Margarete Junge Künstlerin und Lehrerin im Aufbruch in die Moderne

Margarete J. Vietig | M. Welsch (Hg.)

Künstlerin und Lehrerin Junge im Aufbruch in die Moderne Margarete Junge

Künstlerin und Lehrerin im Aufbruch in die Moderne

Herausgegeben von Marion Welsch und Jürgen Vietig

Sandstein Verlag Inhalt

Claudia Baer Bianca Berding 6 Grußwort 70 Klassisch, stilvoll und praxistauglich Margarete Junges Kunstgewerbe: Beruf und Vermarktung Fritz Straub 7 Grußwort Cordula Bischoff 84 Die erste Frauenklasse der Königlich-Sächsischen Marion Welsch und Jürgen Vietig Kunstgewerbeschule 8 Vorwort Margarete Junge als Lehrerin

Marion Welsch 104 Der Gleichklang unserer Seelen tut uns wohl Yvette Deseyve Margarete Junge als Förderin und Freundin ehemaliger Schüler 10 Ein »ausserordentlich schmiegsam« Talent und Schülerinnen und ihrer Familien Margarete Junges künstlerische Anfänge in Dresden und München Birgit Dalbajewa 122 Konstrukteurin am Reißbrett Klaus-Peter Arnold Fritz Trögers Bildnis seiner Lehrerin Margarete Junge 20 Einfachheit – Eleganz – Würde Margarete Junge als bedeutende Dresdner Künstlerin, Jürgen Vietig Entwerferin, Designerin 132 Margarete Junge ein biografischer Überblick Thomas Andersch 44 »In den Formen strebt sie Einfachheit an« das Empfangszimmer von Margarete Junge im Grassimuseum 137 Personenverzeichnis 138 Autoren Graham Dry 140 Abbildungsnachweis 60 Einfach sitzen 142 Dank Margarete Junge und ihre Gartenmöbel 144 Impressum Yvette Deseyve

Ein »ausserordentlich unsthandwerkerin, Modezeichnerin, Porzellanmalerin und schließlich KHochschullehrerin, man könnte den Worten des belgischen Entwerfers (1863–1957) tatsächlich folgen und Margarete Junges schmiegsam« Talent (1874–1966) Talent als »ausserordentlich schmiegsam«1, im positiven Sinne als besonders vielfältig beschreiben; vielleicht als zu vielfältig, zumindest Margarete Junges künstlerische Anfänge nach Ansicht des belgischen Kollegen. Unbestritten – und das musste nun sogar van de Velde bestätigen – ist der Erfolg der Künstlerin, die 1907 als in Dresden und München Lehrerin an die Königlich-Sächsische Kunstgewerbeschule berufen werden sollte.2 Im Hinblick auf ihren Werdegang drängt sich jedoch unwillkürlich die Frage auf, ob diese Vielseitigkeit nicht vielleicht unter anderem in ihrem Ausbildungsweg gründet. Antworten auf diese Frage fordern einen ge­­ nauen Einblick vor allem in Quellen biografischer Natur. Aufgrund der im Falle Margarete Junges nur sehr fragmentarischen Überlieferung lassen sich daher nurmehr Indizien sammeln als letztgültige Antworten finden. »Der Einwand, die Frauen hätten noch keine Genies hervorgebracht, ist weder stichhaltig noch beweiskräftig. Genies fallen nicht vom Himmel, sie müssen Gelegenheit zur Ausbildung und Entwicklung haben, und diese hat den Frauen bisher gemangelt.«3 Mit diesen für seine Zeit fortschrittlichen Worten beschrieb August Bebel (1840–1923), Vorsitzender des Arbeiter­ bildungsvereins,­ 1879 die Ausbildungssituation von Frauen. Was Bebel hauptsächlich für die soziale Schicht der Arbeiterin konstatierte, galt eben­ ­so für die Situation der bürgerlichen Frau und kann im 19. Jahrhundert auch auf das Betätigungsfeld von Frauen in der Kunst übertragen werden. Vor dem Hintergrund der Industrialisierung und den damit einhergehenden sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts war der Erwerbsdruck auch für die bürgerliche Frau gestiegen. Nur durch eine ange- messene Bildung war es möglich, diesem Druck zu begegnen und neue Berufsfelder zu erschließen. Private Frauenvereine konstituierten sich um die Jahrhundertmitte, um der Mangelsituation zu begegnen und Frauen Bildungsmöglichkeiten zu erschließen bzw. langfristig einen gleichberech- tigten Zugang zu höheren Bildungsanstalten zu erwirken. Unter dem Prinzip der »kollektiven Selbsthilfe«4 sammelten sich auch in der Geburtsstadt von Margarete Junge die weiblichen Kräfte. Nach ersten Vorläufern wie dem bereits 1790 gegründeten »Israelitischen Frauenverein« und seinem 1814 ins Leben gerufenen christlichen Pendant, dem »Frauen- verein zu Dresden«, überschlugen sich die Vereinsgründungen in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts.5 Waren es zunächst vor allem Vereine, die

10 11 der sozialen Absicherung von Frauen verpflichtet waren, so richteten sich die Neugründungen zunehmend an den Bedürfnissen von Erwerbstätigkeit und Bildung aus. Zu den wichtigsten Einrichtungen dieser Gründungswelle wurden der 1870 instituierte »Dresdner Frauenbildungsverein« sowie der sich daraus abgespaltene »Fortbildungsverein für unbemittelte Mädchen«. Letzterer firmierte seit 1877 unter dem Namen »Frauen-Erwerbs-Verein«6 und trat mit dem Ziel an, dem weiblichen Geschlecht »Fortbildung [. . .], geistige und sittliche Veredelung, größere Erwerbsfähigkeit und Selbstän- digkeit«7 zu ermöglichen. Hierfür etablierte der Verein zahlreiche Fachschu- len und Handelskurse. In einer Abendschule8 wurden Grundlagenfächer und weiterführende Kurse in Buchführung, Stopfen und Ausbessern, später auch in Stenografieren, Putzmachen, Schneidern und Schnittmachen ange- boten. Daneben gab es eine Nähschule9 sowie eine Kunststickschule10 und eine Gewerbezeichenschule.11 Die Gewerbezeichenschule des Frauen­ erwerbs­vereins besuchte auch die angehende Künstlerin Margarete Junge. Nicht unwahrscheinlich ist die in fast jeder monografischen Studie12 zu Margarete Junge erwähnte Vorbildung in Form privater Zeichenstunden bei Wilhelm L. H. Claudius.13 Der an der Dresdner Akademie ausgebildete Maler hatte sich vor allem als Illustrator zahlreicher Kinder- und Märchenbücher sowie mit Grafiken für die Zeitschrift »Die Gartenlaube« einen Namen ge­­ macht. Auf dieser Grundlage aufbauend, trat Junge um 1892 in die Zeichen- schule des Dresdner Frauenerwerbsvereins ein. Aufgrund der Quellenlage, aus der nicht die namentliche Belegung der einzelnen Fachschulen hervor- geht, lässt sich für Margarete Junge nicht abschließend klären, ob sie die an der Gewerbezeichenschule angebotene Möglichkeit zur Ausbildung als Abb. 1 lichen Kunstgewerbeschule, den unzähligen Künstlergruppen, Vereinen und Zeichenlehrerin oder Musterzeichnerin absolvierte.14 Ihr weiterer Werde- Aktkurs an der Damen-Akademie Zirkeln und ihren Ausstellungsmöglichkeiten hatten sich ein ausgeprägtes des Künstlerinnen-Vereins München, gang, vor allem ihre spätere Anstellung an der Königlich-Sächsischen 1907 Verlagswesen und nicht zuletzt ein florierender Kunsthandel etabliert – Kunstgewerbeschule mögen Indizien für eine Ausbildung im pädagogischen Rahmenbedingungen, die zum speziellen künstlerischen Milieu Münchens Bereich sein. Hierfür spricht auch die Künstlerfreundschaft zu Gertrud beitrugen und eine stetig wachsende Zahl an Künstlern und Künstlerinnen Kleinhempel (1875–1948), die in jener Zeit der Ausbildung an der Dresdner anzogen: »Im allgemeinen fiel die Wahl der Studentinnen auf München, Zeichenschule wurzelt. Kleinhempels berufliche Laufbahn war, bis zur Beru- das ›damals nebst Paris das Mekka der kunststudierenden Jugend‹ war [. . .]. fung der Künstlerin 1907 an die Bielefelder Handwerkerschule, mit derjeni- Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts pilgerten viele Künst- gen Junges so eng verknüpft, dass eigentlich von einem künstlerischen lerinnen nach München.«17 Der 1882 gegründete Künstlerinnen-Verein Mün- Entwerferkollektiv Junge/Kleinhempel zu sprechen wäre.15 Die ein Jahr jün- chen und seine zwei Jahre später eingerichtete Damen-Akademie haben gere Gertrud Kleinhempel besuchte bereits seit 1889 die Gewerbezeichen- sicherlich zu Münchens Attraktivität für weibliche Studierende beigetragen, schule und legte nachweislich 1894 die Zeichenlehrerinnenprüfung ab, um sodass der Verein bereits 1893 konstatieren konnte: »Kaum ein Jahrzehnt ihre Studien sodann in München fortzusetzen.16 Für Margarete Junge stand hat genügt, diese, aus den geringsten Anfängen hervorgehende Genossen- der Umzug nach München hingegen zwei Jahre später an. schaft, zu einem wichtigen Factor des Kunstlebens zu gestalten, zu einem Der Ruf Münchens als führende Kunststadt des deutschen Reichs und Factor, mit welchem man rechnen muß, wenn man von der Kunststadt damit Fluchtpunkt zahlreicher nationaler, aber auch internationaler Künst- München sprechen will.«18 ler gründete in einer ausgeprägten künstlerischen Infrastruktur. Neben den Nach dem Berliner Vorbild19 hatten sich auch die Münchner Künstlerin- in zahlreichen Museen präsenten hochkarätigen Sammlungen, den aner- nen zum Ziel gesetzt, »den kunst- und kunstgewerbetreibenden Damen kannten Institutionen wie der Königlichen Kunstakademie oder der König- Gelegenheit zu gegenseitiger Anregung in ihrem Schaffen und gegenseiti-

12 13 Abb. 2, 3 Mitgliederverzeichnis des Münchner Künstlerinnen-Vereins mit dem Eintrag Margarete Junges als Schülerin der Damen-Akademie (vorletzte Zeile)

ger Unterstützung in ihren Bestrebungen zu geben, Sinn und Geschmack ordentliche Mitglieder die Geschicke des Vereins bestimmten, und Kunst- für das Schöne zu heben und das künstlerische Verständnis in Frauenkrei- schülerinnen, denen der Status außerordentlicher Mitglieder zukam. Letz- sen immer mehr zu entwickeln«.20 Zur Erreichung des formulierten Zwecks tere hatten, wie auch die unterstützenden Kunstfreundinnen keinerlei Mit­ wurden in den Statuten explizit drei Maßnahmen aufgeführt: »a) gesellige sprache- und Wahlrechte, selbst die Anwesenheit an den jährlich stattfin- Zusammenkünfte für ordentliche und außerordentliche Mitglieder [. . .] denden Generalversammlungen wurde ihnen untersagt. b) die vom Verein gegründete Kunstschule«21 und c) »zur Erleichterung der Wenn auch streng hierarchisch gegliedert, so verstand der Verein seine materiellen Lage [. . .] ferner die vom Verein ins Leben gerufenen Wohl­ Schule doch »als de[n] vornehmste[n] Zweig der Vereinstätigkeit [. . .] fahrts­ein­rich­tun­gen«.22 wollen wir doch der Jugend, der die Zukunft gehört, durch Gelegenheit zu Erst das Zusammenspiel von gesellschaftlichen, künstlerischen und gründlichem Studium den Weg zu den höchsten Zielen der Kunst ebnen«.23 sozialen Unterstützungen bzw. Anregungen machte den Münchner Künst- Für ein »gründliches Studium« galt es daher, ein möglichst umfassendes lerinnen-Verein als praktische Berufsgenossenschaft, Interessensvertre- Ausbildungsangebot zu entwickeln und über Jahre aufrechtzuerhalten. Der tung und Professionalisierungsinstitution aus. Der Verein unterschied in Name der Schule, Damen-Akademie, war in dieser Hinsicht programma- seiner Mitgliederstruktur klar zwischen den aktiven Künstlerinnen, die als tisch gewählt, denn man orientierte sich am offiziellen Lehrplan der König-

14 15 lichen Kunstakademie. Wenn auch dieser im Umfang und Angebot nie Abb. 4 24 Vereins- und Schulgebäude erreicht werden konnte, führte auch die Damen-Akademie einen prakti- des Künstlerinnen-Vereins schen und theoretischen Unterricht sowie Wahl- und Pflichtfächer ein. Zu in der Barer Straße 21 in München den Pflichtfächern gehörten beispielsweise Perspektivlehre, Maltechnik, Kunstgeschichte und Anatomie. Das Streben nach einer akademiegleichen Ausbildung sah aber vor allem eine weitreichende Unterweisung im Akt- studium vor. Als unverzichtbarer Teil der akademischen Ausbildung und als Grundlage für die in der Gattungshierarchie am höchsten stehende Histo- rienmalerei war es Frauen aus moralischen Bedenken untersagt und ent- wickelte sich so zu einem entscheidenden Faktor in der Diskussion um die Zulassung von Frauen zu den Kunstakademien (Abb. 1).25 Zum 1. Oktober 1896 schrieb sich Margarete Junge zur weiteren künst- lerischen Ausbildung an der Damen-Akademie des Künstlerinnen-Vereins München ein.26 Ob der Umzug sogar auf die direkte Empfehlung ihrer Freundin Gertrud Kleinhempel zurückgeht, die bereits seit Oktober des vor- angegangenen Jahres an der Damen-Akademie immatrikuliert war, muss dahingestellt bleiben. Fest steht jedoch, dass sich die beiden Dresdnerinnen zunächst eine gemeinsame Wohnung in der Theresienstraße 110, in unmit- telbarer Nähe der Damen-Akademie, teilten (Abb. 2, 3).27 Margarete Junge zog im darauffolgenden Schuljahr aus nicht näher bekannten Gründen in das Ma­­rien­stift, Ottostraße 7, bzw. 1898 in die Residenzstraße 44 um.28 In den drei Semestern, in denen Margarete Junge an der Damen-Aka- demie gemeldet war, unterrichteten die Künstler Friedrich Fehr (1862–1927) und Ludwig Schmitt-­Reutte (1863–1909), der im religiösen Bereich reüs- Dresden bzw. bis in ihre Bielefelder Zeit die Treue; durchaus ganz im Sinne sierende Karl Becker-Gundahl (1856–1925), die Landschaftsmalerin Carola der vom Verein propagierten Netzwerkidee, welche Gleichgesinnte zusam- Baer-von Mathes (1857–1940), der Maler und Medailleur Maximilian Dasio menführen und von München »in alle Herren Länder«32 ausstrahlen sollte. (1865–1954) sowie die Musterzeichnerin und spätere Schulleiterin Marie Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Margarete Junge und ihre von Welsch-Brum an der Damen-Akademie. Georg Schuster-Woldan (1864– Kollegin Gertrud Kleinhempel in einer Zeit an der Damen-Akademie stu- 1933) übernahm 1897/98 die Klasse von Becker-Gundahl und Georg Jauß dierten, als diese sich bereits etabliert und ihr vollständiges Schulprogramm (1867–1922) ergänzte das Team im Bereich Kopf- und Aktmalen. Während entfaltet hatte, aber gleichzeitig doch in einer Umbruchphase steckte. für Margarete Junge keine Spezifizierung der Lehrer möglich ist, wissen wir Nicht nur, dass nach dem Tod der Mitbegründerin und langjährigen Vorsit- von Gertrud Kleinhempel, dass sie vor allem bei Ludwig Schmitt-Reutte zenden Sophie Dahn-Fries (1835–1898) die Vereinsleitung neu aufgestellt studiert hat,29 der in jenen Jahren das Kopf- bzw. Aktzeichnen und -malen werden musste, auch die Schule litt zunehmend unter Platzmangel, wes- sowie den abendlichen Aktkurs und den Anatomiekurs an der Damen-­ halb der Neubau eines eigenen Vereins- und Atelierhauses unmittelbar Akademie betreut hat. bevorstand (Abb. 4). Er zog nicht nur alle Aufmerksamkeit, sondern auch Kleinhempel partizipierte über die Lehrjahre an der Damen-Akademie einen Großteil der finanziellen Ressourcen an sich, sodass sogar der eine hinaus intensiv am Geschehen des Künstlerinnen-Vereins. Noch im Jahr oder andere Stipendienpreis den Baukosten zum Opfer fiel.33 ihrer Aufnahme als ordentliches Mitglied engagierte sie sich in der Kunst- Ein Indiz für die nur kurze Verweildauer Junges mag die Ausrichtung des gewerbe-Jury des Vereins,30 trat aktiv beim geselligen Vereinsleben in Schulkonzepts gewesen sein, welches den Bereich des Kunstgewerbes Erscheinung und ist auch als Gewinnerin vereinsinterner Ausschreibungen weitgehend ausgrenzte.34 Bereits in den Anfangsjahren der Damen-Aka- nachweisbar.31 Im Gegensatz zu Margarete Junge, die den Übergang zum demie hatte sich herauskristallisiert, dass es unbedingt zu vermeiden war, ordentlichen Mitglied des Künstlerinnen-Vereins München nicht mehr voll- eine »Concurrenzlehranstalt«35 zur Königlichen Kunstgewerbeschule zu zog, hielt Gertrud Kleinhempel dem Verein auch nach ihrer Rückkehr nach errichten, die mit einer eigenen weiblichen Abteilung Frauen bereits eine

16 17 Thomas Andersch

as »Museum für Angewandte Kunst« ist heute Teil des Grassimuse- »In den Formen strebt sie Dums, einem weitläufigen und markanten Bauensemble am Leipziger Johannisplatz.2 Mit seiner Gründung im Jahre 1874 zählte es zu den frühen 1 Einfachheit an« Kunst­gewerbemuseen in Deutschland.3 Als durchaus gesamteuropäisches Phänomen verbreitet, wurden solche Museen – häufig in Zusammenhang mit einer Kunstgewerbeschule – eingerichtet, um dem Kunsthandwerk und Das Empfangszimmer von Margarete Junge der Industrie die Formengeschichte der einzelnen Stilepochen durch das im Grassimuseum Leipzig Anlegen von Vorbildersammlungen zu vermitteln und auf diese Weise an­­ regend zu wirken. Durch das großherzige Vermächtnis des Leipziger Kaufmanns Franz Dominic Grassi konnte 1896 das »Städtische Kunstgewerbe-Museum« als imposantes Gebäude am Königsplatz (heute Stadtbibliothek) eingeweiht werden. Die Bestände wuchsen rasch, nicht zuletzt durch beträchtliche Zuwendungen der Bürgerschaft, und machten recht bald einen Museums- neubau in völlig anderen Dimensionen erforderlich. Das neue Grassimuseum am Johannisplatz wurde von 1925 bis 1929 erbaut und nach einer veränderten Form der Ausstellungsgestaltung kon- zipiert. War ursprünglich eine strenge Trennung der einzelnen Sammlungs- bereiche vor allem nach materialkundlichen Gesichtspunkten erfolgt (Möbel, Glas, Keramik, Textil, edles und unedles Metall usw.), empfand man, dass dies »für die sinnliche Einfühlung und das genießende Verstehen der ein- zelnen Werke nicht glücklich ist«. Es wurde demgegenüber angestrebt, »die Bestände chronologisch anzuordnen und für die Einzelobjekte in Stilräumen mit zeitgenössischen Einrichtungsgegenständen eine wirksame, histori- sche Folie zu schaffen«.4 Infolge der verheerenden Zerstörung des Museums bei den Luftangrif- fen auf Leipzig im Jahre 1943 gingen gerade diese Raumensembles nahezu vollständig zugrunde, da eine umfassende Auslagerung und Sicherstellung nicht gelang. Der Verlust dieser Räume wird seitdem in der Historie des Hauses als besonders schmerzlich empfunden. Vor diesem Hintergrund erscheint das im Jahre 1971 erworbene und erst seit wenigen Jahren öffent- lich präsentierte Empfangszimmer nach einem Entwurf von Margarete Junge umso bemerkenswerter. Es wurde von den »Werkstätten für Deut- schen Hausrat – Theophil Müller« um 1908 in Dresden gefertigt und soll im Folgenden Gegenstand einer näheren Betrachtung sein.

44 45 46 47 Das Empfangszimmer als Raumtyp5

Das Empfangszimmer in der vorliegenden Form war ganz auf die Bedürf- Abb. 1 (vorhergehende Seiten) Abb. 2 nisse der gehobenen bürgerlichen Gesellschaftsschicht zu Beginn des Empfangszimmer »Modell 428« Buffet »Modell 428 a« nach dem Entwurf von Margarete Maße: H. 175 cm, B. 95 cm, T. 35 cm 20. Jahrhunderts abgestimmt. Angesprochen wurde eine Kundschaft, die Junge, Gesamtaufnahme dem ästhetischen Gegenentwurf der bis dahin historistisch geprägten im Grassi­museum Leipzig 2012 Wohnkultur aufgeschlossen gegenüberstand. Um den Erwerb einer solchen Einrichtung überhaupt ins Auge fassen zu können, bedurfte es zumindest einer geräumigen Etagenwohnung in einem Mietshaus, besser noch einem »Eigenhaus«, einer Villa. In der umfangreichen zeitgenössischen Ratgeberliteratur zum Bau von Häusern und zur Ausstattung von Wohnungen wird die Einrichtung von Empfangsräumen breit erörtert.6 So widmet Hermann Muthesius in seinem Handbuch »Wie baue ich mein Haus?« ein ganzes Kapitel diesem Thema. Er behandelt die Funktion eines solchen Raumes und bespricht die ver- schiedensten Aspekte, die mit der Planung und Ausstattung zusammen- hängen, beispielsweise zur Wahl des Grundrisses, der Gestaltung von Boden, Wand und Beleuchtung, zur Möblierung und anderem mehr. So stellt er etwa fest: »Auch ist es dann nötig, die übliche Sitzplatzanordnung für Nachmittagsbesuche mit bequemen und behäbigen, dabei gewählten Stühlen zu schaffen. Als solche Sitzgelegenheit ist in Deutschland der alte Sofaplatz mit davorstehendem Tisch die überkommene und auch gute Form.« Oder er gibt Empfehlungen wie: »Ein solches Besuchszimmer ist der Platz für die besten Kunstwerke des Hauses, sei es für Gemälde, Bildhauer­ werke oder Kleinkunst.« Und er schließt seine Betrachtungen mit dem Satz: »Heitere Lebensfreude wird der Grundzug der Ausstattung sein müssen, wenn der dem inneren Wesen und der Aufgabe des Zimmers entspre- chende Ausdruck getroffen werden soll.«7 Sehr anschaulich illustriert uns Paul Schultze-Naumburg den Gebrauch eines Empfangszimmers, indem er schreibt: »Muß man mit häufigen Besu- chern rechnen, so ist das Besuchszimmer, Empfangszimmer, oder wie man es sonst wohl nennt, der Salon, unentbehrlich, obgleich in unserer heutigen Wohnkunstbewegung sehr häufig die Vorstellung auftaucht, daß er über- flüssig wäre. In kleineren Häusern, wo es an den nötigen Mitteln fehlt, darf er nicht notwendigen Räumen den Platz wegnehmen. In größeren Häusern erscheint es als gewagt, ihn einfach wegzulassen. Es wird zur schweren Störung des Lebens, wenn der Hausherr stets genötigt ist, sich mitten in seiner Arbeit überfallen zu lassen, weil ein Gast sich meldet, den man nicht abweisen kann oder will. Auch das Wohnzimmer der Hausfrau kann nicht Hier ist von Lebensgewohnheiten die Rede, von denen weite Teile der immer dem Empfang eines vielleicht völlig Fremden dienen, so gut er auch Bevölkerung letztlich ausgeschlossen waren. In den auf breiter Basis ge­­ geeignet sein mag, daß diese Bewohnerin ihre Freundinnen darin zum Tee führ­ten Diskussionen zum sozialen Wohnungsbau in Folge des Ersten empfängt. Einen Fremden im Eßzimmer zu empfangen, dürfte wohl nur Weltkrieges gingen solcherlei Überlegungen schließlich unter und wurden bei räumlich sehr beschränkten Verhältnissen angängig sein.«8 kaum mehr thematisiert.

48 49 Abb. 3 Abb. 4 Tisch »Modell 428 d« Sessel »Modell 428 c« Maße: H. 70 cm, D. 90 cm Maße: H. 82 cm, B. 72 cm, T. 67 cm

Beschreibung der Möbelgruppe

Die vom Museum erworbene Zimmereinrichtung besteht im Einzelnen aus Aufstellung von Gebrauchsgegenständen oder plastischen Arbeiten ge­­ einem schmalen Buffet, einem runden Tisch, einem Sofa, einem Sessel und nutzt werden kann. Als Zierbeschlag ist lediglich ein ovales Schlüsselschild aus zwei Stühlen (Abb. 1). Gefertigt wurden die Möbel in hellem Mahagoni. auf der glatten Türfläche aufgebracht. Das bedeutet praktisch, dass der Für die konstruktiv tragenden Bauteile wie die profilierten Stützen, Stollen eingesteckte Schlüssel gleichzeitig als Handhabe zum Schwenken des Tür- und Beine sowie das Kranzprofil des Buffets und einzelne Zierelemente ist flügels zu dienen hat. Durch ein Blechschild an der Innenseite der Buffettüre massives Mahagoni verwendet worden. Die Zargen, Rahmen- und Flächen- ist der Hersteller des Zimmers benannt. Die Aufschrift lautet: »Werkstätten bauteile sind demgegenüber in Mahagonifurnier auf einem Nadelholzträger für Deutschen Hausrat / Theophil Müller / Dresden 21«. ausgeführt. Dieses Ensemble wirkt in sich ungemein geschlossen und Der Tisch (Abb. 3) besteht aus einem Gestell mit runder Zarge. Die vier besticht durch seine zurückhaltende Eleganz. Äußerst klare und einfache Beine, leicht geschwungen und dezent profiliert, weisen im Bereich der Formen, durch sorgfältig ausgearbeitete Details akzentuiert, zeichnen die Zarge seitlich angesetzte, ausgeschweifte Zierblenden auf. Die runde Tisch- einzelnen Möbelstücke aus. Wiederkehrende Gestaltungsmotive wie gleich­ platte mit einem Durchmesser von 90 Zentimetern ist auf Kreuzfuge mit artige Profilierungen an Beinen und Stützen, gerundete Flächen oder bogen- äußerem Querfries furniert. förmige Verläufe und Konturen an verschieden Werkteilen verbinden die Der Sessel (Abb. 4) hat eine geschlossene, halbrunde Rückenlehne, die Einzelmöbel zu einer Garnitur. auf gleicher Höhe gerade nach vorn ausläuft. Sitz- und Rückenfläche sind Das Buffet, in den Publikationen der Werkstätten als Salonschrank gepolstert, wobei die Seiten eine ab Mitte der Sitzfläche zum oberen Ende bezeichnet (Abb. 2), besitzt eine schmale, hochrechteckige Form mit einer des profilierten Vorderstollens hin verlaufende, segmentbogenartige Öff- Höhe von 175 Zentimetern. Die Fassade gliedert sich in einen leicht erhöh- nung beschreiben. Das Sofa (Abb. 5) weist eine ovale Grundform mit einer ten Schrankkorpus mit einer Mitteltüre, die von zwei profilierten, elegant Breite von 174 Zentimetern auf und ist auf gleiche Art wie der Sessel im ausgeformten Stollen gerahmt wird, die vom Boden bis zum an den Ecken Bereich von Sitz- und Rückenfläche ausgebildet. Lediglich an den Außen- abgerundeten Kranzgesims durchlaufen. Über dem mit gerundeten Seiten seiten schließt sich an die segmentbogenförmige Öffnung eine furnierte versehenen Schrankteil befindet sich ein offenes, flaches Fach, welches zur Fläche an, die sich bis zur Rückseite hin erstreckt.

50 51 Cordula Bischoff

Die erste Frauenklasse nter dem zunehmenden Druck der Frauenbewegung, aber auch als UReaktion auf den immens gestiegenen Bedarf an Fachkräften für die blühende Kunstgewerbe-Industrie entstanden zu Beginn des 20. Jahrhun- der Königlich-Sächsischen derts zahlreiche Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen im kunstgewerbli- chen Bereich. Die Bandbreite reichte von privaten Schulen, Damenakade- Kunstgewerbeschule mien und Zeichenateliers bis zur Öffnung staatlicher Kunst­gewerbe­schulen, die separate Damenklassen einrichteten oder – weitaus seltener – gemischt-­ geschlechtlichen Unterricht anboten.1 Die Königlich-Sächsische Kunstge- Dresden werbeschule Dresden öffnete 1907 ihre Pforten für Schülerinnen.2 Ein Jahr zuvor hatte die Schule einen stattlichen Neubau, entworfen durch William Margarete Junge als Lehrerin Lossow und Hermann Viehweger, an der Eliasstraße (heute Güntzstraße) bezogen.3 Die unter einem Dach versammelten Institutionen – Kunstge- werbeschule, Bibliothek und Kunstgewerbemuseum – boten zeitgemäße Studienmöglichkeiten wie Atelierräume mit Tageslicht und einen Hörsaal mit Diaprojektion. Die Schule war organisatorisch und architektonisch in drei Bereiche gegliedert:4 die Zeichenschule – eine Vorschule zur Kunstge- werbeschule, da eine zeichnerische Ausbildung Voraussetzung zur Auf- nahme war; die Abendschule, vorrangig für Schüler ab 14 Jahre, und die eigentliche Kunstgewerbeschule mit Vollzeit-Unterricht. Diese wiederum bestand aus der Hauptschule und der kleineren Schülerinnen-Abteilung, die mit einem separaten Zugang versehen war. Den männlichen Schülern stan- den 32 Lehrräume und Ateliers zur Verfügung, den weiblichen zehn. Zur Durchführung des Unterrichts an der Schülerinnenabteilung wurden vier Lehrkräfte neu eingestellt, darunter Margarete Junge als erste Lehrerin. Schon bei Studienantritt schrieben sich die Schülerinnen für eine spezielle Klasse ein. Der Maler Max Frey (1874–1944) leitete die Klasse für grafisches Kunstgewerbe, Erich Kleinhempel (1874–1947) war für allgemeines Kunst- gewerbe zuständig und Margarete Junge für »Entwerfen (Musterzeichnen usw.) künstlerischer weiblicher Handarbeiten und Kleidungsstücke sowie Entwerfen im architektonischen Kunstgewerbe«. Johann Türk (1872–1942) unterrichtete Aktzeichnen in allen drei Klassen.5 Nicht nur mit der Aufnahme von Schülerinnen betrat die Dresdner Kunst- gewerbeschule Neuland, sondern auch mit der Einstellung einer Frau als Dozentin. Genauer gesagt: Erst die Einrichtung von Frauenklassen ermög- lichte auch Frauen eine Lehrposition, denn die Vorstellung, dass männliche (erwachsene) Schüler durch Frauen unterrichtet werden könnten, war un­­

84 85 denk­bar. Zudem schrieb man Frauen ein besonderes Geschick in »weibli- Abb. 1 Abb. 2 Obwohl das reguläre Studienjahr stets vom 1. Oktober bis 31. Juli dauerte, chen Handarbeiten«, in allen Textiltechniken, Schmuckgestaltung, Muster- Gertrud Kleinhempel: Porträt Gruppenfoto Schülerinnen startete der Schülerinnen-Unterricht zu Beginn des Kalenderjahres, am Margarete Junge, Radierung, um 1900. der Kunst­gewerbe­schule, Klasse zeichnen und Keramik, zu. Für die Vielzahl der nun auch andernorts in die Aus dem Nachlass Gertrud Klein­ Margarete Junge, 1910 7. Januar 1907. 40 Schülerinnen schrieben sich ein. 27 stammten aus Sach- Kunstgewerbeschulen strömenden Frauen benötigte man daher Lehr- hempel, Sammlung Sattler, München untere Reihe: l. Margarete Wendt, sen, zehn aus anderen deutschen Staaten, drei waren »Reichsausländerin- r. Margarete Kühn; mittlere Reihe: 9 kräfte, die diese »weiblichen« Fächer unterrichteten. 2. v. r. Dorothea Bock von Wülfingen, nen« aus Böhmen und Russland. Im zweiten Studienjahr stieg die Zahl auf In Dresden sollte diesen Posten eigentlich Margarete Junges Freundin 3. v. r. Margarete Junge; obere Reihe: 63, dann auf 68 Schülerinnen.10 Im Schuljahr 1911/12 waren mit 72 von ins- und Kollegin Gertrud Kleinhempel (1875–1948) übernehmen.6 Ab 1902 1. v. l. Käthe Canzler. gesamt 235 Kunstgewerbeschülern bereits nahezu ein Drittel weiblichen Aus dem Nachlass Hermann Lohrisch, 11 arbeitete sie – meist zusammen mit Margarete Junge – vor allem für die Privatbesitz Geschlechts. Ein Großteil der ersten Generation entstammte Familien, »Werkstätten für deutschen Hausrat Theophil Müller«. Zudem führte sie deren Väter im bürgerlich-intellektuellen Milieu zumeist ebenfalls im gemeinsam mit ihren Brüdern Fritz (1860–1910) und Erich (1874–1947) von künstlerischen Bereich als Architekten, Künstler, Kunstgewerbler, Schrift- 1904 bis 1907 eine private Zeichenschule. Da Frauen noch nicht an staat­ steller oder Musiker tätig waren. lichen Schulen zugelassen waren, lernten hier überwiegend Schülerinnen, Zugelassen wurden Frauen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren, die einige darunter auch einige, die sich 1907 in der neuen Klasse der Kunstgewerbe- Voraussetzungen erfüllen mussten. Neben Zeugnissen über Vorbildung und schule einschrieben und so die erforderliche Zeichenausbildung vorweisen Verhalten12 waren eine Einwilligung des Vaters oder Vormundes und eine konnten.7 Gemeinsam mit ihrem Bruder Erich sollte Gertrud Kleinhempel ärztliche Bescheinigung über den Gesundheitszustand erforderlich. Die obli- nun ihre Lehrtätigkeit an der Kunstgewerbeschule fortsetzen. Während er gatorische zeichnerische Vorbildung musste vor Studienantritt durch ent- die Stelle antrat, lehnte sie ab, da sie sich kurz zuvor verpflichtet hatte, die sprechende Kurse in Privatschulen, Frauenerwerbsvereinen und Damenaka- Stelle als Leiterin der Textilklasse an der neugegründeten Handwerker- und demien erworben werden und wurde durch eingereichte Arbeiten überprüft. Kunstgewerbeschule Bielefeld anzunehmen.8 An ihrer Stelle wurde Marga- Das Studium war auf drei Jahre angelegt.13 Der Stundenplan sah vor, rete Junge eingestellt (Abb. 1). dass die Schülerinnen wöchentlich jeweils 24 Stunden bei ihrem Klassen-

86 87 leiter oder ihrer Klassenleiterin belegten. Dazu kamen 16 bis 18 Stunden Abb. 3–4 Abb. 5 Es ist nicht ganz klar, wie viele Schülerinnen sich zu Beginn in der Klasse Aktzeichnen sowie einige Stunden bei wechselnden Dozenten, die für die Grete Wendt: Florales Ornament für Grete Wendt: Studien von Margarete Junge eingeschrieben haben. Die in den Berichten der Kunst- eine Schrankfüllung, Entwurf für ein zu ornamentalen Metall­ gesamte Kunstgewerbeschule zuständig waren, etwa in Kunstgeschichte Schränkchen, Deckfarben über Bleistift, einlagearbeiten, Aquarell gewerbeschule veröffentlichten Zahlen weichen von den handschriftlich oder Anatomie. In der Praxis wurde dieses Schema offenbar nicht ganz 1908. Der Entwurf des Ornaments über Bleistift, um 1908. geführten Schülerlisten im Archiv der heutigen Hochschule für Bildende für die Schrank­füllung wurde 1908 im Archiv Wendt & Kühn, strikt befolgt, wie sich aus den erhaltenen Stundenplänen von Grete Wendt »Kunstgewerbeblatt« publiziert. Grünhainichen, Z4306 Künste ab. In den publizierten Listen werden, anders als in den handschrift- (1887–1979), der späteren Begründerin der Firma Wendt & Kühn, ablesen Archiv Wendt & Kühn, Grünhainichen, lichen, nicht die Namen der Lehrer genannt, sondern die Bezeichnungen der lässt.14 Sie war mit Eintritt Januar 1907 zunächst in der Klasse von Erich Z4313, Z2325 Abteilungen. »Graphisches Kunstgewerbe« ist klar Max Frey zuzuordnen. Kleinhempel, dessen Zeichenschule sie bis dato besucht hatte, eingeschrie- Hinter »Musterzeichnen« jedoch verbergen sich sowohl die Klasse von ben. Statt der vorgesehenen 24 Stunden Unterricht in allgemeinem Kunst- Kleinhempel als auch die von Junge. gewerbe bei ihm belegte sie jedoch nur 19 Stunden und stattdessen weitere Den Schülerinnenlisten nach besuchten mit Studienzulassung Januar acht Stunden in grafischem Kunstgewerbe bei Max Frey. Dazu kamen acht 1907 neun Frauen Junges Klasse, eine zehnte kam Ostern 1907 hinzu (statt 16) Stunden Aktzeichen bei Johann Türk sowie zwei Stunden Mytho- (Abb. 2).16 Einige von den bei Kleinhempel oder Frey Eingeschriebenen logie bei Karl Berling und zwei Stunden Stilübung Neuzeit bei Max Rade. wechselten im Verlauf ihres Studiums in die Klasse von Margarete Junge, Im Studienjahr 1907/08 genoss sie Unterricht bei allen vier Lehrern der so etwa Lotte Buschmann, Hedwig Müller, Grete Kühn oder Grete Wendt. Frauenklasse: elf Stunden bei Kleinhempel, acht Stunden bei Türk, vier Für das Studienjahr 1908/09 lassen sich 18 Schülerinnen nachweisen. Eine Stunden bei Frey und erstmals acht Stunden bei Margarete Junge. Offenbar Reihe von ihnen absolvierte nicht die komplette dreijährige Ausbildung, wechselte sie ihre Klasse, denn ab dem Schuljahr 1908/09 wird sie in den sondern blieb nur ein Jahr oder besuchte den Unterricht nicht in Vollzeit Schülerlisten als Schülerin von Margarete Junge geführt.15 Entsprechend (weniger als 16 Stunden wöchentlich). Für bereits Berufstätige, die sich belegte sie 18 Stunden bei Junge, acht Stunden bei Türk und neun Stunden fortbilden wollten, bestand auch die Möglichkeit, einige Wochen oder in »Menschen Anatomie«, wohl bei dem Arzt Dr. Ernst Nowack. Lediglich Monate als Hospitantin teilzunehmen. Gertrud Jürgens etwa hospitierte 1909/10 entsprach ihr Stundenplan dem vorgegebenen Lehrplan: 18 Stun- von Ostern 1909 bis 13. Januar 1910 erst bei Johann Türk und anschließend den Unterricht bei Junge, 16 Stunden Aktzeichnen bei Türk, zwei Stunden bei Margarete Junge. Die Textil- und Keramikdesignerin Charlotte Krause Anatomie und Kunstgeschichte II. (1879–1968), die seit 1903 ebenso wie Gertrud Kleinhempel und Margarete Junge Entwürfe für die Dresdner »Werkstätten für deutschen Hausrat Theo-

88 89 Abb. 6 Abb. 7 Margarete Junge: Kostümstudie, Olga (Olly) Sommer (Wendt, 1896–1991): Mode um 1840, Aquarell Kostümstudie, Tusche, laviert, Privatbesitz Dresden Dresden Februar 1918. Olga Sommer studierte von 1917 bis 1920 bei Margarete Junge. Archiv Wendt & Kühn, Grünhainichen, Z4457

90 91 Jürgen Vietig

14. April 1874 geboren in Dresden Margarete Junge um 1892 Zeichenschule des Dresdner Frauenerwerbsvereins 1896–1898 Studium an der Damen-Akademie des Münchener Künstlerinnen-Vereins Ein biografischer Überblick (mit Gertrud Kleinhempel) 1898 Rückkehr nach Dresden 1900 Zweiter Preis eines Preisausschreibens der Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst 1901 Teilnahme an der zweiten Internationalen Kunstausstellung in Dresden und an der Ausstellung »Die Kunst im Leben des Kindes« in ab 1901 Entwerferin für die Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst ­(teilweise gemeinsam mit Gertrud Kleinhempel) 1902 Teilnahme an der Internationalen Kunstgewerbeausstellung in Turin (für die Werkstätten für deutschen Hausrat Theophil Müller) 1904 Teilnahme an der Weltausstellung in St. Louis (USA) 1905 Webarbeiten für die Firma Gottlob Wunderlich in Waldkirchen-­ Zschopenthal (ab 1922: De-We-Tex / Deutsche Werkstätten Textil) 1906 Teilnahme an der Dritten Deutschen Kunstgewerbeausstellung in Dresden 1907 Anstellung als Lehrerin an der Königlichen Kunstgewerbeschule, zu den ersten Schülerinnen gehören Grete Wendt und Grete Kühn Gertrud Kleinhempel verlässt Dresden und folgt einem Ruf nach Bielefeld an die Handwerkerschule mit kunstgewerblichen Tagesklassen, später: Handwerker- und Kunstgewerbeschule Gründung des Deutschen Werkbundes 1908 Margarete Junge wird als eine der ersten Frauen Mitglied im Deutschen Werkbund Beteiligung an der Großen Kunstausstellung in Dresden 1914/15–1918 Fritz Tröger (1894–1978), Schüler von Margarete Junge 1915–1918 Elfriede Lohse-Wächtler (1899–1940), Schülerin von Margarete Junge 1915 Gründung der Firma Wendt & Kühn durch ihre Schülerinnen Grete Wendt und Grete Kühn nach 1915 Ernennung Margarete Junges zur ersten Professorin an der Kunst­ gewerbe­schule 1921 Grete (Lohrisch-)Kühn verlässt die Firma Wendt & Kühn nach ihrer Heirat. 1926 Fritz Tröger malt das bekannteste Porträt Margarete Junges in Öl auf Sperrholz.

132 133 1934 Margarete Junge wird »in Folge von Sparmaßnahmen« aus ihrem Professoren­­amt entlassen. Umzug nach Hellerau, Am Grünen Zipfel 6; dort ist sie als »Rosen­ malerin« bekannt. Weiterhin enge Kontakte mit den ehemaligen Schülerinnen Grete Wendt und Grete (Lohrisch-)Kühn und deren Familien sowie zu Marianne Oppelt und Fritz Tröger 1964 Margarete Junge übergibt ein Konvolut mit mehr als hundert ihrer ­Zeichnungen an ihren Patensohn, den Bildhauer und Restaurator Hermann Lohrisch. 19. April 1966 Margarete Junge stirbt in Dresden.

Nachwirkung

1981 August bis September, Ausstellung in der Galerie »Kunst der Zeit«, Dresden: »Modebilder und Blumenzeichnungen von Margarete Junge« 2002 Hermann Lohrisch überlässt das Konvolut mit den Zeichnungen ­Margarete Junges der Dresdner Hochschule für Bildende Künste, nachdem sie zu seinen 80. Geburtstag im Hause Welsch gezeigt worden waren. 2003 9. Mai bis 1. Juni, Ausstellung der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Brühlsche Terrasse: »Margarete Junge. Zeichnungen« 2012 Im GRASSI Museum für angewandte Kunst in Leipzig wird das von Margarete Junge entworfene und von den Werkstätten für deutschen Hausrat Theophil Müller produzierte Empfangszimmer im Rahmen der ständigen Ausstellung »Jugendstil bis Gegenwart« gezeigt. 2015 In der Ausstellung »100 Jahre Wendt & Kühn« im Dresdner Museum für Sächsische Volkskunst wird die wichtige Rolle Margarete Junges als Lehrerin von Grete Wendt und Grete Kühn gewürdigt.

Margarete Junge: Beim Pferderennen, 35 × 20 cm, Tusche, Aquarell Kustodie der HfBK Dresden, Inv.-Nr. B 1210 (Schenkung Hermann Lohrisch)

134 135 Margarete Junge (1874 –1966) gehörte bisher zu den zu Unrecht ver­ gessenen Künstlerinnen der Zeit zwischen Jugendstil und . Die Designerin entwarf insbesondere Möbel, aber auch Lampen, Schmuck und Kleidung. Mit ihren Arbeiten für die Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst in Hellerau hat sie nachhaltig Spuren in der Geschichte des Kunsthandwerks hinterlassen. 1907 war Margarete Junge die erste Frau, die als Lehrerin an die Königlich Sächsische Kunstgewerbeschule (später als Professorin) berufen wurde, zudem eines der ersten weib­ lichen Mitglieder des Deutschen Werkbundes. Zu ihren Schülern und Schülerinnen gehörten Fritz Tröger, Elfriede Lohse-Wächtler und die späteren Unternehmerinnen Grete Wendt und Grete Kühn. 1934 wur­ de Margarete Junge vorzeitig von den Nazis aus ihrem Amt entlassen. Der Band beleuchtet die verschiedenen Facetten des künstlerischen Schaffens und der Persönlichkeit dieser ungewöhnlichen Frau. Künstlerin und Lehrerin im Aufbruch in die Moderne im Aufbruch Künstlerin und Lehrerin

sandstein Junge Margarete