Plenarprotokoll 13/129

Deutscher

Stenographischer Bericht

129. Sitzung

Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Inhalt:

Vorverlegung der Frist für die Einreichung - Zweite und dritte Beratung des von der Fragen für die Fragestunde 11631 B den Abgeordneten Gerald Häfner, Kerstin Müller (Köln), weiteren Ab- Zusatztagesordnungspunkt 13: geordneten und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Aktuelle Stunde betr. Haltung der Entwurf eines Gesetzes zur Kom- Bundesregierung zu Beratungen des pensation von Überhangmandaten Tarifausschusses über Mindestlöhne (Drucksachen 13/5575, 13/5750) . . 11631 B im Baugewerbe 11619 A Leyla Onur SPD 11619 B b) Beschlußempfehlung und Be richt des Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . 11620B Innenausschusses (Bremen) BÜNDNIS 90/ - zu der Unterrichtung durch die Bun- DIE GRÜNEN 11621B desregierung: Bericht der Wahl- kreiskommission für die 13. Wahl- Uwe Lühr F.D.P 11622 A periode des Deutschen Bundestages Dr. Heidi Knake-Werner PDS 11622 D gemäß § 3 Bundeswahlgesetz Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 11623 C - zu dem Zwischenbericht der Reform- Peter Dreßen SPD 11624 B kommission zur Größe des Deut- Dr. Reinhard Göhner CDU/CSU . . . 11625B schen Bundestages: Empfehlungen Ernst Schwanhold SPD 11625 D für die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag und zu den wesentlichen Heinz Schemken CDU/CSU 11626 D Regelungen für die Verkleinerung Erika Lotz SPD 11627 D des Deutschen Bundestages Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMBau 11628D - zu dem Ergänzenden Be richt der Re- Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 11630 B formkommission zur Größe des Deut- schen Bundestages zu dem Zwi- Tagesordnungspunkt 14: schenbericht: Empfehlungen für die a) - Zweite und dritte Beratung des von Wahl zum 14. Deutschen Bundestag und zu den wesentlichen Regelun- den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines gen für die Verkleinerung des Deut- schen Bundestages Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksa- hier: Empfehlungen zu den wesent- chen 13/5583, 13/5750) lichen Regelungen für die - Zweite und dritte Beratung des von Verkleinerung des Deutschen der Fraktion der SPD eingebrachten Bundestages ab der 15. Wahl- Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes periode zur Änderung des Bundeswahlgeset- (Drucksachen 13/3804, 13/4560, 13/ zes (Drucksachen 13/5582, 13/5750) 4860, 13/5750) 11631 C

II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Erwin Marschewski CDU/CSU 11632 A Dr. Winfried Wolf PDS 11667 D Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 11633 C Hans-Peter Kemper SPD 11668 D Fritz Rudolf Körper SPD 11633 D Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 11670B Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 11635A, 11644 C Tagesordnungspunkt 17: Peter Conradi SPD 11635 D Bericht des Petitionsausschusses: Bitten - Jörg van Essen F.D.P. 11637 B und Beschwerden an den Deutschen Bundestag - Die Tätigkeit des Peti- Dr. PDS 11638 D tionsausschusses des Deutschen Bun- Dr. PDS 11639 C destages im Jahr 1995 (Drucksache 13/ 4498) 11671C Dr. Rupert Scholz CDU/CSU . . 11640B, 11645B, 11646 B Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . . . 11642 C NEN 11671C, 11682D Dr. Rupert Scholz CDU/CSU 11644 B CDU/CSU 11673 D Dr. Gregor Gysi PDS 11645D Lisa Seuster SPD 11675 C Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . 11677A Tagesordnungspunkt 15: Heidemarie Lüth PDS 11679 C Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Wolfgang Dehnel CDU/CSU . 11680B, 11684 B eingebrachten Entwurfs eines ... Ge- Wilma Glücklich CDU/CSU 11681 C setzes zur Änderung der Strafpro (Drucksachen 13/2576, 13/-zeßordnung Jutta Müller (Völklingen) SPD 11683 B 5743) 11647 A Klaus Dieter Reichardt (Mannheim) CDU/ CDU/CSU 11647 B CSU 11685B Allred Hartenbach SPD 11649 A Lisa Seuster SPD 11686 B Alfred Hartenbach SPD 11649 C Jutta Müller (Völklingen) SPD . . . 11686C (Köln) BÜNDNIS 90/DIE Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ GRÜNEN 11652B NEN 11686D Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 11653 D Amke Dietert-Scheuer BÜNDNIS 90/DIE Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 11654 D GRÜNEN 11687 D Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU . . . . 11655 D Hildegard Wester SPD 11689 A Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD 11656 D Matthäus Strebl CDU/CSU 11690 D Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . 11657 D Christel Deichmann SPD 11692A Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesmi nister BMJ 11658 C Tagesordnungspunkt 18:

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD 11659 C Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zu dem Antrag der Tagesordnungspunkt 16: Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordne- Antrag der Abgeordneten Günter Graf ter und der Gruppe der PDS: Ein- (Friesoythe), Hans-Peter Kemper, wei- setzung einer Enquete-Kommission terer Abgeordneter und der Fraktion „Reform der Kommunalfinanzierung" der SPD: Private Sicherheitsdienste (Drucksachen 13/984, 13/5749) . . . 11693C (Drucksache 13/3432) 11660 A Günter Graf (Friesoythe) SPD 11660 B Dr. Uwe-Jens Rössel PDS 11693 C Michael Teiser CDU/CSU 11662 C Carl-Ludwig Thiele F.D.P. 11694 C Günter Graf (Friesoythe) SPD . . . . 11662 D Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 11695 C Manfred Such BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 11665A Nächste Sitzung 11696 C Dr. F D P. 11665 B Dr. Max Stadler F D P. 11666 B Berichtigung 11696 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 III

Anlage 1 Anlage 3

Liste der entschuldigten Abgeordneten . 11697* A Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- ordnungspunkt 18 (Antrag: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Reform der Kommunalfinanzierung") Anlage 2 Reiner Krziskewitz CDU/CSU 11698* B Erklärung nach § 31 GO des Abgeord- neten Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE Ludwig Eich SPD 11699* C GRÜNEN) zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschus- ses zu den Gesetzentwürfen zur Ände- Anlage 4 rung des Bundeswahlgesetzes (Tagesord- nungspunkt 14) 11697* C Amtliche Mitteilungen 11700* C

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129. Sitzung

Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Beginn: 8.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, partnern festgelegt worden ist, weiterhin blockiert, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff- die Möglichkeit haben, diesen Mindestlohn durchzu- net. setzen. Sie legen ja nicht die Höhe des Mindestlohns fest. Dieses Recht wollen wir Ihnen in der Tat nicht Ich rufe den Zusatzpunkt 13 auf: geben. Wir wollen keinen staatlich festgelegten Min- destlohn. Aber wir wollen Ihnen im Interesse der ar- Aktuelle Stunde beitslosen einheimischen Bauarbeitnehmer, im Inter- auf Verlangen der Fraktion der SPD esse der kleinen und mittleren Betriebe im Bauhand- Haltung der Bundesregierung zu Beratungen werk die Möglichkeit geben, dafür zu sorgen, daß des Tarifausschusses über Mindestlöhne im die Regelung bezüglich des von den Tarifpartnern Baugewerbe festgelegten Mindestlohns endlich umgesetzt wird. Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat die Abge- Sie haben sich unserem Änderungsvorschlag bis- ordnete Leyla Onur das Wort. her verweigert, nachzulesen in der Stellungnahme der Bundesregierung zu dem ja gleichlautenden Vor- schlag des Bundesrates. Wie scheinheilig die Argu- Leyla Onur (SPD): Guten Morgen, Frau Präsiden- mentation Ihres Hauses ist, könnte ich Ihnen jetzt tin! Guten Morgen, meine lieben Kolleginnen und Wort für Wo rt vorlesen. Ich beschränke mich aber auf Kollegen! Guten Morgen, Herr Bundesarbeitsmi- einige Anmerkungen. nister! Herr Minister, haben Sie eigentlich gut geschlafen heute nacht? Ich vermute: Seit dem Sie weisen in dieser Stellungnahme darauf hin, 8. Oktober müßten selbst Sie Alpträume haben. Oder daß Sie die Arbeitgeber im Tarifausschuß nicht aus erscheinen Ihnen nicht im Schlaf 200 000 arbeitslose der Verantwortung entlassen wollen, daß der Staat einheimische Bauarbeitnehmer und ihre Familien- die Verantwortung nicht übernehmen wolle. Sie angehörigen, also summa summarum 1 Million Men- drücken sich vor der Verantwortung, nicht mehr und schen, die Sie klagend anstarren, weil Sie es bisher nicht weniger. nicht geschafft haben, das Entsendegesetz umzuset- (Beifall bei der SPD und der PDS) zen? (Beifall bei der SPD und der PDS) Unser Vorschlag besagt nicht, daß Sie in Zukunft die Höhe des Mindestlohnes festlegen sollen; son- Was haben Sie bisher getan, Herr Bundesarbeits- dern unser Vorschlag besagt ausdrücklich - ich wie- minister? Sie haben an die Arbeitgeber im Tarifaus- derhole dieses -, daß sich die Tarifpartner einigen schuß appelliert, doch endlich ihre Blockadehaltung sollen und daß Sie für den Fa ll, daß sich die System- aufzugeben. Sie werden auch weiterhin appellieren. veränderer auf der Arbeitgeberbank nicht bewegen, Nur: Tun werden Sie nichts; jedenfalls haben Sie das diese Möglichkeit haben sollen. angekündigt. Wir wollen heute die Gelegenheit nut- zen, noch einmal zu versuchen, Sie davon zu über- Daß sich die Tarifpartner nicht wirklich bewegen, zeugen, daß Sie jetzt endlich handeln müssen, daß zeigen die neuen Bedingungen, die sie am 8. Oktober Sie sich nicht länger zum Erfüllungsgehilfen von ra- aufgebaut und die es nicht möglich gemacht haben, dikalen Systemveränderern auf der Arbeitgeberseite zu einer Einigung zu kommen. Es werden bewußt machen dürfen. neue Bedingungen aufgebaut, zum Beispiel, daß die- ser Mindestlohn nur bis zum 31. Mai ohne Nachwir- Tun Sie endlich das, was wir Ihnen im Juni vorge- kungen Gültigkeit haben soll. Was das bedeutet, schlagen haben, nämlich das Entsendegesetz dahin brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären. Danach gehend zu ändern, daß es einen Auflösungsmecha- stehen wir wieder mit leeren Händen da. Danach nismus enthält. Das heißt auf neuhochdeutsch, daß werden in Deutschland wieder Menschen aus ande- Sie, Herr Bundesarbeitsminister, dann, wenn der Ta- ren Staaten zu Billiglöhnen ausgebeutet werden, rifausschuß den Mindestlohn, der ja von den Tarif- während gleichzeitig 200 000 einheimische Arbeit- 11620 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Leyla Onur nehmer arbeitslos sind. Dieses wollen wir nicht län- Es sind wirklich verrückte Zeiten: Wir als Gesetz- ger zulassen. geber beschließen bei der Lohnfortzahlung eine Re- gelung, die nicht in Tarifverträge eingreift; und die Deswegen fordern wir Sie heute noch einmal ein- Arbeitgeber gehen hin und machen was anderes dar- dringlich auf: Stimmen Sie unserem Vorschlag zu, aus. oder finden Sie eine andere Lösung für das Problem. (Widerspruch bei der SPD) Sie tun bislang gar nichts. Wir sind auch einverstan- den, wenn Sie einen anderen vernünftigen Lösungs- Es ist wirklich eine verrückte Zeit, wenn uns die vorschlag für das Problem machen. Nichtstun hilft Demonstrationen des DGB beeindrucken sollen,- uns nicht aus dieser Falle heraus. während wir Gesetze machen. Ich finde, es muß je- der an seiner Stelle seine Pflicht tun: als Arbeitgeber- (Beifall bei der SPD) vertreter, als Arbeitnehmervertreter und wir als Ge- Herr Minister, wir haben unsere Hand zum Schwur setzgeber. gereicht, wir haben diesem Entsendegesetz zuge- (Jann-Peter Janssen [SPD]: Thema verfehlt! stimmt. Wir stecken alle miteinander in der Fa lle. Setzen Sie sich!) Nur: Im Gegensatz zu Ihnen sind wir in der Lage, rechtzeitig Änderungsvorschläge zu machen, damit - Das Thema ist nicht verfehlt; das gehört wirk lich in wir aus der gemeinsam aufgestellten Fa lle auch wie- den Zusammenhang. der herauskommen. Sie verweigern sich nach wie Die Fakten sprechen eine klare Sprache; ich wi ll VOL die Zahlen noch mal nennen. Derzeit sind rund 200 000 Arbeiter ausländischer Niedriglohnfirmen auf Deutschlands Baustellen tätig. Zugleich sind Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Kommen Sie bitte zum Schluß. zirka 180 000, 190 000 heimische Bauarbeiter ohne Beschäftigung. Das ist das Problem. Darum geht es. Zugleich sind immer häufiger deutsche Bet riebe Leyla Onur (SPD): Abschließend möchte ich nur chancenlos in ihren Kalkulationen. Wir wissen das al- noch meiner Freude Ausdruck verleihen, daß die les. Wir haben das mehrfach miteinander diskutiert. Entsenderichtlinie am 24. September end lich verab- schiedet worden ist und bis zum 24. September 1999 Es steht fest: Im Miteinander der Tarifparteien und endgültig in nationales Recht umgesetzt werden des Gesetzgebers müssen wir eine Lösung finden. muß. Der Gesetzgeber hat seine Pflicht getan. Wir haben das Entsendegesetz verabschiedet. Bereits seit März Ich danke Ihnen. 1996 konnten die Regelungen geschaffen werden. Jetzt sind die Tarifparteien am Werk. Sie müssen die (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Lösung finden. Wir wollen sie nicht aus der Verant- GRÜNEN und der PDS) wortung herausnehmen. Das ist gegen die Tarifauto- nomie. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Red- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - ner spricht Wolfgang Meckelburg. Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Die Tarif- parteien haben sich schon geeinigt!) Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Frau Präsiden- - Natürlich, Herr Büttner, auch die Tarifparteien ha- tin! Meine Damen und Herren! Morgenstund hat ben sich bewegt. Im Baugewerbe haben sie zweimal Gold im Mund, so sagt es der Volksmund. Ob das am miteinander verhandelt. Im Mai haben sie Niedrig Ende für die heutige Aktuelle Stunde zutreffen kann, löhne von 18,60 DM für West- und 17,10 DM für Ost- wage ich jetzt schon zu bezweifeln. deutschland vereinbart. Nachdem man sich im Tarif- (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND ausschuß darauf nicht einigen konnte, haben sie sich NIS 90/DIE GRÜNEN) noch einmal zusammengesetzt. Da ist doch unwahr- scheinlich viel Bewegung gewesen. Haben wir das Ich wage das deswegen zu bezweifeln, weil wir mit alles nicht mitbekommen? Die Einigung schreibt jetzt dieser Aktuellen Stunde nichts bewirken werden - Mindestlöhne von 17 DM im Westen und 15,64 DM keinen einzigen Arbeitsplatz. im Osten fest. Diese Bewegung müssen wir doch ein- fach zur Kenntnis nehmen. Wir wollen uns auch von Ihnen nicht - das sage ich in aller Deutlichkeit zu Ihnen, meine Damen und Wir stehen jetzt wirklich vor der letzten Hürde. Herren von der SPD, da Sie so zahlreich erschienen Auch ich bedauere, daß das am Mittwoch nicht ge- sind - klappt hat. Man hat sich auf den 25. Oktober vertagt. Die dazwischenliegende Zeit muß genutzt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es geht wohl um die Dauer der Befristung. Das ist unter Druck setzen lassen, in die Tarifautonomie ein- das Problem, das die Tarifparteien miteinander zu zugreifen. Sie ist und bleibt für uns ein hohes Gut. klären haben. Auch wenn Sie Interesse daran haben, werden wir Es geht, wenn ich das richtig sehe, da nicht eingreifen. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Sehen Sie nicht!) (Lachen bei der SPD und der PDS) um folgendes: Zum einen wird der Standpunkt ver - Sie können da gern lachen. treten, man solle das Entsendegesetz voll ausnutzen, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11621

Wolfgang Meckelburg zum anderen steht der Vorschlag im Raum, es bei der Begreifen Sie doch, meine Damen und Herren: Das Befristung bis zum 31. Mai nächsten Jahres zu belas- lange Zuwarten, zunächst der europäischen Instan- sen, und schließlich wird auch - das kann man ja zen und dann der nationalen Ebene, hat dazu ge- nachlesen - der 31. Dezember 1997 als Termin ge- führt, daß unter vielen Menschen zunehmend die nannt. Wir sollten den Mut haben, den Tarifparteien Stimmung herrscht, Europa sei eher eine Bedrohung auch diesen letzten Schritt, eine Einigung über die als ein Gewinn. Das muß uns hier im Parlament be- Befristung der Laufzeit zu finden, zu überlassen. Wir schäftigen. wollen keine gesetzlichen Mindestlöhne; wir wollen da nicht eingreifen, sondern eine Lösung, die wirk- Ich frage mich wirklich, was sich die Bundesverei- lich hilft und von den Tarifparteien ohne Zwang ver- nigung der Arbeitgeber bei ihrem riskanten Spiel einbart ist. denkt, indem sie seit Monaten eine einvernehmliche Lösung in der Baubranche blockiert. Die BDA be- Meine Damen und Herren, wir von der Politik er- treibt ihre Art von Standortpolitik auf Kosten der warten - ich sage das in aller Deutlichkeit -, daß sich europäischen Sache. die Tarifparteien bewegen, daß sie am 25. Oktober (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Lösung finden. Dies darf keine unendliche Ge- und der SPD) schichte werden - um der Arbeitslosen willen, damit aus deutschen Arbeitslosen Arbeitnehmer werden. In solch einem Fall hätte es die Verantwortung der Sie kennen die Zahlen: Ein Unterschied von Regierung schon lange erfordert, diesem Treiben 100 000 Arbeitslosen bedeutet für die Sozialkassen nicht einfach zuzusehen, sondern das Gesetz des Mehr- oder Minderausgaben in Höhe von 3 Milliar- Handelns wieder an sich zu ziehen. den DM. Auch deshalb müssen wir an dieser Frage Interesse haben. Es ist bereits vor einem Jahr erklärt worden, daß der von der Bundesregierung verabschiedete Ent- Wir erwarten, daß das keine unendliche Ge- wurf einer Entsenderichtlinie nicht greifen würde, schichte wird, sondern daß die Verhandlungen am denn die BDA hatte bereits im vorhinein erklärt, daß 25. Oktober zu einer Erfolgsstory werden, damit aus sie sich dem Gesetz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit deutschen Arbeitslosen deutsche Bauarbeitnehmer am gleichen Ort" widersetzen würde. werden und wir ein Stückchen vorankommen auf Wider besseres Wissen haben Sie trotzdem ein Pla- dem Weg der Besserung auf dem Arbeitsmarkt. cebo-Gesetz gemacht und dabei die gefährliche Schönen Dank. Folge in Kauf genommen, daß die Spaltung der Ar- beitnehmer auf dem Bau in ausländische und deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sche Konkurrenten immer rabiater wird. Die Gewerkschaften haben sich trotz der offenen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt Provokation durch die BDA sehr verantwortlich ver- die Kollegin Marieluise Beck. halten. Sie haben den Schlichterspruch angenom- men, obwohl ihnen das wahrlich nicht leichtgefallen ist. Es hat den Arbeitgebern immer noch nicht ge- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reicht; jetzt soll die Vereinbarung zeitlich so gestutzt NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! werden, daß damit praktisch die nächste Runde er- Wir alle hier im Haus wollen das gemeinsame Eu- öffnet wird, bevor die Vereinbarung greifen kann. ropa bauen. Wir alle wissen, daß dieser Weg steinig ist und daß in vielen Ländern die Zustimmung in der Nicht einmal die Unternehmerseite im Baubereich Bevölkerung zum gemeinsamen Europa zu schwin- kann mit dieser Strategie zufrieden sein; denn das den droht. Preisdumping treibt zwangsläufig die Bet riebe in den Konkurs, die nach wie vor ihre Arbeiter tariflich Es war ein großer Schritt, die Freizügigkeit der Ar- entlohnen. Wenn Sie also schon die Arbeitnehmer beitnehmer und Arbeitnehmerinnen bei der Arbeits- nicht schützen wollen, dann sollten Sie doch wenig- platzwahl in Europa einzuführen. Es war ein Schritt stens so klug sein, die mittelständischen Unterneh- auf dem Weg zur Unionsbürgerschaft. Nun ist es ge- men zu schützen, für die das Gesetz des gleichen radezu verheerend, daß diese Freizügigkeit zu gro- Lohns für gleiche Arbeit eine unverzichtbare Voraus- ßen Spannungen unter den Menschen führt, die um setzung ist, um im gnadenlosen Konkurrenzkampf ihre Arbeitsplätze, um ihr Einkommen und um ihre bestehen zu können. soziale Sicherheit kämpfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir alle kennen die dramatischen Verhältnisse auf und der SPD sowie bei Abgeordneten der den Baustellen. Es ist darüber hier im Haus und in PDS) den Ausschüssen viel gesprochen worden. Die Tatsa- Es gibt eben zwei Seiten der Tarifverträge, und sie che, daß ausländische Arbeitnehmer von deutschen dienen auch der Unternehmerseite. Arbeitnehmern zunehmend als Bedrohung empfun- den werden, weil sie dazu benutzt werden, das ge- Wie lange wollen Sie die Strategie des Zuwartens samte Lohn- und Sozialgefüge aufzuweichen, muß noch durchhalten? Sie wissen, was zu tun ist. Die uns hier im Parlament in höchste Alarmstimmung Vorschläge liegen auf dem Tisch; das ist soeben von versetzen. Der Verweis auf die Tarifautonomie hilft Frau Kollegin Onur erwähnt worden. Sie haben es nicht, wenn ein britischer Bauarbeiter angegriffen abgelehnt, die ortsüblichen Tarifverträge zum Maß- und zum Querschnittsgelähmten gemacht wird. stab für Beschäftigung aller am gleichen Ort zu ma- 11622 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Marieluise Beck (Bremen) chen, egal ob deutsch oder nicht deutsch. So bleibt chen Lohn am gleichen O rt " können ostdeutsche Be- nur der Vorschlag, daß der Bundesarbeitsminister in triebe in Westdeutschland aus allseits bekannten Abstimmung mit dem Bundesrat zur entscheidenden Gründen nicht einhalten. Instanz in solchen Patt- und Konfliktsituationen im Tarifausschuß werden muß. Wenn ein Mindestlohn allgemeinverbindlich wird, der die durchschnittlich in den neuen Bundesländern Das ist eine Notlösung - ich gebe es zu -, aber Not- gezahlten Baulöhne übersteigt, sind deutsche Arbeit- lösungen sind besser als keine Lösungen, vor allen nehmer die Opfer, weil viele Bet riebe in Ostdeutsch- Dingen in so prekären Fragen. land in die roten Zahlen fahren werden. Mit dem Ent-- sendegesetz haben wir die konkrete Ausgestaltung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in die Hände der Tarifpartner zurückgelegt. Diese sowie bei Abgeordneten der SPD) Tarifpartner konnten sich nicht einigen, weil seitens Ich betone noch einmal: Wir alle wollen ein ge- der Gewerkschaften noch Denkbedarf bestand. Sie meinsames Europa. Wir haben die Pflicht und Schul- sind noch in Verhandlungen. Ich bin der Meinung, digkeit, aus dem Parlament heraus den schwierigen der Bundestag sollte in den Prozeß des Nachdenkens Weg des Zusammenführens der Menschen, der mit nicht störend eingreifen. vielen Brüchen versehen ist - wir wissen das; es gibt (Beifall bei der F.D.P.) nicht die reine Lehre -, vorzubereiten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Lieber Herr Kol- und der SPD sowie bei Abgeordneten der lege Lühr, auch Ihre Vertreter im Ältestenrat haben PDS) die Möglichkeit, dort noch einmal die Aktuelle Stunde anzufragen. Ich werde dann genauso wie ge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Der nächste Red- stern die Kriterien für Ablehnung oder Zustimmung ner ist der Kollege Uwe Lühr. noch einmal erläutern. (Dr. Peter Struck [SPD]: Davon rate ich drin- Uwe Lühr (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine sehr gend ab!) verehrten Damen und Herren! Wenn die F.D.P.-Frak- tion heute eine Aktuelle Stunde zur Haltung der Ge- Als nächste hat Dr. Heidi Knake-Werner das Wo rt. werkschaften zu Beratungen des Tarifausschusses über Mindestlöhne im Baugewerbe beantragt hätte, Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Frau Präsidentin! dann wäre sie höchstwahrscheinlich vom hochwer- Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Entsendege- ten Präsidium abgelehnt worden. Wenn nicht, wäre setz ist für die Bauwirtschaft ein Überlebensthema. zumindest von den Rednern der Opposition das Me- Das hat der Bundesarbeitsminister vor knapp einem netekel „Angriff auf die Tarifautonomie" beschwo- Jahr hier im Plenum erklärt. Herr Bundesarbeitsmini- ren worden. ster, Sie hatten recht. Aber gerade weil Sie recht hat- Eine Aktuelle Stunde zur Haltung der Bundesre- ten, müssen Sie sich natürlich heute tragen lassen, gierung zu Beratungen des Tarifausschusses über warum Sie die Bauwirtschaft bei diesem Überlebens- Mindestlöhne im Baugewerbe ist eindeutig der un- thema im Regen stehen lassen, warum Sie zulassen, taugliche Versuch, Schlagzeilen in Richtung Bundes- daß das gigantische Lohndumping weiter stattfinden regierung zu produzieren und davon abzulenken, kann, daß massenhaft ausländische Bauarbeiter auf daß es die Gewerkschaften sind, die die Vertagung deutschen Baustellen zu Hungerlöhnen beschäftigt der Entscheidung zu verantworten haben, und nicht werden, hunderttausende arbeitslose Bauarbeiter die Bundesregierung. ohne Perspektive bleiben und die Bauwirtschaft wei- ter in einer tiefen Krise steckt. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Unglaub lich!) (Beifall bei der PDS) Die Gewerkschaften wollten nicht Gefahr laufen, Sieben Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes daß mit Ablauf des Tarifvertrags nach objektiver Be- und nach Monaten zähen Ringens um den Mindest- wertung der Fakten festgestellt werden muß, daß die lohn durch die Bautarifparteien hat nun die BDA die von ihnen geforderte gesetzliche Regelung eventuell Dreistigkeit, erneut die Allgemeinverbindlichkeitser- schädliche Wirkungen hatte. A llen, die in der Ver- klärung für Mindestlöhne auf dem Bau zu verhin- gangenheit mit dem Thema Entsendegesetz oder dern, und das, obwohl Sie, Herr Minister, seit über Entsenderichtlinie befaßt waren, ist bekannt, daß die einem Jahr an die Arbeitgeber appellieren, der A ll F.D.P.-Bundestagsfraktion beides, einschließlich der -gemeinverbindlichkeit im Tarifausschuß zuzustim- Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, für ei- men. nen ordnungspolitischen Verstoß allererster Güte vor Ich möchte Sie noch einmal erinnern: Sie sagten allem gegen Europa hält. damals, ein Verband, der ein in Bedrängnis gerate- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne nes Mitglied, die Bauwirtschaft, im Stich läßt, muß ten der CDU/CSU) sich nicht wundern, wenn ihm die Mitglieder davon- laufen. Sie hofften, daß auch der Dachverband der Angewandt auf das Territorium der fünf neuen Arbeitgeber versteht, worum es geht. Bundesländer sind ostdeutsche Bauunternehmen faktisch vom Wettbewerb in der Bundesrepublik (alt) Ich denke, die Arbeitgeberfunktionäre wissen ge- ausgeschlossen. Die Regel „gleiche Arbeit für glei- nau, worum es geht. Sie demonst rieren Ihnen scham- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11623 Dr. Heidi Knake-Werner los, daß ihnen Ihre Deregulierungspolitik längst nicht „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen O rt " weit genug geht. Marktwidrige Verkrustungen auf- endlich Wirklichkeit wird. brechen, so heißt das bei Otto Schlecht im „Han- delsblatt" . Danke schön. Wie lange noch wollen Sie sich von den Arbeitge- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- bern an der Nase herumführen lassen? Die Blockade- ten der SPD) haltung der BDA zeigt, daß es von Anfang an völlig falsch war, anstelle der Ortsüblichkeit der Löhne den Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es redet jetzt der Weg der Allgemeinverbindlichkeit ins Gesetz zu Minister Dr. Norbert Blüm. schreiben. Die Arbeitgeber haben sich immer wieder neue Gründe einfallen lassen, um das Entsendege- setz zu stoppen. Erst war es die Höhe der Mindest- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und löhne. Es ist wohl nur der Kompromißbereitschaft der Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und IG Bau geschuldet, daß sich die Tarifpartner nach Herren! Der Gesetzgeber hat im Februar mit großer der ursprünglichen Vereinbarung nun auf einen Mehrheit das Entsendegesetz verabschiedet. Deutsch- deutlich niedrigeren Mindestlohn verständigt haben. land hat sich in Europa für die Entsenderichtlinie ein- Mit 17 DM West und 15,64 DM Ost beträgt dieser gesetzt und sie auch durchgesetzt. Sie gilt seit Sep- Mindestlohn übrigens nur zirka 80 Prozent der jewei- tember. Wir haben alles getan, was in unserer Macht ligen untersten Lohnstufe am Bau. Er bewegt sich steht. schon unterhalb der Schmerzgrenze. Für die Umsetzung sind aus guten Gründen die So- (Dr. [F.D.P.]: O Gott, wo ist bei zialpartner zuständig. Jetzt hat der Tarifausschuß Ihnen die Schmerzgrenze?) das Wort. Seine Verhandlungen sind unterbrochen, nicht abgebrochen. Die nächste Sitzung findet am Auch Sie, Herr Minister, werden das so sehen; 25. Oktober statt. Es entspricht einer Grundregel der denn in Ihrer Rede am 30. November 1995 sind Sie Tarifautonomie, jetzt nicht in diese Verhandlungen davon ausgegangen, daß die unterste Lohngruppe einzugreifen. als tarifvertraglicher Mindestlohn festgeschrieben wird. (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Peter Struck [SPD]: Wie lange wird denn schon verhan- (Dr. [F.D.P.]: Na und?) delt?) - Na und? Ich stelle es nur fest, Herr Graf. Derjenige, dem es um die Tarifautonomie geht, Aber selbst mit dieser Einigung auf unterstem Ni- kann jetzt nicht nach einer staatlichen Schlichtung veau kann sich die BDA nicht abfinden. Nun will sie rufen. unbedingt ohne jeden sachlichen Grund eine Befri- (Beifall bei der CDU/CSU - Uwe Lühr stung auf acht Monate; denn das Gesetz ist unsinni- [F.D.P.]: So ist es!) gerweise sowieso bis 1999 befristet. Aber auch hier zeigt sich die IG Bau kompromißbereit. Sie hat ange- Mit staatlichen Schlichtungen haben Gewerkschaf- boten, eine Befristung bis Ende 1997 einzugehen. ten und Arbeitgeber in der Weimarer Zeit schlechte Die Gewerkschaften haben also eine Menge Krö- Erfahrungen gemacht. Was Sie vorschlagen, ist nur eine Va ten geschluckt, damit das Entsendegesetz im Inter- riante der staatlichen Schlichtung. Die Va- esse der ausländischen Arbeiter, aber auch der vie- riante besteht darin, daß der Staat den Stichent- len arbeitslosen inländischen Bauarbeiter endlich scheid gibt. Das ist, wie die Weimarer Erfahrungen wirksam werde. gezeigt haben Auch der Bauwirtschaft ist natürlich immer noch (Widerspruch bei der SPD) nicht geholfen. Lohn- und Sozialdumping bestehen - doch -, eine Flucht aus der Verantwortung der So- fort . Jetzt ist Handeln angesagt. Die Zeit drängt. Es zialpartner. Sie rufen nach dem Staat, wo die Sozial- ist verantwortungslos, darauf zu warten, daß die Ar- partner und die Tarifpartner ihre Verantwortung ha- beitgeber ihre eigene Klientel weiter in die Konkurse ben. Damit ist dieser Ruf eine Unterminierung der treiben. Tarifautonomie, die ich zurückweise. Im Falle des Entsendegesetzes sind jedenfalls die (Beifall bei der CDU/CSU - Uwe Lühr Tarifpartner im Baubereich brennend an einer Lö- [F.D.P.]: Hört! Hört!) sung interessiert, um das Entsendegesetz zu einem wirksamen Instrument gegen Lohndumping und Ar- Wir wollen keine staatlich festgesetzten Mindest- beitslosigkeit werden zu lassen. löhne; das haben Sie festgestellt. Wir wollen aller- dings auch nicht, daß im Konflikt der Staat entschei- Die Regierungskoalition kann das Heft des Han- det, welcher Lohn gelten soll, weil das nur eine an- delns zurückerobern. Es ist hier schon angeführt wor- dere Form von staatlicher Entscheidung ist. den, wo der Lösungsweg liegt: Sie können dem Ge- setzentwurf des Bundesrates zustimmen. Sie hätten Ich fordere die Sozialpartner auf, in der Kompro- dann die Möglichkeit, deutlich zu machen, daß es Ih- mißsuche nicht zu versagen. Das wäre schlecht für nen mit einem Entsendegesetz im Interesse der Be- die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer einer um das schäftigten auf dem Bau wirklich ernst ist. Tun Sie Überleben kämpfenden Branche. Es wäre schlecht also endlich etwas, damit der vernünftige Grundsatz für die Sozialpartnerschaft; wenn ihre Regelungsfä- 11624 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Bundesminister Dr. Norbert Blüm higkeit abnimmt, dann wird der Ruf nach dem Staat Ich meine, wir haben gültige Tarifverträge gehabt, stärker. Und es wäre schlecht für Europa. nur haben andere in die Suppe gespuckt. Das finde ich, gelinde gesagt, eine Unmöglichkeit. Wenn gesagt wird, das Problem müsse durch Wett- bewerb und Lohnanpassung gelöst werden, dann (Beifall bei der SPD) stelle ich fest: Einem deutschen Bauarbeiter in Kolleginnen und Kollegen, was wir hier erleben, ist es nicht zumutbar, für den Stundenlohn eines Por- ist, finde ich, ein Trauerspiel auf dem Rücken von tugiesen zu arbeiten, weil er in Berlin mit diesem 180 540 arbeitslos registrierten Arbeitnehmern aus Stundenlohn seine Familie nicht ernähren kann. Das den Bauberufen. Hier spielen die Arbeitgeber ein- unterscheidet ihn von seinem portugiesischen Kolle- doppeltes Spiel. Der eigentliche Skandal, Herr Bun- gen in Lissabon. desarbeitsminister, ist, daß die Arbeitgeber dies nur tun können, weil die Bundesregierung nicht in der (Dr. Peter Struck [SPD]: Das sagen Sie mal Lage ist, den Kumpels am Bau zu helfen. - Nein, das Herrn Göhner oder den anderen Leuten von ist sogar falsch ausgedrückt. Sie wollen offenbar gar den Arbeitgebern! Das müssen Sie doch nicht helfen, Herr Bundesarbeitsminister. nicht uns erzählen!) (Beifall bei der SPD und der PDS) Er könnte nur dann mit diesem Stundenlohn leben, wenn in Berlin portugiesische Preise gelten würden. Wären Sie den Vorstellungen der SPD gefolgt, Dann wäre diese Empfehlung richtig; so ist sie falsch. dann hätten heute 130 000, vielleicht auch nur 100 000, am Bau Arbeit und Brot, die Sozialkassen (Beifall bei der CDU/CSU) wären um 3 Milliarden DM entlastet, und ein paar hundert Millionen wären auch noch bei Herrn Wai- Auch ein anderer Vergleich funktioniert nicht: Fir- gel gelandet. men, die Produkte in Billiglohnländern herstellen und nach hier importieren, nehmen nicht die deut- Wissen Sie eigentlich, was heute am Bau los ist? sche Infrastruktur in Anspruch. Wer hier arbeitet und Die Arbeitslosenzahlen in den Bauberufen sind vom produziert, muß sich an die Spielregeln halten, die dritten Quartal 1995 auf das dritte Quartal 1996 in hier gelten. Auch das gehört zu Europa. Niemand den alten Ländern um 33,1 Prozent gestiegen, und in würde sagen, ein englischer Autofahrer dürfte in Ber- den neuen Ländern waren es sogar 73,5 Prozent. In lin auf der linken Straßenseite fahren, weil er auch in allen anderen Bereichen ist der Zuwachs unter London auf der linken Straßenseite fährt. Wer hier 7 Prozent, in den neuen Ländern unter 10 Prozent ge- produziert, muß sich an die Arbeits- und die Lohnbe- blieben. dingungen in Deutschland halten. Nun mag ja sicherlich einiges auf die Konjunktur Wem es um Europa, wem es um die Tarifautonomie zurückzuführen sein. Aber der größte Schub kommt geht, wer es gut meint mit der Sozialpartnerschaft, eben durch die Subunternehmer, die ihre Arbeits- der kann nur ein großes Interesse daran haben, daß kräfte leider immer noch - zum größten Teil legal - die Tarifpartner zur Lösung fähig sind. Wer diese ver- aus den Niedriglohnländern beziehen. Begreifen Sie weigert, arbeitet den staatlichen Schlichtern in die doch endlich, daß wir hier Rahmenbedingungen Hände. Auf dieser Seite werden Sie mich nie und brauchen, die unseren Bauarbeitern vor Ort effektiv nimmer finden. helfen, und das um so mehr, weil Sie sich auf die Arbeitgeberverbände eben nicht verlassen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Das war auch unser großer Irrtum. Sie haben ja recht: [SPD]: Schlechtwetter Wir haben den Gesetzen im Bundestag zugestimmt, geld, 116 usw. usw. ! - Weiterer Zuruf von und zwar weil Sie uns damals erklärt haben: Die wer- der SPD: Lohnfortzahlung! - Rudolf Schar den sich schon einigen, die kommen zu Potte. Jetzt ping [SPD]: Immer drauf!) sehen wir, wohin wir mit Ihrer Aussage gekommen sind. Sie können Arbeitskräfte nicht dem Spiel des Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der Kollege Peter Dreßen. freien Marktes überlassen. Hier irrt der Herr Staats- sekretär a. D. Otto Schlecht, denn Arbeitskräfte sind keine Ware wie Bananen oder Maschinen. Peter Dreßen (SPD): Herr Bundesarbeitsminister, (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei das Gesetz, das wir hier im Bundestag verabschiedet Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE haben, ist jetzt 225 Tage alt. Im Mai haben sich die GRÜNEN) Tarifparteien, nämlich die IG Bau und der Arbeitge- berverband Bau, auf einen Lohn geeinigt. Das fan- Deutsche Arbeitnehmer müssen hier in Deutsch- den aber gewisse Herren so nicht in Ordnung. Dann land leben. Sie müssen hier die hohen Mieten bezah- hat man sich erneut zusammengesetzt, war sich wie- len. Sie müssen Dank Ihrer Gesundheitspolitik die der einig - das war im Juni oder im Juli -, und jetzt hohen Kosten für das Gesundheitswesen aufbringen. ist das auch wieder nicht in Ordnung. Ich habe Ver- Ein portugiesischer Arbeitnehmer, ein polnischer ständnis dafür, daß die Gewerkschaften jetzt gesagt oder ein englischer Arbeiter, der unter zum Teil un- haben: Eine Befristung bis Mai ist für uns unannehm- menschlichen Wohnverhältnissen für fünf bis zehn bar. Sie alle wissen, daß im Bau die Winterpause Mark pro Stunde malochen geht, mag das ja drei Mo- kommt und daß Sie das abziehen müssen. Was bleibt nate aushalten. Aber wollen Sie dies allen Ernstes denn dann noch übrig? unseren Bauarbeitern zumuten? Wo kommt denn da Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11625 Peter Dreßen Ihre Familienpolitik zum Tragen? Im Krankheitsfalle Ich denke, daß diese Zeit schon die Möglichkeit ge- gehen diese ausländischen Arbeitnehmer nach ben würde, gerade in der Phase, in der nicht so viele Hause und werden dort - man höre und staune - zum Entsendearbeitnehmer in Deutschland sind, zum Bei- Teil kostenlos verarztet. spiel zwischen November und Februar - Wie wollen Sie die Arbeitslosigkeit wirksam be- (Widerspruch bei der SPD - Zuruf von der kämpfen, wenn Sie nicht einmal bereit sind, mini- SPD: Wir können ja eine Teststrecke male Vorkehrungen zum Schutz der deutschen Ar- bauen!) beitnehmer zu treffen? Wie wollen Sie denn unsere es ist ja nicht so, daß keiner hier ist, das können Sie Finanzen in Ordnung bringen, wenn Sie nicht bereit in Deutschland auf der Großbaustelle Berlin sehr gut sind, diesem Wildwuchs zu begegnen? Wie wollen beobachten -, die Kontrollmechanismen, die wir erst- Sie denn der Politikverdrossenheit der deutschen mals anwenden müßten, doch besonders gut zu Bauarbeiter entgegentreten, wenn Sie hier keinen überprüfen, Handlungsbedarf sehen, Herr Minister? Sie lassen (Unruhe bei der SPD) sich vom Bund der deutschen Arbeitgeber und ande- ren Arbeitgeberverbänden wie ein Ochs am Nasen- um im Lichte dieser Erfahrungen dann, wenn wieder ring durch die Manege führen. Das ist der eigentli- mehr Entsendearbeitnehmer hier sind, sehen zu kön- che Skandal! nen, wie das Gesetz greift, (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Schämen Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Sie sich nicht, so etwas hier zu verbreiten?) GRÜNEN) und dann über eine neue Entwicklung zu beraten, Handeln Sie endlich! Nehmen Sie unseren Gesetz- die sich im Lichte von Marktverhältnissen und im entwurf zur Hand! Er zeigt Ihnen Lösungen auf. Be- Lichte der Entwicklung von Tariflöhnen in anderen enden Sie im Interesse der 180 000 deutschen ar- Bereichen ergeben könnte. beitslosen Arbeitnehmer aus dem Baubereich dieses Ich bedaure die Vertagung des Tarifausschusses, unwürdige Schauspiel, Herr Minister! aber der Tarifausschuß ist autonom, und wenn eine (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Seite um Bedenkzeit bittet, muß man das akzeptieren. Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Aber, meine Damen und Herren, diese Vertagung be- GRÜNEN) deutet natürlich gerade aus der Sicht derer, die sagen, eine Frist von 8 Monaten ist zu kurz, daß zweieinhalb Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der Wochen verloren werden, und zwar in einer Zeit, wo Kollege Reinhard Göhner. eben sehr viele Entsendearbeitnehmer hier sind. (Dr. Peter Struck [SPD]: Aha, jetzt geht's Ich finde, daß die Beratungen des Tarifausschusses aber los!) unter Berücksichtigung der von den Tarifvertrags- parteien selbst gesetzten Kündigungsfrist fortgesetzt werden sollten, Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): Frau Präsiden- tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tarifaus- (Peter Dreßen [SPD]: Unter Ihrem Diktat!) schuß berät über die Allgemeinverbindlichkeitser- und ich hoffe, daß der vorliegende Kompromißvor- klärung eines Tarifvertrages, bei dem die Tarifpart- schlag auch verabschiedet wird, ner - die Gewerkschaften, die IG Bau, und die Bau- wirtschaft, Indust rie und Handwerk - vereinbart ha- (Peter Dreßen [SPD]: Sie sind doch der Dik- ben, daß er zum 31. Mai 1997 kündbar ist. tator da drin!) Diese Frist, die die Tarifpartner verbindlich verein- damit wir tatsächlich einmal erproben können, ob bart haben, ist nicht willkürlich, sondern sachge- das Gesetz wirklich funktioniert und ob die Kontroll- recht. Sie ermöglicht nämlich, daß die Tarifpartner im möglichkeiten hinreichend sind. Frühjahr im Lichte der konjunkturellen und struktu- Deshalb wäre es vernünftig, unter Berücksichti- rellen Entwicklung sowie der Marktverhältnisse neu gung dieser vereinbarten Kündigungsfrist vom über diese Frage verhandeln können, so wie sie es in 31. Mai jetzt durch einen solchen Kompromiß die Er- diesem Jahr zweimal gemacht haben. probung zu ermöglichen. Deshalb möchte ich die Kritik, die hier an diesem (Beifall bei der CDU/CSU) Termin 31. Mai vorgebracht worden ist, doch einmal auf die sachliche Frage zurückführen, ob uns nicht eine Erprobungszeit, die sich aufgrund dieses von Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der beiden Tarifpartnern fest vereinbarten Termins erge- Kollege Ernst Schwanhold. ben könnte, we rtvolle Erfahrungen dafür liefern könnte, wie dieses Entsendegesetz wirkt, wie es kon- Ernst Schwanhold (SPD): Frau Präsidentin! Meine trollierbar ist. sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ja schon ein eigenartiges Spiel, daß der Herr Göhner als desi- (Zuruf von der SPD: Unglaublich! - Ma rie- gnierter Hauptgeschäftsführer dieses Verbandes luise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat noch nicht gehört, daß im (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Winter beim Bau die Arbeit ruht!) Das ist er doch schon!) 11626 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Ernst Schwanhold und gleichzeitig Bundestagsabgeordneter Aussagen tagsreden und die Neujahrsreden des Bundeskanz- dazu macht, daß täglich Entsendearbeitnehmer an- lers ernst nehme, daß die Arbeitslosigkeit das drän- geworben werden müssen, damit mittelständische gendste Problem ist -, alles zu tun, um die Arbeitslo- Bauunternehmen überleben können, und daß dies sigkeit zu bekämpfen. Wir wissen ganz genau - Graf für weitere Arbeitslosigkeit sorgt. Lambsdorff spricht schon von eher 5 Mi llionen Ar- beitslosen im Laufe des nächsten Jahres -, daß wir Herr Göhner, es ist nicht die Frage, ob wir 8 Monate hier einen Ansatzpunkt haben, um 100 000 Men- Erprobungszeit benötigen. Die Frage ist, was wir schen Arbeit zu verschaffen. Wir sollten diese Über- möglichst schnell erledigen, um mittelständischen gangsfrist so nutzen, daß die notwendigen Anpas- Bauunternehmen das Überleben zu garantieren und sungsprozesse - ich will sie ja gar nicht verschwei- sie nicht dazu zu zwingen, wettbewerbsfähig zu sein gen - umgesetzt werden, damit wir die Sozialsysteme mit denen, die sich zu Lasten der Arbeitnehmerinnen entlasten. Wir könnten da manches bewegen. und Arbeitnehmer Aufträge sichern. Ich will noch eine Bemerkung zu der Situation auf (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei den Baustellen machen, die dadurch entsteht, daß Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE dort Menschen ganz bewußt gegeneinander ausge- GRÜNEN) spielt werden. Sie sorgen dafür, daß der Frieden in Das verhindern Sie. Es wäre gut, wenn Sie Ihre Ver- den Betrieben verlorengeht. Von diesem Frieden le- antwortung als Bundestagsabgeordneter wahrneh- ben aber die Menschen, die in der mittelständischen men würden. Sie sind nicht nur von der BDA ge- Wirtschaft beschäftigt sind, die Unternehmer und die wählt, für die Sie demnächst Ihren Dienst als Haupt- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es hat ja Sy- geschäftsführer antreten, sondern auch von Bauun- stem: Erst kündigen Sie die Lohnfortzahlung im ternehmern aus Ostwestfalen und von Arbeitnehme- Krankheitsfall und sorgen für große Aufregung, auch rinnen und Arbeitnehmern. im Baugewerbe, gleichzeitig wird angekündigt, daß es noch weitere Einsparmaßnahmen geben wird, und ( [SPD]: Die werden sich das dann stellt sich der Bundesarbeitsminister hier her beim nächstenmal aber überlegen!) und sagt: Wir greifen nicht in die Tarifautonomie ein. Es fügt sich ja ganz gut, daß zur Zeit Wirtschaftsju- Hohntriefend und unter Mißachtung der Arbeitslo- nioren ein Praktikum im Deutschen Bundestag sen, die gerne arbeiten möchten, fügt er hinzu: Die durchführen. Bei mir im Büro ist der Geschäftsführer Sozialversicherungssysteme sind nicht finanzierbar. eines mittelständischen Bauunternehmens mit Herr Arbeitsminister, klären Sie doch mal mit Ihrem 170 Beschäftigten aus Lippe. Natürlich habe ich ge- Koalitionär Graf Lambsdorff, welche Position diese stern mit ihm über die Situation gesprochen. Er sagt: Koalition einnimmt, und nehmen Sie das Mitglied Ih- In der Region Lippe komme ich mit meinen Aufträ- rer Fraktion Göhner in die Verantwortung, als Haupt- gen und den Ausschreibungen einigermaßen zu- geschäftsführer dafür zu sorgen, daß wir eine mög- recht, aber damit kann ich meine 170 Mitarbeiter lichst hohe Beschäftigung im Baubereich erreichen. nicht alleine beschäftigen, weil von den Kommunen (Beifall bei der SPD und der PDS) keine öffentlichen Aufträge vergeben werden, also muß ich mich auch in anderen umkämpften Märkten bewerben; eigentlich wi ll ich gar niemanden aus an- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt deren Ländern beschäftigen, bin aber gezwungen, der Kollege Heinz Schemken. dieses Spiel mitzumachen, weil ich sonst keinen Auf- trag mehr bekomme und vom Markt verschwinde. Heinz Schemken (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Diese Situation befördern Sie und sorgen damit für Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten uns Arbeitslosigkeit bei deutschen Arbeitnehmerinnen doch sicherlich um eines bemühen - das gilt für alle und Arbeitnehmern. Seiten -: daß Kolleginnen und Kollegen, die eine Po- sition wahrnehmen und hier auch vertreten, nicht de- (Beifall bei der SPD und der PDS - Zuruf savouiert werden. des Abg. Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]) (Zuruf von der SPD: Paß auf, was du hier In diesem Falle, lieber Herr Göhner, fände ich einen sagst!) klärenden Satz zu sich selbst, zu Ihrer eigenen Situa- tion, hilfreicher, als hier auf irgendeinen Zeitpunkt Ich halte dies nicht für gut. Erst wird gefordert, daß im nächsten Jahr zu verweisen und billigend in Kauf Herr Göhner Flagge zeigen soll, dann nimmt er hier zu nehmen, daß andere Steuer- und Beitragszahler Stellung und wird daraufhin - das finde ich nicht das soziale System mitzufinanzieren haben. Sie ge- gut - desavouiert. fährden ,damit die Wettbewerbsfähigkeit anderer Ar- (Peter Dreßen [SPD]: Er hat doch hier das beitsplätze und setzen sie einem Wettbewerbsdruck Haus desavouiert! - Weiterer Zuruf von der aus, weil sie höhere Beiträge für den Sozialtransfer SPD: Beleidigt!) und die Sicherungssysteme derer zu leisten haben, die nicht ihren Beitrag leisten. Ich halte das für au- - Das hat er nicht getan. ßerordentlich fahrlässig. Das gleiche Spiel treiben Sie mit dem Arbeitsmini- Zweite Bemerkung: Wenn 100 000 Arbeitslose das ster. Wir haben uns auf europäischer Ebene bemüht - Sozialversicherungssystem an Einnahmeausfällen das wissen Sie sehr wohl -, mit einem Entsendege- insgesamt 4 Milliarden DM kosten, dann haben wir setz Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, verdammt noch mal die Pflicht - wenn ich Ihre Sonn- daß gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsplatz unter Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11627

Heinz Schemken gleichen Bedingungen auch gleich bewe rtet wird. ihm haben wir es vor Ort auch zu tun - zu vernünfti- Diese Situation ist in der Bauwirtschaft im Moment gen Bedingungen und im echten Wettbewerb unter- noch die Ausnahme. einander um Aufträge am Bau konkurrieren können. Das ist das Entscheidende. Das Produkt am Markt kann abhängig von der Pro- duktionsstätte und dem Produktionsstandort sehr un- Wir können uns innerhalb dieses Prozesses un- terschiedlich bewe rtet werden. Aber am Arbeitsplatz möglich in die Tarifautonomie einmischen und damit selbst, an der Baustelle - der Minister brachte soeben Löhne und Fristen festlegen und existentielle Berei- das klassische Beispiel Berlin - darf es keine unter- che der Tarifhoheit regeln. Dies ist nicht möglich; es schiedliche Bewertung der Arbeit geben. Der Mi- wäre ein dramatischer Vorgang, den wir alle nicht nister und die Bundesregierung haben gehandelt. wollen. Wir würden dadurch den Tarifpartnern die Wir haben miteinander das Entsendegesetz auf na- Verantwortung entziehen und den Bauarbeitern da- tionaler Ebene eingeführt, aber wir können nicht in- durch letzlich etwas vortäuschen. Das sollten wir nerhalb dieses Prozesses die Tarifpartnerschaft außer nicht tun. Kraft setzen. Das kann doch wohl nicht angehen! Das Problem der Arbeitslosigkeit ist für uns alle ge- (Peter Dreßen [SPD]: Wieso denn? Die meinsam eine große Herausforderung. Wir bitten haben sich doch geeinigt! Die BDA ist doch noch einmal die Tarifparteien, daß sie am 25. Oktober dagegen!) zu einer Einigung kommen, damit das Entsendege- setz, das hier beschlossen worden ist, angewendet Dann würden wir so handeln, wie wir es auf der an- wird. deren Seite beklagen: daß nämlich die Bauarbeiter aus anderen europäischen Ländern, die zu Dumping- Schönen Dank. löhnen auf deutschen Baustellen beschäftigt werden, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - nicht geschützt sind. Zuruf von der SPD: Das setzt der Heuchelei (Peter Dreßen [SPD]: Ihr seid doch die die Krone auf!) Brandstifter!) Unsere Tarifpartnerschaft ist doch so angelegt, daß Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat die die Tarifpartner miteinander vernünftige Konditio- Kollegin Erika Lotz. nen aushandeln, daß die Tarifpartner miteinander für vernünftige Arbeitsbedingungen Sorge tragen. Dies Erika Lotz (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- ist doch hier geschehen! nen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Schemken, Sie (Peter Dreßen [SPD]: Ja, die waren sich haben gerade formuliert: Wir haben uns bemüht. Ich doch einig!) sage: Sich zu bemühen reicht nicht; zum Schutz der Bauarbeiter muß gehandelt werden. Wenn die Tarifpartner in Verhandlungen eintreten und die eine Seite die Allgemeinverbindlichkeit des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Entsendegesetzes und damit die Höhe der Löhne ten der PDS) nicht akzeptiert, dann bedauern wir dies. Wir bedau- Sie haben gesagt: Es muß entschieden werden. Ja, es ern zutiefst, daß wegen dieses Konfliktes zwischen muß entschieden werden. Aber dieses Parlament den Tarifparteien das Entsendegesetz - auch der Ter- muß entscheiden, min für das Inkrafttreten spielt eine Rolle - noch nicht in Kraft gesetzt ist. Aber das können Sie doch (Zuruf von der CDU/CSU: Nein, die Sozial- nicht der Bundesregierung anlasten. partner!) (Widerspruch bei der SPD) weil die BDA das verhindert, was die Tarifvertrags- parteien miteinander vereinbart haben. Das dürfen Sie nicht tun, wenn Sie ehrlichen Her- zens - ich sage dies offen - um die mittlerweile (Beifall bei der SPD und der PDS) 180 000 arbeitslosen Bauarbeiter bemüht sind. In Es ist Ihnen doch nicht schwergefallen, hinsichtlich Berlin ist die Situation sicherlich so, daß do rt 30 000 der Lohnfortzahlung zu einer Entscheidung zu kom- Arbeitslose Arbeit auf den Baustellen haben könn- men. Es ist Ihnen nicht schwergefallen, den Kündi- ten, wenn die Lage im Wettbewerb besser wäre. gungsschutz einzuschränken. Es ist Ihnen nicht Uns geht es darum, daß die im Entsendegesetz ent- schwergefallen, die Altersgrenze der Frauen beim haltenen Bedingungen erfüllt werden. Uns geht es Renteneintritt heraufzusetzen. Do rt haben Sie ent- darum, daß dies möglichst bald geschieht. Wir kön- schieden. Entscheiden Sie auch jetzt! nen von hier aus nur appellieren, daß am 25. Oktober (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Einsicht einkehrt und daß die Arbeitgeberverbände Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE und die Gewerkschaften miteinander zu einer ver- GRÜNEN) nünftigen Regelung kommen. Ob diese Regelung nun bis zum 31. Mai oder bis zum 31. Dezember 1997 Was haben denn die vielen Appelle des Bundesar- gilt, ist nicht so entscheidend. Entscheidend ist viel- beitsministers an die BDA gebracht? Nichts. Was hat mehr, daß jetzt gehandelt wird, damit der beschäfti- sich an der Haltung der BDA nach der Verabschie- gungslose Bauarbeiter - ich sage das bewußt kurz dung des Entsendegesetzes geändert? Nichts. Wir vor dem Einbruch des Winters - Arbeit bekommt, haben es vorhin noch einmal ganz deutlich hören damit zugleich Handwerker und Mittelstand - mit können. 11628 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Erika Lotz Das Entsendegesetz wurde ja immerhin am chen werden. Bei diesem Vergleich nimmt der Bau- 8. Februar dieses Jahres verabschiedet. Der Vermitt- bereich einen mittleren Platz ein. lungsausschuß hat damals erwartet, daß der Bundes- arbeitsminister hier vor diesem Parlament eine Erklä- Die SPD-Fraktion hat dem Kompromiß des Ver- rung abgibt. Herr Arbeitsminister, Sie haben das ge- mittlungsausschusses am 8. Februar 1996 zuge- tan. Dies war wiederum ein Appell. Wo stehen wir stimmt. Der Regierungsentwurf war ja während der heute? Was hat sich an der Situation der Bauarbeiter Verhandlungen verbessert worden. Wir haben ihm geändert? Nichts. zugestimmt, weil wir wollten, daß der Beschäfti- gungsabbau in der Bauwirtschaft wegen der unsau-- (Beifall bei der SPD - Wolfgang Meckelburg beren Wettbewerbsverzerrungen auf Kosten und zu [CDU/CSU]: Wollen Sie eigentlich die Tarif Lasten der Arbeitnehmer beendet wird. autonomie erhalten oder nicht? Das ist die Kernfrage!) Aber geht es denn der BDA und der Bundesregie- rung überhaupt darum? Ich meine: Die BDA nimmt - Herr Meckelburg, zur Tarifautonomie ist zu sagen, hier die Gelegenheit wahr, die Gewerkschaften zu daß sich die beiden Tarifvertragsparteien geeinigt schwächen. Sie nimmt die Gelegenheit wahr, das be- haben. Der Schlichterspruch hatte ursprünglich ei- währte Instrument des Flächentarifvertrages zu zer- nen Stundenlohn in Westdeutschland in Höhe von schlagen. Das sind ihre Ziele. 18,60 DM festgelegt. Mittlerweile hat sich die Bauge- werkschaft auf einen Stundenlohn von 17,00 DM ein- Herr Blüm, mit Ihrer einfachen Lösung des Pro- gelassen. Die BDA blockiert aber. Darum geht es blems über eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung doch. haben Sie den Weg dazu geebnet. (Beifall bei der SPD und der PDS - Wolf (Beifall bei der SPD) gang Meckelburg [CDU/CSU]: Auch das ist Sie leisten mit Ihrer Politik des Zuschauens keinen Tarifautonomie!) Beitrag zur Sicherung des Standortes Deutschland. Sie von der Regierungskoalition wollten den einfa- Im Gegenteil: Mit der Abschaffung des Schlechtwet- chen Weg der Allgemeinverbindlichkeit gehen und tergeldes haben Sie für die Bauarbeiter schon genug haben alle guten Ratschläge in den Wind geschla- Schaden angerichtet. gen. Die Leidtragenden sind nicht Sie, sondern die Handeln Sie jetzt endlich und greifen Sie unser Arbeitnehmer der deutschen Bauindustrie und des Gesetz auf, damit wieder Chancengleichheit und so- Handwerkes sowie die betroffenen Bet riebe. lider Wettbewerb am Bau bestehen! Die Zeit der Ap- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne pelle ist längst vorbei. ten der PDS) Danke schön. Wären Sie nicht so uneinsichtig, ja verbohrt gewesen (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei und hätten unserem im September 1995 vorgelegten Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Gesetzentwurf zugestimmt - einem Gesetzentwurf, GRÜNEN) der den Anspruch auf ortsüblichen Lohn und Ar- beitsbedingungen vorsieht -, dann wäre die Situa- tion in der Bauwirtschaft nicht so schlimm, wie sie Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der jetzt ist. Hiermit hätten Sie etwas Konkretes zur Ar- Bundesminister Dr. Klaus Töpfer. beitsplatzsicherung in Deutschland getan. Doch dank Ihrer Uneinsichtigkeit oder - besser ge- Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- sagt - weil sich Ihr kleiner Koalitionspartner F.D.P. nung, Bauwesen und Städtebau: Frau Präsidentin! durchgesetzt hat, nimmt die Arbeitslosigkeit der Bau- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Si- arbeiter tagtäglich zu. tuation ist sowohl schwierig als auch bisher einmalig. Es gab in der Geschichte der Bundesrepublik (Zuruf von der F.D.P.: So ein Quatsch!) Deutschland noch nicht die Notwendigkeit, über Die Gewerkschaft hat dem Kompromiß bzw. dem Mindestlöhne nachzudenken. Daß die zuständigen Schlichterspruch zugestimmt und hat sich in ihrer Tarifpartner diese Aufgabe in Angriff genommen ha- Position noch einmal bewegt. Auch dieser Stunden- ben, verdient zunächst einmal unseren hohen Re- lohn von 17,00 DM ist den Vertretern der BDA noch spekt. Ich halte es für eine bemerkenswerte Tatsa- zu hoch. Diese spielen sich zum Schiedsrichter der che, daß die Tarifpartner am Bau auch in einer Nach- Tarifvertragsparteien auf. verhandlung bemüht gewesen sind, eine Regelung zu finden, die auch den gesamtwirtschaftlichen (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Eben Überlegungen gerecht wird. nicht! - Peter Dreßen [SPD]: Zum Totengrä ber werden die!) (Peter Dreßen [SPD]: Wie dankt es ihnen die BDA?) Das steht ihnen nicht zu. Meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- Der BDA ist der Mindestlohn zu hoch. Ich sage tion, genauso muß man verstehen, daß das, was in dazu: Der Stundenverdienst eines Bauarbeiters kann einer Branche gefunden worden ist, im Hinblick dar- meines Erachtens nicht mit dem Stundenverdienst ei- auf zu überprüfen ist, welche Rückwirkungen auf die nes Metallarbeiters verglichen werden. Vielmehr gesamte Volkswirtschaft damit verbunden sind. Wenn müssen die Jahreseinkommen miteinander vergli- diese Überlegung bereits als ein Anzeichen für die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11629

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Nichtdurchsetzung verstanden wird, dann machen Deswegen bin ich der Überzeugung, daß wir dies am wir uns die Sache zu leicht. Nein, ich bin schon der Ende des Monats in den Verhandlungen erreichen Überzeugung, daß wir sehr genau überprüfen müs- können. Wenn ich „wir" sage, meine ich die, die da sen, welche weiteren Konsequenzen daraus resultie- verhandeln. Das ist ein wesentlicher zusätzlicher Er- ren, daß wir an einer solchen Stelle, wenn Tarifpart- wartungsgrund. ner ihre Arbeit nicht zu Ende führen können, gleich sagen: Der Staat muß entscheiden. Dies ist der ent- Sehr verehrte Frau Kollegin Lotz, Sie haben ge- scheidende Punkt. sagt, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktio- nen hätten an anderen Stellen immer entschieden. (Peter Dreßen [SPD]: Die haben es doch Überall, wo wir entschieden haben, haben wir einen getan!) Eingriff in die Tarifautonomie überhaupt nicht vorge- nommen. Ich sage das auch mit Blick auf die Arbeitgeber: Wenn eine Regelung dort nicht aus Eigenverantwor- (Widerspruch bei der SPD - Zuruf von der tung heraus mit erarbeitet werden kann, dann wer- SPD: Lohnfortzahlung!) den wir Entwicklungen bekommen, die auch do rt nicht als gut angesehen werden können. Man sollte Das soll auch einmal ganz konkret und deutlich ge- nämlich einmal verfolgen, wie gegenwärtig eine sagt werden, damit ein solcher Vorwurf nicht im Flucht aus dem Verband stattfindet. Raum stehenbleibt. (Peter Dreßen [SPD]: Deshalb wollen wir Also: Wir brauchen diese weiterführende Lösung. die Allgemeinverbindlichkeit!) Wir brauchen wieder eine Stärkung der Nachfrage am Baumarkt, damit sich die konjunkturelle Normali- Ich glaube, die Stabilität unserer Volkswirtschaft ins- sierung nicht zu weit nach unten auswirkt. Wir brau- gesamt würde sehr darunter leiden, wenn wir das chen - auch das muß gesagt werden - eine mittel- nicht erhalten könnten, was in den letzten Jahrzehn- und langfristige Lösung. Es ist nämlich sicherlich ten wirklich auch zum Erfolg der deutschen Wi rt nach wie vor richtig, daß wir in ganz erheblichem -schaft beigetragen hat, nämlich die Lösung von Pro- Maße eine arbeitsintensive Produktion am Bau ha- blemen am Arbeitsmarkt durch die Tarifpartner. ben. Dazu, daß diese Problematik so bedeutsam ist, Ich bin mir in diesem Punkt mit der IG Bau einig: kommt noch hinzu, daß wir sie in einer Zeit zu lösen Wir müssen Rationalisierungsmaßnahmen ergreifen. haben, in der die Situation am Bauarbeitsmarkt be- Wir dürfen nicht in die Situation kommen, daß ein sonders schwierig ist. Der Boom der Wiedervereini- Automatisierungs- und Rationalisierungsprozeß am gung ist nicht mehr vorhanden. Wir haben im letzten Bau nicht fortgeführt wird, weil es noch immer einf a Jahr über 500 Milliarden DM im Baubereich umge- -cher und billiger ist, billige Arbeitskräfte statt ent- setzt. 500 Milliarden DM - das ist eine einsame Re- sprechender Technologien einzusetzen. kordebene. Dies werden wir auf Dauer nicht mehr halten können, mit dem Ergebnis, daß zwei Faktoren Um die Situation mittel- und langfristig zu bewälti- gleichzeitig auf den Arbeitsmarkt einwirken: zum ei- gen, brauchen wir also auch am Bau eine Rationali- sierungs-, eine nen die Normalisierung der Konjunktur und zum an- Qualifizierungsoffensive; dies sollte deren die gleichzeitige Liberalisierung auf dem euro- nicht vernachlässigt werden. Die beste Regelung, päischen Arbeitsmarkt. zum Beispiel das Entsendegesetz, wird uns nämlich nur dann in eine vernünftige Zukunft führen, wenn Deswegen möchte ich auch den Kolleginnen und wir gleichzeitig die Arbeitsproduktivität am Bau ent- Kollegen aus der SPD zurufen: Seien wir vorsichtig sprechend erhöhen; das muß doch einmal gesagt mit der Aussage, in dem Moment, in dem man eine werden. Wenn wir das nicht tun, werden wir auch Regelung im Tarifausschuß habe, sei die Problematik am Ende des nächsten oder des übernächsten Jahres der Arbeitslosigkeit auf diesem Sektor bewältigt. Sie in derselben Situation stehen wie gegenwärtig. wecken damit falsche Erwartungen. Erwartungen zu Nein, meine Damen und Herren, die Angelegen- erwecken, die hinterher nicht bef riedigt werden kön- heit ist sicherlich wesentlich komplexer. Wir brau- nen, ist in einer solchen Situation außerordentlich ge- chen jetzt eine Lösung, die die Tarifpartner wirklich fährlich. verantworten. Wir brauchen sie, damit wir eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Atempause haben, um durch eine entsprechende Of- fensive zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität mittel- Ich bin der Überzeugung, daß wir zu einer Lösung und langfristig in Europa wettbewerbsfähige Ar- kommen müssen. beitsplätze auch in der deutschen Bauwirtschaft zu (Peter Dreßen [SPD]: Deshalb wollen wir ja haben. Wir brauchen sie in einer Situation, in der die die Allgemeinverbindlichkeitserklärung!) Baunachfrage ohnedies rückläufig ist und wir die Auswirkungen bewältigen müssen. Ich bin gleichzeitig der festen Überzeugung, daß es nachvollziehbar ist, daß man einen Tarifvertrag, der Das, Frau Beck, gebe ich Ihnen sehr gerne zu: am 31. Mai ausläuft, nicht in Frage stellen will, daß Wenn man gegenwärtig in Berlin über eine Baustelle aber eine Nachwirkung der Regelung über diesen geht, braucht man wirklich alle mitteleuropäischen Termin hinaus auf jeden Fall sorgfältig geprüft wer- Sprachen, am wenigsten Deutsch. Wenn ich hinter- den sollte. her, was ich gerne einmal tue, in eine Ber liner Kneipe gehe und mit den Leuten spreche, dann weiß (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ich, daß mit dieser Situation - ich wi ll es einmal vor- 11630 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer sichtig ausdrücken - ein großes Mißtrauen gegen- Das Verfassungsgericht hat auch festgelegt, daß über europäischen Einigungsbestrebungen verbun- Vereinbarungen durch Tarifverträge auch von einzel- den ist. Das ist etwas, was wir bei allen unseren Dis- nen Arbeitnehmern nicht unterlaufen oder zurückge- kussionen mit bedenken sollten. Ich unterstreiche nommen werden dürfen. Auch das ist ein verfas- das sehr nachhaltig. sungsrechtlicher Grundsatz. (Rudolf Scharping [SPD]: Macht doch was Sie haben zum Beispiel durch das Lohnfortzah- dagegen! - Weitere Zurufe von der SPD) lungsgesetz die Möglichkeit geschaffen, einen Tarif- vertrag zu unterlaufen, - Meine Damen und Herren, ich hatte mich bemüht, - deutlich zu machen, daß die Dinge vielleicht etwas (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist komplexer sind und etwas umfassender in Angriff falsch!) genommen werden müssen, als nur die Frage zu dis- nämlich durch die Hergabe von Urlaub für Geld. Das kutieren, was am Ende dieses Monats in der Tarif- ist ein Eingriff in die Tarifverträge über den Urlaub; kommission entschieden wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Peter Dreßen [SPD]: Dann sollten Sie wis sen, was Allgemeinverbindlichkeitserklä das ist offenkundig. Ich könnte eine ganze Reihe rungen bedeuten!) weiterer Beispiele aufführen. Es ist nun einmal so, Kollege Laumann, auch wenn Sie sich noch so sehr Wenn Sie das wiederum in so kleiner Münze zurück- aufregen. nehmen, dann werden wir - das muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen - noch viele Aktuelle Stunden haben. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ach!) Das Hauptproblem geht dabei nämlich unter. Der Tarifausschuß ist nach dem Kriege in Deutsch- Damit Sie zufrieden sind, appelliere ich noch ein- land eingerichtet worden, weil wir Mindestlöhne mal nachhaltig an alle Beteiligten, diese gesamtwirt- über Tarifverträge vereinbaren wollten. Tarifver- schaftliche - wenn Sie so wollen: gesellschaftliche - träge in Deutschland schreiben Mindestlöhne vor. Verantwortung, die damit verbunden ist, zu erken- Wir haben den Tarifausschuß gebildet, damit die ta- nen und über den 31. Mai hinaus zu einer vernünfti- riflichen Vereinbarungen über Mindestlöhne nicht gen Regelung auf diesem Gebiet zu kommen. unterlaufen werden können. Damals hatten die Ver- bände der Arbeitgeber im Gegensatz zu heute noch Recht herzlichen Dank. Verantwortung für diesen Staat und hatten nicht nur das Ziel, die Arbeitnehmer und diesen Staat am Na- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - senring durch die Arena zu führen. Damals war man Rudolf Scharping [SPD]: Wo ist die Tarif sich selbstverständlich darin einig, daß Tarifverein- treueerklärung für die öffentlichen Auf barungen, die von den Tarifparteien beantragt wor- träge?) den sind, automatisch akzeptiert werden müssen. Was heute passiert, ist, daß ein Gesetz einer Nicht- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter Redner tarifvertragspartei, nämlich der BDA, erlaubt, einen in der Aktuellen Stunde erhält der Kollege Hans Eingriff in die Tarifhoheit vorzunehmen. Genau das Büttner das Wo rt. ist der Fehler dieses Gesetzes, Herr Minister. Dieser Fehler muß korrigiert werden. (Ingolstadt) (SPD): Frau Präsidentin! Hans Büttner Er muß auch deswegen korrigiert werden, weil Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schon apa rt, nämlich auch die Entsenderichtlinie, die inzwischen wie hier der Bundesarbeitsminister und die Abgeord- gilt, keinerlei Befristungen vorsieht. Ich kann in der neten der Koalition das Hohelied der Tarifautonomie Entsenderichtlinie nirgendwo finden, daß die natio- singen, nachdem sie in ebendiese Tarifautonomie vor nalen Regelungen befristet sein müßten. Diese Richt- wenigen Wochen durch das Lohnfortzahlungsgesetz linie gilt unbefristet. massiv eingegriffen haben. Die Aussage, die Herr Göhner getroffen hat, man (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Stimmt müsse diese Vereinbarung befristen, ist ebenfalls ta- doch überhaupt nicht! - Dr. Gisela Babel rifpolitisch überhaupt nicht nachvollziehbar und be- [F.D.P.]: Das ist doch gar nicht wahr!) gründbar. Denn jeder Tarifvertrag kann gekündigt Ich will Ihnen sagen, warum, Frau Babel: Sie haben werden; jeder Tarifvertrag ist erst einmal wirksam. nämlich keine Ahnung von dem, was das Verfas- Wenn man einen neuen Mindestlohn festlegen wi ll, sungsgericht und das Recht über Tarifautonomie sa- dann kann man das dann tun, wenn ein neuer Tarif- gen. vertrag abgeschlossen wird. So einfach ist das. Wenn (Beifall bei der SPD) Sie das nicht wollen und sich hier dagegen wehren, daß die normale Tarifhoheit in Gesetzen festgeschrie- Hören Sie einmal zu! Sie können ab und zu etwas ben wird, dann müssen Sie endlich mit uns für un- von dem, was ich sage, lernen. sere Gesetzesänderung stimmen, die den Arbeitsmi- nister ermächtigen soll, eine Vereinbarung zwischen Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, daß den Tarifparteien umzusetzen. Tarifpartner nur solche sind, die streikfähig sind. Die ausgehandelten Tarifverträge sind also solche, die (Beifall bei der SPD - Peter Dreßen [SPD]: von streikfähigen Partnern ausgehandelt worden Töpfer könnte auch mal Tarifvertragstreue sind. bei Arbeitsvergabe machen!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11631 Hans Büttner (Ingolstadt) - In bezug auf die Frage, die Sie angeschnitten ha- - Zweite und dritte Beratung des von der ben, muß ich sagen: Herr Töpfer, ich halte es schon Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs für ein großes Versagen der obersten Bundesbaube- eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung hörde, daß sie bei den gesamten Maßnahmen in Ber- des Bundeswahlgesetzes lin, obwohl sie wußte, welche Probleme auf sie zu- - Drucksache 13/5582 - kommen, nicht von Anfang an die Tariftreue aller be- teiligten Unternehmen verlangt hat. (Erste Beratung 124. Sitzung) (Beifall bei der SPD) - Zweite und dritte Beratung des von den Ab-- geordneten Gerald Häfner, Kerstin Müller Was die Länder können, hätte der Bund längst ma- (Köln), Christa Nickels, weiteren Abgeord- chen müssen; er ist hier nach wie vor ein großer Sün- neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE der. GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ein letztes möchte ich noch an die Adresse meiner Gesetzes zur Kompensation von Überhang- lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDA sa- mandaten gen: Sie sind in den letzten Wochen mehrfach - auch - Drucksache 13/5575 - von Ihren Landes- und Bezirksverbänden in Rhein- land-Pfalz - (Erste Beratung 124. Sitzung) (Zuruf von der SPD: In Niedersachsen!) Beschlußempfehlung und Be richt des Innen- ausschusses (4. Ausschuß) - Niedersachsen - aufgefordert worden, endlich auch einmal wieder an Arbeitnehmer zu denken und wei- - Drucksache 13/5750 - teren Kürzungsvorschlägen oder Verschlechterun- Berichterstattung: gen nicht zuzustimmen. Ich will hier nur Herrn Sie Abgeordnete wert, den Vorsitzenden in Rheinland-Pfalz, nennen. Fritz Rudolf Körper Ich möchte Sie dringend bitten: Lassen Sie sich nicht Gerald Häfner länger dazu mißbrauchen, den Weihrauchministran- Dr. Max Stadler ten für eine Koalition zu spielen, die längst zu einem Nasenbär degeneriert ist, der von den Scharfma- chern im Arbeitgeberlager durch die politische b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Arena geführt wird. Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuß) (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Sie spre - zu der Unterrichtung durch die Bundesre- chen doch nur mit Funktionären! Reden Sie gierung einmal mit Arbeitnehmern!) Bericht der Wahlkreiskommission für die - Ich rede mit Arbeitnehmern. Ich will Ihnen nur sa- 13. Wahlperiode des Deutschen Bundes- gen: Sorgen Sie dafür, daß in Deutschland wieder tages gemäß § 3 Bundeswahlgesetz (BWG) Recht herrscht, und nehmen Sie keine weiteren Ein- griffe in die Tarifautonomie vor, die unser Land in - zu dem Zwischenbericht der Reformkom- Unruhe versetzen, die Menschen arbeitslos machen mission zur Größe des Deutschen Bundesta- und die die Verfassung unseres Landes aushebeln. ges Kehren Sie zurück auf den Boden der freiheitlich-de- Empfehlungen für die Wahl zum 14. Deut- mokratischen Grundordnung! schen Bundestag und zu den wesentlichen Regelungen für die Verkleinerung des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Deutschen Bundestages ten der PDS) - zu dem Ergänzenden Be richt der Reform- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Die Aktuelle kommission zur Größe des Deutschen Bun- Stunde ist beendet. destages zu dem Zwischenbericht Ich teile noch einmal mit, daß im Hinblick auf den Empfehlungen für die Wahl zum 14. Deut- gesetzlichen Feiertag am 1. November, der in diesem schen Bundestag und zu den wesentlichen Jahr auf einen Freitag fällt, im Ältestenrat vereinbart Regelungen für die Verkleinerung des Deutschen Bundestages worden ist, die F rist für die Einreichung der Fragen für die Fragestunde auf Donnerstag, 31. Oktober hier: Empfehlungen zu den wesentlichen 1996, 10.00 Uhr, vorzuverlegen. Regelungen für die Verkleinerung des Deutschen Bundestages ab der 15. Wahlperiode Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: - Drucksachen 13/3804, 13/4560, 13/4860, a) - Zweite und dritte Beratung des von den 13/5750 - Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. einge- brachten Entwurfs eines Dreizehnten Ge- Berichterstattung: setzes zur Änderung des Bundeswahlgeset- Abgeordnete Erwin Marschewski zes Fritz Rudolf Körper Gerald Häfner - Drucksache 13/5583 - Dr. Max Stadler (Erste Beratung 124. Sitzung) Ulla Jelpke 11632 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für mit dem, was die Reformkommission mit Ihren Stim- die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre men beschlossen hat. Ich möchte diesen Inhalt ein- ich keinen Widerspruch. Wir verfahren entspre- mal vorstellen. chend. Erstens. Die Zahl der Abgeordneten des Deut- Ich eröffne die Aussprache. Als erster in der De- schen Bundestages wird ab dem Jahr 2002 von 656 batte ergreift der Kollege Erwin Marschewski das auf 598 reduziert. Ich weiß, es gibt Kritiker, die eine Wort . noch stärkere Verkleinerung des Parlaments fordern. Aber ich meine, das wäre nicht richtig, denn bei ei-- ner weiteren Verringerung der Wahlkreise würden Erwin Marschewski (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir be- diese unüberschaubar. Der lebendige Kontakt zwi- dauern sehr, daß sich die Opposition nicht dazu Be- schen Bürgern und Abgeordneten würde erschwert. reitfinden wollte, die anstehende Reform des Wahl- Die Konsequenz wäre doch eine passive Zuschauer- rechts mit uns gemeinsam zu verabschieden. demokratie, die niemand von uns will. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Umge Zweitens. Gegenwärtig müssen Wahlkreise verän- kehrt wird ein Schuh daraus!) dert werden, wenn sie um mehr als 33'13 Prozent nach unten oder oben abweichen. Wir werden diese Ich meine, Herr Kollege Schmidt, auf beiden Seiten absolute Toleranzgrenze ab 2002 auf 25 Prozent sen- bestehen doch weitaus mehr Gemeinsamkeiten als ken. Das Ziel dieser Maßnahme besteht gerade Streitpunkte. Der Gesetzentwurf, für den ich mich darin, die Zahl der Überhangmandate zu verringern. jetzt einsetze, setzt doch nur die Beschlüsse um, die von der interfraktionellen Reformkommission unter Drittens. Für 1998 werden wir aber nur die Wahl- der sehr sachkundigen und fairen Leitung unseres kreise verändern, bei denen die Bevölkerungszahl Kollegen Klose gefaßt wurden. Wir führen damit eine um mehr als 33 1/3 Prozent vom Durchschnittswert ab- lange Tradition dieses Hauses fo rt, eben die Tradi- weicht. Wir meinen, daß es angesichts der Reform, tion, das Wahlrecht aus dem politischen Streit her- die im Jahre 2002 vor uns steht, weder sinnvoll noch auszuhalten. Dabei sollte es bleiben. verfassungsrechtlich geboten ist, Veränderungen vorzunehmen, die über das unabdingbare Maß hin- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ausgehen. Sie aber werden erklären müssen, insbesondere Zum Punkt Überhangmandate: Die Reformkom- meine Damen und Herren der SPD, mission, meine Damen und Herren der SPD, war sich (Otto Schily [SPD]: Nein, Sie!) darin einig, keine Ausgleichsmandate für Überhang- mandate zu schaffen. Im Gegensatz zu den Anträgen weshalb Sie mit dieser Tradition brechen und wes- der Opposition enthält unser Gesetzentwurf deswe- halb Sie den bereits getroffenen Konsens aufkündi- gen keine Regelung zur Kompensation von Über- gen. - Herr Schily, Sie werden dies erklären müssen. hangmandaten. Denn auch Sie wissen doch: Das Wahlrecht ist ein wichtiger Gradmesser für die politische Kultur unse- Sie, meine Damen und Herren von der SPD, for- res demokratischen Gemeinwesens. Es handelt sich dern heute eine Lösung und eine Regelung, die Sie dabei doch nicht nur um technische Regeln. Dabei gestern für unentbehrlich hielten. Dafür setzen Sie muß mehreres miteinander verbunden werden. den parteiübergreifenden Konsens aufs Spiel. Demokratisches Wahlrecht erfordert zum einen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - eine unverfälschte Abbildung des Wählerwillens, Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Stimmt zum anderen eine Konstituierung funktionsfähiger überhaupt nicht!) Mehrheiten. Gerade das ist doch die Lehre von Wei- - Herr Kollege Schmidt, Sie werden Gelegenheit ha- mar: Wir brauchen funktionsfähige Mehrheiten in je- ben, das zu erklären. Die Kommission hat Beschlüsse dem Parlament, also auch in diesem Parlament. gefaßt, an denen Sie selbst mitgewirkt haben. Sie ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - ben dem selbst zugestimmt. Jetzt können Sie doch Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann nicht sagen, das stimme nicht. Ich trage das vor, was [PDS]) die Reformkommission mit Ihrer Stimme, Herr Kol- lege, beschlossen hat. - Daran haben Sie nicht immer mitgewirkt. Sie ha- ben genau das Gegenteil gemacht, Frau Kollegin, Für uns gilt nach wie vor: und Sie wollen auch genau das Gegenteil. Erstens. Wir haben zutreffend festgestellt, daß die Wir wollen ein funktionsfähiges Parlament, ein bestehenden Regelungen des Bundeswahlgesetzes, Parlament, das demokratisch entscheidet. Daran hat die zur Entstehung von Überhangmandaten führen, natürlich auch das personalisierte Verhältniswahlsy- verfassungsgemäß sind. Überhangmandate sind eine stem maßgeblichen Anteil gehabt. notwendige Konsequenz und eine notwendige Folge unseres kombinierten personalisierten Verhältnis- Trotz aller Bewährung im Grundsatz ist aber auch und Mehrheitswahlsystems. Ich meine, dies hat sich für unser Wahlrecht die Zeit nicht stehengeblieben. 40, 45 Jahre lang bewährt. Es gibt erhebliche Veränderungen in der Bevölke- rungsstruktur, und auch die Wiedervereinigung er- Zweitens. Der Grund dafür, warum wir eine be- fordert eine Reform des Wahlrechts. Ich wiederhole, trächtliche Anzahl an Überhangmandaten haben, Herr Kollege Schily: Der Inhalt ist wirklich identisch liegt letztlich nur darin, daß die Größe der Wahl- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11633

Erwin Marschewski kreise zu unterschiedlich ist, daß nicht mehr alle mission unter der Leitung von Hans-Ulrich Klose zu- Wahlkreise annähernd gleich groß sind. zustimmen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Herzlichen Dank. stimmt nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das wollen wir 2002 mit der Wahlkreisreform än- dern. 1998 wollen wir die Änderung nicht vorneh- men, weil wir der Auffassung sind, daß dann Par- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer- teien, Wähler und Mandatsträger überfordert sind. Kurzintervention hat der Kollege Heuer. Deswegen haben wir dies wiederum einmütig zu Recht abgelehnt. Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Herr Marschewski, Sie Noch etwas, Herr Kollege Schmidt: Wenn Sie die haben soeben gesagt, Sie seien der Meinung, es sei Ausgleichsmandate einführen, schaffen Sie ein dem sehr gut, wenn man eine Regelung schaffen würde, geltenden Wahlrecht fremdes Instrumenta rium. Ei- durch die bei der PDS nur diejenigen in den Bundes- nes ist besonders wichtig: Die Einführung von Aus- tag kommen würden, die direkt gewählt worden gleichsmandaten würde die Zahl der Abgeordneten seien. des Deutschen Bundestages gleichsam durch die (Zuruf von der CDU/CSU) Hintertür wieder erhöhen. Es geht nicht an, auf der einen Seite der Öffentlichkeit zu sagen, wir verklei- Ich bewundere Ihre rechtsstaatliche Sicht. Sie sind nern den Bundestag, und auf der anderen Seite Aus- also der Meinung, man sollte ein Gesetz machen, das gleichsmandate zu schaffen, die den Bundestag wie- einer speziellen Partei nur ein bestimmtes Hinein- derum vergrößern würden. Dies akzeptiert niemand. kommen in den Bundestag ermöglicht. Ich finde das Dafür hat der Bürger kein Verständnis, dafür hat nie- phänomenal. Das zeugt in einer ungeheuren Weise mand Verständnis. Wir haben erst recht kein Ver- von Ihrer Sichtweise zur Rechtsstaatlichkeit dieser ständnis für eine solche Absicht. Bundesrepublik. (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Das sehen (Beifall bei der PDS) die Verfassungsrechtler aber anders!)

- Frau Kollegin, viel wichtiger wäre es dann, die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Marschewski, Grundmandatsklausel zu verändern. Es wäre richtig, möchten Sie antworten? das so zu verändern, daß zum Beispiel nur diejenigen Abgeordneten der PDS in den Bundestag einzögen, (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Nein! - die ein Direktmandat errungen haben. Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]: Er kann nicht!) (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Uns kriegen Das Wort hat der Abgeordnete F ritz Rudolf Körper. Sie nicht so schnell hier heraus!) - Na ja. Es kann doch nicht richtig sein, daß eine Par- Fritz Rudolf Körper (SPD): Frau Präsidentin! Meine tei bei fast 50 Prozent erreichter Wählerstimmen Damen und Herren! Wer zu Wahlrechtsfragen in so nicht in den Bundestag einzieht, daß aber eine an- aufgeregter Form wie der Kollege Marschewski re- dere Partei, die erheblich kleiner ist, in Gruppen- det, bei dem könnte man den Eindruck gewinnen, stärke im Bundestag vertreten ist. ihn plagt das schlechte Gewissen. Meine Damen und Herren, trotz der Richtigkeit (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dieser Aussage haben wir zum jetzigen Zeitpunkt GRÜNEN und der Abg. Dr. Dagmar Enkel- darauf verzichtet, diese Wahlrechtsänderung vorzu- mann [PDS]) nehmen. Ich sage auch: Wer beispielsweise Wahlrechtsfra- gen zu Machtfragen umorganisiert, ist letztendlich Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Marschewski, derjenige, der einen traditionellen Konsens verläßt; gestatten Sie eine Zwischenfrage? das sind nicht andere. Es gab zu dieser Reform und zu diesem Gesetzent- Erwin Marschewski (CDU/CSU): Ich komme zum wurf einen sehr großen Vorlauf. Wir als SPD-Bundes- Schluß. Das hat jetzt keinen Zweck mehr. tagsfraktion haben uns entschieden, einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen. Wir haben dies nur getan, um mit Ihnen gemein- sam dieses Wahlrecht zu verabschieden, gemein- Der Deutsche Bundestag hatte auf Grund einer sam mit Ihnen zu verändern. Noch ist Zeit, Herr Empfehlung des Ältestenrates im Juni 1995 einen Kollege Schmidt. Ich fordere Sie auf: Haben Sie Grundsatzbeschluß gefaßt. Dieser hat unter Ziffer 1 den Mut, zum parteiübergreifenden Konsens zu- gelautet, daß der Deutsche Bundestag mit Wirkung rückzufinden. von der 15. Wahlperiode an auf unter 600 Abge- (Zuruf von der SPD) ordnete verkleinert wird. Wenn das Thema Verklei- nerung angesprochen wird, dann muß man wissen, Haben Sie den Mut, unserem Gesetzentwurf, haben daß sich unsere Ausgleichssystematik ausschließlich Sie den Mut, Ihrem Gesetzentwurf der Reformkom auf das Jahr 1998 bezieht, in dem dieser Verkleine- 11634 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Fritz Rudolf Körper rungsbeschluß umgesetzt werden so ll, nicht auf das gleichssystematik, gibt es Unterschiede. Zur Wahl- Jahr 2002. kreiseinteilung und zu der umstrittenen Frage der Ausgleichssystematik wird der Kollege Schmidt noch (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr ausführlich Stellung nehmen. richtig!) Übereinstimmung besteht darin, daß der Deutsche Zweitens. Zur künftigen Größe des Parlaments Bundestag von der 15. Wahlperiode an auf 598 Mit- wird die Präsidentin beauftragt, im Einvernehmen glieder verkleinert werden soll. Die Zahl der Wahl- mit den Fraktionen unverzüglich eine Kommission kreise wird auf 299 reduziert. einzusetzen, die sich mehrheitlich aus Abgeordneten und weiteren Sachverständigen zusammensetzt. Man hat Übereinstimmung auch darin gefunden, daß die Änderung der Wahlkreise für die 14. Wahl- Frau Präsidentin, an dieser Stelle erlaube ich mir, periode auf das verfassungsrechtlich unabdingbare eine Bemerkung zu machen. Bei diesen Fragen sollte Maß beschränkt werden soll - auch auf die Gefahr man auch überlegen, wie der Innenausschuß des hin, daß es weiterhin zu einer größeren Anzahl von Deutschen Bundestages, der dann federführend ist, Überhangmandaten kommt. Auch dies wurde in der mit eingebunden werden kann. Diskussion so erwähnt. Ein weiterer Grundsatz war, daß der 13. Deutsche Es wurde Übereinstimmung auch darin gefunden, Bundestag die Entscheidungen zur Umsetzung des daß ab der 15. Wahlperiode die Toleranzgrenze von Verkleinerungsbeschlusses mit Wirkung für die bisher 33 1/3 auf plus/minus 25 vom Hundert abge- 15. Wahlperiode faßt. senkt wird. Auch das ist unumst ritten gewesen. Die daraufhin eingesetzte Reformkommission, die Außerdem soll ein Neuzuschnitt gemacht werden aus mehreren Mitgliedern der verschiedensten Berei- können, wenn es eine Abweichung von 15 Prozent che bestand, hat dann die entsprechenden Entschei- gibt. dungen getroffen. Die vorgeschlagenen Lösungen sind meines Erach- In ihrem ergänzenden Be richt vom 12. Juni 1996 tens sach- und verfassungsrechtlich tragfähig. Die zu gibt diese Reformkommission folgende Empfehlung: beschließende Verkleinerung macht eine Neuzu- Der Deutsche Bundestag besteht ab der 15. Wahl- schneidung der Wahlkreise erforderlich. Das ist eine periode - vorbehaltlich der sich aus dem Bundes- schwierige Aufgabe, ein sachlich äußerst schwieriges wahlgesetz ergebenden Abweichungen - aus 598 und auch langwieriges Verfahren. Deswegen konn- Abgeordneten. - Machen wir uns nichts vor: Auch ten wir es nicht für die 14. Wahlperiode verwirkli- dies war umstritten. Auch hierzu war die Herbeifüh- chen. Das mußte man realistischerweise zur Kenntnis rung eines Konsenses erforderlich. nehmen. Die Bestimmung des § 3 des Bundeswahlgesetzes Ich denke, es ist verfassungsrechtlich unbedenk- wird ab der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag da- lich, wenn die Grundzüge der Verkleinerung für die hin gehend geändert, daß die Bevölkerungszahl 15. Wahlperiode bereits mit den Regelungen für die eines Wahlkreises von der durchschnittlichen Be- 14. Wahlperiode gesetzlich festgelegt werden. Das ist völkerungszahl der Wahlkreise um nicht mehr als so gewollt. 15 Prozent nach oben oder unten abweichen soll und Auch wenn unsere Gesetzentwürfe im wesentli- eine Neuabgrenzung des Wahlkreises vorzunehmen chen übereinstimmen, gibt es zwei Unterscheidun- ist, wenn die Abweichungen mehr als 25 Prozent be- gen, was die Wahlkreiseinteilungen anbelangt. Das tragen. Ich sage noch einmal: Das gilt für das Jahr betrifft einmal den Wahlkreis 8 Segeberg-Stormarn- 2002 und nicht für das Jahr 1998. Nord und den Wahlkreis 153 Montabaur in Rhein- Die Bestimmung des § 3 des Bundeswahlgesetzes land-Pfalz. wird mit Wirkung ab der 15. Wahlperiode dahin ge- Ich will hier noch eine grundsätzliche Bemerkung hend geändert, daß die Zahl der Wahlkreise - auch dazu machen. Die Neugestaltung des Wahlkreises das ist ein wichtiger Punkt, in dem ein Unterschied Montabaur hat in der Presse zu Spekulationen ge- zu 1998 besteht - in den einzelnen Ländern deren führt. Dazu sei angemerkt: Die SPD-Bundestagsfrak- Bevölkerungsanteil so weit wie möglich entsprechen tion hat sich in ihren diesbezüglichen Vorschlägen muß. Das heißt, dies muß angepaßt werden. an die bisherige jahrzehntelang geübte Parlaments- Gemeinsam mit den für die Wahl zum 14. Deut- praxis gehalten, die von den jeweils zuständigen schen Bundestag erforderlichen Änderungen des Landesinnenministerien ausgearbeiteten konkreten Bundeswahlgesetzes werden die Zahl der Mitglieder Vorschläge im Innenausschuß unverände rt umzuset- des Deutschen Bundestages und die Kriterien für die zen. Diese Praxis hat sich bewährt. Sie war und ist Wahlkreiseinteilung in § 3 Abs. 2 des Bundeswahl- geeignet, Spekulationen in der Öffentlichkeit vorzu- gesetzes, die von der 15. Wahlperiode an gelten, ge- beugen. Derartige Entscheidungen würden mit setzlich verankert. Rücksicht auf persönliche Gegebenheiten vom Ge- setzgeber entschieden. An dieser Praxis soll auch zu- Zur Umsetzung dieser Empfehlungen der Reform- künftig festgehalten werden. kommission haben sowohl die Koalitionsfraktionen als auch die SPD-Bundestagsfraktion Gesetzent- Die Innenminister der Länder Schleswig-Holstein würfe vorgelegt, die unbest ritten in vielen Punkten und Rheinland-Pfalz haben die von der SPD in ihrem übereinstimmen. In anderen Fragen, wie der Frage Gesetzesantrag vorgesehene konkrete Neuzuschnei- der sogenannten Überhangmandate und der Aus- dung vorgeschlagen. Es ist bezeichnend, was Stil Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11635

Fritz Rudolf Körper und Umgang angeht, daß diese Vorschläge von den Ich glaube, es ist nicht nur Machtegoismus, son- Koalitionsfraktionen nicht angenommen worden dern auch Angst um die Macht. Denn es ist ja be- sind. kannt - jeder weiß es -, daß dieser Bundeskanzler (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nur noch ein „Überhangkanzler" ist. Sie wissen, daß die Mehrheit, mit der Sie die Abstimmungen hier ge- Dies bedarf von seiten der Koalition nach meinem winnen, nicht dem entspricht, wie die Wählerinnen Dafürhalten einer eingehenden Begründung. Ich und Wähler bei der Bundestagswahl 1994 gewählt denke, wenn man um Konsens bemüht ist, gilt es, zu haben. - beachten, daß Konsens keine Einbahnstraße ist. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Dann Schönen Dank. müssen Sie die PDS rausschmeißen! Setzen Sie sich einmal damit auseinander!) (Beifall bei der SPD - Ge rt Willner [CDU/ CSU]: Das ist bezeichnend dafür, daß wir - Herr Marschewski, Sie wissen doch genau - deswe- die besseren Argumente haben, Herr Kol gen werden Sie jetzt auch so laut -, daß, wenn es lege!) nach dem Zweitstimmenergebnis geht, Sie im Parla- ment nur zwei Stimmen Mehrheit hätten und daß Sie damit schon bei der Kanzlerwahl die Mehrheit ver- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort ergreift fehlt hätten. Das heißt, der Kanzler wäre damit gar jetzt der Kollege Gerald Häfner. nicht in korrekter Weise gewählt. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Aber die Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Mehrheit haben wir, nicht?) Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich am Anfang der Debatte ein paar grundsätz- Sie haben diese größere Zahl an Stimmen durch liche Bemerkungen machen; denn ich glaube, in die- die Vielzahl an Überhangmandaten, die bei dieser ser Debatte geht es um etwas anderes als bei den vie- Bundestagswahl erstmalig entstanden ist: Es gab len einzelnen Gesetzen, die wir Tag für Tag beraten 16 Überhangmandate, und zwar deshalb, weil die und beschließen. Es geht nämlich um die Regeln, auf Wahlkreise - wie die Wahlkreiskommission uns denen unsere gesamte Arbeit fußt. Es geht um die mehrfach eindringlich gesagt hat - falsch geschnit- Regeln, nach denen wir gewählt sind und aus denen ten sind, in den Ländern und zwischen den Ländern. dieses Parlament und damit jeder einzelne von uns seine Legitimation in diesem Parlament bezieht. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Häfner, ge- statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Con- Das heißt, es geht um die Grundregeln der Demo- radi? kratie selbst. Solange der Verfassungsauftrag, wo- nach alle Staatsgewalt vom Volke in Wahlen und Ab- stimmungen ausgeübt wird, nur zur ersten Hälfte Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich realisiert ist, solange es also Volksabstimmungen auf gestatte grundsätzlich Zwischenfragen. Bitte. Bundesebene nicht gibt, so lange sind die Wahlen die einzige Möglichkeit für den Souverän, die Bürge- Peter Conradi (SPD): Herr Abgeordneter Häfner, rinnen und Bürger, ihren politischen Willen verbind- ist Ihnen klar, daß die Überhangmandate der Union lich zu äußern und damit Einfluß auf das politische im wesentlichen in Wahlkreisen entstanden sind, in Geschehen und die politischen Entscheidungen zu denen diejenigen Wähler, die ihre Zweitstimme nehmen. Bündnis 90/Die Grünen gegeben haben, ihre Erst- stimme ebenfalls der Pa rtei Bündnis 90/Die Grünen Das macht deutlich, wie wichtig es ist, daß bei Ent- scheidungen über dieses Wahlrecht im Konsens aller gegeben haben Parteien Lösungen gefunden werden, die den Wäh- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lerwillen nicht verfälschen, sondern klar und deutlich - unverfälscht - zum Ausdruck bringen und den in und die so den Kandidaten der Union zum Wahl- unserer Verfassung angelegten Grundlagen entspre- kreisgewinn und damit zum Überhangmandat ver- chen. holfen haben, obwohl die Kandidaten der anderen Parteien eine Mehrheit hatten? Es war guter Brauch dieses Hauses, daß Wahl- rechtsfragen im Konsens zwischen den Parteien und (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Fraktionen entschieden worden sind. Ich bedauere DIE GRÜNEN]: Keine Ahnung!) außerordentlich, daß das nun nicht mehr so ist. Das - Herr Fischer, ich weiß , daß Sie das aufregt; aber hängt damit zusammen, daß Wahlrechtsfragen leider vielleicht lassen Sie mich meine Frage stellen. immer auch Machtfragen sind. Ich glaube, das muß man ganz offen aussprechen. Das war zwar schon (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ immer so, aber neu scheint mir zu sein, daß inzwi- DIE GRÜNEN]: Das regt mich überhaupt schen der Machtegoismus einzelner im Parlament nicht auf, es ist einfach nur töricht!) siegt über die Einsicht in die Notwendigkeit, jeden Allein in Baden-Württemberg - - Schein, daß es hier nicht mit rechten Dingen zuge- hen könnte, zu vermeiden, also bei den demokrati- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ schen Grundfragen gemeinsam die bestmögliche Lö- DIE GRÜNEN]: In Baden-Württemberg seid sung zu suchen. ihr so schlecht!) 11636 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Fischer, jetzt gibt es eine Mehrheit für die andere Seite des Hau- hat Herr Conradi das Wo rt. ses. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das pas- Peter Conradi (SPD): Herr Fischer, ich verstehe siert in Deutschland nie!) gut, daß Sie das ärgert, aber wir werden das weiter in - Herr Marschewski, werden Sie nicht so laut! der Öffentlichkeit darlegen. Man kann das Beispiel auch umgekehrt konstruie- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ren: Sie haben eine Mehrheit, aber durch die Über- DIE GRÜNEN]: Es ärgert mich nicht, es ist hangmandate kippt sie zur anderen Seite. Überlegen einfach Blödsinn!) Sie sich einmal, was es für unsere Demokratie, was es für vier Jahre Akzeptanz politischer Entscheidun- In Baden-Württemberg sind durch das Erststim- gen dieses Parlamentes bedeutet, wenn die Zusam- menwahlverhalten der Grünen-Wähler allein zehn mensetzung und damit die Mehrheitsverhältnisse Wahlkreise an die CDU gefallen. und die Regierung dieses Landes nicht dem entspre- (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Hört! Hört!) chen, was die Wählerinnen und Wähler gewollt ha- ben. ( [CDU/CSU]: Gewählt ist (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gerald Häfner gewählt!) Wenn das die Frage war, Herr Conradi, ist es, glaube ich, erforderlich, daß ich Sie nach der Debatte auf- Ich komme jetzt zu dem, Herr Marschewski, was kläre über das Entstehen von Überhangmandaten Sie in der Kommission und im Ausschuß gesagt ha- bei der letzten Bundestagswahl. Vielleicht hilft Ihnen ben. Sie haben eine ganz neue Legende konstruiert. mein Hinweis, daß es in vier Bundestagswahlen hin- Sie haben uns erzählt, wir hätten kein Verhältnis- tereinander - im Zeitraum von 1965 bis 1980 - null wahlrecht. Sie haben gesagt: Wenn wir ein Verhält- Überhangmandate gab. Dann gab es ein solches niswahlrecht hätten, hätte Häfner recht, aber wir ha- Überhangmandat, dann zwei, dann wieder eines - ben ein Mischsystem von Verhältnis- und Mehrheits- auf dieser Grundlage gab es eine Bundesverfas- wahlrecht. Das, lieber Herr Marschewski, entspricht sungsgerichtsentscheidung, auf die ich gleich noch weder der Verfassung noch dem Wortlaut des Wahl- eingehen werde -, heute haben wir 16. gesetzes. Im Wahlgesetz heißt es: Wir haben ein mit einer Persönlichkeitswahl verbundenes Verhältnis- Diese 16 Überhangmandate beruhen - wie Sie wahlrecht. Das Bundesverfassungsgericht nennt das gerne studieren können, wenn Sie die Unterlagen le- ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. sen - darauf, daß die Wahlkreise in den Ländern und zwischen den Ländern falsch geschnitten sind. Das Oberster Grundsatz bei allen Wahlrechtsentschei- heißt, daß wir, der Gesetzgeber, unsere Hausaufga- dungen des Verfassungsgerichts ist der Grundsatz ben nicht gemacht haben. Was Sie erzählen, zeigt der Gleichheit der Wahl. Das heißt, daß jede Wähle- nur, wie tief man sich verstrickt im Dschungel, wenn rin und jeder Wähler den gleichen Zähl- und Erfolgs- man Wahlrechtsfragen zum Gegenstand pseudopoli- wert mit seiner Stimme hat. Sie wissen genau, bei tischer Auseinandersetzungen macht und nicht auf der letzten Bundestagswahl ist das durch die Über- den Kern der Sache kommt. hangmandate in einem solchen Maß verfälscht wor- den, daß die Union für jeden Sitz im Parlament über (Beifall des Abg. Dr. Jürgen Rochlitz 4 000 Wählerstimmen weniger benötigte als Bündnis 90/ [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Grünen. Lassen Sie mich deshalb zum Ke rn der Sache noch Übrigens: In jedem deutschen Satz ist es so, daß ein paar Worte sagen: Die Wahlkreise sind definitiv das Adjektiv das Substantiv näher bestimmt, aber falsch geschnitten. Wir wissen das. Die Mehrheit des nicht in ein Mischverhältnis mit dem Substantiv ein- Parlaments hat sich entschlossen, es bei diesem fal- tritt. Herr Marschewski, ich habe Ihnen bereits ge- schen Wahlkreiszuschnitt zu belassen. Das bedeutet stern gesagt: Ein blauer Kanzler, ein schwarzer Kanz- - das ist absehbar -, daß bei der nächsten Bundes- ler oder ein roter Kanzler bleibt immer ein Kanzler. tagswahl eine ähnlich große, vielleicht sogar eine größere Zahl an Überhangmandaten als dieses Mal (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist entstehen wird. wahr!) Es gibt kein Mischsystem aus blau und Kanzler, son- Ich will deutlich sagen, was das für dieses Parla- dern es ist ein Kanzler in verschiedenen Zuständen ment und unsere Demokratie bedeuten könnte. Wir und Färbungen. So ist das auch mit der personalisier- haben zur Zeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen, und es gibt ten Verhältniswahl. Es ist und bleibt eine Verhältnis- aktuelle Umfragen, die die Möglichkeit einer Mehr- wahl. heit von Rot-Grün zeigen. Es wäre also möglich, daß nach der nächsten Bundestagswahl eine knappe rot- Das personalisierende Element bestimmt nicht die grüne Mehrheit von den Bürgerinnen und Bürgern Frage: Wie sind die Mehrheitsverhältnisse im gewünscht ist, daß sie auch, wenn die Stimmen- und Hause?, sondern bestimmt die Frage: Wer bekommt Sitzverteilung am Abend der Bundestagswahl be- den Sitz? Das heißt, wir wollen gar nichts bei den kanntgegeben wird, für jeden sichtbar zustande ge- Überhangmandaten ändern; sie sind, wenn sie er- kommen ist, es aber anschließend heißt: April, April, worben wurden, korrekt, aber sie müssen ausgegli- durch eine bestimmte Zahl von Überhangmandaten chen werden. So geschieht das praktisch in allen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11637

Gerald Häfner Bundesländern. Sie müssen dadurch ausgeglichen Ich möchte hier mit Nachdruck ein klares Bekennt- werden, daß die Parteien bei der Verteilung der Sitze nis zu unserem geltenden Wahlrecht ablegen; denn nach den Zweitstimmen entsprechende Sitze bei den es hat sich bewäh rt und ist seit fast fünfzig Jahren Listenstimmen abgezogen bekommen. Garant dafür, daß die Bundesrepublik eine der stabil- sten Demokratien der Welt ist. Das ist unser Entwurf. Sie wissen, daß das ein Ent- wurf ist, der letztlich aus dem Bundesinnenministe- Wir sehen heute in Ländern mit einem reinen rium kommt. Es gibt verschiedene andere Lösungs- Mehrheitswahlrecht, daß do rt kleinere politische möglichkeiten. Ich meine, daß diese Lösungsmög- Kräfte unterrepräsentiert sind und keine Gelegenheit lichkeit mit Abstand die beste ist. bekommen, wirksam in das politische Geschehen einzugreifen. Es schuf im übrigen die Voraussetzun- Zum Entwurf der SPD möchte ich mit Bedauern gen dafür, daß sich auch neue politische Strömun- folgendes sagen - man hätte sich durchaus einigen gen, wie vor einigen Jahren die Grünen, dauerhaft in können, wenn man früher zusammengesessen hätte -: der Politik etablieren konnten. Es ist richtig, Herr Schmidt - ich muß das bestäti- (Dr. [F.D.P.]: So ist es!) gen -, wenn hier gesagt wird, daß Sie in der Kom- mission noch eine völlig andere Position , vertreten Unser System der personalisierten Verhältniswahl haben. Der Entwurf, den die SPD jetzt präsentiert, hat sich bewährt. Das Element der Verhältniswahl er- ist ein Entwurf, der im Ergebnis das, was wir in der möglicht eine angemessene Beteiligung kleinerer Kommission alle gemeinsam wollten, nämlich die Parteien in der Politik. Es gewährleistet daneben Verkleinerung des Bundestages, wieder aufhebt. Er eine weitgehende Adäquanz des Erfolgswertes der führt zu einer Ausweitung der Sitzanzahl im Bun- Stimmen und erfüllt damit ein verfassungsrechtliches destag. Deswegen werden wir diesem Entwurf nicht Gebot der Gleichheit der Wahl. Daneben führt das zustimmen. Element der Mehrheitswahl dazu, daß alle Regionen der Republik etwa gleichmäßig im Parlament reprä- Er ist außerdem auch deshalb ein schlechter Ent- sentiert sind. Es stärkt damit die Identifikation der wurf, weil er gar nicht alle Überhangmandate zwin- Wählerinnen und Wähler mit ihrem Abgeordneten gend beseitigt. Vielmehr werden nach diesem Ent- und verbessert damit das Vertrauen der Menschen in wurf wahrscheinlich immer noch Überhangmandate den Parlamentarismus. überbleiben. Unser System der personalisierten Verhältniswahl hat manche Bewährungsprobe bestanden und hat Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ihre Redezeit ist sich dadurch Anerkennung und breite Zustimmung beendet, Herr Häfner. nicht nur in der Bevölkerung erworben, sondern ist häufig Vorbild für Regelungen in anderen Ländern gewesen und ist es noch. Für uns ist es wichtig, daß Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich wir an diesem bewährten System festhalten. kann nur dafür werben, unserem Entwurf zu folgen, Wenn wir nun die Verkleinerung des Bundestages der eine saubere, eine verfassungsrechtlich zulässige beschließen wollen, dann mag das in einer Zeit, in Lösung eines Problems bietet, das, wenn wir es nicht der wir allseits Einsparungen und Verschlankung der lösen, dazu führen wird - das wi ll ich am Ende noch öffentlichen Verwaltung einfordern, insoweit von sagen, Frau Präsidentin -, daß die nächste Bundes- Nutzen sein, als darunter nicht die Funktionsfähig- tagswahl unter hohem verfassungsrechtlichen Risiko keit unseres Parlaments und die Arbeit der Kollegin- steht und möglicherweise nicht von den Wählerinnen nen und Kollegen in den Wahlkreisen leidet. Die und Wählern, sondern in Karlsruhe entschieden Verkleinerung auf 598 Abgeordnete, die nun allen wird. Ich denke, wir sollten unsere Hausaufgaben vorliegenden Entwürfen zugrunde liegt, halten wir machen und für ein verfassungsgemäßes Wahlrecht für maßvoll und vertretbar. Wir werden ihr daher zu- sorgen. stimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Was uns dabei aber sehr am Herzen liegt: Wir wer- Peter Conradi [SPD]: Dieses Parlament ist den nicht zulassen, daß im gleichen Atemzug we- keine Schule! Dieses blöde Bild mit den sentliche Teile unseres bewährten Wahlrechts auf Hausaufgaben!) dem Altar des kleinkarierten Parteikalküls geopfert werden. Zu dem erprobten System der personalisier- ten Verhältniswahl gehören auch Überhangmandate. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der Sie gewährleisten, daß wirklich jeder in seinem Kollege Jörg van Essen. Wahlkreis direkt gewählte Kandidat in den Bundes- tag einziehen kann. Jörg van Essen (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Gleichwohl ist es ein verfassungsrechtliches Ge- Damen und Herren! Erneut führen wir heute eine bot, daß Überhangmandate die Ausnahme sein sol- kontroverse Debatte über das Wahlrecht, die nach len. Das setzt voraus, daß wir Wahlkreise haben, die unserer Auffassung in dieser Form unnötig gewesen annähernd gleich groß sind und gleichmäßig auf die wäre und außerdem geeignet ist, den so wichtigen Bundesländer verteilt werden. Die Einhaltung dieser Konsens über elementare Grundsätze einer funktio- Richtschnur ist seit der Wiedervereinigung - das ist nierenden parlamentarischen Demokratie zu gefähr- kein Geheimnis - zwangsläufig etwas aus dem den. Gleichgewicht geraten. Aber gleichzeitig mit der 11638 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Jörg van Essen Verkleinerung des Bundestages werden wir hier Wir sind nicht bereit, eine solche Fehlentwicklung durch die vorgesehenen Regelungen zum Neuzu- mitzutragen. Mit uns ist die Einführung von Aus- schnitt der Wahlkreise Ordnung schaffen und auch gleichsmandaten für nur eine Wahlperiode deshalb durch andere Regelungen dafür sorgen, daß Über- nicht zu machen. hangmandate künftig nicht mehr oder nur noch in Ausnahmefällen vorkommen können. Auch das Kompensationsmodell der Bündnisgrü- nen manipuliert unser Wahlrecht, das in einem Bun- Wir sind der Meinung, daß wir für die nächste desstaat wie der Bundesrepublik ganz bewußt föde- Wahlperiode 1998 sehr gut daran täten, uns im Inter- rale Strukturen hat. Wir sollten nicht Wahlergebnisse esse der Kontinuität des bewährten Wahlrechts noch der einen Landesliste mit denen einer anderen ver- dies eine Mal mit der Unzulänglichkeit der jetzigen rechnen. So würden wir dem Wählerwillen in den Wahlkreiseinteilung abzufinden, und daß wir die er- Ländern nicht gerecht. Wir können es zum Beispiel neute Möglichkeit des Auftretens von Überhang- nicht zulassen, daß einer Pa rtei - ich nenne als Bei- mandaten ein letztes Mal hinnehmen sollten. spiel die SPD in Bayern, die do rt den allergrößten Teil ihrer Mandate über die Landesliste gewinnt - Die Vorschläge der SPD und der Grünen, einzig der eine oder andere ihrer Sitze wieder abgezogen und allein für die 14. Wahlperiode ein Kompensati- wird, so daß die Wähler der bayerischen SPD im Par- onsmodell oder eine Regelung für Ausgleichsman- lament noch stärker unterrepräsentiert wären als bis- date einzuführen, haben einen schalen Beige- her. Wir wollen keine Bundesliste, die der föderalen schmack. In einer stabilen Demokratie ist das Wahl- Struktur unseres Wahlrechts zuwiderläuft. Wir be- recht ein Gut, dessen Bedeutung man nicht hoch ge- trachten das Kompensationsmodell als einen nicht nug einschätzen kann. Jegliche Manipulation in die- vertretbaren Eingriff in unser Wahlrecht. sem Bereich bringt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Verläßlichkeit unseres Parlamenta- rismus ins Wanken und gefährdet den Bestand unse- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr van Essen, res bislang von einem breiten Konsens getragenen gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten demokratischen Systems. Wir sollten es aus partei- Gysi? taktischen Gründen nicht wagen, diesen verhängnis- vollen Stein ins Rollen zu bringen. Jörg van Essen (F.D.P.): Ja. Es ist nicht zu bestreiten, daß für uns Liberale die Einführung von Ausgleichsmandaten durchaus hilf- reich wäre und wir sie deshalb befürworten müßten, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gysi. wenn es uns in dieser Frage nur um ein eigennützi- ges Machtkalkül ginge. Wir machen in dieser Legis- Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Kollege van Essen, wir laturperiode nämlich nicht zum ersten Mal die Erfah- hatten in Berlin eine Landtagswahl; das ist natürlich rung, wie schwer es gerade für kleinere Parteien ist, eine etwas andere Situation, aber letztlich ist das alle Gremien in einem Parlament zu besetzen. Aus- Wahlrecht, auch mit dieser Mischung, do rt ganz ähn- gleichsmandate wären dabei für uns durchaus von lich. Bei dieser Wahl hatte die PDS durch die Erst- Nutzen. stimmen zehn Mandate mehr, als ihr nach den Zweit- Wir wollen das Wahlrecht aber nicht als Werkzeug stimmen zustanden. Dadurch hat die CDU zur Vermehrung unserer Sitze mißbrauchen. Die 32 Ausgleichsmandate bekommen, die SPD zehn, die Menschen in unserem Land haben ein feines Gespür Grünen zwei. für einen verantwortungsvollen und demokratischen (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Umgang der Parteien mit der Macht entwickelt. Sie DIE GRÜNEN]: Das ist Kapitalismus!) werden es uns zu Recht übelnehmen, wenn wir aus Kalkül am bewährten Wahlrecht herumdoktern. Wenn diese Regelung nicht bestanden hätte, hätte es im Abgeordnetenhaus von Berlin eine völlige Ver- Im übrigen hätten die Bürgerinnen und Bürger - schiebung hinsichtlich der Mehrheiten gegeben. Die dieses Argument ist schon mehrfach Gegenstand der PDS wäre - zweifellos zu unserem Vorteil - durch Debatte gewesen - nicht das geringste Verständnis zehn Überhangmandate völlig überproportional ver- dafür, wenn wir durch die Einführung von Aus- treten gewesen. gleichsmandaten das Parlament jetzt erst noch stark vergrößern würden, während wir doch ständig beto- Glauben Sie nicht, daß das, wenn so etwas auf der nen, der Bundestag müsse so schnell wie möglich Bundesebene passieren würde - dann sicherlich verkleinert werden. Was sollen die Menschen eigent- nicht zugunsten der PDS, aber zugunsten einer ande- lich denken, wenn sie in den nächsten Tagen in der ren Partei; das ist ja auch egal -, Zeitung lesen: Verkleinerung des Parlaments be- schlossen, und es am Wahlabend 1998 dann womög- (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Nein, das lich heißt, der Bundestag sei diesmal noch größer als ist nicht egal!) in der jetzigen Wahlperiode? eine Verschiebung des Wahlergebnisses wäre? (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Könnte es nicht, wenn wir das hier anders machen, eine Animierung zum Beispiel für Berlin sein, künftig All das verstärkt doch nur die Parteiverdrossenheit ebenfalls keine Überhangmandate zuzulassen und vieler Wählerinnen und Wähler, anstatt ihr endlich dadurch eine völlige Verschiebung des Zweitstim- überzeugend zu begegnen. menwahlergebnisses hinzunehmen? Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11639

Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Kollege Gysi, wir schlägen der gemeinsamen Reformkommission anzu- möchten, daß es zu solchen Verschiebungen gerade schließen. nicht kommt. Von daher ist das wesentliche Ziel un- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- serer Überlegungen, das Entstehen von Überhang- mandaten insgesamt zu verhindern. ten der CDU/CSU)

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat die geht doch nicht! Das ist überhaupt nicht Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann. - möglich!) All das regeln wir ja. Wir sagen, daß wir schneller Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Frau Präsidentin! Korrekturen durchführen müssen, als das bisher der Meine Damen und Herren! Heute wollen wir die Dis- Fall ist. Ich denke, daß das genau der richtige Weg kussion über die Änderung des Bundeswahlgesetzes ist. vorerst abhaken. Das sieht nach einer überaus prag- matischen Lösung aus: möglichst wenige Änderun- (Gerald Häfner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ gen. Soweit es um einen grundlegenden Neuzu- NEN]: Das ist in die Tasche gelogen!) schnitt der Wahlkreise für 1998 ging, haben wir den Ich betone deshalb noch einmal: Für uns sind Konsens mitgetragen. Denn von einer Änderung wä- jegliche Sonderregelungen, die das geltende Wahl- ren ja insbesondere die neuen Bundesländer betrof- system für nur eine einzige Wahlperiode ändern fen, und zwar durch einen Verlust an Wahlkreisen sollen, unzulässige Manipulation und daher nicht und damit auch an Abgeordneten. Es macht aller- tragbar. dings wenig Sinn, Wahlkreise grundsätzlich inner- halb von vier Jahren neu zuzuschneiden. Das macht Ich möchte an dieser Stelle bekräftigen, daß es für weder Sinn für den Abgeordneten noch für die uns Liberale ein großes Anliegen ist, daß auch die Bürgerinnen und Bürger. Grundmandatsklausel unangetastet bleibt. Herr Marschewski, Konsens besteht mit uns auch (Beifall der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann darüber, die Grundmandatsregelung für 1998 nicht [PDS]) anzugreifen. Sehen Sie sich die Protokolle der Anhö- rung der Reformkommission an. Namhafte Verfas- Ich brauche nicht zu betonen, daß mir als Liberalem sungsrechtler haben damals sehr deutlich gesagt, die PDS nicht besonders ans Herz gewachsen ist. daß die Grundmandatsregelung nicht verfassungs- widrig ist, und zum Teil davon gesprochen, sie sei so- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Ach!) gar verfassungsmäßig geboten. Aber ich muß zugestehen: Ein beachtlicher Teil der (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sie haben Menschen in Ostdeutschland schenkt der Nachfolge- auch gesagt, daß wir es ändern können!) partei der SED nach wie vor ihr Vertrauen. So bedau- erlich das aus unserer Sicht ist, so deutlich macht Aber an dieser Stelle hört unsere Konsensfähigkeit dies, daß die PDS eine regional bedeutende politi- schon auf. Ich denke, es wird ein böses Erwachen ge- sche Kraft ist. Die Repräsentation gerade solcher ben, wenn auch das Bundesverfassungsgericht zu Kräfte im Parlament ist Aufgabe der Grundmandats- dem Ergebnis kommt, daß die hohe Anzahl von klausel. Wir wollen uns mit der PDS politisch ausein- Überhangmandaten verfassungswidrig ist, da sie mit andersetzen und wollen auch hier keine Manipula- dem Prinzip der Verhältniswahl unvereinbar ist, und tion des Wahlrechts. Die Grundmandatsklausel ist zu zwar vor allem deshalb, weil ein durch Stimmen do- Recht Teil unseres bewäh rten Wahlsystems, auf des- kumentierter Wählerwille verfälscht wird, und das sen Kontinuität es uns ankommt. zugunsten der regierenden Koalition, auch wenn die SPD davon zum Teil ebenfalls profitiert hat. Lassen Sie mich zum Schluß nur noch dies anmer- Eine Kompensation erscheint daher bereits im Hin- ken: Monatelang haben wir in einer gemeinsamen blick auf die Wahlen von 1998 verfassungsrechtlich Reformkommission über die Änderung des Wahlge- geboten. Sie, meine Damen und Herren von der Ko- setzes beraten und sind einvernehmlich zu dem alition, bereiten durch ein Festhalten an den Über- Schluß gekommen, daß wir nicht mehr als die wirk- hangmandaten Ihren nächsten Wahlsieg vor. Ich lich notwendigen Eingriffe in das Wahlrecht vorneh- denke, diese Suppe sollten wir Ihnen gründlich ver- men sollten. Auch Sie von der Opposition haben mit salzen. uns übereingestimmt. Ich finde es wirklich bedauer- lich, daß Sie nun - offensichtlich aus rein wahltakti- Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zur schen Beweggründen - von diesem Konsens abge- Frage der Verkleinerung des Parlamentes machen. wichen sind. Die PDS ist nicht grundsätzlich gegen eine Verklei- nerung. Nur, dieses Ergebnis der Parlamentsreform (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ wird der Öffentlichkeit quasi als Knochen vor die DIE GRÜNEN]: Na! Na!) Füße geworfen: Seht her, auch wir sparen; nun lobt uns endlich einmal dafür! Ich kann nur an das Gewissen eines jeden Mit- glieds dieses Hauses appellieren, sich der großen Abgesehen davon, daß durch größere Wahlkreise Verantwortung, die Sie bei jeder Änderung des der Abstand zwischen den Wählerinnen und Wäh- Wahlrechts tragen, bewußt zu werden und sich den lern und ihren Abgeordneten größer wird - ein Pro- in unserem Entwurf vollständig enthaltenen Vor- blem insbesondere für Flächenwahlkreise -, wird da- 11640 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 Dr. Dagmar Enkelmann bei natürlich völlig vergessen, daß mangelnde Effek- schen Zieles der personalisierten Verhältniswahl tivität in diesem Bundestag vor allen Dingen mit der sind". übergroßen Zahl der Gremien zu tun hat. Immerhin sind hier über 250 Gremien zu besetzen. Bei den gro- Unser Wahlsystem ist eben gerade nicht das der ßen Fraktionen heißt es dann: Wir müssen ja unsere uneingeschränkten Verhältniswahl, sondern das der Abgeordneten beschäftigen. Für die kleinen Fraktio- zunächst an der Persönlichkeitswahl orientierten nen bzw. für die Gruppe der PDS ist das durchaus ein Mehrheitswahl und nur ergänzend ein System der - Problem. über die Listenwahl vermittelten - Verhältniswahl. - (Gerald Häfner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Parlamentsreform war für uns immer mehr als NEN]: Herr Scholz, zitieren Sie doch einmal ein Verzicht auf ein paar Abgeordnete. An oberster einen Absatz weiter!) Stelle standen bei uns die Transparenz von Entschei- dungen, die Kontrolle der Exekutive durch die Legis- In diesem Sinne hat, wie das Bundesverfassungsge- lative, die Stärkung von Beteiligungsrechten der richt mit Recht ausführt - hören Sie schön zu, das Bürgerinnen und Bürger, die bürgernahe Ausgestal- kommt jetzt -, tung des Petitionsrechtes, Veränderungen des Wahl- rechtes wie beispielsweise die Senkung des Wahlal- das Bundeswahlgesetz vor den Verhältnisaus- ters auf 16 Jahre, das Ausländerwahlrecht, die Ab- gleich eine Personenwahl nach relativer Mehr- schaffung der Fünfprozentklausel, die Möglichkeit heit in den Wahlkreisen gesetzt. Durch die Vor- der Abwahl von Abgeordneten innerhalb einer Le- schaltung der Mehrheitswahl soll eine engere gislaturperiode und vieles andere mehr. persönliche Beziehung der Wahlkreisabgeordne- ten zu dem Wahlkreis, in dem sie gewählt worden Eine tatsächliche Reform der parlamentarischen sind, geknüpft werden. In diesem besonderen Tätigkeit einschließlich ihrer Rahmenbedingungen, Anliegen der personalisierten Verhältniswahl fin- also auch der Wahlgesetze, war offenkundig nicht det die aus der Zulassung von Überhangmanda- gewollt. Meinen Sie wirklich, daß sich die Bürgerin- ten sich ergebende Modifizierung der Erfolgs- nen und Bürger auf Dauer mit einer geringeren An- wertgleichheit ihre Rechtfertigung. zahl von Abgeordneten zufriedengeben? Ich denke, Das ist die entscheidende Aussage aus Karls ruhe. dieses Bonbon mag kurzfristig zu einer Beruhigung führen, zu einer neuen Akzeptanz der Arbeit des (Gerald Häfner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschen Bundestages wird die Verkleinerung al- NEN]: Wenn Sie noch den nächsten Satz leine - darauf gebe ich Ihnen B rief und Siegel - nicht vorlesen!) führen. Daß prinzipiell jede Wählerstimme nicht nur die Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. absolute Gleichheit im Zählwert, sondern auch ein Maximum an Gleichheit im Erfolgswert forde rt, liegt (Beifall bei der PDS) in den Grundprinzipien des demokratischen Grund- satzes der Wahlrechtsgleichheit begründet. Anderer- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster seits ist damit aber auch klargestellt, daß eine abso- spricht in der Debatte der Kollege Dr. Rupe rt Scholz. lute Gleichheit im Erfolgswert nicht gefordert ist und daß diese gerade wegen des Grundprinzips der Per- sönlichkeitswahl auch gar nicht realisierbar ist. Wie Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! sagt das Bundesverfassungsgericht wiederum ich zi- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir ste- tiere -: Die „absolute Gleichheit des Erfolgswertes hen heute allein vor der Aufgabe, die notwendigen der Stimmen kann mit keinem Sitzverteilungsverfah- Änderungen in den Wahlkreisen - denn das ist der ren erreicht werden". Differenzierungen des Stimm- Kern der Sache - für 1998 vorzunehmen und die Re- gewichts sind bei den Sitzverteilungsverfahren - form für 2002 vorzubereiten. Um nichts anderes geht wiederum wörtlich zitiert - „vorgegeben und unver- es. Deshalb ist aus meiner Sicht vor allem festzuhal- meidlich" . ten, daß es nicht an der Zeit ist, für die vom System her gesehen als Übergangswahl zu bezeichnende Herr Professor Bundestagswahl 1998 unverantwo rtliche Experi- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Scholz, sind Sie einverstanden mit einer Zwischen- mente mit unserem bestehenden und verfassungs- frage des Kollegen Häfner? mäßigen Wahlsystem anzustellen.

Der von den Oppositionsparteien inkriminie rte Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Nein, danke, im Streitpunkt heißt: Überhangmandate. Hier wird von Moment nicht. Ich will meinen Duktus zu Ende brin- der Opposition eine Scheinargumentation vorge gen. stellt, die mit den verfassungsmäßigen Grundlagen unseres Wahlsystems nichts gemein hat. (Gerald Häfner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wenn Sie den nächsten Satz gelesen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. hätten, hätte das allem widersprochen, was Jörg van Essen [F.D.P.]) Sie vorher gesagt haben!) Das Bundesverfassungsgericht hat in aller Deutlich- Demgemäß fordert das Prinzip der höchstmögli- keit ausgesprochen, daß Überhangmandate ganz chen Erfolgswertgleichheit nichts anderes, und grundsätzlich verfassungsmäßig sind, daß sie - ich zi- nichts mehr als den angemessenen Zuschnitt der tiere wörtlich - „die notwendige Folge des spezifi Wahlkreise. Nach unserem geltenden und wiede rum Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11641

Dr. Rupert Scholz nicht verfassungsrechtlich angreifbaren Wahlsystem Modellrechnung unter den Bedingungen der letzten liegt die entsprechende Differenzierungsgrenze be- Bundestagswahl konsequent zu Ende, so käme man kanntlich bei 33 1/3 Prozent. Für das Jahr 2002 werden zu einer Gesamtsitzzahl für den Deutschen Bundes- wir dies ändern. Aber ein solcher Änderungsbedarf tag von sage und schreibe 891 Abgeordneten. im Sinne einer aktuellen oder irgendwie verfassungs- mäßig begründbaren Forderung ist heute nicht gege- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bauen ben. Sie hier doch keinen Popanz auf! Das ist unerträglich! Völlig unsinnig!) Last not least ist das Ganze technisch gar nicht rea- - Ich glaube, hierüber braucht man nicht länger zu dis- lisierbar. Die technische Möglichkeit für solche Än- derungen - auch das hat Karlsruhe ausdrücklich be- kutieren. Das sind schlechterdings unerträgliche Er- gebnisse. tont - ist aber Voraussetzung für reale Änderungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aber wenden wir uns, meine Damen und Herren, noch einmal den Überhangmandaten zu. Wie kommt Jetzt machen Sie geltend, daß man den Ausgleich es zu Überhangmandaten? Natürlich dann, wenn un- nur in dem jeweils betroffenen Bundesland vorneh- terdurchschnittliche Wahlkreise gegeben sind. Aber men solle. Auch diese Rechnung geht nicht auf; denn eben nicht nur dann. Überhangmandate entstehen dies führt wiederum zu einer verfassungswidrigen auch dann, wenn eine geringe Zahl gültiger Zweit- Ungleichheit zwischen den einzelnen Bundeslän- stimmen oder wenn ein starkes Splitting - Ihr Fall, dern. Sie ist in unserem föderativen System nicht hin- Herr Conradi -, das heißt eine relative Mehrheit an zunehmen und würde überdies erneut gegen das Erststimmen einer Partei von den Wählern vorgege- Prinzip der höchstmöglichen Gleichheit im Erfolgs- ben ist. Beides liegt aber in der freien Entscheidung wert von Wahlstimmen verstoßen. des Wählers, kann und darf gerade unter demokrati- schen Aspekten nicht etwa durch einen Gesetzgeber Jetzt zu den Grünen: Das von Ihnen angeführte Ar- korrigiert werden, der vielleicht meint, daß er Vor- gument, innerhalb der Landeslisten entsprechende gänge dieser Art nicht respektieren wolle. Dem Ge- Ausgleichsmaßnahmen vorzusehen, würde in der setzgeber steht kein solches Recht zu. Gerade des- Konsequenz ebenfalls bedeuten, daß die Verhältnis- halb sind entsprechende Versuche der gesetzgeberi- wahl gegenüber der Mehrheits- bzw. Persönlich- schen Korrektur bestimmter Wählerentscheidungen keitswahl eindeutig übergewichtet würde. Kommt es mit Nachdruck zurückzuweisen. zur parteiinternen Verrechnung von Überhangman- daten, so kann dies nicht innerhalb derjenigen Lan- Die Forderung der SPD, Überhangmandate durch desliste geschehen, auf der die Überhangmandate Ausgleichsmandate zu kompensieren, verstößt in angefallen sind, sondern die Verrechnung muß zu diesem Sinne aus meiner Sicht ganz eindeutig gegen Lasten einer anderen Landesliste eben derselben die demokratische Wählerentscheidung. Sie würde Partei erfolgen. Dieses Verfahren wäre gegenüber überdies das System der personalisierten Verhältnis- den Wählern der betroffenen Landesliste, die mit ih- wahl auf kaltem Wege zu einem System der faktisch rer Zweitstimme auch einen in der Landesliste fest- absoluten, vorrangig parteienorientierten Verhältnis- gelegten Personenkreis gewählt haben, absolut un- wahl umformen. Sie würde schließlich zu fast uner- vertretbar und würde diese Wahl völlig verfälschen. träglichen Folgen - wenn man es konsequent zu Ihre Stimme käme letztlich dem Kandidaten eines Ende denkt - im Tatsächlichen führen. Legt man ein- Landes zugute, den sie keineswegs wählen wollten, mal die letzte Bundestagswahl zugrunde, so würde ja den sie nicht einmal wählen konnten. die Gesamtzahl der Bundestagsabgeordneten auf 687 Sitze anwachsen, wenn man dieses Verfahren (Dr. [F.D.P.]: Den sie gar vollziehen würde. nicht kennen!) - Den sie gar nicht kennen. Damit allein wäre es aber noch nicht getan. Jetzt stellte sich nämlich die weitere Frage, wie diese Aus- Damit wäre zudem ein versteckter, partieller Über- gleichsmandate bei den begünstigten Parteien, das gang zu dem System einer Bundesliste eröffnet, den heißt, auf welche ihrer Landeslisten zu verteilen wä- das geltende Wahlrecht gerade nicht vorgesehen hat. ren. Würde man bei dem System des geltenden Ge- Es führte im übrigen erneut zu einem Ungleichge- setzes bleiben, so wäre zunächst eine verhältnismä- wicht des Erfolgswertes, der für die einzelnen Lan- ßige Verteilung der gesamten, jetzt also auf 687 er- deslisten einer Pa rtei abgegebenen Stimmen und höhten Sitzzahl entsprechend dem Zweitstimmener- wäre damit verfassungsrechtlich außerordentlich gebnis der Parteien auf Bundesebene vorzunehmen. problematisch. Alsdann wären die Sitzzahlen innerparteilich ent- sprechend den Ergebnissen der jewei ligen Landesli- Noch schlimmer ist aber die Gefahr, daß der Ver- sten umzuverteilen. fassungsgrundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, wie ihn Art. 38 des Grundgesetzes zwingend voraus- Bei dem letzteren Rechenschritt stellt sich jedoch setzt, verletzt werden könnte. Denn das System der heraus, wie das Statistische Bundesamt in einer Mo- Listenwahl ist mit Recht an den Grundsatz der soge- dellrechnung ermittelt hat, daß in einigen Ländern nannten starren Liste gebunden worden; nachträgli- nach wie vor Überhangmandate von CDU/CSU und che Manipulationen oder Veränderungen nach dem SPD anfielen. Die Sitzzahl im Bundestag müßte also Votum des Wählers sind nicht statthaft. Eben dies um eine weitere Zahl von Ausgleichsmandaten er- würde aber geschehen, wenn bestimmte Listenman- neut so lange erhöht werden, bis in keinem Land date nachträglich entfielen oder unter einen entspre- mehr Überhangmandate anfielen. Führt man diese chenden Vorbehalt des Ausgleichs von Überhang- 11642 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 Dr. Rupert Scholz mandaten gestellt würden. Solche Ausgleichsmaß- Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Frau Präsiden- nahmen erfolgten nämlich nach Ihrem System nicht tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich wi ll nach der Gesetzlichkeit der die Listenwahl bestim- noch einmal - ergänzend zu dem, was mein Kollege menden Verhältniswahl, also systemimmanent, son Fritz Rudolf Körper zum Ausdruck gebracht hat - auf dern nach Maßgabe von außerhalb der Verhältnis- die Situation und vor allen Dingen auf die Funktion wahl liegenden Faktoren, sprich: den Ergebnissen des Wahlrechts, speziell in bezug auf die Frage der der Mehrheits- bzw. Persönlichkeitswahl. Mit ande- Überhangmandate und ihrer Ausgleichssystematik, eingehen. Dies wird Sie deswegen nicht überra- ren Worten: Sie wären vom Listenwähler nicht beein- - flußbar und würden so das Prinzip der starren, also schen, weil wir uns an der Stelle ganz wesentlich von vor nachträglicher Beeinflussung oder gar Manipula- dem Gesetzentwurf der Koalitionsseite unterschei- tion gefeiten und zu schützenden Liste verletzen. den. Alle von den Oppositionsparteien vorgeschlagenen Ich will aber noch darauf hinweisen, was von uns Änderungen sind also nicht nur systemwidrig, son- im Konsens durchaus mitgetragen wird: Die Über- dern sie bergen auch sämtlich außerordentlich pro- gangsregelung, die sogenannte transitorische Lö- blematische, teilweise verfassungswidrige Konse- sung für die nächste Wahl 1998, haben wir in der Re- quenzen und Veränderungen in unserem geltenden, formkommission erarbeitet, und wir werden sie ge- verfassungsmäßigen Wahlsystem in sich. meinsam tragen. An der Stelle gibt es keine Pro- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bleme, und an der Stelle werden wir mitziehen. Das ist schon erklärt worden. Deshalb weisen wir diese Vorschläge zurück und bedauern, daß die Opposition nicht den Weg zurück Das Entscheidende scheint mir aber zu sein - wir zu ihrer Zustimmung in der Reformkommission ge- machen darauf aufmerksam und unterstreichen dies funden hat. durch einen eigenen Gesetzentwurf -, daß diese Lö- sung nicht ausreicht. Ich will an dieser Stelle nach- Zum Schluß gestatten Sie mir noch eine ergän- drücklich erläutern, warum diese Lösung einer Er- zende, wenn man so will, vorsorgende Bemerkung gänzung von uns unterzogen worden ist. zur ebenfalls in der Öffentlichkeit schon aufgeworfe- nen Frage, ob das, was wir heute beschließen, nicht Vorweg möchte ich aber mit der Legendenbildung dem Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates unter- aufräumen, die hier insbesondere von der CDU ins steht. Der Bundesrat ist nicht vertreten, dennoch Gespräch gebracht worden ist, nach dem Motto: Wir möchte ich ihn hier ansprechen. Ich wi ll in aller Deut- haben in der Reformkommission gemeinsam ver- lichkeit klarstellen, daß es ein verfassungsmäßiges handelt und haben ein Ergebnis erzielt; das muß Zustimmungsrecht des Bundesrates zum System der auch das stehende Ergebnis sein. Wann zuvor ist es Bundestagswahlen von Verfassungs wegen nicht in diesem Hause so gewesen, daß ein Ausschußer- gibt. gebnis gleichzeitig absolutes Diktum für das Ergeb- nis hier im Plenum war? Wir haben immer weitere Das Wahlrecht ist ein originäres Gestaltungsrecht Verhandlungen zugelassen und haben auch durch des Verfassungsorgans Deutscher Bundestag, auf die Arbeit in der Reformkommission - dadurch, daß das ein anderes Verfassungsorgan, also der Bundes- wir seinerzeit ein Ausgleichsmodell, nämlich das rat, keinen konstitutiven Einfluß zu nehmen berech- Kompensationsmodell, zur Abstimmung gebracht tigt ist. Ich betone dies bewußt so ausdrücklich, weil haben, schon erkennen lassen, daß uns die Frage der mir nach wie vor erinnerlich ist, wie der Bundesrat Überhangmandate nicht einerlei war und auch nicht seinerzeit in der Frage der Diätenregelungen für die einerlei sein kann. Bundestagsabgeordneten schon einmal versucht hat, sich in das verfassungsmäßig originäre Selbstgestal- Ich will hinzufügen, daß wir schon im Mai gleich tungs- und Selbstorganisationsrecht des Deutschen nach Ende der Arbeit der Reformkommission begon- Bundestages einzumischen. Auch der Bundesrat ist nen haben - auf der Ebene der Fraktionsvorsitzen- im System unserer bundesstaatlichen Ordnung zur -den und einmal sogar auf der Ebene der Fraktions verfassungsmäßigen Organtreue gegenüber dem und Parteivorsitzenden; gewissermaßen auf höchster Bundestag verpflichtet. Möge er dies nicht ein zwei- politischer Ebene -, zusätzliche Verhandlungen zu tes Mal vergessen! führen. Diese hatten das Ziel, doch noch einmal in- Ich konstatiere in diesem Zusammenhang: Es be- tensiv darüber nachzudenken, ob die im Gesetzent- steht in diesem Hause Einigkeit insofern, als in bei- wurf zunächst enthaltene transito rische Lösung, die den Gesetzentwürfen der Oppositionsparteien - ge- sogenannte Minilösung, nicht noch erweitert werden nauso wie in unserem Gesetzentwurf - formuliert muß oder erweitert werden sollte. wird: „Der Bundestag hat das folgende Gesetz be- Unser Handeln hat also niemals allein auf dem Er- schlossen. " Das ist bekanntlich die Titulatur von Ge- gebnis der Arbeit der Reformkommission gefußt. Wir setzen, die nicht unter dem Zustimmungsvorbehalt haben immer erkennen lassen, daß uns zur Siche- des Bundesrates stehen. rung des Rechtsbestandes und des Verfassungs- Vielen Dank. rechtsbestandes der Übergangslösung für 1998 sehr daran gelegen war und wir sehr davon überzeugt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) waren, daß es weitere Lösungen - insbesondere mit dem Ziel, die Überhangmandate zu reduzieren - ge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der ben müßte. Ich will Ihnen dies im folgenden begrün- Kollege Wilhelm Schmidt. den. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11643

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Es kann doch nicht hingenommen werden - um - Ich sage es ja sehr vorsichtig, Herr Scholz. - Sie ge- das auch einmal mit Zahlen zu belegen -, daß die ben sich für eine sehr apodiktische Verfahrensweise Überhangmandate eine Verfälschung des Wahler- und Auslegung her, die nicht in einem einzigen Fall gebnisses in einem Maße herbeiführen, das es bis da- von einem der Verfassungsrichter, die an der entspre- hin in der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat. chenden Anhörung teilgenommen haben, so nach- drücklich unterstützt wurde. Sie bauen hier einen Po- Herr van Essen, es ist ja von mehreren Rednern, panz auf. auch von Herrn Häfner, mit Recht darauf hingewie- sen worden, daß alle Verfassungsgerichtsurteile, die Wenn die Verfassungsgerichtsurteile, die Sie zi-- sich mit der sehr wichtigen Frage der Überhangman- tiert haben, zunächst einmal nur von einem Über- date auseinandergesetzt haben, immer nur von dem hangmandat ausgehen, dann können Sie nicht so Vorhandensein eines einzigen oder zweier Über- tun, als ob das gleiche Verfassungsgericht nun bei hangmandate ausgehen konnten, weil es zu dem 16 Überhangmandaten noch immer die gleiche Auf- entsprechenden Zeitpunkt gar nicht mehr Überhang- fassung verfolgen würde, noch dazu, wenn wir den mandate gegeben hat. Reformstau für die Wahl 1998 nicht beseitigen. Das heißt, wir haben geradezu den Auftrag, diesen Bei der letzten Wahl ist die Zahl der Überhang- Verfassungsgerichtsbeschluß von 1985 zum Beispiel mandate explodiert - aus mehreren Gründen, wie dahin gehend auszulegen, daß wir die hohe Zahl von wir wissen, und zwar zum Teil auch aus Gründen, die Überhangmandaten in einem neuen Licht sehen. wir als Mitglieder des Bundestages wegen eines Dies ist der Punkt, auf dessen Klärung wir mit Span- nicht bewältigten Reformstaus selber verschuldet ha- nung bei den jetzt laufenden Verfassungsgerichts- ben. Wir haben nämlich über fast 20 Jahre hinweg verfahren warten. Lassen Sie uns doch einmal ab- keine Änderung des Wahlrechts vorgenommen und warten, was am 19. November bei der mündlichen damit zum Beispiel nicht die notwendige Verschie- Anhörung noch geschieht. Ich prophezeie Ihnen, daß bung von Wahlkreisen zwischen den Ländern her- wir als Ergebnis der Anhörung eine solche Tendenz, beigeführt. wie wir sie hier mit unserem Gesetzentwurf vorschla- (Jörg van Essen [F.D.P.]: Aber das reparie gen, erkennen werden. ren wir doch jetzt!) Meine Damen und Herren, es kommt hinzu, daß hier ein erheblicher Machtfaktor berührt ist. Ich wi ll Wir haben eine sehr hohe Toleranzgrenze, so daß hierauf sehr nachdrücklich hinweisen, weil Sie alle keine Wahlkreisgrenzen geändert werden mußten. so tun, als ob es hier nur um verfassungs- oder wahl- So ist also zum Teil eine Zahl von Überhangmanda- rechtliche Fragen ginge. Hier geht es auch um ten entstanden, die wir auch nach der Anhörung der Macht. Ich weise nur darauf hin, daß die Bundestags- Experten als sogenannte schlechte Überhangman- wahl im Jahre 1994 - wenn wir die als Maßstab neh- date bezeichnen müssen. Diese hätten wir vermei- men - für die Koalition eigentlich nur einen Vor- den können. Wir wollen diese dann im Jahre 2002 - sprung von zwei Mandaten ergeben hat und daß im es wurde mit Recht darauf hingewiesen - auch besei- Zuge der Überhangmandate dieser Vorsprung auf tigen. zehn Mandate ausgebaut wurde. Wir haben aber die Bundestagswahl 1998 vor uns. Wir beklagen das ja nicht rückblickend, sondern Die Wahl im Jahre 1998 wird keinen Bestand haben - nehmen das zum Anlaß zu sagen: Diese Verfäl- davon sind wir zutiefst überzeugt -, wenn wir diese schung des Wahlergebnisses darf sich nicht wieder- schlechten Überhangmandate nicht relativieren. holen. Darum geht es. Wir müssen die Gleichwertigkeit der Stimmen, also die Wahlgerechtigkeit wiederherstel- Bauen Sie bitte nicht weiterhin auf das, was von len. Ich möchte es nicht erlebt haben, wie die Mit- Ihnen ohnehin schon bei der letzten Wahl offensicht- glieder der rechten Seite dieses Hauses reagiert hät- lich relativ erfolgreich hinter den Kulissen manipu- ten, wenn das Wahlergebnis gelautet hätte: zwölf liert - ich verwende ausdrücklich diesen Beg riff - Überhangmandate für die SPD und nur vier für die wurde. Ich denke dabei nicht an die Einzelhinweise, CDU/CSU. Der Zufall hätte es ja auch so geschehen die der Kollege Conradi in seiner Zwischenfrage in lassen können. Dann wäre bei Ihnen die Kanzler- bezug auf Baden-Württemberg vorgetragen hat, son- mehrheit nicht zustande gekommen, obwohl ur- dern ich nenne nur einmal die Globalzahlen. sprünglich eine knappe Mehrheit von zwei Sitzen Diese besagen nämlich, daß die CDU/CSU Erst- vorhanden gewesen wäre. stimmen in Höhe von 45 Prozent hatte, während die F.D.P. hier 3,3 Prozent hatte. An Zweitstimmen hatte So gesehen verfälschen Überhangmandate in einer die CDU/CSU 41,5 Prozent und die F.D.P. 6,9 Prozent. so hohen Zahl auf jeden Fall das Wahlergebnis er- Der Unterschied von 3,5 Prozent im Regierungslager heblich. Wenn es denn einen solchen Umfang ein- ist offensichtlich einer Erststimmenkampagne zuzu- nimmt, dann muß man darüber zu recht, wie ich rechnen, finde, nachdrücklichst sprechen. Das tun wir, indem wir unseren Antrag einbringen. (Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Das ist doch zulässig!) Ich will das, was Herr Scholz gesagt hat, relativie- ren. die sehr erfolgreich gewesen ist. (Zuruf des Abg. Dr. Rupert Scholz [CDU/ Ich sage Ihnen: Sie wollen dieses System deswe- CSU]) gen nicht ändern - wir können es übrigens objektiv, 11644 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) wie Herr Scholz mit Recht gesagt hat, wahlrechtlich Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist der nicht ändern -, weil Sie auf die Wirkung einer sol- Text, den wir jetzt auf den Weg gebracht haben, chen Erststimmenkampagne auch für 1998 und für ohne daß wir darauf abheben, wie der Bundesrat sel- 2002 setzen. Das ist der Punkt. Sie nicken sogar. Sie ber darüber entscheidet. wollen offensichtlich den Machtfaktor nach wie vor als Manipulationsfaktor sehr stark einsetzen. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Weil Sie darauf aufmerksam machen, wi ll ich auf Warten Sie doch ab, wie der Bundesrat an dieser den Unterschied gegenüber SPD und Grünen einge- Stelle selber reagiert! Wir sind, auch nach Rückspra-- hen. Er beträgt nur 1,9 Prozent. Hier hat nicht im che mit vielen Beteiligten, der Auffassung, daß das entferntesten eine Erststimmenkampagne stattge- allemal zustimmungspflichtig ist. funden. Hier wollen wir auch nicht manipulieren. Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich Wir müssen dem Wahlrecht Rechnung tragen, das sagen: Auf dem Wege, den die SPD-Fraktion jetzt im zwei Stimmen vorsieht. Das sollte respektiert wer- Gesetzentwurf formuliert hat, führen wir eine siche- den. rere Regelung des Wahlrechts herbei. Auf diesem Nach meiner Einschätzung sind Sie aus zweierlei Wege gestalten wir auch die Übergangsregelung für Gründen nicht bereit, eine Ausgleichsmandaterege- 1998 auf jeden Fall bestandsfester und verfassungs- lung mitzutragen: Sie schätzen nicht richtig ein, wie gerechter. Wir fordern Sie sehr nachdrücklich auf, Wahl- und Verfassungsrecht in der Übergangsphase dabei mitzumachen. in Einklang zu bringen sind, und Sie sind entschlos- (Beifall bei der SPD) sen, dieses wahlmanipulative Element zur Erhaltung Ihrer Macht gnadenlos durchzuziehen. Das machen wir nicht mit. Wir werden versuchen, das über den Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Vor der Abstim- Bundesrat zu korrigieren. mung liegen zwei Wünsche nach Kurzinterventionen vor. Die erste kommt vom Kollegen Gerald Häfner. Die zweite wichtige Frage, die hier wenigstens an- zusprechen ist - es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu befinden -, ist nämlich, ob Wahlrechtsänderungen Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr zustimmungsbedürftig sind. Professor Scholz, Sie haben meine Zwischenfrage nicht zugelassen. Sie stellen selber gerne Zwischen- ( [CDU/CSU]: Das ver fragen; deswegen ging ich davon aus, daß Sie umge- stehen Sie immer noch nicht!) kehrt auch Zwischenfragen gestatten. Vielleicht aber wußten Sie ja schon, was ich fragen wollte. Ich will das relativieren, was Sie, Herr Scholz, hier zum Ausdruck gebracht haben. Wir von seiten der Sie haben das Bundesverfassungsgericht zitiert, SPD halten das Wahlrecht für ein zustimmungsbe- das Zitat aber an der entscheidenden Stelle abgebro- dürftiges Element der Gesetzgebung, chen. Das, so finde ich, ist kein angemessener Um- gang mit dem Verfassungsorgan Bundesverfassungs- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist gericht. Deswegen möchte ich in dieser Kurzinter- verständlich, aber falsch!) vention jetzt doch noch vorlesen, wie es im Text wei- tergeht. Da erst kommt nämlich der entscheidende und zwar deswegen, weil es ein konstitutives Ele- Punkt. ment ist. Wir können nicht einfach so tun, als wenn damit ein einfaches Gesetz über die Bühne gebracht Das Bundesverfassungsgericht sagt: würde. Hier werden die Grundfesten unserer demo- kratischen Verfassungsordnung berührt und gere- Überhangmandate sind daher nur insoweit ver- gelt. Da muß die zweite Kammer, der Bundesrat, ein fassungsrechtlich unbedenklich, als ihre Zutei- großes Interesse daran haben, darüber mit zu befin- lung die notwendige Folge des spezifischen den. Zieles der personalisierten Verhältniswahl ist. Eine über diese Besonderheit der personalisier- ten Verhältniswahl hinausgehende Differenzie- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Schmidt, ge- rung des Stimmgewichts ist in Anbetracht der statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scholz? Formalisierung der Wahlrechtsgleichheit daher nicht zu rechtfertigen.

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sehr gern, Aus diesem Grunde müssen im Rahmen des tech- Herr Scholz. nisch Möglichen Wahlkreise mit annähernd gleich großen Bevölkerungszahlen gebildet wer- den, so daß grundsätzlich kein Bundesland in- Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Herr Schmidt, Sie folge der unterdurchschnittlichen Größe seiner haben, aus meiner Sicht völlig zutreffend, Ihr Gesetz Wahlkreise mehr Wahlkreise umfaßt, als seinem mit folgenden Worten überschrieben: „Der Bundes- Anteil an der Bevölkerung des Bundesgebietes tag hat das folgende Gesetz beschlossen". Das ist, entspricht. Sind alle Wahlkreise etwa gleich groß, wie ich vorhin schon gesagt habe, die Titulatur für so ist deren angemessene Verteilung auf die Bun- Gesetze, die nicht zustimmungspflichtig sind. Kön- desländer gewährleistet und damit der Anfall von nen Sie mir erklären, wie sich Ihre jetzige Position Überhangmandaten auf das verfassungsrechtlich mit dieser Titulatur Ihres Gesetzentwurfes verträgt? zulässige Mindestmaß beschränkt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11645

Gerald Häfner Das Bundesverfassungsgericht hat dann in einer kommt das Kriterium der technischen Möglichkeit, späteren Entscheidung im Jahre 1988 - da ging es wie es das Bundesverfassungsgericht nennt, hinzu. um ein Überhangmandat für die CDU - noch festge- Das haben Sie selbst so zitiert. stellt: Fassen wir das einmal in diesem Zusammenhang Die engen Grenzen, in denen die Differenzierung zusammen: Das Bundesverfassungsgericht hat nicht des Stimmgewichts notwendigerweise zulässig ein einziges Mal beanstandet oder Zweifel zugelas- ist, werden also durch den Anfall eines Über- sen, daß unser System mit einer Abweichungsquote hangmandats für die CDU in Baden-Württem- von 331/3 Prozent nach unten oder nach oben verfas-- berg nicht überschritten. Unter diesen Umstän- sungswidrig sei. Damit ist gleichzeitig klar, daß in den ist ein Ausgleich der durch das Überhang der Immanenz eines solchen Systems, wenn es kon- mandat eingetretenen Verstärkung des Stimmge- kret um die Wahl geht, Überhangmandate statthaft wichts nicht erforderlich. sind - es sei denn, sie basierten auf Wahlkreiseintei- lungen, die nicht korrekt sind. Da die Wahlkreisein- Nun aber haben wir erstens statt einem teilung aber korrekt ist, ist die Konsequenz, daß die 16 Überhangmandate. Das heißt: Wir haben eine we- Überhangmandate ebenfalls verfassungsmäßig sind. sentlich größere Differenzierung des Stimmgewichts. Das müssen Sie begreifen. Und zweitens ist ein Großteil dieser 16 Überhang- mandate unbestreibar Folge eines eklatant falschen Das hängt nicht damit zusammen, ob ich ein Über- Zuschnitts der Wahlkreise sowohl in den Ländern als hangmandat habe oder 16; das ist nicht das Entschei- auch zwischen den Ländern. Das geht aus dem dende. Das Entscheidende ist die Systemimmanenz. Bericht der Wahlkreiskommission ebenso wie aus den Stellungnahmen sämtlicher von der Reformkom- Sie - das gilt für beide Oppositionsparteien - wol- mission angehörter Sachverständiger he rvor. len im Grunde auf ein totales Verhältniswahlrecht hinaus. Sie versuchen in dem Sinne, dieses System, Sie aber sperren sich. Sie wollen weder den Wahl- das wir haben und das verfassungsmäßig ist, zu än- kreiszuschnitt für die nächste Legislaturperiode än- dern. Das machen wir nicht mit. Deshalb wird es bei dern noch die Überhangmandate durch eine Aus- diesem System bleiben. gleichsregelung kompensieren. Natürlich wird sich in der Tat - das räume ich ein -, Das heißt: Wir gehen ein gewaltiges verfassungs- wenn wir die Abweichungsmarge ab dem Jahre 2002 rechtliches Risiko ein. Wenn das Bundesverfassungs- auf 25 Prozent festlegen, ein geringerer Spielraum gericht bei dem bleibt, was es in den Jahren 1963 für das Entstehen von Überhangmandaten ergeben. und 1988 entschieden hat, dann kann das, was Sie Das ist unbestreitbar. Aber dies ist heute, wie gesagt, heute mit Mehrheit beschließen wollen, auf keinen nicht mehr realisierbar. Fall Bestand haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. - Gerald Häfner [BÜNDNIS 90/ Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Professor DIE GRÜNEN]: Was ist denn 1998?) Scholz. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Die zweite Kurzin- Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Herr Häfner, Sie tervention kommt vom Kollegen Gysi. haben das, was das Bundesverfassungsgericht ge- sagt hat, völlig richtig zitiert. Ich habe genau das- selbe gesagt. Von daher sehe ich mich darin bestä- Dr. Gregor Gysi (PDS): Ich möchte ebenfalls noch tigt, keine Frage von Ihnen zugelassen zu haben. Sie etwas auf den Kollegen Scholz erwidern, weil er ge- haben mir doch nur das vorlesen wollen, was ich sel- sagt hat, daß diese Mischform im Wahlsystem nicht ber gesagt habe. nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern eigentlich sogar verfassungsrechtlich geboten ist. Er hat weiter Aber jetzt noch einmal zur Sache: Das Bundesver- gesagt, daß damit zwingend zusammenhängt, daß es fassungsgericht sagt im Grunde dreierlei. in dem einen oder anderen Fall zu Überhangmanda- ten kommen kann, und daß dieses System dann, Das erste ist: Überhangmandate sind eine im Sy- wenn man versuchen wollte, das auszugleichen, ver- stem immanent angelegte Konsequenz des personali- fälscht werden würde. sierten Verhältniswahlrechts. (Gerald Häfner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Wenn das so ist und wenn das vom Grundgesetz NEN]: Richtig!) her eigentlich auch so verlangt wird, dann würde mich schon interessieren, warum die CDU in Berlin Zweitens sagt das Bundesverfassungsgericht: keine Anstrengungen unternimmt, um die dortigen Überhangmandate sind zu verhindern, soweit sie auf Ausgleichsmandate zu beseitigen. Das hätte nämlich Problemen beruhen, die in der Untergewichtigkeit, in diesem konkreten Fall zur Folge, daß es eine völ- der Ungleichheit von Wahlkreisen liegen. - Das ist lige Verschiebung der Zusammensetzung des Berli- der zweite Satz. ner Abgeordnetenhauses gäbe, zugunsten auch der SPD und der Grünen, in erster Linie allerdings zu- Das dritte, was das Bundesverfassungsgericht sagt, gunsten der PDS. haben Sie eben völlig zutreffend zitiert: Die Erfolgs- wertgleichheit von Wahlstimmen bei Mehrheits- und Es kann ja nicht in einem Falle die eine Regelung Persönlichkeitswahlen unterliegt bei Wahlkreisen verfassungskonform sein - auch do rt gilt das Grund- natürlich gewissen Schwankungsbreiten. Zudem gesetz der Bundesrepublik Deutschland -, und im 11646 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Dr. Gregor Gysi anderen Fall soll genau die entgegengesetzte Rege- SPD und der Gruppe der PDS bei Enthaltung der lung verfassungskonform sein. Ich wollte nur darauf Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. hinweisen, daß auch in das Verfahren für die Wahlen in den Ländern eine Logik und eine Systematik hin- Dritte Beratung ein müssen. und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die Ich will ein Beispiel bringen - man kann die Wahl- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von Ih- kreise zuschneiden, wie man will; sie sind relativ ge- ren Plätzen zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - recht zugeschnitten -: Das Problem ist, daß die PDS Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit in Ost-Berlin sehr stark gewählt wird, do rt mit einer dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Ausnahme alle Direktmandate geholt hat, aber in be- Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- zug auf die Zweitstimmen im Westteil der Stadt nicht wurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Bundes- ebenso abgeschnitten hat. Daraus resultiert, daß wir wahlgesetzes auf Drucksache 13/5582. Der Innenaus- auf Grund der Erststimmen zehn Mandate mehr ha- schuß empfiehlt auf Drucksache 13/5750 unter Nr. 2, ben, als durch das Zweitstimmenergebnis gerechtfer- den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den tigt ist. Wenn man das in Berlin überhaupt nicht aus- Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache gleichen würde, gäbe es eine ganz beachtliche Ver- 13/5582 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- schiebung, in diesem Falle einmal zu unserem Vor- setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. teil. In einem anderen Fall kann es sich auch zu unse- - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz- rem Nachteil auswirken. entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU, F.D.P. und des Bündnisses 90/Die Grünen Deshalb meine ich, daß das Verhältniswahlrecht hier schon Korrekturen braucht. Wenn Sie aber sa- bei einer Enthaltung aus der SPD abgelehnt. gen, daß das auf Bundesebene nicht erforderlich sei, Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die daß es im Gegenteil eher grundgesetzwidrig sei, ei- weitere Beratung. nen solchen Ausgleich zu schaffen, dann sage ich, daß das auch für Berlin und für die anderen Länder Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- gelten muß. Dann käme es do rt zu erheblichen wurf der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zur Machtverschiebungen, zum Teil allerdings zu ganz Kompensation von Überhangmandaten auf Drucksa- beachtlichen - wie in diesem Fall - zuungunsten der che 13/5575. Der Innenausschuß empfiehlt auf CDU. Drucksache 13/5750 unter Nr. 3, den Gesetzentwurf (Beifall bei der PDS) abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- sache 13/5575 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Scholz. Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Herr Gysi, ich finde den Stimmen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. abge- es bewunde rnswert, wie Sie sich langsam in das lehnt. deutsche Wahlrecht einarbeiten. Bloß, Sie haben ei- nes - das ist meine einzige Antwort darauf - überse- Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die hen: Das Berliner Wahlsystem ist völlig anders als weitere Beratung. das Bundeswahlsystem. Es handelt sich um ein 60- Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Innen- 40-System; das hat natürlich eine völlig andere Kon- ausschusses zu dem Be richt der Wahlkreiskommis- sequenz. Sie müssen systemimmanent argumentie- sion gemäß § 3 des Bundeswahlgesetzes, Drucksa- ren, dann werden Sie auf die richtige Spur kommen. che 13/5750 Nr. 4 Abs. 1. Der Ausschuß empfiehlt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kenntnisnahme des Berichts auf Drucksache 13/ 3804. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist diese Be- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die schlußempfehlung einstimmig angenommen. Aussprache und teile vor der Abstimmung mit, daß der Kollege Gerald Häfner eine Erklärung nach § 31 Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Innen- unserer Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben ausschusses zu dem Zwischenbericht der Reform- hat. ) kommission zur Größe des Deutschen Bundestages mit den Empfehlungen für die Wahl zum Wir kommen zur Abstimmung über den von den 14. Deutschen Bundestag und zu den wesentlichen Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Regelungen für eine Verkleinerung, Drucksache 13/ Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung 5750 Nr. 4 Abs. 2. Der Ausschuß empfiehlt Kenntnis- des Bundeswahlgesetzes, Drucksachen 13/5583 und nahme des Zwischenberichts auf Drucksache 13/ 13/5750 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- 4560. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - entwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Be- um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun- schlußempfehlung einstimmig angenommen. gen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera- tung mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Innen- und F.D.P. gegen die Stimmen der Fraktion der ausschusses zu dem Ergänzenden Be richt der Re- formkommission mit den Empfehlungen zu den we- sentlichen Regelungen für die Verkleinerung des * ) Anlage2 Deutschen Bundestages ab der 15. Wahlperiode, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11647

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Drucksache 13/5750 Nr. 4 Abs. 3. Der Ausschuß emp- schleunigten Verfahrens leider zuwenig Gebrauch fiehlt auch hier Kenntnisnahme des Ergänzenden Be- gemacht wird. Das bedeutet aber nicht, daß dieses richts auf Drucksache 13/4860. Wer stimmt für diese Instrument der Strafprozeßordnung überflüssig ist. Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthal- Vielmehr ist es ein Indiz dafür, daß dieses Verfahren tungen? - Damit ist auch diese Beschlußempfehlung ohne die Einführung der Hauptverhandlungshaft nur einstimmig angenommen. schwer durchführbar ist. Eine rasche Aburteilung von tatsächlich oder rechtlich einfach gelagerten Fäl- Tagesordnungspunkt 14 ist damit beendet. len mittels des beschleunigten Verfahrens ist nur dann sinnvoll, wenn bei Beginn seiner Durchführung Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: die Anwesenheit des Beschuldigten sichergestellt ist. Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Hierzu bedarf es nach unserer Auffassung der tionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- Hauptverhandlungshaft. ten Entwurfs eines Das Erfordernis, dieses beschleunigte Verfahren ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozeß- durch dringend erforderliche Änderungen im Haft- ordnung recht zu ergänzen, wurde von den Fraktionen der CDU/CSU sowie der F.D.P. bereits in ihrem Entwurf - Drucksache 13/2576 - zum Verbrechensbekämpfungsgesetz gesehen ,und (Erste Beratung 62. Sitzung) behandelt, scheiterte aber gerade in diesem Punkt Beschlußempfehlung und Be richt des Rechts- im Vermittlungsausschuß. ausschusses (6. Ausschuß) (Alfred Hartenbach [SPD]: Gut so!) - Drucksache 13/5743 - Die geringe Anwendungsakzeptanz im Justizalltag Berichterstattung: einfach hinzunehmen, ohne auf den beschriebenen Abgeordnete Ronald Pofalla Mißstand mit dem hier vorliegenden Entwurf zu rea- Alfred Hartenbach gieren, wäre nach unserer Auffassung eine A rt ge- setzgeberischer Planwirtschaft, mit der sich zumin- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dest die Koalition nicht zufriedengeben will und die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre kann. ich keinen Widerspruch. Wir verfahren entspre- chend. Der Anwendungsbereich des durch den vorliegen- (Unruhe) den Gesetzentwurf geplanten Haftinstrumentariums erstreckt sich in erster Linie auf Delikte, bei denen Wenn im Saal die Voraussetzungen wiederherge- außer einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von höch- stellt sind, eröffne ich die Aussprache. - Herr Kollege stens einem Jahr die Voraussetzungen tatsächlicher Ronald Pofalla, Sie haben das Wo rt. oder rechtlicher Überschaubarkeit derart evident vorliegen, daß es anderenfalls schon gar nicht zur Ronald Pofalla (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Aufnahme des beschleunigten Verfahrens kommen Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, würde. den wir zu beraten haben, befaßt sich mit der längst überfälligen Beschleunigung von Verfahren nach der Dies trifft überwiegend auf sogenannte reisende Strafprozeßordnung. Straftäter, also Schlachtenbummler oder links- bzw. rechtsextremistische Chaostouristen zu. Sollte gegen (Unruhe) Täter aus diesen Kreisen ein Verfahren binnen einer Wochenfrist nicht abgeschlossen werden können, ist Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Einen Augenblick, - entgegen anderslautenden Mutmaßungen der Op- Herr Pofalla. - Ich darf die Kolleginnen und Kollegen position - nichts zu befürchten, was nicht von rechts- bitten, sich dann, wenn sie gehen wollen, aus dem staatlichen Prinzipien gedeckt wäre. Die Vermutung, Saal zu entfernen, damit wir weitermachen können. ein anderer Haftgrund könnte dann einfach nachge- schoben werden, wird sich angesichts der insofern Bitte, Herr Pofalla. sensiblen Ausgestaltung des Haftrechts in der Straf- prozeßordnung nicht bewahrheiten. Wenn wir das Ronald Pofalla (CDU/CSU): Schon in der letzten heute beschließen, werden Sie, Herr Hartenbach, Wahlperiode stand das Thema Beschleunigung auf das sicher in den nächsten Jahren zur Kenntnis neh- der Tagesordnung. Damals wurde auf Grund des men können. Verbrechensbekämpfungsgesetzes ein wichtiges In- strumentarium der Strafprozeßordnung fortentwik- Der bereits gesetzlich geregelte Haftgrund der kelt, nämlich das sogenannte beschleunigte Verfah- Fluchtgefahr, der von den Gegnern der Hauptver- ren. Damit sollte dem Hauptanliegen, das mit dem handlungshaft in diesem Zusammenhang immer beschleunigten Verfahren verfolgt wird, nämlich der wieder als ausreichend favorisiert wird, führt hier we- Koordinierung, Vereinfachung und Beschleunigung gen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eben nicht von Strafverfahren, entsprochen werden. zu der gewünschten Lösung des Problems, weil er andere Fälle betrifft. Vorliegend geht es bloß um eine Gemessen an diesem hehren Anspruch muß man Gefährdung des schnellen Ablaufs der Strafverhand- sich aber fragen dürfen, was dieses Gesetz in der Pra- lung durch Nichterscheinen des Beschuldigten zum xis gebracht hat. Ein Blick in den Justizalltag bringt beschleunigten Verfahren und nicht um eine gene- dabei zutage, daß in der Praxis vom Institut des be- relle Vereitelung. 11648 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Ronald Pofalla Daß der Haftgrund der Fluchtgefahr in dem einen auf Grund Ihrer Kenntnis der Praxis als Richter doch oder anderen Fall gleichzeitig vorliegen mag, macht eigentlich davon ausgehen müßten, daß es der die Hauptverhandlungshaft deshalb nicht etwa über- Hauptverhandlungshaft bedarf. Offensichtlich gibt flüssig. Immerhin gibt es doch auch solche Straftäter, es aber andere Erwägungen - diese tragen Sie nicht die durchaus einen festen Wohnsitz sowie Arbeits- vor -, die bei Ihnen dazu führen, daß Sie die Haupt- platz haben, denen keine hohe Strafe droht und die verhandlungshaft hier zum wiederholten Male ab- sich, wenn auch vielleicht nicht unbedingt der kon- lehnen werden. ventionellen Hauptverhandlung, so aber doch zu- Die Ausgestaltung als Soll-Vorschrift wi ll hierbei mindest dem beschleunigten Verfahren durch über- nach unserer Überzeugung nur auf begründete Aus- stürzte Abreise vom Tatort entziehen. nahmefälle mit sachgerechten Lösungen hinsichtlich Auch das Ergebnis der Anhörung, die wir im Juni örtlicher Besonderheiten bei Aufstellung des Ge- zur Hauptverhandlungshaft durchgeführt haben, schäftsverteilungsplanes durch die Amtsgerichte re- spricht insofern eine deutliche Sprache. Hierbei agieren. wurde sogar betont, daß die Hauptverhandlungshaft Auch der vielfach heraufbeschworene Anschlag mit der Höchstdauer von einer Woche deutlich mil- auf den Grundsatz der Unschuldsvermutung durch der ist als die für den Haftgrund der Fluchtgefahr etwaige vorschnelle Prognosen und damit verbun- vorgesehene sechsmonatige Untersuchungshaft. Die dene ungerechtfertigte Inhaftierungen ist reine Spe- Hauptverhandlungshaft wurde von Experten sogar kulation. Die richterliche Vorherrschaft bei Vorberei- lediglich als Perpetuierung bereits vorhandener Haft- tung und Durchführung des beschleunigten Verfah- gründe bezeichnet. rens wird dem entgegenstehen. (Zuruf des Abg. Dr. Jürgen Meyer [Ulm] Außerdem wird die Hauptverhandlungshaft - ent- [SPD]) gegen einem vielfach geäußerten Mißverständnis - Allem voran steht nach wie vor der Verhältnismä- auch nicht in allen Fällen verhängt werden, bei de- ßigkeitsgrundsatz, Herr Kollege Meyer, der auch bei nen das beschleunigte Verfahren in Betracht kommt. der Verhängung der Hauptverhandlungshaft zwin- In der Praxis wird nämlich regelmäßig dann keine gend zu beachten ist. Das beschleunigte Verfahren Haft verhängt, wenn ein Wohnsitz des Beschuldig- sollte daher auch nicht etwa zu Lasten des Strafbe- ten vorhanden ist. Das beschleunigte Verfahren kann fehlsverfahrens oder der Möglichkeit der Einstellung auch ohne Vorabfestnahme bet rieben werden. gegen Auflage oder Sicherheitsleistung genutzt wer- ( [CDU/CSU]: Genau so! Zur den. Diese Verfahrensarten wären gegebenenfalls Sicherung der Hauptverhandlung, zu nichts als ein milderer Eingriff vorzugswürdig. Auch die all- anderem!) gemeinen Anforderungen an Inhalt und Form des Haftbefehls nach § 114 StPO sowie schließlich die Hier liegt der entscheidende Denkfehler, Herr Har- Möglichkeit der Aussetzung des Vollzugs durch den tenbach, den Sie in den letzten Wochen immer wie- Richter nach § 116 StPO sind weiterhin unabdingbar. der begangen haben. Die Entscheidung über den Erlaß des Haftbefehls . Die einen Diebstahl begehende Hausfrau - die obliegt demjenigen Richter, der auch für die Durch- führen Sie ja immer an - wird nach diesem Haft- führung des beschleunigten Verfahrens zuständig instrumentarium deshalb nicht inhaftiert, weil sie ist. Die kompetente Beachtung der zwingenden Ver- einen Wohnsitz nachweisen kann. Hier geht es ja fahrensvorschriften und die qualifizierte Beurteilung nicht darum, daß ein Täter flüchten wi ll, sondern hier eines Falls als rechtlich und tatsächlich einfach sind geht es darum, jemanden dingfest zu machen, der auf Grund größtmöglicher Sachnähe damit nach un- sich dem beschleunigten Verfahren innerhalb der serer Auffassung hinreichend gewährleistet. Ein-Wochen-F rist entziehen will. Da können Sie argumentieren, wie Sie wollen. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Jawohl!) Außerdem wird die Hauptverhandlungshaft natür- Der Gesetzgeber hat den Richter auf Grund des lich auch dann nicht verhängt werden, wenn der Tä- Verbrechensbekämpfungsgesetzes generell mit der ter den Wohnsitz eindeutig nachweisen kann. Herr Entscheidungsbefugnis darüber ausgestattet, ob die- Hartenbach, das wissen Sie auf Grund Ihrer richter- ser überhaupt gegen einen Beschuldigten das be- lichen Erfahrung. schleunigte Verfahren eröffnen soll. - Dies ist gelten- Nebenbei bemerkt, meine Damen und Herren, ver- des Recht, meine Damen und Herren! - Dann aber schlingen die herkömmliche Dauer der Unter- sollte man demselben Richter nach unserer Überzeu- suchungshaft sowie die Maßnahmen der Aufent- gung konsequenterweise auch die damit verbundene haltsermittlung - das muß in einer solchen Debatte Beurteilung zutrauen, im selben Fa ll und unter den auch einmal gesagt werden - Unsummen an Steuer- gleichen Voraussetzungen erforderlichenfalls auch geldern. einen Haftbefehl zu erlassen. In der Praxis wird darüber hinaus durch die Straf- (Zuruf des Abg. Alfred Hartenbach [SPD]) prozeßordnung vorgeschrieben, daß der Richter stets - Herr Hartenbach, Ihre Position verwundert mich vorrangig - Herr Hartenbach, vorrangig! - Haftsa- gerade deshalb, weil Sie chen bearbeiten muß. Ein im beschleunigten Verfah- ren behandelter Fall kann demnach nur dann vorge- (Alfred Hartenbach [SPD]: Weil ich weiß, zogen werden und damit den eigentlichen Zweck was da für Unfug gemacht wird!) des beschleunigten Verfahrens erfüllen, wenn er Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11649

Ronald Pofalla durch die Einführung der Hauptverhandlungshaft den Bereich der angesprochenen Kleinkriminalität selbst zu einer Haftsache geworden ist. weniger Zeit als bisher verwendet und deshalb ihre verbleibenden Aufgaben schneller erledigen kann. Schon das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung - nachzulesen im 32. Band - darauf Die Hauptverhandlungshaft wird sich in der Praxis hingewiesen, daß ein Eingriff in die persönliche bewähren - davon sind wir überzeugt -, da sich viele Freiheit dann hinzunehmen ist, wenn ein legitimer der Fälle gleich beim Richter erledigen und dadurch Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollstän- Kapazitäten frei werden. Genau dieses ist das Ansin- dige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des nen des bereits vorhandenen beschleunigten Verfah- Täters nicht anders gesichert werden kann als durch rens im Ursprung gewesen. Inhaftierung. Aus all diesen Gründen sind wir der Auffassung, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Eben!) daß das beschleunigte Verfahren in der Praxis sinn- vollerweise nicht ohne die Hauptverhandlungshaft Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Pofalla, ge- auskommt. Deshalb werden wir nachher für die Ein- statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Har- führung der Hauptverhandlungshaft stimmen. tenbach? Herzlichen Dank.

Ronald Pofalla (CDU/CSU): Ja. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Alfred Hartenbach (SPD): Herr Kollege, ich zitiere aus der Begründung des von Ihnen vorgeglegten Ge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der setzentwurfs. Ich beziehe mich dabei auf Ihre eben Kollege Hartenbach. gemachte Behauptung, es müsse ein Haftgrund vor- liegen, um die Hauptverhandlungshaft anzuordnen. Es heißt da: Alfred Hartenbach (SPD): Sehr geehrte Frau Präsi- dentin! Meine Damen und Herren! Liebe Rechts- Aufgrund der bisherigen Rechtslage waren die freundinnen! Liebe Rechtsfreunde! Ich oute mich Gerichte auch gehindert, das beschleunigte Ver- ganz eindeutig als Gegner der Hauptverhandlungs- fahren innerhalb weniger Tage durchzuführen, haft. wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls (Zustimmung bei der SPD) fehlten, der zunächst vorläufig festgenommene mutmaßliche Täter wieder freigelassen werden Meine Damen und Herren, wenn wir die Rechtspo- mußte .. . litik der Bundesregierung und der von ihr abhängi- Wie stimmt das mit Ihrer Behauptung überein, man gen Parteien betrachten, können wir in leichter Ab- könne die Hausfrau, den Ladendieb nicht festneh- wandlung eines Bibelwortes sagen: Viele fühlen sich men, wenn man befürchten müsse, sie bzw. er werde berufen, aber wer ist auserwählt, etwas Vernünftiges sich der Hauptverhandlung entziehen? zu sagen? Wer bestimmt denn nun die Justizpolitik in dieser Koalition? Ist es der Justizminister, (Detlef Kleine rt [Hannover] [F.D.P.]: Kann er doch!) (Norbert Geis [CDU/CSU]: So ist es!) - Gleich, Herr Kleine rt . der dem Bundesverfassungsgericht Fesseln anlegen will und dessen stärkste Leistung der „Ehrenschutz Stimmen Sie mit mir darin überein, Herr Pofalla, für Soldaten" ist? daß die Befürchtung, es werde sich jemand der Hauptverhandlung entziehen, bei jedem mutmaßli- Ist es jener Außenhandelskaufmann, der die Al- chen Täter in Betracht kommt? tersgrenze für die Strafmündigkeit der Kinder von 14 Jahren auf 12 Jahre herabsetzen wi ll? Ronald Pofalla (CDU/CSU): Da stimme ich Ihnen ausdrücklich nicht zu. Sie wissen, daß das in der Pra- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wer ist denn xis anders ist. Wir reden über „reisende Straftäter", das?) über links- oder rechtsextreme Chaoten, die tage- - Ein Außenhandelskaufmann bei Ihnen. - Oder sind weise in Städte einfallen und sich logischerweise der es die vielen Möchtegernjuristen, die über eine Ver- Hauptverhandlungshaft und damit dem beschleunig- schärfung des Jugendstrafrechts schwadronieren? ten Verfahren entziehen wollen. Um diese Täter geht es. Ich hatte gehofft, daß das auf Grund der breiten (Norbert Geis [CDU/CSU]: Warum werden Debatte, die wir im Rechtsausschuß geführt haben, Sie eigentlich so aggressiv heute morgen?) auf Ihrer Seite verstanden worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Oder ist es , der dem Justizminister wi- derspricht und so trefflich und sachunkundig über Letztlich ist auch keineswegs vorgesehen - um Strafrahmen filibustert - er, der noch nicht mal sein noch ein Argument vorzutragen -, daß die Justiz da- eigenes Handwerk versteht? Oder sind es gar die, durch schneller arbeitet, daß sie sich selbst unter die den Schutz des Eigentums wie eine Ikone vor Druck setzt. Vielmehr soll ihre Arbeit schneller da- sich her tragen und jeglichem Entkriminalisierungs- durch erledigt werden, Herr Hartenbach, daß sie auf gedanken die Monstranz „Wehret den Anfängen!" 11650 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Alfred Hartenbach vorhalten, aber dann ganz klammheimlich dem wil- damit auf die Richter Druck ausgeübt wird. Das ist dernden Jäger Absolution erteilen? der zweite grundlegend falsche Gedanke und oben- drein rechtsstaatlich höchst bedenklich. Sie errei- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich komme aus chen mit Ihrem Gesetz, daß künftig die Polizei schon dem Spessart, Herr Hartenbach, da gibt es bei der Festnahme bestimmt, wie ein Verfahren ge- Wilderer!) staltet wird. Sie wollen, daß der Beamte im Streifen- Man hat den Eindruck, Rechtspolitik ist bei dieser wagen die Entscheidung trifft: Den kann ich vorläu- fig festnehmen, der wird ohnehin verhaftet, weil sich Bundesregierung ein bunter Bauchladen. Da wird - feilgeboten, was an deutschen Stammtischen gerade sein Fall für eine Verhandlung im beschleunigten im Trend ist. Verfahren eignet. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie bürden damit den Polizeibeamten vor Ort eine Entscheidung auf, die diese überhaupt nicht über- Aber richtig durchdacht ist nichts. blicken können, Aus diesem Bauchladen stammt auch das neue Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- setz, das sich harmlos „Gesetz zur Änderung der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Strafprozeßordnung" nennt, in Wirklichkeit aber ein heimtückisches und hinterhältiges Instrument der und Sie degradieren damit Staatsanwaltschaft und Strafverfolgungsbehörden ist und das Ende eines Gericht zu Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfen der rechtsstaatlichen und gerechten Strafprozesses ein- Polizei. Sie zerschlagen die Unabhängigkeit der Ge- läutet. Man weiß wieder nicht, Herr Geis: Stammt richte. Allein die Strafrichter dürfen und sollen den das von den Rechtspolitkern, der Koalition, oder hat Gang eines Verfahrens bestimmen - und manchmal hier der Innenminister die Feder geführt? die Anwälte. Ist das, Herr Pofalla, Herr Geis, der Weg in einen Polizeistaat, den Sie gehen wollen? Ich habe kürzlich in einem Lehrbuch aus meiner Studentenzeit geblättert Sie sagen, Sie könnten mit diesem Gesetz - jetzt hören Sie einmal gut zu, junger Mann! - (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das ist aber veraltet!) (Unruhe bei der CDU/CSU) und dabei zwei Sätze gefunden, die ich mir damals reisende Demonstranten, reisende Fußballrowdies, schon angestrichen hatte und die, Herr Götzer, Sie reisende Trickdiebe usw. packen. - Das ist der dritte sich einmal anhören sollten. Der erste ist von Kant, grundlegend falsche Gedanken. Das beschleunigte aus der „Metaphysik der Sitten" . Er paßt haargenau Verfahren darf nur angewendet werden, wenn der zu dem, was Herr Pofalla hier eben vorgetragen hat. Sachverhalt einfach und die Beweislage klar ist, und Kant sagt: das ist bei diesen Tätergruppen nun gerade nicht der Fall. Wer etwas anderes behauptet und der Öffent- Die Gerechtigkeit hört auf, eine zu sein, wenn sie lichkeit vormacht, offenbart mangelhafte Kenntnisse sich für irgendeinen Preis weggibt. der Praxis. Ihr Preis, meine Herren Kollegen, ist die Beschleuni- (Beifall bei der SPD) gung der Verfahren durch hemmungslose Verhaftun- gen. Dafür bleibt die Gerechtigkeit auf der Strecke. Gerade dieser Täterkreis wird alles daransetzen, den Sachverhalt kompliziert zu gestalten und Nebelker- Aber befassen wir uns nun einmal ganz konkret zen zu werfen. und Punkt für Punkt mit dem Wechselbalg von Ge- setz, den Sie uns hier auftischen. Ich habe, damit Sie Auch wir wollen eine beschleunigte Erledigung Punkt für Punkt mithören können, acht Aspekte auf- der Strafverfahren, aber auf rechtsstaatlich unbe- geführt: denkliche Weise. Dafür gibt es ja Rezepte: Wenn der Sachverhalt wirklich überschaubar ist, wenn der Tä- Sie sagen, das beschleunigte Verfahren mache nur ter eine feste Wohnanschrift hat - also in genau den Sinn, wenn der Täter aus der Haft vorgeführt werde. Fällen, die Sie angesprochen haben -, dann gibt es - Das ist der erste grundlegend falsche Gedanke ein noch viel einfacheres Verfahren: den Strafbefehl, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sagt ja auch die schriftliche Erledigung. Hiermit können exakt die keiner!) gleichen Strafen verhängt werden wie im beschleu- nigten Verfahren, nämlich Geldstrafe oder Freiheits- - doch, Herr Pofalla hat es gesagt -, wie Ihnen Rich- strafe bis zu einem Jahr. Hat der Täter hingegen ter in Bochum und anderen Städten sowie im Land keine feste Wohnadresse, kann er stets - nach jetzt Brandenburg belegt haben, die das beschleunigte geltendem, unbedenklichem Recht - wegen Flucht- Verfahren verstärkt anwenden, durchaus mit Erfolg gefahr in Haft genommen werden. Das ist genau das, und ohne Verhaftung bis zu sieben Tagen. was Sie wollen. Wozu brauchen wir Ihr Gesetz? (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben Herrn (Norbert Geis [CDU/CSU]: Der Strafbefehl Pofalla überhaupt nicht verstanden! - Mar dauert doch viel zu lange!) got von Renesse [SPD]: Auf der Grundlage Sie behaupten, das Gesetz diene der geltenden Rechts!) Verbrechens- bekämpfung. - Das ist der vierte grundlegend fal- Sie sagen, man muß die Ge richte durch den Druck sche Gedanke; auch das haben Sie eben nicht ka- der Haft zu Verhandlungen im beschleunigten Ver- piert. Verbrechen werden nach unseren Gesetzen fahren zwingen. - Das ist toll: Da muß jemand leiden, mit einer Mindeststrafe von einem Jahr belegt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11651

Alfred Hartenbach In dem von Ihnen gewollten Verfahren nach Haupt- cherweise verhängt. Lautet seine Prognose: mehr als verhandlungshaft darf höchstens ein Jahr Freiheits- sechs Monate Freiheitsstrafe, dann muß das Ge richt strafe verhängt werden. einen Verteidiger beiordnen. Diese Kosten trägt zu- nächst einmal die Staatskasse. Ob sie von dem verur- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Eben!) teilten Beschuldigten später einzutreiben sind, ist für Das ist wieder so ein Etikettenschwindel, damit die mich nicht vorstellbar. Stammtische ruhig bleiben. Wir werden eine Fülle von weiteren Verhaftungen (Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Vielleicht - zumeist kurzfristige - erleben. Ein Haftplatz kostet- gehen Sie einmal zu einem!) derzeit 150 bis 200 DM pro Tag. Wer trägt denn diese Kosten? - Die Haushalte der Bundesländer. Das hät- Aber Verbrecher packen Sie damit nicht. ten Sie sagen müssen. Dabei gibt es doch eine Sie sagen, die schnelle Strafe habe erzieherische kostengünstigere Alternative - ich habe sie bereits Wirkung und halte andere von Straftaten ab. - Das genannt -: den Strafbefehl. ist Ihr fünfter grundlegend falscher Gedanke. Die (Vorsitz: Vizepräsident ) Untersuchungshaft dient allein der Sicherung des Verfahrens; sie soll keine erzieherische Wirkung ent- An diesen acht Punkten habe ich Ihnen soeben falten. Allein das Urteil soll erzieherisch wirken. Es nachgewiesen, daß nicht ein einziger von Ihnen ge- wird auch nur auf den wirken, den es trifft. Wer nannter Grund die Einführung der Hauptverhand- glaubt, er erziele mit diesem Verfahren eine general- lungshaft rechtfertigt. Im Gegenteil: Es kommt mehr präventive Wirkung und halte potentielle Täter von Arbeit auf die Amtsgerichte zu, Prozesse werden Straftaten ab, offenbart wieder seine absolute Un- durch mehrere Instanzen gehen, sie werden teurer, kenntnis von der täglichen Praxis. und die von Ihnen behauptete „abschreckende Wir- kung" wird nicht eintreten. (Beifall bei der SPD) Das sind aber nicht alle Negativpunkte, die Ihr Ge- Sie sagen: Schnelles Recht ist gutes Recht. - Das ist setz unannehmbar machen: Die Hauptverhandlungs- der sechste grundlegend falsche Gedanke. Der haft greift in unerträglicher Weise in das Grundrecht kurze Prozeß, den Sie anstreben, verleitet zu ober- der Freiheit der Person ein und beschädigt verfas- flächlichen Ermittlungen. Schlimmer: Beschuldigte sungsrechtliche Garantien. Sie schaffen einen neuen werden oft nicht in der Lage sein, sich ausreichend Haftgrund, der von der Begründung her schwammig auf eine Verteidigung vorzubereiten; sie werden in und nicht interpretierbar ist. Er ist leicht handhabbar, der Kürze der Zeit auch keinen geeigneten Verteidi- da nicht angreifbar. Die Polizei muß nur befürchten, ger finden, der sich ihrer Sache annimmt. Die Richter der Beschuldigte werde einer nahen Hauptverhand- müssen unter Zeitdruck entscheiden; da kann kein lung fernbleiben; das reicht, um einen Menschen gutes Recht wachsen. eine Woche aus dem Verkehr zu ziehen. Das ist eine Sie sagen: Sie entlasten die Gerichte. - Das ist der reine Kaffeesatzentscheidung. Wenn er erst einmal siebte grundlegend falsche Gedanke. Der kurze Pro- sitzt, sitzt er sieben Tage. zeß, den Sie wollen, funktioniert - wenn überhaupt - Die Hauptverhandlungshaft verletzt das Prinzip nur bis zur ersten Instanz. Der Ladendieb und der der Unschuldsvermutung. Angesichts der in aller Re- Schwarzfahrer werden vielleicht noch ein maßvolles gel im beschleunigten Verfahren zu erwartenden Urteil des Amtsgerichts akzeptieren, weil sie so Strafen wird der immer zu beachtende Grundsatz schnell wie möglich aus der Haft wollen, nicht aber der Verhältnismäßigkeit mit Füßen getreten. Was er- die Täter, die Sie angeblich mit diesem Gesetz pak- hält denn ein wohnsitzloser Ladendieb? 15 Tages- ken wollen. sätze zu 5 DM unter Anrechnung von sieben Tagen Auch für den Alltagstäter gilt: Beschuldigte, denen Haft. Es bleiben 40 DM Strafe übrig, die der Fiskus man den kurzen Prozeß macht, die man über die in den Wind schreiben kann. Aber für eine Woche Klinge springen läßt, legen viel eher und viel häufi- Haft hat der Staat 1 050 DM bis 1 400 DM aufgewen- ger Rechtsmittel gegen Urteile ein als die, die ihre det. Mit diesem Betrag könnte man einem Arbeitslo- Sache in Ruhe vortragen können und vernünftig an- sen einen Arbeitsplatz finanzieren. Das wäre sinn- gehört werden. Praktiker wissen das. Die Zeit, die voll, aber das wollen Sie ja nicht. Sie in einem höchst fragwürdigen Prozeß zunächst (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- scheinbar sparen, werden Sie in der nächsten Instanz ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit einem erhöhten Personalaufwand verschwenden müssen. Damit haben Sie nichts gewonnen. Oder Durch die Hauptverhandlung werden Strafen vor- hoffen Sie auf die verschärfte Annahmeberufung? weg vollstreckt, die eigentlich so nicht vollstreckt werden dürften. In a ller Regel werden Geldstrafen Sie behaupten, Kosten seien nicht zu erwarten. - verhängt, deren Vollstreckung durch die Haft die ab- Das steht in Ihrem Entwurf. Das ist Ihr achter grund- solute Ausnahme, das letzte Mittel der Durchsetzung legend falscher Gedanke und eine Verdummung der des staatlichen Vollstreckungsanspruches sein soll. Bevölkerung dazu. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Müssen Sie so Mit Ihrem kurzen Prozeß stellen Sie dieses Rechts- institut auf den Kopf. Fehlurteile und damit unschul- schwere Geschütze auffahren?) dig erlittene Untersuchungshaft werden oft nicht kor- Sie wissen sehr wohl, daß der Richter beim beschleu rigierbar sein. Wie ist es denn, wenn einmal ganz au- nigten Verfahren prüfen muß, welche Strafe er mögli ßergewöhnlich ein Freispruch droht? Dann wird dem 11652 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Alfred Hartenbach Beschuldigten die Einstellung des Verfahrens nach Gleichheitsgrundsatz und den Grundsatz der Ver- § 153 a der Strafprozeßordnung unter Verzicht auf hältnismäßigkeit. Bündnis 90/Die Grünen lehnen da- Entschädigung für erlittene Untersuchungshaft an- her den Gesetzentwurf entschieden ab. geboten. So ist die Praxis. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben Sie gesagt, das haben wir nicht vor!) Was wollen Sie? Mit der Verlängerung von Haupt- verhandlungshaft bis zu einer Woche sollen zukünf- Die Hauptverhandlungshaft verstößt - jetzt hören tig mehr beschleunigte Verfahren erreicht werden. - Sie ein letztes Mal bitte gut zu - gegen den Grund- Voraussetzung: Unverzügliche Entscheidung bei ein- satz der Gleichbehandlung. Wegen eines geringen fachem Sachverhalt ist möglich, die Beweislage ist Schuldvorwurfs kann ein Beschuldigter eher in Haft klar und die zu erwartende Strafe ist maximal ein genommen werden als ein wirk lich schwerer Junge, Jahr, das heißt, es handelt sich um Vergehen und der so viel auf dem Kerbholz hat, daß gegen ihn nicht nicht Verbrechen. im beschleunigten Verfahren verhandelt werden kann. Aber weil auch sonst kein Haftgrund vorliegt, Beschuldigte, denen Straftaten mit sehr viel hö- darf er spazierengehen oder nach Marbella in die herer Straferwartung vorgeworfen werden, sind in Sonne fliegen, während der kleine Eierdieb brummt. vielen Fällen und völlig zu Recht nicht in Haft, da we- Ist das Ihre Vorstellung von Gerechtigkeit? der Flucht- noch Verdunkelungsgefahr besteht. Der kleine geständige Eierdieb kommt dagegen künftig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne bis zu einer Woche in Hauptverhandlungshaft. Der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Volksmund sagt hierzu: Die Kleinen hängt man, und Dieses Gesetz, meine Damen und Herren der die Großen läßt man laufen. Das Rechtsbewußtsein Union und der Koalition, löst die Probleme nicht. Es in der Bevölkerung nimmt Schaden, wenn der Ge- ist verfassungswidrig und schafft nur neue Probleme. setzgeber dieses auch noch zum Prinzip erklärt. Ge- nau dies tun Sie mit dem vorliegenden Gesetzent- (Detlef Kleine rt [Hannover] [F.D.P.]: Auch wurf. das noch! Jetzt ist es auch noch verfas sungswidrig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat wird nicht steigen. Es wird erschüttert, wenn plötzlich je- Hauptverhandlungshaft ist Einsatz von Haft zu mand aus Ihrer Nachbarschaft einmal eben sieben haftfremden Zwecken. Das gesetzgeberische Motiv Tage aus dem Verkehr gezogen wird. ist die „erzieherische Wirkung". In der Begründung des Gesetzentwurfes und noch deutlicher in den Deshalb schließe ich mit dem zweiten Satz, den ich Ausschußberatungen haben Sie hier die Hosen her- beim Blättern in meinen sicher veralteten Lehrbü- untergelassen. chern aus der Studentenzeit gefunden habe. Dieser Satz lautet: Das Recht ist der Schild der Schwachen. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Unparlamentari- - Unter dieser Regierung ist der Schild zum Küchen- scher Ausdruck!) sieb verkommen. Endet das Verfahren mit einer Bewährungs- oder Danke schön. Ich möchte mich bei Ihnen für den Geldstrafe, soll der auf frischer Tat Ertappte wenig- „jungen Mann" entschuldigen. Es war nicht böse ge- stens mit der Freiheitsentziehung bis zur Hauptver- meint. handlung die harte Hand des Staates gespürt haben. (Beifall bei der SPD) Das ist vorweggenommene Strafe ohne Schuldfest- stellung. Sie stellen damit den Rechtsstaat auf den Kopf. Vizepräsident Hans Klein: Kollege Volker Beck, Sie haben das Wort. Sie bedenken nicht, was eine Woche Haft an desin- tegrierender Kraft für den Beschuldigten am Arbeits- platz und in der Fami lie bedeutet, ob er nicht erst (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Volker Beck durch dieses unsinnige Mittel zur Aufnahme einer Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei Ih- kriminellen Karriere gebracht wird. nen, meine Herren Rechtspolitiker von der Koalition, hat man den Eindruck, Sie hielten den Rechtsstaat In dem Bereich, in dem der Entwurf mit geltendem für einen Schweizer Käse, den man beliebig aushöh- U-Haft-Recht übereinstimmt, kann man natürlich len könne: kaum sagen, er sei verfassungswidrig. Der Entwurf geht jedoch erklärtermaßen genau darüber hinaus. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wenigstens Wenn der Befund richtig ist, daß die Justiz der ge- schmeckt er gut! - Detlef Kleine rt [Hanno setzlichen Vorgabe - Strafbefehlsverfahren und be- ver] [F.D.P.]: Wer höhlt denn einen Schwei schleunigtes Verfahren - nicht genügend entspricht, zer Käse aus? Es macht keinen Sinn, einen dann darf man nicht Hauptverhandlungshaft dafür Schweizer Käse auszuhöhlen!) einsetzen, um die Justiz zu erziehen. Es darf nicht großer Lauschangriff, Kronzeugenregelung und der einzelne, der nur eine Woche in Haft kommt, da- heute eben die Hauptverhandlungshaft. für büßen, daß die Justiz insgesamt nicht so will, wie sich der Gesetzgeber das vorgestellt hat. Die Idee der Hauptverhandlungshaft kollidiert mit wesentlichen rechtsstaatlichen und verfassungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rechtlichen Prinzipien. Sie verstößt gegen den und bei der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11653

Volker Beck (Köln) Dann müssen Sie schon - wie Frau von Renesse In den Ausschußberatungen haben Sie zur Neube- scherzhaft vorgeschlagen hat - die Richter in Haft gründung Ihres Vorschlages das Bochumer Mo- nehmen, wenn Sie die zu einem anderen Verhalten dell" bemüht. Dort wird das beschleunigte Verfahren nötigen wollen, aber nicht die Beschuldigten. bei Ladendieben angewandt. Die Beschuldigten wer- den bis zu einem Tag in Polizeigewahrsam genom- Die Hauptverhandlungshaft soll eingeführt wer- men. Dann wird die Hauptverhandlung angesetzt den, damit das beschleunigte Verfahren vermehrt und sofort durchgeführt. durchgeführt wird; so Ihre These. Der Nachweis der geringen Anwendungshäufigkeit des beschleunig- (Margot von Renesse [SPD]: Das ist Druck ten Verfahrens auf Grund des Nichtvorhandenseins auf die Richter!) des Haftgrundes oder des Nichterscheinens des An- Man muß kein besonderer Fan dieses Modells sein; geklagten zur Verhandlung wurde nicht erbracht. aber eines zeigt das „Bochumer Modell" auf jeden Was Sie hier machen, ist Gesetzgebung auf Ver- Fall: In den Fällen, in denen das beschleunigte Ver- dacht. Weder die Bundesregierung noch ihre Sach- fahren möglich ist, braucht man keine Hauptver- verständigen von der Koalition in der Anhörung handlungshaft. Bochum führt das gerade ohne dieses konnten den Beweis für diese These antreten. Instrument durch, weil es noch nicht Gesetz ist, und (Abg. [CDU/CSU] verteilt es funktioniert. Süßigkeiten) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gleichzeitig zeigt Bochum mit 40 Verfahren im Jahre Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Beck, darf 1995, daß sich nur wenige Verfahren für das be- ich Sie eine Sekunde unterbrechen. Ich möchte nur schleunigte Verfahren eignen. gern den Herrn Parlamentarischen Geschäftsführer Oswald bitten, seine tätige christliche Nächstenliebe Hauptverhandlungshaft und beschleunigtes Ver- etwas unauffälliger auszuüben. - Bitte fahren Sie fahren, kurzer Prozeß und ha rte Hand gegenüber Ei- fort . erdieben und angeblich auch gegenüber sogenann- ten reisenden Straftätern - das verkauft sich gut am Stammtisch, das ist Rechtspolitik à la CSU. Bei den Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gerichten werden Sie es da schon schwerer haben, Ihre Behauptung, man könne reisende Straftäter mit Sympathien für Ihre Vorschläge und Ihre Neuerun- diesem Mittel zur Raison bringen, ist populistisch gen zu finden. und hält der Überprüfung in der Realität nicht stand. Gerade hier - das hat die Anhörung gezeigt - sind Ich vertraue auf unsere unabhängige Justiz, die die Fälle meist zu kompliziert und dauert die Be- auf hohe rechtsstaatliche Standards Wert legt, auch schaffung der Akten und Informationen zu lange, als wenn der Gesetzgeber mit diesem Gesetzentwurf si- daß das beschleunigte Verfahren überhaupt anwend- gnalisiert, in bestimmten Bereichen bräuchte man es bar wäre. mit den rechtsstaatlichen Prinzipien nicht so genau zu nehmen. Wo Untersuchungshaft wirklich notwendig ist, rei- chen die klassischen Haftgründe aus. Wenn man die Deshalb hoffe ich, daß die Ge richte von diesem In- Voraussetzungen ernst nimmt, gibt es nur relativ we- strument, bei dem Sie bisher entschlossen sind, es nige Verfahren, die sich für das beschleunigte Ver- einzuführen, wenig Gebrauch machen werden. Dies fahren eignen, in der Regel bei der Massen- und bei ist keine gute Stunde für den bundesdeutschen der Kleinkriminalität. Bei Wiederholungstätern, bei Rechtsstaat. Tätern mit höherer Straferwartung oder bei der Erf or- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derlichkeit, mehr Aktenmaterial herbeizuziehen, und bei der SPD) stellt sich die Frage, wie man in kürzester Zeit an In- formationen kommt. Hier stoßen Sie auf Praktikabili- tätsprobleme. Deshalb wird dieses Instrument selte- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- ner zur Anwendung kommen, als Sie sich das wün- lege Detlef Kleine rt . schen. (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident! Besonders bedenklich finde ich die Gefahr der Detlef Kleinert Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Wir auf Grund dieses polizeilichen Steuerung der Justiz sind schon bedeutend mehr im System und verfolgen neuen Instrumentes. Den festnehmenden Beamten schon bedeutend langfristigere rechtspolitische wird die Prognose auferlegt, die sie nicht stellen kön- Überlegungen, als Sie, Herr Hartenbach, vorhin ver- nen und die nicht in ihrer Kompetenz liegt. Sie müs- mutet haben. Im Vorfeld der Entscheidung für eine sen nach dem Entwurf beurteilen, ob eine Verurtei- größere Anlage in Wackersdorf wurde zum Beispiel lung im beschleunigten Verfahren wahrscheinlich ist diskutiert, den alten Tatbestand des Landfriedens- und ob die Hauptverhandlung innerhalb einer bruchs wiedereinzuführen. Gegen diesen Tatbestand Woche durchgeführt werden kann. Das kann aber gibt es ganz massive rechtspolitische, rechtsstaatli- allein der zuständige Richter entscheiden, che Bedenken. Deshalb haben wir damals schon - so (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Der weit reicht die Vorgeschichte dieser Hauptverhand- wird es auch tun!) lungshaft zurück - gesagt: Bevor wir wieder Schul- dige und Unschuldige in diesen früheren unglückse- das darf nicht der Polizeibeamte tun. ligen Zwang des alten Landfriedensbruchs einbezie- 11654 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Detlef Kleinert (Hannover) hen und alle gleichermaßen mit erheblichen Straf an- nichts wissen. Und das soll dann dem Ruf und Anse- drohungen in die Pflicht nehmen, wollen wir uns an hen der Rechtsprechung dienen. die wirklich Schuldigen halten, an diejenigen, die sich bei einem so wichtigen Recht wie dem der De- Nur die einfachen Fälle, die überschaubaren Fälle monstrationsfreiheit nicht an die mindesten Regeln sind gemeint. Die Praxis wird erweisen, daß wir da- halten. mit der Justiz ein zusätzliches, natürlich vorsichtig zu handhabendes Instrument an die Hand geben. Was Nun gefällt Ihnen die Sache nicht, und dann ist soll das, zu sagen, der Polizeibeamte würde ent- dieser schreckliche Mechanismus zu beobachten, scheiden? Er entscheidet - so wie heute und wie seit- daß Sie, völlig quer durch die Gegend, alles, was not- vielen Jahren auch schon - immer als der erste, und falls dagegen sprechen könnte, zusammensuchen danach wird dem Richter vorgeführt. Das ist hier ge- und ein Schreckensbild entwerfen, anstatt sich ein- nauso wie bei allen anderen Haftgründen. Es wird le- mal abgewogen mit unseren Gründen auseinander- diglich eine zusätzliche Möglichkeit eröffnet. zusetzen. Ich möchte zum Schluß noch einmal ganz deutlich (Zuruf des Abg. Alfred Hartenbach [SPD]) darauf hinweisen, daß wir jede Möglichkeit suchen, um möglichst oft wieder zu einem Inbegriff der Ihre scheinbaren Gründe widersprechen sich doch Hauptverhandlung mit einer souveränen Richterper- gegenseitig, ganz abgesehen davon, daß Ihre Rechts- sönlichkeit, mit souveränen Verfahrensbeteiligten wirklichkeit - so wie bei Herrn Beck auch - von natürlich auch auf seiten der Verteidigung und der Phantomgestalten wie zum Beispiel diesen Eierdie- Staatsanwaltschaft zu kommen, um damit - wir kön- ben, die in großer Zahl auftreten, wimmelt. nen hier keine Patentrezepte abliefern - ein wenig (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und dazu beizutragen, daß die Hauptverhandlung recht- der CDU/CSU) zeitig stattfindet und dann eben auch keine Rechts- mittel eingelegt werden, weil der Angeklagte selbst Wer hat schon von so vielen Eierdieben in unserer noch überzeugt ist, daß ihm Recht geschieht, wäh- Gesellschaft gelesen, wie Sie sie in dieser Diskussion rend das nach acht Monaten nicht mehr der Fall ist. auftreten lassen. Das kann es doch nicht sein. Einen kleinen Beitrag wollen wir damit leisten, daß (Alfred Hartenbach [SPD]: Sie sollten ein wir in Zukunft wieder öfter zu einer Hauptverhand- mal auf den Markt gehen, da gibt es genug! lung kommen, die diesen Namen verdient, die aus - Heiterkeit - Zuruf von der SPD: Hühner einem Guß ist und die auch zur Weiterentwicklung diebe können wir dazunehmen!) solcher Richterpersönlichkeiten einen wichtigen Bei- trag leisten kann. - Jetzt auch noch Gebrauchsanweisungen dazu! Herzlichen Dank. (Heiterkeit - Gerald Häfner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist mit Strauchdieben?) (Beifall bei der der F.D.P. und der CDU/ CSU) In den Fällen, in denen für einen normalen und vernünftigen Mann, besonders aber für einen erfah- renen deutschen Richter, klar ist, daß es nützlich ist, Vizepräsident Hans Klein: Kollege Professor Uwe- so schnell wie möglich und natürlich keineswegs am Jens Heuer, Sie haben das Wort. Ende von jeweils sieben Tagen, sondern möglichst am nächsten Tag, zu einer Verhandlung im beschleu- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Herr Präsident! Meine nigten Verfahren zu kommen, und daß diese Ver- Damen und Herren! Der Entwurf der Koalitionsfrak- handlung gefährdet ist, wenn sich der Betreffende tionen ist ein weiteres Beispiel dafür, daß mit dem wieder, wie es seinem Naturell entspricht, auf die Abbau des Sozialstaates die Demontage des Rechts- Reise macht, soll man dieses beschleunigte Verfah- staates einhergeht. Er folgt dem allgemeinen Trend ren ermöglichen. der Konservativen in diesem Lande: Strafrahmen er- Sie argumentieren, das beschleunigte Verfahren höhen, Abstrafen, die Leute einsperren und mög- könne man ohnehin schon durchführen. Siehe Bo- lichst lange im Knast behalten. Wir lehnen die Ein- chum usw. führung der sogenannten Hauptverhandlungshaft aus prinzipiellen Gründen ab. (Zuruf des Abg. Manfred Such [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Es ist ja interessant und aufschlußreich, daß in der Anhörung des Rechtsausschusses im Juni dieses Aber dem widersprechen Sie gleichzeitig, wenn Sie Jahres die anwesenden zwei Staatsanwälte sich ve- sagen, es müsse gründlich ermittelt werden, es hement für die Hauptverhandlungshaft stark mach- müsse vorbereitet werden, es müsse alles erst ausge- ten, während der Richter und der Rechtsanwalt sich arbeitet werden. Wir haben ja in der Praxis gerade ebenso vehement dagegen wandten. Die Staatsan- bei kleineren Fällen schon fast ein schriftliches Ver- waltschaft wi ll die Leute einsperren. Wäre die Polizei fahren. Aus lauter Verlegenheit wird dann noch ein- befragt worden, wäre sie dem wahrscheinlich auch mal an die Staatsanwaltschaft oder die Polizei ver- gefolgt. Es geht ja um ihr Festnahmerecht. Richter fügt, dieses und jenes möge noch aufgeklärt werden, und Rechtsanwälte sehen darin keine Lösung und damit die Akte noch ein paar Wochen Ruhe hat, und äußern verfassungsrechtliche Bedenken. Der Vertre- am Ende stehen da ein Täter, der sich seiner Tat nicht ter des Anwaltsvereins hielt die Hauptverhandlungs- mehr richtig erinnern kann, und Zeugen, die von haft „für verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar". Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11655

Dr. Uwe-Jens Heuer Ich schließe mich den Bedenken an und möchte drei freiem Fuß, weil keine Haftgründe vorliegen. Be- davon noch einmal nennen. schuldigte mit weit geringerer Straferwartung wer- den mit der Begründung eingesperrt, sie würden zur Erstens. Mit der Hauptverhandlungshaft wird das Hauptverhandlung nicht kommen. Einsperren von Menschen ohne „klassischen" Haft- grund eingeführt. Das läuft auf die Vorwegnahme Man muß die stigmatisierende Wirkung einer sol- des Vollzugs einer Haftstrafe hinaus, die ja noch gar chen Haft in Rechnung stellen. Eingesperrt gewesen nicht per Urteil festgelegt ist und in vielen Fällen gar zu sein ist in den Augen vieler lieber Mitbürger nun nicht ausgesprochen wird. Dr. Bernd Asbrock, Vorsit- mal kein besonders gutes Zeichen für einen Men- zender Richter am Landgericht Bremen, sagt in der schen, kann in die Arbeitslosigkeit und zum Verlust Anhörung: von Zukunftschancen führen. Der Entwurf liefert lediglich Zweckmäßigkeits- Im Rechtsausschuß hörte ich ein geradezu verblüf- überlegungen zur Begründung dieser neuen Mit- fendes Argument eines der eingeladenen Staatsan- tel. Er stellt darauf ab, wälte. Wenn der Beschuldigte Geld hat, so sagte der Staatsanwalt, dann „nehmen wir eine Sicherheitslei- - das ist zumindest mißverständlich, es steht aber in stung" und lassen ihn laufen. „Das ist aus unserer der Begründung - Sicht effektiver, als wenn wir das beschleunigte Ver- daß die Hauptverhandlungshaft selbst eine erzie- fahren hier heranziehen würden." Das beschleunigte herische und abschreckende Funktion haben Verfahren samt Hauptverhandlungshaft kommt also soll. Das wäre eine vorweggenommene Strafe nach der Ansicht des ehrenwerten Leitenden Ober- ohne Schuldfeststellung. staatsanwalts vorwiegend für die armen Schlucker in Anwendung. Das ist denn doch ein starkes Stück! Ich halte solche mit der Hauptverhandlungshaft verbundenen Absichten für unvereinbar mit dem Auf die vielen guten Argumente von Richtern und Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes. Sie sind ein Anwälten, daß die Sache in der Praxis nicht funktio- Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermu- nieren kann, weil die sachlichen und personellen tung. Voraussetzungen in den Amtsgerichten nicht gege- ben sind, will ich mich nicht einlassen. Aber ich will Zweitens. Dem im Rechtsausschuß verkündeten abschließend eines sagen: Wenn wir das heute be- Grundsatz „Nur ein schnelles Recht ist ein gutes schließen sollten, dann tun wir das gegen den erklär- Recht" kann ich so bedenkenlos nicht folgen. Das ist ten Ratschlag und Willen der übergroßen Mehrheit hier schon gesagt worden. Mit der Hauptverhand- der Richter und Staatsanwälte. lungshaft ist das Recht des Angeklagten auf ein fai- res Verfahren in Frage gestellt. Seine Verteidigungs- Abschließend noch ein Satz: Mein Problem mit der möglichkeiten, seine rechtsanwaltschaftliche Vertre- rechten Seite dieses Hauses ist - das hat auch heute tung sind eingeschränkt. der Beitrag von Herrn Marschewski gezeigt -, daß Sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Dazu dann auch noch eine Bemerkung aus der An- abstracto hochhalten, Ihr Innenminister in abstracto hörung. Richter Asbrock sah - ich zitiere aus dem und ohne den Schatten eines Beweises der PDS Ver- Protokoll - fassungsfeindlichkeit vorwirft und nach dem Verfas- die Gefahr, daß die Polizei bei einem extensiv ge- sungsschutzbericht PDS-Abgeordnete bevorzugt be- stalteten Festnahmerecht mit der Begründung obachtet werden, Sie aber zugleich bei der konkre- Hauptverhandlungshaft schon erkenntnisleitend ten Gesetzgebung immer wieder leichtfertig und das Verfahren bestimmt. Man kann sagen, waghalsig mit dem Grundgesetz, vor allem mit den Freiheitsrechten umgehen. - weiter Dr. Asbrock - (Beifall bei der PDS - Alfred Hartenbach das werden die Richter kontrollieren. Wenn man [SPD]: Warum dieser Schlenker zum Polizeipraktiker hört, dann sagen die unver- Schluß? - Zuruf von der CDU/CSU: Tosen- blümt, was in die Hauptverhandlung und über- der Beifall!) haupt zum Gericht gelangt, das bestimmen wir. Ich habe auch ernste Zweifel, ob die vorgesehene Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- Neuerung mit den Verpflichtungen aus der Europäi- lege Wolfgang Götzer. schen Menschenrechtskonvention und aus dem In- ternationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zu vereinbaren ist, zum Beispiel mit der Fest- Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Herr Präsident! legung in Artikel 14, daß er „hinreichend Zeit und Meine Damen und Herren! Herr Kollege Harten- Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung bach, heute haben Sie schon ganz tief in die Kiste und zum Verkehr mit einem Verteidiger seiner Wahl hineingelangt und die ganz große Keule von unten haben" muß. herausgeholt. Wenn heute einer gegen den Grund- satz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat, dann Und schließlich halte ich drittens die Hauptver- habe ich den Eindruck, daß Sie das mit Ihrem Bei- handlungshaft für einen Verstoß gegen den Grund- spiel vom Anschlag auf den Rechtsstaat waren. satz der Gleichbehandlung, der Gleichheit vor dem Gesetz. Beschuldigte, die eine viel höhere Strafe zu Worum geht es denn? Wir haben im Rahmen des erwarten haben, für die aber das beschleunigte Ver- Verbrechensbekämpfungsgesetzes das beschleu- fahren nicht in Frage kommt, bleiben zu Recht auf nigte Verfahren mit dem Ziel der Vereinfachung und 11656 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 Dr. Wolfgang Götzer Beschleunigung von Strafverfahren fortentwickelt. Ich glaube, wir sind uns darüber einig, daß der Wer A sagt, muß auch B sagen. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit selbstverständ- lich auch hier zu beachten ist, das heißt beispiels- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Dem werdet weise, daß das beschleunigte Verfahren nicht zu La- Ihr doch hoffentlich nicht widersprechen!) sten des Strafbefehlsverfahrens genutzt werden darf. Das heißt: Wer das beschleunigte Verfahren will - In welchen Fällen soll die Hauptverhandlungshaft wobei es sicherlich einige von Ihnen nicht wollen -, vor allem angewendet werden? Das ist schon vom der muß auch die Hauptverhandlungshaft einführen. Kollegen Pofalla angesprochen worden: Wir verspre-- (Widerspruch bei der SPD) chen uns eine Wirkung vor allem bei der Zielgruppe der reisenden Straftäter, also speziell der Rechts- und - Nein, wir müssen da schon konsequent bleiben. Ich Linksextremisten, der Krawallmacher und Chaoten, weiß natürlich, daß Sie auch den Ausgangssatz nicht wie sie insbesondere bei Sportveranstaltungen leider akzeptieren. Wir haben da eine andere Auffassung. seit Jahren ihr Unwesen treiben. Das beschleunigte Verfahren kommt, wie wir fest- (Beifall bei der CDU/CSU) stellen mußten, nicht so zum Tragen, wie wir es uns als Gesetzgeber gewünscht haben. Deswegen müs- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn diese Täter sen wir es jetzt praktikabel machen; das heißt: Wir künftig mit der sofortigen Festnahme rechnen müs- müssen die Anwesenheit des Beschuldigten in der sen, hat das auch eine erzieherische und abschrek- Hauptverhandlung sicherstellen. Dafür ist die Haupt- kende Wirkung. verhandlungshaft notwendig. Und wir müssen das (Beifall bei der CDU/CSU - Alfred Harten- beschleunigte Verfahren effizient machen; das heißt: bach [SPD]: Sie müssen auch jetzt damit Wenn wir dieses Verfahren vorziehen wollen, dann rechnen!) müssen wir die Hauptverhandlungshaft einführen, da in der Regel die Haftsache vorgezogen werden - Es soll ja keine abschreckende Wirkung auf Sie, muß. Herr Hartenbach, haben, sondern auf die Täter. (Alfred Hartenbach [SPD]: Vorratshaltungs Im übrigen geht es uns nicht nur um die abschrek- haft!) kende Wirkung, wir sind auch der Auffassung, daß die Bevölkerung ein Anrecht auf schnelles Tätigwer- Wann soll das Institut der Hauptverhandlungshaft den von Polizei und Justiz hat. Uns geht es auch in Frage kommen? darum, das Vertrauen der rechtstreuen Bevölkerung in das Erstens. Der Täter muß auf frischer Tat ertappt wer- Funktionieren des Rechtsstaates zu stärken. den oder verfolgt worden sein. Die Bürger fordern zu Recht, daß die Strafe der Tat auf dem Fuß folgen sollte. Das heißt nicht, Herr Kol- Zweitens. Eine unverzügliche Entscheidung im be- lege Hartenbach, daß damit das Recht automatisch schleunigten Verfahren muß wahrscheinlich sein; darunter leidet. das heißt: Es muß ein rechtlich und tatsächlich einfa- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Im Gegenteil!) cher Sachverhalt und eine klare Beweislage gegeben sein. Wir wollen mit dem vorliegenden Gesetz diesem Grundsatz verstärkt Geltung verschaffen. Drittens. Auf Grund bestimmter Tatsachen muß Anlaß zur Befürchtung bestehen, daß der Festge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nommene der Hauptverhandlung fernbleiben wird.

Angesichts all dieser Voraussetzungen glaube ich Vizepräsident Hans Klein: Wir sind uns nicht ganz nicht, daß die Eingriffsschwelle für dieses neu zu einig über die Qualität eines Zwischenrufs des Kolle- schaffende Institut zu niedrig ist. Im übrigen regeln gen Teiser, der im Zusammenhang mit den sieben wir im neu zu schaffenden § 127b Abs. 2, daß der Tagen Haft gemacht wurde. Würden Sie ihn freundli- Haftbefehl gemäß Abs. 1 nur dann erlassen werden cherweise noch einmal wiederholen? kann, wenn die Durchführung der Hauptverhand- lung binnen einer Woche nach Festnahme zu erwar- (Michael Teiser [CDU/CSU]: Das ist auch ten ist. nicht schlimmer als eine Sitzungswoche! - Heiterkeit.) (Alfred Hartenbach [SPD]: Das ist dann schon eine Woche Freiheitsentzug!) Das Wort hat der Kollege Professor Meyer. - Außerdem, Herr Kollege Hartenbach, darf der Haft- befehl höchstens für eine Woche ausgesprochen wer- Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Präsident! Ver- den, nicht, wie in Ihrem Beitrag gemeint, in jedem ehrte Kollegen der Regierungskoalition! Sie haben Fall für eine Woche. Das ist eine Höchstfrist und sich mit den Bedenken der Opposition, die unter an- nicht eine Frist in jedem Fall. derem von meinem Kollegen Alfred Hartenbach vor- getragen worden sind, nur teilweise auseinanderge- (Alfred Hartenbach [SPD]: Gehen Sie ein setzt und sie nicht widerlegt. Dadurch entsteht der mal eine Woche in den Knast! - Michael Eindruck, daß Sie bei der Hauptverhandlungshaft Teiser [CDU/CSU]: Das ist auch nicht Rechtspolitik nach dem Motto „Augen und Ohren zu schlimmer als eine Sitzungswoche!) und durch" zu betreiben versuchen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11657

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Ich will einen letzten Versuch unternehmen, Sie zu mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz in Kraft überzeugen. Dazu will ich vier Bedenken vortragen, getreten. Es gibt über dieses Verfahren einzelne posi- die bis jetzt allenfalls am Rande erwähnt worden tive Berichte, zum Beispiel aus Bochum oder aus sind: Brandenburg. Es gibt aber keine Erfahrungswerte, in welchem Umfang etwa Beschuldigte der Ladung zur Erstes Bedenken. Wir haben vor zwei Jahren das Hauptverhandlung in diesem Verfahren keine Folge beschleunigte Verfahren in der heute geltenden Fas- leisten, wie oft deshalb Termine verlegt werden müs- sung beschlossen. Dieses Verfahren ist seitdem er- sen und wie oft deshalb an ein neues Instrumenta- heblicher Kritik aus Wissenschaft und Praxis ausge- rium gedacht werden sollte. Solche Erfahrungswerte setzt, mit der wir uns auseinandersetzen sollten. Ich gibt es nicht. weise Sie nur auf den Kurzkommentar hin, der auf dem Tisch eines jeden Strafrichters steht und in dem Deshalb sage ich Ihnen: Ein Gesetzgeber, der in mit Nachdruck Bedenken geäußert werden, weil das schneller Folge seine eigenen Gesetze ohne eine Beweisantragsrecht eingeschränkt ist und weil ein überzeugende Auswertung der damit gemachten Er- Verteidiger im beschleunigten Verfahren nur bei ei- fahrungen ändert, stiftet Verwirrung. ner zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten beigeordnet werden muß. Vizepräsident Hans Klein: Herr Professor Meyer, Um Sie ein bißchen nachdenklich zu stimmen, wi ll gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klei- ich aus diesem Kommentar von Kleinknecht-Weyer- nert? Großner, der ja kein linksrevolutionäres Machwerk ist, zwei Sätze zitieren: (SPD): Ja, sofort. Ich führe Zwar mag es pädagogisch richtig sein, daß die Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Strafe der Tat auf dem Fuße folgen soll. Aber nur meinen Gedankengang zu Ende. ebenso richtig und wichtig ist, daß Strafverfahren Ein solcher Gesetzgeber fängt keine Chaoten, son- in einer Atmosphäre ruhiger Gelassenheit ablau- dern verhält sich wie ein Chaot und verliert mit Recht fen sollten. das Vertrauen der Praxis, auf das er für die Anwen- Was meinen Sie dazu? dung seiner Gesetze dringend angewiesen ist. Ein zweites Zitat aus der Menschenrechtskonven- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tion möchte ich Ihnen besonders ans Herz legen: Das beschleunigte Verfahren ist jedenfalls nur zulässig, Bitte schön. wenn dem Beschuldigten „ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung" (Hannover) (F.D.P.): Herr Kollege gegeben wird. So in Art. 6 Abs. 3 Buchstabe b. Das Detlef Kleinert Meyer, ist Ihnen bekannt, daß die Hauptverhand- beschleunigte Verfahren kommt also nicht in Be- lungshaft, die hier heute diskutiert wird, Bestandteil tracht, wenn es den Beschuldigten in seiner Verteidi- der von Ihnen zitierten, vor kurzem in Kraft getrete- gung beeinträchtigen würde. Das ist der neuralgi- nen Reform war und dem im Vermittlungsverfahren sche Punkt des beschleunigten Verfahrens. Genau zum Opfer gefallen ist, weil von insgesamt sechs vor- hier setzen Sie aber mit Ihrem Reformvorschlag an. gesehenen Punkten wenigstens einer gestrichen Sie verstärken die Bedenken; denn es ist uns doch werden mußte und man sich in Kreisen der SPD auf allen bekannt, daß ein Beschuldigter, der in der Ge- diesen am ehesten einigen konnte, fängniszelle sitzt, besondere Schwierigkeiten hat, seine Verteidigung vorzubereiten, und daß es beson- (Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU) ders schwierig ist, binnen weniger Tage einen guten so daß wir wegen des betrüblichen Verlaufs des Ver- Verteidiger zu finden, der sofort zur Verfügung steht mittlungsverfahrens jetzt lediglich ein Stück der Re- und in wenigen Tagen eine ausreichende Verteidi- form nachtragen müssen? gung vorbereiten kann. Sie nehmen die Bedenken aus Wissenschaft und Praxis nicht ernst. Deshalb (Beifall bei der CDU/CSU) sage ich Ihnen: Ein seriöser Strafgesetzgeber hört auf das Urteil der Wissenschaft und der Praxis, nicht aber auf das Vorurteil von Stammtischstrategen. Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Kollege Klei- nert, dies ist mir bekannt. Ich würde das Vermitt- (Beifall des Abg. Alfred Hartenbach [SPD]) lungsverfahren aber nicht, wie Sie das als Angehöri- Zweites Bedenken. Im Zusammenhang mit ande- ger der Regierungskoalition tun, als Opfergang be- ren Gesetzen, zum Beispiel dem Gesetz zur Entla- zeichnen stung der Rechtspflege, machen viele von Ihnen gel- tend, daß wir nicht in kurzer Folge immer neue Ge- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Manchmal setze verabschieden sollten und daß es notwendig schon!) sei, erst die Erfahrungen mit den bereits verabschie- und würde zur Kenntnis nehmen, daß ein in diesem rt, deten Gesetzen auszuwerten. Herr Kollege Kleine Verfahren verabschiedetes Gesetz geltendes Bundes- das ist etwas, was Sie mit Recht immer wieder gel- recht ist, das angewandt werden muß und dem tend machen. Grundsatz unterliegen sollte: Man soll ein Gesetz Nun weise ich Sie auf folgendes hin: Das geltende erst ändern - wie Sie mit Recht immer sagen -, wenn Beschleunigungsverfahren ist am 1. Dezember 1994 man die damit gemachten Erfahrungen ausgewertet 11658 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) hat. Man sollte die Praxis nicht durch immer weitere schwerste Verbrechen sich nicht lohnen. Es kommt Initiativen in Verwirrung stürzen. aber nichts von Ihnen. (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Und Sie (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt doch wollen wir hier gleich mitgewinnen!) gar nicht! Sie kennen die Szenerie gar . nicht!) - Ob Sie irgend jemanden mitgewinnen, bezweifle ich. Meine Bewertung ist: Dieser Gesetzentwurf ist ein lärmendes Ablenkungsmanöver. Sie wollen von Ih- Ich weise auf ein drittes Bedenken hin. Noch in der rem Versagen bei der Bekämpfung der organisierten- letzten Sitzungswoche haben einige Redner der Re- Kriminalität ablenken. gierungskoalition, zum Beispiel der Kollege Eyl- mann, mit beredten Worten beklagt, daß unsere Ge- (Beifall bei der SPD - Norbe rt Geis [CDU/ fängnisse überfüllt seien. Das ist richtig. Nach einem CSU]: Sie haben wohl jetzt Wochenende! Rückgang der Gefangenenzahlen in den 80er Jahren Sie sind doch sonst ein friedlicher Mensch!) haben wir in der Bundesrepublik nun einen dramati- Sie fangen die Kleinen und lassen die Großen laufen. schen Anstieg auf weit mehr als 50 000. Ein großer Mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun. Denken Sie Teil von diesen Gefangenen sind Untersuchungsge- einmal darüber nach! Denn wir alle sind dem Rechts- fangene - etwa ein Drittel in Westdeutschland, in staat verpflichtet. Ostdeutschland annähernd die Hälfte. Sie haben in der betreffenden Debatte - es ging um Sexualtäter - (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gefragt, was man denn tun könne, um den Streß der DIE GRÜNEN) Strafvollzugsbediensteten zu beenden, um notwen- dige Therapien möglich zu machen. Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Bundes- Und was tun Sie jetzt? Sie fügen diesem Ballast des minister der Justiz Professor Edzard Schmidt-Jortzig Strafvollzuges eine neue Last hinzu. Sie wollen noch das Wort . mehr Menschen in Haft nehmen. Das nenne ich eine Beliebigkeit der Argumentation. Sie müssen bitte sa- Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der gen, woher die zusätzlichen Haftplätze kommen sol- Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! len und wer deren Einrichtung und zusätzliche Straf Der vorliegende Gesetzentwurf führt eine Hauptver- vollzugsbedienstete bezahlen soll. Ein Gesetzgeber, handlungshaft im beschleunigten Verfahren ein. Wir der nicht sagt, wie die Kosten der von ihm verab- haben in der Debatte eigentlich alle Argumente pro schiedeten Gesetze aufgebracht werden sollen, muß und contra hin und her gewälzt. Ich will sie nicht wie- sich fragen lassen, ob es ihm wirklich um die Gestal- derholen. tung von Rechtswirklichkeit geht oder nur um einen Showeffekt. Im Entwurf steht dazu: „Kosten sind In der Tat, wir sind überzeugt von der Richtigkeit nicht zu erwarten. " dieses Entwurfs. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ja, für den (Alfred Hartenbach [SPD]: Blutet Ihr libera- Bund!) les Herz nicht?) Offenbar haben die Verfasser des Entwurfes wenig Ich will nur auf einen Punkt näher eingehen, der hier Einblick in die Praxis des Strafvollzuges und der Un- verschiedentlich mit einem, wie ich finde, ganz fal- tersuchungshaft. Sie sollten sich einfach einmal sach- schen Zungenschlag und auch mit falschen Fakten kundig machen, auch wenn es „nur" um Länderan- von Ihrer Seite angesprochen worden ist, meine Her- gelegenheiten geht. ren Rechtsfreunde aus der SPD. Mein vierter Einwand - er ist der gewichtigste -: (Alfred Hartenbach [SPD]: Damen!) Im beschleunigten Verfahren kann, wie bereits dar- - Nein, ich spreche bloß von den Rednern. gelegt wurde, nur eine Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr verhängt werden. Es handelt sich also um (Alfred Hartenbach [SPD]: Aber daß Sie uns ein Verfahren gegen Kleinkriminelle, also um Ver- als „Freunde" ansprechen, ist ja sehr gehen. Für Verbrechen kommt dieses Verfahren erfreulich! - Norbert Geis (CDU/CSU]: So nicht in Betracht. sind wir eben!) Nun ist der schlimmste Vorwurf gegenüber dem Es geht um das beschleunigte Verfahren. Wir ha- Gesetzgeber, Herr Kollege Götzer, der, daß er die ben hinlänglich gehört, daß die Hauptverhandlungs- Kleinen fängt und die Großen laufen läßt. haft zu dem Projekt des beschleunigten Verfahrens gehört, das wir vor zwei Jahren auf den Weg ge- (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Wir fan bracht haben, um eine effektivere, wirksamere und gen alle!) raschere strafprozessuale Reaktion auf bestimmte Taten zu ermöglichen, das aber damals leider nicht Genau dies ist die Situation, in der wir uns in der Kri- zustande gekommen ist. Jetzt wird sie nachgeliefert. minalpolitik befinden. Sie kündigen seit Jahren Ge- setzesinitiativen zur Bekämpfung der organisierten Mittlerweile sind - gottlob - die Äußerungen ver- Kriminalität an. Sie kündigen Initiativen zur gesetzli- stummt, dieses beschleunigte Verfahren sei nicht chen Regelung des sogenannten Lauschangriffs an. praktikabel, werde nicht angewendet, weil es die Sie sagen, man müsse Gewinne abschöpfen, damit Praxis kritisiere, komme nicht zum Zuge, weil es Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11659

Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig noch immer ganz grundlegende Fehler in der verfah- Vizepräsident Hans Klein: Herr Professor Schmidt- rensmäßigen Ausgestaltung habe. Jortzig, Herr Professor Meyer würde Ihnen gerne eine Frage stellen. Es gibt erste Zahlen. Dabei ist eindrucksvoll, daß nicht zuletzt Länder, bei denen die Sozialdemokraten Bundesminister der den Justizminister stellen, das beschleunigte Verfah- Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Justiz: Herzlich gern. ren anwenden. Ich nehme etwa die Zahl aus dem Land Brandenburg: Nicht einige wenige, sondern 2 300 beschleunigte Verfahren gab es do rt im letzten Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Justizminister, Jahr. Der Justizminister Brandenburgs sagt mir: Das da Sie gerade von der Verfassung und dem Grund- ist endlich einmal ein Instrument, mit dem wir unsere satz der Verhältnismäßigkeit sprachen, Strafverfahren wirklich beschleunigen können, so- (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Er spricht immer von fern wir es anwenden können. der Verfassung!) (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Da hat er möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Halten Sie die recht! - Alfred Hartenbach [SPD]: Dazu Umsetzung des Verfassungsgebotes des gesetzlichen brauchen wir die Haft gar nicht! - Ul rich Richters durch eine Soll-Vorschrift nicht für in hohem Irmer [F.D.P.]: Das ist eine hochinteressante Maße verfassungsrechtlich bedenklich? Zahl!)

Bochum will das berühmte Pilotprojekt jetzt ausdeh- Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der nen, weil die Erfahrungen das angeraten erscheinen Justiz: Nein, in der Zuständigkeitsbestimmung legen lassen. Thüringen gibt entsprechende Anleitungen, wir fest, daß die Zuständigkeit bezüglich des Haftbe- Anregungen, Empfehlungen an die Staatsanwalt- fehls generell bei dem Richter liegt, der für das be- schaften - die Staatsanwälte müssen das beantragen; schleunigte Verfahren zuständig ist. Welcher dies im kein Mensch will der Staatsanwaltschaft gegenüber Einzelfall ist - das haben die Erfahrungen mit dem Weisungen aussprechen -, um das beschleunigte beschleunigten Verfahren gezeigt -, hängt in hohem Verfahren zu fördern. Berlin wendet in immer stärke- Maße davon ab, wer nach der Gerichtsbelastung und rem Maße und mit immer größerer Begeisterung das nach den Organisationsvorkehrungen von den Ge- beschleunigte Verfahren im Bereich der Massenkri- richtspräsidien dazu bestimmt wird. Wenn wir schon minalität an, im übrigen zuletzt auch bei der Be- vorweg festschrieben, daß bestimmte Richter zustän- kämpfung des aus den Schlagzeilen sattsam bekann- dig sind, wäre dies ein Schritt zur Inpraktikabilität ten Phänomens des beschleunigten Verfahrens. Das bestätigen alle Beteiligten, die das Verfahren anwenden, im übrigen (Detlef Kleine rt [Hannover] [F.D.P.]: Der auch Bochum. Eierdiebe!) Eine Zahl würde ich gern noch nennen - das ge- hört allerdings nicht mehr zur Antwort auf Ihre - der Eierdiebe - Frage -: Bochum hat gemeldet, daß im Rahmen des (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ beschleunigten Verfahrens seit Juni 1995 mittler- CSU) weile in 444 von 585 Fällen die Täter den Spruch des Richters akzeptiert haben. Das ist eine Quote von des Zigarettenschmuggels. 76 Prozent. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Daher ist es in der Tat nicht einsehbar, weshalb ei- nige - ich sage es vorsichtig - Justizministerien von Haben Sie eine solche Quote einmal bei den vollen, diesem zwar spät, aber jetzt endlich in Gang kom- gestreckten Verfahren! Daß das nicht bef riedend menden Zug zur Anwendung des beschleunigten wirkt, stimmt also nicht. Verfahrens abspringen wollen. Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der Ich möchte gerne, daß durch den Ergänzungsakt Koalitionsfraktionen gibt mit dem Element der „Einführung der Hauptverhandlungshaft" auch die Hauptverhandlungshaft den Staatsanwaltschaften letzten Zweifel an der Praktikabilität ausgeräumt, die und den Gerichten in den Ländern ein Verfahren an letzten Hemmnisse für die Anwendung des be- die Hand, das geeignet ist, die Anwendbarkeit des schleunigten Verfahrens überwunden werden. Die beschleunigten Verfahrens zu verbessern. Voraussetzungen dafür sind gut, weil gottlob die Pra- Bitte setzen Sie mit Ihrer Zustimmung zu diesem xis hierauf mittlerweile anspringt. Gesetzentwurf ein Zeichen dafür, daß es dem Bun- destag mit der Wirksamkeitssteigerung bei der Straf- Meine Damen und Herren, lassen Sie uns mit dem justiz ernst ist! Lippenbekenntnisse allein genügen vorliegenden Gesetzentwurf das beschleunigte Ver- jedenfalls nicht. fahren abrunden. Wir können dies tun, weil die Rechte der Beschuldigten nicht unangemessen, nicht Danke sehr. unverhältnismäßig beeinträchtigt werden. Daß das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Verhältnismäßigkeitsprinzip das tragende Prinzip des Strafprozesses ist, wird schließlich von nieman- dem bestritten. Im Gegenteil: Es wird hier handfest Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- miteinbezogen. sprache. 11660 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Vizepräsident Hans Klein Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- Nur einige wenige Zahlen zur Verdeutlichung. Im wurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Jahre 1980 gab es etwa 550 Unternehmen mit einem Änderung der Strafprozeßordnung auf den Drucksa- jährlichen Umsatz von gut 1 Milliarde DM; im Jahre chen 13/2576 und 13/5743. Ich bitte diejenigen Kolle- 1994 gab es bereits 1 300 Unternehmen mit insge- ginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf in der samt 176 000 Beschäftigten im Bereich des p rivaten Ausschußfassung zustimmen wollen, um ihr Hand- Sicherheits- und Wachgewerbes. zeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom- men. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Graf, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen? Ich wäre dank- Wir kommen zur bar, wenn Sie die kleinen Nebenkonferenzen entwe- der draußen oder weiter hinten oder auf eine A rt ab- dritten Beratung halten könnten, daß dem Redner nicht der Rücken und Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu- zugekehrt wird. zustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Bitte fahren Sie fort, Herr Kollege. Wer den Gesetzentwurf ablehnt, den bitte ich, sich zu erheben. - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Vielen Dank, Herr Stimmen der Opposition angenommen. Präsident. Ich denke, daß das Ausmaß dieser Entwicklung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: auch daran deutlich wird, daß man den 176 000 Be- Beratung des Antrags der Abgeordneten Gün- schäftigten im privaten Sicherheits- und Wachge- ter Graf (Friesoythe), Hans-Peter Kemper, Gi- werbe 250 000 Polizeibeamten in der Bundesrepu- sela Schröter, weiterer Abgeordneter und der blik Deutschland gegenüberstehen, die für die öf- Fraktion der SPD fentliche Sicherheit und Ordnung sorgen sollen. Private Sicherheitsdienste Eine weitere Ursache für die kritische Betrachtung in weiten Kreisen der Öffentlichkeit ist sicherlich - Drucksache 13/3432 - auch das gewandelte Verständnis, das viele Dienste Überweisungsvorschlag: selbst von ihrer Tätigkeit haben. Während sich diese Innenausschuß (federführend) Dienste früher auf die Sicherung sogenannter Haus- Rechtsausschuß rechtsbereiche, etwa im Werkschutz, beschränkten, Ausschuß für Wirtschaft drängen sie nunmehr zunehmend in den öffentlichen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Raum ein. Ich nenne Wohnbereichsstreifen, die die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen Übernahme der Bewachung ganzer Wohnviertel, das erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so be- Streife-Fahren und das Registrieren von Fahrzeugen schlossen. und Personen. P rivate Sicherheitsdienste überneh- men zunehmend neben der Überwachung von Ge- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- bäuden sowie von Geld- und Werttransporten auch gen Günter Graf das Wort. den Schutz gefährdeter Personen. Sie überwachen U- und S-Bahnen, kontrollieren in Fußgängerzonen und Ladenpassagen und übernehmen Ordnungs- Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Herr Präsident! funktionen, etwa bei sportlichen Großveranstaltun- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundes- gen. tagsfraktion hat sich vor dem Hintergrund einer boomartigen Entwicklung im Sicherheitsgewerbe, Die Tendenz, daß die p rivaten Sicherheitsdienste bei der immer mehr deutlich wird, daß sich in den verstärkt auch Tätigkeiten übernehmen, die traditio- letzten Jahren und Monaten Grauzonen ergeben ha- nell von staatlichen Stellen ausgeführt werden, ist so- ben, entschlossen, den vorliegenden Antrag einzu- mit unverkennbar. Dabei bleibt es nicht aus, daß sie bringen. Wir glauben, daß es notwendig ist, daß der auch in Konflikt mit den Rechten Dritter kommen, Gesetzgeber hier regelnd eingreift. etwa wenn sie Obdachlose, Bettler, Drogenabhän- gige, alkoholisierte Personen oder Personen, die Die privaten Sicherheitsdienste sind ja nun keine sonst nicht erwünscht sind, aus den U-Bahnhöfen Erfindung aus jüngerer Zeit; vielmehr sind sie seit oder den Ladenpassagen verweisen, gelegentlich so- mittlerweile über 90 Jahren ein fester Bestandteil in gar unter Anwendung von Gewalt. Mehrere staats- Deutschland. Öffentlich wird über sie allerdings erst anwaltschaftliche Ermittlungsverfahren in dieser in letzter Zeit diskutiert. In der Vergangenheit schien Richtung zeigen, daß derartige Konflikte auch auf öf- es so, als seien Private rechtlich und auch politisch fentlichen Straßen bestehen. gesehen unproblematisch. Nunmehr hingegen wird die Tätigkeit der privaten Sicherheitsdienste in der Kaufhausdetektive - ebenfalls ein klassisches Be- Öffentlichkeit, von den Medien, aber auch von der tätigungsfeld für das p rivate Bewachungsgewerbe - Politik kritisch hinterfragt. Die Ursachen dafür sind beschränken sich zwischenzeitlich nicht mehr nur sehr vielfältig. Es liegt zum einen sicherlich daran, auf die Beobachtung innerhalb eines Kaufhauses, daß Sicherheit zu einem Warenartikel geworden ist. sondern organisieren sich auch als sogenannte City- Dies hat dazu beigetragen, daß die von mir anfangs Detektive, die Ladendieben auch außerhalb des skizzierte boomartige Entwicklung eingetreten ist. Kaufhauses nachstellen und diese mit dem Ziel ob- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11661

Günter Graf (Friesoythe) servieren, Anhaltspunkte für bandenmäßiges Tätig- lungen im privaten Sicherheitsgewerbe und im Be- werden zu ermitteln. reich der inneren Sicherheit in angemessener Weise zu reagieren. Die Ursachen für diese Entwicklung sind unter an- derem sicherlich die allgemeine Kriminalitätsent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wicklung, das mit der objektiven Sicherheitslage DIE GRÜNEN) nicht in Einklang stehende, zumeist negative subjek- tive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und schließ- Dies liegt insbesondere im Interesse der Länder, lich der Umstand, daß die Polizei nach Ansicht weiter die auf ihrer Ständigen Konferenz der Innenminister Teile der Bevölkerung die ihr übertragenen Aufga- und -senatoren am 3. Mai 1996 in Bonn einen ent- ben der Gefahrenabwehr und der präventiven Ver- sprechenden Beschluß gefaßt haben. Dieser Be- brechensbekämpfung nicht mehr in bef riedigender schluß beinhaltet einerseits eine Änderung des § 34 a Weise erfüllen kann. der Gewerbeordnung und andererseits die Feststel- lung, daß die privaten Sicherheitsdienste über die Vor diesem Hintergrund ist es erklärlich, daß die Fälle einer gesetzlichen Beleihung hinaus nur solche Polizei nicht mehr sämtliche Serviceleistungen, die Aufgaben wahrnehmen sollten, die von ihren Auf- sie in der Vergangenheit angeboten hat, auch weiter- traggebern auch selbst erfüllt werden könnten. hin erbringen kann und daß das private Sicherheits- gewerbe hauptsächlich do rt wächst, wo es Bürgern (Beifall bei der SPD) und Unternehmen um den vorbeugenden Schutz ih- rer persönlichen Rechtsgüter geht. Insofern - so die Ständige Konferenz - bedarf es ei- ner gesetzlichen Klarstellung und Beschränkung der Kolleginnen und Kollegen, die Rechtsgrundlage Befugnisse gegenüber Dritten. für das Tätigwerden der P rivaten beruht auf § 34 a der Gewerbeordnung. Diese Rechtsvorschrift aller- Was die Zuverlässigkeitsprüfung, was den soge- dings stellt den gewerberechtlichen Aspekt in den nannten Sachkundenachweis angeht, so wird mein Vordergrund und vernachlässigt im Grunde genom- Kollege Hans-Peter Kemper in seinem Beitrag auf men völlig den Aspekt der inneren Sicherheit. Auch diese Aspekte in besonderer Weise eingehen. die Korrekturen des § 34 a der Gewerbeordnung im sogenannten Verbrechensbekämpfungsgesetz sind Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich absolut unzureichend. Sie stellen allein den gewer- noch einige Gesichtspunkte nennen, die gerade auch berechtlichen Aspekt in den Vordergrund. Das ist es in diesem Bereich von besonderer Bedeutung sind. dann allerdings auch. Sie geben keine Antworten Da sind zum einen die datenschutzrechtlichen Rege- darauf, welche Aufgaben, Verantwortlichkeiten und lungen zu nennen. Wir alle wissen und von vielen Rechte die privaten Sicherheitsdienste haben, insbe- wird beklagt - ich persönlich nehme mich da gar sondere ob und in welchem Umfang sie im öffentli- nicht aus -, daß sie für den Bereich der Polizei viel- chen Verkehrsraum tätig werden und dabei in fach zu restriktiv sind. Wenn man aber danebenstellt, Rechte Dritter eingreifen dürfen. welche Möglichkeiten die p rivaten Sicherheitsdien- ste auf Grund unzureichender gesetzlicher Regelun- Von der in § 34 a der Gewerbeordnung vorgese- gen haben, so entsteht ein Mißverhältnis, das ein henen Möglichkeit, in einer Rechtsverordnung Vor- Agieren der Privaten gegenüber den dafür zuständi- schriften über Umfang der Befugnisse und Ver- gen Sicherheitsorganen in unserem Land absolut be- pflichtungen bei der Ausübung des Bewachungsge- vorteilt. Dies kann nicht sein. werbes zu erlassen, hat der zuständige Bundesmini- ster für Wirtschaft bisher keinen Gebrauch ge- (Beifall bei der SPD) macht. Er hat dies auch in der zwischenzeitlich in Kraft getretenen veränderten Bewachungsverord- Auch gibt es keine Regelungen darüber, in wel- nung nicht getan. Insoweit bleibt festzustellen, daß cher Art und Weise die Privaten mit den Polizeien der sich Aufgaben und Befugnisse der p rivaten Sicher- Länder und des Bundes korrespondieren, wo es Ver- heitsdienste allenfalls aus den allgemeinen Not- pflichtungen gibt, in gewisser Weise bestimmte und Jedermannsrechten ableiten lassen, wie sie im Dinge auszutauschen, und dies alles vor dem Hinter- Strafgesetzbuch, im Bürgerlichen Gesetzbuch und grund, die innere Sicherheit in diesem Land ein in der Strafprozeßordnung beschrieben sind. Denk- Stück weiter voranzubringen. bar ist allerdings auch, daß sich die Befugnisse pri- vater Sicherheitsdienste aus einem übertragenen Neben den datenschutzrechtlichen Regelungen, Hausrecht ableiten lassen. die ich nur streifen kann, wi ll ich auf den waffen- rechtlichen Aspekt eingehen. Sie wissen, die Polizei Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit kein Miß- ist berechtigt, Waffen zu tragen. Das ist in Ordnung; verständnis aufkommt, möchte ich eines in aller Klar- das muß so sein. Aber die gängige Praxis im p rivaten heit betonen: Es geht der SPD-Bundestagsfraktion Sicherheitsgewerbe sieht heute so aus, daß ein Auf- mit ihrem Antrag in keiner Weise darum, den priva- traggeber einen Waffenschein erlangt und die von ten Sicherheitsdiensten die Existenzberechtigung ihm beschäftigten privaten Sicherheitskräfte auf dem abzusprechen. Ganz im Gegenteil: P rivate Sicher- befriedeten Besitztum mit Waffen ausstatten kann, heitsdienste sind faktisch zu einem Bestandteil der und zwar, weil eine entsprechende Sicherheitsüber- inneren Sicherheit geworden, und sie sollen es auch prüfung der Beschäftigten nicht erfolgt, unabhängig absolut bleiben. Um so notwendiger ist es aber, auf davon, ob es sich möglicherweise um Kriminelle han- die qualitativen und quantitativen Änderungen der delt, die schon einmal mit einer Waffe eine Straftat letzten Jahre und die sich abzeichnenden Entwick- begangen haben. 11662 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Günter Graf (Friesoythe) Diese Leute sind privilegiert, im Rahmen des Ein- entsprechend informieren wird. Ich habe die Hoff- satzes der Privaten innerhalb des bef riedeten Besitz- nung, daß wir in den folgenden Ausschußberatungen tums eine Waffe zu tragen. Dies kann und darf so zu einem vernünftigen Ergebnis kommen werden. nicht sein. Es kann allenfalls erlaubt sein, die Priva- Dort können wir uns sachlich über diese Problematik ten, die vorn Grundsatz her unbewaffnet sein sollten, unterhalten. Ich glaube, daß es ein Höchstmaß an in den Fällen mit einer Waffe auszustatten, in denen Gemeinsamkeit geben wird. der Auftraggeber, der sich der P rivaten bedient, nach geltendem Waffenrecht auf Grund des höheren Ge- Vielen Dank. fährdungsgrades selbst eine Waffe tragen dürfte. In (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE diesen Fällen sollen nach entsprechender Überprü- GRÜNEN und der PDS) fung der Zuverlässigkeit auch Arbeitnehmer der Pri- vaten mit einer Waffe ausgestattet werden dürfen. - Soviel zum waffenrechtlichen Aspekt. Es wäre noch Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen viel mehr dazu zu sagen; aber die Redezeit ist so Michael Teiser das Wort . kurz, daß ich dies hier nicht machen kann. Michael Teiser (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Liebe Kolleginnen und Kollegen, die von mir ange- Damen und Herren! Lieber Kollege Graf, die erste sprochenen Rechtsbereiche, die in unmittelbarem Frage ist: Warum stellt eine Fraktion einen solchen Zusammenhang mit dem privaten Sicherheitsge- Antrag? werbe stehen, betreffen weitgehend Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung. Den Ländern (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das steht für diese Bereiche, die ich hier genannt habe, haben wir ausreichend beantwortet!) die Gesetzgebungskompetenz zwar grundsätzlich - Das sagen Sie! - Dazu nehme ich Ihre Pressemittei- zu, aber nur so lange, wie der Bundesgesetzgeber lung, die wohl in kausalem Zusammenhang mit Ih- von seinen Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht rem Antrag steht und darf mit Erlaubnis des Präsi- hat. Der Bundesgesetzgeber hat dies aber getan. Ich denten den Eingangssatz zitieren: habe die Gewerbeordnung und andere Rechtsvor- schriften erwähnt. Allerdings hat er in seinen gesetz- Wenn wieder einmal ein Geldtransporter mit dem lichen Regelungen den zuständigen Bundesministe- Geldsack verschwindet oder der Betreiber eines rien eine Verordnungsermächtigung erteilt. Dadurch privaten Sicherheitsdienstes sich selbst als Gau- sind die Länder außen vor, ihre Angelegenheiten ner entpuppt, dann wird man aufmerksam auf selbst zu regeln. Dies ist im Grunde in Ordnung. Ich das private Sicherheitsgewerbe. denke, daß in den einzelnen Bundesländern die Pro- bleme bezogen auf die Polizei bzw. die p rivaten Si- Kollege Graf, war das der Anlaß für den Antrag, cherheitsdienste gleich sind. Insofern ist eine bun- daß Sie auf Grund eines solchen Vorgangs irgendwo deseinheitliche Gesetzgebung fast zwingend. aufmerksam geworden sind? (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Teiser, ich Es muß deutlich werden, wo der Staat auch weiter- glaube, der Kollege Graf will Ihnen gleich antworten. hin die einzige Instanz ist, die berechtigt ist, das Gestatten Sie eine solche Zwischenfrage? staatliche Gewaltmonopol wahrzunehmen. Es muß klar sein, in welchen Fällen der Staat P rivate für Michael Teiser (CDU/CSU): Ja. Hilfsfunktionen bei der Ausübung seiner hoheitli- chen Aufgaben einsetzen darf. Daraus ergeben sich (Friesoythe) (SPD): Herr Kollege, ha- auch die Freiräume, in denen p rivate Sicherheits- Günter Graf ben Sie aufmerksam zugehört, als ich einleitend fest- dienste agieren können. gestellt habe, daß die Entwicklung im p rivaten Si- Lassen Sie mich zum Abschluß einen letzten Satz cherheitsgewerbe in den letzten Jahren in der A rt sagen. Ich bin kürzlich auf der Konferenz der Sozial- und Weise vonstatten gegangen ist, daß es ständig partner des privaten Sicherheitsgewerbes auf euro- Übergriffe und somit staatsanwaltschaftliche Ermitt- päischer Ebene, d. h. CoESS als Vertreter der Arbeit- lungsverfahren in diesem Lande gegeben hat, daß geberverbände und EURO-FIET als Vertreter der Ge- uns also nicht ein Einzelfall dahin gebracht hat, son- werkschaften, gewesen. Do rt haben Arbeitgeber und dern die boomartige Entwicklung in den letzten zwei Arbeitnehmer einvernehmlich Stellungnahmen ver- bis drei Jahren, die insbesondere durch die Wieder- abschiedet, in denen sie von der Politik fordern, daß vereinigung ausgelöst worden ist? Wenn Sie sich an- es klare gesetzliche Regelungen geben muß, damit geguckt hätten, welch rasanten Aufschwung das Si- sie wissen, was sie tun dürfen. cherheitsgewerbe in den jungen Bundesländern ge- nommen hat, dann, glaube ich, wäre die Frage, die Die Branche, die durchwegSie mirseriös stellen, überflüssig. ist, leidet darun- ter, daß die vielen kleinen Unternehmen, die es in dieser Branche gibt, die sich auch den Verbänden nicht anschließen, den Ruf in vielfältiger Weise schä- Michael Teiser (CDU/CSU): Lieber Kollege Graf, digen. Dies schadet einer Branche, die im Grunde et- Sie haben in Ihren Ausführungen und in Ihrem An- was Positives in diesem Staat leistet. trag eben nicht deutlich gemacht und schon gar nicht nachgewiesen, daß es ständig solche Ermittlungsver- Das Innenministerium war durch Herrn Rupprecht fahren und Übergriffe gibt. Sie haben sehr ausführ- vertreten. Ich denke, daß er die Bundesregierung lich zu der boomartigen wirtschaftlichen Entwick- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11663

Michael Teiser lung eines Dienstleistungsbereichs Stellung genom- Sie unterstellen in Ihrem Antrag, daß es insbeson- men. Allein die Tatsache aber, daß sich ein Dienstlei- dere die Aufgabe dieser Firmen ist, sich diesem Pro- stungsbereich, ein Wirtschaftszweig boomartig ent- blem zu widmen. wickelt, kann doch nicht dazu führen, daß man hier- für gesetzliche Regelungen schafft, zumal ständig - (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das hat er nicht gesagt!) von Ihrer Fraktion und von den anderen auch - die Regelungs- und Gesetzesflut beklagt wird. - Aber das steht hier d rin. Sie können doch das, was Das, was Sie seitens der SPD vorgetragen haben, Sie als Antrag vorlegen, nicht dadurch, daß Sie es in ging nicht sehr viel über das hinaus, was Sie in Ihrem Ihrer Rede nicht erwähnen, so relativieren, daß Sie Antrag formuliert haben. Bevor ich zu dem komme, sagen, das sei von der SPD eigentlich nicht gesagt was man eventuell als Sachargument bezeichnen worden. Sie haben das hier hineingeschrieben; das kann, möchte ich zwei Dinge aus Ihrem Antrag her- steht hier. Ich sage Ihnen: Das ist eine Intention, die ausgreifen, die deutlich machen, welche Intention, wir nicht teilen. was politisch-geistig hinter Ihrem Antrag steht. Ich Jetzt komme ich zu dem, was Sie an Sachargumen- darf - mit Erlaubnis des Präsidenten - wiederum zi- ten in Ihrer Begründung vorgetragen haben. Sie for- tieren: dern eine klare Begrenzung der Tätigkeitsfelder in Die Ursachen für das schnelle Wachstum des pri- öffentlichen und halböffentlichen Räumen, auch um vaten Sicherheitsgewerbes liegen in der allge- das Gewaltmonopol des Staates zu schützen, und meinen Kriminalitätsentwicklung, begründen das damit, daß die p rivaten Sicherheits- dienste zunehmend im öffentlichen und halböffentli- - da gebe ich Ihnen völlig recht - chen Bereich tätig würden; es gebe gefährliche An- näherungen an die Aufgaben der Polizei. Sie führen der darüber hinausgehenden Kriminalitätsfurcht, aus, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicher- - man kann vielleicht noch unterstreichen, daß die heit und Ordnung müsse grundsätzlich eine Aufgabe Furcht manchmal größer ist, als es angesichts der staatlicher Sicherheitsorgane sein. Dann steht in Ih- Realität angemessen wäre - rem Antrag wörtlich - das muß ich wiederum zitie- ren -: (Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Dazu habe ich etwas gesagt!) Die Gewährung von Sicherheit kann auch durch private Anbieter erfolgen. In diesem Rahmen gepaart mit einem übersteigerten Schutzbedürf- kann der Bürger die Rechte des Schutzes seiner nis vor allem für die materiellen Werte. Person, der ihm anvertrauten Personen sowie sei- Sehen Sie, Herr Graf, da unterscheiden wir uns er- ner materiellen Werte und der ihm anvertrauten heblich. Diese Intention können wir nicht teilen. Ich Werte Dritter an p rivate Sicherheitsunternehmer glaube nicht einmal, daß Sie selbst es gewesen sind, übertragen. Keiner hoheitlichen Befugnisse be- der das da so hineinformuliert hat; denn wer kein darf der Schutz von Hausrechten, sei es gegen Verständnis dafür hat, daß es ein Schutzbedürfnis unerlaubtes Eindringen oder Eingriffe ... auch für materielle Werte gibt, der muß sich fragen, Diese Aussage wird von uns unterschrieben. Sie welche Werteordnung er eigentlich vertritt. steht aber in der gesamten Intention und Begrün- Ich kann für uns nur feststellen: Sicherheit und Si- dung Ihres Antrags in klarem Gegensatz zu dem, cherheitsempfinden sind ein Teil der Lebensqualität, was Sie sonst in Ihren Antrag hineingeschrieben ha- die wir akzeptieren. Wir müssen gewährleisten, und ben. Das heißt, Sie greifen mal hierhin, mal dahin zwar sowohl hoheitlich als auch da, wo es zulässig und relativieren das Ganze dann unter dem Aspekt, ist, im privaten Bereich, daß diesem Sicherheitsbe- den Sie zuletzt genannt haben: Selbstverständlich dürfnis Rechnung getragen wird und daß das, was geht es uns darum, diese Aufgaben zu erhalten, sie man für schätzenswert hält - dazu gehören eben sind sehr wichtig, und wir wollen niemanden ein- auch materielle Güter -, geschützt wird. schränken. Sie widersprechen sich aber in vielen Punkten. Ich möchte vorab auf einen zweiten Punkt einge- hen; dies haben Sie vorhin in Ihrer Rede bereits deut- Das Prinzip des staatlichen Gewaltmonopols ist ge- lich zu machen versucht. Ich zitiere wiederum: rade, daß nur der Staat physischen Zwang ausüben darf und insofern jede nichtstaatliche Gewaltanwen- Schließlich beauftragen öffentliche Verkehrsbe- dung nur auf Grund ausdrücklicher Gestattung triebe zunehmend Sicherheitsunternehmen mit durch den Gesetzgeber erfolgen darf. Dafür gibt es Überwachungs- und Kontrollaufgaben in ihrem die Not- und Jedermannparagraphen. Ob man dar- Bereich. Diese berufen sich bei ihrer Tätigkeit auf über hinausgehen muß, wage ich zunächst zu be- das Hausrecht und versuchen, zweifeln. - jetzt kommt wieder eine Formulierung, die Ihre In- Sie sagen, es gibt zur Zeit keine besondere gesetz- tention deutlich macht - liche Grundlage für das Tätigwerden von Mitarbei- insbesondere Randgruppen zu verdrängen. tern privater Sicherheitsdienste und § 32 ff. StGB und § 127 StPO reichen nicht aus. Ich räume durchaus ein, daß es im Zuge der Aufga- benwahrnehmung auch zu den Dingen kommt, die Vergessen haben Sie in Ihrem Antrag - aber Sie Sie angesprochen haben, beispielsweise daß Penner haben es in Ihrer Rede vorhin erwähnt -, aus wel- aus bestimmten Bereichen verdrängt werden. Aber chen Gründen auch immer, die §§ 229 und 230 BGB, 11664 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Michael Teiser Selbsthilfe und Grenzen der Selbsthilfe, die in die- lung, daß in Brandenburg bei 50 Firmen sem Zusammenhang eine unmittelbare Rolle spielen. 1 100 Schußwaffen zugelassen sind, ein Grund ist, um im Waffenrecht zu Neuregelungen zu kommen. Vergessen haben Sie in dem Zusammenhang, daß die Rechtslage völlig unübersichtlich wird, wenn Sie Sie haben nicht geschrieben, wie groß die Firmen Spezialregelungen schaffen, indem Sie § 32 ff. StGB sind. Ich kann nicht beurteilen, ob rechnerisch auf für Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste modifizie- jede Firma 20 Waffen entfallen und wie viele Mitar- ren, allerdings für Bürger und Polizei lassen, wie sie beiter jeweils vorhanden sind. Mehr steht dazu in Ih- sind, und indem Sie die Vorschriften des BGB verän- rem Antrag nicht. dern, für den Normalbürger aber lassen, wie sie sind. Dann schaffen Sie Sonderrechte, die nicht für die Po- Im Prinzip bleibt es den zuständigen Behörden un- lizei, nicht für den Bürger, sondern nur für bestimmte benommen - das ist in vielen Gesetzesbereichen so -, Organe gelten, und zwar p rivate Organe. Sie schaf- diese gesetzlichen Bestimmungen sehr eng, restriktiv fen damit Rechtslagen, die so unübersichtlich sind, auszulegen. Sie werden das erleben, wenn Sie als daß es zum Schluß viel schwieriger sein wird, das ab- Abgeordneter bei Ihrer zuständigen Behörde einen zugrenzen, als es zur Zeit der Fall ist. Waffenschein beantragen. Da gibt es Behörden, die sagen: Sie sind potentiell gefährdet; den bekommen Sie haben § 34 a Gewerbeordnung angesprochen Sie. Da gibt es andere Behörden, die sagen: Es ist völ- und gesagt, das alles sei viel zu großzügig gehand- lig absurd, daß ein Bundestagsabgeordneter einen habt und die Sicherheitsbelange würden nicht be- Waffenschein hat. Das liegt an den Behörden. Da rücksichtigt. Sie haben zu Recht angesprochen - das gibt es keinen gesetzlichen Regelungsbedarf. Es hätte ich Ihnen sonst gesagt -, obwohl es in Ihrem liegt an den Behörden, wie sie das im einzelnen aus- Antrag so nicht steht, daß im Einzelfall, und zwar führen. wenn es erforderlich ist - bisher gab es das Erf order- nis wohl nicht -, natürlich zusätzliche Regelungen in Sie haben dann noch auf die IMK abgehoben. Das diese Bewachungsordnung eingefügt werden kön- hat mich natürlich sehr interessiert, weil mich diese nen, die das, was Sie möglicherweise zu Recht oder Konferenz mit ihren Beschlüssen, die ich natürlich zu Unrecht kritisieren, aufgreifen könnten, was aller- nachgelesen habe, sehr beeindruckt. Sie wissen, da dings zur Folge hätte, daß nach einem entsprechen- gilt das Einstimmigkeitsprinzip. Ich habe Verständnis den Einbau keine zusätzliche gesetzliche Regelung dafür - obwohl dieser Regelungsbedarf im Prinzip notwendig wäre. Das wäre das Ergebnis. gar nicht überall gesehen wird -, daß auch CDU-re- gierte Länder dem zugestimmt haben. Man hat sich Sie sind dann auf das Datenschutzrecht eingegan- gesagt: Na gut, wenn NRW und die anderen SPD-re- gen. Ich gebe zu, daß das der einzige Bereich ist, der gierten Länder das unbedingt wollen, dann machen uns dazu bewogen hat zu sagen: Wir lehnen den An- wir das; soll sich doch der Bundestag damit beschäf- trag nicht ab, wir überweisen ihn an den Innenaus- tigen. Die einzigen, die eine klare Position bezogen schuß, den Rechtsausschuß und den Wirtschaftsaus- haben, waren die Vertreter der CSU. Die haben es schuß, die sollen sich damit beschäftigen. auf den Punkt gebracht und diesen angeblichen Re- Beim Datenschutz sehe ich persönlich zwar auch gelungsbedarf verneint. nicht den großen Regelungsbedarf. Da können wir Ich will Ihnen noch einen Punkt mit auf den Weg aber nicht völlig ausschließen, daß Marginalien mög- geben: Wir schwören ja ständig gegenseitig, nicht zu licherweise so geregelt werden müssen, daß sie künf- viele Gesetze, nicht zu viele Verordnungen zu erlas- tig vielleicht deutlicher und präziser sind, so daß wir sen, immer erst genau zu prüfen, ob das erforderlich ein Recht schaffen, das vielleicht besser Anwendung ist. Jeder beklagt in den Medien, viel zuviel sei gere- finden kann. gelt. Wir sollten uns deshalb auch bei diesem Thema Sie haben vom Waffenrecht gesprochen und ge- ganz genau überlegen, welchen Regelungen wir zu- sagt - das verstehe ich immer -, Sie hätten nicht sehr stimmen. viel Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen. Ich bin mir sicher, daß es - allein weil Sie das wol- (Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Das habe len - im Innenausschuß, im Rechtsausschuß und im ich nicht gesagt, Herr Kollege! Da müssen Wirtschaftsausschuß ausgiebige Beratungen zu die- Sie genauer zuhören!) sem Antrag geben wird. Ich möchte Ihnen allerdings, um Ihnen das Wochenende nicht völlig zu verderben, - Sie hätten gern weitere Ausführungen gemacht, was aber aus Zeitgründen nicht möglich sei. (Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Das gelingt Ihnen nicht!) (Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Das ist etwas ganz anderes!) schon heute sagen: Glauben Sie nicht, daß das Er- - Das ist völlig klar. Aber dazu wäre Zeit gewesen, gebnis dieser Beratungen Ihren Vorstellungen ent- als dieser Antrag vorbereitet wurde. Da hatten Sie sprechen wird. Es wird Bereiche marginalen Rege- ausgiebig Zeit zu formulieren, zu überlegen. lungsbedarfs geben, aber bei diesem Wust von Rege- lungen - zum Datenschutz, zum Waffenrecht, zur Ge- Ich muß feststellen, daß in Ihrem Antrag, in Ihrer werbeordnung; all das, was Sie aufgeführt haben - Begründung und in Ihrem Resümee nicht der Ansatz wird aller Voraussicht nach nicht nur unsere Frak- eines Arguments dafür zu finden ist, warum auf die- tion, sondern werden, in anderen Bereichen, viel- sem Gebiet etwas geregelt werden soll. Eine Aus- leicht auch andere Fraktionen nicht immer mitma- nahme ist, wenn Sie erklären, daß allein die Feststel- chen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11665

Michael Teiser Ich danke Ihnen trotz alledem für die Mühe, die Manfred Such (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kol- Sie sich mit diesem Antrag gemacht haben, und lege Stadler, ich gebe Ihnen vollkommen recht. Ich hoffe, daß wir ihn im Innenausschuß gemeinsam be- habe ja gerade ausgeführt, daß man solche Probleme raten können. weder mit staatlichen Sicherheitskräften noch mit privaten Sicherheitsdiensten lösen kann. Vielen Dank. Dabei stellt sich die Frage: Was dürfen p rivate (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dienste, wie weit dürfen sie in die Rechte von Bürge- rinnen und Bürgern eingreifen? Das Problem mit die- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- ser sogenannten Ordnung können weder die Polizei lege Manfred Such. noch private Sicherheitsunternehmen lösen. Da gibt es riesige Defizite, die geregelt werden müssen. Manfred Such (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Dazu werde ich entsprechende Vorschläge ma- Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Teiser, chen. Wir werden dann, wenn gesetzliche Regelun- ich weiß nicht, ob Sie das nicht richtig gelesen ha- gen anstehen, unsere Forderungen formulieren; ei- ben: Die Tatsache, daß ein Wirtschaftszweig boomt, nige der Anforderungen, die wir an eine solche Re- ist sicher kein Grund, eine gesetzliche Regelung zu gelung stellen, werde ich gleich vortragen. schaffen. Aber hier geht es ja um einen ganz beson- deren Wirtschaftszweig, der empfindlich in die Frei- Ich denke, es gibt private Bereiche, in denen p ri heitsrechte der Bürgerinnen und Bürger eingreift. -vate Sicherheitsdienste grundsätzlich Aufgaben übernehmen können. Der Einwand des staatlichen Auf der einen Seite gibt es bei den Bürgerinnen Gewaltmonopols hat für mich nur ideologischen und Bürgern diesbezügliche Klagen, auf der anderen Charakter und ist sicherlich nur vorgeschoben. Seite klagen auch die Bet riebe, weil große Unsicher- heit darüber besteht, was sie dürfen, was sie tun sol- Der Schutz privater Rechte ist keine spezifisch ho- len und welche Rechte sie haben. Ich glaube, der Ge- heitliche Aufgabe. Er wird - der Kollege Graf hat das setzgeber ist hier sehr wohl aufgefordert, eine Rege- bereits gesagt - durch das Notwehr- und Nothilfe- lung zu treffen. recht anerkannt, aber auch eng begrenzt. Wir, Bündnis 90/Die Grünen, betrachten die Ent- Das Argument gegen p rivate Sicherheitsdienste, wicklung, daß große Teile des öffentlichen Raumes es entstünden Zonen unterschiedlicher Sicherheit, immer häufiger unter p rivate Kontrolle geraten, mit bleibt auf der oberflächlichen Symptomebene. Die größtem Erstaunen. In ganzen Bereichen, in Straßen- tatsächlichen Sicherheitsdefizite müssen benannt zügen und überdachten Passagen, werden p rivate und auch auf anderen Ebenen, nicht nur auf dieser, Dienste eingesetzt, die do rt für eine sogenannte Ord- thematisiert werden. nung sorgen sollen. Das heißt, daß Leute, die do rt un- liebsam sind, vertrieben werden; ich denke an Skin- Zur Polizei ist zu sagen: Die ausgebildete Polizei heads, ich denke an Punks, ich denke aber auch an ist für reine Bewachungsaufgaben, für die wir Sicher- arme Menschen. Sie stören offenbar, weil do rt eine heitsdienste brauchen, überqualifiziert und letztlich sogenannte saubere Atmosphäre geschaffen werden zu teuer. Die problematischen Aspekte einer profes- soll. sionellen Wahrnehmung durch Sicherheitsdienste müssen durch entsprechende Kontrollen minimiert Diese Probleme, die sicherlich auch nach Meinung werden. der Öffentlichkeit bestehen, haben ihre Ursachen in Politikdefiziten Ich werde jetzt einige Anforderungen aufführen - ich kann das wegen meiner begrenzten Redezeit nur (Abg. Dr. Max Stadler [F.D.P.] meldet sich kurz machen -, die wir an eine entsprechende ge- zu einer Zwischenfrage) setzliche Regelung stellen: Wichtig ist eine klare Ab- grenzung zwischen Polizei und p rivaten Sicherheits- - Kollege Stadler, ich lasse Sie gleich zu Wo rt kom- diensten. Die Polizei kann eine lückenlose Sicherheit men -, die auf anderer Ebene ausgetragen werden nicht garantieren. Sicherheit kann immer nur relativ müssen, die weder durch Polizei noch durch p rivate gewährleistet werden. Sicherheitsdienste geregelt werden können. Wie man so etwas in den Griff bekommt, ist ein ganz an- Wichtig ist - das trifft insbesondere für die Polizei deres Problem. Das schafft man nicht mit der Polizei zu - eine schnelle Erreichbarkeit in Gefahrensitua- und auch nicht mit privaten Sicherheitsdiensten. tionen. Aber auch private Sicherheitsdienste können Gefahrensituationen rechtzeitig erkennen und dann Vizepräsident Hans Klein: Da die Worterteilung im Rahmen ihrer Möglichkeiten - Jedermannsrecht, durch den Präsidenten erfolgt: Bitte sehr, Kollege Notwehrrecht - sofort eingreifen. Stadler. Dabei ist die verbesserte Kontrolle der privaten Si- cherheitsdienste notwendig. Neben den auszubau- Dr. Max Stadler (F.D.P.): Herr Kollege Such, stim- enden gewerberechtlichen Instrumentarien sind na- men Sie mit mir darin überein, daß das Problem, das türlich auch die waffenrechtlichen Aspekte zu über- Sie gerade beschrieben haben, sich in gleicher Weise prüfen. Das wurde bereits angesprochen; es reicht für die Tätigkeit der öffentlichen Sicherheitsorgane nicht aus, daß allgemein ein Waffenschein erteilt stellt, wie man derzeit am Beispiel der Hansestadt wird und die Sicherheitskräfte die Waffen auf dem Hamburg studieren kann? Ticket des Unternehmers tragen dürfen. 11666 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Manfred Such Es sind auch entsprechende Anforderungen an die und Aufgabengebiete privater Sicherheitsunterneh- Ausbildung zu stellen. Es reicht nicht aus, daß man men zu erstellen sei, ist daher durchaus berechtigt. über die Jedermannsrechte informiert ist, man muß Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist aber äußerst skep- auch psychologisch geschult werden. tisch, ob der vorgeschlagene Weg einer Kodifizie- rung dieses Bereichs richtig ist, also einer Zusam- Es darf nicht sein, daß gerade in diesen Bereichen menfassung aller einschlägigen Vorschriften in ei- Hungerlöhne gezahlt werden; denn durch die nied- nem einzigen Sondergesetz. rige Bezahlung besteht die Gefahr, daß Kräfte in Si- cherheitsunternehmen gelangen, die do rt nicht hin- Zwei Überlegungen sprechen entscheidend gegen eingehören. die geforderte gesetzliche Neuregelung: Erstens. Nach Montesquieu gilt folgende Mahnung an den An die müssen hohe Anforderun- Zuverlässigkeit Gesetzgeber: Wenn es nicht unbedingt notwendig gen gestellt werden. Ich denke, es müssen nicht nur ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es unbedingt notwen- die Unternehmer entsprechende Führungszeugnisse dig, kein Gesetz zu erlassen. vorlegen, sondern auch die Bediensteten. (Cornelia Schmalz-Jacobsen [F.D.P.]: Das ist Zur Bewaffnung ist grundsätzlich zu sagen, daß sehr wahr!) diese Dienste unbewaffnet auftreten sollten. Zu allen im SPD-Antrag genannten Problemberei- Schließlich ist die Erlaubnis für solche Gewerbebe- chen existieren bereits ausreichende normative Re- triebe auch räumlich zu beschränken. Es darf nicht gelungen. Diese haben sich im wesentlichen in der sein, daß sich Sicherheitsdienste über das gesamte Praxis bewährt. Bundesgebiet ausbreiten und dadurch erstens auf Grund ihrer Größe nicht mehr zu kontrollieren sind (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Eben und zweitens eine staatliche Kontrolle länderüber- nicht!) greifend nicht mehr möglich ist. Der Beweis dafür, daß eine umfassende gesetzliche Die Zusammenarbeit mit der Polizei ist streng- Neuregelung notwendig sei, wird daher kaum zu er- stens zu überprüfen und zu regeln. Es kann nicht bringen sein. In den Ausschußberatungen mag aber sein, daß die privaten Sicherheitsdienste „di rty über Detailverbesserungen ebenso wie über die Harry" für die Polizei werden und die Aufgaben für Frage diskutiert werden, ob denn die bestehenden das Grobe übernehmen, während die Polizei in den Vorschriften in der Praxis hinreichend angewandt Bereichen, für die sie eigentlich nicht zuständig ist werden. Oft ist die Feststellung und Bekämpfung oder wo sie nicht eingreifen darf, auch datenmäßig von Vollzugsdefiziten weitaus effektiver als der Er- abschöpft, was durch p rivate Sicherheitsdienste an laß neuer Normen. Erkenntnissen gewonnen wird. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wir werden die Beratungen in den Ausschüssen Sehr wahr!) entsprechend begleiten und unsere Zustimmung zu Zweitens. Ein gewichtiges zweites Argument den Regelungen für private Sicherheitsdienste von spricht gegen den von der SPD geforderten Gesetz- solchen strengen Voraussetzungen und gesetzlichen entwurf. Bisher gibt es die vom Kollegen Such gefor- Regelungen abhängig machen. derte klare Trennung zwischen den Sicherheitsbe- Schönen Dank. hörden einerseits mit den für sie geltenden Organisa- tionsaufgaben und Befugnisnormen sowie den priva- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ten Erbringern von Sicherheitsdienstleistungen an- der SPD und der PDS) dererseits, für die bisher ganz bewußt keine Polizei- gesetze oder analoge Kodifizierungen geschaffen Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- worden sind. Dahinter steht die Ausgangsüberle- lege Dr. Max Stadler. gung, daß die Gewährleistung der inneren Sicher- heit eben primär Aufgabe der öffentlichen Sicher- Dr. Max Stadler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr heitsbehörden ist und bleiben muß. geehrten Damen und Herren! Ausgangspunkt der Wenn man eine spezielle einheitliche gesetzliche heutigen Debatte ist und bleibt: Der Staat muß die Regelung für die Tätigkeit p rivater Sicherheitsdien- innere Sicherheit gewährleisten. Diese Aufgabe eig- ste schafft, gerät man sehr schnell in die Gefahr, für net sich grundsätzlich nicht für eine Privatisierung. diese ein Sonderrecht zu schaffen, das die p rivaten Ich sage dies ganz bewußt als Liberaler. Sicherheitsdienste nahezu auf dieselbe Stufe wie die (Beifall bei der F.D.P., der SPD und der PDS) öffentlichen Sicherheitsorgane stellt. Es entsteht das Bild einer Politik der inneren Sicherheit, die von zwei Dies schließt weder aus, daß staatliche Stellen Pri- gleichberechtigten Säulen getragen wird, einer öf- vatfirmen bei der Erfüllung dieser Aufgaben ergän- fentlich-rechtlich organisierten sowie einer privat- zend hinzuziehen, noch daß Privatleute sowohl im rechtlichen. kommerziellen als auch im rein p rivaten Bereich zu- sätzlich private Sicherheitsdienste in Anspruch neh- Dies kann aber nach Meinung der F.D.P. nicht der men. Die Lebenswirklichkeit zeigt, daß dies in immer richtige Weg sein. Es muß bei der klaren Aufgaben- größerem Umfang geschieht. verteilung bleiben, wonach die innere Sicherheit vom Staat zu gewährleisten ist und der p rivate Sek- Die mit dem SPD-Antrag aufgeworfene Fragestel- tor nur eine ergänzende Funktion wahrnimmt. Diese lung, ob ein Gesetzentwurf über Rechte, Pflichten eindeutige Abstufung läßt es ratsam erscheinen, den Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11667

Dr. Max Stadler polizeirechtlichen Kodifizierungen eben keine Son- Tatsachen vorgetragen werden könnten. Dies ist für dergesetze für private Sicherheitsdienste hinzuzufü- uns bisher nicht ersichtlich. gen. Dann bleibt nämlich weiterhin deutlich, daß es Viertens. Ich komme ganz kurz zum Waffenrecht. um ganz unterschiedliche Ebenen geht. Hier legt die Bewachungsverordnung bereits fest, Für die privaten Sicherheitsdienste gelten bei ihrer daß auch in befriedetem Besitztum die erforderliche Tätigkeit ohnehin die sogenannten Jedermanns waffenrechtliche Sachkunde, körperliche Eignung rechte, die jedem Staatsbürger zustehen. Dies ist sowie ein waffenrechtliches Bedürfnis vorliegen müs- auch ausreichend. sen. Die Behörden haben es daher auch jetzt in der - Hand, durch eine sorgsame Bedürfnisprüfung einem Ich will versuchen, dies im einzelnen kurz zu be- Mißbrauch entgegenzuwirken. Die detail lierten Be- gründen: stimmungen des Waffengesetzes sowie der Bewa- chungsverordnung über den Besitz und das Führen Erstens. Die SPD forde rt eine Regelung der Vor- von Waffen durch private Sicherheitsdienstmitarbei- aussetzungen, unter denen Mitarbeiter p rivater Si- ter dürften daher ausreichen. cherheitsdienste ihre Tätigkeit ausüben dürfen. Nach unserer Meinung decken die Jedermannsrechte die Fünfter und letzter Punkt: Datenschutz. Auch hier notwendige p rivate Gewaltanwendung, wenn es gibt es ausführliche Regelungen in §§ 28 und 29 Bun- denn einmal dazu kommt, hinreichend ab. Herr Graf desdatenschutzgesetz über die Erhebung, Verarbei- hat es selber schon zitiert. tung und Nutzung personenbezogener Daten im nichtöffentlichen Bereich. Diese Regelungen gelten Diese Jedermannsrechte, wie Notwehrrechte, Not- auch für die privaten Bewachungsunternehmen. standsrechte, Selbsthilferechte nach dem BGB, sind Wieder einmal kommt es daher darauf an, von den immer nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestehenden Vorschriften des Bundesdatenschutzge- wahrzunehmen. Eine gesetzliche Neuregelung setzes und auch der Gewerbeordnung Gebrauch zu würde wohl nur dazu führen, neue Generalklauseln machen. Dann ist der Erlaß neuer Vorschriften auch festzulegen, so daß keineswegs mehr Rechtsklarheit in diesem Bereich nicht zwingend. erzielt würde, als das jetzt unter Geltung der Jeder- mannsrechte der Fall ist. Ich fasse zusammen: Die F.D.P. tritt insgesamt da- für ein, die normative Distanz zwischen Polizei und (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Privatunternehmen zu erhalten. Eine eigene gesetzli- ten der CDU/CSU) che Grundlage speziell für die p rivaten Sicherheits- dienste würde diese aus dem normalen p rivaten Be- Zweitens. Die SPD will eine Begrenzung der Tätig- reich herausheben und ihnen eine Zwischenstellung keitsfelder privater Sicherheitsunternehmen, vor zwischen Privatpersonen und Hoheitsträgern einräu- allem in den öffentlichen und halböffentlichen Räu- men. Dies kann nicht gewollt sein. Im übrigen er- men wie Einkaufszentren und Wohnanlagen. Eine scheinen die meisten der geforderten Regelungen allgemeine Bewachungsbefugnis für private Sicher- überflüssig. heitsdienste gibt es in diesen Räumen ohnehin nicht. Vielmehr müssen die privaten Sicherheitsdienste bei Der SPD-Antrag wird daher in dieser Form unsere ihrer Tätigkeit an den Schutz individueller Rechte Zustimmung nicht finden. Zu einer Diskussion über ihrer Auftraggeber anknüpfen. Das geltende Recht Detailverbesserungen in den bereits bestehenden bietet daher ausreichende Grundlagen, um gegen Gesetzen sowie über die Beseitigung von Vollzugs- unzulässige sogenannte präventive Bewachungen im defiziten ist die F.D.P. in den Ausschußberatungen öffentlichen Raum vorzugehen. Zu nennen wären aber gerne bereit. das Verbot unzulässiger Sondernutzung nach Stra- (Beifall bei der F.D.P.) ßen- und Wegerecht, die Bestrafung wegen Amtsan- maßung nach § 132 StGB oder die Gewerbeunter- sagung wegen Unzuverlässigkeit. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- ordnete Wolf. Drittens. Die SPD stellt auf gewerberechtliche Aspekte, insbesondere Sachkundeprüfung und wie- Dr. Winfried Wolf (PDS): Sehr geehrter Herr Präsi- derholte Zuverlässigkeitsprüfung, ab. Hier sieht dent Klein! Werte Kolleginnen und Kollegen! „Alle § 34a Abs. 2 der Gewerbeordnung ohnehin aus- Staatsgewalt geht vom Volke aus." An diesen Satz, drücklich vor, daß in der Bewachungsverordnung zitiert aus der Weimarer Verfassung, schloß Bertolt Vorschriften erlassen werden können, die dem Brecht die listige Frage an: „... aber wo geht sie Schutz der Allgemeinheit und der Auftraggeber die- hin?", um am Ende seines Gedichts dazu zu kom- nen. Sollten also zusätzliche Regelungen notwendig men, daß die Staatsgewalt abstrakt vom Volke aus- werden, können diese ohne weiteres in die Bewa- geht, manchmal gegen das Volk marschiert und oft chungsverordnung übernommen werden, ohne daß auf dieses schießt. Heute mündet die Lean produc- es - wie von Ihnen gefordert - einer gesamten tion in Lean state. Das Gewaltmonopol des Staates, gesetzlichen Neuregelung bedarf. von den Linken oft in Frage gestellt, wird längst von den Bürgerlichen selbst ad absurdum geführt. Im übrigen sieht das Gewerberecht für die p rivaten Sicherheitsgewerbe einen Erlaubnisvorbehalt vor; Wir zählen bereits 220 000 Angestellte p rivater Si- einer der wenigen Bereiche mit Erlaubnisvorbehalt. cherheitsdienste, beschäftigt bei Sicherheitsdiensten, Weitergehende Eingriffe in die Gewerbefreiheit beim Werkschutz und als Detektive. Ihnen stehen wären erst gerechtfertigt, wenn dafür zwingende 236 000 Menschen gegenüber, die bei den Länderpo- 11668 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Dr. Winfried Wolf lizeien, beim BKA und beim BGS im Staatsdienst für ner Oberbürgermeisters zitierend, ausrufen: „Seht die sogenannte Sicherheit verantwortlich sind. Es ist euch diese Typen an!" absehbar, daß in zwei oder drei Jahren im Bereich Si- cherheit die Privatarmeen größer als diejenigen in Einer der umsatzstärksten Sicherheitsmänner - er Staatsdiensten sind. nennt sich der „Beckenbauer des Personenschutzes" oder auch „Schild und Schwert der Schickeria" - ist Das ist charakteristisch für den Niedergang dieser ein mehrfach vorbestrafter ehemaliger Disco-Raus- Gesellschaft. Während die Zahl der Lehrer und Leh- schmeißer. Besonders grotesk: Die gleichen Herr- rerinnen je Klasse und die Zahl der Dozenten je 1 000 schaften, die Ex-MfS-Mitarbeiter in die Arbeitslosig- Studierende sinken, während die Arbeitslosigkeit keit jagen, lassen sich privat von Ex-Stasi-Leuten und die Zahl der Armen steigen, steigt auch die Zahl schützen. der - staatlichen und privaten - „Sicherheitskräfte", Wir stimmen der Zielsetzung des SPD-Antrags zu. absolut und je 1 000 Einwohner, rapide an. Im High- Dieser Sektor bedarf dringend der gesetzlichen Re- Tech-Sektor der Elektro- und Elektronikindustrie gelung und vor allem der Einschränkung. Nicht zu- gibt es Beschäftigungsabbau. Es boomt jedoch der stimmungsfähig sind allerdings Feststellungen in der „Sicherheitssektor". 1970 wurden in diesem Bereich Begründung. Do rt heißt es zum Beispiel: 314 Millionen Mark umgesetzt, in diesem Jahr dürf- ten es 4,5 Milliarden DM sein. Die Ursache für das schnelle Wachstum des priva- ten Sicherheitsgewerbes liegt in der allgemeinen In dieser Industrie geht es zu wie bei Hempels un- Kriminalitätsentwicklung .. . term Sofa oder wie bei McDonald's: Die Adrettheit der Phantasieuniformen verhält sich umgekehrt pro- Kollege Teiser fand diese Aussage prima. Mir miß- portional zur Qualität der Jobs. Nach einer neuen fällt sie. Das sind Symptome, nicht die Ursachen. Verordnung des Wirtschaftsministe riums sollte die Letztere liegen tiefer, etwa, wie im SPD-Antrag auch Unterrichtung neuer Mitarbeiter p rivater Sicherheits- zitiert, in der bornierten Politik der Bundesregierung, betriebe in 24 Stunden abgeschlossen sein. Die mit der Arbeitslosigkeit und Armut vergrößert, neue Löhne liegen, wie Herr Such schon sagte, bei 8 Mark Kriege mitprovoziert und Flüchtlinge produziert wer- die Stunde und darunter. den. Wohlgemerkt: Es handelt sich um eine mit schar- Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich fen Hunden, mit Waffen und mit lebensgefährlichen mit einem Zitat des großen bürgerlichen Ökonomen Schlagwerkzeugen hochgerüstete Armee. Diese John Kenneth Galbraith schließen. Von diesem „schlagende Verbindung" operiert faktisch in einem wurde jüngst ein Interview in der „Wirtschaftswo- rechtsfreiem Raum: Wildwest als Grundlage neolibe- che" veröffentlicht, in dem er sagt, was er über die raler Sicherheitsphilosophie, wobei vor allem in von privaten Wacharmeen behüteten Wohnsiedlun- Deutschlands wildem Osten der Bereich boomt. gen der Reichen in den USA denkt. Ich zitiere: Thomas Brunst schrieb dazu in der Zeitschrift Diese Reichen-Ghettos ... sind Ausdruck einer „unbequem" : ökonomischen Apartheid und eine logische, wenngleich verwerfliche Folge der Einkommens- Grundsätzlich nehmen die Angehörigen der Si- kluft. Sie entstehen immer dann, wenn sich eine cherheitsunternehmen bei der Ausübung ihrer furchtsame Minderheit der Reichen von einer Arbeit keinerlei Befugnisse wahr, die nicht jeder furchterregenden Mehrheit der Armen abzukap- andere Bürger auch wahrnehmen könnte. seln sucht. Dabei ist diese Sicherheit natürlich eine Illusion. Wenn es wirklich zu Gewalttätigkei- Außer auf die Gewerbefreiheit stützt sich die Si- ten cherheitsindustrie unter anderem auf das Notwehr- recht. Dabei zielen die Vorschriften der §§ 32 ff StGB - wie in Los Angeles - auf eine „unvorhergesehene Ausnahmesituation" ei- kommt, werden die Zäune, die Elektro-Tore und ner einzelnen Person. Auch faßt das Notwehrrecht Privatarmeen nicht lange standhalten ... Nichts die Frage der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffes im ist für den sozialen Frieden so gefährlich wie die Interesse der Notwehr übenden Person bewußt weit. Armut. Schließlich sind private Sicherheitsdienste aus- schließlich dem Schutz materieller Güter verpflichtet. Danke schön. Den Schutz von Gemeinwohlinteressen sollen sie (Beifall bei der PDS) nicht vertreten. Die Aufgaben dieser Trupps vom Typ „Horch, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Guck und Greif" sind um so vielfältiger, wie der Kol- Hans-Peter Kemper, Sie haben das Wo rt. lege Graf ausgeführt hat. Soziale Randgruppen - Ob- dachlose, Bettler, Drogenabhängige, Prostituierte Hans-Peter Kemper (SPD): Herr Präsident! Liebe oder Punks - werden aus öffentlichen Räumen, ja aus Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Teiser, las- ganzen Stadtvierteln vertrieben. Ungestörter Schicki- sen Sie mich kurz Bezug auf Ihre Rede nehmen. Sie micki-Konsum soll „abgesichert" werden. Flücht- haben zum Schluß dem Kollegen Graf für die Mühe lingsheime werden mit derselben Philosophie be- gedankt, die er sich gemacht hat. Ich kann Ihnen die- wacht wie Militärdepots. Prominente und Halbsei- ses Kompliment leider nicht zurückgeben. Ich hätte dene leisten sich Bodyguards. Dabei kann man oft, gerne von Ihnen gewußt, was Sie und Ihre Fraktion den historischen Ausspruch eines bekannten Berli- wollen. Sie haben sich aber in Ihrer Rede ausdrück- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11669

Hans-Peter Kemper lich auf das beschränkt, was Sie nicht wollen, und müssen, müssen für diese Einsätze geschult sein. Sie Sie haben die Vorschläge von uns kritisiert, ohne Ge- müssen darauf vorbereitet werden. Sie können nicht genvorschläge zu machen. die Not- und Jedermannrechte in Anspruch nehmen. (Beifall bei der SPD und der PDS) Herr Stadler, Sie haben die Verhältnismäßigkeit angesprochen. Wir sind der Meinung, daß bei denen, Mein Kollege Graf und auch der Kollege Such ha- die berufsmäßig damit zu tun haben, also bei den pri- ben nachdrücklich darauf hingewiesen, daß das Si- vaten Wachdiensten, andere Anforderungen an die cherheitsgewerbe in den letzten Jahren und Jahr- Verhältnismäßigkeit gestellt werden müssen als bei zehnten sehr stark boomt. Die Zahl der Unternehmen einem Menschen, der unvermutet überfallen wird hat sich verdreifacht, die Zahl der Mitarbeiter ist oder unvermutet in eine Notlage gerät. nahe bei 200 000 angelangt. Sie hat damit fast eine Größenordnung erreicht, wie wir sie bei der Polizei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haben, die von Gesetzes wegen für die Bekämpfung DIE GRÜNEN - Günther Graf [Friesoythe] der Straftaten und für die Aufrechterhaltung der öf- [SPD]: Ein ganz zentraler Punkt!) fentlichen Sicherheit und Ordnung zuständig ist. Da sind wir der Meinung, hierzu bedarf es der Aus- Ich will diese vielfältige Aufgabenpalette nicht bildung, der Schulung. Bis heute reicht es so nach wiederholen. Herr Graf hat das sehr deutlich darge- landläufiger Meinung aus: Wenn jemand stark ist, legt. Ich will nur noch einmal auf die Frage einge- mutig und fit, kann er Wachmann werden. Das ist ein hen, insbesondere auch deshalb, weil Sie, Herr Tei- Zustand, den selbst der Bund deutscher Sicherheits- ser, das angesprochen haben: Wie kommt es zu die- unternehmen beklagt. Für den Nachweis der Zuver- sem unheimlichen Boom? lässigkeit reicht ein ganz normales polizeiliches Füh- rungszeugnis aus, und wir alle wissen, wie wenig Da ist in der Tat zunächst einmal die dramatische aussagekräftig solche Führungszeugnisse lang- oder Zunahme der Kriminalität, und zwar in ganz be- mittelfristig sind. stimmten Bereichen: im Bereich Eigentumskriminali- tät, Körperverletzungskriminalität und Gewaltkrimi- Die Rechts- und Ausbildungssituation muß end- nalität. Und diese Zunahme speziell in diesen Berei- lich aus dieser Grauzone heraus, in der sie sich jetzt chen mit einer oftmals reißerischen Presseberichter- befindet. Der Wachmann muß gründlich unterrichtet stattung hat natürlich dazu geführt, daß sich in der werden: über seine Rechte, über seine Pflichten, ins- Bevölkerung ein starkes Unsicherheits- und Angst- besondere über die gesetzlichen Vorschriften, die bei gefühl breitgemacht hat, und die Bundesregierung seinem Bewachungsdienst zur Anwendung kommen kann den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land können. Er muß nach unserer Meinung auch nach- nicht mehr das Gefühl vermitteln, daß die Gewährlei- weisen, daß er diese Unterrichtung nicht nur aku- stung der Sicherheit bei ihr in guten Händen sei. stisch wahrgenommen, sondern daß er sie auch ver- Ganz im Gegenteil, sie hat durch ihr ständiges ideo- standen hat, daß er die gesetzlichen Vorgaben zu logisch geprägtes Privatisierungsgerede in weiten handhaben weiß, auch im Interesse der Bürger. Bevölkerungsteilen noch den Eindruck erweckt, p ri -vate Sicherheitsdienste könnten genausogut oder so- Unsere Forderungen werden nicht nur von einem gar noch besser als die Polizei die Sicherheit gewähr- großen Teil der Sicherheitsunternehmen in der Bun- leisten. desrepublik getragen, sondern auch von den meisten Länderinnenministern, mit einer Ausnahme - und Und die Folgen? Wer es sich leisten kann, umgibt wen wundert das? -, das sind die Bayern, die sich Ih- sich mit Bodyguards. Einzelhändler stellen p rivate Si- rer Meinung, Herr Teiser, angeschlossen haben, cherheitsdienste an und gaukeln so ihren Kunden Si- denn die halten den § 34 der Gewerbeordnung für cherheit vor. Insgesamt wird der Eindruck erweckt, völlig ausreichend, wobei übersehen wird, daß diese als ob die Sicherheit heute zur Ware und damit käuf- Regelung in erster Linie die wirtschaftlichen Belange lich geworden wäre. berücksichtigt. Nun noch einmal zur Rechtslage. Herr Stadler, wir Die Tätigkeiten privater Sicherheitsunternehmen unterscheiden uns in dieser Frage ganz deutlich. Wir schließen heute auch den Schutz von Leben, Ge- sind nicht der Meinung, daß die Not- und Jeder- sundheit und Eigentum des Auftraggebers ein. Da mannrechte auch für die Sicherheitsdienste ausrei- kann es nämlich passieren - ich gehe darauf noch chend sein dürfen. Wenn heute ein Mensch in Not einmal ein -, daß ein p rivater Wachmann aus einer und Gefahr gerät, dann steht ihm das Recht der Not- zunächst völlig harmlosen Einsatzsituation plötzlich wehr, überhaupt das Recht der Wehrhaftigkeit zu, in eine Situation gerät, in der er jemanden festhalten dann muß er dafür nicht geschult sein, sondern er muß oder sich wehren muß, in eine Situation, deren reagiert aus der Not heraus spontan nach dem ge- Klärung aber eigentlich den Polizeibeamten zuge- sunden Menschenverstand. dacht ist. Die Polizeibeamten haben für die Klärung Da unterscheiden wir uns ganz deutlich. Unsere dieser Angelegenheit mindestens 24 Monate Ausbil- Fraktion ist hier anderer Meinung. Ich denke, das dung genossen. Der Wachmann soll das mit einer können wir dem privaten Wachdienst nicht zubilli- Ausbildung von 24 Stunden schaffen, die Sie für aus- gen. reichend halten. Bei den Selbständigen soll eine Aus- bildung von 40 Stunden als Qualifikationsnachweis (Beifall bei der SPD) ausreichen. Wer jetzt glaubt, es stünden Verbesse- Der private Wachdienst, die Menschen, die sich do rt rungen an, den muß ich enttäuschen: Das ist schon von Berufs wegen in solche Situationen begeben die Verbesserung. Vorher gab es überhaupt keine 11670 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 Hans-Peter Kemper Anforderungen in diesem Bereich. Wir halten diese Ich finde, das ist auch von unseren Rednern ausrei- seit einem halben Jahr geltende Verbesserung für chend begründet und belegt worden. Denn die Be- völlig unzureichend. Sie ist lediglich mehr als gar gründungen Ihrer Forderung nach einer umfassen- nichts. den Regelung sind, genau besehen, Scheinargu- (Beifall bei der SPD) mente. Sie können diese Argumente auch nicht durch allgemeine wirtschaftspolitische Betrachtun- Ich sehe ein, daß das kurzfristig nur sehr schwer gen über die Bedeutung der Branche und die Be- geändert werden kann. Wir sind aber der Meinung, schäftigtenzahl ersetzen. daß wir zumindest mittelfristig zunächst einmal zu ei- - ner punktuellen einsatzbezogenen Ausbildung kom- Gefordert wird von Ihnen ja unter anderem, daß men müssen. Es kann durchaus akzeptiert werden, jetzt abschließend geregelt werden müsse, was p ri daß der Wächter eines Parkplatzes eine andere Aus- -vate Sicherheitsunternehmen in welcher Form dür- bildung hat als der Bodyguard oder der Begleiter ei- fen, wie die Zusammenarbeit mit der Polizei zu erfol- nes Geldtransportes. Eines ist aber klar: Eine ver- gen habe, wie Ermittlungsergebnisse der Unterneh- nünftige Grundausbildung braucht jeder. Die Weiter- men zu verwerten seien und wie die Datenerhebung bildung muß dann nach der Prämisse erfolgen: je zu erfolgen habe. Bei so umfangreichen Forderungen sensibler der Einsatz, desto versierter das Personal. wäre es eigentlich schon wünschenswert gewesen, daß aus Ihren Ausführungen auch die Begründung (Beifall bei der SPD) für die Notwendigkeit der geforderten Regelungen Langfristig muß man daran denken, auch die Mög- hervorgegangen wäre. Aber trotz der von Ihnen im- lichkeit zur Erstellung eines Berufsbildes zu schaffen, mer wieder genannten 200 000 Beschäftigten in so daß in diesem Bereich auch Meister, Techniker 1 200 Unternehmen gibt es kein rechtstatsächliches und Ingenieure langfristig ihren Platz finden werden. Material - und Sie haben auch keines anführen kön- Es muß ein Berufsbild erstellt werden, das die Frage nen -, das Regelungsdefizite in dem von Ihnen be- der Akzeptanz der Sicherheitsdienste in der Bevölke- haupteten Umfang hätte belegen können. rung verbessert, aber auch unter dem Gesichtspunkt der Fürsorgepflicht für den Bediensteten gesehen Unabhängig davon läßt sich gegen den Ruf nach wird und als Schutzfunktion gegenüber der Bevölke- dem Gesetzgeber noch folgendes geltend machen, rung dient. und ich möchte aus der Sicht der Bundesregierung nur noch einige ergänzende Bemerkungen machen: Eines ist klar - das ist hier auch mehrfach ange- sprochen worden -: Solange es in diesem Bereich ei- Die Tätigkeit privater Bewachungsunternehmen ist nen knallharten, ruinösen Wettbewerb gibt, solange auftragsabhängig. Das heißt, daß sich der Auftrag Dumpinglöhne gezahlt werden, die unterhalb des auch aus dem dahintersteckenden Aufgabenzu- Sozialhilfeniveaus liegen, und solange auch noch schnitt ergibt. Soweit Hoheitsaufgaben übertragen ehemals sehr aktive Stasi-Mitarbeiter von öffentli- werden, bedarf es einer spezialgesetzlichen Rege- chen Arbeitgebern mit Aufgaben betraut werden, lung, wie sie beispielsweise im Luftverkehrsgesetz wird bei den Unternehmen wenig Neigung be- oder im Atomgesetz getroffen worden ist. Deshalb ist stehen, Geld in ein vernünftiges Berufsbild und in im übrigen auch eine Novellierung des § 26 StVG ge- eine vernünftige Ausbildung zu investieren. Von da- plant. her denke ich, daß wir ein vernünftiges Berufsbild Für die Befugnisse gilt Entsprechendes. Sie sind - brauchen. Ebenso brauchen wir aber eine spezialge- soweit nicht hoheitliche Aufgaben wahrgenommen setzliche Regelung, die das Aufgaben- und Ausbil- werden - aus dem Recht des Auftraggebers abzulei- dungsfeld dieser p rivaten Sicherheitsdienste ab- ten: Dem Notwehrrecht - zum Beispiel des Eigen- grenzt. Berufsbild und Größe der Sicherheitsdienste tümers, des Besitzers und des Auftraggebers selbst - müssen in ein vernünftiges Verhältnis gebracht wer- entsprechen Nothilferechte des beauftragten Unter- den. nehmers und seiner Beschäftigten. Die Meinung, der Vielen Dank. Gesetzgeber habe nicht gewollt, daß die Rechte der Notwehr und des Notstandes, der Besitzwehr und (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei des Verfolgungsrechts des Besitzers auf Dritte, die Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE für die Tätigkeit vom Auftraggeber bezahlt sind, GRÜNEN) übertragen werden könnten, läßt sich nicht aufrecht- halten. Das wissen Sie so gut wie wir. Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem Die Notwehrrechte sind eben nicht höchstpersönli- Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesmini- cher Natur. Ihre Ausdehnung auf Nothilfe ist deshalb sterium des Innern, Eduard Lintner. unbestritten. Die Unrechtsposition desjenigen, gegen den Notwehr ausgeübt wird, wird durch die Wahr- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- nehmung der Rechte durch einen kommerziellen minister des Innern: Herr Präsident! Meine Damen Dritten nicht verändert. und Herren! Was Sie, Herr Kollege Kemper, eingangs als rhetorische Frage formuliert haben, ist hier, wie Der Ausschluß der Übertragung dieser Rechte wird ich glaube, deutlich geworden: Wir wollen keine auch durch die tatsächliche Entwicklung nicht gef or- überflüssigen Regelungen in diesem Bereich. dert. Es sind nur verhältnismäßig wenige Fälle be- kannt, in denen p rivate Bewachungsunternehmen (Hans-Peter Kemper [SPD]: Wir haben deut die privaten Nothilferechte überschritten haben. Je- lich gemacht, wie wichtig diese sind!) denfalls liegt die Gefahr solcher Überschreitungen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11671

Parl. Staatssekretär Eduard Lintner bei den Bewachungsunternehmen - gerade wegen - Aufregung ist immer zulässig, vor allem wenn sie ihrer größeren Erfahrung - nicht näher als beim Ei- sich auf die Sache bezieht. gentümer selbst. Für ihn ist der Angriff eigentlich der größere Ausnahmefall als für den Beschäftigten des Nach interfraktionellem Vorschlag soll die Vorlage privaten Bewachungsunternehmens. Er ist auch we- auf Drucksache 13/3432 an die in der Tagesordnung gen der unmittelbaren Betroffenheit und Schadens- aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Ist das trägerschaft in größerer Gefahr, emotional und damit Haus damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich unverhältnismäßig auf den Angriff zu reagieren. der Fall. Die Überweisung ist somit beschlossen. Da- mit, Herr Kollege Graf, ist die Behandlung in den- Hier bedarf es also keiner weiteren Befugnisrege- Ausschüssen gesichert. lungen. Es ist vielmehr auf das Jedermannsrecht zu Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: verweisen; dies ist auch schon von den Kollegen ge- tan worden. Im übrigen gilt dies auch hinsichtlich der Beratung des Berichts des Petitionsausschus- generalklauselartigen Regelungen, die Sie fordern. ses (2. Ausschuß) Angesichts der vorhandenen, jahrzehntelang entwik- Bitten und Beschwerden an den Deutschen kelten und damit gefestigten Rechtsprechung ist Bundestag nicht einzusehen, wie durch eine solche neue gesetz- liche Formulierung mehr Rechtsklarheit gewonnen Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des werden könnte. Deutschen Bundestages im Jahr 1995 Den von der SPD beklagten Observationen priva- - Drucksache 13/4498 - ter Detekteien im öffentlichen Raum kann ebenfalls Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auf der Grundlage bestehender rechtlicher Regelun- für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. gen in ausreichendem Maße begegnet werden, ins- - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist besondere im Rahmen des Ordnungs- und Gewerbe- das so beschlossen. rechts. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Der Forderung nach Ausbildung und Sachkunde Christa Nickels das Wort . prüfung der Betreiber und Mitarbeiter p rivater Si- cherheitsunternehmen kommt die Einführung des Unterrichtungsverfahrens für das Bewachungsge- Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werbe mit dem Inkrafttreten des Verbrechensbe- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kämpfungsgesetzes nach. Heute beraten wir einen „Leitfaden für besseres Re- gieren" . Diesen neuen Beinamen hat die Zeitung Auch im Waffenrecht und im Datenschutzbereich „Die Woche" dem Jahresbericht des Petitionsaus- ist gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht erkenn- schusses gegeben. Ich finde, das ist ein ganz treffen- bar und wird auch von den Antragstellern nicht der Beiname für unsere Arbeit. schlüssig dargetan. Die bestehenden Handlungsin- strumente des Gewerbe-, Waffen- und Datenschutz- Ich möchte heute - fast zur Halbzeit der Legislatur- rechts sowie die Möglichkeiten nach Straßen- und periode - in der Debatte über den Jahresbericht 1995 Wegerecht, aber auch die strafrechtlichen Sanktions- die Gelegenheit wahrnehmen, eine Zwischenbilanz möglichkeiten bieten bei konsequenter Anwendung unserer Arbeit zu ziehen. In den vergangenen Jah- eine ausreichende Grundlage dafür, einem uner- ren hat sich ganz deutlich gezeigt, daß sich unser wünschten Ausufern der p rivaten Sicherheitsdienste Ausschuß zu einem immer wichtigeren Beschwerde- entgegenzuwirken. gremium für die Bürgerinnen und Bürger entwickelt hat. 1995 haben sich über 21 000 Menschen an unse- Es bleibt auch nach dieser von Ihrer Seite wo rt ren Ausschuß gewandt. Das war im Vergleich zum -reich geführten Debatte festzuhalten, daß Sie ein um- Vorjahr wiederum ein Anstieg um 9 Prozent. In Zei- fassendes Gesetzeswerk gefordert haben, ohne daß ten knapper Kassen und des Abbaus sozialer Stan- Sie die für diese Regelung notwendigen Rechtstatsa- dards ist damit zu rechnen, daß besonders im Ren- chen hätten nachweisen können. Es bleibt deshalb ten- und Gesundheitsbereich in der nächsten Zeit die bei unserer ablehnenden Haltung. Eingabezahlen noch steigen werden. Aktuell merken wir das auch jetzt schon wieder. Vielen Dank. Diese Zahlen zeigen zwei Seiten einer Medaille. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Die dunkle Seite ist, daß immer mehr Bürgerinnen Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Das ist und Bürger Probleme haben. Für Parlament und Re- bemerkenswert, gleich in der ersten Lesung gierung zeigt der Petitionsausschuß wie ein Spiegel, Ablehnung zu erklären, sich also nicht mit daß in vielen Bereichen eine Politik gemacht wird, dem Thema auseinanderzusetzen! Das sind die von vielen Menschen überhaupt nicht mehr doch Dinge, die Ihre eigenen Länder for nachvollzogen werden kann. Kritik und Protest wur- dern!) den besonders im Zusammenhang mit dem Renten- Überleitungsgesetz, der Pflegeversicherung, den Auswirkungen der Gesundheitsreform, der Überlei- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Graf, ich schließe die Aussprache. tung der Mieten in das Vergleichsmietensystem, dem Altschuldenhilfe-Gesetz, der Verkehrswegeplanung, (Dr. Peter Struck [SPD]: Er kann sich ja ein der Lärmbelästigung und im Zusammenhang mit mal aufregen, Herr Präsident!) dem Umgang mit Asylbewerbern geäußert. 11672 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Christa Nickels Die helle Seite der Medai lle zeigt allerdings, daß zu verhelfen. Man muß sich vor Augen halten, daß in der Petitionsausschuß ein großes Vertrauen gefun- 14 Prozent der Fälle die Bürgeranliegen mehrheitlich den hat und daß dem Bundestag zugetraut wird, Pro- befürwortet werden. bleme zu lösen und Fehler zu korrigieren. Das be- trachte ich als Kompliment für unsere Demokratie. Durch kein anderes Gremium haben die Bürgerin- nen und Bürger einen so direkten Zugang zur Volks- Daß besonders viele Menschen aus den ostdeut- vertretung, und das auch noch mit Aussicht auf Er- schen Bundesländern, die sonst der Politik des Bun- folg. Lediglich 36 Prozent der Eingaben sind aus ver- destages eher skeptisch gegenüberstehen, die Hilfe schiedensten Gründen erfolglos geblieben. Aber- des Petitionsausschusses suchen, ist auch ein gutes selbst dann ist eine Eingabe nicht nutzlos. Denn eine Zeichen. Ich weise entschieden die Kommentare der- Funktion des Petitionsausschusses ist es auch, The- jenigen zurück, die diese Entwicklung gerne so hin- men wachzuhalten oder als Frühwarnsystem Pro- drehen wollten, als ob die Bürgerinnen und Bürger bleme aufzuspüren und dahin zu vermitteln, wo sie aus den neuen Bundesländern ein größeres Lamento noch gar nicht registriert sind. Die Eingaben machen anstimmten. Das ist absolut nicht der Fall. Durch die auf Probleme aufmerksam und haben damit langfri- drastischen Veränderungen bestehen do rt sehr viele stig Einfluß auf die Politik. Selbst wenn der Bundes- Probleme. Ich bin froh, daß sich diese Menschen an tag Petitionen ablehnt, machen sehr oft Fraktionen, uns wenden, Vertrauen haben und glauben, daß sie Arbeitskreise oder einzelne Abgeordnete Anliegen an der richtigen Adresse sind. zu ihren eigenen und bearbeiten sie nachhaltig und intensiv. (Beifall im ganzen Hause) Uns Abgeordnete ehrt der enorme Vertrauensvor- Die enorme Akzeptanz, die der Ausschuß bei der schuß aus der Bevölkerung. Ich kann den Bürgerin- Bevölkerung findet, steht aber nach meinem Ein- nen und Bürgern versichern, daß sich der Ausschuß druck im krassen Widerspruch zu dem Stellenwert, dienst und alle Abgeordneten mit viel Fleiß und den die Bundesregierung und - das sage ich selbst- Sachverstand darum bemühen, möglichst vielen Pro- kritisch - auch der Bundestag dem Petitionsausschuß blemen abzuhelfen. Dafür möchte ich allen Beteilig- einräumen. ten danken. Ich muß heute wieder an die Bundesregierung ap- Häufig höre ich allerdings von skeptischen Kolle- pellieren - das ist eine alljährliche Pflichtübung; ich ginnen und Kollegen, die dem Ausschuß nicht ange- hoffe, daß es irgendwann endlich besser wird -, die hören, und von Journalisten: Schön und gut, daß es Beschlüsse des Petitionsausschusses ernster zu neh- den Kummerkasten gibt; aber erreichen kann er men. Wir haben täglich die konkreten Auswirkungen eigentlich nicht viel. Ich muß ganz klar und deutlich der Politik der Bundesregierung auf dem Tisch. sagen, daß dies ein absolut falsches Vorurteil ist. Dies Wenn mehrheitlich gefaßte Parlamentsbeschlüsse hat wahrscheinlich damit zu tun, daß das Petitions- dann Änderungen einfordern, ist das ein Angebot recht entgegen dem ersten Eindruck doch ein sehr zur Problemlösung, wie es demokratischer und bür- komplexes Recht ist, das man kennen muß, um zu gernäher nicht sein kann. Trotzdem hat die Bundes- wissen, welche Möglichkeiten bestehen. regierung im Berichtszeitraum 1995 neunmal Be- rücksichtigungsbeschlüsse, unser höchstes Votum, Wir spüren im Ausschuß ganz genau, daß das Le- nicht befolgt und sich in sage und schreibe 237 Fällen ben der Menschen immer komplizierter wird und geweigert, der Bitte nachzukommen, Erwägungen sich viele im Gestrüpp von Gesetzen und Verordnun- des Ausschusses zu beachten. Das ist meines Erach- gen nicht mehr zurechtfinden. Es herrscht ein riesen- tens nicht hinnehmbar. großer Beratungsbedarf. Oft kann der Ausschuß dienst oder der angesprochene Abgeordnete schon (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, durch einen Rat oder die Übersendung von Informa- bei der SPD und der PDS sowie des Abg. tionsmaterialien den Menschen, die sich an uns wen- Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]) den, weitergreifend helfen. Aber auch wir Abgeordneten und Fraktionen des In diesem Zusammenhang finde ich folgende Zah- Deutschen Bundestages müssen uns selbst in die len besonders bemerkenswert. Der Petitionsaus- Pflicht nehmen. Die Bundestagspräsidentin, Frau schuß konnte in rund 38 Prozent aller Fälle direkt Rita Süssmuth, hat den Petitionsausschuß als Beitrag helfen oder zumindest Hilfe vermitteln. In 14 Prozent gegen die Krise der demokratischen Institutionen ge- der Eingaben hat sich der Ausschuß über alle Partei- würdigt. Der Jahresbericht 1995 beweist wieder, daß grenzen hinweg die Kritik bzw. die Vorschläge der der Petitionsausschuß einen herausragenden Platz Bürgerinnen und Bürger zu eigen gemacht. Das im demokratischen Gefüge einnimmt. Unsere Arbeit heißt, daß immerhin in 14 Prozent der Fälle ein einfa- kann sich sehen lassen und wird von den Bürgerin- cher Brief an den Petitionsausschuß mit einem Bür- nen und Bürgern honoriert. geranliegen zu einem mehrheitlichen Beschluß des Deutschen Bundestages geführt hat. In krassem Mißverhältnis dazu stehen die Plazie- rung der jährlichen Debatte - das sehen wir heute Wir Abgeordneten wissen alle - für mich als Oppo- wieder einmal - und nach wie vor der Beratungszeit- sitionsabgeordnete ist das noch viel deutlicher als für raum, den wir für unsere Ausschußberatungen zur die Kolleginnen und Kollegen von den Koalitions- Verfügung haben. Seit mehr als 20 Jahren, in einem fraktionen -, wie schwer es ist - oft unendlich Zeitraum, in dem sich die Zahl der Petitionen verdop- schwer -, einem eigenen Vorschlag zu einem einver- pelt hat, sind wir gezwungen, mittwochs ab halb acht nehmlichen Beschluß hier im Deutschen Bundestag Uhr morgens, vor allen anderen Ausschüssen, 30 bis Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11673

Christa Nickels 40 Einzelanliegen im Hauruckverfahren durchzuzie- muß ich sagen, daß mir jedes Verständnis dafür ab- hen. Diese Beratungszeit wird der intensiven Vorbe- geht, daß von seiten der Geschäftsführung der CDU/ arbeitung, die teilweise ein Jahr dauert, in keinster CSU-Bundestagsfraktion aus parteipolitischem Kal- Weise gerecht und mindert so die Bedeutung des Pe- kül versucht wird, das Petitionsrecht teilweise zu titionsausschusses herab. Hier müssen andere Bera- blockieren. tungszeiten her. Ich bin der Meinung, daß es möglich sein muß, daß andere Ausschüsse ihre Beratungszei- Nach wie vor beharrt die CDU/CSU-Geschäftsfüh- ten verändern, damit wir endlich vernünftige Aus- rung darauf, daß Sammelübersichten, zu denen Än- schußzeiten bekommen. derungsanträge der Fraktionen angekündigt wer- den, nur zu Lasten des Fraktionszeitkontingents auf Zum anderen wünsche ich mir, was die Sitzungs- die Tagesordnung des Deutschen Bundestages ge- modalitäten des Ausschusses angeht, hier im Bun- setzt werden. Das führt in der Praxis dazu, daß Peti- destag bayerische Verhältnisse. Denn in Bayern tagt tionen oft geschäftsordnungswidrig ein ganzes Jahr der Petitionsausschuß - vorbildlich - immer öffent- lang nicht abschließend beraten werden können und lich, und das mit großem Erfolg. Do rt werden die Pe- die Leute keinen Bescheid bekommen. tenten zuvor gefragt, ob sie damit einverstanden Ich bin nicht bereit, das länger hinzunehmen, und sind, und wenn sie das wollen, werden sie sogar in werde eine Prüfung durch den Geschäftsordnungs- den Ausschuß eingeladen, um an der Sitzung teilzu- ausschuß des Hauses verlangen. Das Petitionsrecht nehmen - ein absolut lobenswertes Beispiel. ist viel zu wertvoll, als daß es durch solche parteipoli- Natürlich eignen sich nicht alle Petitionen zur öf- tische Taktierereien entwe rtet werden dürfte. fentlichen Beratung. Aber, liebe Kolleginnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Kollegen gerade der Mehrheitsfraktionen, wir be- bei der SPD und der PDS) schließen in unserem Ausschuß über 98 Prozent der Petitionen einstimmig. Da wird sich doch die eine Abschließend möchte ich auch darauf hinweisen, oder andere Petition finden lassen, mit der wir die in- daß im Rahmen der zusammenwachsenden Europäi- tensive und gute Arbeit des Ausschusses transparent schen Gemeinschaft das Gemeinschaftsrecht immer und bürgerfreundlich darstellen können. Es ist doch mehr Einfluß auf unsere Arbeit nimmt. Ich bin sehr absurd, daß ausgerechnet der Bürgerausschuß froh, daß wir das Europäische Ombudsm an - Institut schlechthin sich bisher wie kaum ein anderer Aus- haben, dessen Vorstand ich für den Petitionsaus- schuß von der Öffentlichkeit abschottet; nach der schuß des Deutschen Bundetages angehöre. Do rt Parlamentsreform haben wir es nämlich bis heute können wir diese neuen, komplizierten Probleme im kein einziges Mal geschafft, öffentlich zu tagen. Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger kollegial auf ist ein Aufruf, der an uns selber geht; das muß mit europäischer und internationaler Ebene besprechen Mehrheit im Ausschuß beschlossen werden. Ich wün- und bürgerrechtliche Lösungs- und Einwirkungs- sche mir, daß wir das endlich einmal auf die Reihe möglichkeiten suchen. Ich möchte gern die Gelegen- kriegen. heit nutzen, diesen Kollegen dafür zu danken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Als Fazit meiner Kommentierung zum Jahresbe- bei der SPD und der PDS) richt 1995 möchte ich zusammenfassen: Wir sind stolz, daß wir als Petitionsausschuß so viel Vertrauen Ich glaube, daß auch die Kolleginnen und Kollegen genießen, werden uns aber selbstverständlich auf von den Mehrheitsfraktionen hier Gelegenheit hät- diesen Lorbeeren nicht ausruhen. ten, ihre gute Arbeit im Petitionsausschuß bürger- Danke schön. freundlich zu präsentieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) bei der SPD und der PDS) Ich glaube, daß wir uns als Ausschuß mehr Ge- wicht im parlamentarischen Alltag verschaffen müs- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der sen. Das hängt aber auch davon ab, wie ernst wir uns Kollege Wolfgang Dehnel, CDU/CSU. selber nehmen. Wir brauchen manchmal mehr Biß und Rückgrat gegenüber den Meinungsführern in Wolfgang Dehnel (CDU/CSU): Herr Präsident! unseren eigenen Fraktionen. Meine Damen und Herren Kollegen! Frau Nickels, Ich selber bin der Meinung, daß es den sogenann- Sie haben sehr moderat angefangen; ich hatte mich ten jungen Wilden, von denen man liest, daß sie sich schon gefreut. Dann aber haben Sie mit der dunklen angeblich in den Koalitionsfraktionen befinden - wir Seite doch etwas übertrieben. haben einige Exemplare davon im Petitionsaus- Auf der linken Seite sitzen gar keine Medienver- schuß -, gut anstehen würde, wenn sie sich dann treter mehr; sie wollen uns eigentlich immer in Hin- nicht gerade im Petitionsausschuß wie die braven terbänkler und Vorderbänkler einteilen. Leider ging Zahmen verstecken würden. Mich wundert das. Ich das jetzt in die falsche Richtung. Wahrscheinlich ha- hätte nichts dagegen, wenn sie sich etwas mehr im ben die Medienvertreter gar nicht mehr zugehört. Interesse der Bürgerrechte äußerten. Das ist für die Arbeit des Petitionsausschusses an Als Ausschußvorsitzende ist es meine Aufgabe, die sich schade; denn wir stehen mit unserer Arbeit an Rechte der Petenten und Petentinnen zu wahren und vorderster Front. Die Eingaben der Bürger sind für für eine sachgerechte Bearbeitung zu sorgen. Daher uns ein Sensor der Befindlichkeiten vor Ort: Wie 11674 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Wolfgang Dehnel werden Gesetze, Bestimmungen und Verordnungen wurde berichtet, aber es wurden auch sehr viele Pro- wahrgenommen? Welche Auswirkungen ergeben blemfelder angesprochen. Das Zusammenwachsen sich konkret für den einzelnen Bürger, aber auch für gestaltet sich schwieriger als erwartet, hieß es. Ich die gesamte Gesellschaft? Dieser Zusammenhang frage: Waren die Erwartungen in der Euphorie des wird leider allzuoft vernachlässigt, zuwenig beachtet. Einheitsstrebens, die notwendig war, um überhaupt dorthin zu gelangen, nicht zu hoch? Wie sieht das mit Auch haushaltspolitische Zwänge und Erwägun- dem Zusammenwachsen im Petitionsausschuß oder gen sind letztlich in die Entscheidung des Petitions- im Plenum aus? Haben sich die Kollegen beispiels- ausschusses mit einzubeziehen. Das mag natürlich weise an unseren sächsischen Akzent gewöhnt, oder im Einzelfall schmerzlich sein. Aber eine Konsolidie- sollen wir uns des bayerischen Dialekts bedienen, rung des Haushaltes, eine gesunde Haushaltspolitik um größere Aufmerksamkeit zu bekommen? kommt schließlich auch dem einzelnen Bürger zu- gute. Oder haben sich manche schon zu sehr an die (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stabilität der D-Mark gewöhnt? Ist dies nicht trotz NEN]: Bitte nicht, Herr Dehnel! Wir Rhein- der Leistung des Einheitsprozesses als erfolgreiche länder empfinden beides als schön!) Finanzpolitik zu sehen? Es ist so: Noch 1989 sind insgesamt 13 607 Eingaben Meine Damen und Herren, bei der Sichtung mei- eingegangen. Davon haben Sie schon berichtet. Wie- ner politischen Unterlagen aus der Wendezeit bin ich derholungen lassen sich manchmal nicht vermeiden, auf den Kommentar des Jahresberichtes 1989 gesto- wenn man einen solchen Bericht kommentiert. ßen. Ich hatte ihn vorsorglich aufgehoben, nur aus Interesse; denn damals war ich noch nicht Mitglied Dazu muß ich sagen: Die Bürger aus den neuen des Bundestages und dieses Ausschusses, sondern Bundesländern haben jedenfalls Vertrauen in die Ar- Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer. beit des Parlaments und seines Petitionsausschusses. 1991 bin ich fast zufällig für einen ausgeschiedenen Das beweist ganz einfach die statistische Auswer- Kollegen eingesprungen; denn wir wissen: Die zu- tung. Im Jahr 1995 hat sich die Zahl der Petitionen - sätzliche Arbeit ist unter den Kollegen nicht gerade wie in den Jahren zuvor - um die 20 000 eingepen- beliebt. delt, genau: Es wurden 21 291 Eingaben bearbeitet. Damit wurde gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um Schon 1989 we rtete man die Petition in der Bun- 9 Prozent registriert. Dieser Anstieg wiede rum ist ein desrepublik als ein Kaleidoskop des Lebens. In der Verdienst - in Anführungsstrichen - der Bürger aus DDR waren Petitionen eigentlich immer ein Ärgernis; den neuen Bundesländern. Von 5 020 im Jahr zuvor sie zogen manchmal sogar Bespitzelungen durch die auf 5 829 im Berichtsjahr stieg die Zahl der Petitionen Stasi nach sich. dieser Bürger. Das bedeutet, daß sich die Ostdeut- schen etwa doppelt so häufig pro Einwohner an den Ich möchte aus diesem historischen Dokument zi- Ausschuß wandten als die westdeutschen. tieren, um Parallelen und Wandlungen aufzuzeigen. Auch in bezug auf die angesprochenen Bitten und Da wurde über Gedichte für den Staat berichtet; Beschwerden gab es deutliche Unterschiede. Ein we- die Rede war von einem 82jährigen Rentner aus sentlicher Schwerpunkt waren die Eingaben zum Hamburg, der dem überaus teuren Vater Staat seine Renten - Überleitungsgesetz, sozusagen ein Dauer- Gedichte widmete und sie dem Petitionsausschuß brenner. Vor 14 Tagen wurde die Novelle zu diesem übersandte, dessen Mitarbeiter, wie es im Be richt Gesetz mit den ab 1997 gültigen Änderungen verab- heißt, inzwischen gespannt auf seine Fortsetzung des schiedet. Ich freue mich deshalb für die vielen betrof- Gedichtzyklus warteten. Gedichte haben wir keine fenen Rentner, die in meinen Bürgersprechstunden bekommen, aber statt dessen Petitionen, die in die vorgesprochen haben. gleiche Richtung gehen. Ich möchte ein Beispiel nennen. Es gab einen Ver- Ein Thema, das heute keines mehr ist, wenn man messungsingenieur, der in der damaligen DDR dem von gelegentlichen Bemerkungen Lafontaines im Rat des Bezirks unterstellt war und deswegen eine letzten Landtagswahlkampf absieht: Gehässigkeit Rentenkürzung hinnehmen mußte. Er ist seit 1946 gegen Aussiedler. Bedauernd stellte damals der Peti- CDU-Mitglied. Für mich ist er entgegen den Aussa- tionsausschuß fest, daß sich die Zuschriften, in denen gen von Lafontaine oder Gysi keine „Blockflöte". zum Teil in sehr gehässiger Form gegen die Aussied- Vielmehr ist dieser Bürger ein Demokrat der ersten ler polemisiert wird, gehäuft haben. Ich glaube, wir Stunde. haben überhaupt keine Petition in diesem Sinne mehr bekommen, und das freut mich sehr. (Jutta Müller [Völklingen] [SPD]: Er hat den Mauerbau begrüßt!) Worauf ich auch noch hinweisen möchte: Der Jah- resbericht 1989 wurde am 19. Juni der Bundestags- - Also, das ist eine Frechheit. Ich weise es auf das präsidentin übergeben und - man höre und staune entschiedenste zurück, daß dieser Mann den Mauer- - am 20. Juni, einen Tag später, im Parlament bera- bau mit begrüßt hat. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Er ten. Auf ein solch schnelles Verfahren sollten wir zählt für mich zu den Demokraten der ersten Stunde. wieder kommen; ich glaube, Frau Vorsitzende, darin Solche Leute wie er sind durch die stalinistische und sind wir einer Meinung. die SED-Diktatur unterdrückt worden. Zur Feier des sechsten Jahrestages der deutschen Meine Damen und Herren, immer mehr Bürger - Einheit wurden in der vergangenen Woche auch so meine Erfahrungen aus den Bürgersprechstun- wieder sehr viele Festreden gehalten. Viel Lobendes den - verstehen das Eingaberecht als Notrufsäule, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11675

Wolfgang Dehnel wenn sie Lücken in gesetzlichen oder behördlichen Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Petitionsaus- Vorgängen feststellen und vor Ort nicht mehr weiter- schuß gemeinsam mit Ihnen, liebe Kolleginnen und kommen. Die Folge sind dann - durch unsere Ein- Kollegen meiner Fraktion und der anderen Seite, wie flußnahme - häufig Entscheidungskorrekturen oder Sie hier alle sitzen, im Interesse der Bürger und des Gesetzesänderungen, wie ich sie gerade am Beispiel Gemeinwohls den nächsten Jahresbericht angehen, der Rentengesetzgebung erläutert habe. Sie kom- getreu dem Leitspruch von Beethoven, den ich so oft men einer Vielzahl von Bürgern zugute. in Poesiealben geschrieben habe und den ich auch heute gern wiederholen möchte: Des weiteren müssen zahlreiche Telefonate be- rücksichtigt werden, die Ausschußmitglieder oder Wohltun, wo man kann, Freiheit über alles lieben, Mitarbeiter des Ausschußsekretariats täglich führen, Wahrheit auch vor dem Throne nicht verleugnen. um im Interesse der Petenten eine effektive Bearbei- Abschließend hätte ich einen Wunsch. Ich weiß tung der individuellen Eingaben zu ermöglichen. Ge- nicht, ob ein Abgeordneter auch Wünsche und rade die zunehmende Zahl von Anrufen von Bürge- Träume haben darf. Ich habe einen. Ich würde gern rinnen und Bürgern belegt, daß der Petitionsaus- eine Generalpetition an alle Parlamente und Regie- schuß in besonderer Weise Anlaufstelle für die Bevöl- rungen schicken, damit die Gewalt gegen Menschen kerung geworden ist. Häufig erläutern dabei die Mit- aufhört, ganz gleich, ob es Gewalt gegen Kinder, arbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschußdienstes Frauen oder Männer jeden Alters, aus Trieb, Macht die weitere Bearbeitung oder das Ergebnis der Peti- oder religiösen oder politischen Gründen ist; denn tionen, oder sie geben Hinweise, wohin sich der Bür- mit Gewalt lassen sich keine Probleme lösen. Im Ge- ger mit seiner Frage sinnvollerweise wenden kann. genteil, die Gewalt forciert Auseinandersetzungen, Dafür herzlichen Dank! und sie eskaliert mit schlimmen Folgen. Dieser Ge- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der walt muß auf allen Kontinenten entgegengewirkt SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden. (Beifall im ganzen Hause) Danken möchte ich auch den Ministern und Staats- sekretären der Bundesregierung, die heute in großer Zahl anwesend sind, und auch ihren Mitarbeiterin- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die nen und Mitarbeitern, mit deren Hilfe in konkreten Kollegin Lisa Seuster, SPD. Einzelfällen häufig ein günstiger Ausgang von Peti- tionsverfahren erreicht werden konnte. Vielen Dank! Lisa Seuster (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch Als Sachse möchte ich natürlich auf die Eingaben ich möchte noch eine Angabe zur Statistik machen, aus meinem Heimatland eingehen. Aus dem Frei- die heute schon mehrfach genannt wurde und beein- staat Sachsen gingen 2 045 Petitionen ein, 406 mehr druckend ist. Das ist die Zahl der Petitionen: 21 300, als 1994. Damit steht Sachsen an zweiter Stelle im also 9 Prozent mehr als im letzten Jahr. Das zeigt Bundesdurchschnitt. Sehen Sie, wir Sachsen sind auch, daß die Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen keinesfalls Hinterbänkler, sondern wir sind Vorhut und Mitarbeiter immer größer wird. Ich möchte mich aller neuen Bundesländer. Man sollte auch die enor- im Namen der SPD-Fraktion bei unserem Mitarbei- men Fortschritte im Umweltbereich, zum Beispiel bei terbüro für die geleistete Arbeit recht herzlich bedan- der Wismut-Sanierung, im Infrastrukturbereich, im ken. Straßen- und Autobahnbau und in der Städtesanie- (Beifall im ganzen Hause) rung immer wieder ansprechen. Aber die Entwick- lung der Regionen ist für mich noch zu unterschied- Bei über 20 000 eingegangenen Beschwerden und lich. Die Entwicklung des Zentrums darf nicht zu La- Änderungsvorschlägen von Bürgerinnen und Bür- sten der Randregionen gehen. Zentren müssen aus- gern ist klar, daß der Ausschuß, um dieses Pensum strahlen und dürfen nicht absaugen. Hier müssen überhaupt bewältigen zu können, auf eine effiziente Bund und Land noch gemeinsam regulierend wir- Vorbereitung angewiesen ist. Das Gros der Eingaben ken. kann ebenso wie zahlreiche Anrufe bereits im Vor- feld durch die Büromitarbeiter erledigt werden. Oft Meine Damen und Herren, nur Negativmeldungen genügen Hinweise auf zuständige Stellen oder die seien gute Schlagzeilen, meinen manche Journali- Weitergabe von Informationsangaben. Beschwerden sten. Solche Überschriften haben wir nicht nötig. Wir über Behördenwillkür erledigen sich sehr oft durch müssen durch unsere Arbeit überzeugen. Auf diese Nachfragen bei den betreffenden Behörden von Arbeit können die Mitarbeiter des Ausschußdienstes selbst. und die Abgeordneten durchaus ein bißchen stolz sein. Dieser Stolz wird uns gewiß nicht in den parla- Auf allen Ebenen sind hier kritische Fragen des mentarischen Himmel tragen, denn die Arbeit mit Deutschen Bundestages, in diesem Fall auf seiten dem Bürger und die vielen Petitionen des nächsten des Petitionsausschusses, unerwünscht und unbe- Jahres holen uns ganz sicher wieder auf den Boden liebt. Um nicht im Jahresbericht des Ausschusses als der Tatsachen und Befindlichkeiten zurück. sture und bürgerfeindliche Behörde genannt zu wer- den, können so viele Angelegenheiten rasch im Ich möchte noch zwei Bemerkungen zu diesen Be- Sinne der Petenten geregelt werden. findlichkeiten machen. Sogenannte Ossis haben ihr Kapital nicht in Banken anhäufen können, sondern Mit der Zahl der Eingaben ist auch die Belastung nur in den Herzen. Das hat ihnen den Mut zur von uns Ausschußmitgliedern gestiegen. Die Sitzun- Wende gegeben. In diesem Sinne werde ich auch als gen werden immer früher anberaumt und finden 11676 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Lisa Seuster selbst in solchen Plenarwochen statt, die normaler- Einstufungen überprüft und Widersprüche eingelegt weise ausschußfrei sind. Anders als mit diesem er- werden können. höhten Zeitpensum sind Tagesordnungen mit bis zu 40 Einzelpetitionen nicht mehr zu schaffen. Aber wir müssen uns für eine gleiche Behandlung im ganzen Bundesgebiet einsetzen. Es darf nicht Eine gründliche Vorbereitung in den einzelnen sein, daß diese Begutachtung in Hamburg anders Fraktionsgruppen und von seiten der Obleute ist aussieht als in Baye rn, denn es ist ein Bundesgesetz. auch hier unbedingte Voraussetzung. In einem anderen Problemfeld der Pflegeversiche- Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei den Kol- rung war der Einsatz des Petenten und des Aus- leginnen und Kollegen der anderen Fraktionen für schusses sehr viel schneller von Erfolg gekrönt. Vor die gute und kollegiale Zusammenarbeit im Aus- Inkrafttreten des Gesetzes war es durchaus selbstver- schuß bedanken, ohne die wir die Arbeit nicht ge- ständlich, daß Behinderte ihre Pflege und Betreuung schafft hätten. durch Pflegekräfte selbst organisiert haben. Dieses sogenannte Arbeitgebermodell der Pflegeorganisa- Die erfolgreiche Ausschußarbeit kann an Hand tion sollte nach dem Pflegeversicherungsgesetz nicht weiterer Zahlen aus der Ausschußstatistik belegt mehr möglich sein, da es nur noch unzureichende werden: Von den 448 Petitionen, die 1995 im Aus- Finanzmittel gegeben hätte. De facto drohte zahlrei- schuß beraten wurden, sind 75 einstimmig beschlos- chen Behinderten der Heimaufenthalt, das heißt, das sen worden. Lediglich in vier Fällen wurden Ände- Ende ihres gewohnten Lebensalltags in den eigenen rungsanträge gestellt. Selbst hier war es schwierig, vier Wänden und der Abschied vom vertrauten Pfle- diese mit Debatte auf die Tagesordnung zu bekom- gepersonal. men. In diesem Jahr stehen noch zehn Petitionen zur abschließenden Beratung an. Wir brauchen natürlich Den Petitionsausschuß erreichten zahlreiche Be- auch wieder eine Diskussionszeit. Jetzt wird es wie- schwerden, die keinen Zweifel an dem dringenden der schwierig, weil man meinte, diese Diskussion Handlungsbedarf ließen. Der Ausschuß wies die könne nebenbei miterledigt werden. Dagegen haben Bundesministerien für Arbeit und Soziales sowie für wir uns verwahrt. Gesundheit auf die Dringlichkeit und die drohenden Nachteile für die Behinderten hin. Tatsächlich Um derart unnötige Verschleppungen von Petitio- konnte in diesen Fällen durch eine Gesetzesände- nen zu vermeiden, setzt sich die SPD-Bundestags- rung Abhilfe für die Betroffenen geschaffen werden. fraktion nachhaltig für die neugeschaffene Möglich- Im Zuge der Besitzstandswahrung wurde ihnen die keit der öffentlichen Ausschußsitzung ein. Wir wer- Beibehaltung des Arbeitgebermodells ermöglicht. den in diesem Vorhaben auch von der Präsidentin, Auf breite Unterstützung in der Bevölkerung tref- Frau Süssmuth, immer wieder unterstützt. Warum, fen Petitionen zu Sekten und pseudoreligiösen Or- liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitions- ganisationen, von denen es mittlerweile 600 ver- fraktionen, lehnen Sie dies ab? Man kann fast den schiedene gibt. Zur Zeit steht die Diskussion über die Eindruck haben, daß Sie Ihre Entscheidungen nicht Praktiken der sogenannten Scientology Church im im Lichte der Öffentlichkeit treffen wollen. Zentrum kontroverser öffentlicher und politischer Meine Damen und Herren, bezüglich der Vertei- Diskussionen. Für die Kritiker ist Scientology eine lung der eingegangenen Petitionen nach den Ge- Organisation mit wirtschaftsmafiaähnlichem Charak- schäftsbereichen der Bundesministerien ist mit ei- ter. In einer Sammelpetition mit 40 000 Unterschrif- nem Zuwachs von gut 30 Prozent ein deutlicher An- ten werfen die Petenten der Organisation vor, ihre stieg im Bereich Arbeit und Soziales zu verzeichnen. Mitglieder finanziell auszubeuten und sie psychisch Hier spiegelt sich wider, daß das soziale Klima in un- unter Druck zu setzen. Die Vorwürfe basieren sowohl serem Land erheblich kälter geworden ist. auf persönlicher Erfahrung der Petenten als auch auf Erfahrungen von Familienangehörigen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen heute bei Ge- setzesänderungen einschneidende Kürzungen und Vor dem Hintergrund der vielen Vorwürfe und Nachteile in Kauf nehmen. Der Anteil derjenigen, die dem vagen Informationsstand bezüglich dera rtiger einseitige und ungerechte Belastungen nicht sang- Organisationen hat der Petitionsausschuß intensiv und klanglos hinnehmen, wächst immer mehr. Der über die Einsetzung einer speziellen Enquetekom- Weg, ihren Mißmut über den Petitionsausschuß aus- mission diskutiert. Mit einer einstimmigen Empfeh- zudrücken, ist nur ein Weg. lung hat sich der Petitionsausschuß gegen jene Stim- men durchgesetzt, die keinen Anlaß für eine Unter- Die Kritik an der Umsetzung der Pflegeversiche- suchung dieser Gruppierungen, geschweige denn rung steht im Mittelpunkt der Beschwerden an das Handlungsbedarf für Gesetzesänderungen gesehen Haus Blüm. In den meisten Fällen wenden sich die haben. Petenten gegen die ihrer Meinung nach zu niedrige Daß die Kommission ihre Arbeit im Sommer dieses Einstufung pflegebedürftiger Angehöriger. Vom Peti- Jahres aufnehmen konnte, ist nicht zuletzt dem Ein- tionsausschuß erwarten sie Hilfe in Form einer hö- satz der Petenten und des Petitionsausschusses und heren, sprich angemesseneren Einstufung und damit der Beharrlichkeit beider zu verdanken. eines höheren Pflegegeldes. Leider ist der Ausschuß nicht in der Lage, die vom medizinischen Dienst ge- Wir bearbeiten Petitionen aus allen Wahlkreisen. troffene Einstufung zu überprüfen und sie eventuell Es wäre schön, wenn die Abgeordneten dann auch zu korrigieren. Wir müssen uns darauf beschränken, hier wären. Wir bearbeiten insbesondere auch Peti- den Petenten Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die tionen der Geschäftsführer. Es wäre schön, wenn wir Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11677

Lisa Seuster die Debatte zu einem Zeitpunkt führen könnten, zu neten sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dem auch die anderen Abgeordneten selbstverständ- der Abgeordneten, denen ich an dieser Stelle für ihre lich im Plenum sind. Unterstützung danke.

(Beifall im ganzen Hause) Mein Dank gilt aber auch den Bürgern, die mit Ge- Bedanken möchte ich mich dafür, daß die Regie- duld oft mehrere Monate, manchmal Jahre - Sie ha- rungsbank diesmal so zahlreich besetzt ist. Das ist ben recht - warten müssen, bis ein Endbescheid positiv zu werten. kommt. Ich bitte aber auch in diesem Punkt um Ver- ständnis. Jeder, der im Ausschuß mitarbeitet, weiß, Herzlichen Dank. wie lang die Wege manchmal sein können, wenn (Beifall im ganzen Hause) sorgfältig geprüft, wenn eine sorgfältige Entschei- dung herbeigeführt werden soll.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei der Frau Kollege Günther Nolting, F.D.P. Vorsitzenden und den Kolleginnen und Kollegen al- ler Fraktionen für die gute und konstruktive Zusam- Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Herr Präsident! menarbeit bedanken. Ich denke, wir haben häufig Meine Damen und Herren! Bei der Beratung des Jah- über die Fraktionsgrenzen hinweg Lösungsvor- resberichts des Petitionsausschusses für das Jahr schläge im Sinne der Petentinnen und Petenten erar- 1995 nehme ich heute gern die Gelegenheit wahr, beitet und schließlich auch umgesetzt. die meist unspektakuläre, aber doch sehr umfangrei- che Arbeit des Ausschusses und seiner Mitarbeiterin- Ich habe darauf hingewiesen: Der Petitionsaus- nen und Mitarbeiter in einer breiteren Öffentlichkeit schuß wird allgemein als Anwalt des Bürgers be- zu würdigen. zeichnet und auch dementsprechend anerkannt. Ich will an dieser Stelle aber auch ausdrücklich festhal- Der Petitionsausschuß wird als Anwalt des Bür- ten, daß die entsprechenden Beschlüsse des Bundes- gers, als - wie es die Frau Vorsitzende gesagt hat - tages aus verfassungsrechtlichen Gründen keine bin- Kummerkasten der Nation angesehen. Aus dein Be- dende Wirkung gegenüber der Bundesregierung in richt geht auch hervor, daß der Petitionsausschuß im dem Sinne haben, als daß diese verpflichtet wäre, Jahre 1995 nichts von seiner Bedeutung verloren hat. der jeweiligen Aufforderung des Petitionsausschus- Immerhin - hierauf ist schon hingewiesen worden - ses Folge zu leisten. hat es einen fast zehnprozentigen Anstieg auf jetzt über 21 000 Petitionen gegeben. Der Kollege Dehnel Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß ge- hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es einen über- rade im Bereich der sogenannten berüchtigten, proportionalen Anstieg der Eingaben aus den neuen Bundesländern gibt, die zirka 27 Prozent an der Ge- (Heiterkeit - Christa Nickels [BÜNDNIS 90/ samtzahl der Petitionen ausmachten. Das muß ein- DIE GRÜNEN]: Bei der Regierung sind die mal festgehalten werden. berüchtigt!) Die Themenschwerpunkte lagen naturgemäß im sozialen Bereich, beim Renten-Überleitungsrecht. - nein: der Berücksichtigungsbeschlüsse und der Er- Aber es hat auch Beschwerden über die Arbeit der wägungsbeschlüsse die Bundesregierung aufgefor- Rentenversicherungsträger und auch Kritik an Ren- dert wird, konsequent und vor allen Dingen koopera- tenberechnungen im Einzelfall gegeben. Ich denke, tiv alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um dem jewei- in den genannten Bereichen besteht insgesamt noch ligen Ersuchen des Petitionsausschusses und damit ein großer Aufklärungsbedarf. des Deutschen Bundestages im Sinne des Petenten Rechnung zu tragen. Ich habe die große Anzahl von Eingaben ange- sprochen; das haben auch meine Vorredner getan. Ich sage das an dieser Stelle ganz deutlich: In die- Daß wir überhaupt in die Lage versetzt werden, jede sem Punkt haben wir für das vergangene Jahr einige einzelne Eingabe sorgfältig zu prüfen und zu bear- Defizite - um es vorsichtig auszudrücken - festzuhal- beiten, liegt in erster Linie an den Mitarbeiterinnen ten. Ich denke, es spricht für sich, daß die Bundesre- und Mitarbeitern des Ausschußdienstes. Ich möchte gierung im Berichtsjahr 1995 in über 230 Erwä- mich im Namen der F.D.P.-Fraktion bei den Mitarbei- gungsbeschlüssen unserem Petitum nicht nachge- terinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes be- kommen ist und, wie ich hoffe, zum Teil noch nicht danken. nachgekommen ist. Ich meine, dies muß geändert (Beifall im ganzen Hause) werden. Ich setze dabei auf die Kooperationsbereit- schaft und - ich sage es noch einmal - auf die Kreati- Man muß hier auch aufzeigen, daß dieses Arbeits- vität der Bundesregierung. pensum um so eindrucksvoller zu bewe rten ist, wenn man sich vor Augen führt, daß es bei der Anzahl der Ich will an dieser Stelle, liebe Kolleginnen und Kol- über 21 000 Petitionen um die Gesamtzahl der neuen legen, die Bundesregierung allerdings auch aus- Eingaben im Berichtszeitraum geht. Darin nicht ent- drücklich loben; das Interesse drückt sich auch da- halten sind die Tätigkeiten bezüglich älterer Petitio- durch aus, daß hier heute eine so große Anzahl von nen. Nicht berücksichtigt sind dabei auch die unzäh- Regierungsvertretern anwesend ist. ligen Telefonate und die umfangreiche Korrespon- denz mit den Bürgern, mit Ministerien, mit Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) 11678 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Günther Friedrich Nolting Dies könnte auch ein Beispiel für die eigenen Kolle- und Telekommunikation bekommen; deren Zahl ist gen des Deutschen Bundestages sein. Wir werden im Berichtszeitraum angestiegen. Der Schwerpunkt das dementsprechend lobend weitergeben. in diesem Bereich lag auch 1995 bei Beschwerden im Zusammenhang mit ungewöhnlich hohen Telefon- (Lisa Peters [F.D.P.]: Beschimpfen Sie nicht rechnungen. Aber es gab auch viele Eingaben aus die, die hier sind!) den neuen Bundesländern, in denen es um den be- - Liebe Frau Kollegin Peters, ich beschimpfe natür- rechtigten Wunsch nach Bereitstellung eines Tele- lich nicht diejenigen, die hier sind. Ich beschimpfe fonanschlusses ging. - überhaupt keine Kolleginnen und Kollegen; das würde ich mir nie erlauben. Ich darf die Anwesenheit Wir haben in Zusammenarbeit mit dem Bundesmi- dieser großen Anzahl von Regierungsvertretern aber nister für Post und Telekommunikation sowie dem doch ausdrücklich lobend erwähnen und als Beispiel Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Telekom AG empfehlen. die Möglichkeit gefunden, die bisher üblichen Ver- fahrensweisen beizubehalten. Ich denke, dies kann (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und nur im Sinne der Petitionen sein. Wir haben auch er- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) reicht, daß in der Folge Eingaben, zum Beispiel im Zusammenhang mit überhöhten Telefonrechnungen, Wenn die Regierung gelobt werden muß, dann muß zügig und oftmals unbürokratisch im Sinne der Pe- sie gelobt werden. Da wird wohl auch die Opposition tentinnen und Petenten erfolgreich abgeschlossen zustimmen. werden konnten. (Beifall bei der CDU/CSU) Lassen Sie mich einen Bereich ansprechen, der mir Meine Damen und Herren, ich möchte nur einige als Obmann im Verteidigungsausschuß natürlich wenige exemplarische Beispiele aufzeigen, einige nahe liegt: Ich will darauf hinweisen, daß die Ge- Eingaben des Berichtszeitraumes nennen. Ich samtzahl der Eingaben aus dem Bereich des Bundes- möchte zu Anfang die Eingaben zum sogenannten ministers der Verteidigung im Berichtsjahr 1995 im Flensburger Urteil ansprechen, welches, wie wir alle Vergleich zum Vorjahr um etwa 20 Prozent gesunken wissen, ein weitreichendes Echo gefunden hat. ist. Trotzdem haben wir im letzten Jahr einen sehr starken Anstieg von Petitionen zu verzeichnen ge- Es ging darum, daß ein Urteil des Flensburger habt, die sich mit militärischen Tief- und Nachttief- Amtsgerichtes aus dem Jahre 1992 kritisiert wurde, flügen beschäftigten. demzufolge der Anblick einer Gruppe Schwerstbe- hinderter bei den gemeinsamen Mahlzeiten in einem Ich sage an dieser Stelle ganz offen: Dieser starke Urlaubshotel zur Minderung des Reisepreises be- Anstieg der Zahl an Petitionen zu diesem Thema ist rechtigte. Obgleich der Deutsche Bundestag auf für mich kaum nachvollziehbar, wenn man weiß, daß Empfehlung des Petitionsausschusses beschloß, die die Gesamtzahl der Tiefflugstunden von 88 000 1988 Petition der Bundesregierung zur Erwägung zu über- auf 16 000 Stunden im Jahr 1995 gesunken ist und weisen mit dem Ziel, das Reisevertragsrecht dahin daß auch die Zahl der Nachttiefflugstunden im letz- gehend zu ändern, daß Diskriminierungen behinder- ten Jahr deutlich vermindert wurde. Aber unter dem ter Menschen in jeder Hinsicht ausgeschlossen wer- Eindruck des Wegfalls des Ost-West-Konfliktes se- den, wurde dies zunächst als nicht notwendig und hen viele Petenten wohl einen generellen Wegfall nicht zweckmäßig abgelehnt. jeglichen Gefährdungspotentials und leiten daraus Es hat dann ein beharrliches Drängen von seiten offensichtlich die Überflüssigkeit aller militärischen des Ausschusses gegeben. Unter Hinweis auf ein Übungstiefflüge ab. zwischenzeitlich vom Gesetzgeber in Art. 3 des Ich will hier ausdrücklich festhalten, auch für die Grundgesetzes festgeschriebenes Diskriminierungs- F.D.P.-Bundestagsfraktion klar Stellung beziehen: verbot löste die Bundesregierung ihre bis dahin Tiefflüge sind auch angesichts der veränderten si- starre Verweigerungshaltung. cherheitspolitischen Lage weiterhin notwendig, um (Ludwig Eich [SPD]: Hört! Hört!) die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, hier der Luftwaffe, auch in bezug auf inte rnationale Ver- In einem Schreiben an die Verbände der Tourismus- pflichtungen aufrechtzuerhalten. branche forde rte das Justizministerium in der Folge, daß auch auf Grund der verfassungsrechtlichen Vor- Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang den gaben jedwede Diskriminierung Behinderter unter- Hinweis, daß der Verteidigungsauftrag der Bundes- bleiben müsse. wehr mit Verfassungsrang ausgestattet ist. Diesen zu gefährden kann nicht im Interesse des Petitionsaus- Ich denke, dies war letztendlich ein Erfolg des Peti- schusses des Deutschen Bundestages liegen, weswe- tionsausschusses, der auch durch seine Beharrlich- gen dann auch entsprechende Änderungsanträge keit in diesem konkreten Fall der gerechtfertigten von seiten der Opposition mehrheitlich abgewiesen Entrüstung weiter Teile der Bevölkerung vollauf wurden. Rechnung tragen konnte. (Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜND Lassen Sie mich eine Petition ansprechen, die uns NIS 90/DIE GRÜNEN]) im Jahr 1994, zumindest thematisch aber auch noch einmal im Jahr 1995 beschäftigt hat. Hier ging es Wir haben eine Vielzahl von Eingaben aus dem darum, daß wir eine frühere Entscheidung bei geän- Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Post derter Sachlage revidiert haben. Ich meine die Ein- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11679

Günther Friedrich Nolting gabe im Zusammenhang mit der Motorsportveran- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die staltung auf dem Bundeswehrflugplatz in Wunstorf. Kollegin Heidemarie Lüth, PDS. (Jutta Müller [Völklingen] [SPD]: Das war ein Trauerspiel!) Heidemarie Lüth (PDS): Herr Präsident! Liebe Kol- leginnen und Kollegen! Ich möchte mich zunächst - Das war überhaupt kein Trauerspiel, liebe Frau Kol- wie die anderen Rednerinnen und Redner ganz herz- legin Müller; ich werde Ihnen jetzt auch sagen, lich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des warum das überhaupt kein Trauerspiel war. Ausschußdienstes bedanken; denn nur durch ihre qualifizierten Beiträge ist eine kontinuierliche Arbeit Die ursprüngliche Petition richtete sich gegen ei- des Petitionsausschusses überhaupt vorbereitungs- nen Beschluß aus dem Jahre 1994, mit dem der Deut- und durchführungsfähig. sche Bundestag auf Vorschlag des Petitionsausschus- ses die Bundesregierung aufgefordert hatte, künftige Es ist ganz wichtig für uns zu sagen, daß jede posi- Motorsportveranstaltungen in Wunstorf zu untersa- tiv abgeschlossene Petition auch einen Erfolg unserer gen. In den neuerlichen Beratungen - auch nach Arbeit darstellt. Aber Herr Dehnel, allein diese Er- Rücksprache mit der Stadt Wunstorf - vertrat der folge dürfen uns nicht davon zurückhalten, auch die Ausschuß mehrheitlich die Auffassung, daß die Wett- kritischen Dinge, die Hemmnisse in der Auswertung bewerbsfähigkeit des deutschen Rennsports ohne zu benennen. Ich komme auf diese zu sprechen. die Nutzung der Bundeswehrliegenschaften in Zu- kunft nicht mehr gewährleistet sein könnte. Einmal im Jahr wird die Dunkelkammer Petitions- ausschuß geöffnet; denn die Arbeit des Petitionsaus- Ich denke, von weitaus entscheidender Bedeutung schusses vollzieht sich in der Tat im Interesse der Pe- wertete der Ausschuß die Tatsache, daß sich der Mo- tentinnen und Petenten vor der Öffentlichkeit ver- torsport in Deutschland in der Vergangenheit in ho- borgen. Trotzdem wird mit einer eigenen Kontinuität hem Maße mit der Umweltverträglichkeit seiner Ver- im Bundestag auch in diesem Jahr wieder der Tätig- anstaltungen auseinandergesetzt hat. Da der Motor- keitsbericht des Petitionsausschusses als vorletzter sport diesbezüglich verstärkt auf umweltschonende Punkt auf die Tagesordnung einer Sitzungswoche Techniken, zum Beispiel auf die Benutzung von Ka- gesetzt: sicherlich, um diese Arbeit auch weiter im talysatoren, setzt und sich zur Verbesserung des Bereich des Verborgenen zu halten. Lärmschutzes strenge Geräuschbegrenzungen aufer- Besonders pikant ist diese Entscheidung unter Be- legte, sah der Ausschuß keine Veranlassung, auf sei- rücksichtigung der herausgehobenen Bedeutung der nem Votum aus dem Jahre 1994 zu beharren, und Arbeit des Petitionsausschusses als Bindeglied zwi- empfahl daher gegen die Stimmen von SPD und schen Parlament und Bürgerinnen und Bürgern, die Bündnis 90/Die Grünen, die Petition der Bundesre- den Petitionsausschuß zunehmend als ihren Anwalt gierung zur Berücksichtigung zu überweisen. begreifen. Daß das Ziel insbesondere durch die sorg- Lassen Sie mich zum Ende meiner Ausführungen fältige und kontinuierliche Arbeit des Petitionsaus- noch einige grundsätzliche Bemerkungen machen, schusses erreicht wurde, wird auch darin deutlich, die mir am Herzen liegen. Bei der Fülle von Geset- daß sich die Bürgerinnen und Bürger mit über 21 000 zen, Formalismen und Verwaltungsvorschriften in Petitionen, also mit 9 Prozent mehr als im Vorjahr, an Deutschland haben selbst sachkundige Bürger häu- uns gewandt haben. fig große Probleme. Ich sehe hier einen entscheiden- Betrachtet man im Gegensatz dazu die A rt der Er- den Grund für die hohe Anzahl von Eingaben, die ledigung der eingegangenen Petitionen, ergeben der Petitionsausschuß zu bearbeiten hat. sich erhebliche Zweifel, ob dieses Ergebnis auch tat- Deshalb appelliere ich heute an den Deutschen sächlich gewollt ist. Allein in über 36 Prozent der in- Bundestag: Wir benötigen dringend eine Entbürokra- haltlich geprüften Petitionen wurde dem Anliegen tisierung. Die ständig zunehmende Bürokratie der Petentinnen und Petenten nicht entsprochen. schränkt die Chancen des einzelnen auf Selbstver- Das heißt, bei über einem Drittel wurde das in den wirklichung und selbstverantwortliches Handeln ein. Petitionsausschuß des Bundestages gesetzte Ver- Dem Bürger bleibt da häufig oftmals nichts anderes trauen nicht gerechtfertigt. Ich füge hinzu: Nicht bei übrig, als sich an staatliche Stellen und schließlich jeder Petition ist auch ein positiver Entscheid mög- auch an den Petitionsausschuß des Deutschen Bun- lich. Das sehe ich genauso wie die anderen Kollegin- destages zu wenden. nen und Kollegen. In diesem Zusammenhang läßt sich aus vielen Ein- Dieser Eindruck wird aber auch dadurch verstärkt, gaben die Forderung nach klaren, einfachen und un- daß mehrheitlich fraktionsübergreifend die an den mißverständlichen Gesetzen ableiten. Hier müssen Bundestag überwiesenen Beschlüsse, bei denen so- wir uns als Gesetzgeber unserer Verantwortung noch wohl der Petitionsausschuß als auch das Plenum des stärker bewußt werden und uns dieser Aufgabe, die Bundestages das Anliegen für berechtigt und Abhilfe gerade im Bereich des Petitionsausschusses in zahl- für erforderlich gehalten haben, durch die Bundesre- reichen Eingaben offen zutage tritt, in Zukunft noch gierung überwiegend abgelehnt oder sehr zögerlich stärker stellen. bearbeitet wurden und bearbeitet werden. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. So geht aus \dem Jahresbericht 1995 hervor, daß bereits am 1. Januar 1995, also noch vor dem Be- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der richtszeitraum, insgesamt 567 Petitionsverfahren SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) noch nicht endgültig abgeschlossen wurden. Davon 11680 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Heidemarie Lüth wurden innerhalb des Berichtsjahres ganze Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Nein, so geht 189 Verfahren positiv erledigt. 173 Fälle wurden mit das nicht. Sie können sich nicht mit der Rednerin ei- der Mitteilung, daß dem Anliegen auch nach noch- nigen, sondern Sie müssen eine Frage stellen. maliger Prüfung entgegen der Empfehlung der Frak- tionen und der Gruppe im Bundestag nicht entspro- Wolfgang Dehnel (CDU/CSU): Würden Sie bitte chen werden konnte, abgeschlossen. auch die nächsten beiden Sätze zitieren, wenn Sie Die Möglichkeiten des Petitionsausschusses haben schon beim Zitieren sind? Oder haben Sie sie verges- sich dann natürlich erschöpft, da er kein Selbstbefas- sen? sungsrecht hat. Jedoch ist es für mich im Gegensatz zu den Äußerungen von Herrn Nolting schon eine Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das ist in Ord- bemerkenswerte Tatsache, daß sich die Bundesregie- nung. Jetzt können Sie antworten. rung weigert, die vom Petitionsausschuß ausgespro- chene Empfehlung auch umzusetzen. 209 Verfahren Heidemarie Lüth (PDS): Herr Dehnel, um im Mo- wurden innerhalb dieses Berichtzeitraums immer ment die Sache auf eine etwas scherzhafte Weise zu noch nicht beendet. lösen: Was und wie lange zitiert wird, ist sicherlich Eine Widerspiegelung „erfolgreicher" Politik der demjenigen überlassen, der ein Zitat bringt. Sie ver- Bundesregierung dokumentiert sich auch im Ver- halten sich doch genauso. gleich des Anteils der Beschwerden aus den neuen Jedes Jahr gleichermaßen steigend ist der schwer- Bundesländern. 40 Prozent der 1992 eingegangenen punktartige Anteil der das Bundesministerium für Petitionen galten als Merkmal eines gewachsenen Arbeit und Soziales betreffenden Bitten und Be- Demokratiebewußtseins der Bürgerinnen und Bür- schwerden. Von 1993 bis jetzt stiegen sie von ger. Der Rückgang der Petitionen 1994 wurde dann 24,8 Prozent auf 33,9 Prozent. Liegen die Ursachen damit dokumentiert, daß zwischenzeitlich die Verab- hier nun in einem ständig wachsenden Demokratie- schiedung zahlreicher gesetzlicher Regelungen zur bewußtsein der Bürgerinnen und Bürger oder in der Bereinigung einigungsbedingter Probleme zu einem bürgerfreundlichen Politik der Bundesregierung? weiteren Abbau der Kritik am Verlauf des sozialen Träfe letzteres zu, bestünde sicherlich das Erforder- Einigungsprozesses und damit zur weiteren Normali- nis, im nächsten Jahresbericht an Stelle von Bitten sierung der Verhältnisse in Deutschland beigetragen und Beschwerden, also dem „Kummerkasten der Na- haben. 1995 wurde der erneute Anstieg - gerade vor- tion", wie er hier schon benannt wurde, die Rubrik hin wieder von Herrn Dehnel - als Notrufsäule - mit „Dankschreiben" einzuführen. Sachsen als Vorhut der neuen Bundesländer in die- sem Bereich - kommentiert. Man muß sich nur etwas Daß zum Beispiel die in diesem Jahr verabschiede- einfallen lassen. ten Regelungen zum Rentenrecht nicht zu einem Rückgang der Petitionen in diesem Bereich führen Aufschlußreich ist dabei zusätzlich, daß auf eine werden, liegt dann vermutlich zum anderen daran, Million der Bevölkerung in den neuen Bundeslän- daß die bisher in diesen Regelungen enthaltenen dern 410 und in den alten Bundesländern nur Überführungslücken keineswegs geschlossen sind 221 Petitionen entfallen sind. und darüber hinaus mit einem Anstieg der Petitionen - das zeichnet sich schon ab - zur Pflegeversicherung zu rechnen sein wird. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin Lüth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß in den Dehnel? Stellungnahmen der zuständigen Ministerien zu den Petitionen als Begründung einer ablehnenden Hal- tung vielfach auf die Eindeutigkeit der Gesetze ver- Heidemarie Lüth (PDS): Sehr gern. wiesen wird. Das ist zum Teil sicherlich richtig und wird von mir auch nicht bestritten, scheint mir aber der Weg des geringsten Widerstandes zu sein. Denn (CDU/CSU): Frau Lüth, wenn Wolfgang Dehnel - mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich jetzt Ber- Sie mich hier schon zitieren, dann möchte ich Ihnen tolt Brecht, und auch nur eine Zeile -: sagen, daß zu der Rede im vergangenen Jahr, die Sie zitiert haben, zwei weitere Sätze gehören. Damit die (Heiterkeit) Kollegen das richtig interpretieren können, darf ich „So, wie es ist, bleibt es nicht." die nächsten Sätze zitieren. Durch wen werden diese Regelungen und Gesetze denn geschaffen und in Kraft gesetzt? Sollte sich dar- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Eine Frage bitte. aus nicht besser für alle Mitglieder dieses Hauses die Aufgabe stellen, gründlicher zu prüfen, inwieweit wir in der Lage und auch bereit sind, Gesetze noch Wolfgang Dehnel (CDU/CSU): Richtig, das war keine Kurzintervention. Es folgt also die Frage. mehr den Interessen der Bürgerinnen und Bürger entsprechend zu gestalten, zu verändern und dann Darf ich Ihnen die zwei nächsten Sätze vorlesen? auch umzusetzen? (Heiterkeit bei der SPD) Ein zweites Totschlagargument der Ministerien und gleichzeitig ein weiteres Ergebnis eigentlich Ich muß Ihnen nämlich sagen, was dort stand. auch der Politik sind die ewig knappen Haushalts- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11681 Heidemarie Lüth mittel. Damit erübrigt sich oft eine inhaltliche De- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die batte zu einer Petition, weil mit diesem Argument Kollegin Wilma Glücklich, CDU/CSU. nicht weitergearbeitet werden kann. Ich denke, in mehreren Fällen, auch im vergangenen Jahr, haben die entsprechenden Ministerien diesen Hinweis auf Wilma Glücklich (CDU/CSU): Herr Präsident! die knappen Haushaltsmittel benutzt und zum Teil Meine Damen und Herren! Wenn sich Bürger an den mißbraucht. Petitionsausschuß wenden, haben sie meist schon eine Odyssee durch etliche Verwaltungsstufen hinter Eine gehörige Ignoranz gegenüber den Bürgerin- sich; das wissen wir. Deutschland hat eine übermä- nen und Bürgern gehört auch dazu, daß es für die ßige Regelungsdichte, anders als beispielsweise die Mehrheit dieses Hauses hinsichtlich der Wertung US-amerikanische Gesellschaft. einer Petition offensichtlich völlig unerheblich zu sein scheint, ob es sich um einen fehlerhaften Der Großteil unserer Arbeit hier im Parlament be- Sprachgebrauch bei der Einladung zum Brigadeball steht ja auch darin, Regelungen durch weitere Rege- handelt oder um eine Sammelpetition, die mit über lungen zu verfeinern. Nur, eine noch so verantwor- 55 000 Unterschriften versehen ist. Herr Nolting ist ja tungsvolle Bearbeitung wird es nicht verhindern kön- auf einige dieser inhaltlichen Dinge schon eingegan- nen, daß Rechte einzelner nicht in dem Maße berück- gen. sichtigt werden können, wie diese sich das jeweils vorstellen. Wir werden immer in der Situation sein, Aber die Geschäftsordnung des Deutschen Bun- weitere Ungleichheit zu provozieren. destages ermöglicht zumindest die Bestrebungen - die ebenfalls im Ausschuß mit Mehrheit abge- Diese Regelungsdichte macht es den Verwaltun- stimmt wurden -, auf Antrag der Opposition und mit- gen und anderen Großinstitutionen besonders leicht, tels einer Einzelausweisung in einer Sammelüber- sich generell auf Formalien zurückzuziehen. Ich sicht diese im Plenum auf die Tagesordnung zu set- interpretiere Sie so, Frau Nickels, daß Sie das zen und dann gegebenenfalls in einer Debatte gemeint haben. Der Petitionsausschuß ist deshalb ein erneut zu beraten und abzustimmen. Das war bisher Spiegel genau dieser Institutionen und nicht von ein wirklich demokratischer Brauch und eine wirk- Regierung und Parlament. Ich denke, wir müssen lich demokratische Regelung. aber auch für uns selbst eine Konsequenz hieraus ziehen. Darauf werde ich nachher noch eingehen. Um das hier einmal zu verdeutlichen: Bei den über 21 000 Petitionen im vergangenen Berichtszeitraum Unsere Gesellschaft ist postsolidarisch und post- wurde dieses demokratische Recht einmal von der autoritär. Das heißt, in der Öffentlichkeit genießen Fraktion der SPD und dreimal von der Fraktion Rechte einzelner einen weitaus höheren Aufmerk- Bündnis 90/Die Grünen in Anspruch genommen. samkeitswert als das Interesse der Gesellschaft ins- Wahrlich keine Überbelastung des strapazierten Par- gesamt. Deshalb sind Menschen natürlich ständig in lamentes! der Versuchung, zu glauben, ihnen stehe eine abso- lute persönliche Bef riedigung, gleich auf welchem Um eine offensichtliche Beschneidung demokrati- Gebiet, zu. Genau deshalb erleben wir, daß Men- scher Rechte durch eine Änderung der Geschäftsord- schen glauben, den Staat über Gebühr in Anspruch nung zu vermeiden, verstärkt die Koalition nun die nehmen zu können. Jede noch so kleinteilige Rege- Anstrengungen, die für die Opposition ohnehin ein- lung wird diese Möglichkeit nicht gänzlich verhin- geschränkten Aufsetzungszeiten dadurch zu schmä- dern können, im Gegenteil. lern, daß derartige Anträge dem Kontingent einzel- ner Fraktionen und der Gruppe angerechnet werden Ich vertrete die neuen Bundesländer. Hier prallt sollen. Das ist, wie hier auch schon geäußert wurde, die Lebenserfahrung der Menschen auf absolut eine Beschneidung der parlamentarischen Möglich- gegensätzliche Gegebenheiten und Strukturen. Ihre keiten der Opposition. Wirklichkeit im vereinten Deutschland hat sich radi- kal geändert. Dabei wird deren physische und psy- chische Kraft oft bis an die Grenzen strapaziert. Was Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin die meisten Bürger dabei hinzunehmen haben, ist Lüth, wenn Sie bitte einmal auf die Uhr schauen. schwer zu verarbeiten, geschweige denn voll zu ak- zeptieren. Deshalb ist es nur allzu verständlich, daß in der Rückschau das verschwundene Gewohnte in Heidemarie Lüth (PDS): Ja. einem besonderen Licht erscheint.

(Heiterkeit) Viele Petitionen machen deutlich, daß „die" durch- - Einen letzten Satz, Entschuldigung. gängig gleiche Ostidentität eine Fiktion ist und nur einen Hauch von Glaubwürdigkeit dadurch erhält, Allerdings beweist diese Verfahrensweise einmal daß man eine gemeinsame, im einzelnen jedoch mehr den Unwillen der Koalition, den Tatsachen di- höchst unterschiedliche Geschichte hat. Durchgän- rekt ins Auge zu sehen. Statt Ursachen für bestimmte gig zeigt sich jedoch auch: Verwaltungen in Deutsch- Erscheinungen aufzudecken, bekämpft man die Er- land - hierbei ist der neue Osten nicht ausgenom- gebnisse der Politik. men - sind durchdrungen von einem starken ge- werkschaftlich orientierten Geflecht, das weniger an (Beifall bei der PDS, der SPD und dem Bürgernähe und Hilfsbereitschaft als an Arbeitszeit- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) regelung und an Arbeitsplatzerhalt für sich selbst 11682 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Wilma Glücklich interessiert ist. Aus diesem Grunde fühlen sich Bür- ken möchte, und nach eingehender Erörterung fin- ger so oft den Behörden gegenüber hilflos. den wir häufig zu sehr komplizierten Entscheidun- gen. Ich wehre mich daher ganz besonders gegen Der Petitionsausschuß hat bei vielen seiner Ent- die Vorhaltungen. Ich wehre mich dagegen, daß auf scheidungen Beispiele für Deregulierung und für diese Art und Weise versucht wird, Demokratie außer mehr Bürgernähe aufgezeigt und deutlich gemacht. Kraft zu setzen. Der Petitionsausschuß hat nicht die Eine Zwischenbilanz ist deshalb ein guter Vorschlag, Rolle einer zusätzlichen Instanz, sondern er ist einge- Frau Nickels. Aber den richtungweisenden Schritt zu bunden in das demokratische System insgesamt. tun, das ist ein Wunsch, der mir besonders am Her- - zen liegt. Ich denke, dem Petitionsausschuß als Angesichts der über 20 000 Fälle pro Jahr steht einem wesentlichen Instrument des Bundestages selbstverständlich im Vordergrund, jedem Einzelfall stünde es sehr gut an, hier der Schrittmacher zu sein, möglichst gerecht zu werden. Das steht außer Frage. anstatt sich ausschließlich auf seine nach dem Für diesen enormen Arbeitsaufwand danke ich den Grundgesetz festgelegte Pflicht zurückzuziehen, Ein- Mitarbeitern des Ausschußdienstes an dieser Stelle zelfälle zu entscheiden. noch einmal. Ich bin überzeugt, unsere Regelungswut unter- Unsere Aufgabe darf sich aber nicht in ordentli- höhlt unsere Gesetze weiter, verhindert Kompro- cher Abarbeitung der Petitionen erschöpfen. Unser misse und Konsens im normalen täglichen Leben Ziel muß es sein, aus den vielen Einzelfällen eine und überflutet uns mit scheinbaren Konflikten. Mit konsequente Anforderung zur Verwaltungsvereinfa- einem Minimum an Wertekonsens würde sich unsere chung und Bürgernähe zu formulieren und den Bun- Sozialordnung wesentlich leichter aufrechterhalten destag im Anpacken dieser Aufgabe zu bestärken. lassen als durch eine Überbürokratisierung. Klagemauer allein reicht mir nicht. In der Summe sind also die 80 Petitionen, die wir Vielen Dank. pro Tag erhalten, gut geeignet, unser tatsächliches Regelungsdefizit, nämlich die Vereinfachung der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Verwaltung, deutlich zu machen. Nicht längere Be- ratungszeiten helfen uns weiter, Frau Nickels, son- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu ei- dern klare Zielformulierungen und Konsequenzen ner Kurzintervention hat die Kollegin Christa Nik- aus den Einzelberatungen. An die Wurzel des Übels kels. müssen wir herangehen. Ich möchte noch einen Punkt betonen, der mir Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schon häufiger aufgefallen ist. Im Petitionsausschuß Frau Kollegin Glücklich, ich möchte noch einmal die ist bei ganz wenigen Themen eine Polarisierung Intentionen meiner Vorschläge klarstellen. nicht zu übersehen. Mehrheitsentscheidungen des Ausschusses zu bestimmten Petitionen werden unter Erstens ist es so, daß der Petitionsausschuß kein dem Vorwand, hier gehe es um ganz spezielle und Überausschuß ist und kein Selbstaufgriffsrecht hat. überaus wichtige Bürgerinteressen, ganz besonders Wir sind also gesetzlich daran gehalten, uns st rikt an herausgestellt. Ich bitte Sie, mich jetzt nicht wieder dem zu orientieren, was die Bürgerinnen und Bürger mißzuverstehen. Beispiele finden sich allerdings im vorbringen. Andere, eigene Überlegungen haben Bericht und auch in einem Inte rview in der „Woche" wir in den Fachausschüssen vorzubringen. Ich von gestern. Ich bin überzeugt, daß die Spielregeln glaube, das ist auch gut so, weil man damit der Ver- hier verkehrt werden, und ich denke, daß sich die suchung entgeht, eigene Sachen über diesen Aus- Unterlegenen nicht immer auf der richtigen, sprich: schuß zur Sprache zu bringen. Es handelt sich um ei- bürgernahen Seite wähnen dürfen, während die Re- nen strikt bürgergerichteten Ausschuß. Von daher gierungsfraktionen jeweils abgeurteilt werden. Es müssen wir die Quintessenz aus der Masse der ein- hilft überhaupt nicht weiter, uns zu unterstellen, wir zelnen Petitionen ziehen. blockierten mit Mehrheit Petitionsrechte. Der zweite Punkt. Ich bin der Meinung, daß man Lassen Sie uns gemeinsam überdenken, wie wir im die Beratungen insgesamt nicht verlängern sollte. Interesse der Bürger initiativ werden können. Viele Wir haben im letzten Jahr hier intensiv über Parla- Ansinnen müssen zurückgewiesen werden, da mentsreformen diskutiert. Das ganze Präsidium hat Rechte einzelner nicht immer vorrangig sein können. gesagt: Unsere Arbeit muß transparent werden, wir Das hat nichts mit Verweigerung zu tun. fordern Sie auf, mehr öffentliche Ausschußsitzungen zu machen. Deshalb ist es ein Unding, daß die Bera- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin tungszeit gerade in unserem bürgergerichteten Aus- Glücklich, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol- schuß, wo sich die Zahl der Petitionen in den letzten legin Nickels? 20 Jahren verdoppelt hat, nach wie vor in der Regel eine Stunde beträgt, die wir manchmal auf andert- halb Stunden verlängern. Es geht nicht an, daß der (CDU/CSU): Nein, Herr Präsi- Wilma Glücklich Petitionsausschuß im Vorfeld unheimlich viel Arbeit dent. Ich denke, wir haben so oft über das Thema ge- übernimmt, die eigentlich Ausschußarbeit ist. Bei uns redet, daß es keine neuen Aspekte geben wird. dauern die Obleutebesprechungen drei Stunden und Seine Entscheidungen macht sich der Ausschuß mehr. Es handelt sich um eine vorverlagerte Aus- nicht leicht. Dank der akribischen Vorbereitung des schußberatung unter Ausschluß der Kollegen, die im Ausschußdienstes, dem auch ich ausdrücklich dan Ausschuß sitzen. Das ist absolut ungewöhnlich. Es Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11683

Christa Nickels widerspricht jeglichem normalen Prozedere und ist rade einmal loben; er hat sich nämlich dabei sehr ko- erst recht nicht mit der Parlamentsreform vereinbar. operativ gezeigt. Es geht darum, diese Relationen geradezurücken. (Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Er steht hin- Ich hätte gerne ein Obleutegespräch von einer hal- ten und hört zu!) ben Stunde und dafür eine vernünftige Ausschußbe- Er war der einzige Minister, den wir nicht vorladen ratung, wie andere Ausschüsse das auch haben. mußten, sondern der sich selbst vorgeladen hat, in- Wenn der Petitionsausschuß Verfassungsrang hat dem er freiwillig zu uns kam und uns seine Hilfe an- und alle immer sagen: Wunderbar, ihr macht das für geboten hat. Dazu muß man hier einmal sagen: Das uns - jeder einzelne macht das ja in der Wahlkreisar- war eigentlich ganz gut. beit noch weiter -, dann bestehe ich darauf, daß wir eine vernünftige Ausschußberatung haben, so daß (Beifall im ganzen Hause) nicht die eigentliche Ausschußarbeit im Hinterzim- Wir hatten immerhin 500 Beschwerden über solche mer von den Obleuten gemacht wird. Sonst braucht Rechnungen. Da war die Rentnerin aus Stralsund, man das Wort Parlamentsreform gar nicht mehr in die 2 400 DM für einen Telefonanschluß bezahlen den Mund nehmen. sollte, da war die fast 70jährige Witwe, die angeblich Der letzte Punkt, den ich leider noch einmal an- 17 Stunden am Stück mit den USA telefoniert hat sprechen muß, ist die Geschäftsordnung des Deut- und 2 000 DM berechnet bekam. In diesen Fällen schen Bundestages. § 112 Abs. 2 besagt klipp und konnten wir helfen. klar, daß auf Antrag einer Fraktion ein Änderungsan- Nun kommt das Aber. In letzter Zeit sieht das nicht trag mit Aussprache möglich ist zu einer vorliegen- mehr so gut aus; denn auf Grund der Privatisierung den Petition. Das ist nicht etwas, was wir uns aus der der Telekom ist es sehr viel schwieriger geworden. Nase gezogen haben. Diese muß auf die Tagesord- Man möchte uns eigentlich nicht mehr problemlos nung aufgesetzt und hier beraten werden. Das ist ein antworten. Antragsrecht, das in der Geschäftsordnung festge- legt wird. Es ist ganz klar fixiert. Wir haben in der vergangenen Woche vom Aus- schußdienst gehört, daß, wenn wir um etwas bitten, Im gleichen Paragraphen heißt es: Jede Petition, die Auskunft offensichtlich nach Lust und Laune der die im Petitionsausschuß beschlossen ist, muß binnen Sachbearbeiter erteilt wird. Hat der Sachbearbeiter drei Wochen aufgesetzt und beraten werden. Es ist Lust, bekommen wir eine, hat er keine Lust, bekom- ein Unding, daß, obwohl ein Änderungsantrag dazu men wir keine Auskunft. Für unsere Arbeit muß das vorliegt, die Geschäftsordnung gebrochen wird. Das geklärt werden. Wenn wir im Bereich der Telekom ist GO-widrig, und wirklich nicht hinzunehmen. Da- keine Rechte mehr haben, dann soll man uns das mit beschneiden Sie auch die zweite Möglichkeit des klar sagen. Wir müssen dann den Menschen sagen, Petitionsrechts, Petitionen zum Gegenstand kontro- sie sollen sich mit ihren Beschwerden an einen verser Debatten zu machen. Das sage ich nicht aus Rechtsanwalt wenden; das Parlament kann für sie Eigeninteresse der Fraktion, sondern weil Bürgerin- nichts mehr tun. Aber die derzeitige Situation ist für nen und Bürger die Sache einbringen. Es muß min- uns im Rahmen der Geschäftsordnung nicht mehr destens eine Fraktion des Hauses sein, die sagt, die hinnehmbar. Wir haben in der vergangenen Woche Petition ist so wichtig, daß sie im Plenum Gehör fin- den Beschluß gefaßt, den Geschäftsordnungsaus- den muß. schuß um die Prüfung zu bitten, inwieweit das Post- ministerium noch Einfluß auf die Telekom hat und so- mit parlamentarischer Einfluß geltend gemacht wer- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin, die drei Minuten sind abgelaufen. den kann. Die Masse der Telekom-Petitionen spricht ja nicht unbedingt für die Fehlerlosigkeit in diesem Unter- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es Christa Nickels nehmen. Ich könnte mir vorstellen, daß wir uns, gibt klare Geschäftsordnungsbestimmungen, die wenn jetzt neue Geschäftsfelder der Telekommuni- nicht gebrochen werden dürfen. kation wie Fax, ISDN und E-Mail hinzukommen, da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit noch ganz schön auseinandersetzen müssen. Ein zweiter wirklicher Dauerbrenner, den wir in je- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat dem Jahresbericht haben, ist das Thema Lärm, Ver- jetzt die Kollegin Jutta Müller, SPD. kehrslärm und Tiefflüge. Kollege Nolting hat dazu schon etwas gesagt. Die Masse der Petitionen zu den Tiefflügen kam auch daher, daß die Strecken verän- Jutta Müller (Völklingen) (SPD): Herr Präsident! dert wurden; denn das BMVg hat in seiner großen Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte zunächst Weisheit auch Kur- und Naherholungsgebiete, die einmal auf zwei Dinge aus dem Petitionsbericht 1995 vom Tourismus leben, nicht von Nachtflügen ver- eingehen, die sich sozusagen als Dauerbrenner er- schont. Dazu wird aber meine Kollegin Ch ristel wiesen haben. Deichmann noch etwas sagen. Das sind einmal die überhöhten Telefonrechnun- Wir wissen mittlerweile, daß Lärm krank macht. gen. Davon hatten wir eine ganze Menge und konn- Wir hatten beispielsweise in diesem Jahr auf Druck ten auch in sehr vielen Fällen helfen - schade, daß des Petitionsausschusses eine Expertenanhörung des der Minister Bötsch jetzt weg ist, ich wollte ihn ge- Verkehrsausschusses zum Thema Lärm. Das war 11684 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Jutta Müller (Völklingen) eine sehr gelungene Veranstaltung. Do rt haben wir obwohl wir den Beschluß einstimmig gefaßt haben. viel über die krankmachenden Folgen von Lärm ge- Daß der ADAC mehr als 15 000 Mitglieder hat, ist mir lernt. Wir haben auch von zwei Verfassungsrechtlern klar. Deshalb reagieren Sie auch so sensibel. Ein sol- erfahren, daß sie der Auffassung sind, daß die derzei- ches Verfahren kann man sich doch in dieser Form tige Gesetzgebung im Bereich Lärmschutz und nicht bieten lasten. Die Bürgerinnen und Bürger vor Lärmsanierung verfassungswidrig ist. Eigentlich ha- Ort müssen wirklich denken, wir seien verrückt. ben sie durch die Blume den Bürgerinitiativen gera- Wenn man schon etwas beschließt, muß man dabei ten zu klagen. auch bleiben.

In diesem Zusammenhang muß ich, Herr Nolting, Dasselbe Problem, das wir mit der Post und Tele- etwas zu Wunstorf sagen. Sie hätten dieses Beispiel kommunikation haben, haben wir natürlich auch mit besser verschwiegen. Man muß, Herr Dehnel, sich der Bahn, die ebenfalls privatisiert wurde. In diesem einmal die Geschichte des Falles Wunstorf an- Bereich konnten wir aber einiges erreichen, weil sich schauen. Wir hatten eine Bürgerpetition zum Flugha- die Bahn - bis auf einen Fall; bei dem hat es ein biß- fen Wunstorf, die sich dafür eingesetzt hat, das dor- chen länger gedauert - relativ kooperativ verhält. tige Autorennen zu verbieten, weil sich die Leute Wir konnten Verbesserungen im Bereich der Toilet- hochgradig belästigt gefühlt haben. Das war 1991. tenanlagen durchsetzen. Herr Dehnel, wir haben diese Petition ewig lang Etwas länger hat es im Bereich der Behinderten- behandelt, weil wir versucht haben, mit dem ADAC freundlichkeit der Bahn gedauert. Wir mußten eine einen Kompromiß zu finden, der die Bürger schont, Petition, in der es darum ging, wenigstens in den Zü- aber gleichzeitig die Durchführung des Rennens er- gen der neuen Generation eine fahrzeuggebundene möglicht. Nachdem sich dieser Verein überhaupt Einstiegshilfe einzubauen, hin und her wälzen. Es nicht bewegt hat, waren auch alle Kollegen aus Ihren bedurfte extra eines Ortstermines, bis die Bahn bereit Reihen so stinkig, daß wir dort nichts mehr stattfin- war, uns zuzugestehen: Wir haben jetzt gesehen, daß den lassen wollten. Wir haben dann beschlossen, den es so nicht funktioniert, und wir sind jetzt bereit, in Verteidigungsminister aufzufordern, diesen Platz den neuen Zügen auch Einstiegshilfen für Behin- nicht mehr zur Verfügung zu stellen - wunderbar. derte einzubauen. Ich denke, auch dies ist ein Erfolg Nur, die Leute dort müssen uns ja für völlig ver- des Petitionsausschusses. rückt halten, wenn ein Jahr später eine genau gegen- sätzliche Petition angenommen wird: Deshalb habe (Beifall des Abg. Wolfgang Dehnel [CDU/ ich Sie aufgefordert, den Petenten zu nennen. Der CSU]) Petent war nämlich der ADAC. Die CDU/CSU-Frak- tion geht offensichtlich sofort in die Knie, wenn der Weil wir in einer so intimen Runde sind und auch Petent ADAC heißt. Es wurde dann argumentiert, die Geschäftsführer anwesend sind, möchte ich den daß der gesamte Rennsport in Deutschland in Gefahr Geschäftsführer von der CDU, Herrn Schmidt, ganz ist, wenn das Rennen nicht stattfindet. Der ADAC tut konkret ansprechen: Wir schieben den Stau von noch ja „so viel" für den Umweltschutz; verleihen Sie ihm nicht bearbeiteten Petitionen vor uns her. Dies ist un- doch den blauen Umweltengel! erträglich für die Petenten. Ich möchte Sie bitten, zu prüfen, ob Sie Ihre Blockadehaltung gegenüber einer Der Flugplatz liegt in einem Landschaftsschutzge- öffentlichen Ausschußsitzung nicht aufgeben kön- biet. Nach meiner Auffassung haben do rt Autoren- nen. nen nichts zu suchen. Man sollte sich die Wirkung (Beifall bei der SPD) solcher Beschlüsse - im Jahre 1994 entscheidet man so und im Jahre 1995 entscheidet man völlig konträr, Wenn Sie uns im Plenum nicht haben wollen, akzep- obwohl sich die Situation nicht geändert hat - einmal tiere ich dies; es gibt vielleicht wichtigere Themen. vor Augen führen. Aber dann lassen Sie uns doch wenigstens in einer öffentlichen Ausschußsitzung die Petitionen beraten. Frau Kollegin Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich möchte ganz zum Schluß, Herr Präsident, noch Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- ein Beispiel anführen, wie peinlich es werden kann, gen Dehnel? wenn eine Petition zu lange liegen bleibt. Die Sam- melübersicht beinhaltet eine Petition, die wir an das Jutta Müller (Völklingen) (SPD): Bitte. Auswärtige Amt überwiesen haben. Wissen Sie, was der Petent forde rt? - .Er forde rt die Bundesregierung Wolfgang Dehnel (CDU/CSU): Frau Müller, sind auf, sich dafür einzusetzen, daß der Schriftsteller Ken Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es sich um Saro-Wiwa in Nigeria freigelassen wird. Wissen Sie, Petitionen von 15 000 Bürgern gehandelt hat, die das wie lange der Mann schon tot ist? Rennen wollten, und daß es ein Bürgermeister der SPD mit seiner gesamten Stadtratsfraktion war, der (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das Rennen ebenfalls wollte? NEN]: Ein Jahr!) Das ist doch peinlich. Man könnte ja die Petition Jutta Müller (Völklingen) (SPD): Natürlich bin ich überweisen und sagen: Generell geht es um Nige ria; bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Herr Dehnel, die Verhältnisse dort sind nicht so gut; daher bitten aber darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, wir die Bundesregierung, sich darum zu kümmern. daß einfach keine Kompromißlinie zu erreichen war, Aber das Petitum war ein anderes. Die A rt und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11685

Jutta Müller (Völklingen) Weise, wie die Sache jetzt gelaufen ist, finde ich au- Dies hängt nach meiner Erfahrung nach einjähri- ßergewöhnlich peinlich. ger Mitarbeit in diesem Ausschuß damit zusammen, daß viele Menschen schlechterdings Unmögliches (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Heide von unserem Rechts- und Sozialstaat fordern. Das marie Lüth [PDS]) Zerrbild vom Abgeordneten, der alles richten und re- geln kann, ist in vielen Köpfen verfestigt. Verehrte Die Ursache für diesen Mißstand liegt da rin, daß Frau Ausschußvorsitzende Nickels, wir sollten a lles die Dinge hin und her geschoben werden und man tun, um zu erreichen, daß sich dieses Bild nicht wei- sie nicht für so wichtig hält. Das ärgert mich unge- ter verfestigt. - mein. Mit unseren eigenen Geschäftsführern haben wir ebenfalls ständig Krach. Ihnen mußte ich dies Ein weiterer Grund für Vorgänge, die in die Leere auch einmal sagen, Herr Schmidt. Überlegen Sie sich gehen, ist deren Charakter als versuchte Ersatzpoli- wirklich, ob wir nicht zu einem anderen Verfahren tik nach subjektiv als schlecht oder unbequem emp- kommen können, damit solche Peinlichkeiten nicht fundenen politischen Entscheidungen. Im Zusam- mehr passieren. menhang mit dem Asylrecht beispielsweise beriet der Ausschuß während des letzten Jahres mehr als Auch ich möchte mich zum Schluß ganz herzlich be- ein Dutzend Einzelfälle, durch die qua Petition ver- danken: bei den Mitarbeitern des Sekreta riats und bei sucht werden sollte, die derzeitigen rechtlichen Re- den Kolleginnen und Kollegen, mit denen trotz man- gelungen umzubiegen oder auszuhebeln. cher Auseinandersetzung ein Zusammenraufen über die Fraktionsgrenzen hinweg im Interesse der Peten- Angesichts der skurrilen Argumentation von ten möglich war. Ich hoffe, daß wir weiterhin in einer Bündnisgrünen, PDS und auch Vertretern der SPD guten Atmosphäre zusammenarbeiten können. hätte ich mir für solche Beratungen wirklich sehr viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit gewünscht. (Beifall) Der Versuch, das international vorbildliche deut- sche Asylrecht über den Petitionsweg fortlaufend zu konterkarieren, wäre dann jedermann deutlich Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der geworden. Die pauschale Rede von den Politike rn, Kollege Klaus Dieter Reichardt, CDU/CSU. die das Problem nicht in den Griff bekommen, wäre dann der notwendigen parteipolitischen Differenzie- rung gewichen. Klaus Dieter Reichardt (Mannheim) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Frau Kollegin Dietert-Scheuer beispielsweise hat Herren! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die heu- sich im Ausschuß in der Vergangenheit immer wie- tige Debatte soll unseren Blick für Grundsätzliches der als Anwältin gegen die deutsche asylrechtliche schärfen. Wir bearbeiten im Ausschußdienst des Peti- Praxis profiliert und den ausgezeichneten Vorarbei- tionsausschusses wie im Ausschuß selbst eine Viel- ten unseres Ausschußdienstes bei solchen Fragen zahl menschlich anrührender Bitten. Außerdem ken- wenig Vertrauen geschenkt. nen wir alle die vielen Versuche der Rechtsfortbil- dung zum subjektiven Vorteil. Manchmal und sehr Bei Frau Nickels - ich habe Ihre Pressemitteilung oft artikulieren Petitionen sogar schlicht und einfach zur heutigen Debatte gerade gelesen - drängt sich Unverständliches oder Sinnloses. Insgesamt ist un- mir ohnehin die Frage nach der parteipolitisch zu sere Arbeit ein unverzichtbarer Teil des Zusammen- wahrenden Unabhängigkeit des Amtes der Vorsit- wirkens der Menschen in Deutschland mit ihrem Par- zenden auf. lament. (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gestatten Sie einem jüngeren Kollegen einige kriti- NEN]: Ich habe keine Pressemitteilung abgegeben!) sche Beobachtungen. Im Jahre 1995 verzeichnete der Deutsche Bundestag fast 21 300 Petitionseingaben. - Sie können sie nachher von mir bekommen. Ich Gegenüber 1994 war dies eine Steigerung um etwa habe sie gut gelesen. 9 Prozent. Damit wurde die Rekordmarke des Jahres 1992 fast wieder erreicht. Etwa ein Drittel aller Petitio- (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen kommt aus den neuen Bundesländern. Für das lau- NEN]: Eine Pressemitteilung gibt man sel- fende Jahr wurden im Zeitraum zwischen dem 1. Ja- ber ab! Ich habe keine abgegeben!) nuar und dem 30. September 1996 13 901 Neuein- gänge erfaßt. Bis Jahresende rechne ich demnach mit - Hier steht: etwa 18 000 bis 19 000 Neueingängen. Dies wäre ein erneuter Rückgang auf den Stand von 1994. Nachdrücklich forderte die Grünen-Parlamenta- rierin die Bundesregierung auf, die Beschlüsse Für jeden einzelnen Kollegen oder jede einzelne des Ausschusses „ernster zu nehmen". Kollegin bearbeitet der Ausschuß pro Jahr im Schnitt mehr als 30 Fälle. Wir bewegen uns aber auch 1996 Stand: dpa 13.21 Uhr. auf einem hohen Niveau neuer Eingaben. Nur ein geringer Teil dieser Petitionen kann, bei Licht be- (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- trachtet, tatsächlich zum Ziel kommen und das Erbe- NEN]: Da wurde meine Debatte kommen- tene erreichen. tiert! Das ging außerordentlich schnell!) 11686 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Klaus-Dieter Reichardt (Mannheim) - Das ist außerordentlich schnell von Ihnen. Das muß Klaus Dieter Reichardt (Mannheim) (CDU/CSU): aber noch schneller do rt gewesen sein; denn so Bei acht Minuten Redezeit ist das leider nicht mög- schnell hätte man das gar nicht zu Papier bringen lich. Das können wir nachher besprechen. können. (Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Wird nicht Zu bemängeln sind zum Beispiel auch die von Ih- angerechnet! - Günther F riedrich Nolting nen dargestellten, aber nicht mit dem Ausschuß ab- [F.D.P.]: Die Zeit wird nicht angerechnet!) gesprochenen Überlegungen zu einer großen Reform - Wird das nicht angerechnet? in der Ausschußarbeit. Das waren ganz große Ent- würfe. In der Wirklichkeit ist die Politik aber oft in den kleineren Würfen we rtvoll. Man sollte meines Er- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Nein, nein. achtens im Ausschuß noch einmal auf dieses Thema zu sprechen kommen. Klaus Dieter Reichardt (Mannheim) (CDU/CSU): Ich würde mir wünschen und erwarten, daß man Dann, bitte sehr. im Ausschußvorsitz das Thema der weitestgehenden möglichen Objektivität etwas ernster nimmt, sauber Jutta Müller (Völklingen) (SPD): Herr Kollege, ich analysiert und das eigene Verhalten kritisch über- wollte Ihnen nur eine ganz kurze Frage stellen: Sind prüft. Sie der Meinung, daß Sie demokratische Prozesse richtig verstanden haben, wenn Sie hier anmahnen, (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Nein, daß Debattenredner ihre Beiträge vorher mit Ihnen das ist nicht okay!) absprechen müssen?

(Mannheim) (CDU/CSU): Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Klaus Dieter Reichardt Reichardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol- Ich habe das nicht angemahnt. legin Seuster? (Jutta Müller [Völklingen] [SPD]: Das habe ich so verstanden! Sie sagten: Das war mit dem Ausschuß nicht abgesprochen!) Klaus Dieter Reichardt (Mannheim) (CDU/CSU): Ja, bitte, Frau Kollegin Seuster. Ich will noch einmal sagen: Was ich als möglicher- weise scharfe Analyse zum Ausdruck gebracht habe, habe ich von vornherein als persönliche Meinung ge- kennzeichnet. Ich glaube, das sollte man sich gegen- (SPD): Herr Kollege, könnten Sie sich Lisa Seuster seitig zugestehen. vielleicht vorstellen, daß es ein ganz normaler Vor- gang ist, daß, wenn wir um 12.45 Uhr mit der De- Ich möchte auf eine Petition aus dem Verteidi- batte begonnen haben, um 13.10 Uhr eine solche Er- gungsbereich konkret zu sprechen kommen, eine Pe- klärung von dpa über die Medien geht? Daß selbst tition, die meine Region betrifft. der Petitionsausschuß von den Medien beachtet wird, ist doch eigentlich gar nicht so schlimm. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Reichardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol- legin Nickels? Klaus Dieter Reichardt (Mannheim) (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich finde diese Beachtung ausgezeich- net. Ich gehe aber davon aus, daß ich die Produkti- Klaus Dieter Reichardt (Mannheim) (CDU/CSU): onszeiten von Pressemitteilungen in etwa einschät- Bitte sehr, liebe Kollegin. zen kann. - Sie sollten das untereinander klären. Ich will das Thema nicht vertiefen. Es stehen hier zwei (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber Aussagen gegeneinander. Wir lassen das auf sich be- dann muß langsam Schluß sein!) ruhen. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Herr Kollege Nolting, ich habe den Zwi- Christa Nickels Herr Kollege Reichardt, ich möchte Sie fragen, ob schenruf vorhin aufgenommen. Ich wollte keine un- es unter Umständen möglich ist, daß von Ihrer Ar- nötige Schärfe in die Debatte bringen, beitsgruppe Beschlußprotokolle des Obleutege- sprächs nicht gelesen werden. Denn ich kann Ihnen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Schon versichern, daß ich mich außerordentlich bemühe, Ihre Anwesenheit ist eine gewisse Schärfe!) gerecht und unpa rteiisch den Ausschuß zu leiten und jedwede Information und jedwede Planung, aber doch einen Eindruck, den ich von vornherein - - auch das, was in anderen Ausschüssen normaler- weise nicht den Obleuten vorgelegt wird, vorzule- gen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Trotzdem muß ich Sie fragen, Herr Kollege Reichardt, ob Sie eine Ich habe selber öfter erlebt - sind Sie bereit, das weitere Zwischenfrage beantworten, und zwar von zur Kenntnis zu nehmen? -, daß im Obleutegespräch der Kollegin Müller. Sachen abgefragt und mir Vorwürfe gemacht wur- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11687

Christa Nickels den, wodurch man feststellen konnte, daß Sie das Der Petent hat zwar während des erfolgreich und Protokoll von zwei Wochen vorher nicht zur Kenntnis engagiert geleisteten Wehrdienstes versucht, diesen genommen oder vergessen haben. sogleich zu verweigern. Aber dies wurde abgelehnt, zumal er die Gründe für seine Verweigerung wohl selber nicht zu glauben vermochte und nicht glaub- Frau Kollegin Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: - - würdig darstellen konnte. Insgesamt sehe ich in diesem Fall ein Musterbei- Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielleicht haben Sie in Ihrer eigenen Gruppe Mißver- spiel dafür, wie einzelne Personen versuchen, durch - ständnisse zu klären. Nehmen Sie das bitte zur Ziehen aller verfügbaren Register persönliche Vor- Kenntnis. teile zu ziehen, was man möglicherweise verstehen kann. Ich glaube aber, daß es uns für unsere Arbeit (Reiner Krziskewitz [CDU/CSU]: Was ist das im Petitionsausschuß wichtig sein sollte, daß wir uns jetzt?) künftig noch etwas stärker von dem Verständnis für einfache Menschen lenken lassen, die weniger be- redt und weniger kasuistisch ihre Überlegungen, An- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich muß das an- liegen und Beschwernisse vorbringen, anstatt soge- mahnen. Es gibt nun einmal Zwischenfragen und nannten Superhirnen eine Art Schutzprivileg zuzu- Kurzinterventionen. Diese Mischform mag ich nicht gestehen. so gerne, weil sie die Sache schwierig macht. (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Im ersten Teil war das eine Frage. Die Beantwor- NEN]: Ich bin im falschen Film! Wie soll tung, bitte. man das noch verstehen?) Ich sehe in der aufgezeigten Richtung - Rückgang (Mannheim) (CDU/CSU): Klaus Dieter Reichardt der Zahl der Petitionen - im übrigen einen Beweis Herr Präsident, vielen Dank für die Klarstellung. dafür, wie gut wir im Alltag mit der deutschen Ein- Ich wollte keine unnötige Schärfe in die späte De- heit vorankommen. Diese Einheit können weder ein batte bringen. Ich will Ihnen sehr deutlich sagen, daß Herr Gysi noch ein Herr Stolpe, noch ein Herr Lafon- ich meine Unterlagen aufmerksam lese und daß Sie taine ernsthaft zum Stoppen bringen. wegen meiner Anmerkungen nicht in einen Zwang Wie wir an den Petitonen sehen, gibt es eine zu- zur öffentlichen Rechtfertigung kommen sollten. nehmende Akzeptanz für ein neues gemeinsames Vielmehr sollte man noch einmal überlegen, ob man Rechtssystem in den neuen Bundesländern. Die das Vorgehen zum wechselseitigen Nutzen und Menschen verstehen das Recht wesentlich besser; Frommen im Einverständnis optimieren kann. Ich man geht verstärkt aufeinander zu. Präzise diese Lei- darf aber doch Eindrücke aus den Sitzungen wieder- stungen der Menschen in Deutschland und der Bun- geben, wie ich sie von meinen Kollegen aus den Rei- desregierung, des Bundeskanzlers, spiegeln sich in hen der CDU/CSU immer wieder erfahre. Das ist jeder Sitzung des Petitionsausschusses eindrucksvoll mein Anliegen. wider. (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Insofern gilt zum Abschluß mein Dank allen Kolle- NEN]: Gucken sie einmal in Ihr Obleutege ginnen und Kollegen für die engagierte, wenn auch spräch, in Ihre eigene Arbeitsgruppe hin nicht immer spannungs- und reibungsfreie Arbeit; ein! Das rate ich Ihnen!) die Atmosphäre war aber stets freundschaftlich. Ei- Ich will einen konkreten Fall herausgreifen, da mir nen speziellen Dank möchte ich den Menschen in noch drei Minuten Redezeit verblieben sind. Zu ei- den neuen Bundesländern aussprechen, die sich in nem fast bundesweit traktierten Petitionsfall titelte den Petitionen als Deutsche in Deutschland, im ge- die „Rhein-Neckar-Zeitung" am 14. Januar 1995: meinsamen Vaterland, einbringen. „Superhirn scheitert an Einberufung" . Hier sollte der Herzlichen Dank. Eindruck erweckt werden, daß durch grundgesetz- lich vorgegebenen Dienst in der Bundeswehr insbe- (Beifall bei der CDU/CSU) sondere für Hochbegabte das Scheitern bereits vor- programmiert sei. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Meine Damen und Herren, ich bin diesem Fall Kollegin Amke Dietert-Scheuer, Bündnis 90/Die Grü- nachgegangen und darf Sie trösten und beruhigen. nen. Der Petent hat seinen Wehrdienst mittlerweile mit außergewöhnlichem Erfolg und hoch anerkannten Amke Dietert-Scheuer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dienstlichen Leistungen beendet. Heimatnahe Ver- NEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- wendung gab ihm die Möglichkeit, seine wissen- gen! Der Petitionsausschuß ist ein Seismograph für schaftliche Arbeit fortzusetzen. Das Forschungspro- die Stimmung der Bevölkerung. Dieser zeigt im Jah- jekt, für das er unersetzlich schien, ging mit Erfolg resbericht 1995 heftige Erschütterungen. Die Stim- weiter. In Bundeswehr und Wissenschaft hat der Pe- mung bei den Bürgerinnen und Bürgern ist schlecht, tent einen hohen persönlichen Einsatz erbracht. Sol- weil die Politik der Bundesregierung schlecht ist. chen Einsatz erwarten wir zu Recht von jedem, der eine gesellschaftliche Führungsposition einnimmt (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der oder anstrebt. PDS) 11688 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Amke Dietert-Scheuer Natürlich bin auch ich froh darüber, daß die Men- zur Krankenversicherung unlösbar an den Status des schen in so großer Zahl unserem Ausschuß ihr Ver- Ehemannes. Die betroffenen Frauen erhalten zum trauen schenken. Aber dies findet seine Ursache großen Teil nur sogenannte Kleinrenten, da sie we- doch vor allem darin, daß sie große Probleme haben, gen der Kindererziehung oft auf eine durchgehende nicht darin, daß sie so gerne mit dem Bundestag sozialversicherungspflichtige Tätigkeit verzichten kommunizieren. mußten. Sie bleiben aber von der kostengünstigen Krankenversicherung der Rentner ausgeschlossen, (Beifall des Abg. Klaus-Jürgen Warnick wenn der Mann nicht pflichtversichertes, sondern [PDS]) freiwilliges Mitglied einer Krankenkasse ist. Der Peti- tionsausschuß hat dazu richtig bemerkt, daß die ak- Ein Großteil der Eingaben befaßt sich nach wie vor tuelle Gesetzesregelung für die Versicherten nicht mit Petenten, die sich im Netz von Verordnungen, mehr nachvollziehbar ist. Aus dem Gesundheitsmi- Paragraphen und Gesetzen verfangen und dadurch nisterium aber bekommt der Petitionsausschuß die individuelle Ungerechtigkeiten erfahren haben. Auf- lapidare Antwort: fallend ist aber, daß es zunehmend nicht tragische Einzelfälle sind, sondern ganze Bevölkerungsgrup- Die Gesundheitspolitiker der Koalition haben pen, die Opfer einer systematisch falschen Politik sich bei der Beratung für die dritte Stufe der Ge- sind. sundheitsreform eingehend mit dieser Problema- tik befaßt. Sie haben eine Rechtsänderung jedoch Seit 1994 ist die Zahl der Petitionen aus dem Be- nicht für erforderlich gehalten. reich des Arbeits- und Sozialministeriums um zwei Drittel gestiegen. Hier müßten bei der Bundesregie- Auch 1995 kamen aus den ostdeutschen Bundes- rung alle Alarmglocken klingeln, wenn sie den Peti- ländern, wie schon mehrfach gesagt wurde, pro Kopf tionsausschuß wirklich ernst nimmt. der Bevölkerung doppelt so viele Petitionen wie aus den alten Bundesländern. Wenn dies auch zu Anfang Noch haben wir es mit einem sozialen Massenpro- noch mit den Schwierigkeiten der Umstellungspro- test zu tun, der sich friedlich und mit Vertrauen in die zesse zu erklären war, so stellt die fortdauernd hohe Problemlösungskompetenz des Bundestages äußert. Anzahl der Politik der Bundesregierung in den Aber der Ton und die Sprache der Eingaben wird neuen Bundesländern jedoch heute ein eindeutiges schärfer. Ich fürchte, daß angesichts dieser Zahlen Armutszeugnis aus. Denn die in diesen Petitionen nicht nur die Leistungsfähigkeit des Petitionsaus- angesprochenen Probleme sind nicht neu, aber die schusses an seine Grenzen stößt, sondern auch die Bundesregierung ist nicht in der Lage, sie zu lösen, Geduld der Bürgerinnen und Bürger langsam, aber im Gegenteil verschärft sie noch die Situation, wie sicher überstrapaziert wird. beispielsweise durch die Streichung der AB-Maß- nahmen, zu der wir auch zahlreiche Eingaben vorlie- Ein Schwerpunkt waren die Pflegeversicherung gen haben. und die Auswirkungen der Gesundheitsreform. Ins- besondere Behinderte und Behindertenverbände Erfreulich ist, daß das Petitionsrecht 1995 zuneh- wehren sich mit zahlreichen Eingaben gegen die un- mend als aktive Beteiligung von Bürgern und Bürge- gerechten Auswirkungen der Pflegeversicherung rinnen begriffen wurde. Das schlug sich in Form von und des Gesundheitsreformgesetzes. Massenpetitionen zu diversen Themenbereichen, wie zum Beispiel zum Bau des nieder. Erfreulicherweise machte sich der Petitionsaus- Eurofighters, Die diesbezüglichen Petitionen wurden von der schuß die berechtigte Forderung von Schwerstbehin- Mehrheit des Auschusses abgewiesen. derten zueigen, daß pflegebedürftige Personen auch nach dem Inkrafttreten des Pflegeversicherungsge- Bemerkenswert ist auch die große Zahl von Unter- setzes ihre Pflege nach dem sogenannten Arbeitge- schriftenaktionen, in denen sich Bürger und Bürge- bermodell selbstbestimmt organisieren können. rinnen für Flüchtlinge einsetzen. Im Gegensatz zu Dieses Votum hat aber den Betroffenen bisher dem großen Engagement in anderen Einzelfällen be- noch nicht geholfen. Ich zitiere aus dem Jahresbe- steht in Asylfällen bei der Mehrheit des Ausschusses richt: keinerlei Bereitschaft, sich auf die Probleme einzu- lassen. Es ist schon frappierend, mit welcher Gleich- Trotz Hinweis auf die Eilbedürftigkeit und die gültigkeit Fälle akuter Lebensbedrohung mit dem Gefahr drohender Nachteile für die betroffenen Argument weggewischt werden, es sei alles rechtmä- Behinderten ist dem Ausschuß die Antwort der ßig gelaufen. Von Herrn Reichardt haben wir ja ge- Bundesregierung über die Umsetzung der Forde- rade wieder eine Kostprobe erhalten. Es liegt das rung nach Fortführung des Arbeitgebermodells Mißverständnis vor, daß es uns bei der Behandlung noch nicht zugegangen. dieser Fälle um eine Rechtsänderung gehe. Die wol- len wir zwar politisch, aber im Petitionsverfahren Auf Diskriminierungen in der Krankenversiche- geht es darum, Einzelverfahren daraufhin zu prüfen, rung haben uns 1995 Hunderte von Petitionen auf- ob sie fair abgelaufen sind. Genau da liegt es sehr oft merksam gemacht. Insbesondere Frauen sind von ei- im argen. ner nicht hinnehmbaren Ungleichbehandlung frei- williger Mitglieder gegenüber pflichtversicherten

Rentnern betroffen. Die jetzige Regelung des Sozial- Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Achten Sie bitte gesetzbuches kettet die Möglichkeit von Ehefrauen auf die Uhr. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11689

Amke Dietert-Scheuer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Frage allerdings, warum die Bundesregierung NEN): Der Petitionsausschuß kann nicht die Flick- sich sperrt, hier eine Änderung herbeizuführen, be- schusterei für die mißratene Politik der Bundesregie- antwortet sich nicht von selbst. Hier kann man nur rung sein. Als Anwalt der Bürgerinnen und Bürger vermuten, daß es darum gehen soll, ein bestimmtes müssen wir hartnäckig Veränderungen einfordern. Familien- und Rollenbild zu verfestigen.

Vielen Dank. (Beifall bei der SPD)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Immerhin hat Frau Staatssekretärin Dempwolf am bei der SPD und der PDS) 20. September 1995 vor dem Petitionsausschuß bei ihrer Anhörung versprochen, binnen Jahresfrist ei- nen Bericht vorzulegen. In diesem Be richt sollten Lö- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die sungsansätze aus Sicht des Ministeriums dargestellt Kollegin Hildegard Wester, SPD. werden. Das Jahr ist vorbei. Frau Dempwolf, ich nutze diese Gelegenheit, Sie an diesen Be richt zu er- Hildegard Wester (SPD): Herr Präsident! Meine innern. Damen und Herren! Die zahlreichen Menschen, die (Parl. Staatssekretärin : sich im Bereich des Familien- und Sozialrechts an Der Brief ist unterwegs!) den Petitionsausschuß wenden, haben in der Regel eines gemeinsam: Sie verstehen nicht, wieso es für Es wäre sehr schön, wenn wir darüber demnächst ihr spezielles Problem keine Lösung gibt, weil ihr diskutieren könnten. Fall nicht geregelt ist, es eine Stichtags- oder Über- gangsregelung gibt oder bestimmte Fallkonstellatio- (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen vom Gesetzgeber entweder aus Kostengründen NEN]: Sie sagte schon, daß er unterwegs oder aus sachlichen oder politischen Gründen nicht ist!) geregelt worden sind. Oder es werden ebenfalls aus diesen Gründen zum Beispiel Einkommensgrenzen - Wunderbar. nicht erhöht, und die Leistung wird damit abgewer- tet. Die betroffenen Menschen verstehen oft die Welt Zum Erziehungsgeld liegen insgesamt 54 Peti- nicht mehr, weil sie sich zutiefst ungerecht behandelt tionen im Berichtszeitraum vor. Eine Reihe Petitio- fühlen. In vielen Fällen muß man den Petenten tat- nen, die die Frage der Berechnungsgrundlage für die sächlich auch recht geben. Leistung betrafen, konnte positiv beschieden wer- den. Ich möchte einige dieser Beispiele aus dem Bereich der Familien- und Sozialpolitik herausgreifen, wo Eine nach wie vor offene Frage und auch Gegen- meiner Meinung nach dringender Handlungsbedarf stand von mehreren Petitionen ist die Forderung besteht. nach Heraufsetzung der Einkommensgrenzen für die Gewährung von Erziehungsgeld. Es ist an die- Da ist zum Beispiel das Ehepaar, das sich nach der ser Stelle schon so oft eingefordert worden, daß ich Geburt des Kindes und nach dem Mutterschutz die es fast nicht mehr wiederholen mag. Aber steter Erziehungsaufgabe teilen möchte. Beide reduzieren Tropfen soll den Stein höhlen. Seit 1986 sind die ihre Arbeitszeit auf 24 Wochenstunden. Das Bundes- Grenzen nicht erhöht worden. Das hat dazu ge- erziehungsgeldgesetz sieht aber vor, daß der oder die führt, daß im Jahr 1996 nur noch zirka 50 Prozent Berechtigte nicht mehr als 19 Stunden pro Woche ar- aller Eltern ungekürztes Erziehungsgeld erhalten beiten darf. haben, und diese Zahl sinkt. Das hatte im letzten Haushaltsjahr eine Einsparung von rund 1 Milliarde Das Ministerium stellt sich auf den Standpunkt, DM zur Folge, im nächsten Jahr werden es weitere das Erziehungsgeld sei eine finanzielle Anerken- 400 Millionen DM sein. Dieses Geld wird den Fami- nung desjenigen oder derjenigen, der die Erzie- lien schlicht und ergreifend weggenommen. Nach- hungsarbeit übernimmt. Dabei läßt es aber völlig au- dem Ministerin Nolte seit März 1995 verschiedent- ßer acht, daß es ja in der Regel noch einen zweiten lich angekündigt hat, die Gesetzesänderung voran- Erziehungsberechtigten gibt, dessen Zuwendung zubringen, hat sie nun vor dem Ausschuß für Fami- zum Kind ebenfalls von größter Bedeutung ist. Diese lie, Senioren, Frauen und Jugend am 24. September Person kann aber - jedenfalls vom zeitlichen Rahmen die Beibehaltung begründet und verteidigt. Dieses her - uneingeschränkt erwerbstätig sein. Verhalten spricht für sich.

Das heißt: Wenn eine Erwerbstätigkeit von Zum Bereich Kindergeld erhielt der Petitionsaus- 38,5 Stunden pro Woche vorliegt und in der Regel die schuß 124 Eingaben. Ein großer Teil, der die Höhe Ehefrau die erlaubten 19,5 Stunden berufstätig ist, und Einheitlichkeit betraf, konnte durch den Kom- sind beide zusammen 57,5 Stunden aus dem Haus. In promiß im Jahressteuergesetz 1996 positiv erledigt diesem Fall wird - so die Einkommensgrenzen nicht werden. überschritten werden - Erziehungsgeld gezahlt. Ar- beiten aber beide zusammen nur 48 Stunden, erhal- Eine Härte, die bei den Betroffenen auf Unver- ten sie keine Leistung. Die Frage, welche Konstella- ständnis stößt, wurde vom Ausschuß als regelungs- tion für das Kind und für die Familie insgesamt gün- würdig erkannt und der Bundesregierung zur Erwä- stiger ist, beantwortet sich im Grunde genommen gung überwiesen. Es geht hier um die Flüchtlinge, von selbst. die bei uns aus dringenden humanitären Gründen 11690 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Hildegard Wester oder als Altfälle Aufenthalt gefunden haben. Da sie privat versicherten Personen, also auch Beamten, die lediglich über eine Aufenthaltsbefugnis verfügen, wegen der Erziehung der Kinder auf eine sozialversi- steht ihnen weder Kinder- noch Erziehungsgeld zu. cherungspflichtige Tätigkeit verzichtet haben, haben Diese Leute sind aber oft gedrängt worden, ihre Asyl- nach Scheidung keinen Zugang zur GKV. Der Aus- anträge zurückzuziehen, da sie über die Altfall- oder schuß war sich einig, daß Kindererziehung eine ge- die Regelungen nach der Genfer Flüchtlingskonven- sellschaftlich gewünschte Tätigkeit sei und dadurch tion eine Aufenthaltsbefugnis bei uns erhalten konn- nicht der Zugang zur GKV versperrt werden dürfe. Die Bundesregierung lehnt eine Regelung mit dem ten. Als anerkannte Asylbewerber hätten sie jedoch - Anspruch auf beide Leistungen gehabt, da sie dann Hinweis auf die Funktionsfähigkeit der Solidarge- im Besitz einer unbef risteten Aufenthaltserlaubnis meinschaft ab; letzten Endes sind es also Kosten- gewesen wären. Dies ist ein Vertrauensbruch, den gründe. die Bundesregierung heilen muß.

Völlig chaotisch stellt sich für viele Betroffene die Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin, Situation bei der Krankenversicherung der Rentner bitte achten Sie auf die Uhrzeit. dar. 1989 wurden mit dem Gesundheits-Reformge- setz die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der günstigen Krankenversicherung der Rentner ge- Hildegard Wester (SPD): Ich werde mich bemühen. ändert. Es sollte nur noch Pflichtmitglied werden können, wer, grob gesagt, die zweite Hälfte seines Erwerbslebens Mitglied in einer gesetzlichen Kran- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie müssen sich kenversicherung war, also unabhängig davon, ob bemühen. freiwillig oder wegen Überschreitens der Bemes- sungsgrenze oder als Pflichtmitglied. Hildegard Wester (SPD): Und dies, obwohl es etwa Es gab aber auch eine Übergangsregelung bis im Rentenrecht durchaus eine Anrechnung von Kin- zum 31. Dezember 1993, nach der auch Pflichtmit- dererziehungszeiten gibt. Es ist also dringend erfor- glied werden konnte, wer wenigstens die Hälfte derlich, die verschiedenen Sozialsysteme aufeinan- seines Berufslebens pflichtversichert war. Zum der abzustimmen. 1. Januar 1993 trat jedoch das Gesundheitsstruktur- gesetz in Kraft, in dem auch die Übergangsrege- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lung wieder geändert wurde. Künftig sollten die er- forderlichen Vorversicherungszeiten nur noch durch Ich möchte abschließend noch einem Wunsch Aus- Pflichtversicherungszeiten erworben werden kön- druck verleihen: In vielen Punkten sind wir uns über nen. Eine Petentin, die nach 37 Jahren freiwilliger die Parteigrenzen hinweg einig, gerade was den zu- Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversiche- letzt genannten Punkt, die Kindererziehungszeiten, rung im Vertrauen auf die Übergangsregelung von betrifft. Ich würde mir sehr wünschen, daß sich die- 1989 in eine private Krankenversicherung gewech- ses einmütige Votum des Petitionsausschusses auch selt hatte, sah nun, als sie im Oktober 1993 als bei den einzelnen Kollegen der Fraktionen im Rah- Rentnerin in die GKV zurückkehren wollte, daß ihr men der Beratungen der Fachausschüsse wiederfin- die Mitgliedschaft verweigert wurde, und zwar so- det. wohl als Pflicht- wie auch als freiwilliges Mitglied. Vielen Dank. Das Vertrauen der Petentin in die gesetzlichen Re- gelungen wurde enttäuscht. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Besonders tragisch wirkt sich die Nichtaufnahme GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) als Pflichtversicherte in die GKV für Hinterbliebene aus. Auch diese haben, selbst bei einer niedrigen Rente als ehemals Familienmitversicherte, keinen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Anspruch auf eine Pflichtmitgliedschaft. Das bedeu- Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU. tet, daß selbst bei einer Rente um 1 000 DM ein Min- destbeitrag von 155 DM pro Monat gezahlt werden muß. Der Ausschuß war sich hinsichtlich des Rege- Matthäus Strebl (CDU/CSU): Herr Präsident! lungsbedarfs einig. Die Antwort der Bundesregie- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem rung steht aus. Allerdings sind Sozialgerichtsverfah- die Vorsitzende des Petitionsausschusses des Bun- ren anhängig, und diese Fälle liegen auch dem Bun- destages, Frau Nickels, gesagt hat, daß der Petitions- desverfassungsgericht vor. Das muß man hinzufü- ausschuß in Bayern öffentlich tage und daß das gut gen. sei, muß ich sagen, daß der Fortschritt bayerisch (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ spricht. NEN]: Weil es die Regierung nicht geregelt (Heiterkeit - Christa Nickels [BÜNDNIS 90/ hat!) DIE GRÜNEN]: Im Petitionsrecht auf jeden - Weil es von uns als Gesetzgeber nicht geregelt wor- Fall, vorbildlich!) den ist. Ich kenne die Problematik von öffentlichen und Ebenfalls steht noch eine Regelung für eine wei- nichtöffentlichen Sitzungen, we rte Kollegin, auch tere Ungereimtheit aus. Ehefrauen von freiwillig oder aus 20jähriger Tätigkeit in der Kommunalpolitik. Ich Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11691 Matthäus Strebl weiß sehr wohl, daß in öffentlichen Sitzungen auf wurde, bezog er zunächst Arbeitslosengeld. Die im Grund der Anwesenheit der Presse manches zerre- Anschluß daran beantragte Arbeitslosenhilfe wurde det wird. Ich glaube, ich spreche auch im Namen ihm auf Grund seines Vermögens aber nicht ge- meiner Fraktion, wenn ich sage, daß Petitionen wei- währt. Weil er von diesem Vermögen länger als ein terhin in nichtöffentlicher Sitzung behandelt wer- Jahr seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, ver- den sollten. fiel sein Anspruch auf Arbeitslosenhilfe.

(Zuruf von der SPD: Warum haben Sie denn Im Ausschuß waren wir uns aber einig darüber: soviel Angst vor der Öffentlichkeit?) Niemand soll benachteiligt werden, weil er sparsam Der größte Teil der Petitionen mit rund 5 700 Ein- ist und seinen Lebensunterhalt auch in Notfällen erst gaben fällt in den Bereich des Bundesministeriums einmal selbst bestreiten kann. Auf Empfehlung des für Arbeit und Sozialordnung. Gegenüber dem Jahr Petitionsausschusses legte die Bundesregierung einen 1994 ist dies eine Steigerung von rund 41 Prozent. Gesetzentwurf vor. Der Deutsche Bundestag be- Während die Eingaben zum Bereich der Arbeitsver- schloß am 9. Februar 1996 eine Ergänzung des ent- waltung im Vergleich zum Vorjahr zurückgingen, sprechenden Paragraphen des AFG. Damit wird der stiegen sie im Bereich Sozialordnung sp runghaft, Anspruch auf Arbeitslosenhilfe von einem Jahr auf nämlich um rund 65 Prozent, an. höchstens zwei Jahre verlängert.

Ein Großteil der Petitionen betraf - wie bereits in Im Geschäftsbereich des BMG stiegen die Einga- den Vorjahren - den Bereich der gesetzlichen Ren- ben gegenüber 1994 beträchtlich. Sie betrafen im tenversicherung. überwiegenden Teil Fragen der Mitgliedschaft in Ein dringendes Anliegen, vor allen Dingen vieler der gesetzlichen Krankenversicherung oder Forde- Petenten aus meiner bayerischen Heimat, war die rungen nach Leistungen aus der gesetzlichen Kran- kenversicherung. In einem Fall wurde die Rechtsun- Beitragspflicht der Ehegatten von Nebenerwerbs- sicherheit in A . 56 der Überleitungsvorschriften des landwirten zur Alterssicherung der Landwirte. So rt wandten sich allein aus Bayern über 60 Ehegatten Gesundheitsstrukturgesetzes von 1993 sichtbar, der von Nebenerwerbslandwirten an den Ausschuß. Für nicht unbedingt dem Gedanken des Gesundheits- sie war der Beitrag von damals 291 DM pro Monat Reformgesetzes von 1989 entsprach. zur Alterssicherung angesichts der schwierigen Lage in der Landwirtschaft zu hoch. So gab es eine Petentin, die 37 Jahre überwiegend freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Alle Parteien hatten das Agrarsozialreformgesetz versichert war. Im Jahre 1989 wechselte sie in die p ri 1995 unterstützt, weil dadurch die Bäuerinnen eine -vate Krankenversicherung über, im guten Glauben, eigenständige Sicherung erhalten sollten; denn dies als Rentnerin wieder Mitglied in der gesetzlichen war trotz erheblicher Mitarbeit im Familienbetrieb Krankenversicherung werden zu können. - Dies sah bis dahin nicht der Fall. Bei einigen Nebenerwerbs- das Gesundheits-Reformgesetz von 1989 vor. - Der landwirten und ihren Ehegatten führte dies aber zu Petentin wurde dies verweigert, weil nach dem Ge- nicht vertretbaren Härten. Deshalb empfahl der Aus- sundheitsstrukturgesetz von 1993 eine erneute Mit- schuß, die Petition an das BMA mit der Frage zu gliedschaft in der GKV nicht möglich sei. überweisen, ob es nicht Abhilfe schaffen könne. Nach ausführlicher Diskussion im Petitionsaus- Gleichzeitig aber war Eile geboten. Das Gesetz er- schuß gelangten wir diesbezüglich zu der Auffas- laubte den Ehegatten nur bis zum 31. Dezember sung, daß dies eigentlich nicht die Absicht des Ge- 1995, eine Lebensversicherung als andere Möglich- setzgebers war. Derjenige, der seit dem 1. Januar keit der Alterssicherung abzuschließen. Die Petition 1993 nicht mehr Pflichtmitglied in der Krankenversi- wurde auch den Fraktionen des Deutschen Bundes- cherung der Rentner werden kann, sollte von einer tages zur Kenntnis gegeben. Daraufhin beschloß die- freiwilligen Mitgliedschaft in der GKV nicht ausge- ser am 23. November 1995 das Gesetz zur Reform der schlossen werden. Meine sehr verehrten Damen und agrarsozialen Sicherung. So haben diese Bäuerinnen Herren, in diesem Falle kam es nur deshalb noch jetzt unter bestimmten Voraussetzungen das Recht, nicht zu einer Gesetzesänderung, weil dem Bundes- sich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen. sozialgericht mehrere solcher Fälle zur Entscheidung Im Bereich der Arbeitsverwaltung betraf die über- vorliegen. Sicher ist aber: Wenn eine Entscheidung wiegende Zahl der Eingaben die Berechnung von des BSG keine Abhilfe für die Betroffenen bringt, Lohnersatzleistungen nach dem Arbeitsförderungs- will das BMG eine klarstellende Gesetzesänderung gesetz und des Kindergeldes, aber auch Beschwer- vorschlagen. den über die Art und Weise der Bearbeitung durch die Arbeitsämter. Ich denke, ich darf zum Abschluß sagen, daß der Petitionsausschuß im Jahr 1995 eine gute Arbeit ge- Ein Beispiel: Einen Fall hat der Petitionsausschuß leistet hat, und möchte auch von dieser Stelle den zum Anlaß genommen, § 135 Abs. 1 Nr. 2 des AFG vielen unermüdlichen Mitarbeiterinnen und Mitar- zu ergänzen. Es hatte sich nämlich ein Petent be- beitern des Ausschusses den Dank des Hauses sa- schwert, daß der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe er- gen. lischt, wenn ein Jahr nach dem Bezug des Arbeitslo- sengeldes vergangen ist. Der Petent war zeit seines Vielen Dank. Lebens sehr sparsam gewesen und hatte sich für den Notfall Rücklagen geschaffen. Als er arbeitslos (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 11692 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die letzte Möglichkeit für die bedrängten Menschen ist, Kollegin Christel Deichmann, SPD. um sich Gehör zu verschaffen, ist nur allzu verständ- lich.

Christel Deichmann (SPD): Herr Präsident! Meine Zum Thema Tiefflug - das wurde bereits angespro- sehr verehrten Damen und Herren! Seit einem Jahr chen - kamen 1995 zahlreiche Sammelpetitionen bei bin ich nun Mitglied im Petitionsausschuß. Ich muß uns an, mit rund 47 000 Unterschriften. Wenn dies im schon sagen: Es ist oft sehr erschütternd, was da an Bericht unter Punkt 2.12 mit folgender Bemerkung Einzelschicksalen vorgetragen wird. kommentiert wird: „Die Ursachen für die deutliche- Zunahme der Beschwerden über militärische Tief- Erfreulich ist es, wenn den Anliegen der Bürger flüge sind schwer feststellbar", so ist diese Kommen- und Bürgerinnen durch die beharrlichen Bemühun- tierung nicht zu verstehen. gen im Ausschuß zum Erfolg verholfen werden kann. Die Petenten haben ihre Anliegen ausführlich er- Leider gibt es aber auch die vielen anderen Fälle, in läutert, und wir haben hierzu im März 1996 im Ple- denen den Petenten nicht geholfen wurde. Oftmals num eine umfangreiche Debatte geführt. Im März ist es schon erschreckend, wenn man feststellen muß, 1996 waren es übrigens dann schon 80 000 Unter- welche erfolglosen Mühen und Anstrengungen die schriften, an denen Bürgermeister, Landräte, Regie- Petenten bereits hinter sich gebracht haben, bevor rungspräsidenten usw. beteiligt waren. Zu sagen, die sie sich an den Ausschuß wenden. Ursachen seien schwer feststellbar, ist einfach am Beispielsweise wartete ein Petent fünf Jahre auf Thema vorbei. den endgültigen Bescheid bezüglich seiner Sozial- Ich weise nur darauf hin - das habe ich auch da- versicherungsangelegenheiten durch das Bundes- mals gesagt -, daß allein die laufenden Kosten für versicherungsamt Berlin. Das ist kein Einzelfall. Vor eine Tiefflugstunde mit rund 22 000 DM beziffert der Wende hätte ich gesagt: Na ja, das ist der sozia- werden. Das ergibt bei rund 14 000 Tiefflugstunden listische Gang. Jetzt bleibt nur festzustellen: Der pro Jahr eine Summe von 268 Mil lionen DM. Die Ko- marktwirtschaftliche Bürokratismus ist oft ebenfalls sten für einen Simulator werden mit 700 Millionen ein Irrgarten für den einfachen, in bürokratischen DM angegeben. Ein solches Gerät hätte sich also in- Mechanismen ungeübten Bürger. Die in den Behör- nerhalb von weniger als drei Jahren amortisiert. den und Institutionen teilweise anzutreffende Über- bürokratisierung und Unbeweglichkeit baut Hürden Wir haben über die veränderte politische Lage ge- auf, die Otto Normalverbraucher kaum zu überwin- sprochen; das Thema ist längst nicht vom Tisch. Ich den vermag. Hier sind Engagement und Flexibilität hoffe, daß es in diesem Bereich weiter Bewegung gefragt. Das kostet auch kein Geld. Dieses Problem gibt. zieht sich wie ein roter Faden durch viele Petitio- Wie erwähnt, war auch das Thema Renten häufig nen. Gegenstand der Beschwerden. Im Mittelpunkt 1995, im Jahr fünf der deutschen Einheit, stiegen stand das Renten-Überleitungsgesetz, zu dem es die Eingaben aus den neuen Bundesländern im Ver- außergewöhnlich viele Petitionen gab. Viele Be- gleich zum Vorjahreszeitraum überproportional an; schwerden gab es auch über die Arbeitsweise der die Vorredner haben das bereits ausgeführt. Diese Rentenversicherungsträger, zur Rentenberechnung Entwicklung kann zweierlei bedeuten: Zum einen usw. Die Sozialversicherungsträger würden sich nutzen sicherlich immer mehr Bürger und Bürgerin- und sicherlich auch dem Petitionsausschuß eine nen aus dem Osten die Möglichkeit, ihren Anliegen Menge Arbeit ersparen, wenn sie in ihren Stellung- innerhalb des parlamentarischen Systems Gehör zu nahmen und Bescheiden eine größere Bürgernähe verschaffen. zeigen würden, damit der Rentenempfänger den Bescheid versteht. Zum anderen möchte ich einen Zusammenhang in In diesem Zusammenhang möchte ich auch die un- Erinnerung rufen, den der Kollege Dehnel in der De- anspre- batte zu diesem Punkt letztes Jahr geäußert hat: Er zureichende Wiedergutmachungsregelung sagte, der damals zu verzeichnende Rückgang der chen. Diejenigen, die aus den ehemaligen deutschen Zahl der Petitionen aus Ostdeutschland deute darauf Gebieten östlich der Oder stammen und in die So- rt unter unvorstell- hin, daß es eine weitere Normalisierung der Verhält- wjetunion verschleppt wurden, do baren Bedingungen Arbeitsdienst leisten mußten, nisse in den neuen Bundesländern gegeben habe also ein schweres Schicksal erlitten haben, erhalten und daß die Kritik am Einigungsprozeß, besonders bis heute keine Entschädigung. Sie fallen nämlich im sozialen Bereich, zurückgegangen sei. nicht unter das 1. Unrechtsbereinigungsgesetz. Die- Wenn man diese Argumentation nun auf den Be- ses Problem darf sich nicht biologisch lösen; mög- richt 1995 überträgt, muß man folgern, daß die Kritik lichst bald muß hier eine gesetzliche Regelung ge- offensichtlich wieder stärker und die Probleme grö- schaffen werden. ßer geworden sind. Verwunderlich ist das nicht in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Anbetracht der wirtschaftlichen Situation in den DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heidemarie neuen Bundesländern, das heißt: des negativen Wi rt Lüth [PDS]) -schaftswachstums. Die miserable Situation wurde ja gestern schon während der Debatte zu diesem Es ist beschämend, wenn unsere Gesellschaft - in Thema von meinem Kollegen darge- einem solidarischen Akt - diesen Menschen nicht zu stellt. Daß dann der Petitionsausschuß oftmals die mindest ein Zeichen geben kann; von Wiedergutma- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11693

Christel Deichmann chung kann keine Rede sein. In dieses Problemfeld Beratung der Beschlußempfehlung und des gehört auch, daß der Zwangsarbeitsdienst nicht auf Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuß) die Rente angerechnet wird. zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe- Jens Rössel, Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Unerhört!) weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS Viele Petitionen kamen auch zur verfehlten Politik der Treuhand bzw. deren Nachfolgeinstitutionen. Einsetzung einer Enquete-Kommission „Re- Zur Erinnerung: Zwei Drittel der ostdeutschen Indu- form der Kommunalfinanzierung" strie sind während der Tätigkeit der Treuhandanstalt - Drucksachen 13/984, 13/5749 - in Berlin von der Bildfläche verschwunden. Das im Berichterstattung: Petitionsbericht vermittelte Bild durch Darstellung Abgeordnete Ludwig Eich ausschließlich positiv beschiedener Eingaben ent- Reiner Krziskewitz spricht nicht im entferntesten der tatsächlichen Situa- tion. Interfraktionell ist für die Aussprache eine halbe Stunde vereinbart worden, wobei die Gruppe der Betrachten wir einzelne Unternehmen, wird das PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Wi- Problem besonders deutlich. Ich möchte ein Beispiel derspruch. Dann ist so beschlossen. nennen: In Schwe rin wurde 1991 das Plast-Maschi- nenwerk an die Firma Hemscheid aus Wuppe rtal zu Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol- einem Freundschaftspreis verhökert. Immer wieder lege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS. hieß es, die Firma sollte geschlossen werden. Als dann die Fristen, die im Zusammenhang mit Kre- Dr. Uwe - Jens Rössel (PDS): Herr Präsident! Liebe diten und Landesbürgschaften gewährt wurden, ver- Kolleginnen und Kollegen! Vor gut eineinhalb Jah- strichen waren, wurde im Juli 1996 das Konkursver- ren, am 29. März 1995, hatte die PDS-Gruppe ange- fahren eröffnet. Das Haus Hemscheid wird deswegen sichts der anhaltenden Strukturkrise der Kommunal- wohl nicht untergehen, aber viele kleine Firmen, die finanzen in Deutschland einen Antrag auf Einrich- 1991 ebenfalls aus dem ursprünglichen Plast-Maschi- tung einer Enquete-Kommission „Reform der Kom- nenwerk heraus gegründet wurden, trudeln jetzt im munalfinanzierung" in den Bundestag eingebracht, Sog dieses Konkursverfahrens. Was das für die über den heute abgestimmt werden muß. betroffenen Menschen bedeutet, weiß ich; denn sie sind meine Nachbarn. Die Kommission soll die Aufgabe haben, erstens das derzeitige System der Finanzierung der Haus- Ersatzarbeitsplätze sind nicht in Sicht, in Sicht ist halte der Städte, Gemeinden und Landkreise in der aber eine Reduzierung der Arbeitsförderungsmaß- Bundesrepublik umfassend auf den Prüfstand zu stel- nahmen, der die Koalitionsabgeordneten aus Meck- len und zweitens wissenschaftlich fundierte Vor- lenburg-Vorpommern sicherlich zustimmen werden. schläge für eine solche Reform der Kommunalfinan- Genauso werden die ostdeutschen Koalitionsabge- zierung vorzulegen, durch die tatsächlich kommu- ordneten die Sorgen ignorieren, die 1995 in weiteren nale Selbstverwaltung und die Finanzautonomie der Sammelpetitionen als Protest gegen die Lohn- und Gemeinden gewährleistet werden können. Gehaltsabsenkungen für ABM-Mitarbeiter zum Aus- druck kommen. Die Kommission sollte sich aus Abgeordneten der im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen und Gruppe sowie aus Sachverständigen zusammenset-

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Ihre Zeit, Frau zen. Darüber hinaus sollte der Bundesrat ersucht Kollegin! werden, Vertreterinnen bzw. Vertreter in die Kom- mission zu entsenden. Die Mitwirkung der kommu- nalen Spitzenverbände an der Tätigkeit der Kommis- Christel Deichmann (SPD): Die wirtschaftlichen sion soll ebenfalls in geeigneter Weise sichergestellt Auswirkungen dieser Privatisierungspolitik für die werden. neuen Bundesländer sind erschreckend. CDU/CSU und F.D.P. lehnen die Einsetzung der Anzusprechen wären noch die Altschuldenproble- benannten Kommission ab; das wird auch in der Be- matik, die Situation in der Landwirtschaft usw. Es ist schlußempfehlung deutlich. Das verwundert kaum: zu befürchten, daß sich der Petitionausschuß auch Die Koalition ist unseres Erachtens nicht willens, die weiterhin mit vielen Ungereimtheiten als Folge des offensichtlich en Konstruktionsmängel im bundes- deutschen Einigungsprozesses zu befassen haben deutschen Gemeindefinanzierungssystem zur Kennt- wird. nis zu nehmen, geschweige denn grundsätzlich et- was daran zu ändern. Ich bedanke mich. Wie die gestrige Anhörung im Finanzausschuß mit (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE den kommunalen Spitzenverbänden erneut bestä- GRÜNEN und der PDS) tigte, gehen die Absichten der Koalition ausschließ- lich dahin, die vollständige Liquidation der Gewerbe- kapitalsteuer zu betreiben, ohne allerdings die seit

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Ich schließe die Monaten dazu von den kommunalen Spitzenverbän- Aussprache zu Tagesordnungspunkt 17 und rufe Ta- den formulierten Voraussetzungen gebührend zu be- gesordnungspunkt 18 auf: rücksichtigen. 11694 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Dr. Uwe-Jens Rössel Nach wie vor sind CDU/CSU sowie F.D.P. - ich Recht hat der Mann. Stimmen Sie für unseren An- meine Herrn Thiele - nicht bereit, sich endgültig und trag! Lehnen Sie die Beschlußempfehlung des Fi- öffentlich von ihrem in der Koalitionsvereinbarung nanzausschusses ab! von 1994 festgelegten Ziel der vollständigen Ab- schaffung der Gewerbesteuer - das wäre im übrigen Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. das K. o. für die Kommunalfinanzen - zu verabschie- den. Deshalb greift die Koalition nur halbherzig und (Beifall bei der PDS) unvollständig die grundlegende Forderung der kom- - munalen Spitzenverbände auf, den Bestand der Ge- werbeertragsteuer im Grundgesetz umfassend zu ga- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der rantieren. Kollege Carl-Ludwig Thiele. Die SPD-Fraktion wiederum lehnt die Einrichtung einer Enquete-Kommission zur Kommunalfinanzie- Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Sehr geehrter Herr rung ebenfalls ab. Das ist sehr paradox, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kol- Schmidt. Brachte doch das SPD-regierte Saarland legen! Die F.D.P. setzt sich für eine angestrebte Ge- meindefinanzreform noch in diesem Jahr ein. Wenn (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wo liegt das?) es nach uns geht, dann soll die Gewerbekapital- erst vor wenigen Tagen, am 27. September 1996, an steuer abgeschafft und die Gewerbeertragsteuer einem Freitag, einen Antrag mit absolut gleicher mittelstandsfreundlich gesenkt werden; denn die Zielsetzung in den Bundesrat ein, anderthalb Jahre F.D.P. will mehr Arbeitsplätze in Deutschland. Um nach unserem Antrag. Auf Grund der dortigen Mehr- mehr Arbeitsplätze zu bekommen, brauchen wir heiten sind die Chancen für seine Annahme groß. mehr Investitionen. Deshalb müssen die Rahmenbe- dingungen für Investitionen in Deutschland verbes- Weshalb also der Korb für unseren Antrag? Aus sert werden. Die Gewerbekapitalsteuer stellt ein In- fachlichen Gründen, Herr Schmidt? - Wohl kaum. vestitionshindernis erster Güte dar, da sie in anderen Aus parteipolitischen Gründen? - Das wird nicht zu- Mitbewerberländern um Investitionen nicht erhoben gegeben. Also müssen schnell Vorwände her. Einer wird. Sie belastet jeden einzelnen Arbeitsplatz in ist, daß der Antrag des Saarlandes angeblich die Ein- Deutschland mit einer Sondersteuer, die unabhängig beziehung der kommunalen Spitzenverbände nicht vom Ertrag, ja sogar auf die Schulden des Unterneh- - ich betone: nicht - vorsehe, während wir ausdrück- mens berechnet und erhoben wird. lich auf deren Mitarbeit nicht verzichten wollen. Viel zu oft schon bleiben die Kommunen bei sie betreffen- (Geit Willner [CDU/CSU]: Das kann man den Fragen außen vor oder können nur am Katzen- niemandem erklären!) tisch von Bund und Ländern teilnehmen. Das ist ein unhaltbarer Zustand! Erst gestern hatten wir im Finanzausschuß eine Er- örterung mit den kommunalen Spitzenverbänden. (Beifall bei der PDS) Das heißt, das, was die PDS forde rt, nämlich das Ge- Der zweite Vorwand der SPD-Fraktion gegen un- spräch mit den kommunalen Spitzenverbänden, fand seren Antrag ist der Begriff „Enquete", der Sie störe, längst statt, und das war nur der Teil, der im Finanz- Herr Schmidt. Gebraucht werde, so heißt es in Ihrem ausschuß stattfindet. - Auch früher fanden schon Antrag, eine „Untersuchungskommission". Aber was zahlreiche Gespräche statt, und sie werden auch in sagt der alte und auch der neue Duden zu „En- Zukunft stattfinden. - Do rt wurde seitens der kom- quete"? Ich zitiere: „amtliche Untersuchung", so munalen Spitzenverbände übereinstimmend erklärt, heißt es dort , auf österreichisch auch: „Arbeitsta- daß sie endlich eine originäre Beteiligung an der gung". Mangelt es der SPD also nur am Verständnis Umsatzsteuer fordern. Dahinter steht natürlich auch, für fremde Wörter, die parlamentarisch durchaus üb- daß das Aufkommen aus der Gewerbesteuer in den lich sind? letzten 20 Jahren um 120 Prozent, das Aufkommen aus der Umsatzsteuer aber um 320 Prozent gestiegen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir ist. Eine alte Lebensweisheit heißt: Geld macht sinn- kennen uns im Parlamentsgeschehen aus!) lich. Oder sind die eigenen Anträge etwa heiliger als die ch Heinrich [F.D.P.]: Das sagt der Vor- Finanznot der Kommunen? (Ulri sitzende des Finanzausschusses! - Zurufe (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie von der PDS) müssen sich die Geschäftsordnung des Bun destages ansehen! - Ulrich Heinrich [F.D.P.]: - Ja, das ist so. - Auch die kommunalen Spitzenver- Er kennt nur den Duden!) bände haben dies inzwischen erkannt. Es wurde ge- stern ganz unumwunden im Finanzausschuß erklärt, Ich meine, heute besteht, liebe Kolleginnen und daß das einer der zentralen Punkte sei, warum sie auf Kollegen, insbesondere von der SPD, aber auch von diesem Anliegen beharren. Bündnis 90/Die Grünen, die einmalige Chance, eine solche Kommission zu installieren, von der vor weni- Unsere Kommunen haben nämlich ein Recht dar- gen Tagen Ihr Parteivorsitzender, Herr Lafontaine, auf, an einer stetig fließenden, dynamisch wachsen- gesagt hat, daß sie der Schlüssel für die umfassende den Steuer beteiligt zu werden. Verbesserung der Kommunalfinanzen in der Bundes- republik sei. (Geit Willner [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11695

Carl-Ludwig Thiele Deshalb kann ich nur an alle appellieren, unserem Wir alle müssen uns dafür einsetzen, die Rahmen- Antrag zuzustimmen und die Linie zu verfolgen, die bedingungen in unserem Lande angesichts der ver- wir haben. änderten weltwirtschaftlichen Situation zu verän- dern. Helfen Sie konstruktiv mit, und verweigern Sie (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nicht Ihre Gesprächsbereitschaft, was sich am Mon- Daß der PDS-Antrag ein reiner Schaufensterantrag tag nächster Woche zeigen wird. ist - das sehen Sie mir persönlich bitte nach, Herr Die F.D.P. lehnt den PDS-Antrag ab. Rössel -, wird auch dadurch deutlich, daß in diesem Antrag auf Seite 2 auch jetzt bei der Verabschiedung Herzlichen Dank. im Deutschen Bundestag noch gefordert wird, daß ein erster Zwischenbericht von der Kommission im (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Herbst 1996 vorgelegt werden soll, was - wie uns al- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Mit len klar ist - überhaupt nicht gehen kann. dem letzten Satz haben Sie wenigstens ein- mal zur Sache geredet!) (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS]) - Nein. Aber, Frau Dr. Höll, wer einen Antrag, der zu- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die gegebenermaßen am 22. März 1995 seitens der PDS Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen. eingebracht wurde, nicht einmal vor einer Abstim- mung im Deutschen Bundestag so überarbeitet, daß Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dieser dem Zeitablauf gerecht wird, zeigt doch deut- Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Auch wir lich, daß er seinen eigenen Antrag überhaupt nicht werden den Antrag der PDS ablehnen ernst nimmt. (Zuruf von der F.D.P.: Aha!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: So ist es!) - was heißt hier „Aha"? -, weil auch wir die Auffas- sung vertreten, daß wir noch in diesem Jahr die Mög- Die PDS will hier nur den Eindruck einer Tätigkeit lichkeit bekommen sollten, zu einer besseren Finanz- erwecken, der nicht durch tatsächliche Tätigkeit ge- ausstattung der Kommunen gemeinsam eine Lösung deckt ist. Sie hätten das ändern können. zu finden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Rolf Kutzmutz [PDS]: Das ist peinlich, was Die F.D.P. will nicht, daß sich die Investitionsbedin- Sie hier sagen!) gungen in den neuen Bundesländern im nächsten Ich möchte gerne, daß wir das Vorhaben Abschaf- Jahr dadurch verschlechtern, daß do rt eine neue fung der Gewerbekapitalsteuer und Verbreiterung Steuer auf Arbeitsplätze erhoben werden muß. Des- der Bemessungsgrundlage bei der Gewerbeertrag- halb appelliere ich auch an dieser Stelle an die Mi- steuer durchziehen. Ich möchte auch, daß die Kom- nisterpräsidenten der neuen Bundesländer, diesen munen, verbindlich im Grundgesetz abgesichert, die Vorstoß der Koalition zu unterstützen. Beteiligung an der Umsatzsteuer bekommen; denn (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die Umsatzsteuer ist eine Steuer, die ein steigendes Volumen haben wird, und dies wird den Kommunen Herr Ministerpräsident Stolpe und Herr Minister- in unserem Land sehr viel nutzen. präsident Höppner sollen doch einmal öffentlich er- klären, ob sie tatsächlich die Gewerbekapitalsteuer (Beifall des Abg. Reiner Krziskewitz [CDU/ als Zusatzsteuer auf jeden Arbeitsplatz in den neuen CSU]) Bundesländern einführen wollen. Dies wäre nämlich Ich möchte nicht, daß wir die gesamte Diskussion total absurd und gegen Arbeitsplätze, gegen Investi- in eine Enquete-Kommission verlagern, wo wir ge- tionen und auch gegen die neuen Bundesländer ge- nau wissen, daß die Diskussionen, die in Enquete- richtet. Deshalb hoffe ich darauf, daß die Minister- Kommissionen geführt werden, zwar innerhalb der präsidenten - die nicht von der SPD-Baracke in Bonn Kommission sehr fruchtbar sein können, aber nicht gewählt wurden und ihr auch nicht verantwortlich notwendigerweise zu politischen Entscheidungen sind, sondern in ihrem Selbstverständnis, das an an- führen. derer Stelle häufig betont wird, den Wählern in ihren eigenen Bundesländern verantwortlich sein sollten - ( [CDU/CSU]: So ist das!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr Dies ist genau der Punkt: Wir brauchen eine politi- Thiele, reden Sie doch nicht so einen sche Entscheidung. Ich hoffe, daß die Koalition und Unsinn!) vor allem das Bundesfinanzministerium in der Lage sind, möglichst bald - noch in diesem Oktober, hoffe die Blockadepolitik der SPD aufbrechen und in ernst- ich - eine Vorlage zu bringen, über die wir dann ge- hafte Verhandlungen mit der Koalition eintreten. meinsam entscheiden können. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vielen Dank. Eine neue Sonthofen-Strategie - diesmal nicht der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) CSU, sondern der SPD - der verbrannten Erde nutzt der SPD überhaupt nichts und ist vor allem nicht ge- eignet, die Standortprobleme unseres Landes zu lö- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die Kollegen sen. Reiner Krziskewitz und Ludwig Eich, ersterer von 11696 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose der CDU/CSU, letzterer von der SPD, geben ihre Re- stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegen- den zu Protokoll *). Ich gehe davon aus, daß das Ple- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung num damit einverstanden ist. - Das ist der Fall. ist mit den Stimmen aller Fraktionen dieses Hauses gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenom- Dann schließe ich die Aussprache, und wir kom- men. men zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Gruppe Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- der PDS zur Einsetzung einer Enquete-Kommission ordnung angelangt. Ich berufe die nächste Sitzung „Reform der Kommunalfinanzierung". Das ist die des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den Drucksache 13/5749. Der Ausschuß empfiehlt, den 16. Oktober 1996, 13 Uhr ein. Antrag auf Drucksache 13/984 abzulehnen. Wer Die Sitzung ist geschlossen. s) Anlage 3 (Schluß der Sitzung: 15.06 Uhr)

Berichtigung 128. Sitzung, Seite 11576A; der Text Geradezu perfide wird dieser Vorgang dadurch, daß die parlamentarische Mehrheit diese Ent- scheidung auch noch gegen den Willen derer, die Steuern zu bezahlen haben, durchsetzt, obwohl man gerade hier mit größtem Einvernehmen streichen und sparen könnte. ist die Fortsetzung des vorstehenden Zitats und dem- entsprechend einzurücken. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11697*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 2

Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärung nach j 31 GO des Abgeordneten Gerald Häfner entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung Augustin, Anneliese CDU/CSU 11. 10. 96 des Innenausschusses zu den Gesetzentwürfen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes Bläss, Petra PDS 11. 10. 96 (Tagesordnungspunkt 14) Böttcher, Maritta PDS 11. 10. 96 Borchert, Jochen CDU/CSU 11. 10. 96 Ich möchte hier, da es sich um eine sehr wichtige Entscheidung handelt, ein paar Sätze zu meinem an- Braune, Tilo SPD 11. 10. 96 sonsten vielleicht für manche mißverständlichen Ver- Brudlewsky, Monika CDU/CSU 11. 10. 96 halten in der nachfolgenden Abstimmung sagen. Dieser Erklärung schließen sich die übrigen anwe- Buntenbach, Annelie BÜNDNIS 11. 10. 96 90/DIE senden Mitglieder meiner Fraktion an. GRÜNEN Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen re- Burchardt, Ulla SPD 11. 10. 96 gelt,was wir in der Reformkommission fraktionsüber- greifend miteinander vereinbart haben. Und da gab Glos, Michael CDU/CSU 11. 10. 96 es ja viel und wichtigen Konsens: Irber, Brunhilde SPD 11. 10. 96 Ich will - und auch dies gilt in gleicher Weise für Dr. Jacob, Willibald PDS 11. 10. 96 die gesamte Fraktion - die Verkleinerung des Bun- Jelpke, Ulla PDS 11. 10. 96 destages, wie die Kommission sie nach langem Hin Dr. Küster, Uwe SPD 11. 10. 96 und Her beschlossen hat. Ich habe mich von Anfang an dafür eingesetzt und hätte auch eine Sitzzahl, Dr.-Ing. Laermann, F.D.P. 11. 10. 96 die deutlicher unter der 600er-Grenze liegt als die Karl-Hans nicht gerade berauschende Zahl 598, für möglich, ja Leutheusser- F.D.P. 11. 10. 96 sogar für besser als die jetzige Lösung gehalten. Ich Schnarrenberger, trage aber das Verhandlungsergebnis ausdrücklich Sabine mit. Lummer, Heinrich CDU/CSU 11. 10. 96 * Und ich will auch, daß wenigstens zukünftig - Mehl, Ulrike SPD 11. 10. 96 selbst wenn all dies erst ab der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag gelten soll - endlich von Neuhäuser, Rosel PDS 11. 10. 96 Gesetzes wegen vorgeschrieben wird, daß die Zahl Neumann (Berlin), Kurt SPD 11. 10. 96 der Wahlkreise in den einzelnen Ländern deren Be- Dr. Rappe (Hildesheim), SPD 11. 10. 96 völkerungsanteil soweit wie möglich entsprechen Hermann muß. Genauso habe ich mich die ganze Zeit über da- für eingesetzt, die zulässige Abweichung der Bevöl- Reuter, Bernd SPD 11. 10. 96 kerungszahlen der Wahlkreise untereinander auf im Schauerte, Hartmut CDU/CSU 11. 10. 96 Regelfall 15 Prozent, maximal aber 25 Prozent zu be- schränken. Denn die bisherige Regelung führt, wie Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 11. 10. 96 90/DIE wir wissen, im Einzelfall zu Unterschieden bei der GRÜNEN Zahl der Stimmberechtigten zu verschiedenen Wahl- kreisen im Größenverhältnis von 1 : 2. Das ist nicht Schönberger, Ursula BÜNDNIS 11. 10. 96 mehr hinnehmbar! 90/DIE GRÜNEN All diesen Regelungen im Koalitionsentwurf kann ich also zustimmen. Der Entwurf wird falsch nicht Steindor, Marina BÜNDNIS 11. 10. 96 durch das, was in ihm steht, sondern durch das, was 90/DIE nicht in ihm steht. Und das ist der weitaus gravieren- GRÜNEN dere Punkt. Denn die Verschiebung all dieser sinn- Tappe, Joachim SPD 11. 10. 96 vollen o. g. Gesetzesänderungen auf einen Tag ir- Terborg, Margitta SPD 11. 10. 96 * gendwann um das Jahr 2000 und insbesondere die geradezu peinliche Formel: „Artikel 1 Nr. 1 tritt an Thieser, Dietmar SPD 11. 10. 96 dem Tage in Kraft, an dem das in Artikel 2 genannte Vosen, Josef SPD 11. 10. 96 Gesetz in Kraft tritt" - wohlgemerkt ein Gesetz, von Würzbach, Peter Kurt CDU/CSU 11. 10. 96 dem es noch nicht einmal einen Entwurf gibt und noch völlig offen ist, ob es überhaupt zustande- Zierer, Benno CDU/CSU 11. 10. 96 kommt -, all dies ist rechts- und verfassungspolitisch mehr als fragwürdig, zeigt, auf welch schwanken-

* für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union dem Grund ihre ganze unhaltbare Konstruktion ge- 11698* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 baut ist, mit der sie hoffen, einen verfassungswidri- Es fehlt nicht an Analysen unterschiedlichster A rt gen Zustand noch über die Zeit retten zu können; all auf diesem Gebiet. Beim Recherchieren zu diesem dies also ist keinesfalls zustimmungsfähig. Vor allem Thema stößt man auf wahre Berge von Vorschlägen aber krankt Ihr Gesetzentwurf, wenn man akzeptiert, und Denkschriften. Die wissenschaftliche Ernsthaf- was in ihm steht, an dem, was eben nicht drin steht: tigkeit vieler Modelle ist nicht anzuzweifeln, die poli- eine Ausgleichsregelung für die zu erwartende hohe tische Umsetzbarkeit in der heutigen konkreten Si- Zahl an Überhangmandaten. tuation ist jedoch fraglich.

Wir können diesem Gesetzentwurf also - auch Ich habe deshalb große Zweifel, ob eine Enquete- wenn wir für die Verkleinerung und die Änderung Kommission wirklich neue Erkenntnisse produzie- der Toleranzgrenzen sind - nicht zustimmen. Ich ren könnte. Bestenfalls könnte sie mehr oder weni- werde mich daher in der Abstimmung zu diesem ger Bekanntes zusammenfassen oder ordnen. Eine Gesetzentwurf der Stimme enthalten. Den SPD-Ent- Enquete-Kommission kann aber vor allem eines wurf werde ich ablehnen, weil wir für das gleiche nicht leisten: Sie kann keine neuen weltwirtschaft- Problem eine bessere Regelung vorgeschlagen ha- lichen Rahmenbedingungen schaffen, noch viel we- ben. Insofern stehen diese beiden Entwürfe in Kon- niger kann sie deren politische Umsetzbarkeit de- kurrenz zueinander. Ich bedauere sehr, daß es all kretieren. unseren Bemühungen zum Trotz nicht zu einem ge- meinsamen Entwurf gekommen ist, weil sich die In der augenblicklichen Situation ist aber ein SPD bis zum Schluß die Beratungen in der Reform- schnelles und entschlossenes Handeln nötig, das die kommission noch gegen eine Ausgleichsregelung übernationalen wirtschaftlichen Rahmenbedingun- ausgesprochen hat, dann aber, als Sie sich nach gen nicht aus den Augen verliert und einer gesamt- Vorlage unseres Entwurfes in internen Gesprächen volkswirtschaftlichen Betrachtungsweise die gesetz- von unseren Argumenten überzeugen ließ, unbe- lich notwendigen Regelungen verschafft. dingt der Meinung war, sie müsse einen eigenen Entwurf einbringen und könne sich einem gemein- Die Handlungsweise der Bundesregierung auf die- samen Entwurf nicht anschließen. Umso dankbarer sem Gebiet, besonders im Hinblick auf die neuen bin ich, daß der ehemalige Partei- und Fraktions- Bundesländer, ist dadurch bestimmt, daß die Siche- vorsitzende und gegenwärtig Sachverständige der rung der kommunalen Finanzen einen hohen Stel- SPD, Hans-Jochen Vogel, der die Debatte in der lenwert einnimmt. Ich erinnere hier an die kommu- Reformkommission die gesamte Zeit über mitver- nale Investitionspauschale für die Gemeinden in den folgt und geführt hatte, gestern öffentlich erklärt neuen Bundesländern, an die Entlastungswirkung hat, er würde dem Gesetzentwurf der Grünen den der Pflegeversicherung und an die Neuordnung des Vorzug geben. Das werde ich in der Abstimmung Länderfinanzausgleiches. auch tun. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß die deutsche Finanzverfassung sich auch in einem zweigliedrigen Staatsaufbau, in dem die Gemeinden Teil der Länder sind, wiederfindet. Bei allen Einwänden, die auf Reibungsverlusten, Anlage 3 widersprüchlicher Interessenlage, auch unterschied- lichen Wirkungsmöglichkeiten beruhen, hat sich Zu Protokoll gegebene Rede diese Finanzverfassung bewäh rt . Ich sehe auch zu Tagesordnungspunkt 18 keine reale Chance, dies grundsätzlich zu ändern. (Antrag: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Refom der Kommunalfinanzierung") Wir sollten auch eine Intention der Antragsteller nicht übersehen, die offensichtlich dahin geht, Fi- nanzlasten auf den Bund zu verschieben. Die Ver- Reiner Krziskewitz (CDU/CSU): Mit Recht wird die schuldungsrate der Kommunen ist zweifellos hoch finanzielle Situation der deutschen Kommunen heute und für die Gemeinden drückend. Ebenso ist anzu- als besonders angespannt bezeichnet. Kommunale merken, daß der Bund mit einer Zinslast von 20 Pro- Finanzierungsprobleme nehmen in der finanzpoliti- zent seiner Ausgaben an einer absoluten Obergrenze schen Debatte eine zentrale Stellung ein, und jeder angelangt ist. Ein Großteil dieser Verschuldung ist Politiker wird genügend Beispiele aus seinem Wahl- als Kostenfolge des deuschen Einigungsprozesses kreis beisteuern können, die von den Auseinander- anzusehen. Der Bund hat hier - und nicht zuletzt im setzungen zwischen Kommunen und Landkreis, Interesse der Kommunen aus den neuen Bundeslän- Landkreis und Land berichten. dern - Vorleistungen geschaffen. Auch wenn wir neue Ausgaben in den sogenannten Erblastentil- Es handelt sich zwar hier um ein Dauerthema, aber gungsfonds schieben, so muß daran erinnert werden, es ist nicht zu übersehen, daß in Zeiten wirtschaft- daß die Tilgung dieses Fonds 30 Jahre in Anspruch licher Stagnation, unvorhergesehener gesamtstaat- nehmen wird. Um es zu veranschaulichen: Nicht wir, licher finanzieller Verpflichtungen, wie sie im Ge- sondern unsere Kinder und Enkel werden diesen folge der deutschen Einheit unumgänglich sind, und Schuldenberg zu tilgen haben. weltweiter technologisch/ökonomischer Umbruch- situationen die Kommunen als letztes Element in Ein vernünftiger volkswirtschaftlicher Ansatz für einer Organisation staatlicher Gliederung besonders die Neugestaltung von Steuereinnahmen und deren betroffen sind. Verteilung muß alle Aspekte und Wirkungen be- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11699* trachten. Ich möchte das an folgendem Beispiel de- Die Fraktion der CDU/CSU lehnt den eingebrach- monstrieren: ten Vorschlag zur Einsetzung einer Enquete-Kom- mission ab. Man mag zur Gewerbesteuer stehen, wie man will, aber es ist nicht zu leugnen, daß die Koppelung kom- munaler und wirtschaftlicher Interessen in einem Ludwig Eich (SPD): Über alle Parteigrenzen hin- konkreten regionalen Bezug einen Sinn ergibt. Wenn weg besteht Einigkeit darüber, daß sich die Finanz- auch eine mittelstandsfreundliche Ausgestaltung lage der Kommunen in den letzten Jahren drama- dieser Steuer unumgänglich ist, so sollte eine Koppe- tisch verschlechtert hat. 1995 bestand ein Finanzie-- lung der eben erwähnten Interessen von Gemeinden rungsdefizit der Städte und Gemeinden von rund und Unternehmen beibehalten werden. 13 Milliarden Mark. In der Regierungsverantwortung von CDU/CSU und F.D.P. haben sich die kommuna- Die in der Gewerbesteuer enthaltene Gewerbeka- len Schulden von 97 Milliarden Mark im Jahre 1982 pitalsteuer erfüllt diese Funktion nicht. Als Substanz- auf den Spitzenstand von jetzt 150 Milliarden Mark steuer, die selbst Schulden noch besteuert und auch erhöht. Die Zinslast ist entsprechend gestiegen. bei negativem Betriebsergebnis wirkt, gehört sie ab- geschafft. Auch diese Negativrekorde, verehrte Damen und Herren von der Koalition, haben Sie politisch zu ver- Selbstverständlich müssen die Kommunen eine antworten. Wer in der Steuer- und Sozialpolitik im- entsprechende Kompensation erhalten. Die Koalition mer nur die Interessen der eigenen Klientel im Auge hat hierzu einen Anteil an der Umsatzsteuer vorge- hat und nicht die Auswirkungen auf die dritte Ebene schlagen. Um einen möglichst genauen Verteilungs- des Staates beachtet, der darf sich über diese politi- schlüssel zu erhalten, werden seit 1995 entspre- sche Schuldzuweisung nicht wundern. chende Steuerstatistikdaten erfaßt. In einer kurzen Übergangsphase sollen die Kommunen die bei Ab- Die Folgen einer solchen Politik für die Menschen schaffung der Gewerbekapitalsteuer entstehenden und unser Gemeinwesen sind verheerend: Aufträge Defizite ohne Berücksichtigung der erhöhten Anteile der Kommunen für Handwerk und Gewerbe gehen an der Einkommensteuer voll ausgeglichen erhalten. rapide zurück, wichtige soziale und kulturelle Ange- Da die neuen Bundesländer bisher keine Gewerbe- bote der Kommunen verkümmern. Zwei Drittel aller kapitalsteuer erheben, schlagen wir vor, einen Zu- öffentlichen Investitionen tätigen unsere Kommunen. schlag in Höhe eines geschätzten fiktiven Gewerbe- Wann begreifen Sie in der Regierungskoalition, daß kapitalsteueranteils von 25 Prozent des Gesamtvolu- Ihre Politik der Lastenverschiebung auf die Kommu- mens der betreffenden Gewerbesteuer nach Ländern nen eine Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt zu erstatten. Nach überschlägigen Rechnungen dürf- herbeiführen muß? ten das für die Kommunen in den neuen Bundeslän- Städte mit hoher Arbeitslosenquote sind arme dern zusätzliche Einnahmesverbesserungen in Höhe Städte. Sie sind arm, weil mit hoher Arbeitslosigkeit von etwa 700 Millionen DM sein. Es liegt auf der in der Regel nicht nur ein Rückgang der Gewerbe- Hand, daß bei einer Einführung der Gewerbekapital- steuer einhergeht. Sie sind arm, weil auch die Ein- steuer in den neuen Bundesländern, die, wie jeder nahmen aus der Einkommensteuer sinken. Und sie Kenner der Mate rie weiß, nicht nur kontraproduktiv, sind arm, weil ihre Aufwendungen für die Sozialhilfe sondern in ihrer Umsetzung nur mit großen techni- steigen und steigen! schen Schwierigkeiten behaftet wäre, dieses zusätzli- che Steueraufkommen nur schwer zu erreichen ist. Viele, zu viele Menschen in den Städten sind nicht nur arm wegen ihres sozialen Abstiegs. Zu viele Dem Wunsche der Kommunen, den Umsatzsteuer- Menschen werden auch deshalb ärmer, weil sie in anteil als verbrieftes Recht auch grundgesetzlich zu einer armen Stadt leben. verankern, ist die Koalition gefolgt. Die Krise unseres Staates zeigt sich auf der Ebene Der Finanzausschuß hat sich gestern in einer An der Kommunen unmittelbar. Unser Sozialstaat wird hörung von Vertretern der kommunalen Spitzenver- durch Ihre Politik, meine Damen und Herren von der bände mit diesem Thema befaßt. Dabei wurde eines CDU/CSU und nicht zuletzt von der F.D.P., auf der deutlich: Es gab Kritik von jedem an jedem, man Ebene der Kommunen am härtesten getroffen. So feilschte, ob 15 Prozent oder 13,5 Prozent, die Frage darf das nicht weitergehen! Wenn dieses Dilemma des Aufteilungsschlüssels war nicht ausdiskutiert mit seinen Folgen von Herrn Westerwelle nicht be- usw. In der Sache war aber zur Verblüffung aller fest- griffen wird, so kann ich das beinahe verstehen. zustellen: die Angelegenheit ist realisierbar. Aber es gibt in der Unionsfraktion Bürgermeister und Meine Damen und Herren, hier bedarf es keiner Landräte genug, die genau wissen, daß es so nicht Enquete-Kommission! Zur Substanz des Vorhabens weitergehen kann und so nicht weitergehen darf. ist bereits an berufener Stelle alles gesagt worden. - Die Wahlkreise aller Abgeordneten bestehen aus Ge- Nun muß verhandelt werden, müssen konkrete For- meinden, aus Städten und Gebietskörperschaften. In mulierungen gefunden werden. Jetzt muß politisch den Kommunen ist der Eindruck entstanden, daß gehandelt werden! viele Kolleginnen und Kollegen die Lage ihrer Kom- munen vergessen. Meine Damen und Herren, dieses Beispiel ist zwei- fellos nicht die Gesamtlösung der Problematik, son- Eine andere Erklärung habe auch ich leider mit dern zeigt die Richtung an, in der wir gesamtvolks- Blick auf die Stellungnahme der Koalitionsfraktionen wirtschaftliche und kommunale Interessen verbinden zum Antrag der PDS auf Einsetzung einer Enquete- müssen. Kommission „Reform der Kommunalfinanzierung" 11700* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 nicht parat. Ich zitiere aus der Beschlußempfehlung Weil die SPD-Fraktion eine konzentrierte Arbeit des Ausschusses: zur Erreichung dieses Zieles für unbedingt wichtig erachtet, schlägt sie vor, eine gemeinsame Kommis- Die Koalitionsfraktionen begründeten ihre Ab- sion von Bundestag und Bundesrat unter Beteiligung lehnung damit, daß aufgrund der im Rahmen des der kommunalen Spitzenverbände und unter Hinzu- Jahressteuergesetzes 1997 von ihnen angestreb- ziehung von Vertretern aus der Wissenschaft mit der ten Reform der Gemeindefinanzen kein Bedarf Aufgabe zu betrauen, den gesetzgebenden Körper- zur Einrichtung einer Enquete-Kommission zu schaften möglichst schnell Vorschläge zu unterbrei-- erkennen sei. ten. Die geplante Beteiligung der Gemeinden am Umsatzsteueraufkommen bedeute entgegen der Auffassung der Antragsteller eine grundlegende und positive Veränderung des Systems der Kom- munalfinanzierung. Anlage 4 Mit anderen Worten: Die Regierungsfraktionen Amtliche Mitteilungen vertreten tatsächlich die Auffassung, die Finanzpro- bleme der Kommunen wären damit gelöst! Die ent- Der Bundesrat hat in seiner 702. Sitzung am scheidende Ursache für die kommunale Finanzmi- 27. September 1996 beschlossen, den nachstehenden sere liegt jedoch auf der Ausgabenseite. Ist es nicht Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß so, daß mit den horrend gestiegenen Ausgaben im Artikel 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen: Bereich Sozialhilfe unser gesellschaftspolitisches Pro- Hopfengesetz blem Nr. 1, nämlich die Massenarbeitslosigkeit, bei Gesetz zur Abschaffung der Gerichtsferien den Kommunen voll durchschlägt? Gesetz zu der Vereinbarung vom 1. Mai 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Und ist es nicht so, daß unsere Städte, Gemeinden Republik Iran zur Aufhebung des Abschnitts II des und Landkreise deshalb überfordert sind, weil sie al- Schlußprotokolls des deutsch-iranischen Niederlas- leine die Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit zu tra- sungsabkommens gen haben? Was berechtigt Sie von Union und F.D.P. Gesetz zu dem Abkommen vom 24. Ap ril 1995 zwischen eigentlich anzunehmen, es reiche zur Bewältigung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der der Krise aus, teilweise die kommunale Einnahmen Regierung der Demokratischen Volksrepublik Algerien seite statt aus dem einen Steuertopf nunmehr aus über die Seeschiffahrtsbeziehungen dem anderen Steuertopf zu finanzieren? Gesetz zu dem Abkommen vom 20. März 1995 zwi- schen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland Im übrigen fällt auf, daß Sie zwar eine Reform der und der Regierung der Republik Polen über die See- Gemeindefinanzen anstreben, wie Sie es nennen, schiffahrt aber was liegt zur Beratung vor? Es gibt keine Vor- Gesetz zu dem Vertrag vom 13. Juli 1995 zwischen der lage! Fragen, die bereits vor einem Jahr gestellt wur- Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über den Bau einer Grenzbrücke an der ge- den, sind immer noch nicht beantwortet. Es sind meinsamen Staatsgrenze im Zuge der Europastraße wichtige Fragen wie die, ob Sie die Gewerbeertrag- E 49 steuer ganz oder teilweise abschaffen wollen, welche Sechstes Gesetz zur Änderung der Verwaltungsge- verfassungsrechtliche Absicherung Sie gegebenen- richtsordnung und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG) falls für die Gewerbeertragsteuer vorsehen und wie Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung immis- der vorläufige und wie der endgültige Beteiligungs- sionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren schlüssel an der Mehrwertsteuer aussehen soll. In der gestrigen Anhörung der kommunalen Spitzen- Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit verbände wurde überdeutlich, daß Sie, die Regie- Schreiben vom 9. Oktober 1996 ihren Antrag „Vor- rungsfraktionen, nicht für die notwendige Klarheit lage des überfälligen Berichts über die Versor- sorgen. gungsleistungen im öffentlichen Dienst" - Druck- sache 13/4617 - zurückgezogen. Aber auch die Steuerpolitik selbst wird von dieser Regierung Kohl auch weiterhin ohne Rücksicht auf Der Abgeordnete Dr. Hansjörg Schäfer zieht seine die kommunalen Interessen betrieben. Als Beispiel Unterschrift zu dem Antrag „Bonn-Berlin-Umzug nenne ich die geplante Abschaffung der Vermögen- verschieben - Staatsfinanzen konsolidieren" - steuer. Damit werden nicht nur - und das in Zeiten Drucksache 13/5581 - zurück. finanzieller Not des Staates! - die Reichen und Su- Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses hat perreichen beschenkt. Nein, die fehlenden Einnah- mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 men werden sich auch über den kommunalen Fi- der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu nanzausgleich der Länder auswirken und zur Ver- den nachstehenden Vorlagen absieht: schärfung der Finanzkrise der Städte und Gemein- den beitragen. Zur Lösung der kommunalen Finanz- Unterrichtung durch die Bundesregierung krise brauchen wir eine andere Politik, eine Politik Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung für den ganzen Staat, vor allem aber eine Politik für - Drucksache 13/1479 - unseren noch vorhandenen Sozialstaat. Eine Reform der Gemeindefinanzen ist nicht zuletzt auch zur Sta- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben bilisierung unseres Sozialstaates dringend notwen- mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU- dig. Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Euro- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 129. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Oktober 1996 11701* päische Parlament zur Kenntnis genommen oder von Drucksache 13/4678 Nr. 2.44 einer Beratung abgesehen hat. Drucksache 13/4921 Nr. 2.20 Drucksache 13/4921 Nr. 2.27 Finanzausschuß Drucksache 13/5056 Nr. 2.3 Drucksache 13/5295 Nr. Drucksache 13/4678 Nr. 2.27 1.8

Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 13/3668 Nr. 2.11 Drucksache 13/4137 Nr. 2.72 Drucksache 13/4466 Nr. 2.2 Drucksache 13/4514 Nr. 1.1 Drucksache 13/4466 Nr. 2.21 Drucksache 13/4514 Nr. 2.4 Drucksache 13/4678 Nr. 2.3 Drucksache 13/4514 Nr. 2.8 Drucksache 13/4678 Nr. 2.5 Drucksache 13/4514 Nr. 2.10 Drucksache 13/4678 Nr. 2.36 Drucksache 13/4514 Nr. 2.13 Drucksache 13/4921 Nr. 2.1 Drucksache 13/4514 Nr. 2.14 Drucksache 13/5295 Nr. 1.7 Drucksache 13/4514 Nr. 2.17 Drucksache 13/4514 Nr. 2.29 Ausschuß für Post und Telekommunikation Drucksache 13/4514 Nr. 2.30 Drucksache 13/4921 Nr. 2.3 Drucksache 13/4514 Nr. 2.34 Drucksache 13/5056 Nr. 2.5 Drucksache 13/4514 Nr. 2.39 Drucksache 13/4514 Nr. 2.40 Drucksache 13/4514 Nr. 2.41 Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Drucksache 13/4514 Nr. 2.44 und Entwicklung Drucksache 13/4514 Nr. 2.24 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 13/4137 Nr. 2.86 Ausschuß für die Angelegenheiten Drucksache 13/4514 Nr. 2.21 der Europäischen Union Drucksache 13/4678 Nr. 2.10 Drucksache 13/4921 Nr. 1.4