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Freitag, 16.01.2015 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Eleonore Büning

„Unerhörte Nuancenvielfalt“ Johann Sebastian Bach English Suites 1, 3 & 5 Piotr Anderszewski (Klavier) Warner 082564 6219391

„Vom Erwerb abzuraten“ Jean Sibelius Complete Symphonies City of Birmingham Symphony Orchestra Leitung: Simon Rattle Warner Classics 082564 6198788

„Satte Klang- und Farbenfülle“ Der Fliegende Holländer Anja Kampe (Sopran) Christopher Ventris (Tenor) u. a. Chöre des NDR, WDR und BR Royal Concert Gebouw Orkest Leitung: Andris Nelsons RCO 14004

„Gelungenes Album“ Lieder Andrea Chudak (Sopran) Andreas Schulz (Klavier) Antes Edition BM 319294

„Ersteinspielung“ La Fauvette Passerinette A Messiaen premiere with birds, landscapes & homages Peter Hill (Klavier) Delphian DCD 34141

Signet Treffpunkt Klassik – Neue CDs

Heute mit Eleonore Büning, ich grüße Sie!

Plötzlich war da keine Schlange auf dem Postamt. Der Verkehr floss leicht mitten in der Rushhour. Die Zeit stand still. Raus aus dem Job, rein in die Familie. Ausschlafen. Ausmisten. Zurückblicken. Und dann: Pläne schmieden.

Fast alle Menschen gönnen sich so eine Auszeit zwischen den Jahren, nur wenige dienstleistende Sektoren der Arbeitswelt sind ausgeschlossen. Feuerwehrleute zum Beispiel, Ärzte. Und natürlich Musiker. Sie müssen nämlich die Konzerte rund um den „Ersten Ersten“ liefern, den Soundtrack für das große Aufräumen. Bach vor allem. Bach, empfahl einst ein gestandener DDR-Bachforscher auf dem Leipziger Bach-Kongress anno 1985, sei ideal dazu geeignet, wenn Hausfrauen ihre Schubladen aufräumen wollen; Bach schaffe Ordnung, Bach „gebe der verwirrten Seele Halt“. Das ist zwar polemisch gemeint – aber ich glaube, dieses alte Rezept hat sich doch bewährt. Deshalb fange ich gleich mit Bach an, mit den sogenannten „Englischen Suiten“ und dem Pianisten Piotr Anderszewski.

Auf das Aufräumen folgt der Rückblick: Simon Rattle wird demnächst 60, da passt es, dass seine Sibelius-Edition mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra noch einmal wiederaufgelegt worden ist: eingespielt auf Lebens-Halbzeit, mit 29 Jahren.

Außerdem habe ich Ihnen eine brandneue Gesamtaufnahme von Richard Wagners „Fliegendem Holländer“ mitgebracht, mit dem Royal Concergebouw Orkest unter Andris Nelsons und einer Spitzenbesetzung.

Anschließend, als Antiwagner-Pille, gibt es Lieder von Giacomo Meyerbeer zu hören mit der jungen Sopranistin Andrea Chudak.

Und zum guten Schluss kehren wir zurück ans Klavier, für eine „Weltersteinspielung“: Der britische Pianist Peter Hill hat ein bislang unbekanntes Stück von Olivier Messiaen gefunden: „La Fauvette Passerinette“.

Soweit das Programm für die nächsten 1½ Stunden. Und hier kommt Piotr Anderszewskis Bach:

Johann Sebastian Bach: Englische Suite Nr. 1 A-Dur BWV 806, 2‘20 Prélude

14 Monate hatte er pausiert. Im November meldete sich der Pianist Piotr Anderszewski zurück, mit seinem neuen Bach-Album. Er wolle sich, sagte er, auch mal wieder einlassen auf die „Konzerttretmühle“. Zurzeit ist Anderszewski also wieder live zu erleben und auf Bach-Tour. Soeben spielte er das Eröffnungsprélude der Englischen Suite Nr.1 A-Dur BWV 806.

Anderszewski ist jetzt 45 Jahre alt. Ihm eilt der Ruf voraus, er sei ein Enfant Terrible, empfindsam, exzentrisch, unberechenbar, und entsprechend schwer zu vermarkten. Aber so ein Ruf ist natürlich auch schon wieder eine Marketingmaßnahme, und eigentlich sogar ein Gütesiegel. Exzentrik, die macht doch einen Künstler erst so richtig interessant! Und wer möchte schon, statt dem empfindsamen, lieber einen abgebrühten Pianisten hören? Einen Zuverlässigen, einen Routinier?

Johann Sebastian Bach: Englische Suite Nr. 5 e-Moll BWV 810, 2‘45 Gigue

Also: Von Routine kann man bei Piotr Anderszewski gewiss nicht sprechen! Andererseits: Ausgerechnet Bachs „Englische Suiten“, aus denen er soeben die finale Gigue der fünften Suite, e-Moll, BWV 810 spielte, sind für ihn alles andere als Neuland. Sie gehören schon lange zu seinem bevorzugten Repertoire. Die sechste, die d-Moll-Suite, hatte er bereits 1996 als Debutant beim Polnischen Rundfunk eingespielt, eine Aufnahme, die, neu aufgelegt von seiner Plattenfirma Virgin 2004, bis heute im Katalog steht.

Warum also jetzt ein neues Bach-Suiten-Album? Und was ist daran neu? Zumal es ja bereits dutzendweis gute Aufnahmen von Bachs „Englischen Suiten“ gibt, auch gute, ja sogar exzentrische, wie die von Glenn Gould zum Beispiel. Nun, diese Suiten haben es in sich. Alle Pianisten lieben sie, weil man so viel daraus machen kann. Sie heißen zwar „Englische“ Suiten, sind aber stilistisch und formal den französischen Cembalisten abgeschaut, aus deren Tanzsatzfolgen der junge Bach sich seine durchkonstruierte Konzeptkunst erschuf: als seine erste zyklische Klavierkomposition. Die Kontrapunktik der Ecksätze (der Préludes und Gigues) steht im Widerspruch zur Motorik der Couranten und zur harmonischen Raffinesse der Sarabanden – und fasst sie zugleich ein. Alte Tänze, getrimmt auf die avancierte Höhe der Tonsetzkunst – und dann in einer Nuss-Schale serviert. Das bedeute, einen „Ozean zu einem Swimmingpool reduzieren“, sagt Anderszewski bewundernd. Und es bedeutet auch, dass Artikulation und Ausdruck diese Widersprüche transparent machen müssen, weshalb diese Suiten auch auf dem Steinway gut aufgehoben sind. Wenn einer sie so spielt, wie Piotr Anderszewski es tut, dann werden daraus beinahe schon Charakterstücke im romantischen Sinne. Pedal, Rubato, Legato, Stakkato, Hell-Dunkel-Kontraste – all das sorgt für eine unerhörte Nuancenvielfalt: Alle pianistischen Mittel kommen zum Einsatz. Hier, zum Beispiel, Courante und Sarabande aus der dritten Suite g-Moll BWV 808.

Johann Sebastian Bach: Englische Suite Nr. 3 g-Moll BWV 808, 10‘30 Courante & Sarabande & Les agréments de la même Sarabande

Piotr Anderszewski spielte, aus der dritten Englischen Suite BWV 808, die Courante & Sarabande sowie „Les agréments de la même Sarabande“. Vielleicht haben Sie bemerkt, dass er die Sarabande wirklich zweimal gespielt hat. Einmal schlicht, ein zweites Mal mit exakt allen von Bach vorgeschlagenen Verzierungen. Andere Pianisten, etwa Murray Perahia, pflegen, beides in einem Aufwasch zu erledigen, indem sie jeweils bei der Wiederholung verzieren – also Bachs „Agréments“ als einen unverbindlichen Vorschlag für mögliche Verzierungen auffassen, nicht als Notentext, der gespielt werden muss. Anderszewski dagegen interpretiert die „Agréments“ als Werk eignen Rechts und macht sich so auf diese schöne Moll-Sarabande nicht nur einen doppelten, sondern gleich einen vierfachen eigenen Reim. So machen es nicht alle! Anderszewskis Bach-Album enthält die drei Ungeraden aus den sechs Englischen Suiten, also Nr. 1, 3 und 5. Es ist herausgekommen beim Label Warner Classics, und ich empfehle es Ihnen sehr.

Bleibt vielleicht noch die Frage zu klären, warum diese französisch inspirierten Bach-Suiten ausgerechnet „Englische Suiten“ heißen. Die einzig gesicherte Spur ist die, dass Bachs jüngster Sohn, Johann Christian Bach, auf sein Exemplar notierte: „Fait pour les Anglois“. Aber wieso? Das bleibt nach wie vor rätselhaft. „Wie für die Briten gemacht“, damit könnte ja zum Beispiel ebenso gut Sibelius gemeint sein. Schließlich, Sir Simon Rattle selbst hat es so gesagt: „Working with Sibelius is like ‚coming home

Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43, 3‘25

Soweit eine Kostprobe aus dem ersten Satz der zweiten Symphonie von Jean Sibelius, in einer historischen Aufnahme. Simon Rattle dirigierte. Und, wie leicht zu hören war, nicht seine Berliner Philharmoniker, vielmehr das City of Birmingham Symphony Orchestra. Das war auch mal sein Orchester gewesen – damals, als diese Aufnahme entstand: im Juni 1984, vor rund 30 Jahren, in der Butterworth Hall des Kulturzentrums der Warwick-University in Coventry. Rattles Gesamtaufnahme aller Sibelius-Symphonien für EMI Electrola wurde damals hochgelobt und seither öfters wieder recycelt, gerade kürzlich ist diese Gesamtaufnahme noch einmal wieder neuaufgelegt worden, in einer 4-CD-Box. Wenn Sie sich nun nach diesem kurzen ersten Eindruck fragen, wieso denn bloß? Dann sind Sie mit dieser Frage nicht allein. Auch die Sibelius-Liebhaber fragen sich das, vielleicht sogar fragen sich das auch die Rattle-Fans, denn man tut keinem Dirigenten einen Gefallen, wenn man ihn an seine holzschnittartigen, glanzlosen Gesellenstücke erinnert.

Sibelius ist ja heute kein Komponist mehr, den man erst entdecken müsste. Es liegen etliche Gesamtaufnahmen vor, die deutlich besser, nämlich trennschärfer und klangsinnlicher klingen, als diese frühe Rattle-Arbeit. Zum Beispiel gibt es da die wunderbar transparent leuchtende, blühende Gesamtaufnahme, die Sir Colin Davis mit dem London Symphony Orchestra stemmte, im Barbican Centre um 2000 herum. Dann das nicht ganz so klangsatte, aber dynamisch mitreißende finnische Lahti Symphony Orchestra mit Osmo Vänskä, bei BIS Records.

Sir Simon Rattle selbst hat 2010 gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern einen Zyklus sämtlicher Sibelius-Symphonien einstudiert und aufgeführt, der deutlich besser gelungen ist, wenn ich mich recht erinnere. Aber es gibt davon keine Plattenaufnahme. Auch da muss man sich fragen: wieso? Warum wird stattdessen immer noch diese suboptimale Gesamtaufnahme aus den Anfangsjahren des City of Birmingham Orchestra weiter angeboten wie saures Bier?

Es muss außermusikalische Gründe dafür geben. Bevor ich auf die Suche danach gehe, will ich Ihnen aber das eben Gesagte kurz plastisch vorführen. Wir bleiben bei der zweiten Symphonie, beim Anfang des ersten Satzes, den Sie eben bereits gehört und vielleicht noch im Ohr haben. Sie hören jetzt eine Stelle daraus noch einmal, nämlich das prägnante Unisono-Thema der Violinen (das entfernt an Beethovens Neunte erinnert). Zuerst mit Osmo Vänskä und dem Lahti-Orchester, danach mit Colin Davis und dem LSO und drittens noch einmal Rattle mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra.

Hier zunächst: Vänskä:

Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43, 0‘35 1. Satz: Allegretto (Ausschnitt) Lahti Symphony Orchestra, Osmo Vänskä BIS 1933/35

Soweit das Lahti-Orchester mit Vänskä. Und hier die Stelle noch einmal, mit Sir Colin Davis:

Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43, 0‘40 1. Satz: Allegretto (Ausschnitt) London Symphony Orchestra, Sir Colin Davis LSO 0191

Soweit Colin Davis mit dem London Symphony Orchestra. Und hier Simon Rattle mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dieselbe Stelle:

Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43, 0‘35 1. Satz: Allegretto (Ausschnitt) City of Birmingham Symphony Orchestra, Simon Rattle

Das war das City of Birmingham Orchestra mit Simon Rattle, ziemlich hölzern durchbuchstabiert. Sie mögen nun sagen: Bitte lasst mildernde Umstände walten, schließlich war das ja Mitte der Achtziger, das ist lange her, da war die Sibelius-Erfahrung halt noch nicht so weit. Nun – ich habe noch ein Beispiel. Diese Aufnahme hier ist noch älter, sie stammt von 1980:

Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43, 1‘40 1. Satz: Allegretto (Ausschnitt) Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan EMI 5121132

Da würde man doch gerne länger zuhören. Aber diese Sendung heißt: „Neue CDs“ – und nicht „Alte CDs“. Diese Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Leitung von Herbert von Karajan, stammt aus dem Jahr 1980. Sie entstand also fünf Jahre vor der Sibelius-Gesamtaufnahme, die Rattle mit seinem damaligen Orchester in Birmingham veranstaltete, und es lagen damals (wie heute) hörbar Welten dazwischen.

Alle diese vorgeführten älteren Sibelius-Lesarten sind, wie gesagt, noch auf dem Markt zu haben. Warum Warner Classics, die Nachfolge-Firma der EMI Electrola, zum jetzigen Zeitpunkt, Anfang Januar 2015, diese holprige alte Aufnahme Rattles aus den Achtzigern abermals aus dem Schubkasten geholt hat, dafür gibt es nur einen einzigen Grund: Man erhofft sich ein Geschäft. Rattle wird nämlich demnächst mit den Berliner Philharmonikern im Barbican Center in London gastieren, genauer gesagt, vom 10. bis 14. Februar. Sie werden dort alle sieben Symphonien von Jean Sibelius zur Aufführung bringen und zuvor in Berlin, zum Warmspielen, ebenfalls einmal den kompletten Zyklus aufführen.

Wie schade, dass gleich neben dem Ticketschalter dann diese mittelmäßige, aber garantiert britische Aufnahme feilgeboten wird. Und wie lustig, dass sowohl im Booklet wie auch in britischen Zeitungen nachzulesen ist, dass es ursächlich Sir Simon Rattle gewesen sei, der den Deutschen im Allgemeinen und den Berliner Philharmonikern im Besonderen endlich das richtige Sibelius-Verständnis beigebracht habe. „Rattle rehabilitates Sibelius in Germany!“ – ruft begeistert der Kritiker Tom Service im ‚Guardian‘. Von Karajan hat Kollege Tom offenbar noch nie etwas gehört. Eventuell liegt das an der splendid isolation der britischen Musiknation. Aber: Dort gilt wenigstens der Prophet noch etwas im eigenen Land.

Es gibt übrigens einen letzten Track in Rattles alter Sibelius-Box, der aus der Reihe tanzt. Aufgenommen in den Abbey Road Studios, mit dem Philharmonia Orchestra, hatte Rattle im Oktober 1981 die symphonische Dichtung „Nächtliche Fahrt und Sonnenaufgang“ op. 55 von Sibelius produziert. Es handelt sich ganz klar um das bessere Orchester. Die Bläser sind fülliger, bunter, flexibler, im Blech- wie auch im Holz, die Streicher haben mehr dynamische Bandbreite.

Jean Sibelius: Night Ride and Sunrise op. 55 (Ausschnitt) 5’45 Philharmonia Orchestra, Simon Rattle

„Der Sonnenaufgang“ aus op. 55 von Jean Sibelius. Es spielte das Philharmonia Orchestra unter Leitung von Simon Rattle. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1981. Trotz dieses Happy Ends mit Gastorchester muss ich klar sagen: Vom Erwerb dieser Sibelius-Box mit Wiederveröffentlichungen des jungen City of Birmingham Symphony Orchestra mit dem ebenso jungen Simon Rattle, veröffentlicht vom Label Warner Classics, sei hiermit abgeraten.

Sir Simon Rattle feiert dieser Tage seinen 60. Geburtstag. Er hat von sich aus bei den Berliner Philharmonikern gekündigt. Kündigungsfrist: noch drei Jahre. Aber im Frühjahr 2015 wollen die Berliner Philharmoniker schon seinen Nachfolger benennen, und so rühren alle zurzeit eifrig im Kaffeesatz herum, um herauszubekommen, wer das wohl sein könnte. Einer seiner potentiellen Nachfolger, Andris Nelsons, 36, Lette, ist nicht nur zurzeit Chefdirigent des City of Birmingham Symphony Orchestra und seit kurzem Musikdirektor in Boston. Er ist auch, neben Christian Thielemann und Kirill Petrenko, einer der heißen Kandidaten für Berlin. Und alle drei sind zurzeit die musikalischen Ehrenretter des Mythos Bayreuth. Seit 2010 dirigiert Andris Nelsons dort allsommers glanzvoll den „“. Und kürzlich kam diese Live-Aufnahme hier aus Amsterdam heraus, mit dem „Fliegenden Holländer“:

Richard Wagner: Der Fliegende Holländer, 10‘50 Ouvertüre

Die Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“ von Richard Wagner, gespielt vom Royal Concert Gebouw Orkest Amsterdam unter der Leitung von Andris Nelsons. Und das war erst der Anfang. Der Trend geht nämlich schon lange zum Zweitopernhaus.

Das Amsterdamer Traditionsorchester ist ja nicht das einzige seiner Art, das auf den Geschmack gekommen ist, komplette Opern konzertant darzubieten. Auch das Publikum liebt so etwas, auch daraus wird allmählich ein Trend: Oper pur, Oper ohne Regietheater. Und weil das Concertgebouw Orkest (wie auch die Berliner Philharmoniker und das London Symphony Orchestra und viele weitere große Klangkörper) längst ein hauseignes Label gegründet hat, liegt diese Amsterdamer „Holländer“-Aufführung vom Mai vorletzten Jahres nun also auf CD vor.

Eine Spitzenbesetzung wurde dafür zusammengekauft. Anja Kampe als seligstrahlende Senta, Jane Henschel als wunderbar charakteristische Mary, Christopher Ventris als tapferer Erik, und auch der bewährte Terje Stensvold als reifer Holländer macht, von leichtem Wobble abgesehen, immer noch eine herausragende vokale Statur. Gastdirigent Nelsons hat das Gefühl für Wagners orchestrale Dramaturgie im kleinen Finger. Das Concertgebouw Orkest ist an satter Klang- und Farbenfülle kaum zu überbieten, jede einzelne Instrumentengruppe ein Akteur für sich.

Das Beste aber sind bei diesem konzertanten „Holländer“ die Chöre. Gleich drei deutsche Rundfunkchöre teilen sich die Arbeit: der Chor des Bayerischen Rundfunks, der NDR Chor und der WDR Rundfunkchor Köln. Wenn da die Seemanns-Chöre ineinander stürzen und der Orchestersturm aufstöhnt, wundert man sich, dass ein solch kraftvoller Zusammenstoß der Lebenden mit den Toten mit einer so brillanten Textverständlichkeit einhergehen kann.

Richard Wagner: Der Fliegende Holländer, 10‘25 „Mein! Seht doch an!“

Aus dem „Fliegenden Holländer“ von Richard Wagner hörten Sie die Gespenster-Chorszene aus dem dritten Akt. Es sangen Mitglieder der Rundfunk-Chöre von NDR, BR und WDR, es spielte das Concert Gebouw Orkest Amsterdam, die Leitung hatte Andris Nelsons. Diese Gesamtaufnahme des „Fliegenden Holländer“ ist herausgekommen beim Label RCO-Live, im Vertrieb von New Arts International.

Vom „Holländer“ gibt es freilich schon ein gutes Dutzend Einspielungen – nicht alle so rund gelungen und so empfehlenswert, wie diese, aber immerhin: Wir haben die Qual der Auswahl. Ganz anders steht es um die Opern von Wagners Gönner, Förderer und Widersacher: 2014 war ein Meyerbeer-Gedenkjahr, und es hat gar nichts genützt. Insgesamt waren nur zwei Neueinspielungen auf dem deutschsprachigen Plattenmarkt zu registrieren.

Das kann kein Versehen sein, das ist auch kein Zufall. Das ist Ausdruck eines kollektiven Versagens. Eine ähnlich katastrophale Meyerbeer-Bilanz bieten nämlich auch die Spielpläne der deutschen Opernhäuser. Dieser Komponist, einst der erfolgreichste, meistgespielte Opernkomponist Europas, ist so gründlich von der Geschichte untergepflügt worden, dass eine Wiederauferstehung mittlerweile fast unmöglich erscheint.

Eine der beiden Neueinspielungen im Meyerbeer-Gedenkjahr kam schon im Frühling 2014 heraus. Es handelte sich um die Ersteinspielung der Oper „Vasco de Gama“, Urfassung von Meyerbeers „L’Africaine“, in vom dortigen Generalmusikdirektor Frank Beermann gestemmt. Die zweite Neueinspielung landete dann am Ende des Jahres als Überraschung auf den Gabentisch: ein bezauberndes Album mit Liedern und Romanzen Meyerbeers.

Zusammengestellt haben das Programm zwei junge Musiker, die gerade auf dem Sprung in die Karriere sind: die Sopranistin Andrea Chudak und der Pianist Andreas Schulz. Beide studierten an der Hochschule Hanns Eisler in Berlin. Sie hat eine hohe Stimme mit interessantem Glockentimbre, so ausdrucksstark, dass man die paar wenigen Intonationstrübungen, die ihr passieren, sofort wieder vergisst. Er ist ein erstaunlich profilierter Klavierbegleiter, der eigene Pointen setzt, was der Verschiedenartigkeit der Meyerbeerschen Lieder zu Gute kommt. Kurzum: Dieses Lied-Duo ist ein vielversprechendes Dream-Team. Hier sind die beiden, mit zwei Liedern. „Scirocco“ – ein Lied vom Südwind, so kurz und banal, dass es wie eine Parodie auf Wagners Seemanns- Song wirkt: „Armes Kind, südlich weht der Wind“. Danach folgt „La Fille de l’Air“ (Die Tochter der Lüfte):

Giacomo Meyerbeer: Scirrocco & La Fille de l’Air 4’55

Man hört den beiden einfach gerne zu – diese Namen muss man sich merken. Andrea Chudak, begleitet am Klavier von Andreas Schulz, sang zwei Lieder von Giacomo Meyerbeer: „Scirocco“ und „La Fille de l’Air“.

Insgesamt haben Chudak und Schulz 25 sehr verschiedene Lieder Giacomo Meyerbeers für dieses Album zusammengesucht, Poetisches und Ironisches, Lyrisches, Salon- und Opernhaftes, auf Französisch, Italienisch oder auf Deutsch zu singen. Die Vielfalt der Formen ist erstaunlich, auch die Bandbreite der Sujets und Texte: Meyerbeer vertonte Rückert, Heine, Goethe und Wilhelm Müller ebenso wie Henri Blaze oder Pierre Durand. Er war ein Europäer, im schönsten Sinne des Wortes. Die tanzbeinbeschwingte Melodienseligkeit aber, die fast all diesen Liedern oder Chansons zu eigen ist, hat etwas Mitreißendes, sie macht „Effekt“. Und erinnert so an die Kernkompetenz dieses Komponisten, der im 19. Jahrhundert zu den meistgespielten Opernkomponisten gehört hatte. In den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg kam Meyerbeers Musik dann aus der Mode. Inwieweit die Verleumdungskampagne Richard Wagners gegen den jüdischen Kollegen bei diesem Rezeptionsknick eine Rolle spielte, das ist schwerlich zu beweisen. Anders steht es mit den Nationalsozialisten, die alle jüdischen Komponisten aus der Musikgeschichte aussortiert haben – und zwar so nachhaltig, dass seither noch jeder Versuch, wieder neues Interesse an einer Meyerbeer-Oper zu wecken, zu einer Eintagsfliege wurde. Angesichts dieser Lage ist so ein gelungenes Album mit unbekannten Meyerbeer- Liedern wie das von Chudak und Schulz geradezu eine Pioniertat. Auch zwei Ersteinspielungen sind dabei. Eine heißt: „Reue“:

Giacomo Meyerbeer: Reue 1’15

Meyerbeer-Lieder mit Andrea Chudak und Andreas Schulz. Sie hörten den moralischen Erbauungs-Song „Reue“. Diese schöne und empfehlenswerte CD ist als Teil der Antes- Edition beim Label Bella Musica erschienen, im Vertrieb von Naxos.

Zum guten Schluss gibt es noch eine Ersteinspielung anzuzeigen. Es geht um ein bislang unbekanntes Klavierstück von Olivier Messiaen. Der britische Pianist Peter Hill hat diese Musik vor zwei Jahren zufällig entdeckt, als er Skizzen Messiaens durchsah. Sie trägt den Titel „La Fauvette Passerinette“ – was zu Deutsch heißt: „Die Weißbartgrasmücke“ –, ist vollständig erhalten und datiert und dauert etwa elf Minuten. Wie fast alle späten Werke Messiaens basiert das Stück also auf transkribiertem Vogelgesang – aber, anders als im „Catalogue d’Oiseaux“, enthält es keine malerischen Hinweise oder harmonischen Strukturen, die den Vogel lokalisieren könnten. Vielmehr ist der Vogelgesang als ein Abstraktum die einzige Grundlage der Komposition.

Bevor wir uns nun dieser „Weissbart-Grasmücke“, die übrigens im südlichen Mittelmeerraum zu Hause ist, zuwenden, erst noch rasch ein Blick auf den Rest des Programms. Alle anderen Musiken des Albums gruppieren sich nämlich wie Magnetspäne um diesen Vogel herum. Peter Hill hat seine Entdeckung eingebettet in eine Folge von Klavierstücken, die als Vorläufer oder aber als Konsequenz dazu zu hören sind. Das beginnt mit Maurice Ravel, das endet mit Tristan Murail, Henri Dutilleux und Toru Takemitsu, und natürlich ist immer wieder Olivier Messiaen selbst auf dieser abenteuerlichen Hörreise mit unterwegs. Und auch ein deutscher Komponist rechnet dazu: Karlheinz Stockhausen

Karlheinz Stockhausen: Klavierstück VIII (1954) 1‘55

Peter Hill spielte das Klavierstück VIII von Karlheinz Stockhausen – eine punktuelle Musik, eigentlich als Ergänzung zum Klavierstück VII zu spielen. Beides entstand unter dem Eindruck von Messiaens „Quatre Etudes“. Hill, der selbst fünf Jahre lang sehr eng mit Oliver Messiaen zusammengearbeitet hatte, als er alle Messiaenschen Klavierstücke in den 80er Jahren einspielte, tastet sich dergestalt auf seinem neuen Album über Umwege, Wegmarken und Wegefährten an die Präsentation seiner eigentlichen Entdeckung heran. Er interpretiert sein Fundstück „La Fauvette Passerinette“ als jenes bisher unbekannte missing link, das den „Catalogue d’Oiseaux“ mit der Oper des heiligen „Francois“ verbindet. Hören wir hinein in diesen abstrakten Gesang der „Weißbartgrasmücke“:

Olivier Messiaen: La Fauvette Passerinette, 1961 (Ausschnitt) 3‘00

So endet das Klavierstück „La Fauvette Passerinette“ – die „Weissbartgrasmücke“, von Olivier Messiaen. Es spielte Peter Hill.

Dieses Album ist beim Label Delphian erschienen, im Vertrieb von Harmonia Mundi. „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ geht damit für heute zu Ende. Am Mikrophon verabschiedet sich Eleonore Büning.

Danke fürs Zuhören und – auf Wiederhören! Angaben zu den CDs finden Sie im Internet unter www.swr2.de. Dort steht die Sendung auch noch eine Woche lang zum Nachhören. Hier in SWR2 geht es jetzt weiter mit dem Kulturservice, danach folgt „Aktuell“, mit den Nachrichten.