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Sendung für DeutschlandRadio Kultur Verrücktes Land der Gletscher und des Pfirsichs. Neue Lyrik aus der Schweiz

Von Uwe Stolzmann

Musik. UNTERLEGEN.

1. O-Ton: Raphael Urweider. 0.00 vorfrühling. // teilweise schnee noch / verwehte helle zettel / ein eingezwängter bach / bringt wasser mit sich / und licht wie ein weh ein ach // gläserne käfer überrennen / ameisen als gäbe es sie nicht / der spatzenbock lässt von der / spätzin und hüpft stolz in den / noch nackten weißen baum

Musik. ÜBERBLENDEN IN:

2. Atmo: Vögel. UNTERLEGEN.

Autor: In einem Bergdorf im Süden der Schweiz steht ein junger Mann. Gleich neben der Kirche steht er, in Guttannen, einem 300-Seelen-Ort unterhalb des Grimselpasses. Der junge Mann, ein hochgeschätzter Lyriker, ist zu Besuch im Land seiner Kindheit.

2 3. O-Ton: Raphael Urweider. 17.49 / 18.28 Ich heiße Raphael Urweider, ich bin 1974 geboren und im Berner Oberland die ersten Jahre aufgewachsen, bis sieben –

Autor: Der Vater, ein Pfarrer, schrieb in der Freizeit Gedichte und Kolumnen. Die schöngeistige Atmosphäre daheim habe ansteckend gewirkt, sagt Urweider.

4. O-Ton: Raphael Urweider. 21.54 Der Geruch auch von Bibliothek war im ganzen Haus zu spüren. Diese Schweizer Pfarrhäuser sind ja auch riesengroß und haben Garten und Umschwung, jedenfalls in Dörfern.

Autor: Ein Bild wie von Spitzweg: Vaters Bibliothek mit ihren hohen Regalen, und vor den Fenstern der Bauerngarten mit seinen Stauden und Blumen, seinen Obstbäumen - Zwetschge und Pfirsich -, im Hintergrund die Gletscher der Walliser Alpen.

5. O-Ton: Raphael Urweider. 28.27 Der Garten ist natürlich auch etwas Interessantes, weil es ist gemachte Natur. Diese gemachte Natur ist vielleicht auch poetologisch zu lesen, man muß ein Arrangement machen, eine Auswahl treffen – Und dadurch entsteht ein Gedicht, im besten Fall. Ein Garten ist also eine Art Gedicht, ja – und diesen Garten stelle ich mir natürlich schon etwas verwunschen vor. Eine Art Locus amoenus.

Autor: Locus amoenus, der liebliche Ort. Ein literarischer Topos seit der Antike – mit Wiese, Quelle und schattenspendenden Bäumen als Treffpunkt für Liebende.

6. O-Ton: Raphael Urweider. 3.33 Liebesgedichte sind die Grundlagen der Dichtung überhaupt, man besingt jemanden, eine geliebte Person, und ich wollte das auf eine Art auch etwas parodistisch vervollständigen, indem ich zu jedem Buchstaben des Alphabets, von A bis Z Frauennamen besingen wollte.

Atmo: Vögel. AUSBLENDEN.

3 Autor: Der moderne Dichter gibt sich als virtueller Minnesänger. „Alle deine Namen“ heißt Urweiders jüngster Band, eine schmale Sammlung, in der er Antonia besingt und Beatrice [Beatriß]...

7. O-Ton: Raphael Urweider. 4.11 Ich sage Beatriche. - beatrice ich singe wenn niemand mich hört / ich ersinne deine namen mit leiser stimme...

Autor: ... und Caecilia, Desdemona, Elodie...

8. O-Ton: Raphael Urweider. 5.08 samstags elodie sind die nachrichten / spärlich der botanische garten / schließt um vier die blätter der bäume / schrumpfen und geben ihr grün ab / die wolken reißen auf es will nicht regnen / elodie die samstage scheinen nicht mir zu gehören / meine sonntage aber gehören nur dir elodie

Autor: Raphael Urweider – Poet, Rapper und Theaterautor - ist ein vielseitiger Künstler. Über die Liebe schreibt er so souverän wie über die exakten Wissenschaften oder das Leiden eines Krebskranken. Sein außergewöhnliches Talent wurde schon mehrfach geehrt, 2002 zum Beispiel mit einem Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt.

9. O-Ton: Raphael Urweider. 6.20 norma und ich das ist ein gedicht / ein geflecht ein dickicht in dem nur / norma und ich platz finden norma / und ich schlagen uns durch das gedicht / und errichten ein zelt im lichten / norma und ich schlafen eng unser / zelt ist aus worten die uns bedeuten

Autor: Eine poetische Rundfahrt. Doch noch verharren wir, zwischen Baumgruppen, Büschen und Beeten. Wenn die Schweizer Lyrik ein Garten ist, vielleicht eher Park als Garten, dann stehen in einem verschatten Teil dieses Parks ein paar Statuen, Figuren von gestern, stimmgewaltig. 4

Zitator: Da liegst Du nun, ein Land, lächerlich, mit zwei, drei Schritten zu durchmessen, / mitten in diesem unglückseligen Kontinent, / genagelt an sein faules Holz, beleckt von der Flamme seiner Taten. / Die Erde, die Dich trägt, versteint, Hügel auf Hügel getürmt, zu einer Landschaft des Monds...

Autor: Friedrich Dürrenmatt schrieb diese Verse, der große Dramatiker und Erzähler. Seinen „Schweizerpsalm“ notierte er kurz nach dem Krieg.

Zitator : O Schweiz! Don Quijote der Völker! Warum muß ich dich lieben! / Wie oft, in der Verzweiflung, ballte ich bleich die Faust gegen Dich...

Autor: Und das ist die Stimme eines Wahlschweizers, die Stimme des alten aus dem Tessin.

10. O-Ton: Hermann Hesse. 3.48 O Regen, Regen im Herbst, grau verschleierte Berge. Bäume mit müde sinkendem Spätlaub. Alle Wege hinab rinnt und gurgelt unendlich Gewässer. Und vom Kirchturm im Tale tropfen zögernde müde Glockentöne für einen vom Dorf, den sie begraben.

Autor: Raphael Urweider kommt nur selten in diesen Teil des Parks, zu den Denkmälern der Überväter. Urweider mag die Tradition, aber auch die ironische Spiegelung.

11. O-Ton: Raphael Urweider. 6.53 magdalena du weißt zwar die / waschmaschine nicht zu bedienen / doch weißt du was sache ist ich / zum beispiel bin sache für dich / und das macht so sinn für dich wie / es mich zur sache macht also nur so / von sache zur sache

Autor: Aus Guttannen ist der Poet längst fortgezogen. Vor einem Jahr kam er nach , als künstlerischer Leiter eines 5 Theaters. Und plötzlich wird ihm die Zeit knapp, die Zeit zum Schreiben. Der Garten der Poesie, dieser liebliche Ort, muß warten.

12. O-Ton: Raphael Urweider. magdalena wenn / ich mich nun als sache fühlen darf / darf ich auch sagen dass du einige / sachen nicht zu bedienen weißt / das heißt für mich aber auch dass du / mich nicht zu bedienen wüßtest / wären alle sachen auch waschmaschinen / magdalena wir sind es nicht sagen wir / anderen sachen glücklich und / stehen zur verfügung bitte bedien dich

Autor: Wir bleiben in Bern, einen Moment noch, um Jürg Halter zu besuchen, Halter, Jahrgang 1980, einen der eigenwilligsten Autoren der jungen Generation.

13. O-Ton: Jürg Halter. Kling-Klang-Musik. Spiegelbild // Wenn ich die Augen schließe, / hörst du auf zu sein? // Lies mir von den Lippen. // Wenn ich lange schon schweige, / vernimmst du meine Stimme noch? // Lies zwischen meinen Zeilen. // Lausche weiter. [21“ Musik!]

Autor: Jürg Halter, Lyriker und Mundart-Rapper: Abgeklärt wirkt er in Text und Performance. Als habe er die Rätsel der Welt gelöst. Oder als sei er ein grübelndes Kind. Aber da ist viel Pose in der Erscheinung.

O-Ton: Jürg Halter. „Lausche weiter“ – KOPIEREN, WIEDERHOLEN! Lausche weiter. // Doch sag mir Spieglein an der Wand, wie lange noch / willst du mich eigentlich beweisen?

UNTER AUTOR EINBLENDEN: Musik. UNTERLEGEN.

Autor: „Ich bin der Bahnhof, in dem ich einst anzukommen gedenke“, sagt Halter. Und wir, wir machen uns nun auf den Weg. Im Uhrzeigersinn durch die Eidgenossenschaft. Von Bern nach Norden, an Basel vorbei, wo Urs Allemann wohnt, Jahrgang 48, Allemann, der Delirien zu Papier bringt, lautmalerische 6 Kleinkunstwerke. „Im Kinde schwirren die Ahnen“ heißt ein kleines Buch mit CD aus dem Jahr 2008.

14. O-Ton: Urs Allemann. 51 zuck zeh ess zung // a-zug ab gfahr ich b-zug nom / weg b- zug mich gnom fahr w-zug

Musik. AUS.

Autor: Der Schweizer Dichtergarten par excellence liegt im Mitteland - Region Freiamt, Kanton Aargau, dicht am Fluß Reuss. Bei klarer Sicht sieht man die Berge. Hier lebt Erika Burkart mit ihrem Mann Ernst Halter.

15. O-Ton: Erika Burkart. Burkart Vikarin 13.00 Es waren immer schon schöne Bäume da, es war die weite Landschaft, es war das Moor, die Reussebene, die Wälder ringsherum, und dann: die Stille draußen in der Landschaft, der Lärm in der Wirtschaft!

Autor: Ein Park, halb wild, sich selbst überlassen. Und in dem Park ein schweres altes Gemäuer. Das Haus Kapf. Einst Sommerresidenz der Äbte von Muri, später Wein- und Speise- Wirtschaft, vom Vater betrieben. Erika Burkart hat – von Reisen abgesehen – ihr ganzes Leben hier verbracht. In diesem Park, einem Abbild der Welt.

Zitatorin: Am Fenster, abends // Vor nachtgrünen Matten / unterwegs zu Wörtern, / Klartext / zu einem dunklen Gedicht. // Das innere und das äußere Land, / der Himmel flößt Gärten, Getrennte / gehen dort Hand in Hand. (Ortlose Nähe, 63)

Autor: Sie ist eine kleine Frau mit langem weißen Haar, 87 Jahre alt. Sie schreibt natur-philosophische Gedichte, die an Peter Huchel erinnern, an Johannes Bobrowski. Sie sammelt: Zeichen im Sand, Chiffren im Schnee, verwehte Laute, Flüster- 7 Vokabeln von Gras und Wind. Der Garten dringt in die Poesie, die Poesie drängt zurück in den Garten. Raphael Urweider sagt:

16. O-Ton: Raphael Urweider. 28.09 Ich glaube schon, daß für eine gute Beobachterin ein Garten genügt für ein Leben zum Schreiben.

Zitatorin: Vier höchste Lärchen / überstanden den Weststurm. / Ihr Pendeln im Licht. // Bussarde fliegen dort oben, öffnen / in weiten Spiralen / Sphäre um Sphäre. (Ortlose Nähe, 48)

17. O-Ton: Raphael Urweider. 27.45 Natürlich klingt das nach einem verwunschenen Ort, aber – ganz viel Weltliteratur entsteht eben regional, aus kleinen Geschichten, die sich beliebig auf die Welt übertragen lassen.

18. O-Ton: Erika Burkart. Burkart Vikarin 10.49 Niemand kann erklären, weshalb er Gedichte schreibt. Ich schweige, horche nach innen, stelle mir selbst die Frage, die ich nicht beantworten kann.

19. O-Ton: Raphael Urweider. 26.22 Ja, Erika Burkart ist sicher eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Schweizer Dichterin der letzten paar hundert Jahre – Erika Burkart hat eine Bescheidenheit auch in ihrem Schreiben, daß eben nicht ihre Person im Zentrum steht, sondern Umwelt, Natur, das hat mir immer gut gefallen an ihren Texten.

Zitatorin: Im Alter // Kürzer die Schritte, länger der Weg, / der Garten Eden geht ein / an Wipfeldürre und Käferbefall. // Nebel steht in der Hecke, / schimmert in Blüten der Schwarzdorn. // Zweistimmig singt / der Verführer Frühling, / die Hummeln brummen, / der Alte sagt, / so sei es schon immer gewesen. // Nie war es so. (Ortlose Nähe)

Autor: Im Frühjahr 2009 erschien wieder ein Band von Erika Burkart. „Geheimbrief“. Ein Gedicht in diesem kleinen Buch heißt „Verborgenheit“. Die Skizze zu einem Selbstporträt.

8 Zitatorin: Zu einer schwarzen Beere / ist mein Leben geschrumpft, / ist bitter, / hält sich verborgen, hoffend, / der Dunkle Vogel / finde sie nicht.

20. Atmo: Bahnhof Zürich, Ansage. UNTERLEGEN.

Autor: Nach Osten geht die Fahrt, über Zürich. Gelegenheit, zu grüßen, diesen herausragenden Erzähler der jüngeren Schweizer Vergangenheit. Auch Frisch schrieb Gedichte, gelegentlich.

Zitator: HIER RUHT kein großer ZÜRCHER denker und STAATSMANN oder REBELL weitsichtiger PLANER der freiheit usw. // kein berühmter flüchtling / wohnte hier oder starb ungefähr hier zum ruhm unserer vaterstadt. kein ketzer wurde hier verbrannt, hier kam es zu keinem Sieg. hier gedenke / unserer taten heute / dies denkmal ist frei.

Autor: Ein Text für einen Brunnen soll dies sein, ein Text für ein – wohl imaginäres – Ehrenmal.

Zitator: hier ruht kein kalter krieger / dieser stein, der stumm ist, / wurde errichtet zur zeit des krieges in VIETNAM. 1967.

Atmo: Bahnhof. AUSBLENDEN.

Autor: Ralph Dutli, geboren 1954 in Schaffhausen am Rheinfall, hat sich einen sehr eigenen Dichtergarten erschaffen, einen Ort der imaginären Begegnung. Dutli war lange in Paris daheim, seither lebt er in Heidelberg.

21. O-Ton: Ralph Dutli. 2.18 Poesie hat mit Magie zu tun, mit Eros zu tun, mit etwas Irrationalem – Beim Akt des Übersetzens bewege ich mich auf demselben Feld. Es geht immer um den magischen Akt der Poesie, um Sprachkunst. 9

Autor: Autor:  Dutli hat Dichter aus fernen Epochen, fernen Räumen übertragen. Russische Dichter wie Marina Zwetajewa und Ossip Mandelstam und Dichter aus dem England des 17. Jahrhunderts.

22. O-Ton: Ralph Dutli. 3.12 Ich glaube, es gibt eine erste, eine spontane Begegnung mit einem poetischen Text, ein spontanes Verblüfftsein, Überwältigtsein, Überrumpeltsein von der bestürzenden Schönheit eines fremden Texts.

Autor:  In Deutschland ist Ralph Dutli fast nur als Übersetzer bekannt. Aber - er schreibt auch selbst.

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Musik. UNTERLEGEN.

Zitator: da blätterte ich plötzlich träumend im Lexikon / der untergegangenen Sprachen / Burgundisch und Zimbrisch sind weg / das Vandalische klirrt noch deutlich aus / demolierten Bushäuschen reklameblind / das Etruskische soll noch weiterleben / in der Person und im Element // die Scheintoten sind besonders vital / von den künstlich revitalisierten gefällt mir / Rapa—Nui die Sprache der Osterinsel / jetzt wo mich so eine Rebeninsel / kurzzeitig bewohnt.

Autor: Vor wenigen Jahren lebte Dutli monatelang auf einem süddeutschen Weingut, in der Stille eines Herrenhauses. Er schrieb an einer Mandelstam-Biographie. Doch der Weinberg - so erzählt es der Dichter - begann ihm „Dinge ins Notizbuch zu kritzeln“. Die „Rebeninsel“ okkupierte seine Verse.

Zitator: das Phönizische hat mir deutlich das / Alphabet verpaßt / die aussterbenden Sprachen heißen / seltsam 10 klangfreudig als wollten sie / im Abschwappen noch einmal auftrumpfen / in aparten Zungen / wie Pankararé und Patax- Hahahai // Da erfinde ich langsam-neu / das Zungige das Zerrige / zimtsinnige Sprache (die zarte Asche) / o Sprache zitternde Zicke / ich versuche sie am Zaum deiner Zunge / in den Weinberg zu stammeln.

Musik. UNTER AUTOR AUSBLENDEN.

Autor: Wir sind wieder unterwegs, unterwegs nach St. Gallen. Von den Hügeln am Stadtrand sähe man den Bodensee, Deutschland im Dunst. Die Grabenhalle im Stadtinnern – eine alte Schule – ist ein guter Ort für Poesie, für Poetenwettstreit, Poetry Slam; mit etwas Glück erlebt man hier die Besten der Szene.

REGIE : SCHNIPSEL AUS 2-3 STÜCKEN MISCHEN, VERSCHRÄNKEN. Ca. 1’-1’30

23. O-Ton: Poetry Slam. Collage.

Musik. UNTERLEGEN.

Autor: Wir reisen weiter, in einem großen Bogen. Vom Bodensee südwärts und dann nach Westen, immer den Rhein hinauf. Linker Hand liegen Vorarlberg, Liechtenstein, später Graubünden. Dann geht es hinauf, über die Berge – via Andermatt über den Oberalppaß und weiter zum Furkapaß, auf dem schon Goethe gestanden. Serpentinen hart am Abgrund, die Felsen schroff und kahl. Schon sind wir im Wallis, im Südwesten der Schweiz, in der Heimat eines eigensinnigen Künstlers. Musik. AUS.

24. O-Ton: Pierre Imhasly. Halb Mundart. 2 Ich bin der Pierre Imhasly, komme von Visp, und ich schreibe. Eigentlich mach ich nur das. Wobei ich das Wort Poesie ganz groß sehe.

Autor: Pierre Imhasly, Jahrgang 1939, geboren in einem Städtchen zwischen Rhonegletscher und Matterhorn. Mit Leidenschaft hat er angeschrieben gegen Mißstände in der 11 Heimat, gegen den „Kult der Miniatur“ und das „Hehlerland, lieb Krämerland“. Mit dieser Leidenschaft holt er sich die Welt ins Wallis, er schaut über den Rand der Berge.

25. O-Ton: Pierre Imhasly liest. 46 In hellen und in dunklen Kammern leben wir, sie sind uns auf die Seele gebunden. Mönche vom Berg sind wir. Eine Hand, unsichtbar, läßt uns aufrecht über die Erde gehen, jene eine, kleine Erde, der unser Sinnen, Trachten entsproß. Da wollen wir tanzen, wie diese kleinen Bäche, die große Flüsse machen. Rebstichel sind wir. Die Welt... – In der Welt herrscht Krieg. Tod herrscht. Schneller, als man die Zeitung aufgeschlagen hat, geht jetzt Zivilisation unter.

Autor: Mit derselben Leidenschaft feiert Imhasly in seinen jüngsten Werken die engere Heimat, in ausufernden Poemen.

26. Atmo: Zug fährt . ALS TEPPICH UNTERLEGEN.

Autor: Eine kleine rote Bahn fährt ein Tal hinauf, hinein in eine vertikale Welt. Wir sehen Weingärten an Steilhängen, geduckte Häuser, die Scheunen schwarz, wie verbrannt. Weiß leuchten die Kapellen und weißer noch die Gletscher: Monte Rosa, Castor, Pollux, Breithorn.

27. O-Ton: Imhasly. Und dahinter, ganz dahinter, allgegenwärtig wie ein Gott , unser großer Berg. Der mit dem Himalajaformat. An dem alles abscheint.

Autor: Eine Doppelfuge hat Imhasly seinem Berg gewidmet, 180 Seiten stark. Titel: „Maithuna/Matterhorn“. Merkwürdiger Stabreim. Der Name des Berges ist längst ein Klischee, aber das erste Wort, „Maithuna“? Ein Begriff aus dem Sanskrit, er umschreibt den „sakralen Koitus“, einen Liebesakt, der Eros und Thanatos verbindet.

28. O-Ton: Pierre Imhasly liest. 44 12 Der Wind aus dem Westen, auf dem Gipfel empfangen, roch weiß. Weiß auf der Zunge, das Reinste war’s, das Schweigen des Schweigens ist es. Der Tod lügt, vielleicht. Götter schicken den Donner, vielleicht. Glas oder Eis, oder auch die Wahrheit klirrt.

Autor: „Maithuna“ – in Imhaslys Poem steht das Wort für Ekstase. Und „Matterhorn“ als Chiffre für den Tod. Eine Pyramide, 4478 Meter hoch, was für eine Metapher.

29. O-Ton: Pierre Imhasly. So ein phantastischer Berg, und es ist abgegriffen, alles, was darüber geschrieben worden ist, so verkitscht. Das Matterhorn so beschreiben wollte ich auch nicht. Ich wollte ein Matterhorn erfinden. [Atmo: Zug. AUS.]

30. Atmo: Ansage im Zug. In wenigen Minuten treffen wir in Zermatt ein. [Englisch, Französisch.]

31. Atmo: Zermatt. Stimmen. Pferde, Glöckchen. ALS TEPPICH UNTERLEGEN.

Autor: Pierre Imhasly ist am Ziel, zwischen Pagen in Livree und glöckchengeschmückten Kutschen. Zermatt. Näher mag der Dichter an seinen Berg nicht heran, Imhasly, schlank und hochgewachsen, markante Nase, weißes Haar. Verschlossen wirkt er, wie sein Werk. Ein Werk mit steilen Pfaden in den Fels hinein, mit Graten, Matten, Klamm und Firn. Rauh, doch von eindringlicher Schönheit. So rauh wie das Wallis. Und so schön wie jener eine Gipfel, der plötzlich hinter allem hervordrängt.

32. O-Ton: Pierre Imhasly liest. Streng gefügt, kompakter Block, worum es geht, Westwestwand, an deren Fuß sie stehen, drängen, kein Steinschlag, ein guter Sechser unter Kletterern, unbegangen, außer von einer rankenden Rose, die in der Mittelachse eine erste Länge geschafft hat, von wo sie nicht mehr zurückkam.

Atmo: AUS. Musik. UNTERLEGEN. 13

Autor: Man sollte - von Zermatt aus - noch weiter nach Westen reisen, tiefer ins Wallis, über den „Röstigraben“ – jene Kulturgrenze, die die Deutschschweiz vom Welschland trennt. Im Garten der Schweizer Lyrik spricht man viele Sprachen. Man sollte zumindest einen Gruß hinüberschicken zu , einen der großen Dichter französischer Zunge.

Zitator: Kleiner unbekannter Bahnhof im Frühling // Ließ ich ziehen das verheißene Land? // Die Reisenden sind nackt und trunken und müd / und haben Heimweh. / Die Felder gleichen sorgenvollen Gesichtern. / Das Morgengrau schreibt rasch / mit einem Schattenstab. / Ein Grünfink fliegt auf. / Hinter dem Zaun meines Weinbergs hör ich den Frühling. / Die Kreuzhacke verhält ihren Atem: die Knospen / sind zerbrechlich wie Glas.

Autor: Maurice Chappaz, Jahrgang 1916: im Januar 2009 ist er im Wallis gestorben.

Zitator: Ich öffne die Lippen meines Bergs. / Ich streite mit dem ersten Kelch von Düften, / sie haben den Schnee zersetzt, / die Schweinedüfte. / Dieser Geschmack saurer Äpfel, / dieser Geruch von fauligem Holz, von Humus und Wind, / Geruch vom Bauch einer Mutter / und von eines Baums treibendem Blatt. / Die Hügel sind hervorgespritzt in den Zitzen, / das Moos ist erlöst.

Musik. AUS.

Autor: Wir fahren zurück Richtung Furkapaß und weiter, nur ein Stück, bis zur Grimselpaßhöhe. Im Hochland stoßen hier drei Kantone aneinander, Uri, Wallis und Bern. Im Tal liegt das Dorf Guttannen. Hier soll die Rundreise zu Ende sein: in einem Garten im Berner Oberland, dem Kindheitsgarten des Dichters Raphael Urweider. Eine Insel ist dieser Garten oder ein Kessel, von Felsen umstellt. Hinter den Bergen liegt ein 14 anderer Kontinent, Europa. Mag er das, Urweider, wenn man ihn einen Schweizer Dichter nennt?

33. O-Ton: Raphael Urweider. 37.59 Nein, ich bin ein Schweizer vom Paß her und schreibe in deutscher Sprache.

Autor: Friedrich Dürrenmatt, der große Alte, mochte nicht gern hinüber schauen und nicht hinüber denken.

Zitator: Überhaupt lasse man mich ein wenig mit diesem Frankreich in Ruhe / Mit diesem Deutschland und England, mit all diesem ewigen Europa...

Autor: Die jungen Poeten sind unverkrampft. Sie rechnen und wägen, was es wohl bedeute, auf einer von Felsmauern umstellten Insel zu leben, in diesem seltsamen Garten, in unruhiger See.

34. O-Ton: Raphael Urweider. 37.36 Wenn die Schweiz ein Garten ist, dann vergessen die Schweizer, daß man einen Garten auch bewässern muß und daß er von außen Luft braucht, sonst geht der Garten ein. Also es ist vielleicht eher ein Treibhaus, die Schweiz. (Lacht.)

Autor: Treibhaus Schweiz: Urweider vermeidet Überhitzung. Durch überraschende Aufbrüche. Stationen, Züge, Anzeigetafeln gehören zu seinen Motiven. Fernweh stillt er durch Reisen im Kopf. In einem Zyklus hat er einigen Weltenbummlern ein Denkmal gesetzt, Kolumbus etwa oder Magellan.

MUSIK UNTER AUTOR EINBLENDEN.

Autor : „Bleiben ist gut, ausreißen ist gut“: So formuliert der Bündner Autor das ambivalente Verhältnis zum eigenen Land. Und Urweider?

15 35. O-Ton: Raphael Urweider. 39.32 / 40.30 Wie soll ich sagen? Die Vorteile der Schweiz erfährt man schon, indem man viel reist. Aber es ist nicht so, daß ich jetzt ein absoluter überzeugter Schweizer bin – Ich bin nicht geographisch auf die Schweiz angewiesen.

Autor: Der Schweizer Dichter liebt, was er nicht hat. Große Städte etwa, Städte wie Paris, Berlin. Der Schweizer Dichter ist auf die Schweiz nicht angewiesen. Vielleicht aber auf die Motive, die dieses seltsam enge offene Land zu verschenken hat. Wo sonst in der Welt ließe sich so trefflich über Kleinbauern und Schafe meditieren?

UNTER O-TON EINBLENDEN: Musik.

36. O-Ton: Raphael Urweider. 15.22-16.53 im vergleich zu den weißen schafen sind die braunen schwarz und stehen feucht wie schwämme im nebel. die weißen schafe sind gelblich im vergleich zum nebel und kauern im vergleichsweise grünen gras. sie käuen wieder. die kinder der kleinbauern wollen die schafe nicht scheren, sie mögen feuchte wolle nicht. in grünen kleidern aus grobem stoff gehen sie über vergleichsweise feine wiesen. sie wollen ohne die im nebel feuchten schafe wieder nach hause. die feuchten schafe fressen gras und lecken den kindern die vergleichsweise warmen hände. die kleinbauern stehen im türrahmen und rufen laut nach den kindern die durch den vergleichsweise leisen nebel mit ungeschorenen schafen den heimweg antreten

Musik. HOCHZIEHEN.

- ENDE –