spielte sich im Jahr 2005 eine schreckliche Szene ab, als ein desertierter israelischer Friedensarbeit im Soldat, der empört über den bevorstehenden Rückzug Israels aus dem Gazastreifen war, Nahen Osten vier Araber in einem Bus erschoss. Im Jahr 2000 gehörte Shefar‘am zu den Hauptstütz- Die Harduf Waldorfschule in punkten der Intifada. Militante Demonstra- tionen und Vergeltungsaktionen der Polizei In Israel und Palästina wachsen die Kinder führten zum Tod von insgesamt 13 Juden und heute in einer Atmosphäre der sektiererischen Arabern in der Region. Viele der Schüler in Gewalt, des Religionskampfes und des poli- dieser arabischen Stadt kommen aus Familien, tischen und ökonomischen Umbruchs heran. die durch die Geschichte der Gewalt und der Verzweiflung ist angesichts der ungewissen Unzufriedenheit tief beeinträchtigt wurden. Zukunft unter Jugendlichen im Nahen Osten Auf der Ebene der höheren Schulen (High verbreitet. Junge Israelis werden in eine mo- Schools) findet die größte kulturelle und so- derne Armee eingezogen, junge Palästinenser ziale Trennung zwischen Juden und Arabern als Selbstmordattentäter rekrutiert. Inmitten statt. Auch wenn 20% der israelischen Bevöl- des Chaos hat sich aber auch eine leise Frie- kerung aus Arabern besteht, gilt die Pflicht densbewegung entwickelt, in der die Waldorf- zum Dienst in der Armee nur für Juden, die pädagogik eine bedeutende Rolle spielt. dafür zusätzliche Begünstigungen in Sachen Harduf ist ein jüdisch-israelisches Erziehung und Karriere erhalten. Diese Situ- auf anthroposophischer Grundlage im Nor- ation entfremdet die beiden Gruppen weiter den Israels. Viele der umliegenden Dörfer und voneinander und erschwert die Möglichkeit

Städte einschließlich der Stadt Shefar’am sind einer friedlichen Koexistenz zusätzlich. Schulbewegung der Aus überwiegend arabisch. Harduf (hebräisch für Während des Konfliktes zwischen Israel und Oleander) hat seit Jahren nach Möglichkeiten der Hizbollah im Sommer 2006 begründeten gesucht, zu seinen Nachbarn, die in einer völ- ehemalige Waldorfeltern in Nordamerika die lig anderen Welt leben, Kontakte zu knüpfen. Salaam Shalom Erziehungsstiftung als hei- Der Kibbutz besitzt eine große Waldorfschule lende Antwort auf die Spaltungstendenzen vom Kindergarten bis zur zwölften Klasse mit zwischen Juden und Arabern. Salaam ist das sechshundert jüdischen Schülern. Vor einigen arabische Wort für Friede, Schalom das hebrä- Jahren haben Lehrer der Schule mit Masen ische. Mit Unterstützung der Salaam Shalom Ayoub zu arbeiten begonnen, dem Direktor der Schulen in Shefar’am, mit dem Ziel, ei- nen arabischen Waldorfkindergarten in der Stadt zu errichten. Dieses Projekt schloss eine Ausbildung für Waldorfkindergarten-Erzie- her in Harduf für junge arabische Lehrer ein. Im Jahr 2005 wurde der Waldorfkindergar- ten El Zeitun (arabisch für Olivenbaum) in Shefar’am begründet und schnell so populär, dass ein zweiter arabischer Kindergarten ent- standen ist, zu dem bereits eine erste Schul- klasse existiert. Die geographische Lage dieser ersten Wal- dorfeinrichtungen ist bedeutsam. In Shefar’am

Erziehungskunst 2/2008 167 Stiftung begann die Harduf Waldorfschule in licher Gruppen und bietet eine Umgebung, Zusammenarbeit mit der arabischen höheren die einen Austausch zwischen jüdischen und Schule in Shefar’am einen neuen Zug, das arabischen Jugendlichen ermöglicht. Während High School Peace Leadership-Programm. In der Vorbereitung für die Aufführungen wird diesem neuartigen Vier-Jahresprogramm ler- der Austausch zwischen den beiden Gruppen nen Schüler der Harduf Waldorf High School zu einer Metapher für die Art von Begegnung, fließend arabisch sprechen und schließen sich die zwischen jüdischen und arabischen Grup- mit ihren israelisch-arabischen Partnerschü- pen stattfinden müsste, um eine friedliche, lern zusammen, um Fähigkeiten der Konflikt- kreative Gesellschaft zu schaffen. Theaterspiel lösung zu erüben, Gemeinschaftsaktivitäten bietet die Möglichkeit für tiefgreifendes sozi- durchzuführen, beide Seiten der israelischen ales Lernen. Geschichte zu studieren und zusammen The- Letzten März reisten die Schüler aus Harduf ater zu spielen. Das israelische Militär ge- und Shefar’am gemeinsam nach England. Dort währt den Waldorfschülern, die an diesem haben sie während einiger Wochen in eng- Programm teilnehmen, ein Jahr Befreiung lischer Sprache das Stück 1001 Nacht einstu- vom Militärdienst, so dass sich die Schüler diert und aufgeführt. Viele kulturelle Heraus- in ihrem 13. Schuljahr auf ihre gemeinschaft- forderungen waren von den beiden Gruppen lichen Unternehmungen mit ihren arabischen während der Einstudierung zu bewältigen. Aber Partnerschülern konzentrieren können. nach ihrer harten Arbeit kehrten sie als eine zu- Wenn jüdische und arabische Schüler zusam- sammengewachsene Gemeinschaft nach Israel menkommen, sondern sie sich oft innerhalb zurück. Und als Gemeinschaft führten sie 1001 ihrer eigenen Gruppen ab. Theaterunterricht Nacht an fünf Abenden in Shefar’am auf. Die ist eine der besten Möglichkeiten, sie zur Lebendigkeit, die Freude, die Begabung und Zusammenarbeit zu bewegen. Emotionen der Zauber, den die jüdischen und arabischen können zum Ausdruck gebracht und in eine Schüler mit sich brachten, zusammen mit der künstlerische Form gegossen werden. Thea- Magie der Geschichten, der Kostüme und der ter ermutigt zu freien und spontanen Begeg- Szenerie lagen jenseits aller ethnischen Beson- nungen zwischen Mitgliedern unterschied- derheiten. Die Aufführungen waren nicht nur ein künstlerisches, sondern auch ein soziales, Jüdisch-palästinensisches Theaterprojekt 1001 Nacht ein unterschiedliche Religionen verbindendes und ein spirituelles Ereignis. Über tausend Zuschauer wurden angelockt, viele von ihnen lachten und weinten zugleich. Die Menschen fühlten, dass etwas vollkommen Neues und Hoffnung Erweckendes in der Region ange- kommen war. Schulung in Konfliktlösung vertieft und- er gänzt die sozialen Fähigkeiten, die sich die Schüler während der Theaterarbeit aneignen. Gewaltfreie Kommunikation und der Weg der Beratung sind zwei wirkungsvolle Modelle der Konfliktlösung, durch die erlernt werden kann, wie man voller Mitgefühl zuhört und klar antwortet. Die beiden Methoden lehren eine soziale Beweglichkeit, die kreative Pro- blemlösungen und den Zusammenhalt in der

168 Erziehungskunst 2/2008 Gemeinschaft fördert. Fähigkeiten, die in der sich die Teilnehmerzahl bereits auf 28 Lehrer israelischen Gesellschaft dringend benötigt erhöht, und es gibt eine große Warteliste. werden. Ungeachtet der historischen Feindseligkeiten Die Schüler, die an diesen Programmen teil- zwischen Israelis und Palästinensern sind nehmen, wissen, dass die Zukunft in ihren diese hingebungsvollen Lehrer, während sie Händen liegt, und sie sind entschlossen, ei- selbst unter harten ökonomischen, sozialen nen neuen Weg zum Frieden in der Region und politischen Bedingungen leben, gewillt, zu finden. Die Hoffnung besteht, dass mögli- palästinensischen Kindern die heilenden Ele- cherweise auch palästinensische Jugendliche mente der Waldorferziehung zukommen zu von der besetzten Westbank an diesem Aus- lassen, von denen viele durch die andauernde bildungsprogramm teilnehmen und vielleicht Gewalt traumatisiert worden sind. Um an der für ein Schuljahr in Harduf leben können. Das Ausbildung in Israel teilnehmen zu können, High School Peace Leadership-Programm müssen diese palästinensischen Lehrer vor ist derart populär geworden, dass in dessen der Dämmerung aufstehen, um zahlreiche mi- zweitem Jahr über 70 Schüler daran teilneh- litärische Kontrollstellen mit Sondergenehmi- men und dass, während dieser Bericht ver- gungen zu passieren. In einer Gegend, die von fasst wird, zwei der arabischen Schüler aus elektrischen Sicherungszäunen durchschnit- Shefar’am jetzt die Harduf Waldorfschule ten wird, in der militärische Operationen und besuchen und gegenwärtig als Angehörige gezielte Mordanschläge gewohnheitsmäßig der jüdischen Gruppe aus Harduf mit der durchgeführt werden, ereignet sich ein wahres arabischen Gruppe von der Shafar’am High Wunder unter Israelis und Palästinensern. School arbeiten. Eine Brücke des Friedens wird errichtet, die Nicht nur innerhalb des Staates Israel wird auf der Waldorfpädagogik gründet. von der Waldorfgemeinschaft Friedensarbeit Für die Zukunft ist geplant, den von paläs- geleistet, sondern, und das ist für die Wal- tinensischen Lehrern auf der Westbank ge- dorfgemeinschaft wichtig zu wissen, auch führten Kindergärten Materialien wie Farben, außerhalb des Staates Israel hat eine wert- Pinsel, Farbstifte, Papier, Stoffe und Spiel- volle und noch zerbrechliche Entwicklung zeug zur Verfügung zu stellen. Außerdem soll begonnen. Eine bemerkenswert gesegnete ein Mentor für Waldorfpädagogik nach Jenin und historisch bedeutsame Beziehung zwi- kommen, um die palästinensischen Lehrer di- schen Waldorflehrern innerhalb des Staates rekt in den Klassenzimmern zu betreuen. Er- Israel und palästinensischen Lehrern von der fahrene Waldorflehrer, die glauben, eine gute besetzten Westbank hat sich entwickelt, die Beziehung mit palästinensischen Lehrern auf- auf palästinensischem Territorium selbst lo- bauen zu können und diesen helfen möchten, kalisiert ist. Führende Persönlichkeiten aus mögen Shepha Vainstein unter der Adresse dem auf der Westbank liegenden palästinen- [email protected] kontaktieren. sischen Jenin, das ein großes Flüchtlingslager Die palästinensische Waldorflehrerausbil- einschließt und aus dem in der Vergangenheit dung und das High School Peace Leadership- einige Selbstmordattentäter hervorgegangen Programm sind vollständig auf Spenden an- sind, begegneten der Waldorfpädagogik und gewiesen. Keine Regierungsstelle trägt auch haben die Salaam Shalom Erziehungsstiftung nur einen Teil der Finanzierung. Die Salaam gebeten, Kindergartenerzieher aus Jenin in Shalom Erziehungsstiftung erhält Spenden Waldorfmethoden auszubilden. Im Dezember aus Nordamerika und Europa, um diese Pro- 2006 hat ein palästinensisches Ausbildungs- gramme zu unterstützen. Mitten in der ver- programm für Waldorflehrer mit zwölf Teil- breiteten Krisenstimmung und der Verzweif- nehmern begonnen und im Oktober 2007 hat lung des Nahen Ostens arbeiten diese mutigen

Erziehungskunst 2/2008 169 Waldorflehrer, um den Kindern die Zukunft mit ACACIA und ipf tätig. Seit 2002 arbei- der Hoffnung und der Erneuerung zu bringen. tet sie in einem weiterführenden Projekt, das Sie benötigen jede denkbare Unterstützung. gemeinsam mit Caritas Schweiz und Caritas Kontakt in Deutschland: Freunde der Erzie- Luxemburg realisiert wird. Ausgehend vom hungskunst, E-Mail: freunde-waldorf@t- Kindergarten Oasis in Prishtina ist das Pro- online.de, Stichwort: Salaam Shalom Edu- jekt so gewachsen, dass zusammen mit den cational Foundation. Weitere Informationen Gemeinden Drenas Prizren und Gjakova in- unter www.ssefoundation.org zwischen 28 Vorschulklassen mit über 700 Abraham Entin, Gilad Goldshmidt Kindern (die Schulräume werden wie überall (Übersetzung Lorenzo Ravagli) in Kosovo in Schichten belegt) die Vorschule besuchen. Die Kinder werden in staatlichen Vorschul- klassen nach den Prinzipien der Waldorfpä- dagogik betreut. Die Erzieherinnen (vor Ort als Lehrerinnen anerkannt) werden in einem Was ist Waldorf? vierjährigen berufsbegleitenden Trainingspro- gramm ausgebildet (jeden Samstag und drei Eine Antwort aus dem Kosovo Wochen im Sommer, neben der Vollzeitarbeit mit den Kindern und den üblichen Herausfor- derungen des Alltags im Kosovo). Sie werden Einen Tag nach Abschluss des internationa- auch weiterhin in der Praxis durch Kollegen, len Treffens der Pädagogischen Sektion am die die Ausbildung absolviert haben, beglei- in Dornach flog ich in den Ko- tet. sovo bzw. nach Skopje in Mazedonien. Ein Hauptthema beim Sektionstreffen waren die Beatrice Rutishauser leistet Pionierarbeit Formulierungen von Kriterien für die Aner- im Kosovo kennung von Waldorfschulen und Kindergär- ten. Es sollte in einem kurzen Arbeitspapier charakterisiert werden, was eine Waldorf- schule ausmacht, und zwar in einer Sprache, die einerseits Freiraum für innovative Ini- tiative lässt und andererseits die wesentlichen Prinzipien so formuliert, dass sie unmissver- ständlich sind. Mein Besuch im Kosovo fand im Zusammen- hang mit dem Vorschulprojekt der Caritas Schweiz statt. Im Auftrag der Initiative für Praxisforschung ipf als Partner von Caritas Schweiz und der Universität Plymouth sollte ich die Vorschulen besuchen und die Ausbil- dungen begutachten sowie die Diplomarbei- ten der Studierenden bewerten. Kurz nach dem Krieg im Jahr 2000 wurde Beatrice Rutishauser, damals noch Klassenlehrerin an der Schule Basel, dort im Aufbau einer Vorschulpädagogik gemeinsam

170 Erziehungskunst 2/2008 Aber was heißt denn, nach den Prinzipien der Roma Kinder Waldorfpädagogik? Denn im Kosovo entste- hen keine Waldorfschulen im herkömmlichen Sinn. Bisher haben die Kleinen in der ersten, meist aus über 40 Kinder bestehenden »Vor- schul-Klasse«, im formalen Frontalunterricht das Lesen und Schreiben lernen müssen. Jetzt wird in der Schule gespielt. Es wird in einem schön gestalteten und mit Tüchern ge- schmückten Raum gesungen, es werden Verse gesprochen. Spielzeug und Möbel, hergestellt durch eine Schreinerei in Drenas, die mit ei- ner Frauen-NGO zusammenarbeitet (Women for Women), sind schlicht gehalten und aus natürlichem Material. Die meisten wurden aus Waldorfspielsachen (ursprünglich aus der Basler Schule) weiter entwickelt. Auf dem Boden liegt ein Teppich, zwar nicht unbedingt Minderheiten gemeinsam mit albanischen nach dem üblichen »Waldorfgeschmack«, Kindern unterrichtet. Die Finanzierung wird aber immerhin, ein Teppich in der Schule! im ersten Jahr zu 75% durch die Caritas und Es gibt verschieden große Metallbehälter mit zu einem Viertel durch die Gemeinde ermög- von Wasser abgerundeten Natursteinen da- licht. Die Verantwortung für die Ausbildung rin, handgenähte Puppen – alles, was man in und die Begleitung der Klassen wird nach und einem Waldorfkindergarten vorfinden kann. nach an ausgebildete Kosovarinnen überge- Dies wäre aber nicht der Rede wert, wenn ben werden. Der vor kurzem neu begonnene man nicht den gesamten Kontext mitberück- Ausbildungsgang (über 20 Lehrerinnen) wird sichtigen würde: Diese Vorklassen sind ent- schon eigenständig von drei der ersten Lehre- weder in staatlichen Schulen oder anderen rinnen geleitet. provisorischen Räumlichkeiten (Container) untergebracht. Denn fast alle Schulen wurden Wie ist das Programm entstanden? während des Krieges völlig zerstört oder be- schädigt. Eine unabhängige Evaluation der ersten Pio- Was sofort auffällt in den staatlichen Schu- niereinrichtungen wurde durch die Universität len, ist die Präsenz der Bilder der Wider- Plymouth unter Einbezug der ortsansässigen standskämpfer. Besonders Adem Jashari, Behörden und des nationalen Erziehungsmi- mit Kalaschnikow und Tarnuniform, ist all- nisteriums bzw. der kosovarischen Universität gegenwärtig. Die Erinnerung an den Krieg Prishtina im Jahre 2006 durchgeführt. Sie be- auch. Denn: Im Dernicatal hat er angefangen stätigte dabei einstimmig die Qualität sowohl – unzählige Dörfer wurden zerstört. Viele des Unterrichtes als auch des mit der Pädago- Friedhöfe zeugen von den Massakern, die gischen Sektion am Goetheanum und ipf ent- vor acht Jahren stattgefunden haben. Auf je- wickelten Ausbildungskonzeptes. Aufgrund dem schneebedeckten Hügel sieht man flat- dieser positiven Einschätzung und auch des ternd die Fetzen der roten Fahne mit dem enormen Bedarfs im Kosovo haben Caritas doppelköpfigen Adler über den eingezäunten Schweiz und Caritas Luxemburg gemeinsam Friedhöfen. Der Krieg ist nie weit weg. – In entschieden, mit einer neuen vierjährigen Pro- Prizren und Gjakova werden auch Kinder von jektphase die Unterstützung auf mindestens

Erziehungskunst 2/2008 171 zwanzig weitere Kindergärten in den Gemein- Menschen praktizieren eine Art Recycling den Drenas, Prizren und Gjakova auszudeh- auf diesem Müllberg mit bloßen Händen. Die nen. Alle neuen Kindergärten werden dabei Roma hatten immer einen schwierigen Stand mit Spielmaterial ausgerüstet, das so weit wie in der Gesellschaft. Umso wichtiger ist es, möglich im Kosovo hergestellt wird. Gleich- dass im Kindergarten in Prizren (eine Stadt, zeitig soll die berufsbegleitende Ausbildung in der früher eine gewisse Multikulturalität weiteren Lehrerinnen bzw. Kindergärtne- gelebt wurde) Roma-Frauen zusammen mit rinnen angeboten werden. In Zusammenarbeit Albanern arbeiten und die Kinder auch aus mit dem Erziehungsministerium Kosovo, der verschiedenen ethischen Gruppen kommen. Universität Prishtina und der Universität Ply- In einem europäischen Land, in dem jetzt mouth baut ipf derzeit eine Ausbildung bzw. 90% der Bevölkerung muslimisch sind, ist einen Studiengang auf »Bachelor-Niveau« dieser Beitrag zur interkulturellen Verständi- aus. Anfang des Jahres 2008 werden weitere gung nicht unbedeutend. Gespräche mit Behörden und Universitätsver- tretern bzw. dem nationalen Akkreditierungs- Was bedeutet Waldorfpädagogik rat im Kosovo und Verantwortlichen von NA- im Kosovo? RIC/ENIC (National Recognition Informati- on Centres / European Network Information Sie würdigt die örtliche Kultur in ihrer Viel- Centres) folgen, welche für die akademischen falt und erzieht dennoch zu universellen Wer- und beruflichen Akkreditierungen und Aner- ten und der Selbstverständlichkeit der Men- kennungen in Europa zuständig sind. Diese schenrechte aus Einsicht und durch bewuss- Akkreditierungsarbeit betreut insbesondere tes Handeln. Oder wie Peter Gutenhöfer vom Urs Hauenstein von ipf. Kasseler Lehrerseminar es kürzlich auf dem Die Ausbildung, die Themen wie Menschen- Sektionstreffen in Dornach formulierte: Es kunde, Entwicklung des Kindes, Sinneslehre, geht darum, den Beitrag jeder Kultur in ihren Salutogenese, Friedenspädagogik, pädago- höchsten Qualitäten als wertvolle Ergänzung gische Praxis und die pädagogische Beglei- zur Menschheit zu erkennen – in Krisenkon- tung der Kinder beinhaltet, findet in Modulen texten ist das besonders wichtig. Wenn Men- statt, und die Lernergebnisse werden evalu- schen fast alles verlieren, brauchen sie neben iert. Jeder Student absolviert ein Kompetenz- der Chance zum Leben Selbstrespekt. Portfolio, in dem Lebens- und Praxiserfahrung Diese 28 Vorklassen stehen auf keiner Lis- in der Form von Kompetenzen dargestellt wer- te von Waldorfeinrichtungen. Dennoch: aus den kann. Als Abschluss muss jeder ein selbst- meiner Sicht erfüllt das Projekt unter den ständiges Forschungsprojekt durchführen. gegebenen Bedingungen eine Reihe der zen- tralsten Aufgaben der anthroposophischen In der Roma-Kolonie Pädagogik. Der Kulturauftrag der Waldorf- pädagogik ist es, die Welt zu verändern. Dazu Ein besonderes Erlebnis war es, den Kinder- braucht sie kompetente Partner (man könnte garten in der Roma-Kolonie außerhalb von kaum einen besseren Partner finden als - Ca Gjakova zu besuchen. Der Kindergarten wird ritas; weitere Projekte sind mit UNICEF ge- im Sozialzentrum mitten in der slumartigen plant). Dazu muss man weltoffen, kreativ und Kolonie betrieben. Diese Siedlung von etwa selbstständig sein. Für mich ist das Projekt hundert Blechhütten liegt am Rand einer rie- wegweisend – wie Waldorfpädagogik die sigen Müllhalde von unvorstellbarem Um- Welt wirklich verändern kann. fang und Zustand (wir sahen Krankenhaus- Martyn Rawson reste, verendete Tiere, Industriemüll). Diese

172 Erziehungskunst 2/2008 aus etwas zu gestalten, kam es bei den Teil- nehmern allmählich zu einem prozessualen Maraming Denken und Empfinden, das an die Quelle der Kreativität heranführen konnte, so dass alle salamat po überrascht und befriedigt aus dieser Erfah- rung hervorgingen. Nach dem Lunch fand die Die Entdeckung der Kreativität Einführung in die Waldorfpädagogik statt. auf den Philippinen Für alle war es die erste Begegnung mit Ton. Ein Schlüsselerlebnis war es, dass man an den Mit dem Schweizer Bildhauer Reto Schatz Fingerspitzen zehn »Augen« hat, mit denen folgte ich einer Einladung nach Dumaguete man eine bessere Kugel herstellen kann als auf Negros Oriental auf den Philippinen, um mit zwei offenen Augen. Nicht leicht wurde einen Workshop über »die Entwicklung der es, einen Kubus zu formen; danach wurde Kreativität durch das Plastizieren mit Ton« eine Kugel in eine Hohlkugel umgeformt und zu geben, sowie eine »Einführung in die Wal- ein Kügelchen hineingelegt, damit es nach dorfpädagogik«. dem Trocknen klappert. Während des Pla- 170 Studenten kamen, von denen nur 15 be- stizierens konnten immer wieder viele päda- ruflich etwas mit Pädagogik zu tun haben. Die gogische Aspekte angesprochen werden, die größere Anzahl hatte nie etwas über Waldorf- wichtig sind für Lehrer. pädagogik gehört und wusste nicht, was sie Auf ihren Fakultäts-T-Shirts war aufgedruckt: erwartete; einige hatten von ihren Schulleitern »A Teacher is a Human Ingineer«. Wir bespra- erst am Tage vorher eine »order« erhalten, dar- chen, ob ein Lehrer nach einem Konzept die an teilzunehmen. Während der folgenden fünf Menschen »designed« oder ob es nicht doch Tage entwickelte sich dann eine regelrechte ein künstlerisches Moment ist, die Individua- Begeisterung für die neue Pädagogik. Von 9 lität der Kinder zu erkennen und zu fördern, bis 17 Uhr wurde mit Ton plastiziert. Daran so dass es sich in der Pädagogik um Erzie- gewöhnt, immer nur aus einem Konzept her- hungskunst handeln muss. Ich sprach an- schließend über die zwölf Sinne und erweiterte so- mit den Horizont der Studenten und ihrer Do- zenten über die bekannten fünf Sinne hinaus. Es wurde an uns die Einladung zu län- geren intensiven Workshops und Vorträgen ausge- sprochen. Eine

Plastizieren – philippinisch

Erziehungskunst 2/2008 173 andere Einladung kam auch von der Silliman University, an der ich wenige Stunden vorher zum selben Thema gesprochen hatte. Wind in den Das Interesse an den Grundlagen der Wal- dorfpädagogik scheint geweckt zu sein. Die Segeln Einbeziehung der Künste in Lehrerbildung und Unterricht ist zur Frage geworden. Anre- Waldorf-Initiative auf La Gomera gungen werden erwartet. Die Freunde, die uns nach Dumaguete ein- Als im Oktober 2003 die ersten Herbststürme geladen hatten, Don und Arlene Ramas-Uy- über die Insel La Gomera zogen, begann ich, pitching, wirken im Kulturleben der Stadt in eine Krabbelgruppe mit Elementen der Wal- wichtigen Ämtern entscheidend mit. Arlene dorfpädagogik zu organisieren. Meine Toch- hat das Blockseminar für Waldorfpädagogik ter war damals gerade eineinhalb Jahre alt und in Iloilo besucht und an der Kolisko-Kon- als ehemalige Waldorfschülerin hatte ich das ferenz in Manila teilgenommen, wo sie die Bedürfnis, auf dieser Insel Gleichgesinnte zu ersten Impulse bekam. Sie wollen sich dafür finden. Waldorf war hier ein Fremdwort, also einsetzen, dass die Steiner-Education auch in bot ich musikalische Früherziehung an. Dumaguete Fuß fasst. Da kam mir eines Tages zu Ohren, dass ein Sie haben bei ihrem Berghaus, von dem aus sehr vermögender Inselbewohner eine öf- man die Küste unten liegen sieht und der fentliche Versammlung einberufen hatte mit Blick bis nach Cebu und Mindanao reicht, der Absicht, eine Waldorfschule zu gründen. zwei große Retreathäuser mit Unterkunft und Tatsächlich unterbreitete er den Leuten, die Seminarräumen. Hier kann sogar in der Hitze Finanzierung einer Schule sei durch ihn ge- des Sommers gearbeitet werden, weil immer sichert, es fehlten ihm nur Leute, die das um- ein leichter Wind geht. setzen könnten. Dumaguete ist eine Universitätsstadt mit ca. In der folgenden Nacht lag ich wach. Ich 150.000 Einwohnern. Sie macht einen me- musste mich verhört haben. Aber es gab eine diterranen Eindruck durch den Boulevard an nächste Versammlung. Dreißig Familien wa- der Küste. Viele weißhäutige »Langnasen« ren vertreten, es entstand ein bis zur Sinnlo- verbringen ihren Lebensabend in dieser Stadt sigkeit abgleitendes Ideenwirrwarr, und wir mit den vielen lachenden Gesichtern der Ein- alle warteten auf eine Person, die das Steuer heimischen. in die Hand nehmen würde. Aber nichts der- Die farbenfrohen Sonnenaufgänge, die Wolken gleichen geschah. Ich wurde unruhig. Die Ge- über dem Meer, die Fischer in ihren elegant legenheit durfte nicht verstreichen. Sollte ich geformten Auslegerbooten sind ein unver- handeln? Vor dem Hintergrund der unglaub- gessliches Bild. In den wenigen freien Stun- lichen Möglichkeit durfte hier eigentlich nicht den hatten unsere Gastgeber Freude daran, uns gezögert werden. möglichst viel von den Schönheiten der Land- Während der ganzen Versammlung fiel eine schaft zu zeigen und unsere Gaumen mit den Person auf, die von der Insel stammte und lokalen Köstlichkeiten zu verwöhnen. offensichtlich die Waldorfpädagogik kannte. Jeder, der mit Philippinos zusammen gearbei- Wir taten uns zusammen und konnten der In- tet und auch bei ihnen gewohnt hat, verlässt itiative eine Richtung geben – bis hin zu wei- das Land dankbar und mit reichen Erinne- teren kleinen konkreten Schritten. rungen an die Warmherzigkeit der Menschen Als erstes organisierten wir eine Ausstellung hier. Maraming salamat po, vielen herzlichen mit Arbeiten von Waldorfschülern und mit Dank! Horst Hellmann Vorträgen zur Waldorfpädagogik. Wir feierten

174 Erziehungskunst 2/2008 Jahresfeste im Stadtpark und im Märchen- wald, veranstalteten einen Kinderzirkus und besiegten am St. Michaelstag am Strand einen Drachen aus schwarzem Sand. Aufgrund der vielen tiefen Schluchten Gome- ras und der deshalb geografisch schwierigen Situation der Insel, entwickelten wir die Idee, in einem Netzwerk von mehreren autonomen Initiativen zu arbeiten. Wir wollten kleinere pädagogische Zentren entstehen lassen. Dafür würden einige Waldorfpädagogen gebraucht werden. Woher nehmen? Die Antwort kam mir sozusagen ins Haus gesegelt. Als ich im Juli 2004 aus dem Som- merurlaub zurückkehrte, stand am darauf fol- genden Tag Brian Masters vom »London Wal- dorf Teacher Training Seminar« vor meiner Abschlussfeier auf Gomera Tür. Eine Mutter hatte diesen Kontakt herge- stellt. Der weißhaarige, weit über 70-jährige Brian Masters war der Kapitän des Ausbil- Professor fragte mich, ob er im September mit dungsprojektes. Er reiste einmal pro Monat für der Lehrerausbildung beginnen könne. eine Woche nach La Gomera. Er koordinierte Die Sommerpause in La Gomera ist lang, sie die Inhalte, die er größtenteils selber abdeckte. dauert von Mitte Juni bis Anfang September. Und er half, weitere Dozenten für dieses Pro- In dieser Zeit ist niemand für nichts ansprech- jekt zu gewinnen. bar. Man beginnt, über das Leben und seine Mir war inzwischen schwindelig von dem Organisation frühestens Mitte September Tempo und den Aufgaben, die mir alle voll- nachzudenken und im Oktober schreitet man kommen neu waren – und der Sturm legte sich langsam zur Tat. Also war mein einziger zö- noch nicht. Denn es galt nun, das zweite Aus- gerlicher Einwand Herrn Masters gegenüber: bildungsjahr zu organisieren, vor allen Dingen Lassen Sie uns erst im Oktober beginnen. Ich einen Hauptdozenten für die Kindergärtner- hatte überhaupt keine Idee, wie das alles ge- Ausbildung zu finden. Wir fanden Ana Abreu hen sollte – klar war nur, dass diese Gelegen- aus Portugal, die den Kindergartenbereich heit genauso einmalig war, wie die Finanzie- übernahm, und weitere Dozenten von den an- rung derselben. So kam ich unbeabsichtigt zur deren Inseln für die künstlerischen Bereiche. Organisation dieser Ausbildung. Nach der ersten stürmischen Zeit kam zu Be- Als im Oktober 2004 die Herbststürme erneut ginn des zweiten Ausbildungsjahres die Flaute. über die kleine Insel brausten, da konnten Die Teilnehmerzahl hatte sich auf 18 reduziert. wir die berufsbegleitende Kindergärtner- und Die Gruppe durchlief eine Krise, die bis Weih- Lehrerausbildung auf La Gomera beginnen. nachten dauerte. Erst im neuen Jahr konnte in- Teilnehmerzahl: 40 Leute, davon zwei Drittel tern einiges geklärt und mit frischem Wind in Spanier, ein Drittel Zuwanderer. den Sommer weitergesegelt werden. Meiner Mitstreiterin ist es zu verdanken, dass Alle 18 Teilnehmer des zweiten Jahres erhielten die gesamte Ausbildung im CEP, dem offizi- zum Abschluss ihrer Ausbildung im November ellen Gebäude für Lehrerweiterbildung, statt- 2006 ihr Zertifikat vom Londoner Seminar in finden konnte. der »gomerianischen Außenstelle«.

Erziehungskunst 2/2008 175 Danach war erst einmal wieder Windstille. Viele Teilnehmer brauchten eine Atempause, da sie während der zwei Jahre eine weite und stürmische innere Reise gemacht hatten. Zu meiner Überraschung begann es, hie und da zu rumoren: • In der Grundschule der Hauptstadt wurden fünf der »Waldorf-Ausgebildeten« Teilneh- Freundschafts- mer des Elternbeirats und hatten dadurch ei- nen guten Einfluss auf das bestehende Sys- brücke tem. • In einer nahe der Hauptstadt gelegenen Feri- Leipzig-Samara enanlage entstand ein Hotelkindergarten mit Waldorf-Impuls, der außer einer großen Zahl Freundschaftsbrücken zwischen Deutschland von Ferienkindern auch einige Kinder der und Russland sollten gebaut werden! Aus wel- Stadt aufnimmt. chem Baumaterial aber entstehen derartige • Zwei Teilnehmer unserer Ausbildung orga- Brücken, welche Form haben sie, wenn die nisierten vergangenen Sommer ein Ferienla- Baumeister derart weit auseinander wohnen, ger. welche Materialien werden für solch einen • Im September 2007 begann eine hoch enga- Bau benötigt? Und lassen sich die Erbauer gierte Lehrerin, die den berufsbegleitenden dauerhaft für ihr Bauwerk begeistern? Kurs auf La Gomera besucht hatte, mit tat- Das Projekt sollte für einen Teil der 11. Klasse kräftiger Unterstützung der Eltern, acht Kin- der Freien Waldorfschule Leipzig zum Sozial- der zu unterrichten. »Freie Schule Valle Gran praktikum werden. Nach diversen Vorarbeiten Rey« nennen sie sich und sind zur nächsten der beiden Vereine – des Leipziger Vereins stürmischen Seefahrt aufgebrochen. »Eine Welt e.V.« und des Vereins »Ediny Mit all diesen Ansätzen mag sich vielleicht Mir« aus Samara in Russland – und dank der doch noch das anfangs hoch gesteckte und Förderung durch die Stiftung Deutsch-Rus- dann in etwas weitere Ferne gerückte Ziel er- sischer-Jugendaustausch in Hamburg konnte reichen lassen, ein Netzwerk zu bilden. Auf je- die Unternehmung im September 2007 star- den Fall hat Waldorf auf La Gomera für so viel ten: 16 Schüler und Schülerinnen und zwei Turbulenzen gesorgt, dass es für niemanden Betreuer machten sich mit vielen Rucksäcken mehr ein Fremdwort ist. Und erfreulicherwei- und großen Erwartungen auf die Reise: Im Ge- se reicht diese »Brise« bis nach Gran Canaria, päck, neben Gastgeschenken und Arbeitssa- wo im August 2007 eine weitere Lehreraus- chen, auch die wichtigsten »Baumaterialien« bildung, wiederum mit Brian Masters, aber in – Neugier, Offenheit, Unternehmungslust und noch größerem Umfang und mit 52 Passagie- Einsatzwille. ren an Bord, begonnen hat. Die lange Zugfahrt verging kurzweilig mit ge- Wir hoffen, dass die Kinder La Gomeras ir- genseitigen Besuchen, Essen, Tee trinken und gendwann die Früchte dieses gelegten Samens Gesang zur Gitarre. Am dritten Tag ermög- werden ernten können! lichte uns ein sechsstündiger Aufenthalt, die Anneke Schammann-Harms russische Stadt Saratow ein wenig kennen zu Kontakt: www.elcabrito.es, E-Mail: [email protected] lernen. Das schürte die Neugier auf unser ei- gentliches Ziel: Samara. Die Baumeister von der anderen Seite der Brücke erwarteten uns dann mit Luftballons am Bahnhof in Samara.

176 Erziehungskunst 2/2008 Mit gleich vielen russischen Jugendlichen in ähnlichem Alter sollten wir die nächsten zwei Wochen zusammen leben und arbeiten. Die russischen Jugendlichen waren gut auf ihre Aufgabe als Brückenbauer vorbereitet: Sie waren eigentlich Studenten an den verschie- densten Fach- und Hochschulen Samaras und hatten sozusagen im Ehrenamt bereits im Sommer an einer Ausbildung zur Arbeit mit Jugendgruppen teilgenommen. Die Sprach- barrieren wurden mit Spielen überwunden, Tänze angeleitet, Ausflüge organisiert, kul- turelle Aufführungen moderiert – alles, was uns Deutschen das Gefühl gab, aufgehoben zu sein, verstanden und gebraucht zu werden. Wir waren in einem kleinen ehemaligen Inter- nat untergebracht und eine der beständigsten Aufgaben war das gemeinsame Zubereiten Sozialarbeit in Samara der Mahlzeiten. Schnell entstanden Freund- schaften und die teilweise nicht so großen Fremdsprachenkenntnisse wurden kreativ äußerst gefühlvoll vorgetragenen Liedern und überwunden. Der Bauprozess an der Brücke Tänzen geantwortet. wurde durch gemeinsame Einsätze an ganz Ein besonders schöner Nachmittag wurde für verschiedenen Orten im Sinne eines Sozial- uns von verschiedenen Gesangs- und Tanz- praktikums fortgeführt: Eine gemischte Grup- gruppen aus der Samarer Region gestaltet. pe arbeitete in einem Kindergarten, erledigte Ausgehend von der Tatsache, dass in dieser dort Gartenarbeiten, baute Spielgeräte auf, Region eine Vielzahl von Nationalitäten mit spielte und bastelte mit den Kindern. Andere reichem Kulturschatz friedlich miteinander deutsche und russische Jugendliche erledigten lebt, wurden uns viele schöne Lieder und Tän- in einem Jugendzentrum Renovierungsar- ze vorgestellt. Wir ließen uns auch nicht lange beiten, wieder andere halfen den Eltern be- bitten, bei Spielen und Tänzen mitzumachen. hinderter Kinder und ein weiteres Arbeitsfeld Es war für uns alle eine wunderbare Möglich- war eine Werkstatt, in der wir Puppen her- keit, in die Kultur der Menschen Russlands stellten. einzutauchen. Ein großer Teil unserer Arbeit bestand im Ein besonderer Höhepunkt war die dreitägige gemeinsamen Einstudieren von Liedern und Fahrt in ein 6000-Einwohner-Dorf 180 Kilo- Tänzen für verschiedene Kulturprogramme. meter nordöstlich von Samara. In Kamyschla Auf die Intensität dieser Aufgabe waren wir leben vor allem Tataren. War die russische nicht von vornherein gefasst gewesen. Zu- Gastfreundschaft schon beeindruckend, so sammen mit den russischen Jugendlichen war die der Tataren überwältigend. Zum Teil gestalteten wir verschiedene Programme. Die verhinderte sie auch, dass die Schüler den ar- wohlwollende und herzliche Resonanz bei men und alten Menschen helfen konnten (z.B. den Zuschauern beglückte uns sehr und jedes Wasser holen, da die Häuser oft kein flie- Mal erlebten wir, wie tief Singen und Tanzen ßendes Wasser haben, oder Kartoffeln ernten bei den russischen Menschen noch verwurzelt und einkellern): Gäste arbeiten nicht, sondern ist, denn auf unsere Lieder wurde meist mit werden fürstlich bewirtet. Mit dieser Einstel-

Erziehungskunst 2/2008 177 lung haben die Organisatoren in Russland schon seit vielen Jahren zu kämpfen, doch die Hilfe wird immer mehr auch angenom- Eine Kunst- men. Aber auch das Zusammensein und die Unterhaltungen waren für die Menschen eine Epoche in Tbilisi willkommene Abwechslung. In Kamysch- la haben wir unser Kulturprogramm sogar »Kunst ist geistige Nahrung! Das ist genauso zweimal aufgeführt: In einem Tagestreff für wichtig wie physische. Nahrung in Kunstwer- Senioren und in einer Internatsschule für be- ken ist eine individuell gesehene geistige Welt hinderte Kinder, Waisen sowie Straßenkinder. in die Materie umgesetzt … In erster Linie ist Besondere Symbolkraft hatte für alle das Lied dies Schönheit. Schönheit, weil sie das zeigt, »Katjuscha«, von dem wir zwei Strophen auf was am tiefsten im Menschen liegt. Bei der Russisch und zwei auf Deutsch sangen. Wenn Betrachtung ergreift dich eine geistige Ruhe. der ganze Saal einstimmte, trafen sich viele Man fühlt sich schön und erhoben. Du bist glückliche Augen. Nach Samara zurückge- vom täglichen Leben befreit und gehst in eine kehrt – beide Orte verbindet eine vierstündige Welt über, die man sonst nicht so direkt er- Busfahrt durch die russische Landschaft auf leben kann. Du bekommst geistige Nahrung der Hauptverbindungsstraße von Moskau und bist ein Teil der Unendlichkeit. Für dich nach Sibirien – bildete eine große öffentliche ist nicht das Objekt, das du siehst, das Wich- Aufführung im Jugendzentrum den offiziellen tigste, sondern das Leben, welches von die- Abschluss des Projektes. sem ausströmt. Befreiung vom Erdenrahmen, Wenn man den Erfolg des Brückenbaus an das ist das, was uns zur Freude bringt.« – Dies den Abschiedstränen auf dem Bahnsteig mes- sind die Worte einer Schülerin in der 10. Klas- sen will, ist der Bau gelungen und beide Grup- se, die mich ermutigten, diesen kleinen Auf- pen haben sich in der Mitte getroffen. Für die satz zu schreiben. nächste Zeit soll versucht werden, ob die Brü- In der 10. Klasse kann man, wie es der Stutt- cke auch in der anderen Richtung begehbar garter Kunstlehrer Randebrock vorgeschlagen ist und wir die russischen Freunde in Leip- hat, neben der Poetik-Epoche die südliche und zig begrüßen können. Die Leipziger Schüler nördliche Renaissance betrachten und damit haben zahlreiche neue Freunde gefunden und die Kunst-Epoche der 9. Klasse fortsetzen. vielfältige soziale Erfahrungen sammeln kön- Aus bestimmten Gründen war es notwendig, nen. Sie sind rundum glücklich und zufrieden die Renaissance etwas anders zu beginnen. So heimgekehrt, keiner hat seinen Mut, die Reise haben wir die Epoche mit einem allgemeinen in die Ferne und Fremde anzutreten, bereut Kennenlernen der Renaissance begonnen. Die – ganz im Gegenteil. Ihnen wird diese Bestä- Klasse hatte schon in der Mittelstufe diese tigung der eigenen Offenheit sicherlich unver- Kunst-Epoche behandelt. Die Schüler bespra- gesslich bleiben. So konnten sie erleben, dass chen alles, was sie schon gehört oder gelesen wir tatsächlich in einer Welt leben. hatten. Dann gingen wir zur bildenden Kunst Wenn Interesse an mehr Informationen be- über. steht, schicken Sie eine Mail an: Wie in fast allen Kunst-Epochen, die ich in [email protected] Georgien durchgeführt habe, konnte ich wahr- Helmut Fiedler, Lehrer, nehmen, dass sich bei den Schülern gegenüber und die Schüler der 11. Klasse Raffael immer eine besondere Zuneigung und Liebe bildet. Vor allem seine Madonnen be- rühren sie stark. Neben Raffael wurden auch Botticelli, Michelangelo sowie Leonardo da

178 Erziehungskunst 2/2008 Vinci behandelt. So erschloss sich den Schü- lern sehr schnell der Geist der Renaissance. Im weiteren Verlauf der Epoche haben wir dann die Maler der nördlichen Renaissance behandelt und uns mit ganz besonderer Auf- merksamkeit Dürer und Grünewald zuge- wandt. Grünewald mit seinen Gemälden zeigt eine »erschütternde Realität«, wie ein Schüler formulierte. Durch den geheimnisvollen In- halt hat Grünewalds Kreuzigung besonderes Interesse erweckt. Begeistert waren die Schü- ler von dem lebendigen Zusammenhang von Realem und Übersinnlichem. Sehr rasch ist die Frage nach den unterschied- lichen und gemeinsamen Charakterzügen der Zehntklässler in Tbilisi nördlichen und südlichen Renaissance aufge- taucht. Die Harmonie von Raffaels Madonnen und »Die Welt ist viel interessanter und schöner die Unruhe in Dürers Madonnen führte zu geworden«, sagte eine Schülerin am Ende der heftigen Diskussionen. Als Ergebnis genauer Epoche. Sie war vor geraumer Zeit in unse- Betrachtungen und Auseinandersetzungen re Schule gekommen und ist dankbar für die möchte ich hier den Text eines Schülers wie- Zeit, die sie bei uns verbringt. dergeben: »Das Schöne in italienischen und Seit vier Jahren unterrichte ich in Georgien in deutschen Kunstwerken? Das ist eigentlich Kunstgeschichte. Die ersten Schritte machte ganz einfach zu erkennen! Das Schöne ist ich mit Malte Schuchhardt, der bei uns den doch in beiden zahlreich! Italienische Kunst- Oberstufenaufbau intensiv begleitet. Von der werke sind ausgeglichen, ruhig, idealisiert. 9. bis zur 12. Klasse haben wir gemeinsam Hier wird das Übernatürliche gesucht und Kunstgeschichte gegeben. Diese Arbeit war das strömt auf uns über. Der nördliche Maler besonders fruchtbar für mich. Ich konnte aus sucht Schönheit nicht in Harmonie, sondern seinen Erfahrungen viel lernen. unser Auge wird von einem Detail zum an- Thea Rogava deren immer wieder weitergeleitet, es kann einem schwindlig werden, es ist schwer, Ruhe zu gewinnen … Man ist als Betrachter immer dabei zu schaffen, der Maler lässt immer auch etwas für dich übrig! Auch Du sollst Schaf- Lebenslanges fender sein.« – »Wäre dies nicht auch für un- ser Leben notwendig«, fragte ein Junge, der Lernen nicht so besonders mitarbeiten wollte. Die dreiwöchige Epoche erweckte in mir das Anthroposophische Erwachsenen- Gefühl, dass hier lebenswichtige Fragen an- bildung in Wien gesprochen wurden. Die beiden Polaritäten, die auch in der Entwicklungsphase, in der sich Wer unterrichtet, weiß, dass nichts einfacher die Schüler befinden, eine große Rolle spie- ist, als zu unterrichten. Er weiß aber auch, len, konnten durch das Erleben dieses Kunst- dass nichts schwieriger ist, als zu unterrich- unterrichts neue Wege aufzeigen. ten. Und der Mittelweg ist voller Zweifel.

Erziehungskunst 2/2008 179 Seit knapp zwei Jahren gibt es die Akade- beschrieb den Lernbegleiter als jemanden, der mie anthroposophische Erwachsenenbildung hilft, das Wesentliche in den Aufgaben zu er- in Österreich, in der sich die verschiedenen kennen, und der den Auszubildenden beglei- Ausbildungseinrichtungen von den Kinder- tet, indem er Zwischen- und Auswertungsge- gärtnerinnen über die Heilpädagogen bis spräche mit ihm führt. Erfolgreiches Lernen zu den Lehrern, Künstlern und Eurythmis- sei spielerisch, mache Lust und die Aufgabe ten zusammengeschlossen haben. Der erste des Lehrers sei es, »Hindernisse hinwegzuräu- große gemeinsame Kongress fand vom 1.-3. men« und nicht beständig »In-Put« zu geben. November in der Waldorfschule Wien-Mauer Lernpsychologisch sei wesentlich, dass der statt. Das Thema hieß »Lebenslanges Lernen Unterrichtende Schüler und Studenten in Si- – die Rolle der LernbegleiterIn«. Gut 250 tuationen führe, in denen sie lernen, sich selbst Menschen aus den verschiedenen Bildungs- zu korrigieren. Hierzu wurden auch einige an- einrichtungen waren gekommen. schauliche Beispiele gezeigt. Das Thema könnte vermuten lassen, es habe Am dritten Tag sprach Claudia Grah-Wittich einmal Zeiten gegeben, in denen der Mensch vom Pädagogisch-Therapeutischen Zentrum nicht hätte lebenslang lernen müssen. Nichts- am »hof« in Frankfurt über die »Sehnsucht destoweniger gewinnt durch den derzeitigen wahrgenommen zu werden«. In einer schnell- Wandel in fast allen Lebensbereichen die Wei- lebigen und ergebnisorientierten Zeit wie der terbildung für Erwachsene eine Bedeutung, unseren, sehnten sich die Menschen danach, die weit über das bisher Gewesene hinausgeht. wieder wahrgenommen zu werden. Dieses Nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch. Wahrnehmen sei auch das Wichtigste im Rah- Coen van Houten war als erster Redner ange- men von Lernpartnerschaften, ob im Kinder- reist. Er hat in jahrelanger Forschungsarbeit In- garten, in der Schule, in der Beziehung zwi- halte und Methoden einer neuen Erwachsenen- schen Eltern und Kindern oder in der Ehe. Sie bildung entwickelt, die zu solchen Lernprozes- brachte anschauliche, lebensvolle Beispiele, sen qualifizieren kann. Nach van Houten hat wie man in schwierigen Situationen mit Kin- sich durch das bei uns vorherrschende Lernen dern umgehen kann, oder was es heißt, im durch Nachahmung und Aufnahme von Vor- Erziehungs- und Bildungsprozess präsent und gekautem eine Kultur der Unselbstständigkeit authentisch zu sein. entwickelt. Wir haben eine Antwortenkultur, Nachfolgende Workshops boten die Mög- unverbindlich und ohne Verantwortung. Nur lichkeit, das Gehörte zu vertiefen, es gab In- wenn der moderne Pädagoge zum »Möglich- fostände der einzelnen Ausbildungsstätten, keitengeber«, zum »Raumgeber für Neues« Darbietungen und Vorträge zum Thema und wird, der Begegnungen ermöglicht, kann sich ein großes Fest, zu dem alle Studenten der Bil- die in jedem Einzelnen veranlagte Kreativität dungseinrichtungen die verschiedensten künst- entfalten. Ein wesentlicher Bestandteil der mo- lerischen Darbietungen darbrachten. Ganz aus- dernen Pädagogik muss eine Veränderung und gezeichnet bereichert wurde die Veranstaltung Erweiterung der eigenen Wahrnehmung sein. durch die kurzweilige Moderation von Stefan Van Houten zeigte methodische Schritte eines Herkommer und die Clowns Kotal&Kotal, die praxisbezogenen Lernens, welches auch tiefer am Anfang, zwischendurch und am Ende das liegende Fähigkeiten des Menschen wachzu- Publikum zu Lachstürmen hinrissen. rufen vermag. Endlich einmal herauszukommen aus den ein- Nachfolgend äußerte sich Michael Brater von zelnen Einrichtungen und sich zu begegnen, der Gesellschaft für Ausbildungsforschung das war eine wunderbare Erfahrung! und Berufsentwicklung (GAB) in München, Ulrich Eise der seit Jahren auf diesem Gebiet forscht. Er

180 Erziehungskunst 2/2008 Der neue Bundesvorstand

Mein Weg zu den Sit- Als wir sieben Mit- zungen des Bundesvor- glieder des Bundesvor- standes beginnt immer standes uns das erste Mal im äußersten Norden: trafen, war allen die An- Seit 1984 arbeite ich an spannung der Wahl und der Flensburger Wal- der Zeit davor anzumer- dorfschule als Klassen-, ken. Schnell wurde die Englisch- und Religi- Fülle der anstehenden onslehrer, in der Sucht- Aufgaben deutlich, und prävention und natürlich in der Selbstverwal- es machte sich eine produktive Anspannung tung der Schule. Auf Landesebene arbeite ich breit. Zugleich zeigte sich aber zu unser aller im Sprecher- und Gründungsberaterkreis mit Freude, dass ganz offensichtlich eine Gruppe und erteile gelegentlich Epochen am Kieler zusammengewählt wurde, die gut, offen und Waldorflehrerseminar. – Die Anthroposophie kollegial miteinander arbeiten kann. – Ob- lernte ich auf zwei Wegen parallel kennen: wohl ich 1963 in Schorndorf quasi am Fuße In meinem 21. Lebensjahr fiel mir bei einem der Waldorfschule Engelberg geboren wurde, Krankenhausaufenthalt in Herdecke Rudolf wurde mir der Weg in den Bundesvorstand Steiners Theosophie buchstäblich in den der Waldorfschulen nicht in die Wiege gelegt. Schoß, was einen ausgedehnten Streifzug Erst über ein Lehramtsstudium an der Päda- durch sein Werk auslöste; fast zeitgleich be- gogischen Hochschule in Ludwigsburg, über gegnete ich in der Gründungsphase der »Grü- einen längeren Auslandsaufenthalt in Argenti- nen« und den »Achbergern«. nien – wo ich kurioserweise das erste Mal an Später studierte ich in Witten-Annen, wo sich einer Waldorfschule tätig war – und nach dem mein Berufsbild insbesondere durch Begeg- Diplom zum Politologen kam ich zur Ausbil- nungen mit Werner Rauer, Johannes Kiersch dung ans Lehrerseminar Witten-Annen. Bei und Jörgen Smit prägte. Anthroposophie und meinem vorzeitigen Weggang rief mir zwar Dreigliederung blieben für mich immer zwei Herr Rauer nach, dass er mich weiterhin in Grundpfeiler für meine Arbeit. 1994 initiierte der Waldorfbewegung sehe, doch war dies ich daher die Volksinitiative Aktion mündige zu dieser Zeit für mich nicht offensichtlich. Schule, die sich dafür einsetzte, alle Schulen Nach verschiedenen beruflichen Erfahrungen aus der Vormundschaft zentraler Institutionen führte mich mein Weg als Geschäftsführer an zu befreien und stattdessen auf die Initiative die Waldorfschule Kreuzberg. Mich zog die und Verantwortungsfähigkeit jedes einzelnen Energie dieser Schule an, die sich den aktu- Lehrers zu bauen. – Im neuen Vorstand bin ich ellen pädagogischen Fragen in einem sozialen Ansprechpartner für die Öffentlichkeitsarbeit, Brennpunkt stellt. – Ich möchte den freien für die »Erziehungskunst« und die »Freunde Dialog mit den Kollegen der Schulbewegung der Erziehungskunst« sowie für den Haager suchen. Mir ist es wichtig, auf Fragestellun- Kreis und für den Sektionskreis der Pädago- gen einzugehen, die sich in der gegenwärtigen gischen Sektion. Kurzvita: Geboren 1955 in schulischen Praxis stellen. Die »erziehungs- Buenos Aires, Kindheit in Argentinien, Bra- künstlerische« Arbeit an den Schulen zu er- silien, Iran, Sri Lanka, Abitur in London. Stu- möglichen und Waldorfpädagogik weiter zu dium der Landwirtschaft und Waldorfpädago- entwickeln, ist mein Leitmotiv für die Arbeit gik. Henning Kullak-Ublick im Bundesvorstand. Hans-Georg Hutzel

Erziehungskunst 2/2008 181 Dialog, Feedback, Begegnung

Portfolio- Bei der Erarbeitung eines Portfolios wird der Schüler nicht alleingelassen, sondern vom Revolution Lehrer begleitet. Es geht um ein prozessori- entiertes, dialogisches Arbeiten, um eine ganz »Kompetenz, Portfolio, Evaluation – wie neue Kultur von Begegnung und Feedback passt das zur Waldorfpädagogik?« – so war – auch unter Schülern! In der Umsetzung ist das Seminar betitelt, das Thilo Koch von der das einzige ernstzunehmende Hindernis die Waldorfschule Potsdam auf der Fortbildungs- traditionelle Klassengröße. Potsdam aller- tagung 2007 in Greifswald veranstaltete. Ein- dings arbeitet längst mit Klassen von 20-24 drücklich schilderte Koch die Kerngedanken Schülern und ermöglicht teilweise das »Team- von Portfolio: Den Schülern die Würde zu- Teaching«. Das bedeutet keinen finanziellen rückgeben, individuelle Lernwege ermögli- Nachteil, da keine Teilung für Fachunterrichte chen und unterstützen, Begegnung, Lernfreu- mehr erforderlich ist. de und Lernkompetenz fördern. Darüber hin- Koch schilderte lebendig, wie die Schüler aus birgt die Portfolio-Idee die Möglichkeit, immer weniger den »Weg des geringsten Wi- das gesamte Prüfungs- und Studien-/Berufs- derstands« gehen und mit immer größerer Of- Berechtigungswesen zu revolutionieren. Aber fenheit selbst über ihre Schwächen sprechen der Reihe nach … lernen. Unter anderem erarbeiten die Schüler Dem Begriff nach ist Portfolio eine schüler- am Schuljahresende in zehn Tagen Hauptun- zentrierte Form der Dokumentation von Lern- terricht ein Jahresrückblick-Portfolio, was den und Leistungsschritten und -ergebnissen. Der Nebeneffekt hat, dass sie die Übhefte seitdem Schüler kann »zeigen, was er kann«. Beispiel viel besser pflegen und die Epochenhefte auch Betriebspraktikum: Der Schüler bewirbt sich nach Fertigstellung tatsächlich benutzen. Und um einen Praktikumsplatz, es gibt Erwar- der Rückblick der Schüler auf sich selbst ist tungen der Schule, des Betriebes, des Schü- fast so gut wie ein Zeugnis! lers, Tagesberichte, »Beweisstücke«, Bewer- In der 10. und 11. Klasse machen die Pots- tungen durch den Betrieb und den Schüler damer Schüler jeweils ein fünfwöchiges selbst, Rückblicke und so weiter. Aus all Betriebs- bzw. Sozial-Praktikum. Durch die diesen Materialien entsteht ein Portfolio, das enge Zusammenarbeit und das Engagement ein Bild dessen vermittelt, was ein Schüler der Schüler im Rahmen der Portfolioarbeit geleistet, erfahren, gelernt, an Entwicklung finden 90% der Schüler, die ohne Abi die durchgemacht hat. Einige Elemente gehören Schule verlassen, in »ihrem« Betrieb einen unbedingt hinein, andere Elemente fügt der Ausbildungsplatz. Zunächst aber gibt es nach Schüler nach eigener Wahl hinzu. dem Praktikum und der eigentlichen Port- Der Schüler will lernen, er lernt individuell folioarbeit die Präsentationen – und gerade und er kann zeigen, was und wie er gelernt dieser umfassende Prozess ermöglicht es den hat – und er kann mit Recht stolz darauf sein. Schülern, sich tief mit »ihrer Sache« zu ver- Neben den Erfolgserlebnissen (»Ich kann es binden. Übrigens auch mit ihren Schwächen. ja doch«) macht der Schüler die Erfahrung, Die Schüler ermuntern sich dabei gegenseitig dass gerade Authentizität es ermöglicht, sich durch eine fast liebevolle Offenheit (»Du hast in die Welt hineinzustellen und der Welt zu noch nicht gesagt, welche Schwierigkeiten du begegnen. hattest«).

182 Erziehungskunst 2/2008 Das Interesse wächst, was die anderen ge- sie in den oberen Klassen angeregt werden macht und erlebt haben. Auch klassenüber- soll, sondern mit der Freude am Lernen, am greifend, indem man sich gegenseitig zu Geleisteten – und auch mit der ständigen Auf- kleinen Ausstellungen einlädt oder die ganze gabe des Erziehers, in den Kindern das ästhe- Schule einbezieht. Natürlich erfordert auch tische Empfinden und den Schönheitssinn zu dies die Pflege durch die Lehrer, z.B. durch entwickeln und zu fördern. Fragen und Anregung der gegenseitigen Re- In welchem Alter auch immer – die Portfo- flexion. lio-Idee fragt danach: Was bringen die Kin- der mit? Wie können individuelle Lernwege … und in der Unterstufe? ermöglicht werden? Wie kann die Freude am Lernen, das Interesse an der Welt erweckt, be- Oft wird gegen die Portfolio-Idee geltend ge- wahrt und gefördert werden? macht, dass in diesem Alter die Selbstreflexi- on weder zu erwarten, noch wünschenswert Revolution des Prüfungs- und ist – und das ist richtig. Berechtigungswesens Das Kind ist noch ganz willensbetont, den- noch hat es inmitten aller Lernfreude auch ein Prüfungsordnungen mehrerer Bundesländer intuitives Bewusstsein des Gelernten und ein ermöglichen mittlerweile auch Portfolio-Prü- entsprechendes Urteil: »Mama, schau mal!« fungen. Solche Kompetenzen könnten künftig Kinder in diesem Alter sollte man selbstver- immer konkreter (auch einzeln) bescheinigt ständlich nicht in Urteile und Entscheidungen werden. Der dahinter stehende Grundgedan- hineinzwingen, die sie von sich aus noch gar ke ist stets, dem Schüler den Weg ins weitere nicht treffen. »So jetzt leg’ mal alle Bilder Bildungs- und Berufsleben zu erleichtern. nebeneinander und suche das Schönste für Portfolio-Prüfungen zeigen, was für Kompe- die Portfolio-Mappe heraus!« – so abstrakt- tenzen sich der Schüler angeeignet hat. intentional wäre die Portfolio-Idee in dieser Die Arbeitsgruppe »Zukunft der Abschlüsse« Altersstufe missverstanden. Doch man kann des Bundes der Freien Waldorfschulen ist schon die Kinder der unteren Klassen ermun- bereits dabei, in Zusammenarbeit mit allen tern auszusprechen, was als intuitives Urteil Waldorfschulen Kompetenzen zu beschrei- bereits in ihnen lebt: »Was hat euch denn be- ben, die die Waldorfpädagogik vermitteln sonders viel Freude gemacht?«, »Wo habt ihr will. Ein noch weitergehender Schritt ist euch denn am meisten anstrengen müssen?« das Unternehmen eines »europäischen Wal- Immer als offene Fragen und nie insistierend. dorfabschlusses«. Im Zuge des »Bologna- In dieser freilassenden Weise zeigt man Inter- Prozesses« wird ja europaweit eine Verein- esse an den individuellen Lernprozessen der heitlichung der Abschlüsse vorangetrieben, Kinder und fördert dasjenige, was später als damit das Bildungs- und vor allem auch Be- Urteilsfähigkeit und Fähigkeit zur Selbstrefle- rechtigungswesen der europäischen Länder xion erwachen wird. vergleichbar wird. In der Waldorfbewegung Schon die Kinder der ersten Klassen können haben sich nun Menschen zusammengetan, ihr »Schatzkästlein« haben: Zunächst wird die an den Grundlagen eines eigenen, gemein- alles gesammelt, was sie im Laufe des Jah- samen Abschlusses arbeiten wollen. In einem res machen, finden und so weiter. Am Ende weiteren Schritt könnte ein solcher zertifiziert des Jahres oder einer Epoche nimmt man sich und von den Hochschulen anerkannt werden gemeinsam Zeit und sucht sorgfältig heraus, – eine Vision, die Waldorfpädagogik bis in die was ins Schatzkästlein kommen soll. Das hat Abschlüsse hinein zu ihrem Recht kommen noch nichts mit Selbstreflexion zu tun, wie zu lassen!

Erziehungskunst 2/2008 183 Europäisches Abschlussportfolio

Am 2. und 3. November 2007 fand die ers- te Internationale EAP-Konferenz in Potsdam statt. Ziel der Konferenz ist es, ein Europä- isches Abschlussportfolio (EAP) bzw. Euro- pean Portfolio Certificate (EPC) zu initiieren. Die über 70 Teilnehmer aus acht Ländern Europas (Norwegen, Dänemark, Großbri- tannien, Niederlande, Belgien, Deutschland, Schweiz, Tschechische Republik) diskutier- ten unter der Federführung von Thilo Koch die Bedingungen für ein Portfolio auf inter- nationaler Ebene. Auf nationaler Ebene ist die Durchführung von Portfolioprüfungen nicht einheitlich bzw. hat sich unterschiedlich stark in den betreffenden Ländern durchgesetzt. In den Niederlanden gibt es bereits eine einheit- liche Zertifizierung. Jede Waldorfschule, die an der Entwicklung von internationalen Standards teilnehmen möchte, sollte einen Vertreter für diese Prü- fungsform benennen und ein »Evaluations- ‹Das Goetheanum› team« bilden. Ziel ist u.a. die Vernetzung der ist die einzige anthroposophische Schulen, um den weiteren Austausch über un- Zeitschrift, die wöchentlich erscheint terschiedliche Ansätze und Ideen zu ermögli- und behandelt aktuelle Themen chen. Holger Niederhausen des Kultur- und Zeitgeschehens sowie soziale Fragen auf der NEU: Grundlage der Anthroposophie. Manche halten es für einen Geheimtipp, dabei ist es völlig öffentlich. Und das seit über 80 Jahren.

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184 Erziehungskunst 2/2008 Film: Abenteuer Anthroposophie

Anthroposophie? Was ist das? Wie oft wird diese Frage nicht nur in und an Waldorfschu- len gestellt und wie oft werden darauf wenig erhellende Antworten gegeben. Natürlich gibt es inzwischen eine unüberschaubare Zahl dicker und dünner Bücher, auf die man verweisen kann, doch bringen vergleichsweise Wenige die mit dem Lesen verbundene Zeit und Mühe auf. Rüdiger Sünner ist in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Forschungsstelle ein fil- misches Bild geglückt, das Antworten geben kann. In einer Laufzeit von 110 Minuten eröffnet er Einblicke in die wesentlichen durch die Anthroposophie befruchteten Lebens- felder, wobei stets der Prozess zwischen anthroposophischem Impuls und praktischer Umsetzung im Mittelpunkt steht. In ungewohnt persönlicher Weise wird der Blick auf die Entwicklung des Menschen und Zeitgenossen Rudolf Steiner und der Anthroposophie gerichtet, wobei auch die in jüngerer Zeit verstärkt in der Kritik stehenden Punkte nicht ausgeblendet werden. Der Film gibt ein Gesamtbild, lässt aber auch zu, nur einzelne Kapitel herauszugreifen: Rudolf Steiners Werdegang mit Aufnahmen aus den Orten seiner Kindheit in Niede- rösterreich, Wien, Weimar; Landwirtschaft, Wirtschaftsleben, Medizin, Pädagogik mit Bildern, die zeigen, wie segensreich Anthroposophie in unterschiedlichen Kulturen wirk- sam werden kann. Zu sehen sind die Sekemfarm in Ägypten, Waldorfschulen in Namibia und natürlich in Deutschland sowie das Goetheanum. Zahlreiche Interviewpartner – auch kritische – kommen zu Wort, so u.a. Götz Werner, Dr. Schnell, Otto Schi- ly, Heiner Ulrich, Helmut Zander, Ibrahim Abou- leish. Ein Film, der keinen Tag zu früh kommt. Es ist ihm hohe Aufmerksamkeit und breite Resonanz zu wünschen. Hansjörg Hofrichter

Der Film wird der Öffentlichkeit erstmals an drei Orten präsentiert: Berlin: Sonntag, 2. März, 11 Uhr, Kino in den Hackeschen Höfen, Rosentaler Straße. Dornach: Dienstag, 18. März, 18 Uhr, Goethea- num, Englischer Saal. Frankfurt am Main: Freitag, 18. April, 18 Uhr, Rudolf-Steiner-Haus, Hügelstr. 67, anschließend Podiumsdiskussion. Ab 2. März wird der Film auf DVD bei der Päda- gogischen Forschungsstelle zum Preis von € 17,90 erhältlich sein. Es ist technisch möglich, englische Untertitel einzublenden.

Erziehungskunst 2/2008 185