QUARTALSBERICHT

Projektland: Pakistan Quartal/Jahr: IV/2012

SCHLAGZEILEN

1. Parlamentswahlen und der „Lange Marsch“ auf Islamabad 2. Strafverfolgung von Spitzenpolitikern und Militärs 3. Der Fall Malala Yusufzai 4. Sicherheitslage in Pakistan

Parlamentswahlen und der „Lange Marsch“ auf Islamabad

Seit Monaten bestimmen die im Frühjahr 2013 planmäßig anstehenden Neuwahlen zum Nationalparlament den innenpolitischen Diskurs Pakistans. Obwohl die regierende (PPP) unter der Führung von Staatspräsident Ali Asif Zardari nicht müde wird, die historische Bedeutung seiner Amtszeit zu betonen, versäumt es seine Regierung doch, die notwendigen Vorbereitungen und Abstimmungen für fristgerechte Parlamentswahlen zu treffen, und einen nahtlosen Übergang zur nächsten Regierung zu ermöglichen.

Am 16. März 2013 endet die fünfjährige Legislaturperiode der 13. Nationalversammlung Pakistans. Damit wird zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine demokratisch gewählte Zivilregierung bis zum Ende ihrer regulären Amtsperiode bestehen. Bis zum Ende des Berichtszeitraums steht allerdings kein Wahltermin fest. Die Regierung verspricht wiederholt, man werde rechtzeitig einen Wahltermin anberaumen, spätestens für Mai 2013. Am 17. März soll eine Übergangsregierung die Amtsgeschäfte übernehmen, die gemäß der Verfassung von der bis dahin amtierenden Regierung in Absprache mit der Führung der Opposition im Parlament, der Pakistan Muslim League unter der Führung von (PML-N), zu ernennen ist.

Die Opposition zeigt sich besorgt, die Wahlen könnten unter dem Vorwand der instabilen Sicherheitslage — insb. in der Millionenmetropole Karatschi und der südwestlichen Provinz Belutschistan (s.u.) — verschoben werden. Mehrere Parteien drängen die Wahlkommission, einen Wahltermin vor Einsetzung einer Übergangsregierung bekannt zu geben. Genährt wird die Sorge um eine Wahlverzögerung auch durch die Entscheidung des Supreme Court of Pakistan, die Wahlkommission möge in Karatschi eine Neufassung der Wahlbezirke entlang ethnischer Grenzen durchführen. Beobachter befürchten, dass nun auch in anderen

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Landesteilen die Forderung nach neuen Wahlbezirksgrenzen laut werden könnte. Der Zuschnitt der Bezirke ist im Vielvölkerstaat Pakistan oft wahlentscheidend und war in der Vergangenheit bei Wahlgängen regelmäßig erbitterter Streitgegenstand ethno-politischer Partei- und Interessenvertreter.

Das Gerangel um die anstehenden Parlamentswahlen erreicht zum Jahreswechsel 2012/13 einen vorläufigen Höhepunkt. Ende Dezember betritt Tahir ul-Qadri die politische Arena Pakistans, ein moderater Rechtsgelehrter und Führer der weltweit vertretenen islamischen Organisation Minhaj ul-Quran International (MQI). Qadri ruft die Bevölkerung Pakistans für den 14. Januar 2013 zu einem „Langen Marsch der Millionen“ von Lahore nach Islamabad auf. Selbsterklärtes Ziel ist es, korrupte und feudale Strukturen zu bekämpfen und dadurch einen „demokratischen Wandel“ herbeizuführen. Qadri fordert sowohl die Einsetzung einer unabhängigen Wahlkommission, als auch die Ernennung einer neutralen Übergangsregierung unter Einbeziehung von Judikative und Militär.

Dies entspricht jedoch nicht der Verfassung. Insb. letztere Forderung stimmt viele Beobachter misstrauisch. Manche befürchten, das plötzliche Auftreten Qadris sei ein Versuch der Armee, ihren Einfluss auf die Regierung zu verstärken und den Druck zu erhöhen. Die Befürchtungen sind nicht ohne Grund: Tahir ul-Qadri spielte bereits nach 1999 eine prominente Rolle bei der Machtfestigung General/Präsident Pervez Musharrafs.

Das Muttahida Quami Movement (MQM) unter Führung von Altaf Hussain, sowie MQM- Bundesminister Dr. Farooq Sattar, sagen Qadri zunächst ihre Unterstützung bei dem Marsch zu, ziehen diese jedoch später zurück. Andere Parteien — darunter PPP, PML-N und JUI-F — unterstellen Qadri eine absichtliche Verzögerung des Wahltermins. In der Tat kann eine Wahlrechtsreform nicht ohne Verfassungsänderung vorgenommen werden, die vor Ende der Legislaturperiode nicht zu bewerkstelligen ist.1

Strafverfolgung von Spitzenpolitikern und Militärs

Die Diskussion um Korruptionsfälle prominenter Politiker setzt sich auch im 4. Quartal weiter fort. Kaum wird Premierminister Yusuf Raza Gilani im Juni seines Amtes enthoben, werden Korruptionsvorwürfe gegen seinen Nachfolger Raja Pervez Ashraf laut. Der frühere Minister für Energie und Wasser wird im sogenannten „Rental Power Case“ zusammen mit 15 weiteren Personen beschuldigt, für den vorzeitigen Abzug mobiler Energieanlagen eines türkischen Unternehmens Schmiergeldzahlungen erhalten zu haben. Der entstandene Schaden für den Staat wird auf etwa 220 Mio. Euro geschätzt. Das mit Korruptionsermittlung betraute National Accountability Bureau (NAB) weigert sich bis Jahresende jedoch, auf Anordnung des Obersten Gerichts Ermittlungen aufzunehmen. Auch der Anfang Januar 2013 seitens des Gerichts ausgestellte Haftbefehl gegen Premier Ashraf wird seitens NAB nicht vollstreckt.

Der in den vergangenen Jahren durch die hartnäckige Verfolgung von ebenso hartnäckigen Korruptionsvorwürfen aufgefallene Oberste Richter am Supreme Court of Pakistan, Justice Iftikar Chaudhry, scheint inzwischen auch ranghohe Angehörige des pakistanischen Militärs und Geheimdienstes nicht mehr zu schonen.

1 Zu Tahir ul-Qadri und dem „Langen Marsch“ s. Politischer Sonderbericht Pakistan, 20. Januar 2013)

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Im Oktober sorgt das sogenannte Mehrangate landesweit für Aufsehen. Den Generälen und Aslam Beg — seinerzeit Chef des pakistanischen Geheimdienstes Directorate Inter-Services Intelligence (ISI) bzw. Oberbefehlshaber der pakistanischen Armee — wird zur Last gelegt, im Jahr 1990 Gelder der Mehran Bank dazu verwendet zu haben, Oppositionspolitiker zu bestechen, um dadurch die Wiederwahl Benazir Bhuttos als Premierministerin zu verhindern. Erstmals in der facettenreichen Justizgeschichte Pakistans wird die de facto Immunität von Armee- und Militärvertretern aufgehoben und Generälen in aller Öffentlichkeit der Prozess gemacht.

Die heutige militärische Führung der pakistanischen Streitkräfte weist in ihren Stellungnahmen darauf hin, dass die beiden Generäle als Individuen vor Gericht stehen und nicht die jeweiligen Institutionen angeklagt seien. Damit verhindert sie eine dringend notwendige, allgemeine öffentliche Diskussion zur Rolle des Militärs und Geheimdienstes in der pakistanischen Politik. Ungeachtet des Ausgangs des Verfahrens büßt das pakistanische Militär durch Mehrangate in der Bevölkerung weiter an Ansehen ein. Ebenso nimmt Oppositionsführer Nawaz Sharif Schaden. Er gilt als einer der Empfänger illegaler Schmiergeldzahlungen seitens des ISI im Jahre 1990.

Der Fall Malala Yusufzai

Am 9. Oktober verüben Mitglieder der radikalislamischen Tehrik-e Taliban Pakistan (TTP) ein Attentat auf die fünfzehnjährige Kinderrechtsaktivistin Malala Yusufzai. Malala wird durch einen Kopfschuss schwer verletzt und muss für eine Notoperation nach Großbritannien ausgeflogen werden. Sie überlebt den Anschlag, woraufhin die TTP weitere Mordversuche auf sie ankündigen.

In einem anonymen Internetblog hatte die Tochter eines Menschenrechtsaktivisten seit 2009 auf die Situation von Frauen und Mädchen im Swat-Tal aufmerksam gemacht. Obwohl die pakistanische Armee bereits vor Jahren die Kontrolle über das Tal zurückerlangt hat, wird das öffentliche Leben noch immer von den Taliban bestimmt. Mädchen werden durch Einschüchterung seitens der TTP am Schulbesuch gehindert; Mädchenschulen werden gezielt angegriffen oder bleiben aus Angst von Anschlägen geschlossen. Mit zunehmender Bekanntheit ihres Blogs gerät Malala schließlich — wie auch ihr Vater — auf die Todesliste der TTP. Das Attentat, ausgeführt am helllichten Tag unweit eines Kontrollpunktes der Armee, hat Signalwirkung: die TTP kann jederzeit zuschlagen und geht mit drastischen Mitteln gegen ihre Gegner vor, auch gegen Kinder.

Der Fall Malala ruft sowohl in Pakistan als auch in westlichen Ländern starke Reaktionen hervor. Das Attentat wird nahezu einstimmig verurteilt, allen voran von Funktionären der PPP und MQM. Selbst rechtsgerichtete Geistliche schließen sich in diesem Punkt der öffentlichen Meinung an. Doch der tief sitzende Anti-Amerikanismus der pakistanischen Bevölkerung erkennt bald eine Verschwörung durch ausländische Kräfte, die mit dem inszenierten Anschlag auf Malala eine Operation der pakistanischen Armee in der Grenzregion zu Afghanistan provozieren wollen. Diese Verschwörungstheorien werden vor allem durch die islamisch- orthodoxen Parteien unter der Führung von Fazl ul-Rehman (JUI) und Qazi Hussain Ahmed (JI) befeuert.

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Die Kontroverse verhallt nach und nach, doch die erwartete Einigkeit gegen die Taliban bleibt aus. Politik, Regierung und Armee verurteilen die Tat zwar lautstark. Eine klare Positionierung gegen radikalislamisches Gedankengut wird aber aus Angst vor der religiös-konservativen Mehrheitsmeinung einer schnell zu mobilisierenden Gefolgschaft von JUI und JI vermieden.

Sicherheitslage in Pakistan

Immer wieder kommt es im Berichtszeitraum zu teils schweren Anschlägen und Attentaten, die in einer Gewaltwelle zum Jahresende kulminieren. Auch im 4. Quartal stehen viele Attentate im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Die meisten Angriffe ereignen sich in Karatschi, doch auch in der Provinz Belutschistan sterben zahlreiche Menschen. Ende November werden landesweit die Sicherheitsmaßnahmen anlässlich des Aschura-Festes in bislang ungekanntem Ausmaß erhöht. Dennoch kommt es während dem zehntägigen Trauerritual der Schiiten zu zahlreichen Anschlägen in ganz Pakistan, bei denen Dutzende Menschen ums Leben kommen.

Gegen Ende des Jahres häufen sich die Angriffe militanter Kräfte in der Provinz Khyber- Paschtunistan (KPK). Am 15. Dezember starten Kämpfer der TTP einen Angriff auf den internationalen Flughafen in Peschawar. Bei dem stundenlangen Gefecht, bei dem auch Raketen eingesetzt werden, sterben neben den fünf Angreifern auch vier Zivilisten, über 40 Personen werden verletzt. Knapp zwei Wochen später reißt ein Selbstmordattentäter bei einer Kundgebung der Regierungspartei Awami National Party (ANP) auf dem zentralen Basar Peschawars neun Menschen mit in den Tod. Unter den Opfern befindet sich auch Provinzminister Bashir Ahmad Bilour, Bruder des umstrittenen Eisenbahnministers Ghulam Ahmad Bilour.

In einer landesweiten Welle der Gewalt sterben in der vorletzten Woche des Jahres 2012 mindestens 75 Menschen durch Anschläge. Beobachter verbinden die drastische Zunahme der Gewalt mit den bevorstehenden Parlamentswahlen. Militante Kräfte würden versuchen, die politische Lage zu destabilisieren und den Wahltermin zu torpedieren.

Dr. Martin Axmann Der Autor ist Auslandsmitarbeiter der Hanns-Seidel-Stiftung in Islamabad, Pakistan Bericht erstellt unter Mitarbeit von Andreas Dürr, Programmkoordinator

IMPRESSUM Erstellt: 17.01.2013 Herausgeber: Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Copyright 2013 Lazarettstr. 33, 80636 München Vorsitzender: Prof. Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, Staatsminister a.D., Senator E.h. Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter Witterauf Verantwortlich: Christian J. Hegemer, Leiter des Instituts für Internationale Zusammenarbeit Tel. +49 (0)89 1258-0 | Fax -359 E-Mail: [email protected] | www.hss.de

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