Dirk Kroegel Einen Anfang finden ! Studien zur Zeitgeschichte

Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte Band 52

R. Oldenbourg \ferlag München 1997 Dirk Kroegel Einen Anfang finden ! in der Außen- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition

R. Oldenbourg \erlag München 1997 Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme

- Kroegel, Dirk: Einen Anfang finden! : Kurt Georg Kiesinger in der Aussen- und Deutschlandpolitik der Grossen Koalition / Dirk Kroegel. München : Oldenbourg, 1997 - (Studien zur Zeitgeschichte ; Bd. 52) Zugl.: , Freie Univ., Diss., 1991 ISBN 3-486-56163-4 NE:GT

© 1997 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer- halb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf- bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein- speicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München Satz: Meiereder Druck und Bindung: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe, München ISBN 3-486-56163-4 Inhalt

Vorwort . 7

Einleitung. 11

I. Die Gründungsväter und die Entstehung der Großen Koalition . 19

1. Kiesingers Weg ins Kanzleramt . 19

2. Wehner treibt seine Fraktion in die Große Koalition . 37

3. Der ehemalige Kommunist und der ehemalige Pg . 46

//. Kiesinger und die Frankreichpolitik . 59

1. Grundlagen der Außenpolitik: Kiesinger muß sich gegen Adenauer behaupten . 59 2. Kiesinger und de Gaulle: zwei Staatsmänner zwei Zielsetzungen . 76 - 3. Außenpolitik gegen Adenauer Neuer Streit mit den Gaullisten über den - Nichtverbreitungsvertrag im Februar 1967 . 90

III. Das Bündnis beruht auf einem Mißverständnis Kiesinger, Wehner und der Versuch einer gemeinsamen Deutschlandpolitik- 115 .

1. Wehners Deutschlandkonzept . 115 2. „Einen Anfang finden" Neue Ansätze in der Deutschlandpolitik: vom - Stoph-Brief bis zur Deutschlandrede Kiesingers am 17. Juni 1967. 141

IV. Brandts erste vorsichtige Schritte in Richtung Ostpolitik und seine aussichtslose Position gegenüber Kiesinger . 169 1. Kiesinger und Brandt Versöhnung und Distanz zwischen dem Parteigenossen und dem- Emigranten. 169 2. Kiesingers Kampf gegen die Politik des Auswärtigen Amtes. 178

V. Zäsur im März/April 1968: Die SPD zwingt den Kanzler noch stärker an die Seite seiner Fraktion . 199

1. Die Abkehr der SPD vom Mehrheitswahlrecht Kiesinger spielt die Bedeutung der Frage herunter.- 199 2. Vertrauensbruch oder legitimer Alleingang? Die SPD bahnt sich den Weg nach Ost-Berlin über den Brenner . 212 Inhalt VI. Kurze Rückkehr in den Kalten Krieg Kleine Berlin-Krise und

- Ende des Prager Frühlings . 225

1. Kiesingers geschickte Isolierungspolitik gegenüber der DDR . 225 2. Kiesinger verhindert die Unterzeichnung des Atomsperrvertrages durch die Bundesrepublik . 235

VII. Die Außenpolitik der Großen Koalition unter dem Druck der innenpolitischen Ereignisse. 265 1. Die innerparteiliche Entwicklung in der CDU/CSU: Kiesinger und die Stimmung in der Union gegen die Fortsetzung der Großen Koalition . . 265 2. Der Anfang vom Ende: Kiesinger verläßt die Grundlage des Bündnisses mit Wehner Die Chance des Durchbruchs in der Ostpolitik im Frühjahr 1969.- 284 3. Zwischen Minimalkonsens und Parteiegoismus Kambodscha und andere

-

Krisenfälle in der letzten Phase der Koalition . 310

Schluß . 331

Quellen und Literatur . 341

I. Ungedruckte Quellen . 341 II. Gedruckte Quellen . 343

III. Literatur . 349

Abkürzungen . 359 Personenregister 363 Vorwort

Kurt Georg Kiesinger erlebte den Höhepunkt seiner Popularität während seiner Zeit als Bundeskanzler. Schon im ersten Jahr erreichte er einen Beliebtheitsgrad in öffentlichen Umfragen, wie ihn nur in seinen besten Zeiten aufweisen konnte. Al- lein während seiner Amtszeit erschienen zwei Biographien. Kiesinger förderte noch zu- sätzlich das Interesse an seiner Person. Er sorgte dafür, daß das Bundespresseamt seine autobiographische Schrift Schwäbische Kindheit an Redaktionen und Verlage verteilte. Nach seiner Kanzlerzeit, als man ihm immer weniger Aufmerksamkeit schenkte, hat er sich um einen angemessenen Platz in der Geschichtsschreibung bemüht. Aber über viele Jahre schien die Historiographie ihn nicht zu beachten. Erst 1984 fand er sich und seine Rolle in einem Buch Klaus Hildebrands1 richtig beschrieben. Als der Verfasser Kiesin- ger im Herbst 1985 kurz sprach, meinte dieser zufrieden, man müsse eben nur alt genug werden, dann stelle sich die rechte geschichtliche Würdigung schon noch ein. Aber auch Hildebrands Buch konnte nicht verschleiern, daß die Amtszeit Kiesingers in der Geschichte der Bundesrepublik nur ein Zwischenspiel war. Schon der Titel macht dies deutlich: Von Erhard zur Großen Koalition 1963 -1969. Anders als ist es Kiesinger versagt geblieben, daß sein Name die Amtsperiode einer Regierung prägt. Die Regierungskoalition und nicht der Kanzler blieb in der Erinnerung haften. Marion Gräfin Dönhoff hat daher die Große Koalition einfach unter die Ostpolitik Willy Brandts eingeordnet2. Das Bündnis der beiden großen Parteien sei in gewisser Weise eine Vor- bereitung auf die Ostpolitik gewesen, und sie habe es aus diesem Grund unter der fol- genden Regierung abgehandelt, meint die Publizistin. Eine Umfrage im geeinten Deutschland 1990 ergab, daß gerade 2 Prozent der Westdeutschen Kiesinger für den be- sten Bundeskanzler hielten; in den neuen Bundesländern fiel offenbar niemandem sein Name ein3. Zuletzt hat man Kiesinger den „vergessenen Kanzler" genannt4. Als Grund dafür verweist Michael Kraft, neben der Kürze der Regierungszeit von zwei- dreiviertel Jahren, auf das Fehlen einer nachträglichen Lobby für die Große Koalition: Alle Parteien hätten sie im Rückblick negativ beurteilt oder ihre Bedeutung nur gering eingeschätzt. Die Sozialdemokraten hätten das Bündnis nur als Vorspiel zur Verwirkli- chung ihrer Ziele in der Außen- und Innenpolitik betrachtet. Die FDP habe schließlich das Zusammengehen der beiden großen Parteien von Beginn an mit großer Skepsis be- trachtet. Sie habe wegen der drohenden Einführung des Mehrheitswahlrechts um ihr Über- leben kämpfen müssen. Aber die wenig guten Erinnerungen der Parteien an diese Zeit reichen als Begründung für den blassen Eindruck noch nicht aus, den Kiesinger hinterlassen hat. Wie könnte sonst das hohe Ansehen etwa Helmut Schmidts erklärt werden, dessen Regierungskoalition in der Spätphase besonders umstritten war? Offenbar wird die starke und souveräne Per- sönlichkeit Schmidts weit höher eingeschätzt als die tatsächlich vorweisbaren politischen Ergebnisse seiner Regierungszeit. Was Kiesinger fehlte, scheint daher auch jene bedin- gungslose Hingabe an sein Amt gewesen zu sein, die viele bei Schmidt so nachhaltig be-

' Vgl. Hildebrand, Erhard. 2 Vgl. Dönhoff, Von Gestern. 3 Vgl. Spiegel-Spezial, 1991, S. 13 (Das Profil der Deutschen); Adenauer erhielt im Westen 37, im Osten 11 %; Erhard 6 bzw. 4 %; Brandt 12 bzw. 23 %; Schmidt 32 bzw. 37 %; Kohl 10 bzw. 20 %. 4 Kraft, Der vergessene Kanzler, S. 83 ff. 8 Vorwort eindruckt hat. Als politischer Intellektueller, als Homme de lettres, schien Kiesinger bis- weilen zu distanziert vom Tagesgeschäft, und noch schlimmer: Er erweckte im Laufe der Zeit immer stärker den Eindruck, als wüchsen ihm die Probleme der Koalition über den Kopf. Da half es auch nicht, daß der Schwabe bei seinem Amtsantritt den Ruf eines klu- gen Außenpolitikers, glänzenden Debattenredners und souveränen Landesvaters von Ba- den-Württemberg genoß. Zu seinem Nachteil wirkte sich außerdem aus, daß das Kabinett mit kompetenten und hochkarätigen Politikern besetzt war und die Fraktionsvorsitzenden die öffentliche Auf- merksamkeit auf sich zu lenken verstanden. Hier waren alle Politiker versammelt, wel- che die politische Geschichte der Bundesrepublik bis in die achtziger Jahre hinein prä- gen sollten: , , , , , Franz Josef Strauß und . Dennoch kann sich die außenpoliti- sche Bilanz Kiesingers sehen lassen. In der Großen Koalition stand sein ostpolitisches Konzept dem deutschlandpolitischen Wehners gegenüber: Wehner verfolgte die Annäherung an das SED-Regime, Kiesinger setzte auf ein verbessertes Verhältnis zur Sowjetunion. Wehner nicht Brandt, der seine Ostpolitik erst noch entwickeln mußte - war daher der eigentliche Kontrahent Kiesingers in der Großen Koalition. Die Wie- dervereinigung- Deutschlands im Oktober 1990 hat aber Kiesingers Zielsetzung nachträglich recht gegeben. Dies zu zeigen, ist das Anliegen der Dissertation. Die Studie entstand auf Anregung von Kiesinger selbst. Anfang der 1980er Jahre über- ließ er dem Lehrstuhl Baring die Einsicht in die in seinem persönlichen Büro in Bonn untergebrachten Materialien. Nach der Wahlniederlage 1969 waren diese in aller Eile zu- sammengesucht und im Bundestagsbüro untergebracht worden. Bis zum Tode Kiesin- gers archivierte Reinhard Schmoeckel das Material und betreute die Übergabe an die Kon- rad-Adenauer-Stiftung. Ihm bin ich für seine zahlreichen Hinweise und seine kenntnis- reiche Unterstützung sehr dankbar. Kiesinger hat zwar weder Tagebuchnotizen hinterlassen, noch ist er in seinen Memoiren auf die Zeit der Großen Koalition eingegangen. Dennoch lassen sich über die vielen Ar- tikel, Reden, Interviews und Hintergrundgespräche die Entstehung und Vervollkomm- nung seiner politischen Philosophie beinahe lückenlos verfolgen. Als besonders wert- voll hat sich seine private Korrespondenz erwiesen. Kiesinger war kein fleißiger Briefe- schreiber, aber die vielen von ihm korrigierten Entwürfe und Diktate, die übrigens häu- fig nicht abgesandt wurden, geben einen Einblick in seine Denkweise und sind für den zeitgeschichtlichen Hintergrund seiner Regierungszeit unentbehrlich. Da mir der direkte Zugang zu den Kabinettsprotokollen und den Protokollen des Kreßbronner Kreises ver- sagt blieb, ist die Korrespondenz die wichtigste Quelle dieser Arbeit. Daneben haben vor allem die Aussagen von Zeitzeugen manches erhellt oder gar in einem anderen Licht erscheinen lassen. Diese Gespräche waren für mich die Höhepunkte meiner wissenschaftlichen Arbeit. Daher danke ich allen, die sich dafür Zeit nahmen, sehr herzlich: Detlev Ahlers, Hanns Dietrich Ahrens, , Jürgen Arndt, , Rainer Barzel, Hermann von Berg, , Günter Diehl, Klaus Rudolf Dre- her, Theodor Eschenburg, Wolfgang Gaebler, Wilhelm Grewe, Sebastian Haffner, , Hans von Herwarth, Peter Kiesinger, Hermann Kreutzer, Georg von Lilienfeld, Karl-Ulrich Majer, , Hans Neusei, Horst Osterheld, Manfred Rexin, Her- mann Rudolph, Otto Rundel, Josef Rust, Klaus H. Scheufeien, Reinhard Schmoeckel, Berndt von Staden, Gerd Stamp, Richard Stücklen, Heinz Weber und Cecilia Wentzel (das „Fröschle"). Der wichtigste Förderer meiner Dissertation aber war Arnulf Baring. Dies nicht nur, weil er mir als Lehrer in all den Jahren mit seinem freundschaftlichen Rat hilfreich zur Vorwort 9

Seite stand. Er öffnete zudem den Zugang zu Quellen, vermittelte den Kontakt zu Zeit- zeugen und hat auch entscheidenden Anteil an Form und Inhalt der Arbeit, deren Ent- wicklung er aus einer wohlwollenden und wohltuenden Distanz begleitete. Wolfram „Till" Ritschi hat die Materialien zuerst ausgewertet und sie mir freundlicherweise überlassen. Eva Birkenstock, Matthias Klause, Jacques Schuster und Angelika Tramitz haben die Ar- beit sorgfältig gelesen und nützliche Vorschläge zur Textgestaltung unterbreitet. Großen Anteil an der Dissertation hat meine Frau Alessandra. Sie half mir, Zeiten von Mut- und Ratlosigkeit zu überwinden. Nicht zuletzt ist die Arbeit auch ein Verdienst meiner Eltern, ihrer liebevollen Unterstützung über die Jahre hinweg; sie ist ihnen ge- widmet.

Berlin, August 1996 Dirk Kroegel Einleitung

Mit der Großen Koalition gelangten zwei Politiker an die Macht, die erstmals eine ak- tive Wiedervereinigungspolitik in den Mittelpunkt deutscher Außenpolitik rückten. Kurt Georg Kiesinger und Herbert Wehner folgten einem Programm, das sie unabhängig von- einander in den fünfziger Jahren entwickelt hatten und das im Widerspruch zur außen- politischen Orientierung der Adenauer-Ära stand. Die beiden Gründungsväter der Großen Koalition strebten nicht die unauflösliche Integration des deutschen Weststaates in den Westen an, wie Adenauer sie wollte'. Der Schwabe Kiesinger setzte sich, ebenso wie der Sachse Wehner, die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates zum Ziel. Wehner hatte beispielsweise im Herbst 1966 ganz im Sinne Kiesingers erklärt, für die Deutschen wie für die Europäer sei es am besten, wenn die Deutschen in einem vereinigten demo- kratischen Staat leben könnten2. Doch wie war dieses Ziel zu erreichen? Beide erkannten schon Mitte der fünfziger Jahre, daß die Wiedervereinigung nur in einer europäischen Gesamtperspektive zu ver- wirklichen sei und daß zur Aufhebung der Blöcke, in die Europa geteilt war, das gegen- seitige Mißtrauen zwischen den Deutschen und den Sowjets abgetragen werden müßte. Ein einiges Europa hatte auch Konrad Adenauer propagiert. Aber dieser wollte Deutschland vorher so fest wie möglich an den Westen binden. Deutschland dürfe nie- mals wieder Kurs nach Osten nehmen oder zwischen Ost und West pendeln das war - die Maxime des ersten Bundeskanzlers. Kiesinger und Wehner hielten die bestehenden vertraglichen Bindungen der Bundesrepublik, die Mitgliedschaft in der Europäischen Ge- meinschaft und in der Nato, bereits für ausreichend. Sie strebten daher direkt die Eini- gung Europas durch den Ausgleich mit dem Osten an. Die beiden Führer der Koalition räumten erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik diesem Ziel Priorität ein. Das kam nicht überraschend. Schon am 29. Juni 1956 hatte Kiesinger als außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im festgestellt, wenn die Bedrohung Westeuro- pas durch die Sowjetunion wegfalle, könne das westliche Verteidigungsbündnis sogar aufgegeben werden. „Wir hängen an der Nato nicht als einem Dogma", sagte er damals3. Kiesingers Gedanken sind allerdings erst einige Monate später in ein Konzept ge- zwungen worden, nach der Niederschlagung des Budapester Aufstandes vom Novem- ber 1956 durch die Rote Armee. Im Dezember schlug er vor, der Westen solle der So- wjetunion ihren Einflußbereich in Osteuropa garantieren, falls diese sich bereit erkläre, die zu stärkerer Unabhängigkeit drängende Entwicklung in den osteuropäischen Staa- ten hinzunehmen. Moskau solle die Liberalisierungsbemühungen der Osteuropäer dul- den, falls sie nicht gegen seine „Lebensinteressen" verstießen. Das war inmitten des Kal- ten Krieges eine unerhörte Erklärung, die allerdings die Notwendigkeit eines Zusam- menlebens von Ost und West ansprach. Und Kiesinger machte gleich im Anschluß klar, worauf ein solches Zugeständnis zielte: „Dabei gewänne auch das deutsche Problem ei- nen neuen Aspekt", schrieb er. Es würde endlich aus dem Teufelszirkel der „Wieder- vereinigung ohne Sicherheit" und der „Sicherheit ohne Wiedervereinigung" mit der Aussicht auf eine Lösung entlassen, die beide unverzichtbaren Interessen realistisch

1 Vgl. Baring, Kanzlerdemokratie, S. 57 ff.; Besson, Außenpolitik, S. 56 ff.; Doering-Manteuffel, Ära Adenauer, S. 37 f.; Schwarz, Ära Adenauer 1949-1957, S. 55 ff.; ders., Aufstieg, S. 549 ff. 2 Vgl. Gaus, Staatserhaltende Opposition, S. 79 f. 3 Kiesinger, Stationen, S. 20. 12 Einleitung verbinde4. Ein solches Abkommen sei aber nur in einer umfassenden, globalen Verein- barung denkbar. Auch über die Ausgestaltung eines solchen Abkommens zwischen der Sowjetunion und den westlichen Mächten, insbesondere aber der Bundesrepublik, entwickelte Kie- singer in dieser Zeit seine Ideen. Als Bundeskanzler brachte er ein knappes Jahrzehnt später Vorschläge ein, die er bereits damals ausgearbeitet hatte. Schon 1957 hatte er bei- spielsweise erklärt, man werde mit einem „freien" Polen über die deutschen Grenzen von 1937 verhandeln können. Es war Kiesinger offenbar klar, daß die Deutschen die Oder-Neiße-Linie als Grenze anerkennen mußten, wenn die Sowjets ihrerseits den öst- lichen Teil Deutschlands aufgeben sollten. Deutschland mußte seinen Teil einbringen, wenn der angestrebte Handel eine Chance haben sollte. In seiner Regierungserklärung vom 12. Dezember 1966 nahm er diesen Gedanken auf und stellte für einen Friedens- vertrag, den ein geeintes Deutschland mit den Siegermächten abschließen würde, die An- erkennung der Oder-Neiße-Linie als Grenze in Aussicht. Ebenso unterstrich der da- malige außenpolitische Sprecher seiner Partei immer wieder, die Bundesregierung sei zum Austausch von Gewaltverzichtsverträgen bereit5. Auch Wehner schöpfte als Minister für gesamtdeutsche Fragen aus dem Vorrat an Ideen, die er bereits einige Jahre zuvor als Vorschläge zu lancieren versucht hatte. Die Auffor- derung an die Bundesregierung aus dem Jahr 1958, Kontakte zu Behörden der DDR und zur SED zu knüpfen, gehörte beispielsweise dazu. Regelungen seien nicht zu umgehen, in welche die Machthaber der Zone einbezogen werden müßten, meinte er damals und blieb bei dieser Meinung. Wehner verstand noch in stärkerem Maße als Kiesinger die Bundesrepublik als ein Provisorium. Seinen politischen Kampf widmete er seit den fünf- ziger Jahren der Überwindung von Adenauers „Weststaat", als die der stellvertretende SPD-Vorsitzende und viele seiner Genossen die Bundesrepublik betrachteten. Wehner wurde sich im Laufe der Zeit immer stärker bewußt: Nur die Sozialdemokratie und eine sozialdemokratisch geführte Bundesrepublik würden in der Lage sein, die deutsche Ein- heit herbeizuführen. Er stellte sich vor, daß SED und SPD in einem wiedervereinigten Deutschland um die Regierungsmacht ringen würden, wobei die SPD die Oberhand ge- winnen würde. Man mußte also die SED davon überzeugen, beide Staaten in einem de- mokratischen System zu vereinigen. Unablässig suchte er das Mißtrauen der SED-Führung abzubauen, drängte er daher die Bundesregierung, Gespräche anzubieten und sogar Ver- handlungen einzuleiten. Mit Kiesinger und Wehner kamen 1966 zwei prominente Politiker an die Macht, für die die Wiedervereinigung stets an erster Stelle gestanden hat und die jetzt die Zeit für reif hielten, ihre in den fünfziger Jahren entwickelten politischen Ideen umzusetzen. Die- sem Ziel ordneten sie alle anderen außenpolitischen Ziele unter. So gesehen handelt es sich um die Übernahme der Macht durch Kräfte, die auf die Wiederherstellung der na- tionalen Identität setzten, wenn auch über die endgültige politische und geographische Form dieses Deutschlands unterschiedliche Vorstellungen herrschten. Kiesinger stellte sich dieses geeinte Deutschland unter einer bürgerlich, Wehner unter einer sozialdemo- kratisch dominierten Regierung vor. Für die Geschichte der Bundesrepublik war es neu, 4 Kiesinger, Außenpolitischer Ausblick. 5 Vgl. Kiesinger, Jahre, S. 507. Siehe auch Baring, Sehr verehrter Herr Bundeskanzler, S. 269; be- reits im September 1956 hatte die Bundesregierung ihre Bereitschaft erklärt, den gegenüber den westlichen Völkern ausgesprochenen Gewaltverzicht auch auf die östlichen Nachbarländer und die Sowjetunion zu übertragen. Im Juli 1959 wollte Außenminister Brentano während der Gen- fer Außenministerkonferenz gegenüber Polen und der Tschechoslowakei den Gewaltverzichts- austausch vorschlagen. Doch das Kabinett verweigerte die Zustimmung. Einleitung 13 daß diese Führung mit Entschlossenheit das nationale Ziel an die oberste Stelle des Re- gierungsprogramms setzte. Die früheren Bundesregierungen unter Adenauer und Er- hard hatten zwar von der Einheit Europas gesprochen, sich aber darauf eingerichtet, daß der Kontinent in Ost und West geteilt bleiben würde. Gesamtdeutschland müsse fest im Westen verankert sein, hieß es in der Adenauer-Zeit. Kiesinger dagegen erstrebte, zu- sammen mit Wehner, erstmals ein gemeinsames „west-östliches" Europa6. Es war eine desillusionierte wie optimistische Sicht, die den Gedanken einer „eu- ropäischen Friedensordnung" den Begriff hatte die Sowjetunion 1956 eingeführt zum - - Regierungsprogramm erhob. Desillusioniert war sie, weil man sich eingestehen mußte, daß kein anderer Weg zur Wiedervereinigung führen würde als die Überwindung der europäischen Spaltung; optimistisch schien sie, weil man glaubte, den Prozeß aktiv be- einflussen zu können, und sich die Einigung in einem überschaubaren zeitlichen Rah- men vorstellte. Was die beiden Politiker von ihren jeweiligen Vorgängern unterschied, war die Hoffnung, die sie in die Errichtung dieser europäischen Friedensordnung setz- ten. Nur in einem Europa ohne starr gegeneinandergerichtete Verteidigungsbündnisse, ohne trennende Grenzen, ohne aggressive politische Absichten würde es auch Platz für ein geeintes Deutschland geben. Dieser Weg, so räumte zwar Kiesinger am 17. Juni 1967 in einer seiner besten, aber wenig beachteten Rede ein, werde vielleicht nicht ans ersehnte Ziel führen. Die Möglichkeit des Scheiterns könne er nicht ausschließen, aber „es ist der einzige Weg, der uns die Chance des Erfolges verspricht"7. Die vorliegende Studie rückt das Bündnis zwischen Kiesinger und Wehner vor dem Hintergrund ihrer politischen Absichten in den Mittelpunkt. Es war bestimmend für Auf- bau und Entwicklung der Großen Koalition und zugleich für die Formung der Deutsch- land- und Ostpolitik. Es soll gezeigt werden, daß bei der Entscheidungsfindung in der Regierungskoalition Kiesinger und Wehner als oberste Instanz fungierten, aber nicht al- lein im Interesse des Erhalts der Koalition zusammenarbeiteten. Das Schicksal der Großen Koalition wurde vor allem durch die inhaltliche Übereinstimmung und die Verständi- gung über den deutschlandpolitischen Kurs der beiden entschieden. Das Bündnis der Protagonisten der Koalition ruhte also nicht allein auf machtpolitischen Erwägungen, sondern auch auf einer Übereinkunft ihrer Ziele. Daher stehen sowohl das persönliche Verhältnis als auch die Anschauungen und Theorien, die Kiesinger und Wehner vertra- ten, im Zentrum der Betrachtung. Das ist ungewöhnlich, denn die enge Zusammenar- beit der beiden wurde bislang ausschließlich unter dem Aspekt der notwendigen Ein- richtung eines sozialdemokratischen Ansprechpartners für den Unionskanzler untersucht. So hat Arnulf Baring etwa behauptet, da Brandt nicht der Partner Kiesingers sein wollte, hätte Wehner diese Rolle übernehmen müssen. „Wenn Brandt nun einmal Kiesinger nicht leiden mochte, das auch offen zeigte, was ihm Wehner übelnahm, weil Brandt damit al- les aufs Spiel setzte, dann mußte eben er, Wehner, die Koalition zusammenhalten [...]."* Hauptmotive für Wehner sind nach Barings Auffassung die unbedingte Loyalität zu sei- ner Partei und der Wille, die SPD an der Regierung zu halten. Ähnlich haben Klaus Hilde- brand sowie Reinhard Schmoeckel und Bruno Kaiser das Motiv Wehners für das enge politische Verhältnis zu Kiesinger eingeschätzt. Für Hildebrand hat sich Kiesinger vor allem an Wehner gehalten, weil er in Wehner die „treibende Kraft" in der SPD für eine Große Koalition sah9. Wehner wiederum habe allein um der Regierungsfähigkeit seiner

6 Vgl. Garton Ash, Im Namen Europas, S. 85. 7 Oberndörfer (Hrsg.), Große Koalition, S. 79. 8 Baring, Machtwechsel, S. 201. 9 Hildebrand, Erhard, S. 244 und 250. 14 Einleitung Partei willen mit Kiesinger die Koalition verabredet. Ein anderes Bündnis erschien dem Architekten der Großen Koalition zu riskant. Schmoeckel und Kaiser schreiben, Weh- ner habe aus „taktisch-strategischen Überlegungen" für seine Partei die Große Koali- tion angestrebt. Die tiefe Loyalität gegenüber der SPD, aber auch gegenüber den Ver- einbarungen mit dem Koalitionspartner hätten ihn zur „verläßlichsten Stütze der Großen Koalition auf Seiten der SPD werden" lassen10. Die vorliegende Studie fügt einen weiteren Aspekt hinzu. Nicht nur der Wille verband die Gründungsväter, eine gemeinsame Regierung zu lenken und zu erhalten, sondern das Bündnis fußte zudem auf einem Übereinkommen in der Ost- und vor allem in der Deutschlandpolitik. Dieses Übereinkommen hatte eine überragende Bedeutung. Die Stu- die zeigt, daß nach einem Bruch zwischen beiden Führungspersönlichkeiten, der im Früh- jahr 1969 über die politische Zielsetzung entstand, Wehners Engagement für die Große Koalition spürbar erlahmte und er sich ab diesem Zeitpunkt enttäuscht und kritisch über Kiesinger zu äußern begann. Als Brandt im September 1969 entschlossen auf die sozial- liberale Koalition zusteuerte, hatte Wehner dem nichts entgegenzusetzen. So folgte dem Ende des gemeinsamen politischen Zielkurses auch das Ende des gemeinsamen Regie- rungsbündnisses.

Die Große Koalition entschied darüber, wer die Ostpolitik durchführte Ein weiteres Interesse gilt der Einschätzung und Bilanz von Kiesingers Außenpolitik. Die Historiographie hat hier frühzeitig ein eindeutiges Urteil gesprochen. Es wurde ge- prägt von der Einschätzung Brandts, der großzügig über Kiesinger urteilte11, und Wis- senschaftlern wie Waldemar Besson12, die die neue Ostpolitik für richtig und vernünftig hielten. Sie hoben als bleibende Leistung Kiesingers hervor, daß er die sozialdemokrati- sche Ostpolitik in Grenzen unterstützte und selbst eine neue Politik nach Osten ge- - sucht habe. Allerdings- betonen und kritisieren diese Autoren zugleich die Unbeweglichkeit der starken konservativen Kräfte in der Union, die sich einer zukunftsweisenden Poli- tik verschlossen hätten13. Daran sei Kiesinger schließlich gescheitert. Diese Sicht ist im- mer wieder aufgegriffen, wiederholt und variiert worden. Die eigentliche Crux Kiesin- gers, behauptet etwa Thilo Vogelsang, habe in seiner Wahl zum Vorsitzenden der CDU bestanden. So habe Kiesinger ab dem Frühjahr 1967 noch stärker Rücksicht auf die in der Außenpolitik auf den „angestammten Positionen beharrenden Kräfte seiner Partei" nehmen müssen14. Der deutsch-amerikanische Historiker Wolfram Hanrieder verweist auf die konservativen Kräfte in Kiesingers Partei, die diesen in seinem ostpolitischen En- gagement gebremst hätten15, und Baring betont, daß im Laufe der Koalition das „Blei-

10 Schmoeckel/Kaiser, Vergessene Regierung, S. 65. 11 Vgl. Brandt, Begegnungen, S. 183; Kiesinger habe die Normalisierung des Verhältnisses zu den Nachbarn im Osten gewollt, nur über die Wahl der Mittel und Wege zu einer realistischen Ost- politik habe man gestritten, meint Brandt in seinen Memoiren. Dies jedoch nicht nur, weil es Kie- singer schwerer geworden sei, sich von den „Formeln und ideologischen Verengungen der ersten Nachkriegszeit" zu lösen; dieser habe sich, was schlimmer gewesen sei, vor „verdächtigenden Ein- flüsterungen nicht zu schützen" gewußt, an denen auch der Parlamentarische Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, beteiligt gewesen sei. 12 Vgl. Besson, Außenpolitik. 13 Vgl. ebenda, S. 429 und 407. Besson meint, manche Gruppen in der CDU hätten den Führungs- anspruch Kiesingers in Frage gestellt. 14 Vogelsang, Das geteilte Deutschland, S. 340. 15 Vgl. Hanrieder, Die stabile Krise, S. 184 f. Einleitung 15 gewicht der Hinterbänkler" in der Fraktion „immer stärker spürbar" gewesen sei16. Hilde- brand hat erstmals ein differenziertes Bild gezeichnet und die besondere Lage Kiesin- gers als Vermittler und Konsenssuchender gewürdigt. Der Regierungschef der Großen Koalition habe beispielsweise in der Deutschlandpolitik auf einem schmalen Grat zwi- schen den Parteien wandeln müssen, und die Komplexität dieser Aufgabe „nicht die oft monierte Entschlußlosigkeit" sei für das Zögern und Lavieren Kiesingers- verant- wortlich gewesen17. Dennoch hat -auch Hildebrand die Schwierigkeiten mit der Union nicht verschwiegen. Christian Hacke hat Kiesingers Dilemma darin gesehen, daß er zwi- schen zwei Parteien agieren mußte. Die Bremser und Zweifler in der Union hätten den Optimisten in der SPD gegenübergestanden. Die Folge sei gewesen, daß der Bundes- kanzler mehr und mehr in Zweideutigkeiten Zuflucht gesucht habe18. Hacke faßt Kie- singers geschichtliche Bedeutung aber so zusammen: „Kiesinger war der erste Kanzler der CDU, der mit Blick nach Osten erkannte, daß schonungslose Neueinschätzung not tat. Erst durch ihn, zugegebenermaßen auf Druck der SPD, wurde der Weg frei für eine Politik der kleinen Schritte. Die Unionsparteien verdanken Kiesinger das Bewußtsein für eine eigene entspannungspolitische Tradition."19 Eine radikal andere Sichtweise haben nur der langjährige Leiter des Büros des Alt- bundeskanzlers, Schmoeckel, und Kaiser in der jüngsten Betrachtung der Großen Ko- alition vertreten. Beide Autoren billigen Kiesinger ausdrücklich einen eigenen ostpoli- tischen Beitrag zu. Kiesinger wird als unabhängig handelnder Außenpolitiker dargestellt. Der Bundeskanzler habe es sich nicht nehmen lassen, in der Ostpolitik „immer wieder höchst aktiv werbend, präzisierend, aber auch zur Vorsicht und zur Geduld mahnend einzugreifen". Die Behauptung, die neue Ostpolitik sei in der Großen Koalition gegen den Widerstand der Union von der SPD durchgesetzt worden, sei daher eine „wahr- heitswidrige Legende"20. Die vorliegende Arbeit will zeigen, daß in der Großen Koalition tatsächlich die Frage weniger im Vordergrund stand, wie weit Kiesingers Bereitschaft ging, die sozialdemo- kratische Ostpolitik zu unterstützen und mit zu verfolgen. Vielmehr lagen zwei Sicht- weisen mit gleicher Zielsetzung im Wettstreit miteinander. Die Große Koalition entschied nicht darüber, ob überhaupt eine ostpolitische Initiative ergriffen werden sollte. Die Parteiführungen waren sich darüber einig, daß die Politik nach Osten erneuert und er- weitert werden mußte. Am Ende ging es nur darum, wer unter den Parteien diese neue Ostpolitik nach eigenen Maßstäben und Prioritäten umsetzen würde.

Die Ostpolitik Brandts stand in der Großen Koalition nicht zur Debatte Egon Bahr, der Konstrukteur von Brandts Neuer Ostpolitik, hat im Rückblick festge- stellt, daß die Grundlagen in der Zeit der Großen Koalition entwickelt wurden21. Nach dem Ende der Adenauer-Ära habe es eine Neuorientierung geben müssen. In der Ge- schichtsschreibung ist diese Sicht weithin akzeptiert worden, gemeinsam mit der Erklärung Richard Löwenthals22, daß vor allem die Westmächte die Bundesregierung dazu gedrängt

16 Baring, Machtwechsel, S. 200. 17 Hildebrand, Erhard, S. 339. 18 Vgl. Hacke, Weltmacht wider Willen, S. 152. 19 Ebenda, S. 155. 20 Schmoeckel/Kaiser, Vergessene Regierung, S. 168. 21 Vgl. Bahr, Gespräch mit dem Verfasser, 4.7.1988; siehe auch Bender, Neue Ostpolitik, S. 135. 22 Vgl. Löwenthal, Vom Kalten Krieg, S. 677 f. 16 Einleitung hätten. Diese These beruhte auf der Feststellung, daß sich die Bundesrepublik mit der Sowjetunion in einem Konflikt befunden habe, der sich aus der ungeklärten Hinterlas- senschaft des Zweiten Weltkrieges ergab. Anlaß seien die deutschen Forderungen nach Wiedervereinigung und Revision der Grenzen im Osten gewesen. Der Kalte Krieg zwi- schen den Supermächten sei dagegen auf andere Wurzeln zurückzuführen, die weiter zurück, bis zur Oktoberrevolution 1917, reichten. Während die Bundesrepublik im Kal- ten Krieg die Unterstützung der Westmächte besaß, so Löwenthal, habe sich Bonn bei seinem Sonderkonflikt mit Moskau immer weniger auf die Bündnispartner verlassen kön- nen. Je stärker der Wille dieser Staaten zur Entspannungspolitik gewesen sei, desto stär- ker hätten diese auch die Bundesregierung auf diesen Kurs gezwungen. Für die Bun- desrepublik habe am Ende die Isolierung von ihren westlichen Alliierten gedroht, falls sie sich der Entspannung noch länger verschlossen hätte. Der Kern von Löwenthals These liegt in der Behauptung, daß die Ostpolitik von außen angestoßen worden sei, und zwar nicht durch die Sowjetunion, sondern im Gegenteil von den eigenen Bündnispartnern. Sie seien nicht länger bereit gewesen, die „revanchi- stischen" Ziele der Bundesrepublik zu unterstützen. Die Bündnismächte, vor allem Frank- reich und die Vereinigten Staaten, seien in ihren ostpolitischen Handlungen nicht von irgendwelchen Hemmnissen behindert worden. Charles de Gaulle hatte die Oder-Neiße- Linie schon 1944 anerkannt, und auch der amerikanische Präsident Lyndon B.Johnson habe im Oktober 1966 erklärt, daß die USA die Integrität der Grenzen respektierten - gemeint war die Oder-Neiße-Grenze. Aus der Gefahr einer Isolierung habe sich so Löwenthal die Notwendigkeit ergeben, diesen „Sonderkonflikt" mit der Sowjetunion- - und Polen „abzuschleifen", d. h. den Status in Europa zu akzeptieren, die Grenzen im Osten und zur DDR anzuerkennen. Kiesinger hat diese These abgelehnt. Er gab zwar zu, daß das Interesse der Westmächte, insbesondere der USA, am deutschen Problem einfach „einzutrocknen" drohte23, aber dies allein sei mit der Diskussion um eine mögliche Isolation der Bundesrepublik im We- sten gemeint gewesen. „Eine andere Isolierung ist sehr schwer denkbar", sagte er wört- lich, „denn daß man uns als Bündnispartner brauchte, daß man auf uns angewiesen war, daß wir andererseits auf das Bündnis angewiesen waren, ist ja selbstverständlich." Kie- singer widerspricht also der Behauptung, durch einen angeblichen Druck der westlichen Partner auf die Bundesrepublik sei die Notwendigkeit einer neuen ostpolitischen Ori- entierung und Verständigung entstanden. Dazu seien die Verbündeten zu sehr vonein- ander abhängig gewesen. Kiesinger dreht sogar die These um und erklärt, man habe eine neue Ostpolitik führen müssen, um sich die Unterstützung der westlichen Partner für die deutschen Anliegen weiter zu erhalten. Diese Studie will zeigen, daß die spätere Ost- politik Brandts in der Großen Koalition nicht aufgrund eines Drucks der westlichen Bünd- nispartner entstanden ist, sondern sich aus einzelnen Komponenten zusammensetzte, die in der Großen Koalition zunächst an der Kooperationsunwilligkeit der Sowjetunion schei- terten. Eine Brandtsche Politik hat es während der Großen Koalition noch nicht gege- ben. Sie kristallisierte sich aus einzelnen Forderungen und Initiativen heraus und formte sich erst später zu einem schlüssigen Konzept.

23 AdKASt, Kiesinger 1-226, F/3., A 322, Gespräch mit Löwe, 31.1.1978, S. 21; dort auch das fol- gende Zitat. Günter Diehl (Gespräch mit dem Verfasser, 29.11.1989), der Leiter des Bundespresse- und Informationsamtes, behauptet, daß die Gefahr einer Isolierung der Bundesrepublik im We- sten nicht bestanden habe. Die Bundesregierung habe die vertraglichen Verpflichtungen der West- mächte gekannt und sich auf sie berufen. Einleitung 17

In der Zeit der Koalition standen sich vor allem zwei ostpolitische Optionen gegen- über, ohne daß über sie öffentlich diskutiert oder gestritten worden wäre. Die eine ver- trat Kiesinger, die andere Wehner. Während der Kanzler die Annäherung an die So- wjetunion suchte, von Kontakten zur DDR dagegen wenig hielt, setzte sich der Sozial- demokrat vor allem für Gespräche und Verhandlungen mit den Führern der DDR ein. Vor diesem Hintergrund war absehbar, daß gemeinsames ost- und deutschlandpoliti- sches Handeln nur eine beschränkte Zeit lang möglich sein würde. Auf Dauer ließ sich dieser Zielkonflikt nicht überspielen und verbergen. Die Geschichte der Großen Koali- tion ist daher vor allem auch die Geschichte des vergeblichen Ringens zwischen Kiesin- ger und Wehner um den Kurs der deutschen Ostpolitik. Das Scheitern besaß nicht nur außenpolitische Konsequenzen: Das Ende der Großen Koalition war mit der Entzwei- ung seiner Protagonisten über den deutschlandpolitischen Kurs nicht mehr aufzuhalten.