10.3726/92141_1 4

154

Besprechungen

JÜRGEN GOLDSTEIN Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte (Naturkunden, Bd. 3), Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013, 310 S.

Die 16 Essays von JÜRGEN GOLDSTEIN – Philoso- komponiert sind. Alexander von Humboldt ver- phieprofessor in Koblenz-Landau – rücken Erfah- dichtet diesen Gedanken in Kosmos zu der Forde- rungsgeschichten der Natur in ein Verhältnis zu rung, „die Natur muß auch dargestellt werden, wie den sich wandelnden Wahrnehmungs- und Dar- sie sich im Innern des Menschen abspiegelt.“ stellungsformen von Reiseautoren. Das Panorama Als Petrarca im April 1336 mit seinem Bru- reicht von Petrarcas Besteigung des Mont Ven- der den höchsten Berg der Gegend besteigt, stößt toux (1336) oder Kolumbus’ Landung in Ameri- er auf Unverständnis; so etwas ohne konkreten ka (1492) über Alexander von Humboldts legen- Zweck, auf der bloßen Suche nach interesse- däre Expedition auf den Chimborazo (1802) bis losem Wohlgefallen an Höhe und Aussicht zu zu Handkes Wanderung auf das Bergchen Sainte- unternehmen, scheint zu seiner Zeit abwegig. Victoire (1979) oder Messners Bezwingung des Ein alter Hirte versucht sie gar als „Hüter der

Mont Everest (1980). Ausdrücklich geht es nicht Schwelle“ (S. 29) von ihrem Vorhaben abzuhal- um Rekorde, Pionierleistungen, Entdeckungen, ten. Doch auf dem Gipfel ist das Erlebnis in sondern um die Prägnanz von Erfahrungen, ihre Raum und Zeit überwältigend. Wie Petrarca sich sprachliche Verfertigung und die „Erzählung als über Augustinus hinwegsetzt, so Kolumbus über Wissensform“ (S. 24). Damit ist das Buch auch die mit den Säulen des Herkules symbolisch mar- für die Literaturwissenschaft, insbesondere für den kierten Grenzen der bekannten Welt. Obgleich

Themenschwerpunkt dieses Heftes, von Interesse. er, stetig nach Westen segelnd, ins Ungewisse und

Goldsteins Ausgangspunkt ist der von Augus- vielleicht Rückweglose aufbricht, halten sich sei- tinus im 10. Buch der Confessiones formulierte Ge- ne Beschreibungen auch an Gelesenes; so erwähnt gensatz äußerer und innerer Beobachtungen, er schauerliche und wunderliche Kreaturen, die letztlich die Entdeckung des inneren Menschen er in der Neuen Welt gar nicht gesehen haben mit dem ganzen Reichtum seiner Subjektivität: kann. „Und da gehen die Menschen hin und bewun- Ganz anders fallen die genau protokollierten dern die Höhen der Berge, das mächtige Wogen und vor allem methodisch hochreflektierten Auf- des Meeres, die breiten Gefälle der Ströme, die zeichnungen des Weltumseglers Georg Forster

Weiten des Ozeans und den Umschwung der von Tahiti (1773) aus. Goethes Besteigung des

Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.“ Kaum Brocken im Winter 1777 erweist sich hingegen zufällig taugen alle genannten Reiseziele zur Er- eher als melancholische voyage interieur. Unter fal- fahrung des Erhabenen – Gipfel, Meere, Hori- schem Namen nähert er sich dem unglücklichen zonte, Wasserfälle sind dafür klassische Orte der Friedrich Victor Leberecht Plessing und erkennt

Natur. Augustinus geht es also nicht unbedingt in dessen ‚Krankengeschichte‘ Facetten des eige- um eine völlige Absage an die Augenlust (concupi- nen Selbst. Lichtenberg wäre gerne wie Forster scentia oculorum), wie Petrarca meinte, sondern um um die Welt gesegelt. Als „Mittelländer“ ist er eine Profilierung des homo interior gegen den homo wie besessen von der Entgrenzung des Meeres; viator. Genau dieses Zusammenspiel steht im Mit- der Anblick eines Dreimasters stärkt ihn „bis in telpunkt von Goldsteins Essays, die geschickt aus die Wurtzel der Seele“. Zwei Schiffsreisen führen Originalzitaten und erläuternden Deutungen Lichtenberg nach Helgoland (1773 und 1778) und Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 155 bestätigen seine Überzeugung von der See: „Es ist nen ausgelöst, die sich in der Realität nicht so kein größerer Anblick in der Natur.“ gefahrlos einstellen wie etwa im Theater Schil- Besonders erhellend ist das Kapitel über Dar- lers. Deshalb ist das Schlusskapitel über den jun- win, der sich als Student der Medizin, dann der gen Hochschulabsolventen Chris McCandless Theologie und Mathematik in Cambridge un- konsequent, der alles hinter sich lässt und sich als endlich langweilte. Erst der lebendige Unterricht ‚Alexander Supertramp‘ bis nach Alaska durch- des Botanikers Henslow draußen in der Natur schlägt. Die Mischung aus Abenteuer, Nomaden- weckt sein Interesse an Wissenschaft. Als er 1831 tum und Selbstüberschätzung mag man naiv und zu einer Weltumsegelung aufbricht, führt er zwei gefährlich nennen, sie zeugt aber von einem Ver- prägende Bücher mit sich: Herschels Naturphilo- langen nach Selbstüberschreitung, das auch die sophie und Humboldts Reise in die Äquinoktial- anderen vorgestellten Reisenden prägt. McCand- gegenden des neuen Kontinents. Wie für diese less stirbt nach 112 Tagen in Alaska an Auszeh-

Vorbilder scheint Darwins Aufmerksamkeit nichts rung und giftigen Pflanzen. Ein durch Schmelz- zu gering, selbst auf dem Ozean sammelt er Saha- wasser angeschwollener Fluss versperrt ihm den rastaub von den Segeln des Schiffes in einem Rückweg in die Zivilisation. Sein Tagebuch fand Glasröhrchen, um darüber nachzudenken. In den sich in einem ausgedienten Bus, der McCandless

Chilenischen Kordilleren gelangt er über die be- auf einem zugewucherten Trail 20 Meilen von rechtigte Frage, wie Kieselsteine und Muscheln der nächsten Straße entfernt als letzter Aufenthalt in derartigen Höhen ohne große Flüsse oder Mee- diente. Das Freiheitspathos der Aufzeichnungen re entstehen konnten, zu Ideen über ungeheure ist am Schluss großer Ernüchterung gewichen: „Zu Zeiträume der Geologie, aus denen letztlich seine schwach, um hier wegzukommen. Sitze in der Evolutionstheorie hervorgeht. Goldstein nennt Falle.“ solche Überlegungen treffend „eine kopernikani- sche Wende der Anschauung unter dem Aspekt Alexander Košenina der Zeit“ (S. 160) oder eine „Revolution der Den- Leibniz Universität Hannover kungsart“ (S. 166). Deutsches Seminar Von solchen geistigen Durchbrüchen und küh- Königsworther Platz 1 nen Gedanken im Angesicht entgrenzender Na- D–30167 Hannover turerfahrungen erzählen auch die übrigen Essays.

ADOLF H. BORBEIN, MAX KUNZE (Hrsg.)

Johann Joachim Winckelmann: Statuenbeschreibungen, Materialien zu „Geschichte der Kunst des Alterthums“, Rezensionen, bearb. v. Lilian Balensiefen, Eva Hofstetter, Max Kunze, Manfred Wenzel. Mit Beiträgen v. Balbina Bäbler, Adolf H. Borbein, Klaus-Peter Goethert und Axel

Rügler ( Johann Joachim Winckelmann. Schriften und Nachlaß, hrsg. v. der Akademie der Wissen- schaften und der Literatur Mainz, dem Deutschen Archäologischen Institut und der Winckelmann- Gesellschaft, Bd. IV,5), Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2012, 488 S.

Der vorliegende fünfte Teilband zu Winckelmanns ler (IV,2), den Allgemeinen Kommentar (IV,3)

Geschichte der Kunst des Altertums [GK] versammelt sowie Winckelmanns Anmerkungen zur Geschichte die Vorarbeiten sowie Materialien zur Entstehung der Kunst des Alterthums (IV,4) und schließt damit des Werkes und zur Wirkung von dessen erster die Edition der GK im Rahmen der Ausgabe der und zweiter Ausgabe. Damit ergänzt er den Text- Schriften und des Nachlasses ab. Der Leser hält mit band (IV,1), der die erste und die zweite, postume diesen fünf Bänden ein Kompendium dessen in

Ausgabe (Dresden 1764 bzw. Wien 1776) parallel Händen, was Arbeit an einer Geschichte der Kunst abdruckt, den zugehörigen Katalog der Denkmä- des Alterthums im 18. Jahrhundert hieß. 156 Besprechungen

In chronologischer Folge finden sich die Ent- Bedeutung bei so geringem Umfang [. . .]. In der würfe von Winckelmanns Beschreibungen der Geschichte der deutschen Sprache und des deut-

Statuen im Belvedere-Hof des Vatikan, die als schen Stils gehört der Apollo-Beschreibung ein „Keimzelle“ seiner „Kunstgeschichte“ gelten kön- Kapitel wie in der Kunstgeschichtsschreibung und 3 nen (Vorwort, S. VII), ergänzt durch die jeweiligen der Beschreibung von Kunstwerken.“ Ursprung Druckfassungen und die zugehörigen Notizen und und Entstehung nicht nur dieses Kapitels werden

Exzerpte, die Winckelmann antiken Schriftstel- hier anschaulich. lern wie auch zeitgenössischer Fachliteratur ent- Um ein ästhetikhistorisches Verständnis von nahm. Beigegeben sind diesen Materialien Text- Sprache und Stil von Winckelmanns Beschrei- fragmente aus dem Florentiner Nachlassheft, die bungen zu gewinnen, bleibt die exemplarisch auf zur Erweiterung einer verlorenen frühen Fassung die Apollo-Beschreibungen bezogene Arbeit von der GK bestimmt waren und als einzige erhaltene Zeller grundlegend. Die aktuelle Edition bietet

Manuskripte zu Winckelmanns Hauptwerk Auf- zudem Aufschlüsse über die Genese von Winckel- schluss über die Werkgenese gewähren. manns Systematik und die Entwicklung seines

Die mühsam von Detail zu Detail schreitenden Sprachsensoriums im Verhältnis zu seinen fort- Entwürfe zu den Statuenbeschreibungen verdeut- schreitenden Einsichten an verschiedenen Statuen lichen Winckelmanns Arbeit an der Sprache in (neben Torso und Apoll u. a. am Laokoon und der unablässiger Rückversicherung in der Betrachtung „Sogenannten Cleopatra“) sowie in allen Detail- – die Druckfassungen präsentieren die hieraus re- fragen und deren wissenschaftshistorischer Ver- sultierende schlackenlose, um die Erfassung des ortung. Schönen bemühte Sprache. „Es ist klar, daß das Einen besonderen Gewinn bedeutet es, dass nun

Eigentliche, worum es Winckelmann in der Apollo- aus dem Nachlass Winckelmanns Collectanea ad beschreibung zu tun ist, von jedem verstanden wird, Historiam Artis [C.] überschriebene Exzerpte ediert der deutsche Sprache zu lesen versteht. Es ist ebenso sind und damit eine zentrale Quelle seiner GK der klar, daß sie in Einzelnem nicht oder nicht mehr Forschung erschlossen wird. Die C. haben in der verständlich ist. Schon darum ist ein Kommentar jüngeren Winckelmann-Forschung verstärkt In- vielleicht nützlich.“1 Die Feststellung Hans Zel- teresse gefunden,4 werden aber hier erstmals als lers aus dem Jahre 1955 gilt knapp 60 Jahre später Konvolut veröffentlicht. Der Kommentar hebt die umso mehr, insbesondere für Winckelmanns Ex- Sorgfalt der Einträge, den Aufbau der Spaltenan- zerpte und Notizen. Der vorliegende Kommentar ordnung samt Nachträgen sowie Winckelmanns leistet hier Mustergültiges. Er ist ebenso fundiert sachliche Systematik für eine leichte Nutzbarkeit wie präzise und zugänglich, so dass die Ausgabe der Exzerpte hervor. Zahlreiche „Abhakungen“ ausdrücklich auch Studierenden empfohlen sei. Winckelmanns bezeugen die Verwendung für die

Die Ausgabe macht die Entwicklungsprozesse Anmerkungen über die Baukunst der Alten (1762), die von Winckelmanns Stilistik samt ihren konzeptu- GK und deren zweite Auflage (S. 445 ff.). Die C. ellen Implikationen nachvollziehbar und verortet unterteilen sich in eine kleinere Sammlung von sie historisch. Insbesondere im Zusammenhang mit diversen, offenbar als besonders relevant erachte- den exakten Querverweisen auf den Katalog der ten Exzerpten und eine zweite, umfangreichere

Denkmäler [KD] und die dortigen Kommentare Sammlung, die sich auf wenige Textquellen stützt erhält der Leser neben Informationen über die und eine „thematisch-sachliche Systematisierung Objekte, ihre Provenienz und Deutungsgeschich- der Einträge“ (S. 448) aufweist, mit Hauptaugen- te zugleich jeweils präzise Bibliographien mit merk auf der griechischen Antike. Die Auswahl Konkordanzen zu relevanten Studien und Editio- reicht von Realien über Denkmal-Typen und nen.2 Sprachhistorische Bedeutungsnuancen wer- geographische Besonderheiten bis hin zu besonders den durch Referenzen aus dem Adelung’schen zahlreichen Zeugnissen zu den historischen Be- und dem Deutschen Wörterbuch, aber auch aus dingungen u. a. der griechisch besiedelten Regio-

Langens Wortschatz des deutschen Pietismus (z. B. für nen unter römischer Herrschaft, zum kulturellen die „Entzückung“, S. 384) erschlossen. Zeller be- Wert der Künste bei den Griechen sowie zu deren merkte über Winckelmanns Apoll-Beschreibung, „genuine[n] Wesenseigenschaften“ (S. 450). Auch es gebe „wenige Texte deutscher Prosa von solcher findet sich in den C. eine Vielzahl von Exzerpten Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 157

zur Architektur, die in der GK keine systematische sprachige Exzerpte werden benutzerfreundlich auf Darstellung gefunden hat. Die vorliegende Edi- der gegenüberliegenden Seite übersetzt und tion eröffnet der Forschung mit alledem neue Per- teilweise zugleich kommentiert, z. B. ein Exzerpt spektiven auf die Ausbildung von Konzept und aus Strabons Geographika: „Eratosthenes ist einer- Systematik der GK. seits nicht so leicht fertigzumachen, dass man be-

Flankiert werden die genannten Materialien im haupten könnte, er habe nicht einmal Athen ge- vorliegenden Band durch die Abhandlungen De sehen – [. . .].“ Winckelmann überschrieb dies mit ratione delineandi und De nominibus veterum Sculpto- den Worten: „Romam Antiquitatis studioso abire rum, denen jeweils Übersetzung und Kommentar oportet.“ („Für einen Altertumsforscher gehört beigegeben sind. Der zweite Teil des Bandes wid- es sich, nach Rom zu gehen“). Die Erläuterung met sich der Editionsgeschichte der postumen dazu lautet: „Da Eratosthenes auch historiographi- Ausgabe der GK durch F. J. Riedel (1776); Re- sche Schriften verfasst hat, kann er als ‚Altertums- zensionen und Ankündigungstexte beider Auf- gelehrter‘ gelten. Deshalb ist es wahrscheinlich[ ], lagen der GK sowie der zugehörigen Anmerkun- dass Winckelmann die modernen Altertumswis- gen Winckelmanns sind hier versammelt. senschaftler meint, von denen zu erwarten sei, dass

Das Allgemeine Register, zugleich ein Kom- sie – wie er selbst – nach Rom gehen, so wie von pendium Winckelmann’scher Leitbegriffe, er- den griech. Gelehrten erwartet wurde, dass sie schließt hilfreich die Materialfülle und regt mit Athen gesehen haben.“ (S. 146) Einträgen wie „Zwerg-Action“ zur erneuten Lek- Der vorliegende Band dokumentiert ein- türe an. Zudem verfügt der Band über ein All- drucksvoll, was es auch für die Kunstliteratur be- gemeines Register zu den Rezensionen, das die deutet, dass Winckelmann diesem Motto getreu

Filiationen antiquarischer Argumentationen zu- die antiken Kunstwerke in Rom in Augenschein gänglich macht. Register der Antiken nach Stand- nahm. orten zu Winckelmanns Zeiten sowie nach heu- tigen Museums- und Aufstellungsorten skizzieren Anmerkungen (wie im KD) eine historische Landkarte der Kunst- bewegungen und ‚Migrationen‘ von Antiken. 1 Hans Zeller: Winckelmanns Beschreibung des Apol- Implizit wird sichtbar, wie der „gute Geschmack, lo im Belvedere, Zürich 1955, S. 45. 2 Vgl. neben Zeller Hanna Koch: Johann Joachim welcher [. . .] sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden“ und sich „mehr Winckelmann. Sprache und Kunstwerk, Berlin 1957; 5 J. J. Winckelmann: Kleine Schriften, Vorreden, Ent- und mehr durch die Welt ausbreitet“, mit einer würfe, hrsg. v. Walther Rehm, Berlin 1968; J. J. W. : Völkerwanderung antiker Statuen im Wechsel- Das Florentiner Winckelmann-Manuskript, hrsg. u. verhältnis steht, das der Verschiebung des euro- komm. v. Max Kunze, Florenz 1994; Susanne Kochs: päischen Mächtegefüges ebenso folgt wie den Ge- Untersuchungen zu Winckelmanns Studien der setzen des Kunstmarktes. Eine Auflistung der antiken griechischen Literatur, Ruhpolding 2005. bereits in der GK erfassten Objekte mit Verwei- 3 Zeller (wie Anm. 1), S. 5. sen zum KD und ein Register der erwähnten Stel- 4 Vgl. Élisabeth Décultot: Untersuchungen zu Win- len antiker Autoren runden die Hilfsmittel zur ckelmanns Exzerptheften: ein Beitrag zur Genealo- gie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert, Ruh- systematischen Erschließung des Textes ab. Der Leser kann die Edition mittlerweile als ein my- polding 2004. Weitere Literatur im vorliegenden thologisches und ikonographisches Lexikon nut- Band, S. 450. 5J. J. Winckelmann: Gedancken über die Nachah- zen, das zugleich den Wissensstand des 18. Jahr- mung der Griechischen Wercke in der Mahlerey hunderts sowie die archäologischen Erkenntnisse und Bildhauer-Kunst. In: Kleine Schriften (wie der Gegenwart dokumentiert und eine Prosopo- Anm. 2), S. 29. graphie antiker wie neuzeitlicher Künstler und Autoren zur Kunst birgt. Charlotte Kurbjuhn Der Leser betrachtet den vorzüglich geglieder- Humboldt-Universität zu Berlin ten Band mit Bewunderung für die Leistung der SFB 644 Transformationen der Antike Gesamtausgabe, gerade angesichts der zahllosen D–10099 Berlin

Verknüpfungen zu anderen Teilbänden. Fremd- 158 Besprechungen

STEFANIE STOCKHORST (Hrsg.)

Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung (Schriften des Frühneuzeit- zentrums Potsdam, Bd. 2), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen 2013, 368 S.

Gegen die Sensationen erschriebener Weltum- Um 1780 entsteht eine neue Poetik der Reise- segelungen oder die europäischen Modebücher beschreibung, zu deren prominentestem Anwalt über Italien- und Englandreisen wirbt der Ber- sich Georg Forster macht. Gegen den „geschmack- liner Aufklärer Friedrich Nicolai für eine Ent- losen Fleiße“ von Nicolais Faktensammlungen deckung Deutschlands. Seine 12-bändige Beschrei- fordert er die subjektive Perspektive des Reisen- bung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, den: Beobachtungen statt Resultate, ein Verhältnis im Jahre 1781 (1783–1796) sowie die dreibändige der Seelenkräfte zu den Dingen, die Aufwertung Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und des inneren Sinns gelten als die neuen Kategorien. Potsdam (1769; 21779; 31786) bilden in seinem um- Nicolai beharrt zwar weiter auf seinem als ‚objek- fangreichen Œuvre ein beachtliches Segment. STE- tiv‘ ausgegebenen Verfahren und bekennt sich sogar FANIE STOCKHORSTs zweiter Konferenzband zu kokett zu einer nüchternen „Kunstlosigkeit“; ganz Nicolais 200. Geburtstag, der eine kurz zuvor er- spurlos geht der von Forster eingeleitete Paradig- schienene erste Sammlung von Beiträgen ergänzt,1 mawechsel aber nicht an ihm vorüber. Spricht er enthält neben vier Aufsätzen zu den Romanen in den ersten Bänden noch von „Einem Gesichts-

Vertraute Briefe von Adelheid B** und Sebaldus punkt“ – der natürlich der seine, freimütige, wahr- Nothanker auch einige Essays zum Reisethema. heitsgetreue, gemeinnützige ist –, räumt er später ERDMUT JOST zeichnet die positive Rezeption durchaus verschiedene Standpunkte ein, aus de- von Nicolais Deutschlandreise nach, die gegen- nen er den zutreffenden, realistischen, verifizierba- über der breiten Front zeitgenössischer Kritik in ren auswählt. Nicolai dürfte also bewusst gewesen der Forschung bisher kaum zur Geltung kam. sein, dass sein – modern gesprochen – positivisti-

Sicher, Nicolai machte sich mit der Polemik ge- sches Vorgehen beim Publikum und den Rezen- gen den katholischen Süden und den deutschen senten nicht mehr allzu gut ankam, dennoch ver- Idealismus zahlreiche Feinde, die kulturhistorische suchte er es hartnäckig zu retten. Bedeutung seiner enzyklopädischen Reisewerke Diese Kritik an Nicolai konfrontiert HELMUT sollte das aber nicht verdecken. Jost knüpft an PEITSCH mit der naheliegenden Gegenfrage: Wie einen programmatischen Essay Ueber das Reisen wurden Forsters eigene und übersetzte Reisejour- der Teutschen an, der 1782 im ersten Band des nale in der Allgemeinen deutschen Bibliothek bespro- Wochenblatts Der Reisende erschien. Statt „zur chen? Hier finden sich – kaum erstaunlich – Re- dummen Bewundrung fremder Länder und Völ- zensionen, die Reflexionen und „Raisonnements“, ker“ lädt dort ein anonymer Verfasser zur Er- also Kennzeichen einer neuen Poetik der Reise- gründung Deutschlands – seiner Denkungsarten literatur, kritisieren und zugleich einen Mangel und Sitten – ein, „weil es nicht nur unser gemein- an neuem naturkundlichen Wissen über Men- schaftliches Vaterland, sondern auch dasjenige schen, Tiere und Pflanzen einklagen. Umgekehrt der nützlichsten Erfinder ist“. Nicolai schwebt gibt es aber auch ausdrückliche Revisionen sol- mit seinen Reisen offenbar ein Beitrag zur Kul- cher Urteile, positive Kritiken also, die Forster turnation in einem politisch noch völlig dispa- loben und damit den Verdacht ausräumen, Nico- raten Land an – ganz ähnlich wie mit dem Re- lai habe eine strikte Linie vorgegeben, Gegenmei- zensionsorgan Allgemeine deutsche Bibliothek ein nungen nicht zugelassen oder redaktionell unter- integrierendes, übergreifendes Medium. Die Kri- drückt. Auffällig ist dabei die Zuordnung von terien der Gemeinnützigkeit, Unparteilichkeit Reisen zu unterschiedlichen Rubriken der Zeit- und Wahrheitsliebe sollten für beide Projekte gel- schrift; die Besprechungen zu Forster erscheinen ten und werden auch von vielen Rezensenten wahlweise unter Geographie, Naturkunde, Ge- hervorgehoben, selbst wenn Nicolai immer wie- schichte oder Statistik. der durch polarisierende Polemik dagegen ver- Statistische Demographie steigt in der Aufklä- stößt. rung – so zeigt ANDREA RESSEL in einem Beitrag Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 159 zur Berlin-Beschreibung – zu einer neuen Diszi- mit Hinweisen über Kriegskosten. Darüber steht plin auf. Nicolais Abhandlung Von den Einwoh- sein positives Bekenntnis zum aufgeklärten Patrio- nern, ihrer allmähligen Vermehrung, jetzigen Anzahl tismus, das zur überwiegend positiven Beurtei- und Eintheilung im Berlin-Buch (1769) kommt lung des Militärs beiträgt, auch im katholischen neben Johann Peter Süßmilchs Studie Die Gött- Süden. liche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Die hier erwähnten Fallstudien stehen für eine

Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fort- jüngere Tendenz in der Nicolai-Forschung: Das pflanzung desselben erwiesen (1741) eine führende enzyklopädische Werk bietet die Möglichkeit, zu Rolle zu. Nicolai korrigiert nicht nur falsche vielfältigen Studienthemen, etwa in den Reise- Daten bei Süßmilch und anderen, sondern nutzt beschreibungen oder dem Rezensionsorgan, fün- auch neuere statistische Berechnungsmethoden. dig zu werden. Spezifische Fragen zu Themen wie Über die Datenerhebung hinaus sind die Schluss- Apodemik, Demographie, Militär oder zu ein- folgerungen wichtig, Nicolai interpretiert die Be- zelnen rezensierten Autoren lassen sich so im völkerungsentwicklung Berlins seit dem 16. Jahr- ‚System Nicolai‘ beantworten. Dieser induktive hundert vor dem Hintergrund von Kriegen, Ansatz bestätigt Zug um Zug den von der Her- Epidemien und Missernten und beurteilt die mer- ausgeberin in der Einleitung hervorgehobenen kantilistische Peuplierungspolitik positiv. Im Un- „Facettenreichtum“ von Wissenskulturen und terschied zu Süßmilchs theologischer Deutung der wirkt den zum Glück seltener werdenden, vorur-

Demographie als göttlicher Vorsehung gibt Ni- teilsbelasteten Allgemeinurteilen über den mäch- colai sozialpolitische Argumente an die Hand, die tigen ‚Aufklärungsmacher‘ aus Berlin entgegen.

Vorteile und Risiken von Wachstum säkular be- urteilen. Warnungen vor Gefahren der Überbe- Anmerkung völkerung kommen dann erst Ende des Jahrhun- derts in England mit Thomas Malthus’ Essay on 1 Stefanie Stockhorst, Knut Kiesant, Hans-Gert Ro- the Principle of Population (1798) auf. loff (Hrsg.): Friedrich Nicolai (1733–1811), Berlin

RALF PRÖVE nimmt Nicolais Wahrnehmun- 2011. gen militärischer Einrichtungen in Preußen und in deutschen Landen genauer in den Blick. Die Alexander Košenina Aufmerksamkeit entspricht quantitativ zwar nicht Leibniz Universität Hannover der tatsächlichen Präsenz von Kasernen, Truppen- Deutsches Seminar übungsplätzen und Heeresverbänden im späten Königsworther Platz 1 18. Jahrhundert, Nicolai spickt seine Reisen aber D–30167 Hannover immer wieder mit Fakten und Statistiken zum

CHRISTIAN DÖRING (Hrsg.) Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. Mit einem Nachw. versehen v. Jan Volker Röhnert u. mit Fotografien angereichert v. Alexander Paul Englert (Die Andere Bibliothek, Bd. 337), Aufbau Verlag, Berlin 2013, 687 S.

Das ewige Rom ist für alle da. Vor nahezu 250 Jah- ton Raphael Mengs’, Angelika Kauffmanns oder ren bedurfte es eines weitaus größeren Aufwands Jakob Philipp Hackerts’, die zeigten, dass sich mit als heute, sich in die alte und schöne Stadt zu be- Kunst und Kunstgelehrsamkeit erstaunliche Kar- wegen, doch immer mehr Reisende ließen sich rieren machen ließen. Auch für Karl Philipp Moritz davon nicht abhalten. Gerade Deutsche kamen in zahlte sich seine Romreise, die er 1786 unter recht Scharen, junge Künstler zumal, angelockt von den abenteuerlichen Umständen antrat, aus. Nach sei-

Erfolgen Johann Joachim Winckelmanns und An- ner Rückkehr konnte er 1789 eine Stelle als Profes- 160 Besprechungen

sor an der Berliner Akademie der Künste antreten, Der Essay überzeugt als literarischer Text ebenso nachdem er den Winter 1788/89 in Weimar bei wie als eigenständiger Beitrag zur Moritzforschung.

Goethe verbracht hatte. Dieser war fast gleichzeitig JAN VOLKER RÖHNERT macht deutlich, dass Mo- mit Moritz in Rom eingetroffen, schnell entwickel- ritz’ Buch nicht nur als Trouvaille und originelle te sich eine enge Freundschaft. 1792 veröffent- Reisebeschreibung zu lesen ist, sondern als Schlüs- lichte Moritz zwei Bände seiner Reisebeschreibung, seltext in der Geschichte der Stadtbeschreibungen. zu Ostern 1793 den dritten. Im Sommer desselben Sehr schön zeigt er, wie der immer Außenseiter

Jahres starb er im Alter von 36 Jahren. gebliebene Moritz sich durch sein Schreiben „in Moritz’ Reisebericht gehört bis heute zu den der Heimat angesiedelt“ habe, „wo die Dichter lebendigsten Italienbeschreibungen der deutschen verschiedener Räume und Zeiten sich gegenseitig Literatur und vermutlich zu den bislang meist die Hände reichen“ (S. 577). Und gerade sein Ita- unterschätzten. Insofern ist es sehr begrüßenswert, lienbuch erweist sich als wahrer Kreuzungspunkt dass die Andere Bibliothek, aus dem Œuvre des Au- solcher Handreichungen. Röhnert stellt die Bezü- tors, dessen originelles, inspirierendes Denken ge zur älteren und ältesten Romliteratur her, in- immer mehr Leser zu schätzen lernen, nun gera- klusive den von Moritz vielzitierten Martial und de dieses bislang nicht im Zentrum des Interesses Juvenal; zu Laurence Sterne, Jean Jacques Rousseau stehende Werk im bewährten Format der Reihe und Jean Paul als Autoren subjektiver und indivi- herausgegeben hat. Wenn man allerdings bedenkt, dueller Selbst- und Weltwahrnehmung und folgt dass Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach dann einem von Moritz angelegten Pfad der phä-

Syrakus bereits 1985 als dritter Band der Anderen nomenologischen Stadtbeschreibung über Fonta-

Bibliothek erschien, fragt man sich doch, warum ne, Heine, Benjamin bis zu Wolf Dieter Brinck- ein separater Nachdruck von Moritz’ Italienbuch mann. Moritz’ Analyse einer Mythologie des nicht schon viel früher angestrebt wurde. Tatsäch- Alltags im zeitgenössischen Italien, wie sie im Reise- lich ist seit der Erstausgabe keine einzige selbst- bericht vorgenommen wird, und des Alltags der ständig erschienene Neuauflage des Italienbuchs alten Römer im parallel entstandenen Band An- 1 erschienen. Derzeit ist der Text nur noch in der thusa oder Roms Alterthümer , wird ähnlichen Be- zweibändigen Ausgabe des Deutschen Klassiker- strebungen Louis Aragons und Roland Barthes’

Verlags (1997, hrsg. v. Heide Hollmer und Albert zugeordnet. Auch Michel Houellebecq, Arno Meier) zu erwerben. Die verdienstvolle dreibän- Schmidt und Peter Handke werden in das Ge- dige Edition im Insel Verlag (1981, hrsg. v. Horst spräch mit einbezogen. Nicht erwähnt wird allein

Günther) ist seit langem vergriffen; die Edition Louis-Sébastien Merciers Tableau de Paris, das nach von 1973 im Aufbau Verlag gab den Text nicht Meinung der Verfasser ein besonders wichtiger vollständig wieder. Der Erwerb der raren Origi- Vergleichstext für das Moritz’sche Rom-Buch ist. nalausgabe ist fortgeschrittenen Bibliophilen vor- Besondere Aufmerksamkeit wird Johann Wolf- behalten, die dafür einige tausend Euro übrigha- gang Goethe und der engen Freundschaft gewid- ben müssen. met, die sich nach kürzester Zeit zwischen ihm

Die Andere Bibliothek musste seit ihrer Grün- und Moritz entwickelte. Nach Ansicht des Es- dung mehrfach den Verlag wechseln. Das Ziel, sayisten wurde diese Freundschaft bislang „katego- besondere und besonders schöne Bücher zu ma- rial und phänomenologisch“ noch nicht befrie- chen, hat sich nicht verändert. Das ‚bewährte For- digend beschrieben.2 Röhnert macht überzeugend mat der Reihe‘ – damit ist nicht nur die buchäs- deutlich, wie Goethes Italienische Reise durch thetisch anspruchsvolle Aufmachung gemeint, Moritz’ viel früher erschienenes Buch vorbereitet sondern vor allem der seit Enzensbergers Zeiten wurde. Goethe habe sich erstens an Moritz’ Drei- eingehaltene Anspruch, von den Herausgebern teilung des Reiseberichts orientiert (Beschreibung für lesenwert gehaltene Bücher dem sogenannten des ersten römischen Aufenthalts als staunender Lesepublikum bereitzustellen. Das bedeutet knap- Lernender – Erzählung der Reise nach Süditalien pe Stellenkommentare, eine gewisse Dominanz der – Beschreibung eines zweiten römischen Aufent-

Gestaltung über den Text und die Beigabe eines halts, in dem als mittlerweile erfahrener Kunstex- Essays statt eines wissenschaftlich-editorischen perte und Romkenner geurteilt wird), zweitens an Begleittextes. der von Moritz eingeführten Mischform aus brief- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 161 lichem und diarischem Bericht und drittens an Leser teilt der Herausgeber der Reihe, CHRISTIAN

Moritz’ von Röhnert sogenannter Mosaiktech- DÖRING, mit: „als Vademekum ist Moritz mit sei- nik des Aneinanderfügens von in sich abgeschlos- ner Art von Bildungsreise etwas unhandlich, aber senen Beobachtungen zu Kunst, Straßenleben und als literarische Vorbereitung – bis der Frühling Geschichte Roms. kommt – doch eine herrliche Beschäftigung“.

Seit der Übernahme der Reihe durch den Auf- Moritz lesen also nur im Lehnstuhl am transalpi- bau Verlag werden die Bände von je verschiede- nen Ofen, nicht dort, wo der Autor seine Beob- nen namhaften Grafikdesignern entworfen, hier achtungen machte? Die ca. 150 s/w-Fotos, die lag die Gestaltung in den Händen von WIM VES- Englert auf einer Reise auf Moritz’ Spuren aufge- TERVELD. Der Einband macht neugierig. Das Buch nommen hat, können dem Leser das eigene Se- ist voluminös. Man öffnet es und blättert durch hen, dessen Wichtigkeit Moritz immer wieder reprografierte Titelseiten der Originalausgabe. betont, nicht ersetzen. Sie sind viel mehr als Kom-

Faksimiliert kann man sie, genau genommen, nicht mentar zum Text aufzufassen: So wie Moritz das nennen, denn sie wurden vergrößert, was nirgends alte mit dem modernen Rom in heuristischer erwähnt ist. Das als Vorlage benutzte Exemplar ist Absicht kontrastiert, fügen die Fotografien eine eines aus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, neue Zeitschicht und neue Erkenntnis- und Ver- von dem Röhnert annimmt, Goethe habe es als ständnismöglichkeiten hinzu. Oberaufseher dieser Bibliothek „mutmaßlich in Sollte man sich nach der Lektüre dennoch selbst Händen“ (S. 598) gehabt. So oder so muss für auf Entdeckungstour begeben und wie Moritz mit eine Edition der Werke Moritz’ immer auf die Livius, Martial oder Horaz, nun mit Moritz in der Erstdrucke zurückgegriffen werden, da von ihm Hand, die Orte aufsuchen wollen, die der Dichter außer einigen Briefen kein handschriftlicher jeweils beschreibt, hat sich dafür die handliche

Nachlass erhalten ist. Soweit die Verfasser es stich- Insel-Ausgabe bewährt – zeitgemäßer wäre die probenartig überprüfen konnte, ist der Text feh- Zuhilfenahme eines elektronischen Mediums, je- lerfrei und ohne jegliche Normalisierung wieder- doch ist der Text des Italienbuchs digital noch gegeben – ein großer Vorzug gegenüber den nicht vollständig verfügbar. genannten anderen Ausgaben. Über den Buchsatz kann man sich streiten. Laut Anmerkungen Impressum wurde eine Type mit dem beziehungs- reichen Namen ‚Romulus‘ verwendet. Sie wurde 1 Als Band 4 der Kritischen Moritz-Ausgabe erschie- in den 1930er Jahren vom niederländischen Typo- nen: Schriften zur Mythologie und Altertumskun- grafen Jan van Krimpen entworfen. So elegant die de, Teil 1: Anthusa oder Roms Alterthümer, hrsg. Schrift auch ist, wirkt sie hier nicht gut angewen- v. Yvonne Pauly, Tübingen 2005. Die Edition der det. Die recht groß gesetzten Buchstaben und der Reisen eines Deutschen in Italien wird als Bd. 5,2 der Ausgabe vorbereitet. sehr üppige Durchschuss (ist man um die Seh- 2 Verwiesen sei allerdings auf die Untersuchung von kraft des alternden ‚Lesepublikums‘ besorgt?) ver- Volker Dörr: „Reminiscenzien“. Goethe und Karl brauchen viel Platz. Der große Druck und die im Philipp Moritz in intertextuellen Lektüren, Würz- Untertitel der Ausgabe sogenannte Anreicherung burg 1999. des Buches mit den Fotos des Reisefotografen

ALEXANDER PAUL ENGLERT bewirken eine Auf- Claudia Sedlarz blähung des Umfangs, die erschwert, was doch Berlin-Brandenburgische Akademie gleichzeitig nahegelegt wird und auch sehr zu der Wissenschaften empfehlen wäre: mit Moritz’ Rombeschreibung Jägerstr. 22–23 in der Hand durch das Rom von heute zu laufen. D–10117 Berlin In einem dem Buch beigelegten Schreiben an die 162 Besprechungen

MATTHIAS GLAUBRECHT (Hrsg.) Adelbert von Chamisso: Reise um die Welt. Mit 150 Lithographien von Ludwig Choris u. einem essayistischen Nachwort v. M. G., Die Andere Bibliothek, Berlin 2012, 450 S.

Adelbert von Chamisso ist en vogue. An verschie- werden hier dem von Chamisso als Reisetage- densten Orten in der Welt wird zu Chamisso ge- buch ausgegebenen, der Reisechronologie folgen- arbeitet und das nicht nur, weil sich der Todestag den Bericht, den er anhand seiner Aufzeichnun- des Dichters am 21.8.2013 zum 175. Mal gejährt gen und Briefe erst lange nach seiner Teilnahme hat. Seit 2011 sind zwei internationale Chamisso- an der russischen Rurik-Expedition von 1815– Konferenzen zu unterschiedlichen Fragestellun- 1818 verfasst und 1836 schließlich publiziert hat- gen von Chamissos Leben und Werk äußerst er- te, sämtliche Zeichnungen des ihn auf der Expe- tragreich abgehalten worden.1 Die Erschließung ditionsreise begleitenden Malers Ludwig Choris des Nachlasses von Chamisso in der Staatsbiblio- (1795–1828) in lithographierter Form an die Seite thek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz geht dank gestellt. Präziser gesagt: Einen Teil hat Choris ge- der Förderung durch die Robert Bosch Stiftung zeichnet und lithographiert, ein Teil ist nach sei- und der Kompetenz der Bearbeiter mit den sprich- nen Zeichnungen von anderer Hand lithographiert wörtlichen Schlemihl’schen Siebenmeilenstiefeln worden, unterschiedliche Lithographieanstalten voran. Die für 2014 angekündigte Schlemihl-Aus- haben die Blätter herausgegeben, einige wenige stellung im Kleist-Museum in Frankfurt (Oder) Aquatintaradierungen sind nicht namentlich ge- und die unterschiedlichen geplanten und bereits kennzeichnet, während die Abbildungen der realisierten digitalen und papierenen Schlemihl- Schmetterlinge und eines Blattes mit menschli- Editionen (Humboldt Universität zu Berlin, Staats- chen Schädeln definitiv von Chamissos und Cho- bibliothek zu Berlin, Universität Würzburg) an- ris’ Reisegefährten, dem Schiffsarzt Johann Fried- lässlich des 200. Jahrestages des Erscheinens von rich Eschscholtz, gezeichnet und von C. Ermer Peter Schlemihls wundersame Geschichte stellen gestochen sind. Sie sind stillschweigend vom Her- ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Erforschung ausgeber den Lithographien von Choris zur Seite 2 von Leben und Werk des deutsch-französischen gestellt worden. Dichters und Naturforschers dar. Jährlich wird der Das Besondere des Chamisso’schen Reisebe-

Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch richts ist die feinsinnige Verschränkung von eth-

Stiftung an deutsch schreibende Autoren nicht nographischem und literarischem Vorgehen, von deutscher Muttersprache verliehen. In diesem Zu- interkulturellen Beobachtungen und ihrer erzäh- sammenhang sind darüber hinaus die Gründung lerischen Inszenierung. Es handelt sich um eine einer Chamisso-Gesellschaft im Jahr 2010 und Weltreisebeschreibung, die „zwischen rekonstruie- der erfolgreiche Betrieb einer Internetplattform rendem Tagebuch und reflektierender Gesamt- namens „Chamisso-Forum“ zu nennen, die sich um die ganz eigene Originalität begründet. Darauf weist Chamissofreunde und -forscher verdient gemacht das von MATTHIAS GLAUBRECHT verfasste umfang- haben. reiche Nachwort zu Chamissos Reisebericht zu Viele Einzelprojekte haben sich an die Cha- Recht hin, das sowohl die tatsächlichen biogra- misso-Unternehmungen der größeren Institutio- phischen Gegebenheiten und historischen Zusam- nen angeschlossen, darunter auch der hier vorzu- menhänge beleuchtet als auch die literarische stellende Sonderband der Anderen Bibliothek. Die Umsetzung in den Blick nimmt und eine Ein-

Bücher der Anderen Bibliothek sind für ihre wun- ordnung versucht. Damit ergibt sich die doppelte derschöne Ausstattung, den sauberen Satz und die Verortung sowohl in den naturwissenschaftlich- prächtige Gestaltung bekannt, und die Reise um anthropologischen, auf Forschungsreisen basieren- die Welt von Adelbert von Chamisso im Folio- den Untersuchungen der Zeit (Forster, Humboldt) format bildet da keine Ausnahme. Die reichlich als auch in denjenigen der Reiseberichte als li- 3 vorhandenen Abbildungen sind z. T. ganzseitig terarisches Genre. Die Ankündigung des Verla- und von bestechender Qualität. Zum ersten Mal ges, das Buch als Fortsetzung der Reihe, die mit Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 163

Alexander von Humboldts Ansichten der Natur, den 1999 veröffentlicht hat, wäre eine wichtige Auf- Ansichten der Kordilleren und Monumente der einge- gabe. Ebenfalls ergiebig erscheint eine Gegen- borenen Völker Amerikas sowie seinem Kosmos. Ent- überstellung mit dem offiziellen Expeditionsbericht wurf einer physischen Weltbeschreibung und Georg von Otto von Kotzebue (1821) und den naturkund-

Forsters Reise um die Welt begonnen wurde, ver- lichen Schriften von Johann Friedrich Eschscholtz. standen wissen zu wollen, deutet darauf hin. Eine Auswertung der Briefe, die Choris an Cha- Spätestens seit seiner märchenhaften Erzählung misso in Zusammenhang mit der Entstehung sei- Peter Schlemihls wundersame Geschichte von 1813 nes lithographischen Reisewerks von 1819–1827 (nicht Peter Schlemihls wundersame Reise wie das richtet und die bisher unediert in der Staatsbiblio-

Nachwort schreibt, auch wenn solch ein Titel in thek zu Berlin liegen (47 Stück), scheint ebenfalls diesem Zusammenhang umso treffender gewesen lohnend.6 Die Beziehung Chamissos zu Choris wäre), deren Hauptfigur wesentliche Charakteris- und seine Bewertung der lithographischen Arbeit tika mit dem Forschungsreisenden Humboldt teilt seines Reisegefährten würden dadurch entschei- 7 und ihn an einzelnen Textstellen ganz bewusst dend erhellt. zitiert, ist Chamissos intensive und mitunter kri- Als Fazit bleibt festzuhalten: Das von der Ande- tische Auseinandersetzung mit den Vorbildern des ren Bibliothek gesteckte Ziel von Originalität und

Reiseberichts belegt (vgl. auch den Verweis auf Qualität ist hinsichtlich des erstmaligen Zusam-

James Cook in der Vorrede des „Tagebuchs“). menführens von Chamissos Text und sämtlichen Auch bei Chamisso findet sich ein methodologi- Illustrationen von Choris und der wirklich präch- sches Vorgehen von Beobachtung und Beschrei- tigen Ausstattung des Bandes vollkommen einge- bung, das einerseits tradierte Wahrnehmungs- und löst. Die hier vorgestellte Ausgabe der Reise um die

Darstellungsformen bedient, mit ihnen bisweilen Welt stützt sich in ihrer Textkonstitution auf die 4 aber auch bricht. Glaubrecht attestiert Chamis- von 1907 stammende Werkausgabe von Hermann sos Reisebericht entsprechend eine „Perspektive Tardel, der die 1836 von Chamisso autorisierte zwischen Bewahren und Fortschritt“, er belebe Erstausgabe zugrundeliegt und die auch für die

„alte Traditionen“, weise zugleich „neue Wege“ von Jost Perfahl 1975 herausgegebene Ausgabe und zeige sich durch Verknüpfung seiner beiden der Werke Chamissos als Vorlage gedient hat. Ak-

Professionen, der Dichtkunst und der Wissen- tueller wäre freilich die Ausgabe von Werner Feudel schaft, als einer der „letzten Universalisten“. Seine und Christel Laufer (1980/81) gewesen. Auch die Weltreisebeschreibung erweist sich somit als eine Übernahme der Choris’schen Lithographien ohne der letzten, die auf die Tradition der Entdeckungs- den Abdruck des von Choris selbst verfassten fahrten zurückgeht, welche schließlich durch die Reiseberichts sowie die Aussparung von Chamis-

Forschungsfahrten abgelöst werden. sos Bemerkungen und Ansichten sind bedauerlich. Eine strengere wissenschaftliche Einordnung der Aus literaturwissenschaftlicher und editionsphilo-

Reise um die Welt von Adelbert von Chamisso wäre logischer Perspektive wäre dem umfangreichen im Anschluss an diese verdienstvolle Unterneh- Werk zusätzlich sowohl ein – womöglich histo- mung der Anderen Bibliothek in Zukunft wün- risch-kritischer – Kommentar als auch ein wissen- schenswert. Eine Anknüpfung an die neuere In- schaftlicher Apparat (Bibliographie, Angaben zur terkulturalitätsforschung, die die Verflechtung der Überlieferungsgeschichte, variante Fassungen, In-

Kulturen in den Blick nimmt, kann hier ertrag- dizes etc.) zu wünschen gewesen. Aber das hieße reich sein und auch für Chamisso die wichtigsten verkennen, als was der vorliegende Band der Ande- zeitgenössischen Topoi der Fremdwahrnehmung, ren Bibliothek angetreten ist: als gelungene biblio- Idealisierung (Tahiti- und Südsee-Mythos) und phile Unternehmung mit einem bewusst essayis- 5 Abwertung (Wilde) aufdecken. Auch ein Ver- tisch gehaltenen Nachwort. gleich mit dem von Choris 1822 auf Französisch verfassten Reisebericht Voyage pittoresque autour du monde, seinem zweiten, stark an Humboldt orien- Anmerkungen tierten Reisebericht Vues et paysages des regions equi- 1 Vgl. dazu den ersten bereits erschienenen Konfe- noxiales, recueillis dans un voyage autour du monde (1826) renzband: Marie-Theres Federhofer, Jutta Weber und seinem Tagebuch, das Niklaus R. Schweizer (Hrsg.): Korrespondenzen und Transformationen. 164 Besprechungen

Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso, ploration in comparative perspective, Kassel 2004, Göttingen 2013. S. 365–388. 2 Vgl. generell zu den auf Forschungsreisen entstan- 5 Vgl. Dürbeck (wie Anm. 4); Reinhard Heinritz: denen Illustrationen: Joachim Rees: Die verzeich- „Andre fremde Welten“. Weltreisebeschreibungen nete Fremde. Formen und Funktionen des Zeich- im 18. und 19. Jahrhundert, Würzburg 1998. nens im Kontext europäischer Forschungsreisen 6 Vgl. hierzu Monika Sproll: „Das ist Natur!“. Adel- 1770–1830, Habil.-Schrift Freie Universität Berlin bert von Chamissos Bildkritik an Ludwig Choris’ 2011 (im Druck). ‚Voyage pittoresque‘ zwischen ästhetischem und 3 Vgl. die z. Z. an der Freien Universität Berlin ent- wissenschaftlichem Anspruch. Vortragsmanuskript stehende literaturwissenschaftliche Dissertation von für die zweite internationale Chamisso-Konferenz Johannes Görbert mit dem Arbeitstitel Forschungs- „Phantastik und Skepsis – Adelbert von Chamissos expeditionen als Literatur. Sprachkünstlerische Inszenie- Lebens- und Schreibwelten“, 29.–31.5.2013, Hum- rungsweisen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im außer- boldt-Universität zu Berlin. europäischen Reisebericht um 1800, die sich neben 7 Vgl. ebenda. Chamisso auch mit Humboldt und Forster beschäf- tigt. Anna Busch 4 Vgl. z. B. Gabriele Dürbeck: Stereotype Paradiese. Humboldt-Universität zu Berlin Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815– Philosophische Fakultät II 1914, Tübingen 2007, oder Assenka Oksiloff: Institut für deutsche Literatur From panorama to close-up: Adelbert von Cha- misso’s voyage around the world. In: Ph. Despoix, Nachwuchsgruppe Berliner Intellektuelle J. Fetscher (Hrsg.): Cross-cultural encounters and 1800–1830 constructions of knowledge in the 18th and 19th D–10099 Berlin century. Non-European and European travel of ex-

MANUEL MENRATH (Hrsg.) Afrika im Blick. Afrikabilder im deutschsprachigen Europa. 1870–1970, Chronos Verlag, Zürich 2012, 336 S.

In seinem 1988 publizierten Klassiker The Inven- beuteten Kontinents gezeichnet oder als Pendant tion of Africa stellt V. Y. Mudimbe eingangs die mit positiven Vorzeichen die atemberaubende

Frage nach einer Afrikanischen Philosophie Flora und Fauna und die Authentizität indigener zunächst zurück. Es geht ihm weniger darum zu Bevölkerungsgruppen gepriesen. Genauso gebets- erkunden, was Afrikanische Philosophie sei und mühlenartig wird immer wieder darauf hinge- was nicht, sondern zunächst nach den Vorausset- wiesen, dass diese Perspektive die Vielfalt unter- zungen zur Möglichkeit einer Afrikanischen Phi- schiedlicher Lebensweisen auf gewaltvolle Art losophie zu fragen. Das Problem liegt in der er- negiert. kenntnistheoretischen Grundlage: „The fact of the Die Beiträge im Sammelband Afrika im Blick matter is that, until now, Western interprets as well zeigen aus verschiedenen kulturhistorischen Per- as African analysts have been using categories and spektiven und anhand unterschiedlicher Beispie- conceptual systems which depend on a Western le, wie Afrika in den drei deutschsprachigen Län- epistemological order“.1 In der wissenschaftlichen dern Schweiz, Österreich und Deutschland von

Auseinandersetzung mit Afrika besteht heute 1870–1970 gezeichnet wurde und wie diese Bil-

Konsens darüber, dass Afrika eine Konstruktion der bis heute ihren Niederschlag im öffentlichen ist – eine durch hegemoniale Arroganz ermöglich- Diskurs finden und so die gängigen Vorstellun- te Konstruktion des Westens. Diese Feststellung gen von Afrika prägen. scheint mittlerweile als postmoderner Allgemein- Herausgegeben wurde die Publikation vom platz Eulen nach Athen zu tragen. Dennoch wer- Historiker MANUEL MENRATH. Die Idee dazu ent- den gebetsmühlenartig stereotype Negativbilder stand im Rahmen der 2011 erstmals in der eines kriegsgebeutelten, hungernden und ausge- Schweiz im Historischen Museum Luzern gezeig- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 165

ten und durch einen lokalen Teil ergänzten Wan- ge anhand vielfältiger und reichhaltiger Daten und derausstellung Die Dritte Welt im Zweiten Welt- Beispiele aus Archiven, Literatur und Film an- krieg. Eine vielfach auf Deutschland bzw. Natio- schaulich zeigen. MANUEL MENRATH und RAFFAEL nalstaaten fokussierte Perspektive wurde bewusst SCHECK machen in ihren Beiträgen andererseits über Landesgrenzen hinweg auf den gesamten aber auch deutlich, dass die starken Negativbilder deutschen Sprachraum ausgeweitet. Denn auch in von afrikanischen Kolonialsoldaten teilweise in der Ländern ohne eigene Kolonien fielen kolonial- direkten Begegnung zwischen Menschen unter- stereotype Bilder auf Resonanz. So schreibt die graben wurden. So sind Fotos von Familiensze- Historikerin MARITA HALLER-DIRR, dass die „klei- nen auf Bauernhöfen sowie von Soldaten und ne Schweiz“ nie den eigenen Besitz von Kolo- deren Wächtern erhalten, die zahlreiche Nach- nien angestrebt hätte, aber ein „kaum eingestande- weise von positiven oder sogar familär/freund- ner Neid auf die europäischen Nationen, die sich schaftlichen Begegnungen und Bekanntschaften politisch in Afrika engagieren konnten“ (S. 40), zwischen Schwarzen Soldaten und der Zivilbe- bestand. Für Österreich zeigt CLEMENS PFEIFFER, völkerung (vgl. S. 151 ff.) in der Schweiz zeigen dass Afrika vor dem Hintergrund des belasteten bzw. Hinweise darauf geben, dass deutsche Wach- und belastenden Erbes des Nationalsozialismus männer z. T. weniger „würdige Distanz von den „zur Projektionsfläche eines österreichischen Neu- Gefangenen“ (S. 153) wahrten, als dies von oben beginns“ wurde und insbesondere die „koloniale verordnet wurde.

Fantasie“ in eine „Sehnsucht nach der Etablierung Der Band zeigt einerseits, wie die Topoi des

‚unbelasteter‘ Entwicklungspartnerschaften in den „faulen und unterentwickelten“ Afrikaners ent- postkolonialen afrikanischen Staaten“ (S. 100) standen und aufrechterhalten wurden und so zur mündet. Darüber hinaus wurde die „mit einem Legitimation zahlreicher Interventionen euro- gesamteuropäischen Überlegenheitsdenken ver- päischer Missionare und Missionarinnen, Ent- bundene koloniale Macht über Afrika [. . .] von deckungsreisender und Kolonialherren dienten. den europäischen Nationen nicht nur ökonomisch, Andererseits – und hier liegt der Schwerpunkt des sondern auch diskursiv über das westliche Wis- Buches – zeigen die Beiträge, wie Afrika als Ku- senssystem ausgeübt“ (S. 14). lisse entworfen wird, vor der sich ein modernes Eine postkoloniale Perspektive ist der rote Fa- Europa selbst inszeniert. Interessant sind weniger den, welcher sich durch die einzelnen Beträge die Afrikabilder, die im kolonialen Kontext kon- zieht. Trotz der Themenvielfalt, die von Kinder- struiert werden; interessant ist vielmehr das Eige- büchern über Berichte von Missionar(inn)en, ne, das erst durch den Blick auf das Andere ent-

Spiel- und Dokumentarfilmen sowie Völker- steht. schauen und privaten Fotoalben bis zu politischen Dabei versammelt die Publikation zentrale Ak- Debatten reicht, wird die Publikation zu einem teure: Missionare und Missionarinnen, Kolonial- kohärenten und lesenswerten Mosaik von Afri- beamte, Autor(inn)en und Filmemacher(innen); kabildern im deutschsprachigen Raum. Eine sol- aber auch fiktive Figuren tummeln sich im Afri- che dekonstruierende, eurozentrismuskritische ka europäischer Vorstellung. Im Beitrag von PA-

Sicht auf koloniale Vorstellungen wurde durch die TRICIA PURTSCHERT und GESINE KRÜGER wird die Literaturwissenschaften, insbesondere durch Ed- Erfolgsgeschichte des Schweizer Kinderbuchklas- 2 ward Saids Orientalism eingeläuteter Paradigmen- sikers Globi – ursprünglich eine Werbefigur der wechsel, erst möglich. Mudimbe und die sich in Warenhauskette Globus der 1930er Jahren – im den 1990er Jahren etablierenden Critical White- Zusammenhang von zunehmendem Warenhan- ness Studies tragen Saids Ideen weiter. Die Frage del und Konsum und der Exotisierung Afrikas seither ist nicht nur, welche Selbst- und Fremd- kritisch analysiert (S. 69 ff.). Und die Autorinnen bilder tradiert werden, sondern wie klischierte zeigen, wie das Kinderbuch Kannibale aus den

Bilder entstehen und bestehen und vor welchem 1950er Jahren Afrika topografisch in die Schweiz diskursiven und historischen Hintergrund sie ver- rückt. Das Tessin wird als Afrika der Schweiz kon- standen werden können. struiert, gleichzeitig lässt die durchaus wohlwol-

Viele dieser Stereotype können auf die Kolo- lende Intention, mit welcher die Autorin Olga nialzeit zurückgeführt werden, wie einige Beiträ- Meyer „die Passionsgeschichte des einsamen Kna- 166 Besprechungen

ben Kannibale“ erzählt, lediglich eine paternalis- Bedauerlicherweise wurde diesem Thema kein tisch-rassistische Sicht auf Afrikaner(innen) zu (vgl. eigenes Kapitel gewidmet.

S. 85 ff.). Die Thematisierung der Überlieferung Das Buch ist ein gelungener Beitrag, die Kon- von Rassismen in Kinderbüchern ist im deutsch- struktion Europas durch den Blick auf ein imagi- sprachigen Raum hochaktuell. Die Frage, wie im niertes Afrika zu entschlüsseln. Gleichzeitig kann historischen Kontext kolonialer Diskurse entstan- es auch als Versuch gelesen werden, die Frage nach dene Literatur heute gelesen werden muss, stellt den erkenntnistheoretischen Möglichkeiten im sich auch im Zusammenhang mit dem Schaffen Schreiben über Zusammenhänge zwischen Afri-

Annemarie Schwarzenbachs. Das Werk dieser un- ka und Europa tiefer zu ergründen. konventionellen und mutigen (Afrika-)Reisenden und ihr Beitrag zur Literatur des 20. Jahrhunderts Anmerkungen verdient große Würdigung. Gleichzeitig wird, wie

SOFIE DECOCK, WALTER FÄHNDERS und UTA 1 Valentin Y. Mudimbe: The Invention of Africa: Gno-

SCHAFFNER herausarbeiten, Afrika als „nichteuro- sis, Philosophy, and the Order of Knowledge, Bloo- päische Geografie“ zur „Experimentierfläche“, auf mington 1988, S. 241. der individuelle „Identitätskonflikte ausgehandelt 2 Vgl. Edward W. Said: Orientalism, London 1978. werden“ (S. 227); Afrikaner(innen) „bevölkern stattdessen den Roman als ‚dunkle Schatten‘, als Julia Büchele Randexistenzen und Bedrohung der kolonialen Universität Basel

Text-Welt“ (S. 220). Zentrum für Afrika Studien In der Einleitung gibt Manuel Meinrath fer- Petersgraben 11 ner wichtige Hinweise auf die bedeutende Rolle CH–4051 Basel der Wissenschaft im kolonialen Großprojekt.

THOMAS SCHWARZ Ozeanische Affekte. Die literarische Modellierung Samoas im kolonialen Diskurs, TEIA Verlag, Berlin 2013, 297 S.

THOMAS SCHWARZ untersucht, wie deutsche Die deutsche Umwertung von negativen prä- Samoa-Literatur „Samoa und die Menschen, die kolonialen Bildern Samoas zur „Perle der Süd- dort leben, emotional besetzt und diskursiv ko- see“, wie Otto Ehlers den Archipel in seinem lonisiert“ (S. 23). Zu dieser Literatur gehören Reisebericht von 1895 stilprägend bezeichnete, Romane, Novellen, Reise- und Presseberichte, betonte die angebliche Gastfreundschaft der In- anthropologische Texte, Bilder und Verwaltungs- sulaner, zu der deutsche Anthropologen und Rei- akten des Reichskolonialamts. Im Zentrum der seschriftsteller um 1900 den sexuellen Zugang zur Untersuchung stehen Romane größtenteils ver- samoanischen Jungfrau (taopou) hinzuerfanden. gessener Autor(inn)en, die zwischen 1880 und Dem „Samoa-Diskurs“ gelang es damit, den exo- dem Nationalsozialismus veröffentlichten (z. B. tistischen Wunsch nach Verschmelzung mit dem

Hans Bethge, Erich Scheurmann oder Frieda Zie- Fremden zu ozeanisieren. Anteil an der Erotisie- schank). Der „Affektwert“ Samoas wird in drei rung Samoas hatten auch deutsche Siedler, vor Hauptkapiteln analysiert: Die Erotisierung Samoas, allem der Leiter des deutschen Pflanzervereins die „koloniale Biopolitik“, und der Kolonialrevi- Richard Deecken, der eine exotistische Novelle sionismus der Weimarer Republik und des Natio- über Samoa schrieb und das Bild der taopou dazu nalsozialismus. Ein Einführungskapitel über den gebrauchte, Siedler in Deutschland anzuwerben.

Einfluss präkolonialer Samoa-Bilder auf den deut- In den Jahren nach der Veröffentlichung von Dee- schen Kolonialdiskurs und ein Schlusskapitel über ckens Novelle (1902) wurde das „ozeanische Ge- deutsche Gegenwartsliteratur zu Samoa runden fühl“ der Vereinigung mit der Fremden zuneh- die Studie ab. mend reglementiert: „An der samoanischen Exotin Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 167 setzt jedoch auch eine Gegenbewegung des kolo- bildung als Form von Fremdwahrnehmung. Der Süd- nialen Diskurses an, die auf eine Kontrolle der see-Mythos in Schlüsselphasen der deutschen Literatur ozeanischen Affekte zielt“ (S. 274). Diese Kon- (2008) an, die ebenfalls eine Vielzahl von Text- trolle wurde Teil der biopolitischen Verschiebung gattungen analysieren und Veränderungen des des Samoa-Diskurses, zu der Regierungsbeamte deutschen Ozeanien-Bildes vom Kaiserreich bis

(hauptsächlich Gouverneur Wilhelm Solf), Ras- zur Gegenwartsliteratur rekonstruieren. Metho- sentheoretiker, koloniale Frauen und das ‚ Völki- dologisch unterscheidet sich Ozeanische Affekte sche‘ betonende Lebensreformer beitrugen. Die durch seinen Begriff des ,Diskurses‘, der sich an koloniale Biopolitik war gegen Mischehen und Michel Foucaults Idee der biopolitischen Intensi- für „eine Kultivierung des Ekels, der kolonialen vierung des Machtdiskurses orientiert.1 Schwarz’

Abjektion vor der Rassenmischung“ (S. 274 f.). Studie bereichert die geschichtswissenschaftliche „[A]m Ende sind die ‚hypererotischen Halluzina- Forschung über die deutsche Kolonialzeit auf Sa- tionen‘ umgeschlagen in eine Paranoia vor der moa, die sich auf die demographischen, legalen

Hybridisierung. An diese kann der Nazi-Diskurs und politischen Aspekte des Mischehenverbots be- mit seiner Phantasmagorie von der Notwendigkeit schränkt hat.2 Die Darstellungen deutsch-samoa- einer ‚Reinheit des Blutes‘ anknüpfen“ (S. 271). nischer Familienbeziehungen in exotistischen

Diese Paranoia war Teil des Kolonialrevisionis- Romanen geben Einblick in die Gefühlswelt deut- mus der Weimarer Zeit, den Pflanzer, Reiseschrift- scher Kolonisatoren und vertiefen die größtenteils steller, und exotistische Autoren mit ihren Samoa- auf der Interpretation von Verwaltungsakten ba- Texten konsolidierten. sierende geschichtswissenschaftliche Forschung.

Maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung Schwarz geht es um den Erkenntnisgewinn, den des Samoa-Diskurses hatte der Schriftsteller Erich diese Romane bereitstellen, und nicht um litera-

Scheurmann, der zwischen 1919 und 1935 eini- rische Wertung: Das Wort ,Trivialität‘ erscheint ge Romane – von denen nur der heute noch ver- deshalb nur einmal (vgl. S. 219). legte Der Papalagi (1920) bekannt ist – und einen Der Erkenntnisgewinn dieser klar und präzise Bildband über Samoa veröffentlichte. Ozeanische geschriebenen Studie ist beträchtlich. Behauptet

Affekte zeigt, wie Scheurmanns Texte nicht nur der Historiker Alexander Krug, dass sich die die Erotisierung Samoas und den Wunsch nach Perspektiven der von Deutschen kolonisierten In- „sexueller Hybridisierung“ förderten, sondern sulaner aus offiziellen Dokumenten und Selbst- auch die Affektkontrolle und die Umwertung der zeugnissen deutscher Kolonisatoren nicht mehr 3 taopou ins Tierische und Ekelerregende. In seiner rekonstruieren ließen, so ermöglicht die Kon- Dämonisierung der neuseeländischen Mandatsträ- zentration auf exotistische Romane gelegentlich ger, die vom Versailler Vertrag eingesetzt wur- eine Rekonstruktion. Scheurmanns Texte zeigen, den, und in seinem sich dem faschistischen Pri- wie er von Samoanern parodiert wurde (vgl. mitivismus annähernden Samoa-Bild verknüpfen S. 211–214) und wie er die Gewalthandlungen die Texte dieses NSDAP-Mitglieds den kolonia- eines Samoaners richtig als kolonialen Widerstand len Diskurs mit dem Nationalsozialismus. las und damit in Widerspruch zu der offiziellen Die im deutschen Kaiserreich begonnene „Al- Darstellung dieser Handlungen durch die Kolo- legorisierung“ Samoas setzt sich in der deutschen nialverwaltung geriet (vgl. S. 235–239). Eine zu- Gegenwartsliteratur fort. In seinem Schlusskapitel sätzliche Stärke ist, dass Schwarz metatheoretische analysiert Schwarz fünf Romane (von Herbert Überlegungen über postkoloniale Theorie ver-

Nachbar, Waltraud Lewin, Sabine Büssing, Alex meidet und postkoloniale Erkenntnisse direkt in

Capus, Friedrich Kröhnke), die zwischen 1976 seine Analysen der Romane integriert. Im Ge- und 2006 erschienen und den Archipel als Projek- gensatz zu Homi Bhabha sieht Schwarz Hybridi- tionsfläche zur Darstellung von Spannungen in der sierung nicht als Untermininierung des kolonia- deutschen bzw. schweizer Gesellschaft verwenden. len Diskurses.

Ozeanische Affekte schließt sich an Unter- Zu fragen bleibt, ob die Samoa-Literatur zwi- suchungen wie Gabriele Dürbecks Stereotype Para- schen 1919 und 1933 ausschließlich eine biopoli- diese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur tische Verschärfung des kolonialen Diskurses an-

(2007) und Anja Halls Paradies auf Erden? Mythen- zeigt. Eine postkoloniale Phase im Samoa-Diskurs, 168 Besprechungen die Schwarz in der Gegenwartsliteratur nicht fin- leben und die Debatten über Mischehen mitge- det, könnte man in den Romanen aus der Wei- prägt, sondern auch Spuren in deutscher Samoa- marer Zeit suchen, wenn man unter „postkolo- Literatur hinterlassen. nial“ Gefühle einer umgekehrten Kolonisierung versteht. Sind die paranoiden Auswüchse in den Anmerkungen Romanen von Scheurmann und Erich Düster- dieck, und teilweise auch von Willy Seidel, Aus- 1 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. druck von anti-neuseeländischem Kolonialrevi- Vorlesungen am Collège de France (1975–1976), sionismus oder von einer als traumatisierend Frankfurt a. M. 1999. empfundenenen Umkehrung der Stellung der 2 Evelyn Wareham: Race and Realpolitik. The Poli- tics of Colonisation in German Samoa, Frankfurt deutschen Kolonisatoren? Weiter zu erforschen a. M. 2002; vgl. auch Lora Wildenthal: German Em- wäre auch der Anteil der ansässigen Ausländer an pire for Women, 1884–1945, Durham 2001. der Entwicklung des Samoa-Diskurses, vor allem 3 Alexander Krug: „Der Hauptzweck ist die Tötung der angloamerikanischen Missionare und Händ- von Kanaken“. Die deutschen Strafexpeditionen in ler. Wenn die deutsche Erfindung der taopou das den Kolonien der Südsee 1872–1914, Marburg veredelte Gegenbild zur französischen Konstruk- 2005. tion der vahiné aus Tahiti war, stellt sich die Frage, wie es den Deutschen gelang, die missionarische Richard Sperber Kolonisierung von Samoanerinnen, und die da- Carthage College mit verbundene missionarische Entwertung von Kenosha, WI 53140

Traditionen wie der taopou zu umgehen. Auslän- USA dische Händler haben nicht nur das Wirtschafts-

ROLAND BERBIG, DIRK GÖTTSCHE (Hrsg.) Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus (Schriften der

Theodor Fontane Gesellschaft e. V., Bd. 9), Verlag Walter de Gruyter, Berlin, Boston 2013, 349 S.

Theodor Fontane hat in seinem Stechlin-Roman Fokus. Am Beispiel dieser (und anderer) Auto- ein Bild dafür entworfen, wie sehr räumlich Na- r(inn)en untersucht dieser Band vor allem Aspek- hes und Fernes miteinander verschränkt sind. te von Raum- und Mobilitätsdarstellungen, und

Immer wieder wurde und wird diese rätselhafte er konzentriert sich auf drei Hauptfragen: Wie

Stelle zitiert: Die Sage, dass im Stechlin ein Wasser- werden Raum und Mobilität inhaltlich zum The- strahl und ein roter Hahn aufsteige, wenn sich auf ma? Was bedeutet das für literarische Schreib- und

Island, Java oder Hawaii Vulkane regen würden. Darstellungsprozesse, wie beeinflussen diese Aspek-

Solche Weltbezüge der Literatur des deutschen te die literarische Form und das literarische For-

„Realismus“ sind Thema dieses Sammelbandes. mat? Wie kann Literaturwissenschaft dieses The- Er fragt, wie das Globalisierungsgeschehen des ma methodisch-adäquat erschließen? 19. Jahrhunderts in realistischer Literatur ihren Diesen drei Fragen nähert sich dieses sehr

Widerhall fand. Im Zentrum stehen Autoren wie empfehlenswerte Buch in vier Abschnitten. Einer

Berthold Auerbach, Theodor Fontane, Karl Gutz- Einleitung der Herausgeber, die das Anliegen skiz- kow, Wilhelm Jensen, Gottfried Keller, Wilhelm ziert, folgt ein erster Abschnitt mit zwei über-

Raabe, Friedrich Spielhagen, Adalbert Stifter und greifenden Beiträgen, die erstens die Verknüpfung

Theodor Storm (Gustav Freytag scheint etwas stief- europäischer und außereuropäischer Welten in der mütterlich behandelt zu werden). Mit Autorinnen Literatur des Realismus thematisieren (DIRK wie Marie von Ebner-Eschenbach, Wilhelmine GÖTTSCHE), und zweitens am Beispiel von Fonta- von Hillern und Else Kobert Schmieden kommen ne und Raabe spezifische Raumsemantiken un- auch viel zu oft unterschätzte Autorinnen in den tersuchen, wobei ein genereller Forschungsüber- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 169 blick zur Frage „Raum und Literatur“ als Grund- Blick auf beide Facetten kann Zugänge dazu er- lage dient (ROLF PARR). Das Verdienst des erstge- möglichen, wie in literarischen Werken z. B. Cha- nannten Beitrags besteht vor allem in der Analyse raktereigenschaften handelnder Personen oder der Präferenzen beim Darstellen fremder Welten soziale Hierarchien demonstrativ verräumlicht und den betreffenden Hierarchien: Der Nordame- werden. Parrs Fazit lautet, dass sich insbesondere rikadiskurs dominiert die Karibik-, Lateinamerika die Literatur des Realismus durch solche räumli- und Afrikadiskurse; China und Ostasien werden che Kodierungen von Charakteren und Hierar- erst allmählich entdeckt. Der nächste Abschnitt chien auszeichnen, d. h. durch starke Ordnungs- zu Fragen von Raum, Nation und Natur macht modelle, geprägt durch deutliche Grenzziehungen zum Thema, wie Natur national kodiert und und den Willen zu Übersichtlichkeit – Übersicht- damit gezielt in einem politisch-europäischen lichkeiten, die um 1900 in anderen literarischen

Rahmen verortet wird und wie in Werken des Strömungen hinfälliger wurden, weil Raumver- Realismus aufgrund liberaler Fortschrittsoptio- schachtelungen weitaus komplexer und betreffen- nen technische Naturbeherrschung und politi- de Übergänge viel flüssiger wurden. sche Raumbeherrschung nicht selten miteinan- Untersucht dieser Band, konzentriert auf eine der synthetisiert werden (HANS-JOACHIM HAHN, literarische Epoche, d. h. auf einen relativ deut- LYNNE TATLOCK, JANA KITTELMANN DAVID DAR- lich umrissenen Untersuchungszeitraum und so-

BY). Ein nächster Teil analysiert, nicht zuletzt mit gleichsam in ‚dichter Beschreibung‘, literari- mit Blick auch auf Kartierungspraktiken, den Zu- sche Raumimaginationen, verbleibt er dabei eben sammenhang europäischer und außereuropäischer nicht auf der Ebene der „Widerspiegelung“. Viel- Topographien, wobei nach dem Konnex von mehr untersucht er räumliche (und zunehmend

Kolonialismus, Imperialismus, Technik- und Wis- globalisierte Schauplätze) auch bezüglich spezifi- senseuphorien gefragt wird und auch Genderfra- scher literarischer Strategien, Raum und Räume gen eine Rolle spielen (DANIELA GRETZ, KATHA- überhaupt darstellbar und modellierbar zu machen.

RINA GRÄTZ, DIRK OSCHMANN, KERSTIN STÜSSEL, Insofern liegt eine Arbeit vor, die den Zusam-

HELEN CHAMBERS). Ein vierter und letzter Ab- menhang von außerliterarischen Kontexten und schnitt, widmet sich – so ein Auszug aus der Über- literarischen Texten souverän thematisiert, weil schrift – „Chronologische[n] Kontrapunkten[n]“. textuelle Fragen nicht als sekundär außer Acht ge- Hier kommt ausdrücklich Zeit ins Spiel: Natur- lassen werden. Und dass solche Raumimaginati- zeit, Erdzeit und die geschichtliche Zeit in ihren onen nicht losgelöst von Zeitimaginationen un- vielgestaltigen Facetten und Parallelitäten (FRAN- tersucht werden können, wird immer wieder ZISKA FREI GERLACH, HANS-JÜRGEN SCHRADER, implizit und explizit deutlich gemacht; geradezu

JEFFREY L. SAMMONS). folgerichtig nimmt der letzte Abschnitt auch ge-

Dennoch, das Thema Raum, d. h. Globalisie- zielt und ausdrücklich „Zeit“ in den Fokus. Er rung unter dem Vorzeichen von Raum, ist der folgt somit nicht altbackenen Forschungsansätzen, Hauptgegenstand des Bandes. Die betreffende die sich im Paradigma eines spatial turn längst kom- methodische Herausforderung für die Literatur- fortabel eingerichtet haben. Angesichts dessen wissenschaft wird von Parr im Einleitungsabschnitt könnte man sogar behaupten, dass das, was be- ausdrücklich benannt: Die neuen Kultur- und züglich „Raum“ auf vielen Wissenschaftsfeldern

Sozialwissenschaften sind sich der Bedeutung von in den letzten Jahrzehnten auf komplexe Weise

Raumphänomenen längst bewusst, und auch be- geleistet wurde, für den Topos „Zeit“ in gewisser wusst, dass sie literarisch bedeutsam sind. Wie aber Weise noch aussteht. spiegeln sie sich tatsächlich literarisch? Was be- Die Herausgeber und Mitarbeiter des Bandes deutet Raum für das Schreiben, wie ist er Texten scheinen sich dieser Problemlage bewusst zu sein. eingeschrieben? Unter Rückgriff auf Jurij M. Räume und Orte stehen im Mittelpunkt, aber das

Lotmanns Text- und Raumsemantik wird vorge- Verhältnis von Erdzeit und Geschichtszeit, Lebens- schlagen, Raum erstens als konkrete literarische zeit und Weltzeit, Evolution und Beschleunigung, Erscheinungsformen anzusehen, zweitens und von Fortschritts- und Nostalgiepathos (und de- darüber hinaus aber auch als abstraktes Darstel- ren Folgen für literarische Darstellungspraktiken) lungsmittel mit semantischem Mehrwert. Der spielt durchaus eine Rolle. Um das pointiert zu 170 Besprechungen verdeutlichen: Der Band beginnt nicht mit Fon- spruch, nicht routiniert-flott modischen Paradig- tanes berühmter Wasserstrahl- bzw. Hahn-Alle- men folgt, sondern bekannte und unbekannte li- gorie aus dem Stechlin. Stattdessen setzt er unmit- terarische Werke auf methodisch basierte Weise telbar ein mit Raabes Pfisters Mühle, mit zu Wort kommen lässt und entschlüsselt.

Beobachtungen über Verzeitlichung, Dynamisie- rung, Beschleunigung und über einen Moderni- Olaf Briese sierungssog, in dem sich Zeit- und Raumverhält- Humboldt Universität zu Berlin nisse gleichermaßen unumkehrbar verändern. Institut für Kulturwissenschaft

Dieser Einstieg steht für die eingeschlagene Ar- Unter den Linden 6 beitsrichtung. Insgesamt liegt ein instruktiver Sam- D–10099 Berlin melband vor, der, bei allem theoretischen An-

BERNHARD ARNOLD KRUSE Wider den Nationalismus – oder von den Schwierigkeiten eines interkulturellen Lebens. Zu den

Südtirolromanen von Joseph Zoderer, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2012, 356 S.

Die umfangreiche Arbeit beschäftigt sich mit den „[D]er gemeinsame Grundnenner der Roma- drei Romanen Das Glück beim Händewaschen ne Joseph Zoderers“ sind laut Kruse die „Erkun-

(1976), Die Walsche (1982) und Der Schmerz der dungen der Fremdheit“ (S. 28). Den zeithistori-

Gewöhnung (2002) des Südtiroler Schriftstellers schen Erfahrungs- und Verständnishintergrund

Joseph Zoderer, die BERNHARD ARNOLD KRUSE vieler seiner Romane bildet die sogenannte Op- unter dem Sammelbegriff ‚Südtirolromane‘ im tion, die zwischen dem nationalsozialistischen historischen Kontext interpretiert. Joseph Zode- Deutschland und dem faschistischen Italien ge- rer (geb. 1935 in Meran) zählt neben Roberta troffene Berliner Vereinbarung zur Umsiedlung Dapunt (geb. 1970), Sabine Gruber (geb. 1963), der Südtiroler Bevölkerung aus dem Jahre 1939,

Margareth Obexer (geb. 1970) und Alessandro die eines der am stärksten traumatisierenden Er- Banda (geb. 1963) zu der kleinen Gruppe leben- eignisse in der Geschichte Südtirols im 20. Jahr- der deutsch, italienisch oder ladinisch schreiben- hundert war. Konstitutiv ist diese ‚Option‘ für Das der Schriftsteller(innen) aus Südtirol, die auch jen- Glück beim Händewaschen, dem Kruse den ersten seits der regionalen Grenzen wahrgenommen und Teil seiner Arbeit widmet. Der junge Ich-Erzäh- rezipiert werden. Es ist Zoderers Verdienst, wie ler, Sohn einer von Südtirol nach Österreich aus- Kruse unterstreicht (S. 19), dass er mit seinen gesiedelten Familie, kommt über den Umweg ei- Romanen Das Glück beim Händewaschen und Die nes Schweizer Internats in den Nachkriegsjahren Walsche einer unter den frühen Schriftstellern ist, nach Südtirol zurück, in (s)eine Heimat, deren die nationale Identitätsmomente zugunsten einer, Sprache und Kultur ihm fremd sind. Unter den wie man später sagen wird, interkulturellen Iden- Schlagworten „Nationalismus und Pastoralmacht“ tität dekonstruiert hat: „Nicht nur wird in ihnen analysiert Kruse die psychologischen, historischen ein Teil der Geschichte Europas sichtbar, sondern und narratologischen Schichten des Romans. vor allem werden exemplarisch sowohl die histo- Der zweite Teil befasst sich mit dem Roman rischen Mechanismen des Nationalismus und die Die Walsche, der den nationalistischen Antiitalia- durch ihn hervorgebrachten Konflikte als auch nismus und die Schwierigkeiten deutsch-italieni- durch ihn geprägten Subjektivitätskonfigurationen scher Koexistenz der 1970er Jahre vor allem in zur Darstellung gebracht. In ihnen aber scheinen den ländlichen Gebieten Südtirols thematisiert und auch Subjektivitätsmodelle auf, die gegen und über problematisiert und mit zeitgenössischen Links- den Nationalismus hinaus auf Konstellationen bewegungen in Italien kontrastiert. Ähnlich in den postnationaler, multikultureller Gesellschaften Figuren- und Konfliktkonstellationen, chronolo- weisen.“ (S. 16) gisch jedoch weniger linear und in städtischem Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 171

Setting lokalisiert, ist der Roman Der Schmerz der jektivitätskonstruktion – immer ausgehend von

Gewöhnung, der im dritten Teil behandelt wird. Zoderers ‚Südtirolromanen‘ – nicht nur im Kon-

Kruses Arbeit macht deutlich, wie stark Zode- text der Zeitgeschichte, sondern noch stärker und rers Südtirolromanen Bewegung und Migration, vergleichend im Kontext der Literatur vollzogen die Erfahrung von Emigration und Remigration, hätte.

Grenz- und Schwellenübertritten, Ausgrenzung und Zugehörigkeit eingeschrieben sind und wie Anmerkungen sehr die biographische und ideologische Verortung der Protagonisten auf das Land Südtirol bezogen 1 Bezogen auf die Region zuletzt etwa Nóra de Bui- sind. Südtirol ist hier Symptom und Synonym für teléir: Tyrol or Not Tyrol. Theatre as History in Südtirol/Alto Adige, Oxford u. a. 2013; Marjan Ces- unterschiedliche überstarke, gleichzeitig aber cutti, Johann Holzner, Roger Vorderegger (Hrsg.): immer auch in Frage gestellte Nationalitäten und Raum – Region – Kultur. Regionale Kultur- und als politische und kulturelle Interferenzregion Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktuel- Schauplatz individualisierter Konflikte. Der Band ler germanistischer Diskurse, Innsbruck (im Erschei- fügt sich in einen gegenwärtigen Diskurs um die nen). Lesart von Literatur als Geschichte und Literatur- 2 Joseph Zoderer. text & kritik 188 (2010). 1 wissenschaft als Geschichtsschreibung ein. Die 3 Günther A. Höfler, Sigurd Paul Scheichl (Hrsg.): zuletzt erschienenen Grundlagen-Arbeiten zu Joseph Zoderer, Graz 2010. Zoderer, das Heft in der Reihe text und kritik2 4 Bernhard Arnold Kruse: Jenseits des Nationalismus. und das Droschl-Dossier3, ergänzt Kruse um kom- Die Südtirolromane von Joseph Zoderer. In: Joseph Zoderer (wie Anm. 2), S. 39–55. plex gewobene Facetten und Details.

Kruses Arbeit ist eine akribische, streckenweise Toni Bernhart auch etwas weitschweifige Spezialstudie. Sie geht Freie Universität Berlin weit über die themengebende Fragestellung hin- Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Verglei- aus und lässt sich dadurch auch als eine Art Ge- chende Literaturwissenschaft samtinterpretation rezipieren. In komprimierter ERC-Projekt DramaNet

Form kann man das 356 Seiten starke Buch nach- Habelschwerdter Allee 45 4 lesen in Kruses Aufsatz Jenseits des Nationalismus. D–14195 Berlin Sehr gewonnen hätte der Band, wenn er die Sub-

*

CORD-FRIEDRICH BERGHAHN, TILL KINZEL (Hrsg.) Johann Joachim Eschenburg und die Künste und Wissenschaften zwischen Aufklärung und Romantik. Netzwerke und Kulturen des Wissens, Winter Universitätsverlag, Heidelberg 2013, 464 S.

Der anzuzeigende Sammelband steht in einer il- intensiver Forschungs- und Lehrtätigkeit“ zu fin- lustren Reihe von Wiederentdeckungen und den. Nicht nur sei er ein „höchst uneigennütziger

Neukonturierungen nicht kanonisierter Auto- kultureller und wissenschaftlicher Mittler“ gewe- r(inn)en des 18. Jahrhunderts.1 Der Johann Joa- sen, vielmehr habe er in „allen“, vielfältigen Be- chim Eschenburg (1743–1820) gewidmete Band reichen seines Schaffens „produktive Leistungen“ umfasst 23 Artikel, die das breite Spektrum dieses (alle Zitate S. 9) hervorgebracht. Der Klappentext Philologen, Übersetzers, Publizisten und Schul- weist Eschenburg als einen der „entscheidenden mannes analysieren. In der „deutsche[n] Litera- Intellektuellen an der Schwelle von Aufklärung, tur- und Kulturgeschichte“ (nicht bloß um 1800!) Klassik und Romantik“ aus. sei, so die Herausgeber, „kaum“ ein anderer „Wis- Indes zeigen viele Beiträge des Sammelban- senschaftler von derart weitreichender Ausstrah- des, dass Eschenburgs Positionen sich oft von den lung, derart weitgespannten Interessen und derart intellektuell avancierten Thesen seiner Zeit un- 172 Besprechungen terscheiden: In der Ästhetik rezipiert er die Halle- belegen die Beiträge dieses Bandes mithin nicht. sche Ästhetik der Jahrhundertmitte (CARSTEN Allerdings erkennt man in Eschenburg einen Wis- ZELLE, S. 35), aber er vollzieht die Historisierung senschaftler, der mit einigen der prominentesten ästhetischer Erkenntnis des letzten Jahrhundert- Intellektuellen seiner Zeit – genannt seien nur drittels weder nach noch mit. Ein „eigentliche[s] Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Nico- 2 Geschichtsbewusstseins, wie es gegen Ende des lai – in engem Arbeits- oder gar freundschaftli- 18. Jahrhunderts doch bereits weit ausgeprägt ist“, chem Kontakt stand und der sich mit einigen der fehle ihm (MATTHIAS BUSCHMEIER, S. 102). In der relevantesten intellektuellen Diskurse seiner Zeit

Wissenschaftstheorie versucht Eschenburg, im beschäftigte. Den Weg zur Erklärung dieser Dis-

Kontrast zur Ausdifferenzierung der Wissenschaf- krepanz weisen die Herausgeber, wenn sie Eschen- ten um 1800, durch eigene ordnende Hand eine burg als „paradigmatische Figur der Spätaufklä- kohärente Systematik und Methodik aller Wissen- rung“ adressieren (S. 12, vgl. auch Dehrmann, schaften zu schaffen. Dabei greife er auf „Ord- S. 77). Nicht mehr, aber auch nicht weniger kann nungsprinzipien“ zurück, „die nicht nur veraltet, man von Eschenburg sagen. Kinzel hebt auf den sondern [. . .] ungeeignet sind“ (INA SCHABERT, „,normalwissenschaftliche[n]‘ Status“ (S. 156) von

S. 20). Anders als die Encyclopédie, die die kog- Eschenburgs Schriften ab. Die Eschenburg-For- nitive Offenheit eines Labyrinths mitdenkt, suche schung könne aufzeigen, was die „Möglichkeiten Eschenburg eine „richtige Karte von den Gegen- eines keineswegs originellen, aber umfassend ge- den und Ländern“ der Wissenschaften zu zeich- bildeten Geistes“ (S. 156) waren. Hier zeichnet nen (CHRISTINA JOHANNA BISCHOFF, S. 57, und sich ein zeitgenössischer Diskurs ab, der – analog

Buschmeier, S. 99). Zwar vermittelt er die engli- zu Walter Benjamins vielbemühter Frage nach sche Musikästhetik deutschen Lesern, doch „ver- dem, was die Deutschen lasen, während ihre Klas- hallt“ sein Plädoyer für die Engländer mit dem siker schrieben – die Relevanzen, Kontroversen

Siegeszug der Wiener Oper und der neuen In- und Argumentationsstrategien der Zeit um 1800 strumentalmusik (LAURENZ LÜTTEKEN, S. 171). nicht vom intellektuellen Höhenkamm her er-

Eschenburg suche Künste und Wissenschaften schließbar macht. anthropologisch zu fundieren (MARK-GEORG Der Band ist leider nicht recht überzeugend

DEHRMANN, S. 86), doch vollzieht er die episte- strukturiert. Titel und Untertitel des Buches, Ein- mologische Konsequenz aus der aufklärerischen leitung und Sektionsgliederung adressieren eine Anthropologie nicht nach: Nichtwissen bleibt Fülle von sich überschneidenden Semantiken: Der Eschenburg nur Noch-nicht-Gewusstes, nicht Titel des Sammelbandes stellt Eschenburg in Zu- unhintergehbares Faktum, wie es spätestens seit sammenhang mit den „Künsten und Wissenschaf-

Herder als anthropologisches Argument geltend ten zwischen Aufklärung und Romantik“. Der gemacht wurde. Selbst seine Shakespeare-Über- Untertitel adressiert „Netzwerke und Kulturen des setzungen und -Vermittlungen, die ihm eine pro- Wissens“. Der Titel der Einleitung der beiden minente Stelle in der Vorgeschichte der Anglis- Herausgeber kombiniert „Kulturen des Wissens“ tik zuweisen (TILL KINZEL, S. 143), sind, v. a. bei mit der Epochenangabe des Buchtitels, lässt aber den Sonetten, von Missverständnissen und Unge- die „Netzwerke“ unangesprochen. Sie spricht nauigkeiten geprägt. Es bestehen „Zweifel an der mithin nur eine Auswahl der Zentralbegriffe des poetischen Urteilsfähigkeit des Übersetzers“ Bandes an. Die erste Sektion (11 Artikel) ver-

(WERNER VON KOPPENFELS, S. 261). Dass er spricht, die „Künste und Wissenschaften“ des schließlich in zahlreichen Beiträgen als Eklekti- Obertitels zu ‚vermessen‘. Die zweite Sektion (10 ker gewürdigt wird, liest sich angesichts der Um- Artikel) heißt wiederum genau wie der Unterti- kodierung von Eklektik zu Selbstdenken in der tel des gesamten Bandes. Nur zwei Artikel bilden

Spätaufklärung ebenfalls eher als Ausweis einer die dritte Sektion. Sie untersuchen „Spuren“, kon- Differenz zu zeitgenössischen Positionen denn als kret: die Bildnisse Eschenburgs (REIMAR F. L ACHER)

Beleg für Eschenburgs Innovativität. und sein pädagogisches Wirken am Collegium Dass Eschenburg eine auch intellektuell „zen- Carolinum (GERD BIEGEL). Man hat den Eindruck trale[ ] Gestalt der europäischen Aufklärung“ einer gewissen kombinatorischen Beliebigkeit, die (CORD-FRIEDRICH BERGHAHN, Kinzel, S. 16) war, die gängigsten Schlagworte wissenschaftspoliti- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 173

scher Konjunkturen in immer neuen Verbindun- die Herausgeber formulieren: Es zieht eine „Sum- gen aufführt, ohne dass die Zentralbegriffe selbst me“ der bisherigen Eschenburg-Forschung und bestimmt und deren Verhältnis zueinander im regt zu „weitere[n] Forschungen und Editionen“

Band erläutert würden. Viele Beiträger hätten (S. 15) an, die eine umfassende Quellen- und For- daher gut auch in die jeweils andere Sektion ein- schungsbibliographie sowie ein Namenregister geordnet werden können. zum Band erleichtern werden. Eschenburg ist Dies ist umso bedauerlicher, als die in sich über- zweifelsfrei ein wichtiger Gegenstand zukünfti- zeugende Einleitung ein passendes Ordnungsprin- ger Forschung. Er bildet die Basis, nicht die Avant- zip geliefert hätte: Die Herausgeber unterschei- garde der zeitgenössischen Diskussion. Doch ist den und erläutern acht „Felder“ (S. 9–11) von es genau diese Basis, die erkennen lässt, wie die

Eschenburgs Wissen und Forschen: Eschenburg Mehrzahl der Teilhaber am Bildungsdiskurs um erscheint als Übersetzer, als Literaturvermittler und 1800 dachte. In diesem Sinne lässt der Band erah-

-erforscher, als Wissenschafts- und Kunsttheore- nen, wie Wissen um 1800 „funktioniert“ hat. tiker, Musikhistoriker, Lyriker, Philosoph und nicht zuletzt als regional wirksame Größe im Bildungs- Anmerkungen diskurs. In diese Rollen hätte sich ein Großteil der Artikel einordnen und dadurch miteinander 1 Exemplarisch: Achim Aurnhammer, Wilhelm in engere Beziehung setzen lassen. Kühlmann (Hrsg.): Gottlieb Konrad Pfeffel (1736– 1809). Signaturen der Spätaufklärung am Oberrhein, Die Herausgeber haben entschieden, den Text Freiburg 2010; Mark-Georg Dehrmann, Alexan- eines Vortrags von GUDRUN BUSCH aus dem Jahr der Košenina (Hrsg.): Ifflands Dramen. Ein Lexi- 1985 als Artikel in den Band aufzunehmen. Die kon, Hannover 2009; Erdmut Jost (Hrsg.): Sitten der Autorin gibt in einer Fußnote an, derzeit wieder schönen Pariser Welt. Sophie von La Roche und am Thema zu arbeiten (S. 194). Doch wäre eine das Monument du Costume, Halle 2011. Aktualisierung wünschenswert gewesen, zumal 2 Vgl. die Artikel von Berghahn und Hans-Joachim rund zwei Drittel der Eschenburg-Forschung nach Jakob. Die Jakobs Artikel beschließende Biblio- 1985 erschienen ist und sich hier die Gelegenheit graphie von Eschenburgs Rezensionen in der ADB geboten hätte, die damaligen Erkenntnisse auf der (S. 245–255) ist auch in der umfassenden Quellen- Basis neuerer Forschungen zu prüfen. bibliographie Till Kinzels am Ende des Bandes auf- Was leistet dieses Buch? Es bietet eine Fülle geführt (S. 401–447). von kenntnisreichen, argumentativ überzeugen- den Einzelbeiträgen, die das Spektrum eines viel- Rainer Godel seitigen Wissenschaftlers und Wissensvermittlers Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am Ende der Aufklärung aufzeigt. Der Band bie- LFSP Aufklärung – Religion – Wissen tet einen aufschlussreichen Einblick in die Ord- Franckeplatz 1, Haus 24 nung der aufklärerischen Wissenschaften im „Nor- D–06110 Halle (S.) malzustand“. Das Buch erfüllt damit die Ziele, die

MARGRIT VOGT Von Kunstworten und -werten. Die Entstehung der deutschen Kunstkritik in Periodika der Auf- klärung, Verlag Walter de Gruyter, Berlin, New York 2010 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklä- rung, Bd. 32), 364 S., 18 s/w. Abb.

Zu Recht wird in der Einleitung (I.) hervorge- (München 1915) oder Lionello Venturis (New hoben, dass „[. . .] die deutsche Kunstkritik bis heu- York 1936) stets in Zusammenhang mit der Ein- te beinahe unerforscht geblieben [ist].“ (S. 16) Die richtung regelmäßiger Kunstaustellungen in Pa-

Entstehung der neueren literarischen Kunstkritik ris gebracht und entsprechend, z. B. im Hinblick ist seit den klassischen Werken Albert Dresdners auf Diderots literarische Salon-Kritiken, entspre- 174 Besprechungen chend beschrieben worden. „Im Zeitraum 1759– die komplementäre Entfaltung von Kunstmarkt

1781 hat sich Diderot als Kritiker [. . .] hervor- (S. 158–162), Museumslandschaft (S. 162–166), getan, wodurch die Gattung erst einen höheren Ausstellungs- (S. 167–173) und Zeitschriftenwe- literarischen Rang und eigentlich kulturelle Be- sen (S. 173–183) führt zu einer „Komplexitäts- deutung gewann.“1 Dass mit solchen eingefahre- steigerung“ der Kunstkritik, die dadurch „meta- nen Vorstellungen nun gebrochen werden kann, reflexiv“ wird, d. h. sich u. a. auf Kunstkritiken in verdankt die neugermanistische Berliner Disser- anderen, konkurrierenden Zeitschriften bezieht, tation von MARGRIT VOGT drei Entscheidungen: Kriterien und Normen des Geschmacksurteils

1. der mutigen Aushebung eines bemerkenswert reflektiert und neue Darstellungsformen kunst- reichhaltigen deutschsprachigen Textkorpus, das kritischen Schreibens entwickelt (S. 157 f.). bisher bestenfalls partiell in den Blick geraten war, Entsprechend des in die Zauberformel ,Aus- 2. eines dezidiert medien-, genauer zeitschriften- differenzierung‘ gefassten vorher/nachher-Prozes- historischen Zugriffs und 3. der Sortierung des so ses organisiert das adressatenfreundlich geschrie- konstituierten Materials mit Hilfe eines system- bene Buch seinen umfangreichen Stoff in zwei theoretischen, d. h. von Niklas Luhmann entlehn- Teilen. 2 ten Untersuchungsbestecks. Mit ihm wird vor Kap. III, IV und V rehabilitieren den frühen allem die übergreifende, durchaus sattelzeit- deutschen, am Klassizismus orientierten Kunst- konforme und an neugermanistischen Periodie- diskurs mit seiner oftmals kompilatorischen Wis- rungsgewohnheiten orientierte These für den sensproduktion in Gottscheds Leipziger Ge- Entstehungszeitraum der deutschen Kunstkritik lehrtenzeitschriften, entreißen die auf Kunst-, zwischen 1740/50 und 1780/90 modelliert, dass insbesondere Kupferstichinventarisierung und nämlich die Kunstkritik im Zuge der medialen -ankündigung ausgerichteten Augsburger Perio-

,Ausdifferenzierung des Kunstsystems‘ ab 1770 dika der Vergessenheit und zeigen am Beispiel selbstbezüglich werde, d. h. den oben zitierten ,hö- der seit 1772 von Johann Heinrich Merck gelei- heren literarischen Rang‘ erklimmt. teten Frankfurter Gelehrten Anzeigen, wie gerade

Mit dem an dieser Stelle etwas abschrecken- die Kupferstichkritiken, z. B. Goethes oder Her- den Luhmann-Jargon, der sich im weiten Verlauf ders, zur Nobilitierung dieser Kunst beitragen. der konkreten Arbeit an den Sachen freilich ver- Stets verbindet die Verfasserin dabei informations- liert, heißt es dazu: „Die vorliegende Arbeit zeigt gesättigte Einführungen z. B. in die regionalen diesen Übergang von der frühen Kunstbespre- Verhältnisse in Leipzig, Augsburg oder Frankfurt, chung im Modus einer Beobachtung erster Ord- Beobachtungen zu kunstkritischen französischen nung hin zu einer metareflexiven Kunstbetrach- oder englischen Vorbildern und thematisierten tung, der Beobachtung zweiter Ordnung, (als Inhalten mit Analysen einzelner Texte, die

Verschiebung von der Frage was, hin zur Frage insbesondere deren Faktur in den Vordergrund wie beobachtet wird).“ (S. 14) Aus einer zunächst stellen. abgeleiteten Textsorte, die auf Kunstgegenstände Kap. VI, VII und VIII schreiten die verschie- hinweisen und Informationen vermitteln will, denen Formen komplexitätsgesteigerter Kunstkri- wird das ,Reflexionsmedium‘ (Walter Benjamin) tik (zweiter Ordnung) aus. Die oben schon vor- eines poetisch-literarischen Genres, das u. a. Ge- gestellten Aussagen zur ,Ausdifferenzierung des schmacksmaßstäbe kritisch hinterfragt, die Modi Kunstsystems‘ bilden gewissermaßen Mitte und der eigenen Kunstbeschreibung offenlegt und Mittelachse des Buches. Hier zeigt sich, dass die dadurch verfeinert oder als Seh-, Sinn- und Wahr- Funktion der Zeitschriftenkommunikation im nehmungsschule fungiert. Die , Ausdifferenzierung deutschen Raum, das fehlende urbane Zentrum des Kunstsystems‘ bringt ein literarisches Genre zu ersetzen, auch für die Entwicklung der Kunst- als kritische „Reflexionsform“ (S. 8) mit einer kritik die glücklichsten Folgen hatte: „Im Unter- ,doppelten Optik‘ hervor, die zugleich den Ge- schied zur französischen Kunstkritik, die sich genstand bildender Kunst und dessen kritische als Salonkritik institutionalisiert, ist der deutsche Aufnahme in einem anderen Medium in den Kunstdiskurs in den Zeitschriften nicht an Insti- Blick nimmt. Kurz: Die „Ausdifferenzierung des tutionen wie die Kunstakademien oder den Mu- deutschen Kunstsystems“ (S. 157 und pass.), d. h. seums- und Ausstellungsbetrieb gebunden, denn Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 175

die schriftliche Ausdifferenzierung des deutschen Magazin für die bürgerliche Baukunst nachgedruckt Kunstdiskurses erfolgt im Medium der Zeitschrift und schließlich von Goethe selbst 1824 in Ueber ohne lokales räumliches Zentrum.“ (S. 157) Die Kunst und Alterthum zum Druck gebracht wurde, beginnende , Ausdiffererenzierung des Kunstsys- geben ebenfalls Anlass, über die Trennschärfe des tems‘, die in Kap. VI ausführlich nachgezeichnet Begriffs ,Periodikum‘ zu reflektieren. Sie animie- wird, ist geradezu Möglichkeitsbedingung einer ren freilich zugleich die Zeitschriftenforschung besonders komplexitätsgesteigerten Form kunst- dazu, u. a. über Textarrangements, wechselnde kritischen Schreibens, und zwar einer „Kritik der Rahmungen des gleichen Textes, die Bedeutung

Kritik“ (ebenda) mit ihrer „Doppelreferenz“, d. h. von Paratexten und die auktoriale Bedeutung ei- zugleich visuell auf das Kunstwerk und verbal auf nes Herausgebers nachzudenken.5 Die Formel von eine andere Kritik des gleichen Kunstwerks in der „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (S. 227 f.), die einem anderen kritischen Organ ausgerichtet zu im Zusammenhang der Analyse unterschiedlicher sein (Kap. VI, 6.6) – eine Treibhaussituation Versuche, Visualität zu verbalisieren, kritiklos auf- zur Züchtung einer kunstkritischen „Streitkultur“ gegriffen wird, hätte wohlmöglich vermieden

(S. 212) u. a. mit der rhetorischen Folge, dass sich werden können. Tatsächlich findet ja keine ,Re- in einem solchen aufgehitzten Klima die aufklä- habilitation‘, sondern eine Kanalisierung, und zwar 6 rerische Praxis anonymer Publikation als Garant ausschließlich der Augensinnlichkeit statt. Dass unparteiischen Urteilens zugunsten eines aukto- mit der Entfaltung des Zeitschriftenwesens auf der rialen „Aufrichtigkeitspathos“ (ebenda) verschob, einen und der Intensivierung der Machtkämpfe das die Glaubwürdigkeit eines Arguments von der zwischen den deutschen Kunstinstitutionen auf

Namensnennung seines Verfassers abhängig mach- der anderen Seite der Konkurrenzdruck im Kunst- te. Kapitel VII verfolgt die Generierung neuer system stieg, verwundert nicht. Die hierdurch kunstkritischer Formen, und zwar die „Versach- entfesselte Polemik in der kunstkritischen Aus- lichung und Verwissenschaftlichung“ (S. 227) der stellungsberichterstattung dokumentiert Kap. VIII

Kunstkritik am Beispiel des sich zur Fachzeitschrift insbesondere im Anschluss an Weißes Neue spezialisierenden Journals zur Kunstgeschichte und Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen zur allgemeinen Litteratur (1775–1789) einerseits, Künste und dem von Boie und Dohm heraus- vielfältiger Erscheinungsformen seriell erscheinen- gegebenen Deutschen Museum im Hinblick auf der Kunstbriefe, die die „Literarisierungsstrate- Rivalitätskämpfe in Dresden sowie u.a. im Blick gien“ (S. 232) empfindsamer Briefkultur aufgrei- auf Aloys Hirts 1786 in Wielands Teutschem Mer- fen, Seh-Eindrücke besuchter Gemäldegalerien kur anonym gedruckten Briefen aus Rom. In ihnen schildern und dafür einen elaborierten Darstel- wird u. a. anlässlich der Ausstellung von Davids lungsstil zur Versinnlichung der Kunstwahrneh- Schwur der Horatier in der französischen Akade- mung ausbilden, andererseits. Dass hier u. a. ne- mie in Rom ein nationalkulturell konnotierter ben Heinses Düsseldorfer Gemäldebriefen, die 1776/ Paragone zwischen französischer und deutscher

77 in Wielands Teutschem Merkur eingerückt wer- Manier entfacht. den, oder Schillers Brief eines reisenden Dänen, der Aus der Zusammenfassung (IX.) möchte ich

1785 in der Thalia erscheint, auch Winckelmanns drei Erträge dieses für die Geschichte der deutsch- „Texttriade“ aus Gedancken, Sendschreiben und Er- sprachigen Kunstkritik grundlegenden und für die läuterungen von 1755/56 verortet werden (S. 247– Zeitschriftenforschung zum 18. Jahrhundert wich- 3 253) überrascht ein wenig und lässt trotz der tigen Buches herausheben: 1. Die Verschiebung Tatsache, dass französische und englische Über- vom Kritik-Typus einer inventarisierenden, histo- setzungen davon tatsächlich in Zeitschriften ge- risch-antiquarischen Kunstvermittlung hin zu ,hö- druckt wurden, nach dem ,Periodika‘-Begriff der heren‘ Kritik-Typen mit literarisch elaborierten

Verfasserin fragen. Die Ausführungen zu Goethes Darstellungsformen, die auf eine „ästhetische[ ] Baukunst-Aufsatz (S. 183–188), der zunächst als Nachgestaltung des Kunstwerks“ zielen. Die älte- Separatum 1772 mit dem Datum 1773 erschien,4 re Form verschwindet jedoch nicht, sondern bei-

1773 von Herder in die als „fliegende Blätter“ fir- de Typen bleiben nebeneinander stehen, freilich mierende Aufsatzsammlung Von deutscher Art und in unterschiedlichen Publikationstypen (S. 328).

Kunst eingerückt, 1789 in Huths Allgemeinem 2. Das lenkt auf die Wechselbeziehung zwischen 176 Besprechungen herauspräpariertem Kritik- und Periodikatyp: Sind und die deutsche Ornamentkritik um 1750. In: Das zunächst unterschiedliche Kritikstile in einer Zeit- achtzehnte Jahrhundert 37 (2013), H. 2 (Themen- schrift versammelt, führt die ,Ausdifferenzierung heft: Aufklärung und Hofkultur in Dresden. Zu- des Kunstsystems‘ im Rahmen der „dezentrier- sammengestellt v. Roland Kanz, Johannes Süßmann), ten deutschen Kunstlandschaft“ (S. 330) bis 1790 S. 234–250. 4 Da ihn die Verfasserin nicht kennt, möchte ich auf zur Spezialisierung von „literarischen Zeitschrif- den durch meinen Bochumer Kollegen Jörg-Ulrich ten, Kunstzeitschriften, Fachzeitschriften und In- Fechner seinerzeit veranstalteten Faksimiledruck Jo- telligenzblättern“ mit jeweils ausgeprägtem „Be- hann Wolfgang Goethe: Von Deutscher Baukunst. sprechungsmodus“ (S. 329). 3. Bis 1790 vollzieht Originalgetreu nach dem Erstdruck mit einem Nach- sich die auf eine mit Hilfe der unterschiedlich wort, Darmstadt 1989, aufmerksam machen, worin ausgeprägten Literarisierungsstrategien zielende bereits auf Mercks Rolle bei der Publikation dieser kunstkritische „Schulung des Auges [. . .] fast aus- Schrift hingewiesen wurde (S. 29 f.). 5 Vgl. ausführlich Nicola Kaminski, Nora Ramtke, nahmslos ohne Anschauungsmaterial“ – die In- tegration von Kupferstichen in die Periodika, die Carsten Zelle: Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungs- zu einer reizüberflutenden „Sehrevolution“ im literatur: Problemaufriß. In: Dies. (Hrsg.): Zeitschrif- tenliteratur/Fortsetzungsliteratur, Hannover (in 19. Jahrhundert führen wird, setzt erst ab 1790 Druck). ein. – Ein Zeitschriftensiglen-, Literatur- und 6 Vgl. zur Kritik einer solchen seit Cassirers Dik- Abbildungsverzeichnis sowie ein Personenregister tum von der ,Emanzipation der Sinnlichkeit‘ durch tragen zum Gebrauchswert des Buches bei. die Ästhetik des 18. Jahrhunderts eingerissenen Denkgewohnheit meinen Aufsatz über Sinnlich- keit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Anmerkungen Ästhetik und Anthropologie um 1750. In: C. Zelle 1 Lutz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunst- (Hrsg.): „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psycho- theorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, mediziner und die Anfänge der Anthropologie in Köln 1986, S. 395. der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2 Es überrascht daher, dass die ähnlich gelagerte, sys- 2001, S. 5–24. tem- und ausdifferenzierungsorientierte ältere Stu- die von Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation Carsten Zelle des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Ruhr-Universität Bochum Frankfurt a. M. 1989, ungenannt bleibt. Germanistisches Institut 3 Vgl. jetzt Steffi Roettgen: „ Höfliche Freyheit“ und D–44780 Bochum „blühende Freyheit“: Reiffenstein, Winckelmann

JÜRGEN OVERHOFF, VANESSA DE SENARCLENS (Hrsg.) Werke des Philosophen von Sanssouci. Oden, Episteln, Die Kriegskunst. Œuvres du Philosophe de Sans-Souci. Odes, Épîtres, L’art de la guerre. Aus dem Französischen übers. v. Hans W. Schu- macher (Potsdamer Ausgabe, Bd. 7), Akademie Verlag, Berlin 2012, 648 S.

Im April 1760 gelangt mit den Poésies diverses propagierten Texte hatten dem preußischen Kö- erstmals ein autorisierter Gedichtband Fried- nig die Pistole auf die Brust gesetzt. Wollte er richs II. an die Öffentlichkeit und macht damit, seine satirischen Spitzen gegen europäische Herr- wie Moses Mendelssohn im 98. Literaturbrief froh- scher und das Christentum nicht mitten im Sie- lockt, die „reine Sprache des Herzens“ des Man- benjährigen Krieg publizistisch gegen sich wir- nes auch außerhalb des Hofes hörbar, den seine ken lassen, musste er mit einer bereinigten Fassung Untertanen vor allem als „den Helden und den der Œuvres du Philosophe de Sans-Souci reagieren: 1 Landesvater“ kennen. Die Veröffentlichung ist der Sammlung, die er 1752 mit Voltaires Hilfe für jedoch durch und durch ein Politikum. Denn den engsten Zirkel von Sanssouci verfasst hatte. Diese gleich zwei Raubdrucke der bisher als vertraulich Gedichtauswahl, die – anders als viele Dichtun- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 177 gen aus der Korrespondenz – bereits zeitgenös- gen gesehen werden wollte, ist zweifelsohne zu sisch auf den literarischen und politischen Dis- begrüßen. Zumal bei diesem Band mit seiner sig- kurs gewirkt hat, ist jetzt von JÜRGEN OVERHOFF nifikanten Vor- und Nachgeschichte wird der und VANESSA DE SENARCLENS nach den Philoso- Philologe jedoch bedauern, dass sich die Herausge- phischen Werken (Bd. 6, 2007) als zweiter Teil der ber für eine „Studien- und Leseausgabe“ (Bd. 6,

Potsdamer Ausgabe herausgegeben und durch eine S. 7) entschieden haben und er somit – anders als neue Prosa-Übersetzung von HANS W. S CHU- bei Preuß – ohne einen Variantenapparat auskom- MACHER flankiert worden. men muss. Denn sowohl über die erhaltenen Ein-

Was die Textgestalt der mithin rezeptionsge- griffe Voltaires, insbesondere in die Kriegskunst (vgl. schichtlich höchst relevanten Œuvres du Philosophe S. 607), als auch über die konkreten Änderungen de Sans-Souci betrifft, kommen drei Versionen in für die 1760er Ausgabe geben die Anmerkungen

Betracht: der erste Privatdruck von 1750, für den der Herausgeber nur pauschal Auskunft.

Friedrich II. allein verantwortlich ist, der von Vol- Die Zielsetzung der Potsdamer Ausgabe ist taire korrigierte Druck von 1752 sowie die ent- freilich eine andere. Sie soll weder Preuß’ kriti- schärfte Fassung von 1760. Editorisch stützen sich sche Ausgabe des französischen Textes (30 Bde.,

Overhoff und de Senarclens durchgängig auf ih- 1846–1856) noch Gustav Berthold Volz’ reprä- ren Vorgänger Johann D. E. Preuß, der mit dem sentative deutschsprachige Werke Friedrichs des

10. Band der Œuvres de Frédéric le Grand (1894) die Großen (10 Bde., 1913 f.) ersetzen, sondern beide bislang maßgebliche Ausgabe vorgelegt hat. Wie durch eine interkulturelle Perspektive ergänzen. er setzen auch sie die deutsch-französische Ko- In ihrem Vorwort nehmen GÜNTHER LOTTES und operation von 1752 als das „erste poetische Testa- BRUNHILDE WEHINGER, die die Edition überge- ment des Königs“ (S. 20) an und liefern die 1760 ordnet koordinieren, den selbsternannten Philoso- hinzugekommenen Paratexte und Gedichte se- phe de Sans-Souci in doppelter Hinsicht beim Wor t. parat in einem Appendix nach. Und ebenfalls wie Über den Titel des philosophe ordne sich Fried-

Preuß isolieren sie die im engen Sinn literarischen rich einem „neuen intellektuellen Typus“ (S. 9 f.) Texte: die Oden, die Episteln und das Lehrge- zu, der im französischen Diskurs des 18. Jahrhun- dicht L’art de la guerre. Die philosophischen und derts entstehe. Sein Habitus sei der „eines kriti- historiographischen Beiträge, die den 3. Band der schen Denkers, der den Buchmarkt im Blick hat Œuvres du Philosophe de Sans-Souci ausmachen, fin- und sich nicht scheut, mit kontroversen Beiträgen den sich dagegen im 1. und 6. Band der Potsdamer an der öffentlichen Debatte teilzunehmen, um der

Ausgabe. Ist die Textgrundlage dergestalt gesichert, Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen“ (S. 10). hätte die Einleitung jedoch darüber hinausgehen Geht es ihnen gemäß dieser Charakteristik dar- müssen, Preuß’ Erkenntnisse zu tradieren. Denn um, die poetisch-philosophischen Positionen bereits die verkürzt von ihm übernommenen In- Friedrichs II. aus den Debatten der französischen formationen zur Überlieferung befinden sich nicht Aufklärer herzuleiten, so liegt der Akzent auf dem auf dem aktuellen Stand. So lässt sich schon die „Symbolort“ (ebenda) Sanssouci. Das Netzwerk Angabe, nur zwei Bände der dreibändigen 1750er der Denker, die der König um 1750 an seinen Fassung seien erhalten, durch einen Blick in die Hof zu binden suchte, tritt in den Œuvres du Philo- Digitalisate der Berliner Staatsbibliothek in Frage sophe de Sans-Souci besonders markant hervor, sind stellen. Hier nämlich liegt eine Ausgabe in drei doch die Gedichte dessen zentralen Figuren ge-

Bänden vor: Zu erwarten wäre, dass diese zu- widmet, etwa Maupertuis, d’ Argens und natür- 2 mindest genannt und bewertet wird. Auch ein lich Voltaire. Die Hilfsmittel, die dem Leser an

Verzeichnis der Kupferstiche, die sich in den Aus- die Hand gegeben werden, rücken diese Konstel- gaben zu unterschiedlichen Bildprogrammen zu- lation augenfällig ins Zentrum. Die Anmerkungen sammenfügen, wäre unter den Bedingungen der erläutern vor allem die Potsdamer personellen und

Digitalisierung an dieser Stelle möglich und wün- intellektuellen Verflechtungen, sind ansonsten jen- schenswert gewesen. seits antiker Referenzen jedoch allenfalls basal

Dass eine moderne zweisprachige Ausgabe gehalten. Und auch das Literaturverzeichnis, das leicht zugänglich dokumentiert, wie der dichten- vor einem Namen- und Ortsregister den Band de König sich selbst sah und wie er vor allen Din- beschließt, kann primär als Einführung dienen, um 178 Besprechungen

sich den europäischen Diskussionshorizont von wenig sorgfältig ausgefallen ist. Wenn französische

Sanssouci zu erschließen. Eigennamen wiederholt auch im deutschen Text

So produktiv diese Perspektive ist, so deutlich auftauchen – die Stadt Cádiz heißt hier z. B. „Ca- rückt sie allerdings den philosophe Friedrich II. vor dix“ (S. 199, V. 1), die Furie Alekto tritt als „Alecton“ den Dichter, der mit diesem Band doch eigentlich (S. 441, V. 16) auf –, ist das irritierend. Wenn aber seine Visitenkarte abgibt. Jenseits des einleitenden „le chantre du Pont“ (S. 410, V. 26) als „der Sänger Hinweises, dass er sich „im Horizont der klassi- der Brücke“ übersetzt wird, obwohl die Anmerkun- schen französischen Dichtungslehre“ (S. 9) mit gen die Anspielung korrekt auf den „Sänger vom entsprechenden Bezugspunkten bei u. a. Nicolas Schwarzen Meer“, also Ovid beziehen (S. 608), hat

Boileau und Horaz (vgl. S. 16 f.) bewege und in es offensichtlich an Abstimmung gefehlt. seinen Oden und Episteln „Alexandriner, Achtsil- Anhand der Übersetzung lässt sich prinzipiell ber oder Dekameter“ (S. 14) frei variiere, schenkt die Frage stellen, für wen diese Lese- und Studien- die Ausgabe der poetischen Dimension der Texte ausgabe gedacht ist. Mit der Entscheidung für eine wenig Aufmerksamkeit. Kurze Angaben zu den Prosa-Übersetzung lyrischer Texte haben die formalen Spezifika gerade der Oden, in denen Herausgeber offenbar eher den Wissenschaftler

Friedrich II. mit Strophen unterschiedlicher Län- als den interessierten Leser im Blick. Wenn dem ge, mit Kurzversen und Reimschemata experi- so ist, wäre es erfreulich, wenn die kommenden mentiert, hätten die Anmerkungen hilfreich ergänzt. Bände diesem Rezipienten entgegenkämen und Im Gegenteil aber: Das literarische Element spielt die aktuellen Defizite ausgeglichen würden: in der eine so geringe Rolle, dass etwa Friedrichs Kind- Erschließung der Überlieferung, in der Kommen- heit zur Erklärung dient (S. 608), wenn die In- tierung und in der Übersetzung. struktion der Kriegskunst wie folgt beginnt: „Jeune prince, écoutez les leçons d’un soldat / Qui, formé Anmerkungen dans les camps, nourri dans les alarmes, / Vous appelle à la gloire et vous instruit aux armes.“ (I, 4– 1 Moses Mendelssohn: Acht und neunzigster Brief. 6, S. 408) Dass hier die traditionelle Situation des Nachricht von der ächten Ausgabe der Poésies di- Lehrgedichts vorliegt – das Gespräch zwischen verses. In: Briefe, die neueste Litteratur betreffend, (älterem) Lehrer und (jüngerem) Schüler3 –, wird 5. Theil 1760, S. 257–262, hier S. 260 f. nicht angeführt. Somit erschließt sich auch die 2 Der erste Band mit dem satirischen Palladion, der hier sehr wohl vorhanden ist, liegt zudem bereits literarische Inszenierung nicht, in der Friedrich II. einer Edition von 1985 zugrunde. Vgl. Friedrich beide Rollen besetzt: die des jungen Prinzen, der der Große: Das Palladion, hrsg. u. erl. v. Jürgen Ziech- impulsiv in den Krieg zieht, wie die des alten mann, unter Mitarbeit v. Günter Berger, Helmut Soldaten, der diese Energie in ein geordnetes Vor- Börsch-Supan, Bernard Bra, Dietz Lange. 2 Bde., gehen überführt.4 Bd. 1: Faksimiledruck nach dem Original im Besitz

Die Prosa-Übersetzung von Hans W. Schuma- der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gär- cher kann und soll die Lücken gerade nicht schlie- ten, Bd. 2: Kommentarband, Bremen 1985. ßen, die der Kommentar hinsichtlich der litera- 3 Vgl. Katharina Volk: The Poetics of Latin Didactic. Lucretius, Vergil, Ovid, Manilius, Oxford 2002, rischen Form aufweist. Ansatz – und auch Stärke – Kap. 2: „Improbable Art“. The Theory and Practice der Übersetzung bestehen vielmehr darin, den Text of Ancient Didactic Poetry, S. 25–68. der Gedichte im Deutschen möglichst präzise wie- 4 Johannes Birgfeld: Krieg und Aufklärung, 2 Bde., derzugeben, ohne die Abweichungen in Kauf zu Bd. 2, Hannover 2012, S. 495. nehmen, die eine Nachdichtung mit sich brächte. Diese dokumentarische Übersetzung eignet sich Annika Hildebrandt durch ihre syntaktische Klarheit, eine Analyse des Humboldt-Universität zu Berlin französischen Originaltextes vorzubereiten. Ange- SFB Transformationen der Antike sichts der vielfältigen fachlichen Expertise der Her- Mohrenstraße 40/41 ausgeber ist allerdings schwer verständlich, warum D–10117 Berlin die Übertragung manch kultureller Referenzen so Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 179

JÜRGEN JAHNKE (Hrsg.) Karl Philipp Moritz: Schriften zur Pädagogik und Freimaurerei (Kritische und kommentierte Aus- gabe der sämtlichen Werke, Bd. 6), Verlag Walter de Gruyter, Berlin, Boston 2013, 900 S., 29 Abb.

Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser erzählt eine exem- sische Quellen, die Moritz’ Lehrerlaufbahn doku- plarische Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts. mentieren – von der Berufung als zweiter Lehrer

Der Roman gibt uns Einblick in die familiäre Al- an die untere Schule zum Grauen Kloster im Jahr phabetisierung zwischen Bibel, Gesangbuch und 1778 (KMA 6, 472 f.) über die Rede des Direktors Katechismus, beschreibt die schulischen Praktiken Anton Friedrich Büsching und Schülergedichte des Deklamierens, Übersetzens und Nachdichtens, anlässlich von Moritz’ Beförderung im Jahr 1782 die im lateinischsprachigen Rhetorik- und Poetik- (KMA 6, 475 f.) bis hin zu Büschings Bemerkun- unterricht gepflegt werden, und verfolgt Genese und gen über sein Ausscheiden als Gymnasialprofessor

Wirkungen eines neuen „furor poeticus“ (KMA 1, im Jahr 1786 (KMA 6, 481 ff.) 134), der sich in der deutschen Muttersprache Bahn Was erfahren wir über Moritz’ Berliner Unter- bricht. Zurecht hat man den Anton Reiser daher als richtspraxis? Immer wieder wird eine Anekdote wichtige Quelle für einen tiefgreifenden Wandel kolportiert, die sich in der Autobiographie Wil- des Bildungswesens gelesen, der sich im letzten helm Gabriel Wegeners findet: „Wenn er [Mo-

Drittel des 18. Jahrhunderts vollzieht. ritz, K. R.] sich auf dem Katheder der Länge nach

Seit 2006 liegt der Anton Reiser in der neuen hinräkelte und wie aus einem Traume erwachend kritischen und ausführlich kommentierten Aus- ein Blatt aus Theokrits Idyllen herausriß, solches gabe von Christof Wingertszahn vor. Ein großer einen Auszug nannte, dann an dem Blatte aller-

Vorzug dieser Ausgabe besteht darin, den schuli- hand kraftgenieartige Bemerkungen machte, so schen Produktions- und Rezeptionskontext des war diese theatralische Szene freilich wohl fähig

Anton Reiser sichtbar zu machen. Als Moritz in den uns in einer gespannten Erwartung zu erhalten“.

Jahren 1785 und 1786 die ersten drei Teile seines Was gerne als Beleg zur These angeführt wird, Romans veröffentlicht, ist er Professor für Religi- dass sich mit Moritz ein Übergang von der Regel- on, deutschen Briefstil, lateinische und deutsche zur Geniepoetik vollziehe, wäre quellenkritisch

Sprachlehre sowie Dichtkunst am Gymnasium zum zu prüfen. Wegeners Äußerung fällt in den Kon-

Grauen Kloster in Berlin. Noch die Vorrede des text einer grundlegenden Kritik am „leidige[n] dritten Teils verspricht, dass der Roman „nicht Geniewesen“ (KMA 6, 477) – es fehlen jedoch ganz unnütze Winke für Lehrer und Erzieher“ zeitgenössische Vergleichsquellen, um diese Wer- gebe (KMA 1, 202). Zu diesem Zeitpunkt hat tung zu differenzieren.

Moritz jedoch schon begonnen, sich vom Schul- Der erste große Text, den Jahnke neu ediert meister in einen freien Schriftsteller zu verwan- und kommentiert hat, sind Moritz’ Unterhaltun- deln. Der vierte Teil des Anton Reiser wird erst im gen mit meinen Schülern aus dem Jahr 1780. Da kei- Jahr 1790 erscheinen, als Moritz dem „abscheu- ne Handschriften überliefert sind, wird auf den lichen Schulkerker“ (KMA 6, 474) längst den Rü- Erstdruck zurückgegangen. Die Unterhaltungen cken gekehrt hat. wurden von der Forschung eher wenig beachtet. Neue Perspektiven auf Karl Philipp Moritz’ Bemerkenswert ist jedoch bereits der „Vorbericht“, pädagogisches Wirken eröffnen nun die Schriften den frühere kritische Ausgaben nicht lieferten. zur Pädagogik und Freimaurerei in der kritischen Aus- Moritz erklärt hier seine Publikationsstrategie: Ehe gabe des Freiburger Psychologie- und Pädagogik- er seine Gespräche „drucken lasse“, wolle er an historikers JÜRGEN JAHNKE. Sie gehört ebenfalls zu seinen „Schülern selbst, zuerst die Probe machen“, dem auf 13 Bände angelegten Editionsprojekt an ob sie „ihrem Fassungsvermögen angemessen“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wis- seien. Monatlich sollen dann zwei Bogen „in ei- senschaften. Im Anschluss an den äußerst fundier- nem blauen Umschlage“ erscheinen und nur in ten Überblickskommentar, der Moritz’ Tätigkeit Berlin zirkulieren, bevor sie zu einem ersten als Lehrer und die Bedeutung seiner pädagogi- „Bändchen“ gebunden und „auswärtig versandt“ schen Schriften darstellt, liefert Jahnke zeitgenös- (KMA 6, 6) werden. Nach dem Erscheinen des 180 Besprechungen ersten Bandes ist das Unternehmen jedoch ein- pe herausgegebenen Kinderbibliothek abgedruckt gestellt worden, das geplante Periodikum kam und so einer größeren Leserschaft bekannt (vgl. nicht zustande (KMA 6, 485). KMA 6, 488). Es war sogar eine Mitarbeit an Cam-

An den Unterhaltungen kann man erkennen, dass pes Allgemeiner Revision des gesammten Erziehungs- Moritz seine pädagogischen Schriften zunächst mit wesens geplant. Moritz sollte einen Beitrag darüber Blick auf eine lokale Schulöffentlichkeit konzi- liefern, wie die „Aufmerksamkeit junger Kinder“ piert, für seine eigenen Schüler und Kollegen durch besondere „Uebungen“ erregt werden kann. schreibt. Damit wendet sich Moritz zugleich an Die Mitarbeit kam jedoch nicht zustande (vgl. einen Zirkel von Berliner Aufklärern, die meist KMA 6, 467). Außerdem verweist Jahnke darauf, Pädagogen und Publizisten in Personalunion sind. dass Moritz die Reformpädagogik Campes bei

So berichtet Anton Friedrich Büsching, Moritz’ seinem Besuch des Hamburger Internats direkt direkter Vorgesetzter am Grauen Kloster, „regel- vor Ort besichtigen konnte und auch Johann mäßig über den Fortschritt der Publikation“ Bernhard Basedows revolutionäre Projekte aus

(KMA 6, 489), bis dann im gleichen Jahr mehrere eigener Anschauung kannte, nämlich von seinem positive Rezensionen folgen. Auch Friedrich Ge- kurzen Aufenthalt am Dessauer Philanthropin (vgl. dike erwähnt die Unterhaltungen in seiner Berlini- ebenda). Jahnke markiert jedoch auch die wich- schen Monatsschrift. An der Rezeptionsgeschichte tigste Differenz zur philanthropischen Strömung: einzelner pädagogischer Schriften wird also Moritz wendete sich gegen ständische Privilegien besonders deutlich, wie unmittelbar Moritz in im Erziehungswesen (KMA 6, 470).3 den Diskussionszusammenhang der Berliner Auf- Wie originell sich demgegenüber die Päda- klärung eingebunden ist – damit wird eine For- gogik ausnimmt, die Moritz entwickelt, zeigt sich schungsperspektive fortgeführt, die vor allem Ur- exemplarisch an seinem Versuch einer kleinen prakti- sula Goldenbaums und Alexander Košeninas schen Kinderlogik (1786). Wieder ist die „Vorrede“ 1 Bände zur Berliner Aufklärung eröffnet hatten. von besonderer Bedeutung: Moritz verweist hier Hier kann der Herausgeber eine Spezialkom- darauf, dass er sich der sieben Kupfertafeln, die petenz einbringen: Schon in quellenreichen Auf- das Buch begleiten, nur bedient habe, „weil sie sätzen hatte sich Jahnke mit Moritz’ Verhältnis zur zufälliger Weise“ zu seiner „Idee“ passten (KMA 2 Berliner Freimaurerei beschäftigt. In einer Reihe 6, 144). In der Tat waren die von Daniel Chodo- zeitgenössischer Quellen dokumentiert die neue wiecki gefertigten Kupfer ursprünglich für ein Ausgabe nun Moritz’ Mitgliedschaft in der Berli- Lehrbuch der lateinischen Grammatik vorgesehen ner Johannesloge „Zur Beständigkeit“, in der er und bereits in dieses eingebunden worden. Nach- zwischen 1780 und 1784 vom Lehrling über den dem die zeitgenössischen Rezensionen des Werks

Gesellen zum Meister aufsteigt, bevor er 1791 sogar sehr kritisch ausfielen, entnahm der Verleger Au- erster Aufseher wird (vgl. KMA 6, 735). Das Mit- gust Mylius kurzerhand die Kupfertafeln, um sie gliederverzeichnis dieser Jahre belegt, dass in der an die Kinderlogik anzubinden (KMA 6, 624). Da- Loge ganz unterschiedliche Stände vertreten wa- mit schaffte er jenen kreativen Spielraum, in dem ren. Die Freimaurer waren für Moritz vor allem sich Moritz’ Text als Zweckentfremdung der Bil- deshalb attraktiv, weil sie ein ständeübergreifendes der entfalten kann, die ihn begleiten. Die Tafeln Diskussionsforum boten. Gleichzeitig arbeitete dienen nun nicht mehr dazu, grammatikalische Moritz daran, die im geheimen Zirkel geführten Kategorien zu illustrieren, also etwa Singular/Plu- Diskussionen zurück in die Sphäre der Öffentlich- ral oder Maskulinum/Femininum (vgl. ebenda). Sie keit zu übersetzen. Das zeigt sein Sammelband Die ermöglichen vielmehr eine eigene Unterschei- große Loge, der anonym veröffentlicht wird und dungslogik, die spielerisch entwickelt und vermit- dem Publikum arkanes Wissen aus dem Bereich telt wird und auf jene „Bücherwelt“ zuläuft, die bi- der Logenarbeit verspricht (vgl. KMA 6, 743). näre Oppositionen gerade außer Kraft setzt: „Denn

Die neue Ausgabe belegt darüber hinaus aus- die Bücher sind gleichsam eine Welt außer den führlich, wie aktiv sich Moritz auch am pädago- Menschen geworden, die nicht in ihm, sondern gischen Diskurs jenseits der lokalen Berliner Netz- worin er lebt – weil kein menschlicher Kopf, das werke beteiligte: So wurden Auszüge aus Moritz’ mehr zusammenfassen kann, was die Bücher, die 4 Unterhaltungen in der von Joachim Heinrich Cam- in der Welt sind, enthalten.“ (KMA 6, 168) Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 181

Mit dieser Emphase des gedruckten Buchsta- bildungsgeschichtlichen Transformationsprozesse ben ist bereits auf jene Projekte der Alphabetisie- nachzeichnet, steht noch aus. rung verwiesen, die Moritz nicht nur im Anton Hier ist die Forschung auf weitere Fortschritte Reiser beschreibt, sondern zu denen er selbst bei- in der editorischen Erschließung angewiesen. 9 trägt – vor allem mit seinem Neuen ABC Buch „[N]eue Aufschlüße“ wird die kritische Edition (1790) und seinem Lesebuch für Kinder (1792), die von Moritz’ publizistischen Schriften sowie sei- beide als Teil desselben Werkprojekts verstanden ner Akademieschriften geben, die ebenfalls im werden können. Dass Moritz nach seiner Italien- Rahmen des Editionsprojekts an der Berlin-Bran- reise, die in der Forschung als Abkehr von der denburgischen Akademie der Wissenschaften vor- Pädagogik und „Hinwendung zur Ästhetik“ ge- bereitet wird. Mit Blick auf die weitere Bildungs- deutet wurde, noch Kinderbücher publiziert, er- geschichte von Karl Philipp Moritz, der im Jahr klärt Jahnke aus „vertraglichen Verpflichtungen“, 1789 zum Professor an der Königlich Preußischen die Moritz zur Finanzierung seiner Reise mit ver- Akademie der Künste und mechanischen Wis- schiedenen Verlegern eingegangen sei – vor al- senschaften berufen wird und damit seinen stei- lem gegenüber Campe, mit dem er bereits 1789 len Aufstieg in der Gelehrtenrepublik vollendet, die bekannte Kontroverse über die Rechte des stellen sich weitere Fragen: Im Anschluss an die Schriftstellers und Buchhändlers führte (KMA 6, Quellenforschungen und methodischen Überle-

659 f.). Gleichwohl lässt sich in diesen späteren gungen Anneliese Klingenbergs und Claudia Sed- pädagogischen Schriften selbst eine Tendenz der larz’ wäre zu diskutieren, wie sich die Theorie Autonomisierung erkennen, die in der Kinderlogik und Praxis der ästhetischen Erziehung beschrei- bereits vorgezeichnet ist. Sie entwickeln eine An- ben lässt, die Moritz an der Akademie der Künste 10 leitung zum Denken, so pointiert dies Jürgen Jahn- entwickelt; aber auch seine Tätigkeit an der ke mit Bezug auf den Untertitel des Neuen ABC Akademie der Wissenschaften ist noch zu erfor- Buchs, „die autonom und ohne imaginierte Lehr- schen – und vor allem: editorisch zu erschließen. person vor sich gehen soll“ (KMA 6, 470). Damit wird die zuerst in der amerikanischen Anmerkungen Forschung vorgetragene These, dass sich in Mo- ritz’ Pädagogik eine Bewegung zu „Autonomie“ 1 Vgl. Ursula Goldenbaum, Alexander Košenina bzw. „Autopoiesis“ vollziehe, auf eine neue Quel- (Hrsg.): Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaft- liche Studien, 4 Bde., Hannover-Laatzen 1999–2011. lengrundlage gestellt (KMA 6, 629 f.). Neben den Für die pädagogikgeschichtliche Perspektive ist der wegweisenden Beiträgen Armin Polsters und Anthony Krupps, auf die Jahnke referiert,5 wäre Beitrag von Ariane Neumann in Band 3 besonders einschlägig: „Neue Aufschlüße über die Kindersee- außerdem die gerade erschienene Arbeit Elliot le“. Die pädagogischen Ambitionen von Karl Phi- Schreibers zu Moritz’ Space of Autonomy zu nen- lipp Moritz in Berlin (S. 143–170). nens: Sie geht vom Begriff des „Spielraums“ aus, 2 Vgl. etwa Jürgen Jahnke: „Die zerstreuete Mensch- der nicht nur auf die pädagogischen Schriften im heit aber soll sich in unsrer Loge sammeln“. Karl Umfeld der Kinderlogik bezogen, sondern mit Blick Philipp Moritz und seine Berliner Logenbrüder. In: auf die ästhetischen und altertumskundlichen Ebenda, Bd. 2, 2003, S. 125–154. 6 Schriften kreativ weiterentwickelt wird. Hier 3 Zu einem Versuch, das Verhältnis von Moritz zur philanthropischen Bewegung diskursgeschichtlich zu ergeben sich Anknüpfungspunkte zum Moritz- Kapitel in Cord-Friedrich Berghahns umfassen- bestimmen vgl. Robert Weston: The Pedagogical 7 Revolution. Karl Philipp Moritz, Philanthropismus der Studie zum Wagnis der Autonomie. Davon aus- and the Politics of Educational Reform 1776–1789, gehend wäre das Verhältnis zwischen ästhetischem phil. Diss., Columbia University 2007, S. 35–75. und pädagogischem Autonomiediskurs weiter zu 4 Vgl. zu einer weiterführenden Deutung Lothar verfolgen, mit Blick auf parallel aufkommende Müller: Buch. In: Ders. (Hrsg.): Das Karl Philipp Begriffs- und Praxisfelder wie die „Autodidaxe“, Moritz-ABC. Anregung zur Sprach-, Denk- und der sich jüngst Heinrich Bosse in seinen Beiträ- Menschenkunde, Frankfurt a. M. 2006, S. 50–58. 8 gen zur Bildungsrevolution gewidmet hat. Eine 5 Vgl. Armin Henry Polster: Childhood, Autonomy grundlegende Arbeit, welche die Genese von and Social Order. The Pedagogy of Karl Philipp Moritz, phil. Diss., University of California 1994; Moritz’ Autorschaft vor dem Hintergrund dieser 182 Besprechungen

vgl. Anthony Krupp: Autonomy and Development schrieben. Aber vielleicht kann Moritz ein „kleiner in the Works of Karl Philipp Moritz, phil. Diss., Klassiker“ werden in dem Sinne, wie es die Ab- John Hopkins University 2000. schlusstagung zum Akademieprojekt Berliner Klas- 6 Vgl. Elliott Schreiber: The Topography of Moder- sik vom 14.–16.3.2013 vorschlug. nity. Karl Philipp Moritz and the Space of Auto- 10 Vgl. zu diesen Perspektiven Claudia Sedlarz’ Vortrag nomy, phil. Diss., Cornell University Press 2013, v. a. Berliner Klassizismus und die Berliner Akademie der S. 63–101. Künste auf der Abschlusstagung am 14.3.2013 (vgl. 7 Vgl. Cord-Friedrich Berghahn: Das Wagnis der Au- Anm. 9); vgl. zu editorischen Schwierigkeiten mit tonomie. Studien zu Karl Philipp Moritz, Wilhelm Blick auf Moritz’ Akademieschriften bereits Anne- von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly und liese Klingenberg: Als Kulturadministrator in preu- Ludwig Tieck, Heidelberg 2012, S. 51–184, zur ßischen Diensten. Karl Philipp Moritz’ Tätigkeit in Pädagogik v. a. S. 81–83. der Königlich Preußischen Akademie der Künste 8 Vgl. Heinrich Bosse: Die moderne Bildungsrevolu- und mechanischen Wissenschaften. In: C. Wingerts- tion. In: Ders.: Bildungsrevolution 1770–1830, Hei- zahn (Hrsg.): „Das Dort ist nun Hier geworden“. delberg 2012, S. 47–155, zur Autodidaxe v. a. S. 49 f. Karl Philipp Moritz heute, Hannover 2010, S. 205– 9 Vgl. den Aufsatztitel von Ariane Neumann (wie 234; zur Frage der ästhetischen Erziehung an der Anm. 1); zitiert wird hier aus einem Brief von Mo- Akademie mit Blick auf die Bildenden Künste vgl. ritz an Johann Gottfried Herder, der heute in der Claudia Sedlarz: Rom sehen und darüber reden. Karl Jagellionischen Bibliothek von Krakau liegt. Mo- Philipp Moritz’ Italienreise 1786–1788 und die lite- ritz übersandte ihn mit dem ersten Band seiner Un- rarische Darstellung eines neuen Kunstdiskurses, terhaltungen an Herder, um mit ihm über pädagogi- Hannover 2010, v. a. S. 239–290. sche Fragen ins Gespräch zu kommen. Herder Kaspar Renner hingegen antwortete nicht oder aber der Antwort- Humboldt-Universität zu Berlin brief ist nicht überliefert. Diese Anekdote verdeut- licht, dass es – schon allein aufgrund der Überliefe- Philosophische Fakultät II rungslage – schwierig sein dürfte, Moritz als großen Institut für deutsche Literatur Klassiker der Pädagogik zu etablieren. Ein Reise- D–10099 Berlin journal hat er, im Gegensatz zu Herder, nicht ge-

CHRISTIANE HACKEL, SABINE SEIFERT (Hrsg.) August Boeckh. Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik (Berliner Intellektuelle um 1800, Bd. 3), Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2013, 294 S.

Als Friedrich Creuzer im April 1809 die Univer- Skript dieser Vorlesung – die von insgesamt 1696 sität Heidelberg verlässt und einem Ruf nach Lei- eingeschriebenen Hörern besucht wurde – po- den folgt, bekommt der zu diesem Zeitpunkt noch stum als Encyklopädie und Methodologie der philologi- nicht ganz 24-jährige August Boeckh seine schen Wissenschaften. Sie fixiert Boeckhs Konzep-

Chance. Der Schüler von Friedrich August Wolf tion einer umfassenden Philologie als „Erkennen und Freund Schleiermachers hatte sich hier im des vom menschlichen Geist Producirten, d. h. des

Oktober 1807 mit einer Abhandlung über Pla- Erkannten“ und beeinflusst die erfolgreiche Ent- tons Dialog Timaios habilitiert und war daraufhin wicklung der Klassischen Philologie ebenso nach- zum außerordentlichen Professor der Philologie haltig wie hermeneutische Grundsatzentscheidun- berufen worden. Nun kündigt er zum Sommer- gen der geisteswissenschaftlichen Disziplinen im semester 1809 u. d. T. Encyclopaediam antiquitatis lit- 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Doch war terarum exponet easque recte tractandi viam ac rationem Boeckh nicht nur Urheber dieses umfassenden monstrabit eine Vorlesung an, die er nach seiner Kompendiums, mit dem die Philologie zur Leit- Berufung an die neu gegründete Berliner Uni- wissenschaft der historischen Geisteswissenschaf- versität ab 1811 auch in der preußischen Haupt- ten avancieren sollte. Er wirkte als universal ge- stadt halten und in insgesamt 26 Semestern bis bildeter Gelehrter und Wissenschaftsorganisator, zum Jahr 1865 wiederholen wird. Ergänzt um als Seminarbegründer und als mehrmaliger Rek- Erweiterungen und Nachschriften erscheint das tor der Berliner Universität. Er korrespondierte Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 183 mit namhaften Forschern (auch aus anderen Dis- Vor diesem Hintergrund erschließen sich die ziplinen); und er initiierte mit dem Akademie- kaum zu überschätzenden Leistungen des August projekt Corpus Inscriptionum Graecarum den Wis- Boeckh, der dem Hallenser Seminar von Fried- senschaftszeig der Epigraphik. rich August Wolf angehört hatte und im Alter Dieses weitgespannte Lebenswerk steht im von 26 Jahren als Professor der Beredsamkeit und Zentrum des vorliegenden Bandes, der aus den der klassischen Literatur an die 1810 gegründete Aktivitäten der DFG-Nachwuchsgruppe Berliner Berliner Universität berufen wurde. Die Beiträge

Intellektuelle 1800–1830 und einer im November des vorliegenden Bandes wissen um diese Voraus- 2011 an der Humboldt-Universität veranstalteten setzungen und Konditionen. Sie dokumentieren

Konferenz hervorgegangen ist. 13 namhafte Bei- auf nachhaltig beeindruckende Weise, welche wis- träger(innen) widmen sich in den drei Abteilun- senschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen gen „Werk“, „Wissenschaftspolitik und Wissen- Tätigkeitsformen Boeckh nutzte, um eine univer- schaftsorganisation“, „Kontext“ den Aktivitäten sal verstandene Philologie als Grundlagenwissen- eines Philologen, der wesentlich mit dazu bei- schaft der historisch-philosophischen wie auch der trug, seine im Fächerkanon der frühneuzeitlichen naturwissenschaftlichen Disziplinen zu etablieren.3

Universität nicht fest verankerte Disziplin zu einer Nicht zufällig beginnt die Abteilung „Werk“, Grundlagenwissenschaft im Umgang mit Texten die der konzisen und instruktiven Einleitung der und Zeichen überhaupt zu machen. Denn zu Herausgeberinnen CHRISTIANE HACKEL und SABI- erinnern bleibt der Umstand, dass es „Philologie“ NE SEIFERT folgt, mit einem Beitrag von THOMAS als studierbares Fach bis zum Ende des 18. Jahr- POISS über Boeckhs Pindar-Studien. Er zeigt ein- hunderts nicht gegeben hatte: Als Boeckhs uni- dringlich, wie und warum der noch sehr junge versitärer Lehrer Friedrich August Wolf, von der Boeckh nur wenige Jahre nach der Pindar-Ausga- Liebe zur lateinischen Sprache getrieben, 1776 nach be von Christian Gottlob Heyne (mit einem me-

Göttingen kommt, um bei dem berühmten Alter- trischen Anhang aus der Feder von Gottfried tumsforscher Christian Gottlob Heyne „Philolo- Hermann) eine neue Edition des antiken Dichters gie“ zu studieren, erklärt dieser dem kaum 17- veranstaltete. Denn Boeckhs zwischen 1811 und jährigen, dafür gäbe es kein Fach – man müsse 1814 erschienene Ausgabe ist weit mehr als nur

Jurisprudenz oder Theologie wählen, sonst könne eine metrische Neusetzung auf der Grundlage des man nicht immatrikuliert werden. Ein Jahr später wohl erstmals von Johann Heinrich Voss formu- erscheint Wolf mit dem gleichen Wunsch beim lierten Prinzips „Versgrenze gleich Wortgrenze“.

Göttinger Prorektor, einem Mediziner – der lacht Dieses „Wunderwerk“ aus Neusatz und Texter- ihn aus und bestätigt, Medicinae studiosos gebe es klärung auf verbesserter Handschriftenbasis habe, wohl, auch Juris und Theologiae, ja selbst Philoso- so Poiss, mit dem Triumph über den Vorläufer phiae. Aber auch wer Mathematik oder ein anderes Heyne „eine der größten philologischen Leistun- Fach des philosophischen Studiengangs betreibe, gen des 18. Jahrhunderts praktisch ausgelöscht“ gehöre in die Matrikel der Theologischen Fakul- (S. 33). Denn seither wird Pindars Lyrik nach tät. Ein Student der Philologie sei ihm noch nicht Boeckhs kolometrischen Einteilungen gedruckt vorgekommen. Wolle Wolf Gymnasiallehrer wer- und zitiert, während die Verszählung des Göttin- den, müsse er ihn als Theologen einschreiben. Am ger Seminarbegründers in modernen Ausgaben

Ende lässt sich der Prorektor überreden und trägt nur sekundär am rechten Rand neben dem Text Wolf unter dem 8.4.1777 als Philologiae studiosus mitläuft. Poiss verweist aber nicht nur auf die ver- an der Universität Göttingen ein (zum nicht gerin- wickelte und noch zu schreibende Geschichte der gen Erstaunen von Heyne, wie die Legende berich- Umgangsformen mit deutsch-griechischer Me- tet).1 Deshalb konnte Friedrich Nietzsche – der trik, die zwischen 1790 und 1825 eine neuartige zwischen 1864 und 1868 Klassische Philologie und philologische (sowie poetische und poetologische)

Evangelische Theologie in Bonn und Leipzig stu- Aufmerksamkeit hervortrieb. Er behandelt auch dierte – in seiner ersten Notiz zu einem Buchpro- die aus der Pindar-Beschäftigung hervorgegan- jekt u. d. T. Wir Philologen feststellen: „Der achte genen Akademie-Abhandlungen Boeckhs, die

April 1777, wo F. A. Wolf für sich den Namen stud. schon in den 1820er Jahren die Verfahren der Phi- philol. erfand, ist der Geburtstag der Philologie.“2 lologie vor einem breiteren Publikum diskutieren: 184 Besprechungen

Lange vor der (postumen) Veröffentlichung der deutlicht die Impulse für die Umstrukturierung

Encyklopädie erläutern sie das zentrale Prinzip ei- der Akademie von einem „Debattierklub“ hin zu ner von Wolf und Schleiermacher geprägten und einer modernen Forschungsinstitution. COLIN G. durch Boeckh systematisierten Philologie, noch KING demonstriert an den Auseinandersetzungen kleinste Detailentscheidungen am Text in rekur- um die angemessene Deutung von Platons Dialog sive Vergleichsprozesse mit dem Gesamtwerk so- Timaios einen weiteren Streit der Interpretationen. wie mit dem individuellen und dem gattungstypi- DENIS THOUARD rekonstriert den Einfluss von schen Sprachgebrauch einzubetten. Eine Pointe Schleiermachers Ethik auf Boeckhs Encyklopädie. dieses Aufsatzes besteht schließlich in einer knap- Durch Rückgriff auf bislang unpublizierte Ar- pen Nachzeichnung des Streits, der aus den diver- chivmaterialien zeichnen sich die Beiträge im zwei- gierenden Positionen von August Boeckh und ten Teil des Bandes aus, der die wissenschaftspoli-

Gottfried Hermann hinsichtlich der Angemes- tischen und -organisatorischen Einsätze Boeckhs senheit der Pindar-Interpretationen erwachsen soll- vorstellt. Wie intensiv und erfolgreich der Philo- te: Indem Poiss – notgedrungen verkürzt – die loge auch diese Arbeitsfelder bestellte, erhellt schon unterschiedlichen Positionen und Argumente re- der Umstand, dass er sechsmal als Dekan der Phi- konstruiert (und dabei auch zeigt, in welchen losophischen Fakultät und fünfmal als Rektor der

Punkten Boeckh fehlging), belegt er die Relevanz Universität amtierte. Die Beiträge von ANNE B AIL- von Kontroversen für die Stabilisierung diszipli- LOT (zur Entwicklung der Fakultät) und SABINE närer Identitäten. Zu erwähnen gewesen wären in SEIFERT (zur Gründung des Philologischen Semi- diesem Rahmen freilich auch Boeckhs methodo- nars) werfen überaus interessante Schlaglichter auf logische Überlegungen, der am Anfang seiner die Strategien eines universitätspolitischen Akteurs, Akademie-Abhandlung Ueber die kritische Behand- der längerfristig angelegte Impulse folgenreich lung der Pindarischen Texte nicht zufällig auf die umsetzte. Denn inspiriert von der Institution, die bedeutsamen „Muster der Ausübung“ philologi- von Johann Matthias Gesner und Christian Gott- scher Textumgangsformen hinweist: Eben weil lob Heyne in Göttingen ins Leben gerufen und auch in der Philologie „Theorie“ erst gedeihen erfolgreich ausgebaut worden war, hatte Boeckhs könne, wenn „bedeutende Muster der Ausübung Lehrer Friedrich August Wolf 1787 ein Philolo- vorangegangen sind“ und also hermeneutische gisches Seminar an der Universität Halle begrün-

Regeln nur aus der Praxis genialer Ausleger indu- det. An dieser „Pflanzstätte“ – das nicht mit dem ziert werden können, kommt der Mitteilung der heutigen Lehrveranstaltungsformat zu verwech- gefundenen Ergebnisse und ihrer theoretischen seln ist, sondern eine eigenständige akademische Durchdringung eminente Bedeutung zu. Damit Verwaltungseinheit mit fakultätsunabhängigen wird die Vermittlung philologischer Einsichten Haushaltsmitteln und geregelten Prozeduren der und ihre theoretische Verallgemeinerung zu einer Aufnahme und Tätigkeit war – erfuhr Boeckh zentralen Aufgabe: „indem sie was dem einen und jene Konditionen epistemischen Transfers, mit andern der Ausübenden klar geworden ist, ge- denen Kenntnisse und Verfahren, Methoden und prüfter, vollständiger und zusammenhängender dar- Praktiken auf neue Weise weitergegeben und an- stellt, wird sie den Blick der Nachfolger schärfen gewendet wurden. 1812 gründet er an der Berliner und sie vor Verirrungen hüten, und endlich das Universität jenes Philologische Seminar, in dem bewirken, dass man in jedem Augenblicke der nun ebenfalls Studierende ausgebildet werden sol- philologischen Thätigkeit seines Zweckes sich len, „welche das classische Alterthum nicht als blo- völlig bewusst ist, und das Geschäft des Philologen ße Liebhaber [. . .], sondern in gelehrter Rücksicht wahrhaft künstlerisch wird“.4 studieren wollen“ (Zitat aus dem Plan Boeckhs, im

Zeigt Poiss den eindrucksvollen Start des Wis- Band Zitat S. 164). Sabine Seifert rekonstruiert das senschaftlers, wenden sich andere Beiträge dieses Programm dieser universitären Einrichtung und

Abschnitts späteren Aktivitäten zu. WILFRIED N IP- dokumentiert die Innovationen, die vor allem in

PEL kontextualisiert Boeckhs Werk Die Staatshaus- der aktiven Beteiligung von Studierenden am Lehr- haltung der Athener und das von ihm an der Berliner betrieb bestehen: Während andere Universitäts-

Wissenschaftsakademie initiierte Großprojekt zur studenten Vorlesungen hören und mitschreiben,

Sammlung aller griechischen Inschriften; er ver- werden die Angehörigen des Seminars aktiv selbst Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 185 tätig, indem sie Übungen abhalten, disputieren, Bestandteile einer lebendigen akademischen schreiben. Lehrpraxis galten und zumeist erst postum ver-

Von besonderer Bedeutung für die Bestimmung öffentlicht wurden. Wie schon AXEL HORST- des wissenschaftshistorischen und kulturgeschicht- MANN7 und Lutz Danneberg zeigt sie die beson- lichen Ortes von August Boeckh erweist sich deren Bedingungen jener Wissensformate, die schließlich der dritte Teil des Bandes, der unter eine systematisch gegliederte Darstellung des dem Titel „Kontexte“ die Genese der philologi- Kenntnisstandes und der Verfahren des Faches mit schen Wissensformation in übergreifende wissen- einer didaktischen Anleitung zum Studium und schaftliche Entwicklungen einordnet. SOTERA F OR- also einer Anleitung zum Wissenserwerb verbin- NARO verspricht einen Überblick über das Studium den sollten. der Antike von Heyne bis Boeckh, widmet sich in Die versammelten Beiträge zeigen eindring- ihren knappen Ausführungen aber leider nur dem lich den Kontinent, der in August Boeckh und Göttinger Professor der Poesie und Beredsamkeit, seiner Zeit gegeben ist. Sie geben darüber hinaus der mit seiner regen Sammlungstätigkeit und sei- Anstöße für weitere Recherchen und Forschun- nem Seminarium philologicum grundlegend wirk- gen, die von einer historisch-kritischen Edition te. Dabei wären doch gerade an dieser Konstella- seiner Encyklopädie bis zu einer virtuellen Rekon- tion sowohl Kontinuitätslinien als auch Neueinsätze struktion von Boeckhs Bibliothek reichen. Ja bit- sichtbar zu machen. Denn es war Heyne, der in te, unbedingt! Lohnt sich. seiner bekannten Lobschrift auf Winkelmann [sic] als „erste Regel bey der Hermeneutik der Antike“ Anmerkungen formulierte: „Jedes alte Kunstwerk muß mit den Begriffen und in dem Geiste betrachtet und be- 1 So die Legende in Wilhelm Körte: Leben und Stu- urtheilt werden, mit welchen Begriffen und in dien Friedrich August Wolfs des Philologen, 1. Teil, welchem Geiste der alte Künstler es verfertigte.“5 Essen 1833, S. 40 f., 46 f.; dazu Edward Schröder: Studiosus philologiae. In: Neue Jahrbücher für das Boeckh wird später formulieren, der „Sinn einer klassische Altertum 32 (1913), S. 168 ff.; historisch Mittheilung“ sei bedingt durch die „realen Verhält- kontextualisierend Axel Horstmann: Die „klassische nisse“, unter denen sie erfolgt und „deren Kenntnis- Philologie“ zwischen Humanismus und Historismus: se bei denjenigen vorausgesetzt wird, an welche sie Friedrich August Wolf und die Begründung der gerichtet sind. Um eine Mittheilung zu verstehen, modernen Altertumswissenschaft. In: Berichte zur muss man sich in diese Verhältnisse hineinverset- Wissenschaftsgeschichte l (1978), S. 51–70. zen“, heißt es vor der Formulierung eines Impe- 2 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische rativs, der als „wichtiger Kanon der Auslegung“ Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli, Mazzino hervorgehoben ist: „man erkläre nichts so, wie es Montinari, Berlin, New York 1967 ff., Bd. 8, S. 15. kein Zeitgenosse könnte verstanden haben“.6 3 Vgl. August Boeckh: Encyklopädie und Methodo- logie der philologischen Wissenschaften, hrsg. v. Den nur fragmentarischen Äußerungen von Ernst Bratuscheck, Leipzig 1877, S. 10: „Der Philo- Fornaro schließt sich der profunde Beitrag von loge muss ein naturphilosophisches Werk wie den LUTZ DANNEBERG an, der die Hinter- und Unter- platonischen Timaeos ebensogut verstehen und er- gründe des Zusammenhangs von Kunst, Metho- klären können wie Aesops Fabeln oder eine grie- de und Methodologie in Boeckhs Encyklopädie chische Tragödie.“ Zugleich heißt es hier, die „ganze entfaltet. Die hier gebotenen Hinweise zum Ho- Geschichtsschreibung“ verfahre philologisch. Das ge- rizont des Methoden- und Methodologie-Be- sprochene und geschriebene Wort zu erforschen, griffs sind so zahlreich, dass sich der Leser eine sei der „ursprünglichste philologische Trieb“; die eigenständige Publikation dazu wünscht – zumal Philologie erscheint so als „eine der ersten Bedin- die Konsequenzen für die philologische Praxis, gungen des Lebens, ein Element, welches in der tiefs- die im Rahmen des Seminars vermittelt werden, ten Menschennatur und in der Kette der Kultur als ein ursprüngliches aufgefunden wird“. von noch zu rekonstruierender Bedeutung sind. 4 August Boeckh: Ueber die kritische Behandlung Einen wichtigen Baustein dafür liefert der Bei- der Pindarischen Texte. In: Ders.: Gesammelte kleine trag von CHRISTIANE HACKEL, die sich philologi- Schriften, Bd. 5: Akademische Abhandlungen. Vor- schen Fachenzyklopädien zuwendet und damit getragen in den Jahren 1815–1834 in der Akade- ein Genre untersucht, dessen Manifestationen als mie der Wissenschaften zu Berlin, hrsg. v. Paul Eich- 186 Besprechungen

holtz, Ernst Bratuscheck, Leipzig 1871, S. 248–396, von Boeckhs handschriftlicher Bücherliste (ca. 12.000 hier S. 249. Bücher) mit Digitalisaten und (noch nicht vollstän- 5 Christian Gottlob Heyne: Lobschrift auf Winkel- diger) Transkription ; zuletzt: 20.8.2013. halten hat, Leipzig 1778, S. 13. 6 August Boeckh: Encyklopädie und Methodologie Ralf Klausnitzer der philologischen Wissenschaften, Leipzig 1877, S. 82, 106. Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät II 7 Vgl. Axel Horstmanns Habilitationsschrift: An- tike Theoria und moderne Wissenschaft. August Institut für deutsche Literatur Boeckhs Konzeption der Philologie, Frankfurt a. M. D–10099 Berlin u. a. 1992; vgl. auch die digitale Veröffentlichung

CHRISTOPH NEUBERT, GABRIELE SCHABACHER (Hrsg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, transcript Verlag, Bielefeld 2013, 317 S.

WIEBKE POROMBKA Medialität urbaner Infrastrukturen. Der öffentliche Nahverkehr, 1870–1933, transcript Verlag, Bielefeld 2013, 446 S.

Als Frau Jenny Treibel ihren alten Freund Wili- benen Bandes zu Verkehrsgeschichte und Kulturwis- bald Schmidt nachdrücklich zu einem Gespräch senschaft. Denn erst seine Befreiung aus der Re- fordert, das die sozialen Grenzen zwischen ihren duktion auf technische Fragen des Transports Familien markieren soll, schickt sie ihm einen ermöglicht es einem Disziplinenverbund aus Me- Rohrpostbrief. Jennys Sohn Leopold bedient sich dientheorie, Geschichtswissenschaft, Geographie der gleichen Technologie, um Schmidts Tochter und Soziologie bis hin zur Ökonomie, den Ver-

Corinna seiner Liebe zu versichern. Wenn das Me- kehr als gemeinsame Schnittstelle von Technik, Kul- dium die Message ist, dann marschiert das deut- tur und Medien in den Blick zu bekommen und ihn sche Besitzbürgertum in Gestalt der Treibels an kulturwissenschaftlicher Analyse zugänglich zu der Seite von Moderne und Innovation, während machen. Von diesem Zugriff profitiert heutige Ver- das Bildungsbürgertum der Schmidts sich abduckt kehrsforschung enorm. Schließlich ist mit der und nur im Notfall auf Teufelszeug wie moderne Kulturwissenschaft und dem eng mit ihr verbun- technische Kommunikationsmittel zurückgreift. denen spatial turn eine über lange Zeit marginali-

Fontanes Roman über die aufkeimende Spaltung sierte Tradition des Umgangs mit materiellen des deutschen Bürgertums in geistlose Macht und Gegenständen wieder verfügbar geworden: Sie machtlosen Geist erzählt also auch ein Stück Me- reicht von Verkehrstheoretikern und -praktikern diengeschichte – die zugleich Verkehrsgeschichte wie Friedrich List oder Ernst Kapp bis zu einem ist. Die Rohrpost nämlich verknüpft Informations- ideologisch suspekten politischen Geographen wie transfer ganz augenfällig mit dem Transport mate- Friedrich Ratzel. Kulturwissenschaftlich inspirierte rieller Gegenstände. Zudem steht mit den Regeln Verkehrsforschung kann also zum einen Deside- des gesellschaftlichen Umgangs eine Form des Ver- rate abbauen, die eine idealistisch geprägte deut- kehrs zur Debatte, die aus dem semantischen Spek- sche Wissenschaftstradition verantwortet. Zum trum der heutigen Begriffsverwendung weitge- anderen kann sie Antworten auf gegenwärtig vi- hend ausgetrieben ist. rulente Fragen nach der (Vor-)Geschichte und

Diese Rückgewinnung eines weiten Verkehrs- Struktur von Globalisierung finden. begriffs ist die Voraussetzung des von CHRISTOPH Dass Verkehr sich nicht auf Gütertransport re- NEUBERT und GABRIELE S CHABACHER herausgege- duzieren lässt, sondern Informationstransfer ein- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 187

schließt und über mediale Qualitäten verfügt, zeigt genieur-Intelligenz“ (S. 152 f.), die ihn Kommu- seine moderne Geschichte: Nicht nur die Rohr- nikationssysteme aus Dämmen und Kanälen er- post verknüpft im 19. Jahrhundert beide Aspekte, richten lässt, einen Blick auf den „Nullpunkt der auch Eisenbahn und Telegraphie, Straßen- und Geschichte des Transports“, an dem Natur und

Signalsysteme sind aufeinander bezogen. Verkehr, Technik ineinander übergehen. So wie Hahn sehr schreiben die Herausgeber, wird zum Medienver- anschaulich Verkehr, Medien und Politik ver- bund, insofern er „Momente der Vermittlung und schränkt, beschreibt der Historiker DIRK VAN LAAK

Verwandlung, der Übertragung und der Transfor- den Prozess der europäischen Integration als eine mation“ (S. 22) umfasst. In ihrer Einleitung skizzie- Entpolitisierung durch Infrastrukturen. Wenn er ren Neubert und Schabacher den Konnex von die Geschichte der Integrationsideen auf ihre in- Verkehrsgeschichte und Medientheorie und be- frastrukturellen Grundierungen abklopft, werden schreiben den aktuellen Forschungsstand sowie An- die Institutionen der europäischen Vereinigung knüpfungspunkte an die Akteur-Netzwerk-Theo- als „Brutstätten der Entpolitisierung und zugleich rie, die mobility studies, die Techniksoziologie und der Technokratie identifiziert“ (S. 181). infrastructure studies. Die äußerst instruktive Einlei- Die dritte Sektion zu „ästhetisch-kulturellen tung ist umso wichtiger, als sie dem Band mit sei- Innovationen“ leitet MARKUS K RAJEWSKI mit einer nen gewollt heterogenen Beiträgen seine Kohä- elektrisierenden Untersuchung zur Geschichte des renz verleiht. Blumenversenders Fleurop ein. Dabei lässt sich Diese zehn Beiträge sind in drei Sektionen beobachten, wie der Informationstransfer mittels unterteilt. Die erste Sektion widmet sich „episte- standardisierter Telegrammschlüssel den Transport mischen Transfers“. Hier beschreibt BERNHARD des Gegenstands Blume ersetzt, die Telegraphie an SIEGERT den Historismus als Geschichtssucht, die die Stelle der Eisenbahn tritt. Es seien erst die mo- auf die Erfahrung des Verlusts authentischer Ge- dernen Übertragungsmedien und ihre Verknüp- schichte durch Medien- und Verkehrsentwick- fung zu Medienverbundsystemen, so argumentiert lung reagiert. CHRISTOPH NEUBERT hingegen liest Krajewski, die globale Innovationen um 1900 –

Bruno Latours zwischen Wissenschaftsprosa und wie Fleurop – ermöglichen, indem sie sich parasi-

Kriminal- sowie Science-Fiction-Roman schil- tär bestehenden Netzen aufpfropfen. Der Verknüp- lernden Text Aramis über das Projekt eines städ- fung von Verkehr und optischen Medien in Ge- tischen Verkehrssystems zwischen Metro und Auto stalt des Kinos widmen sich ISABELL OTTO und als verkehrstheoretische Grundlage für Latours THOMAS WAITZ: Otto, indem sie die Zeitreise bei

Akteur-Netzwerk-Theorie. H. G. Wells als Verkehrsform dechiffriert und die

In der zweiten Sektion geht es um „infrastruk- „Time Machine“ als ein Vehikel, das in Parallelität turelle Koppelungen“. Hier hat GABRIELE SCHA- zum gleichzeitig entstehenden Kino Verfahren des BACHERs anregender Beitrag über die Rohrpost filmischen Erzählens zur „medientechnischen Er- seinen Platz. Als nahezu unsichtbares, auf Funktio- schließung des Unsichtbaren“ (S. 287) nutzt; Waitz, nalität abgestelltes Transport- und Informations- indem er den Verkehrsteilnehmer als „kalte perso- medium, das oft in Schemata oder Karten reprä- na“ deutet und den Rezeptionsmodus des Genres sentiert wird und einen Funktionsverlust durch Straßenfilm als paradigmatische Form der Wahr- Medienkonkurrenz (Fernschreiber) erleidet, lässt nehmung des modernen Großstadtverkehrs ausweist. sie sich als eine geradezu beispielhafte Infrastruk- Den Verkehr allein den Technikwissenschaf- tureinrichtung begreifen. In einem weiteren Bei- ten zu überlassen, das demonstriert der Band an- trag rekonstruiert TORSTEN HAHN in faszinieren- schaulich, wäre bedauerlich, da dieser Verkehr nicht der Weise die Entstehung von Harold Adams nur räumliche Ensembles dynamisiert, sondern bis

Innis’ Medientheorie aus dem Geiste des Verkehrs, heute – oft beinahe unbemerkt – unsere Alltags- indem er dessen Kanufahrt auf den Spuren des praktiken formatiert. Wie er als Infrastruktur den kanadischen Biberhandels folgt. Dabei wird er- städtischen Raum erst erschafft und eine kultur- sichtlich, dass die Geographie Kanadas mit ihren transformierende Wirkung entfaltet, zeigt WIEB- waterways nicht nur die Kontur des Staates begrün- KE POROMBKAs Dissertation zur Medialität urbaner det, sie gibt zudem das Kanu als Transportmittel Infrastrukturen, die sich insbesondere mit dem öf- vor. Nicht zuletzt bietet der Biber und seine „In- fentlichen Nahverkehr zwischen 1870 und 1933 188 Besprechungen

in Berlin beschäftigt. Porombkas für die Textsorte im Unterschied zu technikskeptischen und kultur- ,Dissertation‘ außergewöhnlich gut lesbare Un- konservativen Stimmen möchte Porombka diesen tersuchung skizziert eine „Theorie der Inframedia- Prozess nicht einseitig als Geschichte des Verfalls lität“, der es um den Nachweis der „kulturfigurie- und Sinnverlusts erzählen. Beispielsweise ruiniere renden Wirkung des öffentlichen Nahverkehrs“ der beschleunigte Verkehr weder die nervliche geht. Dabei soll die Behauptung untermauert Disposition noch vernichte er Räume. Vielmehr werden, „dass durch die Einführung neuer Infra- seien es urbane Rhythmuswechsel (wie die Ge- strukturen die Raumwahrnehmungen und -dar- schwindigkeit der Straßenbahn – und das Warten stellungen, die Individual- und Gruppenidentitä- auf sie), die Georg Simmels vielzitierte Steigerung ten und die mit ihnen verbundenen soziologischen des Nervenlebens verursache. Und dem vermeintli- und philosophischen Konzepte, sowie nicht zuletzt chen Verschwinden des Raums durch seine schnelle die ästhetische Produktion und Rezeption selbst Durchquerung korrespondiere die Entstehung auf neue Voraussetzungen gestellt werden und sich neuer Räume (wie Haltestellen oder Kreuzun- dadurch ganz grundlegend verändern“ (S. 131). gen), in denen sich Erfahrungen machen lassen.

Dem Projekt, eine Transformation des Kultur- Letztlich stellt der moderne Verkehr das Erzäh- begriffs zu beschreiben, korrespondiert ein breiter len nicht nur in Frage – er rettet es auch: Das Netz

Untersuchungskorpus: Nicht nur im engeren Sin- der Straßenbahn, die in Porombkas Analysen das ne literarische Texte, sondern auch Feuilletons und zentrale Vehikel darstellt, gibt Franz Biberkopf nach soziologische, technik- oder verwaltungswissen- anfänglichen Irritationen seine Sicherheit zurück schaftliche Sachtexte werden herangezogen und – und macht die Stadt für Döblin erzählbar, weil es mit Stephen Greenblatt und dem New Histori- den unübersichtlich gewordenen Stadtraum ras- cism – als kulturelle Codes gedeutet. Der Begriff tert und ordnet. Mit der Kleinen Form, dem Feuil- der ,Infrastruktur‘ ist dabei ebenso zentral wie leton und dem Essay, wird Literatur in den 1920er mehrdeutig. Gerade in Kontexten des Verkehrs, Jahren schließlich ein Formenarsenal entwickeln, der Kommunikation oder der Verwaltung verfügt das der urbanen Verkehrsgesellschaft mit ihren er mittlerweile über Passepartout-Qualitäten. An- Bedürfnissen nach Mobilität, kurzweiliger Unter- statt ihn präzise zu bestimmen, umkreist ihn Po- haltung und Vernetzungs- bzw. Anschlusspoten- rombka – und tut gut daran, lässt sich aus seiner tialen adäquat ist. Die Bilder, die diese Literatur

Unschärfe doch beachtliches Kapital schlagen. Vor- produziert, lassen sich als Gradmesser für die „Na- ausgesetzt ist lediglich die Überzeugung, dass In- turwerdung“ der Infrastruktur deuten: Verfesti- frastrukturen durch ihren Doppelcharakter gekenn- gung und Kälte (etwa bei Siegfried Kracauer) zeichnet sind: Zum einen organisieren sie die werden durch Bilder des warmen Organischen materielle Kultur als sichtbare, oft technische Arte- (etwa bei Joseph Roth) abgelöst. fakte, zum anderen erzeugen sie imaginäre Wir- Dass die Euphorie über das Aufgehen des Sub- kungen mit ausgeprägtem kulturstiftendem Po- jekts in der Maschine und die Partizipation an deren tential. Der Literatur kommt dabei ebenfalls eine Kraft in den 1920ern nicht das letzte Wort ist, doppelte Rolle zu: als Analyseinstrument von in- mindert jedoch nicht die Bedeutung des Verkehrs framedialen Wirkungen und als Produzentin von als ästhetische Produktivkraft. Es gehört zu den

Images neuer Infrastrukturen, die sie für Gesell- Verdiensten von Wiebke Porombkas Arbeit, die schafts- und individuelle Lebenskonzepte kompa- Integration des Verkehrs in den Kulturbegriff tibel machen. voranzutreiben und damit an seiner Entideologi-

In historischer Hinsicht beobachtet Porombka sierung und dem Abbau der eingangs genannten einen signifikanten Wandel: Während Texte des Defizite zu arbeiten. 19. Jahrhunderts (wie die Julius Rodenbergs) den Steffen Richter öffentlichen Nahverkehr in der expandierenden Technische Universität Braunschweig Hauptstadt des Kaiserreichs noch als vom Beob- Institut für Germanistik achter-Subjekt getrenntes Objekt wahrnehmen, Abt. Neuere deutsche Literatur wird das frühe 20. Jahrhundert (etwa bei Joseph Bienroder Weg 80 Roth) das Subjekt in einen urbanen Passagier ver- D–38106 Braunschweig wandeln und mit dem Verkehr verschmelzen. Doch Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 189

CAROLINE PROSS Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne, Wallstein Verlag, Göttingen 2013, 436 S.

Dieter Kafitz hat in seiner Studie zur décadence in die Verarbeitung der hier in Frage stehenden Wis-

Deutschland zeigen können, dass im Vermittlungs- sensbestände unter die Bedingungen ihrer eige- prozess von Frankreich nach Deutschland1 die for- nen, systemspezifischen Logik und Regularitäten male Fragestellung zugunsten einer kulturkriti- stellt“ (S. 45). Ein solches Verständnis führt die schen Lesart, die bevorzugt Motive und Themen Verfasserin dazu, im vierten Kapitel den Diskurs- behandelt, marginalisiert wurde. Die thematische und Wissensbegriff zu umreißen. Pross schließt

Reduktion erlaubte zwar, die Dekadenzliteratur an Christine Maillard und Michael Titzmann an, von anderen Strömungen wie dem Symbolismus wenn sie Dekadenz als eines jener Krisen-Narra- und dem Ästhetizismus abzuheben, behinderte tive begreift, die als „Beispiel für genuin interdis- jedoch ein rechtes Verständnis der narrativen Lö- kursiv organisierte Wissensfelder der Moderne“ sungen der Verfallsgeschichten. CAROLINE PROSS (S. 88) angeführt werden können. Im Zentrum liest in ihrer postum erschienenen Habilitations- der Arbeit stehen close readings zu vornehmlich schrift Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung deutschen Texten der Berliner und Münchner der frühen Moderne die Erzählliteratur vornehmlich Moderne, die zwischen 1887 und 1924 z. T. als als formales Problem bei gleichzeitiger Berück- innerliterarische Auseinandersetzungen mit dem sichtigung der unerlässlichen diskursgeschichtli- Naturalismus zu sehen sind (vgl. S. 17). Pross schlägt chen Kontexte. In Anlehnung an Karlheinz Stierle vor, Dekadenz dagegen weniger als Phänomen der meint für Pross, Erzählen „aus einem Geschehens- Wiener Moderne zu betrachten. feld mit einer Fülle von Elementen auszuwählen Den vier Methoden- und Forschungskapiteln und das Gewählte zu einer Geschichte zu ver- folgen fünf textanalytische Kapitel, die die Erzäh- knüpfen, die nicht nur eine temporale Ordnung, lungen nach verschiedenen semantischen Prozes- sondern auch eine Perspektivierung des Darge- sen untersuchen: Übersetzungen, Umwertungen, stellten beinhaltet“ (S. 39). Ambiguierungen, Generalisierungen und Histo- Nach einer Einleitung, die die Dekadenz als risierungen. Unter ‚Übersetzungen‘ begreift Pross

Phänomen der frühen Moderne diskutiert und auf vor allem Transfers der „Argumente, Erzählsche- die deutschen Selbstbeschreibungen eingeht (S. 7– mata und Darstellungsverfahren“ (S. 105) in den

18), unterscheidet Pross zwischen Dekadenz als Texten Max Nordaus, des in Paris lebenden Ver-

Periodisierungsbegriff, als Formbegriff und als mittlers des französischen Dekadenz-Diskurses. An Narrativ. Letzteres bildet den methodologischen dessen Roman Die Krankheit des Jahrhunderts (1887) Schlüssel der Untersuchung, die eine ‚große Er- werden neuartige Sujets und Figurengrammati- zählung‘ der frühen Moderne rekonstruieren ken vorgestellt, die stimulierend auf die deutsche möchte. Folglich widmet sich das dritte Kapitel Literaturszene gewirkt haben. In einem weiteren der Narrativität (S. 45–84), die schließlich am Schritt wird der Konventionalisierung dieser Ele- Korpus des Dekadenzromans herausgearbeitet mente und ihrer Überführung in eine literarische wird. Durch diese gattungstypologische Entschei- Topik nachgegangen. dung bleibt die Verfasserin auf dem Gebiet der Die Durchsetzung eines dekadenten Erzähl- Literaturwissenschaft im engeren Sinne und ver- paradigmas wird nicht nur daran erkennbar, dass meidet die gattungsindifferente und letztlich un- Texte in der Nachfolge Nordaus zu verzeichnen spezifische Praxis, narrative Strukturen des Ver- sind, sondern dass auch ‚Umwertungen‘ (S. 180– falls an allen möglichen Texten aller möglichen 242) stattfinden, die sich vor allem im Werk Ger- Bereiche herauszuarbeiten. „Die Konzentration auf hard Ouckama Knoops (Die Dekadenten, 1898) ab- literarische Texte“ trage dem Umstand Rechnung, lesen lassen. Inwiefern die narrative Logik von

„daß die Literatur an der Zirkulation des Wissens Verfallsgeschichten selbst zum Thema werden kann, nicht nur teilhat, sondern in der Gestaltung dieses zeichnet das Kapitel ‚Ambiguierungen‘ (S. 242–

Wissens auch irreduzible Eigenarten aufweist und 310) am Beispiel von Thomas Manns Buddenbrooks 190 Besprechungen

(1901) nach (vgl. S. 245). Das Kapitel zu Eduard turgeschichtlichen Narrativs und seiner Elemen- von Keyserling (S. 311–371) ist von Horst Tho- te nicht notwendig in der von Pross nahegelegten més kulturgeschichtlicher Argumentation geprägt; zeitlichen Chronologie betrachten; denkbar ist aus dem weltanschaulichen Erklärungsversuch des auch eine andere Verlaufsform bzw. das gleich- literarischen Textes, vornehmlich des Romans zeitige Auftreten der herausgestellten Prozesse. Abendliche Häuser (1914), ergibt sich der – trotz Entscheidend aber bleibt das Ergebnis: Nicht nur der erhellenden Ergebnisse im Einzelnen – etwas die Verfahren der Texte, sondern auch die trans- behelfsmäßig wirkende Titel ‚Generalisierungen‘. textuellen Elemente, die epochenbildend sind,

Schließlich wird im letzten Kapitel Thomas Mann werden in genauen Lektüren rekonstruiert. Wenn- ein weiteres Mal herangezogen, um zu fragen, wie gleich das im Untertitel etwas unglücklich gewähl- das Dekadenz-Paradigma durch Reflexion auf te Wort ‚Studien‘ anderes erwarten lässt, ist das Distanz gehalten werden kann, ohne es gänzlich Buch, wie deutlich geworden sein sollte, von ei- aufzugeben. Geschah dies in den Buddenbrooks poe- ner relativ stringenten Systematik getragen, die tologisch, so im Zauberberg (1924) mit einem histo- Entstehung und Verfall eines literarischen Narra- risierenden Interesse. tivs vor Augen führt.

Stark ist die Arbeit da, wo sie sich von den ausführlich nachgezeichneten epistemischen Kon- Anmerkung texten abwendet und das Verfahren der Dekadenz- Erzählungen beleuchtet. Für die epochengene- 1 Dieter Kafitz: Décadence in Deutschland. Studien tische Fragestellung erweist sich Pross’ Habilitation zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2004. zudem als nützlich, insofern gezeigt werden kann, dass nach dem Transfer eines literarischen Alexander Nebrig Modells selbiges eine nationalliterarische Eigen- Humboldt-Universität zu Berlin dynamik gewinnt, an deren Ende die Selbsthistori- Philosophische Fakultät II sierung steht. Man muss allerdings Transfer, Institut für deutsche Literatur

Umwertung, Ambiguierung, kulturtheoretische D–10099 Berlin Generalisierung und Historisierung eines litera-

CARMEN ULRICH „Bericht vom Anfang“. Der Buchmarkt in der SBZ und frühen DDR im Medium der Anthologie (1945–1962), Aisthesis Verlag, Bielefeld 2013, 666 S.

In ihrer vielschichtigen Analyse des Genres ,An- Sammlungen kirchlicher Verlage, Übersetzungs- thologie‘ im Kontext des ostdeutschen Buch- anthologien und Themenanthologien –, leitet markts zwischen 1945 und 1962 eröffnet CAR- Ulrich die Grundlagen für literaturhistorische und

MEN ULRICH zahlreiche Untersuchungsräume. buchwissenschaftliche Studien ab. Vor dem Hin- Neben Fragen nach den Produktionsbedingun- tergrund der Realpolitik „lässt sich das engmaschi- gen und -motiven in der SBZ und frühen DDR, ge Netz aus staatlichen Vorgaben, parteipolitischen nach Lese- und Schreibgewohnheiten im langen Beschlüssen und gesellschaftlichen Verwobenhei-

Schatten des Zweiten Weltkrieges und möglichen ten weder ignorieren noch bagatellisieren“ (S. 17). Sammelkriterien in Bezug auf ästhetische und Eine ausschlißlich im politischen Koordinatensys-

(kultur-)politische Maßstäbe kontextualisiert sie tem beheimatete Analyse würde jedoch den Blick die Textsammlungen in einer literarischen Sozi- auf literarische Entwicklungen in der SBZ und algeschichte, die weit über sich hinaisweist. DDR versperren, weshalb Ullrich das Spannungs- Anhand des eruierten Bestandes von rund 830 feld zwischen parteipolitischer Enge und ambitio-

Anthologien, den sie plausibel in sechs Themen- nierter Literaturproduktion fokussiert. komplexe gliedert – literarisches Erbe, Ost-West- Dabei stützt sie sich auf eine bemerkenswerte

Anthologien, Gegenwartsliteratur der DDR, Menge Archivmaterialien, bestehend aus Druck- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 191

genehmigungsaufträgen, Verlags- und Außengut- Literaturgeschichte anhand des spezifischen Gen- achten, Korrespondenzen und internen Protokol- res ,Anthologie‘ entsteht. So werden kulturhisto- len verschiedener kulturpolitischer Institutionen rische Wirkungsmechanismen offenbar, die in an- der DDR, die dem Leser einen authentischen deren vergleichbaren Abhandlungen oft in wenig

Einblick in die Anthologieplanung und -bewer- differenzierten Halbwahrheiten aufgehen. Ulrich tung im Untersuchungszeitraum gewähren. aber hebt die Grauzonen zwischen den Deutungs-

Neben differenzierten Ausführungen stellen sta- ansätzen hervor und schafft es dennoch, die un- tistisch fundierte Grafiken den Anteil der Antho- terschiedlichen Konstellationen fazitartig zusam- logien sowie deren literarische Ausrichtungen dar, menzufassen. Schon in diesem ersten Kapitel wodurch sich die Entwicklungsgeschichte auch zementiert sich die These, dass durch geschickte quantitativ begreifen lässt. Um darüber hinaus den Platzierung eines Textes in einem Sammelband eigentlichen Gegenstand – die Literatur in der SBZ zensorische Einschränkungen umgangen werden und frühen DDR – nicht zum bloßen Statisten konnten. Um die Kontextualisierung zu erleich- zu deklassieren, offeriert Ulrich Interpretations- tern, erfolgen während dieser ersten Untersuchung ansätze zu exemplarischen Textauszügen. – wie auch in der gesamten Arbeit – wiederholt

In der Einleitung sucht sie den Zugang zum kleine Exkurse, die verschiedene Texte und Au-

Thema auf einer „Ebene der Werte“, in welcher toren anhand ihrer Geschichte oder ihrer literari-

„Literatur eingebettet [war] in ein System des Aus- schen Ausrichtung in den Vordergrund rücken. handelns“ (S. 26), wie auch auf der „Ebene der Dass ausgerechnet das überaus anregende Ka-

Normen“, die „Organisationsformen des Buch- pitel über die deutsch-deutschen Anthologiebe- markts und das ganze Regelungswerk“ (S. 27) mühungen zwischen 1945 und 1962 mit einer umfassten. Zwar muten einzelne Thesen in die- Ungenauigkeit beginnt, ist bedauerlich und über- sem Zusammenhang etwas pauschal an – etwa, rascht vor dem Hintergrund der fundierten Re- dass man „von einer zentralistischen Steuerung cherchen. Nicht der wenig bekannte Lyriker Wal- des Buchmarkts erst ab 1963 sprechen“ (S. 29) ter Stranka verhandelte mit dem Münchner Verlag könne –, doch werden anhand konkreter Regula- Kurt Desch über einen gemeinsamen Sammel- toren wie der Literaturplanung, -vermittlung und band, sondern Aufbau-Verlagsleiter Janka, der sich

-kritik Handlungsspielräume eröffnet, die in den vor seiner Verhaftung 1956 nachhaltig im deutsch- Folgekapiteln detailliert ergründet werden. Mit ei- deutschen Feld verdient machte. Dessen ungeach- nem einleitenden Diskurs über mögliche Definitio- tet analysiert die Autorin unterschiedliche Am- nen von „DDR-Literatur“ schafft Ulrich darüber bitionen, die mit der Herausgabe gesamt- und hinaus die terminologische Grundlage für die westdeutscher Textsammlungen in der DDR ein- darauffolgenden Einzelstudien. hergingen, und zeichnet den Veröffentlichungs-

Schon im Kapitel „Das literarische Erbe in An- verlauf – Planung, kritische Vorzensur, Vor- und thologien der DDR“ werden im anthologisier- Nachwortpraxis – sowie die auf die Publikation ten Material unterschiedliche Wirkungsrichtun- folgende Literaturkritik und die sich häufig daraus gen ausgemacht; nicht nur durch die Einteilung ergebenden Widersprüche nach. Dabei werden in das „ästhetisch-humanistische“ Erbe auf der regulär herausgegebene Textsammlungen ebenso einen und das „politisch-revolutionäre Erbe“ auf einbezogen wie verzögerte, veränderte und gänz- der anderen Seite entstehen Gegensätze. Auch lich verhinderte Sammelbände. Einem berlinspe- innerhalb der beiden Gliederungspunkte erkennt zifischen Exkurs folgt ein aufschlussreicher Blick Ulrich Diskurse und Gegendiskurse, die sie chro- über die innerdeutsche Grenze, der den sukzessiven nologisch nachzeichnet und anhand einzelner An- Wechsel in der Herausgabepraxis von überwie- thologiebeispiele aufschlüsselt. Dabei eruiert sie gend politisch-kritisch konzipierten Anthologien

Forschungsschwerpunkte wie Zensur, den ostdeutscher Texte hin zu literarisch ambitionier-

„doppelzüngige[n] Einheitsdiskurs“ (S. 66) der frü- ten Sammlungen – z. B. von Klaus Wagenbach oder hen DDR und literaturästhetische Entwicklun- Ad den Besten – thematisiert. gen nach 1945. Besonders hervorzuheben ist der In ihrer Beschreibung anthologisierter zeitge- ständige Blick auf die westlichen Zonen bzw. nössischer DDR-Literatur, die mit 290 Antholo-

Bundesrepublik, wodurch eine gesamtdeutsche gien fast doppelt so viele Auswahlbände im Ver- 192 Besprechungen

gleich zu Textsammlungen des deutschsprachi- Während Publikationen von Verlagen mit re- gen Erbes (vgl. S. 159) füllte, illustriert Ulrich ligiösem Profil, ihrer Sonderstellung entsprechend, die Entwicklung vom politischen Agitationslied nur wenig Beachtung in der ostdeutschen Litera- zu einer neuen Autorengeneration, die unter turkritik fanden, bedurfte es in Bezug auf Überset-

„Verzicht auf künstliches Pathos [. . .] ihre Partei- zungsanthologien „einer höheren Investition in die lichkeit mit neuen literarischen Verfahrenswei- Wirkungsmechanismen“ (S. 478). Ausländischen sen“ (S. 238) zu verbinden suchte. Der folgen- Textsammlungen wurde daher ein wesentlich grö- de Prosaexkurs wird von einer differenzier- ßeres öffentliches Interesse zuteil, obwohl diese ten Darstellung der Anthologien schreibender Anthologien durch die scharfen Selektionskriteri- Arbeiter abgelöst, in der Ulrich die „konzeptio- en kaum neue Formen oder Inhalte zutage fördern nelle Widersprüchlichkeit“ im Begriff „schreiben- konnten. Ebenso scheiterte nach Ulrich der Ver- der Arbeiter“ terminologisch aufschlüsselt und such, Literatur für „heterogene Zwecke zu funktio- daraus die „Halbherzigkeit der Bewegung“ (S. 293) nalisieren“ (S. 527), so dass themenspezifischen ableitet. Textsammlungen – etwa mit Fokus auf Humor,

Da eine eingehende Untersuchung der kirch- Liebe und Erotik, Spuk und Abenteuer oder Kind- lichen Verlage in der DDR noch immer ein For- heit und Alter – kein allzu großer Erfolg beschert schungsdesiderat ist, bietet das Kapitel über An- war. Nichtsdestotrotz ebneten auch diese Sammel- thologien kirchlicher Verlage einen neuen bände bislang ungedruckten Autoren häufig den

Einblick in – scheinbar altbekannte – Kontroll- Weg in ostdeutsche Verlagsprogramme. und Veröffentlichungsmechanismen fernab des re- Letzten Endes skizziert Carmen Ulrich in ih- gulären Literaturbetriebs. Auch hier ist das von rer Anthologie-Studie eine komplexe Sozialhis- den Herausgebern oft willkürlich zusammenge- torie, in der sie intendierte Funktionen einer Text- würfelt daherkommende Anthologiematerial sammlung ihren tatsächlichen Wirkungsrealitäten denkbar heterogen, doch lassen sich erneut klare gegenüberstellt. So lassen sich Phänomene litera- Tendenzen anhand der untersuchten Materialien turästhetischer, kulturpolitischer, rezeptionstheo- ausmachen. So offenbart die Analyse dieser Ver- retischer und programmatischer Natur daran ab- lage, dass z. B. „einige Herausgeber das literarische lesen, die die DDR-Anthologieschreibung im

Niveau ihrer Auswahl absichtlich“ herunterspiel- Allgemeinen, wie auch den übergeordneten lite- ten, um vor „allzu strengen Kontrollverfahren ver- raturhistorischen Kontext veranschaulichen. schont“ (S. 325) zu bleiben; zudem konnten reli- giöse Anthologien dank ihres Nischendaseins Julia Frohn häufig weniger folgenreich Kritik am gesellschaft- Mainzer Straße 26 lichen Status quo üben, als es anderen Textsamm- D–10247 Berlin lungen möglich war.

WALTER ERHART Wolfgang Koeppen. Das Scheitern moderner Literatur, Konstanz University Press, Konstanz 2012, 463 S.

Ein Meilenstein: Mit dieser großen Studie tritt len. Das konnte man bei diesem Autor nicht die Koeppen-Forschung entschieden noch einmal anders erwarten. WALTER ERHART leitete von in eine ganz neue Runde ein. Es handelt sich dabei 2000–2007 das Koeppen-Archiv der Universität 1 erstmals wieder seit Quack (1997) um eine Aus- Greifswald. Das vorliegende Buch ist nun – ne- einandersetzung mit dem Koeppen’schen Gesamt- ben den drei Bänden reiseliterarischer Schriften, werk – hier jedoch – und das ist das Maßstabset- die Erhart als Herausgeber zur neuen Koeppen- zende dieser Untersuchung – angereichert um Werkausgabe bei Suhrkamp beisteuerte – die wis- beinahe sämtliche für die Koeppen’sche Schreib- senschaftliche Summe seiner umfassenden Aus- szene und Textgenese relevanten Nachlassquel- einandersetzung mit dem Nachlass. Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 193

Hierbei ist es ihm erkenntlich darum zu tun, keine Ausnahme, ist vielmehr der größte, Koep- einer besonderen Verlockung zu entsagen, die im pen zum Zwecke der Veröffentlichung entrisse-

Umgang mit Nachlassmaterialien – insbesondere ne Teil dieses autobiographischen Vorhabens. bei einem legendenumwitterten Autor wie Koep- Kein Verstummen also, vielmehr ein fortge- pen – stets gegeben scheint: der Gefahr zur quel- setztes Formscheitern, dem Erhart einen exemp- lengläubigen Blickverengung aufs Autobiographi- larischen, für die Literatur der Moderne vielleicht sche, Privatistische, zur gemeinen „homestory“ oder paradigmatischen Sinn abgewinnen will. Einerseits

„Schlüssellochperspektive“ (S. 22). Solche Tenden- der nie ausgesetzte Anspruch auf die große, pano- zen hat Erhart bei der bisherigen Koeppen-Nach- ramatische Erzählung, in der der Autor sich in eine lass-Forschung ausgemacht (bei Döring 20032 und literarische Figur verwandelt, um sein Jahrhundert den großen Briefeditionen Koeppen/Unseld 2006, zu repräsentieren. Davon zeugen die vielen Perso- Koeppen/Koeppen 20083). Beide von hier aus neninventare, Ortsregister, autobiographisch kon- entwickelten Lesarten auf den „Fall Koeppen“, turierten Handlungs- und Figurenumrisse zum dessen fortgesetztes Unvermögen, den immer „großen Roman“ in Koeppens Nachlass. Anderer- wieder in Aussicht gestellten „großen Roman“ zu seits die mangelnde Registerkompetenz eines durch schreiben, hält Erhart für unterkomplex. Auch wenn die Schreibverfahren der literarischen Moderne kein Zweifel bestehe, dass der „große Roman“ im präokkupierten Autors, der immer, wenn Schreib- Kern als autobiographisches Projekt konzipiert war, fluss aufkommt, gleich in den an Joyce geschulten sei Koeppen weder daran gescheitert, seine wi- stream of consciousness verfällt und damit die große dersprüchliche Existenz während des ‚Dritten Erzählung verunmöglicht. Reiches‘ erzählerisch zu fassen, noch an Eheproble- Da müssen all die Fans ganz stark sein, die den men oder familiärem Unglück, wie es die veröf- berühmten Koeppen-sound der schwebenden End- fentlichten Briefwechsel nahezulegen scheinen los-Parataxen aus der Nachkriegstrilogie so betö- (Unseld: „Suff oder Liebe, beides hält ihn ab“). rend finden: Für Erhart ist das eine weitgehend Auch den beiden älteren Erklärungsmodellen routinierte, nachgeholte literarische Moderne als kann Erhart wenig abgewinnen: dem des aus po- Umwegproduktivität, die den erstrebten autobio- litischen Gründen verstummten Romanciers, der graphischen Roman eher behindert als ihn zu er- sich in Reiseliteratur flüchtet (Reich-Ranicki) möglichen. Von hier aus betrachtet, fällt der neue bzw. dem eines inhärent modernistischen Ver- Blick aufs Gesamtwerk reichlich ernüchternd aus: stummens: dem Zweifel an der Erzählbarkeit von In den frühen Romanen (Unglückliche Liebe, 1934,

Ich und Welt. Wer einmal den Nachlass von Die Mauer schwankt, 1935, dem Fragment Die Ja- innen gesehen hat, wird Erhart Recht geben: Von wang-Gesellschaft, 1937) reinszeniere Koeppen noch Verstummen kann überhaupt keine Rede sein. einmal verspätet die Krisen der Männlichkeit aus Koeppen hat vielmehr Zeit seines Lebens unaus- der Decadence-Literatur der Jahrhundertwende; gesetzt produziert. Nicht aber den „großen“, den in der Nachkriegstrilogie adaptiere er – virtuos autobiographischen Roman, obwohl er sich er- bis vorhersehbar – das halluzinatorische, multi- kennbar bis zuletzt darum bemühte. perspektivische Erzählen der Moderne; erst die

Es gehört zu den Verdiensten dieser Studie, auch reiseliterarischen Texte der späten 1950er Jahre, die Legende vom Trickster Koeppen zurückzu- die für Erhart in der Tradition der neusachlichen weisen, der Verleger und Literaturbetrieb durch Poetologie der Reise zu lesen sind, zeugten von immer neue Romanankündigungen bei Laune der Wiedergewinnung einer Autor-Position, die gehalten haben soll. Erhart kann nachlassgestützt das Ich als Figur ermögliche, den großen Roman zeigen, dass vielmehr alle schon seit den frühen jedoch weiterhin konstitutiv verfehle. Zuletzt

1950er Jahren kolportierten Romanprojekte (de- bleibt Koeppen nur die Ausflucht in den Medien- ren Titel teils schon den Weg in Verlagsvorschauen wechsel, d. h. zum Film(projekt), um autobiogra- gefunden hatten) Neuanläufe zu jenem „großen phisch zu erzählen (Es war einmal in Masuren, 1991;

Roman“ darstellten, die im Ergebnis zu keinem Ich bin gern in Venedig warum, 1994). Das ist eine

ästhetischen Ganzen, sondern zu jenem Zettelge- schmerzhafte, hinreichend riskante These, an der birge aus Fragmenten geführt haben, aus dem der die künftige Koeppen-Forschung sich abarbeiten Nachlass besteht. Selbst Jugend (1976) macht da muss: Dass gerade jener BRD-Modernismus, für 194 Besprechungen

den der Autor der Nachkriegstrilogie und von bens? Erhart will dazu nichts sagen, weil er die Jugend so sehr geschätzt wird und der ihm die Biographismus-Falle fürchtet. Gerade weil sein

Kanonisierung eingetragen hat, als Koeppens spe- Buch aber so viel neues nachlassgestütztes Wissen zifisches Scheitern angesehen werden muss. Die mobilisiert wie kein anderes vor ihm, scheint diese

These will ersichtlich mehr sein als (gerade in Abstinenz fast übervorsichtig. Auch ein strikt ver- den letzten Jahren bisweilen in der Koeppen-For- fahrensanalytischer Blick auf autobiographische schung beobachtbarer) Koeppen-Verdruss, denn Schreibweisen muss die Schreibanlässe als Regu-

Erhart widmet ein langes Kapitel der Verallge- lativ nicht außer Acht lassen, im Gegenteil: Von meinerungsfähigkeit dieses Befundes. Darin wer- Walter Erharts großer Studie aus zeichnet sich ein den all die scheiternden autobiographischen Groß- entwickelter Begriff von ,Autofiktionalität‘ ab. Das versuche modernistischer Autoren diskutiert – von ist von drängendem Interesse auch jenseits der Brasch bis Brinkmann, von Dürrenmatt bis Koeppen-Forschung.

D. Foster Wallace. Der heimliche Held dieser klei- nen Literaturgeschichte des Scheiterns ist Roland Anmerkungen Barthes, der erst den Tod des Autors begründet und dann seine letzte Vorlesung der notwendi- 1 Josef Quack: Wolfgang Koeppen. Erzähler der Zeit, gen, aber unendlich aufgeschobenen Wiederkehr Würzburg 1997. 2 Jörg Döring: „Ich stellte mich unter, ich machte mich desselben gewidmet habe. Diese These fügt sich gut dem in letzter Zeit erstarkten Forschungsin- klein“. Wolfgang Koeppen 1933–48, Frankfurt a. M. teresse an der Persistenz realistischer Schreibwei- 2003. 3 Wolfgang Koeppen, Siegfried Unseld: „Ich bitte um sen, die den kurzen Sommer der literarischen ein Wor t. . .“. Der Briefwechsel, hrsg. v. A. Ester- Avantgarden im Grunde schon seit den späten mann, W. Schopf, Frankfurt a. M. 2006; Wolfgang 1920er Jahren wieder beendet habe (M. Baßler). Koeppen, Marion Koeppen: „trotz allem so wie du Erharts Studie hat den Vorzug, dass sie einen sol- bist“. Wolfgang und Marion Koeppen. Briefe, hrsg. chen Befund fallbezogen substantiieren kann. Die v. A. Ebner, Frankfurt a. M. 2008. Koeppen’sche Schreibszene zeigt immer beides: modernistischen Glanz und gleichzeitig jede Men- Jörg Döring ge textegenetischer Spuren, die auf eine Suche Universität Siegen nach anderen – realistischen wie autobiographi- Germanistisches Seminar schen – Schreibverfahren hindeuten. Adolf-Reichwein-Str. 2 Warum aber scheitert Koeppen seit den 1950ern D–57068 Siegen Jahren ausgerechnet am Stoff seines eigenen Le-

DANIEL MÜLLER NIELABA, YVES SCHUMACHER, CHRISTOPH STEIER (Hrsg.) „Man will werden, nicht gewesen sein“. Zur Aktualität Max Frischs, Chronos Verlag, Zürich 2012, 269 S.

Max Frisch, neu gelesen. Zum 100. Geburtstag von arbeitete Aspekte im Schaffen Frischs (z. B. seine hat die Universität Zürich 2011 eine Reden, seine Beziehung zum Epochenbruch um

öffentliche Ringvorlesung mit 12 Vertreter(inne)n 1968 oder seine Verbindung mit dem Schauspiel- der Literaturwissenschaft aus der Schweiz veran- haus Zürich), eröffnet aber auch neue Zugänge staltet. Deren Beiträge sind nun von den Zürcher zu scheinbar schon Bekanntem, vor allem, was das

Germanisten DANIEL MÜLLER NIELABA, YVES Erzählwerk des Autors betrifft. SCHUMACHER und CHRISTOPH STEIER unter dem Programmatisch versteht sich der Band im zukunftsweisenden Titel Man will werden, nicht Untertitel als Beitrag Zur Aktualität Max Frischs. gewesen sein versammelt worden. Eine neue For- Dass es in der heutigen Germanistik Zweifel an schergeneration erschließt darin noch wenig be- der fortdauernden Gegenwärtigkeit des großen Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 195

Nachkriegsautors aus der Schweiz gibt, räumen zierten Verzicht, als „Repertoirespieler“ aufzutre- die Herausgeber gleich zu Beginn ihrer einlei- ten, „der Zentralsätze aufbäckt“ (S. 47). Das alles tenden Darlegungen ein. Was ihren Kolleg(inn)en „muss man sich leisten können“ (S. 44), schreibt Anlass zur Zurückhaltung ist, ergreifen die Auto- Mettler in einem Klammersatz und vermutet, r(inn)en jedoch als Herausforderung, das Werk heutige Schreibende äußerten sich weniger häu- Frischs aus „selbstverständlichen Lesegewohnhei- fig zu Zeitfragen, weil die damit verbundenen li- ten zu lösen und [. . .] noch einmal neu zu er- terarischen Ansprüche ihnen „eine nicht unbe- schliessen“. Ihre Aufsätze sind so angeordnet, dass trächtliche, in der Regel unhonorierte Arbeit“ sie, ausgehend „von der öffentlichen Person, dem (S. 44) aufzwängten. Redner und Dramatiker Max Frisch in seinen Der von Strässle und Mettler als Selbstverständ- historischen Kontexten, über den Medientheore- lichkeit vorausgesetzten Zeitgenossenschaft im tiker und Romancier bis hin zum Tagebuchschrei- Schreiben spürt CHRISTINE WEDER in Frischs ge- ber“ führen. Dieser „Weg zum Text“ (S. 9) er- spaltener Haltung gegenüber den 1968ern nach. weist sich im ganzen Band wie in den einzelnen Bei aller Sympathie für die Bewegung (die Auto- Beiträgen als sehr ergiebig. rin erinnert an Frischs Unterzeichnung des Zür- THOMAS STRÄSSLE verfolgt die Entwicklung cher Manifests im Sommer 1968) trennen den Frischs als Redner von der Eröffnung der Frank- damals 57-Jährigen im Kunst- und Literaturver- furter Buchmesse 1958 (Öffentlichkeit als Partner) ständnis Welten von dem 1968 neu verlangten bis zur Eröffnung der Solothurner Literaturtage „Engagement“ der Kunstschaffenden. Umso in-

1986 (Am Ende der Aufklärung steht das goldene Kalb) teressanter sei Frisch im Kontext „1968“ neu zu und zeigt, wie Frisch auch für die Gattung der lesen. Zwei Verfahren stellt sie zur Diskussion: die

Rede poetologische Überlegungen anstellte, die ironische Übernahme des Verjüngungskultes der

über seine eigenen öffentlichen Auftritte hinaus 1968er in den Notizen zu einem Handbuch für Mit-

Geltung beanspruchen können. Frisch tritt in sei- glieder der Vereinigung Freitod, die Frisch seit dem nen Reden – ebenso wie in seinen epischen und Frühling 1968 in sein Tagebuch 1966–1971 auf- dramatischen Werken – zunächst vor sich selber nimmt, und die „Umnutzung, Umbesetzung“, die an, inszeniert „ein öffentliches Gegenüber in sich Frisch in den 1970er und 1980er Jahren in der selbst“ (S. 25) und begegnet dem Publikum als Nachfolge der von Herbert Marcuse prokla-

Fragesteller „zur öffentlichen Anzettelung eines mierten „linguistischen Therapie“ (S. 73) an den

Gesprächs“. Im Unterschied zum Vortrag versteht Schlagworten eben jener vornimmt, die diese Frisch die Rede als einen Dialog, in den „die Methode des „Umfunktionierens“ selbst in Um- Zuhörer als Partner, die Öffentlichkeit als Partne- lauf brachten. Interessant wäre es, entsprechenden rin“ (S. 21) einbezogen werden. Wie in seinem Verfahren einer distanzierten Zeitgenossenschaft ganzen Schaffen verfolgt Frisch auch als Redner Frischs auch zu anderen Zeiten nachzuspüren. das Ideal „der aufklärerischen Selbstbewusstwer- Mit welcher Konsequenz Frisch bei allen ter- dung“ (S. 22). minologischen Abwandlungen gerade im Thea- Welche Faszination er auch noch auf die dritte terschaffen an einer Bühne festhält, die den Zeit- Schriftsteller-Generation nach ihm ausübt, zeigt umständen Rechnung trägt, indem sie allein „der der Beitrag von MICHEL METTLER, der danach fragt, Kunst dient“ (S. 87), zeigt URSULA AMREIN in ih- woher es rühre, dass seinerzeit „Frischs Wor t so rem Beitrag zur Verbindung Frischs mit dem viel Gewicht zukam“ (S. 42) und nennt neben Schauspielhaus Zürich. Als hervorragende Ken- der für Frischs gesamtes Schreiben selbstverständ- nerin der Geschichte dieser Bühne und ihrer lichen Zeitgenossenschaft sein genaues Studium noch kaum genügend gewürdigten Bedeutung für der Rede als eigenen Genres, sein Festhalten „an das literarische Schaffen in der Schweiz nach den Massstäben seiner Poetik“ (S. 44), sein damit 1945 zeigt Amrein auf, welch Glücksfall für einhergehendes literarisches Verfahren, den Zu- Frischs Theaterschaffen es war, dass 1938 Oskar hörer in die Lage oder Wahrnehmung eines an- Wälterlin als künstlerischer Direktor und Kurt deren zu versetzen, seine Fähigkeit zur immer Hirschfeld als Dramaturg eine Ästhetik des „hu- wieder überraschend präzisen Verkürzung der manistischen Realismus“ (S. 91) zu entwickeln

Fragen und Aussagen und seinen damit impli- begannen, die „die Autonomie der Kunst mit der 196 Besprechungen

Politik der Neutralität“ so zu verbinden erlaub- suchungen zu seinen erzählenden Texten. AN- te, dass die Zürcher Pfauenbühne „autonomer DREAS KILCHER unterstreicht deren Subjektbezug, Raum der Kunst, neutraler Ort der Schweiz und wenn er Frischs Literaturverständnis „wesentlich zugleich Asyl der ‚anderen‘ Deutschland“ (S. 92) von Sartres humanistisch-politischem Existentia- werden konnte. In diesen „Interpretationszu- lismus“ (S. 168) geprägt sieht und Frischs „epi- sammenhang der Schillerschen Ästhetik“ (S. 99) sches Theater“ ebenso wie sein „theatrales Er- vermochte sich Frisch seit 1944, von Hirsch- zählen“ als „Möglichkeitsraum des erzählerischen feld ermuntert, mühelos und mit Gewinn als Selbstentwurfs“ (S. 181) versteht. WOLFRAM Theaterautor einzuordnen. Noch in seinen New GRODDECK geht genauer auf die Erzählsituatio-

Yorker Vorlesungen zum 70. Geburtstag 1981 nen in Frischs Stiller ein und zeigt, wie der Staats- hielt er am Konzept der Kunst nicht als „Gegen- anwalt als Erzähler des Nachworts „ebenso sehr ein Macht“, sondern als „Gegen-Position zur Macht“ Erzählgeschöpf des erzählenden Stillers bzw. fest und verortete sich mit der Berufung auf Ka- Nicht-Stillers wie umgekehrt Stiller ein Erzähl- simir Malewitschs Bild des Schwarzen Quadrats gegenstand des Staatsanwalts ist“. Er führt vor, wie „ausdrücklich in der Geschichte der internatio- ein derartiger „auktorial erzählter auktorialer Er- nalen Avantgarde“ (S. 115). zähler“ (S. 190) zu verstehen sei, indem er als Il- In seinem versuchsweisen Überblick über lustration die einander Zeichnenden Hände des nie- Frischs dramatisches Schaffen bestätigt PETER derländischen Grafikers Maurits Cornelis Escher SCHNYDER den „Schiller’schen Impetus“ (S. 123) heranzieht. in Frischs Verständnis des Theaters, spürt aber Einem entsprechenden „Erzählparadox“ (S. 200) auch Bezüge zu Brecht, Sartre und Wilder und geht DANIEL MÜLLER NIELABA in Montauk nach. im späteren Werk Biografie: Ein Spiel und dessen Frisch verschärft hier die unhintergehbare Spal- „Dramaturgie der Permutation“ (S. 132) gar sol- tung des vermeintlich authentischen autobiogra- che zu Jacques Derrida und Michel Foucault auf. fischen Individuums ins erzählte/erzählende Ich

Dass Frisch sich aber ganz anders als Derrida durch harte Fügungen im Wechsel vom Ich zum und Foucault gerade „gegen eine ‚objektivistische‘ Er und macht deutlich, dass das scheinbar „nichts und für eine ‚subjektivistische‘ Ästhetik entschie- ‚erfindende‘ Erzählen [. . .] seinerseits reine Er- den“ (S. 142) hat, zeigt HANS GEORG VON AR- findung ist, also haargenau dasjenige, was wün- BURG überzeugend in seiner gründlichen Unter- schend verworfen wird“ (S. 201). Damit lasse suchung zu den praktischen und theoretischen Montauk als „ein abschliessend poetologisches Buch

Arbeiten Frischs als Architekten. Frisch suchte über das gesamte Schreiben des Schriftstellers“ auch in der Architektur das, was ihm schließlich (S. 202) erkennen, dass „das Leben selber ein Kon- nur das literarische Schreiben und Wirken bieten volut von Erzählungen ist“ (S. 204), so dass es sich konnte: „den Willen der anderen geschehen las- nicht in der Literatur gespiegelt sieht, sondern die- sen und sich plötzlich als ein anderer in seinem se sich „widerspiegelt im Leben“ (S. 205) findet.

Werk wieder finden“ (S. 162). Diesen Versuch Das verlangt vom Leser den Verzicht auf das musste er schon mit seiner größten architektoni- „Verstehen als Verstandenhaben eines Ganzen“ schen Leistung, dem Freiluftbad Letzigraben in (S. 209). Das Ergebnis seiner ebenso inspirierten

Zürich, „baden gehen“ lassen, weil er als Archi- wie präzisen und stringenten Lektüre beeinträch- tekt wie als Autor „die Objektivierung des schrei- tigt Müller Nielaba zum Schluss nur dadurch, dass benden Selbst und seine Entfremdung im eige- er die These von der Undeut-, ja Unlesbarkeit nen Werk“ scheute – eine Möglichkeit also „zu des Montauk-Textes anhand einer Allegorese der einem befreiteren Selbstverständnis“ (S. 163) zu Eingangsszene des Buches zu belegen versucht. gelangen, wie sie für Frisch in der Ästhetik des Der Gang vom Parkplatz zur im Schild OVER- Humors bei Jean Pauls vorgezeichnet gewesen LOOK versprochenen, auf dem angegebenen Pfad wäre. aber nicht erreichbaren Aussicht aufs Meer wird

Die Frage, ob und inwieweit Frischs Werk sich für ihn zur „reinen Leseallegorie“ (S. 207) bzw. hätte „aus dem Bann befreien können, mit dem „Allegorie der Unlesbarkeit“ (S. 208). So aber liest sein Ich dieses Werk beherrscht“ (von Arburg, er das Buch gerade dadurch als „kondensierte Kri- S. 162), steht auch im Hintergrund der fünf Unter- tik an einer inhaltsfixierten, teleologischen Sinn- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 197

Lektüre“ (S. 208), dass er dem Inhalt der Eingangs- Im abschließenden Beitrag wendet sich KARL szene in einsträngiger Deutung den für ihn of- WAGNER dem großen, unabgeschlossenen Tage- fensichtlichen Sinn abgewinnt. buch-Werk Frischs zu. Wagner zeigt überzeugend,

Mehrdeutigkeit hingegen erschließt BARBARA wie Frischs Tagebücher als „Epochenkonstruk-

NAUMANN in Mein Name sei Gantenbein, indem sie tion [. . .] bei ausgestellter, markierter Subjektivi- gleich mehrere Neuzugänge zu diesem Roman tät“ (S. 250) zu lesen wären, und vertritt die The- eröffnet. Sie liest den Roman als „Experimental- se, dass Frisch in der Gattung , Tagebuch‘ „kühner

Raum des Erzählens“, für den „das Scheitern des war als in seinem sonstigen fiktionalen Werk“

Erzählens [. . .] konstitutiv“ (S. 214) sei, und ver- (S. 259). Das Tagebuch lässt Raum zur Erprobung folgt ihre These, indem sie drei Gesichtspunkte verschiedener Gattungen, neben dem Reisebericht genauer untersucht: die „szenische Orientierung“ ist dies bei Frisch vor allem auch das Porträt, das

(S. 216) des Romans in Verbindung mit dem dra- Wagner besonders würdigt. Als ebenfalls frucht- matischen Schaffen Frischs, seine „vier intertex- bar erweist sich Wagners Bemühen, Frisch als Ta- tuelle Spiele“ (S. 218) und seine durchgehende gebuchschreiber in Verbindung zu bringen mit

Spiegelung „in anderen Medien“ (S. 226), wodurch den Tagebuch-Autoren Elio Vittorini, Günther er über seine „Textualität“ hinausweist und zum Anders und Virginia Woolf. Wagner zeigt hier

„Intermedium“ wird. beispielhaft, dass die Frisch-Forschung im Ver-

Auf radikale Weise sieht SABINE SCHNEIDER fahren, den Autor im Ensemble mit Autor(inn)en das „Scheitern des Erzählens“ in Der Mensch er- verschiedener Epochen seines Schaffens zu lesen, scheint im Holozän zu Ende geführt. Für sie noch einiges Zukunftspotential finden kann. wird die Erzählung durch den „Rückzug der Er- Dasselbe gilt für das große, erst noch zu erschlie- zählinstanz aus dem Material“ (S. 236) zu einem ßende Archiv-Material. Künftige Eröffnungen ge-

„sich scheinbar selbst präsentierenden Textag- schützter Bestände werden z. B. auch die Textge- gregat“ und damit zum Zeugnis der „Eliminie- nese der drei Tagebücher zu erforschen erlauben. rung jeglicher narzisstischer Reste einer Autor- Frisch bleibt der Germanistik „aufgegeben“ Imago“ (S. 237). Herr Geiser, der Protagonist der (S. 9), wie die Herausgeber in der Einleitung be-

Erzählung, will seinen Platz nur mehr „gattungs- tonen. Die Beiträge haben sich der Aufgabe so mässig, als homo sapiens, im System des Ganzen gestellt, dass sie mehr Perspektiven eröffnen als wissen“ (S. 244), muss aber auch diesen Anspruch abschließende Urteile fällen. Sie zeigen damit auch, aufgeben und sich „der Regression des denken- welch großen Gewinn die Germanistik aus der den Menschen in die unbewusste Natur“ (S. 245) Auseinandersetzung mit Frischs Schaffen noch fügen. Was bleibt, sind „seine so lakonischen wird ziehen können, wenn sie sich nicht – wie in Sätze“ und sein in ihnen artikulierter „eigensin- Zürich zur Zeit Emil Staigers – darum bemüht, niger, unverzichtbarer, noch so verschrobener der Literatur zu zeigen, was sie zu leisten habe,

Blick auf die Welt“ (S. 246). Schneider liest den sondern sich von ihr inspirieren lässt. Text so als gelungenes Beispiel für jene „Katastro- phen“ (S. 229), zu denen Spätwerke nach Ador- Daniel Rothenbühler no werden können, und für das, was Thomas Hochschule der Künste Bern Mann im respektvollen Blick auf seinen Bruder Fellerstrasse 11 Heinrich als „Greisen-Avantgardismus“ (S. 233) CH–3027 Bern bezeichnet hat. 198 Besprechungen

HEINRICH DETERING Hans Christian Andersen, Deutscher Kunstverlag, Berlin, München 2011, 96 S.

FRIEDMAR APEL Hugo von Hofmannsthal, 2012, 88 S.

WERNER FRIZEN Robert Musil, 2012, 88 S.

Leben in Bildern. Im Deutschen Kunstverlag er- jeder Biographie – das Bild fordert den Biogra- scheint nun schon seit einigen Jahren die schöne, phen in dieser Hinsicht heraus. Vor diesem Hin- von DIETER STOLZ herausgegebene Reihe Leben tergrund ist die Annäherung an das Leben über in Bildern, die inzwischen auf neun Bände ange- Bilder bzw. unter prominenter Einbeziehung von wachsen ist. Jeder Band widmet sich auf unter 100 Bildern vielleicht nicht nur eine besonders zeit- großformatigen Seiten dem Leben eines Schrift- gemäße, sondern auch eine besonders ambitio- stellers (bzw. mit dem Bachmann-Band von Hel- nierte. Von denen, die sich im Rahmen der mut Böttiger erstmals auch: einer Schriftstellerin) Reihe des Deutschen Kunstverlags dieser Heraus- und präsentiert neben einem biographischen Es- forderung in letzter Zeit stellten, sollen im Fol- say zahlreiche Illustrationen (meist Photographien). genden drei etwas genauer betrachtet werden. Auch wenn der Reihentitel suggeriert, dass die Alle drei legen – das sei vorweg geschickt und

Texte nur assistierende Funktion hätten und die kann vor dem Hintergrund der bisherigen Aus-

Bilder im Vordergrund stünden, sind Text und führungen nicht wirklich überraschen – einen Bild letztlich gleichberechtigt. deutlichen Schwerpunkt auf die Darstellung der Der Reihentitel seinerseits ist doppeldeutig: Er inneren Konstitution und Entwicklung ihrer Pro- verweist einerseits auf die Form der medialen Re- tagonisten. präsentation einer Biographie (eben: im Medium Den Band über Hans Christian Andersen ver- des Bildes), andererseits greift er auch ein Signum antwortet mit HEINRICH DETERING ein ausgewie- der medial codierten Moderne auf. Lebensmo- sener Experte, der gleich zu Beginn klarstellt, dass mente werden nämlich nicht allein in Form von Andersen kein Glückskind war: „Seine erste, trau- Bildern überliefert, sondern Bilder prägen die matische Erfahrung ist die des Stigmas. Es bezeich-

Wahrnehmung des Lebens selbst – man lebt eben net den Anfang und den Grundzug dieses Le- gewissermaßen in Bildern. In diesem Sinne folgt bens, es ist [. . .] der nie versiegende Antrieb seines das eigene (Er-)Leben medial vorgeprägten und Schreibens, und es ist das manchmal verborgene, vermittelten Patterns, denn für jeden Lebensmo- nicht selten auch drastisch hervortretende Haupt- ment hält das unerschöpfliche Bildreservoir Vor- thema seines Werks.“ (S. 11) Stigmatisiert ist An- lagen bereit. Ob Liebe, Trauer, dichterische Nach- dersen in dreifacher Hinsicht: sozial (in erbärm- denklichkeit oder kreativer Furor – für alle diese lichen Verhältnissen geboren), physisch (als hässlich Situationen lassen sich im Kopf sofort etliche Bil- und mädchenhaft wahrgenommen) und erotisch der abrufen. Dieser Grundgedanke stößt ins Zen- (homosexuell). Aus dieser dreifachen Außensei- trum biographischen Arbeitens, denn die Fragen terposition speise sich, so Detering, eine weitere nach dem Stellenwert gesellschaftlicher, kulturel- Wesenseigenschaft Andersens: seine Ichbezogen- ler und medialer Einflüsse auf das Individuum, heit, seine Eitelkeit, seine Geltungssucht, die schon nach Inszenierung und Authentizität bilden den zu Lebzeiten Spott erntete. Diesen Wesenszug er-

Grundbass biographischen Darstellens. Die Auf- kennt Detering als konstitutiv für Andersens Werk: wertung des Bildes im Kontext biographischen „Wie die Autobiographien, so nimmt auch das

Arbeitens stellt gleichzeitig einen Ansporn für den fiktionale Werk seinen Anfang bei diesem Ich Biographen dar, denn wo das Bild (zumeist) ein selbst, geht von ihm fort und wächst über es hin- Außen präsentiert, tritt die Frage nach dem ,In- aus in Höhen, von denen aus sich ein sehr weiter nenleben‘ umso deutlicher hervor. Dieser Blick Rundblick öffnet. Umgekehrt lassen sich von hier in das Innere eines Menschen ist das Versprechen aus Andersens Märchen, Erzählungen und Ro- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 199

mane oft bis ins Detail auf biographische Vorga- schaftlichen Entwicklungen und die Auswirkun- ben zurückführen.“ (S. 25) Detering geht explizit gen auf Identitäts- und Subjektdiskurse, Hof- auf Andersens positives Verhältnis zur Kamera ein, mannsthals Verhältnis zum Geld, der Familien- denn seine Ich-Bessenheit artikuliere sich nicht mensch oder der Reisende thematisiert. Immer zuletzt in unzähligen Bild-Inszenierungen: „Über- werden die jeweiligen Themen mit der literari- all stellt er sich selbst dar und überall haben wir schen Produktivität verschränkt, werden Leben von diesem Selbst nur die Darstellungen.“ (S. 25) und Werk als von den gleichen Grundströmun- Hinter diesen Inszenierungen stehe eine Persön- gen bestimmt herausgestellt, wozu etwa Hof- lichkeit, die das Außenseitertum – auch ungeach- mannsthals widersprüchliches Verhältnis zu Ein- tet aller Erfolge – nie vergisst, zwischen Devotion samkeit und Weltverflechtung zählt. Apel spart und Renitenz changiert. Überzeugend widmet aber auch Hofmannsthals Fähigkeit „zum beinahe sich Detering einzelnen Werk(grupp)en Ander- halsbrecherischen Umgang mit Widersprüchen sens und setzt sie in Beziehung zum Leben und ästhetischer wie politischer Natur“ (S. 70) nicht

Fühlen des Autors. Gleichzeitig betont er die In- aus und präsentiert abschließend eine knappe Dar- novationskraft Andersens, der nicht nur neue Li- stellung des frühen Todes Hofmannsthals, der am teraturgenres erfindet, sondern sich auch als Bild- Tag der Beerdigung seines ältesten Sohnes einen künstler betätigt. Dass Detering über Andersens Schlaganfall erleidet und dann stirbt – für Mythi-

Eitelkeiten, Marotten und Unzulänglichkeiten nie sierungen lässt der Verfasser hier erfreulich wenig die Zuneigung und Bewunderung verliert, trägt Raum. Apel schließt mit der Beobachtung , dass wesentlich dazu bei, dass der Leser am Schluss der die Forschung in Hofmannstahls Werk zuneh-

Biographie gleich zu den Werken greifen möch- mend „Strukturen der Offenheit und Widerstän- te. Man wird sie nach der Lektüre der Biographie digkeit“ entdeckt, „in denen sich die fundamen- mit anderen Augen lesen, hat sie ihm doch tiefe talen Widersprüche der Individuation in der Einblicke in ein Dichterleben gewährt, das als Moderne entziffern lassen“ (S. 79) und unter die- Dichterleben vollendet, als Dichterleben hingegen se Formulierung ließe sich auch – diesen Ein- gescheitert ist. druck gewinnt der Leser am Ende der Biographie

Ausgehend von Hofmannsthals bekannter Ab- – Hofmannsthals Leben fassen. Den Zusammen- neigung gegen „den läppischen Biographismus“ hang von Werk und Leben streicht Apel jedenfalls konzentriert sich FRIEDMAR APEL auf den Zu- in überzeigender Weise heraus. sammenhang von Leben und Werk und „weniger WERNER FRIZEN eröffnet seine biographische auf einschlägige biographische Fakten“ (S. 9), Auseinandersetzung mit Robert Musil mit einem wiewohl die zentralen Wegmarken im Leben Verweis auf die vordergründige Ereignislosigkeit

Hofmannsthals erwähnt werden. Apel räumt en von Musils Leben, die im Kontrast zum schrift- passant mit einigen Legenden auf, etwa jener, stellerisch entworfenen Kosmos stehe. Der Autor

Hofmannsthal sei schon früh ein Einzelgänger ge- Musil habe geschrieben, ohne von der Außen- wesen, und hält fest: „Viele Beobachtungen seiner welt Notiz zu nehmen: „Was er schreibt [. . .], fin- Distanz sind erst im Nachhinein zustande ge- det er in seiner Innenwelt“ (S. 9). „Schreiben statt kommen.“ (S. 19) Im Wissen um die Karriere erleben“ – das ist das Lebensmotto Musils. Musil des erfolgreichen Schriftstellers, darauf weist Apel habe seine Erscheinung als Bürger gepflegt – hier hin, findet in der Retrospektive eine gelenk- immer bestens gekleidet, mit einem obsessiven te Wahrnehmung der Lebensdetails statt – ein Pro- Hang zu Ordnung und Manieren –, um so als blem, dem sich der Zeitzeuge, aber auch der Bio- Künstler wirken zu können, um als Bürger den graph zu stellen hat. Ein kurzes Kapitel ist der Abgesang auf die bürgerliche Kultur seiner Epo- komplizierten, von Projektionen und Ängsten che, den Mann ohne Eigenschaften, zu Papier brin- geprägten Beziehung zwischen Hofmannsthal und gen zu können. Frizen lässt sich auf das Konzept George gewidmet. Die Begegnung der beiden im des „Lebens in Bildern“ ein, wenn er in seinem Dezember 1891 „war eine Katastrophe und doch, Text immer wieder auf einzelne Bilder ausführ- oder gerade deshalb, blieben beide lebenslang da- lich eingeht und von ihnen ausgehend die Situa- mit beschäftigt“ (S. 21). In weiteren Kapiteln wer- tion des Autors oder das Verhältnis der Eltern den die Bedeutung der zeitgenössischen gesell- zueinander analysiert. Musil studiert nach Abbruch 200 Besprechungen der Offizierslaufbahn Maschinenbau und konzen- ment, als 1937 der zweite Band gedruckt werden triert sich nach dem Blick in die „Nacht der sollte, sein Verleger Bermann Fischer fliehen muss- menschlichen Seele“ (S. 23) nun auf das Bere- te und der Band nicht erschien. 1938 folgt auch chen- und Machbare. Doch offensichtlich füllt ihn für Musil das Exil. Vom Mann ohne Eigenschaften die Beschäftigung mit der Technik nicht aus – er hat Musil indes zeitlebens nicht lassen können – beginnt zu schreiben. Musils Behauptung, er habe er hat sich selbst mit Odysseus’ treuer Gattin Pene-

„aus Langeweile“ den Törleß zu schreiben ange- lope verglichen, die vor einer neuen Hochzeit ein fangen, decouvriert Frizen als kokettes Understate- Leichentuch weben wollte und in der Nacht das ment. Doch Musil ist kein Zerrissener (Maschi- Gewebte stets auflöste, um morgens neu zu be- nenbau hier, Poesie dort), kein „Weltschmerzler“, ginnen. So hinterließ Musil ein „epochales frag- sondern „im Gegenteil, er will den Riss in der mentarisches Textgewebe, an dem seit siebzig Jah- Welt, an dem diese Melancholiker zugrunde gin- ren Herausgeber und Leser weiterdichten“ (S. 75). gen, kitten“ (S. 25). Und mit einem Blick auf die In der Perspektive des ordnungsliebenden Bür- zeitgenössische Photographie des Mitzwanzigers ger-Autors liegt das Misslingen hier auf der Hand Musil konstatiert Frizen: „Dieser junge Intellek- – aus Sicht der Leser und Literaturwissenschaftler tuelle spielt seine Rolle“ (S. 27). Das Habituelle, kann man angesichts dieser Hinterlassenschaft die Inszenierung der eigenen Lebenspraxis war freilich von Scheitern nicht sprechen. Musil keineswegs fremd – das zeigt sich auch in Zusammengefasst: In der Reihe Leben in Bil- seinen Texten: „Musil pflegt biographische dern entstehen pointierte, gut geschriebene und Schlüsselereignisse mit symbolischer Bedeutung liebevoll gemachte Publikationen. Die Bände der aufzuladen.“ (S. 45) Mit der zum Broterwerb not- Reihe wollen (und können) die ,großen‘ Biogra- wendigen Tätigkeit als Bibliothekar an der Tech- phien nicht ersetzen, aber als Einstieg in die Be- nischen Hochschule Wien vertrug sich das nur schäftigung mit dem Werk des jeweiligen Autors bedingt – und sie lässt auch nur wenig Raum zum können sie durch die Bank empfohlen werden. konzentrierten Schreiben. So kommt es, dass der erste Band vom Mann ohne Eigenschaften in einem Christian Klein Umfeld erschien, das, so Frizen (etwas zugespitzt), Bergische Universität Wuppertal keinen Sinn für den Roman hatte: „Musils Werk FB A: Geistes- und Kulturwissenschaften/ Neue- stand wie ein exterritoriales Massiv außerhalb der re deutsche Literaturgeschichte flüchtigen Massen- und Gebrauchskunst seiner Gaußstr. 20

Zeit“ (S. 51). Musil selbst hatte das Gefühl, ge- D–42119 Wuppertal scheitert zu sein. Insbesondere, weil in dem Mo-

GÜNTHER ÖHLSCHLÄGER, HANS ULRICH SCHMID, LUDWIG STOCKINGER, DIRK WERLE (Hrsg.) Leipziger Germanistik. Beiträge zur Fachgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Verlag Walter de Gruyter, Berlin, Boston 2013, 263 S.

Der Band dokumentiert den Ertrag einer anläss- nariat für deutsche Sprache und Literatur 1843 lich des 600-jährigen Bestehens der Universität bis zum Weggang Hans Mayers aus Leipzig 1963 Leipzig 2009 vom Germanistischen Institut ver- (die Entwicklungen der Folgezeit werden in der 1 anstalteten Vortragsreihe. Er vereint neun, vorwie- Einführung knapp umrissen). Beide Zeitmarken gend von Institutsangehörigen, aber auch auswär- sind klug gewählt. Gewürdigt werden herausra- tigen Fachkollegen verfasste Beiträge, abgerundet gende Gelehrte wie Friedrich Zarncke, Eduard durch eine einführende Umrissskizze und ein Sievers und Theodor Frings, die in besonderer Personenregister. Der Überblick über die Ge- Weise zur Reputation der Leipziger Sprachwis- schichte des Fachs an der Alma Mater Lipsiensis, senschaft beitrugen, mehr oder minder eng mit den sie ermöglichen, reicht von der Berufung dem Fach verbundene Disziplinen wie Nordistik Moriz Haupts auf das für ihn geschaffene Ordi- und Niederlandistik sowie Methodenansätze wie Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 201 der der Junggrammatiker, der der Philologen und Geschichte der Niederlandistik dar, deren Grün-

Literarhistoriker Albert Köster und Georg Wit- dung 1918 sich letztlich der Initiative von Anton kowski und der geistesgeschichtliche Korffs. Kippenberg, dem Inhaber des Insel Verlags, ver- Mitunter ergibt sich ein vollständiges Bild erst aus dankte, der einen Kenner der niederländischen zwei Beiträgen, z. B. jenem über Frings und über Literatur in seiner Nähe zu haben wünschte. Die die Niederlandistik. Obwohl sich der Ruhm des von JAN GOOSSENS verfasste Darstellung des Fachs Leipziger Instituts in erster Linie Sprachwissen- ist in jeder Hinsicht musterhaft. Integriert in die schaftlern wie Zarncke, Sievers und Frings ver- institutionengeschichtliche Überschau sind fein- dankt, ist das Sprach- und Literaturwissenschaft je fühlige Porträts des ersten Extraordinarius, des eingeräumte Gewicht ein ausgewogenes. habilitierten Kunsthistorikers André Jolles, seines Den historischen Überblick eröffnet HANS Nachfolgers, des Sprachhistorikers Ludwig Erich

ULRICH SCHMID mit einer Darstellung des Wir- Schmitt, und auch des „Meisters“ Frings, dem Jol- kens von Haupt und Zarncke. Ein aufschlussreiches les, der mit ihm seit 1930 gemeinsame Seminare Dokument, zugleich ein eindrucksvolles episto- über niederländische Literatur abhielt, wohl ei- lographisches Zeugnis jener Zeit ist Haupts letz- nen „prächtigen Rheingeruch“ nachrühmte, zu ter Brief an Zarncke, in dem er dem einstigen dem Schmitt indes zunehmend in ein Konkur-

Schüler wegen dessen Haltung im sog. Nibelun- renzverhältnis geriet, das 1953 mit seinem Weg- genstreit 1854 die Freundschaft aufkündigt. Leider gang nach Marburg ein Ende fand. Ein schönes wird er ohne Quellennachweis geboten. Nur ei- Denkmal setzt Goossens dem polyglotten Ger- nen Satz ist dem Verfasser Zarnckes Ausgabe des hard Worgt, der das Fach in den 1970/80er Jah-

Brant’schen Narrenschiffs wert, ein Denkmal der ren in Leipzig und an Universitäten des Auslands Gelehrsamkeit und eine bislang unersetzte edito- vertrat. Goossens’ taktvoll urteilende Darstellung rische Leistung. Es ließen sich weitere gelehrte macht deutlich, wie komplex die Motive sein

Arbeiten Zarnckes nennen, so die Abhandlungen können und meist wohl auch sind, die das Ver-

über den Priesterkönig Johannes von 1876/79. Aus- halten eines Gelehrten in einer bestimmten ge- führlich behandelt sodann GÜNTHER ÖHLSCHLÄ- sellschaftlichen und politischen Situation bestim- GER Sievers und die Junggrammatiker. Unter den men. Ein Beispiel ist die Ehrenpromotion des aufgeführten Arbeiten Sievers’ vermisst man die notorischen Antisemiten Adolf Bartels 1938. Den Tatian-Edition des kaum 22-Jährigen, ebenfalls Vorschlag hatte Jolles, seit 1933 Mitglied der eine bedeutende Leistung, die sich ein Jahrhun- NSDAP, zusammen mit Alfred Hübner einge- dert lang behauptet und noch 1966 einen Nach- bracht; Korff und Frings verhielten sich zurück- druck der 2. Auflage erfahren hat. Auch der Bei- haltend, Korff folgte schließlich dem Votum von trag von UWE MAXIMILIAN KORN und LUDWIG Jolles, der sich durchsetzte. Ein anderes Beispiel

STOCKINGER behandelt mit Köster und Witkowski ist das Eintreten von Frings einerseits, Jolles an- zwei Gelehrte; sie werden schon im Untertitel derseits für den niederländischen Altgermanisten etwas vereinfachend als Vertreter der historisch-phi- Jan de Vries, der in Frankreich mit der deutschen lologischen Methode in Anspruch genommen. Der Besatzungsmacht kollaboriert hatte und im Herbst Beitrag sprengt mit 63 Seiten fast die Proportio- 1944 nach Deutschland floh, worauf Frings ihm nen des Bandes; er zielt eher auf Vollständigkeit einen Lehrauftrag besorgte. denn auf exemplarische Darstellung. Manches, wie Zwei Beiträge sind Frings und Korff gewid- Kösters Beschäftigung mit der sog. Meistersinger- met, den prominentesten Fachvertretern der jün- bühne (die es realiter nie gegeben hat), hätte sich geren Zeit, Gelehrten, die in Leipzig in drei ver- vielleicht knapper abhandeln lassen. schiedenen politischen Systemen wirkten und Die meisten der porträtierten Disziplinen sind über die wir vergleichsweise gut informiert sind. in Leipzig bis heute institutionell vertreten. Eine Zu Recht betont Schmid, dass der disziplinen-

Ausnahme macht die Nordistik, deren Geschich- übergreifenden Arbeitsweise des Dialektologen, te von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu ih- Sprach- und Literarhistorikers Frings (bekannt rem durch die sog. dritte Hochschulreform der geworden als „Kulturmorphologie“) heute me-

DDR besiegelten Ende JULIA ZERNACK aspektreich thodische Aktualität zukommt. Die eingehende nachzeichnet. Grundsätzlich ähnlich stellt sich die Studie, die LUDWIG STOCKINGER Korff und d. h. in 202 Besprechungen erster Linie dem Geist der Goethezeit widmet, aber nen eines Lehrers fortsetzten, der offiziell der dam- 5 auch der Rezeption dieses Werks in der DDR, natio memoriae anheimgefallen war. Zutreffend ist, kann eine gewisse Reserve gegenüber dem Ge- was Werle als performative Selbstkonstitution ei- genstand nicht verleugnen, jedenfalls enthält die ner Mayer-Schule ex post, nämlich 1997, anläss- Zusammenfassung Formulierungen wie „warnen- lich des 90. Geburtstags Mayers deutet (S. 253). des Beispiel“ (S. 227). Hier sei nur eine These So plausibel die zeitliche Grenze beim Jahr kritisch beleuchtet, die Behauptung, Korffs Goe- 1963 für eine retrospektive Darstellung ist, hat sie the sei „im Grunde identisch mit dem Goethe- doch zur Konsequenz, dass wichtige Entwicklun- Bild der DDR-Germanistik“ (S. 224). Ein mo- gen der Folgezeit kaum in den Blick geraten, so nolithisches Goethebild hat es in der DDR nicht der durch die Hochschulpolitik der SED bewirk- 2 gegeben. Die Scholz’schen Faust-Gespräche da- te Bedeutungsverlust der Altgermanistik, die in tiert Stockinger nicht ganz richtig. Sie erschienen Leipzig von Haupt bis Frings eine glanzvolle Tra- 1964/65 und waren repräsentativ für das Klassik- dition aufzuweisen hatte, und die zeitgleiche kon- verständnis der Ära Ulbricht, die folgende Buch- zeptionelle und institutionelle Neuausrichtung der ausgabe gehörte zur Lektüre im Deutschunter- Linguistik, auch manche Entwicklungen in der richt, während die von Stockinger erwähnte Literaturwissenschaft wie der Versuch einer Neu- 3 Ausgabe ohne sonderliche Wirkung blieb. Zu bewertung der Romantik durch Claus Träger

Recht deutet er an, dass Korff über eine gewisse (während die Linguisten Wolfgang Fleischer, Ru-

Geschmeidigkeit gebot; die erwähnte Lehrveran- dolf Große und Gerhard Worgt zu Recht als soli- staltung über „Sozialistische Literaturbetrachtung“ de Fachvertreter gewürdigt werden, klingen ge- im Jahr 1951 könnte die Legende stützen, wo- genüber Träger mehrfach Zweifel an; ihre nach Korff Stalins Schrift Der Marxismus und die Berechtigung könnte erst eine eingehende Un- Fragen der Sprachwissenschaft (1951) in einem Se- tersuchung erweisen). Erinnert sei schließlich an minar behandelt hat. Zustimmen wird man dem die führende Rolle Leipzigs bei der Etablierung kritischen Urteil Stockingers über die „Aneig- der Disziplin Deutsch als Fremdsprache; der in- nung“ Korffs durch Claus Träger. ternational anerkannte Linguist Gerhard Helbig, Sehr gelungen ist der abschließende Beitrag erster Inhaber einer Professur für Deutsch als

DIRK WERLEs über Hans Mayer, nicht zuletzt Fremdsprache und Chefredakteur der gleichna- durch die Einbeziehung interessanter Rezeptions- migen Zeitschrift, wird an keiner Stelle erwähnt. zeugnisse, die ein facettenreiches Bild ergeben und Doch aus der Genese des Bandes ergibt sich, dass zeigen, wie dieser Hochschullehrer noch lange, es nicht auf eine erschöpfende Darstellung des nachdem er Leipzig verlassen hatte, in der diszipli- Fachs abgesehen war. nären Gemeinschaft wie in der kulturellen Öf- Festzuhalten bleibt: Die Beiträge vereinen in fentlichkeit fortlebte, überwiegend als bewunder- gelungener Weise eine institutionen-, personen- ter Lehrer, Autor, Organisator, selbst bei Personen, und methodengeschichtliche Perspektive. Sie sind die ihn aus biographischen Gründen nicht lange informativ und von großer Sachlichkeit, auch da, als akademischen Lehrer erlebt haben können.4 wo wie etwa im „Fall“ Mayers ein polemischer Werle beginnt mit den biographischen Fakten, Duktus nicht unverständlich gewesen wäre. Zu den sichtet darauf Urteile über Mayer, würdigt sodann Vorzügen des Bandes gehört, dass mehrfach an Arbeiten der Leipziger Zeit (die Festrede Goethe Gelehrte verschiedener Generationen erinnert in unserer Zeit von 1949, den Radiovortrag Zur wird, die in Forschung und Lehre Beachtliches Gegenwartslage unserer Literatur von 1956 und die leisteten, heute aber aus unterschiedlichen Grün-

Abhandlung Bertolt Brecht und die Tradition von den wohl nur noch einem kleinen Kreis bekannt 1961) und geht abschließend auf die Geschichte sind, etwa der Literaturwissenschaftler Ernst Els- des Instituts nach seinem Weggang ein. Er nennt ter oder der Linguist Gerhard Worgt. Die Aus- diese Zeit „eine der interessantesten Perioden der wertung der fachgeschichtlichen und sonstigen

Leipziger Germanistik“ (S. 234). Werle stellt die Literatur ist vorbildlich, der Band ist bis auf Klei- Frage, inwieweit Mayer in Leipzig schulbildend nigkeiten, die hier nicht aufgezählt werden müs- gewirkt habe. Manches spricht dafür, dass es eine sen, sorgfältig lektoriert. solche Schule gab, dass die Schüler also Traditio- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 203

Anmerkungen 1964, bis H. 17, 1965. Eine Buchausgabe folgte 1967 im FDJ-Verlag Junge Welt. Die Ausgabe im 1 Der Überblick von Öhlschläger und Stockinger über Reclam-Verlag Leipzig erschien laut Titelblatt 1983, Die Leipziger Germanistik (S. 7–15) wiederholt par- dem Verlagssignet am Schluss zufolge 1982. Zu tiell eine frühere Studie der Autoren: Germanistik. Scholz und seiner ,Schule‘ vgl. zuletzt: Ralf Klaus- In: U. von Hehl, U. John, M. (Hrsg.): Geschichte der nitzer: „So gut wie nichts publiziert, aber eine Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 4/1, Leipzig ganze Generation von Germanisten beeinflußt“. 2009, S. 534–561. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um 2 Es gab das museale Goethe- und Klassikverständnis Gerhard Scholz (1903–1989). In: ZfGerm XX Helmut Holtzhauers in Weimar, das von Korff in (2010), H. 2, S. 81–110. Leipzig und Joachim Müller in Jena perpetuierte 4 Hier wäre etwa der von Werle S. 242 f. zitierte 1944 geistesgeschichtliche Paradigma, seit den 1960er Jah- geborene Christoph Hein zu nennen. Zum The- ren die Versuche Hans-Dietrich Dahnkes u. a. Berli- ma Mayer und Leipzig vgl. zuletzt Rolf Schneider: ner Germanisten, den Kanon der als „Erbe“ gelten- Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland, Berlin 2013, den Autoren und Werke z. B. um die Frühromantik S. 249. zu erweitern, und die Bemühungen Werner Mit- 5 Unter den im „Traditionskabinett“ der Karl-Marx tenzweis, die Kunstkonzeption Brechts als eine al- Universität Leipzig dokumentierten Nationalpreis- ternative marxistische Ästhetik zu etablieren. Vgl. trägern fehlte Mayer, der 1955 den Nationalpreis für Rainer Rosenberg: Verhandlungen des Literatur- Wissenschaft und Kunst III. Klasse erhalten hatte. begriffs. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft, Berlin [2003], S. 334–343, und Reinhard Hahn Jens Saadhoff: Germanistik in der DDR. Literatur- Friedrich-Schiller-Universität Jena wissenschaft zwischen „gesellschaftlichem Auftrag“ und disziplinärer Eigenlogik, Heidelberg 2007, Institut für Germanistische Literaturwissenschaft S. 322–342. Fürstengraben 18 3 Die ‚Faust-Gespräche‘ erschienen fortsetzungswei- D–07743 Jena se im Organ des Zentralrats der FDJ, Forum, H. 2,

HANS FEGER (Hrsg.)

Handbuch Literatur und Philosophie, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar 2012, 353 S.

„Ein Handbuch entsteht“, erläutert der Wissens- terminierten Wirklichkeit gegenwärtiger Hand- soziologe Ludwik Fleck im Jahr 1935, „durch Aus- buchproduktionen allerdings nicht immer viel zu wahl und geordnete Zusammenstellung. Der Plan, tun, wie in Teilen auch das zu rezensierende Hand- demgemäß die Auswahl und Zusammenstellung buch Literatur und Philosophie aus dem Hause Metz- geschieht, bildet dann die Richtungslinien späte- ler zeigt. Der Herausgeber HANS FEGER wählt für rer Forschung: er entscheidet, was als Grundbegriff seine Einleitung (S. 1–9) einen hochspekulativen zu gelten habe, welche Methoden lobenswert hei- und daher auch hochkontroversen Referenzau-

ßen, welche Richtungen vielversprechend erschei- tor: Ihm dient Alain Badious platonistisches Plä- nen, welchen Forschern ein Rang zukomme und doyer für den wahrheitsaffinen, universalistischen 1 welche einfach der Vergessenheit anheimfallen.“ Status poetischer Rede als Ausgangspunkt seines Handbücher sollten demnach ein forschungspoli- Problemaufrisses. Doch anstatt Badious ‚inästhe- tisches, auf die Zukunft gerichtetes Programm tische‘ Unterscheidung von didaktischer, roman- artikulieren, das sich zum einen aus der Bündelung tischer und klassischer Kunstauffassung sowie sei- und systematischen Strukturierung erprobten und nen daran geknüpften Vorschlag einer poetischen konsensuell verbürgten Wissens speist und zum Salvierung der Philosophie zu explizieren, wird anderen retrospektiv die personellen Hierarchisie- Badious ‚Urszene‘ einer kompetitiv und konflikt- rungen in der Zunft taxieren hilft. trächtig angelegten Konstellation von genauer Dieses wissenssoziologische Ideal hat mit der philosophischer und vager literarischer Rede nur verlagspolitisch, ökonomisch und akademisch de- dazu genutzt, den „Plan“ des Handbuchs zu ver- 204 Besprechungen einseitigen: Es geht – laut Klappentext – darum, Literatur, Philosophie in Literatur als auch Litera- „Problemkonstellationen“ zu präsentieren, „in de- tur als Philosophie und Literatur in Philosophie nen die Trennung von Philosophie und Literatur meinen kann. Die Untersuchungen, wie sie in den relativiert oder aufgegeben ist“. Einseitig ist die- 1990er Jahren im Umkreis von Gottfried Gabriel ser Plan, weil die mindestens ebenso gut begrün- entstanden sind, fokussieren z. B. ausdrücklich deten Programme, die auf eine Abgrenzung von jeweils bestimmte Aspekte, etwa die unterschied- Philosophie und Literatur setzen, von vornherein lichen Erkenntnisformen von Dichtung und Phi- zugunsten einer kulturwissenschaftlichen Entdif- losophie (Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und ferenzierung ausgeblendet werden. Auf diese Wei- Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie se aber entgeht dem Handbuch zwangsläufig We- und Wissenschaft, 1991) oder die philosophischen sentliches. Nur ein Beispiel: Der Streit zwischen Gehalte literarischer Texte (Christiane Schild- den Philosophen des Wiener Kreises um den Sta- knecht, Dieter Teichert [Hrsg.]: Philosophie in Li- tus philosophischen Denkens wird bei Feger auf teratur, 1996). Einem differenzierten, systematisch die These verkürzt, dass Ernst Mach, Otto Neu- strukturierten Plan folgen auch die aktuellen eng- rath und Rudolf Carnap als Vertreter einer kunst- lischsprachigen Handbücher zum Thema: Im abstinenten „wissenschaftlichen Weltanschauung“ Companion to the Philosophy of Literature (Oxford glaubten, „auf den Begriff der Philosophie 2010) lassen Garry L. Hagberg und Walter Jost überhaupt verzichten zu können“ (S. 7). Ein ge- eine Reihe von systematischen Überlegungen zum nauer Blick in Neuraths Texte zeigt hingegen, dass Verhältnis von Philosophie und Literatur den the- dieser gegen andere Vertreter des Kreises argumen- matischen Einzelbeiträgen zur emotionstheoreti- tiert, auch gegen Carnap, der die metaphysische schen Diskussion literarischen Lesens, zur Ver- Philosophie von der „wissenschaftlichen Philoso- schränkung von Dramenpoetik und Philosophie, phie“ abgelöst sehen, aber dabei keineswegs auf zur Debatte um Literatur und Moral, zu philoso- den Ausdruck ‚Philosophie‘ verzichten wollte. Der phischen Aspekten von Narratologie, Fiktions- hier manifest werdenden Kluft zwischen wissen- und Interpretationstheorie sowie schließlich zur schaftlicher Philosophie auf der einen, Kunst, Poe- sprachphilosophischen Erörterung literarischer sie und Metaphysik auf der anderen Seite setzten Rede vorangehen. Und auch Richard Eldridge Moritz Schlick, Richard von Mises und Ludwig ist ausdrücklich darum bemüht, das ‚and‘ zwischen Wittgenstein eigene ästhetische Überlegungen Philosophy and Literature in systematischer Hinsicht entgegen, denen man unter weniger einseitigen ernst zu nehmen: Für das Oxford Handbook of Phi- Herausgebervorgaben mit Gewinn hätte nachge- losophy and Literature (Oxford University Press hen können; im Beitrag von UDO ROTH zu den 2009, jetzt als Neuauflage 2013) erstellt er ein um Theorien der Moderne (S. 178–191) werden sie „Genres“, „Periods and Modes“, „Devices and erfreulicherweise zumindest gestreift. Powers“ und schließlich „Contexts and Uses“ ar-

Problematischer als diese Vorgaben, an die sich rangiertes Kompendium aktueller Problemkom- die Autor(inn)en ohnedies nur lose halten, ist der plexe, die dem leitenden Gedanken einer wech- Umstand, dass Feger die vorstrukturierende Klä- selseitigen Spannung zwischen philosophischer rung der Frage unterlässt, auf welchen unterschied- und poetischer Aufmerksamkeit Rechnung tra- lichen Ebenen und mit welchen unterschiedlichen gen, ohne von vornherein einer Suspendierung

Absichten in der Geschichte der Philosophie und der Differenzen das Wort zu reden. in der Geschichte der Literatur und Literaturwis- Im Vergleich zu den genannten angelsächsi- senschaft über die Relationen von Philosophie und schen Publikationen verfolgt das vorliegende Literatur diskutiert worden ist und weiterhin dis- Handbuch allerdings auch kein systematisches, kutiert wird. Dieser Verzicht steht in auffälligem sondern ein primär historisches Anliegen, das sich Gegensatz zu den auf dem akademischen Buch- zudem weitgehend auf die deutsche Philosophie- markt befindlichen Konkurrenzprodukten, in de- und Literaturgeschichte beschränkt. Formelhaft nen in der Regel im Vorspann ausführlich darüber lässt sich das Programm des Handbuchs wohl am Rechenschaft abgelegt wird, dass eine ‚Philoso- ehesten als mehr oder minder chronologische phie und Literatur‘ betitelte Überblicksdarstellung Reihe philosophischer Auseinandersetzungen mit sowohl Philosophie als Literatur, Philosophie der dem Literarischen charakterisieren. In einer ers- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 205 ten tour de force wird diese Reihe bereits im Ein- meln zur Funktion philosophischer Beispielwahl leitungskapitel abgeschritten. In einer stark raf- schließlich in der Popkultur endet. Der Abdruck fenden Darstellung gelangt Feger in einer (!) unkommentierter Allusionen, wie z. B. die auf

Buchspalte von Platon und Aristoteles („der nichts „Aristoteles’ Inspiration einer sich ins Unend- wesentlich Neues bringt“) über die „Renaissance- liche fortsetzenden Kette von Partikularitäten, die poetik und die barocke Topik“ bis zu Heidegger, aufeinander unter dem einzigen Gesichtspunkt der so dass in der Tat vieles „überschlagen“ (S. 7), wenn celebrity verwiesen“ (S. 289), lässt sich wohl nur nicht unterschlagen wird. Die folgenden Einträge mit einem zu laxen Lektorat und mit dem Um- ventilieren in der ersten Hälfte des Handbuchs stand erklären, dass es sich bei dem Beitrag um ästhetische, in der zweiten Hälfte literatur- und eine komprimierte Form eines Kapitels ihrer kulturtheoretische Themen, wobei entgegen den unlängst publizierten, immerhin 464 Seiten lan- eigenen Bekundungen die „Abgrenzung zur Ge- gen Monographie handelt; der Textsorte eines schichte der Literaturtheorie und der Ästhetik“ Handbuchartikels wird dies jedoch nicht gerecht.

(S. V) nicht gewahrt wird, im Gegenteil: In un- Hinsichtlich der Textsorte hätte hingegen DIRK gefähr der Hälfte der insgesamt 16 Kapitel ste- WERLEs fundierter Beitrag zu Literatur und Kultur- hen historische Rekonstruktionen literaturtheo- theorie (S. 257–273) ein Vorbild abgeben können, retischer und ästhetischer Problemstellungen und dies, obgleich Werle entgegen dem Titel sei- im Vordergrund. So gleich eingangs in DAGMAR nes Beitrags nur wenige Antworten auf die Frage

MIRBACHs solidem Beitrag zu G. W. Leibniz und gibt, welche Rolle die Literatur in den verschiede-

A. G. Baumgarten (S. 10–20), der von ANNE POL- nen Kulturtheorien (S. 259) spielt, sich stattdessen – LOKs historischem Beitrag zur Sinnlichen Erkennt- historisch und auch der artikulierten Zielvorstel- nis und Anthropologie (S. 21–46) sekundiert und lung des Bandes adäquater – auf ihre Rolle in den ergänzt wird – allerdings ergänzt um einen reich- verschiedenen Kulturphilosophien kapriziert. Sein lich gewagten und sicherlich nicht unkontrover- Beitrag hätte daher auch eine andere Platzierung sen Sprung vom 18. in die Phänomenologie des im Band verdient – etwa vor dem auf den empirio- 20. Jahrhunderts. Ebenfalls in Form einer histo- kritizistischen Einfluss auf die Literatur fokussie- rischen Rekonstruktion diskutieren VIOLETTA renden Beitrag von UDO R OTH zu den Theorien der

L. WAIBEL in ihrem instruktiven Beitrag die Trans- Moderne (S. 178–191). Wie von einem Handbuch- zendentalpoesie im Kontext des Deutschen Idealismus artikel zu erwarten, wird das Thema von Werle

(S. 47–66), HANS FEGER die Poetische Vernunft in begrifflich und systematisch zunächst umrissen, in der Frühromantik (S. 67–86), LARS-THADE ULRICHs einer historischen Darstellung – vom 18. Jahrhun-

Metaphysische Tätigkeiten. Philosophie und Literatur dert über Simmel, Rickert, Dilthey und Cassirer in der Erkenntnis- und Sprachskepsis Schopenhauers bis zu Gehlen und Adorno – entfaltet, mit einer und Nietzsches (S. 123–138), MIRCO LIMPINSEL die Skizze zum Forschungsstand sowie zu zukünfti- Geschichte der Hermeneutik von Schleiermacher gen Forschungsperspektiven und praktischen Hin- bis zu Gadamer (S. 139–158) und MARTINA KLING weisen auf die institutionellen Forschungsorgane die Sprachkrise nach 1900 (S. 159–177). und -ressourcen (Zeitschriften, Sammelbände) ab- Aus diesen historisch indizierten Beiträgen fällt geschlossen. Formal ähnlich maßgeschneidert ist

WOLFRAM ETTEs Essay zur Tragödie als Medium phi- auch JAN U RBICHs Beitrag zur Kritischen Theorie losophischer Selbsterkenntnis (S. 87–122) etwas heraus, (S. 192–215). Seine konzise Darstellung zu Walter in dem er holzschnittartig drei paradigmatische Benjamins und Theodor W. Adornos „philoso-

„Prozessmodelle“ (S. 87) des Tragischen: das teleo- phische[r] Theorie der Literatur“ (S. 192) gehört logische Modell des Aristoteles, das dialektische zweifellos zu den Glanzstücken des Bandes. Hegels und das zyklische Schopenhauers und Etwas bemühter erscheinen die zwei sich thema- Nietzsches identifiziert und diese in der Folge in tisch überschneidenden Beiträge zum Poststruktu- ihrer jeweiligen Wirkungsgeschichte verfolgt. ralismus: Während ARNE KLAWITTER, ausgehend Ähnlich systematisch ambitioniert scheint nur von den frühen Schriften Foucaults, in denen die noch MIRJAM SCHAUBs Beitrag zu Philosophie und Literatur noch als anarchischer Gegendiskurs fir- ihre Beispiele (S. 274–291) zu sein, der vielver- miert, über „Philosophisches Denken und literari- sprechend beginnt, aber mit hermetischen For- sche[n] Diskurs“ in einem etwas inkohärent ange- 206 Besprechungen legten Rahmen nachdenkt, der auch Derrida, Lyo- „Ein Handbuch entsteht“, lässt Fleck uns wis- tard und Deleuze beherbergen muss (S. 216–240), sen, „aus den einzelnen Arbeiten wie ein Mosaik referiert MARKUS WIRTZ Überlegungen zu Struk- aus vielen farbigen Steinchen: durch Auswahl und 2 turalistische[n] und poststrukturalistische[n] Ansätze[n] geordnete Zusammenstellung“. Es ist kein Nach- zwischen Philosophie und Literatur (S. 241–256). teil, dass nahezu die Hälfte der Autor(inn)en der OLIVER JAHRAUS liefert in seinem Beitrag zur farbigen Mosaiksteinchen dieses Bandes keine

Medienphilosophie (S. 292–310) bzw. zur medien- „namhafte[n] Forscher“ (S. V), sondern im Feld philosophischen Reflexion einer „Metatheorie zur Philosophie und Literatur relativ neu sind. Im

Medientheorie“ (S. 296) eine Art Forschungsbe- Gegenteil: Die überzeugenden Passagen des Ban- richt – und somit einmal mehr keinen Handbuch- des stammen von Nachwuchswissenschaftler(in- artikel –, der primär um das „theoretizistisch[e]“ ne)n. Sie hätten eine sorgfältigere „Auswahl und

(S. 304) Verhältnis von Philosophie, Literaturtheo- geordnete[re] Zusammenstellung“ und damit ein rie und Medientheorie, marginal nur um die „Li- schöneres Gesamtmosaik verdient. teratur als Medium“ (S. 300) kreist. In seinem Li- teraturverzeichnis kommt es zu einer rätselhaften Anmerkungen Medien(?)-Unterscheidung, die u. a. JAHRAUS’ eige- 1 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer ne Beiträge als „Werke“, die Arbeiten von Fried- wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre rich A. Kittler aber z. B. als „Forschungsliteratur“ vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. rubriziert. Der gelungene Beitrag von THOMAS 1980, S. 158. EDER zur Kognitiven Literaturwissenschaft, mit dem 2 Ebenda. das Handbuch schließt, ist informativ und aktuell, verliert aber den eigentlichen thematischen Fokus Andrea Albrecht des Bandes, nämlich die Philosophie, aus den Au- Universität Stuttgart gen. Hier wie auch an vielen anderen Stellen wirkt Institut für Literaturwissenschaft sich Fegers „Offenheit der Problemstellung“ (S. V) Keplerstraße 17 oder aber die zu schnelle Redaktion des Gesamt- D–70174 Stuttgart bandes negativ aus.

PETER UTZ Kultivierung der Katastrophe. Literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz, Wilhelm Fink Verlag, München 2013, 298 S.

Wer hätte das vermutet? Die Schweiz, Sinnbild und Vermittler der modernen Schweizer Literatur verlässlicher Präzisionsabläufe und Schauplatz ei- in ihrer sprachlichen und regionalen Vielfalt, unter- nes wohlgeordneten, prosperierenden Gemeinwe- nimmt in seiner neuen Monographie Kultivierung sens, welches sich weltweiter Bewunderung er- der Katastrophe eine eindrucksvolle, verblüffend freut, ist in ihrem Inneren zutiefst geprägt durch ergiebige Sichtung und Auswertung von „Unter- die Vorstellung grundstürzender Katastrophen. Auf gangsszenarien aus der Schweiz“. Schon seit der diesem wunderbaren Fleckchen Erde scheinen sie Mitte des 18. Jahrhunderts und damit noch deut- sich mit besonderer Häufigkeit und Dramatik ein- lich vor der Etablierung eines modernen Konzep- zustellen, die alarmierenden Vorboten des alles tes der „Katastrophe“ lassen sich, so sein Befund, verschlingenden Weltuntergangs. Da drohen und vielfältige Darstellungen und Imaginationen so- geschehen jederzeit Lawinenabgänge, Bergstürze, wohl natürlicher wie auch menschengemachter Überschwemmungen und Brandunglücke – in der Groß-Unglücke in den verschiedenen Literaturen Literatur jedenfalls, in der literarischen Essayistik und Landesteilen der Schweiz nachweisen. und in den landeskundlichen Bildmedien. Die Mehrsprachigkeit dieses Erzählgebietes regt Der in Lausanne lehrende Germanist und Kom- dabei zu vergleichenden semantischen Betrach- paratist PETER UTZ, einer der versiertesten Kenner tungen an. Für schwere, verheerende Unglücks- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 207 fälle steht im romanischen und im englischen über dem „Bannberg“, der den Lawinen trotzt,

Sprachraum das Wort „Desaster“ zur Verfügung, „ein Schneegebirg“ empor, um die wahre Hierar- dem sein Ursprung aus der Sterngläubigkeit noch chie der Gewalten anzuzeigen. Der Autor habe anzumerken ist, während sich das Deutsche am mit solchem sorgfältig komponierten Arrangement

Begriff der ,Katastrophe‘ orientiert, eigentlich also das dem Helden drohende Verhängnis „eingela- eines Bestandteils der Handlungsstruktur griechi- gert in die Naturszenerie“ (S. 33). scher Tragödien, der dort den definitiven Um- Das alltägliche Leben unter den Schnee- und schlag ins Verderben markiert. Die schlimmstmög- Eisriesen ist in bildstarker, symbolträchtiger Form, liche Wendung des Geschehens könne unter aber zugleich eben auch auf existentiell akute Weise, modernen Bedingungen freilich nur mehr die den Elementen und ihrer Sturzgewalt preisgege-

Komödie vor Augen stellen, fand Friedrich Dür- ben. Den Lawinen und ihren Opfern widmet Utz renmatt, der mit dieser Devise den Nerv eines ein eigenes literaturgeschichtliches Kapitel. Von unernst gewordenen Zeitalters traf. Sein Kollege den „Avalanches“, wie sie im Englischen und Fran-

Max Frisch, Autor romanlanger Selbstbefragun- zösischen heißen, wissen Reisende und auch Künst- gen, setzte hingegen auf politische und humani- ler Furchtbares zu berichten, obwohl oder gerade täre Einsicht, indem er festhielt: „Katastrophen weil die eskalierende Dramatik eines solch gewal- kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; tigen Schneeabgangs kaum angemessen in Wor te die Natur kennt keine Katastrophen“ (Der Mensch oder Bilder zu bringen ist. Der kleinste Laut, die erscheint im Holozän). Gleichwohl sehen die Men- leiseste Regung schon könne die Kettenreaktion schen das Katastrophale meist als unbändige Ge- eines solchen sich rapide vergrößernden Lawinen- walt und von außen auf sich zukommen. sturzes auslösen, warnen Ortskundige und überle-

Dabei ist es in der Schweiz vornehmlich das bende Augenzeugen. Ästhetisches Gegenstück zu Leben in der Nähe des Hochgebirges, das mit sei- den Bildern deformierter Bergmassen und ver- nen besonderen Herausforderungen die Wahrneh- schütteter Dörfer sind deshalb die vielen Evokatio- mung der Natur und auch das Selbstbild der Men- nen größter Stille, auf die Utz in seiner Auswer- schen und ihres Zusammenlebens bestimmt. Die tung der Lawinendarstellungen gestoßen ist. Die schon in Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen Mahnung zu Stillschweigen und hellhöriger Wach- gepriesene Kargheit und Wucht der Schweizer samkeit ist gleichsam ein alpines Gegenstück zur Gebirgswelt begleitet in ihrer schieren physischen sprichwörtlichen Ruhe vor dem Sturm. In Mein- Übermacht die menschlichen Belange mit zwie- rad Inglins Novelle Die Lawine von 1947 wird dem fältiger erzieherischer Wirkung, versieht sie so- Abgang einer tödlichen Lawine, der einen militä- wohl mit frommer Demut wie auch mit sittlichem risch gesicherten Brückenkopf trifft, sogar eine Stolz auf das von eigener Hand Geleistete und der „reinigende Kraft“ (S. 143) zugeschrieben. Immer

Natur Abgetrotzte. Auch Schillers Wilhelm Tell, wieder aber geht es um Formen kultureller Inklu- der den Eidgenossen eine zu klassischen Jamben sion: um Versuche, durch symbolisches Handeln durchgeformte kanonische Bühnenfassung ihres einzubeziehen, was da drohend von oben kommt. Nationalmythos lieferte, maß der hochalpinen In manchen Dörfern des Oberwallis etwa wurden Landschaft eine bestimmende Rolle im szenischen Häuser und Höfe im Laufe der Jahrhunderte immer

Prospekt der dramatischen Handlung bei. Ein Mann wieder zerstört und in die Tiefe gerissen. In einer wie Tell wird zum Helden nur wider Willen, unter der am stärksten betroffenen Gemeinden habe man,

Bedingungen des Ausnahmezustands; sei es gegen so berichtet Utz, nach einem solchen Erdrutsch im die stürmischen Wogen des Sees, sei es gegen die Jahre 1877 aus dem Geschiebe des Wildbachs un- Häscher des Habsburger Fronvogtes. Indes wird verdrossen das bis heute einzige Steinhaus des Dorfes bei Schiller eine „Katastrophe“ im dramaturgischen errichtet, auch dies ein Vorgang von sinnbildlicher

Sinne gerade dadurch vermieden, dass dem Wis- Bedeutung: „Die Katastrophe wird zum Funda- sen um die Macht der alpinen Natur schon in der ment der Kultur.“ (S. 115)

Landschaftskulisse selbst Ausdruck gegeben ist. Im Von einer „Kultivierung der Katastrophe“ kann Hintergrund des Bühnenbildes erheben sich über in der Schweiz und ihren Literaturen, so das zen- dem blauen See und den grünen Matten die fer- trale Argument der facettenreichen Studie, gleich nen „Eisgebirge“; und selbst beim Apfelschuss ragt in mehrfacher Weise die Rede sein. Prominent 208 Besprechungen

und mit gutem Recht treten aus dem in einzelne ästhetischen und ethischen Affekten. Schon beim Themenbereiche aufgefächerten literarhistorischen Zürcher Idyllendichter Salomon Gessner formen Panorama an etlichen Stellen die bekannten sich die beschaulichen Glücksorte „ex negativo“ Schweizer Großautoren hervor, die man geradezu (S. 96) aus dem Gegenbild jener Katastrophen, vor als Meister des Untergangs apostrophieren könnte. welchen die ehrfürchtigen und erleichterten Be- Friedrich Dürrenmatts beklemmende Eisenbahn- trachter sicher sind. Dazu wiederum passt das tunnel und Atomkriegs-Szenarien, Max Frischs Deutungsmuster, demzufolge das Toben entfes- biedermännerliche Brandstifter und abgeschotte- selter Naturgewalten und selbst kosmische Vor- te Bergbewohner, zuvor schon Gottfried Kellers zeichen einem auf die Menschen ringsum nie- satirischer Blick auf die Untaten windigen Speku- derfahrenden Gottesgericht zuzuschreiben sind. lantentums und seiner Zusammenbrüche – man Die Mittel und Erscheinungsformen des gött- kennt diese Episoden im Einzelnen durchaus und lichen Strafgerichtes freilich wandeln sich mit der schätzt ihre gewitzten, geschärften Porträts helve- Zeit und nehmen zusehends künstliches Gepräge tischer Zustände, und doch hat man sie noch selten an. Zu denken ist dabei etwa an die bizarren so stimmig zusammengeführt, so sprechend verei- technischen Unglücksfälle, die der Emmentaler nigt gefunden wie unter dem sezierenden Blick Bauernknecht Adolf Wölfli während seiner 35- dieses literaturwissenschaftlichen Katastrophen- jährigen Internierung in der Psychiatrie auf hun- Archäologen. derten von Seiten ersann. Seine pseudo-autobio- Spannt sich da aus solchen Einzelstücken eine graphischen Aufzeichnungen lassen Schiffe in durchgängige Kette an, ein weiter Bogen von Flammen aufgehen, Dämme brechen, ganze Städte Schweizer Katastrophengeschichten? Bemerkens- im Chaos versinken. Sie bilden ein eigenständiges wert lustvoll kommen schon die in der Aufklä- Vorecho jener avantgardistischen Technikphanta- rung verbreiteten Sintflut-Phantasmen Zürcher sien, wie sie während des Ersten Weltkrieges et-

Naturgeschichtler und Poeten daher, so etwa die wa im Werk des nach Paris übersiedelten Blaise von dem Geographen Scheuchzer gesammelten Cendrars Gestalt gewannen, der in seiner Berner alpinen Meeresspuren oder das Noah-Epos Johann Zeit vermutlich von Wölfli inspiriert worden war Jakob Bodmers (vgl. S. 154). Für Jeremias Gott- (vgl. S. 44). helf kann und soll die Schweiz als eine Insel in Nicht nur das Wien des Karl Kraus, sondern der „Völkerflut“ (S. 155) überleben; als eine Ar- auch die benachbarte Schweiz darf, den Erkennt- che der glücklich Verschonten erscheint sie dann nissen von Utz zufolge, gerade aufgrund ihrer pri- auch gerade in Zeiten der nur in geringer Entfer- vilegierten Beobachter-Position als eine Versuchs- nung tobenden Kriege. Neben anderen hat station des Weltuntergangs gelten. Eines selbst im insbesondere , der gro- Chaos noch gut ausgestatteten Weltuntergangs

ße Chronist des ländlichen Lebens aus der Ro- allerdings, der mit immensem Aufgebot von mandie, diese Schweizer Zuschauerposition und Technik und Logik die Flucht in die Übertreibung ihre Verwerfungen in den Nachwirkungen des antritt, anstatt halbe Sachen zu machen. Ein

Ersten Weltkrieges beschrieben; seine Romane Dürrenmatt-Ölgemälde von 1966 lässt auf einem künden mit formelhaft zugespitzten Titeln von hohen Viadukt zwei Eisenbahnzüge aufeinander- der Présence de la mort (1922) oder von La grande krachen, die jeweils von dunklen Tunnelröhren peur dans la montagne (1926). Thomas Hürlimann ausgespieen werden und jählings eine enge wiederum kam seit den 1980er Jahren mehrfach Schlucht hinabstürzen, in der sie sodann eine Fuß- auf die Bombennächte des Zweiten Weltkrieges gängerbrücke mitreißen, die wiederum von ei- zu sprechen, in welchen die Fliegerangriffe, von nem kommunistischen Demonstrationszug und Sankt Gallen her gut sichtbar, den Himmel über einer in Gegenrichtung marschierenden Pilger- dem Bodensee und Oberschwaben todbringend wallfahrt bevölkert ist – ein haltloser Haufen von illuminierten. Carl Spitteler hatte 1914 gefordert, eskalierenden Unglücksstufen, dessen chaotische der Schweizerische Standpunkt müsse derjenige Sogkraft nach Jahrzehnten in Dürrenmatts Spät- des neutralen Zuschauers bleiben (vgl. S. 101). prosa Durcheinandertal wiederkehrt. Das Bild, in Die Schweizer Zuschauerrolle, so Utz, steht düsteren Farben gehalten, prangt auf dem Um- dabei selbst in der permanenten Spannung von schlag des hier besprochenen Bandes. Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 209

Utz hat sich Dürrenmatts auf Dauer ermüden- derten das Zusammenstehen in der Not. Eine zweite des Verfahren der additiven Überbietung des Frucht solcher Schicksalsschläge war die Heraus-

Schreckens jedoch glücklicherweise nicht zu ei- bildung jener modernen, finanzgestützten Versi- gen gemacht. Die Rede über Katastrophendar- cherungs-Arithmetik, für welche die Schweiz stellungen und Untergangsszenarien braucht im ebenfalls internationale Bekanntheit erlangte. In eleganten, pointiert formulierenden Duktus die- einem keineswegs homogenen, nur schwach nati- ser Studie keine rhetorische Nachverstärkung. Utz’ onalstaatlich konturierten Land wie der Schweiz, Darstellung hat es auch nicht nötig, ‚inhaltistisch‘ so eine politische Einsicht dieses Bandes, konnte auf möglichst starke Phänomene zu setzen und der „Dualismus von Solidaritätsbewusstsein und von Aufmerksamkeit heischenden Gegenständen Versicherungswesen“ (S. 180) konstitutive Bedeu- das eigene Pathos zu borgen. Vielmehr besteht tung für eine „schweizerische ‚Katastrophenkul- seine Vorgehensweise darin, an thematischen und tur‘“ gewinnen. Angesichts eines beharrlichen problemorientierten Konstellationen jeweils die Grades an verbleibender gegenseitiger Fremdheit rekurrenten Motive, Muster und Funktionen des in den Schweizer Sprach- und Kulturräumen, in Katastrophischen freizulegen. Das Erkenntnis- welchen auch die Schweizer „Literaturen“ (S. 22) interesse dieser komparatistischen, mit beein- eher nach außen orientiert sind und infolgedessen druckender Sprachen- und Medienvielfalt auf- einander den Rücken zukehren, hat gerade ein wartenden Untersuchung ist beileibe kein rein Thema wie die fortwährende Gefährdung dieses ästhetisches oder gar ästhetisierendes. gemeinsamen Lebensraumes das Potential, zu ei- Nicht nur die Literatur blüht auf, wo bestän- nem vielstimmigen Modell kultureller Identitäts- dig überraschende Gefahren drohen und sich die bildung zu werden. Kräfte der Natur in einem hochlabilen Gleichge- In Utz’ „Katstrophen“-Buch können nun unter wicht bewegen; auch der Schweizer Gemeinsinn kenntnisreicher Anleitung aufs Neue oder endlich hatte, wie Utz’ Studie zeigt, den kollektiv verar- einmal auch Charles Ferdinand Ramuz und Blaise beiteten Erfahrungen von Katastrophen eine enor- Cendrars entdeckt werden, und me Kräftigung zu verdanken. Denn auch zur viel- Fabio Pusterla, Meinrad Inglin und der mit gran- fach affirmierten Zuschauerhaltung gab es immer diosen Kurz-Interpretationen gewürdigte Albin wieder eine Gegenkraft: Sie war in der impliziten Zollinger. Entstanden ist hier ein bei großer For- Appellstruktur von realen Katastrophenberichten menvielfalt sehr prägnant vorgestelltes Literatur- aus der Schweiz selbst gegeben. Die Erlebnisbe- panorama, eine Schweizer Literaturgeschichte à richte und übrigens auch die schon um 1800 er- point, die mit ansteckender Leselust am Leitfaden folgreich eingesetzten Bilddokumente bringen den katastrophischer Ernstfälle danach fragt, was der Zeitgenossen und Landsleuten grundstürzende, Fall ist. massenhafte Unglücksfälle auf so plastische Wei- se nahe, dass sich Mitleid und Teilnahme regen Alexander Honold und in tätige Solidarität münden. Universität Basel Der Bergsturz von Goldau oder die (von Jere- Deutsches Seminar mias Gotthelf eindringlich beschriebene) Wasser- Nadelberg 4 not im Emmental weckten spontane Hilfsaktionen CH–4051 Basel selbst in weitentfernten Landesteilen und beför-

NIKOLAS IMMER, MAREEN VAN MARWYCK (Hrsg.) Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden (Edition Kultur- wissenschaft, Bd. 22), transcript Verlag, Bielefeld 2013, 462 S.

„Wer ist ein Held?“ – so titelt Die Zeit vom 18.7. Mitglieds und des 1943 durch die nationalsozialis-

2013. Um eine Antwort bemüht sich in einem tische Justiz zum Tode verurteilten Christoph 1 Dossier Maximilian Probst, Enkel des Weiße Rose- Probst. Zudem gibt Karl-Heinz Bohrer in einem 210 Besprechungen angegliederten Feuilleton-Interview seine Ein- mungsmerkmale tragen dem kritischen und auch schätzung zu den Hitler-Attentätern des 20. Juli dem abgründigen Potential der Figur des Helden, kund.2 Beide Beiträge verhandeln die politische auf das schon 2009 Karl Heinz Bohrer und Kurt wie persönliche Biographie zweier gegen die Scheel im Geleitwort zum Merkur-Sonderheft 5 Nationalsozialisten aktiver Widerständler im Rah- Heldengedenken dezidiert verweisen, zunächst men des Heroismus-Diskurses. Während Probst kaum Rechnung. die Heldengeschichte seines Großvaters in der Gerade ein Band, der sich explizit dem „ästhe-

Spannung von vergangener heroischer Tat und tischen Konstruktionscharakter“, genauer: den sogenannter postheroischer Gegenwart verortet, Verfahrensweisen der Heroisierung in den Küns- weiß Bohrer von der charismatisch-heroischen ten und einer, so die historische These, seit der

Disposition eines gut aussehenden, graziösen Stauf- bürgerlichen Moderne voranschreitenden Ver- fenberg zu berichten. Mehr noch wird ,der deut- lagerung des Heroischen „in ästhetische Erfah- sche Adel‘ als eine der letzten verbliebenen rungsräume“ (S. 12) zuwenden möchte, kann

Bastionen heroischer Werte im nationalsozialisti- der kritisch-reflexive Impetus von Heldenfiguren schen Regime ausgewiesen, ein Narrativ, zu dem schwerlich entgehen, der dann auch im Fortgang sicherlich nicht zu Unrecht Gegenerzählungen des Vorworts an einigen Stellen unterschiedlich kursieren. Von der nicht mit einem Wort abzu- explizit zum Ausdruck gelangt (vgl. S. 12, 20, 23) handelnden Spezifik der zeitgeschichtlichen Situa- und in einer Reihe von Einzelstudien ins Zen- tion abgesehen, in der Probst und Stauffenberg trum des wissenschaftlichen Interesses gestellt wird. politisch agiert haben, machen beide Texte deut- So exponiert FLORIAN LEITNER in seiner Ana- lich, dass der Versuch, sich über die titelgebende lyse gegenwärtiger Helden-Typen der Cyberkul- Frage nach dem Helden zu verständigen, auf di- tur Hacker und Nerds als Computer-Künstler und rektem Weg zum Nexus von Held und Gesell- weist ihrem Handeln damit eine herausragende schaft führt: Sei es im Falle von Probst das in der ästhetische Qualität zu, die einher geht mit ei- Formel „Wir brauchen Helden“3 verdichtete Plä- nem politisch subversiven bis dissidenten Zug. doyer für mehr beherztes Engagement in einer Leitner kann zudem überzeugend demonstrieren, politikverdrossenen Gesellschaft oder Bohrers dis- dass die scheinbar antiheroische Entfernung des kussionswürdige Einschätzung, dass der 20. Juli in Nerds von vormodernen Mustern des Heroischen, der deutschen Erinnerungspolitik nach 1945 eine wie z. B. von ostentativer männlicher Körperlich- Marginalisierung erfahren habe. keit, im ästhetischen Medium des Films einer

Auf die besondere gesellschaftliche Funktion Revision unterzogen wird. Diese Tendenz zu ei- aufmerksam zu machen, die Held(inn)en ausü- ner vornehmlich in der Sphäre des Ästhetischen ben, dient auch dem von NIKOLAS IMMER und vollzogenen Problematisierung und Reflexion von MAREEN VAN MARWYCK herausgegeben Sammel- Heroisierungsprozessen deutet sich bereits in dem band Ästhetischer Heroismus als Einstieg (vgl. S. 11). als Prolog des Bandes fungierenden Beitrag des

Die Herausgeber teilen diese Ausgangsbeobach- Althistorikers MATTHÄUS HEIL an, was Anlass zu tung überdies mit dem seit 2012 an der Universi- einem vorsichtigen Einspruch gegen die im Vor- tät Freiburg existierenden interdisziplinären Son- wort nahegelegte historische Perspektive gibt, dass derforschungsbereich Helden – Heroisierungen – eine „,Krise des Heroischen‘“ (S. 17) erstmals in Heroismen, der ebenfalls von einer grundlegenden der Mitte des 18. Jahrhunderts zu verzeichnen sei. gesellschaftlichen Orientierungsfunktion des Hel- Im Sinne einer kritischen Funktion des Ästheti- den und der Heldin ausgeht.4 Unter Einschluss schen argumentiert auch CLAUDE HAAS, der in dieser konventionellen Bestimmung wird im Vor- exemplarischen close readings zu Goethe und Jün- wort des Bandes die Trias „Orientierung, Kom- ger spezifisch literarische Strategien einer Aus- pensation und Bekräftigung“ (S. 15) formuliert, höhlung der jeweils zeitgenössisch kursierenden die „den sozialen Funktionsgehalt der Leitfigur Ideale des Kriegshelden herausarbeitet. Dass Haas

,Held‘“ (S. 15) konturiert, wobei zugleich die neben dem von den Texten vorangetriebenen his- Unmöglichkeit einer universalen Definition des torischen auch einen poetologischen Kollaps des Heroischen konstatiert wird. Jene als „vorläufige Heroismus (vgl. S. 271), die Unmöglichkeit also Koordinaten“ (S. 15) ausgewiesenen Bestim- eine kohärente Heldengeschichte zu schreiben, Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 211 verzeichnet, darf als gelungener Beitrag zum titel- Die ästhetische Signatur des Heroismus in ei- gebenden Ästhetischen Heroismus gewertet werden. ner insgesamt überzeugenden Konstellation me- Die spezifische Eigendynamik des ästhetischen thodisch und thematisch disparater Beiträge zu Mediums stellen auch die insgesamt vier filmwis- exponieren, stellt den ,roten Faden‘ dieses von der senschaftlichen Beiträge mehr oder weniger pro- germanistischen Literaturwissenschaft dominier- minent heraus. So streitet NIKOLAS IMMER für den ten Bandes dar. Allein lässt die Struktur, allen voran

„ästhetische[n] Eigenwert“ serieller TV-Formate die jeweils aus drei Termini bestehenden Sektions- am Beispiel von Navy CIS durch eine Analyse überschriften, Fragen offen. Hier treffen in ihren erstens der für ,Qualitätsserien‘ charakteristischen Interferenzen diskussionswürdige, da überaus vor- Gattungsmixturen und -innovationen und zwei- aussetzungsreiche Begriffe wie „Typologie/ Phä- tens anhand einer eingehenden Betrachtung des nomenologie/ Differenz“, „Repräsentation/ Äs- zwischen antiheroischen Devianzen und heroi- thetisierung/ Inszenierung“, „Historisierung/ schem Agitationsmodus fortwährend changieren- Funktionalisierung/ Ideologisierung“ und „Me- den Serienprotagonisten. Dass der ,ästhetische dialisierung/ Codierung/ Simulation“ zusammen.

Eigenwert‘ der Serie gerade auf der Verquickung Dies erleichtert die Übersicht und die termino- heldenhafter Inszenierungsmodi mit einer grund- logische Prägnanz nicht immer, wenngleich sich sätzlichen „Abgründigkeit“ (S. 376) des Helden die Herausgeber bemühen, die einzelnen Rubri- beruht, bestimmt schließlich auch Immers Resü- ken im Vorwort zu differenzieren. mee. Ebenso fokussiert TANJA PROKIÆs Studie zu In jedem Fall vermittelt der Band einen ge- den Motiv- und Figurencollagen sowie -über- lungenen Eindruck von der ,Kunst um den Hel- schreibungen in Tarantinos Kill Bill die selbstre- den‘; die Texte zeigen, um mit Josef Früchtl zu flexiven Potentiale des betrachteten Mediums, in- sprechen, den Helden als eine ästhetische Figur, dem sie den Film als großangelegtes Projekt eines die sich im Sinne einer besonderen Form von

„Kino über Kino“ (S. 381) analysiert, das nicht Präsenz ,zeigt‘ (vgl. S. 143 f.) und die zusätzlich nur einen neuen weiblichen Helden-Typus ge- ihren eigenen Konstitutions- und Rezeptions- neriert, sondern auch einem männlich dominier- prozess stets auf einer Meta-Ebene (vgl. S. 142) ten filmischen Genre-Regime den Kampf ansagt. reflexiv und kritisch ausstellt: „durchsichtig in ih- Dass das Heroische maßgeblich durch ästheti- rer Gemachtheit und erdrückend in ihrer Evidenz“ sche Mittel etabliert und gleichzeitig in Zweifel (S. 147). gezogen wird, hält vice versa zu der Frage an, ob die Künste – der Band widmet sich Literatur, Film Anmerkungen und Fernsehen – nicht nur mit inhaltlich oder formal am Helden und der Heldin orientierten 1 Maximilian Probst: Das kannst du auch! In: Die Zeit plots, Erzähl- und Dramatisierungselementen und v. 18.7.2014, Nr. 30, S. 13–15. Figuren arbeiten, sondern ob nicht auch das Äs- 2 Ijoma Mangold im Interview mit Karl Heinz Boh- thetische angesichts seiner mitunter zwiespältigen rer: Ein gewisses Charisma. In: Die Zeit v. 18.7.2013, Nr. 30, S. 47. Repräsentationsmacht und seiner Tendenzen zur 3 Probst (wie Anm. 1), S. 15. Selbstheroisierung im Zusammentreffen mit dem 4 Vgl. ; zuletzt: 30.7.2013. wäre. Auch wenn der Band diese Perspektive nicht 5 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Kurt Scheel (Hrsg.): Hel- programmatisch voranstellt, geht der Aufsatz von dengedenken. Über das heroische Phantasma. In: ELISA PRIMAVERA-LÉVY den Reflexionspotentia- Merkur 63 (2009), H. 9, 10, S. 751–752. len einer solchen ,heroischen Poetik bzw. Philo- sophie‘ am Beispiel der genieästhetischen Entwür- Carolin Rocks fe Karl Philipp Moritz’, Nietzsches und Jüngers Ludwig-Maximilians-Universität München nach. CARSTEN ROHDE stellt dies in strukturell Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft

ähnlicher Weise für Rainald Goetz’ mit Elemen- Schellingstr. 3/Rg. ten des Heroischen und des Postheroischen glei- D–80799 München chermaßen jonglierendes Schreiben heraus. 212 Besprechungen

NADJA GEER

Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose (Westwärts. Studien zur Popkultur, Bd. 1), Verlag

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, 267 S.

Die germanistische und kulturwissenschaftliche halte zustande, die verhandelt wurden, sondern Forschung zu Popliteratur, Popdiskurs und Pop- über die Form, in der über die Inhalte gespro- kultur darf seit gut einem Jahrzehnt als akademisch chen und geschrieben wurde.“ (S. 11) etabliert gelten. Auch die bei näherem Hinsehen Etwas handfester formuliert, geht es also darum, recht überschaubare deutschsprachige Poplitera- literatur- und diskursgeschichtliche Gründe dafür tur im engeren Sinne, deren zweites Erblühen zu finden, dass gerade der avancierte deutsche Pop gemeinhin auf das Erscheinen von Christian (in Literatur und Kritik) so oft als hochgradig in- Krachts Debüt Faserland (1995) und die Folgejah- tellektualisiert erscheint – und sich damit von jeg- re datiert wird, ist mittlerweile intensiv beforscht. licher Vorstellung des ‚Populären‘, die Pop dem Neben einigen zu Standardwerken avancierten Begriff nach mitbestimmt, weit entfernt. Den Monographien – zu nennen sind insbesondere die bisweilen insiderhaft, bisweilen arg theorielastig Arbeiten von Moritz Baßler1 und Eckhard Schu- anmutenden deutschen Pop einfach als verschwur- 2 macher – erschöpfen sich weite Teile der Pop- belt abzutun, gehört noch immer zu den beliebtes-

Forschung aber in teils offen hagiographischen, ten Topoi des Rezensionsfeuilletons – auch wenn teils theoretisch wie historisch unterkomplexen sich dieses seit zwei Jahrzehnten selbst oftmals hoch- Einzelbeiträgen, die sich vor allem der Entfaltung gradig popistisch geriert. Mit dem Konzept der des Gegenstands ‚Pop‘ widmen, in ihrer analyti- „sophistication“ entwickelt Geer indes eine Mög- schen Reichweite aber begrenzt bleiben. Erst in lichkeit, die Einsätze von Insiderwissen, Jargon und allerjüngster Zeit sind darüber hinausgehende An- stilistischer Raffinesse als Investitionen in symbo- sätze zur Institutionalisierung und Professionali- lisches Kapital zu lesen, welche sich auf dem lite- sierung der Pop-Forschung auszumachen, wie sich rarischen Jahrmarkt der Eitelkeiten als Distinkti- etwa an der jüngst erfolgten Gründung der Zeit- onsgewinne auszahlbar machen. Indem sie nach schrift Pop. Kultur und Kritik zeigt. den literatur- und diskursgeschichtlichen Wur- Mit NADJA GEERs Dissertation über das Pop- zeln der ‚sophistication‘-Strategien der deutsch- Phänomen „sophistication“ erreicht der wissen- sprachigen Popliteratur fragt, verbindet Geer diese schaftliche Pop-Diskurs ein neues Niveau. Geers mit Bourdieu gedachte literatursoziologische Fra- Anliegen ist es, die Strategien intellektuellen und gestellung mit einer historischen Perspektive. ästhetischen Raffinements bloßzulegen, welche die Im ersten literarischen Hauptkapitel „Kulti- Pop-Diskussion in Deutschland bestimmen und viertheit als literarischer Habitus“ bemüht sich diese zugleich diskursgeschichtlich zu verorten. Geer, die Stilisierungsbemühungen der „kultivier- Den Stilwillen des deutschsprachigen Pop-Diskur- ten Konservativen“ (S. 31) der ersten Hälfte des ses seit den 1980er Jahren sieht Geer vorgebildet 20. Jahrhunderts als Vorläuferform der Selbststili- in den Kultiviertheitsvorstellungen der modernen sierung der späteren Pop-Intellektuellen aufzuwei- Bürgerlichkeit: „So wie die Kultiviertheit ein in- sen. In dem Publizisten und Schriftsteller Rudolf tellektueller Habitus des Bürgertums war – oder, Borchardt, dem eher der Unterhaltungsliteratur wie zu zeigen sein wird, jener, die in ihrem Leben zuzurechnenden Friedrich Reck-Malleczewen ein Ideal des Bürgerlichen anstrebten – , so ist die und dem späteren FAZ-Feuilletonisten Friedrich sophistication der intellektuelle Habitus eines Mi- Sieburg findet sie sprechende Beispiele. Die Aus- lieus, dessen kulturelle Sozialisation durch den wahl der drei Vertreter einer älteren, bürgerlichen

Konsum von populärer Kultur und Hochkultur Kultiviertheit erweckt allerdings den Verdacht, geprägt worden ist. Denn im Gegensatz zu den mehr oder weniger willkürlich vorgenommen USA oder Großbritannien verselbstständigte sich worden zu sein. Kriterien sind offenbar eine ge- der Diskurs über Pop nie völlig, sondern blieb an wisse publizistische Reichweite, eine politisch den hochkulturellen und kulturkritischen Diskurs konservative, aber nicht völkische bzw. eindeutig gekoppelt. Der Konnex kam nicht über die In- nationalsozialistische Positionierung (wobei Sie- Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 213 burg zumindest als verstrickt zu gelten hat), und Goldt, Meinecke und Kracht. Eine umfassendere eine wiederkehrende Bezugnahme auf Fragen von Explikation der Texte ist nicht angestrebt und wird

Kultiviertheit und Geschmack, sowohl im jewei- deshalb auch nicht vorgenommen. Der Verzicht ligen publizistischen Schaffen als auch in der per- auf umfangreichere Ausdeutungen lässt die Er- sönlichen Lebensführung. Dass ‚Geschmack‘ und gebnisse denn auch teilweise anschlusslos bleiben. Kultiviertheit wesentliche Mittel bürgerlicher Dass Rainald Goetz als sogenannter Kultautor

Distinktion in der Hochmoderne und darüber symbolische Transfers zwischen Hoch- und Sub- hinaus gewesen sind, ist indes keine neue These. kultur betreibt (vgl. S. 154) und das „Hakenschla- Auch stützt sich Geer überwiegend auf Sekun- gen“ zur Methode macht (S. 161), ist treffend be- därbelege, Lebensbeschreibungen und ähnliches, obachtet. Auch vor scharfen Wertungen scheut ohne das Programm der Kultiviertheit am jewei- Geer nicht zurück, etwa wenn sie Thomas Mei- ligen Werk dingfest zu machen. neckes kokette Bezugnahmen auf Ernst Jünger Der Gedanke, die Kultiviertheits- und Ge- als „Form der agitatorischen Dampfplauderei“ schmacksvorstellungen dieser Zeit gleichsam als (S. 140 f.) bezeichnet. Übergreifende Perspekti- Humus für die spezifisch deutsche „sophistication“ vierungen unterbleiben aber. Energisches Be- des Pop zu entwickeln, ist bestechend. Ein sum- schimpfen ist selbst eine Strategie des Pop. Wenn marischer Hinweis auf Georg Bollenbecks Ar- Geer Friedrich Sieburg einen „Stilisierungswahn“ beit zu Bildung und Kultur als Leitbegriffen bür- vorwirft und Rainald Goetz des „Haltungsfana- gerlicher Identitäts-Ideologie kann die detaillierte tismus“ (S. 17) bezichtigt oder aber sich über die

Entfaltung der vielversprechenden These aber „Referenzinflation“ (S. 20) bei Diedrich Diede- nicht ersetzen.3 Indem Geer die Jahrzehnte spä- richsen mokiert, bleibt allerdings der moralisch- ter zu beobachtende Pop-„sophistication“ einfach ästhetische Grund, auf welchem diese Urteile gegen die bürgerliche Kultiviertheit schneidet, fußen, unbestimmt. erspart sie sich eine tatsächliche Genealogie des Der deutschen Pop-Intellektualität Machtbe- deutschen Pop-Diskurses der 1980er Jahre. Die- wusstsein und Provokationslust bei gleichzeitiger ses Vorgehen im Modus der Evidenz entfaltet Politikferne zu attestieren, ist eine erfrischend kri- durchaus einigen rhetorischen Sog. Letztlich plau- tische Perspektive, die den apologetischen For- sibilisiert wird die These von der Struktur- und schungskonsens herausfordert. Bemerkenswert Formähnlichkeit aber nur unzureichend. aber ist, wie sehr sich apodiktische Urteile vor Nach einem Exkurs zum Phänomen des Dan- differenziertere Lektüreansätze schieben. So no- dyismus nimmt Geer das Schaffen der namhaftes- tiert Geer die schwer fassbare Positionierung des ten Pop-Autoren der 1980er Jahre und darüber Werkes von Christian Kracht, die aus den dissi- hinaus in den Blick. An Rainald Goetz gilt es, mulativen Strategien seiner Romane resultiert, eine bestimmte „Haltung“ der „sophistication“ und schlägt dem Feuilleton seine stete Verwechs- aufzuzeigen, Thomas Meinecke wird als „Strate- lung der Person Christian Krachts mit seiner ge und Gourmet“ der Pop-„sophistication“ per- Autor-Persona um die Ohren, nur um schließ- spektiviert, Max Goldt illustriert das Problem des lich selbst ein fragwürdig autorpsychologisches

„Luxus“, und Christian Krachts Werk am Rande Fazit zu präsentieren: „Mit Hilfe rhetorischer des Pop-Feldes zeigt ihn als „Geschmacksfeti- Figuren unterläuft er trickreich Authentizitäts- schist[en] und Meister der Polyvalenzen“ (S. 144). semiotiken. Auf der Ebene der Selbstinszenierung

Die Werke der genannten Autoren liest Geer als als Autor arbeitet Christian Kracht mit Ta r n -

Ausdruck eines umfassenderen kulturellen Wan- Haltungen. Hinter all dieser Maskerade verbirgt dels: „Sophistication übersetzt als intellektuelle Form sich der kindliche Wunsch nach einer Desta- die Inhalte des deutschen Popdiskurses in die Li- bilisierung gesellschaftlicher Festschreibungen.“ teratur. Dieser Diskurs übernahm in den frühen (S. 192). 1980er-Jahren zwei Funktionen: Er stellte die He- Die Komplexität und Erklärungskraft von gemonialstellung der bürgerlichen Kultur infrage Geers Ausgangsthese stellt einen echten Quan- und erschuf einen Ort jugendkultureller Dissi- tensprung in der einschlägigen Forschung dar. Im- denz.“ (S. 131) Schlaglichtartig erhellt Geer die mer wieder aber verfängt sich die Studie in dem Textstrategien der „sophistication“ bei Goetz, nicht aufzulösenden Spannungsverhältnis, die Ge- 214 Besprechungen

nese der deutschen Pop-Intellektualität diskurs- rin selbst wünscht man sich alsbald eine mit Ver- geschichtlich und literatursoziologisch zu erklären ve geschriebene, von den Begründungslasten ei- und zugleich mit ihr abzurechnen. Darstellung und ner Qualifikationsschrift entschlackte Streitschrift Kritik, die hier zusammenzubringen wären, gera- zum Glanz und zum Elend der deutschen Pop- ten in ein eigenartiges Missverhältnis: Erscheint Intellektualität. die Darstellung zu wenig philologisch gesichert und zu sehr von Polemik durchsetzt, bleibt die Anmerkungen Kritik detailüberfrachtet und zu wenig radikal.

„Der [. . .] Pop-Connaisseur ist ein Bildungsbür- 1 Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002. ger der eigenen Art“ (S. 165), lautet Geers Ein- schätzung, und seine Strategie der „sophistication“ 2 Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreib- (S. 174) verschiebe lediglich die Bildungsschran- weisen der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2003. 3 Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz ke, ohne sie grundsätzlich infrage zu stellen. Dem und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frank- Cheftheoretiker der deutschen Pop-Intelligenz furt a. M. 1994. Diedrich Diederichsen, der in der Studie die Rolle des Leibhaftigen übernehmen darf, einen „Stil der Klaus Birnstiel Arroganz“ vorzuhalten, ist ein Geschmacksurteil, Universität Basel das man teilen mag oder nicht; es bleibt aber als Deutsches Seminar solches unbefragt. Nadelberg 4 Für die Pop-Forschung liefert Geers Buch ent- CH–4058 Basel scheidende kritische Impulse. Von der Verfasse-