Kinderliterarische Themen

„Eigentlich sitze ich lieber auf Luftlinien als auf Sesseln ...“ Die magische Bilderwelt der Bauhauskünstlerin Lou Scheper-Berkenkamp von Barbara Murken

Das Staatliche , 1919 von dem Archi- zu verlieren, sollten Phantasie und handwerkli- tekten Walter Gropius in gegründet, ches Experimentieren den Geist des Bauhauses entstand durch die Vereinigung der Hochschule prägen und den Weg in eine zukünftige humane für Bildende Kunst mit der Großherzoglichen Gesellschaft bahnen. Visionärer Schöpfergeist, ge- Kunstgewerbeschule von Sachsen-Weimar. Ab paart mit künstlerischer Funktionalität, sollte die 1926 wurde die Institution in als Hoch- trennenden sozialen Strukturen der Gesellschaft schule für Gestaltung weitergeführt. Nach einem überwinden und von Grund auf erneuern, war im erneuten Umzug 1932 nach wurde sie Bauhaus Manifest von 1919 zu lesen. So wurde von den Nationalsozialisten 1933 geschlossen. das Bauhaus in allen Bereichen der bildenden Die neue und revolutionäre Idee der Bauhauses Kunst wie der Architektur, der Malerei und der bestand in der Vision, durch ein gleichzeitiges Fotografie zum Spielfeld für neue Formen, Farben Angebot von Theorie und Praxis die verschiede- und Muster: Junge Künstler aus vielen Nationen nen Ausbildungsstätten für Bildkünstler, Architek- bewarben sich an der Schule und prägten gemein- ten und Handwerker zu vernetzen, Technik und sam mit ihren Meistern eine Kunstepoche, die Kunst in ihren Gegensätzen zu versöhnen und so bis in das 21. Jahrhundert mit ihren kreativen ein modernes „Gesamtkunstwerk“ zu schaffen. In Kräften impulsgebend geblieben ist. Anlehnung an die Bauhüttenideale des Mittel- alters sollten handwerkliche Meisterschaft und Lou Berkenkamp schrieb sich 1920, mit 19 Jah- künstlerische Kreativität im Unterricht gleich- ren, als Kunststudentin am Bauhaus in Weimar wertig vermittelt werden und sich in fruchtbarer ein und war der Institution bis zu seiner Schlie- Synthese ergänzen. Ohne den Gebrauchszweck ßung in Berlin 1933 lernend und schaffend eines zu gestaltenden Gegenstands aus dem Auge verbunden. Aus dieser Schule und Schulung heraus entstanden neben ihrer Das Bauhaus in Dessau (Foto: Murken, 1991) freien Malerei zahlreiche Entwürfe zu Kinderbüchern, die zunächst unveröffentlicht und damit unbekannt blieben. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelang die Drucklegung einiger kleiner, aber feiner Bilderbücher. Jedoch längst nicht alles ihres kunstvollen Bilderbuchschaffens erreichte die Öffentlichkeit.

Der umfangreichen Forschung zum Thema Bauhaus ist das kleine, aber feine künstlerische Œuvre der Lou Scheper-Berken- kamp bislang eher entgangen.

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Daher soll hier der Versuch unternommen Unmittelbar nach Ende der Schulzeit bewarb werden, das Leben der weitgehend vergessenen sich Lou Berkenkamp am Städtischen Bauhaus Künstlerin vorzustellen und ihre Kunst, in ihren in Weimar. Obwohl sie nicht auf eine umfang­ Bilderbüchern wie in der freien Malerei, in ihrer reiche künstlerische Vorbildung verweisen neuartigen und unverwechselbaren Formen- und konnte – „meine Arbeiten entstanden in den Farbenvielfalt zu würdigen. Ebenso soll an die Zeichenstunden in der Schule und in wenigen­ wichtigste Person im privaten und künstlerischen Privatstunden“1 –, hatte ihr Studienantrag Er- Leben von Lou Scheper-Berkenkamp, ihren Mann folg. Im Antwortschreiben der Bauhausleitung Hinnerk Scheper, erinnert werden. vom 22. April 1920 heißt es: „Auf Beschluss des Meister­rates werden Sie als Studierende des Staat- Hermine Luise Ber­­ken­ lichen Bauhauses auf Grund Ihrer eingereichten kamp wurde am 15. Arbei­ten aufgenommen“. Handschriftlich war ­ Mai 1901 in Wesel am das Wort „probeweise“ eingefügt.2 Niederrhein geboren. Die Eltern lebten in gut- Der Meisterrat setzte sich aus den Meistern der bürgerlichen Verhältnis- ersten Stunde zusammen. Er bestand aus Walter sen. Der Vater Adalbert Gropius und den von ihm berufenen Lehrern Berkenkamp (1868- , Lyonel Feininger, Oskar Schlem- 1947), ein wohlhaben- mer, , Georg Muche und Gerhard Marcks, außerdem aus Professoren der ehemaligen Kunst- der Fabrikbesitzer, hatte Lou Scheper-Berkenkamp im Jahr 1895 Laura 1927 (Foto: Lucia Maholy) hochschule. Der Rat wählte in abstimmenden Sit- Darmstädter (1872-1956) zungen die Studenten aus. So schloss Lou Berken- geheiratet, es kamen drei Kinder zur Welt. Lou, kamp schon am 1. Mai 1920, zwei Monate nach wie sie genannt wurde, hatte einen älteren Bruder dem Abitur, einen Lehrvertrag über eine dreijähri- Alfred (1897-1917, gefallen im Ersten Weltkrieg ge Ausbildung am Staatlichen Bauhaus Weimar ab. in Frankreich) und einen jüngeren Bruder Walter (1910-1994). Die Aufnahme von weiblichen Studenten war keineswegs selbstverständlich. Auch der fort- Nach Grundschule und vierjährigem Besuch des schrittliche Walter Gropius warnte skeptisch Lyceums in Wesel wechselte Lou Berkenkamp vor „kunstgewerblichem Dilettantismus“3 der Ostern 1914 auf die Städtische Viktoria-Schule Studentinnen. Seine Sorge, die Bewerberinnen in Essen, die als führende Bildungsinstitution könnten den Männern die kostbaren Werkstatt- unter den Mädchenschulen der Region galt. plätze wegnehmen, widersprach dem Grundsatz Nach dem Zulassungsantrag zur Reifeprüfung des Staatlichen Bauhauses, dass „als Lehrling vom 15. Dezember 1919 – hier schon ist als Berufs­ aufgenommen wird jede unbescholtene Person wunsch „Kunstgeschichte“ eingetragen – legte ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, deren sie am 4. März 1920 ihr Abitur ab. Trotz nicht Begabung und Vorbildung vom Meisterrat als genügender Leistungen in Mathematik wurde sie ausreichend erachtet wird“.4 als „zweifellos reif“ beurteilt, mit „einer ausge- sprochenen Begabung für literarische und künst- Lou Berkenkamp ließ sich nicht einschüchtern. lerische Probleme“ und „erzielte in den Sprachen Da laut Satzung „keine Unterschiede zwischen gute, im Deutschen und im Zeichnen sehr gute dem schönen und dem starken Geschlecht“ Leistungen“. Unter der Rubrik „gewählter Beruf“ ge­macht werden durften, schrieb sie sich in ist das Kunststudium eingetragen. Interesse und der „Dekorationsmalerei“, einer Klasse mit nur Talent waren also eindeutig zu erkennen! männlichen Studenten, ein – die Frauendomäne

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Weberei interessierte sie nicht . So traf der Spott- bei Badbergen nahe vers Oskar Schlemmers, „Wo Wolle ist, ist auch Osna­brück geboren. ein Weib, das webt, und sei es nur zum Zeitver- Seine Mutter brachte ihn treib“5, auf sie nicht zu! als Adoptivsohn in die Ehe mit dem Tischler- Lou Berkenkamp nahm voller Energie das meister Hermann G. H. Studium auf. Nach dem obligaten Vorkurs bei Scheper mit. Nach der ­Johannes Itten besuchte sie die Formlehre-Kurse Lehre zum Malermeister bei und Paul Klee. Vor allem besuchte Scheper im

Paul Klee prägte sie nachhaltig, während sie der Sommer­semester 1918 Hinnerk Scheper 1927 esoterischen Geisteshaltung von Johannes Itten die Düsseldorfer Kunst­ (Foto: Lucia Moholy) eher distanziert gegenüberstand. Gleichwohl gewerbeschule, ein Jahr finden sich in ihrem Werk esoterisch anmutende später die in . Im August 1919 bewarb er geflügelte Fabelwesen, schwebende Gestalten, die sich um einen Studienplatz am Staatlichen Bauhaus den Betrachter in einen Kosmos voller luftig- in Weimar und gehörte ab Wintersemester 1919/20 heiterer Bilder und surrealer Ideen entführen. zu den ersten Studenten der neuen Institution Gleichzeitig eignete sie sich in der Werkstatt für Bau­­haus. Er lernte in der Werkstatt für Dekora­ ­ Dekorationsmalerei die praktischen Fertigkeiten tionsmalerei­ und schloss am 10. Mai 1922 sein an, mit Farbe und Struktur umzugehen und mit Studium mit der Meisterprüfung vor der örtlichen verschiedenen Materialien zu experimentieren. Handwerkskammer ab. Danach verließ er vorerst das Bauhaus und arbeitete als freiberuflicher Maler Im Herbst 1920 lernte Lou Berkenkamp in der De- und Farbgestalter, z. B. bei der Ausmalung verschie- korationsmalerei Hinnerk Scheper kennen. Dieser dener Bauwerke, so am Schloßmuseum Weimar. hatte im Frühjahr 1920 als 23-jähriger Student mit zwei weiteren Studenten kommissarisch die hand- Am 24. Dezember 1922 heirateten Hinnerk Sche- werkliche Leitung der Werkstatt übernommen, als per und Lou Berkenkamp in der evangelischen unvorhergesehen eine Vertretung für den Werk- Stadtkirche zu Weimar. Am 7. November 1923 meister Franz Heidelmann erforderlich wurde. wurde der erste Sohn, Jan Gisbert, geboren. Spä- Den Lehrlingen der Werkstatt, unter ihnen Lou testens zu diesem Zeitpunkt setzte sich auch in Berkenkamp, wurden erste Projekte in Eigenregie Lou Schepers Leben das traditionelle Frauenbild übertragen, so die Ausgestaltung der Dekoration durch: Sie hatte mit ihrem Mann das Weimarer der Bauhausfeste, der neuen Kantine und der Flure Bauhaus ohne eigenen Studienabschluss verlas- des Hochschulgebäudes. Lou Scheper erinnert sich sen (Austrittsdatum: 28. Juli 1922) und versorgte in ihrem Rückblick 1971: „[...] wir malten [...] in nun die Familie. Im März 1925 bekam Hinnerk Gemeinschaftsarbeit [...] mit Lust und schlech- Scheper das Angebot von Walter Gropius, am tem Gewissen, denn wir waren uns bewußt, dass inzwischen nach Dessau gezogenen Bauhaus unser Tun gänzlich unfunktionell sei“.6 Hier war als hauptamtlicher Jungmeister die Leitung der der Umgang mit Farbe noch spontan spielerisch. Werkstatt für Wandmalerei zu übernehmen. So Zunehmend jedoch wurde Farbe als verstärkendes ging die Familie Scheper nach Dessau, wo sie im Element architektonischer Strukturen erkannt. April 1927 das Meisterhaus bezog, das der aus Dies waren vor allem die Ideen Hinnerk Schepers, dem Bauhaus scheidende Georg Muche bewohnt denen sich Lou aus Überzeugung anschloss. hatte. Am 28. März 1926 wurde Tochter Britta geboren; der Sohn Dirk kam am 21. August 1938, Hinnerk (eigentlich: Gerhard Hermann Heinrich) fünf Jahre nach Auflösung des Bauhauses, in Scheper wurde am 6. September 1897 in Wulften Berlin zur Welt.

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Lou war nun keine Studentin mehr, sondern zurück, wo seit Sommer 1930 Ludwig Mies van „Meistergattin“und freie Künstlerin. Durch der Rohe als Direktor das Bauhaus leitete. Ab dem Kontakte zu aus der Studienzeit­ Frühjahr 1931 setzte Scheper seine Lehrtätigkeit wirkte sie an der Bühne am Bauhaus als Farbge- in der Wandmalerei- und Farbenklasse fort; eine stalterin und Akteurin bis zu Schlemmers Weg- weitere Zusammenarbeit mit Institutionen in der gang aus Dessau im Jahre 1929 mit. Gleichzeitig Sowjetunion war wegen der verschärften politi- arbeitete sie all die Jahre als selbständige Malerin schen Verhältnisse nicht mehr möglich. an ihren, wie sie oft selber sagte „Schubladen- Blättern“.7 Aus dieser Lebensphase stammen Im Sommer 1932 führte die zunehmende politisch die ersten Bilderbuchentwürfe für ihre eigenen rechtslastige Ausrichtung im Magistrat der Stadt Kinder, die aber darüber hinaus auch als eigen- Dessau zur finanziellen Knebelung des Bauhauses ständige Veröffentlichungen geplant waren. mit der Konsequenz der Schließung am 1. Oktober In einem Brief an eine unbekannte Freundin 1932. So entschloss sich Mies van der Rohe auf (Archiv Ernst Wunderlich Verlag) formulierte sie privater finanzieller Basis zu einer Weiterführung ihr leidenschaftliches Anliegen, sich der Kunst für des Bauhauses in Berlin. Die Familie Scheper ging Kinder zu verschreiben: „Du musst verstehen, daß mit. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im es mir nicht genügen kann, nur Spass zu machen, Januar 1933 bedeutete jedoch das Ende der Hoff- sondern dass ich versuchen muss, den erlebten nung, das „Bauhaus Berlin“ als „Freies Lehr- und Ernst gerade den Kindern unmerklich und in der Forschungsinstitut“ in der ehemaligen Telefonfab- Form des Spiels in ihr Un-Bewußtsein einfließen rik in Steglitz weiterzuführen. Bereits im April 1933 zu lassen, damit ihr Bewußtsein Gut und Böse un- erfolgte eine politisch angeordnete Hausdurch- terscheiden lernt. Ja: Gut und Böse. Man soll sich suchung und widerrechtliche Versiegelung der der archaischen Grundbegriffe nicht schämen.“8 Gebäude. Am 20. Juli 1933 schließlich wurde das Im Juli 1929 wurde Hinnerk Scheper vom sow- Bauhaus Berlin endgültig zerschlagen. jetischen „Baukomitee beim obersten Volkswirt- schaftsrat“ nach Moskau gerufen, um den Aufbau Die Familie Scheper war nun auf freiberufliche einer zentralen Farb-Beratungsstelle für moderne Arbeit angewiesen. Lou verfasste Textbeiträge zu Architektur im Stadtbild zu leiten. Er ließ sich Fotoserien ihres Mannes und unterstützte seinen zunächst für ein Jahr von seinen Verpflichtungen Arbeitsalltag. Aber auch in eigener Sache blieb am Bauhaus beurlauben. Lou Scheper begleitete sie künstlerisch aktiv. Sie skizzierte und schrieb, ihn und unterstützte ihn organisatorisch und sie entwarf und malte Bilderbücher in einer Art fachlich. Zudem schrieb sie mit ihm zusammen selbstgeschaffener Symbolsprache. Wie Leitmotive­ journalistische Beiträge durchziehen die schöpfe- für die neu gegründete rischen Ideen des Bau- deutschsprachige Wo- hauses ihr künstlerisches chenzeitschrift „Moskauer Werk. In ihren Bildern Rundschau“. Hier hielt sie finden sich die Einheits- mit sozialkritischem Blick bausteine Quadrat, Drei- Szenen des russischen eck und Kreis als typische, Alltags fest. gleichsam kubistisch- perspektivische Stilmittel Nach dem einjährigen der Bauhaus-Gestaltung. ­Moskauer Intermezzo Schrift und Bild verdich-

kehrten Hinnerk und Originalvorlage aus: „Tönnchen, Knöpfchen und andere“, ten sich zu einer bis dahin Lou Scheper nach Dessau um 1945 kaum gekannten leben-

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digen Einheit phantastisch- kräfteraubendes, wenn auch magischer Bildgeschichten. unglaublich produktives Neben ihren Paradiesvögeln Amt beim Wiederaufbau schuf sie „transzendente , das er bis zu seinem Wesen wie Engel und Vögel, plötzlichen Tod im Jahre Luftbewohner, Pegasusse, 1957 innehatte. Bäume, die in den Himmel wachsen“.9 Ihren eigenen Auch für Lou Scheper kam Seelenzustand beschreibt sie mit dem Ende des Zweiten in dem folgenden Zitat: Weltkrieges endlich der „Eigentlich sitze ich lieber auf Zeitpunkt, um die Schub- Luftlinien als auf Sesseln und laden zu öffnen und ihre finde es überhaupt schön, in Bilderbuchentwürfe heraus­ der Luft zu hängen: nirgends zuholen. Der Verleger Ernst angeheftet und nichts anhaf- Wunderlich in Leipzig er- tend an keinem Ort und über- kannte die Originalität dieser all zu Hause, an allem beteiligt Kunstwerke und setzte sich und daher unbeteiligt, also mit großem Engagement etwa: ungebundene Intensität, für ihre Veröffentlichung Himmelsvögel, unveröffentl., um 1940 aber leidenschaftlich [...].“10 ein. „Ich darf der Hoffnung Ausdruck geben, daß unsere Im Rückblick 1971 beschreibt Lou Scheper die beginnende gemeinsame Arbeit der Sache des verheerende Wirkung des Nationalsozialismus Kinderbuchs dienen möge, daß es uns gelingt, auf Kunst und Kultur: „Hellklare und dunkelklare für Ihre Arbeiten weithin Freunde zu gewinnen Töne, reines Weiß und reines Schwarz, variierte und den eigenartigen und künstlerisch reizvollen Graustufen ohne Verschmutzung – das war die Schöpfungen Ihrer Hand bei dem Kinderpublikum Farbwelt, in die das schlimme Braun, das brandige aufs glücklichste Eingang zu verschaffen [...]“, so Rot des Dritten Reiches einbrachen. Was vor 1934 die persönlichen Zeilen des Verlegers im Mai 1947 lag, wurde verschüttet und muß mühsam wie- an die Künstlerin.12 der zutage gefördert, zum Bewußtsein gebracht werden.“11 Der kulturelle Beirat für das Verlagswesen, 1946 in Berlin gegründet, bewertete im Mai 1947 die Hinnerk und Lou Scheper überlebten die Kriegs- beiden Bilderbücher „Die Geschichte von Jan und jahre in völliger Zurückgezogenheit. Fachlich- Jon und von ihrem Lotsenfisch“ und „Bälkchen handwerkliche Aufträge hielten die mittlerweile erzählt seine Geschichte“ positiv und empfahl sie fünfköpfige Familie über Wasser. Nach dem Ende mit je 15000 Exemplaren zur Veröffentlichung des Krieges konnten dann die brachgelegenen „in Anbetracht der außergewöhnlichen künst- künstlerischen Aktivitäten intensiviert werden. lerischen Qualität der Illustrationen“.13 Auch Schon Ende Mai 1945 wurde Hinnerk Scheper die Prüfung zweier weiterer Bilderbuchentwürfe vom Stadtrat für Bau- und Wohnungswesen durch den kulturellen Beirat im Herbst 1947 ver- des Magistrats von Berlin mit der Sicherung lief positiv. „Knirps, ein ganz kleines Ding“ und von Kunstwerken und Baudenkmalen der Stadt „Puppe Lenchen“ wurden in einer Auflagenhöhe beauftragt. Zum Jahresende 1945 wurde er zum von 25000 Exemplaren für den Druck genehmigt. Konservator von Berlin und Leiter der Abteilung „Über den Erfolg unserer Bemühungen können Denkmalpflege und Stadtplanung ernannt – ein wir sehr glücklich sein, denn es hat sich gezeigt,

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dass nur die besten und bedeutendsten Leistun- gehört in die erste Klasse der Jugendbuch-Verleger. gen bei der herrschenden Papierknappheit eine Sein modernstes [Bilderbuch] sind die Geschichten Druckbefürwortung erfahren“, kommentierte und Illustrationen­ von Lou Scheper-Berkenkamp. der Verleger zufrieden.14 Lou Scheper kommt vom Bauhaus und hat eine betont kon­struktive Phantasie. Diese Bilderbücher So erschienen im Ernst Wunderlich Verlag 1948 sind aus einem Guß; Text, Schrift und Bild sozusa- vier Werke von Lou Scheper-Berkenkamp in gen aus den Elementen entwickelt“.16 folgender Reihenfolge: „Knirps, ein ganz kleines Ding“, „Puppe Lenchen“, „Tönnchen, Knöpfchen Aber das Publikum der Nachkriegszeit verlangte und andere“ sowie „Die Geschichte von Jan und nach einer traditionellen Sicht der Dinge. „Ex- Jon und von ihrem Lotsenfisch“. Das als erstes perimente“ im Sinne einer modernen Kunst- Buch bewilligte „Bälkchen“ ist nie erschienen – auffassung waren nicht erwünscht und störten die Gründe dafür sind unklar und wohl hauptsäch- eher. Zudem erschwerte die wachsende Kluft lich in den Schwierigkeiten der Nachkriegszeit zu zwischen Ost und West, mit der dadurch beding- suchen. ten politischen Isolierung Ostdeutschlands den künstlerischen Austausch. Die Modernität der In der Fachpresse schrieben Friedrich Böer und Bilderwelt von Lou Scheper-Berkenkamp wurde Will Grohmann positive und engagierte Bespre- als vermeintlich westliche Ideologie abgelehnt. chungen: „Die Kinder sind seltsam gefesselt, So erlebten die Künstlerin und ihr unermüdlich wenn sie die Bücher von Lou Scheper-Berkenkamp kämpfender Verleger zunehmend offene Ableh- betrachten. Die Bücherseiten sind mit feingestri- nung. Der Rat der chelten, bunten Einfällen bedeckt, in denen sich Originaltitel aus: „Bälkchen“, Lehrer und Erzie- unveröffentl., um 1947 Elemente der Kinder- her, als Zen­tralstelle zeichnung, mittelalterli- für Jugendliteratur cher Bildsprache [...] und in einflussreicher des Surrealismus [...] auf Position, schrieb kuriose und bestechende abwertende Beur- Weise durchdringen. [...] teilungen: ­„[D]ie das merkwürdig „Neue“ farbigen Bilder sind […] lässt die Augen der neuartig, z.T. gro- Kinder nicht mehr los tesk [...] so düster, und erregt und verzau- freudlos und leblos bert ihre Phantasie“.15 [...] wir lehnen „Ernst Wunderlich ab“.17

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Im Sommer 1949 fand in der Deutschen Bücherei rellen Wiederaufbau Berlins mit, vor allem im Zu- in Leipzig die erste umfassende Nachkriegsaus- sammenhang mit der beruflichen Tätigkeit ihres stellung, „Alte und Neue Kinderbücher“, statt. In Mannnes. Sie beteiligte sich an Ausstellungen in einer Besprechung im „Börsenblatt des Deut- Berlin und der Bundesrepublik Deutschland und schen Buchhandels“ offenbart sich die Macht der war 1951 Gründungsmitglied der Berliner Künst- konservativen Kritiker. Lou Schepers Bilderbücher lervereinigung „Der Ring“. Sie engagierte sich im werden als „Experimente“ abgelehnt, die „ob Berufsverband Bildender Künstler Berlins und war ihrer Zweifelhaftigkeit von vornherein zum Vor- ab 1956 an der Ausrichtung der„Großen Berliner beigelingen verurteilt sind“. Die Bösartigkeit der Kunstausstellung“ beteiligt. Kritik gipfelte im Vorwurf, dass die betrachtenden Kinder „Albträume“ und „Angst vor diesen stil­ Am 5. Februar 1957 starb plötzlich und unerwar- äugigen [sic] tragigrotesken verzerrten Geschöp- tet, noch keine 60 Jahre alt, Hinnerk Scheper. Der fen, Angst vor diesem wirren Durcheinander“ Tod ihres langjährigen Gefährten und künstleri- bekämen.18 schen Wegbegleiters war ein schwerer, kaum zu überwindender Schlag. In inniger Übereinstim- Künsterin und Verleger wehrten sich, verfassten mung mit seinem künstlerischen Lebenswerk Gegendarstellungen und kämpften um ihren beschäftigte sie sich nun zunehmend mit dem künstlerischen Ruf, aber die Mauer von Ignoranz Thema der Farbe in der Architektur und kehrte und Feindseligkeit war nicht zu durchbrechen. damit zu ihren Bauhaus-Wurzeln, der farbigen So schrieb Wunderlich im Februar 1950 resigniert Wandmalerei, zurück. Lou Scheper veröffentlichte an Lou Scheper-Berkenkamp: „Das Unverständnis, Aufsätze zur Wandmalerei in der Architektur, zur dem Ihr Werk begegnet, hat meine Auffassung Denkmalpflege und war an verschiedenen Aufträ- von seiner Bedeutung nicht beeinflussen können. gen der Farbberatung und -gestaltung beteiligt. Als Es mangelt aber weithin bekanntestes Projekt ist an Phantasie und Bereit- die Farbgestaltung der schaft zur Einfühlung in neuen Berliner Phil- künstlerische Fragen.“19 harmonie nennen, die ihr der Architekt Hans Lou Scheper-Berkenkamp Scharoun (1893-1972) setzte einen Schlussstrich übertragen hatte. unter ihr Bilderbuch- schaffen: Zu verletzend In ihrem Rückblick waren die Angriffe auf 1971 erinnerte sich Lou ihre Kunst, als dass sie Scheper: „Es gibt in der sich diesen weiter ausset- Architektur und der zen wollte. So erschienen Kunst unserer Zeit we- nur die vier genannten nig, was nicht im Bau- Bilderbücher, viele haus vorempfunden, weitere Projekte blieben vorformuliert, vorge- unveröffentlicht und ahnt worden ist [...] Ein befinden sich heute in Fragment, ohne Zweifel, einem Privatarchiv. dieses unser nun schon legendäres Bauhaus, Lou Scheper wirkte auf ­verklärt durch den Reiz vielerlei Weise am kultu- Originalvorlage aus: „Tüttchen“, unveröffentl., 1938 des Unvollendeten.“20

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Am 11. April 1976 starb Lou Scheper-Berken- 8 Undatierter Brief. Archiv des Ernst Wunderlich Verlags kamp. Sie ist an der Seite ihres Mannes auf dem 9 Zitat aus einer Ankündigung des Ernst Wunderlich Verlags. Verlagsarchiv Zehlendorfer Friedhof in Berlin beerdigt. Als Frau 10 Aus einem Briefwechsel. Archiv des Ernst Wunderlich und Künstlerin am legendären Bauhaus wird sie Verlags heute zunehmend wahrgenommen: In den 2009 11 Scheper, Lou: Rückschau. In: Neumann, Eckhard (Hrsg.): Bauhaus und Bauhäusler. Erw. Neuausg., Köln: erschienenen Publikationen zum Jubiläum des DuMont, 1985, S. 179 Bauhauses findet sie ihren Platz und wird im 12 Brief des Verlegers Ernst Wunderlich an Lou Scheper- Zusammenhang mit ihrem Mann Hinnerk, aber Berkenkamp vom 28.5.1947. Archiv des Ernst Wunder- auch als eigenständige Künstlerin in Erinnerung lich Verlags 13 Schreiben des kulturellen Beirates für das Verlags­ gerufen und gewürdigt. wesen an den Verleger Ernst Wunderlich vom 2.5.1947. Archiv des Ernst Wunderlich Verlags Herrn Dr. Dirk Scheper, Berlin, danke ich von 14 Brief des Verlegers Ernst Wunderlich an Lou Scheper- Berkenkamp vom 11.11.1947. Archiv des Ernst ganzem Herzen für seine Großzügigkeit und ­Wunderlich Verlags Geduld, mit der er mir den Zugang zum Nachlass 15 Friedrich Böer (1949). Zitiert in einem Verlagsprospekt seiner Mutter Lou Scheper-Berkenkamp ermög- des Ernst Wunderlich Verlags 16 Will Grohmann: „Kinder wollen keinen Kitsch“ (1949). lichte. Ohne seine Gastfreundschaft und Zeit und Ebda. ohne die vielen persönlichen Gespräche hätte 17 Abschrift des Bescheids des Rates der Lehrer und diese Arbeit so nicht geschrieben werden können. Erzieher im FDGB, , 1948. Archiv des Ernst Wunderlich Verlags 18 Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, Nr. 28 vom Dr. Barbara Murken, Fachärztin für Psychosoma- 9.7.1948 tische Medizin und Psychotherapie, befasst sich 19 Brief des Verlegers Ernst Wunderlich an Lou Scheper- Berkenkamp vom 17.2.1950. Archiv des Ernst Wunder- seit vielen Jahren in Vorträgen und Publikationen lich Verlags mit historischen Kinder- und Jugendbüchern. 20 Scheper, Lou: Rückschau. In: Neumann, Eckhard (Hrsg.): Ein Schwerpunkt ihres Interesses gilt der Bilder­ Bauhaus und Bauhäusler. Erw. Neuausg., Köln: DuMont, buchillustration in der ersten Hälfte des 20. Jahr- 1985, S. 180 hunderts. Sie lebt in Ottobrunn. Dieser Beitrag Quellen ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie im Doderer, Klaus [u. a.] (Hrsg.): Das Bilderbuch. Geschichte Oktober 2009 in der Internationalen Jugendbib- und Entwicklung des Bilderbuchs. Weinheim und Basel: liothek gehalten hat. Beltz, 1973, S. 367 Droste, Magdalena: Bauhaus. 1919 - 1933. Köln: Taschen, 1 Müller, Ulrike: Bauhaus-Frauen. Meisterinnen 1990 in Kunst, Handwerk und Design. München: Müller, Ulrike: Bauhaus-Frauen. Meisterinnen in Kunst, Sandmann, 2009, S. 99 Handwerk und Design. München: Sandmann, 2009, S. 98ff 2 Ebda. 3 Ebda., S. 8 Scheper, Lou: Rückschau. In: Neumann, Eckhard (Hrsg.): 4 Die Satzungen des Staatlichen Bauhauses zu Bauhaus und Bauhäusler. Erw. Neuausg., Köln: DuMont, Weimar, 1921, §3 Aufnahmen. In: Wingler, 1985, S. 174ff Hans M.: Das Bauhaus.1919 - 1933. Weimar, Scheper, Renate: Hinnerk Scheper. Farbgestalter, Fotograf, Dessau, Berlin und die Nachfolge in Chicago seit 1937. Denkmalpfleger; vom Bauhaus geprägt. Bramsche: Rasch, 3., verb. Aufl., Bramsche: Rasch, 1975, S. 54 2007 (Katalogbuch zur Ausstellung im Meisterhaus Muche 5 Droste, Magdalena: Bauhaus. 1919 - 1933. in Dessau vom 5. Oktober bis 25. November 2007) Köln: Taschen, 1990, S. 72 Wingler, Hans M.: Das Bauhaus.1919 – 1933. Weimar, 6 Scheper, Lou: Rückschau. In: Neumann, Dessau, Berlin und die Nachfolge in Chicago seit 1937. 3., Eckhard (Hrsg.): Bauhaus und Bauhäusler. verb. Aufl., Bramsche: Rasch, 1975 Erw. Neuausg., Köln: DuMont, 1985, S. 177 7 Die Welt der Lou Scheper. Archiv des Ernst Wunderlich Verlagsunterlagen 1947 - 1951. Archiv des Verlags Ernst Verlags, Leipzig, um 1947 Wunderlich, Leipzig (unveröffentlicht)

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