„Gotis lob sol sein altzeit in meinem munde“ – Luthers Sprachschaffen und aktuelle Fragen seiner Erforschung

Von Rudolf Bentzinger,

Luthers deutschem Sprachschaffen, das zum großen Teil theologisch motiviert war (das Zitat aus dem 34 . Psalm steht an auffallender Stelle in seinem Sermon „Von den guten Werken“, WA 6, 218, 22), als einem Lieblingsobjekt der Ger- manistik sind etwa 5000 Publikationen gewidmet . Schon die „Germanistische Luther-Bibliographie“ von Herbert Wolf verzeichnete 4003 Titel von 1880 bis 1980,1 und in seiner Anthologie „Luthers Deutsch“ mit 28 Aufsätzen nam- hafter Germanisten von 1883 bis 1990, die im Jahre 1996 erschien, sind über 700 Titel aus den Jahren 1846–1990 angegeben .2 Ein Großteil stammt aus der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts . Eine Schubwirkung übten das Lutherjahr 19833 und die Luther-Dekade 2008–20174 aus . Trotzdem soll im Folgenden 1 Vgl. Herbert Wolf: Germanistische Luther-Bibliographie. Martin Luthers deutsches Sprach- schaffen im Spiegel des internationalen Schrifttums der Jahre 1880–1980 . Heidelberg 1985, 40–358 . 2 Vgl. Herbert Wolf (Hrsg.): Luthers Deutsch. Sprachliche Leistung und Wirkung (Doku- mentation Germanistischer Forschung 2) . Frankfurt a .M . [u . a ]. 1996, 345–387 . 3 Vgl . u .a. Joachim Schildt (Hrsg.): Luthers Sprachschaffen. Gesellschaftliche Grund­lagen. Geschichtliche Wirkungen . Referate der internationalen sprachwissenschaftlichen Konfe­ renz 21 .–25 . März 1983 (Linguistische Studien A 119 / I, II, III) . Berlin 1984; Birgit Stolt: Luthers Übersetzungstheorie und Übersetzungspraxis. In: Helmar Junghans (Hrsg.): Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546 . Festgabe zu seinem 500 . Geburts­ tag. Berlin 1983 (Lizenzausgabe Göttingen 1983), 241–252; Friedhelm Debus: Luther als Sprachschöpfer . Die Bibelübersetzung in ihrer Bedeutung für die Formung der deutschen Schriftsprache. In: Jürgen Becker (Hrsg.): Luthers bleibende Bedeutung. Husum 1983, 22–52 (Wiederabdruck: Friedhelm Debus: Kleinere Schriften. Bd. I. Hildesheim [u. a ]. 1997, 33–63); Manfred Lemmer (Hrsg.): : Das Magnificat, Von der Beicht, Eine treue Vermahnung . Schriften aus der Zeit des Aufenthaltes auf der Wartburg . Eisenach 1983; Joachim Schildt: Martin Luther und die deutsche Bibel. Eisenach 1983; Heimo Reinitzer: Biblia deutsch . Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition . Wolfenbüttel 1983; Helmar Junghans: Aus der Ernte des Lutherjubiläums 1983. In: Luther-Jahrbuch 53 (1986), 55–138; Frédéric Hartweg: Luthers Stellung in der sprachlichen Entwicklung. Versuch einer Bilanz. In: Études germaniques 40 (1985), 1–20; Karl Stackmann: Probleme germanistischer Lutherforschung. In: Archiv für Reformationsgeschichte 75 (1984), 7–31 (Vortrag inner- halb der Göttinger Ringvorlesung 1983). Zusammenfassend: Herbert Wolf: Zum Stand der sprachlichen Lutherforschung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 106 (1987). Sonderheft: Frühneuhochdeutsch. Zum Stand der sprachwissenschaftlichen Forschung, 246–272 . 4 Vgl . u . a. Norbert Richard Wolf (Hrsg.): Martin Luther und die deutsche Sprache – damals und heute . Heidelberg 2017 (Tagungsband zum gleichnamigen Kolloquium am Institut für deutsche Sprache in Mannheim am 29. und 30. Mai 2017); Werner Besch: 500 Jahre Refor- mation – zugleich der lange Weg zur gesamtdeutschen Schriftsprache. In: Zeitschrift für

33 © 2018 Rudolf Bentzinger - doi http://doi.org/10.3726/JA501_33 - Except where otherwise noted, content can be used under the terms of the Creative Commons Attribution 4 .0 International license. For details go to http://creativecommons.org/ licenses/by/4 .0/ versucht werden, unabhängig von derartigen Jubiläen die Entwicklung sprach- wissenschaftlicher Luther-Forschung mit ihren vielfältigen Fragestellungen nachzuzeichnen . Luthers Bedeutung für die Weiterentwicklung der deutschen Sprache wurde seit seinen Lebzeiten immer wieder hervorgehoben oder problematisiert . Bemerkenswert ist, dass von Anfang an seinem Stil eine besondere Rolle bei- gemessen wurde. Schon 1536 pries ihn Erasmus Alberus: „Dr. Martinus ist der rechte man, der wol verdeüdschen kan, er ist ein rechter Teutscher Cicero “. Justus Jonas würdigte ihn in seiner Eislebener Leichenpredigt 1546:

Er war ein trefflicher, gewaltiger Redener. Item ein überaus gewaltiger Dolmetz- scher der gantzen Bibel . Es haben auch die Cantzleyen zum teil von im gelernet recht deudsch schreiben und reden, denn er hat die Deudsche sprach wider recht herfür gebracht, das man nu wider kan recht deudsch reden und schreiben und wie das viel hoher leut mussen zeugen und bekennen .5

Luthers katholische Gegner sahen ebenfalls auch in seiner stilistischen Meister­ schaft bei der Bibelübersetzung eine Gefahr für ihre reine Lehre: „Es kutzelt feyn seyn Deudsch / vnd helt den leser“, urteilte Georg Witzel, und Luther übersetze „alles mit dem aller gemeinisten deudsch / wie ers teglich vber disch von den welthansen horet / vnd jm frawen zimmer erforschet“6 haben . Diese Ansicht hat sich erstaunlich lange gehalten . Noch 1952 und 1957 schrieb Arno Schirokauer über Luthers Bibelübersetzung:

Die Heilige Schrift, der sich bis dahin nur Träger von Bildungsprivilegien hatten nähern können, sollte demokratisiert werden, ihre Sprache aus Hof- und Palast- Deutsch übertragen werden in die niedere von Küche und Markt … Für ihn han- delt es sich darum, die Fremdsprache zu „verdolmetschen“, sie aus einer hohen, weltentrückten Kastensprache in ein gewöhnliches, ja niedriges Alltagsdeutsch umzusetzen […] Die Jünger Christi reden wie Bauern; so daß die Bauern beim Lesen sich selbst in den Aposteln wiedererkennen […]7

deutsche Philologie 136 (2017), 449–466; Matthias Schulz: Die Bibelübersetzung Martin Luthers aus sprachhistorischer Sicht . Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Re­formation und katholische Reform“ im Sommersemester 2017 an der Universität Würzburg (im Druck) . 5 Beide Zitate nach Rudolf Bentzinger / Gerhard Kettmann: Zu Luthers Stellung im Sprach- schaffen seiner Zeit (Anmerkungen zur Sprachverwendung in der Reformationszeit). In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 36 (1983), 265–275, hier: 266. 6 Hermann Gelhaus: Der Streit um Luthers Bibelverdeutschung im 16. und 17. Jahrhundert. Mit der Identifizierung Friedrich Traubs. Tübingen 1989, 80 f . 7 Arno Schirokauer: Frühneuhochdeutsch (1952). In: Ders.: Germanistische Studien. Aus- gewählt und eingeleitet von F[ritz] Strich. Hamburg 1957, 311–393, hier: 368 f . (Wiederab- druck: Klaus-Peter Wegera (Hrsg.): Zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Eine Dokumentation von Forschungsthesen. Tübingen 1986, 113–194, hier: 169 f.; ebenso: Ders.: Frühneuhochdeutsch. In: Wolfgang Stammler (Hrsg.): Deutsche Philologie im Auf-

34 Diesen Thesen wurde bald widersprochen,8 und nun ist besonders auf die Ausführungen von Birgit Stolt, Mitglied der Bibelrevisions-Kommission, zu verweisen:

Intellektuelles Verständnis, philologische Genauigkeit und eine Sprache, die, dem Volk auf’s Maul geschaut, den Menschen in seiner natürlichen Alltagssprache trifft – das sind, soll man den meisten modernen Übersetzern und Bearbeitern biblischer Texte Glauben schenken, die Voraussetzungen, die ein guter Bibel- übersetzer mitbringen muß . – Luther jedoch blieb dabei nicht stehen . Er machte in eben diesem Sendbrief eine entscheidende Bedingung: Ah es ist dolmetzschen ja nicht eines iglichen kunst … Es gehöret dazu ein recht, frum, trew, vleissig, forchtsam, Christlich, geleret, erfarn, geübet hertz … (WA 30 2,. 640, 25–28) […] Er hat demnach zwar dem gemeinen Mann aufs Maul geschaut, er hat ihm aber mitnichten nach dem Munde geredet . Seine Bibel spricht keine glatt ein- gängige Massensprache 9.

Wiederholt betonte Birgit Stolt: „Luthers Bibelsprache ist von einer Anzahl sakralsprachlicher Stilelemente geprägt “. 10 Zu denen können auch Hebraismen gehören . Diese Interpretation ist heute opinio communis . Jüngst schrieb Karlheinz Jakob zu Luthers oft zitierter und „grundlegend missverstandener“ Sendbrief- Stelle „den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und dar- nach dolmetzschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet“ (WA 30.2, 637, 17–22): „Ihre Deutung ist gleichzeitig ein Muster- fall von parteiischer und quellenkenntnisarmer Luther-Philologie “. Es wurde „über­sehen, dass Luthers Sprachvorbilder (Mutter, Kind, gemeiner Mann, Maul) hier nicht für stilistische, lexikalische oder gar soziolektale Quali­täten

riss. Bd. I. Berlin 1957, Sp. 855–930, hier: 899 f . 8 Vgl . die Rezensionen von Fritz Tschirch in den PBB 81 (1959), Tübingen, 242–261; Gott- fried Felix Merkel im Journal of English and Germanic Philology 59 (1960), 753–760; Johannes Erben in der Zeitschrift für Mundartforschung 29 (1962), 169 f . 9 Birgit Stolt: Luther, die Bibel und das menschliche Herz. Stil- und Übersetzungsprobleme der Lutherbibel damals und heute. In: Joachim Schildt (Hrsg.): Luthers Sprachschaffen (Anm . 3), 156, 168 . 10 Birgit Stolt: Lieblichkeit und Zier, Ungestüm und Donner. Martin Luther im Spiegel seiner Sprache. In: Herbert Wolf (Hrsg.): Luthers Deutsch (Anm. 2), 317–339, hier 330. Vgl. auch dies.: Erzählstrukturen der Bibel und die Problematik ihrer Übersetzung. In: Heinz Rupp / Hans-Gert Roloff (Hrsg.): Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980. (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte. Bd. 8/2). Bern [u . a ]. 1980, 312–321, hier 312 f.; dies: Biblische Erzählweise vor und seit Luther – sakral- sprachlich – volkssprachlich – umgangssprachlich? In: Vestigia Bibliae 4 (1982), 179–192.

35 der Bibelsprache stehen . Sie sind für ihn nicht Sprachvorbilder, sondern Ziel- personen, denen er eine angemessene Sprache anbieten muss “. Diese „An- gemessenheit“ ist „ausschließlich auf der syntaktischen Ebene anzu­streben . Luther zeigt an einigen Beispielen die Gestaltung dieser sprechsprachlich orientierten Syntax und setzt diese Vorgaben in seinen Übersetzungen auch wirklich um“ 11. Luthers Verhältnis zur Rhetorik war viel enger, als dies früher – auch auf Grund des Missverstehens von Äußerungen in den Tischreden (die ohnehin keine zuverlässigen Quellen sind)12 – angenommen wurde . Es ist die Rhetorik des Marcus Fabius Quintilian, in deren Tradition er stand . Dies bedingt auch den stets situationsgerechten und adressatengerichteten Einsatz sprachlicher Mittel aus verschiedenen Stilebenen 13. Diese Erkenntnis erklärt nicht nur, dass Luthers Sprache – vor allem in seiner Bibelübersetzung – trotz aller Deutlichkeit und Verständlichkeit gehobene Sprache oder gar Sakralsprache bleibt, sondern auch seine bisweilen beklagte Zurückhaltung bei Äußerungen zu seinem Sprachgebrauch14 (eine solche Klage wurde auch gegenüber Goethe laut) und die Möglichkeit seiner Einordnung in den Sprachgebrauch seiner Zeit und letzt- lich seine Vorbildwirkung auch in den folgenden Jahrhunderten. Äußerungen zur Sprache und zur Verwendung rhetorischer Mittel finden sich bei ihm zwar nur verstreut, sind aber deutlich: „Christus hat am aller einfeltigsten geredt vnd war doch eloquentia selbst… Drumb ists am besten vnd die hochste eloquentia simpliciter dicere“ (WA TR 4, 664,22–24) . Diese Berufung auf die rhetorische Praxis Christi weist auf die Bevorzugung der Stilebene des genus humile hin, und das bedingt das quintilianische Ideal der perspicuitas (Deutlichkeit): „Viel mit wenig Worten fein kurz anzeigen können, das ist Kunst und große Tugend“ 15 (WA TR 3, 428, 17 f ,. Nr . 3579) . Luthers Beherrschung der drei Officia der klassischen Rhetorik „docere, movere, delectare“ und die daraus resultierende Anwendung zweier Grund- haltungen, Belehrung, Ermahnung, Werbung mit ausgewogener kunstvoller

11 Karlheinz Jakob: Sprachwissen und Spracheinschätzungen bei Martin Luther. In: Norbert Richard Wolf (Hrsg.): Martin Luther (Anm. 4), 15–37, hier 19 f. Vgl. schon Joachim Schildt: Sprechsprachliche Gestaltungsmittel. In: Gerhard Kettmann / Joachim Schildt (Hrsg.): Zur Literatursprache im Zeitalter der frühbürgerlichen Revolution . Untersuchungen zu ihrer Verwendung in der Agitationsliteratur . Berlin 1978, 21–85, hier 47–59 . 12 Vgl. Birgit Stolt: Lieblichkeit (Anm. 10), 322–324; Hans Ulrich Schmid: Allt, kaldt, un- gestalt (ut dicitur) – Sprachwechsel in Martin Luthers Briefen. In: Norbert Richard Wolf (Hrsg.): Martin Luther (Anm. 4), 135–145, hier 135. 13 Vgl. Birgit Stolt: Lieblichkeit (Anm. 10), 324 f., 331–333; dies.: Martin Luthers Rhetorik des Herzens . Tübingen 2000 . 14 Vgl. Karlheinz Jakob: Sprachwissen (Anm. 11), 15–17. 15 Vgl. Albrecht Beutel: Sprache. In: Ders.: Luther Handbuch. Tübingen 2010, 249–256, hier 251 .

36 Darstellungsweise mit Bildern, Formeln, Sinn- und Klangreimen einerseits und Angriff, Abwehr mit harter Tonart, also Stilmitteln der Eindringlichkeit andererseits wurde schon – auch im Anschluss an Birgit Stolt – von Herbert Wolf nachgewiesen,16 und Luther selbst bezog sich auf Quintilians Forderung an die Volksberatungsrede nach „doctrina et exhortatio“ 1522 in seiner Wart- burgpostille:

Denn S . Paulus teylet das predigerampt ynn tzwey stück Ro . 12 . Doctrinam et exhortationem, lare und vormanen . Lare ist, ßo man predigt, das unbekandt ist und die leutt wissend odder vorstendig werden . Vormanen ist, ßo man reytzt und anhellt an dem, ßo yderman schon woll weyß . Beide stuck sind not einem prediger (WA 10 1,2,. 1, 18–23) .

Wiederholt forderte er einen großen Wortschatz und stilsichere Variation bei der Wortwahl: „Denn wer dolmetzschen wil, mus grosse vorrath von worten haben, das er die wol könne haben, wo eins an allen orten nicht lauten will“ (Sendbrief, WA 30 .2, 639,21–23) und

David ein Rhetor . … Es ist kein Cicero, Virgilius, Demosthenes, so ein Rhetor und beredt gewesen, als David: wie man siehet am 119. Psalm, da er einerley Meinung gibt auf zwey und zwanzig Weise, und ist doch nur einerley Sentenz und Sinn, allein daß die Worte verändert sind . Darum hat er eine große Gabe gehabt, ist hoch von Gott begnadet gewesen (WA, TR 6, 317,21–27, Nr . 7001) .

Damit geht eine weit bessere Einsicht in sprachliche Funktionen einher, als dies früher angenommen wurde . Birgit Stolt wies auf Luthers Gespür auf das hin, was wir seit Ferdinand de Saussure langue – parole nennen . Zum Streit um das Wort allein äußert sich Luther im „Sendbrief“: „obs gleich die lateinische oder kriechische sprach nicht thut, so thuts doch die deutsche, vnd ist yhr art, das sie das wort ‚allein‘ hinzu setzt“ (WA 30 2,. 637,11–13) . Hier hat er also die langue im Blick . Ebenfalls im „Sendbrief“ geht es um „Gabrielis Weise zu reden“, also um den Gruß gegenüber Maria: „Du Holdselige“ (für gratia plena) . Bei wörtlicher Wiedergabe entstünde die Frage „Wo redet der Deutsche man also?“ Hier geht es um die parole. Gleichzeitig entsteht die Frage: „Und welcher Deutscher verstehet / was gesagt sey / vol gnaden?“17 Dass sich die

Prinzipien seiner Sprachverwendung durchdringen, zeigt u . a . der Umstand, auf

16 Vgl. Birgit Stolt: Docere, delectare und movere bei Luther. Analysiert anhand der Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle. In: Dies.: Wortkampf. Frühneuhochdeutsche Bei- spiele zur rhetorischen Praxis . Frankfurt a . M. 1974, 31–77; Herbert Wolf: Martin Luther. Eine Einführung in germanistische Luther-Studien (Sammlung Metzler 193) . Stuttgart 1980, 93–101 . 17 Vgl. Birgit Stolt: Lieblichkeit (Anm. 10), 330.

37 den Karlheinz Jakob hingewiesen hat, dass Luther in bestimmten Situationen auch dem ursprünglichen Text folgte:

Bei der Auslegung des 91 . Psalms, der mit seiner Bildersprache (Grauen der Nacht, Pfeile des Tages, Pestilenz im Finstern, Seuche am Mittag ) als besonders alttestamentarisch-verdunkelter Text gilt, argumentiert Luther für die Beibehal- tung der ‚dunklen‘ Wörter: „Widderumb haben wir zu weilen auch stracks den worten nach gedolmetscht, ob wirs wol hetten anders und deudlicher künnen geben, Darumb, das an den selben worten etwas gelegen ist, – Darumb müssen wir zu ehren solcher lere und zu trost unsers gewissens solche wort behalten, gewonen und also der Ebreischen sprachen raum lassen, wo sie es besser macht, denn unser Deudsche thun kan“ (WA 38, 13,3–21) 18.

Damit im Zusammenhang steht die nächste Frage: Eine gediegene Rhetorik-

Ausbildung haben alle humanistisch Gelehrten genossen, d h. . rhetorischer Mittel bedienten sich alle am Sprachkampf Beteiligten . Daher rückten verstärkt seit den 1970er Jahren Fragen der Sprachverwendung in der Reformationszeit insgesamt in den Vordergrund . Die Arbeitsgruppe „Frühneuhochdeutsch“ an der Berliner Akademie der Wissenschaften untersuchte sprechsprachliche Gestaltungsmittel, Metaphorik (einschließlich Sprichwortgebrauch), Mittel der Personenabwertung und die Benutzung von Fremdwörtern bei Johannes Agri- cola, Ulrich von Hutten, Andreas Karlstadt, Martin Luther, Thomas Müntzer und anonymen Verfassern von Reformationsdialogen als unterschiedlichen Vertretern der Reformation und Johannes Eck, Hieronymus Emser und Thomas Murner als Anhängern der Papstkirche . Generell wurde festgestellt, dass sich alle Autoren rhetorischer Mittel bedienten, die für den Zweck des Überzeugens oder Abwehrens geeignet waren, dass sie dies aber in unterschiedlicher Intensi- tät und mit verschiedenartiger Meisterschaft taten . Das betrifft auch das damals ausgeprägte – in der Rhetorik-Ausbildung trainierte – Textsortenbewusstsein 19. Bei allen – mit vielen Zahlenangaben belegten – Auswertungen zeigte sich, dass alle sprachlichen Mittel bei allen Autoren nachweisbar sind, dass aber Luther alle seine Zeitgenossen an stilistischer Kunstfertigkeit überragte .20

18 Karlheinz Jakob: Sprachwissen (Anm. 11), 24. 19 Vgl. Gerhard Kettmann: Zusammenfassung. In: Gerhard Kettmann / Joachim Schildt (Hrsg.): Literatursprache (Anm. 11), 529–541, hier 534, 538–540; Birgit Stolt: Kulturbarrieren in der historischen Textsortenforschung. Zur Textsorte ,Trostbrief‘ im 16. Jahrhundert. In: Franz Simmler (Hrsg.): Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merk­ male . Akten zum Internationalen Kongress in Berlin 20 . bis 22 . September 1999 (Jahr­buch für Internationale Germanistik . Reihe A . Kongressberichte . Bd . 67) . Bern [u . a .] 2002, 631–642 . 20 Vgl. Joachim Schildt: Sprechsprachliche Gestaltungsmittel (Anm. 11); Wolfgang Pfeifer: Volkstümliche Metaphorik. In: Literatursprache (Anm. 11), 91 –217; Franzjosef Pensel: Zur Personenabwertung. In: Literatursprache (Anm. 11), 227–340; Gerhard Kettmann: Zum Fremdwortgebrauch. In: Literatursprache (Anm. 11), 348–439; ders.: Zusammenfassung. In: Literatursprache (Anm. 11), 529–541.

38 Gleichzeitig setzte an verschiedenen Orten eine intensive Flugschrif- tenforschung ein,21 die sich lexikalischen,22 syntaktischen23 und textkompo- sitorischen24 Fragen widmete . Hier – immerhin handelt es sich um die erste Blüte einer deutschen Publizistik25 (für die Erscheinungsjahre 1501 bis 1530 sind 5000 verschiedene Flugschriften-Ausgaben ermittelt worden)26 – spielte Luther eine herausragende Rolle: Allein bis 1530 sind über 200 mit 903 Dru- cken belegt,27 und ihre Wirkung ist beträchtlich . Untersuchungen förderten eine genaue Befolgung der Regeln der Briefrhetorik zu Tage, und die rege Bibelzitierung Luthers weist etliche Unterschiede zur Bibelübersetzung auf (auch wenn einzubeziehen ist, dass zur Zeit der Abfassung dieser Flugschrift die Bibelübersetzung noch gar nicht vorlag) . I Pt 2,9 (vos autem genus electum regale sacerdotum gens sancta) lautet im September-Testament 1522: „Yhr aber seyt das auserwelte geschlecht, das koniglich priesterthum, das heylige volck“ (WA B 7, 304), in der Flugschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ von 1520: „yhr seit ein kuniglich priesterthum, und ein priesterlich kunigreych“

(WA 6, 407,23 f.). Dieser Chiasmus verdeutlicht Luthers Postulat: „Dan alle

Christen sein warhafftig geystlichs stands“ (WA 6,407,13 f ). . Damit ist gleich- zeitig die früher schon gewonnene Erkenntnis bestätigt, dass auch Luther sehr wohl den Textsortenstil beherrschte .28 Jüngst hat Johannes Schwitalla gezeigt, dass er gern sprechsprachliche, vor allem dialogische Mittel einsetzte (auch wenn er keinen Reformationsdialog geschrieben hat), um Frage – Antwort,

21 Vgl. M[irra] M[oisejewna] Guchmann: Die Sprache der deutschen politischen Literatur in der Zeit der Reformation und des Bauernkrieges . Berlin 1974 . 22 Vgl. Hannelore Winkler: Der Wortbestand von Flugschriften aus den Jahren der Refor- mation und des Bauernkrieges . Berlin 1975 . 23 Vgl. Rudolf Bentzinger: Untersuchungen zur Syntax der Reformationsdialoge 1520–1525. Ein Beitrag zur Erklärung ihrer Wirksamkeit . Berlin 1992 . 24 Vgl. Johannes Schwitalla: Deutsche Flugschriften 1460–1525. Textsortengeschichtliche Studien. Tübingen 1983, 164–190; Rudolf Bentzinger: Textkomposition und Rhetorik-Tra- dition bei Reformationsdialogen 1520–25. In: Williams J. Jones u. a. (Hrsg.): ‚Vir in­genio mirandus‘ . Studies presented to John L . Flood . Vol . I . Göppingen 2003, 263–278 . 25 Vgl. Johannes Schwitalla: Flugschrift (Grundlagen der Medienkommunikation 7). Tü- bingen 1999, 1–10, 15–34, 48; ders.: Präsentationsformen, Texttypen und kommunikative Leistungen der Sprache in Flugblättern und Flugschriften. In: Joachim-Felix Leonhard u . a. (Hrsg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kom- munikationsformen . 1 . Teilbd . Berlin / New York, 802–816, hier 806–810 . 26 Hans-Joachim Köhler: Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts. Tl. I. Das frühe 16 . Jahrhundert (1501–1530) . Bd . 1 . Druckbeschreibungen A–G . Tübingen 1991, VIII . 27 Vgl. Hans-Joachim Köhler: Bibliographie (Anm. 26). Bd. 2. Druckbeschreibungen H–L. Tübingen 1992, 334–683 (Nr . 2258–3163) . 28 Vgl. Johannes Dickhut: Rhetorik als konstituierendes Moment der Textkomposition in Luthers Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. In: Daphnis 35 (2006), 449–493, hier: 486.

39 Einwand – Antwort deutlich werden zu lassen, damit sein eigener Standpunkt klar hervortritt . Hierfür nützen ihm auch satirische Sprachmittel, „innere Dialoge“ und andere Mittel .29 Die Vorbildwirkung in den folgenden Jahrhunderten ist also leicht erklär- bar . Diese ist für das 16 . bis 18 . Jahrhundert vorrangig von Werner Besch30 und Manfred Lemmer,31 aber auch von Rolf Bergmann32 untersucht worden . Es hat sich gezeigt, dass in den Teilbereichen der Sprache die Wirkung der Luther- sprache unterschiedlich ist: In der Orthographie erfolgte eine konti­nuierliche Weiterentwicklung, nicht unbedingt immer vom Luthertext beeinflusst, aber am progressivsten im Ostmitteldeutschen; in der Morphologie übte das Ostmittel- deutsche ohnehin einen besonderen Einfluss aus, und bedeutend ist Luthers Nachwirkung in der Syntax, im Stil und in der Lexik . Hier galt in den folgenden

Jahrhunderten das Prinzip „Erklärung statt Ersatz“, d .h . veraltete und zum Teil unverständlich gewordene Wörter wurden beibehalten und in Glossaren, teils Wörterverzeichnissen interpretiert . Das erste Glossar stammte vom Base­ ler Drucker Adam Petri 1523, spätere sind vom Straßburger Theologen und

Altphilologen Balthasar Scheidt 1664 (?), vom Naumburger Superintendenten Johann Pretten für die Schleusinger Bibel 1691 und anderen erstellt worden . Die bis dahin umfangreichste Wortsammlung brachte 1711 Dietrich von Stade

29 Vgl. Johannes Schwitalla: Dialogisches und Dialoge bei Martin Luther. In: Norbert Richard Wolf (Hrsg.): Martin Luther (Anm. 4), 113–134. 30 Vgl . u .a. Werner Besch: Die Rolle Luthers in der deutschen Sprachgeschichte (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 12) . Heidelberg 1999, 27–36; ders.: Die Rolle Luthers für die deutsche Sprachgeschichte. In: Ders . u . a. (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. 2. Teilbd. Berlin / New York 2000, 1713–1745, hier: 1714 f., 1734–1740; ders.: Luther und die deutsche Sprache . 500 Jahre deutsche Sprachgeschichte im Lichte der neueren Forschung . Berlin 2014, 103–128 . 31 Vgl. Manfred Lemmer (Hrsg.): Beiträge zur Sprachwirkung Martin Luthers im 17./18. Jahr- hundert . Tl . I und II (Martin-Luther-Universität -Wittenberg . Wissenschaftliche Bei­ träge 1987/10 = F 65, 1988/5 = F 77), hier vor allem Tl. I: Rudolf Große: Vom Meißnischen zum Obersächsischen . Zur Entwicklung der sprachsoziologischen Grundlagen vom 16 . bis 18. Jahrhundert, 19–35; Ilpo Tapani Piirainen: Sprachwirkung Martin Luthers in Kirchen- liedern des 17 . und 18 . Jahrhunderts, 36–61; Rolf Bergmann / Claudine Moulin: Luther als Gewährsmann der Rechtschreibnorm? Zu Johann Girberts ‚Teutscher Orthographi‘, 62–82; Peter Wiesinger: Zur Frage lutherisch-ostmitteldeutscher Spracheinflüsse auf Österreich im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, 83–109; Tl II: Manfred Lemmer: Zur Bewertung von Luthers Bibelwortschatz im 17 ./18 . Jahrhundert, 36–58, hier 41 (Wie­ der­abdruck: Hans-Gert Roloff u. a. [Hrsg.]: Manfred Lemmer: Ausgewählte Schriften. Sandersdorf-Brehna 2015, 453–477, hier 460 f );. Allgemeine Deutsche Biographie . Bd .35 . Leipzig 1893 (Neudr . Berlin 1971), 354 . 32 Vgl. Rolf Bergmann: Der rechte Teutsche Cicero oder Varro. Luther als Vorbild in den Grammatiken des 16. bis 18. Jahrhunderts. In: Sprachwissenschaft 8 (1983), 265–276 (Wiederabdruck: Herbert Wolf: Luthers Deutsch [Anm. 2], 291–302).

40 heraus . Eine revidierte Ausgabe der Luther-Bibel stammte vom Generalsuper- intendenten der Herzogtümer Bremen und Verden Johann Diecmann (1690, deren Ausgabe wurde 1703 zur Grundlage für die Canstein-Bibeln), deren Grundlage fünf ostmitteldeutsche Bibeldrucke aus Luthers Lebzeiten bilde- ten, sodass das Ostmitteldeutsche auch dadurch seine vorrangige Bedeutung erlangte . Unabhängig davon hatten Berliner Forschungen in den siebziger Jahren schon das Ostmitteldeutsche als progressive Sprachlandschaft (gefolgt vom Ostoberdeutschen) erkannt 33. In diesem Zusammenhang ist der Ansicht zuzustimmen, „dass Luther, genauer Texte von Martin Luther in diesem Zeit- raum (16 –18. . Jh . – R .B ). die wichtigste Bezugsgröße waren, wenn es darum ging, Überlegungen zur Normierung der deutschen Sprache anzustellen “. 34 Aus der Beurteilung Luthers als eines wichtigen Gliedes in der sprach- historischen Entwicklung ergibt sich die Frage, worauf er fußen konnte . Sprachgeographisch ist er vorrangig dem Ostmitteldeutschen und dem Nieder- deutschen zuzuordnen: In seiner Kindheit wurde im Eislebener und Mansfelder Elternhaus thüringisch gesprochen, wobei in den Dialekt der aus Neustadt an der fränkischen Saale gebürtigen Mutter das Mainfränkische eingeflossen sein muss, während der Ortsdialekt dieser Städte östlich des Harzes noch niederdeutsch war . Der Dialekt von Magdeburg ist heute noch niederdeutsch, der von Eisenach und Erfurt ist thüringisch, und Wittenberg war zu Luthers Zeit gemischtsprachig: Die Gebildeten sprachen hochdeutsch, der Volksdialekt war niederdeutsch . Luther selbst setzte sich eindeutig vom Thüringischen ab und bezeichnete sich als „Sachsen“, d .h. als Niederdeutschen: „Sonst bin ich keiner nation so entgegen als Meichsnern vnd Thoringen . Ich bin aber kein

33 Vgl . G[erhard] Kettmann / J[oachim] Schildt (Hrsg.): Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der syntaktischen Ebene (1470–1730) . Der Einfachsatz . Berlin 1976, 511–515; Joachim Dückert (Hrsg.): Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der lexikalischen Ebene (1470–1730) . Untersucht an ausgewählten Konkurrentengruppen. Berlin 1976, 313–316; Claudine Moulin: Der Majuskelgebrauch in Luthers deutschen Briefen (1517–1546). Heidelberg 1990, 284–294; Ursula Rieke: Studien zur Herausbildung der neuhochdeutschen Orthographie . Die Markierung der Vokalquantitäten in deutschsprachigen Bibeldrucken des 16 .–18 . Jahrhunderts . Heidelberg 1998, 373–383; Britt-Marie Schuster: Grund und Folge: Beobachtungen zur komplexen Syntax in der Luther-Biographik (1546–1600). In: Franz Simmler und Claudia Wich-Reif: Geschichte der Gesamtsatzstrukturen vom Althochdeutschen bis zum Frühneuhoch- deutschen (Jahrbuch für Internationale Germanistik . Reihe A . Kongressberichte 104) . Bern [u . a.] 2011, 177–214; Franz Simmler: Gesamtsatzstrukturen und Teilsatzstrukturen in biblischen Textsorten und ihr Verhältnis zur in der 2 . Hälfte des 16 . Jahrhunderts ein- geführten Verseinteilung. In: Ebda., 215–282; Katharina Tummuseit: Zur Entwicklung der Gesamtsatzstrukturen in revidierten Fassungen der Luthertradition: Die Offenbarung des Johannes in zwei Frankfurter Bibelausgaben der 1560er Jahre und in der Revisionsausgabe der Wittenberger Fakultät (1661). In: Ebda., 283–328. 34 Vgl. Markus Hundt: Luther als Sprachnormvorbild – Ideal und Wirklichkeit. In: Norbert Richard Wolf (Hrsg.): Martin Luther (Anm. 4), 39–67, bes. 57–62, hier 62.

41 Thöring, gehöre zun Sachsen“ (WA TR 4, 605,12–14) .35 Das ständig bemühte Tischreden-Zitat ist je nach Position des betreffenden Verfassers unterschied- lich interpretiert worden:

Ich … brauche der gemeinen deutschen Sprache, daß mich beide, Ober- und Niederländer verstehen mögen . Ich rede nach der sächsischen Canzeley, welcher nachfolgen alle Fürsten und Könige in Deutschland ;. alle Reichsstädte, Fürs- ten=Höfe schreiben nach der sächsischen und unsers Fürsten Canzeley, darum ists auch die gemeinste deutsche Sprache . Kaiser Maximilian und Kurf . Fried- rich . H . zu Sachsen etc . haben im römischen Reich die deutschen Sprachen also in eine gewisse Sprache gezogen (WA TR 1, 524,40–525,3) .

Erwägungen, „reden“ meine tatsächlich die Sprechsprache, helfen hier nicht weiter,36 wohl aber verdient nach der Lobpreisung der sächsischen Kanzlei- sprache der Hinweis auf beide Kanzleien, die vom Kaiser Maximilian und die vom Kurfürsten Friedrich, Beachtung: Unabhängig voneinander wurde die Sprache beider von Gerhard Kettmann und von Hans Moser untersucht, und beide Autoren stellten in beiden Kanzleien einen beträchtlichen oberdeutsch- mitteldeutschen Sprachausgleich fest,37 sodass Luthers Zusammenschau beider und seiner eigenen Rolle als Nutzer des Ausgleichs in beiden Kanzleisprachen sehr wohl ihre Berechtigung hat . Luthers Stellung mitten in der Sprachentwicklung des Deutschen und sei­ne Bedeutung als wirkungsmächtiger Förderer dieser Entwicklung ist auch durch die grammatischen und lexikalischen Untersuchungen zur Luther­­sprache be- stätigt worden .38 Dabei spielten auch wiederholt seine Korrekturen im eigenen Sprach­gebrauch eine Rolle, vor allem seine ständigen Revisionen sei­ner Bibel­ übersetzung . Hans-Gert Roloff listete markante lexikalische, syntak­tische, mor­phologische und Wortbildungs-Varianten von fünf Fassungen des Neuen Testa­ments, „die in der „Überlieferungsgeschichte des NT und der deutschen

35 Vgl. auch Herbert Wolf: Luthers sprachliche Selbstbeurteilungen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), 349–370, hier 351 . 36 Vgl. Karlheinz Jakob: Sprachwissen (Anm. 11), 32. 37 Vgl. Gerhard Kettmann: Die kursächsische Kanzleisprache zwischen 1486 und 1546. Berlin 1969, 279, 282–309; Hans Moser: Die Kanzlei Kaiser Maximilians. Graphematik eines Schreibusus . Innsbruck 1977, 276 f .) . 38 Vgl. H[einrich] Bach: Handbuch der Luthersprache. Laut- und formenlehre in Luthers Wit­ tenberger drucken bis 1545 . Tl . 1, Vokalismus . Kopenhagen 1974; Tl . 2, Druckschwache silben. Konsonantismus. Kopenhagen 1985; Philipp Dietz: Wörterbuch zu Dr. Martin Luthers deutschen Schriften . Bd . 1 und 2,1 . Leipzig 1870–72 (Neudr . Hildesheim 1961, 1973); Renate Bebermeyer; Gustav Bebermeyer: Wörterbuch zu Martin Luthers deutschen Schriften. Wortmonographien zum Lutherwortschatz . Erster und zweiter Bd . Hildesheim 1993–2017; Werner Besch: Deutscher Bibelwortschatz. Auswahl – Abwahl – Veralten. Frankfurt a. M . [u .a.] 2008; Johannes Erben: Luther und die neuhochdeutsche Schriftsprache. In: Deutsche Wortgeschichte . Hrsg . von Friedrich Maurer / Heinz Rupp . Berlin / New York 1974, 509–581 .

42 Bibel markante Positionen einnehmen“ von 1522 bis 1545 auf, und Sebastian Seyferth stellte an Hand lexikalischer und syntaktischer Varianten im Römer­brief im September-, Dezembertestament, der ersten Vollbibel 1534 und der Biblia Germanica 1545 fest, dass Luthers philologische Souveränität bei der Wieder- gabe des biblischen Textes mehr und mehr zunahm 39. Hier bleibt allerdings unberücksichtigt, dass dies durch seine theologischen Intentionen motiviert war . Dass an der Änderung der Luthersprache auch die Buchdrucker, vor allem die Korrektoren – trotz seiner Klage „Nu were der schaden dennoch zu leyden, wenn sie doch meyne bücher nicht so falsch und schendlich zu richten“ – einen beträchtlichen Anteil hatten (besonders in Richtung auf Modernisierung der Graphie), ist wiederholt hervorgehoben worden, allerdings mit dem Bemerken, dass Luther oft den bereits gedruckten Text erneut korrigierte 40. Selbstbewusst kennzeichnete er wiederholt seine Sprache als individuell markant . Er mutmaßte nach Erscheinen der anonymen Kampfschrift „Neue Zeitung vom Rhein“ (1542), dass er bald als deren Autor erkannt werde: „Dan ich habs also gemacht, Das ich hab wollen vermerckt seyn, vnd wehr es lieset, so Jhmands meyne fheder vnd gedancken gesehen, muss sagen: Das ist der Luther “. (WA Br 10, 175,6–8, Nr . 3807) 41. Von Melanchthon setzte er sich in seinem Kampfstil ab: „Philippus sticht auch, aber nur mit pfrimen vnd nad- deln; die stich sind vbel zu heylen vnd thun wehe . Ich aber steche mit schwein spiessen . (WA TR 1, 140, 29–31, Nr . 348) . Das Bild wäre unvollständig, wenn nicht auch sein Verhältnis zum Latein erwähnt würde . Dass er in seinen Tischreden tatsächlich vom Deutschen ins Latein spontan überwechselte und umgekehrt, ist gut vorstellbar, zumal die moderne Zweisprachigkeitsforschung dies als bequemste Methode – je nach Wortvorrat, Partner und Situation – erkannt hat 42. Für den Lateingebrauch

39 Vgl. Hans-Gert Roloff (Hrsg.): Das Neue Testament in der deutschen Übersetzung von Martin Luther nach dem Bibeldruck von 1545 mit sämtlichen Holzschnitten . Bd . 2 . Ent- stehungsvarianten . Glossar . Bibliographie . Nachwort . Stuttgart 1989, 13–120; Sebastian Seyferth: Sprachliche Varianzen in Martin Luthers Bibelübertragungen von 1522–1545. Eine lexikalisch-syntaktische Untersuchung des Römerbriefs . [Stuttgart] 2003, 21, 233–235; ders.: Zu lexikalisch-syntaktischen Veränderungen der frühneuhochdeutschen Bibelspra- che in Martin Luthers Bibelübertragungen (1522–1545). In: Irmtraut Rösler (Hrsg.): „Ik lerde kunst dor lust.“ Ältere Sprache und Literatur in Forschung und Lehre. Festschrift zum 65 . Geburtstag von Prof . Dr . phil . habil . Christa Baufeld (Rostocker Beiträge zur Sprachwissenschaft 7/1999), 269–288, hier 283–285 . 40 Vgl. Herbert Wolf: Beiträge der Korrektoren zum Sprachausgleich Luthers. In: Sprach- wissenschaft 9 (1984), 108–125; ders.: Martin Luther (Anm. 16), 58–64. 41 Vgl. Herbert Wolf: Luthers Selbstbeurteilungen (Anm. 35), hier 356; ders.: Martin Luther (Anm . 16), 19–21 . 42 Vgl. Birgit Stolt: Lieblichkeit (Anm. 10), 320–322; dies.: Die Sprachmischung in Luthers Tischreden . Studien zum Problem der Zweisprachigkeit (Stockholmer germanistische Forschungen 4). Stockholm 1964; dies.: Luther sprach „mixtim vernacula lingua“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 88 (1969), 432–435 .

43 in seinen Briefen ist jetzt zum einen herausgearbeitet worden, dass dieser in Briefen an seine gelehrten Mitstreiter und an andere Theologen und sonstigen Wissenschaftler erfolgt (interessant, dass er an seinen Sohn Johannes erst latei- nisch schrieb, als dieser herangereift war); während Luther an Adlige, städtische Magistrate und etliche Privatpersonen deutsch schrieb . Zum anderen ist das Latein in unterschiedlicher Intensität verwendet: Das Verhältnis Deutsch – La- tein kann ausgewogen sein, es kann sich aber der Gebrauch der jeweils anderen Sprache auf Einschübe beschränken . In Briefen mit ausgewogenem Verhältnis werden theologische und kirchenoffizielle Fragen lateinisch und Alltagsdinge deutsch behandelt, zumal wenn diese mit starker Emotionalität geschildert werden . Die lateinischen Einschübe in deutschen Briefen sind Bibelzitate, in einigen Fällen Zitate aus kirchenrechtlichen, humanistischen oder spätmittel- alterlich-wissenschaftlichen Texten oder eine Zusammenfassung des vorher Ausgeführten . Umgekehrt resümieren in überwiegend lateinischen Briefen die deutschen Einsprengsel das vorher Gesagte, auch in Form von volkstümlichen, mitunter derben Wendungen . Es sind überwiegend Briefe an Einzelpersonen .43 Wiederholt wurde der Frage nach dem Gebrauch des Deutschen in seiner universitären Lehrtätigkeit nachgegangen 44. Innerhalb des Rahmenthemas XLVI des Jahrbuchs für Internationale Germanistik, das „Frühformen der Uni- versitätsgermanistik“ gewidmet ist, sind auch die Wittenberger Vorlesungen, vor allem Luthers bis in die 1520er Jahre mit folgenden Ergebnissen untersucht worden: Luther streute in die lateinischen Vorlesungen deutsche Interpretatio- nen ein, um sein emotionales Engagement stärker hervorzuheben . Besonders die von Luther als Schwerpunkt angesehene Genesisvorlesung 1535–1545 enthält aus demselben Grund deutsche Passagen im lateinischen Text 45. Erstaunlich ist aber, dass Luthers Kernanliegen, dem Wort Gottes zu dienen, erst in jüngerer Zeit stärkere Beachtung fand: Zu seiner Zeit gewann die Volkssprache höheres Ansehen, und auch Luther rechnete das Deutsche zu den heiligen Sprachen, ja, er maß ihm größere Gottesnähe als dem Latein bei, denn die lateinische Bibel war Menschenwerk, und Latein galt als die Sprache der Päpste . „Aber die deutsche Sprache ist die allervollkommenste,

43 Vgl. Hans Ulrich Schmid: Sprachwechsel (Anm. 12), 135–145. 44 Vgl. Hans v. Schubert / Karl Meissinger: Zu Luthers Vorlesungstätigkeit (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften . Phil -hist. . Klasse 9) . Heidelberg 1920; Hans Volz: Wie Luther in der Genesisvorlesung sprach. In: Lutherana V. Theologische Studien und Kritiken 100 (1928), 167–196; Robert Herndon Fife: German in Luther’s Early Lectures. In: The Germanic Review 6 (1931), 219–232; Birgit Stolt: Lieblichkeit (Anm. 10), 322 . 45 Vgl. Ronny F. Schulz: Die Behandlung der deutschen Sprache im Kontext der Universität Wittenberg bis in die zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik XLIV (2012), 51–66, hier 55–60; Hans Volz: Genesisvorlesung (Anm. 44), 181–194 .

44 46 hat viel Gemeinschaft mit der griechischen Sprache“ (WA TR 4, 79,20 f .) . Diese revolutionierende Sicht stand im Gegensatz zu Jo 19,20, wo es von der Kreuzesinschrift heißt: „vnnd es war geschrieben, auff hebreisch, kriechisch, vnnd latinisch sprache“ (WA B 6, 402), sodass das Gotteswort nur in einer der heiligen drei Sprachen geoffenbart werden dürfe . Für Luther ist nun „das Deutsche die Sprache der anderen oder neuen Theologie“ . Folglich ist auch das Dolmetschen ein vorrangig theologisches Problem . Nicht umsonst trägt der immer wieder bemühte Sendbrief den Titel „Ein Sendbrieff von Dolmetschen vnd Fürbitte der Heiligen“ . Auch in seinem Sendschreiben „An die Rather- ren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ von 1524 betonte er: „Und last uns das gesagt seyn, Das wyr das Euangelion nicht wol werden erhallten on die sprachen“ (WA 15, 38,7 f .) . Hinzu kommt das Argument in seiner Flugschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“: „Dan alle Christen sein warhafftig geystlich stands“, das heißt, ein jeder, ein „schuster, ein schmid, ein bawr“ muss das Wort Gottes in in seiner Sprache in die Hand bekommen; und so ist die Sprachverwendung immer auch Gottesdienst 47. Diesen zentralen Aspekt stärker in den Mittelpunkt gerückt zu haben, ist das Verdienst der Luther-Sprach-Forschung der letzten Jahre, und hier sollte – auch in Zusammenwirken mit Theologen – weitergearbeitet werden .

46 Norbert Richard Wolf: „…, dass Reformation kein abgeschlossener Prozess ist, sondern stets fortgeschrieben werden muss.“ Bibelrevisionen 1522 bis 2017. In: Norbert Richard Wolf: Martin Luther (Anm. 4), 187–213, hier 190. 47 Vgl. Norbert Richard Wolf: Die Reformation: Deutsch wird Heilige Sprache. In: Wilhelm Schmidt: Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Stu- dium. Begründet von Wilhelm Schmidt. Fortgeführt von Helmut Langner. 11. Auflage, herausgegeben von Elisabeth Berner und Norbert Richard Wolf . Stuttgart 2013, 127–132; ders.: Bibelrevisionen (Anm. 46), 190 f.; Albrecht Beutel: Sprache / Sprachverständnis. In: Volker Leppin / Gury Schneider-Ludorff u .a. (Hrsg.): Das Luther-Lexikon. Regensburg 2014, 652–655, hier 653; ders.: Sprache. In: Ders. (Hrsg.): Luther Handbuch (Anm. 15), 249–256; ders.: Wort Gottes. In: Ebda., 362–371.

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