Bernhard R. Kroener Auf dem Weg zu einer „nationalsozialistischen Volksarmee"

Die soziale Öffnung des Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg*

„Mit der neuen ", schrieb der Kommandeur der 1. Panzerdivision, der spä- tere Feldmarschall Freiherr von Weichs, bereits 1937 in einem weithin beachteten Be- fehl über die Erziehung des Offizierkorps, „ist ein deutsches Volksheer entstanden, das in deutschem Volkstum wurzelt, kein Eigenleben im alten Sinne mehr führen kann, sondern deutsches Wesen und deutsche Art dem ganzen Volk vorlebt."1 Mit diesem Satz hatte der General Trauma und Programm der nationalkonservativen mili- tärischen Elite des Dritten Reiches prägnant beschrieben. Mit dem bewußten Verzicht auf soziale Exklusivität versuchten führende Vertreter des Heeres mit Beginn der Auf- rüstung und der allgemeinen Wehrpflicht an die Erfahrungen des Weltkrieges anzu- knüpfen. Der enorme psychische Spannungen erzeugende Stellungskrieg hatte Führer und Truppe zusammengezwungen und keinen Raum mehr gelassen für die Privile- gien einer sozial geschlossenen, eigenen Normen verpflichteten Offizierkaste. Der Frontkämpfer erschien vielen Zeitgenossen als der zukunftsweisende Soldatentypus des modernen Massenzeitalters und seiner Kriege. Der Nationalsozialismus, der die Frontkämpfermythologie wirkungsvoll mit der Idee der Volksgemeinschaft verknüpft hatte, mochte daher vielen Offizieren zunächst als der Garant einer Annäherung von Volk und Armee erscheinen, wobei nicht jedem bewußt wurde, welche Konsequenzen diese Verbindung für die soziale Komposition des Offizierkorps haben würde. Die Protagonisten einer geschmeidigen, systemkonformen „Wehrmachtideologie", wie etwa Reichskriegsminister von Blomberg, entwickelten bereits früh feste Vorstellun- gen, auf welche Weise dem Heer neue offizierfähige Schichten erschlossen werden sollten. In einer Rede vor Kreisleitern der NSDAP auf der Ordensburg Vogelsang markierte er wenige Wochen nach dem von Weichs erlassenen Befehl die Grundlagen moderner militärischer Führerauslese, wie er sie verstand: „Im 20.Jahrhundert wird je- dem Volksgenossen, sofern er gesund an Körper, Charakter und Geist ist, die Offi- zierlaufbahn erschlossen. Wir tun das nicht nur aus der Ideenwelt des Nationalsozialis- mus heraus, sondern auch aus rein militärischen Gründen: Weil das moralische Ge- füge der Armee um so stärker wird, je mehr ihr Offizierkorps im ganzen Körper der

* Manfred Messerschmidt zum 60. Geburtstag gewidmet. 1 1. PzDiv., Abt. Ha, Az. 21a Nr. 6737 geh. vom 2. 3. 1937; BA-MA, RH 53-7/v. 709. 652 Bernhard R. Kroener

Nation wurzelt." Über den Weg, auf dem dieses Ziel zu erreichen sei, ließ Blomberg keinen Zweifel: „Ich erblicke ... in der schrittweisen Durchführung des Leistungsprin- zips ohne Rücksicht auf Herkunft, Stand und Geldbeutel des Vaters eine der wichtig- sten Forderungen des neuen deutschen Sozialismus ..."2 Damit leitete die Wehr- machtführung einen tiefgreifenden Modernisierungsprozeß im Bereich der Offizierre- krutierung und -Beförderung ein, legte aber auch gleichzeitig den Keim für eine lang- same, von innen heraus wirksame Zerstörung des Offizierkorps traditioneller Prägung, seines konstitutiven Normengefüges ebenso wie seiner internen Regelmechanismen. So verwundert es kaum, daß die Siegermächte nach dem Kriege unter den Offizieren der Feldverbände des Heeres die Merkmale des klassischen deutschen Militarismus, wie er sich ihnen noch im Ersten Weltkrieg präsentiert hatte und dessen Bekämpfung sie sich zum Ziel gesetzt hatten, nicht mehr vorfanden. Andererseits liefert der Verän- derungsprozeß, der sich im deutschen Heeresoffizierkorps während des Krieges voll- zog, auch ein Erklärungsmuster dazu, warum sich die Eingliederung ehemaliger Offi- ziere in den neuen deutschen Staat, seine Wirtschaft und später auch seine Streitkräfte weitgehend reibungslos vollzog. Diesen für das Verhältnis von Militär und Gesell- schaft in Deutschland so bedeutsamen Umwälzungen soll in der vorliegenden Studie genauer nachgegangen werden. Der rasante Ausbau, durch den der Umfang des Heeresoffizierkorps in den dreißi- ger Jahren binnen kurzem nahezu um das Siebenfache erweitert wurde, ließ sich we- der mit den Angehörigen der alten offizierfähigen Schichten bewerkstelligen, die dazu schon allein zahlenmäßig kaum in der Lage waren, noch reichte die Zeit, um die neu- eingestellten Offiziere im Hinblick auf eine innere Geschlossenheit des Korps zu amalgamieren.

Stärke des aktiven Heeresoffizierkorps vor dem Zweiten Weltkrieg

l.Mai 1932: 3 724 Mann l.Mai 1935: 3 858 Mann 1. Oktober 1938: 21 793 Mann

Quelle: Dienstalterslisten zur Stellenbesetzung des Reichsheeres und des Heeres 1932-19383. Das Tempo, mit dem die Aufrüstung vorangetrieben wurde, erreichte auf dem Per- sonalsektor eine Eigendynamik, durch die der Anspruch auf soziale Homogenität, wie er die Politik des Heerespersonalamtes noch in der Ära Seeckt bestimmt hatte, rasch aufgegeben werden mußte. Selbst während des Krieges hatte das Offizierkorps zu kei- nem Zeitpunkt eine im Verhältnis zu ihrer Gesamtstärke derartig umfangreiche Per- sonalzuführung zu verkraften gehabt wie zwischen 1935 und 1938, als sich die Reichs- wehr der Weimarer Republik zur Wehrmacht des Dritten Reiches wandelte.

2 Auszug aus einer Rede Blombergs vor Kreisleitern der NSDAP auf der Ordensburg Vogelsang am 27. 4. 1937. Abgedruckt in: Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, hrsg. vom Militärge- schichtlichen Forschungsamt (MGFA), Stuttgart 1964, S. 267 ff., hier S. 267, Dokument Nr. 104. 3 Anlage zu: Der Chef des Heeres-Personalamts, Nr. 549/42 gKdos. vom 6. 7. 1942; BA-MA, RH 2/v. 156, je- weils für die Angaben aus: 1939, 1941 und 1942; Oberkommando des Heeres/Heerespersonalamt, Dienstal- tersliste zur Stellenbesetzung des Heeres jeweils für 1940, 1943 und 1944. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 653 Zahlenmäßige Entwicklung des aktiven Heeresoffizierkorps während des Krieges 1. August 1939 21 760 1. Mai 1940 31893 1. Dezember 1941 35 113 1. April 1942 36 825 l.Mai 1943 42 709 1. Mai 1944 47 788

Quelle: Oberkommando des Heeres/Heerespersonalamt (1. Staffel), Überblick über die Zusam- mensetzung und Schichtung des Offizierkorps und die sich daraus ergebenden Fragen3.

Die Heeresvermehrung führte bereits zu einem frühen Zeitpunkt dem Offizier- korps die Kräfte zu, die im Sinne der Frontkämpferideologie des Ersten Weltkrieges eine Modernisierung befürworteten. Mit einer weitgehenden sozialen Öffnung des Korps mußte zwangsläufig die Einebnung nicht mehr zeitgemäßer, aber bisher als identitätsstiftend angesehener, ständisch orientierter Selektionsmechanismen einher- gehen. Die Bestrebungen in Hinblick auf eine weitgehende Nivellierung bestehender Ge- gensätze zwischen den Wertvorstellungen der Gesellschaft einerseits und denen der militärischen Elite andererseits, die bereits beim aktiven Offizierkorps erkennbar wur- den, verstärkten sich während des Krieges durch den Zustrom von Reserveoffizieren noch erheblich. Deren Zahl stieg von 48 756 im August 1939 auf 125 918 im Mai 1944 an4. Zusammen mit der sehr heterogenen Gruppe von etwa 30000 Offizieren in Sonderverwendungen und -dienststellungen dürfte das Heeresoffizierkorps zum Zeit- punkt seiner größten personellen Stärke (1943) etwa 250000 Menschen umfaßt ha- ben5. Das Bild bliebe jedoch unvollständig, rechnete man nicht auch noch die wäh- rend des Krieges entstandenen Offizierverluste hinzu. Bis zum 1. Mai 1945 erlitt das Heer (einschließlich Waffen-SS) einen Gesamtverlust von etwa 269000 Offizieren, darunter allein 87 000 Tote. Insgesamt trugen etwa eine halbe Million Menschen wäh- rend des Krieges die Offizieruniform des Heeres6. Die vorstehenden Zahlen vermitteln einen ungefähren Eindruck vom Umfang die- ser sozialen Gruppe und belegen eindrucksvoll die Dynamik des Wandlungsprozesses, den das Korps innerhalb weniger Jahre erfuhr und der die Auflösung traditioneller Nonnen entscheidend beschleunigte. Die Konflikte zwischen stärker an den Leitbildern eines ständisch geprägten Offi- zierkorps orientierten älteren und den von Jugendbewegung und Fronterleben des Er- sten Weltkrieges beeinflußten jüngeren Offizieren wurden in der ersten Kriegshälfte ausgetragen. Mit der Einstellung einer immer größeren Zahl jüngerer Offizieranwärter

Ebd. Rudolf Absolon, Das Offizierkorps des Deutschen Heeres 1935-1945, in: Das deutsche Offizierkorps 1860-1960. Büdinger Vorträge 1977. In Verbindung mit dem MGFA hrsg. von Hans-Hubert Hofmann, Boppard 1980, S. 247 ff., hier S. 250. OKW/WFSt/Org Abt. (Heer), Nr. 5815 vom 10. 5. 1945, Gesamtverluste des Heeres (einschließlich Waf- fen-SS und im Erdeinsatz) in der Zeit vom 1. 9. 1939-1. 5. 1945; BA-MA, RM 7/809. Die Erd- kampfverbände der Luftwaffe waren am 6. 5. 1945 ins Heer überführt worden. OKW/WFSt/Org Abt. (H) vom 6. Mai 1945; BA-MA, H 6/265. 654 Bernhard R. Kroener nach 1942 verschoben sich die Gewichte zwischen den beiden Gruppen so drama- tisch, daß die Vertreter eines traditionellen Offizierverständnisses immer stärker an Einfluß verloren und Auseinandersetzungen mit ihnen letztlich obsolet wurden. Diese Entwicklung führte zwangsläufig zu einem nachhaltigen Wandel im Erscheinungsbild und in der Struktur der deutschen militärischen Elite. Nachfolgend wird zu zeigen sein, wie sich das Offizierdasein in den Kriegsjahren von Grund auf veränderte, eine Auflösung des tradierten Korpsverständnisses statt- fand, und wie letztlich ein anderer, neuer, den Formen des modernen technischen Krieges angepaßter, eher funktional verstandener Offiziertypus entstand. Zweifellos waren es zuerst die Sachzwänge des modernen Krieges, die das Selbst- verständnis der militärischen Elite grundlegend veränderten, und erst in zweiter Linie der Druck des Regimes, das jedoch die Gunst der Situation nutzte, um ideologische Einbrüche in das Wertgefüge des militärischen Instruments dort zu erreichen, wo es ihm im Frieden nicht gelungen war.

1. Kriterien der „Auslese" a) Das Aufnahmeritual der Offizierbewerbung Noch bis in die erste Kriegshälfte hinein hatte sich ein Offizierbewerber bei einem Regiment seiner Wahl vorzustellen. Hier wurde er vom Kommandeur persönlich auf seine „außerdienstliche Eignung", Herkunft, Vorbildung und politische Einstellung geprüft7. Diese Regelung, deren Ursprünge in die Zeit der stehenden Heere zurück- reichten, als die Regimentsinhaber den Monarchen für die Qualität ihrer Unterführer persönlich verantwortlich waren, atmete noch ganz den Geist einer paternalistisch strukturierten Standesorganisation. Nach Annahme durch den Regimentskomman- deur unterzog sich der Bewerber im Hinblick auf seine Eignung zum Offizier vor ei- ner Kommission des psychologischen Laboratoriums der Wehrmacht einer ganzen Reihe von Prüfungen und Tests8. Bis zum Juni 1941, als sich Phasen reger Kampftä- tigkeit mit längeren Perioden der Ruhe abwechselten und die Offizierverluste sehr niedrig ausfielen, vermochte die Heeresführung die aus der Friedenszeit übernom- mene Gewohnheit der individuellen Offizierbewerbung, wenn auch bereits einge- schränkt auf die Ersatztruppenteile im Reich, noch aufrechtzuerhalten. Der Krieg gegen die Sowjetunion, der schon bald alle Zeichen eines modernen Be- wegungs- und Abnutzungskrieges erkennen ließ, erzwang sehr rasch eine Erleichte- rung der Annahmevoraussetzungen. Nicht nur die Forderung nach persönlicher Be- werbung und Vorstellung, sondern wenig später auch das Abitur mußten als zwin- gende Bestandteile des Offizierannahmeverfahrens fallengelassen werden, da im Reich nicht mehr genügend Offizierbewerber mit Abitur oder vergleichbaren Bildungsvor- aussetzungen rekrutiert werden konnten, um die ständig steigenden Verluste auszu-

7 Hellmuth Reinhardt, Einsatz, Ausbildung und Verwendungskontrolle der Offiziere im deutschen Heer; Study P-021, Historical Division USAEUR (1949), S. 36 (Ms). 8 Martin van Creveld, Kampfkraft. Die Leistungsfähigkeit der deutschen Streitkräfte 1914-1945- Deutsche Übersetzung der engl. Ausgabe Washington 1980, S. 154 f. (Ms). Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 655 gleichen. Der notgedrungene und endgültige Verzicht auf das Bildungsprivileg löste eine weitere wichtige soziale Klammer, die das Offizierkorps der Zwischenkriegszeit vor übermäßiger sozialer Heterogenität geschützt hatte. Innerhalb von zwei Lehr- gangsperioden fiel 1942 der Anteil der Offizierbewerber mit Abitur von 75 Prozent auf 59,9 Prozent9. Bedurfte das Friedensoffizierkorps unbeschadet aller gegenteiligen Versicherungen oder ideologischen Postulate zur inneren Stabilisierung eines in etwa gemeinsamen Bildungs- und Erziehungshorizontes, so hob das Gemeinschaftserlebnis des Krieges in immer stärkerem Maße den bestehenden Normenkatalog der Friedens- zeit in wichtigen Bereichen auf und ersetzte ihn durch spezifische auf das soldatische Erleben bezogene Wertvorstellungen. Die besonderen Bedingungen des Krieges und steigende Verluste zwangen die Heeresführung, bei der Offizierrekrutierung neue Wege zu beschreiten, die das Regime im Sinne seiner Volksgemeinschaftsideologie unverzüglich zu nutzen verstand. Angesichts der sich immer weiter verschärfenden Konkurrenz zu Luftwaffe und Waffen-SS bedurfte auch das Heer einer attraktiveren Nachwuchswerbung. Die in den Wehrkreisen eingerichteten „Annahmestellen für Offizierbewerber des Heeres" gaben der Bewerbung einen amtlich-unpersönlichen Charakter. Er trug aber zweifellos dazu bei, das Auswahlverfahren zu objektivieren. Mit den Annahmestellen wurde ein Ele- ment eingeführt, das die Willkür subjektiver Wertmaßstäbe zugunsten überprüfbarer, rechtlich fixierter Einstellungsvoraussetzungen abbaute. Mit dem Verlust an Exklusivi- tät erhielt die Offizierergänzung zweifellos moderne zeitgemäße Züge. Überdies hat- ten Regiments- und Bataillonskommandeure im Laufe des Krieges immer weniger die Möglichkeit, die außerdienstliche Eignung, also den geistig-moralischen Zuschnitt, ih- res Offiziernachwuchses zu steuern. Die politische Führung des Reiches, die eine eli- täre Zirkelbildung innerhalb der Regimenter, auf deren Ausleseprinzipien sie kaum Einfluß nehmen konnte, stets argwöhnisch betrachtet hatte, begrüßte diese durch die Kriegsereignisse erzwungene Entwicklung als Öffnung in Richtung auf ein nationalso- zialistisches „Volksoffizierkorps". Die Erfahrungen des 20. Juli 1944, dessen Ver- schwörer über bestehende Familienbeziehungen in ihrem konspirativen Handeln un- terstützt worden waren, bestätigten das Regime in seiner Überzeugung, daß die reak- tionären Kräfte im Offizierkorps durch das herkömmliche Annahmeverfahren zu ei- ner mehr als nur funktionalen Einheit zusammengeschweißt und somit in ihrem Zu- sammenhalt und Einfluß gestärkt worden seien. b) Psychologische Tests und Bewährung im Kampf Durch die personelle Zwangslage, in die das Feldheer durch die Winterkrise 1941/42 geraten war, vermochte auch die im Nationalsozialismus vorherrschende Auffassung vom Offizier als kämpferischer Einzelpersönlichkeit und gerade nicht als Angehöriger eines Personenverbandes erstmals erkennbaren Einfluß auf die Gestaltung des An- nahmeverfahrens zu gewinnen. Auf der Suche nach jungen, dynamischen Offizierbe- werbern, mit denen die erschreckend hohen Verluste der ersten sechs Monate des

9 Friedrich Doepner, Zur Auswahl der Offizieranwärter im 100000 Mann-Heer (I), in: Wehrkunde 22 (1973), S. 261. Das in diesem Text verwendete statistische Material zum Offiziernachwuchs des Heeres während des Krieges stammt aus einer bisher noch nicht ausgewerteten Quelle. Es wird in Kürze im Rahmen einer Do- kumentation separat veröffentlicht. 656 Bernhard R. Kroener

Ostkrieges ausgeglichen werden konnten, flössen dann in dem Schlagwort „Kerls vor die Front"10 spezifisch militärische und ideologische Forderungen zusammen, bei de- nen die überkommenen Voraussetzungen, wie etwa Schulbildung, gesellschaftliche Herkunft oder auch charakterliche Anlagen keine ausschlaggebende Rolle mehr spiel- ten. Insofern erscheint es folgerichtig, daß Hitler in seinem Erlaß über die Führeraus- lese im Heer vom 19- Januar 1943 bezeichnenderweise den Begriff „Offizier" völlig vermied. An seine Stelle trat der für die zweite Kriegshälfte charakteristische sugge- stive Ausdruck der „überragenden und krisenfesten Führerpersönlichkeit". Dem ideo- logischen Anspruch folgte wenig später die administrative Umsetzung, als man im Sommer 1943 die Annahmestellen für Offizierbewerber in „Annahmestellen für den Führernachwuchs des Heeres" umbenannte und sie auf Befehl Himmlers im Dezem- ber 1944 schließlich mit den SS-Ergänzungsstellen zusammenlegte11. Die seit Anfang 1942 immer bestimmter erhobene Forderung, alle Bewertungskri- terien offiziermäßigen Verhaltens seien unmittelbar und ausschließlich aus der Bewäh- rung an der Front und im Kampf herzuleiten, mußte zwangsläufig dazu führen, daß die übrigen Einstellungsvoraussetzungen abgebaut wurden. Als erste entfielen die psy- chologischen Prüfungen bei den Wehrmachtteilen, wobei die Luftwaffe mit einem entsprechenden Befehl des Reichsmarschalls im Dezember 1941 den Anfang machte12. Das Heer folgte erst ein halbes Jahr später. Damit war ein wichtiges Instru- ment der Selektion zerstört worden, dessen Ursprünge sich bis in die letzten Jahre des Ersten Weltkrieges zurückverfolgen lassen. Die Abschaffung bedeutete jedoch keines- wegs eine erneute Rückwendung zur traditionellen Offizierergänzung, sondern bildete die zwangsläufige Folge rapide steigender Offizierverluste. Die zunehmende Techni- sierung des Krieges machte in immer größerem Umfang den Einsatz von Soldaten er- forderlich, die neben ihrer militärisch-kämpferischen Ausbildung spezifische für den modernen Krieg unentbehrliche Eigenschaften aufzuweisen hatten. Reaktionsge- schwindigkeit, Ausdauer und überdurchschnittliche intellektuelle Beweglichkeit wa- ren in immer mehr Waffengattungen Qualifikationsmerkmale, die eine militärische Führerpersönlichkeit erfüllen mußte. Entsprechende Tests, die zunächst für das Bedie- nungspersonal bestimmter Waffen und Geräte entwickelt worden waren, bildeten seit der Zwischenkriegszeit auch einen wichtigen Bestandteil der Offizierauslese. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg geriet die praktische Arbeit der Militärpsychologie in einen doppelten Konflikt. Ihre Tätigkeit forderte zwangsläufig den Widerstand der Regimentskommandeure und Führer selbständiger Einheiten heraus, die durch die psychologischen Prüfungen ihr traditionelles, exklusiv geübtes Vorschlagsrecht ent- wertet glaubten, zumal das Heerespersonalamt durchsetzte, daß von der Truppe abge- lehnte Offizierbewerber nach einer positiven psychologischen Prüfung aufzunehmen seien. Dagegen galten Bewerber, die von der Truppe vorgeschlagen, das Auswahlver- fahren vor dem Prüfungsausschuß nicht bestanden hatten, in dem jeweiligen Wehr-

10 Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969, S. 423. 11 Reinhardt, Einsatz, S. 38; Rudolf Absolon, Wehrgesetz und Wehrdienst 1935-1945. Das Personalwesen in der Wehrmacht, Boppard 1960, S. 356, Anm. 59; Untersuchungen zur Geschichte des Offizierkorps. An- ciennität und Beförderung nach Leistung, hrsg. von MGFA, Stuttgart 1962, S. 276 (Befehl vom 19. 1. 1943). 12 Entscheidung Görings vom 27. 12. 1941, mitgeteilt mit: Der RmdL und ObdL, GenSt.-Gen.Qu. 6. Abt. Nr. 1671/42 geh. vom 3. 1. 1942, gez. Jeschonnek; MGFA, Rhoden-Papers, Film Nr. 36, A, 71b. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 657 machtteil als generell ungeeignet13. Viele, vor allem ältere Offiziere, die der Aufrü- stung grundsätzlich positiv gegenüberstanden, befürchteten zu Recht eine soziale - - Heterogenität des Offizierkorps, wenn die Selektion nach den hehren Prinzipien einer „Regimentsritterschaft" zugunsten eines „seelenlosen", verwissenschaftlichten Aus- wahlmodus aufgegeben würde. Ein Brief, mit dem sich der Befehlshaber im Wehrkreis IV und Kommandeur der 4. Division, Generalleutnant von Gienanth, an das Grup- penkommando I wandte, gibt in beredter Form der Sorge und dem Unverständnis Ausdruck, mit der die ältere Offiziergeneration des Kaiserreiches solchen Modernisie- rungstendenzen gegenüberstand. Er macht zugleich die Spannung deutlich, in die das Offizierkorps der Reichswehr und später das der Wehrmacht durch die Alters- und Erfahrungsunterschiede seiner Angehörigen gestellt war. Noch gefangen in den Vor- stellungen der Vorkriegszeit und wenig vertraut mit den Notwendigkeiten eines mo- dernen Bewegungskrieges, meinte General von Gienanth skeptisch : „Ob eine schnelle Auffassung für den gewöhnlichen Truppenoffizier unbedingt notwendig ist, bezweifle ich."14 Zudem sei er, wie seine Regimentskommandeure, der Auffassung, daß die psy- chologische Prüfung nichts liefern könne, was nicht auch der Kommandeur „selbst feststellen" könne. Obendrein hätte sich erwiesen, daß auch das Prüfungsverfahren nicht in der Lage sei, die Einstellung von „Schädlingen" zu verhindern. Die psycholo- gischen Auswahlprüfungen trafen das Offizierkorps im Zentrum seines Selbstver- ständnisses, da sie, wie es schien, die ungeteilte Führungsverantwortung der Vorge- setzten beschnitten. „Die psychologische Prüfung ist auch nicht erwünscht, weil in ihr der Wissenschaftler und nicht der Offizier das Übergewicht hat." „Wir sind auf dem besten Wege", so schreibt General von Gienanth zum Schluß, „einem Spezialisten- tum, das abseits des soldatischen Lebens steht, einen Einfluß auf die Auswahl unseres Offiziernachwuchses einzuräumen, der weder notwendig noch angebracht ist." Die Wehrmachtpsychologen versuchten das Mißtrauen und die Ablehnung, die ih- nen aus dem höheren Offizierkorps entgegenschlugen, abzubauen, indem sie darauf hinwiesen, daß sich ihre Prognosen in 95 Prozent der Fälle als letztlich zutreffend er- wiesen hätten15. Das gespannte Verhältnis zu den höheren Truppenführern des Reichsheeres war möglicherweise auch dafür verantwortlich, daß die Wehrmachtpsy- chologie dem Versuch der NSDAP, rassebiologische Auslesemechanismen und ent- sprechende Forschungsvorhaben in der Wehrmacht zu implantieren, keinen Wider- stand entgegensetzte16. Auf diese Weise hofften die Vertreter der Wehrmachtpsycho- logie, Verbündete in ihrem Kampf gegen die traditionalistisch eingestellten Führungs- kader im Offizierkorps zu gewinnen. Diese auch bei anderen gesellschaftlichen Grup- pen zu beobachtende Strategie des Überlebens durch Anpassung fand in der Umbe- nennung des psychologischen Laboratoriums in „Hauptstelle der Wehrmacht für Psy-

13 Infanterie-Regiment Nürnberg, Az. 22b/I 508 g/I vom 7. 8. 1935 an Infanterieführer VII, München; BA- MA, RH 53-7/v. 468. 14 Befehlshaber im Wehrkreis IV, Kdr. der 4. Division an Gruppenkommando I, Dresden 28. 1. 1933; BA- MA, RH 53-7/v. 469. 15 Adolf-Friedrich Kuntzen, Das Offizierkorps des deutschen Heeres in der Aufbauzeit (1933-1938); Study P-021, Historical Division USAEUR (1949), S. 20 (Ms). 16 Ein entsprechender Hinweis findet sich bereits im Jahresbericht des Psychologischen Laboratoriums für das Arbeitsjahr 1933, S. 2; Psychologisches Laboratorium des Reichswehrministeriums, Nr. 113/34 vom 22. 9. 1934; BA-MA, RH 53-7/v. 469. 658 Bernhard R. Kroener chologie und Rassenkunde" ihren sichtbaren Ausdruck17. Auswirkungen auf die Aus- wahl der Offizierbewerber dürfte die damit einhergehende Forschungspraxis indes nicht gehabt haben, da seit 1937 die Zahl der Anträge von Offizierbewerbern in kei- nem Verhältnis zum Bedarf stand18. Jetzt ging es auch bei den aktiven Offizieren we- niger darum, eine Auslese zu treffen, als vielmehr um die immer schwerer zu lösende Aufgabe, den richtigen Mann an den richtigen Platz zu bringen. Nach dem Urteil der Kriegsschulen entsprachen etwa 30 Prozent des Offizierjahrgangs 1937 nicht den An- forderungen, die nach herkömmlicher Auffassung an den Offizierberuf gestellt werden mußten19. Dagegen lagen auf dem Gebiet der Reserve-Offizierbewerber-Prüfungen, mit denen kurz vor Kriegsausbruch begonnen wurde, aufgrund des erheblichen perso- nellen Angebots gewisse Chancen einer Selektion auch nach den ideologischen Prä- missen des Regimes20. Sieht man einmal von den rassebiologischen Interessen ab, so stand die Partei ins- gesamt der Wehrmachtpsychologie von Anfang an ablehnend gegenüber. Wissen- schaftlich fundierte Ausleseverfahren waren denen, die sich selbst als Kämpfer be- trachteten, gehärtet im „Stahlbad des Weltkrieges" und den nachfolgenden Krisen der „Systemzeit", zutiefst zuwider. Wahre Führernaturen ließen sich nach ihrem atavisti- schen Verständnis nicht durch blutleere, sophistische Prüfungsaufgaben erfassen21. Damit zeigt sich, daß die Modernisierungstendenzen des nationalsozialistischen Staa- tes dort endeten, wo sie in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu den grundsätzlichen Überzeugungen seiner Führungselite gerieten. Bereits in der ersten Kriegshälfte erzwang der rasche Ausbau des Kriegsheeres und seines Offizierbestandes eine zunehmende Vereinfachung des Annahmeverfahrens. 1941 hatte allein die Luftwaffe 184444 Eignungsprüfungen für Offiziere und Spezial- personal durchführen müssen22. Hier erreichte auch die Kapazität des psychologi- schen Laboratoriums ihre Grenze. Beim Heer diktierten immer stärker die Prozent- sätze der Ausfälle die Verteilung des Ersatzes auf die einzelnen Waffengattungen. So

17 HVBl. 1938, Teil C, S. 160, erlassen mit Wirkung vom 1. 6. 1938. 18 Jahresbericht 1934/35 des Psychologischen Laboratoriums, S. 2: „Ein schwieriges Problem der OA-Prüfun- gen liegt in der Tatsache, daß die Zahl der Geeigneten zur Deckung des Bedarfs nicht ausreicht und gegen- wärtig keine Möglichkeit gegeben ist, die Zahl der Geeigneten zu vermehren, ohne die Anforderungen zu senken." Psychologisches Laboratorium des Reichswehrministeriums, 2.7.1935; BA-MA, RH 12-2/101. Der Bericht vom Arbeitsjahr 1938/39 stellte im Hinblick auf die Marineprüfstellen fest, „daß sie bei der Auslese von Offizierbewerbern auch auf manche Mittelmäßigkeit' zurückgriffen". Hauptstelle der Wehr- macht für Psychologie und Rassenkunde 28 e 12 (HL/J) vom 15. 7. 1939, S. 25; BA-MA, RH 19 III/494. 19 Protokoll einer Rede Generalmajor Schmundts vor den Teilnehmern des 1. Lehrganges für höhere Adjutan- ten an der Kriegsakademie in Berlin am 17. 11. 1942 (BA-MA, RH 12-1/v. 121): „Grundsätze des Vorpa- tents: Nicht nur Tapferkeit dafür Auszeichnungen Führerqualitäten. Zahl der Vorpatente wird durch Leistung (Verluste) der Front- bestimmt, nicht nur PA.- Verlagerung der Verantwortung auf die Komman- deure und Befehlshaber an der Front. Zu fordernder und herauszuhebender Typ ,Mein Hauptmann' (Hesse) der Frontoffizier, der nach oben wenig hervortritt, für den seine Männer durchs Feuer gehen Kerls vor die Front... Auch im .Frieden' wird es immer Krieg geben, wo Kerls gebraucht werden, auch wenn... sie den Hummer nicht richtig essen können (Kampf Englands an der Nordwestgrenze Indiens). Der Landsknecht wird auch im Frieden gebraucht." 20 Im Bereich der Offizierprüfungen der Luftwaffe begann man aufgrund der technischen Anforderungen die- ses Wehrmachtteils bereits 1936 mit Reserveoffizierbewerber-Prüfungen. Psychologisches Laboratorium des Reichswehrministeriums, Jahresbericht 1936/37 vom 6. 7. 1937, Az. 28 e 12 (WL/D); BA-MA, RH 19 HI/ 494. 21 Messerschmidt, Wehrmacht, S. 426 und Anm. 16. 22 Der Chef der Luftwehr, Nr. 650/42 f (LWehr 1 V C) vom 27. 1. 1942; MGFA, Rhoden-Papers, Film 36, A 71b. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 659 mußte das Heerespersonalamt im Frühjahr 1942 feste Quotenregelungen für den Offi- zierersatz einführen, was an und für sich mit dem Prinzip der freien Offizierbewer- bung und -annähme unvereinbar war, um vor allem die Infanterie vor personellem Ausbluten zu schützen23. Spätestens seit Sommer 1943 nach den Katastrophen von Stalingrad, Tunis und Kursk besaß das Heerespersonalamt bei der Auswahl des Offizierersatzes keinen Handlungsspielraum mehr. Es war der weitere Kriegsverlauf selbst, der eine Weichen- stellung in Richtung auf ein alle soziale Schichten einschließendes „Volksoffizier- korps" erzwang. Ähnlich wie bei dem Verfahren der Offizierbewerbung setzte auch bei den psychologischen Prüfstellen der Krieg letztlich eine radikale Anpassung durch. Das wissenschaftliche Ausleseverfahren war auf die Situation des Friedensoffi- zierkorps zugeschnitten gewesen. Im Kriege konnte dagegen die Eignung eines Be- werbers durchaus praxisnäher festgestellt werden, was zweifellos auch der nationalso- zialistischen Vorstellung von der Auslese durch Kampf entsprach. Je länger der Krieg dauerte, desto weniger ließen sich die Offizierverluste ersetzen. Im September 1944, bedingt durch den Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Osten und die in Frankreich tobenden Abwehrschlachten, verlor das Heer sei es durch Tod, Verwundung oder Gefangenschaft täglich durchschnittlich 317 Offiziere,- - darunter allein 80 Prozent Leutnante24. Besser als jedes Argument vermag diese Zahl die zwingende Notwendigkeit einer sozialen Öffnung des Offizierkorps zu illustrieren, die jedoch nur um den Preis qualitativ verminderter Eignungsvoraussetzungen er- reicht werden konnte. Schon lange ging es nicht mehr darum, die Auswahl der Besten zu garantieren, sondern nur noch darum, jeden im weitesten Sinne als Offizier geeig- neten Soldaten ausfindig zu machen25. Die psychologische Prüfung, die von der Bun- deswehr nach 1956 wieder eingeführt wurde, verdeutlicht die Wandlung des Offiziers vom „ritterlichen Kämpfer" des 19.Jahrhunderts zum „Kriegstechniker" des Indu- striezeitalters. Der Kampf, den die Wehrmachtpsychologen gegen die Kräfte der Be- harrung im Offizierkorps ebenso zu führen hatten wie gegen die wissenschaftsfeindli- chen Protagonisten einer sozialdarwinistischen Parteiideologie, markiert die Intensität des Wandels, der die Wehrmacht bereits vor Kriegsbeginn erfaßt hatte und der sich letztlich als irreversibel erwies. c) Die Offizierwahl Die seit 1943 sich ständig verschärfende Kriegslage und die damit verbundenen ver- änderten Kriterien der Personalsteuerung verstärkten den Modernisierungsschub in- nerhalb des Heeresoffizierkorps und erfaßten bald jeden Lebensbereich seiner Mitglie- der. Da das Regime diese Entwicklung, zumindest propagandistisch, für seine Zwecke zu nutzen verstand, sind in der Nachkriegsliteratur die positiven Elemente dieses Pro-

23 Heerespersonalamt/Gruppenchef III am 12. 12. 1944, Steuerung des Offiziernachwuchses; BA-MA, H 6/263. 24 Tätigkeitsbericht des Chef des Heerespersonalamtes General der Infanterie fortgeführt von General der Infanterie Wilhelm Burgdorf, 1. 10. 1942-29. 10. 1944, hrsg. von Dermot Bradley und Ri- chard Schulze-Kossens, Osnabrück 1984, S. IX (Faksimiledruck). Im folgenden zit.: Diensttagebuch Chef HPA, hier: Bericht vom 9. 10. 1944, S. 280. 25 Ebd., Bericht vom 4. 9. 1943, S. 92 f. 660 Bernhard R. Kroener zesses, die später die Einbindung der Streitkräfte in den demokratischen Staat er- leichtert haben, zumeist übersehen oder negativ akzentuiert worden. Viele traditionelle Formen der Offizierergänzung, die bis dahin die soziale Ge- schlossenheit des Korps, wenn nicht befördert, so doch zumindest suggeriert hatten, mußten von der Truppe aufgegeben werden, da sie unter den Bedingungen des Krie- ges nicht länger durchgehalten werden konnten. Immer weniger Offiziere waren auch bereit, sie zu akzeptieren. Ähnlich wie die Offizierbewerbung erschien auch die Offi- zierwahl, d.h. die Kooptation des jungen Offizieranwärters nach bestandenem Lehr- gang durch das Offizierkorps seines Regiments, vielen jüngeren Offizieren zuneh- mend als entbehrlich. Diese auf die Scharnhorstschen Reformen zurückgehende Tra- dition im deutschen Offizierkorps beleuchtet wie keine andere den Charakter - - eines adligen Normenkodex; danach waren die Offiziere die „Ritterschaft" des Ober- sten Kriegsherren, die Zuwahl neuer Mitglieder erfolgte nach den Regeln eines Or- denskapitels26. Der moderne Bewegungskrieg, der seit Beginn der Kampfhandlungen gegen die Sowjetunion einzelne Feldzugsphasen nicht mehr kannte, erschwerte je- doch zunehmend jedes Wahlverfahren und machte es schließlich unmöglich. Regi- menter wurden auseinandergerissen, Neuaufstellungen und Auffrischungen, Kom- mandierungen und Lazarettaufenthalte nahmen den Regimentskommandeuren jede Möglichkeit, ihr Offizierkorps zum Wahlakt geschlossen zusammenzufassen. Die Kompanien und Abteilungen waren häufig räumlich so weit voneinander getrennt, daß außer den Kompaniechefs kein Offizier des Regiments die dienstliche Leistung eines Fahnenjunkers wirklich beurteilen konnte. Eine Überprüfung des außerdienstli- chen Verhaltens, der persönlichen Verhältnisse, gestaltete sich erst recht unter den Be- dingungen des Krieges immer schwieriger und wurde bald ganz unmöglich. Ende 1942 beantragte das Feldheer von sich aus beim Heerespersonalamt, die Offi- zierwahl „für die Dauer des Krieges" aufzuheben27. Mit der Aufhebung der Offizierer- gänzungsbestimmungen war die Mauer der Abschirmung, hinter der das Offizierkorps gewisse tradierte Formen seines ständischen Bewußtseins hatte pflegen können, an ei- ner weiteren Stelle eingerissen worden. Das gegenseitige Vertrauen der Offiziere, das auch auf einer in etwa vergleichbaren Herkunft beruhte und das die Ausschaltung ex- tremer Auffassungen mit Hilfe einer an einheitlichen Gesichtspunkten ausgerichteten Selektion durch die Regimentskommandeure forderte, ging in vielen Einheiten im Laufe der zweiten Kriegshälfte verloren. Der Verlust der sozialen Geschlossenheit führte zwangsläufig auch zu einem Verlust verbindlicher Verhaltensnormen. Durch das Einströmen von Reserveoffizieren in einem Verhältnis von nicht weni- ger als 1:6 gelang auch der Partei der Einbruch in die bisher noch einigermaßen ge- schlossene Sphäre der Offiziergesellschaft28. Diese Entwicklung brachte natürlich Be- spitzelung und Denunziantentum in bisher ungekanntem Ausmaß mit sich und ließ in manchen Einheiten ein Klima entstehen, das von Unsicherheit im Umgang mitein-

26 Friedrich-Carl Endres, Soziologische Struktur und ihr entsprechende Ideologien des deutschen Offizier- korps vor dem Weltkriege, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 58 (1927), S. 282ff., hier S. 286 ff. 27 Friedrich-Wilhelm von Seydlitz, Der Offiziernachwuchs im deutschen Heer im Zweiten Weltkrieg; Study P-021, Historical Division USAEUR (1949), S. 31 (Ms). 28 Oberkommando des Heeres/Heerespersonalamt (1. Staffel), Überblick über die Zusammensetzung und Schichtung des Offizierkorps und die sich daraus ergebenden Fragen; vgl. Anm. 3. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 661 ander und von Mißtrauen geprägt war. Die Vertreter der traditionellen Offizierelite wehrten sich zunächst gegen diese Entwicklung und verhängten Sanktionen gegen alle, die sich im Sinne ihres Verständnisses offiziermäßigen Verhaltens des Vertrauens- bruches schuldig gemacht und gegen die ungeschriebenen Gesetze soldatischer Grup- pensolidarität verstoßen hatten. Waren solche Fälle in der Phase des Sieges selten ge- wesen und von der Heeresführung als Bagatellangelegenheit betrachtet worden, die durch Belehrungen aus der Welt geschafft werden konnten, so führte die krisenhafte Zuspitzung der militärischen Lage zwangsläufig auch zu einer härteren Linie der mili- tärischen Führung im Hinblick auf die disziplinare und kriegsgerichtliche Würdigung von „defaitistischen und die Wehrkraft zersetzenden Äußerungen im Offizierkorps"29. Die Ablösung der überkommenen Auswahlmechanismen und die Vergrößerung des Offizierkorps durch Reserveoffiziere verschaffte der NS-Führung seit 1942 in einem bis dahin nicht gekannten Umfang Möglichkeiten der Kontrolle und Disziplinierung. Auf diese Weise glaubten die Partei und ihre Sachwalter in der Wehrmachtführung et- waigen systemdestabilisierenden Tendenzen im Heer vorbeugen zu können. Zweifel- los stieg die ideologische Fremdbestimmung in dem Maße, in dem der „esprit de

29 In den Belehrungsunterlagen, die das Heerespersonalamt zur Unterrichtung des Offizierkorps in unregel- mäßigen Abständen verteilen ließ, findet sich ein Ereignis beschrieben, das, wie ich meine, die Belastungen, denen der einzelne Offizier, aber auch das Korps im ganzen ausgesetzt war, einprägsam widerspiegelt: OKH/HPA, Nr. 5700/43 geh. Ag P 2/Chefgr. vom 27.4. 1943; BA-MA, RL 5/793: „Zersetzende Kritik: Ein Hauptmann d. R. und Komp.Chef hat in Gegenwart anderer Offiziere, teilweise auch seines Abteilungs- kommandeurs, häufig abfällige Äußerungen über die Partei und den Nationalsozialismus gemacht und sich seiner Bekanntschaft mit Schriftstellern aus Emigrantenkreisen gerühmt. Auf die Frage, er sei doch Natio- nalsozialist, hat er geantwortet, alles könne man von ihm verlangen, nur das nicht. Der Abteilungskomman- deur ist gegen diese Äußerungen nicht sofort eingeschritten, sondern hat im Gegenteil den Offizier durch Fragen zu weiteren zersetzenden Äußerungen verleitet. Erst nachträglich hat er ihn mit einem Verweis be- straft und ihn veranlaßt, sich in Gegenwart der Offiziere, die die Äußerung gehört hatten, zu entschuldigen und dann die Angelegenheit damit für das Offizierkorps der Abteilung als erledigt erklärt. Ein der Abtei- lung angehörender Leutnant hatte sich mit dieser Behandlung der Angelegenheit nicht abgefunden und sich bei seinem älteren Bruder, der auch Offizier ist, Rat geholt. Als daraufhin der Bruder des Leutnants Meldung an seinen Btls.Kdr. erstattet hatte und der Vorfall auf diese Weise zur Kenntnis der Vorgesetzten kam, ordnete der Div.Kdr. gegen den Leutnant ein Ehrenverfahren an. In diesem Verfahren wurde der Leutnant mangelnder Zivilcourage und eines Vertrauensbruchs beschuldigt, weil er die Tatsache, daß er sich mit einer derartigen Erledigung des Vorfalls nicht abfinden konnte, nicht seinem Vorgesetzten gemeldet, sondern sich an seinen Bruder gewandt habe. Im Schlußgutachten des Ehrenrats wurde Verletzung der Ehre festgestellt und Entlassung aus dem Offizierkorps ohne Uniform vorgeschlagen. Der Div.Kdr. hat sich dem Vorschlag des Ehrenrats angeschlossen. Ausreichende Maßnahmen gegen den Komp.Chef und den Abt.Kdr. wurden nicht getroffen. Maßnahmen : a) Entlassung des Div.Kdrs. nach § 24 (2)b W.G. b) Entlassung des Abteilungskommandeurs nach § 24 (2)b W.G., z.V-Stellung zur Bewährung vor dem Feinde. c) Fristlose Entlassung des Komp.Chefs nach § 24 (2)c W.G. mit Titelentzug, Wiederverwendung im nied- rigsten Mannschaftsgrad erst aufgrund eines Gnadenerweises an den Führer genehmigt. d) Belehrung des Leutnants unter Versetzung zu einem anderen Truppenteil. Hinweise: Ein Div.Kdr., der nicht erkennt, daß in erster Linie mit aller Schärfe gegen den Komp.Chef wegen seiner zersetzenden Äußerungen vorgegangen werden muß, und der aus dem Verhalten des Abt.Kdrs. nicht die nötigen Folgen zieht, hat als Vorgesetzter und Erzieher versagt. Er ist als Offizier der nationalsozialistischen Wehrmacht nicht mehr tragbar. Ein Kommandeur, der gegen zersetzende Äußerungen im Offizierkorps nicht unverzüglich mit den härtesten Maßnahmen einschreitet und Bemerkungen gegen die nationalsoziali- stische Weltanschauung duldet, schadet dem Ganzen, insbesondere dem Ansehen des Offizierkorps, und ist als Vorgesetzter ungeeignet. Ein Offizier, der sich über die Staatsführung herabsetzend äußert und der an den Einrichtungen des nationalsozialistischen Staates böswillig Kritik übt, ist als Offizier und Erzieher im nationalsozialistischen Staat untragbar." 662 Bernhard R. Kroener corps" zersetzt wurde. Zugleich führte die soziale Öffnung dazu, daß ein Berufsfeld im modernen Sinn entstehen konnte, in dem sachfremde, einem noch ständisch gepräg- ten Selbstverständnis entlehnte Vorstellungen von einer besonderen Berufung keine große Rolle mehr spielten. Die Entritualisierung des Aufnahmeverfahrens führte zwar zu einer an den Notwendigkeiten eines industrialisierten Massenkrieges orientierten Modernisierung, leitete aber gleichzeitig einen Prozeß ein, in dem die militärischen Führungsschichten, wie andere Gruppen der zivilen Gesellschaft, einer zunehmenden opportunistischen Anpassung ausgesetzt wurden. Die endgültige Abkehr vom Wertekanon des 19. Jahrhunderts normalisierte das Verhältnis zwischen Offizier und Gesellschaft. Der totale Krieg, der alle Bevölkerungs- schichten einem Überlebenskampf aussetzte, entmythologisierte und egalisierte die Existenzbedingungen des Offiziers, der damit zum „Volksgenossen" in Uniform wurde. Der „Staatsbürger" in Uniform, das Idealbild der Inneren Führung der Bundes- wehr, profitierte zweifellos von diesem in den letzten Kriegsjahren vollzogenen radi- kalen Bruch mit den traditionellen Formen preußisch-deutscher Offizierrekrutierung. d) Die Selektion des sozialen Umfeldes über die Heiratsordnung für Offiziere Dem Betrachter mag die Erörterung der Heiratsordnung der Deutschen Wehrmacht als ein marginales, wenn nicht gar vernachlässigenswertes Problem der inneren Struk- tur dieser Streitkräfte erscheinen. Das ist nicht der Fall, denn Mentalitätsveränderun- gen werden in Gesellschaften, die das Verhalten ihrer Mitglieder einer Vielzahl von starren Regularien unterworfen haben, ja meist erst dann sichtbar, wenn diese Verhal- tensmechanismen durch einen vorangegangenen Wertwandel verändert worden sind, und umgekehrt kann durch die Revision geltender Bestimmungen auch innerhalb ei- ner sozialen Gruppe auch ein normativer Strukturwandel von außen herbeigeführt werden. An der Entwicklung der militärischen Heiratsordnung zwischen 1922 und 1942 läßt sich dieser Prozeß geradezu exemplarisch beobachten. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges erfüllte die Heiratsordnung in den deutschen Armeen eine doppelte Funktion. Da die Besoldung der Leutnante, Oberleutnante und jüngsten Hauptleute die Führung eines dem Offizierstand angemessenen Haushaltes nicht zuließ, wurde die Zustimmung zur Eheschließung durch den Regimentskom- mandeur von der Zusage einer monatlichen Apanage von etwa 1500 bis 2500 Gold- mark bzw. eines entsprechenden Vermögens abhängig gemacht30. Der militärische Vorgesetzte kam also einer Fürsorgepflicht gegenüber dem ihm anvertrauten Offizier nach, wenn er ihn vor unbesonnenen und finanziell riskanten Bindungen bewahrte. Andererseits ergab sich durch die geforderte Vermögenslage der Braut fast zwangsläu- fig bei der Gruppe der Offizierfrauen eine gewisse soziale Homogenität, die, wenn nicht dem Adel, so doch in der Regel der Oberschicht der bürgerlichen Gesellschaft entstammten. Ähnlich wie über das Institut des Reserveoffiziers erreichte so das Bil- dungs- und Wirtschaftsbürgertum den Aufstieg in den ersten Stand des Reiches durch Einheirat31. Die bürgerliche Ehefrau eines Offiziers erhielt damit zum Beispiel auto-

30 Max van den Bergh, Das Deutsche Heer vor dem Weltkriege. Eine Darstellung und Würdigung, Berlin 1934, S. 130 f. Der Verfasser unternimmt hier den Versuch, zu einer positiven Bewertung der Standespolitik des Offizierkorps zu gelangen. Zur Gegenposition vgl. Endres, Struktur, S. 304 f. 31 Van den Bergh, Deutsches Heer, S. 304 f. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 663 matisch Zugang bei Hofe. Das Detail verdeutlicht den immensen Prestigegewinn, der durch die Heirat mit dem Offizier für die Ehefrau verbunden war. Mit der Niederlage von 1918 und dem Sturz der Monarchie war auch die Wertskala zerbrochen, an der die Rolle des Offiziers in der Gesellschaft gemessen wurde. Da sich die Besoldungs- verhältnisse nicht änderten, mußte auch in der Heiratsordnung vom 5. Januar 1922 das generelle Heiratsalter für Angehörige des Reichsheeres auf 27 Jahre fixiert bleiben, wie auch der Hinweis nicht fehlte, daß die finanzielle Zukunft des Paares gesichert sein müsse. Damit blieb, was die Herkunft der Braut betraf, der Vorkriegszustand weitgehend erhalten32. Die Forderung nach „Achtbarkeit der Familie" blieb fest mit deren finanziellem und somit gesellschaftlichem Niveau verknüpft. Die wirtschaftliche Depression gegen Ende der zwanziger und zu Beginn der drei- ßiger Jahre ließ viele Angehörige gerade der gesellschaftlichen Schichten verarmen, auf deren finanzielle Leistungskraft junge Offiziere ihre Hoffnung gesetzt hatten. Noch in der Mitte der dreißiger Jahre war es manchem Offizier offenbar unmöglich, eine Ehefrau aus „standesgemäßen Verhältnissen" mit ausreichendem Vermögen zum Traualtar zu führen. Gleichzeitig galt es beispielsweise als äußerst standeswidrig, wenn ein Offizier versuchte, seine zukünftige Ehefrau über eine Annonce in einer Tageszei- tung kennenzulernen33. Dieser, gemessen an den Verhältnissen der alten Armee, un- erhörte Vorgang scheint jedoch nicht selten gewesen zu sein und signalisierte erste Anzeichen einer beginnenden Erosion des militärischen Standesbewußtseins. Auf die Heiratsanzeige eines 29jährigen Offiziers, der freimütig darauf hingewiesen hatte, er rechne mit einer standesgemäßen Aussteuer und einem größeren Vermögen bzw. ei- nem monatlichen Zuschuß, reagierte das Wehrkreiskommando VII am 2. September 1935 mit einem harschen Verweis und dem Hinweis auf eine bereits 1932 erlassene Verfügung, in der es hieß, „es entspricht nicht unserer Standesauffassung, wenn ein Offizier mit Hilfe einer Zeitungsanzeige seine Lebensgefährtin zu finden sucht Pflege gesellschaftlichen Verkehrs entsprechend der Notzeit in einfachen Formen... in den dem Offizierkorps geistig -und weltanschaulich nahestehenden Kreisen wird- dem Offizier Gelegenheit geben, dort seine Lebensgefährtin zu finden."34 Die Heiratsordnung überdauerte die Republik nur um wenige Monate. Bereits Ende Juli 1933 wurden Forderungen nach einer arischen Abstammung der Braut so- wie des Nachweises einer nicht staatsfeindlichen Gesinnung der Familie erhoben und die Verfügung entsprechend erweitert33. Diese Ergänzungen standen in Einklang mit der inzwischen vom Regime verfügten Neuordnung des Beamtenrechts. Mit Wirkung vom 1. April 1936 wurde die Heiratsordnung von 1922 endgültig außer Kraft gesetzt und durch eine Neufassung ersetzt, in der den veränderten sozialen und politischen Rahmenbedingungen Rechnung getragen wurde36. Zunächst senkte man das Min- destalter auf 25 Jahre oder sechs Dienstjahre und glich es damit an das in bürgerlichen Kreisen übliche Heiratsalter an. Von der Braut und ihrer Familie verlangte die Heeres-

32 HVBl. 1922, S. 51 ff., Verordnung über das Heiraten der Angehörigen der Wehrmacht vom 5. 1. 1922. 33 Verfügung des Wehrkreiskommando VII, B 13 h Ha vom 20. 6. 1932, mitgeteilt mit: Wehrkreiskommando VII, B 13 h Ha geh. vom 2. 9. 1935; BA-MA, RH 53-7/v. 626. 34 Ebd. 35 HVBl. 1933, S. 109 ff., Ergänzung der Verordnung über das Heiraten der Angehörigen der Wehrmacht vom 5. 1. 1922, vom 20. 7. 1933. 36 HVBl. 1936, S. 121 ff., Heiratsordnung vom 1. 4. 1936. 664 Bernhard R. Kroener führung gemäß der Wehrmachtideologie nicht nur Neutralität, sondern ein deutliches Bekenntnis zum nationalsozialistischen Staat. Dabei blieb offen, auf welche Weise der entsprechende Nachweis erbracht werden sollte. In Übereinstimmung mit den Be- stimmungen des Gesetzes zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18. Oktober 1935 hatten Braut und Bräutigam nunmehr auch ein Ehefähigkeitszeug- nis beizubringen. Diese Verfügungen, obwohl auch für andere Gruppen der Gesellschaft verbindlich, schufen in dem zunächst noch weitgehend geschlossenen Bezirk des Offizierkorps Ir- ritationen, verbreiteten Unsicherheit und weichten unmerklich das auf Kameradschaft gegründete Zusammengehörigkeitsgefühl auf. Anfang 1936 mußte der Oberbefehlsha- ber des Heeres schon eindringlich darauf hinweisen, daß Gerüchte oder Mutmaßun- gen über die nichtarische Abstammung eines Kameraden oder seiner Ehefrau gegen den Kameradschaftsgeist des Offizierkorps verstießen und zu unterlassen seien37. Welche existenziellen Probleme und seelischen Spannungen die Überprüfung der ari- schen Abstammung für viele Offiziere aufwarf, zeigt der Selbstmord eines jungen Leutnants, der befürchten mußte, wegen einer nichtarischen Großmutter aus der Wehrmacht entlassen zu werden. Da er die damit verbundene gesellschaftliche Stig- matisierung nicht zu ertragen glaubte, setzte er seinem Leben mit einem Kopfschuß ein Ende38. Das Heiratsalter von mindestens 25 Jahren, das nicht nur für Offiziere, sondern auch für Unteroffiziere und Mannschaften galt, kollidierte schon bald mit den bevöl- kerungspolitischen Interessen des NS-Regimes. Das fortgeschrittene Alter der Ehe- leute, so mutmaßte man, wäre dem erwünschten Kinderreichtum hinderlich. Gleich- zeitig blieb der Prozentsatz der außerehelich gezeugten Soldatenkinder, wie bereits in der Reichswehr, so auch in der Wehrmacht, weiterhin konstant über dem Reichs- durchschnitt. Reichskriegsminister von Blomberg sah sich daher schon bald gezwun- gen, Ausnahmen vom Mindestalter für die Fälle zuzulassen, in denen die Geburt eines Kindes legalisiert werden sollte39. Offenbar versuchten in der Folge viele Soldaten durch die Schwangerschaft ihrer Verlobten, eine Heirat im Ausnahmeverfahren zu er- zwingen, was wiederum das OKW veranlaßte, die Verfügung des Reichskriegsmini- sters als eine „Kann-Bestimmung" auszulegen und die Zustimmung von einer dienst- lichen Beurteilung abhängig zu machen40. Die Beispiele beleuchten die Versuche der Wehrmachtführung, auf dem schmalen Grad zwischen Tradition und zwangsläufiger Modernisierung voranzuschreiten, ohne in das eine oder andere Extrem abzugleiten. Die „Wehrmachtideologie" der Vorkriegszeit, mit der die Machtposition der Streit- kräfte im nationalsozialistischen Staat durch eine Politik der flexiblen Anpassung er- halten bleiben sollte, machte nach den Vorstellungen der Traditionalisten in der Hee- resführung im gesellschaftspolitischen Bereich nicht selten eine Schadensbegrenzung notwendig. Die Auflockerung des traditionellen Wertgefüges war zweifellos Produkt der extremen Personalvergrößerung des Offizierkorps nach 1935 und seiner damit

37 Der Oberbefehlshaber des Heeres, Nr. 205/36 PA (2) vom 15. 1. 1936; BA-MA, RH 39/155. 38 Truppenarzt I/Art-Rgt. 7, München Az. 49s vom 19. 4. 1937; BA-MA, RH 50/41. 39 Der Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Nr. 2656/37 geh. Ha vom 30. 10. 1937; BA-MA, RH 53-7/v. 626. 40 Oberkommando der Wehrmacht Az. 13 k J (Ic), Nr. 1629/38 geh. vom 30. 7. 1938; BA-MA, RH 53-7/v. 626. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 665 einhergehenden sozialen Öffnung. Die Konsolidierung der Gemeinschaft mußte nun zwangsläufig auf einem anderen, weniger exklusiven Niveau erfolgen. Mit Kriegsbeginn unterlagen alle zur Wehrmacht Einberufenen unterschiedslos der Heiratsordnung41. Stärker noch als in den Jahren zuvor, achtete nun die Partei darauf, daß die Wehrmacht nicht gegen den Strom der Volksgemeinschaftsideologie schwamm. Damit setzte ein zäher, nicht immer sichtbarer Kampf zwischen den Befür- wortern unwandelbarer soldatischer Grundsätze und denjenigen ein, die der Wehr- macht eine behutsame Anpassung empfahlen. Vor allem die nun in die höheren Kommandostellen vorrückenden Vertreter der Frontkämpfergeneration des Ersten Weltkrieges wurden nicht müde, das Menetekel eines neuerlichen Mentalitätsgefälles zwischen dem Offizierkorps und der Truppe zu beschwören. Ein anschauliches Bei- spiel für die Hartnäckigkeit, mit der die Heeresführung zunächst ihre überkommenen Prinzipien verteidigte, bietet ein Vorgang, mit dem der Oberbefehlshaber des Heeres unmittelbar nach Kriegsausbruch auf dem „Gnadenwege" dem Heiratsgesuch eines Oberleutnants stattgab, der seine schwangere Braut zu ehelichen gedachte. Brau- chitsch sprach dem Offizier jedoch gleichzeitig sein schärfstes Mißfallen aus und stellte für die Zeit nach dem „besonderen Einsatz" weitere erzieherische Maßnahmen in Aussicht42. Ende 1940 forderte das Heerespersonalamt eine außerterminliche Beur- teilung des jungen Offiziers über seine Bewährung vor dem Feind an. Nach dem diese offenbar bejaht werden konnte, wurde der Fall erst am 23. April 1941 als endgültig ab- geschlossen betrachtet43. Zu diesem Zeitpunkt waren die moralischen Erwägungen, die diese Entscheidung bestimmt hatten, von der allgemeinen Entwicklung längst überholt. Am 28. Oktober 1939 hatte Himmler in seiner Eigenschaft als Reichsführer SS und Chef der Deut- schen Polizei in einem SS-Befehl pathetisch, aber gleichsam auch lebensnah, unter an- derem erklärt: „Über die Grenzen vielleicht sonst notwendiger bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus wird es auch außerhalb der Ehe für deutsche Frauen und Mädel guten Blutes eine hohe Aufgabe sein können, nicht aus Leichtsinn, sondern in tiefstem sittlichen Ernst Mütter der Kinder ins Feld ziehender Soldaten zu werden, von denen das Schicksal allein weiß, ob sie heimkehren oder für Deutschland fal- len."44 Er schloß daran die Aufforderung: „Auch für die Männer und Frauen, deren Platz durch den Befehl des Staates in der Heimat ist, gilt gerade in dieser Zeit die hei- lige Verpflichtung, wiederum Väter und Mütter von Kindern zu werden." Der Befehl, dessen Wortlaut unvollständig und verzerrt in der Wehrmacht kolportiert wurde, ließ eine besorgniserregende Unruhe bei den an der Westgrenze massierten Verbänden entstehen und veranlaßte den Oberbefehlshaber des Heeres, Himmler zu einer Inter- pretation seines Befehls anzuregen43. Die Affäre wirft ein bezeichnendes Licht auf die tiefe Kluft, die zwischen den Vertretern der Partei und führenden Angehörigen der Wehrmachtelite zumindest in sittlich-moralischen Fragen bestand. Tatsächlich scheint

41 HVBl. 1939, Teil C, S. 376. Heiratserlaubnis für Offiziere vom 21. 10. 1939. 42 Oberkommando des Heeres, Nr. 4122/39 g. PA (2) (Ia) vom 31.8. 1939; BA-MA RH 53-7/v. 626. 43 Oberkommando des Heeres, Nr. 847/40 g. PA (2) (II/Hc) vom 10. 12. 1940; BA-MA, RH 53-7/v. 626. 44 Der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern, SS-Befehl für die gesamte SS und Polizei vom 28. 10. 1939; BA-MA, RH 39/421. 45 Der Kommandierende General des XXX.A.K. Betr.: Stimmung in der Truppe vom 12. 1. 1940; BA-MA, RH 39/421. 666 Bernhard R. Kroener man im Heer der Ansicht gewesen zu sein, der Reichsführer SS habe mit diesem Be- fehl seinen in der Heimat befindlichen SS-Männern den Auftrag erteilt, „sich um die Frauen der im Felde befindlichen Soldaten, um deren eheliche Beziehungen und um ihr engstes Familienleben" zu kümmern. Einige Divisionskommandeure, mit den in- nenpolitischen Sprachregelungen des Regimes weniger vertraut, ließen in den Anwei- sungen für die ihnen unterstellten Verbände keinen Zweifel, daß sie den Vertretern der Partei tatsächlich derartige Absichten unterstellten. So heißt es im Tagesbefehl des Kommandeurs der 93. Infanteriedivision: „Darüber hinaus dürfen wir zum Oberbe- fehlshaber des Heeres das Vertrauen haben, daß er für den notwendigen Schutz der Angehörigen der Soldaten in der Heimat sorgt."46 Himmlers Vorstoß war jedoch nicht die isolierte Tat eines ideologischen Phanta- sten. Fast zeitgleich schrieb Rudolf Hess einen offenen Brief an eine unverheiratete Mutter47. Das Dokument erläutert an der Schwelle des Frankreichfeldzuges die schon traumatische Vorstellung des Regimes, es könne wieder wie während des Ersten Welt- krieges zu einer rassischen Negativauslese kommen, es könne erneut eine Geburten- katastrophe eintreten, die in den Jahren zwischen 1914 und 1918 zu einem demogra- phischen Tief geführt hatte, deren Auswirkungen das NS-Regime zu Beginn des Krie- ges deutlich zu spüren bekam. Vor diesem Hintergrund ist der Hinweis zu verstehen, den Hess in die Worte kleidete: „Wenn daher rassisch einwandfreie junge Männer, die ins Feld rücken, Kinder hinterlassen, die ihr Blut weitertragen in kommende Ge- schlechter, Kinder von gleichfalls erbgesunden Mädchen des entsprechenden Alters, mit denen eine Heirat aus irgendeinem Grund nicht sofort möglich ist, wird für die Erhaltung dieses wertvollen nationalen Gutes gesorgt werden. Bedenken, die in nor- malen Zeiten ihre Berechtigung haben, müssen hier zurückstehen." Und an die Adresse der nach seinem Verständnis reaktionären Offizierclique war der Hinweis ge- richtet: „Was wäre gar die preußische Armee ohne einen unehelichen Yorck! Was wäre Preußens Schicksal ohne diesen Mann! Wäre es ein Ausgleich, wenn dafür eine These der gesellschaftlichen Moral gesiegt hätte?!" Daneben findet sich gleichsam als Beruhigung für die religiös gebundenen Schichten der Bevölkerung die Bemerkung: „und es ist meine feste Überzeugung, daß er (der Herrgott) auch den Kindern seinen Segen nicht entzieht, die in den Notzeiten eines Krieges ihrem Volk geschenkt wer- den nach anderen als den uns sonst gewohnten Gesetzen". Vergleicht man diese mas- sive Offensive der Partei mit der restriktiven Behandlung außerehelicher Verhältnisse im Heer, so wird der Anpassungsdruck deutlich, unter den der Moralkodex der militä- rischen Elite, je länger der Krieg dauerte, immer stärker geriet. In einer Zeit, in der viele junge Offiziere noch vor Erreichen des heiratsfähigen Al- ters den Tod fanden, in denen sexuelle Bindungen aus Überlebensangst oder in der kurzen Freude, überlebt zu haben, eingegangen wurden, erschienen nicht nur über- Nationalsozialisten zeugten Altersgrenzen und sittlich gerechtfertigte Skrupel ana- chronistisch. Der Wegfall jeglicher Altersgrenze, ja sogar die Zustimmung zu Ehen Minderjähriger über 18 Jahre vermischte sich in den folgenden Jahren zunehmend mit den bevölkerungspolitischen Vorstellungen des Regimes, das auf diese Weise den ständig steigenden Blutzoll auszugleichen suchte. Noch vor Beginn des Frankreich-

46 Der Kommandeur der 93 I.D. vom 11.1.1940; RH 39/421. 47 BA-MA, Rudolf Heß an eine unverheiratete Mutter; BA-MA, RH 53-7/v. 218b. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 667 feldzuges wurde daher die zu erwartende Geburt eines Kindes, auch bei Offizieren, von dem Makel eines unehrenhaften und nicht standesgemäßen Verhaltens befreit. Durch eine möglichst frühzeitige Eheschließung sollte „zur Erhaltung deutschen Blu- tes gerade im Kriege allen rassisch wertvollen gesunden und verantwortungsbewuß- ten ...Menschen frühzeitig der Weg zur kinderreichen Ehe eröffnet werden"48. An die- sen Zitaten wird deutlich, wie weit sich das Heer bereits von seinen noch in der Zwi- schenkriegszeit gültigen Wertvorstellungen gelöst hatte. Erschien damals die Heirats- annonce eines Offiziers bereits als standeswidrig, so war man 1940 bereit, durchaus konform mit den Vorstellungen der Partei, die Folgen außerehelichen Geschlechtsver- kehrs selbst bei Offizieren nicht nur hinzunehmen, sondern sogar gutzuheißen. Die Entscheidung, ob es sich dabei um einen weiteren Schritt in Richtung auf eine zeitge- mäße Modernisierung des sittlich-moralischen Bewußtseins der militärischen Elite ge- handelt hat, bleibt zweifellos dem subjektiven Ermessen jedes einzelnen Betrachters überlassen. Im Januar 1940 hatte sich Hitler gegenüber seinem Heeresadjutanten dezi- diert kritisch über die Praxis der Heiratsordnung geäußert und sie als „reaktionär, zöli- batisch und engstirnig" bezeichnet. „Einem zum Mann gewordenen Jüngling, der die Verantwortung trage, eine Waffe zu gebrauchen, müsse man auch zugestehen, nach seiner sexuellen Veranlagung zu einem Weibe zu gehen. Im übrigen sei das das heil- samste Mittel gegen Entartung. Spätestens mit 22 Jahren müsse dem Soldaten gestat- tet werden zu heiraten, und er werde diese dummen Heiratsbestimmungen ändern; die SS sei auch in dieser Hinsicht viel moderner und volksnaher als das Heer. Wie wolle man ein Volk vermehren, wenn man die Gründung einer Familie um ein halbes Jahrzehnt hinauszögere. Im Kriege seien solche Bestimmungen sowieso dummes Zeug, da man die Nachkommenschaft verhindere."49 Schwerwiegender als die Lockerung sittlicher Normen, die durch den Krieg und seine Begleiterscheinungen gerechtfertigt erschienen, wirkten sich die verschärften Anforderungen an die politische Unbedenklichkeit der Braut und ihrer Familie aus. Die „Heiratsordnung für den besonderen Einsatz" der Wehrmacht vom 21. Januar 1940, eine Formulierung, die den Begriff „Krieg" noch vermied, verlangte von der Ehefrau eines Offiziers nicht mehr nur Staatstreue, sondern die Bejahung des national- sozialistischen Staates50. Nach dem Verständnis der Wehrmachtführung übernahm ein Offizier mit der Eheschließung auch die Verantwortung für die politische Einstel- lung seiner Ehefrau. Die entsprechenden Verfügungen atmen noch ganz den Geist ei- nes patriarchalisch-orientierten Partnerschaftsverständnisses. Sie verlangten, „daß der Offizier auch für Handlungen und Unterlassungen seiner Frau mitverantwortlich ist und somit die Verpflichtung hat, seinen ganzen Einfluß auf das Verhalten seiner Frau zur Geltung zu bringen"51. In besonderen Fällen konnte politische Unzuverlässigkeit der Ehefrau dazu führen, daß der Ehemann von seinem Vorgesetzten zur Rechen-

48 Oberkommando des Heeres, Nr. 1190/40 PA (2) (Ic) vom 1. 4. 1940; BA-MA, RH 21-2/v. 61; Oron James Haie, and the Post-War German Birthrate. An Unpublished Memorandum, in : Journal of Cen- tral European Affairs 17 (1957/58), S. 166 f. 49 Hildegard von Kotze (Hrsg.), Heeresadjutant bei Hitler 1938-1943. Aufzeichnungen des Majors Engel, Stuttgart 1974, S. 72, 22. 1. 1940. 50 HVBl. 1940, TeilC, S. 396 ff., Heiratsordnung für den besonderen Einsatz der Wehrmacht vom 21. 1. 1940, Ziffer 5. 51 Der Stellvertretende Kommandierende General und Befehlshaber im Wehrkreis XVII, Abt. Ha Nr. 10049 geh. Az. 14a vom 26. 7. 1941; BA-MA, RH 21-2/v. 61. 668 Bernhard R. Kroener schaft gezogen oder in seiner weiteren Karriere benachteiligt wurde. Damit besaß das Regime einen weiteren Hebel, um auch Sanktionen gegen einzelne Offiziere zu errei- chen. Folgerichtig sollte nach den Vorstellungen einer weiteren Kann-Bestimmung - nunmehr einer der drei von den Brautleuten zu bestimmenden Leumundszeugen -der für die Braut zuständige Hoheitsträger der Partei sein52. Damit räumte die Wehr- macht der Partei eine erhebliche Kontrollmöglichkeit der politischen Einstellung jun- ger Offizierfamilien ein. Vermochte die Armee dies in der Vorkriegszeit noch zu um- gehen, so machte die Partei als Wächter über die „Volksgemeinschaftsideologie" unter den Bedingungen des Krieges ihren Einfluß immer stärker geltend. Aus der mögli- chen Einschaltung eines lokalen Hoheitsträgers wurde dann durch eine erneute Revi- sion der Heiratsordnung noch vor Beginn des Ostkrieges eine zwingende Vorausset- zung53. Es lag natürlich im Interesse der Partei, bei dem erheblich gewachsenen Um- fang des Kriegsheeres über die politische Einstellung des militärischen Führernach- wuchses informiert zu bleiben. Mit dieser Maßnahme ließ sich das Netz der individu- ellen Überwachung noch enger knüpfen. Hinfort galt nicht nur jeder Offizier als un- zuverlässig, der eine Verbindung mit einer regimekritisch eingestellten Frau einzuge- hen beabsichtigte, sondern auch der Vorgesetzte, der sich über die ungünstige Beurtei- lung einer Ortsgruppe wissentlich hinwegsetzte, machte sich eines aktenkundigen Dienstvergehens schuldig. Welche grotesken, aber nichtsdestoweniger bedrohlichen Auswirkungen diese Be- stimmungen für die persönlichen Lebensverhältnisse junger Offiziere haben konnten, zeigt die Stellungnahme, die der NSDAP-Kreisleiter von Fürstenfeldbruck am 9. De- zember 1943 zur Heiratserlaubnis von Fräulein H. M. an das Stellv. Generalkom- mando VII A.K. abgab: „Mit Schreiben vom 7. Dezember teilten Sie uns mit, daß Ih- nen die Beurteilung der Genannten nicht genügt. Ich möchte Sie davon verständigen, daß ich die Beurteilung nicht so kurz abgefaßt habe, wie sie im genannten Schreiben dargelegt ist. Unterm 27.11.43 teilte ich dem Kommandeur des Pz.Gren.Ers.Btl. 40 in Augsburg folgendes mit: ,Die Genannte ist in der Kreisleitung vorstellig geworden und hat um Weiterleitung einer politischen Beurteilung an die vorgenannte Adresse gebeten, weil sie sich mit einem Wehrmachtsangehörigen verheiraten will. Hierzu ist zu sagen, daß H. M. politisch gleichgültig ist und keiner Gliederung oder keinem Verband der NSDAP angehört. Sie kennt den Deutschen Gruß nicht. Ihr Va- ter Dr. O. M. war v. 1.9.30-1.8.35 Mitglied der NSDAP, ist dann ausgetreten. Die Mutter gehört ebenfalls keiner Gliederung der NSDAP an. Die Familie kann keines- falls als politisch einwandfrei bezeichnet werden. Im Strafregister sind keine Einträge vermerkt. Ob diese Feststellungen gegen die Verheiratung mit einem Wehrmachtan- gehörigen sprechen, kann hier nicht beurteilt werden.' Ergänzend möchte ich noch hinzufügen, daß man eine Dame nicht als politisch zuverlässig ansprechen kann, wenn sie nicht einmal bei Betreten des Ortsgruppendienstraumes den Hoheitsträger mit ,Heil Hitler' begrüßt und bei Verabschiedung dies ebenfalls konsequent vermeidet. Ihr Gruß war ,Guten Tag'. Wenn man schon beim Hoheitsträger irgend etwas erreichen will, so muß man mindestens schon die Klugheit besitzen und sich hier so benehmen,

52 HVBI. 1940, Teil C, S. 396 ff., Heiratsordnung für den besonderen Einsatz der Wehrmacht vom 21. 1. 1940, Ziffer 6b. 53 HVBI. 1941, Teil C, S. 396 ff., Heiratsordnung für den besonderen Einsatz der Wehrmacht vom 7. 5. 1941, Ziffer 6b. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 669 wie man es von einem gesinnungsmäßig anständigen Deutschen voraussetzen muß. Ich spreche daher Frl. H. M. ab, daß sie für den Nationalsozialismus auch nur das Ge- ringste übrig hat."54 In diesen wie in vielen anderen ähnlich gelagerten Fällen hing es letztlich von der Zivilcourage des vorgesetzten Offiziers ab, ob er sich dem Votum der Partei beugte oder nicht. Mit der Verschärfung der politischen Überwachung verband sich gleichzeitig die Lockerung der bisherigen sittlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen einer Of- fiziersehe. Dabei zeigt sich, daß der Wortlaut der Verfügungen kaum geändert, den Begriffen nur eine dem Zeitgeist angepaßte neue Interpretation unterlegt worden war. Dieser Befund läßt sich auch auf anderen Untersuchungsfeldern beobachten und könnte zu dem Urteil verleiten, die Wehrmacht habe auch während des Krieges den ideologischen Freiraum bewahren können, den sie in der Vorkriegszeit zumindest par- tiell behauptet hatte. Doch führt eine solche Interpretation in die Irre. Die Heiratsord- nung von 1922 forderte eine Ehefrau mit einwandfreiem Ruf aus achtbarer Familie. Eine identische Aussage findet sich auch in der Heiratsordnung vom Mai 1941. Doch das OKH hatte dazu eine eindeutige Sprachregelung ausgegeben. Es hieß nämlich: „Auch für die Beurteilung der zukünftigen Ehefrau muß das große volkspolitische Ziel richtunggebend sein." („Erhaltung deutschen Blutes und die Notwendigkeit, rassisch wertvollen Menschen den Weg zu kinderreicher Ehe frühzeitig zu eröffnen.") „Ent- scheidend ist der eigene Persönlichkeitswert der Frau, nicht die Wertung der Familie, der sie entstammt." Die Auslegung des Begriffs „.achtbare Familie' ... muß frei von Engherzigkeit und Schema sein. Mängel von Eltern und Geschwistern usw., der zu- künftigen Ehefrau, welche die Achtbarkeit der Familie ,in Frage stellen', sind an sich kein Grund zur Verweigerung der Heiratsgenehmigung ,"55 Damit hatte die Heeres- führung endgültig mit dem traditionellen Bild, nachdem.. die Offizierfrau den „besse- ren Kreisen" zu entstammen hatte, gebrochen. Auf den „Persönlichkeitswert" einer Offizierfrau fiel also auch durch die vorzeitige Geburt eines Kindes kein Makel. Selbst eine schuldhafte Scheidung sollte ihr nicht ohne weiteres als moralische Verfehlung ausgelegt werden56. Diese aus heutiger Sicht sicherlich fortschrittlich anmutenden Hinweise bedeuteten für viele, vor allem ältere Offiziere, einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Doch die quantitative Vergrö- ßerung des Offizierkorps zwang förmlich zu einer Abkehr von althergebrachten sittli- chen Wertvorstellungen. Noch ein weiteres Indiz beleuchtet augenfällig die veränderte soziale Komposition des Offizierkorps. Bis zum Ausbruch des Krieges bestand keine Notwendigkeit, in die Heiratsordnung des Heeres den Hinweis aufzunehmen, daß die Ehefrau eines Offi- ziers zur Sicherung des Lebensunterhaltes einem Broterwerb nachgehen dürfe. Zum einen war es bei Töchtern aus dem gehobenen Bürgertum weitgehend unüblich, einen Beruf auszuüben, zum anderen wurde selbstverständlich eine Mitgift vorausgesetzt, die dem jungen Paar eine standesgemäße Lebensführung ermöglichte. Der steigende Per- sonalbedarf des Heeres während des Krieges führte dem Reserveoffizierkorps in im- mer größerem Umfang Nachwuchskräfte aus dem mittleren und unteren Bürgertum

54 NSDAP/Gau München/Oberbayern/Kreisleitung Fürstenfeldbruck, 9. 12. 1943; BA-MA, RH 53-7/v. 626. " Vgl. Anm. 48. 56 HVBl. 1940, Teil C, S. 108 ff., Heiratsordnung für den besonderen Einsatz der Wehrmacht vom 4. 3. 1940, Ziffer 5a, 1. 670 Bernhard R. Kroener

zu. Ließen sich noch 62,9 Prozent der Offizieranwärter der Jahre 1928/30 den sozial gehobenen Schichten zuordnen, während nur 36,7 Prozent dem mittleren Bürgertum und 0,4 Prozent den Unterschichten entstammten, so hatte sich Ende 1942 das Ver- hältnis bereits radikal verkehrt: Nur noch 21 Prozent ließen sich jetzt der oberen Ka- tegorie zuordnen, während 51 Prozent der mittleren und 28 Prozent der unteren ent- stammten57. In diesen Schichten kamen die weiblichen Familienmitglieder in der Re- gel selbst für ihren Unterhalt auf. Weiterhin ist zu bedenken, daß die Ideologie der Volksgemeinschaft gerade von der Offizierfrau im steigenden Umfang einen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen an der Heimatfront verlangte. Hatte der Befehlshaber des Ersatzheeres im September 1939 noch die traditionelle karitative Tätigkeit von Offizierfrauen in der Kranken- und Wohlfahrtspflege im Blick, so deutete er gleichzei- tig doch schon die Möglichkeit einer Tätigkeit in der Rüstungs- und kriegswichtigen Industrie an58. Die Entwicklung zwang die Heeresführung dann auch dazu, in der Heiratsordnung von 1941, zumindest für die Dauer des Krieges, das Verbot einer Be- rufstätigkeit für Offizierfrauen erstmals aufzuheben59. Gleichzeitig ließ die entspre- chende Formulierung erkennen, daß beabsichtigt war, nach Ende des Krieges, und mit Reduzierung des Heeres auf Friedensstärke, wieder zu den alten Zuständen zurückzu- kehren. Unmerklich räumte die Heeresführung in der ersten Kriegshälfte für das Selbstverständnis des Korps entscheidende Positionen, näherte sich das Heeresoffi- zierkorps immer stärker den Strukturen an, von denen es umgeben war. Der Weg zu- rück zu den Verhältnissen der Vorkriegszeit und des Reichsheeres wurde, je länger der Krieg dauerte, desto unwahrscheinlicher. Der Anpassungsdruck, dem sich vor allem die älteren Offiziere des Heeres ausge- setzt sahen, besaß auch eine immer schärfer zutage tretende ideologische Dimension. Auch hier wirkte der Krieg als Katalysator. Bis unmittelbar nach Abschluß des Polen- feldzuges hatte Hitler jede Heirat von Wehrmachtangehörigen mit Ausländerinnen, auch der nordischen Staaten, grundsätzlich untersagt60. Sollte auf diese Weise zu- nächst eine unerwünschte Vermischung „rassisch hochwertiger deutscher Offiziere" mit Angehörigen der slawischen Staaten verhindert werden, so zeigte sich während der Besetzung der Staaten Westeuropas und Skandinaviens, daß diese Bestimmungen für die „germanischen Nachbarvölker" (Holländerinnen, Norwegerinnen, Schwedin- nen und Däninnen) nicht aufrechterhalten werden konnten. Rasseideologische Ein- wände erschienen in derartigen Fällen wenig begründet61. Die nun geltende entwür- digende Prozedur, zu der die Wehrmachtführung ihre Zustimmung gab, läßt erken- nen, welche groteske Formen der Heiratskonsens nach Ende des Krieges wohl ange- nommen hätte. Um von Berlin aus eine rassische wie politische Unbedenklich- - -

57 Vgl. Anm. 96. 58 Der Befehlshaber des Ersatzheeres vom 25. 9. 1939, mitgeteilt mit: Oberkommando des Heeres Az. 14 PA (2) I/Ia Nr. 7560/40 vom 28. 12. 1940; BA-MA, RH 12-1/v. 120. 59 HVBI. 1940, Teil C, S. 108 ff., Heiratsordnung für den besonderen Einsatz der Wehrmacht vom 4. 3. 1940, Ziffer 50 und Anm. 54, Ziffer 5c. 60 OKH, Nr. 3593/39 PA (2) Gr. I/Ia vom 10. 8. 1939; BA-MA, RH 39/201. Diese Verfügung bezieht sich, wie auch alle späteren, auf ausdrückliche Anordnungen Hitlers. In der Vorkriegszeit war nur in ganz besonderen Fällen die Heirat zwischen einem Offizier und Angehörigen der „Nordischen Staaten" erlaubt. Der entspre- chende Befehl wurde am 6. 10. 1939 noch einmal wiederholt. OKH, Nr. 3593/39 PA (2) Gr. I/Ia vom 6. Ok- tober 1939; Jahresverfügung 1940, von Spionage, Sabotage und Zersetzung in der Wehrmacht; BA- MA, RWD 10/1 (1940). 61 OKW, Az. 13 h J (Ic) Nr. 400/41 geh. vom 28. 2. 1941; BA-MA, RW 4/v. 300. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 671 keitsbescheinigung erhalten zu können, mußte jede Offizierbraut neben der von einer deutschen Dienststelle der besetzten Gebiete auszufertigenden eingehenden politi- schen Beurteilung nicht weniger als vier Lichtbilder einreichen, von denen zwei im Postkartenformat „die Braut in ganzer Figur (Vorder- und Seitenansicht)" darzustellen hatte62. Damit zog die Wehrmacht auch hier mit den Praktiken der SS gleich, die bei sämtlichen Heiratsanträgen, nicht nur der Führer, stets entsprechende Lichtbilder an- forderte63. Die Entwicklung, der die hier ausführlich behandelte Heiratsordnung bis zur Mitte des Krieges unterworfen war, spiegelt den Anpassungsdruck wider, dem die Wehr- macht auch in anderen Lebensbereichen zunehmend erlag. Eine Viertelmillion Offi- ziere war kein Korps im traditionellen Sinne mehr. Die „Dekomposition der Armee", die Generaloberst Beck und viele andere hohe Offiziere Ende 1942 konstatierten, be- inhaltete immerhin die Chance einer breiten sozialen Verwurzelung des Offiziers in der Gesellschaft, aber auch die Gefahr einer ideologischen Erosion64. e) Der Ehrenkodex Als weiteres Beispiel mag in diesem Zusammenhang die Entwicklung des militäri- schen Ehrenkodex dienen. Die besondere Ehrauffassung des Offiziers, Derivat des adeligen Kastengeistes der altpreußischen Armee des 18. Jahrhunderts, überdauerte zunächst noch das Ende der Hohenzollernmonarchie, da die traditionelle Herkunfts-, Erziehungs- und Erfahrungsstruktur bei der Spitzengruppe im Offizierkorps der Reichswehr weitgehend erhalten blieb. Die durch die Aufrüstung nach 1933 erzwun- gene weitgehende soziale Öffnung und die nach 1942 möglichen „Blitzkarrieren" un- terhöhlten den Konsens über die besondere Standesehre des Offiziers, die vor allem von den Jüngeren zunehmend als wenig zeitgemäß empfunden wurde65. Zu lange war versäumt worden, den Ehrbegriff inhaltlich neu zu füllen und ihn den Erfordernissen eines modernen, technisch geführten Krieges anzupassen. Die kollektive Ethik des Offizierstandes hatte einen Ehrbegriff hervorgebracht, dessen Normenkatalog primär an den Erfordernissen kriegerischer Bewährung ausgerichtet war. Neben den traditio- nellen soldatischen Sekundärtugenden wie etwa Tapferkeit, Mut und Entschlossenheit erhielten Pflichterfüllung und Treue gerade in der preußisch-deutschen Armee ein immer größeres Gewicht. Sie überlagerten in der Folge die eher individualethisch ge- prägten Elemente des Ehrbegriffs wie Wahrhaftigkeit, Offenheit und sittliche Untade- ligkeit und ermöglichten schließlich den qualitativen Umschlag in die absolut gesetz- ten Forderungen nach „unverbrüchlicher Treue" und „blindem Gehorsam". Die tradi- tionell enge Bindung des soldatischen Treue- und Gehorsamsbegriffs an die Integra- tionsfigur eines Obersten Kriegsherrn ließ im Nationalsozialismus den ständisch ge- prägten Ehrbegriff aufgehen in dem militärrechtlich fixierten Beziehungssystem von

62 OKW, Az. 13 h AWAJ (Va) Nr. 138/42 geh. vom 5. 8. 1942; BA-MA, Wi VIII 42. 63 Bernd Wegner, Das Führerkorps der bewaffneten SS 1933-1945, Diss. Hamburg 1980, S. 350 (Ms). 64 Ulrich von Hassell, Vom anderen Deutschland, Frankfurt 1946, S. 247, revidierte und erweiterte Neuaus- gabe, München 1986, im Druck. 65 Friedrich Altrichter, Die seelischen Kräfte des Deutschen Heeres im Frieden und im Weltkriege, Berlin 1933, S. 234. Altrichters Auffassungen wurden zweifellos von der Mehrzahl der sich mit den Problemen „wehrgeistiger Führung" beschäftigenden Schriftstellern der Zwischenkriegszeit geteilt. 672 Bernhard R. Kroener Befehl und Gehorsam, in dem jede Abweichung als Auflehnung geahndet werden konnte. Bereits das durch eine Wehrmachtideologie unmittelbar vor Kriegsausbruch zustandegekommene „Ehrenabkommen zwischen Partei und Wehrmacht" leugnete bewußt die besondere Ehre des Offiziers. Sie blieb im Gegenteil eingebunden in eine höherwertige, alle Volksgenossen gleichermaßen einschließende, „aus der nationalso- zialistischen Weltanschauung geborene Ehrauffassung"66. Für die Masse der Offiziere, vor allem für die während des Krieges das Bild bestimmenden Reserveoffiziere, er- schien diese Einstellung zeitgemäßer, als jener, an den Normen adeligen Standesbe- wußtseins orientierte Ehrbegriff, wie er sich in der Vorschrift „Wahrung der Ehre" al- ler nationalsozialistisch eingefärbten Präambeln zum Trotz immer noch behauptete. Dazu hatte 1937 der Oberbefehlshaber des Heeres bereits feststellen können, „daß die Verfügung ,Wahrung der Ehre'" noch immer nicht allen Offizieren bekannt geworden sei. Sogar Offiziere in höheren Stellungen hätten keine bzw. nicht ausreichend Kennt- nis genommen67. Major Engel, Hitlers Heeresadjutant, traf zweifellos die Stimmung vieler Kameraden seiner Altersgruppe, als er im Sommer 1939 feststellte: „Uns Jünge- ren ist schon seit langem klar, daß die ganzen sogenannten Ehrbestimmungen einer gründlichen Überprüfung bedürfen."68 Unter dem Vorwand einer kriegsbedingt notwendigen Vereinfachung des Verfah- rens wurden im Oktober 1942 alle Ehrengerichte des Heeres für die Dauer des Krie- ges suspendiert, nachdem die Luftwaffe entsprechende Einrichtungen bereits im Sep- tember abgeschafft hatte69. Getreu dem nationalsozialistischen Führerprinzip übertrug Hitler nach einem entsprechenden Vorschlag des Heerespersonalamts dem jeweiligen Kommandeur die ausschließliche Verantwortung über die Erledigung von Ehrenfra- gen. Die Maßnahme bildete eine folgerichtige Ergänzung zu den in der zweiten Kriegshälfte eingeleiteten Strukturveränderungen im Heer. Übernahm das Offizier- korps nicht mehr die Verantwortung über die Aufnahme des einzelnen in seine Rei- hen, besaß es auch keinen eigenen Ehrenkodex mehr, über dessen Einhaltung nur die- jenigen hätten wachen können, die diese Prinzipien selbst lebten, so wurde ein eigen- ständiger Sanktionsmechanismus in der Tat überflüssig70. Das Korps in seiner Ge- samtheit verlor damit aber das Recht, kollegial über die Normenwahrung seiner Ange- hörigen zu entscheiden. Zweifellos drängte die Lage an den Fronten, wo die Führer einzelner Einheiten kaum Zeit und Möglichkeit zur Einberufung eines Ehrenrates fanden, zu einer prozessualen Vereinfachung. Bei der Aufzählung der einzelnen De- liktgruppen, bei denen die Eröffnung eines Ehrenverfahrens noch gerechtfertigt sein sollte, stand jetzt bezeichnenderweise die Ahndung von Verstößen gegen die weltan- schauliche Gesinnung an erster, die Verteidigung der Ehre an siebter und letzter Stelle71. Ein ideologischer Konformismus, der gegen Ende des Krieges auf blindem, unerschütterlichem Gehorsam und mystifizierendem Endsiegglauben bestand, überla- gerte altpreußische Tugenden wie Wahrheit, Offenheit, Tapferkeit und sittliche Unta-

66 Messerschmidt, Wehrmacht, S. 89. 67 Der Oberbefehlshaber des Heeres, Nr. 1885/37 PA (2) Ia vom 13. 4. 1937 geh. Wahrung der Ehre; BA- MA, RH 39/154. - 68 Von Kotze, Heeresadjutant, S. 55, 20. 7. 1939. 69 Messerschmidt, Wehrmacht, S. 383 ff. 70 Ebd., S. 387. Diensttagebuch Chef HPA, S. 9, Eintrag vom 15. 10. 1942. 71 Messerschmidt, Wehrmacht, S. 386. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 673 deligkeit, die bis dahin für die Ehre eines Offiziers bestimmend gewesen waren. Als General Wilhelm Burgdorf, der Nachfolger Schmundts an der Spitze des Heeresperso- nalamts, Ende 1944 den Begriff „Ehrensachen" als Stichwort in der vom Personalamt herausgegebenen regelmäßig erscheinenden Sammlung von Belehrungsfällen für die Erziehung im Offizierkorps strich und durch eine am Militärdisziplinar- und Straf- recht orientierte Tatbestandsdefinition ersetzte, war die besonders akzentuierte Ehr- auffassung des deutschen Offiziers bereits in einem nebulösen, aus den Wurzeln einer sozialdarwinistisch pervertierten Frontkämpferideologie entstandenem nationalsoziali- stischen Ehrbegriff aufgegangen72. Nachdem das Korps sich kaum mehr aus dem preußischen Adel und den „offizierfähigen Schichten" rekrutierte, verlor auch der ihm eigene Ehrbegriff seine Funktion. Schon gar nicht ließ er sich nachträglich bei denen implantieren, denen diese Ehrauffassung nie etwas bedeutet hatte73.

2. Beförderungskriterien: Anciennität oder Leistung? Der bedeutsamste Schritt, das gewachsene Ordnungsgefüge des Offizierkorps nach- haltig zu verändern, erfolgte durch die Neuordnung der Beförderungsbestimmungen. Die )rAnciennität", d.h. die Beförderung nach dem Dienstalter, gehörte seit dem 18. Jahrhundert zu den unverrückbaren Grundpfeilern im militärischen Ranggefüge der preußisch-deutschen Armee. Sie bildete das Grundgesetz einer Gesellschaft gleichwer- tiger Mitglieder, die daher unterscheidender, nicht aber wertender Ordnungsprinzi- pien untereinander bedurften, wie sie auf der Basis des Dienstalters sozusagen von selbst zweifellos gegeben waren. Mit der „Beförderung nach dem Rangdienstalter" tra- ten wertende und einteilende Regularien in eine fruchtbare Kombination. Wer die Befähigung zum nächsthöheren Dienstgrad nachgewiesen hatte, konnte nach einer im voraus festgelegten Anzahl von Dienstjahren im Rahmen der Anciennität befördert werden. Ein die Gruppensolidarität sprengender Ehrgeiz ließ sich auf diese Weise - zumindest im Frieden ebenso unter Kontrolle halten wie ein den gemeinsamen Eh- renkodex verletzendes -Kriechertum74. Das Prinzip wurde indes nie statisch gehand- habt. Bevorzugte Beförderungen als Stimulanz der Leistung, um einzelne herausra- gende Führerpersönlichkeiten bei Bedarf schnell befördern zu können, sind immer wieder praktiziert worden, blieben aber bis zum Ende des Kaiserreiches quantitativ stets die Ausnahme. Die Massenverluste des Ostkrieges forderten seit Jahresbeginn 1942 zwingend eine Lockerung der Einstellungsvoraussetzungen und, damit verbunden, eine Dynamisie- rung der Beförderungsstruktur. Dieser Prozeß kann wegen der unabweisbaren Erfor- dernisse eines modernen technisierten Massenkrieges nur bedingt als eine „Eliten- manipulation" angesehen werden. Personelle Verjüngung nach Maßgabe der physi- schen Leistungsanforderungen des jeweiligen Dienstpostens statt Avancement nach Anciennität, Koppelung von Dienstgrad und Dienststellung statt starrem Festhalten

72 Ebd., S. 387. 73 Der Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres/Chef des Ausbildungswesens im Ersatz- heer, Az. KS VI 2a in EB (F II), Nr. II 190/43 vom 1. 2. 1943; BA-MA, RH 12-1/v. 120. 74 Untersuchungen zur Geschichte des Offizierkorps. Anciennität und Beförderung nach Leistung, hrsg. vom MGFA, Stuttgart 1962, S. 177 ff. 674 Bernhard R. Kroener an einem Friedensstellenplan, „Bewährung in der Dienststellung" als zentrales Beför- derungskriterium statt Friedensbeurteilung und außerdienstliche Eignung bewirkten in der zweiten Kriegshälfte einen erheblichen Modernisierungsschub. Die in diesem Zusammenhang angeordneten Maßnahmen standen meist in unmittelbarem Zusam- menhang mit den extremen Personalverlusten des Feldheeres. Anfang 1942 galt für die Masse des Offizierkorps noch das Avancement nach der qualifizierten Anciennität, bei der der nach dem Dienstalter zum nächsthöheren Dienstgrad anstehende Offizier auch die Befähigung für den höheren Rang nachzu- weisen hatte75. Die Kämpfe während der Sommeroffensive 1942 im Osten erwiesen schon bald, vor allem bei den unteren Offizierchargen, eine deutliche Diskrepanz zwi- schen Dienstgrad und Dienststellung. Eine unausgewogene Altersschichtung und stei- gende Verluste erzwangen bereits im Herbst gleichen Jahres eine generelle Neurege- lung der Offizierbeförderung. Ende September mußten bereits 14219 Offizierdienst- posten im Feldheer unbesetzt bleiben. Eine Fehlquote, wie sie erst wieder unmittelbar vor dem Zusammenbruch 1944/45 erreicht wurde76. Am 1. Oktober 1942 war das Of- fizierkorps des Heeres mit 180765 Mann im Verhältnis zur Gesamt-Iststärke dieses Wehrmachtteils von etwa 7 300000 auf seinem tiefsten Stand während des Krieges angelangt77. Die Koinzidenz der Bekanntgabe des entsprechenden Erlasses und der Ernennung von Hitlers Generaladjutanten und uneingeschränktem Bewunderer Ru- dolf Schmundt zum Chef des Heerespersonalamtes haben die Vermutung genährt, daß weniger der Zwang der Situation, als vielmehr der Versuch, nationalsozialistisches Gedankengut wie etwa die Vorstellung von der Bewährung im Kampf als der einzig artgemäßen Daseinsform- durchzusetzen, diese Entwicklung bestimmt hätte. Diese - Annahme geht aber fehl. Ende 1942 gab es im Heer schon keine andere Alternative als eine generelle leistungsbezogene Beförderung. Ideologische Motive spielten bei der grundsätzlichen Entscheidung zugunsten der Leistungsbeförderung offenkundig keine Rolle. Das Regime erkannte allerdings sehr schnell die Chancen, die ihm diese Entwicklung bot. Die Kriterien, nach denen die individuelle Leistung beurteilt werden sollte, entstammten daher dem spezifischen Repertoire nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik78. So blieb die Bewährung im Kampf die zentrale Bewertungsgrundlage, wurde erfolgreiches Krisenmanagement zu einem Zeitpunkt Markenzeichen militärischen Führertums, als der Krieg sich für das Reich zu einer Dauerkrise entwickelte. Damit wurde der Frontoffizier endgültig zur Leitfigur der Offizierauswahl. Ideologische Rückgriffe auf den Ersten Weltkrieg wur- den von Hitler und dem Heerespersonalamt dabei bewußt propagiert. Das Front-

75 Reinhard Stumpf, Die Wehrmacht-Elite. Rang- und Herkunftsstruktur der deutschen Generale und Admí- rale 1933-1945, Boppard 1982, S. 326. Zum Vorhergehenden vgl. ebd., S. 341 ff. 76 Heerespersonalamt 1. St./Chefgr. Nr. 203/44 gKdos. vom 9. 2. 1944, Aufschlüsselung des Fehlbestandes an Offizieren der Felddivisionen; BA-MA, H 6/265. 77 Stellv. Chef HPA/Ia, Nr. 643/45 gKdos. vom 24. 3. 1945, Aufschlüsselung des Fehlbestandes an Offizieren der Felddivisionen; BA-MA, H 6/265. OKH/PA (1) St. 21/42 vom 4. 11. 1942, Verfügung zur Förderung von Führerpersönlichkeiten, abgedruckt in: Untersuchungen zur Geschichte des Offizierkorps. Anciennität und Beförderung nach Leistung, hrsg. vom MGFA, Stuttgart 1962, S. 286 ff., Dokument Nr. 20a. Ist-Stärke des Feld- und Ersatzheeres am 31. 12. 1942, OrgAbt. OKH, Handschr. Aufzeichnungen 1944; BA-MA, RH 2/v. 1341. 78 OKH/PA (1) St. 21/42 vom 4. 11. 1942, Verfügung zur Förderung von Führerpersönlichkeiten, abgedruckt in: Untersuchungen zur Geschichte des Offizierkorps. Anciennität und Beförderung nach Leistung, hrsg. vom MGFA, Stuttgart 1962, S. 286 ff., Dokument Nr. 20a. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 675 kämpfertum des „Großen Krieges" bildete den Nährboden, auf dem die Freikorps ebenso wie die nationalsozialistischen Sturmabteilungen der Kampfzeit zumindest - ihrem Anspruch nach gewachsen waren. Ihre Führungsgruppen waren stets bestrebt - gewesen, die Nähe zu den sozial erwünschten und damit offizierfähigen Kreisen der kaiserlichen Armee ebenso zu meiden, wie sie später auch den Elitecharakter des Reichswehroffizierkorps Seecktscher Prägung ablehnten79. Mit ihrer Übernahme in das Heeresoffizierkorps des Zweiten Weltkrieges, sei es als reaktivierte Offiziere oder als Reserveoffiziere, brach der aus dem Ersten Weltkrieg bekannte Gegensatz zwi- schen Frontoffizier und Stabs- bzw. Etappenoffizier erneut auf80. Im Lichte dieser Entwicklung erhält auch die Ende 1942 dekretierte Abschaffung der eigenen Uniform des OKH mehr als nur formale Bedeutung. Bereits unmittelbar nach seinem Amtsan- tritt hatte Schmundt dazu klar Stellung bezogen: „Nicht Zufall. Befehl des Führers: Das Kleid der Front soll auch im OKH Ehrenkleid sein, der Infanterist ist stolz auf seine bewährte Waffe, er scheut sich, ihre Farbe zu verleugnen."81 Zweifellos sah der neue Chef des Heerespersonalamtes eine seiner wichtigsten Aufgaben darin, den Vor- stellungen von einem einheitlichen „Führerkorps des Heeres" energisch Geltung zu verschaffen. Die Einebnung der unterschiedlichsten Offizierlaufbahnen bildete daher neben den geänderten Einstellungs- und Beförderungsgrundsätzen den dritten An- satzpunkt der Reform82. Nach der noch schrittweisen Übernahme der Ergänzungsoffi- ziere in das aktive Truppenoffizierkorps folgten im Oktober 1942 die Kriegsoffiziere, d.h. die während des Krieges zum Offizier beförderten ehemaligen Berufsunteroffi- ziere83. Gleichzeitig war die Wehrmachtführung bestrebt, die Generalstabsoffiziere ihrer Sonderstellung zu entkleiden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Zentralabteilung im Generalstab des Heeres die gesamte Personalführung der Generalstabsoffiziere ge- steuert. Somit dokumentierte sich bereits in der gewählten Organisationsform die her- ausragende Bedeutung dieser „Führergehilfen". Mit der Überführung der General- stabspersonalia ins Heerespersonalamt wurde der besondere Status des Generalstabs des Heeres, dem daher auch nach 1945 die alliierten Untersuchungsbehörden mit be- sonderem Argwohn begegneten, des heiligen Grals deutscher militärischer Führungs- tradition bewußt und nachhaltig zerstört. Mit dem Befehl, Generalstabsoffiziere zu- künftig nicht mehr bevorzugt zu befördern, es sei denn, sie dienten an der Front, er- ließ das Heerespersonalamt noch eine weitere egalisierende Anordnung84. Eine in- folge der rasch ansteigenden Verluste erforderliche enorme Verbreiterung der sozialen Rekrutierungsbasis, eine weitgehende Nivellierung innerhalb der einzelnen Offizier- laufbahnen und die uneingeschränkte Leistungsbeförderung für alle Angehörigen des Truppenoffizierkorps sind die Hauptmerkmale der Personalpolitik des Heeres in der zweiten Kriegshälfte83.

79 Vgl. Anm. 19. 80 Reichswehrministerium, Chef der Heeresleitung, Nr. 128/27 geh. PA (Chef) vom 22. 9. 1927, Der Chef der Heeresleitung General der Infanterie Heye über Persönlichkeitserziehung, abgedruckt in: Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, hrsg. vom MGFA, Stuttgart 1964, S. 246 ff., Dokument Nr. 93. 81 Schmundt-Rede vom 17. 11. 1942, vgl. Anm. 19. 82 Stumpf, Wehrmacht-Elite, S. 328 f. 83 Ebd., S. 328. 84 Ebd., S. 329. 85 Schmundt-Rede vom 17. 11. 1942; vgl. Anm. 19. 676 Bernhard R. Kroener Die Leistungsbeförderung ebnete, je näher die Agonie des Reiches heranrückte, nicht nur dem militärisch Tüchtigen, sondern auch dem ideologisch Zuverlässigen den Weg in Spitzenstellungen der militärischen Hierarchie. Die Auflösung des Korps- geistes kommt auch in einer bewußten Vermeidung des Begriffs „Offizierkorps" zum Ausdruck. Das „Militärische Führerkorps", wie es sich nach dem Willen Hitlers Ende 1944 konstituierte, umfaßte Offiziere im Truppendienst, Offiziere im Truppensonder- dienst und Wehrmachtsbeamte im Offizierrang86. Diese Lösung war offenbar nur als eine Etappe auf dem Weg zu einem einheitlichen Wehrmachtführerkorps gedacht, in dem sich Offiziere und Unteroffiziere nur durch funktionale, nicht aber durch Status- unterschiede voneinander abgrenzen sollten87. Wie weit diese Zukunftsprojektion in den letzten Kriegsmonaten im Begriff war Realität zu werden, beweist eine Anregung des Generalinspekteurs für den Führernachwuchs, in dessen Dienststelle die ehema- lige Inspektion für das Erziehungs- und Bildungswesen des Heeres im März 1944 auf- gegangen war. Am 26. Oktober 1944 schlug General von Hellermann vor, das Heeres- personalamt sollte zukünftig alle Offizier- und Unteroffizierpersonalien unter dem Stichwort „Führerkorps des Heeres" bearbeiten88. Die Anlehnung an die Nomenkla- tur der Parteiorganisation war dabei bewußt gewählt, hatte doch Hitler selbst in einem früheren Stadium der Diskussion, wenn auch zunächst noch vergeblich, versucht, den Begriff des „Leiters" in die militärische Terminologie zu implantieren89. Nur durch die Abschaffung der psychologischen Prüfungen, die verstärkte Über- nahme von Berufsunteroffizieren und einer weitgehenden Lockerung aller sozialen und bildungsmäßigen Einstellungsvoraussetzungen ließ sich also das Ausbluten des jüngeren Heeresoffizierkorps nach den Rückzugschlachten im Sommer 1944 verlang- samen. Im Gefolge dieser gravierenden Veränderungen in den Einstellungsbedingun- gen für die Offizierlaufbahn und der damit einhergehenden einseitigen Stimulierung des „jugendlich zupackenden" Kämpfertypus traten in der Endphase des Krieges die negativen Seiten dieses Ausleseprinzips scharf hervor. Die bewußte Vernachlässigung wichtiger Leistungsmerkmale, die den Offizierberuf in einer modernen technisierten Armee auszeichnen, wie etwa die Fähigkeit zur Führung und Versorgung motorisier- ter Großverbände über große Distanzen, oder der Kampf verbundener Waffen, ver- schaffte den Streitkräften in den unteren Offizierdienstgraden bis etwa zum Rang ei- nes Majors zweifellos den für den unmittelbaren Fronteinsatz geeigneten Nachwuchs. Eine undifferenzierte Leistungsbeförderung ausschließlich bezogen auf die Bewälti- gung von Krisenlagen, führte hingegen dazu, daß in immer stärkerem Maße junge Of- fiziere auch in höhere Truppenführersteilungen (Regiments- und Divisionskomman- deure) aufrückten, die sie aufgrund mangelnder theoretischer Ausbildung und Lebens- erfahrung nicht mehr adäquat ausfüllen konnten90. Zu spät erkannte das Heeresperso- nalamt, daß eine nach den Grundsätzen individueller Leistung ausgerichtete Beförde- rungsstruktur unbedingt eines flexibel zu handhabenden Korrektivs bedurfte. Die

86 Stumpf, Wehrmacht-Elite, S. 184. 87 Ebd., S. 185 f. 88 Diensttagebuch Chef HPA, S. 298, Eintrag vom 26. 10. 1944. Oskar Munzel, Der Offiziernachwuchs des deutschen Heeres ab 1920; Study P-041, Historical Division USAEUR (1949), S. 7; vgl. auch: Diensttage- buch Chef HPA, S. 189, Eintrag vom 4. 8. 1944. 89 Stumpf, Wehrmacht-Elite, S. 184, Anm. 481. 90 HPA-Notiz für Führervortrag, ausgefertigt am 23.11.1944; BA-MA, H 4/5. Stumpf, Wehrmacht-Elite, S.333L Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 677 Einführung einer dem angelsächsischen Vorbild des „temporary rank" entsprechen- den normierten Form der Dienstgradherabsetzung bei erwiesener mangelnder Eig- nung scheiterte jedoch bis Kriegsende am Widerstand des Offizierkorps, das auf die- sem Feld mehr Widerstand leistete, als die Wehrmachtführung erwartet hatte. Nach den Traditionen des deutschen Militärrechts existierte eine Dienstgradherab- setzung für Offiziere nur als disziplinäre Maßnahme nach schweren Verfehlungen und erfolgte daher ausschließlich durch eine Wiederverwendung des Verurteilten im nied- rigsten Mannschaftsdienstgrad. Jede Form einer Dienstgradherabsetzung aufgrund mangelnder Eignung war somit immer mit dem Stigma strafrechtlich relevanten Fehl- verhaltens behaftet91. Damit verkehrte sich das Prinzip der Leistungsbeförderung, das bei der Auswahl der jüngeren Einheitsführer durchaus positive modernisierende Aspekte gehabt hatte, während der zweiten Kriegshälfte im Hinblick auf die Zusam- mensetzung und Qualität des mittleren Truppenführerkorps vom Standpunkt der - militärischen Effektivität aus nicht selten in sein Gegenteil. - Viele Veränderungen, die das Heeresoffizierkorps in der zweiten Kriegshälfte er- fuhr, erfolgten situationsbezogen oder zwangsläufig. Andererseits bekämpfte der natio- nalsozialistische Staat, wie alle totalitären Regime von höchst sensiblem Gespür für die Stimmungsschwankungen in der Bevölkerung, tradierte Strukturen nur dort, wo er sich im Einklang mit der Mehrheit des Offizierkorps glaubte. In der Tat hatten weder das Prinzip der Anciennität und der Ehrenkodex noch die hergebrachten Bestimmun- gen der Heiratsordnung zum Zeitpunkt ihrer Veränderung die Zustimmung der akti- ven oder gar der Reserveoffiziere des Kriegsheeres. Das Korps befand sich bereits in Auflösung, als ihm die Korsettstangen seiner altpreußischen Tradition entfernt wur- den. Die Einführung der Leistungsbeförderung hat daher in der Forschung Zweifel auf- kommen lassen, ob, bezogen auf die zweite Kriegshälfte, der Begriff „Offizierkorps des Heeres" noch im herkömmlichen Sinn verwendet werden kann92. Die Abschaffung ständisch orientierter Formen der Kooptation wie etwa der Offizierwahl, mit der die Massenarmee endgültig den Charakter einer geschlossenen Gesellschaft verlor, ver- stärkt diesen Eindruck93. Das Offizierkorps des Heeres, wie es sich in den letzten Kriegsjahren präsentierte, verband in der Tat nur noch wenig mit der Elite des Reichs- heeres von 1933. Ohne soziale Exklusivität, ohne funktionsfremde Privilegien und sei- nes traditionellen, auf sich selbst bezogenen Normengefüges entkleidet, war es in der Gesellschaft aufgegangen. Es hatte sich auch in dem Sinne modernisiert, als es sich den spezifischen Bedingungen des modernen Krieges angepaßt hatte. Im Offizier-

91 Helmuth Bachelin, Bearbeitung von Offizier-Personalangelegenheiten im deutschen Heere; Study P-041, Historical Division USAEUR (1949), S. 55 ff. Der Chef des Heerespersonalamts Ag P 2, Nr. 9690/44 geh. vom 10. 8. 1944, Arbeitsrichtlinie für Dienstgradherabsetzungen; BA-MA, H 6/258g. Die Anweisung trägt deutlich den Stempel einer auf extreme Fälle zu beschränkenden Ausnahmeregelung. 92 Untersuchungen zur Geschichte des Offizierkorps. Anciennität und Beförderung nach Leistung, hrsg. vom MGFA, Stuttgart 1962, S. 203 ff. Stumpf, Wehrmacht-Elite, S. 322, Anm. 84. 93 Endres, Struktur, S. 306f. Karl Demeter, Das deutsche Offizierkorps in Gesellschaft und Staat 1650-1945, Frankfurt 41965, S. 150. Kdr. Inf. Rgt. 40, Oberst Nißl, über einen Besuch bei italienischen Truppen: „Am inneren Wert der Truppe ist zu zweifeln, weil es ein Offizierkorps im deutschen Sinn einer Regimentsritter- schaft nicht gibt." Inf.Rgt. 40, Nr. 233/36 gKdos. vom 18. 11. 1936; BA-MA, RH 53-7/v. 1204. Siegfried Westphal,... Heer in Fesseln. Aus den Papieren des Stabschefs von Rommel, Kesselring und Rundstedt, Bonn 1950, S. 79, zitiert eine Äußerung Hitlers über die deutsche Generalität: „... antiquierte Ritter mit verstaub- ter Ehrauffassung". 678 Bernhard R. Kroener korps des Heeres war gegen Ende des Krieges die Volksgemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus weitgehend realisiert worden. Die soziale Öffnung der militäri- schen Elite hat die Kampfkraft des Heeres vor allem im Fronteinsatz zweifellos erheb- lich gestärkt. Es ist bezeichnend, daß im Rahmen der westdeutschen Wiederbewaffnung keine der hier skizzierten gruppenimmanenten Typika grundlegend korrigiert wurden, wenngleich natürlich ihre ideologisch motivierten Begründungen eliminiert wurden. Neben einer gewissen personellen Identität besaß das Offizierkorps der Bundeswehr in seiner Entstehungsphase auch deutliche strukturelle Gemeinsamkeiten mit der mi- litärischen Elite des deutschen Heeres am Ende des Zweiten Weltkrieges.

3. Zur Typologie des Frontoffiziers des Zweiten Weltkrieges Wurde in den vorangegangenen Abschnitten versucht, die Voraussetzungen und For- men des sozialen Wandels im Heeresoffizierkorps zu beleuchten, so sollen abschlie- ßend seine Wirkungen auf eine bestimmte Gruppe von Offizieren analysiert werden. Im Gegensatz zum Frontoffizier des Ersten Weltkrieges, dessen Erscheinungsbild in der Zwischenkriegszeit Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher und auch politisch- publizistischer Untersuchungen gewesen ist, hat diese Gruppe von Offizieren des Zweiten Weltkrieges bis heute keine adäquate Bearbeitung gefunden. Vor allem der Mangel an repräsentativem, sozialstatistisch verwertbarem Material verhinderte bisher eine genauere Erforschung des Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg. Statt dessen entstanden im Gefolge der wegweisenden Studie von Karl De- meter zahlreiche Arbeiten zu Teilaspekten wie etwa Bildung, Ausbildung, Organisa- tionsstruktur und Personalwesen94. Infolge der desolaten Quellenlage blieben sie stets nur auf eine bestimmte Ranggruppe oder das Offizierkorps einzelner Verbände be- schränkt. Einigermaßen verbindliche Aussagen über die innere Struktur der Füh- rungsgruppe des deutschen Heeres, und hier vor allem der mittleren Kommando- ebene, waren so nicht zu gewinnen95. Diese Gruppe der jüngeren Truppenoffiziere, die gegen Ende des Krieges den Großteil der Kompanie- und Bataillonsführer gestellt hat, repräsentiert den wehrmachtspezifischen Typus des Frontoffiziers. Es handelt sich bei ihnen um diejenigen, die als ältere Jugendliche und junge Erwachsene die außen- und innenpolitischen Erfolge des Regimes miterlebt hatten, was ihre aufgeschlossene Haltung zum Nationalsozialismus stark geprägt haben dürfte. Sie entstammten weit- gehend den noch friedensmäßig ausgebildeten Geburtsjahrgängen 1914-1918. Die Ausleseprinzipien und Erziehungsmechanismen der Vorkriegszeit haben auf diese Gruppe besonders intensiv gewirkt.

94 Demeter, Deutsches Offizierkorps; Absolon, Offizierkorps des deutschen Heeres; Detlef Bald, Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München 1982; Untersuchungen zur Geschichte des Offizierkorps. Anciennität und Beförderung nach Leistung, hrsg. vom MGFA, Stuttgart 1962; Stumpf, Wehrmacht-Elite; Detlef Bald, Vom Kaiserheer zur Bundeswehr. Sozial- struktur des Militärs: Politik der Rekrutierung von Offizieren und Unteroffizieren, Frankfurt 1981. 93 So etwa bei Stumpf, Wehrmacht-Elite; vgl. aber auch Omer Bartov, The Barbarisation of Warfare. German Officers and Soldiers in Combat on the Eastern Front 1941-1945, Diss. Oxford 1983 (Ms). Die für den Druck gekürzte Fassung: The Eastern Front 1941-1945. German Troops and the Barbarisation of Warfare, London 1986, lag bei Abfassung dieses Aufsatzes noch nicht vor. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 679

Unbelastet von Erinnerungen an das Heer des Weltkrieges und die Reichswehr, an- dererseits nur zu einem geringen Teil bereits geformt von den besonderen Rekrutie- rungsprinzipien der zweiten Kriegshälfte, nahmen sie eine Mittelposition zwischen den noch weitgehend nach traditionellen Vorstellungen ausgewählten und erzogenen älteren Stabsoffizieren und Generalen und den jüngsten Offizieren der Jahrgänge 1925 bis 1927 ein, die in vielfacher Hinsicht bereits die geschilderten Merkmale eines aus der Not zusammengebrachten letzten Aufgebotes widerspiegeln. Die Auflösung des traditionellen Korps, Modernisierungs- und soziale Nivellierungstendenzen mußten von ihnen, die sie zugleich die Empfänger und Vermittler aller entsprechenden Maß- nahmen waren, besonders eindringlich empfunden werden. Sofern sie den Krieg über- lebten und in die neuen deutschen Streitkräfte übernommen wurden, bildeten sie hier allein schon vom Lebensalter her ein Element der Kontinuität. Sie standen der Bun- deswehr in der Regel noch etwa 15 bis 25 Jahre in Führungspositionen zur Verfügung. Eine Untersuchung des Oberkommandos des Heeres von 1943 über die soziale und landsmannschaftliche Herkunft, Bildung, Konfessionszugehörigkeit und Nähe zur NSDAP von knapp 35 000 Offizieranwärtern der ersten Kriegshälfte (1939-1942), die damit einen Großteil dieser Gruppe repräsentieren, stellt daher eine wertvolle Quelle dar, die unser Wissen in dieser Hinsicht wesentlich erweitert. Die Schlußfolgerungen daraus sollen an anderer Stelle ausführlich diskutiert werden96. Dennoch erscheint es angebracht, hier bereits einige grundlegende Erkenntnisse knapp zu resümieren, denn sie können ein eindrucksvolles Bild vom Veränderungsprozeß im Heeresoffizierkorps während des Krieges vermitteln. Darüber hinaus belegen sie aber auch die Bedeutung personeller Kontinuitäten in einer für das Selbstverständnis der Bundeswehr in ihrer Aufbauphase entscheidend wichtigen Gruppe von Offizieren. Herkunft und Bildung, landsmannschaftliche Verteilung und schließlich der Grad der Affinität zum Regime und seinen Zielen können als aussagefähige Parameter dienen, wenn es darum geht, die Intensität sozialen Wandels zu messen. Veränderungen der Herkunftsstruktur belegen am anschaulichsten, in welchem Umfang neue Selektionsprinzipien eine soziale Gruppe verändert haben. Zwischen 1928 und 1930 entstammten noch 63 Prozent aller Offizieranwärter des Reichsheeres den traditionell als „offizierfähig" angesehenen Schichten des gehobenen Bürgertums und des Adels. Nur etwa ein Drittel waren Söhne von Beamten des einfachen, mittle- ren und gehobenen Dienstes bzw. von Angestellten und Selbständigen in entspre- chenden Positionen. In den Jahren 1939/1941 rekrutierten sich bereits 54 Prozent aus diesen Schichten, während die Zahl der Angehörigen der ehemals „offizierfähigen Schichten" sich um mehr als die Hälfte verringerte (25 Prozent); gleichzeitig stieg der Anteil von Offizierbewerbern aus der Industriearbeiterschaft und den ländlichen Un- terschichten von null Prozent (1936) auf knapp 9 Prozent bis Ende 1942 an! In seiner programmatischen Rede nach seinem Amtsantritt als Chef des Heerespersonalamtes im Oktober 1942 hatte Generalmajor Schmundt seine Vorstellungen über die Not- wendigkeit einer Verwurzelung des Offizierkorps in allen Gesellschaftsschichten of- fengelegt: „Das Offizierkorps [darf] nicht aus einer Gesellschaftsschicht stammen."

Das in diesem Text verwendete statistische Material zum Offiziernachwuchs des Heeres während des Krie- ges, stammt aus einer bisher noch nicht ausgewerteten Quelle. Vgl. Anm. 9. 680 Bernhard R. Kroener

(Ein Arbeiter zu einem anderen: „Na, was ich da gehört habe, wie die Offiziere den be- handeln!" „Halt die Fresse, mein Sohn ist Offizier.")97 Das Interesse des Regimes an einer möglichst weitgehenden Egalisierung war nicht nur bestimmt von dem ideologischen Postulat, die traditionell „reaktionäre" Eliten- struktur aufzubrechen und ihr den klassenunabhängigen Kämpfertypus entgegenzu- setzen. Vielmehr dürfte auch die pragmatische Überlegung eine Rolle gespielt haben, durch eine soziale Aufwertung auch jene Gruppen für die Kriegspolitik des Dritten Reiches zu mobilisieren, die dem Nationalsozialismus bisher reserviert gegenüberge- standen hatten. Dieses Ziel ließ sich nur erreichen, wenn man auf das Abitur als Ein- stellungsvoraussetzung verzichtete. Besaßen 1941 noch etwa 90 Prozent aller Offizier- bewerber die Primareife oder das Abitur, so verringerte sich ihr Anteil nach der Lok- kerung der entsprechenden Bestimmungen Ende 1942 auf 78 Prozent, während gleichzeitig der Anteil der Volksschüler von 4,1 Prozent auf 11,8 Prozent herauf- schnellte. Bei den Reserveoffizierbewerbern betrug er 1942 bereits 13,4 Prozent. Die Masse der Offizierbewerber der ersten Kriegshälfte stammte aus Großstädten mit mehr als 100000 Einwohnern. Auffällig ist, daß die aktiven Offizierbewerber mehrheitlich in Kleinstädten zu Hause waren, in denen die traditionellen Wertvorstel- lungen weniger in Frage gestellt waren und auch das Angebot an alternativen Berufs- feldern für Abiturienten geringer war als in Großstädten. Im Hinblick auf die lands- mannschaftliche Verteilung wiesen die weitgehend kleinstädtisch und ländlich gepräg- ten Regionen Nord-, Ost- und Süddeutschlands einen höheren prozentualen Anteil an Offizierbewerbern auf, als ihr Anteil an der ständigen männlichen Bevölkerung des Reiches vermuten läßt. Dagegen lagen die Industriezentren West- und Mitteldeutsch- lands deutlich unter dem Durchschnitt. Diese Angaben korrespondieren augenfällig mit den Ergebnissen der Herkunftsstatistik. Die Borniertheit, mit der viele Offiziere aus dem .Altreich" ihren Kameraden aus Österreich und dem Sudetenland entgegentraten, veranlaßte die Heeresführung im- mer wieder zu Appellen an den Kameradschaftsgeist und das Gemeinschaftsgefühl des Korps98. Die abweisende Haltung blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Offizier- rekrutierung aus diesen Regionen, die auch noch in der ersten Kriegshälfte deutlich unterdurchschnittlich war. Die unterschiedlichen Militärtraditionen und die mit ihnen verbundenen nationalen Vorurteile verhinderten bis zur Mitte des Krieges, daß sich das preußisch-deutsche zu einem „großdeutschen" Offizierkorps entwickeln konnte. Im Gegensatz zu Herkunft, Bildung und landsmannschaftlicher Zugehörigkeit läßt sich die parteispezifische Affinität sozialstatistisch kaum zureichend erfassen. In einer Gesellschaft wie der des Dritten Reiches, wo der Zugang vor allem zu akademischen

97 In seiner Ansprache vor den höheren Adjutanten erwies sich Schmundt, was die Konsequenzen betraf, die er aus seinen Weltkriegserfahrungen zu ziehen bereit war, als ein typischer Vertreter der jüngeren Front- kämpfergeneration: „Offizierkorps darf nicht unpopulär sein. Folge: Unangenehme Maßnahmen. Lebens- mittelbeschränkungen und dgl. werden nicht wie im Weltkrieg durch die Gen.Kdo. befohlen, sondern von Parteiorganen durchgeführt. Für Polizeiaufgaben sind andere Verbände da. Einsatz der Wehrmacht im In- nern kommt nicht in Frage. Dafür SS usw." Vgl. Anm. 19. 98 Inspektion der Eignungsuntersuchungen, Wehrmachtpsychologischer Bericht Nr. 2 vom 29. 2. 1940; BA- MA, RW 4/v. 298. „Von den Sudetendeutschen und den Wienern wird berichtet, daß sie das Preußische im Soldatentum ablehnen." Der Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, Stab/I, Nr. 464/41 geh. vom 21. 1. 1941; BA-MA, RH 54/131, Betr.: Falsche Behandlung des österreichischen und sudeten- deutschen Ersatzes. Der Chef des Heerespersonalamts, Nr. 1925 PA (2) Ia vom 12. 4. 1938; BA-MA, RH 53- 7/v. 485, Offizierkorps des ehemaligen österreichischen Bundesheeres. Das Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg 681 Berufsfeldern in der Regel von der Mitgliedschaft in der NSDAP oder ihren Gliede- rungen abhängig war, kann aufgrund dieser Tatsache nicht ohne weiteres auf eine po- sitive Einstellung der Betroffenen zum Regime geschlossen werden. Immerhin ist be- merkenswert, daß bereits in der ersten Kriegshälfte 88 Prozent der Offizierbewerber Mitglied der NSDAP oder ihrer Gliederungen gewesen sind. Unter den 44 Prozent Parteimitgliedern bestimmten die in der Regel älteren Reserveoffizierbewerber das Bild. Der hohe Organisationsgrad zeigt aber auch, daß gerade für viele Jugendliche der NS-Staat als selbstverständlicher, wenn auch kritisch wahrgenommener Bestandteil ih- rer Existenz hingenommen wurde. Gerade die im Dritten Reich aufgewachsene Generation der Frontoffiziere akzep- tierte also die Existenz des NS-Staates und seiner Einrichtungen. Auch ist davon aus- zugehen, daß mit der Übernahme von Verantwortung in der Partei und ihren Gliede- rungen ein Vertrauensverhältnis zum Ausdruck kommt, das aus der Perspektive des Regimes als grundsätzliche Zustimmung gedeutet werden konnte. Nicht weniger als etwa zwei Drittel aller Offizierbewerber der ersten Kriegshälfte hatten vor ihrem Ein- tritt in die Wehrmacht die Befehlsgewalt über mindestens 40 bis 50 Mitglieder einer Parteigliederung, in der Regel der HJ, innegehabt. Die Daten zeigen, daß sich die vi- sionäre Vorstellung Hitlers, die dieser Anfang des Krieges seinem Heeresadjutanten Major Engel gegenüber geäußert hatte, in gewissem Sinne bestätigt zu haben scheint: „Eine einheitliche Auffassung des Heeres werde sich erst in der kommenden Genera- tion ergeben, wenn der Geist des 100000-Mann-Heeres gebannt und der der Hitlerju- gend Einzug in das Offizierkorps gehalten habe."99 Bei einer Betrachtung nur einer Generation können die langfristigen Ursachen strukturellen Wandels kaum zutreffend analysiert werden. Der intergenerative Ver- gleich der Strukturveränderungen im deutschen Heeresoffizierkorps zwischen dem Ende der Monarchie und dem Beginn der westdeutschen Wiederbewaffnung erweist nur zu deutlich, daß dieser Veränderungsprozeß langfristig war und von den Bedin- gungen des modernen industrialisierten Massenkrieges angestoßen worden war. Die Homogenität einer kleinen Berufsarmee hemmte zunächst den Prozeß der sozialen Egalisierung und bewirkte eine gewisse Retardierung, durch die die Wertvorstellungen der Armee in den Augen der sie umgebenden Gesellschaft um so anachronistischer wirkten. Mit der Aufrüstung ab 1935 zerbrach die gleichsam künstlich errichtete Bar- riere der Abschottung des 100000-Mann-Heeres, wurde die Armee immer stärker mit einem geänderten Wertbewußtsein der Gesellschaft konfrontiert. Die Heeresvermeh- rung und die Allgemeine Wehrpflicht waren die eigentlichen Antriebskräfte der sozia- len Öffnung der Wehrmacht. Die Mobilisierung des Kriegsheeres, verstärkt durch die rapide ansteigenden Verluste, bewirkte eine weitere wesentliche Akzeleration, an de- ren Ende eine weitgehende Einebnung des spezifisch militärischen Wertekanons stand. Der militärische Tugendkatalog ging in einer von den Auswirkungen des tota- len Krieges gleichermaßen betroffenen Gesellschaft und ihrer Überlebensstrategie auf. Die ideologische Tünche, mit der das Regime versuchte, diese Entwicklung im Sinne seiner Volksgemeinschaftsvorstellungen zu nutzen, erwies sich als wenig haltbar und blätterte nach dem Zusammenbruch fast über Nacht ab.

Von Kotze, Heeresadjutant, S. 61, 10. 9. 1939. 682 Bernhard R. Kroener Die Entfeudalisierung des Offizierstandes und seine Professionalisierung im Sinne eines modernen Berufsverständnisses erwiesen sich bei der Aufstellung der Bundes- wehr als irreversibel und behaupteten sich trotz vereinzelter Versuche, ein Standesbe- wußtsein „sui generis" zu rekonstituieren. Die Emanzipation, die den Offizier mit Un- terstützung der zivilen Gesellschaft aus seinem ständisch-elitären Korpsverständnis gelöst hat, könnte nur dann einen Rückfall erleiden, wenn ihr eben diese Gesellschaft den Status der Normalität wieder entzöge.