Liebe Lesende
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Vorwort 1 Liebe Lesende, wieder einmal wird es Winter und die Sonne scheint nicht mehr lange den lie- ben langen Tag. Aber da es auch abends und nachts noch schön ist, haben wir un- serem Heft diesmal einen dunklen Farbton gegeben, sodass Ihr es Euch damit auch im herbstlichen Park, der Bar oder zu Hause auf dem Sofa oder dem Bett gemütlich machen könnt, ohne dass Ihr unter dem grauen Himmel auffallt. Vielleicht wundert Ihr euch, wieder etwas von uns zu hören, doch obwohl un- sere Anschubfinanzierung durch die Ernst-Reuter-Gesellschaft mit dem letzten Heft endete, sind wir immer noch da. Der Dank dafür gilt den Instituten für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte und Germanistik der Freien Universität Berlin und dem Bücherbasar e.V., die mit ihrer freundlichen finan- ziellen Unterstützung den Druck dieser Ausgabe ermöglicht haben. Dadurch könnt ihr auch in diesem Sommer einen Einblick in die Arbeit Eurer KommilitonInnen erhalten, und dafür geben wir Euch wieder eine Auswahl herausragender Texte aus dem weiten Feld der Geisteswissenschaften. Damit nicht genug – erstmals geben wir unserem Heft eine neue Ausrichtung und suchen unsere Beiträge jetzt auch bei den Geschichts- und Kulturwissenschaf- ten. Die Antworten auf unseren call-for-notes aus diesem Fachbereich blieben lei- der noch recht vereinzelt, aber aller Anfang ist schwer. Wenn Ihr also dieses Heft in Händen haltet und Euch die eine oder andere eigene Hausarbeit in den Sinn kommt, oder aber wenn Ihr nach der Lektüre Lust bekommen habt, an der nächsten Ausgabe mitzuwirken, schreibt uns einfach eine Mail – wir freuen uns über jede Einsendung, die unser nächstes Heft bereichern und über jeden interessierten Helfer. Der breiteren fachlichen Ausrichtung haben wir dieses Mal einen Platz in der Rubrik „State of the art“ gewidmet, in der in diesem Heft Prof. Dr. Ulrich Müller, Prof. Dr. Hans-Georg Stephan und PD Dr. Mariya Ivanova den aktuellen Stand der Archäologie beleuchten. Auf unserer Website anwesenheitsnotiz.de könnt Ihr wie immer die komplette Online-Version aller bisherigen Ausgaben einsehen und uns Fragen und Anregun- gen hinterlassen. Viel Freude beim Stöbern und Lesen mit der vorliegenden Ausgabe wünscht Euch Eure Redaktion. 2 Inhaltsverzeichnis Inhalt 1 Vorwort 2 Inhaltsverzeichnis 4 Inhaltlicher Überblick 9 Eva-Luisa Murašov Roger Caillois’ Pierres natürliche Strukturen und poetisches Schreiben 21 Tim König Körper in Das kunstseidene Mädchen von Irm- gard Keun Eine Analyse der perspektivischen Verhältnisse anhand eines Romanbeginns. 33 Anna Stöber Hunting Out of Africa 51 Fabian Lehmann Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken Ein Austausch mit dem Künstler Philip Metz 71 Svea Janzen Die Debatte um den Turmneubau der Berli- ner Nikolaikirche 187631877 95 Julia Blöser „So de Oude songen, so pypen de Jongen.“ Ironie der Nachahmung bei Jan Steen. Inhaltsverzeichnis 3 115 Anna Seibt Der Mensch im (Klang)Raum Eine Betrachtung zu Oskar Schlemmers Kos- tümballettDas Triadische Ballett und dessen Neufassung durch Gerhard Bohner 136 State of the Art Archäolgie Mariya Ivanova, Hans-Georg Stephan und Ulrich Müller 144 Rezensionen 146 Register 149 Impressum Diese Ausgabe illustriert Federico Ghidinelli. Er studierte den Bachelor Fremdsprachen und Li- teratur an der Universita statale di Milano in Mai- land und Berlin und zur zeit den Master Audivisual Translation an der Istrad Sevilla. 4 Inhaltlicher Überblick Die sechste Ausgabe der Anwesenheitsnotiz beginnt mit einem analytischen Es- say von Eva-Luisa Murašov. Dieser führt den Leser durch den Garten der Poe- sie zur Reflexion der Sprache und ihrer Strukturen. In natürliche Strukturen und poetisches Schreiben leitet die Autorin aus Roger Caillois Pierres (la pierre (frz.) = der Stein) dessen Definition des Sprachbegriffes ab. Sie belegt dazu die von Caillo- is stilistisch entwickelte Parallelität zwischen Geologie und Mustern in der Natur einerseits und sprachlichem Ausdruck andererseits, und beweist somit gleichzei- tig die Nähe von Caillois’ Sprachbegriffs zu Roland Barthes’ Stilmittel der Haikus. Tim König kombiniert in seiner – ebenfalls literaturwissenschaftlichen – Arbeit zum Körper in Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun Film- und Textana- lyse. In guter philologischer Manier bearbeitet der Autor den Romanbeginn, der mit filmischen Stilmitteln und Motiven durchwobenen Ich-Erzählung, um die Konst- ruktionsmechanismen von Körpern und Räumen herauszuarbeiten. Er kommt da- bei zu dem Ergebnis, dass die Benennung sozialer Problematiken und die Konst- ruktion narrativer Räume im Romanbeginn einander gegenseitig und im ständigen Fluss bedingen. Keuns Weimarer Republik-Roman, in dem sie einen neuen Typus Frau literarisch evident macht, wurde bereits in der letzten Ausgabe Platz gewidmet. Mit Anna Stöbers Arbeit Hunting Out of Africa geht es literaturwissenschaftlich weiter mit besonderem Schwerpunkt auf dem Postkolonialismus, der bisher recht stiefmütterlich bei uns behandelt wurde. Anhand von Karen Blixens autobiografi- schem Roman Out of Africa untersucht Stöber verschiedene Funktionen des dort ausgebreiteten Jagdmotivs. Ausgehend von einer intersektionellen Perspektive deckt sie erzählerische Strategien Blixens rund um die Jagd im kolonialen Kenia auf und belegt diese anhand einzelner Jagd-Szenen. Ein weiteres Schlaglicht auf das Themenfeld des Postkolonialismus wirft Fabian Lehmann. Interessant an Lehmanns Arbeit Frantz Fanons Schwarze Haut, wei- ße Masken ist sein ungewöhnlicher Ansatz zum Themenfeld. Er nähert sich einem Text des Autors Frantz Fanon durch die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Künstler Philip Metz an. Dabei wirft er in der gemeinsamen e-mail-Konversation die zuvor mit der Postkolonialistin Spivak erarbeiteten Fragen nach möglicher Reprä- sentation und postkolonialer Wirklichkeit in Deutschland auf und stellt eine foto- grafische Arbeit Metz’ in dieses Spannungsfeld. Inhaltlicher Überblick 5 Svea Janzens detaillierte und intensive Archivarbeit und Auseinandersetzung mit historischen Dokumenten markiert einen harten Wechsel der fachlichen Ausrich- tung des Heftes. In ihrem Text zurDebatte um den Turmneubau der Berliner Niko- laikirche 1876-1877 behandelt sie die Baugeschichte der Kirche. Sie stellt die voran- gegangene Debatte über den Umbau im Kontext der damaligen Denkmalpflege und Restaurierung dar und bewertet die Positionen der einzelnen Diskussionsteilneh- mer vor diesem Hintergrund kritisch. Die Arbeit bietet einen guten Einblick in die Arbeit mit historischen Dokumenten, die sonst bei den Kunst- und Geisteswissen- schaften, die häufig am Puls der Zeit arbeiten, oft unterschlagen wird. Kunstgeschichtlich geht es weiter mit Julia Blöser, die nach ihrer Arbeit zum Kunst- seidenen Mädchen die Gattung wechselt und sich der Genremalerei zuwendet. In ih- rer Arbeit mit dem Titel Ironie der Nachahmung befasst sie sich mit dem Bild „So de Oude songen, so pypen de Jongen“ von Jan Steen. Dabei deckt sie auf, wie in dem Gemälde auf vielfältige Art Nachahmung thematisiert wird, und bietet dem Leser nebenbei immer wieder spannende geistesgeschichtliche Einblicke in das holländi- sche Goldene Zeitalter. Unsere letzte Autorin, Anna Seibt, beschreibt sehr ausführlich die wesentlichen Merkmale des Tanztheaters Das Triadische Ballett von Oskar Schlemmer und ver- gleicht dieses mit dem reenactment von Gerhard Bohner. Im Vordergrund ihrer Analyse steht die Differenz, die durch den zusätzlichen Einsatz von Neuer Musik des Komponisten Hans-Joachim Hespos im reenactment auftritt. Seibt kann -da bei plausibilisieren, dass es bei Bohner eine Umakzentuierung tänzerischer Impulse vom Raumgefühl hin zum Mescnhen im (Klang)Raum gibt. Das Heft komplettieren dieses Mal drei ProfessorInnen der Archäologie. Mariya Ivanova, Hans-Georg Stephan und Ulrich Müller präsentieren ihren persönli- chen „State of the Art“ der Archäologie. Alle drei heben auf ihre Weise die Wichtig- keit der Erhebung von empirischen Informationen des Typus „Big Data“ hervor und die Art und Weise, von wem und wie diese Daten in Zukunft ausgewertet werden können. Dabei ist es eine Schwerpunktfrage, ob diese nun zum Nutzen einer genaue- ren Re-Konstruktion der vergangenen und jüngsten Geschichte oder zur genaueren Gegenwartsanalyse genutzt wird. 6 7 8 (Anwesenheits)Notizen 9 Roger Caillois’ Pierres natürliche Strukturen und poetisches Schreiben Eva-Luisa Murašov Der vor allem für seine Spieltheorie Les Jeux et les Hommes (Die Spiele und die Men- schen1, 1958) bekannte französische Soziologe, Kulturanthropologe, Essayist und Schriftsteller Roger Caillois kritisiert insbesondere in seinen frühen Schriften der 1930-50er Jahre den modernen Individualismus und polemisiert gegen die Entkopp- lung von künstlerischem Schaffen und gesellschaftlichem Nutzen. Insofern Kunst in seinen Augen nicht als ein autonomes, selbstgenügsames System begriffen und un- abhängig von politischen oder sozialen Zusammenhängen betrachtet werden sollte, bildet seine Haltung einen Kontrast zur wachsenden Autoreferentialität in der Kul- tur und Kulturtheorie der Nachkriegszeit und erscheint zunächst schwer vereinbar mit strukturalistischen Ansätzen. In Caillois’ ungewöhnlichem Werk Pierres (Steine, 1966) beschreibt eine erzäh- lergleiche Sprechinstanz verschiedene Arten und Exemplare einer Gesteinssamm- lung, wobei sie eine häufiger poetische als wissenschaftliche Rhetorik verwendet.2 Vom Standpunkt einer strukturalistischen Textanalyse aus ist interessant, dass dort Fragen der Form und Gestaltung, das Spannungsverhältnis von formbarer und fester