22.) Kapitän Nachtwey ‑ Heinrich Johann Friedrich Nachtwey, Kapitän a.D.

217 NSA II, 5, 21, A.

162 ARCTURUS 7 • 2019 23.) Senator Dr. Neumann Johann Martin Andreas Neumann, Dr. jur. 24.) Amtsrichter Dr. Pabst ‑ Carl Rudolf Christoph Pabst, Dr. jur. 25.) Dr. Pander ‑ Eugen Pander, Dr. med. 26.) Generalkonsul Ch(arles) Petit i(n): F(irma) Ch(arles Petit & Co. ‑ dän. Generalkonsul, Handlungsfirma, Kommission, Spedition 27.) Hermann Pfaff ‑ Hermann Heinrich Richard Pfaff, Besitzer von Suwe’s Apotheke 28.) Senator Possehl ‑ Emil Ludwig Possehl, Inhaber der Firma L. Possehl & Co.: Platzgeschäft, Eisen und Kohlen, Erze und Reederei, Eisen und Stahl en gros 29.) Ed. Rabe, Präses der Handelskammer ‑ Eduard Friedrich Wilhelm Rabe 30.) Senior D. Ranke ‑ Gotthard Paul Emil Leopold Friedrich Ranke, Dr. theol., Hauptpastor an St. Marien 31.) Direktor Dr. Reuter ‑ H.Christian Wilhelm Reuter, Dr. phil, Professor, Direktor des Katharineums 32.) Medizinalrat Dr. Riedel ‑ Otto Carl Ferdinand Friedrich Riedel, Dr. med., Physikus, Stabsarzt a.D. 33.) Major Schaumann ‑ Gustav Georg August Friedrich Schaumann, Major a.D. 34.) Paul Schetelig ‑ Adolf Georg Paul Schetelig, Firma Paul Schetelig, Agentur, Kommission und Versicherungen, Inhaber der Firma „Simonsbrot-Fabrik Lübeck“ 35.) Th. Schorer ‑Theodor Schorer, beeidigter Gerichtschemiker, chemische Untersuchungsstation 36.) Hauptlehrer W. Schulmerich ‑ Wilhelm Johann Friedrich Schulmerich, Hauptlehrer der Marien-Knabenschule 37.) Navigationsschuldirektor Dr. Schulze ‑ Franz Louis Carl Schulze, Dr. phil. 38.) Professor Schumann ‑ Franz Colmar Schumann, Professor, Oberlehrer am Katharineum 39.) F. Schwartzkopf ‑ Friedrich Schwartzkopf, Handlungsfirma, Inhaber: Heinrich Georg Friedrich Schwartzkopf, Spezial-Fabrik russischer Marmelade 40.) Kurt Seydell ‑ Import nordischer Hölzer und Holz-Industrie-Artikel 41.) Senator Dr. Stoss ‑ August Johann Alfred Stoss, Dr. jur. 42.) Konsul J. Suckau i(n): F(irma) J.A. Suckau ‑ Johann Joachim August Suckau, k.u.k. österr.- ungar. Konsul, Inhaber der Firma J.A. Suckau, Assekuranz, Kommission, Reederei und Kanalschiffahrt 43.) Direktor Tobel, Hanseatische Dampfschiffahrtsgesellschaft ‑ Ludwig Wilhelm Tobel 44.) Dr. Uter ‑ Friedrich Christian Wilhelm Uter, Dr. med., Frauenarzt 45.) Senator Wolpmann ‑ Emil August Wilhelm Wolpmann, Teilhaber der Firma J.A. Wolpmann, Manufaktur-Waren en gros, Lager von Butter en gros, Teer, Pech, nordischen Produkten en gros

ARCTURUS 7 • 2019 163 Anhang 2 : Liste der Interessenten für den deutsch-russischen Handelsverkehr in Lübeck 1922218 Der Liste der Namen wurden als Interpretationshilfe nach dem Doppelpunkt Ergänzungen aus dem Lübecker Adressbuch von 1923 beigefügt.

1.) Direktor W.Tobel: Vorstand Hanseatische Dampfschiffahrtsgesellschaft 2.) Generaldirektor Dr. M. Neumark: Direktor des Hochofenwerks Herrenwyk 3.) Jost Hinrich Havemann & Sohn (Herm. Eschenburg, Georg Eschenburg, Wilhelm Eschenburg): Holzgroßhandlung 4.) Senator Friedr. Ewers: Teilhaber der Firma Friedrich Ewers & Sohn (Maschinenfabrik) 5.) Direktor C. Hoffmann: Direktor des Travewerks (Bagger-, Schiffs- und Maschinenbauanstalt), Siems 6.) Dr. Ing. A.B. Dräger: Drägerwerk (Sauerstoffgeräte, Bergungsreederei) 7.) Ernst Boie: Spedition und Kommission (Maschinen, Motoren, Cylinder-Öle usw.) 8.) Konsul J.C. Fehling: finnischer Vizekonsul, Teilhaber der Firma Piehl & Fehling (Schiffahrtskontor, Schiffsmakler) 9.) Direktoren Kutzner und Baurat Dr. Ing. Fischer: (letzterer) Vorstand der Maschinenbaugesellschaft 10.) Deecke & Boldemann: Kolonialwaren, Wein, Getreide Saaten, Holz, Pflastermaterialien 11.) Senator C. Dimpker: Teilhaber der Firma Dimpker & Sommer (Export, Import, Spedition) 12.) Konsul W. Heinemeier: norwegischer Konsul, Inhaber der Firma F.H. Bertling (Spedition, Dampfschiffs-Reederei, Flussschiffahrt, Schiffsmakler, Kontor der Nordischen Transport- Gesellschaft m.b.H) 13.) Direktor G. Schneider (Commerz- und Privatbank), Filiale Lübeck 14.) Julius Appel: Spedition und Lagerei 15.) Franz Horn: Schiffsreederei 16.) Generaldirektor Hitzemann, Direktoren G. Spannhake und C. Reshöft (Flenderwerft) 17.) Possehl Konzern (Johs. Schwabroch) 18.) Rud. Thiel und Ernst Kegelmann (Georg Harder A.G.): Maschinenfabrik, landwirtschaftliche Maschinen und Geräte 19.) Hermann Buck: Inhaber der Firma Buck & Willmann, Spedition und Kommission, Vertreter der finnischen Messe in Helsingfors, Messe zu Frankfurt a.M. usw. 20.) Carl Köhncke: Inhaber der Firma Bertram und Graf (vgl. Anhang 1, Ziff. 5) 21.) Bankdirektor Martens: Philipp Martens, Lübecker Privatbank 22.) Bankdirektor Janus: Richard Janus, Commerzbank Lübeck 23.) Heinrich Thiel: Vorstand der Stanz- und Emaillierwerke, vormals Carl Thiel & Söhne 24.) Ernst Cohn, Firma Lübecker Drahtstiftefabrik 25.) Direktor Hornemann: Adolf Hornemann, Maschinenfabrik von Fr. Ewers & Co. 26.) Dr. Lassen: Waldemar Lassen, Direktor der Lubeca-Werke (Blechindustrie, Maschinenbau, chemisch-technische Fabr.) 27.) Peter Müller: Warengroßhandlung 28.) J.A. Wolpmann: Inhaber: August Koll, Fr. Kuchenbrandt u. R. Wiswe (Im- und Export,

218 NSA II, 5, 21.

164 ARCTURUS 7 • 2019 Spedition nordischer Produkte en gros) 29.) Hartgußwerk „Sirius“ A.G. (kein Eintrag) 30.) Dahlberg & Co.: Ferdinand Dahlberg, (Hanf-Import und Export, Spedition, Versicherungen) 31.) Heinrich Borgwaldt: Inhaber Ed. Borgwaldt (Drogen- und Chemikalien-Großhandlung) 32.) Gustav Halle: Eisen- und Kurzwaren-Großhandlung 33.) Fritz Nebermann: Teilhaber der Firma Conrad Möller & Co. (Steingut-, Porzellan- und Glaswaren-Großhandlung) 34.) Hans A. Hanson:Hanson & Co. (Kommanditgesellschaft, Export und Import von und nach Schweden, Norwegen, Finnland, Rußland, Dänemark; Bootsmotore) 35.) Konsul Ehrtmann: Ludwig Ehrtmann, Inhaber der Weingroßhandlung Schmidt & Martens 36.) Iwan Meyer: Otto Meyer und Louis Baer (Im- und Export aller Rohprodukte) 37.) Gustav Severin: Inhaber der Firma Taht & Severin (Kolonialwaren-Großhandlung, Spedition und Kommission) 38.) Bankdirektor Rehder: John A. Rehder, Dresdner Bank 39.) Direktor Cornehls: Werftdirektor

Der Autor

Dr. Ulrich Simon, M.A., war Historiker mit dem Schwerpunkten Mittelal- terliche und Landesgeschichte. Nach seiner Promotion über das Klos- ter Thron im Taunus (1985) und der Ausbildung zum wissenschaftlichen Archivar war er von 1991-2008 stv. Leiter des Stadtarchivs Lübeck; er starb 2018.

ARCTURUS 7 • 2019 165 Aktuelles und Verschiedenes

Christoph Parry Olavi Paavolainens Zu Gast im Dritten Reich im Kontext des nationalkonserva- tiven finnischen Deutschland-Diskurses der dreißiger Jahre

Einleitung

ie unkritische oder gar verständnisvolle Einstellung vieler finnischer Aka- Ddemiker und Intellektueller in den 30er Jahren zum „Dritten Reich“ ist ein Thema, das in Finnland sehr lange verschwiegen oder gar tabuisiert wurde – nicht zuletzt unter Germanisten. Vorherrschend war lange ein Narrativ, das die Sympathien zwischen Finnland und Deutschland aus einer längeren his- torischen Perspektive zu erklären versuchte, wobei die kritischen Jahrzehn- te leichter übergangen bzw. quasi normalisiert werden konnten. Man berief sich auf Verbindungen und Gemeinsamkeiten wie die Handelsbeziehungen seit der Hansezeit, die Reformation und die Anziehungskraft deutscher Uni- versitäten im 19 Jahrhundert.1 Das sind Umstände, die vom jeweiligen politi- schen Klima scheinbar unabhängig sind. Im Kräfteverhältnis der ersten Hälf- te des 20 Jahrhunderts war die Betonung der Bindungen nach Deutschland auch Teil eines nationalen Identitätsdiskurses, der Finnland eindeutig dem westeuropäischen Raum zuordnen wollte. Daraus ergab sich ein Argumen- tationsstrang, mit dem vor dem Zweiten Weltkrieg die Kontakte zum „Dritten Reich“ begründet wurden, und der nach dem Krieg weiterhin bemüht wur- de, um das frühere Verhalten zu rechtfertigen. Betont wurde die Kontinuität, und an diese Kontinuität wurde auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg in den Beziehungen zu beiden deutschen Staaten weiter angeknüpft. Um ein

1 Vgl. z. B. Ahti Jäntti/Marion Holtkamp (Hg.): Finnisch-deutsche Kulturbeziehungen seit dem Mittelalter. Berlin (Berlin Verlag Arno Spitz) 1998.

166 ARCTURUS 7 • 2019 solches Narrativ aufrecht zu halten, mussten zwangsläufig die Diskontinui- täten der deutschen Geschichte während des 20. Jahrhunderts weggeglättet werden. Eine allgemeinere Bereitschaft zur genaueren und kritischeren Betrachtung der finnischen Vergangenheit, insbesondere in Bezug auf das Verhältnis zu Deutschland in und zwischen den Weltkriegen, ist erst in den letzten Jahren aufgekommen. Sie zeigt sich in sowohl in Neuerscheinungen von Histori- kern als auch in Romanen wie Katja Kettus Hebamme oder Rosa Liksoms Everstinna. Im veränderten Klima einer offeneren Diskussion über die ers- ten Jahrzehnte finnischer Unabhängigkeit und die Besonderheit des dama- ligen deutsch-finnischen Verhältnisses2 erschien 2017 Olavi Paavolainens seinerzeit in Finnland sehr aufmerksam und teils widersprüchlich rezipierter Bericht über seinen Aufenthalt im „Dritten Reich“, Kolmannen Valtakunnan vieraana (Zu Gast im Dritten Reich) erstmals auf Deutsch.3 Der Bericht, in dem sich eine gewisse Faszination mit unverkennbarer Kri- tik mischt, weicht inhaltlich und stimmungsmäßig von dem in konservativen Kreisen waltenden Deutschland-Diskurs in den dreißiger Jahren deutlich ab, denn Paavolainen teilte den konservativen Habitus der meisten Deutsch- land-Freunde im weißen Finnland nicht. Im vorliegenden Beitrag soll die besondere Stellung von Paavolainens Buch im Kontext des damaligen fin- nischen Deutschland-Diskurses genauer betrachtet werden. Zunächst soll auf die nationalkonservative Gedankenwelt der akademischen Deutschland- Freunde etwas näher eingegangen werden.

Der nationalkonservative Kreis und sein Deutschland-Bild

In bürgerlichen Kreisen Finnlands, vor allem unter Akademikern gab es in den 30er Jahren viele, die relativ enge Kontakte nach Deutschland pflegten und offen den Erfolg des Nationalsozialismus begrüßten. Das junge Finn- land war kulturell wie politisch um größte Distanz zu Russland bemüht. Der um kaum mehr als ein Jahrzehnt zurückliegende Bürgerkrieg wurde von bür- gerlicher Seite nach wie vor als ein Freiheitskrieg gegen Russland gedeutet,

2 Z.B. ist nunmehr auf deutsch zugänglich die Untersuchung von Seppo und Marjaliisa Hen- tilä: 1918 – Das deutsche Finnland. Die Rolle der Deutschen im Finnischen Bürgerkrieg. Bad Vilbel (SCOVENTA Verlagsges.) 2018. Original: Dies.: 1918 Saksalainen Suomi. Helsinki 2016 (Siltala) 2016. 3 Olavi Paavolainen: Zu Gast im Dritten Reich. Rhapsodie. Aus dem Finnischen von Rolf Klemmt. Hg. von Anssi Halmesvirta. Hamburg (acabus) 2016. Original: Olavi Paavolainen: Kol- mannen valtakunnan vieraana. Rapsodia. Helsinki (Otava) 1936.

ARCTURUS 7 • 2019 167 der nicht zuletzt dank der deutschen Intervention schnell siegreich beendet werden konnte. So gesehen war aus nationalkonservativer Sicht weiterhin ein starkes Deutschland im nationalen Interesse Finnlands. Im Schatten Russlands bzw. der Sowjetunion konnte eine starke Diktatur in Deutschland vorteilhafter erscheinen als eine schwache Demokratie, und nicht wenige waren nach der Machtergreifung bereit, bei den schon früh sichtbaren bruta- len Exzessen der Nationalsozialisten ein Auge zuzudrücken. Dass die Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie und der Grund- lagen des Rechtsstaates in Deutschland von Vertretern der finnischen Bil- dungselite billigend in Kauf genommen wurden, passt, wie Markku Jokisi- pilä und Janne Könönen anmerken, schlecht in die große Erzählung der finnischen Geschichte.4 Immerhin ist Finnland, wie nachträglich stark betont wird, der einzige Staat, der als parlamentarische Demokratie die Zusam- menarbeit mit den Achsenmächten im Zweiten Weltkrieg heil überstanden hat. Um dieses scheinbare Paradox zu begreifen, muss, wie Jokisipilä und Könönen weiter ausführen, der damalige europäische Kontext berücksich- tigt werden, wo der Parlamentarismus noch lange nicht selbstverständlich war. Im Weltbild auch der finnischen Konservativen auf dem Höhepunkt des Nationalismus hatte das Interesse des Nationalstaats Vorrang vor den Indi- vidualrechten der Bürger. So konnte im bestimmten Fällen Verständnis dafür aufgebracht werden, dass Eingriffe in die Freiheit vorgenommen wurden. In Finnland hatte es 1918 einen solchen Fall gegeben, und nun, 15 Jahre später, wurde die Lage in Deutschland als ein solcher Einzelfall gesehen. Die Voraussetzung für diese Ansicht in Bezug auf die deutsche Innenpolitik war die kritiklose Übernahme der deutschnationalen Auffassung von einem Verlust der deutschen „Ehre“ durch den Versailler Friedensvertrag und der Darstellung der Weimarer Republik als korruptes, unpatriotisches und un- solidarisches „System“.5 Nach der Darstellung von Jokisipilä und Könönen bildete diese nationalkon-

4 Markku Jokisipilä/Janne Könönen: Kolmannen valtakunnan vieraat. Suomi Hitlerin Saksan vaikutuspiirissä [Die Gäste des „Dritten Reichs“. Finnland im Einflussbereich Hitlerdeutsch- lands]1933–1944. Helsinki (Otava) 2013, S. 48. 5 Ähnliche Kritik- oder Gedankenlosigkeit findet man noch 2016 beim Herausgeber der deut- schen Übersetzung von Paavolainens Reisebericht, Anssi Halmesvirta, wenn dieser in seiner Einführung im Zusammenhang mit Hitlers Politik von der „Wiederherstellung von Deutschlands Ehre“ (Paavolainen 2016 a.a.O. (Anm. 2), S. 13) spricht. Zu den redaktionellen Mängeln dieser Ausgabe s. Thekla Musäus: „Eingebetteter Journalismus“ im Dritten Reich für die Leser des 21. Jahrhunderts [Rezension der deutschen Ausgabe Paavolainen 2016]. In: Jahrbuch für finnisch- deutsche Literaturbeziehungen 49, 2017, S. 200–203.

168 ARCTURUS 7 • 2019 servative akademische Elite einen relativ dichten Kreis, dessen einer Mittel- punkt bereits seit dem finnischen Bürgerkrieg der Salon der Schriftstellerin Maila Talvio im Helsinkier Stadtteil Meilahti bildete.6 Talvio hatte schon 1918 den General der deutschen Interventionstruppen Rüdiger von der Goltz ein- geladen und hielt die Beziehungen zu rechtsgerichteten nationalen Kreisen in Deutschland während der ganzen zwanziger Jahre aufrecht. Maila Talvio selbst gehörte zu den enthusiastischsten Anhängern des Nationalsozialis- mus in Finnland. Ihre Romane wurden ins Deutsche übersetzt und passten gut zur Blut- und-Boden-Ideologie – besser noch als die des Nobelpreisträ- gers Frans Emil Sillanpää.7 Talvio unternahm mehrere Lesereisen und wur- de 1941 zusammen mit V. A. Koskenniemi in den Vorstand des von Goeb- bels als Gegengewicht zum internationalen PEN gegründeten Europäischen Schriftstellerverbandes gewählt. Etwas zurückhaltendender als Talvio, dafür aber im akademischen Milieu einflussreicher waren beispielsweise die Literaturwissenschaftler Rafael Koskimies und V. A. Koskenniemi sowie der Germanist Emil Öhmann. Kos- kimies war Literaturprofessor an der Universität Helsinki, schrieb in den 30er Jahren regelmäßig Theaterkritiken und andere Beiträge für die einflussreiche Kulturzeitschrift Valvoja-Aika, deren Herausgeberschaft er später übernahm. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Vorstandsvorsitzender des finnischen Nationaltheaters. Er war keinesfalls bekennender Nationalsozialist, sondern verstand sich stets als neutraler Beobachter des Zeitgeschehens. In dieser Eigenschaft veröffentlichte er 1933 in Valvoja-Aika einen ausführlichen Bei- trag zur „Deutschen Revolution“,8 der im Kern eine gründliche Auseinander- setzung mit Hitlers Mein Kampf ist. Obwohl Koskimies die Rassenlehre der Nazis als „krassen Humbug“ („räikeä humbuugia“) bezeichnet,9 weist sein Beitrag wegen der nach Koskimies’ Meinung dort vermittelten Einblicke in die individuelle und kollektive Psychologie insgesamt Verständnis, wenn nicht gar eine gewisse Bewunderung für das Werk auf. Ähnlicher Ansicht ist auch Emil Öhmann in einer mehr als nur verständnis- vollen Darstellung des „neuen Deutschland“ in demselben Jahrgang von

6 Jokisipilä/Könönen a.a.O. (Anm. 3) 2013, S. 33ff. 7 Sillanpääs Silja wurde von der deutschen Zensur zurechtgestutzt. Seine abschätzigen Be- merkungen über den Führer im Jahr 1937 wurden ihm nicht verziehen (Jokisipilä/Könönen a.a.O. (Anm. 3), S. 85f.). 8 Rafael Koskimies: Saksan vallankumouksen vaiheilta. Hitler ja hänen oppinsa. [Aus den Epochen der deutschen Revolution. Hitler und seine Lehre.] In: Valvoja-Aika 1933, S. 303–319. 9 Dabei schließt er sich explizit dem Urteil des britischen Journalisten J. L. Garvin im Ober- server an (ebenda, S. 315).

ARCTURUS 7 • 2019 169 Valvoja-Aika. Nach seiner Meinung sei Hitler „ein Mann mit reinen Absich- ten“, „der felsenfest an die Richtigkeit seiner Sache glaubt“10. Wie Koski- mies bewahrt auch Öhmann etwas Abstand zu Hitlers Rassentheorie, die er als eine Schwäche des sich ansonsten durch seine „klarsichtigen Über- legungen“ auszeichnenden Memoirenwerkes Mein Kampf bezeichnet.11 Doch Öhmanns Kritik an der sofort nach der Machtergreifung einsetzenden Entlassung von Juden aus dem deutschen öffentlichen Dienst ist auffallend zurückhaltend, und er vermeidet es, die zugrundeliegenden Prämissen na- tionalsozialistischer Rassenpolitik infrage zu stellen:

Auch wenn man im Lichte der raschen Verjudung [Original: juutalais- tuminen C.P.] bestimmter Bereiche wie der Finanzwelt, der Presse, der Literatur, der Medizin und der Justiz sowie der unpatriotischen Einstellung und des skrupellosen Eigennutzes breiter jüdischer Kreise gewisses Verständnis für den deutschen Antisemitismus auf- bringen kann, muss man feststellen, dass die „Arierparagraphen“ in vielen Einzelfällen zu Unrecht Individuen treffen, die trotz ihrer jüdi- schen Abstammung als anständige Deutsche gelebt und gehandelt haben.12

Damit ist die Grundeinstellung, mit der die Entwicklung der Diktatur in die- sem konservativ-akademischen Kreis aufgenommen wird, vorgezeichnet. Man hatte leichte Bedenken gegen die Rassenlehre, aber dafür umso mehr Verständnis für die nationale Idee und für das Recht Deutschlands, die so- genannte „Schmach von Versailles“ zu überwinden. Der nationale Aufbau wurde wohlwollend betrachtet und die Remilitarisierung begrüßt. Die Ein- schränkung der Demokratie und die Verfolgung der Juden wurden, wenn nicht gerade gebilligt, so doch als nebensächliche Begleiterscheinungen des nationalen Aufstiegs, verständnisvoll in Kauf genommen. Probleme machte die nationalsozialistische Rassenlehre vor allem deshalb, weil immer unge- wiss war, in welche Kategorie die Finnen selbst hineingehörten – ob sie als nordische Rasse oder als „Mongolen“ zu betrachten seien.13 Der Anbiede-

10 Emil Öhmann: Uusi Saksa. In: Valvoja-Aika 1933, S. 378–387 (Übersetzung C.P.). 11 Ebenda, S. 385. 12 Ebenda, S. 383. 13 Zur langanhaltenden Diskussion der Frage der rassischen Zugehörigkeit der Finnen sowohl im Lande selbst als außerhalb s. Aira Kemiläinen: Finns in the Shadow of the „Aryans“. Race Theories and Racism, Helsinki (SKS) 1998.

170 ARCTURUS 7 • 2019 rungseifer der konservativen Kreise ist nicht zuletzt in diesem Kontext zu sehen. Einer der prominentesten Freunde des „Dritten Reichs“ in Finnland war der Dichter, Literaturprofessor und Publizist V. A. Koskenniemi. Mit Überset- zungen deutscher Klassiker und vor allem mit seinen Arbeiten zu Goethe, darunter einer zweiteiligen Biographie, trug Koskenniemi selbst viel dazu bei, deutsches Bildungsgut in Finnland zu verbreiten und durch Übersetzun- gen auch einer finnischen Leserschaft näher zu bringen, die das Deutsche weniger gut beherrschte. Derselbe Koskenniemi machte es sich auch zur Aufgabe insbesondere in den dreißiger und vierziger Jahren die finnische Literatur und Kultur in Deutschland bekannt zu machen. Dazu war er durch seine öffentliche Stellung als Rektor der zweiten finnischen Universität, Tur- ku, besonders geeignet. Das nationale Pathos in Koskenniemis Dichtung, sein betonter Antibolschewismus sowie sein nicht weniger betont unkriti- sches Verhalten gegenüber dem deutschen Regime machten ihn zu einem willkommenen Gast im „Dritten Reich“. 1936 war er, wie Paavolainen, beim Nürnberger Parteitag anwesend, und im folgenden Jahr bereiste er Deutsch- land mit einem Vortrag über den „nationalen Gedanken im Kulturleben Finn- lands“.14 Mit dem Pamphlet Finnland Schild des Nordens betonte er Finn- lands Stellung als Bollwerk abendländischer Kultur und so als natürlicher Bündnispartner Deutschlands.15 War er darum ein guter Nazi oder nur ein „nützlicher nordischer Idiot“?16 Das ist eine Frage, die bislang keine einhel- lige Antwort erhalten hat – auch nicht von Martti Häikiö, der 2009 eine um- fangreiche Biographie Koskenniemis vorlegte.17 Häikiö bemüht sich sehr, Koskenniemi vom Ruch des Nazisympathisan- ten zu befreien, und betont, dass Koskenniemi kein Antisemit war. Nach Häikiö habe Koskenniemi jüdische Autoren wie Stefan Zweig und Lion Feuchtwanger sehr geschätzt. Wie dem auch sei, Koskenniemi scheint den

14 V. A. Koskenniemi: Der nationale Gedanke im Kulturleben Finnlands. In: Osteuropa. Zeit- schrift für die gesamten Fragen des europäischen Ostens 11 (1936: 4), S. 221–229. 15 V. A. Koskenniemi: Finnland Schild des Nordens. Eine kulturell-politische Übersicht. Helsin- ki (O.Y. Suomen kirja) 1941. 16 Tarmo Kunnas behandelt sowohl Koskenniemi als auch Paavolainen wie auch die skan- dinavischen Deutschlandfreunde und Nazi-Sympathisanten unter der Kapitelüberschrift „Nütz- liche nordische Idioten?“ [Hyödylliset pohjoismaiset idiootit?] Tarmo Kunnas: Fasismin lumous. Eurooppalainen älymistö Mussolinin ja Hitlerin Politiikan tukijana. Jyväskylä (Ateena) 2014 [2013], S. 598ff. 17 Martti Häikiö: V. A. Koskenniemi – suomalainen klassikko. [V.A. Koskenniemi – ein finni- scher Klassiker]. 2 Bde. Helsinki (WSOY) 2009.

ARCTURUS 7 • 2019 171 überragenden Stellenwert des Antisemitismus in der Ideologie Nationalso- zialismus unterschätzt zu haben. Aus der Biographie geht hervor, dass er zwar das Schicksal einzelner jüdischer Kollegen bedauerte, aber das Recht des Regimes, eine ethnische Säuberungspolitik umzusetzen, nicht in Frage stellte. So konstatiert Koskenniemi 1937 ähnlich wie Öhmann vier Jahre zu- vor:

Viel privat Tragisches geschieht, wenn ein großes Volk, sich aus in- nerer und äußerer Erniedrigung erhebend, mit der jüngsten Vergan- genheit abrechnet und seine nationale Zukunft zu ordnen ansetzt. Aber es ist einseitig und oberflächlich im Lichte einiger bedauerns- werter Fälle ein endgültiges Urteil über die feste und schroffe Hal- tung des neuen Deutschland in seiner einheimischen Judenfrage zu fällen.18

Implizit folgt Koskenniemi hier, wenn er von einem „großen Volk“ spricht, der von den Nationalsozialisten gepflegten rassischen Definition des deutschen Volkes. Das von den Machthabern definierte Interesse des „Volkes“ hat dem- nach Vorrang nicht nur vor internationalen Vereinbarungen, sondern auch vor Bürgerrechten. In Koskenniemis Fall stellt sich die Frage, wie sich das Lob Zweigs und Feuchtwangers mit seiner Apologie nationalsozialistischer Ras- senpolitik vereinbaren lässt. Trotz der Würdigung jüdischer Autoren scheint er keinen Augenblick lang die angebliche Existenz eines „Judenproblems“ in Frage zu stellen. Dass Zweig und Feuchtwanger und mit ihnen ein beträcht- licher Teil der international bekannten zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftsteller emigrieren mussten, scheint wenig Eindruck auf Koskenniemi gemacht zu haben. Mit dieser zeitgenössischen deutschen Literatur scheint sich der Goethespezialist auch kaum beschäftigt zu haben. Als aus heutiger Sicht interessant fällt auf, dass die nachweisliche Sympa- thie für das „Dritte Reich“ weder bei Koskenniemi noch bei Öhmann ihrer weiteren Karriere oder ihrem gesellschaftlichen Ansehen nach dem Zwei- ten Weltkrieg besonders geschadet hat. Koskenniemi übernahm die Kultur- redaktion der Zeitung Uusi Suomi und spielte noch in den fünfziger Jahren eine wichtige Rolle im Kulturleben als Geschmacksrichter. Öhmann wurde als Germanist in Finnland und international weiterhin geschätzt und erhielt Ehrungen von Universitäten in West- und Ost-Deutschland.19

18 Zit. nach Häikiö 2009, Bd.1, S. 356 (Übersetzung C. P.). 19 Ehrendoktorate der Universität Freiburg (1961) und der Humboldt-Universität Berlin (1963). Vgl. Marjatta Hietala: Finnisch-deutsche Wissenschaftskontakte. Zusammenarbeit in Ausbil-

172 ARCTURUS 7 • 2019 Olavi Paavolainen: Zu Gast im Dritten Reich

In Olavi Paavolainen (1903–1964) haben wir eine ganz andere Figur als Koskenniemi vor uns, denn seine Einstellung war alles andere als konser- vativ. Wo Koskenniemi es als eine Lebensaufgabe sah, das kulturelle Erbe des europäischen Abendlandes in Finnland zu vermitteln, war Paavolainens Blick stets zukunftsgerichtet. Er war von Anfang an bemüht, Finnland den Anschluss an die europäische Moderne zu verschaffen. Er war kein Hoch- schullehrer und kein Vertreter des Establishments, sondern verstand sich in erster Linie als Dichter und Essayist. Anders als Koskenniemi, der aus bescheidenen Verhältnissen in der nordfinnischen Provinz stammte, hatte er seine Kindheit in einem mehrsprachigen Haushalt in der Nähe von Wiborg, der damals kosmopolitischsten Stadt Finnlands, verbracht. Anfang der zwanziger Jahre war er Mitbegründer der „Tulenkantajat“,20 ei- ner Bewegung, die mit ihrer gleichnamigen Zeitschrift frischen Wind in die damals noch agrarisch-provinzielle finnischsprachige Literatur einzubrin- gen versuchte. Schon in den 20er Jahren machte er sich einen Namen als Reiseberichterstatter. Zunächst in Tulenkantajat und anderen Zeitschriften, dann 1929 zusammengefasst im Buch Nykyaikaa etsimässä (Auf der Suche nach der neuen Zeit) versuchte Paavolainen einen Eindruck von der zeit- genössischen Literatur, Kunst und Kultur in den Hauptstädten Europas zu vermitteln. Das war eine selbstgestellte Aufgabe, die im ersten Jahrzehnt fin- nischer Unabhängigkeit Not tat, als das Kulturleben generell von nationaler Introspektion und Provinzialität gekennzeichnet war. Im ersten Kapitel des Buchs beschreibt er Finnland als unschuldiges Mädchen vom Typ der Aino im Kalevala, das die weite Welt bereist und doch als Jungfrau zurückkehrt.21 Paavolainens Interesse galt allen Phänomenen der urbanen Moderne, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in den Hauptstädten Berlin und Paris ab- zeichneten: einer sich nicht länger mit der reinen Abbildung von Wirklichkeit begnügenden Kunst, dem DADAismus, dem Futurismus, dem Jazz und je- der Form urban vitaler Avantgarde. Mehrere Kapitel widmete er der neuen unbefangeneren Einstellung zum menschlichen Körper und zur Sexualität, die er mit größtem Enthusiasmus begrüßte. dung, Forschung und Praxis im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin (BWV) 2017, S. 190. 20 Verschiedentlich übersetzt als „Fackelträger“ oder „Feuerträger“. 21 Olavi Paavolainen: Nykyaikaa etsimässä. Esseitä ja pakinoita. [Auf der Suche nach der neuen Zeit. Essais und Plaudereien.] Helsinki (Otava)1929, S. 18. Vgl. dazu Ritva Hapuli: Ny- kyajan sininen kukka. Olavi Paavolainen ja nykyaika. [Die blaue Blume der Moderne. Olavi Paavolainen und die neue Zeit.] Helsinki (SKS) 1995, S. 51.

ARCTURUS 7 • 2019 173 Zusammen mit Mika Waltari veröffentlichte er unter dem Pseudonym Olavi Lauri die erste und einzige Sammlung futuristischer Gedichte in Finnland.22 Was Paavolainen vom italienischen Vorbild unterschied, war seine politische Abstinenz – Paavolainen wurde von radikaler Seite „Salonmodernismus“23 und ein Mangel an bilderstürmerischem Eifer vorgeworfen24, was zum Teil damit zu erklären ist, dass es am nördlichen Rande Europas sehr wenige Bilder zu stürmen gab. 1936 wurde Paavolainen auf Empfehlung des finnischen Schriftstellerver- bandes zusammen mit weiteren Schriftstellern aus Skandinavien von der gleichgeschalteten Nordischen Gesellschaft zu einem Aufenthalt an ihrem Sitz in Travemünde eingeladen. Die Wahl Paavolainens war von vornerein etwas kontrovers.25 Der mehr von ästhetischem als von gesellschaftlichem Bewusstsein geleitete Blick Paavolainens machte ihn zu einem unvoreinge- nommenen und besonders aufmerksamen Zeitzeugen des Nationalsozialis- mus. Sein Reisebericht, Kolmannen valtakunnan vieraana (Zu Gast im Drit- ten Reich), ist deshalb als historische Dokumentation von ungewöhnlichem Interesse. Einerseits fasziniert von der Dramaturgie und Choreographie der Massenauftritte war Paavolainen zugleich angewidert von der Unterjochung der Frauen, der Geißelung der Jugend und der Erstickung jeder Äußerung von spontaner Individualität. Spätestens nach diesem Bericht kann man in seinem Fall nicht mehr von gesellschaftspolitischer Abstinenz sprechen. Im Vorwort seines Berichtes betont Paavolainen die subjektive Perspektive und, dass er das erzähle, was er „selbst gesehen, gehört und erfahren habe“ (23)26. Wo die Grenzen seiner Erfahrung liegen, gibt er, nicht ohne Ironie, offen zu:

22 Mika Waltari/Olavi Paavolainen: Valtatiet. Runoja. [Landstraßen. Gedichte.] Helsinki (Ota- va) 1928. S. dazu Christoph Parry: Mit dem roten Fiat durch Europa. Olavi Paavolainen und das romantische Fernwehmotiv. In: Christoph Parry/Liisa Voßschmidt (Hg.): Kennst du das Land …? Fernweh in der Literatur. München (iudicium) 2009, S. 37–45. 23 So Elmer Diktonius in Suomen Sosialidemokraatti (Hapuli a.a.O. (Anm. 19): S. 17). 24 Nach Lassila handelt es sich um „eine in skandinavischer Manier gebändigte Form des Futurismus“ (Pertti Lassila: Geschichte der finnischen Literatur. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Tübingen/Basel (Francke) 1996, S.162). 25 S. Osmo Hyytiä: Suomi ja Hitlerin Saksa 1933–1939. [Finnland und Hitlerdeutschland.] Helsinki (Minerva) 2012, S. 104f. 26 Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf die deutsche Übersetzung von Rolf Klemmt, Paavolainen 2016, a.a.O. (Anm. 2).

174 ARCTURUS 7 • 2019 Mein Buch ist einseitig, denn ich betrat das Dritte Reich durch das Paradetor und nicht über die Treppe zur Küche. Ich kritisiere weder die Verfolgung der Juden noch die Konzentrationslager, denn beides wurde mir nicht gezeigt. Aber ich darf behaupten, dass die deutsche Kultur nicht tot ist, auch wenn Lion Feuchtwanger ausgewiesen wur- de. (24)

Man kann dies als Kritikverzicht interpretieren, oder aber als Bekräftigung des subjektiven methodischen Verfahrens, des Schreibens als Augenzeuge, denn es ist diese Einschränkung, die das Buch als Augenzeugenbericht legitimiert und zu seinem großen Erfolg geführt hat. Der Bericht ist, obwohl grundsätzlich der Chronologie der Reise folgend, ver- gleichsweise (auch im Vergleich zu anderen Werken des Autors) systema- tisch. Der erste Teil behandelt die Zeit im Schriftstellerhaus in Travemünde. Sie gibt lebhafte Gespräche mit den eingeladenen Autoren und deutschen Gästen wieder. Sympathien auf persönlicher Ebene kommen ebenso zum Ausdruck wie ein zunehmendes Misstrauen gegenüber den Prinzipien natio- nalsozialistischer Ästhetik. In den Gesprächen mit deutschen Kollegen fällt dem Kosmopoliten Paavo- lainen vor allem ihre Ignoranz auf. Von der zeitgenössischen internationalen Literatur wissen sie kaum etwas. Dem Vertreter der Gastgeber, Dr. Domes, ist sogar D. H. Lawrence kein Begriff (44). Die deutschen Autoren kennen sich nicht aus und wollen sich nicht informieren. Dabei schließen sie auch ihre emigrierten Kollegen grundsätzlich aus ihrem Horizont aus. Geradezu peinlich wirkt das von Paavolainen in Dialogform wiedergegebene Streitge- spräch mit dem Kunsthistoriker Dr. Wisman um Thomas Mann. Für Wis- man handelt es sich bei Mann um einen Autor der Dekadenz, den das neue Deutschland nicht nötig habe und den er also nicht lesen braucht (51f.). Die größte Meinungsverschiedenheit mit den Gastgebern, der Nordischen Gesellschaft, betrifft jedoch ihren ideologischen Kern, den „nordischen Ge- danken“ selbst, den Paavolainen als „gewaltige Flucht vor der Wirklichkeit“ (80) bezeichnet, wozu sich die skandinavischen und finnischen Gäste im- merhin wohl aus Höflichkeit mit einer „erstaunenden Dankbarkeit“ (82) ver- halten sollten. Der erste Teil des Berichts endet mit dem Besuch eines Orgelkonzerts in der Lübecker Marienkirche, was den Anlass bietet, den schweren Stand der bekennenden Kirche im neuen Staat zur Sprache zu bringen. Der Anblick des Büchertisches in der Vorhalle der Kirche, der in aller Einsamkeit noch ein Schrifttum vertritt, das längst aus den Schaufenstern des Buchhandels verschwunden ist, demonstriert den grundsätzlichen Widerspruch zwischen

ARCTURUS 7 • 2019 175 dem Nationalsozialismus und dem Erbe der christlichen Religion. Paavolai- nen schreibt: „Die christliche Literatur ist bereits aus Licht und Sonne in die finsteren Katakomben der Vorhalle verdrängt worden … […] Ist die Märtyrer- kirche also schon Wirklichkeit?“ (106) So konnte man die Christen im neuen Staat nur bemitleiden. Aber spricht aus diesen Worten nur Mitleid, oder auch Empörung? Gerade in dieser Frage bleibt Paavolainens Bericht ambivalent. Der theologische Unterton waltet weiter im zweiten Teil des Berichtes, wo unter der Gesamtüberschrift Der Menschengott über die verschiedenen Veranstaltungen des Nürnberger Parteitags berichtet wird. Dort werden mehrere Massenauftritte in größter Ausführlichkeit beschrieben und Reden von Rosenberg, Goebbels und Hitler referiert. Die Lebhaftigkeit, mit der Paa- volainen die Veranstaltungen – insbesondere den Auftritt der sogenannten Arbeiter mit seiner eigenartigen Liturgie und die neosakrale Abendveranstal- tung des Lichtdoms –schildert, lässt eine gewisse Begeisterung, wenn nicht für die Sache, so doch für die Form durchblicken. Dennoch sollte man sich vom blendenden Stil nicht als Leser blenden las- sen und die tiefgründige Kritik Paavolainens nicht übersehen. Harri Raitis schließt etwas kurz, wenn er in einem Beitrag von 2003 einen eindeutigen Bruch in Paavolainens Haltung zwischen dem ersten und zweiten Teil des Buches zu erkennen glaubt:

Wenn man die Beschreibung des Parteitags liest, bekommt man den Eindruck, dass das pompöse Schauspiel den Zweifler Paavolainen erschlagen hat. Den Zynismus und seine sarkastischen Bedenken ließ er im Schriftstellerhaus zurück. Für sie war in Nürnberg kein Platz.27

Diesem Urteil ist nur begrenzt zuzustimmen. Paavolainen lässt sich schon vom Rausch der Massenkundgebungen beeindrucken, aber er erlaubt sich bei seinen Zusammenfassungen der Reden Rosenbergs und Hitlers durch- aus auch seinen Sarkasmus. So fertigt er Hitlers Rede wie folgt ab:

Es ist nicht meine Absicht hier gegen Hitlers Rede zu polemisieren. Deren Schwächen – vor allem die völlige Unwissenheit vom Wesen der künstlerischen Schaffensarbeit – sind so offensichtlich, dass es unnötig ist, sie mit irgendwelchen Kommentaren zu begleiten. (135)

27 Harri Raitis: Olisiko reportteri voinut olla myös profeetta? Paavolainen Travemündessä. In: Paavolaisen paikat. Kohtaamisia Olavi Paavolaisen kanssa. Helsinki (SKS) 2003, S. 89f. (Übersetzung C.P.).

176 ARCTURUS 7 • 2019 Vergleicht man Paavolainens Referat mit Rafael Koskimies’ oder Emil Öh- manns oben erwähnten Beiträgen in Valvoja-Aika von 1933, so fällt die unterschiedliche Einschätzung von Hitlers intellektuellem Niveau sehr stark auf. Koskimies hatte sich dort ausführlich mit den Gedanken Hitlers und ihrem Hintergrund auseinandergesetzt. Für Paavolainen sind die Reden auf dem Parteitag solcher Mühe nicht wert. Sie stehen im Verhältnis zum Ge- samtereignis wie die Predigt zur Liturgie, und es ist der liturgische Aspekt der Massenauftritte, die auf ihn den größten Eindruck machen. Er versteht auch, dass das Phänomen der Verführung eines Volkes durch den Nationalsozia- lismus nicht mit rationalen Argumenten begriffen werden kann:

Jeder, der versucht, das Wesen des Nationalsozialismus auf intel- lektuellem Wege zu interpretieren, muss ohne Weiteres scheitern. Natürlich kann man seine Entstehung mit marxistischer Dialektik er- klären. Aber man kann ihn nicht verstehen, nicht historisch, nicht ökonomisch, nicht politisch oder gesellschaftlich. Für den intelligen- ten Menschen der Neuzeit ist und bleibt er ein Paradoxon. Denn jetzt stehen wir vor dem ersten in Europa geborenen Glauben. (164, Hervorhebung im Original)

Das ist eine Feststellung und kein Werturteil. Eben darum sind so viele Leser von Paavolainens Bericht irritiert. Das moralische Urteil bleibt er schuldig. Dennoch nennt er den genauen Unterschied zwischen diesem auf europäi- schen Boden geborenen „Glauben“ und dem Christentum. Dieser liegt in der vollständigen Umkehr der Werte. Dieser neue „Glaube“ steht in krassem Gegensatz zum christlichen Verständnis von Leiden, Demut und Nächsten- liebe. Den Kontrast veranschaulicht Paavolainen anlässlich des Besuchs der Nürnberger Sebaldus-Kirche:

Ich erinnere mich, wie seltsam es war, in der Sebaldus-Kirche die von den ergriffenen Händen geformten Gesichter des leidenden Christus der Nürnberger Meister zu untersuchen, währen draußen dieses maskuline Pandämonium wütete. (189)

Das Wort „maskulin“ ist bei Paavolainen – in eindeutigem Gegensatz zu sei- nem Gebrauch im Nationalsozialismus – negativ konnotiert. Gleich zu Be- ginn des zweiten Teils seines Reiseberichts erwähnt er, dass ihm noch vor Antritt seiner Reise die betonte Maskulinität in Leni Riefenstahls Verfilmung des früheren Reichsparteitags in Triumph des Willens gestört habe: „Drei Stunden lang marschieren ununterbrochen uniformierte Männer, Männer,

ARCTURUS 7 • 2019 177 Männer … hunderttausende Männer! Frauen scheint der neue Staat des Willens überhaupt nicht zu kennen, …“ (113). Auf dem Parteitag ist dann Paavolainen zufolge ausgerechnet Riefenstahl selbst die einzige Frau, die geschminkt und selbstbewusst weiblich auftritt (229).

Das Verhältnis des „Dritten Reichs“ zur Frau wird im dritten Teil des Berichts sehr kritisch betrachtet, wenn Paavolainen zum Missfallen seiner Gastgeber eine Veranstaltung der NS Frauenschaft besucht und erlebt, wie gerade die- se parteiliche Organisation die völlige Unmündigkeit der Frauen im National- sozialismus exemplifiziert. Bei dieser Veranstaltung tritt der Führer erneut mit einer belanglosen und herablassenden Rede auf. Spätestens in diesem Abschnitt bezieht Paavolainen ganz eindeutig Stellung und zwar aus femi- nistischer Perspektive (220ff.). Ein weiterer Nebenschauplatz der Nürnberger Veranstaltung, der Anlass zu heftiger Kritik bietet, ist ein Massenlager der Hitlerjugend, das der Au- tor, diesmal in Begleitung von Koskenniemi, besucht. Beide sind von der strengen Disziplin und den spartanischen Verhältnissen betrübt. Paavolai- nen zitiert eine Bemerkung Koskenniemis, wonach dieser seinem Sohn so ein Lager nicht zumuten würde. Unausgesprochen bleibt die Frage, wie es denn in den Lagern aussehen könnte, welche die Nazis für ihre Gegner ein- richteten, wenn sie ihren Anhängern schon solche Lager als Unterkunft an- boten. Sogar der Körperkult, den Paavolainen noch in seiner Suche nach der neuen Zeit so begeistert beschrieben hat, sieht er in der Institutionalisie- rung durch die Nazis missbraucht. Mit dem betrüblichen Vergleich zwischen dem Vitalismus, wie er ihn selber versteht, und der freudlosen soldatischen Körperkultur der Nazis beendet Paavolainen sein Buch:

Im Zusammenhang mit diesen Dingen fallen mir immer zwei Bilder ein, die besser als Worte für die Licht- und Schattenseiten der Kör- perkultur im „Dritten Reich“ sprechen: Das eine ist ein Bild von der Nacktkultur aus der Zeit vor Hitlers Amtsantritt, als man auch von ei- ner neuen gesunden, moralisch hochstehenden Generation träumte […] Das andere ist das Bild eines düster dreinblickenden, fast freud- losen Mannes, der in Sporthosen, aber sonst nackt vor zwei SA- Männern steht, die in voller Ausrüstung eine Fahne Halten. Zweierlei Körperkultur – zwei Moralitäten – zwei verschiedene Welten! Die warme, lebensbejahende, schaffensfreudige, vitale Welt, in der beide Geschlechter gemeinsam und einander stützend einem neu- em Lebensbild entgegenstreben – und die strenge, lustlose, freudlo- se, angespannte, puritanische Welt der Männer und Soldaten. (255)

178 ARCTURUS 7 • 2019 Besonders bitter war diese Enttäuschung so kurz nach den allgemein als Freudenfest wahrgenommenen olympischen Spielen im August desselben Jahres 1936.

Paavolainens Bericht erschien gleich im Winter 1936-37 in mehreren Aufla- gen und wurde viel rezensiert. Dabei machte die Darstellung des Parteitags im Vergleich zu den anderen Teilen des Buchs den größten Eindruck auf die Leserschaft, und es wurde die Frage gestellt, ob nun Paavolainen Nazi geworden sei.28 Paavolainens weitere Karriere spricht eher dagegen. Nach der Rückkehr aus Deutschland bemühte er sich zunächst vergeblich um ein Visum für die Sowjetunion, die er ebenfalls als Augenzeuge kennlernen woll- te. Die Reise in die Sowjetunion verwirklichte sich erst mit einer Empfehlung von Hella Wuolijoki im Jahre 193929. Das geplante Buch dazu ließ sich we- gen Ausbruch des Krieges nicht mehr verwirklichen.

Fazit

Vergleicht man die Einstellung des Bohemiens und Modernisten Paavolainen mit derjenigen der konservativen Kreise um V. A. Koskenniemi, so ergibt sich ein ambivalentes Bild, das die Widersprüchlichkeit der Zeit wiederspiegelt. Wer von beiden stand dem Nationalsozialismus näher? Nach Häikiö sei Paavolainen für faschistische Ideen anfälliger gewesen als Koskenniemi.30 Das dürfte insofern zutreffen, als Paavolainen, auf ständiger Suche nach der „neuen Zeit“, im Faschismus Ansätze von Aufbruch und Vitalismus zu erkennen glaubte und von der Ästhetik der Massenauftritte zweifellos echt beeindruckt war. Aber Paavolainens Bericht ist vieldeutig. Er war gleichzeitig fasziniert und empört von dem was er sah. Die Verschränkung von Politik und Ästhetik sah Paavolainen als genauer Beobachter der zeitgenössischen Kultur wohl deutlicher als Koskenniemi. Seine Kritik ist diskret, aber bissig. Wo Koskenniemi antisemitische Übergriffe zwar bedauert, aber schließlich doch in ein verständnisvolles Gesamtbild einbettet, geht Paavolainen von vornherein auf Distanz zur nationalsozialistischen Rassenlehre. Anders als

28 Das fragte z. B. die prominente Sozialdemokratin Sylvi-Kyllikki Kilpi (Matti Kurjensaari: Loistava Paavolainen, Henkilö- ja ajankuva. [Der glänzende Paavolainen, ein Personen- und Zeitbild.] Helsinki (Tammi) 1975, S.176). Zur unmittelbaren Rezeption von Paavolainens Buch in Finnland s. auch: H. K. Riikonen: „Nukuin vasta aamuyöstä“. [„Ich schlief erst im Morgengrauen ein“.]Olavi Paavolainen 1903–1964. Helsinki (Gummerus) 2014, S. 248 ff. 29 Riikonen 2014, a.a.O. (Anm. 26), S. 309. 30 Häikiö 2009 a.a.O. (Anm.15), Bd. 1, S. 358f.

ARCTURUS 7 • 2019 179 die Schriften Koskenniemis kam Paavolainens Bericht seinen deutschen Gastgebern ungelegen – Britta Hiedanniemi spricht vom „Fall Paavolainen“31 – und er wurde nicht wieder eingeladen. Rückblickend betrachtet, ist die Fra- ge, wer von beiden dem Nationalsozialismus ideologisch näherstand kaum von Belang. Fest steht aber, dass die Deutschlandfreunde des nationalkon- servativen Kreises den Interessen der Nazis größere Dienste geleistet ha- ben.

31 Britta Hiedanniemi: Kulttuuriin verhottua politiikkaa. Helsinki (Otava) 1980, S. 97–99.

180 ARCTURUS 7 • 2019 Klaus Reichel

Wipert von Blücher. Gesandter zwischen Diktatur und Demokratie.

005 hatte der damalige Außenminister eine Studie in 2Auftrag gegeben, um die Geschichte des Auswärtigen Amtes während des Dritten Reiches erstmals offiziell untersuchen zu lassen. Fünf Jahre später legte eine Historikerkommission das Ergebnis unter dem Titel: „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland“ vor. Auch wenn einige Passagen bis heute wissenschaftlich umstritten sind, so ist das Fazit insgesamt niederschmetternd. Das Auswärtige Amt sei an den Verbrechen des Dritten Reiches nicht nur beteiligt gewesen, sondern habe z.B. bei der Lösung der „Judenfrage“ selbst die Initiative ergriffen und sei daher als eine „verbrecherische Organisation“ einzustufen. Das hätte auch der „Wilhelmstraßen-Prozess“ 1948 /49 erwiesen, wo mehrere hochrangige Mitarbeiter des Amtes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Auch wenn 12 Diplomaten ihren Widerstand gegen Hitler mit dem Tode bezahlen mussten, so sei es doch eine Legende, pauschal vom Amt als einem „Hort des Widerstandes“ zu sprechen. Die meisten, oft adligen Diplomaten seien schon in der Weimarer Republik, wie viele andere Vertreter der traditionellen Eliten, Gegner einer freiheitlichen politischen Ordnung gewesen. So sei es auch kein Wunder, dass zahlreiche Spitzendiplomaten sich nach der Machtergreifung Hitlers schnell und opportunistisch dem Kurs des neuen Regimes anpassten und später bereit waren, die Verbrechen des Regimes außenpolitisch abzusichern. In diesen zwiespältigen Bewertungszusammenhang eingeordnet ist die Arbeit von Michael Jonas, der nun an einem konkreten Einzelfall prüft, inwieweit der deutsche Gesandte in Helsinki Wipert von Blücher (14.7.1883 – 18.1.1963), dem in der amtlichen Studie vorgezeichneten Bild entspricht. War er ein kritikloser Mitläufer, setzte er eigene Akzente oder gehörte er sogar zum Widerstand? Bei dem vorliegenden Buch, das fast gleichzeitig in Finnland und in Deutschland erschienen ist, handelt es sich um eine Dissertation an der Universität in Helsinki, die auf breitester Quellenbasis und unter Berücksichtigung der aktuellen deutschen und finnischen Fachliteratur

ARCTURUS 7 • 2019 181 ausführlich die diplomatischen Beziehungen zwischen dem demokratischen Finnland und dem nationalsozialistischen Deutschland behandelt. Die Karriere von Wipert von Blücher, Sohn eines Ministers im Großherzogtum Mecklenburg verlief gradlinig und zielgenau. Nach Abitur, Jurastudium und Promotion trat er 1911 in den konsularischen, 1918 in den diplomatischen Dienst ein. Schon früh zeigte sich seine Fähigkeit, im Amt ein Netzwerk von persönlichen Verbindungen aufzubauen, die er später für seine Karriere nutzen konnte, wie z.B. die langjährige Freundschaft mit dem späteren Außenminister Freiherr von Neurath, der ihn entscheidend förderte. Blüchers Sozialisation im Kaiserreich blieb zeit seines Lebens für ihn prägend. Bildungsbürgerlich, nationalkonservativ, aristokratisch, antidemokratisch und antiliberal – damit erfüllte er exakt das Anforderungsprofil des AA. Der Weg im diplomatischen Dienst führte ihn über Stationen in Marokko, Stockholm, Buenos Aires und Teheran schließlich als Gesandter I. Klasse nach Helsinki. Trotz seines beruflichen Aufstieges stand er der Weimarer Republik immer distanziert und ablehnend gegenüber. Innerlich Anhänger der Monarchie, Mitglied der DNVP und militanter Antikommunist hatte er trotz seines äußerlich regimekonformen Verhaltens immer Vorbehalte gegenüber der Demokratie. Auch der NS-Ideologie stand er anfangs abwartend und distanziert gegenüber, obwohl es durchaus Übereinstimmungen gab, wie z.B. bei der grundsätzlichen Ablehnung des Versailler Vertrages. Nach der Übernahme des Postens in Helsinki begann Blücher sofort damit, sich einen Kreis aus deutschfreundlichem Führungspersonal in Politik, Verwaltung, Militär und Kulturleben aufzubauen. Enge Beziehungen pflegte er z.B. mit dem späteren Außenminister Rolf Witting, mit Kaarle Rantakari, dem Pressechef des Außenministeriums, mit dem ehemaligen Staatspräsidenten Svinhufvud, mit den Journalisten der konservativen Presse, mit Professoren der Universität Helsinki und mit deutschfreundlichen Literaten, kurz mit allen konservativen Kräften, die an guten Beziehungen zum Deutschen Reich auch über ideologische Grenzen hinweg interessiert waren. Sozialistischen, kommunistischen oder liberalen Kreisen stand Blücher dagegen distanziert und ablehnend gegenüber, wie auch seine aktive Rolle beim Sturz des finnischen Außenministers Rudolf Holsti 1938 deutlich machte. Dieser vertrat eine antideutsche, auf den Völkerbund gestützte Neutralitätspolitik, weil er glaubte, sich nur so dem Druck der beiden totalitären Diktaturen entziehen zu können. Zum finnischen Militär pflegte Blücher die Tradition der pro-deutschen Jägerbewegung aus dem 1. Weltkrieg. Der aristokratische General Mannerheim dagegen hielt zu ihm und zu den Deutschen immer eine höfliche, aber bestimmte Distanz. Spätestens mit dem Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes im August 1939

182 ARCTURUS 7 • 2019 war klar, dass die finnische Neutralitätspolitik gescheitert war. Im geheimen Zusatzabkommen wurde Finnland der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen, ein Fakt, der auch Blücher zunächst unbekannt war. Mehrfach versuchte er in den folgenden Monaten vergeblich, die offizielle Haltung in Berlin zugunsten von Finnland zu beeinflussen, da er negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit befürchtete und ihm in Helsinki der Prestigeverlust des Deutschen Reiches und die zunehmend antideutsche Stimmung nicht verborgen geblieben war. Vor allem während des Winterkrieges hielt sich das offizielle Deutschland strikt an die Absprachen mit der Sowjetunion. Vergeblich bot Blücher seine Vermittlungsversuche an, um, wie er betonte, den deutschen Einfluss in Finnland nicht zu verlieren und um eine drohende Sowjetisierung des Landes zu verhindern. Blüchers pro-finnische und ablehnende Haltung gegenüber der offiziellen Linie des AA führte schnell zu einem Zerwürfnis mit Außenminister Ribbentrop, das eigentlich während des gesamten Krieges anhielt. Im März 1940 blieb Finnland keine militärische Option mehr und die Friedensbedingungen der Sowjetunion mussten akzeptiert werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Deutsche Reich, bedingt durch seine moskaufreundliche Haltung die Sympathie in Finnland vollständig verloren. Blüchers Alternativpolitik war gescheitert und er stand kurz vor seiner Ablösung, die vor allem durch Staatssekretär Ernst von Weizsäcker verhindert wurde. Erst allmählich änderte sich die Lage und die Finnen begannen vorsichtig damit, sich wieder an Deutschland anzulehnen, nicht zuletzt aus Furcht vor der Sowjetunion, außenpolitisch gesehen sicherlich eine Gratwanderung. Besonders die zunächst ablehnende Haltung des Ministerpräsidenten und späteren Staatspräsidenten Risto Ryti wurde zunehmend aufgeweicht und so ist im Verlauf des Jahres 1940 ein zunehmendes Abrücken von der neutralitätspolitischen Linie festzustellen, was von Blücher durchaus begrüßt und gefördert wurde. Sein Finnland – Konzept bestand darin, die deutsche Hegemonie im Ostseeraum zu erhalten und auszubauen, die staatliche Eigenständigkeit Finnlands inklusive seiner demokratischen Traditionen zu erhalten, Einmischungen in die inneren Angelegenheiten des Landes möglichst zu verhindern sowie eine enge Anlehnung an das Deutsche Reich in allen Bereichen zu fördern. Ab Herbst 1940 wurden Waffenlieferungen vereinbart, ein Transitabkommen für die Durchreise der deutschen Truppen nach Nordnorwegen abgeschlossen und erste noch unverbindliche militärpolitische Gespräche geführt. Spätestens nach dem Molotow-Besuch in Berlin im November 1940 war klar, dass das Deutsche Reich ein aggressives militärisches Vorgehen der Sowjetunion gegen Finnland nicht mehr dulden würde. Seit

ARCTURUS 7 • 2019 183 dem Frühjahr 1941 verdichteten sich die Indizien für eine bevorstehende Offensive des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion. Schon bald wurden direkte militärische Kontakte zu Finnland aufgenommen und konkrete Absprachen für den Kriegsfall getroffen. Für Blücher war die Lage klar. Er interpretierte die Entscheidung Finnlands als eine berechtigte und unvermeidliche Präventivmaßnahme gegen einen skrupellosen Aggressor und er hatte durchaus Verständnis dafür, dass sich Finnland nicht nur die nach dem Winterkrieg verlorenen Gebiete zurückholen solle, sondern sich zusätzlich ein „Großfinnland“ auf Kosten der Sowjetunion schaffen könne. Ab Frühjahr 1941 wurde Finnland in die deutschen Operationsplanungen (Fall Barbarossa) offiziell einbezogen, wobei die finnische Regierung ein formelles Bündnis mit dem Deutschen Reich vermeiden wollte und lieber von einem „Fortsetzungskrieg“ bzw. „Sonderkrieg“ gegen den bolschewistischen Gegner sprach. Folglich sah sich Finnland auch nicht als Verbündeter sondern als Waffenbruder Deutschlands. Anfänglich hatte Blücher mit seiner gemäßigten Finnlandpolitik im Land durchaus Erfolg und er konnte die finnische Regierung sogar davon überzeugen, im November 1941 dem Antikominternpakt beizutreten und die diplomatischen Beziehungen zu England abzubrechen. Umso enttäuschter und verbitterter war er, als Hitler ihn bei seinem Besuch zu Mannerheims 75. Geburtstag völlig ignorierte, wodurch der Gesandte sich vor den Finnen erniedrigt und bloßgestellt fühlte. Trotz unbestreitbarer Erfolge hatte es sicherlich auch mit den Eigenmächtigkeiten Blüchers zu tun, die ihm etwa von Ribbentrop angekreidet wurden oder aber mit der Tatsache, dass Blücher eine Infiltration der Gesandtschaft durch SS und SD weitestgehend verhindern konnte. Auch wenn er eine durchaus antisemitische Grundhaltung hatte, so lehnte er doch die biologistisch-rassenideologische Lehre mitsamt ihrer grausamen Konsequenzen ab. Zudem hatte er erkannt, dass die Judenpolitik im Deutschen Reich zunehmend in der finnischen Öffentlichkeit kritisch beurteilt wurde, vor allen Dingen von den politischen Eliten des Landes. Zwar wurde die jüdische Bevölkerung in Finnland beschützt, es wurde aber – wie neueste Forschungen belegen – in Lappland ein Sonderkommando aus finnischer Sicherheitspolizei und Mitarbeitern des RSHA gebildet, das sog. „Einsatzkommando Finnland“, welches unter den Kriegsgefangenen Juden und Kommunisten herausfilterte und diese nach Deutschland überstellte. Nicht nur in diesem Fall lavierte Blücher zwischen Anpassung und passivem Widerstand. So versuchte er mehrfach innerhalb des Systems eine Gleichschaltung des AA zu verzögern, aber einen aktiven Widerstand wie z.B. den Tyrannenmord, selbst gegen ein verbrecherisches Regime lehnte

184 ARCTURUS 7 • 2019 er aus christlich-ethischen und staatsrechtlichen Überlegungen ab. Er sah sich nicht als „Mitläufer der Partei, sondern als Bremser“. Im Gegensatz etwa zu seinem langjährigen Förderer, dem Botschafter in Moskau Werner Graf von der Schulenburg widersetzte er sich Umsturzplänen bis zuletzt, denn die Treuepflicht gegenüber dem Staat und der Obrigkeit hatte für ihn bei aller Gegnerschaft gegen das Regime stets Priorität, wie auch seine Loyalitätsbekundungen gegenüber Hitler nach den Ereignissen des 20. Juli 1944 deutlich machten. In den letzten beiden Jahren in Helsinki ging es Blücher vor allem darum, Finnland als Waffenbruder im Kampf gegen die Sowjetunion zu halten, denn schon nach den militärischen Rückschlägen im Frühjahr 1943 war eine zunehmende Skepsis über den weiteren Kriegsverlauf bei der politischen Führung Finnlands deutlich zu erkennen. Da das Land keinen formellen Vertrag mit dem Deutschen Reich abgeschlossen hatte, sahen es die verantwortlichen Politiker folglich als ihr Recht an, auch ohne die Billigung Berlins über den Zeitpunkt des Kriegsaustrittes selbst entscheiden und demnach Sondierungsgespräche mit der Sowjetunion führen zu können. Die Folge war eine Radikalisierung der deutschen Politik gegenüber der finnischen Führung und auch Blücher war bereit, Druck auf die Finnen auszuüben, um diese zu disziplinieren, z.B. durch eine Beschränkung der Waffen- und Lebensmittellieferungen. Hitler und Ribbentrop lehnten finnische Überlegungen für einen Sonderfrieden brüsk ab – so z.B. in einem Brief Hitlers an Staatspräsident Ryti vom 14.10. 43 – und sie forderten stattdessen das Land eindringlich auf, eine verbindliche Erklärung abzugeben, ohne Zustimmung des Deutschen Reiches keinen Waffenstillstand oder Friedensvertrag mit der Sowjetunion abzuschließen. Auch Blücher forderte vehement eine Fortsetzung des „Verteidigungskrieges gegen die Sowjetunion“. Als Beleg der deutschen Verärgerung wurde Blücher von Ribbentrop im Frühjahr 1943 für mehrere Wochen demonstrativ aus Finnland abberufen. Trotz aller Warnungen kam es Anfang 1944 – nach dem Rückzug der Heeresgruppe Nord auf die Narwa-Stellung – erneut zu finnisch- russischen Konsultationen. Ribbentrop und Blücher drohten unverhohlen mit Konsequenzen, denn die Verhandlungen seien ein „glatter Verrat am Waffenbruder und am Ende stehe die Vernichtung des finnischen Volkes und die Bolschewisierung des Landes“. Zwar kam zu diesem Zeitpunkt, aufgrund der harten sowjetischen Forderungen noch kein Sonderfrieden oder Waffenstillstand zustande, doch die Finnen ließen die Verbindungen zu Moskau nicht abreißen, auch wenn Hitler in einem persönlichen Brief an Mannerheim betonte, dass der Kriegsaustritt Finnlands keine ausschließlich finnische Entscheidung sein könne. In den kommenden

ARCTURUS 7 • 2019 185 Wochen verschlechterte sich die militärische Lage des Reiches zusehends. Anfang Juni begann zudem noch die Offensive der Roten Armee auf der karelischen Landenge, wo die Lage immer bedrohlicher wurde. Die finnische Staats- und Militärführung entschied sich nun für ein Doppelspiel. Einerseits forderte man von den Deutschen verstärkte Waffenlieferungen, andererseits wollte man damit die Voraussetzungen schaffen, um unter noch günstigen Bedingungen aus dem Krieg ausscheiden zu können. Zur Klärung der anstehenden Probleme flog Ribbentrop, ohne Blücher vorher zu informieren Mitte Juni nach Helsinki, um mit Staatspräsident Ryti eine Vereinbarung zu treffen. Finnland sollte völkerrechtlich enger an das Reich gebunden werden. Bei den folgenden Verhandlungen zeigte sich der deutsche Außenminister skrupellos und unnachgiebig. Ryti blieb keine Wahl. Er verpflichtete sich persönlich, ohne Zustimmung der Reichregierung keinen Sonderfrieden mit der Sowjetunion abzuschließen. Obwohl Blücher in diesem Fall Zweifel an der persönlichen Zuverlässigkeit von Ryti äußerte, ging er doch von der Rechtsgültigkeit des Vertrages aus. Bis heute wird kontrovers darüber diskutiert, ob der Ribbentrop-Ryti – Vertrag völkerrechtlich verbindlich gewesen ist. Aufgrund der nun wieder erfolgten Waffenlieferungen gelang es den Finnen tatsächlich, die Front zu stabilisieren und danach zielbewusst den Seitenwechsel vorzunehmen. Wegen der persönlichen Bindung des amtierenden Präsidenten war dafür aber vorher ein Regierungswechsel unumgänglich. Ryti legte sein Amt nieder und wurde durch Marschall Mannerheim ersetzt, der nun als militärischer Oberbefehlshaber und Staatspräsident die Macht in einer Hand konzentrieren konnte. Blücher war zwar der Meinung, die Verpflichtung von Ryti sei auch für seinen Nachfolger bindend, aber die neu gebildete finnische Regierung beurteilte – sehr zum Unwillen von Blücher – den völkerrechtlichen und politischen Stellenwert des Vertrages völlig anders und auch Mannerheim sah sich juristisch nicht mehr daran gebunden. Finnland habe sich in einer Notlage befunden, nun sei aber das Land entschlossen, die Waffenbrüderschaft zu beenden. Blücher war bitter enttäuscht und beurteilte das Verhalten Mannerheims als einen eindeutigen Rechtsbruch. Anfang September war Finnland zu einem Sonderfrieden mit der Sowjetunion bereit und Mannerheim teilte Hitler in einem persönlichen Brief mit, dass ihm aus Gründen der Staatsräson keine andere Wahl geblieben sei. Die sowjetischen Bedingungen für einen Waffenstillstand waren eindeutig: Abbruch der Beziehungen zu Deutschland und Abzug der deutschen Truppen bis zum 15. September. Am 2. September trat der finnische Reichstag zusammen und billigte mit großer Mehrheit die russischen Forderungen.

186 ARCTURUS 7 • 2019 Noch am Abend wurde Blücher der Abbruch der Beziehungen mitgeteilt. Ihm blieb nur noch die bittere Aufgabe, die Gesandtschaft aufzulösen und das Personal nach Deutschland zu evakuieren. Am 10. September 1944 verließ er endgültig finnischen Boden. Da es im AA in Berlin für ihn keine Verwendung mehr gab, zog er in sein Haus nach Garmisch – Partenkirchen, wo er bei Kriegsende von den Amerikanern interniert wurde und sowohl ein Entnazifizierungsverfahren wie auch ein Spruchkammerverfahren durchlaufen musste. In beiden Fällen wurde er als unbelastet eingestuft. Wie ist Blücher zu beurteilen, der schließlich fast zehn Jahre lang die deutsche Finnlandpolitik an entscheidender Stelle mitgeformt und vertreten hat? Er war ein konservativer Karrierediplomat alter Schule, der den Ideen und Idealen des Kaiserreichs sein Leben lang verbunden blieb. Zwar hielt er auf Distanz zur NS-Ideologie und zur Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus, fand aber nicht die Kraft, obwohl er die verbrecherische Politik im Osten durchaus kannte, aktiv Widerstand zu leisten. Stattdessen versuchte er immer wieder vergeblich die zynische und skrupellose Finnlandpolitik von Ribbentrop durch eine Obstruktionspolitik zu untergraben oder zu verzögern. Blüchers zweifellos pro-finnische Haltung hatte allerdings dort ihre Grenzen, wo die Interessen des Reiches berührt waren. So verhärtete sich seine Haltung auch spürbar als klar wurde, dass Finnland im Sommer 1944 die Waffenbrüderschaft aufkündigen würde, was er als eine persönliche Niederlage empfand. Folglich verteidigte er auch den von Ribbentrop erpressten Vertrag mit Ryti, ohne erkennen zu wollen, dass Finnland aus Gründen der Staatsräson seine letzte verbliebene Chance nutzen musste, um die staatliche Existenz zu retten. Die vorliegende grundlegende Arbeit von Michael Jonas ist für alle, die sich in Zukunft mit den deutsch – finnischen Beziehungen während der NS-Zeit beschäftigen wollen unverzichtbar. Wünschenswert bliebe allerdings noch eine ergänzende Auswertung des russischen Archivmaterials, sowie die Berücksichtigung der neuesten russischen Forschungsergebnisse.

Abschließende Betrachtung

Schon wenige Jahre nach dem Krieg erschienen 1951 im Limes Verlag in Wiesbaden die Memoiren von Wipert von Blücher über seine Zeit als Gesandter in Helsinki unter dem Titel: „Gesandter zwischen Diktatur und Demokratie. Erinnerungen aus den Jahren 1935 – 1944“. Neben den Erinnerungen des langjährigen Pressemitarbeiters Hans Metzger waren sie bis zur Veröffentlichung der Biographie von Michael Jonas eine der wichtigsten Quellen zum Verständnis der Vorgänge und Abläufe an der

ARCTURUS 7 • 2019 187 deutschen Gesandtschaft in Helsinki. Auch wenn Blücher im Vorwort schreibt, dass es sich „um keine Verteidigungsschrift und um keine Beichte handelt“, so muss man seine teilweise apologetischen Erklärungen heute kritisch hinterfragen, denn bis zum Schluss will er sich nicht eingestehen, dass er einem verbrecherischen System gedient hat. Sozialisiert im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, gehörte er zu den national-konservativen Beamten im Auswärtigen Amt, die nicht daran interessiert waren, demokratische Strukturen im Ministerium zu schaffen. Immer wieder versuchte Blücher während seiner Tätigkeit in Finnland die konservative Führungsschicht des Landes von der Richtigkeit der deutschen Politik zu überzeugen. Trotz aller Sympathie für sein Gastland vertrat er in Zweifelsfällen vehement die Interessen des Deutschen Reiches. Natürlich war sein Handlungsspielraum eng begrenzt und auch wenn er teilweise über die verbrecherische NS-Politik informiert war, so fehlte ihm letztlich doch der Mut, zurückzutreten oder sich einer Widerstandsgruppe anzuschließen. Blücher stellte die Interessen des Vaterlandes über das jeweilige Regime und er glaubte irrigerweise durch Reformen im Auswärtigen Amt Schlimmeres verhindern zu können. Wenn man nach über 60 Jahren Blüchers Handlungen bewerten will, so ist klar, dass sich heute die Bewertungsmaßstäbe entscheidend verändert haben. Blüchers Verhalten lässt sich nur aus der Zeit heraus verstehen und interpretieren. Folglich sind heute die inhaltlichen und methodischen Kategorien anders zu bewerten, denn Blücher war kein Demokrat. Für diese Neubewertung und Aktualisierung leistet das Buch von Michael Jonas einen wertvollen Beitrag.

Besprochenes Buch: Michael Jonas: NS-Diplomatie und Bündnispolitik 1935 – 1944. Wipert von Blücher, das Dritte Reich und Finnland. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2011. 687 S. 79 €.

188 ARCTURUS 7 • 2019 Manfred Menger

Marjaliisa Hentilä – Seppo Hentilä, 1918 – Das deutsche Finnland. Die Rolle der Deutschen im Finnischen Bürgerkrieg.1

ie Vorgeschichte, der Verlauf und die Konsequenzen des Einschreitens Ddeutscher Streitkräfte in den finnischen Bürgerkrieg des Jahres 1918 haben inzwischen mehrere Generationen von Historikern, Publizisten und Politikern, von Befürwortern und Gegnern der Intervention beschäftigt. Da- bei waren die Wahrnehmung und Bewertung des Geschehens je nach sub- jektiver Sicht und politischer Prägung von Anfang an geradezu selbstver- ständlich sehr unterschiedlich. So glorifizierte R. v. der Goltz das deutsche Vorgehen als „die nobelsteTat des Weltkrieges“, Karl Liebknecht bewertete es dagegen als „ein schändliches Spiel der deutschen Regierung mit Finn- land“. An der konträren Sicht hat sich zumindest in Deutschland über viele Jahrzehnte nur wenig geändert. Noch im geteilten Deutschland wurden von Historikern in Ost und West trotz neuer finnischer Einsichten weitgehend die überlieferten diametralen Auffassungen über die deutsche Finnlandpoli- tik des Jahres 1918 vertreten. Anders in Finnland. Dort ist seit den 1950er Jahren manches geschehen, um ein klareres Bild über Deutschlands Ab- sichten und Finnlands Position Jahre 1918 zu vermitteln – und, was wohl noch wichtiger war, im Geist der nationalen Versöhnung Sympathie für alle Opfer des Bürgerkrieges zu bekunden und das gnadenlose Vorgehen der Sieger zu benennen. Das in erster Auflage 2016 unter dem Titel „Saksalainen Suomi 1918“ er- schienene, viel gelobte und als Geschichtsbuch des Jahres 2016 ausge- zeichnete, nun dank der Förderung durch die Aue-Stiftung auch in deutscher Sprache vorliegende Werk folgt dem Grundsatz, Geschichte aus ihrer Zeit heraus unverzerrt darzustellen in deutlicher Abgrenzung von fragwürdigen „weißen“ oder „roten“ Zweckdeutungen. Die Monografie resümiert den Ex- trakt langjähriger kritischer Forschung, hat aber auch neue Fragestellungen und Interpretationen zu bieten, die nicht nur durch ihre inhaltliche Substanz, sondern ebenso durch eine bildhafte, eingängige und klare Sprache sowie

1 SCOVENTA Verlagsgesellschaft mbH, Bad Vilbel 2018, 430 Seiten, ISBN 978-3942073- 48-6, 26,90 Euro

ARCTURUS 7 • 2019 189 die Wiedergabe berührender Detailschilderungen von Zeitzeugen beeindru- cken. Die zentrale Aussage der beiden durch mehrere ihrer ins Deutsche übersetzten Publikationen und durch ihre kulturpolitischen Aktivitäten auch vielen deutschen Finnlandfreunden schon länger bekannten Hochschullehrkräfte und Forschenden, lautet kurz und knapp: Finnland wurde zuerst mit Hilfe Deutschlands und dann vor dessen Hilfe gerettet. Ein originelles Wortspiel, das die Sache aber auf den Punkt bringt und schon im Vorwort ihr Hauptanliegen verdeutlicht: Den Nachweis der Ambivalenz des deutschen Vorgehens, der zwiespältigen, überwiegend aber eher kritisch beurteilten Rolle Deutschlands im ersten Jahr finnischer Selbstständigkeit. Entscheidend für die Entwicklung in Richtung auf ein „Deutsches Finnland“ waren aus Sicht der Verfasser die Schockwirkungen der russischen Oktoberrevolution. Unter deren Eindruck wurde der seit Weltkriegsbeginn nur von einer Randgruppe, den „Aktivisten“, verfolgte Kurs der völligen Abkehr von Russland und Hinwendung zu Deutschland zur Maxime nahezu des gesamten bürgerlichen Lagers. Deutsche Rückendeckung erschien den regierungstreuen Kreisen nun unabdingbare Voraussetzung für die Anerkennung und dauerhafte Respektierung der finnischen Selbstständigkeit durch Sowjetrussland sowie für die Bewahrung der überkommenen Gesellschaftsordnung. Trotz mancher im Vorfeld der deutschen militärischen Intervention tatsächlicher oder vermeintlicher Eigenmächtigkeiten E. Hjelts, des finnischen Gesandten in Berlin, nicht eindeutig autorisierter Hilfsersuchen und Vertragsabschlüsse und anderer Irritationen, die im Detail dargestellt werden, akzeptierten letztlich alle politischen Führungskräfte des weißen Finnland die Position: Wir brauchen deutsche Hilfe, koste es, was es wolle. Seppo und Marjaliisa Hentilä betonen, dass Finnland von seiner Regierung nahezu bedingungslos an Deutschland ausgeliefert wurde, konzedieren aber auch, dass dabei nicht nur naive Deutschfreundlichkeit, großfinnische Wunschträume oder außenpolitische Unerfahrenheit im Spiel waren. Vielmehr sprachen auch noch nach dem Ende des Bürgerkrieges einige schwerwiegende Faktoren, insbesondere die andauernde fragile Sicherheitslage, dafür, bis zuletzt auf die deutsche Karte zu setzen. Auf deutscher Seite sei es indessen, wie die Verfasser rigoros konstatierten, allenfalls indirekt um Hilfe für die Weißen, vor allem aber um die eigenen Interessen gegangen. Zunächst vor allem darum, der drohenden Gefahr der Bildung einer neuen Ostfront durch die von Murmansk gen Süden vorrückende Truppen der Entente entgegenzuwirken und angesichts der unsicheren Verhältnisse in Russland in der Lage zu sein, jederzeit zu beiden Seiten des Finnischen Meerbusens Druck auf Petrograd auszuüben.

190 ARCTURUS 7 • 2019 Gleichwohl arrangierten die Reichsbehörden die deutsche Intervention wie eine Dienstleistung auf Bestellung, die Finnland durch gravierende Einschränkungen seiner eigenen Handlungsfreiheit und in barer Münze zu bezahlen hatte. Das Autorenpaar belegt das schon in seiner Analyse der am 7. März 1918 abgeschlossenen deutsch-finnischen Verträge und später in aller Deutlichkeit an dem Vorgehen und den Absichten deutscher Dienststellen im „befreiten“ Finnland. - Im einzelnen zeigt sich das insbesondere an den Bestrebungen zum Aufbau einer Armee nach deutschem Muster, die als „Stahlfaust des Nordens“ im Kriegsfall uneingeschränkt deutschem Befehl unterstellt werden sollte, am Abschluss eines deutschen Interessen dienenden Militärbündnisses, der Forcierung der Wahl eines deutschen Prinzen zum finnischen König sowie der auf Dauer erstrebten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und des finnischen wirtschaftlichen Potentials. Ausgesprochen konterrevolutionäre Erwägungen und Befürchtungen vor einem Übergreifen der revolutionären Welle auf ganz Nordeuropa und Deutschland, ein namentlich auch Wilhelm II. beunruhigendes und von ihm in den Auseinandersetzungen zwischen der Obersten Heeresleitung und der Reichsregierung über das Für und Wider der Intervention deutlich benanntes drohendes Szenario, werden von den Autoren als eigenständiges Interventionsmotiv indessen kaum in Betracht gezogen. Vielmehr bewerten sie den finnischen Bürgerkrieg geradezu als Glücksfall für Deutschland, da er einen idealen Vorwand lieferte, um in Finnland unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe gegen „fremde Räuberbanden“ Fuß zu fassen. Darüber, wie das praktisch verlief, von der Formierung, über den riskanten Transport der etwa 13 000 Mann starken Interventionstruppen über die gebietsweise vereiste und verminte Ostsee bis zum Einsatz der „hochgradig kampffähigen“ deutschen Verbände gegen die militärisch unbedarften Rotgardisten erfährt der Leser manche, bisher zum Teil kaum dargestellte Fakten. Die abschließende Gewichtung des deutschen Einschreitens für den Ausgang der Kämpfe bleibt indessen, wie bei nahezu allen finnischen Autoren, die sich zu dem Thema geäußert haben, etwas unbestimmt. Es heißt, das Eingreifen der Deutschen habe den Ausgang des Krieges vielleicht nicht entschieden, den Sieg der Weißen aber fest garantiert sowie das Kampfgeschehen um Wochen, wenn nicht Monate verkürzt, und so auch eine noch höhere Zahl an Gefallenen und Terroropfern verhindert. Jedenfalls ist das ein differenzierteres Urteil als das der Kontrahenten Mannerheim und von der Goltz – die beide meinten, dass es gerade ihr Beitrag war, der den Krieg am Ende entschied. In den Kämpfen gegen die Deutschen fielen 1. 700 Rote, während die deutsche Streitmacht dabei mindestens 400 Tote zu beklagen hatte. An

ARCTURUS 7 • 2019 191 den Terrormaßnahmen außerhalb des Kampfgeschehens (mit 7.370 hingerichteten, weiteren 12. 000 in den Gefangenenlagern vor allen durch Hunger und Seuchen umgekommenen „Roten“, die ihrerseits 1.424 Gewaltverbrechen begingen) sollen die Deutschen nach, wie die Verfasser betonen, schwer zu verifizierenden Angaben mit ca. 100 Hinrichtungen beteiligt gewesen sein. Die von deutscher Seite zunächst als ins Land eingedrungene „fremde Mörderbanden“ diffamierten Rotgardisten, standen, wie von der Goltz, am 8. April deklarierte, „außerhalb des Völkerrechts“. Internationale, vor allen schwedische Appelle, den deutschen Einfluss geltend zu machen, um dem Terror Einhalt zu gebieten, blieben unbeachtet. Dagegen sollen Soldaten der Ostseedivision aus eigenem Entschluss vielfach die Mordgier der Sieger gedämpft haben. Etwa die Hälfte der Monographie widmet sich dem Geschehen vom Mai bis zum Dezember 1918, also der Zeit des „deutschen Finnland“ in der das Land de facto unter dem „Kommando eines deutschen Generals“ stand und in der manches geschah, um diese Konstellation auf Dauer zu bewahren. Die Stärke dieses zweiten Teils des Buches besteht sicher darin, dass einige in der bisherigen Forschung noch kaum, jedenfalls aber noch nie so detailliert behandelte Vorgänge ins Blickfeld gerückt werden. Dabei beeindruckt vor allem die von den Autoren gewählte alltagsgeschichtliche Perspektive, die Tatsache, dass sie nicht allein das Agieren der deutsch- finnischen Führungsebene im Blick haben, sondern auch das Alltägliche und Gewöhnliche im außergewöhnlichen Verhältnis zwischen den mehr oder weniger regierungstreuen Bevölkerungskreisen und den bis zum Dezember im Lande verbleibenden rund 10 000 deutschen Soldaten darstellen.

Man erfährt, durch viele Fakten belegt, dass die Deutschen zumeist sehr freundlich aufgenommen, bewirtet und gefeiert wurden – und zwar nicht nur von der „feinen“ Helsinkier Gesellschaft, sondern landesweit und nicht begrenzt auf die Oberschichten. Dabei war die Motivation der „einfachen Leute“ aber nicht vorrangig politisch geprägt, sondern von Freude und Erleichterung über die Aussicht auf Ruhe und Frieden. Die von den Siegern kolportierte These nach der die Deutschen nicht als Eroberer, sondern als selbstlose Helfer ins Land kamen, soll das Gefühl der Erlösung noch befördert haben. Natürlich war das nur die Seite der Medaille. Für die Verlierer des fast von der gesamten Spitze der Sozialdemokratie unterstützten, mit radikaldemokratischen, sich von den Vorstellungen und Praktiken der Bolschewiki unterscheidenden Zielstellungen geführten Kampfes, gab es in der nun mehr als je zuvor zerklüfteten Gesellschaft keinen Grund für eine prodeutsche Euphorie.

192 ARCTURUS 7 • 2019 Zu den eigenständigen, bislang kaum im Blick gewesenen Vorgängen gehören auch Skizzen über das soldatische Alltagsleben, Aussagen über Aktionen gegen Zersetzungserscheinungen, über zunehmende Disziplinverstöße, Schwarzmarktgeschäfte, Schmuggel, Raub und eine florierende der deutschen Besatzung dienende Beschaffungswirtschaft. Diese Schilderungen beruhen auf einer profunden Auswertung eines umfangreichen, bisher wenig beachteten Quellenmaterials. Das Fazit der Autoren lautet: Finnland war unter den Bedingungen deutscher militärischer Präsenz vertraglich und de facto noch kein wirklich unabhängiger, sondern ein in seiner Souveränität stark eingeschränkter Staat, dem dauerhaft der Status eines deutschen Protektorats drohte. Dass dennoch die verklärende Erinnerung, der von der Freiheitskriegsliteratur kolportierte Mythos von Deutschland als selbstloser Helfer, die Zeiten überdauerte, war, wie resümiert wird, vor allem darauf zurückzuführen, dass ein „Deutsches Finnland“ zwar eine ernsthaft drohende Gefahr, aber letztlich dank der deutschen Niederlage nicht realisierte Alternative im Ringen um Finnlands Selbstständigkeit blieb. Positive Erwähnung verdienen noch die vielen gehaltvollen, mit Interesse und Gewinn zu lesenden nuancierten Einschätzungen über Ambitionen, Handlungsmotive, Rivalitäten oder Affinitäten der wichtigsten Akteure des Geschehens wie G. Mannerheim, R. v. d. Goltz, P. E. Svinhufvud, W. Thesleff, E. Hjelt, A. v. Brück, J. K. Paasikivi und anderer Persönlichkeiten. Nur hinsichtlich des an Ort und Stelle wichtigsten Exponenten der Unterwerfung Finnlands unter die deutschen Interessen, des im weißen Lager überschwänglich, geradezu als Inkarnation der Befreiung gefeierten, selbstgefälligen „Deutsche Generals“ und Profiteurs der finnischen Katastrophe des Jahres 1918, wäre eine noch kritischere und distanziertere Bewertung angebracht gewesen. Übersetzungen finnischer wissenschaftlicher Werke ins Deutsche sind Seltenheiten. Dass das Buch der Hentiläs die Hürde genommen hat und in einen deutschen Verlag erschien, ist gewiss nicht nur seiner Thematik, sondern in erster Linie seiner Qualität zu verdanken. Respekt gilt auch Benjamin Schweitzer für seine dem anspruchsvollen sprachlichen Niveaus des Originals gerecht werdende Übersetzung.

ARCTURUS 7 • 2019 193 Jorma Heimonen Fußspuren in Wiborg

Blick auf den Glockenturm der „alten“ Domkirche, später Kirche der finnischen Landgemeinde Wiborg

„Fußspuren in Wiborg”. Internationales Seminar für Deutsch- und Russischlehrkräfte in Wiborg 28.9.–30.9.2012

”Flieh´o Muse dies Land! Nicht Kokosinseln des Südmeers duften dir hier! Wild klagt tosender Brandung Geheul.“ August Thieme ”Finnland“ (Wiborg 1808)

in herbstliches Wiborg zeigte sein raues und gleichzeitig schönes Ge- Esicht, als finnische und russische Fremdsprachenlehrkräfte sich in ihm zusammentaten, um finnische, deutsche, schwedische und russische Spu- ren in den Straßen und Gassen der Stadt aufzuspüren. Das Seminar war von der Aue-Stiftung, der Deutschen Auslandsgesellschaft (Lübeck), dem Ressourcenzentrum der Deutschen Schule Helsinki, der finnisch-russischen Schule in Helsinki und dem finnischen Zentralamt für Bildungswesen orga- nisiert worden. Eingeladen waren finnische Deutsch- und Russischlehrkräf- te sowie russische Deutschlehrkräfte. Insgesamt nahmen 50 Personen am Seminar teil.

194 ARCTURUS 7 • 2019 Ziel des Seminars war es zu untersuchen, wie Stadtgeschichte im Sprachen- unterricht nutzbar gemacht werden kann. Ebenso sollte auch das Selbstver- ständnis der Lehrkräfte, ihr kulturelles Hintergrundwissen und ihre gegensei- tige Vernetzung gestärkt werden. Zu Beginn untersuchten aus Deutsch- und Russischlehrkräften gemischte Gruppen, ohne Vorwissen vor Ort die Ge- schichte und den derzeitigen Zustand diverser Plätze und Gebäude, und zwar hauptsächlich durch Befragen von Einheimischen gestützt auf die ei- genen Vorkenntnisse. Auf Grund der sprachlichen Mischung in den Teams konnten die Teilnehmenden schon in dieser Phase Strategien zum Verlauf, zum Übersetzen und zum Umgang mit den Erkenntnissen entwickeln. Die Gruppen stießen dabei auf umfassende Sachzusammenhänge aber auch auf kleinere Spuren. Diese Ergebnisse wurden zusammengetragen und im gemeinsamen Gespräch unter der Ägide eines geschichtswissenschaft- lichen Fachmannes behandelt. Unter den Teilnehmenden waren Lehrkräfte, die nur eine der beiden Zielsprachen, Russisch oder Deutsch beherrschten. Diese Herausforderung wurde durch gruppeninterne Konsekutivübersetzun- gen gelöst, ebenso wurde auch bei Vorträgen verfahren. Auf diese Weise lernten die Gruppen sich unmittelbar schon im Arbeitsmodus kennen. Das Seminar war von vornherein mehrschichtig geplant: Neben themati- schen Vorträgen gab es ebenso praktische, mit der Unterrichtsarbeit ver- bundene Übungseinheiten. Man bewegte sich auf einer hohen Metaebene und tauchte dann konkret in Aufgaben auf Mikroebene ein, was sich als sehr fruchtbare Arbeitsweise erwies. Dr. Robert Schweitzer, Forschungsleiter der Aue-Stiftung und renommierter Fachmann für die Geschichte Wiborgs und Kareliens in Hinsicht auf deren deutschsprachigen Anteil, erzählte sehr le- bendig, wie Wiborgs Geschichte in ihren verschiedenen Phasen auch jeweils die Sprachdominanz von Schwedisch, Deutsch, Russisch oder Finnisch wi- derspiegelt. Besonders für die russischen Kollegen war diese Sicht auf die Geschichte etwas völlig Neues. Während den Wiborg-Forschern diese viel- schichtige Vergangenheit der Stadt sehr wohl bewusst ist, scheint den Be- wohnern ihre Stadtgeschichte ziemlich gleichgültig zu sein. Dies zeigt sich auch in der Haltung der russischen Verwaltung: wichtige Sehenswürdigkei- ten der Stadt wie die Bibliothek von Alvar Aalto und der Landsitz Monrepos befinden sich in einem jämmerlichen Zustand. Nach einem Vortrag über das deutsche Schulwesen im Wiborg des 18. Jahr- hunderts führte uns Dr. Natalia Rozenberg von der Pädagogischen Alexan- der-Herzen-Universität St.Petersburg vor Augen, wie multikulturell Wiborg als Stadt tatsächlich war. Als Gesamtbild ergab sich ein multikulturelles und auch pädagogisch fortschrittliches Wiborg. Menschen verschiedener Sprach- gruppen lebten friedlich zusammen, auch wenn jede Gruppe ihre eigenen

ARCTURUS 7 • 2019 195 Traditionen und ihre eigenen Schulen hatte. In Wiborgs Schulen verwirklich- ten sich schon im 18. Jahrhundert die hervorragenden Erziehungsprinzipien von Comenius: Kinder sollen mit Liebe und in einem fortschrittlichen Geist erzogen werden. In diesem Sinne war auch das Gut und der Park Monrepos der Familie Nicolay gebaut worden, den die Seminarteilnehmer besuchten. Der Ausflug weckte widersprüchliche Gedanken: wir waren an die Grenze einer im Fluss der Zeit versunkenen Kultur gelangt, die auch keine noch so große Geldmenge wieder ins Leben rufen konnte. Die neuen Herren bauen eine Kultur nach ihren eigenen Ansichten. Einen der Höhepunkte des Seminars bildete die Präsentation des von der Aue- Stiftung herausgegebenen Faksimiles von August Thiemes Gedicht ”Finn- land” (1808) mit Übersetzungen. Im Gedicht werden in deutscher und in den Übersetzungen in den anderen drei in Wiborg gängigen Sprachen Finnland, die karelische Landenge und Wiborg gepriesen. Besonders beeindruckend war die Lesung des in klassisches Russisch übersetzten Gedichts. Wir lernten auch ein neues deutsches Wort ”Mamura”, also „maamuurain“ oder arktische Brombeere. So trafen sich deutsch und finnisch im Jahr 1808. Der letzte Tag war der praktischen Arbeit gewidmet. Inna Kotovič, Studienrä- tin der finnisch-russischen Schule, berichtete über neue Lehrmaterialien für russisch, und Svetlana Glinčikova, Lektorin am russischen Wissenschafts- und Kulturzentrum behandelte den Gebrauch von sozialen Medien im Rus- sischunterricht. Sie stellte auch einige hervorragende russische Sprachweb- seiten vor. Auf deutscher Seite brachte Martin Herold von der Deutsche Auslandsge- sellschaft die neusten Trends in der Jugend- und Sportsprache nahe, Robert Bär, Studienrat der Deutschen Schule Helsinki führte die Teilnehmenden in den Gebrauch von Drama im Unterricht ein. In der Deutschen Schule wer- den dramatische Elemente methodisch schon seit langem im Sprachunter- richt angewandt. Über die Herausforderungen des Fremdsprachenunterrichts in Russland berichtete Dr. päd. Olga Bogdanova, Dozentin am Institut für fremde Spra- chen an der Außenstelle Volchova der Pädagogischen Alexander-Herzen- Universität. Die Stellung von Deutsch als zweiter Fremdsprache gehe zu- rück. Erste Fremdsprache ist Englisch, die Wahl einer zweiten Fremdsprache wird dadurch beeinflusst, dass sie freiwillig ist und zusätzlich bezahlt werden muss. Nach Bogdanova kann die ältere Generation noch gut Deutsch, die jüngere schon wesentlich schlechter. In Russland gibt es zwar viele Sprach- schulen (”Schulen für vertiefenden Sprachunterricht”), in denen Fremdspra- chen etwas mehr unterrichtet werden (drei Wochenstunden), aber die Schul- verwaltung versteht ihres Erachtens nicht die Bedeutung von Deutsch.

196 ARCTURUS 7 • 2019 Besonders froh ist sie als Ausbilderin in der Lehrkräfteausbildung darüber, dass die neuen Lehrkräfte ein weites Methodenspektrum beherrschen. Die akade- mische Freiheit funktioniert noch in der Universität, in Schulen aber wird sie nicht mehr geschätzt. Die Arbeit der Lehrkräfte wird weithin von oben gelenkt, am Arbeitsplatz gibt es eine ältere pädagogische Leitungskraft (”zavučw”), die jedoch nicht einmal unbedingt Fremdsprachenlehrkraft ist. Die Lehrkräfte dürfen nur vorgeschriebenes und empfohlenes Lehrmaterial benutzen, und sie werden nicht an der Lehrplanarbeit beteiligt. Bogdanova wünscht sich für Russlands Schulen mehr Wahlmöglichkeiten und dass Lehrkräfte und Eltern in ihre Schulen betreffenden Entscheidungen mehr gehört werden. Auch das Gehalt müsste erhöht werden. Eine Lehrkraftverdient durchschnittlich ca. 10.000 Rubel (360 Euro) im Monat, was 20 % unter dem Durchschnittslohn in Russland liegt. Deshalb arbeiten viele an zwei oder mehr Stellen und geben zusätzlich ihren Schülern Privatstunden. In Russland gehen Frauen mit 55 und Männer mit 60 in Rente. Dennoch bleiben viele pensionierte Lehrkräfte noch in Vollzeit im Dienst, da sie von ihrer Rente nicht leben können. Trotz dieser aus unserer Sicht trostlosen Situation bei unserem östlichen Nachbarn haben wir fortschrittliche und aktive Lehrkräfte angetroffen, die sich mit großem Einsatz ihrer Arbeit und ihren Schülern widmen. Während der Seminartage haben wir viel voneinander gelernt und konnten Verbin- dungen zwischen Schulen knüpfen. http://peegeehydatoon.blogspot.com/search?q=Viipuri

Die von Carl Ludwig Engel entworfene Toreinfahrt von Monrepos

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