Besprechungen
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10.3726/92141_155 54 154 Besprechungen JÜRGEN GOLDSTEIN Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte (Naturkunden, Bd. 3), Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013, 310 S. Die 16 Essays von JÜRGEN GOLDSTEIN – Philoso- komponiert sind. Alexander von Humboldt ver- phieprofessor in Koblenz-Landau – rücken Erfah- dichtet diesen Gedanken in Kosmos zu der Forde- rungsgeschichten der Natur in ein Verhältnis zu rung, „die Natur muß auch dargestellt werden, wie den sich wandelnden Wahrnehmungs- und Dar- sie sich im Innern des Menschen abspiegelt.“ stellungsformen von Reiseautoren. Das Panorama Als Petrarca im April 1336 mit seinem Bru- reicht von Petrarcas Besteigung des Mont Ven- der den höchsten Berg der Gegend besteigt, stößt toux (1336) oder Kolumbus’ Landung in Ameri- er auf Unverständnis; so etwas ohne konkreten ka (1492) über Alexander von Humboldts legen- Zweck, auf der bloßen Suche nach interesse- däre Expedition auf den Chimborazo (1802) bis losem Wohlgefallen an Höhe und Aussicht zu zu Handkes Wanderung auf das Bergchen Sainte- unternehmen, scheint zu seiner Zeit abwegig. Victoire (1979) oder Messners Bezwingung des Ein alter Hirte versucht sie gar als „Hüter der Mont Everest (1980). Ausdrücklich geht es nicht Schwelle“ (S. 29) von ihrem Vorhaben abzuhal- um Rekorde, Pionierleistungen, Entdeckungen, ten. Doch auf dem Gipfel ist das Erlebnis in sondern um die Prägnanz von Erfahrungen, ihre Raum und Zeit überwältigend. Wie Petrarca sich sprachliche Verfertigung und die „Erzählung als über Augustinus hinwegsetzt, so Kolumbus über Wissensform“ (S. 24). Damit ist das Buch auch die mit den Säulen des Herkules symbolisch mar- für die Literaturwissenschaft, insbesondere für den kierten Grenzen der bekannten Welt. Obgleich Themenschwerpunkt dieses Heftes, von Interesse. er, stetig nach Westen segelnd, ins Ungewisse und Goldsteins Ausgangspunkt ist der von Augus- vielleicht Rückweglose aufbricht, halten sich sei- tinus im 10. Buch der Confessiones formulierte Ge- ne Beschreibungen auch an Gelesenes; so erwähnt gensatz äußerer und innerer Beobachtungen, er schauerliche und wunderliche Kreaturen, die letztlich die Entdeckung des inneren Menschen er in der Neuen Welt gar nicht gesehen haben mit dem ganzen Reichtum seiner Subjektivität: kann. „Und da gehen die Menschen hin und bewun- Ganz anders fallen die genau protokollierten dern die Höhen der Berge, das mächtige Wogen und vor allem methodisch hochreflektierten Auf- des Meeres, die breiten Gefälle der Ströme, die zeichnungen des Weltumseglers Georg Forster Weiten des Ozeans und den Umschwung der von Tahiti (1773) aus. Goethes Besteigung des Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.“ Kaum Brocken im Winter 1777 erweist sich hingegen zufällig taugen alle genannten Reiseziele zur Er- eher als melancholische voyage interieur. Unter fal- fahrung des Erhabenen – Gipfel, Meere, Hori- schem Namen nähert er sich dem unglücklichen zonte, Wasserfälle sind dafür klassische Orte der Friedrich Victor Leberecht Plessing und erkennt Natur. Augustinus geht es also nicht unbedingt in dessen ‚Krankengeschichte‘ Facetten des eige- um eine völlige Absage an die Augenlust (concupi- nen Selbst. Lichtenberg wäre gerne wie Forster scentia oculorum), wie Petrarca meinte, sondern um um die Welt gesegelt. Als „Mittelländer“ ist er eine Profilierung des homo interior gegen den homo wie besessen von der Entgrenzung des Meeres; viator. Genau dieses Zusammenspiel steht im Mit- der Anblick eines Dreimasters stärkt ihn „bis in telpunkt von Goldsteins Essays, die geschickt aus die Wurtzel der Seele“. Zwei Schiffsreisen führen Originalzitaten und erläuternden Deutungen Lichtenberg nach Helgoland (1773 und 1778) und Zeitschrift für Germanistik XXIV – 1/2014 155 bestätigen seine Überzeugung von der See: „Es ist nen ausgelöst, die sich in der Realität nicht so kein größerer Anblick in der Natur.“ gefahrlos einstellen wie etwa im Theater Schil- Besonders erhellend ist das Kapitel über Dar- lers. Deshalb ist das Schlusskapitel über den jun- win, der sich als Student der Medizin, dann der gen Hochschulabsolventen Chris McCandless Theologie und Mathematik in Cambridge un- konsequent, der alles hinter sich lässt und sich als endlich langweilte. Erst der lebendige Unterricht ‚Alexander Supertramp‘ bis nach Alaska durch- des Botanikers Henslow draußen in der Natur schlägt. Die Mischung aus Abenteuer, Nomaden- weckt sein Interesse an Wissenschaft. Als er 1831 tum und Selbstüberschätzung mag man naiv und zu einer Weltumsegelung aufbricht, führt er zwei gefährlich nennen, sie zeugt aber von einem Ver- prägende Bücher mit sich: Herschels Naturphilo- langen nach Selbstüberschreitung, das auch die sophie und Humboldts Reise in die Äquinoktial- anderen vorgestellten Reisenden prägt. McCand- gegenden des neuen Kontinents. Wie für diese less stirbt nach 112 Tagen in Alaska an Auszeh- Vorbilder scheint Darwins Aufmerksamkeit nichts rung und giftigen Pflanzen. Ein durch Schmelz- zu gering, selbst auf dem Ozean sammelt er Saha- wasser angeschwollener Fluss versperrt ihm den rastaub von den Segeln des Schiffes in einem Rückweg in die Zivilisation. Sein Tagebuch fand Glasröhrchen, um darüber nachzudenken. In den sich in einem ausgedienten Bus, der McCandless Chilenischen Kordilleren gelangt er über die be- auf einem zugewucherten Trail 20 Meilen von rechtigte Frage, wie Kieselsteine und Muscheln der nächsten Straße entfernt als letzter Aufenthalt in derartigen Höhen ohne große Flüsse oder Mee- diente. Das Freiheitspathos der Aufzeichnungen re entstehen konnten, zu Ideen über ungeheure ist am Schluss großer Ernüchterung gewichen: „Zu Zeiträume der Geologie, aus denen letztlich seine schwach, um hier wegzukommen. Sitze in der Evolutionstheorie hervorgeht. Goldstein nennt Falle.“ solche Überlegungen treffend „eine kopernikani- sche Wende der Anschauung unter dem Aspekt Alexander Košenina der Zeit“ (S. 160) oder eine „Revolution der Den- Leibniz Universität Hannover kungsart“ (S. 166). Deutsches Seminar Von solchen geistigen Durchbrüchen und küh- Königsworther Platz 1 nen Gedanken im Angesicht entgrenzender Na- D–30167 Hannover turerfahrungen erzählen auch die übrigen Essays. <[email protected]. Oftmals werden sie durch Erlebnisse des Erhabe- de> ADOLF H. BORBEIN, MAX KUNZE (Hrsg.) Johann Joachim Winckelmann: Statuenbeschreibungen, Materialien zu „Geschichte der Kunst des Alterthums“, Rezensionen, bearb. v. Lilian Balensiefen, Eva Hofstetter, Max Kunze, Manfred Wenzel. Mit Beiträgen v. Balbina Bäbler, Adolf H. Borbein, Klaus-Peter Goethert und Axel Rügler ( Johann Joachim Winckelmann. Schriften und Nachlaß, hrsg. v. der Akademie der Wissen- schaften und der Literatur Mainz, dem Deutschen Archäologischen Institut und der Winckelmann- Gesellschaft, Bd. IV,5), Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2012, 488 S. Der vorliegende fünfte Teilband zu Winckelmanns ler (IV,2), den Allgemeinen Kommentar (IV,3) Geschichte der Kunst des Altertums [GK] versammelt sowie Winckelmanns Anmerkungen zur Geschichte die Vorarbeiten sowie Materialien zur Entstehung der Kunst des Alterthums (IV,4) und schließt damit des Werkes und zur Wirkung von dessen erster die Edition der GK im Rahmen der Ausgabe der und zweiter Ausgabe. Damit ergänzt er den Text- Schriften und des Nachlasses ab. Der Leser hält mit band (IV,1), der die erste und die zweite, postume diesen fünf Bänden ein Kompendium dessen in Ausgabe (Dresden 1764 bzw. Wien 1776) parallel Händen, was Arbeit an einer Geschichte der Kunst abdruckt, den zugehörigen Katalog der Denkmä- des Alterthums im 18. Jahrhundert hieß. 156 Besprechungen In chronologischer Folge finden sich die Ent- Bedeutung bei so geringem Umfang [. .]. In der würfe von Winckelmanns Beschreibungen der Geschichte der deutschen Sprache und des deut- Statuen im Belvedere-Hof des Vatikan, die als schen Stils gehört der Apollo-Beschreibung ein „Keimzelle“ seiner „Kunstgeschichte“ gelten kön- Kapitel wie in der Kunstgeschichtsschreibung und 3 nen (Vorwort, S. VII), ergänzt durch die jeweiligen der Beschreibung von Kunstwerken.“ Ursprung Druckfassungen und die zugehörigen Notizen und und Entstehung nicht nur dieses Kapitels werden Exzerpte, die Winckelmann antiken Schriftstel- hier anschaulich. lern wie auch zeitgenössischer Fachliteratur ent- Um ein ästhetikhistorisches Verständnis von nahm. Beigegeben sind diesen Materialien Text- Sprache und Stil von Winckelmanns Beschrei- fragmente aus dem Florentiner Nachlassheft, die bungen zu gewinnen, bleibt die exemplarisch auf zur Erweiterung einer verlorenen frühen Fassung die Apollo-Beschreibungen bezogene Arbeit von der GK bestimmt waren und als einzige erhaltene Zeller grundlegend. Die aktuelle Edition bietet Manuskripte zu Winckelmanns Hauptwerk Auf- zudem Aufschlüsse über die Genese von Winckel- schluss über die Werkgenese gewähren. manns Systematik und die Entwicklung seines Die mühsam von Detail zu Detail schreitenden Sprachsensoriums im Verhältnis zu seinen fort- Entwürfe zu den Statuenbeschreibungen verdeut- schreitenden Einsichten an verschiedenen Statuen lichen Winckelmanns Arbeit an der Sprache in (neben Torso und Apoll u. a. am Laokoon und der unablässiger Rückversicherung in der Betrachtung „Sogenannten Cleopatra“) sowie in allen Detail- – die Druckfassungen präsentieren die hieraus re- fragen und deren wissenschaftshistorischer Ver- sultierende schlackenlose, um die Erfassung des ortung. Schönen bemühte Sprache. „Es ist klar, daß das Einen besonderen Gewinn bedeutet es, dass nun Eigentliche, worum es Winckelmann in der Apollo- aus dem Nachlass Winckelmanns