02 Text Hochhaus Und Traktor E-Diss
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2012 Hochhaus und Traktor : Siedlungsentwicklung in Graubünden in den 1960er und 1970er Jahren Maissen, Carmelia Abstract: Abstract Die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts haben für Graubünden einen baulichen, strukturellen und ökonomischen Wandel gebracht, der mit seinen Ausmas- sen als auch seiner Geschwindigkeit neue Dimensionen für den Lauf der Dinge brachte. Offensichtlich zeigte sich dies in der Siedlungsentwicklung, die neuen, heterogenen und widersprüchlichen Vorstellungen ausgesetzt war, in denen sich mythische Bilder, reale Nöte und Bedürfnisse, pragmatische Lösungen und tiefgreifende Umbrüche überlagerten. Während die Stadt partiell ruralisiert wurde, fand in den Dörfern durch den Tourismus eine saisonale Verstädterung statt. An den planungsgeschichtlichen Geschehnissen rund um diese Entwicklung lassen sich die damaligen Argumentationslinien und Denkfiguren im Spannungsfeld von Theorie und Praxis sowie von Fachwelt und Öffentlichkeit nachvollziehen. In Chur entstand die Lacuna, eine Hochhaussiedlung im Geist der Neuen Stadt, wo die Grenzen zwischen Stadt und Natur aufgeweicht werden sollten. Handkehrum sollten in den Ferienorten Grossprojekte mit städtischer Dichte eine Antwort auf den neuen touristischen Ansturm des Mittelstandes bilden. In der Kritik an diesen Projekten äusserte sich die grundlegende Dialektik des Tourismus; sei es auf der Seite der Einheimischen und Touristiker, welche trotz der willkommenen Beteiligung am wirtschaftlichen Gewinn sich der Am- bivalenz der touristischen Präsenz in ihren Dörfern bewusst waren, sei es auf der Seite der Gäste, welche die Ferienorte mit wider- sprüchlichen Bedürfnissen und unterschiedlichsten Erwartungen konfrontierten. Ein Umdenken zugunsten eines nachhaltigeren Umgangs mit Boden und Landschaft fand zu Beginn der siebziger Jahre statt, als der Rückgang der Hochkonjunktur ins Bewusstsein holte, dass weder Wachstum noch Fortschritt unerschöpfliche Prozesse waren. In diesem Klima, das eine Mischung aus kritischem Rückblick, wirtschaftlicher Unsicherheit und fehlendem Zukunftsglaube war, erwachte das Bewusstsein für die eigene Geschichte und das Interesse an den alten Siedlungen, die als noch intakter Lebensraum betrachtet wurden. Abstract The 20th Century decades of the Sixties and Seventies saw constructional, structural and economic change in the Grisons that, with their scale, proportions and rapidity, brought new dimensions to the course of events. This was clearly evident in the development of settlements driven by new, diverse and contradictory ideas representing an overlapping of mythical images, actual needs and wants, pragmatic solutions and profound upheavals. While the city was partially ruralised, tourism gave rise to seasonal urbanization in the villages. The contemporary lines of argument and thought patterns that stood at the interface between theory and practice and between professionals and the public are revealed through the history of the planning events that surround these projects. In Chur, there arose the Lacuna, a high-rise development in the spirit of the “Neue Stadt”, where the boundaries between city and nature should merge. On the other hand major projects with urban density would be developed in the tourist areas in response to the new tourist rush of the middle class. The criticism of these projects expressed the fundamental dialectic of tourism, be it on the side of the locals and tourist business who, despite their welcome participation in commercial profits, were aware of the ambivalence of the tourist presence in their villages, or be it on the side of guests who presented the resorts with conflicting needs and diverse expectations. A change in thinking in favour of a more sustainable management of land and landscape took place in the early seventies, when the waning of the economic boom brought the realisa- tion that neither growth nor progress were inexhaustible processes. In this climate, it was a mixture of critical retrospection, economic uncertainty and a lack of faith in the future that awakened awareness of one’s own history and the heritage of the old settlements, which were appreciated as extant and intact habitation. 2 Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-164176 Dissertation Published Version Originally published at: Maissen, Carmelia. Hochhaus und Traktor : Siedlungsentwicklung in Graubünden in den 1960er und 1970er Jahren. 2012, University of Zurich, Faculty of Arts. 2 >Ài>Ê>ÃÃi " 1- 1 /,/", -i`Õ}ÃiÌÜVÕ}ÊÊÀ>ÕLØ`i Ê`iÊ£ÈäiÀÊÕ`Ê£ÇäiÀÊ> Ài HOCHHAUS UND TRAKTOR Siedlungsentwicklung in Graubünden in den 1960er und 1970er Jahren Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich vorgelegt von Carmelia Maissen von Disentis/Graubünden Angenommen im Frühjahrssemester 2012 auf Antrag von Prof. Dr. Philip Ursprung und Prof. Dr. Angelus Eisinger Castrisch, im Juli 2012 INHALT! Einleitung 7! Im Umbruch 9! Fragestellung und Interesse 10! Forschungsansatz 14! Gegenstand der Betrachtung 15! Forschungsstand 17! Quellen 20! Aufbau 22! Die Neue Stadt in den Bergen 25! Chur in schwindelerregendem Wachstum 27! «Neue Stadtbaukunst» durch Wohnungsnot 29! Theoretische Weichenstellungen 31! Pragmatische Praxis 37! Bauen und Ordnen 42! «Unarchitektonische» Verkehrsprobleme und eine Versuchsanordnung 44! Die Einführung der Ausnützungsziffer 49! Sonderfall Hochhaus 52! «Graubündens erster Hochbau» (1956) und das Gestle-Haus (1956–1957) ! Verwaltungsgebäude Untertor (1952–1959) ! Solariapark (1957–1964) ! Das Hochhaus: «halb erwünscht und halb befürchtet» 61! Vergangenheit und Moderne 65! Lacuna: Koexistenz von Natur und Stadt 68! Das Einkaufszentrum als Agora 70! Traktor und Hochhaus 76! Diaspora der Bauern oder Negation der Stadt 81! Imponierende Skyline 84! Das Hochhaus als Therapeut 87! Licht, Luft und Öffnung 87! Schwesternhaus Beverin (1957–1960) ! Regionalspital Ilanz (1957–1960) ! Diagnostikzentrum Ilanz (1968 –1972) ! Therme Vals (1960–1970) ! Altersheim S. Giusep Cumpadials (1970–1973) ! «Gulliver unter den Riesen» 103! Malaise von Stadt und Land 107! Unwirtlichkeit der Städte 109! Babylonische Landschaft und missliebige Denkmäler 110! Der städtische Lebensraum in der Kontroverse 113! RhB-Parkhaus (1975–1977) ! Gäuggeli-Intiative (1976) ! Hotel City (1958–1960) und Arcas (1968–1978) ! Chur – deine Stadt! (1977) ! Abgesang auf die Neustadt oder der Paradigmenwechsel 129! Geplante Heimat – Die Suche nach der Dorfgestalt 131! Aufwachen aus der «gestalterischen Ohnmacht» 132! Fehlendes Planungsrecht und fehlende «Grundvorstellungen» 134! Geschichte als Lehrmeisterin 137! «Tarn- und Anpassungstheorien» – Ansätze und Diskussionen 142! Wohnbauwettbewerb Celerina (1973) und Quartierplan Sils i.E. (1972) ! Eine «offene Planung» für Scuol (1979/1980) ! Fallbeispiel Tujetsch (1979) ! Fallbeispiel Vicosoprano (1980) ! Anpassung als Modernisierungsstrategie und ein Generationenwechsel 159! Alpine Retorten 165! «Vom Pomp zur gemütlichen Behaglichkeit» – die Industrialisierung des Tourismus 167! «Aktion Meili» 169! Hotelerneuerung als «Anpassungstechnik» 171! Kurhaus Lenzerheide ! Hotel Adula, Flims-Waldhaus ! Hotel Hauser, St. Moritz ! Tourismus im dialektischen Spannungsfeld 177! Retortenstadt Avers – «Modellfall einer Projektierung mit Hindernissen» 181! Voraussetzung: «Zuallererst die Strasse» 183! Verhandlungen 185! Das architektonische Projekt 190! «Leider» oder «glücklicherweise» gescheiterter Modellfall? 196! Die neuen Staumauern 199! Soleval – ein «nicht alltäglicher» Ferienort in der Lenzerheide 200! Im Fadenkreuz der Kritik 206! Erholung in der Retorte: drei Ansätze einer Analyse 211! Das «Recht auf Schnee» für alle 213! Feindbilder Planung und Massentourismus 214! Das Künstliche zur Steigerung des Natürlichen 216! 4 Zusammenfassung und Fazit 221! Von der «Saus-und-Braus-Epoche»... 223! ...zur «erzwungenen Denkpause» 228! Dank 231! Anhang 233! Ungedruckte Quellen aus Archiven und Nachlässen 235! Gedruckte Quellen und Literatur 236! Abkürzungsverzeichnis 255! Lebenslauf 257! Abbildungen 259! 5 EINLEITUNG Im Umbruch Galt Graubünden Ende des Zweiten Weltkrieges noch als Armenhaus der Schweiz, ver- änderte sich der Bergkanton in den folgenden Jahrzehnten rasant. Begleitet und bedingt durch einen anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung wandelte sich die Gesellschaft grundlegend. Die Öffnung des Tourismus gegenüber dem breiten Fremdenverkehr, der bis anhin den Reichen vorbehalten war, forcierte die Emanzipation und Liberalisierung Graubündens zusätzlich.1 Mit diesem Strukturwandel ging eine intensive Bautätigkeit ein- her, die in Graubünden ein vielerorts über Jahrzehnte hinweg gleich gebliebenes Sied- lungsbild sowie die Landschaft grundlegend veränderte. Einen Eindruck davon, wie die neuen Bauten und von aussen kommenden Einflüssen innert kurzer Zeit die Dörfer veränderten und dieser Wandel wahrgenommen wurde, lie- fert eine Schilderung aus dem Jahr 1963. Sie stand einleitend in einer Ausgabe der Bündner Kulturzeitschrift Terra Grischuna zum Thema «Der Baumeister und sein Werk»: «Wie wildwuchernde, fremdländisch anmutende Pflanzen, deren Samen vom Winde ir- gendwohin getragen wurden und dort Wurzeln bilden konnten, entstanden, losgelöst vom langsam gewachsenen Dorf, unbeschwert von irgendwelcher Tradition, da und dort neue Bauten, die bald Nachbarn erhielten und so zu Dorfsatelliten wurden,