HAND

HERAUSGEBER: OLAF ZIMMERMANN UND FELIX FALK BUCH GAMES KULTUR

ÜBER DIE KULTURWELTEN VON GAMES HAND BUCH GAMES KULTUR

HAND BUCH GAMES KULTUR

HERAUSGEBER: OLAF ZIMMERMANN UND FELIX FALK INHALT INTRO GRUNDLAGEN

WARUM GAMES 1.1 SPIELEN 023 TEIL DER KULTUR­ JENS JUNGE FAMILIE SIND 009 1.2 GAME STUDIES 029 OLAF ZIMMERMANN & GUNDOLF S. FREYERMUTH FELIX FALK 1.3 GAMEBEGRIFFE 034 TUTORIAL 012 JOCHEN KOUBEK CHRISTIAN HUBERTS & FELIX ZIMMERMANN 1.4 GESCHICHTE 039 NICO NOLDEN

1.5 SCHNITTSTELLEN 046 TIMO SCHEMER-REINHARD

1.6 ERSTE SCHRITTE 049 DANIEL HEINZ & TORBEN KOHRING

1.7 KANON 053 ÇIĞDEM UZUNOĞLU & DAS TEAM DER STIFTUNG DIGITALE SPIELEKULTUR

002 —— 003 KUNST & KULTUR VERMITTLUNG

2.1 BILDENDE KUNST 063 3.1 SERIOUS GAMES 105 STEPHAN SCHWINGELER STEFAN GÖBEL

2.2 THEATER 069 3.2 ERINNERUNGS­- 110 JAN FISCHER KULTUR EUGEN PFISTER & 2.3 LITERATUR 074 FELIX ZIMMERMANN LENA FALKENHAGEN 3.3 SOZIALADÄQUANZ 116 2.4 FILM & SERIE 080 JÖRG FRIEDRICH ANDREAS RAUSCHER 3.4 KULTURARCHIVE 120 2.5 MUSIK 085 SEBASTIAN MÖRING MELANIE FRITSCH 3.5 BEWAHRUNG 125 2.6 GEWALT 091 ANDREAS LANGE JÖRG VON BRINCKEN 3.6 MUSEUM 131 2.7 ÄSTHETIK 097 LINDA PFISTER, CELINA RETZ, DANIEL MARTIN FEIGE ­SUSANNE GRUBE, ULRICH SCHMID & SABIHA GHELLAL

3.7 JOURNALISMUS 136 MICHAEL GRAF

INHALT GEMEINSCHAFT DEBATTEN

4.1 COMMUNITYS 145 5.1 KULTURPOLITIK 177 BENJAMIN STROBEL OLAF ZIMMERMANN

4.2 LET’S PLAY 151 5.2 FÖRDERUNG 182 & STREAMING FELIX FALK VERA MARIE RODEWALD 5.3 GEFÄHRLICHE 186 ­ 4.3 COSPLAY 156 MEDIEN KAREN HEINRICH MARTIN ANDREE

4.4 MODDING 160 5.4 KILLERSPIELE 193 STEFAN KÖHLER ANDREAS GARBE

4.5 E-SPORT 165 5.5 JUGENDSCHUTZ 199 MARKUS BREUER & MARTIN LORBER DANIEL GÖRLICH 5.6 DIVERSITÄT 203 4.6 EVENTS 171 NINA KIEL THORSTEN S. WIEDEMANN 5.7 INKLUSION 209 MELANIE EILERT

5.8 GAMIFICATION 214 FELIX RACZKOWSKI

004 —— 005 WIRTSCHAFT ANHANG

6.1 STRUKTUR, TRENDS 221 → AUTORINNEN 244 & FORSCHUNG & AUTOREN JÖRG MÜLLER-LIETZKOW → GLOSSAR 256 6.2 MARKTDATEN 226 OLIVER CASTENDYK → GAMEINDEX 272 A—Z 6.3 AUSBILDUNG 230 & ARBEITSMARKT → GAMEINDEX 280 ANNEGRET MONTAG 1949—2021

6.4 TECHNOLOGIE 236 IMPRESSUM 288 & INNOVATION THOMAS BEDENK

6.5 INDEPENDENT 240 GAMES VALENTINA BIRKE & TINO HAHN

INHALT 006 —— 007 INTRO

HANDBUCH GAMESKULTUR WARUM GAMES TEIL DER KULTUR­ FAMILIE SIND OLAF ZIMMERMANN & FELIX FALK

Die Kulturfamilie ist groß, wächst beständig und aus so manchem zuerst ungeliebten, misstrauisch beäugten Kind wird mit der Zeit dann doch ein akzeptiertes und oft sogar später besonders umschwärmtes Mitglied der Kulturfamilie. Das gilt auch für Games. Auch wenn, um im Bild zu bleiben, gerade diesem neuen Kind allzu lange der Ruf an- hing, Menschen negativ zu beeinflussen, im besten Fall einzig für Spaß zu sorgen und die echte Ernsthaftigkeit und Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft sowie dem Wahren, Guten und Schönen, also der Kunst, zu vernachlässigen. Wer diesem Trug- schluss noch aufsitzt oder nachhängt, hat die letzten Jahre der Games-Entwicklung in Deutschland verschlafen und unterschätzt vor allem die Spielerinnen und Spieler. Das Klischee des pickligen, kontaktgestörten Jungen, der festgetackert am PC oder der Konsole vor allem Fast Food und Games konsumiert, stimmte noch nie. Inzwischen wird es glücklicherweise auch nicht mehr verbreitet. Games werden von Jungen und Alten, von Männern und Frauen, von Menschen unterschiedlicher Her- kunft, Religion, Weltanschauung, Sprache, mit oder ohne Behinderung gespielt und geliebt. Es wird sich über schlechte Spiele geärgert wie über einen schlechten Film oder ein missratenes Musikstück. Es kann über gute Spiele geschwärmt werden wie über ein hervorragendes Gemälde oder einen spannenden Roman. Es gibt ernsthaf- te, es gibt lehrreiche, es gibt alberne, es gibt dumme, es gibt vielerlei Arten und For- men von Games. Games werden besprochen, verrissen, kritisiert oder hochgelobt – ganz so wie die Zeugnisse anderer Kunstformen auch. Viele Spielerinnen und Spieler sind Liebhaber und lassen keine Neuerschei- nung und technologische Innovation aus, immer auf der Suche nach etwas Beson- derem, nie Gesehenem, Aufregendem. Andere lassen sich gelegentlich begeistern und wenden sich danach wieder anderem zu. Manche schauen lieber E-Sport-Profis oder Let’s Playern beim Spielen zu und spielen selbst kaum. Wiederum andere kön- nen Games nichts abgewinnen und lassen sie links liegen. Aber ist dies nicht bei an- deren Kunstformen ebenso? Nicht jede oder jeder kann sich an abstrakter Kunst er- freuen; moderne Inszenierungen begeistern die einen und schrecken die anderen ab;

008 —— 009 Dokumentarfilme treffen auf Fans und jene, die sich gelangweilt abwenden; Jazz -be deutet den einen alles und den anderen nichts. Kunst und Kultur sind immer auch eine Frage des Geschmacks – hoffentlich des guten Geschmacks. Die Entwicklung eines digitalen Spiels ist ein hochkomplexer und vor allem arbeitsteiliger Prozess. Anders als bei etablierten Kulturgütern fehlt vielen Kreativen in der Games-Branche aber (noch) das künstlerische Selbstverständnis, ja das künst- lerische Selbstbewusstsein. An einem Filmset fühlt sich fast jeder als Künstler: die Schauspieler, die Drehbuchschreiber, die Regisseure, die Beleuchter, die Make-up- Artists ... – selbst die Köche am Set werden stolz im Abspann aufgeführt. Die Macher des Kulturgutes Computerspiele sehen sich in vielen Fällen (noch) nicht als Künstler. Dabei gäbe es inhaltlich jeden Grund dazu und die Games-Branche tut gut da- ran, deutlich zu machen, dass sie mehr ist als ein Kulturwirtschaftsgut. Sicher, der wirt- schaftliche Stellenwert dieses Teilmarktes in der Kultur- und Kreativwirtschaft ist wich- tig und sollte nicht vernachlässigt werden, denn mit Games lässt sich Geld verdienen, was auch in der Kulturbranche weniger anstößig ist als es manchmal scheint. Auch die technologische Innovationskraft der Games-Branche muss immer wie- Olaf Zimmermann ist der betont werden. Doch bei all dem darf nicht in den Hintergrund ge- Geschäftsführer des raten, dass Games Mitglied der großen Kulturfamilie sind. Deutschen Kulturrates. Games haben gegenüber den anderen künstlerischen Sparten Felix Falk ist Geschäfts- und Kulturbranchen zwei große Vorteile. Erstens: Es gab sie noch nie führer des game – analog, sondern schon immer digital. Das verschafft ihnen angesichts Verband der deutschen der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen einen ful- Games-Branche. minanten Vorsprung. Zweitens: Sie sind wirklich international. Sie wer- den von internationalen Teams entwickelt, sie richten sich fast immer an einen welt- weiten Markt und sie sind international verständlich. Diese Alleinstellungsmerkmale sollten viel offensiver vertreten werden. Und Games sind längst eine Liaison mit anderen künstlerischen Sparten ein- gegangen. Musik ist heute ein fester Bestandteil von Games. Große Konzerte mit Mu- sik aus Games begeistern längst nicht nur Spielerinnen und Spieler, sondern errei- chen darüber hinaus ihr Publikum. Games wurden nicht nur adaptiert und feiern als Spielfilme Welterfolge. Längst werden Technologien der Games-Branche eingesetzt, um virtuelle Welten auch in Filmen zu erschaffen. Games haben Eingang in das The- ater gefunden und selbstverständlich gibt es Wechselwirkungen zwischen Medien- kunst und Games. Dass der game als Verband der deutschen Games-Branche seit einem guten Jahrzehnt Mitglied im Deutschen Kulturrat ist, ist ein weiteres Indiz für die Zugehö- rigkeit zur Kulturfamilie. Dazu gehört auch, sich in die Debatten einzumischen, sich Gehör zu verschaffen und gleichzeitig an gemeinsamen Vorhaben mitzuwirken. Wel- che Relevanz Games in der Kulturfamilie haben, davon legen die Beiträge in diesem Band ein beredtes Zeugnis ab. Wir hoffen, dass möglichst viele dieses Buch zum Anlass nehmen, die wunder- bare kulturelle Einzigartigkeit von Games noch selbstbewusster zu vertreten und an- dere Menschen dafür zu begeistern.

INTRO Wir danken sehr herzlich Christian Huberts und Felix Zimmermann für die redaktionel- le Betreuung dieses Bandes. Sie waren nicht nur in die inhaltliche Konzeption des Ban- des eng eingebunden und haben mit ihrer Expertise zum Gelingen der Zusammenstel- lung beigetragen. Sie haben auch freundlich, aber nicht minder energisch die Autoren und Autorinnen sowie deren Beiträge inhaltlich betreut. Sehr herzlich danken wir den Autorinnen und Autoren, die sich sehr schnell und unkompliziert auf das Abenteuer dieses Handbuches eingelassen haben und de- ren Expertisen das Buch tragen.

010 —— 011 TUTORIAL CHRISTIAN HUBERTS & FELIX ZIMMERMANN

Ein Buch aufzuschlagen ist nicht schwer. Computerspiele hingegen mögen häufig wie ein Kinderspiel aussehen, stellen jedoch nicht selten hohe Anforderungen, insbe- sondere an unerfahrene Nutzerinnen und Nutzer. Komplexe Hardware muss bedient und passende Software im Dickicht des Angebots gefunden werden. Es gilt unzäh- lige Fachbegriffe und den Jargon für Eingeweihte zu verstehen. Und ist Christian Huberts ein Spiel endlich gestartet, geht die Herausforderung erst richtig los. Re- ist freiberuflicher‌ gelsysteme warten auf ihre Entschlüsselung, schnelle Reflexe, Fingerfer- Kulturwissenschaftler. tigkeit sowie logisches Denken sind im Dauereinsatz, von den epischen Felix Zimmermann Erzählungen, weitläufigen Spielwelten und umfangreichen Figuren-Kon- ist Public Historian. stellationen einmal ganz abgesehen. Und dann ist da noch ein Füllhorn aus Subkulturen, Debatten, Vorurteilen und Grenzgängen zum Rest der Kulturfamilie, die das Medium stetig begleiten. Es ist fast wie bei der Reise in ein anderes Land oder dem Lernen einer neuen Sprache. Damit gerade neue Spielerinnen und Spieler in der fremden Umgebung nicht auf sich allein gestellt sind, bieten Computerspiele üblicherweise noch vor dem ers- ten Level ein sogenanntes »Tutorial« an, eine Anleitung zum Mitspielen sozusagen. Schritt für Schritt werden Bedienung, Begriffe und Symbole der Spielwelt sowie ein- fache Handlungsstrategien und Erzählmuster erklärt. Das vorliegende Handbuch soll nicht nur ein Tutorial für ein Computerspiel sein, sondern gleich für die gesamte Ga- meskultur. Kapitel für Kapitel und Beitrag für Beitrag werden Themen, Zusammenhän- ge und Diskussionen rund um Games und ihre Kultur erläutert. Dabei muss man sich das Inhaltsverzeichnis als eine sogenannte »« vorstellen, eine Spielwelt, in der jeder Ort jederzeit besucht werden kann, ohne vorgeschriebene Reihenfolge. Aber keine Sorge vor dem Verirren, Hinweisschilder führen stets zurück auf er- schlossene Pfade – Nummerierungen am Seitenrand verweisen auf Texte zum Wei- terlesen im Buch – und sollte die Sprachbarriere doch einmal zu hoch werden, bie- tet ein Wörterbuch – das Glossar am Ende des Bandes – schnelle Abhilfe. Überhaupt lohnt sich ein Blick in das Glossar: In diesem Band sollen so wenige Begriffe wie mög-

INTRO lich vorausgesetzt werden. Es wurde daher darauf geachtet, die oft kryptische Games- Sprache in den jeweiligen Texten zu entschlüsseln. Einige Fachbegriffe ziehen sich al- lerdings wie ein roter Faden durch die Mehrzahl der Beiträge, sodass diese im Glossar kurz erläutert werden. Einen Überblick über alle im Buch besprochenen Games gibt der Gameindex, der auf das Glossar folgt. Wie gesagt: In der »Open World« dieses Handbuchs lohnt sich erst einmal je- der Weg und jedes Ziel. Im Folgenden möchten wir trotzdem kurze Reisebeschreibun- gen geben, um Neueinsteigerinnen und Neueinsteigern, Expertinnen und Experten sowie allen, die zwischen diesen Extremen in der Gameskultur liegen, einen grund- legenden Eindruck davon zu vermitteln, was sie erwartet. Wir hoffen, jede und jeder kann in diesem Handbuch fündig werden und mit mehr Wissen über und mit größerer Wertschätzung für die Vielfalt der Gameskultur aus der Lektüre herausgehen. Wir alle haben schließlich mal beim ersten Level angefangen!

Level 1: »Grundlagen« Im Sprechen über Games wird oft viel Wissen stillschweigend vorausgesetzt. Mit die- sem ersten Abschnitt des Handbuchs sollen bestehende Zugangsbarrieren zur Ga- meskultur abgebaut und ein grundlegender Überblick über Geschichte, Begriffe und Einstiegspunkte der Computerspiele geliefert werden. Klar ist dabei, dass nicht erst seit der Entstehung der Computerspiele gespielt wird. Jens Junge blickt daher in seinem Beitrag auf die lange Kulturgeschichte des Spielens zurück und macht deutlich, warum Spielen einfach zum Menschsein dazu- SPIELEN 1.1 gehört (←). Mit zunehmender Verbreitung und wachsendem Erfolg des Computerspiels haben sich Forscherinnen und Forscher allerdings Fragen danach gestellt, was denn nun das Besondere an Games ist, was ihre Faszination ausmacht und was sie von an- deren Spielen unterscheidet. Aus der Suche nach Antworten auf diese Fragen ist eine eigene Forschungsrichtung entstanden, die Game Studies, die Gundolf Freyermuth GAME STUDIES 1.2 in seinem Beitrag vorstellt (←). Im Schlepptau des mittlerweile allgegenwärtigen Mediums brachte das Com- puterspiel eine Vielzahl an Begriffen mit, die genutzt wurden und genutzt werden, um es zu beschreiben. Computerspiele, Games, digitale Spiele – alles dasselbe? Jochen Koubek ordnet die Begriffsflut und erläutert auch, was sich hinter Bezeichnungen wie GAME- BEGRIFFE 1.3 Ego-Shooter oder Strategiespiel verbirgt (←). Spielen selbst hat eine jahrtausendalte Geschichte, doch wie sieht es mit den digitalen Spielen aus? Nico Nolden zeigt, was über die Ursprünge dieses Mediums bekannt ist – und dass wir mit einer Geschichte der Games eigentlich noch ganz am GESCHICHTE 1.4 Anfang stehen (←). Eine solche Geschichte ist gleichzeitig untrennbar mit den Eingabegeräten verbunden, die seit Anbeginn des digitalen Spielens genutzt werden, um mit den Re- chenmaschinen zu kommunizieren. Vom einfachen Drehknopf bis hin zu komplexen Gitarrencontrollern zeigt Timo Schemer-Reinhard, dass das Ziel dieser Schnittstellen SCHNITT- STELLEN 1.5 seit jeher ist, das Eintauchen in virtuelle Welten zu erleichtern (←).

012 —— 013 Wer sich nach der Lektüre dieser Beiträge oder generell schon gefragt hat, wie denn nun ganz konkret der Einstieg in die Welt der Games gelingen kann, wird bei den letz- ten Texten dieses Abschnittes fündig. Torben Kohring und Daniel Heinz führen in die Grundlagen des Computerspielens ein und erklären, wie mit Konsolen oder PCs das ERSTE Mitspielen möglich wird (→). 1.6 SCHRITTE Die Autorinnen und Autoren der Stiftung Digitale Spielekultur wiederum lie- fern einen passenden Kanon an Spielen, der eine Orientierung in der unüberschauba- ren Masse an Games bietet. Von bekannten und traditionsreichen Spielen wie Super­ Mario bis hin zu künstlerischen Experimenten wie Journey (2012) ist für alle Typen von Spielerinnen und Spielern – und jenen, die es noch werden wollen – hoffentlich et- was dabei (→). 1.7 KANON

Achievement Unlocked: »Kunst und Kultur« Computerspiele sind Kulturgut, das soll mit diesem Handbuch noch einmal deutlich unterstrichen werden. Und wie jedes andere Kulturmedium sind auch Games im stän- digen Austausch mit anderen Medien und künstlerischen Ausdrucksweisen. Sie er- finden sich dabei stetig neu. Diese Austauschprozesse stehen im Fokus des folgen- den Abschnitts. Die Frage der Kunsthaftigkeit des digitalen Spiels ist auch für den nächsten Beitrag von Stephan Schwingeler entscheidend, der der Rolle von Games in der Bil- denden Kunst nachspürt und dabei auch zeigt, dass Computerspiele nicht nur selbst Kunst sein können, sondern auch längst als Material von Künstlerinnen und Künst- BILDENDE lern verarbeitet werden (→). 2.1 KUNST In den nächsten Beiträgen wird der Austausch von Games mit anderen Kultur- gütern konkret: Jan Fischer fragt, welche Rolle das Theater für Computerspiele spielt, aber auch, wie sich zeitgenössische Theaterformen selbst an den virtuellen Welten der Games bedienen und so aus der Theaterbühne einen Spiellevel machen (→). 2.2 THEATER Lena Falkenhagen zeigt, dass Computerspiele erfolgreich literarische Wer- ke aufgreifen und verarbeiten, Sie stellt allerdings auch heraus, dass Computerspie- le selbst als besondere, weil interaktive literarische Form betrachtet werden können, die eine aktive Auseinandersetzung mit den anspruchsvollen diskutierten Themen erfordert (→). 2.3 LITERATUR Viele Jahre haben Computerspiele versucht, sich dem großen und etablierten Medium des Films anzunähern, also cineastisch zu sein. Und bis heute wird über be- stimmte Spiele besonders gesprochen, weil sie wie spielbare Filme zu funktionieren scheinen. Gleichzeitig sind Games auch an den Filmen und Serien unserer Zeit nicht spurlos vorbeigegangen, sondern werden großzügig zitiert und nachgeahmt, wie An- FILM & dreas Rauscher zeigt (→). 2.4 SERIE Bis zu den orchestralen Soundtracks jüngerer Spieleproduktionen, die mitt- lerweile in Konzertsälen überall auf der Welt zur Aufführung‌ gebracht werden, war es ein weiter Weg. Wie Melanie Fritsch darstellt, haben aber schon die ersten »Bip«- Sounds früher Computerspiele Musikerinnen und Musiker inspiriert und so die Mu- siklandschaft geprägt (→). 2.5 MUSIK

INTRO Gewalt gehört nach wie vor zu den am kritischsten beäugten Inhalten von Computer- spielen. Dabei ist die Auseinandersetzung mit dem Tod, der Verletzlichkeit von Körpern und dem Schrecken des Krieges schon immer Gegenstand der Kultur. Dass Gewalt- darstellungen nicht nur Abscheu erzeugen können, sondern auch einen ästhetischen Wert besitzen, thematisiert Jörg von Brincken anhand vieler kulturgeschichtlicher Bei- GEWALT 2.6 spiele (←). Daniel Martin Feige macht deswegen klar, dass die Ästhetik des Computer- spiels vor allem auf dessen Austausch mit anderen Medien basiert und sich im stän- digen Wandel befindet. Er schließt mit der Erkenntnis, dass Games so natürlich auch ÄSTHETIK 2.7 Kunstwerke hervorbringen können (←).

Cutscene: »Vermittlung« In Computerspielen sind es oft die Zwischensequenzen (engl.: Cutscenes), in denen das Spiel seine Handlung erklärt, Charaktere vor- und wichtige Ereignisse darstellt. In diesem Sinne sind diese Zwischensequenzen Momente der Vermittlung. Aber auch als Ganzes kann das Computerspiel zur Vermittlung eingesetzt werden. In welchen Kontexten das geschieht, zeigen die Beiträge in diesem Abschnitt. Stefan Göbel stellt Serious Games als gesellschaftlich und politisch anerkann- tes Mittel zur Wissensvermittlung vor. Er macht dabei deutlich, dass es zu kurz greift, Serious Games auf Lernspiele zu reduzieren, sondern dass sie in zahlreichen Kontex- ten Anwendungen finden können und dies bereits tun. Was fehlt ist ein einheitlicher Standard zur Beurteilung und Kategorisierung von Serious Games, die in vielerlei Hin- sicht zwar mit Unterhaltungsspielen vergleichbar sind, doch sich immer auch durch SERIOUS GAMES 3.1 ein besonderes Vermittlungsziel auszeichnen (←). Eugen Pfister und Felix Zimmermann widmen ihren Beitrag der Erinnerungs- kultur. Denn immer häufiger nutzen Computerspiele historische Zusammenhänge als interaktive Bühne und nehmen so Einfluss darauf, wie die Vergangenheit erinnert wird. Außerdem geraten sie zunehmend selbst in das Interesse der Geschichtswissenschaft, geben sie als kulturelle Artefakte doch Auskunft über die Zeit und Gesellschaft in der ERINNERUNGS­ KULTUR 3.2 sie entstanden sind (←). Die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit stößt dort an Gren- zen, wo einem Computerspiel die »Sozialadäquanz« nicht zugestanden wird. Filme und Serien können im Rahmen von künstlerischer Freiheit und Bildung straffrei‌ verfas- sungsfeindliche Kennzeichen zeigen, Games mussten hierzulande für lange Zeit sicht- bare Leerstellen lassen, selbst wenn es sich um eine anspruchsvolle Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus handelte. Jörg Friedrich beschreibt aus eigener Erfahrung SOZIAL- ADÄQUANZ 3.3 als Spielentwickler den Wandel zu einem differenzierteren Umgang( ←). Computerspiele sind also längst Teil der Kulturgeschichte des Menschen ge- worden und müssen daher wie alle anderen Kulturmedien gesammelt, archiviert und vor dem Zahn der Zeit geschützt werden. Sebastian Möring stellt dar, wie Games in Kulturarchiven ihren Platz finden und wie auf diese Weise das kulturelle Wissen, das in ihnen gespeichert ist und das sie selbst darstellen, erhalten bleibt und zugänglich KULTUR- ARCHIVE 3.4 gemacht wird (←).

014 —— 015 Dass die Zeit drängt, sich weltweit der Bewahrung von Computerspielen zu widmen, betont Andreas Lange. Der technische Verfall der ersten Games und der zugehörigen Hardware hat längst eingesetzt, doch engagierte Spielerinnen und Spieler arbeiten schon lange daran, Spiele und Geräte vor dem Vergessen zu bewahren. Zunehmend wandert diese Aufgabe nun aus den Händen Einzelner in die von Institutionen (→). 3.5 BEWAHRUNG In der Vermittlung von Wissen über Computerspiele spielen auch Museen eine zentrale Rolle. Linda Pfister, Celina Retz, Susanne Grube, Ulrich Schmid und Sa- biha Ghellal zeigen allerdings auf, dass Museen darüber hinaus von Games als Ver- mittlungswerkzeuge profitieren können. Die Forschung hierzu steht noch am Anfang, aber es zeigt sich bereits, dass es sich lohnt, Museumsbesucherinnen und -besucher auch als Spielerinnen und Spieler zu denken (→). 3.6 MUSEUM Abschließend stellt Michael Graf dar, welche wichtige Rolle der Spielejour- nalismus für das Medium spielt. Anfangs vor allem als Kaufberatung, bedingt durch neue Formen der Veröffentlichung, digitale Monetarisierungsstrategien und komple- xere Inhalte aber zunehmend auch durch klassische journalistische Formate wie Ana- lysen, Reportagen und Hintergrundberichte. Ebenso ist der Spielejournalismus heute mehr denn je Beobachter und Teilnehmer von vielfältigen Gaming-Communitys (→). 3.7 JOURNALISMUS

Multiplayer-Modus: »Gemeinschaft« In diesem Abschnitt des Handbuchs soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Computerspiele ein Medium sind, das sowohl Gegenstand als auch Ort von Ge- meinschaftsphänomenen ist. Es soll also die Doppelrolle von Games beleuchtet wer- den: Menschen können gemeinsam die virtuellen Welten des Computerspiels betre- ten und in ihnen soziale Gruppen bilden. Gleichzeitig – und das ist vergleichbar mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen oder Genres – bilden sich Gemeinschaf- ten und Subkulturen ebenso um das Computerspiel herum. Über den Facettenreichtum der Games-Communitys liefert Benjamin Strobel einen Überblick und macht gleichzeitig auch klar, vor welchen Herausforderungen vie- le dieser Communitys noch stehen (→). 4.1 COMMUNITYS Vera Marie Rodewald steigt tiefer in ein Phänomen ein, das auch denjenigen, die selbst selten oder noch gar nicht gespielt haben, schon begegnet sein dürfte: Let’s Plays und Streaming, also das Spielen vor Zuschauerinnen und Zuschauern und eben LET’S PLAY & auch das Zuschauen beim Spielen anderer. (→). 4.2 STREAMING Ein Phänomen, das nicht aus der Gameskultur stammt, mittlerweile aber fest hiermit verzahnt ist, ist das Cosplay, das Schlüpfen in die Rolle von Figuren aus Com- puterspielen, Comics und Filmen. Dass sich aus dieser Verkleidungspraxis heraus mitt- lerweile eine weltumspannende Gemeinschaft entwickelt hat, die mit großem Fach- wissen an ihren Kostümen arbeitet, macht Karen Heinrich in ihrem Beitrag klar (→). 4.3 COSPLAY Über ihre Interaktivität hinaus besitzen Computerspiele noch eine beachtens- werte Eigenschaft, auf die Stefan Köhler in seinem Beitrag zur Modding-Praxis ein- geht: ihre Unabgeschlossenheit. Modifizierung, also die Be-, Ver- und Überarbeitung von Games durch Spielende, ist in diesem Sinne eine logische Konsequenz dieser fun- damentalen Offenheit und blickt auf eine jahrzehntelange Tradition zurück( →). 4.4 MODDING

INTRO In aller Munde ist schon seit einigen Jahren und spätestens seit dem Koalitionsver- trag zwischen CDU, CSU und SPD von 2018, in dem dieses Phänomen explizit er- wähnt wird, der Elektronische Sport. Markus Breuer und Daniel Görlich zeigen, was hierunter zu verstehen ist und in welchen Aspekten er sich vom klassischen Sport E-SPORT 4.5 unterscheidet (←). Zuletzt stellt Thorsten Wiedemann die Vielfalt der Veranstaltungslandschaft rund um Computerspiele vor. Gaming-Events sind längst nicht mehr nur etwas für Fans, sondern öffnen sich zu allen Seiten der Kultur und Gesellschaft für einen Blick über den Tellerrand. Und gerade für Spielentwicklerinnen und Spielentwickler ist der gemeinsa- me Austausch von kreativen Ideen, das Netzwerken und das Präsentieren ihrer Schöp- fungen ein wichtiger Faktor für ihre Arbeit. Nicht zuletzt sind Gaming-Events öffentli- EVENTS 4.6 che Foren, um über Computerspiele zu diskutieren und zu streiten (←).

Battle Royale: »Debatten« Nicht nur geht es in Computerspielen oft um Konflikte, ihr Status als relativ neues Me- dium sorgt auch immer wieder für viel Reibung in der Gesellschaft. Vom Beginn ihrer Entwicklung an werden sie gefeiert und gefürchtet, gefördert und verboten, ignoriert und integriert. Ob Computerspiele eher nutzen oder schaden, darüber wird also bis heute gestritten, ebenso wie über die Frage, für welche Menschen sie eigentlich ge- macht sind und für welche (noch) nicht. Um Vorbehalte und Vorurteile auszuräumen, braucht jedes Kulturgut gesell- schaftlichen Beistand. Doch gerade Computerspiele konnten für viele Jahre nicht auf die Unterstützung aus anderen Kulturbereichen hoffen. Von den Defiziten der Kultur- politik zur Gameskultur, aber auch von den großen kulturpolitischen Erfolgen der letz- KULTUR- POLITIK 5.1 ten Jahre, berichtet Olaf Zimmermann in seinem Beitrag (←). Auf‌fällig ist, dass Deutschland zwar als Absatzmarkt für Computerspiele von großer Relevanz ist – in Europa sogar führend –, Games aus Deutschland aber nur ei- nen verschwindend geringen Anteil dieses Erfolges ausmachen. Felix Falk identifiziert den Mangel an Fördermitteln im internationalen Vergleich als zentralen Grund für die- ses Missverhältnis und macht so klar, warum die mittlerweile beschlossene bundes- deutsche Games-Förderung von so großer Bedeutung für Entwicklerinnen und Ent- FÖRDERUNG 5.2 wickler ist (←). Einer Unterstützung der Gameskultur stehen häufig Vorurteile entgegen. Dass neuen Kulturformen großes Misstrauen gegenüber gebracht wird, ist allerdings kein neuartiges Phänomen. Ganz egal ob »Lesesucht« oder »Great Comic Book ­Scare« – was einmal als Gefahr für Körper und Geist wahrgenommen wurde, ist heute selbst- verständlicher Teil des Alltags, wie Martin Andree in seinem Beitrag anschaulich of- GEFÄHRLICHE MEDIEN 5.3 fenlegt (←). Zu den Tiefpunkten der Auseinandersetzung mit den mutmaßlichen Gefahren des Mediums gehört die Debatte um die sogenannten »Killerspiele«. Andreas Garbe zeichnet den Verlauf dieser journalistischen und politischen Auseinandersetzung mit gewalthaltigen Computerspielen nach und zeigt eindrücklich, wie dabei sehr oft mit KILLER- SPIELE 5.4 Fehlinformationen und verkürzten Zusammenhängen gearbeitet wurde (←).

016 —— 017 Um den Jugendschutz in Deutschland muss man sich derweil keine Sorgen machen. Er gilt als einer der strengsten auf der Welt. Martin Lorber gibt in seinem Beitrag ei- JUGEND- nen Überblick auf die wichtigsten Fakten (→). 5.5 SCHUTZ Immer mehr und vor allem verschiedene Menschen spielen Computerspie- le, aber längst wird diese Vielfalt noch nicht in allen ihren Inhalten abgebildet. Muss die Prinzessin immer wieder von Super Mario gerettet werden? Welche Lücken in der Repräsentation gesellschaftlicher Gruppen bestehen, welche Klischees oft noch ver- mittelt werden, aber auch wie das Medium zielsicher an die Gesellschaft aufschließt, fasst Nina Kiel zusammen (→). 5.6 DIVERSITÄT Spielerinnen und Spieler suchen Herausforderungen. Aber was für die eine Person ein Kinderspiel ist, kann für eine andere ein nahezu unüberwindbares Hinder- nis sein, insbesondere wenn körperliche Einschränkungen eine Rolle spielen. Melanie Eilert bietet einen umfassenden Einblick in die Hürden, die den Zugang zu Compu- terspielen beschränken können, sowie in die erfolgreichen Strategien, die das Medi- um zu einem inklusiven Ort machen (→). 5.7 INKLUSION Unter dem Stichwort »Gamification« dienen Computerspiele nicht nur als Vermittler von Informationen, sondern greifen unmittelbar in die Alltagspraktiken von Arbeit und Freizeit ein und sollen sie dadurch motivierender und effektiver gestalten. Felix Raczkowski nimmt diese Übertragung spielerischer Prozesse auf die Realität kri- tisch auf – irgendwo zwischen Heilsversprechen und Dystopie (→). 5.8 GAMIFICATION

Highscore: »Wirtschaft« Games sind von herausragender kulturwirtschaftlicher Bedeutung. Wie in diesem Band gezeigt wird, erschöpft sich die Relevanz der Computerspiele sicherlich nicht in den Umsätzen, die sie einfahren, und doch sollte nicht außer Acht gelassen wer- den, dass Games mittlerweile zu einem Wirtschafts- und Innovationsfaktor von Welt- rang aufgestiegen sind und viele Tausend Menschen in der Branche ihre Arbeit ge- funden haben. Jörg Müller-Lietzkow stellt Computerspiele als Gegenstand der Wirtschafts- forschung vor und skizziert dabei sowohl Umbrüche in den Produktions- und Ver- triebsformen der letzten Jahrzehnte wie die Fragestellungen, die an Computerspiele und ihre Entstehungskontexte aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht gestellt wer- STRUKTUR, TRENDS & den können (→). 6.1 FORSCHUNG Die Umsätze, die mit Games gemacht werden, können sich selbst mit Block- busterproduktionen aus dem Filmbereich messen. Oliver Castendyk legt dar, dass Deutschland besonders als größter Games-Markt in Europa von Bedeutung ist, Spie- leproduktionen aus Deutschland allerdings kaum zu dieser Rolle beitragen. Die Markt- daten offenbaren eine klein- und mittelständisch geprägte Branche in Deutschland, die zwar – wie die ganze Games-Branche – stark international ausgerichtet ist, aller- dings Anfang der 2000er Jahre den Anschluss verloren hat (→). 6.2 MARKTDATEN Die Arbeitsfelder der Menschen, die in dieser Branche arbeiten, lassen sich wiederum keineswegs auf das verbreitete Bild des Programmierers reduzieren, wie Annegret Montag darstellt. Sie fächert den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für Com-

INTRO puterspiele auf und stellt dabei fest, dass die Anzahl der Ausbildungsangebote für In- teressierte steigt und die vielfältigen Berufsbilder, die die Branche bietet, auch Quer- AUSBILDUNG & ARBEITSMARKT 6.3 einsteigern einen Zugang ermöglichen (←). Was in der Spieleentwicklung erdacht wird, schwappt schon längst auch in andere Branchen über. Thomas Bedenk stellt schlaglichtartig einige technologische Innovationen vor, die ursprünglich auf die Computerspielbranche zurückgehen, und unterstreicht damit, dass Games nicht nur umsatzstarke, weltweit vertriebene Pro- TECHNOLOGIE & INNOVATION 6.4 dukte, sondern auch wichtige Impulsgeber für Zukunftstechnologien sind (←). Experimentierfreude bestimmt ganz besonders die Arbeit an den sogenann- ten Independent Games, also Computerspiele, die von kleinen Studios ohne finanz- kräftige Publisher im Hintergrund hergestellt werden. Wie in anderen Kulturbereichen auch, gehen von ihnen wichtige Impulse aus. Die Arbeit an ihnen ist oft geprägt von der Leidenschaft für den Beruf und den Gegenstand und verbunden nicht nur mit He- rausforderungen, sondern auch Entbehrungen. Denn auf dem globalisierten Games- markt ist es schwierig, entdeckt zu werden. Doch, so zeigen Valentina Birke und Tino Hahn, die Independent-Szene hält zusammen, erdenkt Projekte und Fördermöglich- INDEPENDENT GAMES 6.5 keiten und bereichert damit die Gameskultur ungemein (←).

018 —— 019 INTRO 1020 —— 021 GRUNDLAGEN

1.1 SPIELEN 023

1.2 GAME STUDIES 029

1.3 GAMEBEGRIFFE 034

1.4 GESCHICHTE 039

1.5 SCHNITTSTELLEN 046

1.6 ERSTE SCHRITTE 049

1.7 KANON 053

HANDBUCH GAMESKULTUR 1.1 SPIELEN JENS JUNGE

Spielen hilft. Es ist ein faszinierendes Instrument, eine Methode, mit der wir Menschen uns diese Welt erschließen, Erklärungsansätze für die Fragen des Lebens erarbeiten oder Konflikte und Probleme verarbeiten. Die Grundphänomene des Menschen und die sich daraus ergebenden Fragestellungen sind seit Jahrtausenden Gegenstand der Ge- dankenspiele der Literatur, erstmals schriftlich in einem der ältesten überlieferten Tex- te, dem »Gilgamesch-Epos« (ca. 2100 v. Chr.): Natur, Liebe, Arbeit, Herrschaft und Tod werden »durchgespielt«. In der Antike fanden im Schauspiel des Theaters diese The- men ihre Reflexion und seitdem das Spiel auf Musikinstrumenten erfunden wurde, wer- den diese Themen besungen und spielerisch in akustische Schwingungen verwandelt.

Der spielende Mensch in der Wissenschaft Literatur-, Theater-, Musik-, Film- oder auch die Sportwissenschaften befassen sich forschend und lehrend im weitesten Sinne mit Spielen und den damit verbundenen, etablierten Kulturgütern, die Fragen und Antworten zu den Grundphänomenen des Menschen bearbeiten. Eine notwendige Universalwissenschaft, wie eine allgemeine Spielwissenschaft, in der die spezielle Gameskultur eine zentrale Rolle spielt, gibt es bisher leider nicht in adäquater und staatlich finanzierter Form. So findet die Selbst- erkenntnis des Menschen mit den Erkenntnissen aus Pädagogik, Psychologie, Sozio- logie, Ökonomie, Biologie, Anthropologie, Philosophie, Religionswissenschaft oder Kultur- und Medienwissenschaft zum Thema Spielen nur innerhalb dieser Teildiszi- plinen statt. Warum befassen sich seit der Antike aufgeklärt Denkende mit dem Phä- nomen des Spielens?

Spielen als Naturphänomen Es ist offensichtlich, dass nicht nur Menschen spielen, Tiere zeigen ebenso ein vielfäl- tiges spielerisches Verhalten, wie schon Karl Groos in seiner Abhandlung »Die Spiele der Tiere« (1896) herausarbeitete. Die Natur hat die Funktion des Spielens in die Gene und Instinkte mancher Lebewesen mit ausreichend großem Gehirn implementiert. Der

022 —— 023 Homo erectus, eine der ersten Menschenarten, wird vor über zwei Millionen Jahren die Welt spielend erkundet haben. Tiere und Menschen beginnen sich ihre Umwelt mit den Materialien und den Lebewesen explorativ und neugierig zu erschließen, ähnlich 1.1 wie heute zumeist junge Spieler durch virtuelle, offene Welten streifen. Aber auch Erwachsene spielen. Die »Einübungstheorie« des 19. Jahrhunderts, nach der sich Kinder spielend auf ihr zukünftiges Leben vorbereiten, greift viel zu kurz. Der Reiz des Spiels liegt nicht nur im bewussten Lernen »für später«. Das Spie- len kann zum Glück nicht ausschließlich verzweckt werden. Warum lässt die Natur Tier und Mensch den Spielraum für ein auf den ersten Blick so nutzloses und zeitrau- bendes Verhalten? Das Spielen aus purer Lebensfreude trägt nicht eindeutig zur Exis- tenzsicherung eines Individuums bei, es wirkt augenscheinlich wie ein wegrationa- lisierbarer Luxus. Als Grundvoraussetzung oder Vorbedingung zum Spielen kann der luxuriös an- mutende Zustand des Wohlbefindens angesehen werden. Tiere und Menschen müs- sen zum einen satt und nicht durstig sein sowie zum anderen sich sicher fühlen. Wenn diese elementaren Bedürfnisse befriedigt sind, steigt die Chance, sich das Lebensge- fühl spielerisch gestalten zu wollen, wie unter anderem Frederik J. J. Buytendijk Jens Junge ist in »Wesen und Sinn des Spiels« (1933) betont. Die heutige Spielforschung kann Direktor des darüber hinaus jedoch belegen, dass selbst in existenziell bedrohlichen Lebens- Instituts für Ludo­ situationen das Spielen als Lösungs- und Verdrängungsansatz hilfreich und nütz- logie in Berlin. lich sein kann. Wer pfeifend durch den dunklen Wald geht, verhindert das Gefühl von Angst. Kinder haben als Opfer innerhalb von Konzentrations- und Vernichtungs- lagern in Nazi-Deutschland gezielt ihren grässlichen Alltag spielend besser ertragen. Zu spielen bedeutet jedoch generell, freiwillig und aus eigenem Antrieb Ak- tivitäten auszuführen. Der Spieler vollführt eine Reihe von Handlungen, die mit (Le- bens-)Freude und Spaß verbunden sind. Diese Freude führt zu positiv empfundenen Emotionen, also zu Hormonausschüttungen in unserem Gehirn. Spielen bewirkt Be- lebung und Vergnügen. Diese Emotionen können jedoch durch unterschiedliche kul- turelle Prägungen verschieden erzeugt werden. So hat Brian Sutton-Smith in »Die Dialektik des Spiels« (1978) nachgewiesen, dass wettbewerbsorientierte Kulturen verstärkt kompetitive Spiele spielen und Kulturen, die weniger das Individuum und seine Selbstverwirklichung im Fokus haben, mehr kooperative Spiele.

Play, Toy, Game Der Homo sapiens wurde offensichtlich durch die Natur nicht mit ausreichend sozi- alen Instinkten ausgestattet – wie Bienen, Ameisen oder Zugvögel – dass er sich au- tomatisch einzuordnen wüsste. Wie stark sich der kooperative Gedanke entwickelt, die Sozialisation des Menschen eintrainiert wird, ist kulturell und individuell sehr un- terschiedlich. Wir benötigen auf jeden Fall reale und spielerische Erfahrungen sowie auch sinnstiftende Religionen, Philosophien und andere erfundene Ordnungen, wie Nationalstaaten oder Geld. Da haben es instinktgetriebene Tiere manches Mal einfa- cher. Ihnen fehlt das ausgeprägte Bewusstsein eines Individuums; sie »wissen«, dass sie nur ein Teil eines größeren Ganzen sind.

GRUNDLAGEN Der Mensch muss erst sein Menschsein mühsam lernen. Dabei unterstützt ihn das Spielen. Dieses sorgt außerdem für positive Emotionen, für Freude. Dieses Spielen 1.1 ist ein ursprüngliches, natürliches, freies Spiel. Es fördert und unterstützt den Lern- prozess, die eigenen Fähigkeiten zu schulen und gleichzeitig soziales Verhalten zu ermöglichen. Um dieses Spielen eindeutig zuzuordnen und charakterisieren zu kön- nen, eignet sich die englische Sprache sehr gut mit dem Wort »play«. Doch wenn dieses freie, natürliche Spielen bei Tier und Mensch zu beobachten und zu erklären ist, wo beginnt das Spiel in oder mit der Kultur, wo liegen die weiteren Wurzeln ei- ner Gameskultur?

Als der Mensch das Spielzeug erfand Ausgestattet mit der »Kulturtechnik« Sprache, mithilfe derer aus Lauten Worte mit Be- deutungen und Zuordnungen zu materiellen Dingen formuliert werden und angerei- chert mit einem Regelsystem (Grammatik, Spielregeln einer Sprache), konnten und können Dinge beschrieben werden, die es real nicht gibt, beispielsweise die Erfin- dung eines Überwesens. Eines der ältesten kulturellen Objekte in Deutschland ist der Löwenmensch. Dieser ist im Stadtmuseum in Ulm zu bewundern. Vor 35.000 Jahren hat ein Mensch aus einem Mammutstoßzahn mühevoll und mit einem hohen Produktionsaufwand – archäologische Experimente legen ca. 360 Arbeitsstunden nahe – diese Fantasiefigur des Löwenmenschen geschnitzt, ein bis heute gut erhaltenes erstes Spielzeug. Ob es zur Illustration einer Gutenachtgeschichte für die Kinder am Feuer in der elterlichen Höhle eingesetzt wurde oder als spiritueller Gegenstand zur Praktizierung einer Na- turreligion, ist aus spielwissenschaftlicher Sicht unerheblich. Als Spielzeug oder ritu- eller Gegenstand gleichermaßen führt der Löwenmensch den »Anwender« über seine eigene Existenz hinaus in einen gedanklichen »magischen Zirkel«, in eine kreativ nutz- bare Fantasiewelt mit Rollen sowie Spiel- oder Gesellschaftsregeln (Simulationsfunk- tion). Er lädt uns ein, sich auf ihn einlassen, mitzuspielen oder sich ab- oder gar auszu- grenzen – so wie jedes Spielzeug, welches uns als stiller Impuls einlädt, der Welt die Realität auszutreiben, ihr kurzzeitig zu entfliehen (Auf‌forderungscharakter). Im Spiel mit einem Spielzeug können physische, motorische, kognitive und soziale Fähigkei- ten und Kompetenzen konfliktfrei entwickelt, eingeübt und ausgelebt werden. Darü- ber hinaus können Konflikte und Probleme geistig bearbeitet werden. Es beginnt hier die Wirkung des kreativen Spiels als Katharsis. Die Psychologie vertritt die Annahme, dass das Ausleben innerer Konflikte und Ängste, versteckter, unterdrückter Emotionen zu eben einer Reduktion der rea- len Konflikte führt. Diese Annahme ist als Katharsis bekannt. Spielen hilft, die Reali- tät zu ertragen, sie gedanklich zu modifizieren. Dies erscheint z. B. ein Grund zu sein, warum sich Fußball im Zeitalter der sich stark auswirkenden Industriegesellschaft als Massenphänomen bei der im realen Leben durch den täglichen, monotonen und ab- stumpfenden Arbeitsprozess »entfremdeten« Arbeiterschicht als Ausgleich durch- gesetzt hat. Zu diesem Spielen gehört neben dem Spielzeug, »Ball«, eine weitere Zu- tat: das Regelwerk.

024 —— 025 Halten wir jedoch vorher fest, dass das reine Spielen mit einem Spielzeug ohne Regeln ebenso ein ursprüngliches, natürliches, freies Spiel ist. Es beinhaltet einen Aufforde‌ - rungscharakter sowie eine Simulationsfunktion. Es fördert und unterstützt den Lern- 1.1 und Abstraktionsprozess, die eigenen Fähigkeiten über ein Spielmittel, ein Spielzeug. Dies können Puppen, Tiere, Bälle, Kegel, Autos, Eisenbahnen, Schlümpfe und vieles mehr sein. Um dieses gestützte Spielen eindeutig zuzuordnen und charakterisieren zu können, eignet sich das englische Wort »Toy« sehr gut. Sobald der menschliche Geist, gar ein Game Designer oder Spieleautor, Spielmittel mit Spielregeln versieht, können wir von einem »Game« sprechen. Analoge oder digitale Spiele können als erfundene Ordnungen mit regulierenden Ideen beschrieben werden, die sich mit den Grundphä- nomenen des Menschen auseinandersetzen: Natur, Liebe, Arbeit, Herrschaft und Tod.

Spielkompetenzen und Gameskultur Seitdem Menschen vor ca. 11.000 Jahren sesshaft geworden sind, die Idee eines Le- bens nach dem Tode entstanden ist und gesellschaftliche, abstrakte Spielregeln rund um ein Stadtleben mit entsprechender Arbeitsteilung kommuniziert und gelernt wer- den mussten, gibt es wohl Brettspiele. Die ersten Laufspiele hatten immer das Ziel, als erster ins Ziel zu gelangen, das daraus bestand, neben einer Gottheit im Paradies Platz nehmen zu dürfen (»Königsspiel von Ur« ca. 2600 v. Chr. aus Mesopotamien; »Senet« ca. 3000 v. Chr. aus Ägypten). Darüber hinaus gibt es das alte indisches Spiel »Pachis« (ca. 400 n. Chr.) bei dem es darum geht, dem schmerzhaften, leidvollen Leben zu ent- rinnen, um »nach Hause« ins schmerzfreie Nirwana, ins ewige Leben vorzudringen. Die- se Spielmechanik findet sich heute in »Mensch ärgere Dich nicht« (1914) wieder. Spiele kommunizieren und gestalten Kultur, seitdem es Games gibt, deshalb sollten auch heute in den Ausbildungen und Studiengängen rund um die Entwicklung und technische Umsetzung von digitalen Spielen die Grundlagen des analogen Spie- lens, der Spielwissenschaft (also Ludologie), mit vermittelt werden. Das Verständnis von Brett- und Kartenspielen, die Kenntnis tradierter Spielmechaniken und Spielkon- zepte, bilden die Grundlage einer soliden Spielentwicklungskompetenz. Dem voraus geht eine individuelle Spielkompetenz. Der Charakter eines Menschen, seine indi- viduelle Persönlichkeitsentwicklung, ist eng verwoben mit seinen Spielerfahrungen. Ob ein Mensch eher vorsichtig oder innovativ ist, prägt seine Offenheit, sei- ne Neugier. Ob ein Mensch eher nachlässig oder gut organisiert ist, beschreibt sei- ne Gewissenhaftigkeit. Ob jemand kooperativ oder wettbewerbsorientiert ist, macht seine Verträglichkeit aus. Ob sich eine Person sehr reserviert oder kommunikativ ver- hält, lässt seine Geselligkeit erahnen. Und ob ein Mensch eher ängstlich oder sehr selbstsicher auftritt, beschreibt seine emotionale Stabilität. Die Ausprägungen die- ser Eigenschaften und die damit verbundenen individuell angeeigneten Glaubenssät- ze, Normen, Werte und Einstellungen aus kulturell wahrgenommenen Referenzsyste- men (erfundene Ordnungen, wie Religionen, ethische Regeln, akzeptierte staatliche Gesetze und Verordnungen usw.) definieren die individuelle Kultur eines Menschen. Innerhalb von Games kann er sich ausprobieren, Verhalten adaptieren oder variieren, im geschützten Raum außerhalb der Wirklichkeit so tun »als ob«.

GRUNDLAGEN Spiele sind sehr viel mehr als Zeitverschwendung, wie manche noch immer behaup- ten. Die Identität eines Menschen, sein Selbstkonzept, die damit gewonnene Kon- 1.1 trollüberzeugung (die Dinge meines Lebens im Griff zu haben, Selbstwirksamkeit bewusst wahrzunehmen) und der sich damit aufbauende Selbstwert sind ständige Variablen, die durch vom Menschen erworbene Spielkompetenzen modifiziert, be- wusst oder eben auch sehr oft unbewusst, durch einen übergelagerten Spielspaß ge- staltet werden. Halten wir fest, dass das Spielen mit Spielregeln und die Definition eines Spiel- feldes unter Nutzung von Spielmitteln, wie z. B. Spielsteinen, Karten, Würfeln oder auch Avataren, unter der Anwendung und freiwilligen Akzeptanz von Spielzielen zu ei- nem Regelspiel als Gesellschaftsspiel und somit zu einem Brettspiel, Kartenspiel oder Computerspiel führt. Das Spielen mit Regeln kann zu Kulturen und Regelsystemen füh- ren, ebenso können Kulturen Spiele hervorbringen mit dem Ziel, den Anpassungs- und Identifikationsprozess des Individuums mit dieser Kultur zu ermöglichen. Mithilfe er- lernter Spielkompetenzen passt sich der Mensch seiner Umwelt an oder verändert sie spielerisch. Dazu ist das freie Spiel, der spielerische Umgang mit Spielzeug sowie die Nutzung von Regelspielen die Grundlage. Komplexe Gesellschaften benötigen kom- plexe Spiele. Spiele sind mindestens ebenso universell, wie die Sprache. Sie dienen dem Menschen zum Austausch untereinander sowie zur Gestaltung und Interpretati- on ihrer (eingeschränkten) Wirklichkeit.

Wirkung von Spielen Über analoge Spiele oder Multiplayer-Games knüpfen Menschen Kontakte, pflegen Gemeinschaft, lösen gemeinsam Probleme oder messen und vergleichen sich. Games zeigen uns unsere Grenzen auf. Oder konnte jemals jemand gegen Tetris (1984) gewin- nen? Mit Spielen entspannen sich Menschen, lernen, bauen und konstruieren, werden kreativ, innovativ, gestalten Zukunft. In Spielen können Menschen anderen Kulturen begegnen, in virtuelle Welten eintauchen, ihr Glück versuchen oder auch nur einfach einmal ausprobieren, ein anderer sein zu dürfen, sich mit unterschiedlichen Rollen zu SERIOUS identifizieren, die in der Wirklichkeit unmöglichen Abenteuer erleben, erleiden und be- GAMES 3.1 stehen zu können. Spiele können eine Methode sein, den langweiligen Alltag zu »gami-

GAMIFICATION 5.8 fizieren« oder als Serious Games Gutes in der Gesellschaft zu bewirken (←). Games­ kultur ist so faszinierend vielfältig, weil sich in ihr das freie Spiel, das explorative Spiel, das Fantasiespiel, das Rollenspiel, das Konstruktionsspiel und das vom Game Desig- ner erfundene und definierte Regelspiel bündeln können.

Fazit Wenn der Mensch als spielendes Wesen über den Zugang zu Spielen sich die Heraus- forderungen dieser Welt mit den künstlichen Herausforderungen im Spiel erschlie- ßen und vielleicht auch beantworten kann, stellt sich die Frage, warum bis heute nicht eine Universalwissenschaft wie die Spielwissenschaft Strukturen schafft, die ein so wesentliches Kulturgut wie das Spiel erforscht, beschreibt, erklärt und damit einen Überblick über zahlreiche Handlungsoptionen eröffnet.

026 —— 027 Vielleicht nehmen bis heute viele Menschen das Spiel nicht ernst. Sie sehen es als Kon- trast zur Arbeit, statt es als Instrument der Problemlösung kreativ und kontinuierlich zu nutzen. Games können zu einem leichteren Blick auf das Leben beitragen und dies tun 1.1 sie seit Jahrtausenden, je nach den technologischen Möglichkeiten ihrer Zeit. Es ist an der Zeit, Spiele aus dem Unbewussten und Unreflektierten auf eine methodische, wis- senschaftliche Bühne zu heben sowie denen, die Spiele generell verteufeln, die Stirn zu bieten. Die Gameskultur ist auf ihren vielfältigen Ebenen zu pflegen und zu fördern, denn Spielen ist die Basis kultureller Entwicklung.

Literatur ✕ Huizinga, Johan: Homo ludens – Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2011 ✕ Sutton-Smith, Brian: Die Dialektik des Spiels – Eine Theorie des Spielens, der Spiele und des Sports. Verlag Karl Hofmann, Schorndorf 1978 ✕ Übersicht des Instituts für Ludologie zu Standardwerken der Spieltheorien: ludologie.de/spielforschung/literatur- spieltheorien

GRUNDLAGEN 1.2 GAME STUDIES GUNDOLF S. FREYERMUTH

Im 19. Jahrhundert erfasste die industrielle Arbeitsteilung die Wissenschaften. Als akademische Norm etablierte sich, einzelne Künste mittels spezialisierter Disziplinen zu untersuchen. In Abspaltung von der »Universalwissenschaft« Philosophie entstan- den unter anderem die Literatur-, Musik-, Kunstwissenschaft. Der hohe Ertrag solcher Spezialisierung führte im 20. Jahrhundert dazu, dass sich mit neuen Künsten – etwa dem Film – wiederum entsprechende Fachdisziplinen ausbildeten. Folgerichtig be- wirkte der Aufstieg digitaler Spiele zur einflussreichsten Ausdrucksform der digita- len Epoche weitere wissenschaftliche Spezialisierung. Für die neue Disziplin, die sich mit digitalen Spielen auseinandersetzt, hat sich weltweit der Begriff »Game Studies« eingebürgert – analog zu den englischen Be- zeichnungen »Literary Studies« für Literaturwissenschaft oder »Film Studies« für Film- wissenschaft. Eindeutschungen wie etwa »Computerspielwissenschaft« sind weniger gebräuchlich und scheinen nur begrenzt sinnvoll. Denn während z. B. literarische Wer- ke oft deutlich nationalen Kulturen zuzuordnen sind und in ihrer Erkundung nationale Aspekte zum Tragen kommen, handelt es sich bei digitalen Spielen um ein überwie- gend global produziertes, distribuiertes und rezipiertes Medium. Ihre wissenschaftli- che Analyse verlangt nach internationalen und globalen Perspektiven. Die dominieren- de Forschungssprache ist dabei das Englische. Die Fragestellungen der Game Studies bei der Erkundung der ästhetischen Gestalt, kulturellen Bedeutung und gesellschaftli- chen Wirkung digitaler Spiele lassen sich zum einen in ihrer historischen Entwicklung, zum anderen in ihrer systematischen Ordnung beschreiben. Die Geschichte der Game Studies setzte im letzten Viertel des 20. Jahrhun- derts ein und konnte dabei auf einer langen intellektuellen Vorgeschichte aufbauen, denn die menschliche Neigung zu spielen hat seit Jahrtausenden das Interesse der SPIELEN 1.1 Philosophen geweckt (←). In der westlichen Neuzeit erkannte z. B. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646—1716) das Spielen als Mittel der Wissensproduktion. Friedrich Schil- ler (1759—1805) verstand es als Gegengift zur aufgeklärten Logik zweckgerichteter Naturbeherrschung. Friedrich Nietzsche (1844—1900) sah im Spieltrieb eine befrei-

028 —— 029 ende kindliche Opposition gegenüber verhärteten Verhältnissen. Im 20. Jahrhundert entstanden erste umfassende wissenschaftliche Studien zur Geschichte und Gegen- wart des Spielens. Johan Huizinga (1872—1945) bestimmte in »Homo Ludens« (1938) 1.2 die Charakteristika des analogen Spiels: Freiwilligkeit, Regelhaftigkeit und damit Ord- nung sowie den Umstand, dass Spielen in einem »Zauberkreis« vom Alltags- und Er- werbsleben getrennt stattfinde. Huizingas kulturgeschichtlichen Ansatz vertiefte Ro- ger Caillois (1913—1978) in »Les Jeux et les hommes« (1958) aus soziologischer Sicht. Dabei unterschied er zwischen einem ungeregelten, eher triebhaften Spielen des In- dividuums (Paidia) und regelbestimmten kodifizierten (Gesellschafts-)Spielen, die Ge- schicklichkeit und Übung erfordern (Ludus). Marshall McLuhan (1911—1980) schließ- lich erkannte in den 1960er Jahren – an der Schwelle zur Digitalisierung – Spiele als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und zugleich als Einübung in sie: dass neue gesellschaftliche Verhältnisse jeweils neue Spiele hervorbringen. Die ersten Spiele, die sich auf Großrechnern spielen ließen, entstanden An- fang der 1950er Jahre im Kontext der Künstliche-Intelligenz-Forschung. Zur Heim- unterhaltung wurden (Konsolen- und PC-)Games in den 1970er Jahren (→). Dieser 1.4 GESCHICHTE beginnenden Popularisierung folgten Versuche, das neue Medium zu verstehen. Drei unterschiedliche Ansätze prägten den Ursprung der Game Studies. Zum Ersten sum- mierten Game Designer die Erfahrungen, die sie in der Entwicklung von Video- und Computerspielen gesammelt hatten. Wichtigster Pionier einer solchen auf systema- tische Dokumentation, Reflektion und praktische Vermittlung zielenden Game-De- sign-Theorie war Chris Crawford mit »The Art of Computer Game Design« (1984). Zum Zweiten »entdeckten« Wissenschaftler etablierter Disziplinen digitales Spielen und untersuchten seine Auswirkungen aus ihren diversen sozial- und geisteswissen- schaftlichen Fachperspektiven, von der Pädagogik und Psychologie bis zur Film- und Medienwissenschaft. Zum Dritten kam es in den 1990er Jahren zu ersten Studien, die an digitalen Spielen selbst interessiert waren und sie als eine neue Ausdrucksform interpretierten. Vor allem zwei Monografien lesen sich aus heutiger Perspektive als »Gründungsdokumente« der Game Studies: Espen Aarseths »Cybertext« (1997) und Janet Murrays »Hamlet on the Holodeck« (1997). Während Aarseth die spielerisch- interaktiven Elemente digitaler Spiele betonte, hob Murray deren einzigartiges er- zählerisches Potenzial hervor. In diesen beiden – teils gegensätzlichen, teils sich ergänzenden – Positionen kündigte sich die erste große wissenschaftliche Debatte der aufstrebenden Game Stu- dies an. Um die Wende zum 21. Jahrhundert diskutierten zahlreiche Forscher das prob- lematische Verhältnis zwischen den ludischen, d. h. rein spielerisch-mechanischen Ele- menten, und den narrativen, d. h. Geschichten entwerfenden Anteilen digitaler Spiele. Im Zuge dieser ebenso fruchtbaren wie unabschließbaren Auseinandersetzung gelang die institutionelle Etablierung der Game Studies. Fachzeitschriften wurden gegründet, die Zahl der Buchpublikationen wuchs. 2003 gründete sich die Digital Games Research Association (DiGRA). Zuerst richteten skandinavische und angelsächsische Hochschu- len Game-Studies-Professuren sowie Bachelor-, Master- und Promotionsstudiengänge ein. Der internationalen Entwicklung hinkt Deutschland um ein gutes Jahrzehnt hinter-

GRUNDLAGEN her. Lehre und Forschung in den Game Studies geschehen bis heute an Hochschulen und Universitäten überwiegend »nebenbei«, d. h. im Rahmen existierender geistes- und 1.2 sozialwissenschaftlicher Fächer. Erst 2014 wurde die erste Game-Studies-Professur be- rufen, am Game Lab der TH Köln und im Kontext eines künstlerisch-wissen- schaftlichen Bachelor-Studiengangs. Spezialisierte Game-Studies-Studiengänge exis- tieren in Deutschland noch nicht. Den aktuellen Stand der Game Studies kennzeichnen drei Fokussierungen. In ihrer Systematik entsprechen sie weitgehend den Schwerpunkten, die Katie Salen und Eric Zimmerman bereits 2003 in ihrer grundlegenden Studie »Rules of Play« be- schrieben: »Rules, Play, Culture«. Die Perspektive »Rules« – Regeln – legt den Schwerpunkt auf Games als ent- worfene Systeme. Diese Untersuchung des Designs und der Organisationsprinzipien digitaler Spiele ist die Domäne der Game-Design-Forschung. Sie stellt die Doppelfra- ge: »Was macht ein gutes Spiel aus?« und »Wie macht man ein gutes Spiel?«. Antwor- ten werden über die Bestandsaufnahme, Analyse, vereinheitlichende Darstellung und verallgemeinernde Begründung der Vorgehensweisen gesucht, die sich in der kom- merziellen wie künstlerischen Entwicklung digitaler Spiele weitgehend ungeplant he- rausgebildet haben. Wie der Ausgangspunkt liegt auch der Zielpunkt der Game-De- sign-Forschung in der künstlerisch-handwerklichen Praxis. Primär geht es ihr um die lehrende Vermittlung der gewonnenen Einsichten – darunter nicht zuletzt einer zu- verlässigen Begriff‌lichkeit und Fachsprache – in praxisorientierten Studiengängen. Die Perspektive »Play« – Spielen – legt den Fokus auf die Erfahrung spielender GEWALT 2.6 Subjekte und Gruppen. Im Zentrum des »Player Research« steht die Frage: »Welche GEFÄHRLICHE Wirkung(en) haben Games?« – auf Erwachsene wie Jugendliche und Kinder sowie die MEDIEN 5.3 Gesellschaft insgesamt. Thematisch dominieren in der Forschung einerseits die mögli- KILLER- SPIELE 5.4 che Beeinflussung durch Games zu sozial unerwünschtem Verhalten (←) – insbeson- dere Gewalttätigkeit –, andererseits die spielerische Beförderung von sozial erwünsch- SERIOUS GAMES 3.1 tem Verhalten – insbesondere Lernen (←). Andere Fragen betreffen die Bestimmung von Spielertypen und die Untersuchung von spielspezifischen Verhaltensweisen bis hin zum ökonomischen Handeln in komplexen Spielwelten. Dazu bedient sich der »Player Research« der Theorien und Methoden einer Vielzahl älterer Disziplinen, unter ande- rem (Medien-)Pädagogik, Psychologie, Bildungsforschung, Soziologie, Anthropologie, Ethnologie und Ökonomie. Ihren überwiegend sozialwissenschaftlichen Forschungsin- teressen folgend beschäftigt sich diese Sub-Disziplin der Game Studies primär mit den Spielenden und ihren Erfahrungen und nur am Rande mit den Spielen selbst. Die Perspektive »Culture« – Kultur – legt den umgekehrten bzw. ergänzen- BILDENDE KUNST 2.1 den Schwerpunkt auf die Aussagen und kulturelle Bedeutung digitaler Spiele. Diese geisteswissenschaftlich orientierte Forschung stellt die Doppelfrage: »Welche ästhe- THEATER 2.2 tische(n) Bedeutung(en) besitzen und transportieren digitale Spiele?« und »Welche

LITERATUR 2.3 kulturelle(n) Bedeutung(en) besitzen und erzeugen digitale Spiele?«. Games werden FILM & als ästhetische Artefakte begriffen und gleichberechtigt zu anderen Werken künst- SERIE 2.4 lerischen Ausdrucks – Romanen und Gemälden, Theaterstücken und Spielfilmen –

ÄSTHETIK 2.7 auf ihre Strukturen und Mechanismen der Bedeutungsproduktion untersucht (←).

030 —— 031 Die hermeneutischen Methoden, die für solche Forschung in den Literatur-, Kunst- oder Filmwissenschaften etabliert sind, werden zu diesem Zweck dem interaktiv-non- linearen Charakter des neuen Mediums angepasst. Zwei Ansätze dominieren: Zum ei- 1.2 nen die analytische Identifizierung der ästhetischen Strukturen einzelner Spiele und Spielgenres. Erkannt werden sollen deren bestimmende Elemente sowie die Regeln ihrer Kombination. Zum zweiten werden einzelne Spiele oder Spielgenres auf ihre kul- turelle Bedeutung befragt. Erfasst werden sollen die vielfältigen Verbindungen zwi- schen der inneren Gestalt einzelner Spiele und Genres, ihrer künstlerischen Produk- tion, ihrer sozialen Nutzung sowie den sozialen und kulturellen Situationen, in denen ERINNERUNGS­ sie sich ausbilden (→). 3.2 KULTUR Ein viertes wichtiges Forschungsfeld erkundet die Grenzen der Game Studies:­ die Beziehung digitaler Spiele zu analogen Spielen und Spielweisen, wie sie in der überkommenen Spielwissenschaft untersucht werden. Unstrittig bestehen zwischen beiden Medien trotz ihrer historischen wie technisch höchst unterschiedlichen Ent- wicklung vielfältige Gemeinsamkeiten. Vergleichen lässt sich ihr zugleich nahes und fernes Verhältnis unter medientheoretischer Sicht mit dem zwischen Theater und Film. Soviel diese beiden älteren Medien miteinander teilen: u. a. Textbasierung (Drama/ Drehbuch), Schauspiel, Regie, Kostüme, Kulissen –, soviel trennt Gundolf S. Freyermuth ist sie auch: insbesondere das chronologische Live-Spiel auf der Büh- Gründungsdirektor des Cologne ne im Gegensatz zur non-chronologischen Aufzeichnung per Ka- Game Lab der Technischen mera an einer Vielzahl von Schauplätzen inklusive der Nachbear- Hochschule Köln und Professor beitung per Schnitt, Vertonung und so fort. Ebenso sind einerseits für Media and Game Studies. die Ähnlichkeiten zwischen analogen und digitalen Spielen unbe- streitbar, etwa beider Regelbasierung und Interaktivität. Andererseits unterscheiden sich digitale Spiele deutlich von analogen durch ihre Befähigung zur prozeduralen ­Simulation von Systemen sowie den entscheidenden Umstand, dass sie sich im Lau- fe ihrer Evolution von einem rein ludisch-mechanischen zu einem narrativen audiovi- suellen Medium wandelten. Als ästhetische Artefakte repräsentieren Games nicht nur die gesellschaftli- chen und kulturellen Umstände, unter denen sie entwickelt wurden und werden. Dank ihrer Popularität üben sie heute – gewollt oder ungewollt – auch weitreichenden Ein- fluss auf die Individuen und Gemeinschaften aus, die sie spielen. Diese nachhaltige Wirkung digitaler Spiele und digitalen Spielens suchen die Game Studies zu verste- hen und zu interpretieren. In der globalen Forschung haben sie sich ein Vierteljahr- hundert nach ihren intellektuellen und institutionellen Anfängen etablieren können. Angesichts der großen und wachsenden Bedeutung digitaler Spiele ist die Dis- ziplin in den akademischen Institutionen allerdings noch deutlich unterrepräsentiert. Verglichen mit der Zahl literatur- oder filmwissenschaftlicher Studiengänge fehlen in Deutschland Angebote, die sich mit digitalen Spielen auseinandersetzen. Ohne sie aber lässt sich »Game Literacy« nicht in der Breite vermitteln – eine Medienkompetenz im Umgang mit digitalen Spielen, wie sie in der digitalen Kultur dringend erforderlich ist. Was solche (Aus-)Bildung leisten kann, zeigt sich bereits in den wenigen Bachelor- AUSBILDUNG & und Masterstudiengängen (→), die neben der Vermittlung künstlerisch-praktischer 6.3 ARBEITSMARKT

GRUNDLAGEN Kenntnisse zur Herstellung digitaler Spiele auch eine Unterrichtung in den Game Stu- dies umfassen. In Verbindung mit der Beförderung kritischer Urteilsfähigkeit befähigt 1.2 historisch-theoretisches Grundlagenwissen die Studierenden und künftigen Spieleent- wickler, Games in ihrem kulturhistorischen Kontext wie in ihrer aktuellen ästhetischen Wirkung zu verstehen, sie mündig zu spielen und in informierter Kreativität herzustellen.

Literatur ✕ Beil, Benjamin; Hensel, Thomas; Rauscher, Andreas (Hrsg.): Game Studies. Springer VS, Wiesbaden 2018 ✕ Freyermuth, Gundolf S.: Games, Game Design, Game Studies – Eine Einführung. Transcript, Bielefeld 2015 ✕ Helbig, Jörg; Schallegger, René (Hrsg.): Digitale Spiele. Herbert von Halem Verlag, Köln 2016

032 —— 033 GAME- 1.3 BEGRIFFE JOCHEN KOUBEK

Telespiel, elektronisches Spiel, Computerspiel, Videospiel, Bildschirmspiel, Digitales Spiel, Game. Für den in diesem Buch besprochenen Gegenstand wurden im Laufe sei- ner Geschichte zahlreiche Begriffe verwendet und viele von ihnen stehen bis heute ne- beneinander. Die Begriffsbildung in Deutschland beginnt, wie bei vielen Phänomenen der Popkultur, in der Übernahme US-amerikanischer Begriff‌lichkeiten. Diese finden im Anschluss an die jährliche Internationale Funkausstellung ihren Weg in die Anzeigen und Werbetexte von Produkten der Software- und Hardware-Anbieter in Deutschland, um anschließend in Fachzeitschriften zu festen Begriffen zu werden. »Denn die Zeit war reif für ein Telespiel-Magazin«, so eröffnete die Zeitschrift TeleMatch im Jahr 1982 ihre Erstausgabe und führte Begriff‌lichkeiten ein, die sich, wie viele ihrer Artikel, an der amerikanischen Zeitschrift Electronic Games (1981—1997) orientierte und sich im Wesentlichen auf das Spielgerät als Differenzierungsmerkmal bezog. Der übersetzte Oberbegriff »Elektronik-Spiel« unterteilte sich demnach in »Vi- deospiele«, »Computerspiele« sowie »Mini-Elektronik-Spiele«, d. h. mobile Spielgerä- te (engl.: Handhelds) von Firmen wie Lindy oder . Die Zeitschrift tele action besprach 1983 in ihrer ersten Ausgabe »Telespiele und Heimcomputer« und schloss sich damit dem Sprachgebrauch an, das Wort »Telespiel« als Oberbegriff fürHeim - computer, Konsolen, Arcade-Automaten und spezialisierte Geräte wie Schachcompu- ter zu verwenden. Von der tele action erschienen mangels Anzeigenkunden nur zwei Ausgaben, die TeleMatch wurde bis 1985 veröffentlicht. Zeitschriften wie die ASM (1986—1995), die Happy Computer (1983—1990), mit Spiele-Sonderteil ab 1986, und die PowerPlay (1987/88—2000) übernahmen die Definitionshoheit und prägten die Begriffe, mit denen in Deutschland über Computerspiele geschrieben und gespro- chen wird. Die Wörter »Telespiel« oder »elektronisches Spiel« wurden nicht übernom- men, vielmehr wurden von nun an »Videospiele« an Konsolen und Fernsehern gespielt, »Computerspiele« an Heimcomputern bzw. Personal Computern (PCs) und »Automa- tenspiele« an Arcade-Automaten in Spielhallen. Diese Begriffe haben sich bis heute im Sprachgebrauch gehalten, wenngleich die Unterscheidungen durch technische Ent-

GRUNDLAGEN wicklungen und Veröffentlichungen auf mehreren der genannten Plattformen (engl.: Multi-Platform-Releases) zunehmend an Trennschärfe verloren haben. Vor allem in La- 1.3 dengeschäften dienen sie als Differenzierung von Produktregalen, deren farbliche Ge- staltung in der Regel schon von weitem anzeigt, ob es sich um Videospiele für Kon- solen von Microsoft (grün), (blau), Nintendo (rot) oder um Computerspiele für PCs (schwarz) handelt. In der Produktion gibt es zwar exklusive Entwicklungen für be- stimmte Geräte, viele Spiele werden aber sowohl für Konsolen als auch für PCs veröf- fentlicht, womit zumindest in diesen Fällen eine Unterscheidung von Video- und Com- puterspiel hinfällig wird. Der deutsche Begriff »Spiel« umfasst eine Vielzahl an sozialen undkulturellen ­ Praktiken, die vom Kinderspiel über das Spielen eines Instruments bis zum Sport und SPIELEN 1.1 Theaterspiel reichen (←). Mit der wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung der Com- puterspiele wurde der mit Kinderaktivität assoziierte Begriff »Spiel« zunehmend als problematisch empfunden und nach Alternativen gesucht. 1993 gründete sich die In- teressenvertretung der deutschen Spieleindustrie unter dem Namen VUD – Verband für interaktive Unterhaltungssoftware, mit dem »Zweck der Förderung und Etablie- rung des gesellschaftlich-kulturellen Ansehens und der politisch-wirtschaftlichen Be- deutung der Industrie für interaktive Unterhaltungssoftware.« Eine ähnliche Bezeich- nung wählte 2007 der Österreichische Verband für Unterhaltungssoftware (ÖVUS), der die Interessen der Spieleindustrie in Österreich vertritt. Im Jahr 1994 wurde die frei- willige Selbstkontrolle der Computerspielbranche unter dem Namen Unterhaltungs- software Selbstkontrolle (USK) gegründet und schloss sich mit ihrer Namensgebung dem VUD an. Diese Namensgebung wurde 2005 mit dem Bundesverband Interakti- ve Unterhaltungssoftware (BIU) weitergeführt. Doch trotz dieser gebündelten Markt- macht konnte sich »Unterhaltungssoftware« nicht im Sprachgebrauch durchsetzen. Telespiel, Bildschirmspiel, elektronisches Spiel, Computer- und Videospiel wurden ab den 1990er Jahren vielerorts durch das englische »Games« zusammengefasst, was sich auch in Zeitschriftentiteln wie Video Games (1991—2001), Gamers (1991—1996), Amiga Games (1992—1996), PC Games (ab 1992), Bestseller Games (1995—1999), GameStar (ab 1997) oder GamePro (ab 1994 und in anderem Verlag und mit anderem Konzept ab 2002), GamesMarkt (ab 2001), Making Games (ab 2005) und Games- Wirtschaft (ab 2016) zeigte. Auch der 2004 gegründete GAME – Bundesverband der deutschen Games-Branche, der 2018 mit dem BIU zum game – Verband der deut- schen Games-Branche fusionierte, nutzt wie seine Nachfolgeorganisation diesen Be- griff gleich zweimal im eigenen Namen. Die Rückwendung zum Spielbegriff erfolgte 2011 mit der von BIU, GAME und USK gegründeten Stiftung Digitale Spielekultur, mit dem »Ziel gesellschaftliche, kulturelle, technologische und wirtschaftliche Potenziale digitaler Spiele« zu zeigen und zu vermitteln. Unter anderem betreibt die Stiftung das Award-Büro des Deutschen Computerspielpreises. Die Entwicklung von Computerspielen wird von verschiedenen Bundesländern gefördert. Aber auch hier herrscht keine Einigkeit in der Benennung: Das Medienboard­ Berlin-Brandenburg fördert »Innovative Audiovisuelle Inhalte (IAI)«, während die Mit- teldeutsche Medienförderung die Produktion »Neuer Medien« bzw. »anderer audio-

034 —— 035 visueller Werke« unterstützt. Die Förderanstalten in Bayern, Saarland, Baden-Würt- temberg, Niedersachsen/Bremen, Hessen und Hamburg haben den Förderbereich »Games«, die Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen fördert »Digitale Spiele 1.3 und interaktive Inhalte«, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vor- pommern bieten in diesem Bereich keine Förderung an. Parallel zur Entwicklung der Software- und Games-Industrie zum elften Teil- markt der Kultur- und Kreativwirtschaft sah sich der Gesetzgeber genötigt, den Zu- gang von Jugendlichen zu Computerspielen zu regulieren. Anfang der 1980er Jahre wurde mit Lover Boy (1983) ein Spiel mit expliziten sexuellen Inhalten als Arcade-Au- tomat veröffentlicht, das nach einer parlamentarischen Anfrage nicht nur indiziert und durch Aufkäufe faktisch beschlagnahmt wurde, sondern auch die Automaten- Selbstkontrolle (ASK) als dauerhafte Einrichtung begründete, die wie die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) eine regulierte Selbstregulation der Branche verfolgt. Die Neuregelung des Jugendschutzgesetzes in der Öffentlichkeit vom 25. Februar 1985 (JÖSchG) erfindet das Wort »Elektronische Bildschirm-Unterhaltungs- spielgeräte ohne Gewinnmöglichkeit« (§ 8 Abs. 3 und 4 JÖSchG) oder kurz »Unter- haltungsspielgeräte« (§ 8 Abs. 5 JÖSchG), deren Nutzung für Kinder und Jugendli- che unter 16 Jahren ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten nicht gestattet werden darf. Das »Unterhaltungsspielgerät« hat seinen Weg zwar nicht in die Alltags- sprache gefunden, das Attribut »ohne Gewinnmöglichkeit« weist aber auf eine Grup- pe von Spielen hin, die bis heute nicht als Computerspiel im weiteren Sinne anerkannt sind: Glücksspielautomaten, die sich seit den 2000er Jahren von den ursprünglich elektromechanischen Walzen zu computergesteuerten Automaten mit Bildschirm- ausgabe gewandelt haben, aber weiterhin als »Glücksspiele« bezeichnet werden. Der game-Verband schließt diese Gruppe von Spielen und ihre Hersteller ausdrücklich aus seiner Satzung aus. Es ist für eine Firma also möglich, im game-Verband organisiert zu sein, da- bei ein Produkt zu entwickeln, das als innovativer audiovisueller Inhalt gefördert wird, von der USK als interaktive Unterhaltungssoftware geprüft und im Handel als Video- spiel vertrieben wird, um sich damit anschließend um den Deutschen Computerspiel- preis zu bewerben. Diese terminologische Vielfalt dürfte sich auch nicht so bald auf‌lösen, weil je- der dieser Begriffe von einem Verband, einem Verein oder einer Stiftung im Namen geführt wird, in Fachpresse und Werbung Verwendung findet oder im allgemeinen Sprachgebrauch verankert ist. Welcher Begriff in welchem Zusam- Jochen Koubek ist Professor menhang verwendet wird, folgt damit keiner inhaltlichen Systema- für Digitale Medien an tik, sondern ist das Ergebnis einer Benennung, die den Verantwort- der Universität Bayreuth. lichen zu einem bestimmten Zeitpunkt sinnvoll erschien. Grund dafür kann der Wunsch sein, sich von anderen Begriffen, allen voran dem »Spiel«, ab- zugrenzen, oder der Versuch, einen neutralen Oberbegriff zu finden. Die sich daraus ergebende fehlende Trennschärfe hat allerdings auch den Vorteil, dass die verschie- denen Begriffe in Vorträgen und Texten nebeneinander verwendet und Wortwieder- holungen vermieden werden können.

GRUNDLAGEN Während die Außensicht auf Computerspiele als Wirtschafts- und Kulturgut daher auf eine Vielzahl an Synonymen zurückgreifen kann, die kaum noch sinnvoll unterscheidbar 1.3 sind, gibt es in der Binnenunterteilung eine – zumindest aus Sicht der Spieleindustrie und ihrer Kunden – größere Übereinstimmung, auch wenn diese im Einzelfall durchaus in Frage gestellt werden kann. Das für Produzenten, Entwickler, Journalisten und Spie- ler zentrale Konzept ist das Genre. Da an dieser Stelle aus Platzgründen nicht auf den wissenschaftlichen Diskurs zur Theorie, Geschichte, Funktion und Systematik von Me- diengenres eingegangen werden kann, muss eine kurze Zusammenfassung ausreichen. Ein Genre ist die Bezeichnung für eine Menge an Werken mit gemeinsamen inhaltlichen oder stilistischen Merkmalen. In der Populärliteratur sind Science-Fiction, Fantasy, Horror, Western oder Krimi bekannte Genres, die ebenfalls als Bezeichnun- gen für Filme und sekundär (siehe unten) auch für Computerspiele genutzt werden. Im idealtypischen Fall sind Genres trennscharf voneinander abgrenzbar und jedes Werk kann genau einem Genre zugeordnet werden. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Genres überschneiden sich in ihren Merkmalen und nur für eine geringe Zahl von Wer- ken ist die Zuordnung eindeutig. Viele weisen Eigenarten verschiedener Genres auf, wodurch sich die Genrebezeichnungen in beständiger Entwicklung befinden. Außer- gewöhnlich erfolgreiche Werke können mitunter sogar ein eigenes Genre oder Sub- genre begründen. Die Hauptgründe, warum trotz vieler Unklarheiten und Mischfor- men überhaupt am Genrebegriff festgehalten wird, sind Verständigung, Ordnung und Orientierung. Wenn Bücher, Filme und Spiele in Genres kategorisiert sind, lässt sich einfacher über sie sprechen, die Mediensammlung und das Angebot einer Mediathek oder eines Verkäufers lassen sich übersichtlicher sortieren und die Auswahl an poten- ziell interessanten Werken für Käuferinnen kann sinnvoll eingeschränkt werden. Die Menge der Merkmale, die ein Genre kennzeichnet, muss keinesfalls auf Eigenarten der Erzählung beschränkt sein, also auf bestimmte Handlungsorte und -zeiten, Figu- ren, Konflikte, Themen oder Motive. Bei Computerspielen ist es üblich, die Genrebe- zeichnung nach spielerischen Gesichtspunkten vorzunehmen, d. h. anhand der Regeln, Herausforderungen und Ziele, Objekte und Eigenschaften, Ereignisse und Handlungs- möglichkeiten. Die akademische Diskussion ist sich hier keineswegs einig, aber markt- gängige Bezeichnungen sind u. a. Adventure, Action-Adventure, Jump ’n’ Run, Puzzle, Rollenspiel, Simulation oder Strategiespiel. Darüber hinaus können ergänzend narra- tive Besonderheiten zur Abgrenzung herangezogen werden – z. B. Science-Fiction, Fantasy, Western usw. – oder technische Merkmale, die auf bestimmte Geräteanfor- derungen verweisen, z. B. Arcade-, PC-, Video-, Handheld-, Mobile- oder VR-Spiel. Bisweilen wird auch auf visuelle Merkmale Bezug genommen, z. B. auf die Kameraper- spektive in First-oder Third-Person oder die Räumlichkeit der Darstellung in 2D oder 3D. Als Kombination dieser Bezeichnungen ist es daher nicht unüblich und für geüb- te Spielerinnen und Spieler auch klar verständlich, wenn The Legend of Zelda (1986) als 2D-Fantasy-Action-Adventure-Videospiel und Half-Life: Alyx (2020) als Virtual-Reality- Science-Fiction-First-Person-Shooter bezeichnet wird. Zwar weisen auch viele Com- puterspiele Merkmale verschiedener Genres auf, was ihre Einteilung erschwert, zur Ordnung des Mediums sind Genres aber eine erste und sinnvolle Orientierungshilfe.

036 —— 037 1.3

Literatur ✕ Glashüttner, Robert: Computerspiele-­Journalismus. In: DIGAREC Lectures 2008/09: Vorträge am Zentrum für Computerspielforschung mit Wissenschaftsforum der Deutschen Gamestage, Quo Vadis 2008 und 2009 (hrsg. von Stephan Günzel, Michael Liebe und Dieter Mersch). Universitätsverlag Potsdam, Potsdam 2008, S. 128–146 ✕ Koubek, Jochen: Die Kulturvergessenheit der Computerspiele.­ In: Rabbit Eye 11/2019: rabbiteye.de/2019/11/ koubek_computerspiele.pdf ✕ Rauscher, Andreas: Genre-Spiele zwischen Leinwand und Video Games. In: Handbuch Filmgenre (hrsg. von Marcus Stiglegger). Springer VS, Wiesbaden 2018

GRUNDLAGEN 1.4 GESCHICHTE NICO NOLDEN

Wie eine Gesellschaft auf die Geschichte zurückblickt, hängt von ihren Konzepten dar- über ab, was sie in der Vergangenheit als relevant betrachtet und welche Erkenntnisin- teressen sie verfolgt. Je nach den Anliegen und Bedürfnissen derjenigen, die diese Ge- schichte erzählen, kursieren deshalb unterschiedliche Interpretationen von dem, was Geschichte eigentlich erzählen soll – und diese Deutungen wandeln sich ständig. Mo- derne Geschichtswissenschaften öffnen sich einem breiten Spektrum an Blickwinkeln, um möglichst viele Erfahrungen gesellschaftlicher Kreise aufzunehmen. Um die Geschichte digitaler Spiele zu erzählen, besteht sogar eine gewisse Dringlichkeit, weil sie technisch so fragil sind. Die vorherrschenden intuitiven Erzäh- lungen über die Gamesgeschichte sollten daher zügig zu einem zeitgemäßen technik- kulturellen Verständnis entwickelt werden. Aus diesem Verständnis heraus lässt sich aber keine einheitliche Gamesgeschichte erzählen. Je nachdem, ob der Fokus auf eine Geschichte der Spielinhalte und -formen, auf unternehmerische Veränderungen, den technologischen Wandel oder auf die Spielerschaften gesetzt wird, entstehen jeweils Varianten einer Gamesgeschichte. Miteinander befruchten sich diese Perspektiven zu einem Gesamtbild, in dem noch viele Fragen offen sind.

Technikkulturelle Geschichtsschreibung Für eine geschichtswissenschaftlich angemessene Geschichte digitaler Spiele unter- suchen Historikerinnen und Historiker den jeweiligen Zustand des Mediums für das gesellschaftliche Umfeld zu unterschiedlichen Zeitphasen. Sie analysieren die Bedin- gungen, unter denen sich digitale Spiele entwickelten, und die Bedürfnisse, welche sie zu befriedigen halfen. Zwischen vergangenen und gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen stellen sie dann Bezüge her. Dadurch bewerten sie, welche Bedeutung welche Teile der Überlieferung für die Gegenwart besitzen. Wie sich die technischen Formen des Mediums oder Spielinhalte, die Wirtschaft oder die Spielenden verändern, bietet ihnen dafür Anhaltspunkte, was die Bedürfnisse der Spielenden und der Pro- duzentinnen und Produzenten zu unterschiedlichen Zeiten gekennzeichnet hat. Eine

038 —— 039 solche enge Verbindung aus den technischen Grundlagen mit ihren gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen beschreibt die Historikerin Martina Heßler als »Technik- kulturelle Geschichte«. Aus dieser Sichtweise lässt sich eine Spirale erkennen, in der 1.4 Gesellschaften ihre Bedürfnisse aus einer bestimmten Kultur heraus stetig durch tech- nische Lösungen erfüllen. Ihre Nutzung verändert dann diese Kultur, woraus neue Be- dürfnisse erwachsen, für die wieder neue technische Lösungen gesucht werden.

Eine Gamesgeschichte der Inhalte und Formen Deshalb wandelt diese Spirale im Verlauf der Gamesgeschichte mit den technischen Möglichkeiten auch die spielerischen Formen und Inhalte, die Entwicklerinnen und Entwickler verwirklichen. Bemerkenswert differenzierten sich z. B. ihre Haltungen zu ERINNERUNGS­ historischen Inhalten aus (→). Standen lange Zeit Objekte und ihre Materialien im Fo- 3.2 KULTUR kus, erlaubte das wachsende Leistungsvermögen digitaler Spiele bald immer komple- xer vernetzte Erzählungen. Weiterwachsende Kapazitäten der Rechner ermöglichten feingliedrige Rechenmodelle, die beispielsweise wirtschaftliche und gesellschaftliche Systeme simulieren. In jüngster Zeit beeindrucken Weltentwürfe für kleine Landstri- che mit ausgefeilter Umwelt sowie dem Alltag seiner Bewohner. Mit den technischen Möglichkeiten ändern sich über die Haltungen also auch die spielerischen Formen. Themen und Szenarien oder Spielformen wie Shooter oder Echtzeitstrategie GAME- (→) werden in Wellen aufgegriffen. War Echtzeitstrategie in den 1990er Jahren stark 1.3 BEGRIFFE auf dem PC verbreitet, verblasste sie zum Ende der folgenden Dekade. Die Wieder- geburt von Rundenstrategiespielen beflügelt jüngst auch wieder Strategiespiele, die in Echtzeit ablaufen. Soziokulturelle Bedingungen von Kundenkreisen beeinflussen Inhalte und Formen ebenso wie die Interessen von weltweit agierenden Marktakteu- ren – etwa Publishern und Investoren. Weniger ins Auge springt wegen der längeren Zeiträume, wie gesellschaftlich und politisch relevante Themen in Spielinhalte einge- hen. Beispielsweise wandelten sich Feindbilder seit den 1990er Jahren schleichend von postsowjetischen Abtrünnigen über Staaten des Nahen Ostens hin zu muslimi- schen Individuen. Der technische und ökonomische Rahmen beeinflusst die historischen Ent- wicklungen mit, wie etwa digitale Verkaufsplattformen wie und Finanzierungs- portale wie Kickstarter zeigen. Seit einer guten Dekade ermöglichen sie Kundinnen und Kunden, direkt zu investieren und inhaltlich im Produktionsprozess mitzuarbei- ten. Damit lenkten sie das Spektrum digitaler Spiele auf einstmals totgesagte Spiel- formen wie Adventures oder Rundenstrategie zurück und fördern bislang ungedachte Spielkonzepte. Digitale Kommunikationswege und das gemeinschaftliche Spielen, ob nun miteinander oder gegeneinander, prägen zudem die Spielformen und ihre Inhal- te, weil Spielende Gemeinschaften bilden (→). Immer weniger trennen digitale Spie- 4.1 COMMUNITYS le die Erfahrungen als Einzelspieler von Erlebnissen im Mehrspieler.

Eine Gamesgeschichte der Unternehmen Aus einem Blickwinkel der Unternehmen und ihrer Köpfe dominieren gegenwärtig chronologische Erzählungen die Gamesgeschichte. Sie leiden darunter, dass sie zeit-

GRUNDLAGEN liche Abfolgen vorwiegend journalistisch und anekdotisch nachzeichnen. Weil es an textlichen Quellen aus Unternehmensarchiven mangelt, stützen sich Autorinnen und 1.4 Autoren recht unkritisch auf Interviews mit beteiligten Personen. Gegenwärtige Äu- ßerungen hinterfragen sie nicht genug auf mögliche Befangenheiten, mit denen das Selbstbild der Befragten ihre damalige Rolle verfälscht – ob nun mutwillig oder un- bewusst. Qualität bemessen sie an der reinen Anzahl von Personen, mit denen sie ge- sprochen haben. Dadurch erzählen sie bewundernde Heldengeschichten über Per- sonen wie die Gründer des US-amerikanischen Entwicklerstudios id Software, zu Entstehung, Ruhm und Niedergang von Unternehmen wie Atari oder über prägende Spiele wie Grand Theft Auto (seit 1997). Solche Darstellungen klammern vieles aus, was Historikerinnen und Histori- ker kritisch prüfen würden. Deshalb fordert der Medienwissenschaftler Raiford Gu- ins, sie zu einer fundierten kritischen Geschichtsschreibung weiterzuentwickeln. Sie muss in Bezug auf die Produktionsbedingungen von technischen Innovationen der verschiedenen Spieleplattformen über die Veränderung von Unternehmenskulturen GAME und die dortigen Arbeitsbedingungen bis hin zur Zusammensetzung der Beschäftig- STUDIES 1.2 ten reichen. Für die Beschäftigung in der Branche sind z. B die Bedingungen der Aus- AUSBILDUNG & ARBEITSMARKT 6.3 und Weiterbildung zu unterschiedlichen Zeiten relevant (←). Eine Gamesgeschichte von Unternehmen und handelnden Personen ließe sich mit frühen Pionieren beginnen, die schon in den 1940er Jahren Forschungsgeräte zum Spielen zweckentfremdeten. Von der Spieleentwicklung als Hobby über den ersten Vertrieb in den Garagen der 1970er Jahre ließe sich eine Professionalisierung nach- zeichnen. Sie führte in den 1980er Jahren zu ersten Publishern und großen Krisen, aus denen in den 1990er Jahren weltumspannende Medienkonzerne wuchsen. Spätestens seit dem Jahr 2010 kehren durch die genannten Online-Plattformen für Vertrieb und Finanzierung einzelne Personen oder Kleinst-Studios wie einst die Garagenentwickler unmittelbar auf den Markt zurück, nun aber international verknüpft.

Eine Gamesgeschichte der Technologien Angefangen mit experimentellen Pionierleistungen in den 1940er und 1950er Jahren, entwickelten sich als Plattformen nach und nach Spielgeräte, die auf verschiedensten Technologien basieren. Um die historische Bedeutung für ihre Zeit zu verstehen, muss untersucht werden, wie sie sich in der Gesellschaft verbreiteten und welche Kreise von Spielenden sie erreichten. Anfangs standen kostspielige Geräte in Forschungs- instituten. Erste Konsolen und Heimcomputer zogen eher in wohlhabende Haushal- te. Einen Massenmarkt erreichte schließlich der Durchbruch des PCs zu Beginn der 1990er Jahre. Durch die Dekaden schwankte zudem die relative Bedeutung von technischen Plattformen untereinander. Dominierten Beginn der 1970er Jahre Arcade-Automaten, eroberten am Ende der Dekade Spielkonsolen die Wohnzimmer. In den 1980er Jahren wuchs zunächst der relative Anteil von Heimrechnern, bis PCs in der Mitte der Deka- de den Markt zu ihren Gunsten verschoben. Zusammen mit dem Betriebssystem Win- dows prägten sie das Spielen in den 1990er Jahren. Ihr Anteil schrumpfte vor ­allem

040 —— 041 zugunsten der siebten Generation von Spielkonsolen mit Xbox 360, PlayStation 3 und Nintendo Wii. Im neuen Jahrtausend übernahmen auch mobile Endgeräte einen wach- senden Marktanteil. 1.4 Alle diese Plattformen verschoben die Verhältnisse unter den Nutzerkreisen, erschlossen aber auch neue Gruppen und ermöglichten Spielprinzipien, die wieder- um auf bestehende Plattformen zurückwirkten. Um Entwicklungen über längere Zeit- räume zu vergleichen, müssen daher Aspekte der Gamesentwicklung und -nutzung gefunden werden, die überhaupt vergleichbar sind. Statistische Studien lassen ­leider Defizite erkennen, weil sie nicht offenlegen, wie abhängig ihre Ergebnisse davon sind, welche Nutzerkreise sie mit den technischen Plattformen für welche historischen Zeit- räume betrachten. Die inhaltlichen und spielmechanischen Kennzeichen der Games- geschichte basieren auf den technischen Grundlagen. Technologien werden jedoch auch als Spielinhalte vorausgedacht. Wieweit sich beispielsweise der Körper tech- nisch erweitern lässt, ohne die Menschlichkeit zu riskieren, thematisiert Deus Ex (2000). Watch Dogs (2014) beleuchtet die Folgen, wenn digitale Datennetze allgegenwärtig ins Leben eingreifen.

Eine Gamesgeschichte der Spielenden Digitale Spiele erlauben ihren Spielenden, in einem räumlichen Angebot aus Mög- lichkeiten eigenständig zu handeln. Dadurch kommen ihrer Wahrnehmung und ihrer­ Kommunikation zentrale Rollen als treibenden Kräfte einer Gamesgeschichte zu. So beeinflussen ihre spielerischen Gepflogenheiten beispielsweise die Symbolsprache und Interaktionsformen von Interfaces, den Schnittstellen zwischen Spielenden, Hard- SCHNITT- und Software (→). Spielende kommunizieren etwa durch »Emotes«, indem sie Mi- 1.5 STELLEN mik und Gestik ihrer Spielfiguren steuern; diese Zeichen überbrücken zudem Kultu- ren und Sprachen. Einflüsse üben Spielende jedoch nicht nur auf sich und andere digitale Medi- enformen aus. Games stehen selbst in langen Traditionen des analogen regelbasier- ten Spielens wie beim »Pen-and-Paper-Rollenspiel« oder von freien Formen des Spie- lens (→). Seit zehn Jahren experimentieren Spielende kreativ mit Minecraft (2009). Die 1.1 SPIELEN Spielenden und ihre Subkulturen zu erforschen, ist deshalb eine wesentliche Grund- lage für eine Gamesgeschichte, um Nutzerkreise und ihr Verhalten zu verschiedenen Zeiten zu verstehen. Einige Spielerkreise haben zum Beispiel digitale Spiele schon im- mer modifiziert (→). Zunehmend aber vereinfachten und vergünstigten sich Entwick- 4.4 MODDING lungsumgebungen wie der RPG Maker, auf dem bereits einige kommerzielle Erfolge basieren. Zudem greifen ihre Prinzipien zum Beispiel als Gamification auf die Arbeits- welt aus. Spielerische Mechaniken lenken dabei das Verhalten von Arbeitskräften, be- lohnen und strafen (→). 5.8 GAMIFICATION Spielerinnen und Spieler kommunizieren während des Spielens in Sprachchats und außerhalb – beispielsweise in Online-Foren – über viele Themen der Spielkultur. Sie führen deshalb eben auch lebhafte Diskurse über historische Aspekte in ihren Erin- nerungskulturen. Nostalgisch erinnern sie an ältere Konsolen oder an das gemeinsame Spielen bei LAN-Partys der 1990er Jahre. Zugleich tauschen sich viele von ihnen über

GRUNDLAGEN historische Spielinhalte aus, setzen sie in Bezug zu eigenen Geschichtsbildern und le- bensweltlichen Erfahrungen und ziehen dafür Belege der Geschichtskultur etwa aus 1.4 Büchern, Filmen und Webseiten heran. Sie sind damit wichtige, leider aber wenig un- tersuchte Triebköpfe einer Gamesgeschichte.

Eine Gamesgeschichte der Defizite Bedauerlicherweise werden Komponenten einer technikkulturellen Gamesgeschich- te nicht genug differenziert. Die globale digitale Distribution überdeckt, dass ein kul- turell gleichförmiger, weltweiter Games-Markt nicht existiert. Der einseitige Blick von Produzentenländern auf Absatzmärkte dominiert auch die Forschung. Wenig unter- sucht sind globalgeschichtlich die inneren Perspektiven anderer Kulturregionen und die Blicke von ihnen zurück auf den Westen und seine Produkte. Unabhängige indische Entwickler thematisieren beispielsweise ihre Kultur und Religion, erreichen den euro- päischen Diskurs aber kaum. Die Traditionen von Regionen beeinflussen aber themati- sche Interessen und verschieben die Schwerpunkte zwischen Spielformen. Technisch nutzen die einen zudem eher den PC, die anderen tendieren zu Spielkonsolen. Ein In- frastrukturprogramm in Südkorea verbreitete mit dem Internet in den 1990er Jahren E-SPORT 4.5 schlagartig das Online-Spielen und so den E-Sport als Volkssport (←). In anderen Regi- onen Asiens sinkt die Relevanz von PCs und Konsolen. Thailändische Spielerinnen und Spieler nutzen vielfach Smartphones und Tablets, weil sie lange Pendelfahrten über- brücken. Grundsätzlich mangelt es der Selbstwahrnehmung der Branche an Diversi- DIVERSITÄT 5.6 tät, folglich auch in den Erzählungen über ihre Geschichte (←). Wenn vorwiegend Männer auf die Taten ihrer Idole zurückblicken, überde- cken ihre Texte nach und nach differenziertere Erinnerungslinien. In den 1950er und 1960er Jahren als Tätigkeit für Sekretärinnen betrachtet, war Programmieren einst ein eher weiblicher Beruf. Raiford Guins weist für die 1980er Jahre auf Entwicklerinnen wie Roberta Williams, Carol Shaw, Dona Bailey und Carla Meninsky hin. Vergleichbar bleiben bislang Blickwinkel ethnischer Gruppen oder sexueller Orientierungen unter- repräsentiert. Auch der westliche Kulturraum ist nur vermeintlich einheitlich. Arca- de-Automaten prägten die Jugendkultur in den USA länger, weil deutsche Jugend- schützer sie Mitte der 1980er Jahre hinter die Altersbarriere von Glücksspielhallen verbannten. Die frankokanadische Stärke bei der Entwicklung von Games begann mit einer gezielten staatlichen Unterstützung. Eine solche Förderung hätte in Deutsch- land noch in den 1990er Jahren einige Firmen ähnlich stärken können, ließ aber bis FÖRDERUNG 5.2 2019 auf sich warten (←). Einseitigkeiten offenbart auch der Blick auf die deutsche Geschichte. Der Kon- flikt zwischen Ost und West wurde unter anderem durch die innerdeutsche Grenze markiert; Studien zur Games-Branche und digitalen Spielen in DDR und BRD böten eigentlich eine Schnittstelle, um Entwicklungen in Ost- und Westeuropa nachzuge- hen. Dem Unternehmensgeschehen in West-, standen in Ostdeutschland staatliche, vor allem aber auch private Programmierer gegenüber. Wenn auch vorwiegend jour- nalistisch, befassen sich für den Westen einige Veröffentlichungen mit technischen Aspekten, Spielen und Subkulturen. Wenige Ausnahmen beleuchten dagegen die

042 —— 043 DDR-Geschichte. Zwar behinderte die Mangelwirtschaft in der DDR die Herstellung ausreichender Mengen an eigener Elektronik, viele Bürger beschafften sich aber west- liche Technik und programmierten selbst. Für eine Gamesgeschichte zum vereinten 1.4 Deutschland stellt diese erinnerungskulturelle Unwucht ein Defizit dar, weil so man- cher Entwickler aus dem Osten im geeinten Deutschland ja nicht einfach die Arbeit einstellte. Für den Westen vernachlässigen Studien die hohe Durchlässigkeit zwischen Wirtschaftsbranchen und staatlichen Akteuren, etwa zur Computerisierung der Bun- desrepublik. Für digitale Spiele und ihre Akteure sind personelle Überschneidungen unter Programmierern bei staatlichen Sicherheitsdiensten, Cracker- bzw. Hacker-Sze- nen und Spielefirmen wahrscheinlich.

Das Archiv als Rückgrat der Erinnerung Lücken und Unstimmigkeiten entstehen auch, weil historische Zeugnisse nicht syste- matisch archiviert werden. Ungenutzt schlummern Artworks (Konzeptzeichnungen und ähnliches), Prototypen und Designdokumente in Firmenarchiven, die sich auf‌lö- sen, sobald die Unternehmen eingehen. Archive übernehmen deshalb eine wichtige Funktion für eine strukturierte Erinnerung. Sie wählen nach einer festgelegten Metho- dik Bewahrenswertes und scheiden davon weniger Wichtiges. Weil personelle und fi- nanzielle Mittel begrenzt sind, ist dieses Vorgehen notwendig und effizient. Wenn Gesellschaften ihre Geschichte erinnern wollen, benötigen sie nach der Kulturhistorikerin Aleida Assmann externe Speichermedien und kulturell eingeübte Verfahren. Die technische Form des Archivs richtet sich also nach dem Inhalt, den eine Gesellschaft als bewahrenswert empfindet. Insofern lassen sich digitale Spiele selbst als Erinnerungsspeicher begreifen. Wie etwa das Online-Rollenspiel The Secret World (2012) historisch inszeniert, drückt es die Bedürfnisse aus, in einer technisch gewünsch- ten und möglichen Form seiner Zeit an Geschichte zu erinnern. Teil der Erinnerungs- prozesse ist jedoch auch die Kommunikation unter Spielenden, gerade in einem Mul- tiplayerspiel. Nach dem Soziologen Harald Welzer überführen diese kommunikativen Prozesse die flüchtigen individuellen Erinnerungen in das kulturelle Gedächtnis einer sozialen Gemeinschaft. Um die Erinnerung an digitale Spiele zu bewahren, verfolgen Museen und In- KULTUR- itiativen weltweit unterschiedliche Strategien (→). Einig sind sie darin, dass digitale 3.4 ARCHIVE Spiele sich nicht sinnvoll als inaktive Objekte in einem Regal, sondern nur durch die Spielerfahrung bewahren lassen. Online spielbar bewahrt das gemeinnützige Internet Archive aus San Francisco ältere Titel verschiedener Plattformen. Für ihren Betrieb si- muliert es die notwendige Hard- und Software in einer »Emulation«, bietet aber kein Gefühl für die ursprünglichen Geräte. Das Computerspielmuseum Berlin erwarb sich international große Verdienste um die Bewahrung von Geräten und Software. Lizenz-­ und Urheberrecht stehen der Emulation in Europa jedoch entgegen (→). Deshalb 3.5 BEWAHRUNG stellt es Spiele auf ihrer Originalhardware im Bewusstsein aus, dass darin keine Dau- erlösung liegt. Weil Hard- und Software chemisch und magnetisch zerfallen, geht die Überlieferung unablässig verloren. Langfristig muss die Bewahrung also anders ge- löst werden. Das Popular Memory Archive der Historikerin Melanie Swalwell sammelt

GRUNDLAGEN nicht Spiele selbst, sondern die Erinnerungen an Spielerfahrungen in einem Nach- schlagewerk, das Begleitmaterialien ergänzt. Gerade Multiplayer-Spiele stellen vor 1.4 Probleme, bildet die Interaktionen von Spielergemeinschaften doch ihren Kern, der sich kaum mitbewahren lässt. Im Computer History Museum experimentierte Kura- tor Marc Weber mit vorstrukturierten Interaktionsobjekten aus Bildschirmaufnahmen und Video-Mitschnitten, durch die eine geleitete Tour führte. Alle Ansätze eint, dass ein historisches Verständnis entsteht, wenn die tech- nischen Objekte in Beziehung zu soziokulturellen Bedingungen gesetzt werden. Dass Unternehmen ein historisches Bewusstsein für ihre Dokumente in einem schnellle- bigen Wirtschaftsbereich fehlt, der sich stetig fundamental umwälzt, mag verständ- lich sein. Als dynamische Wissensspeicher der Gesellschaften Nico Nolden forscht und lehrt lassen sich digitale Spiele allerdings nur bewahren, wenn Wis- in der Public History an der senschaft, Museen und Institutionen zusammen mit engagier- Leibniz Universität Hannover. ten Spielergemeinschaften und den Unternehmen wirken. Für ihre Bewahrung sprechen letztlich aber auch wirtschaftliche Chancen, überliefern sie doch einen Fundus an spielerischen Konzepten und Innovationen. So lassen sich wertvolle Marktlücken identifizieren. Geschichts- und Archivwissenschaften steu- ern nützliche methodische und inhaltliche Kriterien bei, um die Bedeutung von Spiel- inhalten und -formen, Technologien und Unternehmen sowie produzierenden und spielenden Personen zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Teilen der Welt zu ermitteln. Dadurch ermöglicht eine technikkulturelle Geschichtsschreibung einseitige Erfolgserzählungen um viele gewinnbringende historische Perspektiven zu bereichern.

Literatur ✕ Guins, Raiford: Game After. A Cultural Study of Afterlife. MIT Press, Cambridge/Massachusetts 2014 ✕ Nolden, Nico: Geschichte und Erinnerung in Computerspielen. Erinnerungskulturelle Wissenssysteme. De Gruyter, Berlin 2020 ✕ Lange, Andreas: Pacman im Archiv. Computerspiele als digitales Kulturgut. In: Zeithistorische Forschungen 9 (2) 2012, S. 326–333, zeithistorische-forschungen.de/2-2012/4580

044 —— 045 SCHNITT- 1.5 STELLEN TIMO SCHEMER-REINHARD

Spielen ist immer ein Spielen mit irgendetwas. Im schlichtesten Falle genügt uns Sand, den wir fantasievoll nach unseren Vorstellungen formen. Für komplexere Spiele ver- wenden wir eigens für das Spielen hergestellte Spielmaterialien. Dabei zeigt sich in der Geschichte, dass jede zur Verfügung stehende Technik und Technologie stets auch zum Spielen eingesetzt wurde und wird. Sobald der Mensch Stein und Holz formen konnte, schuf er Spielfiguren und Spielbretter, sobald Pappe bedruckt werden konnte, schuf er Spielkarten, und sobald Informationen maschinell ver- Timo Schemer-Reinhard ist Do- arbeitet werden konnten, schuf er – Computerspiele. Ende der zent in den Bereichen Medien- 1940er Jahre entwickelten die Mitarbeiter des Massachusetts wissenschaft und Game Studies Institute of Technology (MIT) auf dem damals schnellsten Com- an der Universität Siegen. puter der Welt – dem Whirlwind – ein frühes Computerspiel namens Bouncing Balls (1949), in dem ein hüpfender Ball durch geschickte Steuerung in ein Zielloch bugsiert werden musste. Schon hier ist erkennbar: Die Fähigkeit des Computers, regelgeleitete Abläufe zu simulieren, lädt dazu ein, das auf diese Wei- se simulierte Geschehen auch in spielerischer Form zu erkunden und zu verarbeiten. Dabei zeigt sich eine Doppelnatur des Computers als Spielgerät: Er ist ein Si- mulationen ermöglichendes Medium, gerät dabei aber zugleich zum Spielkamerad. Das ist eine paradoxe Konstellation. Als Simulationsmedium soll der Computer mög- lichst aus der Wahrnehmung verschwinden, damit die Spielenden sich auf das virtuel- le Spielgeschehen konzentrieren können. Die Spielerinnen und Spieler von Bouncing Balls sollten einen hüpfenden Ball sehen, statt eines – damals noch saalfüllenden – Komplexes von Bildschirmen, Röhren, Schaltern, Relais, Kabeln und Speichern. Zu- gleich aber drängt sich die technologische Grundlage des Spielgeschehens regel- mäßig doch wieder ins Bewusstsein – wenn nämlich die Spielherausforderung sich als Steuerungsherausforderung artikuliert, die letztlich an irgendeinem – konkret ma- teriellen – Eingabegerät ausgehandelt werden muss. So sahen sich die Spielerinnen und Spieler von Bouncing Balls vor die Aufgabe gestellt, mittels eines Drehreglers die Hüpfweite des Balls zu beeinflussen. Das bereitete Vergnügen, weil es zwar etwas Ge-

GRUNDLAGEN schicklichkeit erforderte, aber mit ein wenig Engagement doch machbar war. Schnitt- stellen (Interfaces), insbesondere die Eingabegeräte wie Controller, Joysticks, Buttons 1.5 usw., markieren also den Ort, an dem sich Spielherausforderungen physisch erfahr- bar manifestieren. Damit wir die lustvolle Erfahrung machen dürfen, eine Herausforde- rung gemeistert zu haben, muss diese uns nämlich erst einmal entgegentreten – und das tut sie in erster Instanz häufig in Gestalt von herausfordernder Interfacebenutzung. Bemerkenswert: In diesem Punkt unterscheiden sich Computerspiele von allen an- deren Computeranwendungen. Normalerweise sollen Interfaces nämlich tatsächlich maximal unauf‌fällig, transparent, intuitiv usw. sein. Niemand würde einem Textverar- beitungsprogramm einen erhöhten Unterhaltungswert zuschreiben, weil seine Bedie- nung auch mit ein paar Schwierigkeiten aufwartet. Nur beim Computerspiel ist es so, dass eine maßvolle Widerständigkeit Vergnügen bereiten kann. Seitens der Industrie wird dieser Aspekt in der Regel nicht so deutlich thema- tisiert. Das folgt einer nachvollziehbaren Marketing-Logik, die nicht ausgerechnet mit den Schwierigkeiten, die das Produkt bereitet, werben möchte – auch, wenn diese Schwierigkeiten de facto wirklich Spaß machen. Stattdessen werden Gaminginter- faces typischerweise mit denselben Argumenten beworben, die auch außerhalb der Gaming-Sphäre gelten: Es werden Intuitivität und Eingängigkeit betont. Und tatsäch- lich ist das auch nicht falsch; die Entwicklungsgeschichte der Spielsteuerung ist trotz der eben beschriebenen Zusammenhänge durchaus eine Geschichte der Optimie- rung von Nutzerfreundlichkeit. In den vergangenen rund 50 Jahren haben sich – zu- erst bei Arcade-Automaten, dann im Kontext von Heimspielkonsolen und entlang der jeweils verbreiteten Heimcomputer/PCs – bestimmte, gut funktionierende Control- lerformen etabliert. Die mit Abstand verbreitetste Weise der Computerspielsteuerung beruht schon seit den 1970er Jahren bis heute auf der Bedienung von Richtungsreg- lern und Buttons, und selbst die Anordnung dieser Regler und Buttons tendiert her- stellerübergreifend auffallend‌ zur – nutzerfreundlichen – Vereinheitlichung. Wer ein- mal verstanden hat, wie irgendein gängiges Gamepad funktioniert, dem fällt auch ein Systemwechsel verhältnismäßig leicht. Parallel zu solchen universell spiel- und sogar genreübergreifend benutzbaren Controllern gab und gibt es spezielle Game-Inter- faces, die nur für bestimmte Spiele oder zumindest nur für bestimmte Genres »ech- te« Geräte (z. B. Waffen oder Musikinstrumente) oder »echte« Interfaces von realen Maschinen (z. B. Lenkräder) wirklichkeitsnah nachbilden. Von diesen beiden Entwick- lungslinien abweichende Innovationen gab es erst Mitte der 2000er Jahre mit mas- sentauglichen Interfaces, die Nutzerbewegungen im Raum erfassen, sowie Touch- pads, die Gestensteuerung direkt auf dem Display ermöglichen; rund zehn Jahre später schließlich erweiterten VR-Brillen buchstäblich den virtuellen Spielhorizont des Massenmarkts. Auch diese Schnittstellen machen leicht vergessen, welch auf- wendige Technik hierfür im Hintergrund arbeiten muss. Sie gestatten es dem Nutzer, von der Technik an sich abzusehen und sich stattdessen direkt auf seine Ziele – d. h. das Bewältigen von Herausforderungen – zu konzentrieren. Diese Herausforderun- gen können deswegen nun immer aufwendiger und komplexer gestaltet werden. So können absichtlich schwierige Steuerungsmanöver verlangt werden z. B. Zielen bei

046 —— 047 Ego-Shootern oder »Combos«, also spezifische Eingabeabfolgen, bei Kampfspielen. Oder die zu bewältigenden Schwierigkeiten werden in die fiktionale Spielwelt selbst verlagert, indem beispielsweise erzählerisch motivierte Rätsel oder taktische Prob- 1.5 leme gelöst werden müssen. Oder die Spielwelten warten mit immer aufwendigeren und komplexeren Objektinteraktionen auf Basis von immer realistischeren Physik- systemen auf. Das Erfolgsrezept guter Spiele liegt meistens in der klug ausbalancier- ten Kombination mehrerer dieser Strategien. Das setzt auch jenseits der Interfaces höchst avancierte Technologien voraus – von tief in den Gehäusen einzelner Rechner und Konsolen verborgenen Prozessoren, Grafikkarten usw. bis hin zu zwar entfernten, aber umso materialintensiveren Serverfarmen, die wieder – wie in den Anfangsjah- ren des Computings – saalfüllend sind. Hiermit können äußerst komplexe, manchmal sogar bemerkenswert realistische, immer jedenfalls interaktionsfähige Welten simu- liert werden. Je komplexer diese Welten sind, desto einfacher müssen umgekehrt die Interfaces sein, die uns diese komplizierten Welten erschließen. Deswegen können wir in Games z. B. mit ein und demselben Knopfdruck laufen, fahren, fliegen, reiten, schwimmen usw. Die ästhetische Finesse, mit der diese Vorgänge in Games visuali- siert werden, überspielt diese Vereinfachung aber geschickt. So erleben wir aufwen- dige Welten, in denen wir uns buchstäblich spielend bewegen können. Interfaces und sonstige Gamingtechnologien arbeiten also auf raffiniert ver- schränkte Weise daran, einander gegenseitig unsichtbar zu machen. Je komplexer die Spielwelten und ihre Möglichkeiten sind, desto eingängiger und damit unauf‌fälliger muss die Steuerung sein. Und je aufwendiger die Steuerung, desto weniger fordernd darf die zur Anschauung gebrachte Welt sein. In wirklich guten Games werden die- se Prinzipien sogar an unterschiedlichen Stellen unterschiedlich gewichtet. Man kann es als augenzwinkerndes Reifezeugnis der Gameskultur deuten, wenn diese Verber- gungsmechanismen von Gamerinnen und Gamern durch eigene ästhetische Strate- gien beantwortet und unterlaufen werden. Ein »Gamingcomputer«, der diese Bezeich- nung wirklich verdienen soll, verbirgt sein Inneres, die Hardware, nämlich gerade nicht mehr, sondern er stellt sein Innenleben möglichst spektakulär durch Glasfenster und LED-Lichteffekte aus. Gamer machenHardware gerne sichtbar; ihre Rechner sind da- mit im wahrsten Sinne des Wortes »leuchtende Beispiele« für selbstbewusste kultu- relle Aneignung im positivsten Sinne.

Literatur ✕ Kirkpatrick, Graeme: Controller, Hand, Screen. Aesthetic Form in the Computer Game. In: Games and Culture 4 (2) 2009, S. 127–143 ✕ Schemer-Reinhard, Timo: Interface. In: Einführung in die Game Studies (hrsg. von Benjamin Beil, Thomas Hensel, Andreas Rauscher). Springer VS, Wiesbaden 2018, S. 155–172 ✕ Strank, Willem: Plattform. In: Einführung in die Game Studies (hrsg. von Benjamin Beil, Thomas Hensel, Andreas Rauscher). Springer VS, Wiesbaden 2018, S. 173–200

GRUNDLAGEN 1.6 ERSTE SCHRITTE DANIEL HEINZ & TORBEN KOHRING

Digitale Spiele können spannende, unterhaltsame und oft sogar lehrreiche Erlebnis- und Erfahrungsräume eröffnen, allerdings bedarf es einiger Voraussetzungen, um los- legen zu können. Dieser Artikel soll einen ersten Überblick hinsichtlich notwendiger Hardware, der Vertriebswege, Installation und Informationsbeschaffung darstellen und somit einen verständlichen Einstieg in die digitalen Spielwelten bieten.

Durch das Labyrinth der Technik Aufgrund der vielfältigen Digitalisierungsprozesse sind die technischen Voraussetzun- gen des Gamings einem stetigen Wandel unterworfen. Bedurfte es für die Program- mierung und Bereitstellung erster digitaler Spiele noch raumfüllender Großrechner an US-amerikanischen Universitäten, gab es später die mannshohen Spielautomaten in Gastronomien, bis sie es Anfang der 1970er Jahre mit der Heimkonsole Pong (1972) von Atari auch in die Haushalte schafften. Die Zeit des Heimcomputers reicht vom Commodore (C64), Amiga 500 und Atari ST bis zum heutigen PC. Letztere sind in der Gesellschaft weit verbreitet, eignen sich allerdings nur bei entsprechender technischer Ausstattung wie einer leistungsstar- ken Grafikkarte (GPU), großem Arbeitsspeicher (RAM) und schnellem Prozessor (CPU) für komplexe 3D-Anwendungen, wie es viele populäre Spiele heute sind. Aufgrund der offenen Architektur sind PC-Tower, benannt nach der Form ihrer Gehäuse, allerdings auch die flexibelsten Spielgeräte. Stationäre Spielkonsolen wie die PlayStation 4 von Sony, die von Microsoft oder die sind speziell zum Zweck des Spielens entwickelte, geschlossene Systeme mit aufeinander abgestimmten Kom- ponenten wie Prozessor, Grafikkarte und Arbeitsspeicher. Aufgrund der hohen Stück- zahl bieten sie ein attraktives Preis-Leistungs-Verhältnis, dafür können sie kaum aufge- rüstet werden und veralten bei dem Erscheinen einer neuen Konsolengeneration. Die PlayStation 4 ist beispielsweise schon die vierte PlayStation-Konsole). Sie müssen an einen Bildschirm angeschlossen und für die volle Funktionalität mit dem Internet ver- bunden werden, um sich bei der jeweiligen Serviceoberfläche anzumelden.

048 —— 049 Auch bei tragbaren Konsolen (engl.: Handhelds) handelt es sich um geschlossene Sys- teme, bei denen Lautsprecher, Bildschirm, Kamera und Steuerungselemente fest ver- baut sind. Egal ob beim Warten auf die Bahn, in der Schulpause oder auf dem heimi- 1.6 schen Sofa – sie ermöglichen das Spielen in allen Lebenslagen. Erfreuten sich die Alltagsbegleiter in Zeiten des Game Boys (1989—2005 in verschiedenen Ausführun- gen) hoher Beliebtheit, haben sie heute mit den Smartphones und Tablets eine omni- präsente Konkurrenz im mobilen Segment. Denn die medialen »Schweizer Taschen- messer« sind beinahe flächendeckend verbreitet, allzeit griffbereit und genau deshalb gehören Spiele-Apps zu den beliebtesten Angeboten in den App-Stores. Durch die Touch-Steuerung über Berührung des Bildschirms sind sie meist intuitiv bedienbar und können oft auch von Laien und jüngeren Kindern beherrscht werden – komplexe Handhabung durch viele Knöpfe am Controller stellt kein Hindernis mehr dar. Die Mo- bilität und Multimedia-Ausstattung von Smartphones und Tablets erlauben auch ver- änderte Spielformen. Beispielsweise wird bei sogenannten Augmented-Reality-Ga- mes die Umwelt um digitale Spielelemente ergänzt, die über Smartphone-Kamera und -Bildschirm sozusagen in den Raum projiziert werden, wodurch die Grenze zwi- TECHNOLOGIE schen fiktiven Ereignissen und dem realen Geschehen bewusst verwischt wird( →). 6.4 & INNOVATION Die Bindung an mobile oder stationäre Hochleistungs-Hardware könnte durch den Trend des Cloud Gamings allerdings bald obsolet werden. Sie ermöglicht es, je- derzeit und überall auf jedem beliebigen Bildschirmgerät die aktuellen Games spielen zu können. Denn hier wird das Spiels auf den Servern des Anbieters berechnet und le- diglich das Bild als Stream über eine Internetverbindung übertragen. Neben den Plattformen existiert eine breite Palette an Zubehör für Spielende. Zu erwerben gibt es verschiedenste Hardware: von Controllern zur Bewegungssteu- erung, über Virtual-Reality-Headsets, die dem Spieler ein Bild mit echter Tiefenwir- SCHNITT- kung vorsetzen, bis hin zu beweglichen Rennsitzen mitsamt Ventilatoren (→) für den 1.5 STELLEN Fahrtwind. Menschen mit körperlichen Handicaps profitieren zudem von unterstüt- zenden Technologien zur Bedienung von Spielen (→). 5.7 INKLUSION

Die Quellen für digitale Spiele Der klassische, über Jahrzehnte vorherrschende Vertriebsweg für digitale Spiele ist der Datenträger, der physisch in einem Geschäft erworben werden kann z. B. Blu-ray bei aktuellen Spielkonsolen. Dabei kann es sich sowohl um einen auf Spiele speziali- sierten Fachmarkt, ein Kaufhaus, einen normalen Supermarkt oder einen reinen On- line-Händler handeln. Besonders ausgefallene Spiele werden dabei häufig nur von den Fachgeschäften vertrieben. Viele Läden bieten zudem den An- und Verkauf von gebrauchten Spielen auch für ältere und aktuelle Spielkonsolen an. Dies stellt häu- fig die einzige Möglichkeit dar, neben analogen und digitalen Flohmärkten, auch an nicht mehr im Handel befindliche Spiele zu gelangen. Der digitale Vertrieb von Spielen hat mittlerweile den physischen Handel mit Datenträgern überholt. Jede aktuelle Konsole besitzt eine eigene Onlineplattform, auf der digitale Spiele erworben und auf das Gerät heruntergeladen werden können. Auf dem PC gibt es verschiedene Anbieter wie Steam, Epic Store und GOG.com, die den

GRUNDLAGEN Download von Spielen ermöglichen. Während Spielende auf den Konsolen häufig an die Angebote im jeweiligen Store gebunden sind, ergibt sich aus der Konkurrenz der 1.6 Plattformen auf dem PC ein dynamischer Markt, auf dem das gleiche Spiel durch- aus zu unterschiedlichen Preisen erhältlich sein kann. Daher können Spiele häufig im Schnitt günstiger auf dem PC erworben werden als auf den Konsolen, trotz höherer Anschaffungskosten für einen Gaming-PC. Einen im Verhältnis noch relativ jungen Markt stellen die App Stores der mo- bilen Geräte dar. Hier erhalten Nutzer neben den klassischen, speziell für die Gerä- te entwickelten Mobile Games auch angepasste Versionen von älteren PC- und Kon- solen-Spielen, die aufgrund der grafischen Leistungsfähigkeit mobiler Geräte auch problemlos unterwegs spielbar sind. Die Preisstrukturen der App Stores lassen diese Spiele häufig auch nur einen Bruchteil ihres ursprünglichen Preises kosten. Neben den offiziellen Vertriebswegen gibt es natürlich gerade in den sozi- alen Netzwerken viele Gruppen, in denen Gebrauchtspiele gehandelt werden. Da hier jedoch im Gegensatz zu offiziellen Verkaufsplattformen der Mittelsmann ent- fällt, birgt der Handel in diesen Gruppen auch immer ein gewisses Risiko. Neben der allgemeinen Gefahr beschädigter Datenträger, ist es beispielsweise gerade bei mo- dernen Computerspielen möglich, dass sie zur Installation dauerhaft an ein Online- Kundenkonto gebunden werden müssen und ein gebraucht gekauftes Exemplar so unbenutzbar ist. Einlegen, losspielen – so einfach ist es leider heute selbst auf Konsolen nicht mehr. Die Datenträger dienen heute fast ausschließlich als Installationsmedium, auf den zu Spielbeginn lediglich als Kopierschutz zugegriffen wird, um also sicherzustel- len, dass das Spiel rechtmäßig erworben wurde. In der Regel wird das digitale Spiel auf den internen Datenspeicher des Geräts kopiert und hier ausgelesen, dies spart Zeit und Downloadvolumen im Vergleich zu online erworbenen Spielen. Da Daniel Heinz ist Fachbe­ Spiele heute durchaus einen Umfang von über 100 Gigabyte (kurz: GB) reichsleitung »Digitale haben können, kann der Download – je nach Geschwindigkeit des ei- Spiele« bei der Fachstelle genen Internetanschlusses – mehrere Stunden in Anspruch nehmen. für Jugendmedienkultur Und selbst mit einem Datenträger ist es oft notwendig, dass ein um- NRW. Torben Kohring ist fangreicher Patch, d. h. eine Fehlerbehebung, heruntergeladen und in- freier Medienpädagoge. stalliert werden muss, um das Spiel starten zu können (der sogenannte »Day-One-Patch«). Auch auf den Konsolen und mobilen Geräten müssen regelmäßig Updates installiert werden, die das Spiel aktualisieren und auch neue Funktionen hin- zufügen; dies kann aber automatisch im Hintergrund geschehen. Auf dem PC mit seinen unendlichen Konfigurationsmöglichkeiten ist es wich- tig, ein aktuelles Betriebssystem zu verwenden und dort die Gerätetreiber (Software zur Steuerung der Hardware) für die Grafikkarte und die anderen Komponenten auf dem neusten Stand zu halten. Auch hier gibt es mittlerweile Programme, die dies au- tomatisch leisten können. PCs gibt es dabei zudem in verschiedenen Leistungsklas- sen. Während ein Arbeits-PC aktuelle Spiele aufgrund der ungeeigneten Hardware gar nicht zufriedenstellend wiedergeben kann, stellt ein PC mit leistungsstarker Hard- ware die grafische Darstellung aktueller Konsolen in den Schatten. Der Fachhandel

050 —— 051 kann über PCs und Notebooks zum Spielen beraten und helfen, die richtige Hardware zur Wiedergabe aktueller Titel zu finden. Auch journalistische Formate wie das Ma- gazin GameStar oder die PC Games Hardware bieten etwa Anleitungen zum Selbst- 1.6 bau eines Gaming-PCs in verschiedenen Preisstufen an. Bei Spielen, die für ältere Hard- und Software programmiert wurden, muss nach angepassten Versionen gesucht oder sogenannte Emulatoren verwendet wer- den, die dem Spiel die veralteten Komponenten vortäuschen (→). 3.5 BEWAHRUNG Konsolen sind in der Regel nicht abwärtskompatibel, d. h. es ist beispielsweise nicht einfach möglich, ein PlayStation-3-Spiel in die PlayStation 4 einzulegen und zu spielen. Obwohl einige Klassiker immer wieder für die aktuelle Generation angepasst und lauf‌fähig gemacht werden (sogenannte »Remakes« oder »Remasters«), sind eini- ge Spiele nur auf der Originalhardware lauf‌fähig. Sammler kommen also nicht drum KULTUR- herum, neben den Spielen auch die alten Konsolen zu pflegen( →). 3.4 ARCHIVE

Wo findet man weitere Informationen? Neben klassischen Computerspielmagazinen, die aktuelle Games testen und bewer- ten, gibt es verschiedene Quellen, aus denen Interessierte unabhängige Informationen über digitale Spiele erhalten können. Ergänzend zum Produkttest mit zahlenbasierten Wertungen (häufig werden Skalen mit maximal 10 bzw. 100 Punkten verwendet) wer- den digitale Spiele in Publikationen wie dem WASD – Bookazine für Gameskultur oder dem GAIN Magazin aus einer kulturellen Perspektive besprochen und die aktuellen Diskurse aus Gesellschaft, Politik und Wissenschaft aufgegriffen (→). Der spieleratge- 3.7 JOURNALISMUS ber-nrw.de und spielbar.de testen Games anhand von medienpädagogischen Kriterien. Eingebunden in die Projekte sind Kinder und Jugendliche, die ihre eigene Sichtweise auf das Medium einbringen. Auf der Website der USK lassen sich die Altersfreigaben LET’S PLAY & der Titel schnell recherchieren. Streams und Let’s Plays (→) bieten zudem einen au- 4.2 STREAMING diovisuellen Eindruck, ohne selbst spielen zu müssen. Neben den klassischen Eltern- abenden und Vorträgen in Kitas und Schulen zum Thema Gaming bieten viele medi- enpädagogische Einrichtungen und Bibliotheken auch Veranstaltungen an, in denen ganz praktisch eigene Spielerfahrungen gesammelt werden können. Zudem bieten zahlreiche Festivals und Tagungen Interessierten die Möglich- keit, tiefer in die Kultur der digitalen Spiele einzutauchen (→). So finden z. B. im Um- 4.6 EVENTS feld der immer pädagogische und kulturelle Veranstaltungen statt, die sich ideal mit einem Besuch der Spielemesse verbinden lassen.

Literatur ✕ Heinz, Daniel u. a.: Digitale Spiele pädagogisch beurteilt. Band 29. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2019, bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/digitale-spiele--- paedagogisch-beurteilt/148782 ✕ Wimmer, Jeffrey: Massenphänomen ­Computerspiele: Soziale, kulturelle und wirtschaftliche Aspekte. Herbert von Halem Verlag, Köln 2013

GRUNDLAGEN 1.7 KANON ÇIĞDEM UZUNOĞLU & DAS TEAM DER STIFTUNG DIGITALE SPIELEKULTUR

Die Gameskultur blickt auf einen großen, jahrzehntealten Traditionsschatz zurück und hat sich in der Gegenwart sehr weit aufgefächert und ausdifferenziert. Den einen, be- stimmenden Kanon der Gameskultur gibt es in diesem Sinne nicht und wird es wahr- scheinlich auch nie geben – darin unterscheiden sich Games nicht von Çiğdem Uzunoğlu ist anderen Kunst- und Kulturformen, in denen Kanondiskussionen eben- Geschäftsführerin der Stif- so seit geraumer Zeit geführt werden und in denen es Befürworter und tung Digitale Spielekultur. Gegner eines – wie auch immer gearteten – Kanon gibt. Bei jedem Ka- non stellt sich die Herausforderung, Kriterien zu entwickeln, welche Werke, welche Werkkategorien, welche Genres und welche Epochen als relevant für den Kanon ein- geschätzt werden. Darüber zeichnet einen Kanon aus, dass er stets hinterfragt wird und letztlich immer wieder aktualisiert werden muss. Vorhandene Kanons der Gameskultur fokussieren sich auf bestimmte Aspekte wie Meilensteine der Entwicklung des Mediums (Library of Congress) oder Games als interaktive Designobjekte (Museum of Modern Art). Das vorliegende Handbuch rich- tet sich vor allem an Neueinsteigende in die Welt der Gameskultur und soll als Leitfa- den dienen. Vor diesem Hintergrund empfiehlt das Team der Stiftung Digitale Spiele- GAME- BEGRIFFE 1.3 kultur mit dem vorliegenden Kanon bedeutende Werke der wichtigsten Genres (←), die sich alle Interessierten leicht und unkompliziert selbst erschließen können. Die ERSTE SCHRITTE 1.6 Titel in dieser Zusammenstellung sind auf aktueller Hardware greifbar (←) und ohne umfassende Vorerfahrung spielbar, sodass sich Handbuchlesende selbst ein Bild von einem typischen und zugänglichen Genre-Vertreter machen können. Games sind ein interaktives Medium und müssen daher selbst gespielt werden. Bloße Betrachtung aufgezeichneter Spielpassagen gehört zwar heutzutage zur Gameskultur dazu (Stich- LET’S PLAY & STREAMING 4.2 wort: »Let’s Plays« und »Streaming«) (←), bleiben aber für ein tieferes Verständnis der kulturellen Wirkmächtigkeit digitaler Spiele stets dürftig. Das Gameplay mancher vorgeschlagener Titel birgt sicherlich die eine oder andere Herausforderung für unerfahrene Spielende. Games fordern Geschicklichkeit, Timing, Präzision oder das Orientierungsvermögen. Gewöhnungsbedürftig dürfte für

052 —— 053 Neueinsteiger insbesondere die Navigation durch dreidimensionale Welten mittels Gamepad bzw. Maus und Tastatur sein. Es lohnt sich allerdings sehr, sich darin zu üben und diese Hürde zu nehmen, da sich einem ein ganz neues Gefühl virtueller Räumlich- 1.7 keit eröffnet. Viele Spiele sind zudem im Schwierigkeitsgrad anpassbar und bieten op- tionale Eingabehilfen. Nachfolgend also der Kanon der Einsteigerfreundlichkeit, zu- sammengestellt vom Team der Stiftung Digitale Spielekultur.

Action-Adventure: The Legend of Zelda: Link’s Awakening (2019) ✓ Nintendo Switch Generationen sind als spitzohriger Protagonist Link in den interaktiven Märchen der Zelda-Reihe (seit 1986) von Nintendo auf Heldenreise gegangen, haben Rätsel gelöst und manches Geheimnis entdeckt. Der Serienteil Link’s Awakening (1993) erschien ur- sprünglich für den Game Boy, wurde aber kürzlich grafisch generalüberholt für die Nintendo Switch neu aufgelegt. Die klassische isometrische Perspektive von schräg oben hilft Einsteigerinnen bei der Navigation durch die dreidimensionale Welt.

Arcade: Tetris Effect (2018) ✓ PlayStation 4, PC (Windows) Tetris darf in keinem Spielekanon fehlen – zu unwiderstehlich die Räuberpistole aus dem Kalten Krieg, wie das sowjetische Spiel vorbei am Eisernen Vorhang zu einem Welthit werden konnte; unvermeidlich bei Umzügen der Tetris-Anklang beim Einpas- sen des Hausstands auf beengter Ladefläche.Tetris Effectist nun eine Neuentwick- lung als Rausch von Klang und Farben. Es bietet einzigartig gestaltete Themenwelten mit je eigener Hintergrundmusik, Soundeffekten und Farbspektren. Sogar die Klötz- chen selbst sind thematisch passend gestaltet. Selbst beim perfekten Gameplay wur- de noch eine reizvolle Variante gefunden: Bleibt man im Rhythmus, tanzt der Tetro­ mino, der aus vier Quadraten bestehende Spielstein, ein faszinierendes Ballett auf der obersten Zeile, bis man ihn endlich einpasst oder es verpatzt.

Aufbau-Strategie: Anno 1800 (2019) ✓ PC (Windows) ERINNERUNGS­ Das historische Aufbaustrategiespiel (→) fasziniert seit über 20 Jahren mit seinem 3.2 KULTUR berühmten »Wuselfaktor«, dem geschäftigen Treiben und dem flinken Hin- und Her- bewegen vieler kleiner Spielfiguren. Man nimmt ein unbesiedeltes Eiland in Besitz, errichtet erste Fischerhütten am Strand und ein Sägewerk im nahegelegenen Wald. Davon ausgehend entwickelt man ein komplexes Wirtschaftsimperium, erkundet Nachbarinseln auf der Suche nach exotischen Gütern und liefert sich Seeschlachten mit Piraten. Die Bürger und Adligen höherer Zivilisationsstufen sind schwer zufrieden- zustellen, belohnen aber mit technischen Innovationen und einer florierenden Wirt- schaft. Die isometrische Perspektive und die unkomplizierte Maus-Steuerung ma- chen Anno 1800 zu einem idealen Einsteigerspiel.

GRUNDLAGEN Battle Royale: ✓ PlayStation 4, Xbox One, Nintendo Switch, Fortnite (2017) PC (Windows, Mac OS), Mobilgeräte (iOS, Android) 1.7 Profifußballer beim Torjubel und Grundschüler auf dem Pausenhof führen zuweilen die gleichen eigenwillige Tänze auf. Die Tanz-Moves stammen aus einem Third-Person- Shooter, der zum globalen Popkulturphänomen geworden ist: Fortnite. Das Setting er- innert an die Roman- und Filmreihe »Die Tribute von Panem« (seit 2008): 100 Spielfi- guren landen auf einer Insel und versuchen, sich gegenseitig zu eliminieren. Wer am Ende übrig bleibt, gewinnt. Um das eigene Überleben zu sichern, können Waffen, Aus- rüstung und Munition gesammelt, aber auch strategische Konstrukte zur Deckung ge- MODDING 4.4 baut werden. Das bereits zuvor in verschiedenen Spielmodifikationen (»Mods«)( ←) entwickelte Spielkonzept wurde vom Entwickler für jüngere Zielgruppen vereinfacht und durch Cartoon-Grafik und den Verzicht auf allzu realistische Gewalt- darstellungen auf Kinder und Jugendliche zugeschnitten. Wer es nicht selbst spielt, verfolgt die Kanäle von Let’s-Playern bei YouTube oder schaut sich Partien im Live- Stream bei Twitch an.

Puzzlespiel: Portal (2007) ✓ PC (Windows, Mac OS, ), Xbox 360, PlayStation 3 Portal geht auf Narbacular Drop (2005), ein technologisches Experiment von Studie- renden zurück. Unter Einsatz der Source-Engine, dem digitalen Baugerüst des Ego- Shooters Half-Life 2 (2004), wurde aus der Physik-Spielerei das vollwertige Spiel Portal. Nur mit einer experimentellen Portalkanone bewaffnet, die in Wänden und Böden be- gehbare Wurmlöcher erzeugt, muss Probandin Chell durch tödliche Rätselparcours aus einer futuristischen Versuchsanlage fliehen. Angeleitet wird Chell dabei von der bösartigen Künstlichen Intelligenz GLaDOS, die an HAL 9000 aus Stanley Kubricks Film »2001: Odyssee im Weltraum« (1968) erinnert. Gekonnt setzen die Entwickler das Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers ein, das Filmfans etwa aus »Die üblichen Verdächtigen« (1995) kennen. Durch seinen dramaturgischen Bogen und die innova- tiven Physikrätsel unterhält das kompakte Spiel auch 13 Jahre nach seinem Erschei- nen noch glänzend. Und braven Laborratten verspricht GLaDOS auch zur Belohnung einen Kuchen – allen Unkenrufen zum Trotz, der Kuchen sei eine Lüge.

Ego-Shooter: Half-Life 2 (2004) ✓ PC (Windows, Mac OS, Linux), Xbox, Xbox 360, PlayStation 3 Im Untergrund-Forschungskomplex Black Mesa öffnen größenwahnsinnige Wissen- schaftler das Tor zu einer anderen Dimension. Der stumme Held Dr. Gordon Freeman kann im Vorgängerspiel Half-Life (1998) die Invasoren nicht stoppen. In der Fortsetzung Half-Life 2 findet Freeman in der osteuropäisch angehauchten City 17 eine gelunge- ne Mischung aus George Orwells Dystopie-Roman »1984« (1949) und John Carpen- ters Horrorfilm »The Thing« (1982) vor. Freeman schließt sich dem Widerstand an und nimmt es mit Aliens und menschlichen Schergen des rücksichtslosen Besatzerregimes auf. Bei seinem Erscheinen vor 16 Jahren setzte Half-Life 2 Maßstäbe: Animation, Er- zählung, Physik, Atmosphäre, Spielmechaniken und Leveldesign beeindrucken noch

054 —— 055 heute und werden selbst von modernen Genre-Vertretern oft nicht erreicht. Wie auch im Falle von Portal erfordert das Navigieren in der Ego-Perspektive zunächst einiges an Übung, die allerdings im Nachhinein mit einem unvergleichlichen Gefühl an Immer- 1.7 sion und Selbstwirksamkeit belohnt wird.

Indie: Journey (2012) ✓ PlayStation 3, PlayStation 4, PC (Windows), Mobilgeräte (iOS) Wenn über Computerspiele als Kunst geredet wird, dann fällt stets ein Name: Journey. BILDENDE 2.1 KUNST Ob es sich bei dem experimentellen Abenteuer tatsächlich um ein Kunstwerk handelt, ist nach wie vor Gegenstand philosophischer Debatten (→). Klar ist jedoch, dass das 2.7 ÄSTHETIK Spiel neue Maßstäbe gesetzt hat. Statt gegen Monster zu kämpfen oder mit Nicht- Spieler-Charakteren zu plaudern, steht hier die einsame Reise durch eine märchenhaf- te Wüste im Vordergrund. Statt Mehrspieler-Modus mit Dutzenden menschlichen Mit- oder Gegenspielenden, teilt die Spielfigur ihre Einsamkeit nur mit einer anderen Figur, die zufällig über das Internet in die eigene Spielwelt tritt, um miteinander zu singen, sich zu unterstützen oder auch getrennter Wege zu gehen. Verbale oder schriftliche Kommunikation ist ausgeschlossen und die spielende Person hinter der Figur bleibt anonym – wie man selbst. Damit ist Journey ein eindrucksvoller Prototyp dafür, was passieren kann, wenn digitale Spiele sich von ihren Konventionen verabschieden und voll auf das Erzeugen einer emotionalen und sinnlichen Erfahrung setzen.

Jump ’n’ Run: Super Mario Odyssey (2017) ✓ Nintendo Switch Dass ausgerechnet ein italienischer Installateur zur Ikone der Gameskultur wurde, ist schon absurd. Sein von fleischfressenden Pflanzen und mürrischen Pilzen bevölker- tes Fantasy-Biotop hat Kommentatoren schon zu Vergleichen mit Drogen-Halluzina- tionen hingerissen. Dass er, reichlich unoriginell, die immergleiche Jungfrau in Nöten, Prinzessin Peach, vor Panzerechse Bowser retten muss, fällt da kaum noch auf. Mario tritt im aktuellen Epos eine Odyssee rund um den Globus an. Weggefährte diesmal: seine Kappe, mit der er allerlei Gekreuch und Gefleuch kapern, also übernehmen kann, um sich zeitweilig dessen Fähigkeiten anzueignen. Die abwechslungsreichen Welten sprühen dabei nur so vor Einfallsreichtum. Die Nintendo-Patentformel guter Famili- enunterhaltung kommt voll zur Geltung: Einsteigern bieten sich leichte, Fortgeschrit- tenen anspruchsvollere Aufgaben. Damit kommen allen Spielenden auf ihre Kosten.

Adventure: ✓ PC (Windows, Mac OS, Linux), Trüberbrook (2019) Xbox One, PlayStation 4, Nintendo Switch Nach seiner Blütezeit Mitte der 1990er Jahre schlief das Point-and-Click-Adventure international einen Dornröschenschlaf. Bloß im Land der Brüder Grimm wurde noch ab und an per Mausklick gerätselt und kombiniert. Trotz Heimvorteil höchst verdient war dennoch die Auszeichnung von Trüberbrook als Bestes Deutsches Spiel beim Deutschen Computerspielpreis 2019. Das im (bundes-)deutschen Provinz-Idyll der späten 1960er Jahre angesiedelte B-Movie-Mystery-Adventure à la »Twin Peaks«

GRUNDLAGEN (1990—1991) wurde vom Produktionsunternehmen bilduntonfabrik (btf) entwickelt. Bekannt wurde dieses Team vor allem durch die Zusammenarbeit mit Jan Böhmer- 1.7 mann, der auch einem verschrobenen Bösewicht im Spiel seine Stimme lieh. Das so- genannte Photogrammetrie-Verfahren erlaubte dem Entwicklerstudio die Digitalisie- rung fantastisch detaillierter Bühnenbild-Miniaturen.

Sandbox-Spiel: ✓ PC (Windows), PlayStation 4, Xbox One, Minecraft (2009) Nintendo Switch, Mobilgeräte (iOS, Android) und weitere Bei der Eröffnung dergamescom 2017 fragte Bundeskanzlerin Angela Merkel ange- sichts der grobschlächtigen Klötzchengrafik von Minecraft, ob das grafisch nicht in- zwischen besser ginge. Nun, es ginge schon, aber die Klötzchen sind kein Bug, also Spielfehler, sondern ein Feature. Denn jeder Ein-Kubikmeter-Klumpen virtueller Ma- terie in Minecrafts Welt lässt sich gemäß einer vereinfachten Physiksimulation ab- bauen (mine) oder neu verbauen (craft). Für den freischaffenden Kreativmodus wird daher oftmals der Vergleich mit LEGO-Steinen bemüht. Im Tüfteln begabte Spieler- kollektive haben schon ganze Kontinente oder funktionale Computer nachgebaut. Im Überlebensmodus kann die Spielerin gar die technische Evolution der Menschheits- geschichte als Abenteuer im Zeitraffer durchlaufen. Jeder Spielstart wird dabei zum Schöpfungsakt einer vom Programm ausgewürfelten und damit einzigartigen Welt, die größer als die Erdoberfläche ist.

Puzzleadventure: Monument Valley 2 (2017) ✓ Mobilgeräte (iOS, Android) In diesem Mobile Game lotsen die Spielenden die Protagonistin Ro und ihr Kind durch eine märchenhaft-orientalisch anmutende Welt. Die Spielidee erinnert an die Bilder des Grafikers M. C. Escher: Die Spielenden müssen in den streng geometrisch aufge- bauten Levels Teile der Architektur so manipulieren, dass sich Wege für die Heldin- nen ergeben. Durch optische Überlagerung und perspektivische Verkürzung entste- hen Wege, die so in der Realität nicht möglich wären. Der Blickwinkel der virtuellen Kamera und das Ändern der Perspektive werden somit zum Teil der Spielmechanik. Es gilt die alte Kunstlehrerinnen-Weisheit: Erst die Betrachterin vollendet das Kunstwerk.

Echtzeitstrategiespiel: Age of Empires Ⅱ: Definitive Edition (2019) ✓ PC (Windows) In Age of Empires ist die feudalistische Mittelalterwelt noch in Ordnung: Als König Barbarossa, Amtskollege Richard Löwenherz oder Erzfeind Saladin zieht man in his- torisch anmutenden Settings zu Felde. Um Heere aufzustellen und Befestigungen zu errichten, muss zwar eine rudimentäre Wirtschaft aus dem Boden gestampft werden. Bauern, Holzfäller und Steineklopfer sind jedoch gefügig, sodass keine sozialpoliti- schen Aufgaben und Herausforderungen dem Feldherrn beim Befehligen von Trup- pen, Schlagen von Schlachten und Belagern von Städten im Wege stehen. Die Steu- erung und Interaktion mit der Spielwelt gestaltet sich ähnlich wie im hier ebenfalls erwähnten Anno 1800.

056 —— 057 Online-Rollenspiel: World of Warcraft Classic (2019) ✓ PC (Windows, Mac OS) Die kulturelle Bedeutung eines Spiels lässt sich oft daran ablesen, dass der Titel zu ei- 1.7 nem Synonym für ein ganzes Genre – oder das Medium Games an sich – wird. World of Warcraft ist so ein Spiel. In dem Massively Multiplayer Online Role-Playing Game (kurz MMORPG) erstellen Spielende ihre eigenen Spielfiguren Avatare( ), um im weit- läufigen Fantasy-Reich Azeroth auf die Jagd nach Erfahrungspunkten zu gehen. Das Besondere dabei: Die Spielwelt wird von Menschen bzw. ihren Avataren aus aller Welt bevölkert. Gemeinsam ziehen sie ins Abenteuer, gründen Gilden oder liefern sich un- tereinander große Schlachten. Auch 15 Jahre nach dem Erscheinen verbindet World of Warcraft Millionen von Menschen, die ihre Freundschaften in der Gestalt von Nacht- elfen, Orks und Zwergen pflegen. Die Classic-Version ist eine originalgetreue Nach- bildung des ursprünglichen World of Warcraft und bietet Neueinsteigern die gleiche Spielerfahrung wie zum Erscheinen des Spiels.

Rennspiel: Mario Kart 8 Deluxe (2017) ✓ Nintendo Switch Selbst Michael Schumacher hat in einem Gokart angefangen! Arcade-Rennspiele wie Mario Kart (1992) sind ohne Vorkenntnisse intuitiv spielbar: Springt die Ampel auf Grün, tritt man aufs Gas und hat schließlich gewonnen, wenn man als Erste drei Runden ab- solviert. Dazwischen kann allerhand passieren, denn Mario Kart lockert das Gesche- hen durch aberwitzige Streckengestaltung und das zufällige Verteilen von benutzba- ren Gegenständen (Items) auf: Auf der wohlplatzierten Bananenschale beispielsweise rutschen Verfolgerinnen aus. Schildkrötenpanzer dienen als Wurfgeschosse gegen Vorausfahrende. Der im Hintergrund wirkende Comeback-Mechanismus sorgt dafür, dass Hinterherhängende fiesere Items und damit eine reelle Chance zum Aufholen bekommen. Dadurch haben unterschiedlich begabte Pilotinnen gemeinsam Freude am Fahren.

Rollenspiel: Ni No Kuni 2: Schicksal eines Königreichs (2018) ✓ PlayStation 4, PC (Windows) Einen leichten Einstieg in ein eher komplexes Genre bietet das japanische Adventure- Rollenspiel Ni No Kuni 2. Spielerinnen werden in eine märchenhafte Welt entführt, in der es gilt, Quests zu lösen, gut inszenierte Kämpfe zu bestehen und ein verlorenes Königreich neu aufzubauen. Dabei führt die liebevoll erzählte Geschichte durch ab- wechslungsreiche Welten mit interessanten Charakteren, kreativen Umgebungsrät- seln und einem eindrucksvollen Soundtrack. Besonders aber überzeugt der optische Eindruck: Obwohl die konkrete Zusammenarbeit mit der legendären Filmschmiede Studio Ghibli aus dem ersten Teil nicht weitergeführt wurde, hat Entwickler Level 5 die zauberhafte Ästhetik auch beim Nachfolger übernommen und aus dem Spiel eine Art interaktiven Zeichentrickfilm gemacht. Fans von Hayao Miyazakis Filmen wie »Chihi- ros Reise ins Zauberland« (2003) oder »Prinzessin Mononoke« (1997) sei Ni No Kuni 2 daher besonders ans Herz gelegt.

GRUNDLAGEN Simulation: ✓ PlayStation 4, Xbox One, PC (Windows, Mac OS), Landwirtschafts-Simulator 19 (2018) Mobilgeräte (iOS, Android) 1.7 Nach Feierabend ziehen tausende Hobby-Landwirtinnen an Bord detailgetreu nach- empfundener Landmaschinen mit Pflug und Egge ihre virtuellen Ackerfurchen. Sie vertiefen sich in die Bewältigung wohltemperiert-fordernder Aufgaben und kosten den berühmten Flow-Zustand des Glücksforschers Mihály Csíkszentmihályi aus, in dem Anspruch und Vermögen eine wunderbare Balance finden. ImLandwirtschafts- Simulator wird offenbar, dass die Gamification der Arbeit eine Kehrseite in der Wor- GAMIFICATION 5.8 kification des Spielens besitzt( ←). Und wer keinen Garten hat, der findet eben in der virtuellen Feldarbeit seinen Ausgleich.

Stiftung Digitale Spielekultur Der Spielekanon wurde zusammengestellt und rezensiert von den Team­ mitgliedern der Stiftung Digitale Spielekultur, die je eigene Texte zur Beschreibung der Spieletitel beigesteuert haben. Die Stiftung ­Digitale Spielekultur ist die ­Stiftung der deutschen Games-Branche und Chancen­ botschafterin für Games. Seit ihrer Gründung im Jahr 2012 baut sie Brü- cken zwischen der Welt der digitalen Spiele und den gesellschaftlichen und politischen Institutionen in Deutschland. Die gemeinnützige und bun- desweit agierende Stiftung geht auf eine Initiative des Deutschen Bun- destages und der deutschen Games-Branche zurück. Partner aus Bildung, ­Gesellschaft, Jugendschutz, Kultur, Medien, Politik, Pädagogik, Verwal- tung und Wissenschaft beteiligen sich an ihren Projekten, Veranstaltungen und Studien. Ein ebenso divers besetzter Beirat gewährleistet ihre ziel­ gerichtete, unabhängige und transparente Arbeit. Ihr Gesellschafter ist der game – Verband der deutschen Games-Branche.

Literatur ✕ Games-Sammlung des Museum of Modern Art: moma.org/explore/inside_out/2012/11/29/video- games-14-in-the-collection-for-starters ✕ Games-Sammlung der Library of Congress: wikipedia.org/wiki/Game_canon ✕ Rose, Mike: 250 Indie Games You Must Play. Taylor & Francis, Boca Ranton 2011. ✕ Unterhuber, Tobias: Mit Kanones auf Spiele schießen? – Die (Un)Möglichkeit eines Computerspielkanons und die Rolle der Game Studies. Paidia – Zeitschrift für Computerspielforschung 2020: paidia.de/mit-kanones- auf-spiele-schiessen-die-unmoeglichkeit-eines- computerspielkanons-und-die-rolle-der-game-studies

058 —— 059 GRUNDLAGEN 2060 —— 061 KUNST & KULTUR

2.1 BILDENDE KUNST 063

2.2 THEATER 069

2.3 LITERATUR 074

2.4 FILM & SERIE 080

2.5 MUSIK 085

2.6 GEWALT 091

2.7 ÄSTHETIK 097

HANDBUCH GAMESKULTUR 2.1 BILDENDE KUNST STEPHAN SCHWINGELER

In manchen Kontexten – etwa von dem Kommunikationswissenschaftler Henry Jen- kins – wird die Frage, ob es sich bei Computerspielen um Kunst handelt, im Jahr 2000 grundsätzlich positiv beantwortet. Es wird nicht aus kunstwissenschaftlicher oder kunsttheoretischer, sondern aus populärkultureller Perspektive für das Compu- terspiel als eine Form von Kunst argumentiert. FILM & SERIE 2.4 Im Gegensatz dazu wird die Frage von Roger Ebert deutlich verneint (←). Der bekannte amerikanische Filmkritiker vertrat im Jahr 2005 die Meinung, dass Compu- terspiele gegenüber Filmen grundsätzlich minderwertig sind und sie sich niemals zu einer eigenständigen Kunstform entwickeln könnten, was die Debatte um den Kunst- status ins Polemische wendete und neben vielen tausend Online-Kommentaren auch eine Diskussion mit der prominenten Game Designerin Kellee Santiago provozierte. Die Frage nach dem Kunststatus des Mediums wird 2007 auch in dem Sam- melband »Videogames and Art« adressiert. Brett Martin argumentiert, dass Compu- terspiele zu einer Kunstform avancieren können, wenn sie sich vom alten Medium Film emanzipieren. Ernest Adams vertritt die ähnliche These, dass Computerspie- le ästhetisch heranreifen und über den intendierten Zweck der Unterhaltung hinaus- gehen müssen, um die Aufwertung zur Kunst zu erfahren. Computerspiele scheinen demnach zu trivial zu sein, um als Kunst zu gelten. Die Frage, ob Computerspiele aus sich selbst heraus eine Kunstform darstel- ÄSTHETIK 2.7 len oder nicht, ist wissenschaftlich gewiss nicht zielführend (←). Vor diesem Hinter- grund lässt sich festhalten, dass in der aktuellen akademischen Auseinandersetzung mit digitalen Spielen nicht mehr der Kunststatus erörtert wird, sondern vielmehr nach einer Kunsttheorie des Computerspiels gefragt wird. Es ist festzuhalten, dass digitale Spiele im Kontext der Diskurse um »net.art«, »Internet Art«, »Software Art«, »Digital Art«, Medienkunst und »New Media Art« vor- kommen. Ein Diskurs um den Begriff der »Game Art« ist ebenfalls auszumachen. Auch haben sich vielfältige Ausstellungsprojekte mit Computerspielen auseinandergesetzt, wie beispielsweise die Ausstellung »ZKM_Gameplay« im ZKM | Zentrum für Kunst

062 —— 063 und Medien. Oftmals wird eine grundsätzliche strukturelle Verwandtschaft zwischen Kunst und Spiel identifiziert. Dem Spiel und der Kunst können gemeinsame Struktu- ren bescheinigt werden, die sich insbesondere auf das paradoxe Schillern zwischen 2.1 Freiheit und Regelgerichtetheit beziehen. Für die Bildende Kunst des 20. Jahrhun- derts ist das Spielerische ein entscheidender Aspekt – ausgehend von Marcel Du- champ bei den Dadaisten, Surrealisten, der Situationistischen Internationale und der Fluxus-Bewegung. So kann die Kunst selbst als spielerischer Handlungsraum ver- standen werden. Computerspiele verfügen oft über eine üppige audiovisuelle Erscheinung, sie entfalten eine ihnen eigene Ästhetik und Schönheit, sie bieten ausufernde Narrationen an und sie sind in der Lage, andere Medien und Kunstformen aufzugreifen, zu simulie- ren und herzustellen, was Vergleiche zum Konzept des romantischen Gesamtkunst- werks nahelegen könnte. Computerspiele bedienen sich gestalterisch der Gesamtheit an Möglichkeiten gestalterischer und künstlerischer Formen und Mittel. Wir können alle möglichen visuellen Stile und alle Spielarten der Animation im Bereich des Computerspiels ausmachen: von scheinbar handgezeichneten, zwei- dimensionalen grafischen Techniken über Puppenanimation, Scherenschnitt, bis hin zu Games, die sich Collagetechniken und Fotografien bedienen. Auch ein Unter- schied zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit ist deutlich auszu- machen: Es gibt viele Computerspiele, deren grafische Gestal- Stephan Schwingeler ist tung etwas darstellt – etwa Landschaften, Dinge und Figuren. Es Professor für Medienwissen- gibt aber auch viele Computerspiele, deren Grafik nur aus Far- schaft an der Hochschule ben und Formen besteht – also ungegenständlich ist. Viele Bilder für angewandte Wissenschaft in Computerspielen orientieren sich häufig deutlich an den Me- und Kunst in Hildesheim. dien Fotografie und Film. Doch Computerspiele bilden nicht die Realität ab, sondern versuchen hier, fotografischem Realismus nachzueifern. Dabei geht ihr Realismusanspruch darüber hinaus, bloß fotografisch oder filmisch zu sein. Wir können in diesem Zusammenhang von Hyperrealismus sprechen: Der Compu- ter ermöglicht, Bilder von Objekten herzustellen, die wie echt wirken, es aber un- möglich sein können. Es ist wesentlich zu betonen, dass eine Auseinandersetzung mit Ästhetiken des Computerspiels nicht auf die audiovisuelle Oberfläche beschränkt bleiben soll- te. Nur zu fragen, wie digitale Spiele aussehen und klingen, ist ein buchstäblich ober- flächlicher Zugang, wenn man das, was unter den Games liegt außer Acht ließe: ihre medialen Gemachtheiten, ihre technischen – auch spezifisch digitalen und algorith- mischen – Bedingtheiten, die Verbindung von Hardware und Software, ihre spieleri- schen und systemischen Mechaniken, ihre Regelwerke und deren Konstruktion, die ein Handeln mit und im Bild ermöglichen, sowie ihre kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen. Wenn man gewissermaßen über die Oberflächen der Spiele hinaus- und in die Kunstgeschichte blickt, sieht man folgende Zugänge zu Computerspielen in der Bil- denden Kunst: ➀ Computerspiele als Sujet, ➁ Computerspiele als Werkzeug sowie ➂ eigenständige Computerspielproduktionen sowie -modifikationen.

KUNST & KULTUR Games als Sujet Künstlerinnen und Künstler wenden sich Adaptionen und Aneignungen der audiovi- 2.1 suellen Oberfläche der Spiele zu, bei der Computerspielästhetiken in Malerei, Gra- fik, Plastik, Fotografie, Film, Video, Performance usw. umgesetzt werden. Es handelt sich dabei um die Rezeption, also die Aufnahme, Wahrnehmung und Weiterverarbei- MUSIK 2.5 tung von Computerspielbildern (und seltener: -klängen) (←) und deren Umsetzung in anderen Medien und Gattungen der Bildenden Kunst. Hier bildet das Computer- spiel allgemein oder auch ein bestimmtes Computerspiel das Sujet, also den Gegen- stand der künstlerischen Gestaltung. Der französische Künstler Invader zementiert beispielsweise die Pixelfiguren aus dem Spiel Space Invaders (1978) als Keramikmosa- ik im öffentlichen Raum und dringt so in diesen ein, wodurch ein Anklang an das Mo- tiv der Alieninvasion im Spiel entsteht. Die chinesische Künstlerin Cao Fei setzt sich COSPLAY 4.3 in einer Videoarbeit mit dem Phänomen der »Cosplayers« (2004) (←) auseinander. Das Video zeigt junge Menschen, die in aufwändigen, selbst gestalteten Kostümen ihre favorisierten japanischen Anime- und Game-Figuren vor übernatürlich anmu- tenden Stadtlandschaften im südchinesischen Guangzhou darstellen. In der Male- rei wird beispielsweise die Figur Super Mario schon in den 1990er Jahren rezipiert. Der luxemburgische Maler Michel Majerus nimmt Mario neben anderen Computer- spielfiguren als Motiv ab 1996 auf. Der griechischstämmige Künstler Miltos Mane- tas untersucht die Bildwürdigkeit von Computerspielwelten und -charakteren und stellt sowohl Videos als auch großformatige Abzüge basierend auf Computerspiel- bildern her: Ein Video zeigt z. B. den schlafenden Mario; auf Abzügen ist Mario ab- gebildet, der ein an der Wand hängendes Bild betrachtet. Indem die Bildwelt und der sozio-kulturelle Hintergrund eines populären Mediums in Form eines Kunstwerks in neue Zusammenhänge gestellt werden, zeigt diese Form der Game Art Bezüge zur Pop Art der 1960er Jahre.

Games als Werkzeug Digitale Spiele werden beispielsweise als Werkzeuge zur Herstellung eines Kunst- werks benutzt wie das beispielsweise bei der Praxis des Machinima der Fall ist: Game Engines werden verwendet, um lineare Animationsvideos herzustellen; die Umge- bungen der Spiele fungieren dabei als Kulissen, die Avatare werden wie Marionet- ten bewegt und animiert, die Objekte der Games werden zu Requisiten. Dies kann auch den Charakter einer Performance annehmen, wenn das künstlerische Gesche- hen live aufgeführt wird, wie z. B. in »Operation Jane Walk« (2018) der österreichi- schen Künstlergruppe Total Refusal, die den dystopischen Third-Person-Shooter Tom Clancy’s The Division (2016) für eine friedliche Stadtführung durch ein postapokalypti- sches Manhattan pazifistisch nutzt. Ein weiteres Beispiel, in dem ein Computerspiel als Werkzeug zur Kunstpro- duktion Verwendung findet, ist die Arbeit »ioq3aPaint« (2003—2010) von Julian Oli- ver. Oliver hat die Game Engine des Spiels Ⅲ Arena (1999) so umfunktioniert, dass sie automatisch Bilder generiert, die Oliver gedruckt wie traditionelle Tafelbil- der ausstellt.

064 —— 065 Computerspielproduktionen sowie -modifikationen Die dritte Gruppe umfasst alle Modifikationen (kurz: Mods) (→) und eigenständige 4.4 MODDING Produktionen von Computerspielen (sogenannte Art Games) unter explizit künstleri- schen Vorzeichen. Im Falle dieser Kunst mit Computerspielen bildet das Computer- spiel selbst die künstlerische Gattung. Es handelt sich um die Veränderung vorgefun- dener, meist kommerzieller Spiele. Modifikationen von Computerspielen stehen im Mittelpunkt der Publikation »Kunstwerk Computerspiel« (2014), die digitale Spiele erstmalig als künstlerisches Material untersucht. Im Falle von Computerspielmodifi- kationen lassen sich aus einer historischen Perspektive verschiedene künstlerische Strategien identifizieren, anhand derer sich zeigen lässt, auf welche Art Künstlerin- nen und Künstler mit Computerspielen als Material umgehen. Eine erste Strategie lässt sich als Neudekoration des Materials bezeichnen: Dabei handelt es sich um die Veränderung vorgefundener Spiele und ihrer audiovi- suellen Oberflächen im Sinne des Moddings wie im Falle der »Total Conversion« (die vollständige Veränderung eines Computerspiels) »Arsdoom« (1995). In »Arsdoom« ist das Brucknerhaus Linz nachgebaut, das 1995 als Veranstaltungsort für das Medien- kunstfestival Ars Electronica diente. Es gibt zahlreiche andere Beispiele, in denen ein Museum oder eine Galerie nachempfunden sind, wie z. B. Palle Torssons und Tobias Bernstrups Serie »Museum Meltdown« (1996—1999) oder »Jeff Koons Must Die!!!« (2011) von Hunter Jonakin. Als zweite Strategie ist die Reduktion und Abstraktion des Materials zu nen- nen. Künstlerinnen und Künstler kultivieren Leer- und Fehlstellen wie beispielsweise in Myfanwy Ashmores »mario battle no. 1« (2000). In Ashmores Modifikation sind alle Hindernisse und gegnerische Figuren aus dem Spiel gelöscht. In Cory Arcangels »Su- per Mario Clouds« (2002) sind vom Ausgangsspiel nur die Wolken vor dem hellblau- en Hintergrund übriggeblieben, die von rechts nach links am Betrachter vorbeiziehen. Die Strategie der Abstraktion zielt dabei zum einen auf die Oberfläche der Spiele und damit auf eine Inszenierung des Audiovisuellen wie bei »QQQ« (2002) des britischen Künstlers Tom Betts; zum anderen zielt sie teilweise ergänzend auf den Ent- stehungsprozess der Bilder und Töne und hebt die Repräsentation des Programmier- codes und der Rechenprozesse hervor wie in Margarete Jahrmanns und Max Mos- witzers »nybble-engine-toolZ« (2002). Die dritte Strategie wird von Modifikationen der Spielregeln und nicht-spiel- konformen Handlungen im Material selbst gebildet. Beispiele sind »Velvet-Strike« (2001) von Brody Condon, Anne-Marie Schleiner und Joan Leandre oder die Perfor- mance »dead-in-iraq« (2006) von Joseph DeLappe. In »Velvet-Strike« werden pazifis- tische Motive an die Wände der Spielumgebungen (Maps) von Counter-Strike (2000) an- gebracht. In »dead-in-iraq« werden die Namen im Irakkrieg gefallener Soldaten über die Chat-Funktion des Spiels America’s Army (2002) im Online-Spiel verbreitet. Eine Kombination verschiedener Strategien führt zur Störung des Materials bis zum unspielbaren Spiel. Diese radikale Geste findet sich z. B. in JODIs Mod der Map »Arena« aus Wolfenstein 3D (1992) mit dem Titel »SOD« (1999) aus der Serie »un- titled game« (1998—2001).

KUNST & KULTUR Eine qualitative Gemeinsamkeit der einzelnen künstlerischen Strategien liegt darin, dass sie das Ausgangsmaterial stören. Sie zielen auf eine Bewusstmachung des Ma- 2.1 schinencharakters des Computerspiels durch formal-ästhetische Experimente, der Herstellung von Defekten, Regelbrüchen und der Beschränkung der Interaktivität.

Computerspiele als Gattung und Material der Bildenden Kunst All dies gehört zum Bestand der digitalen Spiele und ihrer Verwendung in Kontexten der Bildenden Kunst. Computerspiele als Medien selbst aber pauschal als Kunstwer- ke aufwerten zu wollen bzw. ihnen den Kunststatus abzusprechen, deutet auf einen nicht-konventionellen Kunstbegriff, der einer Technik, einem Medium oder Materi- al pauschal den Kunststatus bescheinigt – oder nicht. In der Regel werden hier not- wendige und hinreichende Bedingungen nicht sauber getrennt und Kontexte ausge- blendet: Computerspiele selbst sind selbstverständlich keine Kunst, genauso wenig wie ein Gemälde oder eine Skulptur zwangsläufig ein Kunstwerk sein müssen, nur weil in Öl auf Leinwand gemalt oder ein Marmorblock behauen wird. Computerspie- le sind deshalb genauso wenig von sich aus Kunst, wie z. B. ein Gemälde, eine Skulp- tur, ein Pissoir aus Porzellan bei Marcel Duchamp, Margarine auf einem Stuhl bei Jo- seph Beuys, ein Waschmittelkarton aus Sperrholz bei Andy Warhol oder ein Tigerhai in Formaldehyd bei Damian Hirst von sich aus Kunst sind. Dies trifft auf jede andere denkbare Technik, jedes andere Medium und Material zu. Und natürlich gibt es sie, die Computerspiele der Kunstgeschichte, also Werke, die in kunsthistorischer Über- einstimmung als Kunstwerke gelten und die gleichzeitig Computerspiele sind, wie z. B. die bereits erwähnten künstlerischen Computerspielmodifikationen von JODI, »Long March: Restart« (2008) von Feng Mengbo, »The Night Journey« (ab 2010) von Bill Vi- ola oder die interaktive Skulptur »Painstation« (2001) der Kölner Gruppe //////////fur////. Die Kunstgeschichte hat immer wieder unter Beweis gestellt, dass nicht das Material oder die Medialität den Kunststatus bestimmen. Stets wurden neue Mate- rialien, Medien und Gattungen in den Kunstkontext eingeführt. Künstler der Gruppe Brücke beispielsweise haben sich Anfang des 20. Jahrhunderts dem Holzschnitt zu- gewendet, was zunächst als minderwertig und volkstümlich galt. Hier zeigt sich in al- ler Deutlichkeit: Die Kunstgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts kennt schon lange keine Medien-, Gattungs- und Materialgrenzen mehr und spricht dementsprechend auch einzelnen Computerspielwerken die Kunstwürdigkeit zu. Die Frage sollte daher nicht verkürzt lauten: »Sind Computerspiele Kunst?« Denn dann muss die Antwort »Nein« heißen. Computerspiele können jedoch als Gat- tung bzw. als künstlerisches Material begriffen werden. Sie pauschal zur Kunst zu er- klären, ist aber unpräzise, gleichwohl die Kunstgeschichte zeigt, dass sie das Poten- zial in sich tragen, Kunstwerke hervorzubringen. ↳

066 —— 067 2.1

Der vorliegende Beitrag ist eine Überarbeitung und Ergänzung folgender Aufsätze: ✕ Schwingeler, Stephan: Game Art – Computerspiele in der Bildenden Kunst, In: Digitale Moderne. Die Modellwelten von Matthias Zimmermann (hrsg. von Natascha Adamowsky). Hirmer Verlag, München 2018, S. 62–72 ✕ Schwingeler, Stephan: Digitale Spiele – Kunstdiskurse. In: Digitale Spiele – Interdisziplinäre­ Perspektiven zu Diskurs- feldern, Inszenierung und Musik (hrsg. von Christoph Hust). Transcript, Bielefeld 2018, S. 35–47 ✕ Schwingeler, Stephan: Open World – Games und Bildende Kunst. In: Borderlines – Kunst – Nichtkunst – Nichtkunst- kunst. Kunstforum Bd. 262, 2019, S. 152–159

Literatur ✕ Schwingeler, Stephan: Kunstwerk Computerspiel – Digitale Spiele als künstlerisches ­Material. Eine medien­theoretische und ­bildwissenschaftliche Analyse. Transcript, Bielefeld 2014 ✕ Schwingeler, Stephan: Unspielbare Spiele – Künstlerische Com- puterspielmodifikationen im medientheoretischen Schwebe- zustand. In: New Game Plus – Perspektiven der Game Studies (hrsg. von Gundolf S. Freyermuth, Lisa Gotto, Benjamin Beil). Transcript, Bielefeld 2014, S. 219–245

KUNST & KULTUR 2.2 THEATER JAN FISCHER

Es geht um Wände. Um Hallen. Um Korridore. Um Wege. Sichtbar oder unsichtbar, ganz real oder durch eine Erzählung vorgegeben. Denn je offener die Welt ist, durch die man sich bewegt, je mehr Freiheiten man Spielern, Spielerinnen und Publikum zu- gesteht, desto schwieriger ist es, sie zu leiten. Eine Geschichte an einem bestimm- ten Punkt zu einem Ende zu bringen, allen, die dorthin gelangen, das Gefühl zu ge- ben, dass sie irgendwo angekommen sind. Gleichzeitig aber – und hier wäre schon der ganze Widerspruch – diese Regeln, diese Wände, so zu verstecken, dass sie un- sichtbar werden. Das Stichwort hier ist selbstverständlich Immersion. Im Theater ist das ein alter Hut, fast der älteste: »Jammern und Schauern« solle eine Tragödie im Publikum hervorrufen, meint Aristoteles in seiner »Poetik« (ca. 335 v. Chr.). Das geht selbstverständlich nur, wenn das Publikum auch mitmacht. Es geht dabei immer um einerseits Wiedererkennung und andererseits Nachahmung – aus dem Altgriechi- schen: Mimesis – also das Publikum abzuholen, es mitfühlen zu lassen, wenn man so will. Wobei Nachahmung hier nicht bedeutet, eine Handlung möglichst wirklich- keitsnah abzubilden – es geht immer auch, verkürzt gesagt, um die Wahl bestimmter ­ästhetischer Mittel, um einen gewünschten Effekt zu erreichen. Wände, Hallen, Kor- ridore: Die Rezeption zu leiten. Klassisches Sprechtheater bietet zwar Interaktionsmöglichkeiten: Klatschen, Buhen, Lachen, Jubeln, Aufstehen und Gehen, soziales Miteinander vor und nach der Aufführung‌ sowie in den Pausen – übrigens dieselben Interaktionsmöglichkeiten wie die während eines Besuches im virtuellen Theater des Westernspiels Red Dead Redemption Ⅱ (2018). Dazu kommt, dass selbstverständlich jede Aufführung‌ immer ein- zigartig war und ist. Allerdings sind diese Möglichkeiten zur Interaktion und zum fas- zinierten Eintauchen ins Medium im Vergleich zu digitalen Spielen relativ Jan Fischer ist freier beschränkt. Zwar begeben sich Zuschauer und Zuschauerinnen in einen Autor und Journalist. Raum, der nach eigenen Regeln funktioniert, die wiederum Interaktionen innerhalb dieses Regelwerks erlauben, allerdings müssen diese nicht passieren. Be- ziehungsweise ist die minimalste Möglichkeit der Interaktion einfach die bloße Anwe-

068 —— 069 senheit – man kann einfach nur im Theatersessel sitzen und sich nach Art eines Fern- sehabends berieseln lassen. Immersion, Nähe, findet im klassischen Sprechtheater dennoch statt: Vor allem in der Faszination, echten Menschen dabei zuzusehen, wie 2.2 sie eine einzigartige, an keinem Abend komplett gleiche Aufführung‌ abliefern, es ist live und unmittelbar – und immer ein Gruppenerlebnis. Digitale Spiele haben ihr im- mersives Potenzial, ihr Mitfühlen, ihr Jammern und Schaudern schon von vornherein eingebaut. Wenn man sich anschaut, was die Menschen in der Frühzeit der Arcade- Automaten und vor allem der Heimkonsolen faszinierte (→), erzählen sie immer wie- 1.4 GESCHICHTE der von diesem Moment, in dem sie realisierten, dass das Bild auf dem Bildschirm, der Ort, an dem vorher immer ein starres, unbeeinflussbares Programm gelaufen war, sich plötzlich beeinflussen ließ. Mehr noch: Gar nichts erst passierte, wenn man nicht ir- gendetwas tat. Wenn ich nicht aktiv mitmache – Knöpfe drücke, Steuerknüppel be- wege – passiert in der Regel gar nichts. Nun hat das Theater spätestens seit Brechts Radiotheorie, also der Überlegun- gen des Theatermachers, das Radio als Massenmedium seiner Zeit von einem Vertei- lungsapparat zu einem Kommunikationsapparat zu machen, immer auch gerne – mög- licherweise ein wenig neidisch – auf die Potenziale anderer Medien geschielt. Als ab Mitte der 1980er Jahre der Begriff des »postdramatischen Theaters« aufkam, also ei- nes Theaters, das sich von der Vorstellung klassischen Sprechtheaters hin zu einem Theater entwickelte, das begann über sich selbst und gesellschaftspolitische Fragen nachzudenken, zeigte sich, dass im Theater – neben vielem anderen – erstaunlich viel Platz für andere Medien ist. Diese vereinnahmt das Theater problemlos für sich: Über die Jahre hat es den Raum, in dem es agieren kann, stark und über die eigenen Gren- zen hinaus erweitert. Digitale Spiele sind gerade erst an diesem Punkt, an dem ein Medium sich bewusst wird, dass es gar nicht anders kann, als ein Puzzleteil diverser Diskurse zu sein, dass es sich immer auch gesellschaftlich, ästhetisch, politisch, sozi- al verortet, selbst wenn ein einzelnes Produkt das vielleicht sogar ganz explizit nicht möchte. Um es verkürzt zu sagen: Politik aus Spielen herauszuhalten, ist schlicht nicht möglich – so sehr lautstarke Gruppen sich das auch manchmal wünschen mögen (→). 4.1 COMMUNITYS Das Theater hat das für sich spätestens mit dem postdramatischen Theater erkannt und produktiv zu nutzen gewusst, um über sich selbst, die eigenen Möglichkeiten oder die eigenen Mittel – auch mit dem Einsatz der Mittel anderer Medien – nachzuden- ken. Nicht, dass digitale Spiele, vor allem kleinere Produktionen, sogenannte »Indie- INDEPENDENT Spiele«, (→) wie z. B. Open World: The Open World Game (2019) oder Kentucky Route 6.5 GAMES Zero (2013) das nicht auch erkannt hätten oder tun – nur ist diese Tradition, weil digitale Spiele schlicht als Medium noch nicht so alt sind und manchmal auch finanzielle Inte- ressen Experimente eher behindern, in der Produktion nicht so stark präsent. Dennoch haben digitale Spiele ihren Raum stetig erweitert – man kann das an zwei Dingen sehr gut festmachen. Das eine ist die Entwicklung der Controller: Ein klassischer Joystick hatte einen beweglichen Steuerknüppel und wenige Knöpfe. Über die Jahre sind im- mer mehr Knüppel und Knöpfe – im Prinzip also Handlungsmöglichkeiten – dazu ge- kommen. Ein aktueller Controller für die Spielkonsole Xbox One hat zwei Steuerknüp- pel, zehn Knöpfe und ein Steuerkreuz. Gleichzeitig sind die Welten, durch die man sich

KUNST & KULTUR bewegen kann, immer offener geworden, immer größer und so sind auch die Hand- lungsmöglichkeiten stetig gewachsen und die Grenzen dessen, was man innerhalb des SCHNITT- STELLEN 1.5 Spiels tun kann, in immer weitere Ferne gerückt (←). In diesem Bestreben nach Erweiterung treffen sich Theater und digitaleSpiele ­ – je nachdem, aus welcher Richtung man schaut, auf unterschiedlichste Weise. Digi- tale Spiele nicken gerne einmal als Gruß – von einem stark immersiven Medium zum anderen – in Richtung des Theaters. Foul Play (2013) mischt Kampfspielmechaniken mit Theaterinteraktion: Die Lebensenergieleiste ist ein »Mood-o-Meter«; je bühnen- tauglicher die Gegner verprügelt werden, desto höher steigt es. Wenn es auf Null fällt, muss die Szene noch einmal gespielt werden. In Red Dead Redemption Ⅱ ist das The- ater in einer der erkundbaren Städte im Spiel, Saint Denis, ein sozialer Ort – es geht hier nicht nur um die Auf‌führung, die sich eher im Bereich des unterhaltenden Bou- levardtheaters abspielt und auch Filmvorführungen beinhaltet, sondern darum, was zwischen Publikum und Performer passiert. In der Assassin’s-Creed-Reihe (seit 2007) gibt es öfter Missionen, die in Theatern spielen: In Assassin’s Creed Ⅲ (2012) muss sich die Hauptfigur durch die Bühnengestänge des Theatre Royal in London hangeln, wäh- rend eine Aufführung‌ von »The Beggars Opera« (1728) läuft, die nicht nur Brechts »Dreigroschenoper« (1928) inspirierte, sondern auch gleich das Thema für das Spiel und nachfolgende Teile setzt: Ungleichheit zwischen arm und reich und die Unmög- lichkeit, diese Ungleichheit aufzulösen oder zumindest zu beleuchten. In Assassin’s Creed Odyssey (2018), das im antiken Griechenland und Assassin’s Creed Origins (2017), das im alten Ägypten spielt, gibt es diverse Theatermissionen. Meistens zielen sie auf die politische Sprengkraft des Theaters ab: Es müssen Schauspieler befreit, Dramen- texte wiederbeschafft und Zensoren umgangen werden, damit das Theater hier als romantisiert-demokratisches Medium Missstände, teilweise mit einer Spielfigur auf der Bühne, aufdecken oder ansprechen kann. Ein modernerer, komplexerer Ansatz findet sich inKentucky Route Zero. Das Spiel ist in fünf Akte bzw. Episoden geglie- dert, zwischen denen kleinere Zwischenspiele angesiedelt sind. Das Zwischenspiel »The Entertainment« bietet mit der gleichnamigen Inszenierung etwas, das an »War- ten auf Godot« (1953) erinnert: In einer Bar warten einige Gäste darauf, dass endlich die an dem Abend versprochene Band auftaucht. Spieler und Spielerinnen sind auf der Bühne in der Rolle eines schweigsamen Gastes der Bar, durch dessen Blickrich- tung Licht- und Toneinsätze der Inszenierung begrenzt gesteuert werden, die Dia- loge durchgeklickt, Kritiken gelesen und Kommentare diverser an der Inszenierung Beteiligter angesehen werden. Tatsächlich erzählt das Spiel sehr exakt von Inszenie- rungsmechanismen und -ideen, wie sie im Freien Theater vorkommen könnten. Und erklärt – über das Bühnengeschehen hinaus – eine Inszenierung von der Idee über die Produktion bis zur Premiere und darüber hinaus, um die Geschichten der Haupt- figuren des Spiels anzureichern. Damit zeigt das Spiel im Prinzip, was digitale Spie- le immer versuchen, wenn sie sich Theater annehmen: Ein freundliches Nicken in Richtung des anderen, hochimmersiven Mediums. Was auffällt:‌ Die Antagonisten der Spiele haben in der Regel kein Theater, nutzen allerdings häufig das Fernsehen. The- ater ist in digitalen Spielen oft eher demokratisch, Fernsehen das Mittel zur Kontrolle.

070 —— 071 Andersherum sieht es ein wenig komplizierter aus: Wo digitale Spiele meist eher in- haltlich Bezug nehmen, arbeiten sich viele, vor allem Freie Theater an Mechanismen aus digitalen Spielen ab, und das in einer großen Bandbreite. Während das Thema – 2.2 oder besser: der Themenkomplex – Games und Theater vor einigen Jahren verstärkt durch Feuilletons und spezialisierte Theaterpublikationen geisterte, ist es spätestens seit 2016 in dieser Hinsicht relativ stumm geworden: Gruppen haben sich etabliert, neue Mechanismen und Ideen sind schon gar nicht mehr so neu, sondern schlicht Teil des Repertoires und des Handwerks geworden. Regisseure und Regisseurinnen wie das Duo Vegard Vinge und Ida Müller oder Łukasz Twarkowski lassen sich von der Äs- thetik der digitalen Spiele beeinflussen. Andere, wie die Gruppe Extraleben mit »Yet Another World« (2013), veranstalten Machinima-Theater – oder, wie Theater der Zeit es euphemistisch nennt: »Digitales Puppentheater«, also Inszenierungen, in denen Fi- guren im Spiel wie Puppen in einer Puppentheater-Inszenierung gespielt werden –, zum Beispiel in Grand Theft Auto Ⅳ (2008). Gruppen wie machina eX im deutschspra- chigen Raum oder Punchdrunk in Großbritannien gehen seit einigen Jahren schon einen Schritt weiter und begreifen das Publikum nicht mehr als Zuschauer, sondern casten es gleich direkt als Spieler, die Räume erkunden müssen, Rätsel lösen – eben sich keine Geschichte erzählen lassen, sondern sie sich selbst erzählen. So, wie die Spielerinnen und Spieler digitaler Spiele es schon immer getan haben. Für Theater als Medium, das immer schon live, unmittelbar und immersiv war, das sich auch länger schon für Experimente jenseits des Theaterraums interessierte, ist das eine erstaunlich passende Entwicklung. Allein durch Anwesenheit ist das Pub- likum im Theater ja sowieso immer auch ein wenig Performer – auf jeden Fall Teil der Vorstellung. Ihm dann auch eine Aufgabe zu geben, ist nur konsequent. So erweist sich auch – und tatsächlich besonders – in Bezug auf digitale Spiele das Theater als Medi- enmaschine, in deren Räderwerk auch die Zahnräder anderer Medien gut greifen. Da- mit hat sich Theater die Offenheit geschaffen, die digitale Spiele über die Jahre für sich entdeckt haben – größere Welten, mehr Handlungsmöglichkeiten – und betrachtet mit diesen neuen Mitteln das Publikum als Menschen, die eine Geschichte im Theater stärker oder wenigstens anders erfahren wollen. Wenn allerdings Theatermacher und Theatermacherinnen sich stark an Mechanismen aus digitalen Spielen bedienen und Spielräume wie machina eX gestalten, ändert sich auch ihre Rolle; weg von der klassi- schen Rolle eines Regisseurs oder einer Regisseurin hin zu etwas, was man vielleicht Leveldesign nennen könnte, also der Kunst, dem Publikum eine Umgebung zu bau- en, in der es spielen und erfahren kann. So entsteht ein erweiterter Erfahrungsraum, wenn man so will, der gleichzeitig offener gestaltet ist und beim Gestalten erfordert, dass das Publikum konsequenter mitgedacht wird. Die Unterschiede zu klassischem Sprechtheater oder auch postdramatischen Formen sind in der Theorie tatsächlich nur marginal. Regisseure und Regisseurinnen haben – siehe »Jammern und Schaudern« – schon immer Erfahrungsräume für ein interagierendes Publikum gebaut. Nur ist der Unterschied in der Praxis natürlich riesig: Geschichten müssen nicht nur nonlinear er- zählt werden, sondern berücksichtigen, was das Publikum tun und Geschichten ent- sprechend gestalten könnte. Darsteller und Darstellerinnen agieren ­weniger als Haupt-

KUNST & KULTUR figuren, sondern mehr wie Nicht-Spieler-Charaktere (engl.: NPCs), mit denen Spieler in digitalen Spielen interagieren können. Eventuelle Wartezeit und Spielregeln müs- 2.2 sen getestet und ausbalanciert, Rätsel überprüft, Beta-Tests – um einen Begriff aus der Games-Entwicklung zu verwenden – durchgeführt werden. Alles muss mit einer Um- gebung abgestimmt werden, die mehr ist als eine Kulisse, die nur von einer Seite ge- sehen gut aussehen muss. Idealerweise muss diese neue Theaterumgebung wie eine gute Umgebung in einem digitalen Spiel, also als eine Art eigener Akteur funktionieren. Was neuere digitale Spiele beherrschen – nämlich Welten zu bauen, deren künstliche Grenzen und Lenkung den Spielern und Spielerinnen möglichst nicht auf‌fallen – ler- nen interaktive Theaterformen erst noch. Sie begreifen diese Formen der Publikums- lenkung als neue gestalterische Freiheit, weil sie eine Möglichkeit bieten, das Publi- kum mehr einzubeziehen. So lernen digitale Spiele und Theater voneinander: Wo sich Spiele gerne als Nachfolger einer idealisierten demokratischen und künstlerisch freien Variante von Theater inszenieren oder dieser zumindest freundlich zunicken, versuchen bestimm- te Theaterformen, das alte Versprechen vom Jammern und Schaudern noch einmal neu und intensiver einzulösen. Es geht um Wände. Um Hallen, um Korridore. Darum, Publikum, Spieler, Spie- lerinnen zu leiten, ohne dass diese das bemerken. Denn wo man an unsichtbare Wän- de stößt, da kann man gar nicht anders, als sich zu fragen, was dahinter liegt.

Literatur ✕ Landwehr, Dominik (Hrsg.): Virtual Reality. Christoph Merian Verlag, Basel 2019 ✕ Quiñones, Aenne (Hrsg.): Gob Squad – What are you looking at? Alexander Verlag, Berlin 2020

072 —— 073 LITERATUR 2.3 LENA FALKENHAGEN

Der Begriff der Literatur urteilt zunächst nicht, im Gegenteil, er ist weit gefasst. Im eigentlichen Sinne beschreibt er zunächst unvoreingenommen schriftlich niederge- legte Zeugnisse. Davon grenzt sich die Diskussion um Literatur als Kunst ab, die von Werken von literarischer Qualität spricht, wenn sie »Literatur« sagt und die Hochlite- ratur von der trivialen Literatur trennt. Letztere zeichnet sich vor allem durch das Vor- handensein eines »Plots«, also eines vorgeplanten Handlungsverlaufs aus, anstatt die Wirklichkeit zu reflektieren und zu betrachten. Als Kunst wird in der Regel eine von BILDENDE 2.1 KUNST vier Disziplinen von Bildender Kunst, Literatur, Musik oder darstellender Kunst ver-

standen (→). Dieser Begriff löst sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts zusehends auf, 2.7 ÄSTHETIK schon Filme, Serien und seit den 1980er Jahren die (Tisch- und Live-)Rollenspiele las- sen sich hier schwer einordnen. Der Literaturbegriff, wie ich ihn für diesen Eintrag verwenden möchte, ist vor allem: vielfältig. Unbequem. Bedeutsam für den Diskurs aktueller Themen. Zum Nach- denken anregend. Manchmal subversiv. Stilistisch überzeugend. Immer großherzig. Für mich ist gute Literatur weder am Format – gedrucktes Buch, Comic, E-Book oder ähnliches – oder am Genre festzumachen – Hochliteratur, Science-Fiction, Kriminal- roman –, sondern zeichnet sich durch die obigen Qualitäten aus, die hier aber nicht erschöpfend gemeint sein sollen. Wechselwirkungen zwischen Literatur und Computerspielen bestehen immer wieder. Das Hamburger Studio Daedalic setzte 2017 Ken Follets »Säulen der Erde« (1989) interaktiv um und widmet sich anschließend mit Der Herr der Lena Falkenhagen ist Ringe: Gollum (voraus. 2021) einer der widersprüchlichsten literarischen Fi- Schriftstellerin, Narrative guren der Fantasyliteratur – dem gleichnamigen Charakter aus »Der Designerin sowie Herr der Ringe« (1954) von J. R. R. Tolkien. Zumindest bei Spielenden Dozentin für Games. ähnlich berühmt ist die »Geralt-Saga« (seit 1990) von Andrzej Sap- kowski, deren Fantasywelt als dreiteilige Reihe von 2007 bis 2015 spielbar gemacht wurde. Die Zahl der Preise, die das polnische Entwicklerstudio CD Projekt Red mit dem dritten Teil The Witcher 3: Wild Hunt (2015) erhielt, übersteigt die 200, und seit der

KUNST & KULTUR vielbeachteten Netflix-Serie mit Henry Cavill von 2019 spielten im Januar 2020 laut Daten der Online-Vertriebsplattform Steam mehr Spielerinnen und Spieler das Spiel 2.3 als in seinem Erscheinungsjahr. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass dieses so erfolgreiche Spiel auf ei- ner Romangrundlage basiert. Romanautoren investieren oft viel Zeit und Liebe zum Detail in den Weltenbau, sodass eine tiefe Stimmigkeit entsteht, die bei der Leser- schaft eine bleibende Resonanz auszulösen vermag. Dies liegt vielleicht auch daran, dass in der »Geralt-Saga« bekannte Märchen behandelt und ihrer verklärenden Rü- schen entkleidet werden. Sapkowskis Welt ist nicht schwarz-weiß gezeichnet, sie lebt von den Grautönen moralischer Entscheidungen – eine Vorlage, die perfekt geeignet GEWALT 2.6 ist für ein Computerspiel, das davon lebt, Entscheidungen in Spielerhand zu legen. KULTUR- POLITIK 5.1 Deutschland tat und tut sich schwer mit Games und der Anerkennung der Tat- GEFÄHRLICHE sache, ob sie denn einen relevanten Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs leisten MEDIEN 5.3 können. In Deutschland beginnt und endet die Debatte um Computerspiele oft zwi- KILLER- SPIELE 5.4 schen den Schlagworten »Killerspiel« oder »Kinderspiel« (←). Computerspiele wer- den oft als Zeitvertreib belächelt – der sie unzweifelhaft auch meist sind –, auf die man sie jedoch nicht mehr beschränken darf. Denn das Spannungsfeld von Compu- terspielen bietet natürlich längst viel mehr, als diese beiden Pole suggerieren. Inzwi- schen gibt es mehr und mehr Computerspiele, die am kritischen gesellschaftlichen Diskurs rund um bedeutsame Themen teilnehmen und hier in nichts anderen Litera- turgattungen nachstehen. Für mich gibt es nicht nur Austauschprozesse zwischen Li- teratur und Games, sondern für mich sind Computerspiele selbst als eine Form von Literatur betrachtungswürdig. Meine Diskussion beginnt, wie so oft, bei Kriegsspie- len, bleibt dort aber nicht stehen. Philip Molodkovets, der Executive Producer des Studios Wargaming.net, mit martialischen Veröffentlichungen wie World of Tanks (2010) und World of Warships (2015), hebt in einem Artikel von James Batchelor im Online-Magazin Gamesworld.biz vom 7. Mai 2020 hervor, diese Spiele hätten den Charakter eines »virtuellen Museums«, indem die Panzer und Kriegsschiffe, die gespielt werden, ebenso historisch und de- tailgetreu abgebildet würden wie möglich. Der Artikel diskutiert, ob Computerspiele denn schon in der Lage seien, dem Krieg gerecht zu werden. Um dem Fazit des Arti- kels vorzugreifen: Batchelor kommt zu dem Schluss, dass man das noch nicht errei- chen könne. Die Aussage von Molodkovets ist übrigens nicht ganz korrekt – viele der Panzer im Spiel sind völlig fiktiv, ganze Panzerlinien hinzuerfunden, viele Prozesse ver- einfacht anstatt realistisch simuliert – und man darf hinterfragen, ob eine scheinhis- torisch korrekte Abbildung im musealen Sinne denn schon ein respektvoller Umgang ERINNERUNGS­ KULTUR 3.2 mit dem Thema Krieg in Computerspielen sein soll (←). Jörg Friedrich von Painbucket Games hält im selben Artikel dagegen: »Bei ei- nem Spiel rund um den Zweiten Weltkrieg ist es wichtiger, den Holocaust zu erwäh- nen, statt die Panzer korrekt darzustellen.« Er hat hier natürlich unzweifelhaft recht, auch wenn sich die Frage stellen ließe, inwieweit World of Tanks tatsächlich ein Spiel über den Zweiten Weltkrieg sein möchte. Friedrich sagt in jenem Artikel auch: »Immer, wenn man einen fesselnden Gameplay-Loop erschafft, gibt man den echten Krieg in

074 —— 075 gewisser Weise auf und folgt einer Hollywood-Vorstellung.« Friedrich weiß, wovon er spricht: In dem Spiel Through the Darkest of Times (2020) leitet man eine Widerstands- zelle im Berlin der beginnenden Nazizeit. Through the Darkest of Times ist das erste 2.3 deutsche Spiel, das trotz Nazisymbolik eine Altersfreigabe durch die Unterhaltungs- JUGEND- software Selbstkontrolle (USK) erhielt (→). Die Ankündigung der USK, nun auch sol- 5.5 SCHUTZ che Darstellungen in Computerspielen – wie in Filmen oder anderen Medien – auf SOZIAL- die sogenannte Sozialadäquanz zu prüfen, war durchaus nicht unumstrittenen (→). 3.3 ADÄQUANZ Ich bin froh darum, denn nun können Game Designer den Diskurs um die Na- zizeit, um Faschismus und die Natur einer sich erhebenden Diktatur und den Wider- stand dagegen auch in diesem Medium austragen. Damit wird Computerspielen – als Literaturform – dasselbe Recht eingeräumt, über das andere Medien auch verfügen. Through the Darkest of Times macht dies exzellent. Die Darstellung der Einschränkun- gen von Handlungsoptionen durch die wachsende Überwachung durch die Braun- hemden und die SS, die bedrückende Unsicherheit, ob neu gewonnene Verbündete wirklich zuverlässig auf der eigenen Seite stehen oder sich dem Druck der Macht- haber beugen, fügt der Auseinandersetzung um das Thema eine weitere Dimension hinzu: die Interaktivität. Nun liegt es aber nicht nur daran, dass Games Interaktivität herstellen, dass sie den Krieg nicht in seiner Gesamtheit – und damit in seiner gesamten Grausamkeit – abbilden können. Keinem Medium wird es gelingen, einem so komplexen Ereignis in seiner Vollständigkeit gerecht zu werden; keinem Buch, keinem Film, keiner Serie und auch keinem Computerspiel. Das Leid und die Gräueltaten, die Gerüche, die Angst, die zwiespältige Natur von Menschlichkeit können von allen Medien nur schlaglicht- artig betrachtet werden. Bestimmte Themen werden herausgegriffen, andere eben nicht. Wieder andere werden in Beziehung zueinander gesetzt. Das ist die Natur von Literatur. Jeder Künstler, jede Künstlerin setzt andere Schwerpunkte und arbeitet an- dere Themen heraus. Krieg wird durch Kunst nie vollständig erlebbar gemacht wer- den können, und das ist gut so. Das gilt für ein Spiel wie This War of Mine (2014) genau- so wie für Erich Maria Remarques »Im Westen nichts neues« (1929), das zum Kanon der Literatur zur Verdeutlichung der Schrecken des Krieges gehört. Auch dieses Buch kann Krieg nur ausschnitthaft beleuchten und so greifbar machen, dass wir den Rest mit der Kraft unserer Fantasie füllen können. Denn das ist die Stärke gut erzählter Ge- schichten: dass sie Emotionen und Empathie in unserem Gehirn auslösen, sodass wir uns in uns eigentlich fremde Situationen versetzen und emotional mitnehmen lassen können. Die Designer von Computerspielen sollten sich hier ihrer Verantwortung be- wusst sein; sich aber auch nicht einem größeren Rechtfertigungszwang unterwerfen, der auf andere Medien nicht angewendet wird. Der Blick auf Computerspiele als bloßes Unterhaltungsmedium ändert sich und gerade in den letzten Jahren lässt sich ein Anstieg von Computerspielen be- obachten, die sich mit gesellschaftsrelevanten Themen beschäftigen. Wer sich auf Spiele wie Papers, Please (2013), This War of Mine, Orwell (2016) oder eben Through the Darkest of Times einlässt, wird erkennen, dass Spiele inzwischen auch und gerade in Deutschland wichtige Themen diskutieren und auf eine Weise erlebbar machen, über

KUNST & KULTUR die andere Medien nicht verfügen. Sie zeigen damit ihre Qualität und ihr erstarkendes Selbstbewusstsein als Literaturgattung in der Wahl ihrer Themen und den Mechani- 2.3 ken, mit denen erzählt wird und die nun Teil des Diskurses werden. Papers, Please versetzt uns in die herzzerreißende Situation, zwischen der Er- nährung der Familie und dem Gehorsam zu unserem autokratischen Staat als Arbeit- geber wählen zu müssen. Orwell macht uns zum Agenten eines Überwachungsstaats, der bewerten muss, welche in Foren, am Telefon oder am Stammtisch geäußerten Pa- rolen tatsächlich auf eine radikalisierte Gesinnung schließen lassen und zeigt die Am- bivalenz von Sprache besser auf als viele theoretische Abhandlungen. This War of Mine zeigt uns die verzweifelte Lage von Zivilisten in einem Kriegsgebiet auf, was sie tun müssen, um zu überleben, und was das mit ihnen auf psychischer Ebene macht. Through the Darkest of Times erläutert neben den Parallelen des aufkommenden rech- ten Gedankenguts in unserer Gesellschaft zum Entstehen des Naziregimes die gesell- schaftlichen Unterdrückungsmechanismen einer Diktatur. Alle diese Erkenntnisse erlangt man selbst, durch eigene Entscheidungen, und geht wie in einem geschützten Bereich den Lernprozess von Problemen durch, denen man im Alltag in der Regel nicht begegnet. Diese Interaktivität ist die große Stärke und die große Schwäche der Computerspiele. Hinter diesem Begriff Interaktivität – in der Branche oft als »Player Agency« beschrieben – verbirgt sich das große Mysterium, wa- rum Spiele uns so betreffen, warum wir sie uns zu eigen machen und warum wir als Spielerinnen und Spieler eine besonders sorgfältige Auswahl treffen. Denn diese Inter- aktivität ist die große Besonderheit der Literaturgattung Computerspiele, die sie von anderen Erzählformaten unterscheidet, die sowohl den Design- wie den Rezeptions- prozess komplexer macht und ein direktes Engagement, eine aktive Auseinanderset- zung mit den diskutierten Themen erfordert. Ein Beispiel: 2014 erschien bei Telltale Games ein Spiel (bzw. eine kleine Serie von Spielen) zu George R. R. Martins »Game of Thrones« (seit 1996), das eine eigene Geschichte in der Welt von Martin erzählt. Wie in den Büchern bzw. der HBO-Serie folgt man verschiedenen Figuren durch die düstere Welt von Westeros, die von Intri- gen und Krieg erschüttert wird. Eine dieser Figuren ist ein junger Lord, dessen Vater zu früh starb, und der nun in jungen Jahren Entscheidungen treffen muss, deren Aus- wirkungen er eigentlich kaum absehen kann. Diese Entscheidungen trifft die Spielerin, der Spieler vor dem Bildschirm für den jungen Lord. Das Spiel gibt Feedback in Form von kleinen eingeblendeten Nachrichten: »[Diese Figur] wird sich diese Entscheidung merken«. Dies fördert das Gefühl der Einflussnahme und der Verantwortung der Ent- scheidungen, die man gerade im Namen der Figur gefällt hat. Das Format des Spiels wurde von vielen eher als interaktive Geschichte be- lächelt – die große Nähe zur literarischen Vorlage wird also von manchen eher nega- tiv ausgelegt –, denn die Mechanik ist sehr reduziert, die Möglichkeiten der Einfluss- nahme auf die Handlung, eben die »Player Agency«, damit auch. Das Spiel behauptet sogar zum Teil nur einen besonderen Einfluss von Spielern auf die Erzählung, denn eine Analyse ergab, dass die Auswirkungen der meisten dieser gemerkten Entschei- dungen im Spiel weit geringer sind, als das Spiel nahelegen will. Doch das weiß man

076 —— 077 nicht, wenn man vor dem Bildschirm sitzt. Die Entscheidungen gerade in der Storyline­ des jungen Lords sind gut gewählt, man glaubt, dass man die Zukunft dieses Jun- gen in seinen Händen hält und reflektiert, was am besten für ihn wäre. Bei mir haben 2.3 sich diese Entscheidungen so aufgeladen, dass ich den Dolch, den der junge Lord schließlich in den Magen bekam, beinahe am eigenen Leib zu spüren meinte. Was ist geschehen? Die Tatsache, dass ich diese Entscheidungen getroffen habe, erhöhten das Ge- fühl der Verantwortung für die fiktive Figur. Damit ist man als Spielerin vor dem Bild- schirm schlussendlich auch »schuld«, wenn der Figur etwas zustößt. Das sind wir von Computerspielen nicht gewohnt – viele Formate vermeiden es explizit, den Spielerin- nen und Spielern falsche Entscheidungen zu unterstellen. Doch es fühlt sich zunächst wie eine falsche Entscheidung an, denn der Lord ist ja eben wegen der eigenen Wahl gestorben, oder? Diese Form von Einbindung der Entscheidungen der Rezipienten ha- ben sich in der Form von sogenannten »Choose-Your-Own-Adventures« (auch »Spiel- buch«, engl.: Game Book) auch in Textform durchgesetzt – ich denke da an die »Ein- samer Wolf«-Bücher, die 1984 erstmals erschienen –, sind von Computerspielen aber durch die Automatisierung der Prozesse zur Kür erhoben worden. Die fehlende Linearität von interaktiven Formaten, also der beeinflussbare Ausgang, beteiligt Spielerinnen und Spieler – weg von der mechanischen Ebene des Versagens, das sich meist im Neustart äußert – auch an der lesbaren Bedeutungsebe- ne der Erzählung. Spiele mit starkem Narrativ legen einen Teil der Erzählgewalt in die Hände der Menschen vor dem Bildschirm. Bei Papers, Please heißt, das Spiel formal zu gewinnen – viele Punkte zu sammeln, die Vorgaben zu erfüllen –, auf moralischer Ebene einen Misserfolg zu erzielen, denn man unterstützt ein unmenschliches System. Dem Spielenden wird hier also weit mehr in die Hand gelegt als nur die Erzählhoheit, man kann hier von einer Verantwortung sprechen. Damit politisieren die Spiele aber natürlich unweigerlich ihren Inhalt und daran spaltet sich dann auch politisch ihr Pub- likum. Ich sehe aber in dieser Form, die Verantwortung für den Verlauf der Handlung und damit für das Schicksal der Figuren in die Hände von Spielern zu legen, ein emo- tional mächtiges und beeindruckendes Werkzeug, das nur Computerspielen zur Ver- fügung steht. Sie damit als eine besonders komplexe, aber hochinteressante Form der Literatur anzuerkennen, erscheint mir zwingend, besonders, da sie sich mehr und mehr zum Massenmedium entwickeln, mit dem sich Millionen von Menschen täglich ausei- nandersetzen. Interaktive Geschichten zeigen uns Seiten unserer Wirklichkeit, unse- res menschlichen Lebens und Wertens auf eine Weise auf, die kein anderes Medium herauszuarbeiten imstande ist.

KUNST & KULTUR 2.3

Literatur ✕ Batchelor, James: Can video games depict war responsibly? In: gamesindustry.biz 2020: gamesindustry.biz/articles/ 2020-05-07-war-and-video-games ✕ Kücklich, Julian: Perspectives of Computer Game Philology. In: Game Studies 3 (1) 2003: gamestudies.org/0301/kucklich ✕ Wolf, Mark J.P.: Building Imaginary Worlds – The Theory and History of Subcreation. Taylor & Francis, New York/London 2012

078 —— 079 FILM & SERIE 2.4 ANDREAS RAUSCHER

Je nach Standpunkt und Vorlieben gestalten sich die Wechselspiele zwischen Filmen, Serien und Computerspielen denkbar unterschiedlich. Für die Enthusiasten virtuel- ler Spielräume bilden sie eine Reihe von noch einzulösenden Versprechen, für kultur- konservative Puristen hingegen gelten sie als brisante Medienkonkurrenz. Auf der ei- nen Seite, die man auch mit der Medienwissenschaftlerin Marie-Laure Ryan als den »Holodeck-Mythos« bezeichnen könnte, steht als langfristiges Ziel die umfassende Immersion. Das Eintauchen in eine sämtliche Sinne ansprechende, interaktive virtu- elle Welt findet sich als Idealbild in den »Star Trek«-Serien (ab 1966) Andreas Rauscher ist um das Raumschiff Enterprise und seine Nachfolger. Seit der »Next Privat­dozent für Medien- Generation« (1987—1994) mit Patrick Stewart als Captain Jean-Luc wissenschaft an der Picard kann die Besatzung der Enterprise auf eine perfekte Simulati- Universität Siegen, onsmaschine zurückgreifen. Das Holodeck lässt sämtliche Szenarien Journalist und Kurator. aus Kunst- und Kulturgeschichte virtuelle Wirklichkeit werden, von Sherlock Holmes Abenteuern im viktorianischen London über das Italien der Renais- sance bis hin zur Lounge in Las Vegas. Im Jahr 1997 erklärte die US-amerikanische Medienwissenschaftlerin Janet Murray in ihrer Studie »Hamlet on the Holodeck« die Simulationsmaschine sogar zur Zukunft des Geschichtenerzählens im Cyberspace. Auf der anderen Seite finden sich Kritiker, die nicht nur den virtuellen Welten und dem non-linearen Geschichtenerzählen gegenüber skeptisch eingestellt sind. Sie fürchten sogar eine Ablösung des traditionellen Films durch die Computerspiele. Un- ter Rückbezug auf ein relativ einseitiges Verständnis von Film als unmittelbares Ab- bild der Wirklichkeit beziehen sie sich auf das seit Jahrzehnten immer wieder gerne ausgerufene Ende des Kinos. Ein grundlegendes Missverständnis dieser »post-kine- matographischen« Position findet sich bereits in einer Polemik des 2013 verstorbe- nen Filmkritikers Roger Ebert. Zwar zeigte er sich in seinen Rezensionen als sehr ver- sierter und aufgeschlossener Kenner der Filmgeschichte, der sich sonst auch für die vielfältigsten Formen der Popkultur begeistern konnte. Doch 2010 erklärte er in ei- nem kontrovers aufgenommenen Artikel in einseitiger Entschlossenheit: Es habe bis-

KUNST & KULTUR her noch kein Computerspiel gegeben, dass es wert gewesen wäre, von ihm gespielt zu werden. Computerspiele seien im Unterschied zum Film keine Kunst und könnten BILDENDE KUNST 2.1 es auch niemals sein (←). Sie wären nicht von dem individuellen Blick eines künstle- risch ambitionierten Regisseurs geprägt. Auf dieser Basis eine ganze Kulturtechnik, die zu den lebendigsten medialen Phänomenen, wenn nicht gar zu den innovativsten audiovisuellen Kunstformen der ÄSTHETIK 2.7 Gegenwart zählt (←), abzulehnen, erscheint reichlich einseitig, denn Eberts negati- ver Haltung fehlt es an eigener Anschauung. Ein Gespür für die Besonderheiten des Mediums ergibt sich erst aus der Interaktion mit dem Spiel durch die Möglichkeiten des Gameplays.

Interaktive Filme Jedoch erweist sich der Abgleich mit der eigenen Anschauung in Sachen Film und Games im Hinblick auf beide Positionen häufig als ernüchternd. Weder Holodeck-My- thos, noch »Post-Kinematographie« haben bisher überzeugende und wirkungsmäch- tige Vertreter einer Synergie aus Spiel und Film benannt. Unaufgeregter betrachtet er- weist sich die Geschichte des interaktiven Films als eine Reihe einzelner künstlerischer Experimente und wiederkehrender kulturindustrieller Trends. Im Jahr 1967 präsentier- te der tschechische Regisseur Radúz Činčera auf der Weltausstellung in Montreal den gemeinsam mit Jaroslav Frič und Pavel Juráček konzipierten Kino-Automaten »Man and his House« (Člověk a jeho dům). Das Publikum konnte an bestimmten Stellen per Knopfdruck entscheiden, wie sich der überforderte Protagonist während eines in ei- nem Hochhaus ausgebrochenen Feuers verhalten soll. Mithilfe mehrerer Projektoren wurden die entsprechenden Szenen eingespielt. Trotz der vier Entscheidungen, die das Publikum treffen konnte, mündeten alle Handlungsfäden in das gleiche satirische Ende. Bereits hier zeigte sich, dass die Illusion von Handlungsfreiheit wichtiger ist als die tatsächliche Interaktivität. Im Jahr 1983 wurde der Spielautomat Dragon’s Lair (1983) als kommerzielle Va- riante eines interaktiven Animationsfilms produziert. Die Animationen wurden von dem ehemaligen Disney-Zeichner Don Bluth angefertigt. In ihrer Qualität entsprechen sie einem kurzen Trickfilm. Wie die zu Beginn der 1990er Jahre weit verbreiteten CD- Rom-Spiele mit ausgedehnten Filmsequenzen brachte Dragon’s Lair bereits verschie- dene Vorzüge und Fallgruben des Formats interaktiver Film auf den Punkt. Wie die späteren Cutscenes, filmische, nicht-interaktive Zwischensequenzen, die als Überlei- tung in Spiele eingebaut werden, und die sogenannten »Quick-Time-Events«, zu de- nen in einer bestimmten Reihenfolge mit dem richtigen Timing die entsprechenden Knöpfe auf dem Controller gedrückt werden müssen, bieten die interaktiven Film- Spiele zwar visuell eindrucksvolle Einschübe. Bei der ersten Betrachtung können die kurzen Überleitungen, visuellen Effekte und Dialoge durchaus als Belohnung emp- funden werden. Spätestens beim nächsten Durchgang, in dem die Spieler eigentlich nur das nächste Level erreichen wollen, erinnern sie in ihrer Monotonie jedoch eher an die Qualen des in einer Zeitschleife gefangenen Bill Murray im Film »Groundhog Day« (1993) als an die interaktiven Freiheiten des Holodecks.

080 —— 081 Filme als Spiele, Spiele als Filme Verschiedene Game-Adaptionen zu erfolgreichen Filmen scheitern seit den frühen 1980er Jahren immer wieder daran, dass sie durch einen viel zu knapp bemessenen 2.4 Produktionsablauf und die einschränkenden kommerziellen Vorgaben des Marketings lediglich den uninspirierten Aufguss eines gerade erfolgreichen Spielkonzepts präsen- tieren, ergänzt um das Logo des zu vermarktenden Films. Umgekehrt geben sich bis auf einige erfreuliche Ausnahmen wie die »Resident Evil«-Reihe (2002—2016) von Paul W. S. Anderson und »Silent Hill« (2006) von Christophe Gans und Roger Avary die meisten Verfilmungen von Computerspielen zu wenig Mühe, einen eigenen filmischen Ansatz zu finden. Im Austausch zwischen Filmen und Spielen erscheint der Transfer der audiovisuellen Erfahrungen und der ästhetischen Erlebnisse weitaus zentraler, als die meistens zum Scheitern verurteilte, exakte Übernahme der Handlung. Nicht die Immersion, sondern die ausdifferenzierten Formen der Involvierung bilden, wie die Medienwissenschaftler Britta Neitzel und Gordon Calleja treffend be- tonen, den Schlüssel zu sinnerfüllten Spielerlebnissen. Eine involvierende Beteiligung der Spieler kann über die unterschiedlichsten Motivationen erfolgen. Sie reicht, wie in den zahlreichen Star-Wars-Spielen (seit 1982), von der neugierigen Erkundung der fil- mischen Welt außerhalb des auf der Leinwand gezogenen Rahmens über das nervö- se Versteckspielen mit dem »Alien« (1979) in einem unheimlichen Raumschiff bis hin zur selbstironischen Variation der filmischen Handlungsabläufe in denIndiana-Jones- Adventures (1989—1992), in denen sich der abenteuerlustige Archäologe auch an seinen Gegnern als Verkäufer für modische Lederjacken vorbeimogeln kann. Die überzeugendsten Adaptionen gelingen in Spielen, die nicht unter dem Druck eines unmittelbar bevorstehenden Starttermins stehen. Für das Horrorspiel Alien: Isolation (2014) konnten die Entwickler im Level-Design auf Entwürfe zurückgrei- fen, die Ende der 1970er Jahre für Ridley Scotts stilprägende Kombination aus Sci- ence-Fiction- und Horrorfilm entworfen, aber im Film nicht umgesetzt worden waren. Das tragischste Beispiel für die Verfehlungen eines allzu ambitionierten Film- Spiels bietet nach wie vor das 1983 in der Wüste von New Mexico vergrabene und 2014 als medienarchäologische Ausgrabung wieder entdeckte Spiel E.T. (1982). Im Un- terschied zum ausgesprochen erfolgreichen Film von Steven Spielberg scheiterte das ambitionierte Vorhaben des Designers Howard Scott Warshow, die Erfahrung von Ein- samkeit aus der Sicht des gestrandeten Außerirdischen zu vermitteln. Die viel zu knap- pe Produktionszeit von vier Wochen resultierte in einem unfertigen Spiel, das sich zum kommerziellen Fiasko entwickelte. Die nicht verkauften Exemplare landeten im Wüs- tensand von Alamogordo und wurden zum Pop-Mythos.

Von der Filmszene zum Gamelevel Seit den frühen Tagen der Arcade-Automatenspiele ermöglichen filmische Formen und Spielsituationen eine flexible Austauschbeziehung, die mit dem Erfüllen und Un- terwandern von Genregepflogenheiten, sowie dem bewussten Zeichenspiel mit kul- turellen Bildtraditionen, und später auch mit der Konfiguration erzählerischer Hand- lungsmuster und Versatzstücke gekoppelt ist. Bereits 1975 bezog sich der von Atari

KUNST & KULTUR produzierte Spielautomat Shark Jaws (1975) auf Steven Spielbergs Blockbuster um die GEWALT 2.6 Jagd auf einen weißen Hai und das von Roger Cormans und Paul Bartels gleichnami- GEFÄHRLICHE MEDIEN 5.3 gen Film inspirierte Spiel Death Race (1976) sorgte bei seiner Veröffentlichung für eine KILLER- der ersten Debatten um Gewalt in Computerspielen (←). SPIELE 5.4 Die Filme von Steven Spielberg und George Lucas wie z. B. »Star Wars« (1977) und »Raiders of the Lost Ark« (1981) markierten Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre nicht nur eine stilbewusste Rückkehr zum Kino der Attraktionen, das die frühe Filmgeschichte auf den Jahrmärkten der 1890er Jahre prägte. Die Konzen- tration auf einzelne elaborierte Standardsituationen wie der Kampf um den imperi- alen Todesstern, die Flucht durch ein Asteroidenfeld, der mit zahlreichen tödlichen Fallen gespickte Hindernis-Parcours durch einen geheimnisvollen Inka-Tempel oder die halsbrecherische Verfolgungsjagd in Minen-Loren rund um den Tempel des Todes korrespondiert unmittelbar mit dem auf kurze, wiederholbare Szenen ausgerichteten Design der Spielautomaten. Wie die Automaten der frühen Filmgeschichte, die gegen den Einwurf eines Groschen kurze Filmszenen vom Zaubertrick über exotische Tänze bis hin zu Eisenbahn-Rundfahrten bieten, lassen die Automatenspiele zur ersten Star- Wars-Trilogie (1983—1985) und zu Indiana Jones and the Temple of Doom (1985) die Spie- ler Schlüsselszenen des Films immer wieder als Geschicklichkeitsspiel durchlaufen.

Cineludische Formen Standardsituationen, Genreszenarien und medienübergreifende Erzählwelten bilden graduelle Abstufungen cineludischer Formen (cine = Film, ludus = Spiel). Sie beziehen sich nicht mehr auf einen unmittelbaren Adaptionsprozess. Stattdessen fokussieren sie sich auf den mit einer Situation verbundenen choreographischen Aufbau im Sinne der filmischen Inszenierung, sowie auf die atmosphärische Erwartungshaltung gegen- über einem Setting und schließlich auf das dramaturgische Arrangement filmisch ge- prägter Szenarien und Handlungsabläufe innerhalb einer simulierten Spielwelt. Die überlegte Abfolge einzelner Spielsituationen, die sich mithilfe der Spei- cherfunktion auf einem Computer oder einer Konsole im Unterschied zur Spielhallen- Situation in mehreren Sessions absolvieren lässt, ermöglicht in den 1980er und 1990er Jahren den Anschluss an bekannte Filmgenres. Mit Jordan Mechners Prince of Persia (1989) wird wie später in den Tomb-Raider-Spielen (seit 1996) und der Assassin’s-Creed- Reihe (seit 2007) die Durchquerung des Szenarios zum Handlungsablauf in Echtzeit. Das Spektakel der abenteuerlichen Attraktionen verwandelt sich in eine Plansequenz, lan- ge Filmeinstellung ohne Schnitte, ironischerweise eine Inszenierungstechnik, die in der Filmgeschichte ursprünglich mit ambitionierten Autorenfilmen assoziiert wurde.

Die Kamera in der Hand der Spieler In den Open-World-Spielen der The-Elder-Scrolls-Rollenspielreihe (seit 1994) wie Oblivion (2006) und Skyrim (2011) und den epischen Western-Spielen der Red-Dead-Redemption- Reihe (2010—2018) wird stellenweise die Kontrolle der filmischen Mittel und dadurch die ästhetische Eigenverantwortung an die Spieler übertragen. Das Fenster zur Welt aus der klassischen Filmtheorie wird in den weit verzweigten und eigendynamischen Er-

082 —— 083 zählwelten zur mobilen Kamera für den eigenen Heimgebrauch. Mithilfe der Aufzeich- nungsoption neuerer Konsolen und PCs können auf diese Weise eigene filmische Va- rianten entstehen, die anschaulich verdeutlichen, dass es nicht um die Verdrängung 2.4 filmischer Ausdrucksformen, sondern deren Aneignung und kreative Transformation geht. Entsprechend sollte diese spielerisch-gestalterische Gelegenheit zur Ausdiffe- renzierung und Vertiefung von Medienkompetenz, die in vielen Lern- und Lehrkonzep- LET’S PLAY & ten nach wie vor weitgehend vernachlässigt wird, genutzt werden (→). 4.2 STREAMING Computerspiele bedeuten nicht das Ende des Kinos. Vielmehr aktualisieren sie dessen Weltentwürfe und variieren in den besten Momenten dessen künstlerische Ausdrucksformen. Ebenso wie die überzeugendsten von Filmen inspirierten Spiele eher Bezug auf Genres und Stilformen nehmen, imitieren die gelungensten filmischen Reflexionen über Computerspiele, darunter David Cronenbergs philosophischer Sci- ence-Fiction-Film »eXistenZ« (1999) und Doug Limans Zeitschleifen-Thriller »Edge of Tomorrow« (2015), gerade nicht einfach die Szenarien der Computerspiele. Sie set- zen diese in einen filmischen Kontext und initiieren ein bewusstes Wechselspiel zwi- schen Film und Game. Im Unterschied zum alles absorbierenden Holodeck-Mythos setzen sie auf den bewussten Einsatz der medialen Ausdrucksformen. Darin besteht sowohl die besondere kulturelle Relevanz, als auch das anhaltende künstlerische Po- tenzial filmischer Spielformen sowohl vor, nach und im Kino, als auch in den eigen- dynamischen Spielfeldern der Games.

Literatur ✕ Brookey, Robert Allan: Hollywood Gamers. Indiana University Press, Bloomington 2010 ✕ Deutsches Filminstitut; Lenhardt, Eva; Rauscher, Andreas (Hrsg.): Film & Games. Ein Wechselspiel. Bertz + Fischer, Berlin 2015 ✕ Kallay, Jasmina: Gaming Film. How Games are Reshaping ­ Contemporary Cinema. Palgrave MacMillian, London 2013 ✕ King, Geoff; Krzywinska, Tanya (Hrsg.): ScreenPlay. Cinema/ Videogames/Interfaces. Wallflower Press, London 2002 ✕ Rauscher, Andreas: Spielerische Fiktionen. Transmediale Genre- konzepte in Videospielen. Schüren, Marburg 2012

KUNST & KULTUR 2.5 MUSIK MELANIE FRITSCH

Ob Konsole, Arcade-Automat, Heimcomputer oder Mobilgeräte wie Smartphones SCHNITT- STELLEN 1.5 oder spezielle, tragbare Spielhardware (←): Für alle ließe sich eine eigene Geschich- te der Computerspielmusik erzählen. Innerhalb der mittlerweile über ein halbes Jahr- GESCHICHTE 1.4 hundert andauernden Computerspielgeschichte (←) haben sich verschiedene Kon- ventionen und spezielle Kompositionsweisen entwickelt, um Spielern auf all diesen Plattformen und für alle möglichen Spielgenres auch in musikalischer Hinsicht mitrei- ßende Spielerlebnisse zu bieten. Über Computerspielmusikgeschichte wird dement- sprechend häufig zunächst als Technikgeschichte gesprochen: Während frühe Auto- maten, Konsolen und Heimcomputer mit ihren jeweiligen Soundchips nur piepsende Töne erzeugten, können heutige Computerspielmusikkomponisten vollorchestrale, in- teraktive Soundtracks im Stile großer Hollywoodfilme liefern, die sich dank leistungs- starker Hardware und ausgeklügelter Software-Lösungen dem Spielgeschehen an- passen und auf die Handlungen des Spielers reagieren können. Tatsächlich hat sich seit Pong (1972), Western Gun/Gun Fight (1975) oder Space Invaders (1978) im Bereich der Computerspiel- und Soundtechnik so einiges getan. Je- doch hat die seit nunmehr über zehn Jahren vorangetriebene Ludomusikologie, de- ren Akteure sich auf die Erforschung der Computerspielmusik spezialisiert haben, aufgezeigt, dass es im Feld der Computerspielmusikgeschichte noch viel mehr zu entdecken gibt. So schufen beispielsweise spezialisierte Komponistinnen und Komponisten wie Junko Ozawa, Rob Hubbard, Yoko Shimomura, Koji Kondo oder Chris Hülsbeck in den frühen 1980er Jahren komplexe, maßgeschneiderte Kompositionen für Com- puterspiele und holten mit ausgeklügelten Programmiertricks oder selbst kreierten technischen Lösungen bis dahin für undenkbar gehaltene Klänge aus der vorhande- nen Hardware heraus. Ihre Musik war es, die die erste Generation von Computerspie- lern bei ihren Abenteuern in digitalen Spielwelten begleitete und dabei zugleich de- ren Musikgeschmack mitprägte. Viele Spieler fanden außerdem Ansporn für eigenes musikalisches Schaffen und auch Musiker ließen sich von den faszinierenden Klang-

084 —— 085 welten inspirieren. Schon in den späten 1970ern erreichte die Computerspielmusik auf diese Weise ein Publikum jenseits der Spiele selbst und hatte nachhaltigen Einfluss auf andere musikalische Genres. 2.5 Dieser Beitrag konzentriert sich nach einem kurzen historischen Überblick ins- besondere auf diesen letzten Aspekt, um die (musik)kulturelle Bedeutung von Com- puterspielmusik anhand einiger Beispiele zu skizzieren.

Geschichte im Schnelldurchlauf Hatte das von Atari entwickelte Tennisspiel Pong mit seinen analog erzeugten »Bip«- Tönen das Computerspielen international populär gemacht, war es Tomohiro Nishika- dos Arcade-Spiel Western Gun/Gun Fight, das als erstes eine kurze Melodielinie ent- hielt: Der Tod einer Spielfigur, desAvatars , wurde von einer einstimmigen Version von Frédéric Chopins »Trauermarsch (1839/1840)« begleitet. Auch für andere frühe Arca- de-Spiele war die Verwendung klassischer Musik üblich, da sie lizenzfrei verwendet werden konnte und die Einstellung eines Komponisten nicht erforderlich war. Die Mu- sik musste außerdem in Programmcode für den PSG (Programmable Sound Genera- tor) der Maschine geschrieben werden, weshalb sie in der Regel von einem Program- mierer erstellt wurde. Das 1978 von Taito auf den Markt gebrachte Arcade-Spiel Space Invaders bot erstmals einen sich verändernden Soundtrack: Je schneller sich die feind- lichen Alienraumschiffe bei fortschreitendem Spielverlauf bewegten, desto mehr be- schleunigte auch der Soundtrack. Das Labyrinth-Rennspiel Rally- (1980) war das erste Spiel, das mit einer durchgängig laufenden, mehrstimmigen Musiksequenz (Loop) un- terlegt war. Doch trotz der Erfolge von Space Invaders und nachfolgender Meilenstei- ne wie Pac-Man (1980), Frogger (1981) oder Donkey Kong (1981), geriet die westliche Games- Industrie 1983 in eine Absatzkrise. Eine japanische Firma nutzte die Chance, nach Erfolgen im Arcade-Bereich nun den US-amerikanischen und europäischen Konsolen- markt zu erobern: Nintendo brachte 1985 sein Nintendo Entertainment System (NES) in Nordamerika und ein Jahr später auch in Europa heraus. Die 8-Bit-Konsole – »8-Bit« beschreibt die Leistungsfähigkeit des Prozessors in der Konsole – mit ihrem beson- deren Klang wurde ein Kassenschlager und die für Spiele und Spielreihen wie Super Mario Bros. (1985), The Legend of Zelda (1986), Final Fantasy (1987) und viele andere geschaf- fenen Soundtracks sollten einer ganzen Generation von Spielern im Gedächtnis blei- ben. Zur gleichen Zeit boten Heimcomputermodelle wie der Commodore 64 (C64) mit seinem Soundchip SID (Sound Interface Device) oder der Sinclair ZX Spectrum nicht nur professionellen Computerspielmusikkomponisten ein interessantes Arsenal an kompositorischen Möglichkeiten und Herausforderungen, sondern führten zur Eta- blierung eines eigenen musikalischen Genres, der Chipmusik. Im Bereich der tragba- ren Spielkonsolen sollte Nintendos Game Boy (1989) klanglich Maßstäbe setzen und wird in der Chipmusikszene bis heute gern als Instrument genutzt. Die Einführung der digitalen Schnittstelle für Musikinstrumente MIDI (Musical Instrument Digital Interface) ermöglichte für die nachfolgende Generation der 16-Bit- Konsolen und Heimcomputer im Verlauf der 1980er und Anfang der 1990er Jahre neue musikalische Wege. Sega setzte zum Beispiel bei seiner Konsole Sega Mega Drive auf

KUNST & KULTUR einen vom Progressive Rock inspirierten Sound. Sega brachte mit dem Arcade-Renn- spiel OutRun (1986) zudem den ersten Titel auf den Markt, bei dem Benutzer den Sound- 2.5 track auswählen konnten. Die von Hiroshi Kawaguchi komponierte Musik des Spiels wurde Mitte der 2000er Jahre zu einer wichtigen Inspiration für das elektronische Mu- sikgenre, das als Synthwave, Outrun oder Retrowave bekannt und zum Beispiel in der TV-Serie »Stranger Things« (seit 2016) oder dem Indie-Spieltitel Hotline Miami (2012) aufgegriffen wurde. Im Heimcomputerbereich ist die von Michael Z. Land und Peter McConnell entwickelte iMuse (Interactive Music Streaming Engine) zur Steuerung der spielinternen Musik als ein wichtiger technischer Meilenstein der 16-Bit-Ära zu nen- nen. Sie kam erstmals in Monkey Island 2: LeChuck’s Revenge (1991) zum Einsatz und ermöglichte flexible Übergänge zwischen einzelnen Musikstücken. 1995 kam Sonys PlayStation-Konsole, 1998 Segas Dreamcast-Konsole auf den Markt und beide boten dank ihres CD-ROM-Laufwerks nun die Möglichkeit, ne- ben allen Live-Instrumenten auch Gesang zum Einsatz zu bringen. Entwickler von Musikspieltiteln wie PaRappa the Rapper (1996) oder Rez (2001) experimentierten eifrig mit dieser neuen Heimkonsolen-Technik und schufen innovative musikalische Erleb- niswelten. Parallel machten Spielhallenhits wie Beatmania (1997), ein DJ-Simulations- spiel, oder das Tanzspiel Dance Dance Revolution (1998) das Musikspielgenre Ende der 1990er außerhalb Japans populär. In den Jahren 2000 bis 2010 zogen solche Musik- spiele auch in den USA und Europa eine neue Spielerschaft an. Karaoke-Spielreihen wie SingStar (2007—2020), vor allem aber die Rockstarsimulation Guitar Hero (2005) wur- den nicht mehr nur zu Hause, sondern in Kneipen, Bars und speziell eingerichteten, sogenannten »Gaming Lounges« gespielt. Heute sind in Computerspielen alle musi- kalischen Genres nicht nur kompositorisch, sondern auch auf der Ebene des Klangs vertreten – der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.

Fankultur in Ost und West Schon früh entwickelte sich um Computerspiele und ihre Musik auch eine eigene ak- tive Fankultur. In Japan zum Beispiel lauschten Spieler ihren Lieblingsstücken nicht nur während des Spielens, sondern gingen in Spielhallen, um die Musik mithilfe von Aufnahmegeräten aufzuzeichnen und mit nach Hause zu nehmen. Die Anleitungen dazu fanden sie in Computerspielzeitschriften wie der Beep (1984—1989). Diese hat- te im Jahr 1986 eine Sonderausgabe zum Thema Musik produziert. Daraufhin konnte das Magazin seine Leserschaft so stark vergrößern, dass es ab diesem Zeitpunkt eine feste Rubrik zum Thema Musik gab. Zur gleichen Zeit gründeten sich aus den Sound- abteilungen großer japanischer Spielefirmen wie zum Beispiel Konami, Taito oder Ni- hon Falcom heraus hauseigene Bands, die sogenannten »SoundTeams«. Diese traten live vor Publikum auf und standen 1990 schließlich beim Game Music Festival auf ei- ner Bühne. Neben Interviews mit Komponisten und Mitgliedern dieser SoundTeams fanden die Fans in der Beep zudem Notenmaterial, um ihre Lieblingstitel zu Hause nachspielen zu können. Einige Ausgaben enthielten sogenannte »Sonosheets« mit Computerspielsoundtracks, auf Folien geschnittene Schallplatten, die auf Platten- spielern abgespielt werden konnten.

086 —— 087 Dank des Aufkommens erschwinglicher Heimcomputer und Videospielsysteme ent- stand zur gleichen Zeit insbesondere in Europa eine auf Teilhabe beruhende Musik- kultur, die ihrerseits von einer aktiven und kreativen Fan-Community vorangetrieben 2.5 wurde. Spiele, Heimcomputer und Konsolen dienten ihnen als Ausgangsmaterial für eigenes musikalisches Schaffen. Fans entwickelten zum Beispiel eigene Program- mierroutinen, um die in PCs und Konsolen verbauten Soundchips zu Höchstleistun- gen zu treiben (Chipmusik), andere rückten der Technik mit dem Lötkolben zu Leibe (Circuit Bending), um möglichst ungewöhnliche Klänge zu kreieren. Bekannte Com- puterspielmusikkomponisten wie Chris Hülsbeck z. B. (1990) oder Jesper Kyd z. B. Assassin’s Creed (2007) unternahmen in dieser Szene ihre ersten musikalischen Schritte.

Computerspielmusik jenseits der Spiele Computerspiele, ihre Musik und Sounds waren bereits seit Ende der 1970er in ande- ren Medien und Musikgenres präsent und erreichten auf diese Weise auch ein Pu- blikum, das selbst vielleicht gar nicht spielte. In Filmen wie »Der weiße Hai« (1975), »Tron« (1982), »Karate Kid« (1984) oder »WarGames – Kriegsspiele« (1983) sowie in TV-Serien finden sich Szenen, in denen Computerspiele gespielt werden, inArcades gedrehte Szenen oder die Verhandlung der Computerspielkultur selbst. In der Fern- sehwerbung kamen in den frühen 1980er Jahren vor allem popkulturelle Ikonen wie Pac-Man oder Super Mario als Werbeträger für lizenzierte Produkte zum Einsatz oder sie wurden selbst zu TV-Stars. So wurde z. B. in den USA »The Super Mario Bros ­Super Show!« (1989—1994) ausgestrahlt. In Deutschland lief die Show ab 1991 im Sams- tagsvormittagsprogramm auf RTL. Der Titelsong (»The Plumber Rap«) und das Outro (»Do the Mario«) waren Rap-Versionen des berühmten »Overworld/Ground Theme«, einschließlich mehrerer Soundeffekte aus dem Spiel. Im Jahr 1978 veröffentlichten die Computermusikpioniere der japanischen Formation Yellow Magic Orchestra in Japan ihr gleichnamiges Album, das im Mai 1979 auch auf den US-amerikanischen Markt kam. Die noch im selben Jahr erschie- nene Singleauskopplung »Computer Game (Theme from The Invaders)/Firecracker«, die mit einer Collage aus Computerspielsounds und kurzen Musikstücken aus Com- puterspielen begann, verkaufte sich allein in den USA 400.000 Mal und beeinfluss- te Künstler aus zu diesem Zeitpunkt dort entstehende Genres wie Hip-Hop, Synth- pop oder Electro. Doch auch Musiker anderer Genres bedienten sich Melanie Fritsch ist Mitgründerin an Sounds und Musik aus Spielen und Spielhallen: 1980 erschien das und Vorstandsmitglied der Album »Pretenders« der Gruppe The Pretenders, auf welchem sich Society for the Study of Sound der Instrumentalsong »Space Invader« findet, der mit dem Original- and Music in Games. soundtrack aus dem Spiel endet, und 1982 landeten Buckner & Gar- cia mit dem Konzeptalbum »Pac-Man Fever« einen internationalen Hit. Eine besonde- re Rolle sollte der von der Formation Player [1] auf den Markt gebrachte Song »Space Invaders« spielen. Dieser enthielt, ähnlich wie der vorgenannte Song der Pretenders, Sounds aus dem gleichnamigen Spiel. In Australien erreichte er zwar Platz 3 in den Charts, wurde aber andernorts kaum zur Kenntnis genommen. Jedoch fiel die Platte

KUNST & KULTUR 1982 zufällig dem Chicagoer DJ Jesse Saunders in die Hände. Er war begeistert von der dem Spiel entliehenen Basslinie, wie er in einem Interview mit dem australischen 2.5 Radiosender ABC erzählt. »Space Invaders« von Player [1] war außerdem in »On and On«, einem Remix von Mach, verarbeitet, der bei Saunders Publikum im Chicago- er Club The Playground legendär wurde. Saunders verlor die Platte jedoch. Darauf- hin beschloss er, eine eigene Platte zu produzieren, bei der auch die geliebte Bass- linie Verwendung finden sollte. Das Ergebnis erschien im Jahr 1984 unter dem Titel »On & On«, eine Referenz an den Vorgänger. Diese Platte gilt als erstes House-Album. In Japan kam am 25. April desselben Jahres das erste Computerspielmusik- album mit dem schlichten Titel »« heraus. Darauf zu hören waren Originalsoundtracks von bekannten Spieletiteln der Firma Namco. Produzent war kein geringerer als Haroumi Hosono, Mitbegründer des Yellow Magic Orchestra. Das Al- bum war ein Überraschungserfolg, sodass Namco und Hosono noch im selben Jahr eine zweite Langspielplatte mit Spielemusik herausbrachten, 1985 gefolgt von »The Return of Video Game Music«. Ein Regal für Computerspielmusik sollte von nun an in keinem japanischen Musikgeschäft mehr fehlen. Neben Originalsoundtracks fanden sich Arrangements in allen möglichen Stilen, von Rock über Hip-Hop bis hin zu Bear- beitungen für Orchester. 1987 fand in der Tokioer Suntory Hall das weltweit erste orchestrale Compu- terspielmusikkonzert statt. Unter dem Dirigat des Komponisten Koichi Sugiyama kam der Soundtrack der erfolgreichen Rollenspielserie Dragon Quest (1986—2017) zur Auf‌füh- rung. Das erste kommerzielle Spielemusikkonzert außerhalb Japans fand rund 16 Jah- re später im Gewandhaus in statt. Das von Thomas Böcker produzierte »Erstes Symphonische Spielemusikkonzert« war Teil der offiziellen Eröffnungsfeier der Games Convention, einer zwischen 2002 und 2008 jährlich in Leipzig stattfindenden Fach- messe für interaktive Unterhaltung. Bis heute finden weltweit orchestrale Spielemusikaufführungen‌ statt, als Son- deraufführungen‌ eines stehenden Orchesters, in Form von speziellen Tour-Produktio- nen oder als Jubiläumskonzerte. Seit Mitte der 2000er Jahre rückt Computerspielmu- sik auch in der breiteren Popkultur wieder verstärkt ins Rampenlicht, wenn z. B. Musiker wie Marteria oder Flying Lotus Sounds und Musik früherer Spiele in ihren Songs oder Alben verwenden. Erwähnenswert sind außerdem Filme zum Thema Spiele wie »Scott Pilgrim vs. the World« (2010), »Wreck-it Ralph« (2012) oder »Pixels« (2015), welche die typische 8-Bit-Ästhetik der »goldenen Ära« und den damit verbundenen Sound zele- brieren, oder der britische Radiosender BBC3, der eine eigene Sendung mit dem Ti- tel »Sound of Gaming« produziert – moderiert von der Komponistin Jessica Curry z. B. Dear Esther (2012) oder Everybody’s Gone to the Rapture (2015). Direkten oder auch indi- rekten Einfluss auf verschiedenste musikalische Genres und unser heutiges Musikle- ben hat die Computerspielmusik jedoch schon seit dem Erklingen des ersten »Bip«. ↳

088 —— 089 2.5

Literatur ✕ Collins, Karen: Game Sound – An Introduction to the History, Theory, and Practice of Video Game Music and Sound Design. MIT Press, Cambridge/Massachusetts 2008 ✕ Fritsch, Melanie: Performing Bytes. Musikperformances­ der Computerspielkultur. Königshausen & Neumann, Würzburg 2018 ✕ Summers, Tim: Understanding Video Game Music. Cambridge University Press, Cambridge/Vereinigtes Königreich,­ 2016

KUNST & KULTUR 2.6 GEWALT JÖRG VON BRINCKEN

Gewalt und ihre blutigen Resultate waren seit jeher Gegenstand künstlerischer Re- präsentation. Man denke an urzeitliche Jagddarstellungen, die kriegsgeschwänger- te antike Mythologie und Epik, die Shakespeareschen Tragödien, an das Interesse der europäischen Romantik am Düsteren und Makaberen und nicht zuletzt an die Gewalt- fantasien der Künstler des 20. Jahrhunderts bis heute – wobei die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und das Grauen der nationalsozialistischen Konzentrationslager insofern eine Zäsur darstellen, als danach mehr denn je über die Legitimation ästhe- tischer Gewaltdarstellungen debattiert wurde. Wie kaum ein anderer Gegenstand künstlerischer Repräsentation bedarf die Darstellung von Gewalt eines guten Grundes. Sie muss in einen Kontext eingebettet sein und entsteht in der Regel in einem inhaltlichen Sinnzusammenhang. Waren es vor- mals religiöse, mythologische und rituelle Aspekte, sowie – oftmals damit verbunden – die anerkennende Inszenierung von Kriegsgeschehen, etwa zum feierlichen Geden- ken an große historische Schlachten, rückt gerade im 20. Jahrhundert vor allem die kritische Auseinandersetzung mit den Schrecken der Realität wie Krieg, Folter, Ver- brechen usw. ins Zentrum. Künstlerische Gewaltdarstellung – sei sie vorrangig didak- tischen, ethischen, informativen, aber auch unterhaltenden Charakters – wird als Ins- trument einer fundamentalen Kritik an gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und mehr und mehr auch ökologischen Zu- und Missständen sowie als ein seriöses Mittel von Traumabewältigung und Trauerarbeit gerechtfertigt. Dass Gewaltdarstellung durch eine zumindest unterschwellige kritische Bot- schaft oder ethisch seriöse Tendenz gerechtfertigt werden muss, zeigt sich heute so- gar in den Narrativen der vor Gewaltsamkeit strotzenden Unterhaltungsmedien wie Action- und Horrorfilmen, Comics und ganz zentral auch in Computerspielen: Die an- fängliche Gewalt, das kann auch symbolisch-strukturelle Gewalt sein, wird meist von den Vertretern des »Bösen« ausgeübt, welche es durch die Vertreter der »guten« Sei- ERINNERUNGS­ KULTUR 3.2 te im Kampf und mit Gegengewalt zu überwinden gilt (←). Dabei ist jedoch nicht zu leugnen, dass von künstlich und künstlerisch konstruierten Gewaltbildern selbst eine

090 —— 091 Faszinationskraft ausgeht, die sich nicht einfach auf den – expliziten oder eher sub- tilen – Nenner kritischer, ethischer oder generell inhaltlicher Zwecksetzungen brin- gen lässt. Zumal es sich ja nicht um realen Schrecken, sondern um dessen mimeti- 2.6 sche, d. h. nachahmende Darstellung handelt, der bereits Aristoteles in seiner »Poetik« (ca. 335 v. Chr.) gegenüber dem Anblick echten Schreckens einen Vergnügenswert zuschrieb. Gewaltdarstellung ist also neben all ihrer inhaltlichen und instrumentellen Befrachtung immer auch als ästhetisches Phänomen zu denken. Insofern sind die Be- mühungen um eine seriöse Absicherung des Gewaltthemas auch als Abwehr gegen ein drohendes Übergewicht dieser Lustdimension zu sehen. Ein lustbetontes Vergnügen am Schrecklichen ist keineswegs ein neues und nur mit aktuellen psychologischen und soziologischen Lehrsätzen handhabbares Phä- nomen. Es spielt seit langem eine Rolle in philosophisch-ästhetischen Legitimations- debatten. Und zwar genau dort, wo das Katastrophale und Bedrohliche der empiri- schen Realität der Natur und seit dem späten 18. und vollends dem 19. Jahrhundert mehr und mehr auch der technifizierten Kultur mitsamt ihrer kriegerischen Auseinan- dersetzungen, Gegenstände eines faszinierten, lustbetonten Interesses wurden. Die bereits seit der Antike geläufige Kategorie des Erhabenen bezeichnet genau die pre- käre Schnittstelle zwischen Schrecken und ästhetischem Kitzel. Zur Voraussetzung einer erhabenen Rezeption der bedrohlichen Realität wur- de dabei seit den Anfängen in der Antike eine spezifische Schauanordnung bestimmt. Der römische Dichter Lukrez hat dafür in seinem Weltgedicht »De rerum natura« (ca. 1. Jhd. v. Chr.) eine sehr pointierte Metapher geschaffen: Vom sicheren Land aus be- obachtet der körperlich unbeteiligte und in diesem Sinne sichere Betrachter den Un- tergang eines Schiffes in stürmischer See. Hier wird also eine scharfe Grenze zwi- schen dem beobachteten Schrecken und der Beobachterposition gezogen. Um den Schrecken als angenehm empfinden zu können, muss man sich Jörg von Brincken lehrt am sozusagen körperlich, mental und emotional so positionieren wie Institut für Theaterwissen-­ ein Zuschauer im Theater. Größtmögliche Nähe und zugleich ein schaft der Ludwig-Maximilians- bewusster Sicherheitsabstand des Betrachters zum katastropha- Universität München. len Geschehen machen die spezifische Medialität des Erhabenen aus. Dass eine entsprechende mediale Anordnung den heutigen filmischen Medien und in besonderer Weise auch dem interaktiven und immersiven Computerspiel zu- grunde liegt, ist offensichtlich. Die englischen Vertreter einer sinnlichen Ästhetik erblickten im Erhabenen eine widersprüchliche, zwischen Schrecken und Entzücken stetig wechselnde, affek- tive und körperliche Erfahrung. So spricht der Philosoph Anthony Ashley Cooper (be- kannt als Shaftesbury) vom »exquisiten Schrecken«, der Dramatiker John Dennis von der »schrecklichen Freude« und schließlich der Philosoph Edmund Burke vom »köst- lichen Genuss am Schrecken«. Letztlich ist nichts anderes gemeint als ein intensives Gefühl des Thrills, der Aufregung, der psychischen, aber vor allem auch sinnlichen Sti- mulation, die das Subjekt in der Tat seine eigene kreatürliche Lebendigkeit und Kör- perlichkeit intensiv erleben lässt. Durchaus ähnlich, wie es heute bei einer Achter- bahnfahrt der Fall ist.

KUNST & KULTUR Das gilt einmal für das Betrachten der katastrophischen Natur (z. B. Stürme, Gewitter, Erdbeben) aus sicherem Abstand. Es gilt aber gerade auch für künstlerische Darstel- 2.6 lungen des gesellschaftlichen Schreckens, allen voran des Krieges und des Gewalt- sam-Tragischen. Unter anderem im Zuge der genannten Vorgaben entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein besonderes Interesse an der Darstellung von Ge- walt, aber auch am Unheimlichen, Grotesken, Ekligen und Abstoßenden – wobei die Grenzen fließend waren. Diese Tendenzen münden in unverfälschte Um-Schreibungen des Grausigen und Gewaltsamen zum ästhetisch Reizvollen, etwa bei den Schriftstellern Charles Baudelaire, Edgar Allen Poe und Thomas De Quincey, der in seinem berühmt-berüch- tigten Buch »Der Mord als schöne Kunst betrachtet« (1827) eben genau dies tat. Von da an ging die Lust am Schrecklichen, vermittelt nicht zuletzt über das populäre The- ater des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – wie etwa das im wahrsten Sinne blutige Theater des Grand Guignol – in den Film ein und schlägt sich heute als kulturhistori- sche Konstante vor allem im Katastrophenfilm, im Kriegsfilm, im Action- und Krimi- nalfilm und besonders auch im Horrorfilm nieder. Die genannten Filmgenres dürfen dabei als wesentliche Vorläufer und ganz aktuell als mediale Schwesterphänomene des Computerspiels bzw. bestimmter Genres davon betrachtet werden. Konfliktpotenzial, Spannung und Lösung, Aufregung bzw. Thrill sowie simu- lierte Lebenserfahrung gelten unter anderem als wesentliche Gründe für die Rezepti- on dieser Filmtypen als auch für das Spielen genreverwandter Games. Aber natürlich fungieren Spiele nicht zuletzt aufgrund ihrer technischen Raffinesse – so wie übrigens FILM & SERIE 2.4 der Film von Beginn seiner Geschichte an (←) – immer auch als visuelle und akusti- sche Attraktion und das in ihnen Erscheinende hat stets etwas von einer ästhetischen Sensation, zumal Games den Spieler regelmäßig mit noch realistischeren Grafiken, neuen Eingabemöglichkeiten und neuen Spielideen locken und ihn damit trotz des Sicherheitsabstandes in den virtuellen Raum eintauchen lassen. Zur Erzeugung dieser Sensationen bedarf es nicht unbedingt der Präsentati- on von Gewalt, jedoch wirkt das Gewaltbild aufgrund seines normüberschreitenden Charakters und seiner erschreckenden Außerordentlichkeit automatisch stark auf den Betrachter. Die Frage, worin denn genau die Faszination und Lust, die Gewaltdarstel- lungen erzeugen können, liegt, kann dabei wirkungsästhetisch begründet werden: Gewalt ist in der Kunst im weitesten Sinne immer auch als ein körperliches, visuell und – angesichts der technischen Medien – auch akustisch verblüffendes, die Auf- merksamkeit fesselndes Ereignis zu betrachten, das die Grenzen unserer Alltagswahr- nehmung überschreitet. Ein gewisser Schauwert von Gewalt – sogar realer Gewalt – ist dem Phänomen eingeschrieben. Gewalt in Filmen und in Computerspielen geht dabei meist mit einer sensationellen Verformung des Körpers einher, mit einer Durch- brechung körperlicher Grenzen, einem brutalen Eindringen (z. B. Stechen, Schießen) in oder auch einem Austreten aus dem Körper (z. B. von Blut, Gedärmen) sowie mit seiner Zersetzung oder Zerlegung in Einzelteile (z. B. Abschneiden, Explodieren). Es handelt sich in allen Fällen um Szenen einer Ausnahmesituation des Körpers, die ob ihrer Außergewöhnlichkeit die Aufmerksamkeit fesseln.

092 —— 093 Hinzu kommt auch das akustisch Reizvolle: Geräusche wie Krachen, Knallen, Don- nern, Tösen, aber auch Brüllen, Schreien, Kreischen, Stöhnen und Wimmern stellen einzigartige lautliche Attraktionen dar; sie stimulieren das Nervenkostüm des Spie- 2.6 lers und lassen ihn sich – so paradox es klingen mag –, höchst »lebendig« fühlen. Ge- waltästhetik in Computerspielen ist somit in der Tat eine Ästhetik des Thrills, die zen- tral auf die besprochene, erhabene Lust am Schrecken zurückgeht. Der Gewaltstoff bietet sich dabei für besonders realistische Grafik und Sound- designs an, da er die Neugier und das Interesse am grausigen Detail anregt. Kämpferi- sche Auseinandersetzungen ergeben sich meist schon logisch aus den Anforderungen des Spiels, Handlungsmacht- und -möglichkeiten der Spieler und aus dem dramati- schen Konfliktthema wie z. B. Krieg. In Ego- und Third-Person-Shootern, Adventure- und Horrorgames werden diese Auseinandersetzungen jedoch in einer visuellen und akustischen Weise überspitzt, überhöht und verstärkt, sodass sich der oben beschrie- bene Reiz des Schrecklichen mit dem ästhetischen Faszinationscharakter des hoch- gerade realistischen und immersiven Bildes auf das Intimste verbindet. Spezifisch vom künstlich und künstlerisch konstruierten und komponierten Gewaltspektakel geht eine besonders brutale Kraft und Wucht aus, eine intensiv wirksame Wirklichkeit, die den Betrachter auf nahezu körperliche Weise ergreift und stimuliert. In diesem Sinne liegt in der künstlerisch hervorgerufenen bildlichen Auffällig‌ ­ keit, der übersteigerten Eindrücklichkeit und der spielerischen Gegenwärtigkeit der spezifisch ästhetisch begründete Reiz von Kampf-, Kriegs- und Morddarstellungen, der stets auch der Reiz daran ist, sich durch das Spielen mental, emotional und kör- perlich auf die vom Gewaltstoff hervorgebrachten intensiven Eindrücke einzulassen. Grundlegend für die Gewaltästhetik von Computerspielen ist also, dass es sich zu- gleich um eine Ästhetik der Interaktivität handelt und damit auch um eine Ästhetik der Erfahrung: Die bewegten Szenen, Bilder und Sounds werden im Rahmen des vom Spiel vorgegebenen Regelsystems vom Spieler selbst handelnd hervorgebracht, be- kommen in diesem Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine etwas Unvor- hersehbares, das von sich aus eine gewisse Irritation auslösen kann, die der Spieler augenblicklich und reizvoll am eigenen Leib erfährt. Natürlich existieren hier Unterschiede: Das populäre Paradebeispiel der Ge- waltgames – Counter-Strike (2000) – setzt zwar zentral auf das Kriegsthema, hält sich bei der Inszenierung der blutigen Folgen von Gewalt jedoch zurück. Die gegnerischen Spielfiguren sind nicht viel mehr als abstrakte Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Nicht zuletzt dieses Außerachtlassen einer schockierenden Qualität des Schreckens zugunsten einer reinen, »eiskalten« Effizienz des kompetitiven virtuellen Tötens mag dafür mitverantwortlich sein, dass Counter-Strike von vielen Kritikern große Skepsis KILLER- entgegengebracht wird (→). Dabei ermöglicht diese Verringerung starker Reize dem 5.4 SPIELE Spieler erst, entlang der grundlegenden und die Spannung steigernden Erzählung ei- nes kriegerischen Konflikts, nicht in erster Linie Schreckensszenarien zu erzeugen, sondern vor allem spielerische Fertigkeiten wie genaues Zielen und schnelles Kli- cken zugunsten des Gewinnens weiter zu entwickeln. Die ästhetische Dimension von Games ist mithin variabel, sie lässt also die Erzeugung außerordentlicher Ein­drücke

KUNST & KULTUR etwa durch inszenatorische Übertreibung ebenso zu, wie die abstrahierende Vermin- derung. Eine tatsächliche Ästhetik der Gewalt haben Action-Adventures wie God of 2.6 War (2005), Horrorspiele wie Silent Hill (1999) und Resident Evil (1996), sowie nicht zuletzt Ego-Shooter wie Doom (1993) entwickelt. Diese Games und ihre Nachfolger bestechen nicht nur durch die detaillierte Inszenierung von Gewalt, sondern erzeugen durch ihre Narration, vor allem aber auch durch die spezifische Präsentation etwa von Furcht ge- bietender Architektur, unheimlicher oder grausiger Natur und düsteren oder apoka- lyptischen Umwelten usw. von vornherein eine bedrohliche Atmosphäre. Nicht zuletzt ist dabei – und das trifft auch aufCounter-Strike zu – das Augenmerk, welches auf Bewaffnung, Mordwerkzeuge, martialische Ausstattungen und deren Präsentation gelegt wird, von entscheidender Bedeutung. Die Formen dieser Instrumente werden nicht nur auf der spielinternen Ebene als dem Kampf- und Kriegssetting angemessen behandelt, sondern als ästhetische Objekte von besonderer visueller Auf‌fälligkeit, ja technischer Exotik inszeniert. Allein ihre Ästhetik verleiht der Waffe eine machtvol- le Ausstrahlung, die auf zukünftige oder bereits geschehene Gewalttaten und einen Willen zum Kampf hindeutet. Das gilt im Großen mit Blick auf Panzer, Kriegsschiffe usw. ebenso wie im Kleinen: Ein besonders schönes Beispiel sind die von vielen blu- tigen Siegen zeugenden Kerben in den beiden Klingen von Kratos, der Hauptfigur der God-of-War-Reihe (seit 2005). Dieses die Spielfiguren umrahmende, martialische Instru- mentarium der Waffen lenkt die Vorstellungskraft und Erwartungshaltung des Spie- lers stark auf das Gewaltsame. Besonderen Wert auf die ästhetische Inszenierung von körperlicher Gewalt legen im Gegensatz zu Counter-Strike manche Kampfspiele wie beispielsweise die Mortal-Kombat-Reihe (seit 1992) in denen, wie im zeitgenössischen Actionfilm, die Ge- waltakte in Form einer mal eleganten, mal brachialen Choreografie präsentiert wer- den. Die bewegungsästhetische Nähe von Kampf und Tanz – man denke hier an die Kampfsportart Capoeira – wird dabei genutzt, um nicht nur frappierende, sondern in der Tat mitunter sogar schöne Momente zu erzeugen. Besonders Mortal Kombat Ⅹ (2015) sticht in der ungeschnittenen Version, in der auch berühmte Figuren des Horror- films wie Leatherface oder Jason Voorhees auftreten, durch eine besondere Eigen- schaft hervor: Die das Schicksal des Gegners besiegelnden, sogenannten »Fatalities« werden dem Spieler im wahrsten Sinnen des Wortes »aus der Hand genommen« und in Form von höchst blutigen, vor Gewaltfantasien strotzenden Zwischensequenzen inszeniert. In brutalen Akten sadistischer Verstümmelung und körperlicher Zerlegung werden Leiber aufgebrochen, Schädel mit dem Rückgrat aus Körpern gerissen, blu- tende Gedärme extrahiert. Die Übertriebenheit dieser Akte hat manches Mal trotz all ihrer Scheußlichkeit einen unfreiwillig komischen Charakter. In der Tat schlägt das Ex- treme des Gewaltbildes hier in das Groteske um. In den genannten und vielen weiteren Computerspielen schlägt sich eine be- sondere künstlerische Dimension des Gewaltthemas nieder, die eine gesamtkulturel- le und individuelle Vorstellungskraft des blutigen Themas in den Raum des Virtuellen übersetzt und dort zu Bildern und Klängen verstärkt, die zwischen narrativer Darstel- lung und ästhetischer Schlagkraft schwanken. Das damit erzeugte Erleben macht jen-

094 —— 095 seits der kritischen Verhandlung von Realität und weit über das bloß Unterhaltende ­hinaus die eigentliche und kulturell höchst bedeutsame Faszinationskraft von brutalen Spielen aus. Die Skepsis, im spielerischen Modus könnte die Ernsthaftigkeit des Ge- 2.6 waltthemas verloren gehen bzw. würde darin quasi verspielt werden, überzeugt gera- de nicht, da es genau das interaktive, involvierende Spielen ist, welches dem bloßen Bild des Brutalen und Tödlichen eine eigentümliche ästhetische Lebendigkeit verlei- hen kann. Im Angesicht der allgegenwärtigen und abstumpfenden Gewalt- und Ka- tastrophenbilder in anderen Medien nimmt das Computerspiel eine Sonderrolle ein, weil es im Moment des Spielens eine ganz eigene Wucht entfaltet, die Spieler gera- de nicht unberührt zurücklässt.

Literatur ✕ Wertheimer, Jürgen: Ästhetik der Gewalt. Ihre Darstellung in Literatur und Kunst. Athenäum Verlag, Frankfurt/Main 1986 ✕ auf der Horst, Christoph (Hrsg.): Ästhetik und Gewalt. Physische Gewalt zwischen künstlerischer Darstellung und theoretischer Reflexion. V & R Unipress, Göttingen 2013 ✕ Pawlak, Anna; Schankweiler, Kerstin (Hrsg.): Ästhetik der Gewalt – Gewalt der Ästhetik. VDG Jonas Verlag, Weimar 2013

KUNST & KULTUR 2.7 ÄSTHETIK DANIEL MARTIN FEIGE

Computerspiele lassen sich aus der Perspektive unterschiedlicher Wissenschaften untersuchen und so auch aus der Perspektive der Philosophie und hier vor allem der philosophischen Ästhetik und Kunstphilosophie. Charakteristisch für eine philosophi- sche Analyse ist, dass sie einer reflexiven Klärung solcher Grundbegriffe gilt, ohne die wir die in Frage stehenden Phänomene nicht – oder nicht angemessen – verstehen können. Dass das in Form der Reflexion geschieht heißt dabei, dass sie bei unseren Vorverständnissen – also dem, was wir an Auf‌fassungen über den Gegenstand mit- bringen – ansetzt und diese argumentativ auf ihre Legitimität hin überprüft und ge- gebenenfalls einer partiellen Revision unterzieht; ihre Währung ist nicht die empiri- sche Erhebung, sondern die logische Analyse und die argumentative Kritik im Namen der Wahrheit. Im Folgenden soll es im ersten Abschnitt dieses Beitrags darum gehen, Grundlagen einer Ästhetik des Computerspiels zu formulieren. Im zweiten Abschnitt wird die Frage diskutiert, ob und inwiefern Computerspiele Kunstwerke sein können. Zu den mit dem Computerspiel verbundenen Grundbegriffen gehört der Be- griff der Ästhetik. Im Alltag kennt der Begriff eine Vielzahl von Verwendungen. Syste- matisch lassen sich dabei Verwendungen, die unter Ästhetik eine positive Eigenschaft eines Gegenstandes verstehen, von solchen unterscheiden, die Daniel Martin Feige ist Professor unter Ästhetik eine Hinsicht der Beurteilung meinen; Beispiel für für Philosophie und Ästhetik das Erste wäre etwa die Redeweise von »ästhetischem Zahner- an der Staatlichen Akademie der satz« und Beispiel für Letzteres die Redeweise von der »Ästhetik Bildenden Künste Stuttgart. eines bestimmten Films«. Die letztere Verwendung sollte zum Ausgangspunkt der philosophischen Verwendung angesetzt werden – auch da »äs- thetisch« keineswegs nur positive, sondern auch negative Eigenschaften meint etwa »eklig« oder »hässlich«. Versteht man unter Ästhetik eine Art der Beurteilung von Ge- genständen, ist gleichwohl umstritten, wie sie genauer zu erläutern ist. Auch hier lässt sich zumindest ein Fingerzeig aus beiden eben genannten Verwendungen entneh- men. Im Kontext der ersten Verwendung wird das Ästhetische zumeist mit dem Sinn- lichen umschrieben. Im zweiten Fall ist das weniger klar: Die Ästhetik eines Films als

096 —— 097 Eigenart desselben muss nicht auf sinnliche Aspekte beschränkt sein; es können As- pekte der Erzählform des Films und so fort in sie eingehen und klarerweise auch Be- zugnahmen zu anderen Filmen. Dieser Punkt soll nun mit Blick auf Computerspiele 2.7 genauer erläutert werden. Ein Verständnis von Ästhetik im Sinne der sinnlich vernehmbaren Eigenarten eines Gegenstandes greift zu kurz, weil es viele Eigenarten ausschließt, die wir un- zweifelhaft als ästhetische Eigenarten verstehen würden. So gehört die »Eleganz« ei- nes mathematischen Beweises eben zu den ästhetischen Eigenarten dieses Beweises, ohne dass man sie sehen oder hören könnte, wie die Konzentriertheit des literari- schen Stils Kafkas nichts ist, was man allein den Sätzen oder der Typografie ansehen kann. Nicht zuletzt hat nahezu alles, was Menschen tun, etwas mit ihrer sinnlichen Natur zu tun – deshalb ist aber keineswegs alles, was Menschen tun, bereits ästhe- tisch. Wenn man das sagen würde, würde der Inhalt des Begriffs entleert, weil er kei- ne Unterscheidungen mehr möglich machen würde. Diese Überlegungen lassen sich gut für Computerspiele fruchtbar machen. Die Ästhetik von Computerspielen meint einerseits durchaus Fragen der sinnlichen Anmutung dessen, was hier zu sehen und zu hören ist, aber sie geht weit darüber hinaus: Das Game Design kann elegant oder unelegant sein, eine Punkteanzeige passend oder unpassend. Solche Aspekte sind integraler Bestandteil einer Ästhetik des Computerspiels. Die ästhetische Schlüssig- keit eines Computerspiels ist nicht immer etwas, was man ihm auf den ersten Blick ansehen kann. Es macht durchaus sogar Sinn zu sagen, dass es Computerspiele gibt, die ästhetisch gelungen sind, obwohl sie nicht besonders schön oder ansprechend aussehen. Aus diesen Bemerkungen sollte ersichtlich werden, dass Fragen einer Äs- thetik des Computerspiels nicht auf Fragen der technischen Exzellenz eines Compu- terspiels reduziert werden können; die alte Commodore-64er-Grafik vonThe Last Ninja (1987) hat ebenso wie der SID-Soundtrack (»Sound Interface Device«, ein drei- stimmiger Soundchip) seinen ganz eigenen Reiz und es ist keineswegs so, dass das spätere und technisch Bessere auch das ästhetisch Gelungenere wäre. Das genann- te Spiel war zum Zeitpunkt seines Erscheinens auch technisch herausragend; aber es ist damals wie heute zumindest in seinen graphischen und akustischen Dimensio- nen auch ästhetisch markant. Danielle Buntens Spiel M.U.L.E. (1983) lässt sich, obwohl es schon zum Zeitpunkt seines Erscheinens technisch nicht herausragend war, hin- sichtlich seines Gameplays und seiner Designentscheidungen als ästhetisch gelun- genes Spiel begreifen. Mit diesen Erläuterungen ist gezeigt, dass das Ästhetische nicht als das Sinnli- che umschrieben werden darf. Es ist aber noch nicht konkretisiert, was die Redeweise von einer besonderen Art der Beurteilung von Gegenständen meint. Sie lässt sich, im Anschluss an Überlegungen Immanuel Kants, wie folgt erläutern: Etwas ästhetisch zu beurteilen, heißt, es in seiner Besonderheit zu beurteilen und nicht einfach zu fragen, was das entsprechende Ding ist, insofern es unter bestimmte Begriffe fällt. Das Äs- thetische beginnt dort, wo wir uns auf Gegenstände, Personen und Situationen in der Weise beziehen, dass wir sie nicht als bloßen Fall eines Allgemeinen – »Gegenstand«, »Spiel«, »Computerspiel«, »Echtzeitstrategie« und so fort – behandeln, sondern nach-

KUNST & KULTUR vollziehen, wie sie in ihrer Besonderheit verfasst sind. All das impliziert nicht, dass wir in der ästhetischen Beurteilung unsere Begriffe hinter uns lassen oder gar übersteigen 2.7 würden. Es impliziert aber durchaus, dass wir sie im ästhetischen Urteil so verwen- den, dass sie im Dienst des Nachvollzugs des jeweiligen Gegenstandes stehen. Um das an einem Beispiel zu veranschaulichen: Total Annihilation (1997) ästhetisch zu beur- teilen heißt nicht einfach danach zu fragen, welche abstrakten Prinzipien des Genres Echtzeitstrategie es aufweist und erst recht nicht, es als austauschbaren Ausdruck ei- ner Gameplay-Blaupause zu behandeln. Wenn man nur das mit einem Spiel machen kann – es nicht anders zu behandeln, als festzuhalten, was es wie alle anderen Spiele auch macht – wird es entweder nicht ästhetisch beurteilt oder ist ästhetisch misslun- gen. Das genannte Spiel ästhetisch zu beurteilen, heißt demgegenüber zu fragen, wie entsprechende Genre-Prinzipien in diesem Spiel neuverhandelt werden. THEATER 2.2 Neben der Redeweise von der Ästhetik eines bestimmten Computerspiels

LITERATUR 2.3 kann man auch von der Ästhetik des Computerspiels im Singular und d. h. der Ästhe- FILM & tik eines besonderen Mediums unter anderen sprechen. Aus einer solchen Perspek- SERIE 2.4 tive verortet man das Computerspiel neben dem Film, der Literatur, dem Tanz, der

MUSIK 2.5 Musik und so fort (←). Klassische Positionen der Medientheorie wie der Theorie der Künste, wie etwa Clement Greenbergs und Gotthold Ephraim Lessings, haben die- se Unterschiede so verstanden, dass sie mit der Unterscheidung ästhetischer Medi- en zugleich festgelegte Ausdrucksmöglichkeiten der entsprechenden Medien mei- nen würden. Plausibel daran ist, dass man mit einem Film nicht dasselbe ausdrücken kann wie mit einem Spiel und mit einem Musikstück nicht dasselbe wie mit einem Roman. Unplausibel daran ist, dass solche klassisch medienessentialistischen Positi- onen behaupten, Computerspiele bzw. Filme und so fort würden, gemäß ihrer Me- dialität schon bevor die einzelnen Spiele programmiert bzw. die einzelnen Filme ge- dreht worden sind, abzirkeln, was sie jeweils in der Lage sind auszudrücken. Das ist ein im Kern anästhetischer Gedanke, der die Besonderheit des jeweiligen Spiels und Films überspringt. Das Produkt des Mediums wird so redundant und arbeitet nicht länger am Medium selbst mit; Medien werden als etwas verstanden, was nur in ei- ner Richtung ihre Produkte bestimmt, was aber nicht selbst durch die Produkte wei- terbestimmt wird. Eine Medientheorie aus dem Geiste der eben formulierten ästhe- tischen Überlegungen besteht demgegenüber in dem Gedanken, dass Medien zwar unterschieden sind, der Sinn des Unterschieds aber unbestimmt ist und in und durch jeden neuen ästhetisch gelungenen Gegenstand neubestimmt wird. Anders kann man auch sagen: Medien sind keine Algorithmen für die Produktion von Gegenständen, sondern wesentlich offene Praxiszusammenhänge. Die Konsequenz aus dieser Überlegung lautet, dass es müßig ist, das Compu­ terspiel als ästhetisches Medium im klassischen Sinne zu definieren. Im Lichte der re- trospektiv markierten Kontroverse zwischen ludologischen und narratologischen The- orien des Computerspiels, d. h. der Frage, ob Computerspiele eher Spiele oder eher GAME STUDIES 1.2 Erzählungen sind (←), gilt es damit festzuhalten, dass es sich hier um eine falsche Al- ternative handelt und das nicht etwa deshalb, weil es eine dritte Position gäbe, die eine bessere Definition erlauben würde. Zwar gibt es erzählendeComputerspiele, ­

098 —— 099 aber nicht jedes Computerspiel ist erzählend, nur weil es ein Computerspiel ist. Zwar ist durchaus jedes Computerspiel ein Spiel – aber was »Spiel« hier heißt, ändert seinen Sinn so markant, wenn wir an die Genres Point-and-Click-Adventure, Third-Person- 2.7 Shooter und Walking-Simulator denken, dass es keine Definition von »Spiel« gibt, die nicht entweder falsch oder leer ist. Aus der Offenheit des Mediums Computerspiel – wie aller ästhetischer Medien – folgt, dass es in der Lage ist, Logiken und Formen an- derer Medien in sich aufzunehmen. Dass einige Computerspiele etwas mit Romanen zu tun haben und andere mit Filmen ist weder ein Unfall, noch eine Verwässerung des Computerspiels. Worin aber der Unterschied zwischen Computerspiel, Film und Ro- man liegt, das lässt sich nicht positiv definieren, weil dieser Unterschied in und durch jedes neue Computerspiel ästhetisch neu ausgehandelt wird. Wir haben es somit mit einem Spannungsfeld verschiedener Medien zu tun, die sich fortwährend wechsel- seitig bestimmen. Die Frage, ob Computerspiele Kunstwerke sind, ist eine Frage, die nicht schon durch Verweis auf Fragen der Ästhetik beantwortet werden kann. Denn Kunstwerke sind andere Arten von Gegenständen als ästhetische Gegenstände, auch wenn alle Kunstwerke immer auch ästhetische Gegenstände im hier entwickelten Sinne sind BILDENDE (→). Etwas als Kunstwerk auszuzeichnen ist zwar eine auf bestimmte Werte bezoge- 2.1 KUNST ne, damit normative Frage, insofern Kunstwerke gelingen oder misslingen können. Der Unterschied zwischen Computerspielen als Kunstwerken und Computerspielen als ästhetischen Gegenständen darf aber selbst nicht als wertender Unterschied verstan- den werden: Man kann aus guten Gründen bestreiten, dass es sich bei Super Mario Bros. (1985) und The Legend of Zelda (1986) um Kunstwerke handelt, was sie aber keines- wegs zu weniger gelungenen Spielen macht. Etwas wird nicht dadurch ein schlech- teres Computerspiel, dass es kein Kunstwerk ist; schließlich ist ein Musikstück oder ein Film nicht per se schlechter dadurch, dass es bzw. er kein Kunstwerk ist. Dass al- lerdings auch Computerspiele Kunstwerke sein können – dagegen spricht nichts. Für Computerspiele als Kunstwerke ist charakteristisch, dass wir sie nicht allein im oben skizzierten Sinne als je besondere Gegenstände verstehen müssen, sondern dass sie uns im Spielen in eine Selbstthematisierung über unsere grundlegenden Verständ- nisse unserer Selbst und unserer Welt verstricken. Als Slogan: Computerspiele kön- nen insofern Kunstwerke sein, als wir uns im Spielen dieser Spiele in unseren Orientie- rungen selbst durchspielen; Computerspiele, die Kunstwerke sind, sind Medien der Selbstverständigung. Wesentlich ist dabei, dass ein solches Selbstverständigungsge- schehen im Fall der Kunst untrennbar mit der konkreten Form des Gegenstandes ver- bunden ist. Was das mit Blick auf Computerspiele heißen kann – dazu einige abschlie- ßende Bemerkungen. Von Computerspielen als Kunstwerken in Begriffen eines Selbstverständi- gungsgeschehens und eines Reflexionsgeschehens zu sprechen, darf weder so ver- standen werden, dass wir angesichts des Spielens dieser Spiele über uns nachdenken würden. Denn dann wäre das Spiel ein bloßer Anlass dafür, über uns selbst nachzuden- ken, und wir könnten das eigentlich angesichts aller möglichen Gegenstände tun. Das Reflexionsgeschehen muss vielmehr so erläutert werden, dass es nichts anderes meint

KUNST & KULTUR als das, was es heißt, das Spiel verständig zu spielen: Also so zu spielen, dass man im Spielen auf seine Eigenarten aufmerksam ist. Zugleich darf der Gedanke der Reflexion 2.7 nicht so verstanden werden, dass entsprechende Spiele irgendwelche tiefen Inhalte thematisieren würden. Dagegen spricht, dass auch in diesem Fall das Computerspiel allein ein Mittel – im Sinne einer bloß sprachlichen Verpackung – für etwas wäre, was sich auch anders sagen ließe. Die Tiefe der Kunst ist nämlich nichts anderes als das, was sich an ihrer Oberfläche, das ist ihrer konkreten Form im Sinne der jeweiligen Kon- stellation von Elementen, die ein Werk etabliert, entdecken lässt. Ein Computerspiel wird keineswegs schon deshalb zur Kunst, weil es sich irgendwie mit moralischen Di- lemmata auseinandersetzen würde und erst recht nicht aufgrund der Tatsache, dass man im Spielen dieser Spiele die Konsequenzen des eigenen Handelns irgendwie er- fahren würde. Das überspringt insofern die Medialität des Spielgeschehens, als wir in Computerspielen nur gemäß dessen, was das Spiel vorgibt, Handeln können. Dass ein Computerspiel ein Kunstwerk ist, hat vielmehr damit zu tun, dass das, was es heißt, dass wir Spielende sind, in und durch das einzelne Spiel selbst thematisiert wird – wo- durch kein bloßes Spielen im Sinne einer instrumentellen Logik mehr möglich ist, son- dern auch Fragen der Politik und Kritik des Spielens aufscheinen. Zu den Computer- spielen, die in diesem Kontext im Anschluss ihrer Veröffentlichung zu Recht intensiver diskutiert worden sind, gehören Disco Elysium (2019) und (2013). Letzteres etwa sieht nur auf den ersten Blick aus wie ein Point-and-Click-Ad- venture; in Wahrheit sperrt es sich gegen die auch den Spielen dieses Genres inbegrif- fene Logik des Gewinnens und Verlierens und des damit einhergehenden Meisterns des Spiels. Man kann hier nämlich eigentlich nicht verlieren und es gibt auch keine Hindernisse in Form von Rätseln. Zu den für es charakteristischen Merkmalen gehört nicht allein, dass seine Grenzen unklar sind. Denn Kentucky Route Zero ist nicht allein ein Programm, sondern zu dem Projekt gehört auch eine Ausstellung, ein Musikvideo, ein Theaterstück, eine geschaltete Telefonleitung und so fort; diese unklaren Gren- zen sind ein zentrales Merkmal der Gegenwartskunst, wie unter anderem der Philo- soph Peter Osborne gezeigt hat. Zu den charakteristischen Merkmalen gehört viel- mehr auch, dass das Spiel mit der Darstellung der Perspektive einer Figur beginnt und am Ende mit der Darstellung einer Vielstimmigkeit von Perspektiven verschiedener Fi- guren endet. Dabei wird man im Spielen des Spiels gewissermaßen ein Co-Regisseur des Geschehens: Es geht nicht so sehr darum, was passieren wird, sondern wie die Spielenden vor allem in Form der Dialogführung die Gespräche zwischen den Figu- ren in jeweils unterschiedliche Richtungen führen. Kentucky Route Zero ist zwar auch ein Spiel über den Niedergang der amerikanischen ländlichen Regionen im Zuge ei- nes entfesselten Kapitalismus. Es ist aber ebenso sehr eine Reflexion darauf, was wir einander angesichts der sozialen und politischen Zerwürfnisse schulden und was es heißen könnte, diesen dadurch zu begegnen, dass wir uns wechselseitig unsere Ge- schichten erzählen. Mit anderen Worten: Nicht allein in seinem unklaren Status als Ob- jekt wie seinen vielfältigen Verweisen auf Kunstformen wie die Literatur und die Ins- tallation schreibt es sich im gesellschaftskulturellen Austausch, also diskursiv in einen Kunstkontext ein. Vielmehr ermöglicht es den Spielenden eine ­reflexive Auseinander-

100 —— 101 setzung mit Politischem wie auch der Frage, was es überhaupt heißt, ein Computer- spiel zu spielen. Diese Auseinandersetzung ist nichts anderes als die Erfahrung, die- ses Spiel zu spielen. Auch wenn umstritten ist, welche Spiele in den Bereich der Kunst 2.7 gehören: Diese abschließenden kurzen Bemerkungen sollten deutlich gemacht haben, dass es dem Medium Computerspiel nicht weniger als anderen Medien wie der Lite- ratur oder dem Film offen steht, Kunstwerke hervorzubringen.

Literatur ✕ Feige, Daniel Martin: Computerspiele. Eine Ästhetik. Suhrkamp, Berlin 2015 ✕ Feige, Daniel Martin; Ostritsch, Sebastian; Rautzenberg, Markus (Hrsg.): Philosophie des Computerspiels. Metzler, Stuttgart 2018 ✕ Robson, Jon; Tavinor, Grant (Hrsg.): The Aesthetics of Videogames. Routledge, New York 2018

KUNST & KULTUR 3102 —— 103 VERMITTLUNG

3.1 SERIOUS GAMES 105

3.2 ERINNERUNGSKULTUR 110

3.3 SOZIALADÄQUANZ 116

3.4 KULTURARCHIVE 120

3.5 BEWAHRUNG 125

3.6 MUSEUM 131

3.7 JOURNALISMUS 136

HANDBUCH GAMESKULTUR 3.1 SERIOUS GAMES STEFAN GÖBEL

Serious Games bezeichnen Spiele, die nicht nur Spaß machen, sondern zusätzlich einen bestimmten Zweck verfolgen. Im Lehrbuch »Serious Games – Foundations, Concepts and Practice« (2016) wird hierfür bei der Definition von Serious Games der Begriff »Characterizing Goal« verwendet: Ein Spiel hat eine charakterisierende Ziel- setzung abgesehen von der reinen Unterhaltung. Beispiele für Serious Games umfas- sen Lernspiele für Kinder und Schüler, spielerische Trainings- und Simulationsumge- bungen für die berufliche‌ Bildung und im industriellen Kontext, Gesundheitsspiele für die Prävention und Rehabilitation oder Serious Games in der Form von sogenannten »social awareness games«, um spielerisch Bewusstsein zu schaffen für gesellschaft- lich relevante Themen wie Sicherheit, Energie und Klima.

Serious Games als Kulturgut und »Tool« für die Gesellschaft Der Ansatz von Serious Games besteht darin, Spieltechnologie und spielerische Kon- zepte zu nutzen und als motivierendes Instrument bzw. methodisches »Tool« für An- wendungsbereiche außerhalb des Unterhaltungssektors einzusetzen. Spieltechnologie wie Game Engines und Game Controller sind seit jeher Innovations- und Technologie- treiber und prägen die heutige Informations- und Wissensgesellschaft mit Digitalisie- TECHNOLOGIE & INNOVATION 6.4 rung, Information und Kommunikation (←). Game Engines werden so gleichermaßen als Visualisierungsinstrument für die Architektur, Stadtplanung und die Immobilien- wirtschaft und auch als spielerische Lern- und Trainingsumgebung – von Lernspie- len für Kinder bis hin zu kollaborativem Einsatzkräftetraining im beruflichen‌ Umfeld – genutzt. Game Controller werden nicht nur zur Steuerung von Unterhaltungsspielen, sondern auch als Tool zur Interaktion zwischen Menschen, Maschinen und Systemen eingesetzt, beispielsweise in der Produktion im Automobilbereich. Spielkonzepte, Anreiz- und Belohnungssysteme sollen die langfristige Moti- vation beim Lernen erhöhen oder den Einstieg und das nachhaltige Training für ein gesundes, aktives Leben mit Bewegung fördern. Auch können die spielerischen An- reizsysteme beispielsweise das umweltfreundliche Mobilitätsverhalten positiv be-

104 —— 105 einflussen, indem die Nutzung von klimafreundlichen Verkehrsmitteln belohnt wird: Pendler, die den ÖPNV nutzen, bekommen mehr Punkte als PKW-Nutzer im Indivi- dualverkehr. Das eigene Mobilitätsverhalten wird dabei durch die Veranschaulichung 3.1 von verbrauchter Energie (Emissionswerte) geschärft und Vergleichslisten helfen das Ansehen von umweltbewussten Verkehrsteilnehmern zu steigern.

Abgrenzung Serious Games und Gamification Der Ansatz, Spielkonzepte in Nicht-Spiel-Kontexten zu nutzen, trifft sowohl bei Seri- ous Games als auch bei Gamification zu: Belohnungsprinzipien wie Punkte, Abzeichen und Ranglisten sind sowohl Grundlage von Apps zur Förderung von umweltfreundli- chem Mobilitätsverhalten als auch von Lernspielen, Vokabeltrainern oder Fitness-An- wendungen (→). Der Unterschied besteht darin, dass Serious Games komplette Spie- 5.8 GAMIFICATION le mit einem Game Design, Regelwerk und Gameplay sind. Gamification-Prinzipien dagegen werden primär als Zusatz für existierende Anwendungen eingesetzt. Am Bei- spiel des umweltfreundlichen Mobilitätsverhaltens lässt sich das gut verdeutlichen: Bei der erwähnten Anwendung handelt es sich um Gamification, sofern eine existieren- de Mobilitäts-App um Gamification-Elemente wie Punkte, Abzeichen oder Ranglis- ten angereichert wird. Sollte dagegen eine eigene Spielwelt mit einem Spielziel (z. B. »Save the Earth«), einer Story z. B. Heldenreise mit dramaturgischer Inszenierung und verschiedenen Aufgaben/zu absolvierenden Missionen und Gameplay – geeignet für die verschiedenen Verkehrsmittel z. B. zeitlich begrenzte Minispiele, die unterwegs im Bus, in der Bahn oder beim Warten auf das nächste Verkehrsmittel bei Umstiegspunk- ten – konzipiert werden, wäre dies ein Serious Game.

Welche Serious Games gibt es und wo findet man diese? Serious Games werden leider fälschlicherweise oftmals mit Lernspielen gleichgesetzt. Jedoch ist dies nur ein Teilbereich von Serious Games. Vielmehr finden sich Serious Games wie geschildert in einer Vielzahl von Anwendungsbereichen und Marktseg- menten mit jeweils variierenden charakterisierenden Zielsetzungen, darunter bei- spielsweise das Schaffen von Bewusstsein für ein gesellschaftlich relevantes Thema, die Förderung eines gesunden Lebensstils, die Vermittlung von historischen und kul- turellen Ereignissen (→) oder ein intendierter Werbeeffekt. 3.6 MUSEUM Im eingangs genannten Serious-Games-Lehrbuch beschreibe ich das breite Anwendungsspektrum von Serious Games und skizziere die Charakteristik anhand von erprobten Beispielen in den jeweiligen Domänen. Im Web-Portal Serious Games In- formation Center (seriousgames-portal.org) können Anbieter und Anwender von Seri- ous Games zusammenfinden, indem Serious-Games-Anbieter wie Entwickler, Studios oder Publisher ihre Spiele beschreiben und Anwender, z. B. Lehrer, Ausbilder oder Ärz- te und Therapeuten, diese Spiele auf‌finden. Die Grundlage zur Beschreibung der Se- rious Games bildet das standardisierte »Serious Games Metadatenformat«, das unter meiner Leitung in Kooperation mit 46 Personen von 42 Einrichtungen aus Forschung und Industrie als DIN SPEC 91380 konzipiert wurde und über den Beuth Verlag kos- tenfrei erhältlich ist.

VERMITTLUNG Beschreibungselemente von Serious Games enthalten allgemeine Spielinformationen wie den Titel eines Spiels, die charakterisierende Zielsetzung, eine Zusammenfassung 3.1 des Spiels (engl.: Game Synopse), das Genre, den Spielmodus (Single- oder Multi- player), Schlagworte und einen visuellen Eindruck des Spiels z. B. ein Bild des Spielge- schehens. Darüber hinaus werden Beschreibungselemente zur Zielgruppe und Nut- zung des Spiels in einem Anwendungskontext angeboten sowie Informationen über Distributionskanäle und Technologie – wie das Spiel bezogen werden kann und auf welchen Plattformen es läuft. Viele dieser Beschreibungselemente treffen auch für die Beschreibung und Bewertung (engl.: Rating Systeme) für Unterhaltungsspiele zu, jedoch gilt es bei Seri- ous Games, diese für Spiele allgemeingültigen Aspekte mit der charakterisierenden Zielsetzung als »ernsten« Teil von Serious Games in Einklang zu bringen. Ob dieser mit einem Serious Game verfolgte Zweck wirklich erreicht wird, wird in Qualitätsin- formationen beschrieben. Beispielsweise können klinische (Vergleichs-)Studien bei Gesundheitsspielen Aufschluss geben, ob dadurch im Vergleich zu klassischen Thera- pieprogrammen bessere Erfolge erzielt werden. Ähnlich im Bildungsbereich: Können durch den Einsatz von Serious Games bessere, nachhaltige Lernerfolge erzielt wer- den oder zumindest die Lernmotivation und Lernzeit gesteigert werden?

Was zeichnet ein gutes Serious Game aus und was darf es kosten? Oftmals stehen potenzielle Anwender von Spielen vor der Frage, ob sie in ein Spiel investieren sollen oder nicht: Im Privatsektor möchten Eltern oder Großeltern ihrem Nachwuchs zu Weihnachten etwas Gutes tun und ein Spiel schenken, das gleichzei- tig auch für die Schule nützlich ist. Im beruf‌lichen Umfeld entscheiden Ausbilder in Industriekonzernen darüber, mit welchen Methoden Ausbildungsinhalte oder allge- meine Themen wie Sicherheitsinstruktionen vermittelt werden; Ärzte und Therapeu- ten suchen nach geeigneten Trainingsprogrammen, die ihre Patienten möglichst ziel- gerichtet in einer Reha-Maßnahme unterstützen. Die beiden wesentlichen Entscheidungskriterien sind die Qualität eines Spiels und der Preis. Während die Qualität im beruf‌lichen Kontext primär auf einen mög- lichst garantierten Nutzen abzielt – zum Beispiel ein Trainingseffekt oder Gesund- heitseffekt nachgewiesen über Evaluationsstudien oder klinische Tests mit der Ziel- gruppe – kommt es bei einer Kaufentscheidung im privaten Umfeld vor allem auf den Spielspaß (Game Design, Gameplay, Story) und die Aufbereitung des Spiels (Grafik, Sound, usw.) an. Bei der Preisfrage und der Kosten-Nutzen-Relation werden im Seri- ous-Games-Markt Vergleiche mit der Unterhaltungsspielindustrie Stefan Göbel leitet die Forscher- und dem jeweiligen Serious-Games-Anwendungsbereich heran- gruppe Serious Games an der gezogen: Am Beispiel von Fitness- und Lifestyle-Apps im Privat- Technischen Universität Darmstadt. sektor können als Anhaltspunkte Kostenmodelle für Fitness-Stu- dios dienen; im medizinischen Reha-Bereich werden Spiele-Investitionen oftmals mit den Kosten für Physio-Geräte und Trainingsprogramme für Reha-Maßnahmen in Be- zug gesetzt. Im Bildungswesen werden als Bezugsgröße oftmals die Kosten pro Lern- minute in computergestützten Lernarrangements herangezogen. Jedoch hinkt dieser

106 —— 107 Vergleich, da die Produktion von Lernspielen insbesondere in der Form von eindrück- lichen 3D-Spielewelten wesentlich aufwändiger und komplexer ist als die Erstellung klassischer computergestützter Lernanwendungen, also beispielsweise E-Learning- 3.1 Modulen in der Form von Textdokumenten und einfachen interaktiven Elementen wie Multiple-Choice-Fragen/Quizze. Insgesamt ist die Produktion von Serious Games zumindest so komplex und anspruchsvoll wie die Entwicklung von Unterhaltungsspielen: Es müssen sowohl die Anforderungen an den Spielspaß als auch zusätzliche Erwartungen im Hinblick auf das Erreichen eines intendierten »Characterizing Goal« adressiert werden. Dies im- pliziert bei der Entwicklung von Serious Games die Einbeziehung von Fachexperten aus dem jeweiligen Serious-Games-Anwendungsbereich; hierdurch erhöht sich im Allgemeinen der Abstimmungsaufwand gegenüber der Produktion vieler reiner Un- terhaltungstitel. Eine Ausnahme dabei bilden Unterhaltungs-/Strategiespiele wie Sid Meier’s Civilization (seit 1991), die historische Geschehnisse aufgreifen und auch gerne ERINNERUNGS­ im Geschichtsunterricht in der Schule eingesetzt werden (→). 3.2 KULTUR Erfolgreiche Serious Games wie Re-Mission (2006) im Gesundheitsbereich mit einem siebenstelligen Entwicklungsbudget zeigen, dass das zur Verfügung stehende Budget unmittelbare positive Auswirkung auf die Qualität und Akzeptanz eines Seri- ous Games hat: Es konnte bei Re-Mission in einer klinischen Studie gezeigt werden, dass die Zielgruppe krebskranker Kinder das Spiel sehr gut angenommen hat und das Therapie-Engagement im Vergleich zu Patienten, die das Spiel nicht genutzt haben, gesteigert werden konnte. Viele andere Serious Games oder insbesondere auch Ga- mification-Anwendungen haben leider oft nur geringe Entwicklungsbudgets – zu- meist im fünfstelligen Bereich –, sodass sowohl Spielumfang und Spielzeit als auch die Qualität wie ansprechende Grafik, eindringliche Umgebungen, abwechslungs- reiches Gameplay und damit einhergehend die Akzeptanz und Effekte auf Nutzer- seite eingeschränkt sind.

Status Quo und Ausblick In Deutschland gibt es bisher nur wenige etablierte Spieleentwickler, die sich im Be- reich Serious Games engagieren oder voll und ganz auf Serious Games konzentrie- ren. Ein Grund hierfür ist die vorhandene Unsicherheit im Hinblick auf das Marktpo- tenzial und geeignete Finanzierungs- und Geschäftsmodelle. Konkrete Marktzahlen sind schwierig zu ermitteln, da es im Serious-Games-Markt viele Auftragsproduktio- nen von einem Spieleentwickler für einen Kunden mit nicht offengelegten Investitio- nen gibt (engl.: Business-to-Business, B2B). Geschäftsmodelle mit entwickelten Spie- len, die für eine Vielzahl von Nutzern über den Handel erhältlich sind, sind bei Serious Games eher unüblich (engl.: Business-to-Consumer, B2C). Innerhalb des Vorhabens »Wissens- und Technologietransfer (WTT) Serious Games« an der TU Darmstadt wird der konkrete Bedarf der einzelnen beteiligten Ak- teure im Serious-Games-Markt – Spieleentwickler, Dienstleister, Fachexperten in- klusive Forschung und Anwender – ermittelt. Darauf basierend werden im interdiszi- plinären Dialog zwischen Forschung, Kreativwirtschaft und Repräsentanten aus den

VERMITTLUNG Serious-Games-Anwendungsbereichen Handlungsempfehlungen für den erfolgrei- chen Einstieg und nachhaltige Geschäftsmodelle erarbeitet. Zur Bestimmung und Be- 3.1 wertung der Qualität wird des Weiteren ein RAL-Gütezeichen (Deutsches Institut für Gütesicherung und Kennzeichnung) für Serious Games konzipiert, das gleichermaßen als Marketing-Instrument für den Vertrieb bzw. als qualitatives Entscheidungskriteri- um für die Investition in Serious Games herangezogen werden kann. Serious Games sind in der Öffentlichkeit und Politik voll akzeptiert und haben enormes Potenzial als Kulturgut und Tool für die Bildung, Gesundheit und Gesellschaft.

Literatur ✕ Dörner, Ralf; Göbel, Stefan; Effelsberg, Wolfgang; Wiemeyer, Josef (Hrsg.): Serious Games. Foundations, Concepts­ and Practice. Springer International Publishing, Schweiz 2016 ✕ GameDays – jährliches Serious Games Event seit 2005: gamedays2020.de ✕ Wissens- und Technologietransfer (WTT) Serious Games inklusive Serious Games Akteurslandkarte und Web-Portal­ Serious Games Information Center: wtt-serious-games.de

108 —— 109 ERINNERUNGS­ 3.2 KULTUR EUGEN PFISTER & FELIX ZIMMERMANN

Was ist Geschichte? Eine einfache Frage, die erstaunlich schwer zu beantworten ist: Geschichte ist zum einen Vergangenes, also alles, was zurückliegt. Als Wissenschaft ist sie aber nicht nur die Wiedergabe des Vergangenen »wie es vermeintlich wirk- lich war«, sondern auch dessen Deutung. Denn unsere Geschichte verändert sich mit uns. Sie hängt immer von der Gesellschaft ab, die sie produziert. Anders formu- liert: Die Eckdaten der Kreuzzüge verändern sich nicht, ebenso wenig die beteilig- ten Menschen, dafür aber unserer Perspektive auf das Geschehene. Waren es früher vor allem Schlachten und Feldherren, die Geschichte »großer Männer«, die die Ge- schichtsbücher füllten, interessiert uns heute eher die Mentalität der restlichen Be- völkerung, ihr Zusammenleben und Alltag. Geschichte ist also nicht nur eine Geistes- wissenschaft unter vielen, sie ist auch Teil unserer Erinnerungs- und der Populärkultur und damit unserer kollektiven Identität. Auch deshalb funktioniert sie so gut als Marke für Digitale Spiele und ist beliebter narrativer und ästhetischer Hintergrund für Hun- derte neue Games jedes Jahr.

Spiel-Geschichte Quellen sind – wenn man so will – der Treibstoff der Geschichtswissenschaft. Soge- nannte Primärquellen sind all jene Zeugnisse, die von Akteurinnen und Akteuren der Vergangenheit bewusst oder unbewusst zurückgelassen wurden und auf deren Basis Forschende Aussagen über die Vergangenheit treffen können. Obwohl der Quellen- begriff eigentlich recht offen ist und neben schriftlichen auch bildliche und dingliche Quellen umfasst, liegen trotzdem weiterhin vor allem geschriebene Texte im Fokus der Forschung, also beispielsweise Akten, Urkunden, Tagebücher oder Briefe. Nicht zuletzt mit der Etablierung der sogenannten »Public History« hat die Geschichtswis- senschaft ihre Quellenbasis aber erheblich ausgeweitet, weil nun neben vielen ande- ren Formaten auch Filme, Comics oder eben auch Digitale Spiele in den Blick genom- men werden. »Geschichte in Games« und »Geschichte als Wissenschaft« sind dabei keineswegs deckungsgleich. Die Beziehung zwischen diesen beiden Polen ist grund-

VERMITTLUNG sätzlich aus zwei Perspektiven analysierbar: Erstens sind Digitale Spiele eine neue historische Form, d. h. sie erzählen auf spezifische Art und Weise Geschichte, indem 3.2 sie ihre wiederum spezifischen medialen Eigenschaften nutzen. Für die Geschichts- wissenschaft von Interesse ist hier, mit welchen Mitteln Digitale Spiele Vergangen- heit erzählen und somit eigene Arten von Geschichte schreiben, die sich qualitativ ganz grundsätzlich von wissenschaftlichen Monographien, aber auch von Historien- Romanen oder -Filmen unterscheiden. Zweitens sind Digitale Spiele immer Produk- te ihrer jeweiligen Entstehungszeit und deswegen außerordentlich lohnende Quellen, um Aussagen über diese zu treffen. Sie geben Auskunft über die Gesellschaft, Kul- tur und Politik, die sie hervorgebracht hat. Zu erforschen ist hier, inwiefern sich die- ser Entstehungskontext im Spiel selbst wiederfindet, also welche Rückschlüsse sich auf Basis der Spiele auf in deren Entstehungszeit vorherrschende Ideologien, Gepflo- genheiten oder Zwänge ziehen lassen.

Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele – Ein kompliziertes Verhältnis Digitale Spiele werden aktuell vor allem digital über weltweit aktive Verkaufsplattfor- men wie Steam oder GOG vertrieben, während sich die Geschichtswissenschaft nach wie vor schwertut, jenseits von Sprachbarrieren überhaupt wahrgenommen zu wer- den. Games haben somit einen erheblichen Einfluss auf eine deutsche, österreichische, schweizerische, aber eben auch auf eine europäische, ja eine globale Erinnerungskul- tur, d. h. darauf, wie Gesellschaften und Individuen mit ihrer Geschichte umgehen und welche Geschichte sie überhaupt erinnern. Geschichtsdarstellungen in Spielen wei- chen allerdings häufig ganz grundsätzlich vom aktuellen Geschichtsverständnis an den Hochschulen ab. Die Forschung hat spätestens seit dem ausgehenden 20. Jahrhun- dert die Idee einer abgeschlossenen historischen Wahrheit in Frage gestellt, indem sie Geschichte immer als soziales und kulturelles Konstrukt begreift. Vereinfacht gesagt: Auch eine Historikerin oder ein Historiker, die oder der einen wissenschaftlichen Text zu einem Thema verfasst, hat nur bestimmte Quellen ausgewertet sowie bestimmte Fragen an die Quellen gestellt und hat dann eine bestimmte Form der Erzählung ge- wählt, um das Thema darzustellen. Sie oder er hat sich, wenn gewissenhaft und gemäß wissenschaftlichen Standards gearbeitet wurde, zwar einer Rekonstruktion des Ver- gangenen angenähert, doch eine finale Aussage im Sinne eines »So ist es damals ge- wesen« kann es nicht geben, da die Vergangenheit nie in ihrer Vollständigkeit erfasst werden kann. Kurz: Leerstellen bleiben. In guter Forschung werden solche Leerstellen bewusst deutlich gemacht, es bleiben offene Fragen. An solche selbstkritischen Maß- stäbe und Ansprüche müssen sich populäre Geschichtsformate wie das Digitale Spiel nicht halten – wenn den Entwicklerinnen und Entwicklern überhaupt diese geschichts- wissenschaftliche Debatte um eine unerreichbare historische Wahrheit bewusst ist. Zugleich bedienen aber auch Digitale Spiele – ob gewollt oder nicht – gewisse Geschichtsideologien. So mag es nur auf den ersten Blick erstaunen, dass Games ein Verständnis von Geschichte propagieren, wie es in den Nationalstaaten des 19. Jahr- hunderts populär war, eine Geschichte, »wie es wirklich gewesen ist«, von »großen

110 —— 111 Männern« und epischen Schlachten. Eine Hinterfragung des paradigmatischen Fokus auf Kriege als zentrales Moment der Geschichte sucht man aber vergebens. Quellen- kritik, wie sie die Geschichtsforschung als wissenschaftliche Methode verlangt, hat 3.2 hier scheinbar keinen Platz. Konflikte zwischen Geschichtswissenschaft und Digita- lem Spiel bzw. dessen Macherinnen und Machern sind somit vorprogrammiert. Viel- fach ist Gegenstand dieser Konflikte, dass Digitale Spiele mit historischem Setting Ge- schichtsklitterung betreiben, d. h. Geschichte verfälschen, indem sie sich stark vom wissenschaftlichen Konsens entfernen würden. Grundsätzlich falsch ist eine solche Einschätzung nicht und doch hat sich der Forschungsbereich im letzten Jahrzehnt von einer solchen, absolut gedachten Position zunehmend entfernt. Ein Grund dafür ist, dass dieser Vorwurf einem Fehlschluss aufsitzt. Denn Games müssen naturgemäß nicht denselben wissenschaftlichen Standards genügen wie wissenschaftliche Tex- te, ebenso wenig wie auch Romane und Filme. Es ist nicht Aufgabe der Populärkultur sich kritisch mit Geschichte auseinanderzusetzen, denn das ist schließlich der Auftrag der Geschichtswissenschaft.

Spiele machen Geschichte Das Digitale Spiel unterscheidet sich insofern von anderen Medien als es per Defi- nition interaktiv ist. Es muss von einer oder mehreren Personen gespielt werden, um als Spiel zu existieren. Das eröffnet einige Potenziale, die andere, vornehmlich linea- re Formate der Geschichtsvermittlung nicht haben. So erlauben Games den Spielen- den, die komplexen Handlungswelten einzelner historischer Figuren oder auch größe- rer sozialer Einheiten wie beispielsweise Staaten nachzuspielen. Durch die Offenheit des Programms weichen Spiele so zumindest in der Theorie – in der Praxis allerdings selten – von den teleologischen Narrativen – Ereignis A musste automatisch zu Ereig- nis B führen – anderer Medien ab. Am Beispiel eines Globalstrategiespiels wie Sid Meier’s Civilization Ⅵ (2016), in welchem Spielende eine Zivilisation ihrer Wahl zur Weltherrschaft führen, lässt sich das gut verdeutlichen. Es ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht interessant, wie das Spiel den Spielenden einen Eindruck davon vermittelt, welche diversen Gewer- ke ineinandergreifen und wie viele Unwägbarkeiten das Schicksal ganzer Völker be- stimmen. Hier spielt dem Digitalen Spiel eine Besonderheit seiner Eugen Pfister leitet das Medialität in die Karten: Es kann komplexe historische Sachverhal- Forschungsprojekt »Horror- te und Systeme darstellen und simulieren, deren Komplexität für Game-Politics« an der andere Vermittlungsformate erheblich reduziert werden müsste. Hochschule der Künste Bern. So stellt Civilization Ⅵ beispielsweise schwer greifbare Prozes- Felix Zimmermann ist Public se wie internationalen Kulturaustausch oder so abstrakte Größen Historian. wie Staatsformen dar und erlaubt uns damit – trotz notwendiger Vereinfachungen – neue anregende Perspektiven auf eine Globalgeschichte. Doch – und damit kommen wir zur Kehrseite der Medaille – verformt die Programmstruk- tur von Civilization Ⅵ die erzählte Geschichte derart, dass bereits zahlreiche Histo- rikerinnen und Historiker vehemente Kritik an der Reihe geübt haben. Populäre und am Markt erfolgreiche Spiele müssen in der Regel den Spielenden die Möglichkeit

VERMITTLUNG geben, selbstwirksam in der Spielwelt handeln zu können, also »Agency« zu haben. Hierfür sind allerdings nicht alle historischen Spielesettings gleichermaßen geeignet, 3.2 bzw. werden bestimmte historische Kontexte im Namen der Spiellogik derart verformt, dass sie möglichst große Handlungsfreiheit und -macht eröffnen. Wie plausibel ist es etwa, wenn das Schicksal eines Stammes von der Ur- und Frühgeschichte bis ins »Ra- ketenzeitalter« in der Hand eines Menschen bleibt? Ist Expansion wirklich das höchste historische Ziel? Nicht zufällig werden Globalstrategiespiele wie Civilization Ⅵ auch als 4X-Games bezeichnet, wobei 4X für »eXplore«, »eXpand«, »eXploit« und »eXter- minate« steht. Und so erzählt Civilization Ⅵ dann auch Globalgeschichte als eine Ge- schichte von gewaltsamer Expansion, Ausbeutung und sogar Ausrottung ganzer Kultu- ren und nimmt dazu zu keinem Zeitpunkt eine kritische Haltung ein. Damit normalisiert die Spielereihe Krieg und Gewalt als den Modus Operandi der Menschheitsgeschich- te – auch wenn Möglichkeiten wie der »Forschungssieg« oder »Kultursieg«, die in den letzten Teilen der Reihe hinzugekommen sind, diese Tendenz etwas abgeschwächt ha- ben. Zugleich bedienen die meisten dieser Spiele den Mythos des allmächtigen An- führers, der sich weder um Wahlen noch um Beliebtheit seines digitalen Volkes wirk- lich Sorgen machen muss. Doch Civilization Ⅵ soll hier nur stellvertretend für einen breiten Korpus an Games mit historischem Setting stehen, die mehrheitlich und bis heute gewalt- und konfliktbasierte Geschichte erzählen. Zu nennen wären etwa nochEgo-Shooter , die sich des Zweiten Weltkriegs als Szenario bedienen, darunter die Call-of-Duty-Reihe (seit 2003) oder die Battlefield-Reihe (seit 2002). Die Assassin’s-Creed-Reihe (seit 2007) wiede- rum springt durch die Epochen (ptolemäisches Ägypten, Dritter Kreuzzug in Jerusa- lem, usw.), erzählt aber jede dieser Epochen als blutigen Kampf der Geheimorgani- sationen der Templer und Assassinen um die Weltherrschaft. Strategiespiele wie die Age-of-Empires-Reihe (seit 1997) entführen Spielende auch gerne in ein europäisches Hochmittelalter, verlangen von den Spielenden aber hauptsächlich, Armeen aufzu- bauen und diese in Schlachten zu führen. Nimmt man die Medialität des Digitalen Spiels ernst, so ist die Frage danach, ob in diesen Spielen die Geschichte korrekt dargestellt wird, müßig. Die Antwort auf diese Frage muss notgedrungen »Nein« lauten. Doch: Allzu oft wird von bestimmten Spielen behauptet, dass sie historisch authentisch seien, wobei Authentizität, Korrekt- heit und Akkuratesse in der Regel zu einem diffusen Ganzen verschwimmen. So lässt sich nur noch schwer bestimmen, was überhaupt noch gemeint ist, wenn verschiede- ne Akteurinnen und Akteure von »authentischen Spielen« sprechen. Authentizität ist in diesem Sinne ein Modewort und wird von Marketingabteilungen zur Bewerbung ih- rer Spiele genutzt. Durch die Behauptung, sich besonders nah an einer vermeintlichen historischen Wahrheit zu bewegen, soll ein Mehrwert suggeriert werden. Zugleich for- dern aber auch viele Spielende eine solche Authentizität vehement ein und kritisie- ren – nicht selten auf Basis ihrer eigenen, nicht unbedingt wissenschaftlich fundierten Geschichtsbilder – solche Spiele, die sie nicht als authentisch empfinden. Um diesen Erwartungen zu entsprechen, stellen vor allem große Produktionsstudios mittlerweile Anstrengungen an, Historikerinnen und Historiker einzubinden, um ihr ­Spielesetting zu

112 —— 113 beglaubigen. Diese Anstrengungen bewegen sich insgesamt auf einem schmalen Grat zwischen einer genuinen Ausrichtung am Forschungsstand und einer nur verkaufsstei- gernden weil marketingwirksamen Verifizierung der Spiele. 3.2 Zusammenfassend ist es aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspekti- ve daher produktiver, die Entstehungskontexte von Spielen in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, warum bestimmte Settings, Aussagen und Darstellungsfor- men dominieren oder dominiert haben. Warum fokussieren wir auf diese oder jene historische Periode, Gruppe oder Person und ignorieren die anderen? Was sagt das über unsere Populär- und Erinnerungskultur und unsere Gesellschaft aus? Dies sind die Fragen, welche die Geschichtswissenschaft seit den 2010er Jahren zunehmend beschäftigen.

Spiele sind Geschichte Es gilt an dieser Stelle festzuhalten, dass sich unsere bisherigen Bemerkungen vor al- lem auf hochbudgetierte Produktion, sogenannte »AAA«-Spiele, beziehen. Für diese Titel, deren Produktionsbudgets sich mittlerweile in dreistelligen Millionenbeträgen messen lassen, lässt sich festhalten, dass sie zum Erfolg und damit zum Einnehmen ebenfalls enormer Summen geradezu gezwungen sind. Deshalb gehen deren Entwick- lungsstudios in der Regel den Weg des geringsten Widerstandes, passen also das his- torische Setting den Spielgewohnheiten der Konsumentinnen und Konsumenten an. Dieses Vorgehen ist an und für sich legitim, da Spiele – wie erläutert – keinen unbe- dingten Bildungsauftrag haben. Aber es reduziert die enorme Bandbreite menschli- cher Geschichte auf ein tausendfach wiederholtes Minimum. Außerdem führt es dazu, dass traumatische und kontroverse Geschichte meist ausgespart oder gar verharm- lost wird. Problematisch ist das, wenn man sich erneut Reichweite und Erfolg des Me- diums vor Augen führt. Wir müssen davon ausgehen, dass solche populärkulturellen Bilder der Vergangenheit unsere Erinnerungskulturen prägen und – analog zu ande- ren populärkulturellen Medien – ausverhandeln, was sag- und zeigbar ist in unserer Gesellschaft. Auch deswegen sind sie als Quelle von Bedeutung. Prominente Beispie- le sind hier die Aussparung der Sklaverei in der Wirtschaftssimulation Anno 1800 (2019), die stereotypisierte Mittelalterdarstellung eines Kingdom Come: Deliverance (2018) oder die Aussparung des Holocaust in der deutschen Version von Wolfenstein Ⅱ: The New SOZIAL- Colossus (2017) (→). 3.3 ADÄQUANZ Sogenannte Independent Games (kurz: »Indies«) können bei der Umsetzung eines historischen Settings andere Schwerpunkte setzen und die Interaktivität des INDEPENDENT Mediums mit dem tatsächlichen Ziel der Geschichtsvermittlung einsetzen (→). Sol- 6.5 GAMES che Kleinstentwicklungen sind nur eingeschränkt mit Großproduktionen zu verglei- chen, weil sie anderen Entwicklungslogiken unterworfen sind. Dennoch helfen sie – bei Erfolg – das Spektrum der Spiele mit historischem Setting zu erweitern, das von audiovisuell hochgradig beeindruckenden Rekonstruktionen historischer Orte mit komplexen, meist actiongeladenen Handlungsmöglichkeiten bis hin zu im Vergleich minimalistischen, aber innovativ den Forschungsstand verarbeitenden Titeln reicht. Klar muss sein, dass beide Arten von Spielen und alles, was sich zwischen diesen Po-

VERMITTLUNG len bewegt, Erinnerungskulturen prägen und dass sich diese Spiele ihrer Verantwor- tung bewusst sein sollten. Auch wenn Digitale Spiele keinen didaktischen Anspruch 3.2 verfolgen, so sind sie sicherlich nicht »nur Spiele« oder »nur Unterhaltung«, wie viel- fach argumentiert wird, sondern immer auch ein Ort, an dem Vergangenheit und Ge- genwart aufeinandertreffen und zu Geschichte werden.

Literatur ✕ Nolden, Nico: Geschichte und Erinnerung in Computer-­ spielen. Erinnerungskulturelle Wissenssysteme. De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2019 ✕ Pfister, Eugen; Winnerling, Tobias: Digitale Spiele, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 10. Januar 2020: docupedia.de/zg/Pfister_Winnerling_digitale_spiele_v1_de_2020 ✕ Schwarz, Angela: »Join us in making history«. Muster von Geschichtsinszenierung im Computerspiel. In: Zugänge zur Public History. Formate – Orte – Inszenierungsformen (hrsg. von Frauke Geyken und Michael Sauer). Wochenschau Verlag, Schwalbach am Taunus 2019, S. 41–61

114 —— 115 SOZIAL- 3.3 ADÄQUANZ JÖRG FRIEDRICH

Als die Bundesrepublik Deutschland 1949 gegründet wurde, wollte man sicherstellen, dass die von den Alliierten verhängten Verbote aller nationalsozialistischen Organi- sationen dauerhaft bestehen blieben und so entstand im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) unter anderem der § 86a, der das »Verwenden von Kennzeichen verfassungs- widriger Organisationen« unter Strafandrohung verbietet. Die erste Organisation, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt wurde und deren Kennzeichen und Symbole man verbot, war die Nationalsozialistische Deut- sche Arbeiterpartei (NSDAP). Wer gegen den Paragrafen § 86a StGB verstößt, indem er ein solches Kennzeichen, sei es ein Symbol oder eine »typische Geste«, wie z. B. den Hitlergruß verwendet, wird mit einer Geldstrafe oder bis zu drei Jahren Gefäng- nis bestraft. Begründet wird dies damit, dass der Staat, um die Freiheit und das Wohl der Bürger zu verteidigen, die Meinungsäußerungsfreiheit im Falle dieser Symbo- le bewusst einschränken muss, um der Bedrohung durch die Organisationen, die sie repräsentieren, entgegenzuwirken. Bei seiner Einführung war §86a StGB aber auch ein Zugeständnis an die Opfer der NS-Herrschaft, die sich auf deutschem Boden nie wieder mit den Symbolen ihrer Peiniger konfrontiert sehen sollten. Diese Einschrän- kung ist nachvollziehbar, aber sie wirft die Frage auf, was geschieht, wenn jemand z. B. die Geschichte des Nationalsozialismus dokumentarisch oder künstlerisch verarbei- ten möchte und dabei auf diese Kennzeichen zurückgreift. Wie sollten die nächsten Generationen von Deutschen überhaupt lernen, welche Symbole zu vermeiden sind, wenn sie sie nie sehen können? Für diese Fälle wurde eine Ausnahme geschaffen. Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen dürfen verwendet werden, sofern dies »im Kontext von Kunst, Wissenschaft, Forschung oder Lehre« geschieht, dann gilt die sogenannte »Sozialadäquanz«. Aufgrund dieser Ausnahme ist das Zeigen ver- fassungswidriger Symbole in Geschichtsbüchern, Filmen, Theaterstücken, Romanen, Comics, in Museen und allen anderen Zusammenhängen, auf die sich die Sozialad- äquanzklausel anwenden lässt, erlaubt – solange keine Verherrlichung des National- sozialismus stattfindet.

VERMITTLUNG In in Deutschland veröffentlichten Computerspielen fand man vor August 2018 je- doch keine verfassungswidrigen Symbole. Die Unterhaltungssoftware Selbstkontrol- 3.3 le (USK), die in Deutschland Digitale Spiele für eine verbindliche Altersfreigabe prüft, hatte bis August 2018 Spiele von der Prüfung ausgeschlossen, in denen verfassungs- widrige Kennzeichen verwendet wurden. Ein solches, nicht durch die USK gekenn- zeichnetes Spiel, ist zwar nicht verboten, aber Werbung und Verkauf sind stark ein- JUGEND- SCHUTZ 5.5 geschränkt (←). Um diese Einschränkung zu umgehen und eine Alterskennzeichnung durch die USK zu erhalten, ersetzten viele Hersteller in den deutschen Versionen ihrer Computerspiele mit historischem Setting die verfassungswidrigen Kennzeichen mit weniger belasteten Symbolen (z. B. dem Balkenkreuz), Fantasiesymbolen oder fiktio- nalisierten das Szenario in Gänze. 2017 begannen Sebastian Schulz und ich ein Computerspiel namens Through the Darkest of Times (2020) zu entwickeln, in dem man eine zivile Widerstandsgruppe in Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus spielt. Während das Leben für Gegner des Re- gimes und für die von den Nazis verfolgten Minderheiten immer schwieriger wird, gilt es für die Spielerin, eine Widerstandsgruppe aufzubauen und eine Vielzahl von Akti- onen durchzuführen, um dem Regime standzuhalten und Verfolgten zu helfen. Auch wenn die gespielte Widerstandsgruppe fiktiv ist, orientierten wir uns an realen Men- schen und Gruppen und betteten die fiktiven interaktiven Handlungen der Spieler in die tatsächlichen, historischen Ereignisse ein. Wir fanden, dass es zu wenige Com- puterspiele gab, die die Zeit des Nationalsozialismus aus der Sicht von Zivilpersonen erzählten. Antisemitismus, Zerstörung der Demokratie oder der Holocaust fanden in Digitalen Spielen kaum statt und das, obwohl der Zweite Weltkrieg ein überdurch- schnittlich häufig gewähltes Szenario ist. In Spielen mit einem solchen Szenario sind die Rollen klar verteilt. Die Guten (Alliierten) kämpfen gegen die Bösen (Achsenmäch- te). Auch wegen dieser klaren Zweiteilung ist dieses Setting in Spielen so beliebt. Al- lerdings findet abgesehen von dieser sehr groben Einordnung keine weitere Bestim- mung der Parteien statt. Im Gegenteil lässt sich hier von einer Entpolitisierung und Entideologisierung des Konfliktes sprechen. Das bedeutet, dass die menschenverach- tende Rassenideologie der Nationalsozialisten kaum zur Sprache Jörg Friedrich ist Game Designer kommt, dass die Rolle der zahllosen Kollaborateure und vermeint- und Gründer des unabhängigen lich unbeteiligten Bystander bei der Machtergreifung der Natio- Entwicklers Paintbucket Games. nalsozialisten ausgeblendet und dass ziviler Widerstand unsicht- bar wird. Außerdem findet der Holocaust überhaupt keine Erwähnung, sodass solche Spiele in letzter Konsequenz zu einer Weißwaschung des Nationalsozialismus beitra- gen – auch wenn dies mit ziemlicher Sicherheit nicht intendiert ist. Unser Ziel war, mit Through the Darkest of Times neue Wege aufzuzeigen, wie Computerspiele mit diesen Themen umgehen können. Aber 2017 mussten wir einen Weg finden, mit dem §86a StGB und dem Ausschluss von Spielen mit verfassungs- widrigen Kennzeichen von der USK-Prüfung umzugehen. Wir wollten das Szenario nicht fiktionalisieren, denn uns war wichtig, die Geschichte des zivilen Widerstands während des Nationalsozialismus zu erzählen. Wir wollten auch keine eigenen Kenn- zeichen erfinden. Es blieb uns daher nur der Weg, die Symbole wegzulassen. Im Er-

116 —— 117 gebnis trugen dann SA-Männer eine rote Armbinde mit einem weißen Kreis. Wir wa- ren mit dieser Lösung zufrieden, denn jeder verstand, was gemeint war und wir hatten die Regeln eingehalten – so dachten wir zumindest. Aber wir mussten schnell lernen, 3.3 dass es nicht so einfach werden würde, wie wir gedacht hatten. Hakenkreuze weg- zulassen, war eine Sache, aber den Hitlergruß zu entfernen, schon deutlich schwe- rer. An einer Szene, die wir auf der gamescom 2018 zeigen wollten, wurde uns das besonders schmerzlich bewusst: Die Spielerin wird Zeugin der öffentlichen Bücher- verbrennung auf dem Opernplatz in Berlin. Mitglieder der NS-Studentenschaft hat- ten sich damals um ein Feuer versammelt, warfen Bücher missliebiger Autoren hin- ein, brüllten NS-Parolen und reckten den rechten Arm zum Hitlergruß. Aber hätten wir das so für unser Spiel abgebildet, hätte uns die USK keine Altersfreigabe erteilen können und wir das Spiel nicht auf der gamescom zeigen dürfen. Wir versuchten es so zu gestalten, dass man nur das Feuer sehen würde. Die NS-Studenten wurden abgeschnitten, ihre salutierenden Arme versteckt, die Paro- len umgeschrieben oder weggelassen. Diese Veränderungen machten aus dieser ein- deutigen, auf Anhieb erkennbaren Szenerie plötzlich ein beliebiges Feuer; die jungen Männer in ihren kurzen Hosen hätten genauso gut Pfadfinder sein können. Die ganze Szene wurde in ihrer historischen und erzählerischen Aussage schwach und beliebig. Hatten wir uns bislang mit der besonderen Einschränkung für Digitale Spiele abge- funden, wurde uns nun zum ersten Mal wirklich bewusst, wie schwer es werden wür- de, unter diesen Bedingungen eine Geschichte aus jener Zeit zu erzählen. Uns fehl- ten buchstäblich die Worte. Wir begannen die Situation ungerecht zu finden: Kein anderes Medium hat- te dieses Problem. Kein Filmemacher musste sich darüber Sorgen machen, kein Au- tor, kein Comiczeichner. Aber weil wir diese Geschichte durch ein Computerspiel er- zählten, spielte der Kontext keine Rolle. Verfassungsfeindliche Symbole schlossen eine USK-Bewertung aus. Ohne USK-Bewertung war eine Veröffentlichung in Deutschland unmöglich. Am Ende hatten wir Glück. Am 9. August 2018, nur zwei Wochen vor der gamescom, auf der wir unser Spiel einer großen Öffentlichkeit zeigen wollten, änder- te die Oberste Landesjugendbehörde (OLJB) die Regeln und kam zu einer »veränder- te[n] Rechtsauffassung«‌ . Dies dürfte unter anderem mit der kritischen Berichterstat- tung zu Wolfenstein Ⅱ: The New Colossus (2017) zu tun gehabt haben. In der deutschen Version des Spiels waren Verweise auf den Holocaust entfernt worden, die es in der internationalen Version noch gegeben hatte, was zu großer Aufmerksamkeit für das SERIOUS Thema führte. Zuvor konnte das Serious Game (→) Attentat 1942 (2017), das die Ge- 3.1 GAMES schichte der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nationalsozialisten erzählt, nicht in Deutschland veröffentlicht werden, was ebenso für Kontroversen sorgte. Doch nach der Neupositionierung der OLJB durften Digitale Spiele von nun an trotz verfas- sungsfeindlicher Symbole bei der USK zur Prüfung eingereicht werden und konnten abhängig vom Kontext eine Altersfreigabe erhalten. Wir durften nun in Through the Darkest of Times die Dinge so erzählen, wie sie sich tatsächlich ereignet hatten. Das Spiel bekam von der USK eine Altersfreigabe ab zwölf Jahren und wird heute u. a. von Lehrern und Lehrerinnen im Geschichtsunterricht eingesetzt. Es lässt sich abschlie-

VERMITTLUNG ßend festhalten: Die Anwendung der Sozialadäquanzklausel auf Games öffnet für das Medium die Tür, gleichberechtigt an der Erinnerungskultur teilhaben und einen ver- ERINNERUNGS­ KULTUR 3.2 antwortungsvollen Umgang mit unserer Vergangenheit mitgestalten zu können (←).

Literatur ✕ Oerding, Henrik: Mit Hakenkreuzen spielt man doch. Zeit Online, 2018: zeit.de/digital/games/2018-10/videospiel- through-darkest-times-nazizeit-hitlergruss-hakenkreuz ✕ Zimmermann, Felix: Wider die Selbstzensur – Das Dritte Reich, nationalsozialistische Verbrechen und der Holocaust im Digitalen Spiel. Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele, 2017: gespielt.hypotheses.org/1449 ✕ Zimmermann, Felix: Den Holocaust spielen. In: Politik & Kultur – Zeitung des Deutschen Kulturrates. 4/2017, S. 11

118 —— 119 KULTUR- 3.4 ARCHIVE SEBASTIAN MÖRING

Das Sammeln ist eine der ältesten menschlichen Praktiken. Sie hat sich im Laufe der Entwicklung der Menschheit in verschiedenen Formen ausdifferenziert: vom Sam- meln von Nahrung zur Existenzsicherung hin zum Sammeln von vielgestaltigen kul- turellen Artefakten. In Archiven speichern Kulturen die Geschichte und Gegenwart ihrer Wertvorstellungen, Ausdrucksformen, Denk- und Handlungsweisen und ihrer Arbeits- und Lebensformen. Archive ermöglichen es einer Kultur, sich zu sich selbst in Beziehung zu setzen, indem sie ein Verständnis verschiedener Lebenswelten zu un- terschiedlichen Zeiten gestatten. Als weitverbreitetes Alltagsmedium gibt das Com- puterspiel Auskunft über vergangene und gegenwärtige Lebenswelten und deshalb ERINNERUNGS­ sind Computerspiele beliebte Sammelobjekte (→). 3.2 KULTUR In Deutschland gibt es eine Vielzahl von privaten und institutionalisierten Com- puterspielarchiven, deren Sammlungen häufig auf das bürgerschaftliche Engagement und die Initiativen einzelner Akteurinnen und Akteure zurückzuführen sind. Die nach eigener Auskunft größte private Computerspielsammlung ist mit 10.000 Spielen das Haus der Computerspiele. Sie wurde vom Leipziger Journalisten René Meyer initiiert. Die Sammlung des Computerspielemuseums in Berlin mit bis zu 30.000 Exemplaren geht auf die Initiative des Fördervereins für Jugend und Sozialarbeit (fjs e.V.) zurück. Sie ist damit die größte institutionalisierte Sammlung in Deutschland. Über die größte Sammlung an einer deutschen Hochschule verfügt das DIGAREC – Sebastian Möring koordiniert Zentrum für Computerspielforschung der Universität Potsdam mit das DIGAREC – Zentrum etwa 10.000 Spieletiteln. Auf internationaler Ebene sammeln eta- für Computerspielforschung blierte Kulturinstitutionen wie das Museum of Modern Art (MoMA) der Universität Potsdam. und die Library of Congress in den USA oder die Königliche Biblio- thek in Dänemark. Hierzulande erweitert das renommierte Deutsche Literaturarchiv Marbach seinen Sammlungsauftrag und schließt Computerspiele darin ein. Das ein- zigartige Leuchtturmprojekt Internationale Computerspielsammlung führt verschie- dene Sammlungen zusammen mit dem Ziel, die Expertisen seiner Partnerinstitutionen (Stiftung Digitale Spielekultur, Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle, Computerspie-

VERMITTLUNG lemuseum, DIGAREC und game – Verband der deutschen Games-Branche) zu bün- deln und sich gemeinsam den vielfältigen Aufgaben der Sammlung und Archivierung BEWAHRUNG 3.5 von Computerspielen zu widmen (←). Computerspielsammlungen entstehen aus unterschiedlichen Motiven: Lieb- haberei, Bewahrung von Kulturgut für die Öffentlichkeit, Computerspiele als Gegen- stand wissenschaftlicher Forschung zugänglich machen. In allen Fällen erzeugt das Sammeln etwas, das man als rohes Wissen bezeichnen kann. Damit sind diejenigen Informationen gemeint, die jede Sammlung immer schon aufgrund ihrer Eigenschaf- ten enthält, welche durch spezielle wissenschaftliche Verfahren gewonnen werden müssen. Das heißt, alle Computerspielsammlungen enthalten die Möglichkeit eines Wissens über das Computerspiel, beispielsweise dessen Kultur, Geschichte, Tech- nologien, Genres, Spielmechaniken, Erzählungen, Eingabegeräte (Joysticks, Game- SCHNITT- STELLEN 1.5 pads, Gitarrencontroller usw.) (←), Ausgabegeräte (Monitore, VR-Brillen usw.), Ver- packungen, Speichermedien, ästhetische Dimensionen. Am Anfang steht bei den meisten Sammlungen die Frage nach den Objekten, welche gesammelt werden sollen. Das Augenmerk liegt oft zunächst vor allem auf der Computerspielsoftware, die auf verschiedenen Datenträgern vorgehalten wird. Diese reichen von verschiedenen Steckmodulen (engl.: Cartridge) über die Datasette­ und die Diskette hin zur CD-Rom, DVD oder Blu-ray. Andere Spiele wiederum sind als Schalt- kreise eng mit der Hardware verdrahtet und verlötet. Deshalb sind in einigen Samm- lungen auch frühe TV-Spielekonsolen wie die Magnavox Odyssey von 1972 oder Spiel- hallenautomaten (engl.: Arcades oder Coin-Ops) zu finden. Viele Sammlungen haben zudem den Anspruch, die dort versammelten Spiele auch spielen zu können; demzu- folge findet man freilich auch die notwendige Hardware, die von diversen Computern, Konsolen und Bildschirmen bis hin zu ausgefallenen Eingabegeräten reichen. Somit bilden einige Sammlungen neben der Geschichte der Computerspiele – meist unbe- absichtigt – auch eine Geschichte technischer Medien ab. Darüber hinaus werden Zeitschriften und Bücher zu Computerspielen gesammelt sowie Actionfiguren, Co- mics, Filme usw., die der Einbettung vieler Computerspiele in medienübergreifende Erzähluniversen entsprechen. Jede Sammlung hat einen einzigartigen Charakter, der sich in der Auswahl der in ihnen versammelten Artefakte zeigt. Es gibt unsystematische und systematische Sammlungen, es gibt technologisch orientierte und kulturell orientierte Sammlungen, es gibt offene und geschlossene Sammlungen. Das LGBTQ Video Game Archive sam- melt Spiele, welche die Vielfalt menschlicher Sexualität und Geschlechtsidentitäten thematisieren, die Japanologie der Universität Leipzig verfügt mit 4.500 Titeln über die größte Sammlung von explizit japanischen Computerspielen an einer deutschen Hochschule und das Deutsche Literaturarchiv Marbach sammelt insbesondere lite- rarische bzw. erzählende Computerspiele. Computerspielsammlungen sind organische Gebilde, die sich im Laufe der Zeit fortwährend verändern. Wie die Computerspielekultur sind Sammlungen meist lau- fende Prozesse und deshalb in der Regel offen, da sich ihr zentraler Gegenstand, das ÄSTHETIK 2.7 Computerspiel, selbst in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess befindet (←).

120 —— 121 Lediglich Sammlungen, die sich auf einen historischen Ausschnitt der Computerspiel- geschichte beziehen, können als geschlossen gelten. Das wäre der Fall, wenn ein Ar- chiv z. B. ausschließlich Spiele der inzwischen nicht mehr produzierten Konsole Atari 3.4 2600 sammelt und dessen Sammlung nahezu alle Spiele beinhalten würde, die jemals für diese Konsole produziert wurden. Um den Wert und die Prozesshaftigkeit von Computerspielsammlungen zu verdeutlichen, lohnt sich ein Blick auf das Beispiel der Sammlung des DIGAREC. Sie wurde im Herbst 2007 auf Initiative von Michael Liebe (heute Geschäftsführer von Booster Space und der Games Week Berlin) im Rahmen des Forschungsprojektes Medialität des Computerspiels (mit Stephan Günzel und Dieter Mersch) gegründet und zusammen mit Studierenden des Kooperationsstudiengangs Europäische Me- dienwissenschaft der Universität Potsdam und der Fachhochschule Potsdam (EMW) umgesetzt. Aus den anfangs 20 Spielen wurden dank vieler Einzel- und einiger Groß- spenden der Journalisten Carsten Görig und Nico Nowarra sowie der Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen im Laufe der Jahre mehr als 10.000 Spiele. Im Gegensatz zur Sammlung der Leipziger Japanologie und zum LGBTQ Vi- deo Game Archive ist die Sammlung des DIGAREC zunächst unsystematisch und ver- folgt kein kuratorisches Ziel. Es wird gesammelt, was gespendet wird. Jede Sammlung ist zunächst selbst ein Objekt, das gepflegt werden muss, da- mit es der wissenschaftlichen Arbeit nützen kann. Die DIGAREC-Sammlung wird vor allem von Studierenden der EMW gepflegt. Die Sammlungsarbeit ist in vier feste Ar- beitsbereiche geteilt. Im Bereich »Sammeln und Pflegen« werden neue Spiele erfasst und in die Datenbank aufgenommen – mit den zur Verfügung stehenden Metadaten, wie z. B. Angaben zum Spielsystem, Jahr der Veröffentlichung, der europäischen Ar- tikelnummer, sowie den Angaben zur spendenden Person. Sie werden mit einer Sig- natur versehen und in das Regal an den entsprechenden Platz geräumt. Der Bereich »Kommunizieren« kümmert sich um die Interaktion mit Verlagen, Spieleproduktio- nen und Personen, die Spiele spenden sowie um die Außendarstellung der Samm- lung. Der Bereich »Dokumentieren« hält die Sammlungsarbeit so genau wie möglich schriftlich fest in einem Dokument, das mit der Sammlung fortlaufend bearbeitet wird. So wird das vorhandene Wissen gespeichert und Entscheidungen bleiben nachvoll- ziehbar. Ohne ausreichende Pflege gibt eine Spielesammlung das in ihr vorgehalte- ne Wissen nur unzureichend frei. Darüber hinaus gibt es den Arbeitsbereich »Testen und Systematisieren«, der ein bestimmtes, in einer Sammlung enthaltenes Wissen zutage befördert, das in der Folge wieder in die Organisation der Sammlung integriert wird. Dieser Bereich entwi- ckelt damit ein System, wonach Computerspiele nach objektivierbaren Kriterien ka- tegorisiert werden können. Der Wert dieses Kategoriensystems besteht darin, Com- puterspiele besser beschreiben zu können als mit den zwar weitverbreiteten aber unscharfen Genrebezeichnungen, die wesentliche Eigenschaften von Computerspie- GAME- len unterschlagen (→). Die Spiele Trials Fusion (2014) und Dirt Rally 2.0 (2019) würde man 1.3 BEGRIFFE dem Genre »Rennspiel« zuordnen, denn in beiden Spielen geht es darum, so schnell wie möglich von einem Ort in der Spielwelt zu einem anderen zu gelangen. Ästhetisch

VERMITTLUNG hingegen unterscheiden sich die beiden Spiele sehr. In Trials Fusion etwa sehen die Spielenden ihren Avatar nur aus Sicht der dritten Person von der Seite. Das Fahrzeug 3.4 bewegt sich auf dem Bildschirm von links nach rechts. Obwohl die Spielwelt den An- schein erweckt, dreidimensional gestaltet zu sein, findet dasGameplay nur auf zwei Achsen statt: x-Achse (links-rechts) und y-Achse (oben-unten). In Dirt Rally 2.0 hin- gegen steuern die Spielenden ihr Fahrzeug entweder aus der Ansicht der ersten Per- son, so als ob sie selbst im Cockpit säßen, oder aus der Perspektive der dritten Person, hinter dem Fahrzeug. In jedem Fall werden in Dirt Rally 2.0 alle drei Achsen gespielt, die x-, y- und die z-Achse (Tiefenachse). Vor diesem Hintergrund wird das Rennspiel Trials Fusion mit dem Jump-’n’-Run-Spiel Super Mario Bros. (1985) vergleichbar, denn beide Spiele nutzen die gleichen räumlichen Achsen im Spielverlauf. Diese ästheti- schen Kategorien erfassen also Spieleigenschaften und ermöglichen Vergleiche, die durch Genrebezeichnungen nicht erfasst und ermöglicht werden. In einem Testverfah- ren im Rahmen der Sammlungsarbeit wird dann überprüft, welcher ästhetischen Ka- tegorie ein Spiel zuzuordnen ist. Das Ergebnis findet dann wieder Eingang in die Spie- ledatenbank, sodass sie z. B. speziell nach Spielen mit zwei- oder dreidimensionalem Gameplay durchsucht werden kann. Das Kategoriensystem wird fortlaufend überar- beitet, sodass Neuerungen im Spieldesign auch Eingang in diese Systematik erhalten. Die Sammlung des DIGAREC ist regelmäßig eingebunden in Forschungen, die ein neues Wissen über die Sammlung und über das Medium Computerspiel im Allge- meinen zutage fördern können. Jedes neue Forschungs- und Lehrprojekt ermöglicht es, einen neuen Filter auf die Sammlung zu legen, der ihren potenziellen Informations- und Wissensvorrat auf eine bestimmte, neue Weise sichtbar macht. Eine Forschung GESCHICHTE 1.4 über die Meilensteine der Computerspielgeschichte (←) kann z. B. etwas darüber aus- sagen, wie repräsentativ eine Sammlung für diesen Sachverhalt ist. Das gleiche gilt für INDEPENDENT GAMES 6.5 die Untersuchung der Geschichte der Independent Games (←). Neue Forschungen können auch dazu führen, dass fehlende Spiele aus die- sem Themenbereich Eingang in die Sammlung finden, sodass die Sammlung in der Folge dieses Thema repräsentiert. Ein Beispiel: Die Einbindung der Sammlung des DI- GAREC in die Untersuchung der Darstellung von Klima in verschiedenen Medien an der Universität Potsdam hat dazu geführt, dass die Sammlung um solche Spiele er- weitert wird, die auf unterschiedliche Weise diverse Vorstellungen von Klima reprä- sentieren. Dies ist wichtig, denn Computerspiele vermitteln einer großen Zahl von Jugendlichen ein bestimmtes Wissen darüber, was das Klima ist und wie es funkti- oniert. Sie haben damit eine große Verantwortung, wie die folgenden Generationen mit dem Klima umgehen werden. Computerspielsammlungen können auch nach längerer Zeit noch kleinere und größere Überraschungen offenbaren. Die Sammlung des DIGAREC förderte zu Beginn seiner Forschung zur Fotografie in Computerspielen verschiedene Spiele zutage, in denen Fotografie als spielbares Element vorkommt. Auf diese Weise produziert eine Sammlung thematisch kuratierte Untersammlungen. Darunter befand sich auch das Spiel Pokémon Snap (1999) für die Nintendo-64-Konsole. Wie sich herausgestellt hat, ist es eines der wichtigsten Artefakte in der Fotografiegeschichte derComputerspiele. ­

122 —— 123 In Seminaren zur Fotografie im Computerspiel werden regelmäßig fotografische Pro- jekte in Computerspielen umgesetzt, die der Sammlung einen neuen Gegenstand be- scheren: fotografische Screenshots. Überraschend sind Sammlungen oft auch für ih- 3.4 ren Besuch: Wer eine Computerspielsammlung betritt, sieht sich meist der eigenen Spielbiografie gegenübergestellt. Es hat sich herausgestellt, dass jede Spielbiografie aus einer anderen, ganz individuellen Kombination aus Spielen besteht.

Literatur ✕ Ebeling, Knut; Günzel, Stephan (Hrsg.) Archivologie – ­ Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. 2. Auflage. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2020 ✕ Guins, Raiford; Lowood, Henry (Hrsg.): Debugging game history – a critical lexicon. Game histories. MIT Press, Cambridge/Massachusetts 2016 ✕ Richter, Angelika: Klassifikationen von Computerspielen. DIGAREC Series 05. Universitätsverlag, Potsdam 2010 ✕ Swalwell, Melanie; Stuckey, Helen; Ndalianis, Angela (Hrsg): Fans and videogames: histories, fandom, archives. Routledge, New York 2017

VERMITTLUNG 3.5 BEWAHRUNG ANDREAS LANGE

Während es für die Erhaltung analoger Kulturgüter oft am besten ist, wenn sie dunkel und klimatisiert aufbewahrt und nicht zugänglich gemacht werden, verhält es sich mit digitalen Kulturgütern genau andersherum. Vor allem durch ihre Nutzung wird ihre Funktionalität bewahrt. Und so erklärt es sich, dass der größte Teil des digitalen Spie- leerbes bisher von den Spielern und nicht von ihren Produzenten oder von Gedächt- nisorganisationen bewahrt und zugänglich gehalten wurde. Motiviert durch ihren emotionalen Bezug zu den Spielen und Konsolen und dem Wunsch, diese auch noch mehrere Jahre nach ihrem Erscheinen nutzen zu können, widmeten sie seit den frü- hen 1990er Jahren große Wissens- und unzählige Zeitressourcen, um Bewahrungs- strategien zu erdenken, umzusetzen und zu betreiben sowie umfassende Online-Da- tenbanken aufzusetzen und zu füllen. Dem Verlangen nach Zugang ist es zu verdanken, dass die meisten Spiele der über 70-jährigen Geschichte des Mediums spielbar erhalten wurden. Doch was STRUKTUR, wie die Verwirklichung einer archivarischen Utopie anmutet, ist auf den zweiten Blick TRENDS & FORSCHUNG 6.1 mit unterschiedlichen Herausforderungen technischer, organisatorischer und recht- lichen Natur verbunden. Gerade letztere sind das Resultat eines erst langsam in der MARKTDATEN 6.2 Games-Industrie entstehenden Bewusstseins für den Wert historischer Spiele. So ist TECHNOLOGIE & INNOVATION 6.4 der traditionell innovations- und produktgetriebene Gamesmarkt (←) dafür verant- wortlich, dass schon wenige Jahre alte Spiele aus Perspektive der Rechteinhaber häu- fig nur noch schwer zu vermarkten sind. In Kombinationen mit einem hochdynami- schen Marktgeschehen und einer im Vergleich noch immer recht jungen Industrie ist dies die Ursache des relativ hohen Anteils von Out-Of-Commerce-Werken in den Sammlungen. Erst mit der in den letzten Jahren erfolgten kulturellen Anerkennung der Games sowie neuen Geschäfts- und Vertriebsmodellen begannen sich die Para- meter ihrer Bewahrung mit der Folge zu verschieben, dass die Leistungen der Bewah- rungshobbyisten verstärkt von institutionellen, wirtschaftenden und öffentlichen Ak- teuren aufgegriffen werden. Aber auch Plattformen wie Good Old Games (GOG) oder nicht zuletzt die Neuauf‌lage von World of Warcraft Classic (2019) zeigen, dass es auch

124 —— 125 zunehmend Bestrebungen seitens der Games-Unternehmen selbst gibt, Spiele zu er- halten und weiterhin zugänglich zu machen. Drei Eigenschaften von Computerspie- len sind wesentlich dafür verantwortlich, neue Bewahrungsstrategien und -werkzeu- 3.5 ge entwickeln zu müssen. Dies sind ➀ ihre Abhängigkeit von nicht zum Werk gehörigen komplexen Ap- paraturen aus Hardware und Systemsoftware, ➁ ihre interaktive und soziale Natur sowie ➂ der Umstand, dass sie als digitale Werke verlustfrei zu kopieren sind. Alle Ei- genschaften sind miteinander verschränkt, wobei jede von ihnen sowohl technische, ethische als auch rechtliche Implikationen im Hinblick auf die Bewahrung besitzt. Während vor allem die technischen Herausforderungen durch die Gamer-Communi- ty weitgehend gemeistert werden konnten, stehen zufriedenstellende Lösungen für die rechtlichen und ethischen Fragestellungen noch aus. Dies betrifft die Verständi- gung auf Erschließungs- und Restaurationsstandards ebenso wie die auf einen trag- fähigen und praktikablen Rechtsrahmen.

Technische Aspekte Die technischen Aspekte sind im Wesentlichen mit dem natürlichen Verfall sowohl der Original-Hardware als auch der Datenträger verbunden, auf denen bis in die heu- tige Zeit die meisten Spiele vertrieben und gesammelt wurden. Durch chemisch-phy- sikalische Zersetzungs- und Entmagnetisierungsprozesse verlieren die originalen Da- tenträger bereits nach wenigen Jahrzehnten die Eigenschaft, den Programmcode zu speichern, was selbst beim Verlust geringer Dateneinheiten zu einem Komplettver- lust des Werkes führen kann. Insofern ist einer der ersten notwendigen Schritte des Bewahrungsprozesses der Transfer der Werke von den originalen zu stabileren und besser zugänglichen Trägersystemen. Falls, wie in Verbindung mit kommerziellen Spielen üblich, technische Maß- nahmen in den Spielcode von den Produzenten implementiert wurden, um das Ko- pieren zu verhindern und so wirtschaftliche Verluste zu vermeiden, erfordert dieser Transfer sowohl großen Sachverstand als auch Spezialwerkzeuge. Dabei kann der Kopierschutz entweder zerstört oder intakt mitkopiert werden. Während die Zer- störungsstrategie vor allem bei der illegalen Anfertigung und Verbreitung von kom- merziellen Spielen, dem sogenannten Raubkopieren, Anwendung findet, wird die zweite Methode vorrangig in Bewahrungskontexten benutzt. Die dafür benötigten technischen Lösungen wie z. B. der KryoFlux-Controller wurden wesentlich in der Gamer-Community entwickelt und bieten den Vorteil, das Werk unverändert be- wahren zu können – beinhaltet doch die Zerstörungsmethode immer auch das Risi- ko, dass nicht nur der Kopierschutz, sondern auch andere Teile des Werks verändert werden. Unabhängig von der technischen Methode, muss auch immer beachtet wer- den, dass die Umgehung des Kopierschutzes im Regelfall einer Erlaubnis des Rech- teinhabers bedarf. Nach der Gewährleistung sicherer Speicherbedingungen rückt die Bewahrung des zur Ausführung und Bedienung des Werkes notwendigen Apparatur aus Hardware und Systemsoftware in den Blick. Ohne diese bleibt das erhaltene Spielprogramm eine

VERMITTLUNG wertlose weil uninterpretierbare Reihe aus Einsen und Nullen. Dafür gibt es drei mög- liche Bewahrungsstrategien, die jeweils unterschiedliche Implikationen für den Res- 3.5 taurationsstandard haben. Dabei besteht die authentischste Methode darin, die historische Hardware so lange wie möglich am Leben zu erhalten und originalgetreu nachzubauen, wenn sich kein entsprechender und funktionierender historischer Computer mehr findet, was nach vorherrschender Meinung jeweils nach einigen Jahrzehnten der Fall ist. Die Me- thode, die am weitesten von diesen traditionellen Bewahrungsidealen entfernt ist, ist die einer Neuprogrammierung des digitalen Werkes, sodass es auf zeitgenössischen Computern gespielt werden kann. Übertragen auf analoge Kulturgüter käme das ei- ner Kopie eines Originals gleich, die jedoch sowohl eine andere materielle Beschaf- fenheit als auch Dimension besitzt und darüber hinaus eine Erlaubnis des Rechtein- habers voraussetzt. Zwischen diesen Polen befindet sich die Emulatorenstrategie, die sich ausgehend von der Anwendung für die Gamesbewahrung seit den 1990er Jah- ren bis heute zu einem Quasi-Standard der Bewahrung komplexer, interaktiver digita- ler Werke herausgebildet hat. Ihr Lösungsansatz, die Hardware zu bewahren, besteht in der Nachbildung ihrer Funktionalität in Software. Diese »Emulatoren« genannten Programme stellen den Spielen die gleichen von ihnen benötigten Schnittstellen und Funktionalitäten wie die Originalplattform zur Verfügung. In einem zweiten Schritt übersetzen sie diese Funktionalitäten auf das jeweilige aktuelle Gast-System, das das Spiel dann ausführen kann, auch wenn Letzteres gar nicht für Ersteres program- miert ist. Ein großer Vorteil dieser Strategie besteht darin, dass das Werk an sich nicht verändert werden muss, sondern in der Form, in der es vom originalen Datenträger transferiert wurde, vom Emulator verarbeitet werden kann. Auf der anderen Seite be- steht eine der zentralen Herausforderungen der Emulatorenstrategie in der Anpas- sung der Emulatoren auf die jeweils aktuellen Computersysteme. Die ab den 1990er Jahren von der damals noch jungen Retrogamer-Community programmierten Emu- latoren entstanden überwiegend für das DOS-Betriebssystem und mussten seitdem regelmäßig angepasst werden, um selbst lauffähig‌ zu bleiben. Neben der Sicherung der Ausführbarkeit historischer Programme ist auch ihre Bedienbarkeit zu erhalten. Die dafür notwendigen Ein- und Ausgabeschnittstel- SCHNITT­- STELLEN 1.5 len sind prinzipiell für alle interaktiven Medien bedeutsam (←). Da sie bei Compu- terspielen für die Optimierung des Spielerlebnisses oft integral mit dem Spiel und seiner Mechanik verbunden sind, stellen sie ebenfalls relevante Faktoren der Bewah- rung dar. Während man bei einfachen Schnittstellen wie Joysticks erwarten kann, dass zukünftige Nachbauten praktikabel machbar sind, wird man bei technisch kom- plexen Apparaten wie Röhrenmonitoren in dem Maße auf besser verfügbare Ersatz- geräte wie heute z. B. Flachbildschirme ausweichen, wie der Aufwand für Reparatur oder Nachbau ansteigt. Bei Abwägung aller Aspekte unter bewahrungsethischen wie praktischen Ge- sichtspunkten, kristallisiert sich die Verbindung der Emulatorenstrategie mit dem Er- halt und Nachbau historischer Ein- und Ausgabeschnittstellen als die geeignetste

126 —— 127 Strategie heraus – bietet sie doch mit der Pflege nur eines Emulatorenprogrammes eine effektive Möglichkeit, alle jemals für dieses System programmierten Werke ohne deren Veränderung lauf‌fähig zu halten und dabei ein möglichst authentisches Spiel- 3.5 erlebnis zu gewährleisten.

Erschließungs- und Dokumentationsstandards Die Beschreibung der Sammlungsstücke stellt eine weitere zentrale Komponente von Bewahrung dar, weil sie nicht nur wichtige Informationen zum Verständnis und Auf- finden enthält, sondern in digitalen Kontexten auch die Möglichkeit bietet, die Samm- lungen untereinander zu verknüpfen und im wachsenden Umfang mit weiteren In- formationen anzureichern. Dabei können und sollten die existierenden Standards zur Erfassung unseres traditionellen kulturellen Erbes auch für die Bewahrung von Com- puterspielen genutzt werden, da sie einerseits auf einer langen und breiten Erfahrungs- basis basieren und anderseits die Möglichkeit bieten, das Computerspieleerbe als Teil unseres gesamten Kulturerbes zu handhaben und es damit optimal auffindbar‌ und zu- gänglich zu halten. Anknüpfend an die von Informatiker Tim Berners-Lee schon zu An- fang der 2000er Jahre formulierten Grundlagen des Konzepts eines »Semantic Web« ist die Idee eines Netzwerkes frei zugänglicher, maschinenlesbarer Informationsquel- len, den »Linked Open Data«, grundlegend für die Erschließung unseres Kulturerbes im Digitalen Zeitalter. So wurden in den letzten Jahrzehnten in der Gamer-Communi- ty bemerkenswert große Datenbanken erstellt, die neben rein beschreibenden Daten oft auch umfassende Dokumentationen der Spiele und der sich an sie anschließen- den Kontexte oder den Spielcode selbst beinhalten. Als Beispiel kann die seit 1999 von zehntausenden von Spielern gefüllte MobyGames-Datenbank (mobygames.com) gel- ten, in der zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Artikels über 233.000 Spiele auf rund 300 verschiedenen Computerplattformen umfassend beschrieben werden. Dabei ist die Nutzung der reinen Informationen stets zulässig, aber eine Datenbank mit Fotos der Verpackung und Bildschirmfotos ist urheberrechtlich abzuklären. Während durch die Leistungen der Gamer-Community in den letzten 20 Jah- ren viele Informationen zum Spieleerbe gut zugänglich erarbeitet wurden, besteht die Herausforderung nun darin, diese Informationen durch gemeinsame Normdaten zu systematisieren, denn nur so können die unabhängig voneinander, ohne verbindliche Standards entstandenen Informationen präzise und in mehreren Sprachen miteinan- der vernetzt werden, um so als umfassende und zuverlässige informative Grundlage für die Bewahrung von Games zu dienen. Dabei stellt die oft soziale Natur der Spiele besondere Anforderungen an ihre Dokumentation. Vor allem die sozialen Interaktionen in Online-Mehrspieler-Spielen sind für das Erleben des Spiels von großer Bedeutung. Da sich diese Interaktionen technisch nicht bewahren lassen, sind ihre früheren Dynamiken kaum in späteren Bewahrungsszenarios nacherlebbar. Insofern kommt hierbei der Dokumentation die Aufgabe zu, z. B. anhand von zusätzlich archivierten Spielmitschnitten, ausgewähl- ten Forenbeiträgen oder Videokanälen das fehlende, eigene (Nach-)Erleben durch die Möglichkeit zur theoretischen Rekonstruktion zu kompensieren.

VERMITTLUNG Rechtliche und ethische Aspekte Dass digitale Kulturgüter ohne Verluste kopiert und permanent weiterentwickelt wer- 3.5 den können, ist eine der Hauptursachen für die juristischen und ethischen Heraus- forderungen bei der Gamesbewahrung. Repräsentieren diese Eigenschaften aus be- wahrungstechnischer Sicht einerseits das Ideal unbegrenzter Zugänglichkeit und Haltbarkeit, kommen sie anderseits für traditionelle Gedächtnisorganisationen einer kulturellen Revolution gleich, da deren Selbstverständnis, Arbeitsweisen und Finan- zierungsmodelle wesentlich auf der Einzigartigkeit der in ihren Sammlungen enthal- tenen Originale basieren. Aus juristischer Sicht waren und sind diese digitalen Eigenschaften Dreh- und Angelpunkt von Konflikten und gerichtlichen Auseinandersetzungen. Vor allem das in analogen Kontexten entstandene Urheberrecht, dem die meisten Werke in den Samm- lungen unterliegen, wird international und national seit rund 20 Jahren schrittweise auf digitale Kontexte angepasst. Dabei ist es in vielfacher Hinsicht für die Erhaltung und Zugänglichmachung des gesammelten Spieleerbes relevant, wobei die beschrie- benen technischen Kopierschutzmechanismen nur einen Problembereich repräsen- tieren. So wird im geltenden deutschen Urheberrecht die Bewahrung und Zugänglich- machung der Sammlungen durch den Umstand eingeschränkt, dass Computerspiele als komplexe Werke, die nicht nur aus reiner Software, sondern ebenso aus audiovi- suellen Inhalten bestehen, weder in einer eigenen Kategorie erfasst sind, noch zu ei- ner bestehenden wie »Filmwerke« präzise zugeordnet werden können. Weil dies aber die Bedingung dafür wäre, die im Urheberrecht für die Bewah- Andreas Lange ist Geschäftsführer rung und Zugänglichmachung unseres kulturellen Erbes vorge- des Europäischen Verbandes der sehenen Ausnahmeregelungen nutzen zu können, wurden in der Computerspielarchive, -museen und Vergangenheit viele der erreichten Bewahrungsleistungen jen- Bewahrungsprojekte (EFGAMP). seits eindeutiger rechtlicher Erlaubnisse erbracht. Indem Insti- tutionen jedoch viel stärker als Privatpersonen auf eine solide rechtliche Grundlage angewiesen sind, ist davon auszugehen, dass das wachsende Problembewusstsein durch die Verantwortungsübernahme dieser Institutionen zur fortschreitenden An- passung der gesetzlichen Rahmenbedingungen an die Bedürfnisse digitaler Bewah- rung beitragen wird. Dabei stehen in Europa die Chancen gut, im Rahmen der laufenden Novel- lierung des Urheberrechts vor dem Hintergrund der Implementierung der »Richtlinie über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt« Erleichterungen und Ausnahmen zu erreichen. In dem ausdrücklich auf den digita- len Wandel bezogenen Gesetzesvorhaben sind erstmalig nicht nur verbindliche Er- laubnisse für die Bewahrung von Kulturgutsammlungen verankert, sondern mit einer breiten Definition von Werken »unabhängig vom Format oder Medium« auch Com- puterspiele darin eingeschlossen. Dass angeregt durch die Retro-Gaming-Bewegung der letzten Jahre auch die kommerzielle Nutzung von Spieleklassikern wieder in den Blick gerät, stellt eine wei- tere wichtige Entwicklung dar. Indem die Industrie die historischen Werke spielbar hält, nimmt sie auch ihre Verantwortung als Kulturproduzent wahr. Zudem hilft sie in

128 —— 129 Deutschland über die Stiftung Digitale Spielkultur mit der Bildung der Internationa- len Computerspielesammlung mit, bestehende Sammlungsaktivitäten weiterzufüh- ren und durch rechtliche Erlaubnisse zum Beispiel zur Veröffentlichung der Verpa- 3.5 ckungsfotos zu unterstützen.

Ausblick KULTUR- Obwohl institutionelle Sammlungsbildungen (→) sowohl im privaten Kulturbereich 3.4 ARCHIVE wie z. B. vom Computerspielemuseum (seit 1997) oder dem Museum of Modern Art (seit 2012) als auch im öffentlichen Auftrag von z. B. den Nationalbibliotheken Frank- reichs (seit 1992), Schwedens (seit 1994) oder Dänemarks (seit 1998) schon seit über 20 Jahren betrieben werden, wird die Hauptlast der Bewahrungsbemühungen bisher von Hobbyisten getragen. Während dies im Hinblick auf das im globalen Umfang mit großem Sachverstand, selbstorganisiert und fast ohne materielles Budget Erreichte kaum zu überschätzen ist, ist es aus den gleichen Gründen ebenso besorgniserre- gend; können wir doch nicht davon ausgehen, dass die Motivation einer emotionalen Beziehung zu den historischen Spielen und Konsolen auch in Zukunft im selben Maße vorhanden ist. Vielmehr ist analog zu anderen, älteren Kulturbereichen wie z. B. dem Film absehbar, dass zunehmend institutionelle Bewahrer die Verantwortung über das Gameserbe übernehmen und damit an die Erfahrungen und Entwicklungen der Hob- byisten-Community anknüpfen. Dass dieser Wandel der Zuständigkeiten und die damit einhergehende Pro- fessionalisierung die Bildung und Zurverfügungstellung neuer Ressourcen bedeutet, ist folgerichtig. Im Gegenzug verspricht diese Entwicklung die benötigte Verbesse- rung bei der Etablierung nachhaltiger Bewahrungsstrategien sowie systematischer Erschließungssysteme.

Literatur ✕ Bergmeyer, Winfried: Computerspiele – Die Herausfor­derungen des Sammelns und Bewahrens eines neuen Mediums. In: Retro-Games und Retro-Gaming. Nostalgie als Phänomen einer performativen Ästhetik von Computer- und Videospielkulturen (hrsg. von Ann-Marie Letourneur, Michael Mosel, Tim Raupach). Verlag Werner Hülsbusch, Glückstadt 2016, S. 143–164 ✕ Maier, Henrike: Games as Cultural Heritage. Copyright Challenges for Preserving (Orphan) Video Games in the EU. In: JIPITEC – Journal of Intellectual Property, Information Technology and E-Commerce Law 6 (2) 2015, S. 120–131: jipitec.eu/issues/jipitec-6-2-2015/4273 ✕ Lange, Andreas: Bewahrung unseres digitalen Spieleerbes. In: Politik & Kultur – Zeitung des Deutschen Kulturrates. 5/2017, S. 18

VERMITTLUNG 3.6 MUSEUM LINDA PFISTER, CELINA RETZ, SUSANNE GRUBE, ULRICH SCHMID & SABIHA GHELLAL

Die digitale Transformation führt zu veränderten Gewohnheiten und Nutzungsverhal- ten im Alltag der Menschen und beeinflusst unser Lernverhalten, sei es durch soziale Medien, mobile Apps oder Games. Besonders die Informationsaufnahme und -ver- mittlung sowie der Transfer von Wissen verändern sich rapide. Gerade im Museums- kontext sind deshalb aktuelle Formen der Wissensvermittlung erforderlich, um auf die neuen Nutzerbedürfnisse zu reagieren. Doch wie lässt sich eine interaktive Wis- sensvermittlung in Museen etablieren und den Akteuren die Fähigkeiten vermitteln, selbstständig Ideen für museale Spielkonzepte zu entwickeln? Museen sind Kinder der Aufklärung. Die meisten der großen europäischen Museen wurden Mitte oder Ende des 18. Jahrhunderts gegründet. Dass es sie im 21. Jahrhundert immer noch gibt und, mehr noch, viele von ihnen zu den erfolgreichsten kulturellen Institutionen der Gegenwart gehören, liegt daran, dass sie sich stets hin- terfragt und immer wieder neu erfunden haben, ohne ihre Basis – die Sammlungen – aufzugeben. Die Präsentation von originalen Objekten ist Kern und Alleinstellungs- merkmal der Museen und es gehört zu ihren wichtigsten Aufgaben, einen fruchtbaren Dialog zwischen Betrachtenden und Exponaten anzustoßen. Die digitale Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche stellt dabei auch die museale Praxis vor neue Herausforderungen – und eröffnet Chancen, ihre Attrakti- vität für eine Vielzahl von Besuchern und Besucherinnen weiter zu steigern und da- mit ihrem gesellschaftlichen Auftrag auch in Zukunft gerecht zu werden. Zahlreiche Museen und andere Kulturinstitutionen haben das bereits erkannt. Sie digitalisieren einerseits Sammlungsbestände und machen sie verschiedenen Öffentlichkeiten für unterschiedliche Zwecke zugänglich – die Wissenschaftsgemeinde stellt andere An- sprüche als die breite Öffentlichkeit –, andererseits werden auch die Ausstellungen zum digitalen Experimentierfeld. Zwar sind Museen in dieser Richtung durchaus aktiv, es fehlt aber nicht selten an fachlicher Expertise, zeitlichen und personellen Kapazitä- ten oder auch an Verständnis für die Einbindung interaktiver Formate in umfassende museale Konzepte. So können trotz des vielversprechenden Potenzials von nutzer-

130 —— 131 spezifischen ­Serious Games als Medium des Wissenstransfers (→) Trends und Tech- SERIOUS 3.1 GAMES nologien im Berufsalltag der Organisationen nur schwer etabliert werden. Die spie- ler- bzw. nutzerorientierte Natur von Games bietet ideale Voraussetzungen für ein auf individuelle Besucherbedürfnisse zugeschnittenes Museumserlebnis. Serious Games können im musealen Kontext als Vermittler und Brückenbauer zwischen einer realen Darstellung und einer abstrakten digitalisierten Präsentationsform gesehen werden. Durch die interaktiven Bestandteile können und sollen die Nutzer und Nutzerinnen so- wohl die realen Exponate vor Ort, als auch deren digitale, spielerische Anreicherung erleben und beide Formen miteinander verknüpfen. Der Einsatz von Games in Mu- seen kann somit als Erweiterung der Ausstellung in den digitalen Raum mit all seinen Möglichkeiten – spielerisch, didaktisch, inhaltlich – betrachtet werden. Des Weite- ren eignen sich Games besonders, um das Museumserlebnis über den realen Raum hinaus zu denken und Erfahrungen vor und nach dem Museumsbesuch ganzheitlich einzuschließen. Die sich daraus ergebende Umwandlung von Off‌line- zu Online-Nut- zung erlaubt so einen uneingeschränkten Zugang, unabhängig von geplanten, aber auch ungeplanten Schließzeiten der Museen. Die Umgestaltungen des Wissenstransfers erschließt den Besuchern und Be- sucherinnen vielfältige Vorteile: Games sind motivierend, haben einen hohen Unter- haltungswert, fördern die Kreativität, begünstigen kollaboratives Arbeiten und damit den Austausch mit anderen Besuchenden sowie Museumsmachern und -macherin- nen und schaffen gleichzeitig individuelle und personalisierte Museumserlebnisse. Eingebettet in das jeweilige museale Konzept wirken Games lernunterstützend und können so beispielsweise die Merkfähigkeit verbessern sowie selbstbestimmtes Ar- beiten fördern. Durch Games können Besucher in unterschiedliche Rollen schlüpfen, wie beispielsweise in dem von Studio Fizbin für das LWL-Museum für Kunst und Kul- tur Münster entwickelte und mit dem Deutschen Computerspielpreis 2015 in der Ka- tegorie »Beste Innovation« ausgezeichnete Spiel des Friedens (2015). Ebenso können sie Exponate spielerisch genauer unter die Lupe nehmen wie in dem von the Good Evil für das Kölner Stadtmuseum produzierten Bretterretter (EPPSA) (2018). Trotz der vielversprechenden Vorteile steht jedes Museum bei der Entwicklung und Integration von Games vor individuellen Herausforderungen, welche über das Eta- blieren geeigneter Projektstrukturen hinausgehen und auf Designebene das besucher- zentrierte Gestalten neuer Museumserfahrungen erfordern. Für viele Museen ist es ein Akt der Balance, durch Games die Sammlung zu erweitern, ohne diese aus dem Fo- kus der Besucher und Besucherinnen zu rücken. Zudem wird die Tatsache, dass Besu- chende gleichzeitig Spieler und Spielerinnen mit unterschiedlichen Ansprüchen und Bedürfnissen sind, zu einem Drahtseilakt bei der Gestaltung von (Serious) Games im Museumskontext. Ein gelungenes Game könnte die Exponate oder das Museum aus dem Fokus rücken während die Möglichkeit besteht, dass auch negative Spielerleb- nisse das Museumserlebnis beeinflussen. Unabhängig von dem spezifischen Game Design wird die Spielerfahrung im musealen Kontext durch das Museumserlebnis be- einflusst – und idealerweise ergänzt – und andersherum. Museen kennen ihre Besu- chergruppen meist sehr gut, nehmen jedoch in der Regel keine zusätzliche Untertei-

VERMITTLUNG lung in Spielertypen, also bezüglich deren präferierter Spielemechaniken oder -genres, vor. Abhängig von diesen persönlichen Präferenzen jedoch, wird ein Spieler oder eine 3.6 Spielerin durch Game-Komponenten motiviert und kann die Spiel- bzw. Museumser- fahrung als positiv und lohnenswert erleben. Neben einem neuen Verständnis der Mu- seums- und Spielwelt, welche sich gegenseitig bedingen und unterstützen, ist somit die Zielgruppe für ein individuelles Game als Teilmenge einer oder mehrerer Besucher- gruppen zu sehen. Beeinflusst durch die Spielvorlieben und das Vorwissen der Ziel- gruppe sollte bei der Spielgestaltung im musealen Umfeld ein klares Spielziel ebenso wie ein eindeutiges Lernziel, gemäß dem Anspruch von Serious Games, definiert wer- den. Während das Spielziel beispielsweise das Vervollständigen aller Level oder ein möglichst hoher Punktestand sein kann, können konkrete Wissensinhalte ebenso wie eine Haltung oder ein Gefühl etwas Bestimmtem gegenüber das Lernziel definieren. Unabhängig davon können Games prinzipiell auf unterschiedlichen Plattformen, wie beispielsweise mobilen Endgeräten oder fest installierten Medientischen, dem Zielpu- blikum zugänglich gemacht werden. Dabei stellen plattformspezifische Anforderun- gen im musealen Kontext eine weitere Herausforderung dar: Während zum Beispiel Medieninstallationen auf den ersten Blick zum Spielen einladen sollten, müssen On- line-Anwendungen oder Apps ausreichend beworben werden und durch ein stabiles WLAN-Netz vor Ort verfügbar gemacht werden. Im Rahmen des Förderprogramms »Digitale Wege ins Museum Ⅱ« (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg) widmet sich das Institut für Games (IFG) der Hochschule der Medien Stuttgart in Kooperation mit dem Staatli- chen Museum für Naturkunde Stuttgart (SMNS) der Herausforderung, nachhaltige und übertragbare Entwicklungsprozesse unabhängig von individuellen Museumsansprü- chen zu erforschen, um eine geeignete Herangehensweise zur Gestaltung von Games für alle Beteiligten zu finden. In einem praxisorientierten, forschungsbasierten Ansatz wird dabei untersucht, wie Spielerfahrungen an unterschiedlichste museale Kontex- te angepasst und interaktiv erlebbar gemacht werden können. Mit Natureworld (voraus. 2020) entwickeln die Kooperationspartner verschiedene Games für Kinder ab zehn Jah- ren, die zielgruppenspezifisch museale und naturwissenschaftliche Inhalte vermitteln und die Evaluation des Entwicklungsprozesses aus unterschiedlichen Perspektiven er- möglichen. Die einzelnen Games sind durch transmediales Storytelling verknüpft, d. h., sie machen Handlungsstränge rund um das fiktive Story-Universum»Natureworld« eingebettet in verschiedene Medien erlebbar. Zielgruppengerechte, sogenannte An- ker-Charaktere unterstützen den Eintritt in diese fiktive Welt und bilden gleichzeitig verschiedene wissenschaftliche Berufs- und Forschungsfelder des Museums ab. Die Einzelanwendungen bespielen unterschiedliche Plattformen und sind so z.B. mobil durch eine Orts- bzw. Location-basierte App zur Untersuchung von virtuellen Kame- rafallen rund um das Museum oder auf der Museumshomepage als das browserbasier- te Abgetaucht – ein Fischlernspiel (2019) nutzbar. So werden einerseits unterschiedliche Einstiegspunkte in die Spielwelt ermöglicht und gleichzeitig eine breite Forschungsba- sis zur empirischen Evaluation von Games in Museen bereitgestellt. Um Raum für inno- vative Ideen zu schaffen und die Nutzungsbedürfnisse optimal zu erfüllen, basiert die

132 —— 133 Forschung auf einem iterativen, d. h. sich wiederholenden, nutzerzentrierten Design- ansatz, welcher sich auf regelmäßiges Testen und Beurteilen mit der Zielgruppe stützt. Dabei hat sich bereits gezeigt, dass ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg in einer von 3.6 Anfang an eng verzahnten interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Game Desig- nern, Fachexpertinnen, User Researchern, Didaktikerinnen, Game Artists, sowie -Pro- grammierenden liegt, um die Museums- und Spielwelt zu verschmelzen und das opti- male Erlebnis für die Zielgruppe zu kreieren. Um die Ergebnisse für zukünftige Projekte und Institutionen zugänglich, übertragbar und anwendbar zu machen, werden die ein- zelnen Entwicklungsschritte in Hinblick auf den Designprozess kontinuierlich beurteilt und die Anwendbarkeit gängiger wissenschaftlicher Konzepte im Kontext des Muse- ums als übergeordnetem Raum reflektiert. Mit dem Ziel, Museen die Fähigkeiten zu vermitteln selbstständig spieleba- sierte Konzepte zu entwickeln, die dann in Auftrag gegeben werden können, ist im Rahmen des Projektes ein »Game Design Workshop Toolkit« (Werkzeugkasten) ent- standen. Dieser ist bewusst für Menschen mit unterschiedlichen Vorkenntnissen im Bereich des Game Design gestaltet und kann als eine Art Anleitung und Blaupause verstanden werden, um möglichst schnell eigene, besucherzentrierte Spielideen zu entwickeln. Das Toolkit vermittelt theoretische Grundlagen zum Thema Spielertypen und Spielkomponenten, um Nicht-Game-Designern das wich- Linda Pfister und Celina Retz sind tigste Basiswissen für die Entwicklung bereitzustellen. Es unter- wissenschaftliche Mitarbeiterin-­ stützt bei der Definition von und Differenzierung zwischen Be- nen am Institut für Games der suchern und Spielern innerhalb einer Zielgruppe und ermöglicht Hoch­schule der Medien Stuttgart. die schnelle Entwicklung von nutzerorientierten Spielideen im Susanne Grube ist Mitarbeiterin musealen Kontext. Folgt man der Schritt-für-Schritt-Anleitung für Wissenskommunikation am des Toolkits, stehen außerdem Spielziel und Lernziel als Kern- Staatlichen Museum für Naturkunde elemente guter Serious Games im Fokus der Designer. In mög- Stuttgart. Ulrich Schmid ist Leiter lichst interdisziplinären Teams können so individuelle Konzepte der Abteilung Kommunikation am unter Berücksichtigung allgemeiner Herausforderungen entwi- Staatlichen Museum für Naturkunde ckelt werden. Um das Toolkit weiter auf seine Einsetzbarkeit in Stuttgart. Sabiha Ghellal ist Pro- unterschiedlichen musealen Kontexten zu überprüfen, die For- fessorin am Institut für Games der schungsbasis der Studie zu vergrößern und neue Erkenntnisse Hochschule der Medien Stuttgart. zur weiteren Verbesserungen zu erhalten, ist es notwendig, das Game Design Toolkit auch in Zukunft weiter zu testen und anzuwenden. Das Toolkit wird deshalb kostenlos auf der Homepage des Instituts für Games der Hochschule der Medien Stuttgart zur Verfügung gestellt. Um auf die veränderten Nutzungsgewohnheiten von potenziellen Museums- besuchern und -besucherinnen zu reagieren, können Serious Games zukünftig eine tragende Rolle einnehmen. Diese sollten nicht nur als Zusatz, sondern als integraler Be- standteil musealer Kontexte etabliert werden. Die Nutzung des vorgestellten Game Design Toolkits könnte dazu beitragen, den Besucher als Spieler zu verstehen, das Spielziel ebenso wie das Vermittlungsziel gleichermaßen im Blick zu behalten und da- bei nutzerorientierte Game-Mechaniken zu entwickeln. Für das Institut für Games an der Hochschule der Medien in Stuttgart stellt es eine Basis für weiterer Forschung dar

VERMITTLUNG und kann Museen und kulturelle Einrichtungen bei der praktischen Umsetzung beglei- ten. So kann vermieden werden, den Nutzer und dessen Spielpräferenzen aus dem 3.6 Auge zu verlieren oder die Sammlung und Inhalte des Museums zu vernachlässigen.

Literatur ✕ Game Design Workshop Toolkit. Institut für Games 2020: hdm-stuttgart.de/ifg/forschung/gdtoolkit ✕ Vermeeren, Arnold; Calvi, Licia; Sabiescu, Amalia (Hrsg.): Museum Experience Design – Crowds, Ecosystems and Novel Technologies. Springer International, Basel 2018 ✕ Wehrstedt, Sebastian: Gaming im Museum – A dancer in the dark. Museums-Blog 2017: museums-blog.de/gaming

134 —— 135 JOURNALISMUS 3.7 MICHAEL GRAF

»Wussten Sie, dass Sie ein Mitglied der weltweit am schnellsten wachsenden Hob- byistengruppe sind?« Mit diesem Satz begrüßt der Journalist Arnie Katz seine Leser im allerersten reinen Computerspielmagazin, das am 29. Oktober 1981 an Zeitungs- kiosken in den USA auftaucht. Electronic Games (bis 1997) heißt das 94 Seiten di- cke Blatt, wenig später starten weitere Zeitschriften wie die ebenfalls US-amerikani- sche Computer Gaming World (1981—2006) und die britische Computer and Video GAME- Games (1981—2004) (→). Diese Pioniere werden den Spielejournalismus auf Jahr- 1.3 BEGRIFFE zehnte hinaus prägen – doch heute gelten ihre Maximen nicht mehr. Aus Katz’ Wor- ten klingt nämlich eine Klarheit, von der moderne Spielejournalisten nur träumen kön- nen. Genauer gesagt: aus zweien dieser Worte.

Ihr seid nicht alleine Das erste lautet »Mitglied«. Obwohl in den USA laut Katz bereits vier Millionen Men- schen eine Spielkonsole besitzen, gibt es für sie weder ein Sprachrohr noch eine ei- gene Plattform zum Austausch. Vor der Electronic Games tauchen Computerspiele allenfalls als Randnotiz in Technikmagazinen auf, verbannt in Kommentarspalten und Leserbriefe. Katz und die anderen Magazinpioniere betonen deshalb das »Wir«, das Gefühl, als Spielerin oder Spieler kein Underdog zu sein, sondern Teil einer wichtigen und wachsenden Bewegung. Ihr seid nicht alleine! Entsprechend ermuntern die Magazine ihr Publikum zu reger Beteiligung, sie bitten um Feedback, um Anzeigen zum An- und Verkauf von Spielen sowie – vor al- lem in britischen Computerzeitschriften – um sogenannte Listings: Freizeitprogram- mierer senden den Programmcode selbstgebastelter Spiele an Magazine, wo er ge- druckt und anschließend von Lesern abgetippt wird. So versorgen die Zeitschriften ihr Publikum auch mit neuer Software. Der frühe Spielejournalismus stiftet Gemein- schaft, er verknüpft und organisiert die Spieler. Diese Aufgabe hat heute längst das Internet übernommen, in dem Anfang der 1980er Jahre aber allenfalls ein paar For- schungsrechner Zahlenkolonnen hin und her schicken.

VERMITTLUNG Wir helfen euch Das zweite Schlüsselwort in Katz’ Willkommensgruß heißt »Hobby«. Spiele gelten als 3.7 Zeitvertreib, Unterhaltung, Leidenschaft. Nicht umsonst beschließt Katz seine Einlei- tung mit den Worten: »Wir wollen das elektronische Spielen ernstnehmen, aber hof- fentlich nicht zu ernst. Letztlich soll es bei diesem Hobby – und Electronic Games – um den Spaß gehen.« Frühe Magazine sind Zeitzeugen einer aufblühenden Kulturform, doch ihre Autorinnen und Autoren verstehen sich nicht als Kulturjournalisten, son- dern als Hobbyisten. Sie schreiben für Menschen, die ihre Leidenschaft teilen. Und sie wollen diesen Menschen helfen, noch mehr Spaß aus dieser Leidenschaft zu ziehen. Spielejournalisten sind die Freunde und Helfer ihres Publikums, sie empfehlen gute und warnen vor schlechten Spielen, geben einen Ausblick auf vielversprechen- de Software und sammeln Tipps zum besseren Spielen. Viele Spieler nehmen diese Hilfe dankend an. Wer keine anderen Spielefans kennt – was in den 1980er und frü- hen 1990er Jahren wahrscheinlich ist –, bekommt sie nirgendwo anders. Nicht sel- ten entwickeln Leserinnen und Leser starke persönliche Bindungen zu Journalisten, die ihren eigenen Geschmack widerspiegeln, was die Magazine mit Redakteursfotos sowie persönlichen Meinungsbeiträgen unterstützen. Nun könnte sich der Spielejour- nalismus in eine ähnlich subjektive Richtung entwickeln wie der Musik- und Filmjour- nalismus mit seinem Fokus auf persönliche Kritiken. Doch es wird anders kommen.

Der Markt wächst In den Folgejahren verschwinden die Listings allmählich aus den Spielezeitschriften. Denn mit dem technischen Fortschritt wachsen auch die Ansprüche an Spiele, das bedeutet: Der Programmcode wird immer komplexer und eignet sich immer weniger zum Abdrucken und -tippen. Wer etwas Neues und Besonderes erleben will, kommt um den Kauf von Spielen irgendwann nicht mehr herum. Und wer will das nicht? Eine Kernfaszination des Mediums Computerspiel wurzelt im Ausloten der technischen Möglichkeiten: Immer mehr Pixel und immer mehr Farben erlauben immer »echtere« Darstellungen, egal ob von Städten, Kampfpanzern oder Fußballspielern. Digitale Welten erwachen zum Leben. Seitdem in Pong (1972) zwei simple Schlä- ger und ein eckiger Ball über Monitore flimmerten, sind Spiele immer detaillierter ge- worden – und immer vielfältiger. Neue Genres entstehen, neue Spielkonzepte und Darstellungsformen, auf die platte 2D-Darstellung folgen bald 3D-Experimente. Für Spieler gibt es stets etwas zum Staunen, und der nächste technische Meilenstein lau- ert schon am Horizont. Denn der technische Wettlauf befeuert eine wachsende Spie- GESCHICHTE leindustrie, immer mehr professionelle Entwickler erschaffen immer mehr Spiele für STRUKTUR, 1.4 TRENDS & immer mehr Spieler. Der Crash von 1983, der zum Zusammenbruch der US-amerika- FORSCHUNG 6.1 nischen Computerspielindustrie und zum Niedergang des Branchenriesen Atari führt,

MARKTDATEN 6.2 ist letztlich nur eine kleine Delle im stetigen Wachstumskurs der Spielebranche (←).

Der Aufstieg der Noten Neben der Anzahl der Spieler steigt also das Angebot an Spielen und entsprechend die Beratungsnachfrage an die Spielepresse. Doch wie soll man weiter über die wachsen-

136 —— 137 de Vielfalt des Spielemarktes berichten und gleichzeitig den sich auseinander entwi- ckelten Geschmäcker der Spielerinnen und Spieler gerecht werden? Die einen bevor- zugen Rollenspiele, die anderen Sport- oder Actionspiele, wieder andere Adventures. 3.7 Der Markt verbreitert sich, doch separate Zeitschriften für einzelne Genres lohnen sich für die Verlage nicht. Magazine wollen weiterhin möglichst »alle« Spielenden an- sprechen. Also versuchen die Journalisten, ihren Leserinnen und Lesern möglichst klar und objektiv die Vor- und Nachteile neuer Spiele zu vermitteln, damit sie sich ihr eigenes Urteil bilden können. Und wie wir – und leider auch unsere Eltern – von un- seren Schulzeugnissen wissen, lassen sich Stärken und Schwächen am einfachsten mit Zahlen vermitteln. Den Grundstein dafür legt bereits im September 1982 die bri- tische Computer and Video Games, indem sie erstmals Computerspiele benotet: Je- weils einen bis zehn Punkte vergibt man an die Kategorien »Wert (fürs Geld)«, »Ein- stieg« und »Spielbarkeit«. Nach und nach ergänzen fast alle Magazine ihre Spieletests um Wertungssysteme, die Einordnungen und schnelle Vergleiche erlauben sollen: Ihr sucht ein neues Fußballspiel? Dann kauft lieber dasjenige mit 86 von 100 Punkten als das mit 82 von 100! Es mag befremdlich wirken, ein Kulturgut auf schnöde Zahlen zu reduzieren, doch es erfüllt neben dem Kaufberatungs- auch das Gerechtigkeitsbedürfnis der Spie- ler. Weil immer mehr billig produzierter Software-Schrott den boomenden Markt über- schwemmt, warnen schlechte Wertungen die Spieler ebenso wie sie die Hersteller »verwarnen«: So nicht, Freunde! Gute Spielejournalisten verstehen sich als Branchen- wächter, die loben, aber auch strafen, wo es notwendig ist. Umge- Michael Graf ist Mitglied der kehrt begreift sie die Industrie vermehrt als Meinungsmacher: Be- Chefredaktion des Computer­ richte über ein kommendes Spiel in einer beliebten Zeitschrift (oder spielmagazins GameStar. später auf einer vielbesuchten Webseite) erwecken Aufmerksam- keit und befeuern Vorfreude. Also bekommen Journalisten neue Spiele oft schon vor der Veröffentlichung, ein lukrativer Wissensvorsprung. Doch der wird nicht ewig halten.

Neue Journalisten, bitte! Spätestens in den frühen 2000er Jahren zeigen sich erste Risse im Selbstverständnis der Spielemedien als möglichst objektive Kaufberater. Denn der Aufstieg der Blogs zeigt, dass Menschen plötzlich gar keine Verlage mehr brauchen, um Texte zu publizie- ren. Und dass ihre Empfehlungen – auch von Spielen – dennoch gelesen und verstan- den werden, obwohl sie subjektiv sind. Diese Selbstpublikation führt dazu, dass nicht mehr Magazine alleine die Meinung von Leserinnen und Lesern beeinflussen, sondern auch Einzelpersonen – ein Trend, der sich dank der sozialen Medien und schließlich LET’S PLAY & dank YouTube sowie Streaming-Plattformen wie Twitch weiter verschärfen wird (→). 4.2 STREAMING Die Blogs sind die Keimzelle der »Influencer«, die ihr Publikum viel persönlicher an- sprechen als jedes Magazin, Redakteursfotos hin oder her. Und wenn jeder Mensch publizieren kann – wofür braucht es dann noch hauptberufliche‌ Journalisten? Bereits 2004 – dem Jahr, in dem der US-Wörterbuchverlag Merriam-Webster den Begriff »Blog« zum Wort des Jahres wählt – fordert der britische Spielejournalist Kieron Gillen daher einen »New Games Journalism«: Statt in erzwungener Objekti-

VERMITTLUNG vität zu erstarren, sollen Journalistinnen und Journalisten persönliche Anekdoten er- zählen, Verbindungen zu anderen Kulturformen ziehen und die Zusammenhänge der 3.7 Spielkultur und des Spieldesigns hinterfragen. Kurzum: Gillen verlangt, dass Journa- listen das Medium Spiel in all seinen Facetten beleuchten, statt Test-Checklisten ab- zuarbeiten. Diese Suche nach neuer Relevanz jenseits der Kaufberatung treibt Jour- nalisten bis heute um.

Der Smartphone-Boom Mehr noch, weil sich zeitgleich mit den Medien auch die Spiele selbst verändern. Der bunte und unübersichtliche Spielemarkt wird, nun, nicht weniger bunt und unüber- sichtlich, aber er boomt vor allem in zwei Richtungen, die gar keine Kaufberatung mehr erfordern. Die eine Richtung sind Free2Play-Spiele, also solche, die sich kos- tenlos installieren und spielen lassen. Erst danach kann man im Spiel bestimmte Vor- teile kaufen. Heute entfallen 80 Prozent der weltweiten Spieleumsätze auf solche In- game-Käufe, vor allem auf dem riesigen Smartphone-Markt haben sie alle anderen Geschäftsmodelle verdrängt. Nicht minder einschneidend ist, dass sich die Millionen Handy-Spieler oft nicht als Hobbyisten begreifen. Im Gegensatz zur Gründerzeit von Electronic Games & Co. sind Spiele keine Leidenschaft für eine Handvoll von Kennern mehr, die jede In- formation gierig aufsaugen. Sie sind ganz normaler Lebensbestandteil für Menschen, die kein Interesse daran haben, sich mit dem Medium Spiel in seiner ganzen Vielfalt auseinanderzusetzen. Sie wollen einfach beim Bahnfahren Candy Crush Saga (2012) spielen – warum auch nicht? Hobbyjournalismus erreicht diese Menschen allenfalls mit Anleitungen, wie sie mehr aus ihren Lieblingsspielen herausholen können: Stärke- re Taschenmonster in Pokémon Go (2016), mehr Goldmünzen für Candy Crush. Der Be- ratungsbedarf in der Breite aber fehlt – nicht nur bei Smartphone-Spielern, sondern auch in anderen Bereichen, in denen der Trend zum »einen« Spiel geht.

Festsaugen an Spielen Denn die zweite Boom-Richtung sind Service-Games und regelmäßige Serien, die jahrelang fortgeführt und weiterentwickelt werden, und an denen Spielerinnen und Spieler folgerichtig jahrelang festhängen. Spiele wie Minecraft (2009), Fortnite (2017) und League of Legends (2009) binden Millionen Menschen, gleiches gilt für die jährlichen Neuauflagen‌ prominenter Serien wie FIFA (seit 1993) und Call of Duty (seit 2003). All diese Spielerinnen und Spieler kommen gar nicht auf die Idee, andere Spiele zu kaufen. Es ist ein weiterer Paradigmenwechsel für Spielejournalisten: Plötzlich heißt »neu« nicht mehr automatisch »interessant«. Wer ein Service-Game spielt, braucht nichts Neu- es, sondern vielmehr Tipps, wie sie oder er in diesem einen Spiel besser werden kann. Diese Tipps können von Spielejournalisten kommen, es gibt sie aber auch viel- fach von Influencern, die sich mit einzelnen Spielen oft besser auskennen als klassi- sche, breiter aufgestellte Journalisten. Und die zudem maßgeblich über Erfolg und Misserfolg von Spielen bestimmen: Was die großen Twitch-Streamer spielen, wird oft auch von ihren zigtausenden Zuschauern gespielt. Das gilt erst recht für Free2Play-

138 —— 139 Spiele mit ihrer niedrigen Einstiegshürde: Warum nicht mal Fortnite ausprobieren, es kostet ja nichts? Diese Menschen erreicht klassischer Kaufberatungsjournalismus ebenfalls nicht mehr. Welche Rolle kann er überhaupt noch erfüllen? 3.7 Kein Selbstläufer mehr Gemeinschaftsstifter sind Journalisten in Zeiten sozialer Medien längst nicht mehr, Freunde und Helfer angesichts der Influencer zumindest nicht mehr alleine, und auch für die Industrie ist ihr Stellenwert gesunken: Neue Spiele bekommen Journalisten kaum noch vorab, und selbst wenn, sind sie nicht automatisch von Belang. Die his- torischen Automatismen greifen nicht mehr. Umso wichtiger wird der hintere Teil der Berufsbezeichnung: Spielejournalisten müssen mehr denn je Journalisten sein. Mehr denn je müssen sie herausfinden, was die Spielerinnen und Spieler bewegt, und re- cherchieren, welche Bedürfnisse dahinterstecken. Mehr denn je müssen sie einordnen, Zusammenhänge herstellen und Experten suchen, wenn sie selbst nicht weiterwissen. Das heißt nicht, dass es keine Spieletests mehr geben kann, sie werden weiterhin ge- lesen. Es heißt aber, dass es nicht »nur« Spieletests geben kann. Es gibt nicht mehr den einen, wahren Spielejournalismus. Aber es gibt Jour- nalisten, die mit Energie und Kreativität daran arbeiten können, die Bedürfnisse ihres Publikums zu erkennen und zu erfüllen. Sei es, weil sie ihnen Spiele empfehlen; sei es, weil sie vor Fehlentwicklungen der Spieleindustrie warnen oder neue Zusammenhän- ge aufzeigen; sei es, weil sie dabei helfen, in Call of Duty: Warzone (2020) die beste Waf- fe zu finden. Die Vielfalt des Mediums erlaubt unzählige Herangehensweisen. Spieler können nach Unterhaltung suchen oder nach kultureller Bedeutung, nach den Hinter- gründen über die Spieleentwicklung, nach Hilfe, nach Analyse – oder einfach nach Spaß. All das ist legitim, und all das kann der Spielejournalismus bedienen. Wichtig ist nur, dass sich Journalisten dabei als Dienstleister begreifen. Sie berichten nie zum ei- genen Vorteil, sondern zum Vorteil ihrer Leser, sowie ihrer Zuschauer und Hörer. Denn Journalisten müssen ihr Publikum immer mehr dort abholen, wo es sich zuhause fühlt: Wer sich am liebsten auf YouTube informiert, lässt sich nur schwer von der Videoplatt- form weglocken, gleiches gilt für passionierte Twitch-Zuschauer und Podcast-Hörer: Diese Menschen sind allein mit Texten nicht mehr zu erreichen, entsprechend vielsei- tig und formatübergreifend muss die Presse denken. Auch Podcasts, Videos und Stre- ams gehören zum Handwerkszeug moderner Spielejournalistinnen und -journalisten. Und weil sinkende Werbeumsätze den Journalismus unter Druck setzen, sind auch Online-Bezahlangebote kein Tabu mehr. Wer sich ausschließlich mit Reichwei- te finanzieren will, braucht immer mehr Besucher und Aufrufe und muss sich ent- sprechend auf die großen Service-Communitys von Fortnite, Call of Duty & Co. fo- kussieren. Berichterstattung in der Breite, wie sie für Spielemagazine jahrzehntelang selbstverständlich war, benötigt immer mehr die Unterstützung der Leserinnen und Le- ser – sei es durch Mitgliederprogramme oder über Spendenplattformen wie Steady oder Patreon. Das verstehen auch immer mehr Spieler: Wer es schafft, ihnen das rich- tige Angebot zu machen, kann sie davon überzeugen, dieses Angebot finanziell zu un- terstützen. Die Electronic Games hat damals schließlich auch 2,95 US-Dollar gekostet.

VERMITTLUNG 3.7

Literatur ✕ Robert Glashüttner: Computerspiele-Journalismus. In: DIGAREC Lectures 2008/09: Vorträge am Zentrum für Computerspielforschung mit Wissenschaftsforum der Deutschen Gamestage; Quo Vadis 2008 und 2009 (2), S. 128–146

140 —— 141 VERMITTLUNG 4142 —— 143 GEMEINSCHAFT

4.1 COMMUNITYS 145

4.2 LET’S PLAY & STREAMING 151

4.3 COSPLAY 156

4.4 MODDING 160

4.5 E-SPORT 165

4.6 EVENTS 171

HANDBUCH GAMESKULTUR 4.1 COMMUNITYS BENJAMIN STROBEL

Eine Gruppe von Menschen starrt gemeinsam auf eine leere Landschaft. Das ist auf dem wohl berühmtesten Bild des deutschen Malers Richard Oelze zu sehen. Etwas ganz Ähnliches kann man beobachten, wenn die Veröffentlichung eines neuen Spiels bevorsteht. Betrachtet jemand ein solches Schauspiel von außen, so muss er oder sie sich wundern, was dieser Punkt wohl ist, über dem sich alle Blicke kreuzen. Ist man aber Teil der Gruppe, kann sich ein starkes Gefühl von Gemeinschaft entfalten, das aus der geteilten Aufmerksamkeit für ein neues Spiel erwächst. Das Bild heißt übri- gens »Die Erwartung« (1935/1936). Man kann dieses Phänomen bei vielen Unterhaltungsmedien beobachten, z. B. wenn ein neuer Roman erscheint oder ein Film in die Kinos kommt. Auf dem Funda- ment geteilter Aufmerksamkeit entsteht eine Gemeinschaft – und sei ihre einzige Gemeinsamkeit die bloße Vorfreude auf den nächsten Blockbuster. In einem wesent- lichen Aspekt unterscheiden sich Gaming-Communitys jedoch von anderen Grup- pen: Weil Games schon ihrem Wesen nach digital sind, sind auch die Kulturpraxen und Kommunikationswege der Communitys vorrangig digital organisiert. Zugleich sind ihre Beziehungen zum Medium in besonderer Weise partizipativ, also durch ak- tive Beteiligung bestimmt. Die Gemeinschafts-Phänomene der Spielekultur sind entsprechend vielfältig. Für einen besseren Überblick hilft es, sie nach ihrem Fokuspunkt zu organisieren. Das heißt, sich zu fragen, an welchen Aspekten eines Spiels eine Community interessiert ist. Vier Fokuspunkte lassen sich dabei identifizieren:➀ das Spiel selbst, ➁ Aspekte der Entwicklung des Spiels, ➂ andere Spielerinnen und Spieler und ➃ die Kreation ei- gener Inhalte.

Das Spiel im Fokus Ein zentrales Interessensgebiet von Gaming-Communitys ist das Spiel. Gemeint sind damit das Spielen selbst und die Auseinandersetzung mit den Regeln, Mechaniken und Inhalten eines Spiels. Es kann hier einerseits darum gehen, die Erzählung und In-

144 —— 145 halte zu erkunden, um die Spielerfahrung durch ein tieferes Verständnis zu bereichern. So tauschen sich Communitys etwa darüber aus, wie ein offenes Ende auszulegen ist oder tragen gemeinsam Hintergrundinformationen zusammen, die im Spiel verstreut 4.1 sind. Andererseits kann im Fokus stehen, die Mechaniken eines Spiels tiefer zu durch- dringen, Hürden zu überkommen oder sich im Wettbewerb mit anderen Spielenden zu behaupten. So gibt es eine Vielzahl von Communitys und kollaborativen Websei- ten, die sich ausschließlich mit Spielstrategien, Anleitungen und Lösungswegen befas- sen. Darüber hinaus existieren spielinterne Organisationsstrukturen wie »Teams« und »Clans«, die gemeinsam trainieren, Strategien ausarbeiten und Wettkämpfe bestreiten. Auch »Speedrunning«-Communitys kann man diesem Fokus weitgehend zu- rechnen. Hierbei geht es darum, ein Spiel möglichst schnell und gegebenenfalls un- ter selbst auferlegten Beschränkungen durchzuspielen, beispielsweise ohne andere Figuren zu bekämpfen. Zwar bringt Speedrunning eigene Inhalte wie selbst gestell- te Regeln mit, stellt aber die Kenntnis und geschickte Nutzung der Spielsysteme in den Vordergrund.

Entwicklung im Fokus Ein hohes Interesse an Aspekten der Entwicklung folgt oft aus einem Fokus auf das Spiel selbst, kann aber deutlich darüber hinausgehen. Die Partizipation der Einzelnen beschränkt sich dann nicht länger darauf, mitzuspielen, sondern das Spiel und sei- ne Regeln auch aktiv mitzugestalten. So sammeln Communitys in Internetforen bei- spielsweise Spielfehler und geben dieses Feedback an das Entwick- Benjamin Strobel ist Psychologe lerstudio weiter. und beschäftigt sich mit digitalen Die Möglichkeit, ein Spiel aktiv zu gestalten und seine Re- Spielen sowie ihrer kulturellen, geln neu auszuhandeln, kann zu einer besonders starken Identifika- medienpädagogischen und psy­ tion mit dem Spiel und seiner Community beitragen. Deshalb sind chologischen Bedeutung. solche Partizipationsangebote auch für Entwicklerstudios interes- sant, die ein längerfristiges Interesse an ihrem Produkt wecken möchten. Mit frühen oder unfertigen Spielversionen, sogenannten »Alpha«-, »Beta«- oder auch »Early Ac- cess«-Versionen, werfen sie den Haken nach Feedback aus und holen zumeist reiche Beute ein. Auch der Kurs von »Games-as-a-Service«, also Spielen, die über längere Zeit aktiv weiterentwickelt werden, wird von den jeweiligen Communitys entschei- dend mitbestimmt.

Spielerinnen und Spieler im Fokus Kompetitive Mehrspieler-Games haben über die letzten Jahre Strukturen entwickelt, die auch in analogen Sportarten etabliert sind (→). So gibt es Teams, Vereine, Wett- 4.5 E-SPORT kämpfe und institutionalisierte Profiligen. Wie im analogen Sport geraten dabei Ath- letinnen und Athleten durch besondere Leistungen in den Vordergrund. So haben sich Communitys um kompetitive Spiele und ihre Stars entwickelt, deren Mitglieder nicht zwingend selbst spielen, sondern hauptsächlich das Spiel anderer verfolgen. Anders als beim analogen Sport hat sich das Zuschauen bei Games über Wettkämpfe hinaus auf alle möglichen Spielaktivitäten ausgeweitet. So gibt es Live-Streamerinnen und

GEMEINSCHAFT -Streamer, die auf Plattformen wie YouTube und Twitch den Lebensunterhalt damit verdienen, ihrem Publikum etwas vorzuspielen. Nicht immer geht es darum, heraus- 4.1 ragende Fähigkeiten zu demonstrieren; mitunter stehen auch charmante Kommen- tare und Unterhaltung im Vordergrund. Durch sogenannte »Let’s Plays« und Streams LET’S PLAY & STREAMING 4.2 werden zugleich auch eigene Inhalte in Form von Videos geschaffen( ←). Darüber hi- naus eröffnen Live-Streams neue Partizipationsräume, in denen das Publikum mit den Streamerinnen und Streamern interagiert.

Eigene Inhalte im Fokus Der Fokus auf eigene Inhalte ist besonders vielfältig, weil er sich sowohl innerhalb ei- nes Spiels, um dieses herum als auch von diesem losgelöst abzeichnen kann. Im Vor- dergrund steht dabei ein eigener, kreativer Schaffensprozess, der meist in kleineren Gruppen stattfindet, aber oft mit der ganzen Community und darüber hinaus geteilt wird. In Online-Spielen finden sich Gruppen, die sich selbstständig organisieren und unabhängig von den vorgesehenen Spielzielen gemeinsam handeln. Einige drehen eigene Filme innerhalb eines Spiels, sogenannte Machinima, und teilen sie mit ande- ren, andere nutzen die Spielumgebung, um nach eigenen Regeln etwas komplett an- deres, beispielsweise Rollenspiele zu spielen. Um das Spiel herum können sich Modding-Communitys ansiedeln, die auf ein MODDING 4.4 Spiel aufbauen anstatt sich nur mit den gegebenen Inhalten zu befassen (←). Mod- ding kann die Umsetzung eigener Visionen für das Spiel bis hin zu komplett eigenstän- digen Spielen im Fokus haben. Berühmte Beispiele dafür sind Counter-Strike (1999) und (DotA) (2003) die als Modifikationen (Mod) fürHalf-Life (1998), respektive Warcraft Ⅲ: Reign of Chaos (2002) gestartet sind, bevor sie später als eige- ne Spiele weiterentwickelt wurden. Ziel einer Mod kann aber auch eine Anreicherung des Grundspiels sein. Kurz nach Erscheinen von The Elder Scrolls Ⅴ: Skyrim (2011) ent- wickelten Fans etwa eine Modifikation für Personen mit Spinnenangst, welche die Mo- delle von Riesenspinnen gegen die von Bären austauschte. Schließlich gibt es kreative Auseinandersetzungen von Gaming-Communitys auch außerhalb der Spiele. Von »Fanfiction« und »Fanart«, d. h. Geschichten und Bil- COSPLAY 4.3 der von Fans zu einem Spiel, bis zu »Cosplay« (←) gibt es eine große Bandbreite von Inhalten, die in Zusammenhang mit einem Spiel entstehen, davon jedoch unabhängig sind. Zumeist werden sie über Social Media und ähnliche Kanäle einer breiteren Öf- fentlichkeit zugänglich, die sich nicht zwingend auch mit dem Spiel befasst, auf dem die neuen Inhalte basieren. Die Auseinandersetzung kann losgelöst vom Spiel stattfin- den oder lediglich lose Bezüge haben.

Besonderheiten von Gaming-Communitys Um die Besonderheiten von Gaming-Communitys zu verstehen, hilft es, sich zwei Ei- genschaften von digitalen Spielen zu vergegenwärtigen: Zum einen sind sie digital und dadurch ständig veränder- und erweiterbar. »Patches« beseitigen Spielfehler, »Up- dates« erweitern Spielinhalte. Die Spannbreite bewegt sich dabei zwischen kleinen Zusatzinhalten bis hin zur völligen Neuerfindung des Spiels. Der Kurs der Weiterent-

146 —— 147 wicklung wird dabei nicht selten von der Community mitbestimmt. Zum anderen sind Spiele ihrem Wesen nach interaktiv. Mit anderen Worten: Was in einem Spiel passiert, wird wesentlich dadurch bestimmt, was die Spielerinnen und Spieler tun. Die Unbe- 4.1 stimmtheit eines Spielverlaufs reicht mitunter so weit, dass selbst die Entwicklerstu- dios nur sehr bedingt absehen können, was in ihrem Spiel später passieren wird. Man kann also sagen, dass digitale Spiele in zweifacher Weise unabgeschlos- sen sind: einerseits technisch, da sie ständig verbessert und erweitert werden und an- dererseits inhaltlich, weil das Zutun von Spielerinnen und Spielern stets etwas unvor- hersehbar Neues ins Spiel bringt. Beide Aspekte laden zur Partizipation ein und sind in anderen Medien deutlich geringer oder gar nicht ausgeprägt. Es ist naheliegend, dass das besondere Ausmaß an Teilhabe und Mitgestaltung des Mediums auch zu einer besonders starken Identifikation mit dem jeweiligen Spiel und seiner Commu- nity beiträgt. Vor diesem Hintergrund werden die große Anziehungskraft und Loya- lität von Gaming-Communitys nachvollziehbar, aber auch ihre unerbittlichen Graben- kämpfe – beispielsweise wenn es darum geht, welche Spieleplattform (Konsolen oder PCs) das beste Angebot habe oder welche Inhalte in ein Spiel gehörten und welche nicht. Ein Beispiel dafür ist die Einführung spielbarer Soldatinnen in den Weltkriegs- ERINNERUNGS­ Ego-Shooter BattlefieldⅤ (2018), die in Teilen der Community auf Ablehnung stieß (→). 3.2 KULTUR Auch wenn verschiedene Aspekte hierbei eine Rolle spielen, steht diese Debatte ins- besondere im Kontext von Geschlechter-Repräsentation, die aufgrund einer Historie überwiegend männlicher Spielfiguren ein viel diskutiertes Thema in Gaming-Com- munitys ist (→). An anderer Stelle sprach sich die Community hinter der Dark-Souls- 5.6 DIVERSITÄT Reihe (2011—2018) bei Erscheinen von Sekiro: Shadows Die Twice (2019) gegen Optionen zur Anpassung des Schwierigkeitsgrades aus, die mehr Menschen den Zugang zum Spiel erleichtern könnten (→). 5.7 INKLUSION In diesem Zusammenhang muss man Gaming-Communitys trotz der Vielzahl an Partizipationsangeboten attestieren, dass einigen Personengruppen die Teilhabe erschwert ist. Beispielsweise werden Wettkämpfe im E-Sport fast ausschließlich von Männern bestritten. Auch wenn die Ursachen dafür komplex sein können, verweisen betroffene Spielerinnen in der Öffentlichkeit immer wieder auf toxisches Verhalten und sexistische Strukturen als Gründe für die Geschlechterungleichheit. Tatsächlich leiden viele Communitys unter schädigenden Verhaltensweisen wie rassistischen, homopho- ben und transfeindlichen Äußerungen und Cyber-Mobbing. Bei der Entwicklung und Eindämmung dieser Probleme spielen die unterschiedlichen Kommunikationsplattfor- men eine entscheidende Rolle.

Kommunikation in Gaming-Communitys Kommunikation in Gaming-Communitys lässt sich, ähnlich wie ihre unterschiedlichen Phänomene, auf einer Skala der Distanz zum Spiel – von nah zu fern – einordnen. Mit wachsender Entfernung zum Spiel verlagert sich die Kommunikation außerdem zuneh- mend vom Privaten ins Öffentliche. Team-Spiele bieten in der Regel eigene Text- und Sprachkanäle an, sodass eine Kommunikation im geschlossenen Spielsystem möglich ist. Spielerinnen und Spieler können bereits Gruppen bilden, bevor sie spielen oder

GEMEINSCHAFT mit bis dahin unbekannten Personen in Kontakt treten. Die Kommunikation ist hierbei zumeist auf den Raum des jeweiligen Spiels beschränkt und findet in der Regel zwi- 4.1 schen Team-Mitgliedern oder im Austausch mit anderen Teams statt. Sie ist überwie- gend spielbezogen oder privat. Um ein Spiel herum siedeln sich schnell weitere Plattformen an. In der Regel sind bereits die Vertriebsplattformen am PC und auf den Spielkonsolen mit Kanälen zu den jeweiligen Spielen ausgestattet. Hinzu kommen Plattformen von Drittanbie- tern und Privatpersonen wie Foren, Wikis, Fan-Webseiten, Community-Plattformen journalistischer Medien und viele weitere. Die Kommunikation innerhalb dieser Com- munitys dient unter anderem der Verabredungen zum gemeinsamen Spielen, dem Austausch von Strategien, allgemeiner Hilfe beim Spiel oder Feedback zu Spielfeh- lern, sowie der Diskussion von Spielinhalten und so weiter. Sie findet in der einge- schränkten Öffentlichkeit der jeweiligen Plattform statt. Außerhalb von spielspezi- fischen Plattformen findet eine große Bandbreite öffentlicher Kommunikation über Social-Media-Kanäle statt. Sie ist in der Regel eher niedrigschwellig, weniger spezi- fisch und kann sich auch an einen breiteren Personenkreis richten, der nicht mit dem Spiel vertraut ist.

Dynamiken in Gaming-Communitys Es gibt eine Vielzahl von Beispielen, die aufzeigen wie rasch und selbstständig sich Ga- ming-Communitys organisieren und welche kollaborativen Kräfte dabei frei werden können. Die Community von Guild Wars 2 (2012) organisiert beispielsweise jedes Jahr einen »Pride March«, eine Parade ähnlich den Demonstrationen am Christopher Street Day in Deutschland, als virtuellen Straßenzug durch die Spielwelt Tyria. Als 2014 ein Spieler aus Ultima Online (1997) verstarb, hielt die Community eine Trauerfeier im Spiel ab. Besondere Hingabe für ein Community-Mitglied zeigten auch die Spielerinnen und Spieler von Elite Dangerous (2014), die mit dem Entwicklerteam zusammenarbei- teten, um einem sterbenden Jungen die letzten Tage in seinem Lieblingsspiel zu ver- schönern. So meldeten sich zahlreiche Mitglieder freiwillig, den jungen Michael mit auf ihre Reisen durch das Spieluniversum zu nehmen und benannten sogar einen Pla- neten im Spiel nach ihm. Einige Gaming Communitys retten sogar Leben: Die Initiative Extra Life hat seit 2008 mehr als 70 Millionen US-Dollar über Live-Streams gesammelt – die Spendengelder gehen jedes Jahr an kranke und verletzte Kinder. Oft organisie- ren diese Communitys sich eigenständig und dezentral und nutzen dabei eine große Bandbreite von Kommunikationswegen von spielinternen Kanälen bis zu Social Media. Allerdings sind Gaming-Communites häufig nicht nur selbst organisiert, son- dern auch sich selbst überlassen. Mehrspieler-Matches haben keine Schiedsrichter, Foren sind oft unmoderiert – abgesehen von zumeist automatisierten Wortfiltern, die sich überlisten lassen. Fehlende oder mangelhafte Strukturen führen dazu, dass Hass- rede sich auch weiterhin in einigen Gaming-Communitys verbreiten kann. So finden sich auf Steam, einer der größten Vertriebsplattformen für Games weltweit, zahlrei- che Profile und Community-Gruppen mit verfassungsfeindlichen Symbolen und ext- remistischen Inhalten. Die Aufarbeitung rechtsradikaler Terroranschläge wie dem von

148 —— 149 Halle im Jahr 2019 zeigen zudem auf, dass unmoderierte Gaming-Communitys nach Einschätzung von Extremismusexpertinnen und Extremismusexperten neben ande- ren Online-Plattformen wie Imageboards bei der Radikalisierung und Rekrutierung in 4.1 extremistische Kreise eine Rolle spielen können. Ohne Frage stellt die schiere Größe der Communitys die Plattformen vor enor- me Herausforderungen. Bislang führen die Bemühungen der Anbieter aber nicht dazu, die Missstände vollständig zu beseitigen. Dabei richten sich Aggressionen innerhalb der Communitys nicht nur gegen andere Mitglieder, sondern können auch die Ent- wicklerinnen und Entwickler treffen. Mitunter bombardieren unzufriedene Fans die Community-Foren mit negativen Reviews, um dem Studio zu schaden oder es zu be- einflussen. Macht ein Spielupdate Probleme oder kommt eine Änderung in der Com- munity nicht gut an, muss das Studio in besonders krassen Fällen mit Androhungen von Mord und Gewalt rechnen. Andere Bereiche wie die Filmbranche kämpfen mit ähnlichen Problemen. Diese wiegen in digitalen Räumen oft schwer, weil sich hier be- sonders große Gruppen organisieren, die kaum oder gar nicht moderiert werden. Vie- le Spieleunternehmen sind im Community-Management bereits aktiv und sanktionie- ren auf den eigenen Plattformen toxisches Verhalten, was bis zum Ausschluss führen kann. Die technischen und organisatorischen Strukturen der Plattformen reichen aber nicht in allen Fällen aus, um den Problemen adäquat zu begegnen.

Schlussbemerkung Gaming-Communitys werden aufgrund ihrer einzigartigen Möglichkeiten zu Partizi- pation und Mitgestaltung des Mediums auch weiterhin etwas Besonderes sein. Die Initiativen von Gaming-Communitys können Leben retten und sie enorm bereichern. Es muss allerdings als eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben für Gaming-Com- munitys begriffen werden, ihre Plattformen geeignet zu organisieren und zu mode- rieren, um schädlichen Verhaltensweisen zu entgegnen und extremistischen Struk- turen keinen Raum zu lassen.

Literatur ✕ Madigan, Jamie: Getting gamers – The psychology of video games and their impact on the people who play them. Rowman & Littlefield, London 2015 ✕ Wimmer, Jeffrey; Schmidt, Jan-Hinrik: Game Studies und Mediensoziologie. In: Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung (herausgegeben von Klaus Sachs-Hombach, Jan-Noël Thon). Herbert von Halem Verlag, Köln 2015, S. 252–278

GEMEINSCHAFT 4.2 LET’S PLAY & STREAMING VERA MARIE RODEWALD

Wer selbst schon mal mit anderen gespielt hat, wird es kennen: Autos, Figuren oder Objekte werden gegen- oder miteinander gesteuert und nebenbei das halbe Leben erzählt. Das Knöpfe- und Tastendrücken wird zur Nebensache, das Spielen zur ge- meinsam erlebten Geschichte. Genau das versprechen auch sogenannte Let’s Play- Videos: Lass(t) uns spielen! Mit einem einzigen Unterschied: Sie trennen Spielende und Zuschauende, Erzählende und Zuhörende – ein jeder vor dem eigenen Bildschirm. Unter dem Begriff »Let’s Play« werden also solche Videos versammelt, in de- nen Spielsequenzen von den Spielenden dramaturgisch und audiovisuell in Szene ge- setzt werden. Diese Spielenden, »Let’s Player« genannt, nehmen ihre Handlungen im Computerspiel auf, während sie diese gleichzeitig kommentieren. Dabei reihen sie sich in die Tradition von Videoformaten wie Playthroughs, also das komplette oder partielle Durchspielen von Lösungswegen für schwierige Spielsituationen, und Speedruns, das möglichst schnelle Durchspielen von Spielen, ein und erweitern die Rezeption um eini- ge Besonderheiten, die die Faszination von Let’s-Play-Videos ausmachen. Denn beim Let’s Play geht es weniger darum, festzuhalten, wie die oder der Spielende möglichst schnell oder auf die korrekte Weise ans Ziel kommt. Stattdessen rückt das adressier- te Publikum ins Zentrum. Zwar räumlich von den Zuschauenden getrennt, inszenieren die Let’s Player ein gemeinsames Spielerleben. Aus dem Spielen wird ein Vorspielen. Wie im Theater schlüpfen diese in die Rolle von Schauspielerinnen und Schau- spielern, die das digitale Spiel als Bühne für die eigene Erzählung nutzen. Während Ressourcen gesammelt, Dialoge geführt oder Rätsel gelöst werden, werden die Mono- loge der spielenden Erzählerinnen und Erzähler Teil der Auf‌führung. Ein audiovisuelles Spektakel, das sich ohne die zeitgleiche Anwesenheit von Zuschauenden abspielt und doch nur ihretwegen und für sie stattfindet. Das für digitale Spiele prägende Merkmal der Interaktion wird also zugunsten eines interpassiven Rezeptionserlebnisses aufge- löst. Das heißt, die Zuschauenden geben die Interaktion mit dem Spiel an andere Per- sonen, die Let’s Player, ab. Diese spielen, aber eben nicht nur. Sie geben zugleich per- sönliche Einblicke in ihre Spielvorlieben und -erfahrungen, aber auch in Gedanken,

150 —— 151 Meinungen und Privates. Sie sprechen mit dem Publikum, als säße es neben ihnen auf der Couch. Mit dieser vermeintlichen Nähe und Authentizität ziehen sie erst ein paar Follower und dann eine ganze Community in den Bann. Denn so vielfältig wie die Spie- 4.2 le, die den audiovisuellen Rahmen des Videos liefern, sind auch Stil und Ästhetik der Let’s Player, die sie kommentierend in Szene setzen. Letztere sind also maßgeblich für das Let’s Play, in dem sie auftreten. Das Publikum wird durch die Umwandlung des Spiels in ein weitestgehend passiv erlebbares Videoformat zwar der eigenen Interaktivität mit der Spielhandlung beraubt, übernimmt aber eine gleichermaßen wichtige Funktion: Es schaut zu und macht das Spiel damit zum Schauspiel. Selbst von Genuss und Frustrationsmomen- ten des Spielens befreit, erlebt es dadurch eine neue Form des Vergnügens. Diese Interpassivität ermöglicht es den Zuschauerinnen und Zuschauern, das Spiel ohne jeglichen Handlungsdruck zu genießen. Wie das »canned laughter« – die Lachkon- serve – in den Sitcoms der 1990er Jahre ihnen das eigene Lachen abnahm, wird nun für sie gespielt. Die Bezeichnung Let’s-Play-Video soll erstmals 2007 auf der Comedy-Web- seite Something Awful erwähnt worden sein. Dort wurde sie im Kontext eines von Mi- chael Sawyer unter dem Pseudonym »slowbeef« kommentierten Playthroughs des Computerspiels The Immortal (1990) genutzt. Mit zunehmender Bedeutung der 2005 gegründeten Videoplattform YouTube etablierten sich nach und nach Kanäle, die sich ausschließlich der Veröffentlichung von Let’s Play-Videos widmeten. Zu den größten und bekanntesten Stars der vergangenen Jahre zählen u. a. der Schwede Felix Kjell- berg alias »PewDiePie«, die Briten Lewis Brindley und Simon Lane mit ihrem YouTube- Kanal »Yogscast Lewis & Simon« sowie der Deutsche Valentin Rahmel alias »Sara- zar«. Kai Rienow hatte 2009 mit der Gründung der Internetseite ­letsplayforum.de den Grundstein für viele Let’s Player in der deutschen Let’s-Play-Szene gelegt; darunter auch Erik Range alias »Gronkh«, der 2009 zusammen mit »Sarazar« eine eigene Me- dienproduktionsfirma aufbaute und 2010 mit der Produktion von Videoformaten auf Basis des Computerspiels Minecraft (2009) begann. Sein Kanal zählt heute zu den meist- abonnierten YouTube-Kanälen in Deutschland. Aus dem anfänglichen Hobby wurde für einige Let’s Player also schnell ein Be- ruf. Denn YouTube hat das Phänomen Let’s Play maßgeblich mitgeformt. Auf der Platt- form lassen sich die eigenen Videos nicht nur hochladen, sondern auch monetarisieren, also in Geld umwandeln. Über das YouTube-Partnerprogramm werden nicht nur die In- halte mit Werbung verknüpft, sondern Klicks und Views – die Anzahl der Aufrufe ei- nes Videos – selbst zur Währung. Das Partnerprogramm von YouTube sorgt dafür, dass die Verbreitung der Inhalte finanziell entlohnt wird. Wer gesehen wird, verdient Geld. Ganz untätig bleiben die Zuschauenden von Let’s Plays also dann doch nicht. Die Videoplattform unterstützt wie andere soziale Medien verschiedene Formen der Interaktion zwischen Nutzerinnen und Nutzern. So können Inhalte positiv bewertet, kommentiert und Kanäle abonniert, also die Inhalte bestimmter Produzierenden au- tomatisch verfolgt werden. Diese Möglichkeit des Feedbacks erschafft einen virtuel- len Raum für Gemeinschaft, ein gemeinsames Wohnzimmer, in dem zusammen ge-

GEMEINSCHAFT spielt und geredet wird. Trotzdem ist es nicht die Freundin oder der Freund, die oder der da neben einem sitzt. Zuschauende und Spielende gehen eine sogenannte para- 4.2 soziale Beziehung ein, in der die vermeintliche Freundschaft in den allermeisten Fäl- len nur angenommen bleibt. Ähnlich dem Starkult um Akteurinnen und Akteure aus Film- und Musikbranche oder dem öffentlichen Leben, werden auch Let’s Player im- mer wieder zu Popstars erklärt. Ihr exponiertes Auftreten und die scheinbare Nahbar- keit zum adressierten Publikum sind es, was die Faszination für Let’s Plays ausmacht. Wie bei einem Fußballspiel, das statt auf dem eigenen Hinterhof im Stadion vor Fans stattfindet, nehmen die Zuschauenden Einfluss auf das, was auf dem Platz passiert. Sie feuern die Mannschaften an und erzeugen dadurch eine Atmosphäre, die die Spielenden motiviert, herausfordert, antreibt. Sie identifizieren sich nicht nur mit den Sportlerinnen und Sportlern auf dem Fußballfeld, sondern – getragen durch Fangesänge und Vereinskutten der anderen – auch mit der ganzen Fankurve. Des- wegen wird auch von Fußballkultur gesprochen, wenn kulturelle Praktiken der Fan- gemeinde gemeint sind. Nicht anders verhält es sich mit dem Phänomen Let’s Play. Es bringt zum Aus- druck, wie kreativ sich die digitale Spielkultur zeigt. Nach mehr als zehnjährigem Be- stehen hat es einen festen Platz im Medienrepertoire von vor allem Jugendlichen, aber auch vielen Erwachsenen eingenommen. Heranwachsende eifern dem Erfolg großer Let’s Player nach und probieren sich selbst als Produzentinnen und Produzenten aus. Damit wurde das Thema nicht nur zum Diskussionsgegenstand in Vera Marie Rodewald ist freie Familiensitzungen und Elterngesprächen, sondern auch in medi- Medienpädagogin und wissen- enpädagogischen Kontexten aufgegriffen. In Workshops und Pro- schaftliche Mitarbeiterin für den jekten können Jugendliche in die Let’s-Play-Produktion eintauchen Bereich Medienkompetenz an und damit nicht nur technische Kompetenzen erwerben, sondern der Hochschule für Angewandte auch Qualitätskriterien für die Umsetzung definieren. Sie wechseln Wissenschaften Hamburg. damit ihre Perspektive und reflektieren auf diese Weise einerseits den kreativen Schaffensprozess und andererseits die kommerziellen Marktmechanis- men und Vermarktungsstrategien von Influencer-Netzwerken. Diese Netzwerke über- nehmen häufig das Management von Personen, die in sozialen Netzwerken aufgrund ihrer Präsenz und Popularität als Werbeträger in Frage kommen. Spielerinnen und Spieler laden ihre produzierten Spieleerlebnisse aber nicht nur als Let’s-Play-Videos auf YouTube hoch. Seit 2011 übertragen sie ihre Spielrunden auch auf der Online-Plattform Twitch live ins Internet, die explizit für Livestreams von Computerspielen konzipiert wurde. Seit 2015 ist das in Deutschland auch auf YouTube möglich. So kann die soziale Interaktion mit den Zuschauenden viel direkter erfolgen. Das verändert auch das Rezeptionserlebnis. Nutzerinnen und Nutzer reagieren unmit- telbar auf die Spielhandlungen und platzieren ihre Kommentare in einem Live-Chat. So gestalten sie den gemeinsam erlebten Spielmoment mit und treten nicht nur unterei- nander, sondern auch mit den Spielenden in den Austausch. Der US-Amerikaner Ri- chard Tyler Blevins alias »Ninja« gehörte 2019 mit etwa 14,5 Millionen Followern, re- gelmäßige Zuschauer, davon 50.000 aktive pro Woche, auf Twitch zu den weltweit meistgefolgten »Streamern«, wie live Spielende »Let’s Player« genannt werden. Ein

152 —— 153 Jahr zuvor hatte er mit dem Streamen des Spiels Fortnite (2017) bereits rund 10 Millio- nen US-Dollar verdient. Kooperationen mit größeren Marken wie Red Bull oder Adidas folgten. 2019 beendete er seine Aktivitäten auf Twitch und wurde von Microsofts we- 4.2 niger erfolgreichem Dienst Mixer abgeworben, um dort von nun an exklusiv zu strea- men. Innerhalb weniger Tage wuchs seine Abonnentenzahl um das Vierfache an und brachte der Plattform den erhofften Popularitätsschub. Die zunehmende Beliebtheit von Fortnite hat dazu beigetragen, dass aus dem früheren E-Sportler Ninja einer der einflussreichsten Streamer wurde (→). Aber auch 4.5 E-SPORT Let’s Plays und Streaming-Angebote nehmen umgekehrt Einfluss auf das Design und die Entwicklung von Spielen. So lässt sich das Aussehen der eigenen Figur in Fortnite mittlerweile mithilfe eines käuf‌lichen Skins in das des Streamers Ninja verändern. Spe- zielle Bewegungsabläufe und Tänze, die in den aufgezeichneten Spielsessions zum Markenzeichen bestimmter Spielerinnen und Spieler wurden, werden nun auf Schul- höfen und in Clips auf dem Videoportal TikTok nachgetanzt. Zwar bleiben die Spielenden nach wie vor die dominierende Instanz in der In- szenierung des Spielraums. Die vierte Wand wird aber immer wieder von den Zuschau- enden zugunsten einer gemeinsam erlebten Erzählung durchbrochen. Indem sie sich kommunikativ ins Spiel bringen und die Handlung außerhalb der Spielwelt aufgreifen, machen sie sich selbst zum Teil dieser Erzählung. Aus der passiven Rezeption, also Wahrnehmung, wird eine aktive Partizipation, also Teilnahme. Entwicklerstudios und Publisher größerer Spieletitel haben den anfänglichen Diskussionen rund um Urheberrechts- und Lizenzbrüche durch das Aufzeichnen und Übertragen der Spiele-Inhalte den Rücken zugewandt und, statt Let’s Plays und Strea- ming weiterhin rechtlich zu bekämpfen, vielfach das Marketing-Potenzial erkannt. Auch die Weiterentwicklung von Hard- und Software stellt sich auf das veränderte Rezeptionsverhalten ihrer Zielgruppe ein. So müssen die Spiele seit Erscheinen der letzten Konsolengeneration nicht mehr mit externer (z. B. Capture Cards) oder inter- ner Aufnahmetechnik (z. B. auf dem Computer aktivierte Screencasting-Programme) aufgenommen und übertragen werden. Ein direktes Streaming oder Aufzeichnen ist nun oftmals via Knopfdruck des sogenannten Share-Buttons auf den Controllern ak- tueller Spielkonsolen ohne Öffnen weiterer Programme möglich und macht damit jede Spielerin und jeden Spieler zum potenziellen Let’s Player. Das Phänomen Let’s Play führt also vor Augen, dass Spielen alles andere als eine einsame Angelegenheit ist. Dass Spielende und Zuschauende gemeinsam in fik- tive Welten eintauchen und den Spielraum weit über das eigentliche Spiel hinaus aus- dehnen, unterstreicht dabei dessen kulturelle Bedeutung. Und so überrascht es nicht, dass sowohl E-Sports-Veranstaltungen als auch sonstige Live-Let’s-Play-Formate gan- ze Arenen füllen. 2019 verzeichnete die Electronic Sports League (ESL) mit 174.000 Zuschauenden vor Ort und weit mehr als 20 Millionen, die live von zu Hause aus dabei waren, die weltweit höchste Teilnehmerzahl eines E-Sports-Events. Let’s Player geben in ihren Videos demnach nicht nur Einblicke in das Leben von fantastischen Wesen, Abenteuergeschichten oder kriegerische Endzeitszenarien. Sie zeigen auch ihre Selbst- und Weltwahrnehmung und animieren in gewisser Weise

GEMEINSCHAFT die Reflexionspotenziale ihres Publikums. Wie aktiv dieses wiederum in Erscheinung tritt, hängt letztlich von den eigenen Motiven ab: Unterhaltung, Langeweile, Ablen- 4.2 kung, Kommunikation, Identifikation, Interpassivität, Gemeinschaft, um nur einige zu nennen. Let’s Player und Let’s Plays stehen in einem kontinuierlichen Spannungs- feld zwischen Wunsch und Verlangen nach Authentizität, wirtschaftlichen Interessen, rechtlichen Vorgaben, kreativen Alleinstellungsmerkmalen und der Community-Pflege COMMUNITYS 4.1 (←). Darin liegt mitunter auch ein Risiko für die Rezipientinnen und Rezipienten. Blei- ben Aussagen, Meinungen und Werbeeinblendungen unhinterfragt, führt dies im Ein- zelfall auch dazu, Fehlinformationen unreflektiert zu übernehmen. Und auch in den Communitys selbst sind rassistische und anti-feministische Strukturen – wie in allen DIVERSITÄT 5.6 Bereichen der Gesellschaft – vertreten (←). Daher ist es umso wichtiger, das Thema Let’s Play & Streaming als Teil der Jugendkultur im Elternhaus sowie in Jugendeinrich- tungen und Bildungsinstitutionen ernst zu nehmen und die Medienkompetenz von jun- gen Spielerinnen und Spielern zu stärken. Nicht nur, um für Gefahren zu sensibilisieren, sondern vor allem, um sichtbar zu machen, wie sich die Potenziale und Formen von di- gitaler Spielkultur kreativ nutzen lassen.

Literatur ✕ Ackermann, Judith (Hrsg.): Phänomen Let’s Play-­Video. ­Ent- stehung, Ästhetik, Aneignung und Faszination auf­gezeichneten Computerspielhandlung.­ Springer VS, Wiesbaden­ 2017. ✕ Workshops, Fortbildungen und ein Festival der Initiative Creative Gaming um kreatives Computerspielen: creative-gaming.eu

154 —— 155 COSPLAY 4.3 KAREN HEINRICH

Fandom ist das gesteigerte Interesse und Engagement für einen populären Text, ei- nen Star, ein Genre oder ein Spezialgebiet der populären Kultur. Cosplay (kurz für »costume play«) ist eine sichtbar zur Schau getragene Form dieser Fankultur und ein fester Bestandteil von Games- und Popkultur-Veranstaltungen. Es beinhaltet die An- fertigung oder das Zusammenstellen von Kostümen, das Sich-Verkleiden und öffent- liche Auftreten als Figur aus einem fiktionalen, populären Text. Das kann ein Compu- terspiel, aber auch ein Real- oder Animationsfilm, ein Musikvideo, eine TV-Serie, ein Comic/Manga oder ein Roman sein. Cosplay bezeichnet dabei nicht nur die Fanpra- xis rund um Kostüme, sondern auch das Kostüm selbst.

Geschichte Die Fanpraxis Cosplay entstand im amerikanischen Science-Fiction-Fandom bereits im Rahmen der ersten World Science Fiction Convention (Worldcon) im Jahr 1939. Man sprach zunächst von »Costuming« oder »Masquerade« (engl. für Maskenball). Die Liebe zur Science-Fiction-Literatur mischte sich so mit der kulturell viel älteren Faszination, mittels eines Kostüms temporär in eine andere Rolle zu schlüpfen. Da- mals wie heute ging es den Fans darum, ihre Begeisterung für die populären Stoffe zu zeigen, Aufsehen zu erregen, mit anderen Fans in Verbindung zu treten und sich selbst anders wahrzunehmen. Den Begriff Cosplay prägte der Anime-Produzent Nobuyoshi Takahashi 1983, nachdem das Phänomen auch in Japan Fuß gefasst hatte. Unter der neuen Bezeich- nung Cosplay fand ein Reimport der Kostümpraxis statt, als in Karen Heinrich ist Corporate den USA und Europa in den 1990er Jahren erste Conventions bei Tag, Cosplayer und (Treffen von Gleichgesinnten) rund um Anime, Manga und ja- Blogger bei Nacht. panische Computerspiele entstanden. Anime- und Game-Fans übernahmen von ihren japanischen Vorbildern auch die Art, für Fotos zu posieren, so- wie die anschließende Online-Präsentation ihrer Werke. Diese Selbstinszenierung ei- nes Cosplayers als Künstler-Persönlichkeit prägt die Fanpraxis bis heute.

GEMEINSCHAFT Im Fandom um japanische Popkultur auf der einen Seite und im amerikanisch gepräg- ten Science-Fiction- und Fantasy-Fandom auf der anderen Seite entwickelten sich 4.3 so zunächst parallel eigene Begriffe, Szene-Rituale und Darstellungsweisen. In den 2010er Jahren hat sich der Begriff Cosplay aber weltweit durchgesetzt. Cosplayer agieren heute meist genreübergreifend und übertragen die Fanpraxis auf Vieles, wo- von sie Fan sind. Auch eigene und historisch inspirierte Kostümdesigns sind möglich. Cosplay ist aber zu unterscheiden vom historischen Reenactment sowie vom soge- nannten »LARP« (Live-Rollenspiel), bei dem es um die ununterbrochene, authenti- sche Darstellung einer eigenen Figur geht.

Szene-Fokus Cosplay-Kostüme sind nicht für den Alltag gedacht. Sie werden auf Conventions und anderen Veranstaltungen des jeweiligen Fandoms getragen. Weitere Anlässe sind Foto- oder Videoshootings und Livestreaming. Cosplay ist ein zeitintensives Hobby, da die Kostüme meist von den Cosplayern selbst hergestellt werden. Die dazu not- wendigen Fertigkeiten eignen sich die Cosplayer autodidaktisch an. Eine große Bedeutung kommt dem Austausch mit anderen Cosplayern und Fans zu, der zwischen den Conventions vor allem online stattfindet. Hier geht es um das Netzwerken, den Austausch von Tipps zur Kostümanfertigung oder zum Einkauf, das Verabreden zu Treffen und Fotoshootings, sowie den allgemeinen Interessenaus- tausch unter gleichgesinnten Fans. Eigene Arbeiten werden veröffentlicht und die Ar- beiten anderer kommentiert. Die Cosplayer entwickeln eine eigene Kultur rund um die Kunst des Verkleidens. Sie bilden somit nicht nur eine eigene Szene innerhalb des jeweiligen Fandoms, sondern sie unterhalten auch ein globales Netzwerk über Gen- re- und Mediengrenzen hinweg. Dieser Austausch ermöglicht es den Cosplayern, ihr Handwerk ständig weiterzuentwickeln und über internationale Trends im Bilde zu sein.

Online Tägliche Treffpunkte der Cosplay-Szene befanden sich schon immer im Internet: von themenspezifischen Foren (Newsgroups) in den 1990er Jahren über Online-Fan-Com- COMMUNITYS 4.1 munitys (wie deviantart.com, cosplay.com oder animexx.de) (←) bis zu Social Media (wie Facebook, Instagram oder Twitter) seit den 2010er Jahren. Auf Video-on-De- mand- und Streaming-Plattformen bilden Cosplayer heute ein eigenes Genre. Hier las- sen sie sich bei der Herstellung ihrer Kostüme über die Schulter blicken, laden Tutori- als (Anleitungen) hoch, sprechen über szenerelevante Themen oder chatten mit ihren LET’S PLAY & STREAMING 4.2 Followern. Oft streamen sie zusätzlich auch Computerspiele (←). Einige Veranstalter bieten zusätzlich oder als Ersatz für Conventions ein Online-Angebot mit Workshops und Diskussionsrunden, die live gestreamt oder aufgezeichnet werden.

Conventions Eine Convention ist eine meist überregionale, mehrtägige Großveranstaltung, bei der sich Mitglieder einer Fanszene treffen und über ihr gemeinsames Spezialgebiet aus- tauschen. Im deutschsprachigen Raum trifft man Cosplayer auf Events der Games-

156 —— 157 Branche (→) wie gamescom oder DreamHack; Anime-Conventions wie DoKomi oder 4.6 EVENTS Connichi; Comic-, Fantasy- und Science-Fiction-Conventions wie Comic Con Ger- many oder FedCon; Buch- und Spielemessen wie der Leipziger Buchmesse sowie Ja- pan-Kulturveranstaltungen. Kreative Fanaktivitäten tragen wesentlich zum Erlebnis auf einem Event bei. Als Besucher werden Cosplayer selbst zur Attraktion. So gut wie jede Convention rich- tet heute einen Kostümwettbewerb aus, bei dem sich Cosplayer dem Publikum und ei- ner Jury präsentieren. Hier wird neben der Darstellungsleistung auf der Bühne auch der handwerkliche Aspekt der Kostümherstellung beurteilt. Wie Streamer und E-Sportler (→) werden seit einigen Jahren auch international bekannte Cosplayer als Ehrengäste 4.5 E-SPORT eingeladen und treffen ihre Fans. Zudem gibt es Workshops und Vorträge, etwa über Nähtechniken oder 3D-Druck, die sich speziell an Cosplayer richten. In Medienberichten sind Cosplayer das Gesicht des Fandoms. Sie sind nicht nur attraktives Fotomotiv, sondern sie zeigen den Fan auch als produktiven Konsu- menten, der mit handwerklichem Geschick und Herzblut seine eigene Interpretation eines fiktiven Stoffes abliefert.

Cosplay, Gender und Diversity Die Cosplay-Szene ist stark weiblich geprägt. Frauen bilden in den meisten Ländern und Fandoms den Großteil der kostümierten Fans. Auch in traditionell männlich domi- nierten Fanszenen wie Science-Fiction und Games bietet Cosplay weiblichen sowie queeren Fans, die nicht der heterosexuellen Geschlechternorm entsprechen, einen Raum, in dem sie ihre Begeisterung für die populären Texte ausleben können. Noch immer werden sie in der Fanszene mit sexistischen Vorurteilen konfron- tiert: So kommt es immer noch vor, dass Frauen die Glaubwürdigkeit als Fans und Ex- perten abgesprochen wird, sie auf Sexobjekte reduziert oder sogar mit sexualisierter Gewalt bedroht werden. Gender-Stereotype in Games, mit denen sich die Branche zunehmend aktiv und selbstkritisch auseinandersetzt, tragen mit zu dieser Ausgren- zung bei (→). Das Cosplay, das den eigenen Körper zum Medium macht, setzt die 5.6 DIVERSITÄT Fans der Bewertung des Betrachters aus. Zugleich ermöglicht es aber auch eine er- mächtigende Erfahrung mit der neuen Rolle. Beim Cosplay ist alles machbar: Der Charakter muss weder das gleiche Geschlecht noch das gleiche Aussehen haben wie man selbst, er kann der eigenen Persönlichkeit ähnlich oder ganz anders sein. Gera- de der häufige Wechsel zwischen den Rollen macht für viele Cosplayer die Spannung aus. Die Anerkennung durch andere Cosplayer ist dabei meist wichtiger, als für Au- ßenstehende oder für männliche Fans attraktiv zu sein. In den Kostümen und ihrer fo- tografischen Inszenierung stecken viel handwerkliches Können und ästhetische Ent- scheidungen, die außerhalb der Cosplay-Szene kaum geschätzt werden. Ein Streitthema in der Szene und bei ihren immer zahlreicheren Betrachtern ist die Vorlagentreue: Was macht eine glaubwürdige Darstellung aus und wie wichtig ist es, dass Cosplayer ihrem fiktionalen Vorbild möglichst ähnlich sehen? Hier entlar- ven sich nicht nur sexistische Stereotypen und normative Körperbilder, sondern auch rassistische Vorurteile. Helden mit dunkler Hautfarbe sind in fast allen Genres der po-

GEMEINSCHAFT pulären Kultur unterrepräsentiert. Zudem ist die rassistische Praxis, sich mit dunkler Schminke und Accessoires als Angehöriger einer anderen Ethnie zu verkleiden, wie 4.3 beim sogenannten »Blackfacing«, auch im Cosplay noch in vielen Ländern verbreitet. Das führt regelmäßig zu Konflikten, weil schwarze und nicht-weiße Fans sich ausge- schlossen und gedemütigt fühlen. In dem Maße, wie das Publikum internationaler und das Fandom selbst vielfältiger wird, erhöht sich auch der Druck, ein Umfeld zu schaf- fen, in dem sich alle Fans willkommen fühlen.

Professionelle Cosplayer Für Cosplayer, die aus ihrem Hobby einen Beruf machen wollen, gibt es vielfältige Möglichkeiten zur Professionalisierung, aber keinen vorgezeichneten Karriereweg. Film-, Games- und Konsumgüter-Industrie setzen Cosplayer zu Promotion-Zwecken ein. Als »Walking Acts« oder Standpersonal sind sie medienwirksamer und authenti- scher als klassische Messehostessen. Mit Auftragsarbeiten für Unternehmen und Pri- vatkunden können sich handwerklich begabte Cosplayer einen Namen machen. Sie arbeiten etwa mit Games-Publishern zusammen, für die sie exklusive Kostüme und Requisiten zu Werbezwecken herstellen. Cosplayer treten als Markenbotschafter auf und entwickeln auch eigene Pro- dukte, wie Tutorial-E-Books oder Bastelmaterialien, die speziell auf die Bedürfnisse von Cosplayern abgestimmt sind. Für Cosplayer mit großer Followerschaft bieten sich online Möglichkeiten der Monetarisierung durch Werbeeinnahmen und Crowdfun- ding, also Projektfinanzierung durch viele Einzelbeiträge oder fortlaufende Finanzie- rung durch ein Abo-Modell. Der Markt von und für Cosplayer und deren Fans ist ein wachsender Wirtschaftszweig, der seinen Erfolg auch der breiten gesellschaftlichen Akzeptanz von Comic-Verfilmungen und Computerspielen verdankt.

Literatur ✕ Han, Yaya: Yaya Han’s World of Cosplay – A Guide to Fandom Cosplay Culture. Sterling, New York 2020 ✕ Heinrich, Karen: Kostümwechsel – Weibliche Rollendarstel-­ lungen im Cosplay. In: Japanische Populärkultur und Gender. Ein Studienbuch (hrsg. von Michiko Mae, Elisabeth Scherer, Katharina Hülsmann). Springer VS, Wiesbaden 2016, S. 237–271 ✕ Lamerichs, Nicolle: Embodied Characters – The Affective Pro- cess of Cosplay. In: Productive Fandom. Intermediality and Affective Reception in Fan Cultures (hrsg. von Nicolle Lamerichs). Amsterdam University Press, ­Amsterdam 2018, S. 199–231: library.oapen.org/handle/20.500.12657/28223

158 —— 159 MODDING 4.4 STEFAN KÖHLER

Jedes Spiel, ob digital oder analog, lebt von Modifikationen. Da wäre zum einen die grundlegende Herausforderung an Spielende, einen Anfangszustand durch Verände- rungen (Spielzüge) in einen gewünschten Zustand zu überführen – meist, aber nicht immer den Gewinn des Spiels. Zum anderen besteht die Versuchung, Regeln zu bie- gen oder zu brechen, um die eigenen Möglichkeiten im Spiel und die Siegchancen zu erhöhen, sei es durch das Schummeln bei Kartenspielen oder das »Cheaten« in digi- talen Spielen, also das Ausnutzen von Fehlern oder die Eingabe unerlaubter Befehle, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Auch wenn analogen Brett- oder Kartenspielen zum Teil ausführliche Gebrauchsanweisungen beiliegen, werden die darin vorgege- benen Regeln außerdem oft an die jeweilige Spielsituation, z. B. zur Verfügung ste- hende Zeit, Anzahl der Spielenden, individuelle Wünsche, angepasst. So etwa im Falle von »Familienregeln«, die von Familie zu Familie sehr unterschiedlich ausfallen kön- nen und idealerweise vor Spielbeginn festgelegt werden sollten, damit es nicht mit- tendrin zu Diskussionen und Modifikationen kommt, die das Spiel pausieren und so- mit wieder außerhalb von ihm stattfinden. Eine weitere Möglichkeit, analoge Spiele extern zu modifizieren, besteht darin, Spielmaterialien, z. B. Fi- Stefan Köhler ist Kultur­ guren, Karten, Würfel, Spielfelder, zu bearbeiten oder hinzuzu- wissenschaftler und Lehrer. fügen. Digitale Spiele erlauben hier potenziell noch umfang- reichere Zugriffe auf Inhalte und Abläufe, bis hinunter auf die Ebene der Einsen und Nullen in der Programmiersprache der Maschine, die je nach (Re-)Kombination theo- retisch alles darstellen können. Neben technischen Grenzen wie fehlender Speicher- kapazität und Rechenkraft eines Computers entscheidet bei Modifikationen aber vor allem die Zugänglichkeit der Daten einer Spielsoftware, ob und in welchem Ausmaß dieses Potenzial ausgeschöpft werden kann. Bereits das am Massachusetts Institute for Technology (MIT) entstandene Spacewar! (1962), oft als erstes digitales Spiel bezeichnet, ist untrennbar mit Modifika- tionen verbunden, wie auch mit dem Entstehen der Hackerkultur. Im Gegensatz zum heutigen, meist negativ konnotierten Bild eines sogenannten »Hackers« als Eindring-

GEMEINSCHAFT ling in Computer und Netzwerke ist zu Beginn der 1960er eine Person gemeint, wel- che die Leistungsfähigkeit und Vielseitigkeit eines technologischen Systems durch 4.4 kreative Lösungen oder herausragende Programmierkünste bis aufs Äußerste aus- reizt. Auch Spacewar!, ein Spiel, in dem sich zwei strichartige Raumschiffe mit pixeli- gen Raketen beschießen, ist eines dieser als »Hack« bezeichneten Programme, das die Möglichkeiten von Computern demonstriert und ständig weiterentwickelt wird. Während der Sternenhimmel beispielsweise in einer ersten Version aus zufällig plat- zierten Leuchtpunkten besteht, implementiert einer der Studenten des MIT später ein Unterprogramm, das Konstellationen in ihrer Position und der unterschiedlichen Hel- ligkeit ihrer Sterne realistisch darstellt. Andere Hacker interessieren sich mehr dafür, die Regeln des Spiels ihren Vorstellungen anzupassen, indem sie Parameter des Pro- gramms verändern, wie das Verhalten der Geschosse. Dies alles ist möglich, da der Quelltext des Spiels schon damals für alle Studierenden am MIT zugänglich ist. Auch nachdem Spacewar! auf Rechner in anderen Forschungseinrichtungen gelangt, wird es durch diese Offenheit zur Veränderung nicht nur begeistert gespielt, sondern auch weiter modifiziert. Sind digitale Spiele bis zum Ende der 1960er Jahre zunächst nur einer akademischen Elite vorbehalten, erreichen sie im folgenden Jahrzehnt auf Arca- de-Automaten und den ersten Heimkonsolen schließlich eine deutlich größere Men- ge an Nutzerinnen und Nutzern. Im Gegensatz zu den Hackern können diese Spieler und Spielerinnen jedoch meist keine oder nur vorgegebene Konfigurationen an den Spielen vornehmen, weil ihnen das technische Know-how fehlt, um auf die zugrun- deliegende Hardware zuzugreifen – falls sie dies überhaupt wollen, da Spiele inzwi- schen nicht mehr, wie bei Spacewar!, als Prozesse, sondern vielmehr als in ihrer Ent- wicklung abgeschlossene Produkte wahrgenommen werden. Erschwingliche Heimcomputer, wie z. B. der 1977 erschienene Apple Ⅱ, führen schließlich nicht nur zu einer steigenden Nachfrage bei digitalen Spielen, sondern ver- setzen ihre Nutzerinnen und Nutzer auch selbst in die Lage, Spiele zu entwickeln und zu verkaufen. Das Modifizieren bestehender Spiele ist dadurch nicht mehr der einzige Weg, eigene Vorstellungen umzusetzen, lebt aber darin fort, dass sich damit einerseits die individuellen Fähigkeiten im Programmieren demonstrieren lassen sowie ande- rerseits durch die Manipulation von Daten nicht vorgesehene Vorteile in Spielen ver- schafft werden können. Während die im Entstehen begriffene Spieleindustrie solche Modifikationen an Spielen zunächst duldet, wenn sie jeweils nur die eigene Kopie be- treffen, nimmt sie bald einen bis heute andauernden Kampf gegen Hacker auf, die als wirtschaftliche Bedrohung wahrgenommen werden, da sie teilweise auch den Kopier- schutz von Spielen »cracken«, also aushebeln. Um Anerkennung für ihre Fähigkeiten zu erlangen, präsentieren einige dieser »Cracker« ihre Pseudonyme in modifizierten La- debildschirmen oder stellen den Spielen eigene Vorspänne voran, nicht selten mit Mu- sik und Animationen. Hieraus entwickelt sich später die sogenannte »Demoszene«, der es losgelöst von Spielen im Sinne der ersten Hacker darum geht, digitale Kunstwer- ke aus möglichst kleinen Datenpaketen zu erzeugen. Die US-amerikanischen Schüler Andrew Johnson und Preston Nevins gehen 1983 schließlich noch einen entscheiden- den Schritt weiter, indem sie Grafik- und Audiodateien innerhalb eines Spiels ersetzen.

160 —— 161 Wollen Spielende im Originalspiel Castle Wolfenstein (1981) als amerikanischer Soldat aus einem Nazi-Gefängnis entkommen, indem sie sich an Gegnern vorbeischleichen, sehen sie sich in der Parodie Castle Smurfenstein (1983) einer völlig anderen Gefahr ge- 4.4 genüber: Schlümpfen. Der Verdienst von Johnson und Nevins besteht darin, dass sie zum ersten Mal ein spezielles Programm (engl.: Tool) dafür benutzen, Inhalte auszule- sen und zu bearbeiten. Das ist notwendig, da Spielprogramme ab den 1980er Jahren immer komplexer werden und ihre Daten meist schwerer zugänglich oder verschlüs- selt sind. Als id Software den Ego-Shooter Wolfenstein 3D (1992) veröffentlicht, unter- suchen daher Hacker die Dateien des Spiels, bis es ihnen gelingt, Tools zu entwickeln, mit denen auch Spieler und Spielerinnen Inhalte wie Grafiken, Sounds und sogar gan- ze Level nicht nur verändern, sondern auch neu erstellen können. Durch das aufkom- mende Internet, genauer gesagt über erste private, vernetzte Rechnersysteme, wird es möglich, diese »add-ons« genannten, modifizierten Dateien weiterzuverbreiten. Entgegen ihrer Bezeichnung fügen diese Datenpakete nicht nur Inhalte hinzu, sondern überschreiben oft auch die Originaldateien des zugrundeliegenden Spiels. Nur durch eine Neuinstallation kann dieser Eingriff wieder behoben werden. Das nächste Spiel von id Software, Doom (1993), führt daher die Möglichkeit ein, von Spie- lerinnen und Spielern erstellte Inhalte nur noch temporär zu laden. Auf diese Weise etabliert sich eine Vorstellung von Datenpaketen, oft kurz »Mods« genannt, die als technisch separat wahrgenommen werden und um die sich eine eigene Szene inner- halb der Gameskultur entwickelt. Mods lassen dabei idealerweise die Originaldatei- en eines Spiels unangetastet – idealerweise, da es bis heute auch weiterhin Modifi- kationen an Spielen gibt, die wie offizielle Fehlerbehebungen (engl.: Patches) direkte und permanente Manipulationen am Code vornehmen. Mit Doom zeigt id Software dabei bereits prototypisch, wie Spieleentwickler von der Modifizierbarkeit ihrer Pro- dukte profitieren können: Dass zum einen die Erstellung und Nutzung von Mods eine installierte Vollversion des zugrundeliegenden Spiels voraussetzt, erhöht dessen Wert für Spielende und damit die Verkaufszahlen. Zum anderen können Entwicklungsstu- dios Autorinnen und Autoren von Mods als Mitarbeiter rekrutieren, die nicht nur be- reits ihr Können unter Beweis gestellt haben, sondern auch schon mit der Software, die in der Entwicklung von Spielen genutzt wird, vertraut sind. Id Softwares nächstes Spiel Quake (1996) ist dann von Anfang an darauf aus- gelegt, verändert und erweitert zu werden. So können Spielerinnen und Spieler das Aussehen der Figuren und Kulissen durch Modifikationen nach eigenen Vorstellun- gen gestalten. Davon profitiert auch die neue Kunstform Machinima, die aus der kre- ativen Nutzung der Möglichkeit erwächst, einzelne Partien im genannten Spiel auf- zunehmen und später als Filme wiederzugeben. Besonders im Mehrspieler-Modus wird Quake schließlich zu einem gemeinsamen Werk von Entwickelnden und Spie- lenden. Letztere programmieren neben Anti-Cheat-Software, die Betrug im Spiel un- terbinden soll, auch erstmals »Bots«, also vom Computer gesteuerte Spielfiguren, die für fehlende menschliche Spielerinnen und Spieler einspringen können. In Bezug auf die Entwicklung des E-Sports (→) ist Modding dann vor allem als Ausgangspunkt vie- 4.5 E-SPORT ler Spielideen einflussreich – von grundlegendenGameplay -Varianten wie »Flaggen-

GEMEINSCHAFT GAME- eroberung« (engl.: Capture The Flag) bis hin zu ganzen Genres (←) wie der Multiplay- BEGRIFFE 1.3 er Online Battle Arena (MOBA). So inspiriert die Modifikation Defense of the Ancients (DotA) (2003) für das Echtzeitstrategiespiel Warcraft Ⅲ: Reign of Chaos (2002) unter an- derem den Titel League of Legends (2009), einen der erfolgreichsten Titel im E-Sport. Auch das populäre Battle-Royale-Spielprinzip hat seine Wurzel in der Modifikation DayZ (2012) für den Taktik-Ego-Shooter ArmA 2 (2009) und erfreut sich dank eigenstän- diger Games wie PlayerUnknown’s Battlegrounds (2017) und vor allem Fortnite (2017) im- menser Beliebtheit. Prägend für den E-Sport ist ebenfalls Counter-Strike (1999), zunächst als Mod für den Ego-Shooter Half-Life (1998) entwickelt – als sogenannte »Total Conversion«: eine extreme Form von Modifikation, die sich nicht nur von den Inhalten her drastisch vom Originalspiel unterscheidet, auf dem sie aufbaut, sondern auch vom Gameplay: Wäh- rend Spielerinnen und Spieler in Half-Life weitestgehend auf sich gestellt eine außerir- dische Invasion aufhalten müssen, treten sie bei Counter-Strike als Terroristen und An- titerroreinheiten in Teams gegeneinander an. Das Austesten, wie weit Spiele verändert werden können, bringt außerdem erzählerische Experimente wie The Stanley Parable (2011) und Dear Esther (2012) hervor, die beide auf Half-Life 2 (2004) aufbauen. Auch wenn die genannten Projekte viel Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, besteht der Großteil der Mods, die weltweit von Nutzerinnen und Nutzern entwickelt und über das Internet ausgetauscht werden, aus kleinen und kleinsten Veränderungen an Spielen. Hierzu zählen etwa Anpassungen von Grafiken oder des Gameplays, meist um die persönlichen Vorlieben und Vorstellungen von Spielerinnen und Spielern virtu- elle Wirklichkeit werden zu lassen. Dass selbst das Austauschen eines Bits eine große Wirkung haben kann, zeigt 2005 die sogenannte »Hot Coffee«-Modifikation für das Action-Adventure Grand Theft Auto: San Andreas (2004). Die Mod reaktiviert interak- tive Sexszenen, welche die Spielefirma Rockstar Games für die Verkaufsversion zwar deaktiviert, aber nicht aus den Spieldateien gelöscht hatte. In der Folge muss Rockstar Games 2009 über 20 Millionen US-Dollar an Anleger zahlen, die durch den Skandal Kursverluste verzeichnen. Nicht nur aus diesem Grund entscheiden sich Spielefirmen immer wieder dafür, Spielerinnen und Spielern den Zugriff auf Spieldaten zu verweh- ren. Offiziell wird dies beispielsweise im Fall vonBattlefield 3 (2011) damit begründet, dass Modifikationen andere Spielende im Mehrspieler-Modus, etwa durch Cheaten, benachteiligen können. Inoffiziell scheint in einigen Fällen aber ebenso das Interesse eine Rolle zu spielen, Zusatzinhalte, wie etwa neue Level, zu den eigenen Spielen ver- kaufen zu können, die keine Konkurrenz durch kostenlose Mods zu fürchten haben. Weniger offensichtlich gibt es zudem zwei weitere Entwicklungen, welche die Bedeu- tung von Modding zumindest für bestimmte Zielgruppen verringern: Zum einen sorgt das Angebot von fast kostenlosen, professionellen Spiele-Engines wie etwa Unity da- für, dass ambitionierte nicht- oder semi-professionelle Entwicklerinnen und Entwick- ler ihre Projekte nun direkt verwirklichen können, anstatt den Umweg über den Um- bau eines bereits bestehenden Spiels gehen zu müssen. Zum anderen bereiten unter anderem Konsolen, die hinsichtlich der Bearbeitbarkeit von Daten traditionell eher ge- schlossene Systeme sind, den Weg für Titel wie Little Big Planet (2008) und Dreams (2020),

162 —— 163 die neben mitgelieferten Spielpassagen vor allem Editoren bieten, mit deren Elemen- ten und Parametern Nutzerinnen und Nutzer auch niedrigschwellig innerhalb des je- weiligen Programms ganze Spielwelten kreieren können. 4.4 Solange die Möglichkeit besteht, wird mindestens die Gruppe der intensiven Nutzerinnen und Nutzer, die Fans eines Spiels daran interessiert sein, dieses an die eigenen Vorstellungen anzupassen und (subjektiv oder objektiv) zu verbessern. Dies zeigt sich produktiv, wenn etwa ein unfertiges und fehlerhaftes Spiel wie Vampire: The Masquerade – Bloodlines (2004) erst durch die jahrelange Arbeit von Moddern in Form einer inoffiziellen Fehlerbehebung zu einem Rollenspielklassiker avanciert. An- dererseits wird manchen Spielestudios inzwischen regelmäßig der Vorwurf gemacht, sich bei der Entwicklung selbst großer Titel darauf zu verlassen, dass Fans unferti- ge Inhalte überarbeiten und Fehler eliminieren. Der Medienwissenschaftler Julian Kücklich spricht diesbezüglich von der Gefahr der »playbour« im Sinne einer unbe- zahlten und als spielerisches Hobby wahrgenommenen Arbeit, die von der Games- Industrie dadurch ausgebeutet werden kann, dass sie sich das Recht vorbehält, Mo- difikationen kommerzialisieren zu dürfen. Dies ist etwa beiCounter-Strike (2000) der Fall, das von dem Entwicklerstudio Valve aus der 1999 erschienen, oben beschriebe- nen Mod in eine selbstständige Spielreihe überführt wurde. Andererseits gibt es in- zwischen auch Modder, die für ihre »playbour« von anderen Spielerinnen und Spie- lern Geld erhalten, um etwa bestimmte Inhalte für Spiele der Die-Sims-Reihe (seit 2000) zu entwickeln. Befördert werden solche Geschäftsbeziehungen durch Angebote wie den »Workshop« der Download-Plattform Steam, der nicht nur den Austausch von Geld und Ware vereinfacht, sondern auch die Einbindung von Mods in das zugrun- deliegende Spiel. Zuvor setzt dies oft ein technisches Wissen über Ordnerstrukturen und bestimmte Tools voraus. In einem Bogen zurück zum Anfang sehen einige Stimmen in dieser Entwick- lung, Mods als Produkte zu begreifen, einen Verrat am Ideal der ersten Hacker, dass Information frei sein solle, um eine ständige Weiterentwicklung zu ermöglichen. An- dersherum zeigt das Phänomen Modding, egal welches der vielfältigen Motive, Ver- änderungen an Spielen vorzunehmen, auch verfolgt wird, dass Games trotz ihrer heu- tigen Form als mehr oder weniger abgeschlossene Produkte doch Prozesse bleiben, die, falls ein Zugang zu ihren Daten möglich ist, ein ungleich größeres Potenzial für kreative Umnutzung bieten als andere Medien. Ohne Modding wäre die Gameskul- tur somit um viele ihrer interessantesten Facetten beraubt.

Literatur ✕ Köhler, Stefan: Mod’s That-Kolumne. In: WASD – Bookazine für Gameskultur 2013 bis 2017, Ausgabe 3-11 ✕ Kushner, David: Masters of Doom. How Two Guys Created an Empire and Transformed Pop Culture. Random House, New York 2004 ✕ Levy, Steven: Hackers. Heroes of the Computer Revolution. Penguin, London 1994

GEMEINSCHAFT 4.5 E-SPORT MARKUS BREUER & DANIEL GÖRLICH

E-Sport, der elektronische Sport, hat sich in den letzten Jahren von einem Nischen- phänomen zu einem in weiten Teilen der Gesellschaft – teilweise auch kontrovers – diskutierten Thema entwickelt. Neben den E-Sportlern und ihren Fans beschäftigt er zunehmend auch die Politik und den traditionellen Sport. Im Folgenden werden auf Basis einer begriff‌lichen Abgrenzung die Historie und der Status quo beschrieben. Zu- dem werden Unterschiede und Anknüpfungspunkte zum klassischen Sport aufgezeigt.

Zum Begriff des elektronischen Sports E-Sport wurde bereits im Jahr 2006 von Jörg Müller-Lietzkow im Aufsatz »Sport im Jahr 2050: E-Sport! Oder: Ist E-Sport Sport?« als »das wettbewerbsmäßige Spielen von Computer- oder Videospielen im Einzel- oder Mehrspielermodus« definiert. Die- se frühe Begriffsbestimmung findet sich in ähnlicher Form auch beim eSport-Bund Deutschland e.V. (ESBD) wieder, der seit einer Mitgliederversammlung in Hamburg am 26.Oktober 2018 von dem »unmittelbare[n] Wettkampf zwischen menschlichen Spie- lerinnen unter Nutzung von geeigneten Video- und Computerspielen an verschiedenen Geräten und auf digitalen Plattformen unter festgelegten Regeln« spricht. Die Betonung des Wettbewerbs bzw. des Wettkampfs führt dazu, dass Perso- nen, die digitale Spiele nur gelegentlich und ohne Austausch mit anderen Individuen nutzen, unberücksichtigt bleiben. Der Wettbewerbscharakter offenbart sich in der Re- gel durch den Leistungsvergleich mit anderen, menschlichen Spielern. Daneben kann z. B. ein Training im Sinne eines gezielten Spielens, um die eigenen Fähigkeiten zu ver- bessern, als typisch für E-Sport angesehen werden. Wettkampfbezogenheit (Kompe- titivität) als zentrales Charakteristikum deutet darauf hin, dass bestimmte Spiele nicht E-Sport im Sinne der oben genannten Definitionen sein können, offensichtlich insbe- sondere dann, wenn die Spieler nicht im Wettbewerb zueinander oder mit dem Spiel selbst stehen. Letztlich ist der elektronische Sport genauso eindeutig bzw. eben nicht eindeutig zu definieren wie der allgemeinere Terminus des Sports. Für die nachfol- genden Ausführungen sollen jedoch die hier diskutierten Definitionen genutzt werden.

164 —— 165 Entwicklung des elektronischen Sports Das erste Computerspiel wurde 1947 zum Patent angemeldet, die erste Spielkonsole 1966 entwickelt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass kompetitives Spielen elekt- 4.5 ronischer Spiele auch schon frühe Vorläufer kennt. So konnten z. B. in den 1970er Jah- ren Spieler in Spielhallen an Automaten gegeneinander antreten. Der erste historisch nachweisbare Computerspielwettbewerb fand 1972 nur mit Studenten der Stanford University und dem Spiel Spacewar! (1962) statt, der erste große, landesweite Com- puterspielwettbewerb dann 1980, als Atari 10.000 Teilnehmer beim Space Invaders Championship gegeneinander antreten ließ, wobei immer nur ein Teilnehmer an einem Computer spielte, ohne Netzwerk. Die Entwicklung des elektronischen Sports nach heutigem Verständnis be- gann also nicht, ist aber untrennbar mit dem Aufkommen von Multiplayer-Spielen wie Doom (1993) und seiner Technologie verbunden, nämlich Game-Engines für 3D-Spie- le, hier der Engine id Tech 1. Mit Doom stand den Spielern neben dem Singleplayer- auch ein Multiplayer-Modus zur Verfügung, der bereits die spätere Ausgestaltung von Wettbewerben vorwegnahm: Bei Off‌line-Events versammeln sich die aktiven Spieler sowie auch mögliche Zuschauer an einem Ort. Vor der Verfügbarkeit von Breitband- anschlüssen waren vor allem LAN-Partys beliebt – benannt nach einem »Local Area Network«, also einem lokalen Zusammenschluss mehrere Rechner – und stellten eine erste, semi-professionelle Ausprägung des E-Sports dar. Im Falle von Online-Wett- bewerben wird der Wettbewerb dagegen über das Internet ausgetragen, sodass sich die Beteiligten nicht an einem Ort einfinden müssen. Das wachsende Interesse der Spieler an Wettbewerben aller Art führte schließ- lich zur Gründung erster professioneller Unternehmen, die On- und Off‌line-Wettbe- werbe für verschiedene Leistungsklassen organisierten. Spieler Markus Breuer ist Professor können sich bei den Anbietern anmelden und sofort online ge- an der Fakultät für Wirtschaft der gen andere Personen antreten. Ein Ligensystem mit Auf- und SRH Hochschule Heidelberg. Abstiegen stellt in der Regel sicher, dass jeder E-Sportler ge- Daniel Görlich ist Professor für gen etwa gleich starke Konkurrenten antreten kann. Die besten Virtuelle Realität und Video- Spieler einer Disziplin treten im Rahmen von Finalturnieren oft- spielentwicklung an der SRH mals vor Publikum gegeneinander an. Bei diesen Turnieren agie- Hochschule Heidelberg. ren, wie im klassischen Sport, professionelle Kommentatoren, die das Geschehen für die Zuschauer einordnen. Preisgelder beschleunigten ab den frühen 2000er Jahren die Entstehung erster Profi-Spieler. Daneben gründeten sich schnell die ersten festen Zusammenschlüsse von Spielern, die sogenannten »Clans«. Aus deutscher Sicht ist im Bereich der Ligenbetreiber vor allem die Electronic Sports League (ESL) zu nennen. Hinter der ESL steht das Kölner Unternehmen Turtle Entertainment, das früh eine Mischstrategie umsetzte und nicht nur als Betreiber von Online-Wettbewerben agierte, sondern auch Live-Events ausrichtete. Die Vermark- tung erfolgte von Beginn an online über den unternehmenseigenen WebTV-Kanal. Wie auf neuen Märkten üblich, kam es auch im E-Sport zu häufigen Umbrüchen, in deren Folge Anbieter (Ligen- und Turnierbetreiber) aus dem Markt ausschieden bzw. neu gegründet wurden. Das Jahr 2009 kann als erster großer Einschnitt in die globale E-

GEMEINSCHAFT Sport-Struktur angesehen werden: Durch Gesetzesänderungen in Südkorea und die globale Banken- und Finanzkrise verringerten sich die Zahlungsbereitschaft der Spon- 4.5 soren und folglich das global ausgeschüttete Preisgeld von 6,4 Millionen US-Dollar im Jahr 2008 um 45 Prozent auf nur noch 3,5 Millionen US-Dollar 2009. Der Rückzug von Sponsoren traf den organisierten E-Sport dieser Jahre besonders hart, da Spon- soreneinnahmen den mit Abstand größten Teil seiner Gesamteinnahmen darstellten. Mit der Verfügbarkeit von schnellen Internetzugängen in den frühen 2000er Jahren stiegen auch die Mediennutzung und die Qualität der angebotenen Services, wodurch der E-Sport in Deutschland ein breiteres Publikum erreichen konnte – denn in den etablierten Medien, im Fernsehen und selbst in Sportzeitschriften blieb E-Sport in der Nische, obwohl er als wesentlicher Bestandteil der Jugendkultur längst zum Massenphänomen geworden war. Eine tragende Säule des Aufbruchs des E-Sports konnte aufgrund dieser Versäumnisse klassischer Verbreitungskanäle in den 2010er LET’S PLAY & STREAMING 4.2 Jahren die Live-Streaming-Plattform Twitch werden (←). Sie ging im Juni 2011 in einer Beta-Version online und erreichte 2013 bereits 45 Millionen Zuschauer. Im darauf‌fol- genden Jahr wurde sie für 970 Millionen Euro von Amazon übernommen. Anhand der Zuschauerzahlen bzw. der Summe der bei Twitch übertragenen Spielstunden können die im E-Sport populärsten Titel leicht identifiziert werden. Dauerhaft in den Top Ten sind hier u. a. die Echtzeitstrategiespiele League of Legends (2009) und Dota 2 (2013) so- wie der Ego-Shooter Counter-Strike (1999). Als wesentliche Meilensteine sind außerdem die Gründung des ESBD am 26. November 2017 durch 20 Amateur- und Profi-Teams sowie von BIU und ESL zu nen- nen. Der BIU war der Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware e.V., der 2018 mit dem GAME – Bundesverband der deutschen Games-Branche zum heutigen Bran- chenverband game – Verband der deutschen Games-Branche fusionierte. Im Frühjahr 2018 erlangte der elektronische Sport durch seine Berücksichtigung im Koalitions- vertrag zwischen CDU, CSU und SPD schließlich neue, bislang in Deutschland un- erreichte Aufmerksamkeit. Konkret hieß es dort: »Wir erkennen die wachsende Be- deutung der E-Sport-Landschaft in Deutschland an. Da E-Sport wichtige Fähigkeiten schult, die nicht nur in der digitalen Welt von Bedeutung sind, Training und Sportstruk- turen erfordert, werden wir E-Sport künftig vollständig als eigene Sportart mit Vereins- und Verbandsrecht anerkennen und bei der Schaffung einer olympischen Perspektive unterstützen.« Diese Aussage wurde vor allem seitens des organisierten Sports kriti- siert, der durch sie die Autonomie des Sports angegriffen sah. Per Frühjahr 2020 hat der Gesetzgeber allerdings keine konkreten Maßnahmen zur Anerkennung der Ge- meinnützigkeit auf den Weg gebracht, auch wenn es gleichzeitig Erleichterungen bei der Visa-Vergabe an E-Sportlerinnen und E-Sportler gab.

Die wirtschaftliche Bedeutung des E-Sports Nach einer Prognose des Marktforschungsunternehmens Newzoo sollen sich die Um- sätze des weltweiten E-Sport-Marktes von 435 Millionen Euro im Jahr 2016 auf 1,4 Milliarden Euro im Jahr 2021 entwickeln. Dies entspräche einem durchschnittlichen Wachstum von 27 Prozent pro Jahr. Für Deutschland prognostizierte das Beratungs-

166 —— 167 unternehmen Deloitte bereits 2016 für das Jahr 2020 ein Marktvolumen von 130 Mil- lionen Euro. Den verschiedenen Schätzungen, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, ist gemein, dass sie ausnahmslos alle mit einem Fortbestehen der starken 4.5 Wachstumsraten aus den letzten Jahren argumentieren. Eine Verlangsamung des Wachstums oder gar eine Marktsättigung wird aktuell in der einschlägigen Literatur nicht vertreten. Dieser Optimismus ist aus zwei Gründen kritisch zu sehen: Zum einen handelt es sich bei den Autoren der Studien meist um Verbände oder Beratungsun- ternehmen, die ein eigenes Interesse an einem weiteren Wachstum haben. Zum an- deren zeigten die globale Finanzkrise ab dem Jahr 2008 und die COVID-19-Pande- mie 2020 wie abhängig der E-Sport insbesondere von der Zahlungsbereitschaft der Sponsoren und damit von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist. Im Falle einer erneuten globalen Rezession wäre auch im Bereich des elektronischen Sports mit si- gnifikant negativen Effekten zu rechnen.

E-Sport und Sport: Unterschiede und Gemeinsamkeiten Die Frage danach, ob und inwieweit E-Sport als Sport zu bezeichnen ist, stellt sich in der Wissenschaft und der Politik vor allem vor dem Hintergrund, ob und in welcher Form der elektronische Sport zukünftig in den Genuss öffentlicher Förderung kommen kann. Eine erste Untersuchung dazu erfolgte bereits 2006 durch den Medienökono- men Jörg Müller-Lietzkow, der systematisch Parallelen und Unterschiede analysierte. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages befasste sich 2017 mit der Frage (Ak- tenzeichen WD 10-3000-036/17) und stellte Pro- und Contra-Argumente gegenüber, ohne zu einem abschließenden Urteil zu kommen. Die Positionierung des Deutschen Olympischen Sportbunds beantwortet zwar explizit nicht die Frage, ob E-Sport Sport sei, stellt aber fest, dass nicht der E-Sport in Gänze, sondern nur in Form von virtuellen Sportarten – die Simulation von Sportarten durch digitale Spiele – anschlussfähig an den organisierten Sport sei. Die nachfolgende Aufzählung soll sich explizit nicht um eine Beantwortung dieser – zumindest in Teilen – akademischen Frage befassen, son- dern in allgemeiner Form strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzeigen:

Verbände: Der klassische Sport ist pyramidal organisiert, d. h. an der Spitze einer jeden Sportart steht in der Regel ein einzelner Weltverband (im Fußball z. B. die Fédération Internationale de Football Association [FIFA]), der u. a. für die Festlegung der Regeln verantwortlich ist. Die nationalen Spitzenverbände (beispielsweise der Deutsche Fußball-Bund [DFB]) nehmen eine analoge Position in ihren jeweiligen Län- dern ein. Im E-Sport existiert mit dem ESBD zwar ein nationaler Spitzenverband, die- ser nimmt jedoch eine abweichende Rolle ein. So organisiert er in wesentlich geringe- rem Umfang eigene Wettbewerbe, hat eine weniger enge Beziehung zu Vereinen und Aktiven und versteht sich eher als Lobby-Organisation für den elektronischen Sport. Ligen und Turniere: Ligen und andere Wettbewerbe werden im klassischen Sport oft durch die Verbände und/oder die jeweiligen Vereine organisiert, die in den Ligen gegeneinander antreten. Im E-Sport werden Wettbewerbe hingegen durch pri- vatwirtschaftliche Unternehmen wie die oben genannte ESL organisiert.

GEMEINSCHAFT Spielervereinigungen: Während sogenannte Clans im Amateurbereich locke- re, private Zusammenschlüsse von Gamern sind, sind sie im professionellen Bereich 4.5 oft als Kapitalgesellschaften organisiert. Vereinigungen im klassischen Sport sind in Deutschland hingegen meistens als gemeinnützige, eingetragene Vereine organisiert, was ihnen unter anderem steuerliche Vorteile bietet. Die Gründung eines gemeinnüt- zigen E-Sport-Vereins ist bislang nicht möglich, da die gesetzlichen Rahmenbedin- gungen in der Abgabenordnung dafür nicht gegeben sind; dort wird E-Sport bislang nicht explizit genannt. Die wenigen aktuell bestehenden, eingetragenen E-Sport-Ver- eine haben daher als Vereinszweck z. B. die Jugendförderung angegeben. In der Re- gel stellen diese Vereinigungen Trainer an, die die Kompetenzen der Spieler systema- tisch weiterentwickeln und somit den Erfolg in Ligen und bei Turnieren steigern sollen. Erfolg im E-Sport macht ein Team dann auch attraktiver für Sponsoren. Sponsoren: Sie spielen im klassischen Sport wie auch im elektronischen Sport eine bedeutende Rolle – ohne ihre Geld- und Sachleistungen wären Turniere und an- dere Wettbewerbe de facto nicht möglich. Die Umsetzung der Sponsorenverträge ist hier in beiden Bereichen sehr ähnlich. Mögliche Werberechte sind unter anderem die Platzierung des Logos auf Trikots, die Nennung auf der Homepage oder auch die Präsentation im Zuge von Events. In den letzten Jahren hat sich die Bandbreite der Sponsoren im E-Sport vergrößert: Zunehmend finden sich auch nicht-endemische Sponsoren, deren Produkte also keinen direkten Bezug zum E-Sport aufweisen, bei- spielsweise Automobilhersteller. Der E-Sport bietet diesen Unternehmen vor allem die Möglichkeit, eine junge Zielgruppe anzusprechen. Publisher: Publisher sind im traditionellen Sport nicht bekannt. Sie sind recht- liche Eigentümer der jeweiligen Spiele und können – oder zumindest: könnten – so- mit alleinig über Änderungen der Spiele bestimmen. Im klassischen Sport wird diese Funktion am ehesten von Verbänden wahrgenommen. Im Gegensatz zu Verbänden handelt es sich bei Publishern allerdings um gewinnorientierte Unternehmen, die kei- ne institutionelle Verbindung zu den Spielern oder Teams aufweisen.

Die Organisation des E-Sports und des klassischen Sports erscheinen vor allem dann ähnlich, wenn große Turniere mit klassischen Sportgroßveranstaltungen verglichen werden. Die hier skizzierte Analyse ausgewählter Marktakteure zeigt jedoch, dass sich hinter den sichtbaren Strukturen Unterschiede verbergen, die es nicht zuletzt dem organisierten Sport schwer machen, E-Sport-Angebote in das Vereinsleben auf- zunehmen. Da ist zum einen die latente Gefahr, dass Sportvereine durch die Aufnah- me von E-Sport ihre Gemeinnützigkeit verlieren könnten, weil sie Aktivitäten aufneh- men, die momentan noch nicht als gemeinnützig anerkannt sind. Zum anderen haben Vereine keinen mit dem klassischen Sport vergleichbaren Einfluss auf das Spiel selbst, das sich im Eigentum der Publisher befindet, und auf Wettbewerbe, die von gewinn- orientierten Unternehmen ausgerichtet werden. ↳

168 —— 169 4.5

Literatur ✕ Breuer, Markus; Görlich, Daniel: eSport. Status quo und Entwicklungspotenziale. Springer Gabler, Wiesbaden 2020 ✕ Taylor, T. L.: Raising the Stakes: E-Sports and the Professionalization of Computer Gaming. MIT Press, Cambridge/Massachusetts 2015 ✕ Wendeborn, Thomas; Schulke, Hans-Jürgen; Schneider, Andre: eSport: Vom Präfix zum Thema für den orga- nisierten Sport!? In: German Journal of Sports Science and Exercise, 48 (3) 2018, S. 451–455

GEMEINSCHAFT 4.6 EVENTS THORSTEN S. WIEDEMANN

Lasst uns in die bunte Welt der Gaming-Events eintauchen! Ob Gamerin oder Gamer, Spielentwicklerin oder Spielentwickler, Autorin oder Autor, Künstlerin oder Künstler, Lernende oder Lehrende, Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler oder ob kultur-, SERIOUS kunst- und technikinteressierter Mensch – für jeden ist etwas in der Vielfalt der Ver- GAMES 3.1 anstaltungen der Gameskultur dabei. Und das ist auch kein Wunder, denn Games sind TECHNOLOGIE & INNOVATION 6.4 zum Kulturgut unserer digitalen Gesellschaft geworden. Ohne Spiel geht bei uns näm- FILM & lich gar nichts mehr. Es gehört zum Alltag. Das Spiel findet sich in fortschrittlichen SERIE 2.3 Lernmethoden (←), beim kollaborativen Arbeiten (←), in der Werbung, den interak-

THEATER 2.2 tiven Serien und Filmen (←), dem immersiven Theater (←). Sogar etablierte Musik- und Filmfestivals investieren in kuratierte Game- und Virtual Reality-Ausstellungen, um frisch zu bleiben und im interaktiven Zeitalter neue Formen des Erzählens und der Performance zu entdecken. Wenn schon Bundeskanzlerin Angela Merkel zu den Gästen der gamescom gehört und sich von digitalen Gameswelten inspirieren lässt, können wir in naher Zukunft mit der weiteren Ausweitung der Digitalzone rechnen. Umso wichtiger ist es, Events aller Couleur zu haben, die sich als Plattformen COMMUNITYS 4.1 für die nationale und internationale Branche und Community (←) verstehen und über Grenzen und Interessenfelder hinweg einen offenen Diskurs zu führen wissen. Dieser Artikel wird Events beleuchten die federführend die Digitalisierung und das Umden- ken in der Kunst vorantreiben.

Gaming-Events als Orte der Kreativität und Begegnung Als beispielhaft für die Vielfalt und die Funktion von Veranstaltungen rund um die in- ternationale Kultur von Computerspielen kann die Veranstaltungsreihe A MAZE. die- nen, die ich als Gründer und Künstlerischer Leiter verantworte. Neben dem A MAZE./ Berlin – Games und Playful Media Festival werden ebenso Ausstellungen, Pop-Up Events und Festivals in Kroatien, Rumänien, Palästina, Russland, Südafrika, Kosovo, Kuba, Kenia und veranstaltet, um eine inklusive, unabhängige und meinungs- starke Gameskultur mitzugestalten.

170 —— 171 Die Mission von A MAZE./Berlin, seinen Ablegern und Kollegen ist insbesondere, nicht nur bereits Vorhandenes aus der Welt der Spiele zu zeigen, sondern neue Talente und Konzepte zu fördern, erfrischende Perspektiven und besondere Umsetzungen zu ent- 4.6 decken und in das Festivalprogramm und eine Ausstellung einzubeziehen. Im Idealfall nährt die Kuration eines Events die Vielfalt und den Austausch über Games auf intel- lektueller und sensorischer Ebene. Es geht darum, die Besucherinnen und Besucher über den eigenen Tellerrand blicken zu lassen und ein Bewusstsein für die Vielfalt der Gameskultur herzustellen. Neben A MAZE. teilen viele andere Events und Veranstalter diese Mission, denn einen ähnlichen Ansatz bieten ebenso das Festival Now Play This in London, das Kollektiv Babycastles in New York City, der Kulturverein Game Happen in Genua, die Fantastic Arcade in Austin, Texas, das »Sundance Festival der Games- Branche« IndieCade in Los Angeles sowie viele andere mehr. A MAZE./Berlin bedient sich einer Reihe von bekannten Veranstaltungsfor- maten, die in dieser oder ähnlicher Form ebenso bei vielen anderen Gaming-Events zum Einsatz kommen. Dazu gehört eine zentrale Ausstellung, die experimentelle und ungewöhnliche Computerspiele und digitale Kunstwerke präsentiert, die man so nur selten im Laden um die Ecke findet. In Vorträgen teilen Kreative ihr Wissen und ihre Ideen, ermutigen sich gegenseitig zum Verlassen ausgetretener Pfade und analysie- ren Erfolge und Niederlagen. In sogenannten »Game Jams« entwickeln Spieleent- wicklerinnen und Spielentwickler, aber auch Menschen, die vorher kaum etwas mit Computerspielen zu tun hatten, innerhalb kürzester Zeit kleine Game-Prototypen zu einem bestimmten Thema oder Motto. Der A MAZE. Award zeichnet Thorsten S. Wiedemann ist mit einer divers und international besetzten Jury unter anderem das ­Gründer und Künstlerischer »Most Amazing Game« aus – ein Spiel, das mit Erwartungen bricht Leiter von A MAZE. und neue Perspektiven auf das Medium eröffnet. Begleitet wird das Programm von Partys, Performances, Konzerten und DJ-Sets, die die Gameskultur mit den unterschiedlichsten Teilen der Kultur und Gesellschaft in Berührung bringt.

Der Mainstream der Gaming-Events Für dieses überzeugende Konzept hat unser Team von A MAZE. den Sonderpreis der Jury beim Deutschen Computerspielepreis 2019 erhalten, der wichtigste Award der deutschen Games-Industrie. Das seit 2009 jährlich stattfindende Familientreffen der Branche fördert im Einklang mit der Politik die Spieleentwicklung hierzulande rich- tungsweisend. Immer im April und im Wechsel zwischen Berlin und München werden neben dem »Besten Deutschen Spiel« auch das »Besten Debüt« und die »Beste Inno- vation und Technologie« ausgezeichnet sowie der kreative Nachwuchs finanziell un- terstützt. Die Besuchermesse für Computerspiele gamescom hat sich seit ihrer ersten Ausrichtung 2009 über die Jahre sehr positiv entwickelt. Heute ist sie das weltgrößte Gamingevent und bringt mit mehr als 300.000 Besucherinnen und Besuchern, beste- INDEPENDENT hend aus Fachbesucherinnen und Fachbesuchern, Spielenthusiastinnen und Spielen- 6.5 GAMES thusiasten, für eine Woche die globale Spielekultur in Köln zusammen. Ob man nun 4.3 COSPLAY coole und einzigartige Independent Games (kurz »Indie«) (→) entdeckt, die neusten

Blockbuster anspielt, Fandom und Cosplay (→) auslebt, E-Sport-Turniere (→) verfolgt 4.5 E-SPORT

GEMEINSCHAFT oder Businesskarten auf der angelagerten Entwicklerkonferenz devcom und im Busi- nessbereich tauscht, die gamescom ist für jeden etwas, der Games als das Medium 4.6 des 21. Jahrhunderts feiern möchte. Besonders nennenswert ist der Zuwachs durch den Indie Arena Booth 2014 und das indie village 2019 , die die gamescom nachhaltig bereichert haben. Indie Games werden zu den Lieblingen der Messe und bekommen endlich das notwendige Rampenlicht, sich vor dem erwartungsvollen Publikum von neuen Spielerinnen und Spielern, Publishern und der Presse zu präsentieren.

Weitere Festivals, Konferenzen und Initiativen Um die Orientierung in der Vielfalt der Veranstaltungen zu erleichtern, möchte ich ei- nige weitere Festivals und Community Events empfehlen, die sich über die Jahre eine BILDENDE unverwechselbare Identität erschaffen haben. Diese Events zeichnen sich durch ihre KUNST 2.1 besondere Kuration aus, die fern bloßer Produktpräsentationen liegt. Es geht ihnen

ÄSTHETIK 2.7 vielmehr darum, die Kunstform Game (←) aus verschieden Perspektiven zu bespre- chen, die Arbeit der Game-Autorinnen und -Autoren sowie kleiner Studios zu beleuch- ten und einen für die Gesellschaft relevanten Diskurs zu eröffnen. Play – Creative Gaming Festival findet seit 2007 jährlich und zumeist in Ham- burg statt und vereint die Bereiche Medienkunst, Diskurs und Bildung mit der Kultur digitaler Spiele. Im Zentrum der Veranstaltung der Initiative Creative Gaming steht die kreative und pädagogische Anwendung von Games. Play ist, wie der Name schon sagt, ein Festival bei dem alles Spielerische stattfinden kann. Ein Festival für Jung und Alt aus der Games-Branche sowie alle, die mit digitalen Spielen spielen und lernen wollen. Die Konferenz Clash of Realities ist eine vom Cologne Game Lab der TH Köln ausgerichtete künstlerisch-wissenschaftliche Forschungskonferenz, die jährlich Fra- gen zu technischen Entwicklungen und gesellschaftlicher Wahrnehmung von digi- talen Spielen diskutiert. Sie ist ein hochkarätig kuratierter Treffpunkt zum Austausch und zur Vermittlung internationaler Experten und Expertinnen aus Wissenschaft, For- schung und Spieleindustrie. Next Level – Festival for Games beschäftigt sich jährlich an wechselnden Lo- cations des Ruhrgebiets mit der Kunst und Kultur digitaler Spiele. Das Programm des NRW Kultursekretariats besteht aus Vorträgen, Panels, Performances, Workshops und Ausstellungen zu Kunst, Ästhetik, kultureller Bildung und Kreativwirtschaft der Games. Die gamesweekberlin, aus den erstmals 2007 stattfindenden Deutschen Ga- mestagen hervorgegangen, ist in ihrer Form weltweit einzigartig und versteht sich als Dach für eine Reihe eigenständig kuratierter Veranstaltungen. Dazu gehört etwa die Entwicklerkonferenz Quo Vadis und das Gamefest für Familien. Die Konferenz Wo- menize!, verbindet Frauen und Männer der Branche, beleuchtet berufliche‌ Erfolgsge- schichten und zeigt besonders Frauen viele Möglichkeiten auf, um in der Digitalwirt- schaft Fuß zu fassen. Das Matchmaking Dinner dient dem Vernetzen unterschiedlicher Branchen und Akteure, der Deutsche Computerspielepreis zeichnet herausragende Games aus Deutschland aus und die Art Experience A MAZE./Berlin bietet außerdem die A MAZE. Awards und den A MAZE. Bazaar, in dessen Rahmen Wissen und Ideen von Kreativen ausgetauscht werden können.

172 —— 173 Talk & Play ist ein alle zwei Monate veranstaltetes Community Event im Game Science Center in Berlin. Ein top Anlaufpunkt für Neuberliner, Durchreisende und für alle an- deren Indie Game Developerinnen und Game Developer, um mit der lokalen Szene in 4.6 Kontakt zu bleiben und auf dem Laufenden zu sein, wer was mit wem und welche Pro- jekte in der Entwicklung hat. Gespickt ist das informelle Event mit Talks, Unterhaltun- gen und einer nachfolgenden »Play Session« mit wechselnden Spieldemonstrationen. Beim Global Game Jam erstellen Kreative weltweit in verschiedenen Städten, Ländern und Locations (im Jahr 2020 allein 47 davon in Deutschland) zu einem fest- gelegten Thema innerhalb von 48 Stunden kurze Spiele. Wie bei jedem Game Jam ist das eine ideale Möglichkeit für Game Designerinnen und Designer, sowie Program- miererinnen und Programmierer, ihr Netzwerk zu erweitern, experimentelle Konzepte auszuprobieren und sich neue Fähigkeiten anzueignen. Oft sind aus im Global Game Jam entstandenen Prototypen nach weiteren Jahren der Entwicklung erfolgreiche Spiele auf allen Plattformen geworden. Es ist von großer Bedeutung für die internationale Games-Branche, dass sich der zwischenmenschliche Umgang auf den Events, nach wiederholter Kritik, sehr zum 5.6 DIVERSITÄT Positiven entwickelt hat und Veranstalterinnen und Veranstalter diese Entwicklungen durch inklusive und geschlechtergerechte (→), nicht nur westlich dominierte Pers- 5.7 INKLUSION pektiven aktiv fördern. Jedes der genannten Events hat seine klaren Ideale und Ziele, aber besonders wichtig ist die gelebte »Safe Space Policy«, ein Verhaltenskodex der zum Schutz von Minderheiten und vor Übergriffen jeglicher Art dient und die voran- gestellte Priorität in der Programmkuration darstellt. Ohne gesunde Nährböden, die Gaming-Events verkörpern, kann keine vielfältige und intelligente Gameskultur her- anwachsen. Mir persönlich, da spreche ich auch im Sinne von A MAZE., geht es mehr um die wilde Sommerwiese, als einen streng kultivierten Garten.

Literatur ✕ Juul, Jasper: Handmade Pixels – Independent Video Games and the Quest for Authenticity. MIT Press, Cambridge/Massachusetts 2019 ✕ Der Event-Kalender von BerlinGameScene versammelt Veranstaltungsankündigungen für den Raum Berlin: berlingamescene.com/events ✕ Der Gameskulturkalender von Leikki versammelt bundesweit Gaming-Events: leikki.net

GEMEINSCHAFT 5174 —— 175 DEBATTEN

5.1 KULTURPOLITIK 177

5.2 FÖRDERUNG 182

5.3 GEFÄHRLICHE MEDIEN 186 ­

5.4 KILLERSPIELE 193

5.5 JUGENDSCHUTZ 199

5.6 DIVERSITÄT 203

5.7 INKLUSION 209

5.8 GAMIFICATION 214

HANDBUCH GAMESKULTUR 5.1 KULTUR- POLITIK OLAF ZIMMERMANN

Der 22. August 2017 ist für die Computerspielebranche ein bedeutendes Datum. Erst- mals eröffnete Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel die Messegamescom in Köln. Die Bundeskanzlerin unterstrich neben der Bedeutung von Computerspielen als Innova- tionsmotor und Wirtschaftsfaktor auch ihren Status als Kulturgut. Zehn Jahre vor diesem Datum überboten sich Politikerinnen und Politiker in Bund und Ländern noch mit ihren Vorschlägen, Gesetze zum Schutz von Jugendli- chen und auch von Erwachsenen vor Computerspielen zu erlassen. Es war die Zeit, in der jeder Ausbruch von Gewalt seinen Ausgang vermeintlich in elektronischen Spie- KILLER- SPIELE 5.4 len nahm (←). In einer Pressemitteilung am 14. Februar 2007 schrieb ich: »Bei der De- batte um Gewalt in Computerspielen darf aber nicht über das Ziel hinausgeschossen werden. Erwachsene müssen das Recht haben, sich im Rahmen der gesetzlichen Be- stimmungen auch Geschmacklosigkeiten oder Schund anzusehen bzw. entsprechende Spiele zu spielen. Die Meinungsfreiheit und die Kunstfreiheit gehören zu den im Grund- gesetz verankerten Grundrechten. Die Kunstfreiheit ist nicht an die Qualität des Wer- kes gebunden. Kunstfreiheit gilt auch für Computerspiele.« Ein Sturm der Entrüstung brach über den Deutschen Kulturrat und mich her- ein. Der damalige Kulturminister von NRW, Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, forder- te meinen Rücktritt als Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Denn, das war die Angst der Kritiker, wenn die grundgesetzlich verbriefte Kunstfreiheit auch für Com- puterspiele gelten sollte, dann wären Computerspiele Kunstwerke, wie beispielswei- BILDENDE KUNST 2.1 se Filme und Popmusik. Und damit gehöre die gesamte Branche logischerweise zum Kulturbereich und liegt im Verantwortungsbereich der Kulturpolitik. Doch neben der MUSIK 2.5 lebhaften Empörung gab es auch Unterstützung für die vorgeschlagene Erweiterung

ÄSTHETIK 2.7 des Kunstbegriffes (←). Endlich werde die kulturelle Bedeutung von Computerspie- len deutlich hervorgehoben, war zu hören. Es wurde Zeit, dass klargemacht wird, dass GEWALT 2.6 nicht nur in Computerspielen Gewalt ein wichtiger Beweggrund ist, sondern eben- GEFÄHRLICHE MEDIEN 5.3 so in Romanen, Filmen und auch der Bildenden Kunst (←). Heute, mehr als 13 Jahre nach dem Beginn der Debatte über die Computerspiele als Kulturgut, zweifelt kaum

176 —— 177 jemand mehr an, dass Computerspiele selbstverständlich Kulturgut sind. Und manche Perlen unter den Computerspielen sind sogar Kunstwerke. Der Kampf für Computer- spiele als Kulturgut war erfolgreich. Und das heißt auch, Games sind damit logischer- 5.1 weise Teil der Kulturpolitik.

Games, das ungeliebte kulturpolitische Kind Der Aufstieg von Games in den Verantwortungsbereich der Kulturpolitik erfolgte je- doch weitgehend im Windschatten der etablierten Kulturpolitik. Games eroberten zu- erst die Herzen der Spielerinnen und Spieler und damit die Märkte. Angefangen mit Pong (1972), was nur einen kleinen Kreis an Enthusiasten erreichte, über den Familien- klassiker Super Mario Bros. (1985) bis hin zur Moorhuhnjagd (1999) (erschienen als »Die Original Moorhuhnjagd«), einem vermeintlich beliebten Bürospiel: Zuallererst waren die Nutzerinnen und Nutzer begeistert. Egal, ob PC-Spiel, Konsole oder Game Boy: Games waren im Markt präsent, sie wurden gekauft und vor allem gespielt. Die Kulturpolitik hatte über lange Zeit kein wirkliches Interesse an Games. Ih- nen haftete ein Schund- und Gewaltimage an. Games passten und passen, trotz aller Anerkennungserfolge, nicht in das klassische kulturpolitische Denken, dass sich an künstlerischen Genres und Kulturorten orientiert. Kernthemen der Kulturpolitik sind Musik, Darstellende Kunst, Literatur und Bildende Kunst.

Musik als paradigmatisches Beispiel für Kulturpolitik Am Beispiel der Musik, der am besten ausgebauten und durchgehend von der kom- munalen über die Landes- bis zur Bundesebene mit öffentlichen Mitteln unterstütz- ten und geförderten Kultursparte, lässt sich die Klaviatur kulturpolitischen Handelns und seine Verbindung mit der Bildungs- und Jugendpolitik sehr gut aufzeigen. Musik erfährt allseits eine sehr hohe Wertschätzung. Angefangen von musika- lischer Früherziehung, sei es in Kindertageseinrichtungen, in Vereinen oder in Musik- schulen, sollen möglichst schon vor Schulbeginn Kinder an Musik herangeführt und ihr Talent entdeckt werden. Bei Instrumenten wie z. B. Geige wird bereits im Kindergarten- alter nach potenziellen Talenten Ausschau gehalten. Die Arbeit setzt sich in der Schule und den außerschulischen Bildungsangeboten fort. Der Musikunterricht gehört zum Pflichtkanon in den allgemeinbildenden Schulen von der ersten bis zur zehnten Klasse. Die Beschäftigung mit Musik beschränkt sich aber nicht nur auf die sogenannte Ernste Musik. Angebote an Kinder und Jugendliche, sich in Chören mit populärer Musik zu befassen oder in Bands mitzuspielen, werden von Musikschulen, Jugendkunstschulen, Kirchengemeinden und vielen anderen offeriert. Musik ist präsent. Mit Olaf Zimmermann ist Blick auf den musikalischen Nachwuchs wird auf die frühe Sichtung und Geschäftsführer des Förderung von Talenten gesetzt. Besonders begabte Jugendliche können Deutschen Kulturrates. an einigen Musikhochschulen ein Frühstudium aufnehmen, sodass sie neben der allgemeinbildenden Schule auf Hochschulniveau ihr Talent ausbilden kön- nen. Wettbewerbe zur Förderung besonders Begabter sowie ein ausgebautes Netz an Musikhochschulen mit einem breiten Angebot an Studiengängen soll den Aufbau des Nachwuchses sichern. Die Exzellenz der deutschen Musikhochschulausbildung zeigt

DEBATTEN sich auch darin, dass gerade in den Studiengängen für Instrumental- bzw. Orchester- musik überproportional viele ausländische Studierende anzutreffen sind. Konzerthäu- 5.1 ser, Musiktheater, Clubs, Kirchen, Festivals usw. sind die Auftrittsorte für professio- nelle Musikerinnen und Musiker. Musik wird eingespielt, nach wie vor als Tonträger veröffentlicht oder in zunehmendem Maße online angeboten. Musik ist Gegenstand von Fördermaßnahmen, angefangen von den Kleinen in der musikalischen Bildung bis hin zur öffentlichen Finanzierung von Chören und Orchester, sei es im professionellen oder im Amateurbereich, sowie von Musikorten. Musik zeichnet sich durch wechselseitige Beziehungen und Verflechtungen zwischen öffentlichem, Non-Profit- und kulturwirtschaftlichem Sektor aus. Darum werden ne- ben den öffentlichen Kultureinrichtungen im Musikbereich auch Clubs, der Musikex- port, Auftritte und anderes mehr in der populären Musik einschließlich des Jazz ge- fördert. Die GEMA als älteste deutsche Verwertungsgesellschaft sichert, dass Musik rechtssicher genutzt werden kann und die Musikurheber entsprechend vergütet wer- den können. Die Kulturpolitik in all ihren Facetten von der Förderpolitik, über die So- zialpolitik, die Urheberrechtspolitik, die Steuerpolitik bis hin zur Auswärtigen Kultur- politik hat die Musik im Blick. Was für die Musik beispielhaft aufgezeigt wurde, gilt in ähnlicher, wenn auch abgeschwächter Form auch für die Darstellende Kunst, die Literatur und die Bildende Kunst. In der einen Sparte ist die öffentliche Förderpolitik bedeutsamer, in der ande- ren die Kulturwirtschaftspolitik; gemein ist ihnen, dass sie Gegenstand von Kulturpo- litik sind. Der Film nimmt in der Regel eine Sonderrolle ein und wird der Medienpolitik zugeordnet. Doch auch hier besteht eine ausdifferenzierte Förder- und Vermittlungs- landschaft. Kaum ein deutscher Film, der in die Kinos kommt, wurde nicht auf min- destens einer Stufe der Wertschöpfungskette durch Fördermittel eines Landes oder Bundes unterstützt. Zusätzlich übernimmt der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine wesentliche Förderfunktion. Architektur interessiert zumeist nur, wenn es um Kultur- orte geht. Design ist ein Spezialthema, das Aufwind durch besondere Jubiläen wie zuletzt das Bauhaus-Jubiläum im Jahr 2019 erlangt hat. Die Soziokultur mit ihrer Ver- bindung von Kultur, kultureller Bildung und Gemeinwesenarbeit hatte lange Jahre das Image eines Außenseiters, entstanden die Orte doch aus den neuen sozialen Bewe- gungen heraus und handelte es sich doch vielfach um besetzte Häuser, die erst pro- visorisch, dann immer professioneller einer neuen Nutzung zugeführt wurde.

Games im Schatten der anderen Kulturpolitikfelder Und Games? Wie passen sie in das erprobte, eingeübte kulturpolitische Handeln? In die Zuständigkeiten, in die Förderpolitik? Sie stehen quer dazu und allzu lange hat mei- nes Erachtens die Kulturpolitik gezögert, Games ebenso wie Musik, Literatur, darstel- lende Kunst und Bildende Kunst oder zumindest wie Film zum Gegenstand des kultur- politischen Handelns zu machen. Die erste politische Debatte, die zu Games geführt wurde, war eben die Verbotsdebatte. Auch wenn Musik nach Pornografie nach wie vor eine herausragende Bedeutung bei der Indizierung von Kulturgütern einnimmt, wur- de nur sehr selten über die Gefährdung durch Musik gesprochen, dafür umso mehr

178 —— 179 über die Verrohung durch Computerspiele. Als ich 2007 zusammen mit Theo Geißler die erste Auf‌lage des Buches »Streitfall Computerspiele. Computerspiele zwischen kultureller Bildung, Kunstfreiheit und Jugendschutz« herausgab, war die Empörung in 5.1 der klassischen Kulturpolitik unüberhörbar. Viele der Angriffe hatten ihren Ursprung in einem Missverständnis. Selbstverständlich müssen Kinder und Jugendliche vor ju- gendgefährdenden Medien geschützt werden, das gilt für alle Kulturgüter und nicht nur für Games. Das BKM (Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien) als das Haus in der Bundesregierung, in dem die Kulturpolitik des Bundes geplant und geför- dert wird und das die Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur gestaltet, ist bis auf einige wenige kleine Maßnahmen der Computerspielförderung außen vor. Die Ent- wicklung der Bundeskulturpolitik von 1998 bis 2018 habe ich ausführlich im Buch »Wachgeküsst« nachgezeichnet. Zwar wird mit dem Quartett der Spielekultur aus Mitteln der BKM eine Dis- kussionsveranstaltung gefördert, zwar gehören Games zum Portfolio der Kulturwirt- schaftspolitik des BKM, doch eine seiner wirtschaftlichen Bedeutung angemessene Wertschätzung erhält der Bereich im Amt der Kulturstaatsministerin nicht. Das ist zu- tiefst bedauerlich, weil damit Games zumindest auf der Bundesebene in der Kultur- politik ein Schattendasein führen. In Bundesländern, wie z. B. in Hamburg, wurden die Weichen anders gestellt. Die dortige Kulturbehörde ist wie das BKM sowohl für Kultur als auch für Medien zuständig. Aber anders als im Bund ist die Kulturbehörde in Ham- burg auf für die Computerspielförderung zuständig. Es wird in Hamburg die Chance gesehen, beide Bereiche miteinander zu verbinden und den Kultur- sowie Kulturwirt- schaftsstandort zu stärken und im Wettbewerb auch mit den anderen Bundesländern den Computerspielebereich hervorzuheben.

Was muss noch geschehen? Games sollten als kulturpolitisches Handlungsfeld ernst genommen werden. Ähnlich dem Film ist die Entwicklung von Games ein arbeitsteiliger Prozess, an dem viele un- terschiedliche Gewerke beteiligt sind und Inhalte, Sounds, Bilder usw. beisteuern. Und ähnlich dem Film gibt es Games, die das breite Publikum ansprechen und einem Mas- sengeschmack entsprechen und solche, die ein kleines, spezielles Publikum im Blick STRUKTUR, haben, die sich an ausgefeilten Stories und ungewöhnlichen Bildern erfreuen. Nach TRENDS & 6.1 FORSCHUNG wie vor ist Deutschland vor allem ein Absatzmarkt von in anderen Ländern entwickel- ten Games (→). Das sollte sich ändern. Mittels einer gezielten Förderung sollte der 6.2 MARKTDATEN deutsche Entwicklerstandort gestärkt werden, um mehr marktfähige Titel in Deutsch- land zu entwickeln und erfolgreich zu exportieren (→). Der Deutsche Computerspiel- 5.2 FÖRDERUNG preis muss als Kulturpreis profiliert und sowohl Spieler als auch Preisträger ernst ge- nommen werden. In den Kulturwirtschaftsberichten ist die Games-Industrie zumeist Klassenbester, weil sie nach wie vor mit Umsatzzuwächsen aufwartet. Das Problem ist, dass sie zusammen mit der Software-Industrie einen Teilmarkt der Kultur- und Kre- ativwirtschaft bildet und statistisch nicht sauber zwischen Games und Software ge- trennt wird. Mehr Trennschärfe würde vielleicht die Bedeutung der Games-Branche

DEBATTEN gegenüber anderen Teilmärkten allein der Größe nach mindern, aber zugleich mehr kulturpolitische Klarheit schaffen und damit letztlich zu einer Stärkung des Bereiches GAME STUDIES 1.2 als Kulturthema führen (→). Der Hochschulausbildung in Games sollte ebenfalls deut- lich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zwar wurden an diversen Universitä- ten und Fachhochschulen entsprechende Studiengänge etabliert, dennoch ist noch Luft nach oben – gerade auch mit Blick auf die künstlerische Auseinandersetzung mit AUSBILDUNG & ARBEITSMARKT 6.3 Games (→). Dies könnte das Medium stärken und seine kulturelle Bedeutung schärfen. Games gehören inzwischen seit mehreren Jahrzehnten ebenso zum Medien- alltag wie Musik, Filme, Serien, Bücher und anderes mehr. Der entscheidende Schritt wäre, diese Veränderung anzuerkennen, keine Sonderrolle mehr einzunehmen bzw. den Games zuzuschreiben, sondern sie als normales kulturpolitisches Handlungsfeld zu verstehen und damit den anderen künstlerischen Sparten gleichzustellen.

Literatur ✕ Zimmermann, Olaf; Geißler, Theo (Hrsg.): Streitfall Computer-­ spiele: Computerspiele zwischen kultureller Bildung,­ Kunst- freiheit und Jugendschutz. 2. erweiterte Auflage. Berlin 2008: kulturrat.de/wp-content/uploads/2016/05/PK-1-Streitfall- Computerspiele.pdf ✕ Zocken, daddeln, gamen. Schwerpunkt Computerspiele. In: Politik & Kultur – Zeitung des Deutschen Kulturrates. 5/2017: kulturrat.de/wp-content/uploads/2017/08/puk05-17.pdf ✕ Zimmermann, Olaf (Hrsg.): Wachgeküsst. 20 Jahre neue Kulturpolitik des Bundes 1998—2018. Berlin 2018: kulturrat.de/wp-content/uploads/2019/03/Wachgekuesst.pdf

180 —— 181 FÖRDERUNG 5.2 FELIX FALK

Als Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel 2017 die gamescom eröffnete, fand das welt- weite Beachtung: Während die meisten eher überrascht waren, konnten einige we- nige sogar kaum glauben, dass die Regierungschefin nach Köln gekommen war, um das größte Event für Computerspiele zu eröffnen. Denn insbesondere Games wur- den gerade von manchen Teilen der deutschen Öffentlichkeit immer noch als wenig ernstzunehmend betrachtet – eher als Kinder- und Jugend- und nicht als Kulturme- dium. Andere waren dagegen erstaunt, dass es doch knapp neun Jahre gedauert hat- te, von der Anerkennung von Games als Kulturgut – symbolisiert durch die Aufnah- me des GAME-Bundesverbands in den Deutschen Kulturrat – bis zur Eröffnung der gamescom durch die Bundeskanzlerin. Diese zwei unterschiedlichen Blickwinkel auf Games und damit auf die Games-Branche in Deutschland fassen das Spannungsfeld der vergangenen 20 Jahre gut zusammen. Denn entlang dieser Blickwinkel wurden Games von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft betrachtet und damit auch die Fra- ge nach einer Förderung der Games-Entwicklung in Deutschland. So ließ nicht nur der Besuch Merkels auf der gamescom viele aufhorchen, die ihr Bild von Computer- KILLER- spielen seit den Tagen der Killerspieldebatte (→) nicht mehr hinterfragt hatten. Auch 5.4 SPIELE ihre klare Aussage zu Computerspielen in ihrer Eröffnungsrede am 22. August 2017 verschob die Wahrnehmung des Mediums: »Computer- und Videospiele sind als Kul- turgut, als Innovationsmotor und als Wirtschaftsfaktor von allergrößter Bedeutung.« Während zuvor vor allem Digital- und andere Fachpolitiker die Notwendigkeit einer Games-Förderung unterstützten, half eben auch dieses Zitat beim Prozess des Um- denkens und führte zu einer breiteren Unterstützung bei der Frage, ob Deutschland die Entwicklung von Computerspielen finanziell unterstützen sollte.

Warum Games? Games sind ein ganz und gar einzigartiges Medium. Sie sind das erste originäre Di- gitalmedium und verbinden dabei gleichzeitig bestehende Medien, indem sie diese aufnehmen und miteinander verknüpfen: Text, Musik und Film werden in Games ver-

DEBATTEN GAME eint und um weitere wesentliche Elemente erweitert (←). Das Spielerische, das Sozi- STUDIES 1.2 ale und das Interaktive definieren Computerspiele als Medium und tragen zu seiner einzigartigen Qualität bei. So folgt der Rezipient nicht mehr einer vorgefertigten Ge- schichte, sondern erspielt seine eigene. Spielwelt und Charaktere reagieren auf sei- ne Entscheidungen und Handlungen und bestenfalls trifft er diese sogar mit anderen menschlichen Mitspielern zusammen. Dadurch gleicht keine erspielte Geschichte der anderen; jede und jeder erlebt sein individuelles Abenteuer. SERIOUS Doch Games sind nicht nur ein ganz besonderes Kulturmedium. Auch als Lern- GAMES 3.1 medium setzen sie aufgrund ihrer besonderen Qualitäten neue Standards. Ob als Seri-

GAMIFICATION 5.8 ous Game oder in Form von Gamification( ←): Kaum eine Anwendung oder App rund um das Thema Bildung und Gesundheit kommt heute noch ohne Ansätze aus dem Game Design aus. Auch als Innovationstreiber spielen Games eine besondere Rolle TECHNOLOGIE & INNOVATION 6.4 (←): 3D- und Netzwerktechnologien, Simulationen oder Virtual und Augmented Re- ality sind nur ein paar Schlagworte für die Innovationsbereiche, in denen Games im- mer wieder neue Standards setzen und viele weitere Wirtschaftszweige beeinflussen. Maßgeblich wahrgenommen werden Computerspiele jedoch als Unterhal- tungsmedium, denn in dieser Rolle sind sie besonders erfolgreich. Schon vor vielen Jahren wurde mit ihnen mehr Umsatz generiert als von der Musik- und Kino-Branche zusammengenommen. Weltweit werden heute längst deutlich mehr als 100 Milliar- den US-Dollar jährlich mit Games umgesetzt. Und die Prognosen für die kommenden Jahre lassen sogar noch weiteres Wachstum erwarten. Ob als einzigartiges Kulturmedium, als Innovationstreiber oder besonders er- folgreiches Wirtschaftsgut: Games haben bereits seit vielen Jahren eine Schlüsselrolle GEWALT 2.6 eingenommen. Ihre Bedeutung wurde in Deutschland jedoch viele Jahre von Debatten GEFÄHRLICHE MEDIEN 5.3 um mögliche Gefahren überschattet (←). Andere Länder haben dagegen schon früh das Potenzial von Games erkannt und gehandelt. Ob Großbritannien, Frankreich oder Kanada: Es sind nur ein paar Beispiele für Länder, die bereits vor Jahren eigene Games- Förderungen aufgebaut haben und heute von den großen Erfolgen von Games als Kul- turgut, Innovationstreiber und Wirtschaftsfaktor besonders profitieren.

Deutschland als Entwicklungsstandort Die gezielte Förderung der Games-Entwicklung in anderen Ländern trug maßgeb- lich dazu bei, dass Deutschland als Produktionsstandort von Computerspielen Jahr für Jahr zurückfiel. So ist die Entwicklung im internationalen Vergleich um bis zu 30 Prozent teurer. Bei Entwicklungskosten, die mittlerweile auch Summen von 100 Mil- lionen Euro überschreiten, ist das ein nicht aufholbarer Wettbewerbsnachteil. Und so ging – obwohl der deutsche Games-Markt seit Jahren wächst – der Anteil deutscher Spieleproduktionen auf dem heimischen Markt immer weiter zurück – auf unter fünf Prozent im Jahr 2018. Ein fatales Signal für eine Kultur-, Wirtschafts- und Technologie- Nation wie Deutschland. Einige Bundesländer erkannten den Bedarf an einer Games-Förderung be- reits vor Jahren. Und so entstanden regionale Förderprogramme, etwa von der Mittel- deutschen Medienförderung, dem Medienboard Berlin-Brandenburg, der Film- und

182 —— 183 Medienstiftung NRW, dem FilmFernsehFonds Bayern, nordmedia oder der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg, die entweder auch Games berücksichti- gen oder gar extra für sie aufgelegt wurden. Das Beispiel Hamburg zeigt dabei, wie 5.2 erfolgreich die ersten Schritte auf diesem Gebiet waren: Bis 2010 wurde hier die Ent- wicklung von Games-Prototypen gefördert – mit erstaunlichem Erfolg: Die Entste- hung einiger der größten deutschen Spieleentwickler wie Innogames, Goodgames oder Bigpoint fallen nämlich genau in diese Zeit. Doch trotz der Erfolge wurde die För- derung 2010 eingestellt und erst 2020 wieder eingeführt. Andere Bundesländer star- teten in den vergangenen Jahren Förderprogramme für die Games-Entwicklung. Und so gibt es heute in den meisten Ländern von der Nordsee bis an die Alpen eine regi- onale Games-Förderung, die allerdings von Fall zu Fall sehr unterschiedlich gestaltet ist. Gerade seit 2018 bzw. 2019 haben zahlreiche Standorte die Förderprogramme spezifischer ausgearbeitet, sie bei der EU-Kommission notifizieren lassen, entwick- lerfreundlicher gestaltet und aufgestockt. Bemerkenswert ist allerdings, dass einige Standorte nach wie vor Inhalte für Erwachsene, die von der Unterhaltungssoftware JUGEND- Selbstkontrolle (USK) erst ab 18 Jahren freigegeben sind, ausschließen (→). Eine sol- 5.5 SCHUTZ che Limitierung auf Spiele bis zu einer USK-16-Freigabe bedeutet im Vergleich mit anderen Kulturförderprogrammen eine klare Benachteiligung und scheint ein letzter Widerhall der überwunden geglaubten früheren Debatten zu sein. Games sind eben kein Jugend-, sondern ein Kulturmedium, das natürlich auch Geschichten für ein er- wachsenes Publikum erzählen sollte. Trotz der in den vergangenen Jahren regional gestiegenen Fördersummen und ausgebauten Förderprogramme konnte der große internationale Wettbewerbs- nachteil gegenüber anderen Standorten wie Kanada, Großbritannien oder Frankreich nicht abgebaut werden. Einer der wesentlichen Gründe: Die Fördersummen regiona- ler Programme erreichen im Idealfall wenige 100.000 Euro – angesichts der hohen Produktionskosten aktueller Spiele und der Fördersummen in anderen Staaten ist das kaum ausreichend. Daher stand schon seit langer Zeit politisch unbeachtet die Ein- führung einer Games-Förderung auf Bundesebene im Raum.

Entscheidende Weichenstellungen Neben dem kontinuierlichen Werben um eine Games-Förderung auf Bundesebene seitens der Games-Branche haben gleich verschiedene Ereignisse maßgeblich zu ih- rer Einführung beigetragen. So haben zwar die beiden damals existierenden Games- Verbände erst einzeln, später sogar zusammen für die Einführung einer Games-Förde- rung gekämpft. Dennoch war der Zusammenschluss beider Organisationen zum game – Verband der deutschen Games-Branche Anfang 2018 ein weiterer Felix Falk ist Geschäftsführer wichtiger Schritt. Denn kam es zuvor immer wieder zu unterschied- des game – Verband der lichen Forderungen beider Verbände, konnte die Games-Branche deutschen Games-Branche. erst nach dem Zusammenschluss mit einer Stimme sprechen. In diese Zeit fielen auch andere Ereignisse, die die Debatte um die Games-Förderung positiv beeinflussten: Die gamescom führte der deutschen Öffentlichkeit Jahr um Jahr vor Augen, wie innovativ und wirtschaftsstark sich die Games-Branche entwickelte.

DEBATTEN Und die bereits beschriebene Eröffnung der gamescom durch Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und ihre klaren wie positiven Worte zu Games verbreiterten die poli- 5.2 tische Unterstützerbasis für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen in Deutsch- land weiter.

Große Koalition beschließt Games-Förderung Im Februar 2018 gab es dann die gute Nachricht: Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD wurde erstmals die Etablierung einer Games-Förderung festgehalten. We- nig später im Jahr fanden sich erstmal 50 Millionen Euro im Bundeshaushalt für das Jahr 2019 wieder. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wur- de mit dem Aufbau eines entsprechenden Förderprogramms beauftragt. Und auch wenn das Fehlen weiterer Mittel im Jahr darauf für großes Unverständnis und Verwir- rungen gesorgt hat: Das anschließende Werben und vor allem die große Unterstüt- zung für die Fortsetzung der Games-Förderung haben gezeigt, dass in den vergange- nen Jahren ein Sinneswandel stattgefunden hat. Dass eine deutliche Unterstützung dieses Zukunftsmediums notwendig ist, wird nicht mehr bestritten. Games sind das spannendste Medium unserer Zeit und ihr Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft. Weltweit begeistern sich immer mehr Menschen für Com- puterspiele – ob unterwegs auf dem Smartphone, zu Hause vor dem Rechner, in der virtuellen Realität oder als Lehrmittel. Als Kulturnation kann Deutschland die Erzähl- form der Gegenwart und Zukunft nicht einfach anderen überlassen und sich mit der Rolle als Absatzmarkt zufriedengeben. Denn Games sind heute für ganze Generatio- nen prägend und hier sollten sich auch deutsche und europäische Erzählungen, Wer- te und Vorstellungen wiederfinden. Die langfristige Absicherung der Games-Förde- rung ist daher vor allem auch eine Anerkennung der großen Relevanz von Games als Wirtschaftsfaktor und Innovationstreiber, aber vor allem eben auch als Kulturgut, bei dem Deutschland weltweit vorne mitspielen soll.

184 —— 185 GEFÄHRLICHE 5.3 MEDIEN­ MARTIN ANDREE

In einer Fernseh-Doku sieht man eine Gruppe Jungen. Abgeschottet von der Welt der Erwachsenen tauchen sie gemeinsam ab in eine gefährliche Medienwelt: »Diese Kinder konsumieren eine Welt der Gewalt, der Perversionen, der abscheulichen Mor- de.« In der nächsten Szene streifen die Jungen durch die Nachbarschaft. Sie treffen auf einen anderen Jungen. Sie binden ihn an einen Baum, knebeln ihn, traktieren ihn, mit Ästen, mit brennenden Streichhölzern, mit einem Messer. »Das Spiel der Gewalt nimmt hier seinen Anfang. Diese Taten haben die Kinder sich nicht selbst ausgedacht. Medien waren ihre Bedienungs-Anleitung. Und sie haben ihre Lektion gut gelernt.« Die eigens für diese Fernsehsendung nachgespielten Szenen handeln nicht von Ego- Shootern oder internetsüchtigen Gamern. Sie wurde am 9. Oktober 1955 in der Fern- sehserie Confidential File ausgestrahlt. Denn Mitte der 1950er Jahre fürchtete man die Gefahren, die von einem neuen Medium ausgingen: den Comics. Tatsächlich gab es mehrere Todesfälle, die in den Augen der Zeitgenossen durch Comics verursacht worden waren. In den Medien kursierten Gerüchte über Flugversuche, bei denen Kinder und Jugendliche in Umhängen von Gebäuden spran- gen, inspiriert von Superheldencomics. In Pennsylvania hatte man einen 14-jährigen Jungen gefunden, der sich erhängt hatte, offenbar ein Unfall beim Nachspielen ei- nes Western-Comics. In Albany hatten drei Jungen ein Kind mit einem Fleischermes- ser in einen Wald gezwungen und versucht, ihn an einem Baum zu Martin Andree unter- hängen – zum Glück reichten ihre Kräfte nicht. Angeblich, so die richtet als Privatdozent an New York Times, waren sie besessene Comic-Leser. Es gab kaum der Universität zu Köln einen Akt von Jugendkriminalität, der nicht vermeintlich auf das mit dem Schwerpunkt digi­ Konto von Comics ging. Die Schlüsselfigur kam einem Psycholo- tale Medien. gen zu, Frederic Wertham. In seinem Bestseller »Seduction of the Innocent«, erschienen 1954, angeblich auf »7-jähriger Forschung« basierend, finden sich weitere Belege für angebliche »Nachahmungstaten« über Dutzende von Seiten. Ein Kernargument Werthams war die Feststellung einer Übereinstimmung zwischen den Delikten krimineller Jugendlicher wie Einbrüche, Autodiebstähle, Überfälle, se-

DEBATTEN xuelle Übergriffe und der Darstellung derselben Themen in den Comics. Der von ihm ausgelöste »Great Comic Book Scare« führte in den USA landesweit dazu, dass Schu- 5.3 len und andere bildungsbeflissene Institutionen medienwirksame Bücherverbrennun- gen durchführten. Es folgte ein völliger Zusammenbruch der Comic-Produktion; allein 1955 erließen 15 Bundesstaaten Gesetze, die erlaubte Inhalte und Verkauf der gefähr- lichen Comics streng regulierten. Der Fall ist sinnbildlich, weil er die Unzulänglichkeiten einer empirischen Er- forschung zu den Gefahren von Medienkonsum illustriert. Die eigentlich interessante Frage ist weniger, ob unsere heutigen Computerspiele zu Gewalt führen oder süchtig machen, sondern warum ein und dasselbe Medium, hier: Comics, erst als gefährlich bewertet wird, aber dann irgendwann nicht mehr. Warum haben heute Eltern keine Panik mehr, wenn ihre Kinder Comics lesen? Die Ursachen für die Gefahren »neuer Medien« können demzufolge nicht nur in Eigenschaften dieser Medien dingfest gemacht werden – die Frage muss lauten, warum sehr ähnliche »Gefahren« früher von ganz anderen Medien ausgingen, dann aber auf mysteriöse Weise wieder verschwanden. Ein Durchlauf durch die jahrtausen- dealte Geschichte der »gefährlichen Medien« soll diesen Aspekt ausleuchten.

Antike/Mittelalter Der Beginn der Reflexionen über gefährliche Medien und Nachahmungstaten findet spätestens bei Platon statt. Interessanterweise richtete sich auch Platons Kritik damals an ein »neues Medium«, das Theater, welches im Verhältnis zu den Vorgängermedien einen neuartigen Realismus der nachgeahmten Wirklichkeit lieferte. Das neue »mime- tische« Medium will Platon in seinem idealen Staat verbieten, weil er befürchtet, dass die Nachahmung der Wirklichkeit (mimesis) in eine weitere Dimension ausgreift, und zwar die »Nachahmung« der medialen Welt durch die Rezipienten. So schreibt Platon in der »Politeia« (ca. 390—370 v. Chr): »Oder hast Du nicht bemerkt, daß die Nachah- mungen [mimeseis], wenn man es von Jugend an stark damit treibt, in Gewöhnungen und in Natur übergehen [...]?« Es imitieren bei Platon also nicht nur Medien eine Wirklichkeit – die Gefahr ist, dass auf der Ebene der Wirkung die Rezipienten dann die medial übermittelten Inhal- te ebenfalls imitieren: Die Menschen würden »von der Nachahmung das Sein davon- tragen«. Platon beschreibt bereits präzise die pädagogischen Potenziale, aber eben auch Gefahren einer exemplarischen Rezeptionsweise, in welcher die Vorgaben des Texts mittels Imitation übernommen werden. Im Kern entspricht das Grundmodell durchaus der späteren christlichen Ideo- logie der Textrezeption, bei der Leser – ins Positive gewendet – das »exemplum« Christi übernehmen und seinem Vorbild nachfolgen sollen. Als Inbegriff der richti- gen exemplarischen Textrezeption dient dem christlichen Mittelalter die Bekehrung des Augustinus, der in seinen »Confessiones« (397—401) beschreibt, wie er zunächst ein sündiges Leben geführt hatte, dann jedoch durch die Heilige Schrift zur »imitatio Christi« findet: »Ich ergriff es [das Buch des Apostels Paulus], schlug es auf [aperui] und las still für mich den Abschnitt, auf den zuerst mein Auge fiel. ›Nicht in Schmause-

186 —— 187 reien und Trinkgelagen, nicht in Schlafkammern und Unzucht, nicht in Zank und Neid, vielmehr ziehet an [!] [induite] den Herrn Jesus Christus und pfleget nicht des Fleisches und seinen Lüsten.‹ Weiter wollte ich nicht lesen, und weiter war es auch nicht nötig.« 5.3 Neuzeit Diese mittelalterliche Ökonomie des Lesens, die sich um die Heilige Schrift und de- ren Imitation entfaltet, erfährt dann seit dem 16. Jahrhundert eine allmähliche De- stabilisierung durch den Buchdruck – welcher einerseits die Reproduktion und Ver- breitung von Texten erleichtert sowie die neuartige Rezeptionsform der fiktionalen Lektüre hervorbringt. Dieser Prozess wird zugleich begleitet von der Entstehung des modernen Empirismus und einer zunehmenden Skepsis hinsichtlich des Wahrheitsge- halts von überlieferten Texten. Exakt an dieser Gelenkstelle steht erneut ein berühm- tes Opfer der Medien, und zwar »Don Quixote« (1605/1615), dessen Kategorienfehler darin besteht, die fiktionalen Ritterbücher fälschlich wie »exempla« zu lesen, die es zu imitieren gilt. Schon bei Quixote tritt neben dem Element der gefährlichen Nachah- mung auch die Verführung durch die vielen Angebote auf. Es ist von »mehr als hundert Folianten und vielen Büchern in kleinem Format« die Rede. Schon hier wird die kon- tinuierliche Lektüre krankhaft: »Der gute Junker versank so tief in seine Lektüre, daß er die Nächte von Untergang bis Aufgang und die Tage von Aufgang bis Untergang damit zubrachte und sich endlich durch zu viel Lesen und zu wenig Schlaf das Gehirn so ausdörrte, daß er den Verstand verlor.« Eigentlich verfährt Quixote also exakt ge- mäß etwa der mittelalterlichen Mönchspraxis kontinuierlich durchgeführter Lektüren vor allem der Bibel, aber auch von Heiligenviten etc., nur dass er die Mechanik die- ser Lektüre auf die »falschen«, bloß fiktionalen und zumal vielen Bücher anwendet – und genau das macht ihn zu einem wahnsinnigen Leser. Demgemäß fehlt ihm auch die neuzeitliche, einem vielfältigen und häufig fiktionalen Textkosmos angemessenen kritische Distanz – weswegen er selbst in die Ritterrolle schlüpft und dem »exemp- lum« des Texts nachfolgt: »Ich bin der mannhafte Don Quixote de la Mancha, der Rä- cher allen Unrechts und aller Unbill.« Don Quixote markiert aber nur den Anfangspunkt einer Entwicklung, welche später, im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, in der ersten modernen gesellschaftli- chen Großdebatte zu den Gefahren von Medien gipfeln. Einen ersten Höhepunkt stell- te der Kult um Goethes »Die Leiden des jungen Werthers« (1774) sowie die Selbstmor- de von Lesern des Romans dar, von denen die zeitgenössischen Quellen Rückschlüsse auf etwa ein Dutzend solcher Fälle erlauben. Sicherlich noch im Gravitationsfeld die- ser tödlichen Werther-Lektüren steht dann die große Lesesucht-Debatte in Deutsch- land in den 1790er Jahren. Diese ist deshalb besonders erhellend, weil in ihr erstmals das ganze Arsenal typisch moderner Medienkritik ausbuchstabiert vorliegt, welches bis heute auch die Gewalt- und Suchtdebatten zu Computerspielen prägt. Die dama- ligen Leseeinführungen und Warnschriften über die Gefahren »falscher« Lektüren lie- fern eindrucksvolle Einblicke in die zeitgenössischen Ängste vor der Wirkungsmacht dieser Texte. Die Rezeption wird als »wahllos« und »gierig« beschrieben: »Man liest ohne Zweck alles durcheinander.« Die Mediensucht wird von Johann Georg Heinz-

DEBATTEN mann 1795 als ansteckende »Romanenseuche« beschrieben und Johann Gottfried Ho- che schreibt in »Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht« (1794): 5.3 »Die Lesesucht ist [...] ein wirklich großes Uebel, das so ansteckend ist, wie das gelbe Fieber in Philadelphia.« Zugleich verhalten sich die Betroffenen Leser wie Suchtkran- ke, die nie genug von dem ersehnten »Stoff« bekommen können, wie hier von Johann Rudolph Gottlieb Beyer in einer Vorlesung vom 2. Februar 1795 beschrieben: »Da- her sieht man Bücherleser und Leserinnen, die mit dem Buche in der Hand aufstehen und zu Bette gehen, sich damit zu Tische setzen, es neben der Arbeit liegen haben, auf Spaziergängen sich damit tragen, und sich von der einmal angefangenen Lektüre nicht wieder trennen können, bis sie sie vollendet haben. Aber kaum ist die letzte Seite ei- nes Buches verschlungen, so sehen sie sich schon wieder gierig um, wo sie ein anderes herbekommen wollen [...]. Kein Tabaksbruder, keine Kaffeschwester, kein Weintrinker, kein Spielgeist kann so an seine Pfeife, Bouteille, an den Spiel- oder Kaffeetisch, atta- chirt seyn, als manche Lesehungrige an ihre Lesereyen.« Hier beginnt die Gleichstel- lung der »gefährlichen Medien« mit dem Suchtpotenzial stoff‌licher Drogen, die sich heute etwa darin äußert, dass Onlinesucht in den Suchtbericht der Bundesregierung aufgenommen ist. Die medialen Produkte werden – wie hier von Johann Adam Bergk in »Die Kunst, Buecher zu lesen« (1799) – mit toxischen Pharmaka verglichen, deren Konsum tödlich enden kann: »Der Leser verschluckt Gift, ohne es zu wissen, und labt sich an Zaubertränken, ohne die fürchterlichen Wirkungen zu ahnen, die sie für seinen Kopf und für sein Herz haben.« Schon in der Lesesucht-Debatte bedauern die kulturkritischen Autoren – hier Karl August Varnhagen von Ense in »Denkwürdigkeiten des eignen Lebens« (1837— 1842) – die minderwertige Qualität dieser »Ritter- und Geistergeschichten, Räuberro- mane, Liebesabenteuer, Robinsone und Wundermärchen aller Art« – diese Spitze wur- de dann während des 19. Jahrhunderts vor allem in der Ablehnung der Schundliteratur weiter ausgebaut. In immer neuen Schüben wurde die Kritik an den neuen und gefähr- lichen Medien artikuliert – wie etwa Anthony Comstocks »Traps for the Young« (1884), in dem nicht nur die Lektüre minderwertiger Literatur, sondern auch das Lesen von Zeitungen, Groschenheftchen und dergleichen als ansteckende Krankheiten beschrie- ben wurde. Auch der frühe Film wurde als neues Medium schnell Kritik ausgesetzt – wie etwa im Buch »Our Movie Made Children« (1933) von Henry James Forman. Wie es der Titel schon pointiert aussagt, wird hier eine umfangreiche Beweisführung vor- gelegt, derzufolge die Rezeption von Filmen über Kriminalität, Verbrechen, Liebe und Sex bei Kindern und Jugendlichen zu Nachahmungshandlungen führe. Schon bald geriet ein neues Medium ins Visier der Kulturkritik, diesmal handel- te es sich um das eingangs besprochene Genre der Comics. Der »Great Comic Book Scare« lieferte im Amerika der 1950er Jahre möglicherweise den größten medienkri- tischen Hype aller Zeiten – viele führende Persönlichkeiten äußerten sich zu der Prob- lematik, es gab sogar Senatsanhörungen zum Thema, welche wiederum im Fernsehen übertragen wurde. Besonders faszinierend an diesem Fall ist die weitgehende Kon- gruenz mit den medienkritischen Vorwürfen, welche früher schon gegenüber den Ro- manen geäußert wurden – diese sind weitgehend identisch: Die schädlichen Medi-

188 —— 189 en führten ➀ zur Verherrlichung von Gewalt und Sex, ➁ Verleiteten zur ­Masturbation, ➂ beeinträchtigten bei den Betroffenen die Unterscheidung von Fiktion und Wirklich- keit, ➃ bewirkten erhebliche Präsenz-Effekte, also ein fehlendes Erkennen der Mediali- 5.3 tät des Dargestellten, ➄ erzeugten sowohl eine unaufhörliche als auch ➅ eine wahllose Lektüre, ➆ böten den Rezipienten Genüsse, die zur Gewohnheit würden und demnach neue Begierden hervorbrächten, was ➇ zu einer Vernachlässigung des »normalen« Le- bens sowie ➈ zu einer Beeinträchtigung des Sozialverhaltens führe. Beeindruckend ist nicht nur, wie ausnahmslos alle medienkritischen Aspekte beide Debatten prägen, ob- wohl mehr als 150 Jahre dazwischenliegen! – es ist auch offensichtlich, dass sie mit wenigen Ausnahmen auch das Arsenal heutiger Medienkritik, etwa an Games oder Smartphones, liefern. Diese Übereinstimmungen ziehen sich nicht nur durch die Inhal- te, sondern bis hinein in die diese tragende Metaphorik. So wird das schädliche Medi- um (Roman/Comic) im Bildfeld ➀ der Sucht, ➁ des Unkrauts bzw. der Schädlinge, ➂ der ansteckenden Seuche, ➃ des Fiebers, ➄ allgemein als Bedrohung der körperlichen Gesundheit beschrieben; die Rezeption wird über Metaphern des ➅ Verschlingens so- wie ➆ des Einflusses bzw. der Flüssigkeit dargestellt; die Folge ist➇ ein Zustand ana- log der Besessenheit etwa durch Dämonen; die Situation erfordert ➈ Maßnahmen der Hygiene bzw. der Reinigung. Verblüffend ist, wie übereinstimmend beide Beispiele der Medienkritik verfahren, es lassen sich nur wenige Unterschiede ermitteln – so widmet die Lesesucht-Debatte den weiblichen Leserinnen mehr Aufmerksamkeit, wohinge- gen bei Comics tendenziell eher männliche Kinder und Jugendliche im Fokus stehen; »neu« sind ferner Werthams Behauptungen, Comics würden zu Homosexualität ver- leiten, und die Geschichten über Superhelden würden faschistoide Einstellungen pro- pagieren. Die übrigen Argumente, Formeln, Begriffe und Metaphern verfahren dage- gen weitgehend deckungsgleich.

Fazit Es wird deutlich, dass die Diagnose von kulturhistorisch episodisch auftretenden me- dienkritischen Debatten nicht nur in einem allgemeinen Sinne gilt, sondern dass auch die verwendeten Erklärungsmuster sowie Metaphern innerhalb dieser Debatten weit- gehend deckungsgleich sind. Die massiven Anleihen an einem bereits vorbestimmten, debattengeschichtlichen Inventar an Argumenten und Begriffen erzeugt zwangsläu- fig verbindende Déjà-vu-Effekte und generieren auf diese Weise bei den Rezipien- ten Vorstellungen von Beständigkeit und Schlüssigkeit, die gar nichts mit der Gefähr- lichkeit des neuen Mediums selbst zu tun haben müssen. Medienkritische Schriften wie Werthams »Seduction of the Innocent« bündeln also nicht nur wie Brennspiegel die unterschiedlichen Dimensionen der damaligen Debatte, sie verstärken diese noch weiter, indem sie sie mit Schein-Gewissheiten und Stereotypen aus der Debattenge- schichte der Medienkritik zusätzlich auf‌lädt und dann in die Resonanzräume der fort- laufenden Debatte zurückwerfen. In diesem Aspekt liefert der hier vorgenommene Vergleich aber ein höchst auf- schlussreiches Beispiel zur tatsächlichen Praxis von Medienkritik: Diskurse hinterfra- gen fortlaufend, was genau als medial darstellbar und zumutbar zu gelten hat. Solche

DEBATTEN Selbstbeurteilungen, Legitimierungen und Zertifizierungen von Kontroversen entste- hen in komplexen medialen Resonanzräumen und werden zugleich getragen von de- 5.3 battengeschichtlichen Mustern zur Rezeption »neuer Medien«. Genau diese Rück- kopplung in die zeitgenössische Medienrealität führt aber geradezu zwangsläufig zu der Frage nach den selbstverstärkenden Mechanismen, die innerhalb solcher Debat- ten am Werk sind. Bestseller wie »Seduction of the Innocent« übermitteln ihren Le- sern nicht nur eine neutrale Beschreibung von Fällen krankhaften Konsums. Allein auf- grund ihrer ungeheuren Popularität wirken solche Texte selbst wieder massiv auf die zeitgenössischen Rezeptionspraktiken zurück. Plakativ gesprochen, müsste man dann die Frage stellen, ob beispielsweise die von Zeitgenossen beklagte Jugendkriminalität überhaupt nur durch das neue Medium der Comics, oder aber auch durch die medi- enkritische Debatte über dieses neue Medium ausgelöst wurde. Die Vermutung, dass die Debatte selbst einen wesentlichen Faktor in Bezug auf Straf‌fälligkeit ausmach- te, stellte schon im Jahr 1955 kein geringerer als der Soziologe Paul Lazarsfeld bei ei- ner weiteren Senatsanhörung an: Die Debatte selbst, so wird Lazarsfeld in »A Cyc- le of Outrage« (1986) zitiert, »had a great effect in making them [the public] worried«. Die historische Herleitung des Schemas der »gefährlichen Medien« belegt, dass man einem komplexen Phänomen wie der Rezeption neuer, vermeintlich ge- fährlicher Medien mit einseitigen Modellen der Medienwirkung kaum gerecht wer- den kann. Denn als Faktoren der Beeinflussung ergeben sich nicht nur die neuen Me- dien und Medieninhalte, sondern auch die hierüber geführte Debatte, die ihrerseits wieder bestimmt ist durch debattengeschichtliche Schemata und Metaphern, welche Auf‌fassungen über die Wirkungen neuer Medien und deren Medieninhalte lenken. Das zeigt die Grenzen der Beschreibungsfähigkeit etwa empirischer Befragungen auf, denn die Frage ist, was man hier eigentlich genau in Befragungen misst, die Effekte der vermeintlich schädlichen Medien oder aber den Einfluss der Debatten auf die Re- zipienten dahingehend, welche Rezeptionsmuster solchen »gefährlichen« und neuen Medien gegenüber angemessen sind. Das gilt insbesondere auch für kausale Zusam- menhänge, welche die potenziell Medienkranken selbst feststellen, wenn sie etwa auf das gefährliche neue Medium als Ursache der von ihnen begangenen, schrecklichen Tat verweisen – nicht zuletzt auch deshalb, weil dieser Rückgriff auf ein dominantes medienkritisches Leitbild ihnen auch Optionen der Schuldbefreiung liefert. Diese Rückkopplungseffekte könnten dann auch erklären, warum solche ver- meintlich »gefährlichen« Rezeptionsmuster einige Jahre nach der Durchsetzung des jeweiligen »neuen Mediums« auf dieselbe rätselhafte Weise wieder verschwinden, wie die Debatte um sie als Welle urplötzlich einmal entstanden war – weil sie näm- lich aus den diskussionsbezogenen Selbstbeobachtungsmustern wieder herausfallen, wenn sich etwa wieder neuere, und noch gefährlichere Medien an ihre Stelle gesetzt haben. Genau dies war auch beim »Comic Book Scare« der Fall: Nach nur wenigen Jahren richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit der Medienkritik auf die entste- hende Musikkultur des Rock’n’Roll sowie spätestens seit 1960 auf das offenbar noch weitaus gefährlichere Fernsehen. Von den wiederum noch viel gefährlicheren Com- puterspielen ahnte man damals noch nichts.

190 —— 191 5.3

Literatur ✕ Andree, Martin: Wenn Texte töten. Über Werther, Medien- wirkung und Mediengewalt. Fink, München 2006 ✕ Christians, Heiko: Amok. Geschichte einer Ausbreitung. Aisthesis, Bielefeld 2008

DEBATTEN 5.4 KILLER- SPIELE ANDREAS GARBE

Über sogenannte »Killerspiele« wird in Deutschland seit rund einem Vierteljahrhun- dert gestritten – und das nur selten sachlich. Das ist schon daran zu erkennen, dass »Killerspiel« gar keine neutrale Bezeichnung ist, sondern ein Kampfbegriff, der eine deutlich ablehnende Haltung insinuiert. Ein solches Genre gibt es nämlich gar nicht. Im Gegenteil: Wenn damit alle Computerspiele bezeichnet werden sollen, in denen der Nutzer zum »Killer« wird, dann fallen neben den tatsächlichen Schießspielen na- hezu alle Genres darunter, auch bunte Kinderspiele wie etwa Super Mario Bros. (1985) oder Crash Bandicoot (seit 1996). Denn auch hier geht es darum, virtuelle Gegner perma- nent zu beseitigen. Und mehr drückt der Begriff ja nicht aus; außer einer klaren mora- lischen Wertung dieses Vorgangs. Das ist am besten mit einem Vergleich zu verdeut- lichen. Was wären denn etwa »Killerfilme« oder »Killerbücher«? Auch hier ginge es nicht nur um die Werke von Tarantino oder Tolkien, sondern eben auch um Truffaut oder Tolstoi. Der Begriff »Killerspiele« ist also nicht nur tendenziös, sondern auch un- spezifisch, verwirrend und somit wenig hilfreich. Das hat allerdings viele Medienver- treter und Personen des öffentlichen Lebens nicht davon abgehalten, ihn als eine ver- meintlich neutrale Bezeichnung zu verwenden und zu etablieren – unser erstes Indiz dafür, dass in der Diskussion um gewalthaltige Computerspiele schon immer Gefüh- le und Mutmaßungen dominiert haben. Nach dem Amoklauf mit zehn Toten im Sommer 2016 in München wurde be- kannt, dass der 18 Jahre alte Täter intensiv Counter-Strike: Source (2004) gespielt hat- te; einen sogenannten Ego-Shooter, also ein Schießspiel aus Sicht des Protagonisten. Counter-Strike (seit 1999) ist eine der beliebtesten Action-Serien, in der sich online Spie- ler in zwei Gruppen aufgeteilt messen. Nach dem gängigen Spielmodus müssen Ter- roristen eine Bombe platzieren und zur Explosion bringen. Antiterroreinheiten müssen dies verhindern. Dabei schießen die zwei Gruppen aufeinander und müssen im Team taktisch und schnell handeln. Allein die genannte Version wurde 2016 zu jeder Zeit im Internet von rund zehntausend Teilnehmern gleichzeitig gespielt. Der Umstand, dass auch der Täter damit viel Zeit verbrachte, war also eigentlich nichts Besonderes. Viele

192 —— 193 Politiker, Wissenschaftler und Journalisten stürzten sich dennoch auf diesen Aspekt. Seit der Tat waren keine 24 Stunden vergangen, da trat der damalige Bundesinnen- minister de Maizière vor die Presse. Er mahnte zunächst: »Heute ist nicht die Stunde 5.4 für Konsequenzen. Schon gar nicht, wo die Ermittlungsergebnisse noch nicht vollstän- dig vorliegen.« Dennoch fügte er hinzu, »dass das unerträgliche Ausmaß von gewalt- verherrlichenden Spielen im Internet auch eine schädliche Wirkung auf die Entwick- lung gerade junger Menschen hat«. Das könne kein vernünftiger Mensch bestreiten »und das zeigen ja auch viele Studien«. Dies sei hier ein weiteres Mal der Fall gewesen. In diesen wenigen Sätzen stecken gleich mehrere Unwahrheiten. Keine ein- zige Studie belegt, dass ein monokausaler Zusammenhang zwischen gewalthaltigen Spielen und Gewalt im echten Leben besteht. So unvorstellbar das nach mindestens zweieinhalb Jahrzehnten kontroverser öffentlicher Debatte erscheinen mag: Es gibt kaum verlässliche Studien zu der Frage, ob Gewaltspiele auch zu echter Gewalt ver- leiten. Denn wer so eine mögliche Kausalität erforschen möchte, muss eine sorgfältig ausgewählte Testgruppe über einen längeren Zeitraum besuchen und erfassen. Das nennt sich Längsschnittstudie und ist deutlich aufwändiger als eine einmalige Befra- gung und Auswertung, Querschnittsstudie genannt. Doch letztere können nun mal nur Korrelationen aufzeigen und aus einer solchen Korrelation allein lässt sich keine siche- re Aussage über Ursachen ableiten. Korrelationen können durchaus Indiz für eine Kau- salität sein und somit weitere Studien rechtfertigen. Sie können aber auch einfach gar nichts aussagen. Wer beispielsweise ohne wissenschaftlichen Anspruch einfach Sta- tistiken vergleicht, findet auch eine deutliche Korrelation zwischen Käsekonsum und dem Tod durch Verheddern in Bettlaken. Nur eine Kausalität weist ohne Zweifel nach, dass ein Umstand einen anderen direkt verursacht. Andere Arten von Studien stehen vor dem Problem, Gewaltbereitschaft in einem Labor messen zu müssen. Dies wird oft auf recht absurde Art und Weise umgesetzt, etwa durch das Messen der Bereitschaft, einer anderen Person scharfe Soße zu servieren (»Hot Sauce Paradigm«), da die An- wendung echter Gewalt in solchen Situationen natürlich nicht ver- Andreas Garbe ist Fernseh- tretbar ist. Wieder andere Wissenschaftler verlassen sich darauf, Redakteur, Experte für bestehende Studien zu kombinieren und gebündelt neu auszuwer- Videospiele sowie Autor ten, was oft kaum vergleichbare Testgruppen in unterschiedlichen und Moderator. Regionen zu unterschiedlichen Zeiten miteinander vermischt. So kommt es eben, dass bislang keine einzige Studie verlässlich eine monokausale Ver- bindung nachweisen konnte. Bei der geringen Anzahl von Längsschnittstudien ist das allerdings auch kein Freispruch für das Medium Computerspiele. Die Frage ist einfach nicht hinreichend erforscht. Kurz nach der Pressekonferenz präzisierte de Maizière in einem Zeitungsinter- view mit der Berliner Morgenpost seine Äußerungen zu gewaltverherrlichenden Spie- len: »Ein Verbot ist in unserem freiheitlichen Rechtsstaat nicht der richtige Weg und wäre auch schwer umzusetzen.« Dabei war genau so ein Verbot schon vor Jahrzehnten umgesetzt worden: Denn § 131 des Strafgesetzbuches (StGB) verbietet seit Jahrzehn- ten jegliche gewaltverherrlichenden Medien, ob nun in Form von Büchern, Filmen oder Computerspielen. Darüber wacht die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Me-

DEBATTEN dien, die anfangs dem Bundesinnenministerium unterstellt war und heute als Obers- te Bundesbehörde in der Zuständigkeit des Bundesministeriums für Familie, Senioren, 5.4 Frauen und Jugend liegt. Auch wenn das Statement es zu vermitteln scheint: es ist kaum vorstellbar, dass ein Bundesinnenminister das StGB nicht kennt. Ob seine Wor- te nun falsch, unüberlegt oder nur missverständlich waren – viele Medien veröffent- lichen sie, ohne Prüfung und ohne Korrektur. Auch die Nachrichtenagentur Agence -Presse (AFP) verbreitete die Falschmeldung, der Täter David S. habe gewalt- verherrlichende Computerspiele gespielt. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) fügte dem wenigstens hinzu, dass dies laut Ermittlerangaben so sei, bemühte sich aber nicht um eine Richtigstellung. Die Tagesschau um 20 Uhr am 23. Juli 2016 übernahm den Fehler ungeprüft. Die Redakteurin Marion von Haaren beendete ihren Aufsager mit der Frage: »Sollte man gewaltverherrlichende Videos und Computerspiele verbieten?« Dabei ist, wie bereits erwähnt, jegliche Form von Gewaltverherrlichung längst verbo- ten. Die Abendzeitung München schaffte es wiederum nicht, die Alterseinstufung von Counter-Strike korrekt wiederzugeben. Denn auch wenn Kritiker es oft als besonders gewalttätig ins Feld führen, sind nahezu alle Versionen dieser Serie ab 16 Jahren frei- JUGEND- SCHUTZ 5.5 gegeben (←), die in diesem Fall fragliche Version inklusive. Auch die Kriminologin Brit- ta Bannenberg, die sich regelmäßig zu dem Thema äußert, trug die Falschinformation über eine Freigabe ab 18 Jahren weiter. Der Präsident des bayerischen Landeskrimi- nalamtes, Robert Heimberger, verbreitete in einem Interview mit der Leipziger Volks- zeitung weitere Unwahrheiten anlässlich dieser Tat. Counter-Strike sei »ein Spiel, das bisher nahezu jeder ermittelte Amokläufer gespielt hat«. Der Kriminologe Christian Pfeiffer sah in einem Interview mit Neue Presse ebenfalls brutale Computerspiele als ein verbindendes Element »bei nahezu allen, die in den USA als Amokläufer registriert wurden«. Das stimmt nicht einmal ansatzweise. Es gibt zwei Studien, die sich inten- siv mit den Tätern von Amokläufen an Schulen beschäftigt haben. Die umfassendere Studie des United States Secret Service und dem US-Bildungsministerium hat 41 sol- cher Täter untersucht, die zwischen 1974 und 2000 Amokläufe an US-Schulen began- gen haben, und kam zu dem Ergebnis, dass sieben von acht Tätern gar kein Interesse an gewalthaltigen Computerspielen hatten. Schon doppelt so viele interessierten sich für entsprechende Bücher. Und das Medium, das die Mehrzahl dieser Täter miteinan- der verband, waren eigene Aufzeichnungen wie Tagebucheinträge oder die früherer Amokläufer. Diese Faszination war auch bei dem Täter von München eindeutig vorhan- den. In seiner Wohnung fanden Ermittler Zeitungsausschnitte über Amokläufe und ein Sachbuch zum Thema. Mit 17 Jahren war er in das 250 Kilometer entfernte Winnen- den gereist, um sich vor Ort über den Amoklauf an einer Schule mit 15 Opfern im Jahr 2009 zu informieren und den Tatort mit Fotos zu dokumentieren. Für seinen eigenen Amoklauf wählte David S. den fünften Jahrestag der Anschläge des Rechtsextremis- ten Anders Breivik in Norwegen mit 77 Opfern. Dazu kommt, dass der Täter unter so- zialen Phobien und Depressionen litt und 2015 zwei Monate in stationärer Behandlung in der geschlossenen Psychiatrie war. Großflächige Berichterstattung über Amokläu- fe scheint also, ähnlich wie beim Thema Suizid, Nachahmer zu ermuntern. Wäre dem so, trügen die Medien eine Mitschuld und müssten ihre Berichterstattung überdenken.

194 —— 195 Die obige Aufzählung von Falschaussagen führender Politiker, Wissenschaftler und Journalisten scheint beispiellos, ist aber der Regelfall bei diesem Thema und solchen Anlässen. So zog Bayerns Innenminister Joachim Herrmann nach dem Amoklauf in 5.4 Winnenden einen besonders geschmacklosen Vergleich: »Gewalt verherrlichende Kil- lerspiele gehören verboten – Was bei Kinderpornographie möglich ist, muss auch für brutale Killerspiele gelten«, schrieb er am 16. März 2009 auf der Webseite der CSU- Fraktion im Bayerischen Landtag. Der Nachrichtensender n-tv berichtete 2011 über das »Killer-Computerspiel World of Warcraft«. Dabei ist das bonbonfarbene Fantasy- Online-Rollenspiel (erschienen 2004) ab zwölf Jahren freigegeben. Und die Pro7-Sen- dung Newstime stufte im Jahr 2018 das Spiel Fortnite (2017) als »wildes Gemetzel« mit »Tötungsszenario« ein. Zweimal wurde behauptet, Jugendschützer schlügen Alarm. Die interviewte Expertin und ihre Organisation distanzierten sich jedoch nach Aus- strahlung von dem Bericht, da sie sich vollkommen falsch zitiert fühlten. Das Spiel ist inzwischen ebenfalls einheitlich ab zwölf Jahren freigegeben. Falsche Aussagen von Kriminologen wie Christian Pfeiffer und anderen Kri- tikern von Computerspielen fallen auf fruchtbaren Boden und werden oft ungeprüft übernommen. Am 21. März 2009 fragte der damalige Bundespräsident Horst Köhler in seiner Rede bei einem Staatsakt anlässlich des Amoklaufes in Winnenden: »Sagt uns nicht der gesunde Menschenverstand, dass ein Dauerkonsum solcher Produkte scha- det?« Es scheint tatsächlich intuitiv, dass gewalthaltige Computerspiele zu Gewalt an- regen oder wenigstens Hemmschwellen senken. Es liegt genauso scheinbar auf der Hand, dass die Mehrzahl der Amokläufer an Schulen diese Spiele gespielt hat, auch wenn es tatsächlich nur ein kleiner Bruchteil war. Computerspiele sind zwar längst ein Massenmedium. Es mangelt ihnen aber noch immer an gesellschaftlicher Anerken- nung. Aus der verzerrten Darstellung der Faktenlage durch Personen wie de Maizière oder Pfeiffer spricht ein tiefes Misstrauen, wenn nicht gar Verachtung. Das dürfte vor allem zwei Ursachen haben. So ist der undifferenzierte Fokus auf den Aspekt der Ge- walt schlicht eine erfolgreichere Strategie, um mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen, als die Komplexität und Vielfalt des Themas in den Vordergrund zu stellen (→). Allen 2.6 GEWALT genannten Personen sind zudem Computerspiele mutmaßlich sehr fremd. Christian Pfeiffer gab in Interviews sogar bereitwillig zu, dass er keine eigene Spielerfahrung be- sitzt. Dabei wäre dies eine wichtige Voraussetzung für die Teilnahme an einer Debatte über ein Medium, das maßgeblich von der direkten Interaktion lebt. Computerspiele sind allerdings auch nicht ganz unschuldig an dem beschrie- benen Misstrauen. Einige wenige Spieleentwickler haben schon immer die Empörung der Gesellschaft für einen Werbeeffekt missbraucht. Seit den 1980er Jahren leben ei- nige Studios ausschließlich davon, qualitativ minderwertige Computerspiele inhaltlich so provokativ zu gestalten, dass sie regelmäßig von empörten Kritikern öffentlich ge- schasst werden. In dem Arcade-Spiel Chiller (1986) tötet der Spieler hauptsächlich an- gekettete nackte Opfer. Diese sind in Folterinstrumenten gefangen, die durch Schüs- se aktiviert werden und die Opfer aufschneiden, zerquetschen oder zerstückeln. In den USA war kaum jemand bereit, Automaten mit diesem Spiel zu kaufen und in Knei- pen oder Restaurants aufzustellen. In Custer’s Revenge (1982) muss sich der Spieler in

DEBATTEN der Rolle des General Custer einer gefesselten amerikanischen Ureinwohnerin nä- hern, während er Pfeilen ausweicht, um sie dann zu vergewaltigen. Nach unzähligen 5.4 Beschwerden und mehreren Klagen wurde es schließlich aus dem Handel genom- men. Und wie kaum ein anderes Spiel provozierte Postal 2 (2003) mit übertriebener Bru- talität. In dem Ego-Shooter können Menschen mit Benzin übergossen, angezündet und ihre verkohlten Leichen ausgepinkelt werden. Katzen dienen als Schalldämpfer für Schusswaffen. Zusammen mit dem ebenfalls sehr brutalenManhunt (2003) wird es zum meistzitierten Titel der Spielekritiker, obwohl beide in Deutschland wegen Indi- zierung nicht verkauft werden dürfen und deshalb auch weitgehend unbekannt sind. Dennoch: Immer wenn Kritiker wie Pfeiffer behaupteten, in Computerspielen könne man unbewaffnete, hilf‌lose Figuren quälen, foltern und töten, fanden sie tatsächlich entsprechende Beispiele, auch wenn es sich dabei um Randphänomene handelte. Denn fast drei Viertel aller Computerspiele in Deutschland sind ab zwölf oder weni- ger Jahren freigegeben. Zwischen den fragwürdigen Kritikern und den fragwürdigen Studios entwickelte sich eine Art symbiotische Beziehung. Im Dezember 1996 stell- ten zwei US-Senatoren eine Liste mit aus ihrer Sicht übertrieben gewalthaltigen Com- puterspielen vor. Der Produzent des brutalen Horror-Adventures Harvester (1996) be- klagte sich daraufhin, dass sein Computerspiel nicht auf der Liste stehe. Es sei doch gewalthaltiger als alle anderen erwähnten Titel, beteuerte er. Was von den Senato- ren als schwarze Liste gedacht war, war für diesen Spieleentwickler ein Ritterschlag. Blicken wir zum Schluss noch einmal etwas weiter zurück. Denn die Vergan- genheit zeigt: Neue Medienformen irritieren grundsätzlich. Das war schon immer so GEFÄHRLICHE MEDIEN 5.3 und kommt auch bei Computerspielen zum Tragen (←). In den 1940er und 1950er Jahren wurden vor allem in Nordamerika Comichefte für sprachliche Verdummung, für die Verrohung der Jugend, gar für Morde verantwortlich gemacht. 1948 wurde der 63-jährige James Watson auf einer Landstraße in der Nähe des kanadischen Or- tes Dawson Creek am Steuer seines Autos erschossen. Zwei Jungen im Alter von 11 und 13 Jahren waren die Täter, hatten sich mit Vaters Gewehr maskiert auf die Lauer gelegt und wahllos auf Fahrzeuge geschossen. Jury und Richter waren sich im folgen- den Prozess einig, dass der intensive Comic-Konsum der beiden ausschlaggebend war. Sie sollen brutale Wegelagerer aus sogenannten »crime comics« nachgeahmt haben. Schon vor diesem Fall diskutierte das kanadische Parlament über einen Ge- setzesvorschlag, Comics dieser Art zu verbieten. Danach wurde dieser fast einstim- mig angenommen. Aus heutiger Sicht erscheint es absurd, Comics für Morde verant- wortlich zu machen. Und eines Tages wird das für Computerspiele ebenfalls gesagt werden können. Doch auch wenn die Diskussion um Gewaltspiele in den vergange- nen Jahren ein wenig sachlicher geworden ist, so bedarf es, so ist zu befürchten, nur eines weiteren Amoklaufs bis Innenminister Gesetze fordern, die es längst gibt, bis Journalisten und Wissenschaftler schon an der korrekten Wiedergabe einer Alters- einstufung scheitern und bis einige wenige skrupellose Spieleentwickler diese gesell- schaftliche Empörung für Marketingzwecke missbrauchen. ↳

196 —— 197 5.4

Literatur ✕ Hoffmann, Jens; Roshdi, Karoline; Robertz, Frank: Zielgerichtete schwere Gewalt und Amok an Schulen. Eine empirische Studie zur Prävention schwerer Gewalttaten. Kriminalistik 4/2009: i-p-bm.com/images/Literatur_und_Presse/zielgerichtete% 20schwere%20gewalt%20an%20schulen.pdf ✕ Kutner, Lawrence; Olson, Cheryl K.: Grand Theft Childhood: The Surprising Truth About Violent Video Games and What Parents Can Do. Simon & Schuster, New York 2008 ✕ Vossekuil, Bryan; Fein, Robert A.; Reddy, Marisa et al.: The Final Report and Findings of the Safe School Initiative: Implications for the Prevention of School Attacks in the United States. Washington 2004: www2.ed.gov/admins/lead/safety/preventingattacksreport.pdf

DEBATTEN 5.5 JUGEND- SCHUTZ MARTIN LORBER

Deutschland hat eines der strengsten Jugendmedienschutzsysteme weltweit, um Kinder und Jugendliche vor entwicklungsbeeinträchtigenden und gar -gefährden- den Inhalten bei digitalen Spielen zu schützen. Dabei wird der Jugendmedienschutz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen, die auf drei Säulen fußt: gesetzlichen Regelungen, technischen Vorkehrungen und Angebotsbeschränkungen der Anbieter. Hinzu kommen vorbeugenden Maßnahmen wie der Ausbau der Medienkompetenz und erzieherisches Handeln.

Gesetzliche Regelungen in Deutschland Allgemein hat der Jugendschutz in Deutschland Verfassungsrang; so findet die allge- meine Meinungs- und Pressefreiheit laut Artikel 5 des Grundgesetzes ihre Schranken unter anderem in den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend. Die bei- den grundlegenden Gesetze für den Jugendmedienschutz sind das Jugendschutzge- setz (JuSchG) und der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV). Vereinfachend kann man sagen, dass das JuSchG im Wesentlichen den Bereich der Medien regelt, die auf Datenträgern vertrieben und genutzt werden, sowie solche, die in der Öffent- lichkeit präsentiert werden. Die Inhalte, die online angeboten und genutzt werden, fallen dagegen unter die Regelungen des JMStV. Das JuSchG ist ein Bundesgesetz. Der Kern des Gesetzes in Bezug auf den Jugendmedienschutz ist seit der Reform im Jahr 2003 ein allgemeines Verkaufsver- bot von Filmen und digitalen Spielen an Kinder und Jugendliche mit Erlaubnisvorbe- halt. Das heißt, dass digitale Spiele Kindern und Jugendlichen nur dann »zugänglich gemacht« werden dürfen, wenn sie vorab von den Obersten Landesjugendbehörden (OLJB) durch einen Jugendentscheid für die entsprechende Altersstufe freigegeben wurden. Damit soll sichergestellt werden, dass Kinder und Jugendliche nur solche di- gitalen Spiele spielen, die für ihre Alter freigeben sind und von denen daher anzuneh- men ist, dass keine Gefahr von ihren Inhalten ausgeht. Die jeweiligen Altersstufen sind 0, 6, 12, 16 und 18 Jahre. Die von der Computerspielewirtschaft finanzierte Unter-

198 —— 199 haltungssoftware Selbstkontrolle (USK) als anerkannte Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Sinne des JuSchG organisiert den Prozess der Alterseinstufungen, vergibt diese aber nicht selbst. Im Regelverfahren besteht das Prüfgremium bei der 5.5 USK aus vier ehrenamtlichen Jugendschutzsachverständigen (die auf gemeinsamen Vorschlag der OLJB und der Computerspielewirtschaft vom USK-Beirat ernannt wer- den) und einem Ständigen Vertreter der OLJB. Die vom Regelausschuss empfohlene Alterseinstufung wird von dem Ständigen Vertreter der OLJB als eigene Entscheidung zur Altersfreigabe übernommen, sofern nicht der Anbieter oder der Ständige Vertre- ter Berufung einlegt. Im Ergebnis handelt es sich also um staatliche Altersfreigaben. Eine Zugänglichmachung für Kinder und Jugendliche auf Basis einer Alters- freigabe gibt es nur für Spiele mit entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten. Spiele mit potenziell jugendgefährdenden Inhalten dürfen dagegen keine Altersfreigabe er- halten. Diese dürfen nur an Erwachsene verkauft werden, außerdem kann die Bundes- prüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) auf Antrag prüfen, ob diese Spiele tatsächlich jugendgefährdende Inhalte enthalten, und diese dann indizieren. Indizier- te Spiele dürfen weiterhin auf Nachfrage (»unter der Ladentheke«) an Erwachsene verkauft werden, allerdings im Handel nicht öffentlich ausgelegt und in Medien, die Jugendlichen zugänglich sind, nicht beworben werden. Um einer solchen Indizierung zuvorzukommen, werden digitale Spiele gegebenenfalls von den Anbietern für be- stimmte Märkte angepasst. Der JMStV, ein zwischen den deutschen Bundesländern geschlossener Staats- vertrag, regelt im Wesentlichen die online angebotenen digitalen Spiele. Hier ist kei- ne staatliche Altersfreigabe vorgesehen, die man als Anbieter vor der Veröffentlichung einholen muss, wie beim JuSchG. Vielmehr muss der Anbieter – bzw. dessen Jugend- schutzbeauftragter – selbst einschätzen, für welche Altersgruppe seine Inhalte beein- trächtigend sein könnten und entsprechend dafür Sorge tragen, dass die Kinder und Jugendlichen der jeweiligen Altersgruppe die Inhalte »üblicherweise« nicht wahrneh- men. Dieser Pflicht kann man nachkommen, indem man mit techni- Martin Lorber ist Jugend- schen Mitteln den Zugang wesentlich erschwert, beispielsweise durch schutzbeauftragter und eine vorgeschaltete Jugendschutz-PIN, eine Geheimzahl, die man ein- PR Director bei Electronic Arts. geben muss, bevor bestimmte Inhalte zugänglich sind, indem man das Angebot mit einer Alterskennzeichnung versieht, die von einer anerkannten Jugend- schutzsoftware ausgelesen werden kann, oder den Inhalt nur zu bestimmten Uhrzei- ten anbietet (16- und 18-Inhalte nur zwischen 22 bzw. 23 Uhr und 6 Uhr). Jugendge- fährdende Angebote sind im Internet nur dann erlaubt, wenn der Anbieter sicherstellt, dass nur Erwachsene in geschlossenen Benutzergruppen Zugang haben. Die Einhaltung dieser Vorschriften wird durch die Kommission für Jugend- medienschutz (KJM) überwacht. Die KJM ist die zentrale Aufsichtsstelle für den Ju- gendschutz im privaten Fernsehen und im Internet. Je nach Schwere eines Versto- ßes kann sie Angebote untersagen und Bußgelder verhängen. Für die Durchführung der Maßnahme sind die jeweiligen Landesmedienanstalten zuständig. Die KJM wird in ihrer Arbeit von jugendschutz.net unterstützt, eine von den OLJB gemeinsam ge- tragene Einrichtung, die organisatorisch an die KJM angebunden ist und deren Auf-

DEBATTEN gaben ebenfalls im JMStV geregelt sind: jugendschutz.net überprüft die Angebote im Internet, weist bei möglichen Verstößen gegen den JMStV den Anbieter hierauf 5.5 hin und informiert die KJM. Die Leitkriterien der USK sowie die Indizierungskriterien der BPjM legen fest, welche Inhalte als jugendbeeinträchtigend und welche als jugendgefährdend ange- sehen werden. Im Laufe der Jahre hat sich eine sehr konsistente Spruchpraxis entwi- ckelt, die aber durchaus Veränderungen unterworfen ist. Am Rande sei erwähnt, dass es neben jugendbeeinträchtigenden und -gefährdenden Inhalten natürlich auch an- dere Einschränkungen in der Verbreitung der Inhalte gibt, etwa durch das Strafge- SOZIAL- ADÄQUANZ 3.3 setzbuch und viele weitere Gesetze und Regelungen (←).

Jugendmedienschutz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe Während die gesetzlichen Regelungen sicherstellen sollen, dass Eltern klare und ver- lässliche Angaben über die mögliche Entwicklungsbeeinträchtigung der Kinder durch die Spiele hinsichtlich der Inhalte bekommen, und dass die Anbieter ihre Angebote entsprechend beschränken, geht der Jugendmedienschutz als gesamtgesellschaft- liche Aufgabe darüber hinaus: Die Medienpädagogik soll mit einer ressourcenorien- tierten Förderung Kinder und Jugendliche zu einem verantwortungsvollen, kritischen und selbstregulierten Medienkonsum befähigen. Die Anbieter sollen die technische und informative Infrastruktur vorhalten, und Eltern sollen den Medienkonsum ihrer Kinder erziehend begleiten und dabei auch Möglichkeiten des technischen Jugend- schutzes nutzen. Alle aktuellen Spielekonsolen (sowohl die stationären als auch die mobilen) und die Betriebssysteme der Computer und Smartphones verfügen über umfangrei- che Jugendschutzeinstellungen. Das heißt, es besteht für Eltern die Möglichkeit, ein- zustellen, welche Inhalte auf den Geräten verfügbar und welche gesperrt sein sollen. Sowohl die Hardwarehersteller als auch die Spieleentwickler informieren ausführlich über die Möglichkeiten der Jugendschutzeinstellungen in ihren Elternratgebern. Auch die Entwicklung und Verbreitung von Jugendschutzsoftware (Jugendschutzprogram- me gemäß § 11 JMStV), die die Eltern auf den Geräten installieren können, mit denen ihre Kinder ins Internet gehen, ist Aufgabe der Industrie. Mit diesen Programmen kön- nen entwicklungsbeeinträchtigende und -gefährdende sowie unzulässige Inhalte – auch aus dem Ausland – herausgefiltert werden. Und schließlich herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass mit pädagogi- schen Maßnahmen, vor allem mit einer ressourcenorientierten Förderung, Kinder und Jugendliche am ehesten dazu befähigt werden, Medien angemessen zu nutzen. Hier gibt es eine Vielzahl von Initiativen von staatlichen und privaten Institutionen.

Jugendmedienschutz im internationalen Kontext Ein wesentlicher Teil der digitalen Spiele wird heute nicht mehr auf einem Datenträ- ger vertrieben, sondern für einen globalen Markt entwickelt und dann online über ent- sprechende Downloadplattformen wie beispielsweise den Google Play Store welt- weit vertrieben. Da die Jugendschutzbewertungen regional unterschiedlich sind und

200 —— 201 Entwickler und Publisher je nach Land daher mit unterschiedlichen Altersfreigaben zu tun haben, haben sich verschiedene internationale Altersfreigabe-Institutionen zu der International Age Rating Coalition (IARC) zusammengetan. Das von diesen Instituti- 5.5 onen – unter anderem der USK – entwickelte IARC-System erlaubt es, anhand eines Fragebogens ein Spiel einmal zu erfassen und dann länderspezifische Altersfreiga- ben auszuspielen. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie der technische Jugendmedi- enschutz von Seiten der Anbieter an die sich veränderten technischen Möglichkeiten und das veränderte Nutzungsverhalten angepasst wird. Die disruptiven Entwicklun- gen in der digitalen Welt sind hier in aller Regel viel schneller als der Gesetzgeber mit seinem regulatorischen Rahmen.

Literatur ✕ Friedrichs, Henrike; Junge, Thorsten; Sander, Uwe (Hrsg.): Jugend­medienschutz in Deutschland. Springer VS, Wiesbaden 2013

DEBATTEN 5.6 DIVERSITÄT NINA KIEL

Diversität in der Gameskultur ist ein Thema, dem insbesondere in den letzten zehn Jahren vermehrt Aufmerksamkeit zuteil geworden ist und das im Hinblick auf die Pro- duktions-, Rezeptions- sowie Darstellungsebene diskutiert wird. Der nachfolgende Beitrag bietet einen Überblick über die wichtigsten Forschungsergebnisse, Diskurse und Argumente in diesem Kontext. Der Begriff Diversität bezeichnet die Unterscheidung und Anerkennung von Merkmalen, die Individuen und Gruppen auszeichnen – hierzu gehören insbesonde- re das Geschlecht, die sexuelle Identität bzw. Orientierung, die ethnische Zugehörig- keit, Behinderungen, Alter und Religion.

Geschlecht Im Kontext digitaler Spiele lag der Blickpunkt bislang primär auf dem Aspekt der Ge- schlechtervielfalt. Bereits in den 1990er Jahren fand in akademischen Kreisen eine Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich statt; seit Beginn des vergangenen Jahrzehnts auch zunehmend in einer medialen Öffentlichkeit, die über die Spielekultur hinausreicht. Weiblichkeit steht seither im Zentrum dieses Diskurses, das im Vergleich bedeutend vielfältigere Männlichkeitsbild jedoch neuerdings ebenfalls auch dem Prüf- stand. Entgegen verbreiteter Aussagen ließ sich die Darstellung auch von Frauen in di- gitalen Spielen zu keinem Zeitpunkt nur auf die Schlagworte »sexualisiert« und »hilf- los« herunterbrechen, komplexe Rollenvorbilder waren bereits in den 1980er Jahren im Medium zu finden. Auffällig‌ ist aber, dass diese beiden Aspekte im späteren Verlauf des Jahrzehnts und bis in die frühen 2000er Jahre – sowohl in den Spielen selbst als auch in Werbeanzeigen dieser Zeit – zunehmend betont wurden und die Anzahl spiel- barer weiblicher Charaktere zunächst zurückging. Zurückzuführen ist dies maßgeblich auf die Neuausrichtung der Branche nach dem sogenannten »Video Game Crash« von 1983, der den Zusammenbruch eines übersättigten und von qualitativ minderwertigen GESCHICHTE 1.4 Produkten geprägten Spielemarkts markierte (←). Während bis zu diesem Zeitpunkt keine klar eingegrenzte Zielgruppe für digitale Spiele existierte und man diese vielfach

202 —— 203 als Unterhaltung für die ganze Familie beworben hatte, wurde diese zu Marketingzwe- cken nun klarer ausdefiniert und nahm in erster Linie männliche Spieler und Jugend- liche in den Fokus, da diese laut ersten Marktforschungsergebnissen die Mehrheit in 5.6 der Konsumgruppe bildeten. Spielinhalte sowie Werbeanzeigen wurden anschließend inhaltlich an die mutmaßlichen Vorlieben dieser Zielgruppe angepasst, eine Unterre- präsentation von Frauen und ein enger gefasstes Rollenbild mit starkem Fokus auf Fra- gilität und Erotik waren die Folge. In jüngster Vergangenheit hat sich die Darstellung weiblicher Spielfiguren wieder zunehmend ausdifferenziert, insbesondere erotische Reize treten weiter in den Hintergrund, komplexe Rollen und Persönlichkeiten in den Vordergrund. Mit dieser quantitativen und qualitativen Entwicklung geht jedoch kei- ne erhöhte Präsenz von Frauen in führenden Rollen einher: Analysen zeigen vielmehr einen deutlichen Trend hin zur Wählbarkeit des Geschlechts von Avataren, die entwe- der vordefiniert oder im Rahmen von Charakter-Editoren frei modifizierbar sind. Einer Untersuchung der Non-Profit-Organisation Feminist Frequency zufolge lag die Quo- te weiblicher Hauptfiguren in Spielen, die 2019 auf der bedeutenden Computerspiele- messe Electronic Entertainment Expo () vorgestellt wurden, bei unter zehn Prozent. Auch die Anzahl männlicher Protagonisten hat sich verringert, sie fällt jedoch nach wie vor deutlich höher aus als die weiblicher Helden. Avatare, die sich außerhalb des bi- nären Geschlechtersystems bewegen, sind eine Seltenheit, insbesondere bei Spielen mit hohem Entwicklungsbudget; als transgender dargestellte Figuren sind zunehmend präsent, aber ebenfalls in geringer Zahl und vorwiegend in Nebenrollen anzutreffen. Auch in der Spielebranche sind Frauen deutlich unterrepräsentiert, wie inter­ nationale Studien verdeutlichen. Die seit Jahren sehr hohe Präsenz von Frauen auf der Konsumebene – fast 50 Prozent der Spielenden sind weiblich und es spielen mehr er- wachsene Frauen als Jungen unter 18 Jahren – wird im Bereich der Produktion nicht gespiegelt; sie machen dort etwa ein Viertel der Angestellten aus. In den unterschied- lichen Bereichen der Spieleentwicklung ist diese Quote zum Teil deutlich niedriger, insbesondere in stark informationstechnischen Berufszweigen wie Programmierung AUSBILDUNG & oder Engine-Entwicklung (→). Erhebungen aus Deutschland zeigen, dass in den Ge- 6.3 ARBEITSMARKT schäftsführungen und unter den CEOs der 50 größten deutschen Spielefirmen nur wenige Frauen vertreten sind. In anderen Positionen sowie traditionell männlich do- minierten Berufszweigen zeichnet sich seit Jahren ein – wenngleich langsamer – Zu- wachs ab. Zudem interessieren sich Frauen zunehmend für Bildungsangebote insbe- sondere an Universitäten, die Studierende gezielt auf Karrieren in der Spieleindustrie vorbereiten.

LGBTQI Trotz Schnittmengen zum Geschlechterdiskurs, wird die Repräsentation der LGBTQI- Community (Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer, Intersex) in der Regel gesondert betrach- tet. Während queere (dt.: »seltsam, komisch«, ein ursprünglich abwertender Begriff, der als Selbstbezeichnung von der Community angeeignet und positiv besetzt wurde) Figuren bereits früh in der Geschichte der digitalen Spiele auftraten – mit Birdo aus Super Mario Bros. 2 (1988) und Poison aus Final Fight (1989) etwa wurden zwei bis heute

DEBATTEN bekannte Transgender-Charaktere eingeführt – fiel ihre Darstellung durchweg stereo- typ aus: So zeichneten sich homosexuelle Männer durch effeminiertes, konkret: kli- 5.6 scheehaft weibliches Gebaren und sexuelle Aufdringlichkeit aus, während homose- xuelle Frauen entweder als erotische Reize im Stile konventioneller Pornografie oder als überzeichnet maskulin, unattraktiv und gleichsam übergriffig dargestellt wurden. Diese und andere Gruppen, die der LGBTQI-Community zuzuordnen sind, traten zu- dem fast ausnahmslos als Antagonisten auf, die in ihrer Queerness einen Kontrast zu den zumeist heterosexuellen und als klar als männlich oder weiblich identifizierbaren Heldenfiguren bilden sollten. Der Bruch mit dieser Darstellungstradition erfolgte spät: Erst ab 2012 wurde dem Thema Aufmerksamkeit in der breiteren Öffentlichkeit zu- teil. Von der LGBTQI-Community entwickelte Spiele mit differenzierteren Selbstbil- dern erreichten nun ein größeres Publikum, erste Konferenzen widmeten sich speziell diesem Thema, und es wurde der Grundstein für die Queer Game Studies gelegt, ei- GAME STUDIES 1.2 ner Unterdisziplin der Game Studies (←), die sich schwerpunktmäßig nicht nur mit der Darstellung der LGBTQI-Community in Spielen, sondern auch mit den Arbeits- und Lebensumständen von Entwicklern sowie queeren Lesarten von Games befasst. Seit einigen Jahren sind queere Beziehungen punktuell auch im Spiele-Mainstream zu fin- den, etwa in Die Sims (seit 2000), Dragon Age (2009—2014) oder Life is Strange (2015), und un- abhängig produzierte Spiele kleiner Unternehmen tragen mit zum Teil großem finan- ziellen Erfolg zu einer vielseitigen Repräsentation von Queerness bei. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Industrie wider: In Großbritan- nien etwa identifizieren sich laut Umfragen bis zu 21 Prozent der Beschäftigten als LGBTQI und damit weit mehr Menschen als in der Gesamtbevölkerung (drei bis sie- ben Prozent). Weltweit hat zwischen 2014 und 2019 laut Erhebungen der Internatio- nal Game Developers Association (IGDA) der Anteil sich als heterosexuell identifizie- render Menschen ab- und der bi- sowie homosexueller zugenommen. Angehörige der LGBTQI-Community sehen sich jedoch, ebenso wie Frauen, im professionellen wie privaten Raum überdurchschnittlich oft Diskriminierung ausgesetzt. Ferner arbei- ten unabhängige, queere Entwickler besonders häufig unter prekären Bedingungen, da es ihnen – nicht zuletzt wegen dieser Diskriminierungen, auch im engeren Fami- lienkreis – oft an sozialen und finanziellen Auf‌fangnetzen fehlt. Auch die abwerten- de Darstellung von LGBTQI-Menschen in Spielen ist nach wie vor ein Thema, das auf der Rezeptions- wie Produktionsebene kritisch reflektiert wird.

Ethnische Vielfalt Angehörige ethnischer Minderheiten machen einen nicht unwesentlichen Teil der Spielerschaft aus. In den USA, dem zweitgrößten Spielemarkt der Welt, stellen sie so- gar die Mehrheit unter den Konsumierenden, spielen länger als weiße Menschen und identifizieren sich häufiger als Gamerinnen und Gamer. Dennoch sind sie in Spielen und der Industrie stark unterrepräsentiert: Laut IGDA gaben 2019 26 Prozent der Be- fragten aus der Spieleindustrie an, People of Color, ein aus dem anglo-amerikanischen Raum stammender Begriff, der Menschen bezeichnet, die in der Mehrheitsgesellschaft als nicht-weiß angesehen werden, zu sein, nur insgesamt zwei Prozent identifizierten

204 —— 205 sich als schwarz, afrikanisch, afroamerikanisch oder afrokaribisch. Anders, als bei der Präsenz von Frauen oder queeren Menschen in der Industrie, haben sich diese Antei- le in den vergangenen 15 Jahren nicht signifikant verändert. 5.6 Die Repräsentation ethnischer Minderheiten in Spielen unterliegt indes einer Entwicklung, die sich sowohl quantitativ als auch qualitativ bemerkbar macht, aller- dings betrifft dies vor allem sekundäre Rollen. AlsAvatare werden People of Color wei- terhin vornehmlich in Sportspielen angeboten, zudem bekleiden sie häufig Hauptrol- len in Gangster-Geschichten. Charakter-Editoren, die es Spielenden ermöglichen, das Geschlecht ihrer Figur zu bestimmen und diese auch darüber hinaus nach ihren Wün- schen zu gestalten, bieten in der Regel vergleichsweise wenige Optionen für ethnische Minderheiten und insbesondere afrikanische oder afroamerikanische Menschen. Die- se Form von Repräsentation auf der rein visuellen Ebene wird jedoch auch ungeach- tet dieser Limitierungen vermehrt kritisiert. Identität, so der häufigste Einwand, sei ein komplexes und facettenreiches Konstrukt, das sich nicht auf die Farbe der Haut oder die Beschaffenheit des Haares reduzieren ließe. Jene Kritikerinnen und Kritiker fordern die Darstellung von ausdefinierten Haupt- und Nebenfiguren in Spielen, bei deren -Ge staltung auch andere Aspekte berücksichtigt werden, die Ethnien auszeichnen – etwa Gestik, Sprachmuster oder unterschiedliche Stilvorlieben.

Behinderungen Eine untergeordnete Rolle spielt im Vergleich zu den oben genannten kritischen Dis- kursen derzeit noch die Auseinandersetzung mit der Repräsentation von Menschen mit Behinderungen. Obschon fast 30 Prozent der Angestellten in der Spielebranche angeben, eine Behinderung zu haben – psychische Beeinträchtigungen treten dabei als geläufigste Form auf – schlägt sich dies in geringem Maße auf die entwickelten Produkte nieder. Mit Abstand am häufigsten sind Darstellungen von Behinderungen in Horrorspielen zu finden, wo sie jedoch primär klischeehaft und vereinfacht und zur Er- zeugung von Angst eingesetzt werden; so sind etwa verlassene und heruntergekom- mene Therapieeinrichtungen ein häufiges Motiv in diesen Spielen, in denen psychisch kranke Menschen als Hindernisse oder Gegner auftreten. Identifikationsfiguren hin- gegen wurden bislang kaum und überwiegend in Nebenrollen angeboten, spielbare Charaktere mit Behinderungen sind das Ergebnis einer noch jungen Entwicklung, die punktuell komplexere Darstellungen von körperlichen (The Unstoppables (2015)) wie kognitiven (Hellblade: Senua’s Sacrifice (2017), Celeste (2018)) Beeinträchtigungen her- vorbringt. Mehr Aufmerksamkeit wird stattdessen der Frage zuteil, wie man digitale Spie- le für Menschen mit Behinderungen zugänglicher gestalten kann (→). Organisationen 5.7 INKLUSION wie die Able Gamers Charity vertreten die Belange dieser Zielgruppe im öffentlichen Raum und Entwicklerinnen und Entwickler, die ihre Spiele inklusiver gestalten möch- ten, können mittlerweile auf umfangreiche Ratgeber zugreifen, die eine große Band- breite von Maßnahmen auflisten.‌ Auch große Firmen reagieren mittlerweile durch die Produktion spezieller Eingabegeräte für Menschen mit Behinderung auf die steigen- de Nachfrage.

DEBATTEN Fazit Diversität ist ein Thema, das nicht nur zunehmende Aufmerksamkeit, sondern auch 5.6 Akzeptanz erfährt. Wie Befragungen zeigen, wird das Thema von mehr als 50 Prozent der Konsumierenden und bis zu 80 Prozent der Entwicklerinnen und Entwickler als wichtig eingestuft, und diese Zustimmung ist in den vergangenen Jahren kontinuier- lich gestiegen. Doch trotz dieser Entwicklung wirken in der Spielekultur nach wie vor Ausgrenzungsprozesse, die Angehörigen marginalisierter Gruppen den Zugang zum Medium erschweren. So machen sie etwa weit häufiger Erfahrungen mit Hassrede als weiße männliche Gamer und sehen sich seltener in Spielen repräsentiert. Dabei bringt positive Repräsentation, wie die Forschung zeigt, zahlreiche begrüßenswerte Effekte mit sich: Menschen, die sich regelmäßig in Medienprodukten wiederfinden, nehmen sich mit größerer Wahrscheinlichkeit als normaler und akzeptierter Teil der Gesellschaft wahr. Differenzierte Darstellungen können zudem dazu beitragen, beste- hende Vorurteile und Ressentiments gegenüber marginalisierten Gruppen abzubauen. Gaming ermöglicht darüber hinaus einen spielerischen Zugang zu Technolo- gie und kann so Diversität in der Spielebranche sowie anderen MINT-Berufen lang- fristig fördern, sofern unterrepräsentierte Personengruppen durch das Medium aktiv angesprochen und eingebunden werden. Die Diversifizierung in der Industrie bringt zudem potenziell ökonomische Vorteile mit sich, denn Studien legen nahe, dass viel- fältige Teams kreativer und innovativer arbeiten. Nicht ausgeschöpftes Potenzial fin- det sich aber vor allem im Spielemarkt selbst, der große und mitunter zahlungskräfti- ge Teile der Spielerschaft weiterhin nur eingeschränkt als Konsumierende adressiert. Dies lässt sich maßgeblich auf den Faktor der Risikoaversion zurückführen, der beson- ders in Projekten mit großen Budgets eine bedeutende Rolle spielt. Dass die bisheri- ge Kernzielgruppe einer Diversifizierung von Spielinhalten ablehnend gegenübersteht und sich dies auch in ihrem Konsumverhalten widerspiegelt, konnte Nina Kiel ist freischaffende jedoch bislang nicht bestätigt werden. Vielmehr legen entsprechen- Spielejournalistin, -forscherin de Untersuchungen nahe, dass Inklusion womöglich verkaufsfördernd und -entwicklerin. ist: So gaben etwa in einer von dem Publisher Electronic Arts durch- geführten Befragung aus dem Jahr 2019 45 Prozent der Teilnehmenden an, dass sie ein Spiel eher spielen würden, wenn es inklusive Features oder Inhalte – Charakter- editoren mit Optionen für weibliche und ethnisch diverse Figuren, vielfältige und aus verschiedenen Perspektiven erzählte Geschichten, Barrierefreiheit – aufweisen soll- te; lediglich sieben Prozent der Befragten antworteten, dass sie in diesem Fall weni- ger interessiert an einem Produkt wären. Ein weiteres Argument schließlich, ist die weltweite Anerkennung digitaler Spiele als Kulturgut. Aufgrund dieses Status werden Maßstäbe an das Medium ange- legt, die auch für andere Kunst- und Kulturprodukte gelten. Dazu zählt eine facetten- reiche Darstellung der vielfältigen Menschen, die diese Produkte konsumieren. Auch in Deutschland ist die Relevanz dieses Themas mittlerweile anerkannt, wie die vorlie- gende Publikation und der 2019 im Rahmen der Initiative »Hier spielt Vielfalt« veröf- fentlichte »Diversity Guide« des game-Verband verdeutlichen. ↳

206 —— 207 5.6

Literatur ✕ game – Verband der deutschen Games-Branche e.V.: ­ Diversity Guide, Berlin 2019: game.de/guides/diversity-guide ✕ Kiel, Nina: Gender in Games – Geschlechtsspezifische ­ Rollenbilder in zeitgenössischen Action-Adventures. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2014 ✕ Malkowski, Jennifer; Russworm, TreaAndrea M. (Hrsg.): Gaming Representation: Race, Gender, and Sexuality in Video Games. Indiana University Press, Indiana 2017 ✕ Kiel, Nina: Mehr als nur Lara Croft – das Geschlecht in Computer­spielen. In: Politik & Kultur – Zeitung des Deutschen Kulturrates. 5/2017, S. 23: kulturrat.de/wp-content/uploads/2017/08/puk05-17.pdf

DEBATTEN 5.7 INKLUSION MELANIE EILERT

In Deutschland leben fast 83 Millionen Menschen. Viele dieser Menschen, nämlich fast die Hälfte, spielen Computerspiele. Es ist nicht mehr von der Hand zu weisen, dass Computerspiele einen großen Teil der modernen Popkultur ausmachen. Für viele ist es selbstverständlich, sich am Ende des Tages vor den Computer oder die Konsole zu set- zen und den Tag mit einem Spiel ausklingen zu lassen. Auch unterwegs, zum Beispiel auf dem Weg zur Schule oder Arbeit, spielen viele Menschen auf ihren mobilen Gerä- ten. Doch nicht jeder Mensch kann einfach so spielen. Eine statistische Größe, die im Allgemeinen nicht so bekannt ist, besagt, dass knapp zehn Prozent der in Deutschland gemeldeten Personen mit einer amtlich nachgewiesenen Schwerbehinderung leben. Das ist also fast jede zehnte Person. Doch hierbei handelt es sich nur um die amtlich nachgewiesenen Schwerbehinderungen, die »Dunkelziffer« wird höher liegen. So be- fragte eine vom US-amerikanischen Entwicklerstudio PopCap Games in Auftrag gege- bene Studie 13.000 spielende Menschen, ob sie sich als behindert identifizieren wür- den. Dies bestätigten 20,5 Prozent der Teilnehmenden. Daher liegt es nahe, dass es Überschneidungen zwischen Spielenden und behinderten Menschen gibt. Die Teilhabe an der Gameskultur ist gerade für behinderte Menschen wertvoll, denn kulturelle Teilhabe im Allgemeinen ist für viele behinderte Menschen mit Proble- men verbunden. Um hierfür nur wenige Beispiele zu nennen: Konzerte finden in Loka- litäten statt, die mit einem Rollstuhl nicht zugänglich sind. Der öffentliche Nahverkehr ist nicht entsprechend ausgebaut und es müssen Umwege herausgesucht werden, die über Rampen oder Aufzüge erreichbar sind. Chronische Erschöpfung kann es unmög- lich machen, die Wohnung für einen Theater oder Museumsbesuch zu verlassen. Mu- seen verfügen nicht über ausreichend taktile Beschriftungen für blinde Menschen oder Theater bieten keine Übersetzung in Gebärdensprache an. Computerspiele hingegen finden in den eigenen vier Wänden statt und ermöglichen so die Teilhabe an (Pop-) Kultur in der gewohnten und zumeist gut angepassten Umgebung. Des Weiteren kön- nen Computerspiele eine gute Ablenkung sein und so z. B. Menschen mit chronischen Schmerzen beim Schmerzmanagement helfen. Diese Ablenkung entsteht zum Bei-

208 —— 209 spiel durch die Möglichkeit, in verschiedene Rollen zu schlüpfen oder wilde Abenteu- er in fantastischen Welten zu erleben. Von Fußball spielen über Drachen jagen bis hin zu einem Spaziergang im Weltall ist für die Spielenden prinzipiell alles möglich. Online 5.7 Computerspiele zu spielen, kann auch die soziale Interaktion erleichtern, da zum ei- nen die zuvor schon genannten Umweltbarrieren entfallen und zum anderen durch die mögliche Anonymität auf beiden Seiten Berührungsängste abgebaut werden können. Die Teilhabe für behinderte Spielende in Computerspielen zu erreichen, ist jedoch nicht immer leicht und wird mitunter auch heiß in der Gaming-Community diskutiert. Einige behinderte Spielende benötigen Optionen im Spiel oder angepass- te Eingabegeräte, um in der Gameskultur teilhaben zu können, denn Computerspie- le leben davon, die Spielenden vor Aufgaben zu stellen, welche sie im Spielverlauf lösen müssen. Doch was ist, wenn die Aufgaben zum Beispiel aufgrund motorischer Beeinträchtigung nicht erfüllt werden können? Ein häufig eingesetztes Mittel, um zu verdeutlichen, dass die Spielfigur sich gerade anstrengen muss, etwa weil sie ei- nen schweren Holzbalken anhebt, ist beispielsweise das sogenannte »Button-Mas- hing«, das wiederholte schnelle Drücken eines Knopfes. Für Spielende mit Behinde- rung kann dies schnell zu Überanstrengung und/oder Schmerzen führen. Eine Option, die das Button-Mashing auf ein kurzes Halten des Knopfes ändert, kann den Unter- schied machen, ob dieses Spiel das nächste Lieblingsspiel wird oder überhaupt nicht genossen werden kann. Auch problematisch ist oft, mehrere Tasten auf einmal ge- drückt zu halten, zum Beispiel beim gleichzeitigen Zielen und Schießen wie es etwa in einem Ego-Shooter der Fall ist. Hier kann eine Einrastfunktion, die per einmaligem, kurzen Drücken zwischen »Zielen« und »nicht Zielen« hin- und herschaltet, helfen. Recht häufig finden sich in Computerspielen Optionen, um Farbfehlsichtigkei- ten auszugleichen. Farbfehlsichtigkeit kann zum Beispiel in Computerspielen, wo meh- rere Spielende in Teams gegeneinander spielen, problematisch werden. Oft werden die Charaktere der verschiedenen Teams durch farbliche Markierungen unterschie- den, doch für manche Personen kann es aufgrund ihrer Farbfehlsichtigkeit sehr schwer sein, diese Farben zu unterscheiden und so wissen sie dann nicht, wer Melanie Eilert ist (Gaming-) zum Team gehört und wer Feind ist. Ein voreingestellter Farbfilter als Inklusionsaktivistin. aktivierbare Hilfe bei Farbfehlsichtigkeit ist jedoch selten eine gute Lö- sung. Es gibt viele verschiedene Farbfehlsichtigkeiten und ein solcher Filter hilft nur bei einem geringen Teil davon. Die beste Hilfe ist eine individuelle Auswahl. Viele Compu- terspiele bieten daher die Möglichkeit, aus unterschiedlichen Farbschemata zu wäh- len oder sich eines individuell anzupassen. Daneben können auch Formen der Leseschwäche zu Problemen beim Spie- len führen. Bei der Gestaltung von Texten wird oft mehr auf eine schöne oder ausge- fallene Optik als auf Lesbarkeit geachtet. Spielende mit Leseschwächen können dann Schwierigkeiten haben, die Texte zu erfassen. Für diese Zielgruppe wurde eine spe- zielle Schriftart entwickelt, welche das Lesen erleichtern soll und von manchen Spie- len optional als Einstellung angeboten wird. Doch auch Leseschwächen sind sehr in- dividuell und so kann es sein, dass die spezielle Schriftart das Lesen sogar eher noch erschwert. Besser wäre, ein paar unterschiedliche Schriftarten zur Auswahl zu geben

DEBATTEN und bei der Gestaltung des Spiels direkt darauf zu achten, dass keine Animationen des Textes oder ein niedriger Kontrast zum Hintergrund die Lesbarkeit negativ beeinflus- 5.7 sen. Auch einige blinde oder sehbehinderte Menschen spielen Computerspiele. Für sehbehinderte Spielende können starke Kontraste hilfreich sein, damit sich wichtige Objekte besser vom Hintergrund abheben. Große Schriften und große Elemente sind ebenso wichtig. Für blinde Spielende ist es wichtig, dass es eine Vorlesefunktion für die Menüs und das Inventar gibt. Außerdem benötigen sie Audioausgaben zur Orien- tierung. So sollte zum Beispiel hörbar sein, aus welcher Richtung die eigene Spielfigur von einem anderen Charakter angesprochen wird oder das Spiel sollte über Töne sig- nalisieren, ob ein Schuss trifft oder daneben geht. Wichtig, aber noch wenig in Com- puterspielen umgesetzt, ist auch Audiodeskription für filmische Zwischensequenzen. Wenn in einer solchen Sequenz zum Beispiel gerade nur Explosionen zu hören sind, ohne dass sprachlich das Geschehen wiedergegeben wird, können blinde Spielende nicht wissen, was gerade passiert und es im besten Fall nur erahnen. Fast schon zum Standard in Computerspielen gehören hingegen Untertitel. Untertitel ermöglichen es schwerhörigen oder gehörlosen Spielenden, das Spielge- schehen besser zu verfolgen. Doch obwohl fast jedes Spiel mittlerweile über Unter- titel verfügt, gibt es noch einige Hürden. Manchmal sind die Untertitel sehr klein ge- schrieben oder heben sich schlecht vom Hintergrund ab. Es kommt auch vor, dass bei den Texten nicht dazu geschrieben wird, welcher Charakter gerade spricht, so- dass die Spielenden dies dann nicht zuordnen können. Zusätzlich zu Untertiteln ist auch wichtig, dass visuell auf Geräusche aufmerksam gemacht wird, die eine Hand- lung erfordern. Wenn beispielsweise ein Telefon im Raum klingelt und von den Spie- lenden abgehoben werden soll, um mit dem Spiel fortfahren zu können, muss darauf auch mit einem sichtbaren Hinweis aufmerksam gemacht werden. Häufig wird in der Gaming-Community darüber diskutiert, ob Optionen, die das ein oder andere Hindernis im Spiel verändern, nicht das Spielerlebnis im Gesamten verändern oder von der Vorstellung der Entwickelnden abweichen. Es gibt regelmäßig, insbesondere dann, wenn Spiele des sogenannten »Souls-Like«-Genres – basierend auf dem Spiel Demon’s Souls (2009) – erscheinen, heftige Diskussionen über Schwie- rigkeitsgrade. Spiele dieses Genres zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Spielen- den ein hohes Maß an Können und Durchhaltevermögen abverlangen. Für behinderte Spielende jedoch kann es aus verschiedenen Gründen unmöglich werden, das erfor- derte Können zu erreichen. Manche Behinderungen verlangsamen die Reaktionsfä- higkeit oder es ist einer Person nicht möglich, innerhalb eines knappen Zeitfensters eine bestimmte Abfolge an Knöpfen zu betätigen. Auch in solchen Fällen können Op- tionen helfen, das Spielerlebnis so anzupassen, dass aus der zu großen Hürde die ge- wünschte Herausforderung entsteht und die Spielenden mit Behinderung nicht mehr vor einer unüberwindbaren Überforderung stehen. COMMUNITYS 4.1 Einige Spielende ohne Behinderung, die sich in Foren und Social Media (←) lautstark an Diskussionen zu obigem Thema beteiligen, sehen diesen Effekt jedoch nicht. Für sie sind solche Optionen ein Eingriff in das Wesen dieser Spiele. In den Dis- kussionen könnte fast der Eindruck entstehen, es solle ihnen persönlich der Spaß am

210 —— 211 geliebten Spiel genommen werden; ganz so, als wäre die eigene Ehre davon abhän- gig, auf welche Weise andere Spielende das Spiel gespielt haben. Häufig fällt dann von ihnen der Satz: »Wenn du das Spiel so nicht spielen kannst, dann ist es eben nicht 5.7 für dich.« Mit einer solchen Haltung werden Spielende mit Behinderung aus der Ga- meskultur ferngehalten. Das ist nicht nur verletzend, sondern im höchsten Maße ex- kludierend – genauso wie die fehlgeleitete Annahme, die ganzen eben genannten Optionen seien unnötig, weil es doch »auf YouTube diese eine behinderte, spielen- de Person gibt, die das schwere Spiel trotz allem mit einer Hand geschafft hat«. Kei- ne Behinderung ist wie die Andere und was für die eine Person funktioniert, kann für die andere immer noch problematisch sein. Dass es viele Bestrebungen gibt, die Inklusion von Spielenden mit Behinde- rung in die Gameskultur zu fördern, zeigt sich an anderen Beispielen. Mehr und mehr Spiele bieten eine Vielzahl an Optionen an, die es den Spielenden erlauben, das je- weilige Spiel so anzupassen, dass sie es wie gewünscht genießen können. Auch die Konsolenhersteller machen sich immer mehr Gedanken. Es werden im Betriebssys- tem verschiedene Hilfsmittel eingebaut, die bei der Bedienung unterstützen können, z. B. durch eine virtuelle Bildschirmvergrößerung oder vorgelesene Menüpunkte, oder es werden sogar individuell anpassbare Controller entwickelt. Insbesondere die Ent- wicklung anpassbarer Controller durch die Konsolenhersteller selbst ist sehr wertvoll für die Sichtbarkeit behinderter Spielender und ihre Akzeptanz innerhalb der Com- munity. Spielende mit Behinderung sind weniger darauf angewiesen, sich selbst eine Individuallösung anzufertigen oder anfertigen zu lassen, sondern finden ihre Einga- begeräte in denselben Shops wie jede andere Person auch. Das wiederum führt dazu, dass Spielende ohne Behinderung diese Geräte sehen und somit behinderte Spielen- de als Teil der Gaming-Community wahrnehmen. Anpassbare Controller und Optionen in den Spielen können sich ergänzen. Für Spielende mit motorischen Behinderungen reicht es manchmal nicht aus, das Spiel SCHNITT- mit Optionen anzupassen, da sie einen Standardcontroller (→) nicht oder nur teilwei- 1.5 STELLEN se bedienen können. Durch anpassbare Controller haben sie die Möglichkeit, sich in- dividuell auf sie zugeschnittene Aufbauten aus verschiedenen, einzeln platzierbaren Knöpfen und Joysticks zusammenzustellen. Eine geschickte Kombination aus Opti- onen im Spiel und einer guten Zusammenstellung mit einem anpassbaren Controller, kann auch bei schweren Behinderungen die Teilhabe an der Gameskultur ermöglichen. Einen anderen Ansatz verfolgen Computerspiele, die gezielt für Spielende mit einer bestimmten Behinderung entwickelt werden. So gibt es z. B. Audiogames, wel- che sich insbesondere an blinde und sehbehinderte Spielende richten. Audiogames geben sämtliche Informationen, die wichtig sind, um das Spiel zu spielen, über Geräu- sche und Sprache aus. Auch Spielende, die nicht auf gute Audioausgaben zur Orientie- rung angewiesen sind, finden Gefallen an Audiogames und es finden so Kontakt und Austausch zwischen behinderten und nicht-behinderten Spielenden über dieses spe- zielle Genre statt. Optionen und anpassbare Controller sind ein sehr wichtiger Baustein zur Inklusion in der Gameskultur. Echte Inklusion ist jedoch erst dann gelungen, wenn sich Spielende mit Behinderung auch in den Spielen repräsentiert fühlen können (→). 5.6 DIVERSITÄT

DEBATTEN Die Repräsentation von Menschen mit Behinderung lässt in Computerspielen – wie auch in Büchern oder Filmen und Serien – sehr zu wünschen übrig. Sehr selten sind 5.7 behinderte Charaktere überhaupt Teil der Spielewelten, und wenn doch, werden die Charaktere auf Basis von Vorurteilen oder Mutmaßungen gezeichnet. So sind am häufigsten Charaktere mit Amputationen anzutreffen oder ­solche, die Aufgrund einer Querschnittslähmung im Rollstuhl sitzen. Dass es noch viele ande- re Behinderungen gibt, bleibt in den Computerspielwelten oft unsichtbar. Die meis- ten behinderten Charaktere haben gemeinsam, dass ihre Behinderung im Verlauf der Handlung geheilt wird. Meist passiert dies in einer schmerzhaften Operation oder durch einen quälenden magischen Eingriff. So wird vermittelt, dass eine Behinderung grundsätzlich etwas Schlechtes ist, das es, selbst unter sehr großen Schmerzen, aus der Welt zu schaffen gilt. Darüber hinaus werden Behinderungen oder Hilfsmittel be- hinderter Menschen auch gerne als Horror-Element genutzt. Auf einem düsteren, ver- lassenen Flur steht ein alter Rollstuhl herum, der plötzlich unter Quietschen ein paar Zentimeter nach vorne rollt. Wieder entsteht eine negative Verknüpfung zu Behin- derung. Diese oftmals schlechte Art, Charaktere mit Behinderung darzustellen, führt häufig zu Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung und kann so die Inklusion in der Gaming-Community ausbremsen. Unsicherheiten und Berührungsängste ge- genüber Menschen mit Behinderung werden verstärkt. Spielende mit Behinderung verdienen eine gute Repräsentation und das nicht nur, um sich mit einzelnen Charak- teren identifizieren zu können, sondern besonders, um Vorurteile abzubauen und In- klusion zu stärken. Der wohl wichtigste Baustein zur Inklusion ist, Menschen mit Behinderung in die Entwicklerteams zu holen. Behinderte Menschen sind Fachleute in eigener Sa- che. Als Teil eines diversen Teams von Entwickelnden können sie von Anfang an da- rauf schauen, wo unbeabsichtigte Barrieren entstehen können und ob die geplanten Optionen sinnvoll sind. Es ist zum Beispiel niemandem mit Optionen geholfen, wenn diese an der Zielgruppe vorbei entwickelt werden, daher sollten behinderte Spielen- de schon früh an Spieletests teilnehmen können. Gleiches gilt für die Repräsentati- on. Es sollten mehrere Menschen mit Behinderung die Darstellung von Charakteren mit Behinderung begutachten. Nur so können eine sensible und gute Repräsentation und somit gute Inklusion erreicht werden.

Literatur ✕ Blog der Autorin: meilert.net ✕ Can I Play That? bietet englischsprachige Spieltests mit Fokus auf Inklusion: caniplaythat.com ✕ Webseite der US-amerikanischen AbleGamers Foundation: ablegamers.org

212 —— 213 GAMIFICATION 5.8 FELIX RACZKOWSKI

Als Gamification bezeichnet man üblicherweise die Übertragung von Spielelementen auf außerspielerische Kontexte. Diese Übertragung hat das Ziel, Eigenschaften und Effekte des Spiels auf nichtspielerische Zusammenhänge anzuwenden und auf die- se Weise z. B. Motivation und Arbeitsmoral unter Beschäftigten zu steigern oder das Engagement von Lernenden in Bildungseinrichtungen oder von Kundinnen im Mar- keting zu vergrößern. Die Definition wirft eine Reihe von Fragen auf: Welche Spiel- elemente sind gemeint? Wer argumentiert für eine solche Nutzung von Spielen? In welchen Kontexten kommt Gamification zur Anwendung? Die folgende Einführung beantwortet die Fragen im Rahmen einer medienkulturwissenschaftlich-historischen Einordnung des Konzepts der Gamification. Der Begriff Gamification kommt um 2010 in der Bedeutung auf, die heute mit ihm assoziiert wird und findet schnell in der Unternehmensberatung und im Marketing Verbreitung. Dabei ist klar, dass die Spielelemente, von denen die Rede ist, aus digi- talen Spielen stammen. Digitale Spiele werden in den Debatten um Gamification als kommerziell wie kulturell erfolgreiche Erscheinungsformen des Spiels betrachtet, de- nen es im besten Fall offenkundig mühelos gelingt, die Aufmerksamkeit ihrer Spiele- rinnen über einen langen Zeitraum zu binden und sie zur engagier- Felix Raczkowski ist wissen- ten Auseinandersetzung mit dem System des Spiels zu bewegen. schaftlicher Mitarbeiter am Sie gelten also als strategische Lösungsansätze für Motivations- Lehrstuhl für Digitale & Audio- probleme und Aufmerksamkeitsdefizite, die sich, so die Hoffnung visuelle Medien an der Fach- der Befürworterinnen der Gamification, in nicht-spielerischen Zu- gruppe Medienwissenschaft sammenhängen eindämmen lassen, indem man diese spielerisch der Universität Bayreuth. gestaltet. Die dazu eingesetzten Spielelemente gehören häufig zu den Evaluations- und Belohnungssystemen der Spiele, es handelt sich also z. B. um Highscore-Listen, »Achievement«- und »Badge«-Belohnungen, virtuelle Abzeichen, mit denen Spielerinnen besondere Erfolge in einzelnen Spielen in ihren Online-Profi- len ausstellen können, oder Level- und Punktesysteme. Diese werden als vergleichs- weise einfach übertragbar wahrgenommen, da sie an verschiedene Anforderungen

DEBATTEN angepasst werden können und gewissermaßen als externe Motivationsebene zu be- stehenden Strukturen, z. B. des Unternehmens oder der Schule, hinzugefügt werden 5.8 können, ohne diese weitreichend verändern oder reformieren zu müssen. Zudem gibt es in Form von »Loyalty«-Programmen, z. B. »Frequent Flyer Miles« oder »Payback«- Punkte, erfolgreiche Vorläufer, auf die sich die Befürworterinnen von Gamification im Marketing berufen, obwohl diese Präzedenzfälle jeweils nicht als spielerische Innova- tionen eingeführt worden sind. Der Trend der Gamification bestätigt so zunächst die in der Computerspiel- wissenschaft und der Medienwissenschaft formulierte, kritische These, dass digitale Spiele untrennbar mit der Geschichte des Computers als militärischem Utensil und als Arbeitsgerät verbunden sind. Die Rolle des Computers als Werkzeug in militäri- schen und unternehmerischen Planspielen zur Berechnung der Spielzüge und ihrer Folgen sowie als Arbeitsgerät, das von seinen Nutzerinnen spezifische Anpassungen GESCHICHTE 1.4 erfordert, ist tatsächlich historisch gut dokumentiert (←). Die Spiele, die dann ab den 1970er Jahren mithilfe des Computers realisiert werden, stehen in der Tradition die- ser Anwendungen, die ihren Nutzerinnen strategisches Wissen vermitteln oder sie zur Arbeit anhalten und dabei kleinteilig ihre Performance bewerten. Es ist also kein Wun- der, dass auch heute noch viele digitale Spiele ihre Spielerinnen mit zahllosen Aufga- ben konfrontieren und die Erfüllung dieser Aufgaben evaluieren und mit Leveln, Punk- ten oder Trophäen belohnen. Sie sind damit in den Augen ihrer Kritikerinnen ohnehin bereits Arbeitsumgebungen (»ich muss nur noch diese Quest erfüllen«) und die Nut- zung der Spiele bzw. ihrer Elemente im Zuge der Gamification scheint folgerichtig. Der Trend zu verstärkt »arbeitsintensiven« Spielen ist auch als »Workification«, also die Übertragung von Arbeitsstrukturen in Spiele, bezeichnet worden, womit nicht nur dieses Designparadigma, sondern auch die Gamification ironisch kritisiert wird. Der Grund für die Konjunktur des Konzepts der Gamification besteht erstens in der Anziehungskraft, die das Kulturphänomen des Spiels schon immer ausgeübt SERIOUS GAMES 3.1 hat. Mit Vorhaben wie der Gamification oder sogenannten »Serious Games«( ←) geht der Wunsch einher, das unberechenbare, verschwenderische Moment des Spiels, das sich in Ritualen, wie etwa ausufernde Hochzeits- oder Abschlussfeiern mit ihren spe- zifischen Spielen, ebenso wie im Kinder- und Glücksspiel zeigt, produktiv zu machen, indem es etwa in unternehmerische Zusammenhänge eingebunden wird. Spielen ist GEWALT 2.6 dann nicht mehr ein sinn- und folgenloser Zeitvertreib, sondern zweckgerichtet und GEFÄHRLICHE nützlich. Zweitens ist mit dieser Perspektive auf digitale Spiele im engeren Sinne ins- MEDIEN 5.3 besondere in Deutschland die Entlastung eines verdächtigen Mediums verbunden, das KILLER- SPIELE 5.4 seit den 1990er Jahren in der Öffentlichkeit und der Politik mit Gewalttaten (←), so- zialer Vereinsamung oder Übergewicht bei Jugendlichen in Zusammenhang gebracht wird. Digitalen Spielen wurde bis weit in die 2000er Jahre hinein mit Skepsis begegnet, KULTUR- POLITIK 5.1 die auch lange Zeit einer institutionalisierten Anerkennung als Kulturgut (←) im Weg gestanden hat. Hier sind es, neben den regelmäßigen Verweisen auf die Umsatzzah- len der Computerspielindustrie als relevantem Zweig der Kulturwirtschaft (»mehr Um- MARKTDATEN 6.2 satz als Hollywood«) (←) , besonders die Hinweise, dass digitale Spiele ja auch »nütz- lich« sein können, die als willkommene Gegenargumente ins Feld geführt worden sind.

214 —— 215 Gamification wird allerdings nicht unkritisch aufgenommen. Es sind besondersGame Designerinnen und Wissenschaftlerinnen, die auf die verschiedenen Probleme hinwei- sen, die eine Übertragung von Spielelementen in außerspielerische Kontexte mit sich 5.8 bringt. Dort, wo es sich bei den Spielelementen um die oben bereits erwähnten Highs- core-Tabellen und Punktesysteme handelt, wird darauf hingewiesen, dass externe Mo- tivationssysteme die bestehenden Probleme in Institutionen nicht längerfristig lösen können und von manchen Beraterinnen mit Gamification ein universeller Lösungsan- satz mit fragwürdiger Wirksamkeit verkauft wird. Das kann zur Folge haben, dass die Einführung eines schlichten Punktesystems als schnelle Lösung für tiefgreifende Pro- bleme favorisiert wird. Die Anwendung von Gamification als »Pointsification«, wie die- se Strategie kritisch überspitzt bezeichnet wird, lässt zudem erkennen, dass eine rein auf extrinsische Motivationsangebote abzielende Nutzung von Spielelementen keine innovative Neuerung spielaffiner Unternehmensberaterinnen ist, sondern ihrerseits in einem spezifischen historischen Kontext zu verorten ist. Wissensgeschichtlich lässt sich Gamification als neobehavioristisches Projekt betrachten, also als Maßnahme der Verhaltensmodifikation, die auf die Einbindung externer Belohnungssysteme zielt und deren Effizienz anhand der Auswertung von Reiz/Reaktions-Dynamiken beurteilt. Der Neobehaviorismus und die punktbasierte Gamification positionieren ihre Subjek- te, also z. B. die Insassin einer psychiatrischen Klinik, die regelmäßig ihr Zimmer aufräu- men soll, oder die Angestellte in einem Unternehmen, die engagierter arbeiten soll, als »Black Boxes«, also als Systeme, deren innere Funktionsweise nicht direkt beobach- tet werden kann. Es müssen also Reize geschaffen und die Reaktion der Testsubjekte ausgewertet werden, um durch Anpassungen eine Motivationsumgebung zu schaf- fen, die zur Verhaltensänderung beiträgt. Ob dabei nun in einer psychiatrischen Kli- nik in Illinois in den 1960er Jahren Tokens in Form von münzähnlichen Metallscheiben für erwünschtes Verhalten ausgegeben werden, über die man sich z. B. Zugang zum Fernseher oder zu Zeitschriften erkaufen kann, oder ob in den 2010er Jahren filialwei- te Highscores die Beschäftigten der Restaurantkette Applebee’s zum effektiveren Ar- beiten anhalten sollen, macht fast keinen Unterschied mehr. Die einzige Differenz be- steht darin, dass digitale Technologien die Zuteilung und Auswertung der Tokens bzw. Punkte wesentlich vereinfachen und dass Gamification vielfach allein über die symbo- lische Belohnung funktionieren soll, die z. B. mit Trophäen, Achievements oder Highs- cores einhergeht. In diesem Zusammenhang kritisiert der Medienwissenschaftler und Game Designer Ian Bogost Gamification scharf als »Exploitationware« (zu Deutsch etwa: Ausbeutungsanwendung), die allein dazu konzipiert sei, ihre Subjekte bzw. Spie- lerinnen dazu zu bringen, gegen ihr eigenes Interesse zu handeln und z. B. unbezahl- te Überstunden zu machen. Gamification, die sich auf die Übertragung von Evaluati- ons- und Belohnungssystemen aus digitalen Spielen beschränkt, vermittelt überdies ein verzerrtes Bild von digitalen Spielen, deren erhebliche Vielfalt sie auf wenige Ele- mente reduziert. Viele andere Merkmale digitaler Spiele wie ihre spezifischen Erzähl- formen, ihre komplexen Systeme oder ihre eindrücklichen Atmosphären lassen sich nicht ohne weiteres wie Bausteine aus dem Zusammenhang lösen und übertragen und sie eignen sich darüber hinaus nicht zur Motivationssteigerung oder zur Evaluation.

DEBATTEN Diesen Einwänden zum Trotz gibt es eine stetig wachsende Zahl von Beratungsagen- turen und Ratgeberliteratur, die (digitale) Spiele und ihre Elemente als Lösung einer 5.8 Vielzahl von Problemen positioniert, zu denen nicht nur Herausforderungen in einzel- nen Institutionen, sondern bisweilen auch gesamtgesellschaftliche Reformen zählen. Eine Fluchtlinie der Gamification ist also die spielerische Utopie, in der ganze Gesell- schaften nach dem Vorbild von Spielen gestaltet sind und generationenübergreifende Herausforderungen wie Schieflagen‌ des Gesundheitssystems, Altenpflege oder Bil- dungsreformen wortwörtlich spielerisch bewältigt werden können. Die bekannteste Befürworterin dieser Anwendung von Spielen ist die Designerin Jane McGonigal,­ de- ren Buch »Reality is Broken. Why Games Make Us Better And How They Can Change The World« (2011) – zur deutschen Übersetzung siehe die Literaturempfehlungen am Ende des Beitrags – sehr starke Resonanz gefunden hat. McGonigal ist seit der Veröf- fentlichung des Buchs regelmäßig als Rednerin und Designerin aufgetreten, die dafür plädiert, Spiele zur gezielten Lösung gesellschaftlicher Probleme einzusetzen. Dafür ist dann jenseits der Übertragung von Punktesystemen eine großflächige und tiefgrei- fende Veränderung der Gesellschaft erforderlich, die sich laut McGonigal und ande- rer Befürworterinnen dieser utopischen Gamification durch die Verfügbarkeit digitaler Technologien und die Verbreitung digitaler Spiele in allen Schichten und Altersklas- sen beschleunigt. Konkrete Hinweise zu den Maßnahmen, mit denen eine solche ver- spielte »Reparatur« und Optimierung der Gesellschaft durchzuführen sei, bleiben da- bei aus – es geht mehr um die Selbstversicherung, dass Game Design und »Game Literacy«, also die Fähigkeiten, sowohl Spiele zu entwickeln als auch, sie »lesen« und analysieren zu können, in Zukunft relevante Kernkompetenzen werden. Diese utopi- schen Entwürfe können als Überkompensation des »verdächtigen« Mediums des di- gitalen Spiels eingeordnet werden – genau das, was lange Zeit für verschiedene Pro- bleme verantwortlich gemacht wurde, soll nun die Welt retten. Damit bleibt zu klären, ob es einen »Mittelweg« der Gamification gibt, der zwi- schen dem bisweilen dystopisch anmutenden »Hype« der Marketing- und Beratungs- agenturen, den Utopien von Game Designerinnen und der Kritik von Wissenschaftle- rinnen einen Kontext findet, in dem Spiele sich »nützlich« machen können. Der Nutzen digitaler Spiele ist vielfältig und nicht immer mit der gängigen Definition von Gamifica- tion zu erfassen, die zu Anfang des Textes vorgestellt wurde. Erstens ist das im Rahmen der Forderungen nach mehr Gaming Literacy häufig ausgeführte Argument stichhal- tig, dass zumindest gewisse Genres digitaler Spiele das Potenzial besitzen, über ihre Systeme und Spielregeln das kritische systemische Denken ihrer Spielerinnen zu schu- len. So sind Spiele denkbar, die etwa ähnlich funktionieren wie die Städtebausimulati- on SimCity (1989—2014) und z. B. die Herausforderungen der Verkehrswende nicht lösen, aber verschiedene Lösungsansätze und -perspektiven für die Spielerin erfahrbar ma- chen können. Zweitens ermöglichen digitale Spiele neben systemischem Erkenntnis- gewinn auch ästhetische Erfahrungen. Diese können im Rahmen spielerischer Selbst- verwirklichung zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung beitragen, sie können aber auch Empathie mit Personen (oder auch: Lebewesen) in unbekannten Lebenssituatio- nen fördern, in deren Rolle man während des Spiels schlüpft. Drittens werden digita-

216 —— 217 le Spiele schon seit mehr als zehn Jahren und abseits der hitzig geführten Debatte um Gamification in Bildungs- und Forschungskontexten zielgerichtet »zweckentfremdet« und von spielaffinen Lehrerinnen begleitend im Schulunterricht, z. B. Spiele mit detail- 5.8 lierten historischen Settings im Geschichtsunterricht, eingesetzt oder in der Forschung genutzt, um menschliches Gruppenverhalten oder Sozialdynamiken in verschiedens- ten Kontexten in Online-Spielen zu untersuchen. Die Nutzung digitaler Spiele und ihrer Elemente in außerspielerischen Kontex- ten, so bleibt festzuhalten, ist in Einzelfall-Entscheidungen von Expertinnen zu beur- teilen und zu begleiten. Sofern das zu lösende Problem oder das zu erreichende Ziel spielerisch adressiert werden kann, birgt die zielgerichtete und begrenzte Nutzung von Spielen und Spielstrukturen großes Potenzial, wie auch zukünftige Projekte wei- terhin unter Beweis stellen werden. Ein gesamtgesellschaftliches Allheilmittel für Pro- bleme sind digitale Spiele jedoch ebenso wenig, wie sie sich für oberflächliche Moti- vationsmaßnahmen eignen. Kein technisches Medium, auch nicht das digitale Spiel, hat je die Dystopien oder Utopien realisiert, die ihm zugeschrieben worden sind – es muss daher auch in der Frage der Gamification darum gehen, die noch junge Kultur- form des digitalen Spiels in einer Weise zu beurteilen und einzusetzen, die ihre Poten- ziale auch im Schatten der großen Ideen und Visionen kenntlich macht.

Literatur ✕ McGonigal, Jane: Besser als die Wirklichkeit! Warum wir von Computerspielen profitieren und wie sie die Welt ­ verändern. Wilhelm Heyne Verlag, München 2012 ✕ Raczkowski, Felix: Digitalisierung des Spiels. Games, Gami­fication, Serious Games. Kadmos Verlag, Berlin 2019 ✕ Walz, Steffen P.; Deterding, Sebastian (Hrsg.): The Gameful World. Approaches, Issues, Applications. MIT Press, Cambridge/Massachusetts 2015

DEBATTEN 6218 —— 219 WIRTSCHAFT

6.1 STRUKTUR, TRENDS & FORSCHUNG 221

6.2 MARKTDATEN 226 6.3 AUSBILDUNG & ARBEITSMARKT 230 6.4 TECHNOLOGIE & INNOVATION 236

6.5 INDEPENDENT GAMES 240

HANDBUCH GAMESKULTUR 6.1 STRUKTUR, TRENDS & FORSCHUNG JÖRG MÜLLER-LIETZKOW

Die Computer- und Videospielindustrie ist in den letzten 50 Jahren auf Basis sehr un- terschiedlicher Faktoren stetig und teilweise exponentiell gewachsen. Historisch ge- sehen wird vor allem die Gründung der Firma Atari 1972 mit Erscheinen des Arcade- Spiels Pong im selben Jahr als wirtschaftlicher Ursprung der Industrie gefeiert, auch wenn mit der Magnavox Odyssey schon 1971 ein Konsolen-System existierte. Ein um- fänglicher historischer Abriss würde den Rahmen sprengen, wohl aber haben sich in- nerhalb der Industrie über die Zeit sehr klare Rollen erst ausgeprägt, die dann aber im Zuge des Aufkommens von Onlinespielen und mobilen Spielformen auch teilwei- GESCHICHTE 1.4 se wieder erodiert sind (←).

Markt und Historie der Industrie (1970—2000) Die Anfänge der Industrie waren vor allem von eher kleinsten und kleinen Teams ge- prägt und die Anbieter von Spielen konzentrierten sich auf wenige Systeme, primär die Spielkonsolen. Erst mit dem Aufkommen der Heimcomputer in den späten 1970er bis Anfang der 1980er Jahre entwickelte sich auch ein Markt für Computerspiele. In diesen ersten 20 Jahren bis Ende der 1980er Jahre differenzierte sich die Industrie dabei insofern aus, als dass die meisten Anbieter von Computer- und Videospielen (Entwickler) sogenannte »Third Parties« waren, die entweder selbst oder über weite- re Distributionspartner (Publisher) den Vertrieb der Produkte im Handel organisierten. In den 1990er Jahren profitierten die Computerspiele insbesondere vom sich schnell entwickelnden Markt der Personal Computer (PC) und in Wechselwirkung trieben diese durch 3D-Spiele wie Ego-Shooter und durch Multiplayer-Spiele den Markt für die Hardwareentwicklung an. Ein typisches Beispiel sind alle Entwicklungen rund um das Thema Grafikkarten. Parallel veränderte sich der Markt fürKonsolen und neben Nintendo trat Sony als dominierender Anbieter mit der PlayStation. Nintendo hinge- gen prägte in dieser Zeit mit dem Game Boy und seinen Abwandlungen den Markt für mobiles Spielen. Gerade in den ersten gut 30 Jahren ihrer Existenz dominierten im sogenannten Triade-Konzept, die drei größten Wirtschaftsräume der Welt: Nord-

220 —— 221 amerika, Ostasien und Europa, die USA sowie Japan die Anbieterseite des ­Marktes. Dies hing im Kern sowohl mit technologischen Wissensvorsprüngen, aber auch stark aufblühenden Heimatmärkten zusammen. Aus Europa konnten nur vereinzelt Unter- 6.1 nehmen globale Erfolge verzeichnen, obschon die Märkte sich schnell entwickelt hatten. Die grundlegende Veränderung des Weltmarktes auf Anbieterseite ging vor allem mit der Geschäftsmodell-Revolution sowie dem starken Einfluss des Internets und der Plattformen inklusive mobiler Endgeräte einher. Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre sind Unternehmen aus Europa insgesamt zu deutlich stärkeren Akteu- ren aufgestiegen.

Die Geschäftsmodell-Revolution (2000—2020) Die aus wirtschaftlicher Sicht wahrscheinlich zentralste Veränderung der letzten 20 Jahre ist die Transformation der Geschäftsmodelle, dabei ist insbesondere »Free-to- Play« zu nennen, welches zu einem dominierenden Modell in der Industrie gewor- den ist. Waren bis Ende der 1990er Jahre für die datenträgergebundenen Unterhal- tungsmedien (CD, DVD, usw.) typische Modelle mit einem festen Preis pro Spiel zu beobachten, änderte sich in den 2000er Jahren fast alles. Einerseits setzten sich eini- ge Spiele mit einem Abonnement-Modell durch, das heißt man zahlte zusätzlich zum Erwerb des Spiels eine Gebühr sowie indirekt noch Internetgebühren. Das bekann- teste Beispiel hierfür ist das Online-Rollenspiel World of Warcraft (2004). Andererseits kommen Mitte der 2000er Jahre Geschäftsmodelle auf, die eine radikale Abkehr be- deuteten und – paradoxerweise – dennoch überproportional erfolgreich sind: die so genannten Free-to-Play-Spiele, die entweder über Browser, Social-Media-Plattfor- men und spätestens mit dem Markteintritt des iPhone mit mobilen Endgeräten ge- nutzt werden. War noch Kern des Abonnement-Modells eine Nutzungsgebühr, um auf hohem qualitativem Niveau die Spiele weiterentwickeln zu können, bieten Free- to-Play-Spiele ein grundlegend anderes Konzept, denn die Spielerinnen und Spieler zahlen für das Angebot nicht mit Geld, sondern mit ihren Daten. Hinzu kommen di- rekte Zahlungen in Geld, die für Vorteile – in der Fachsprache »Buffs« – bzw. opti- sche Gestaltung der Spiele – beispielsweise Sonderausrüstungen, in der Fachspra- che »Vanity-Items« – geleistet werden. Ohne alle Ableitungen aufzuzählen, lässt sich festhalten, dass für die erfolgreiche Monetarisierung der Spiele die Spielmechaniken und das Game Design verändert wurden. Konkret bedeutet diese Jörg Müller-Lietzkow ist Prä­ Revolution Auswirkungen auf Budgets, Produktionsmethoden, den sident der HafenCity Universität ausschließlich digitalen Vertrieb inklusive neuer Marketingformen Hamburg und Professor für sowie die wirtschaftliche Verwertung von umfänglichen Echtzeit- Ökonomie und Digitalisierung. datenerhebungen. Kurz gesagt: Die ganze Wertkette der Industrie ist davon betroffen. In allen Bereichen konnten dabei die Unternehmen hocherfolg- reiche Angebote positionieren. Deutschland war dabei insbesondere in der Dekade zwischen 2000 und 2010 mit sogenannten Browsergames sehr erfolgreich. Heute konzentriert sich ein überproportional großes Angebot dieses Free-to-Play-Spiele- typus auf Smartphones und Tablets, für die inzwischen mehr Spiele existieren als für alle anderen Plattformen zusammen.

WIRTSCHAFT Struktur der Industrie Die Struktur der Industrie hat sich in den Dekaden immer wieder stark verändert. Do- 6.1 minierten durch die Bindung an physische Datenträger lange Zeit Modelle, die sich durch eine Dreiteilung der Industrie (Entwickler, Publisher und Handel) auszeichne- ten, haben sich mit dem Aufkommen des Internets, der Social-Media-Plattformen, der App Stores mobiler Endgeräte sowie der Onlinevertriebsplattformen und der da- raus resultierenden Geschäftsmodelle die Industriestrukturen nachhaltig in Richtung einer starken Hybridisierung verschoben. Folglich verschwimmen heute die Grenzen zwischen Entwicklung und Publishing immer stärker und die Rolle und Bedeutung des Handels ist bei digitaler Distribution extrem rückläufig. Darüber hinaus differenzie- ren sich die Dienstleister der Industrie immer stärker aus, was nicht zuletzt mit den ansteigenden Ansprüchen der Spielerinnen und Spieler, vor allem bei Vollpreispro- dukten der konsolenbasierten Industrie, zusammenhängt. Die Ausdifferenzierung hat auch zu sehr unterschiedlich großen Unternehmen geführt, wenngleich die Mehrzahl der Unternehmen immer noch zu den Klein- und Kleinstunternehmen gezählt werden. Der Umkehrschluss ist dabei, dass es trotz Ausdifferenzierung der Geschäftsmodel- le bis heute eine relativ hohe Marktkonzentration gibt, was nicht zuletzt mit der Um- satzstärke der Konsolenmärkte sowie dem Akquisitions- und Diversifikationsverhalten der großen Anbieter einhergeht. Als Beispiel für eine solche Akquisitionsstrategie lie- ße sich der Publisher Electronic Arts nennen, der in seiner Geschichte ca. 40 Firmen übernommen hat, darunter sehr große Entwicklungsstudios, wie Westwood Studios, Origin Systems oder BioWare. Für eine Diversifikationsstrategie steht hingegen der Publisher Ubisoft, der vor allem global immer neue interne Studios gegründet und so- mit in unterschiedliche Märkte (z. B. Online) expandiert hat.

Trends der Industrie Der Erfolg der Industrie hat, wie in allen Industrien, auch umgekehrte Effekte. Lange Zeit war die Computer- und Videospielindustrie Vorreiter der digitalen Medien, heute ist sie durch wirtschaftlichen Erfolg und starke Konkurrenz insgesamt im Feld der di- gitalen Unterhaltungsmedien, z. B. Streaminganbieter, herausgefordert. Drei wesent- liche Trends definieren dabei die Weiterentwicklung der Industrie: ➀ der Trend zur Serialität, der bei Filmen und Serien seit Jahren anhält. Auch bei Computer- und Videospielen sind vor allem im hochpreisigen Marktsegment er- folgreiche Serien (Spielereihen genannt) zu beobachten, die großen Anbietern Markt- erfolg sichern. Medienmarken spielen eine immer wichtigere Rolle auch im Bereich der Querfinanzierung und Auslizenzierung. Bekannte Beispiele sindTomb Raider (1996) oder Assassin’s Creed (2007), auf Basis derer auch Bücher und Filme entstanden sind. ➁ hat eine erhebliche Verbreiterung des Zielmarktes auch zu einer Erweite- rung des inhaltlichen Spektrums beigetragen. Insbesondere im Bereich der mobilen Spiele (engl.: Mobile Games) bedeutet das, dass mit meist nur online nutzbaren »Ca- sual Games«, also besonders zugänglichen Computerspielen, die Bedeutung der Da- tenwirtschaft, also der Auswertung und Kapitalisierung von Nutzerdaten für z. B. indi- vidualisierte Werbung, in der Computer- und Videospielindustrie gestiegen ist.

222 —— 223 ➂ darf an dieser Stelle nicht unterschätzt werden, dass sich aus dem Markt für LET’S PLAY & 4.2 STREAMING Computer- und Videospiele zunehmend abgeleitete Märkte entwickeln. Insbesonde- re der Markt für das Streaming von Gamesinhalten, dabei allen voran der E-Sport (→), 4.5 E-SPORT verändern das Bild der Industrie im Kernmarkt erneut. Somit wird die Industrie selbst zur Plattform für andere mediale, schnellwachsende Angebote, wie beispielsweise die Videoplattform Twitch. Natürlich ist diese Liste nicht vollumfänglich. Stand heute ist noch unklar, wie sich neue, schon existierende Technologien, wie z. B. Augmented und Virtual ­Reality, TECHNOLOGIE auf die Computer- und Videospielindustrie langfristig auswirken werden (→). Aus 6.4 & INNOVATION wirtschaftlicher Sicht auch noch wenig beleuchtet sind bisher Fragen rund um die SERIOUS 3.1 GAMES neu entstehenden bzw. existierenden Märkte, die man mit den Schlagworten Ga- mification und Serious Gaming verbinden kann (→). Schließlich wird es auch span- 5.8 GAMIFICATION nend sein zu beobachten, ob und wenn ja unter welchen Umständen sich die inzwi- schen global auf‌findbare staatliche Förderung von Computer- und Videospielen auf den Gesamtmarkt auswirken wird, sprich wie stark diese die Entwicklung des Ange- botes beeinflusst( →). 5.2 FÖRDERUNG

Games als wirtschaftswissenschaftliches Forschungsgebiet Abschließend soll der Blick vom Markt stärker in Richtung der Forschung gerichtet werden. Offenkundig bieten sich Computer- und Videospiele für die wirtschaftswis- senschaftliche Forschung gleich mehrfach an. ➀ ist es offenkundig, wie stark diese von technologischen Entwicklungen in Wechselwirkung getrieben sind, diese aber auch treiben, wie z. B. den Grafikkarten- und Prozessoren-Markt über hohe Anforderungen bezüglich der grafischen Darstel- lung oder der integrierten Physiksysteme. Somit können interessante Perspektiven für das generelle Technologie- und Innovationsmanagement beobachtet werden. ➁ bedeutet der schnelle Wandel der dominierenden Geschäftsmodelle, dass aus Sicht der Innovationsforschung gerade die in vielen anderen Feldern der Digita- lisierung auftretenden Fragestellungen, z. B. zu Bezahlmodellen oder datenbasierten Ansätzen der Verhaltensforschung, beantwortet werden können. ➂ ist es aus Sicht der Organisationsforschung interessant, sich die hochkom- plexen Produktionsstrukturen, die sich sehr häufig in Netzwerken und virtuellen Orga- nisationen inklusive sich wandelnder Arbeitsstrukturen spiegeln, näher zu betrachten. ➃ zeigen sich aus medienökonomischer Perspektive zahlreiche Analogien aber eben auch Alternativen zu den traditionell passiv rezipierten Medien. Gerade die ver- gleichende Forschung sowie der Blick auf die Qualitäts- und Erfolgsfaktorenforschung sind von besonderem Interesse. ➄ und nicht in diesem kurzen Text skizziert, aber hochrelevant ist im Umkehr- schluss die Nutzung von modifizierbaren Computerspielen alsSimulationen für die verhaltensbasierte wirtschaftswissenschaftliche Forschung z. B. in der Marktforschung. Dabei kommen sowohl die »In-Game-Economics«, also die Wirtschaftssysteme des Spiels, als auch die kompetitiven Momente, also das Spielen gegen Dritte, im Wirt- schaftsverhalten zum Tragen.

WIRTSCHAFT ➅ bieten Computer- und Videospiele auch zahlreiche Ansatzpunkte für die in- terkulturelle Wirtschaftsforschung sowie Informationen zum internationalen Manage- 6.1 ment. So sieht man, dass heute viele der Spiele in großen, diversen und vor allem in- terkulturell und international besetzten Teams entwickelt werden. ➆ bietet die Computer- und Videospieleindustrie darüber hinaus zahlreiche Möglichkeiten, als Simulationen im Sinne der Serious Games für die volkswirtschaftli- che Forschung in zahlreichen Märkten und Wirtschaftszweigen eingesetzt zu werden. ➇ ist die Industrie von Interesse für die Investitionsforschung. So spiegeln sich in der Vielfalt der Produktionsfinanzierung von Computer- und Videospielen zahlrei- che Instrumente von der Eigenfinanzierung, klassischem Fremdkapital, Publisherfinan- zierung über Fonds bis zu Crowdfunding und Risikokapital. Schließlich greifen dabei noch zusätzlich staatliche Fördermodelle, womit von vornherein von Marktversagen ausgegangen werden muss.

Diese nicht vollständige Aufzählung der verschiedensten Anknüpfungspunkte veran- schaulicht, dass die Computer- und Videospielindustrie aufgrund ihrer Innovations- kraft in Bezug auf Technologie und Geschäftsmodelle aber auch aufgrund ihrer globa- len Bedeutung wertvolle Beiträge zu den Disziplinen der wirtschaftswissenschaftlichen empirischen Forschung leisten kann. Neben diese Aufzählung tritt selbstverständlich noch die volkswirtschaftliche Bedeutung im Rahmen des gesamten Mediensektors, wo diese inzwischen zumindest bei den Unterhaltungsmedien zu den umsatzstärks- ten Medien überhaupt zählen. Dies ergibt sich mit einem Blick auf die Marktdaten, die MARKTDATEN 6.2 hier an anderer Stelle behandelt werden (←).

Literatur ✕ Castendyk, Oliver; Müller-Lietzkow, Jörg: Die Computer- und Videospielindustrie in Deutschland. Vistas, Berlin 2017 ✕ Hennig-Thurau, Thorsten; Housten, Mark B.: Entertainment Science: Data Analytics and Practical Theory for Movies, Games, Books, and Music. Springer, Heidelberg 2018 ✕ Zackariasson, Peter; Wilson, Timothy: The Video Game Industry: Formation, Present State and Future. Routledge, London 2012

224 —— 225 MARKTDATEN 6.2 OLIVER CASTENDYK

GAME- Zum Games-Markt (früher Computer- und Videospiel-Markt) (→) gehören die Umsät- 1.3 BEGRIFFE ze, die mit digitalen Spielen erzielt werden; die Games-Industrie besteht aus den Un- ternehmen, die selbst Games entwickeln bzw. produzieren, vertreiben oder dazu als spezialisierte Dienstleister oder Zulieferer beitragen. Diejenigen, die Spiele entwickeln bzw. herstellen, nennt man »Entwickler« oder »Developer«. Bei ihnen arbeitet das kre- ative Herz der Branche: die Game Designer und Programmierer. Diejenigen, die die Spiele vermarkten und oft auch ihre Entwicklung finanzieren, nennt man Publisher. Die Aufgabe eines Developers entspricht dem eines Film- oder Mu- Oliver Castendyk ist Direktor sikproduzenten, die Rolle eines Publishers der eines Filmverleihs, des Forschungs- und Kom­ Musiklabels oder Buchverlags. Eine wachsende, wenn nicht inzwi- petenzzentrums Audiovisuelle schen schon zentrale Bedeutung für diesen Medienmarkt haben Produktion der Hamburg die sogenannten Plattformen. Dazu gehören bei Konsolenspielen Media School. die großen Drei: Sony, Nintendo und Microsoft. Bei den Games für Smartphones und Tablets sind es vor allem Apple mit dem App Store und Google mit dem Play Store, bei PCs die Distributionsdienste Steam und Epic Games Store. Wäh- rend der Kontakt mit dem Endkunden im Kinobereich von vielen Kinos und im Fern- sehen überwiegend noch von nationalen Fernsehsendern vermittelt wird, sind es im Games-Markt wenige, internationale Plattformen, die weit über 90 Prozent des End- kundenkontakts vermitteln.

Der Games-Markt Die weltweiten Umsätze mit Games sind hoch. Im Jahr 2018 wurden sie vom Markt- forschungsunternehmen Newzoo auf rund 135 Milliarden US-Dollar geschätzt. Ein sehr erfolgreicher Titel wie der Ego-Shooter Call of Duty: Black Ops (2010) wurde allein am ersten Tag 5,6 Millionen Mal verkauft und erreichte innerhalb von sechs Wochen weltweite Umsätze von einer Milliarde US-Dollar. Damit sind Top-Seller im Games- Bereich durchaus in einer Liga mit weltweiten Blockbustern, wie z. B. »Avengers: End- game« (2019), »Avatar – Aufbruch nach Pandora« (2009) oder »Titanic« (1997), die

WIRTSCHAFT jeweils allein im Kino weltweit mehr als zwei Milliarden US-Dollar einspielten. Der Games-Markt ist dynamisch und wuchs in den letzten Jahren um mindestens acht 6.2 Prozent jährlich. Der deutsche Games-Markt ist der größte in Europa. 2018 wurden dort Umsät- ze von 4,4 Milliarden Euro erzielt. Während viele bei digitalen Spielen noch an die klas- sischen Konsolenspiele denken, werden inzwischen die Hauptumsätze mit digitalen Spielen generiert, die auf Smartphones und Tablets gespielt werden (Mobile Games). STRUKTUR, Bei diesen Spielen hat sich ein Geschäftsmodell durchgesetzt: das sogenannte »Free- TRENDS & FORSCHUNG 6.1 to-play«-Modell (←). Dabei wird das Basisspiel unentgeltlich angeboten; Spielerin- nen und Spieler zahlen aber für die Nutzung von besonderer Kleidung, für Ausrüstung, Fahrzeuge und Ähnliches innerhalb des Spiels, z. B. um sich einen strategischen Vor- teil gegenüber Mitspielenden zu verschaffen. Man nennt diese Käufe »In-Game« -Käu- fe. Pro Transaktion ist die Kaufsumme gering. Sie addierten sich 2018 jedoch allein in Deutschland auf 1,95 Milliarden Euro und machten damit fast die Hälfte aller Umsätze auf diesem nationalen Teilmarkt aus. Käufe von Spielen für Konsolen (Kauf, Miete bzw. Abonnements) generierten nicht einmal die Hälfte dieser Umsätze in Deutschland. Die aktuellen Markttrends sind eine zunehmende Digitalisierung des Vertriebs von Games und abnehmende Verkäufe von Trägermedien, z. B. DVDs. Ähnlich wie im Filmgeschäft wachsen auch hierzulande die Abonnement-Modelle à la Netflix. Die oben genannten großen drei Konsolen-Plattformen bieten für eine monatliche Gebühr sehr erfolgreich den Zugriff auf einen Teil ihres Produkt-Portfolios an.

Die Games-Industrie Während der deutsche Games-Markt 2018 wie in den Vorjahren mit einem starken Wachstum von 9 Prozent und einem Handelsumsatz von 4,4 Milliarden Euro glänzte, sank der Anteil deutscher Spieleentwicklungen daran auf nur 4,3 Prozent. 2017 be- trug der Anteil 5 Prozent. Noch geringer ist der deutsche Marktanteil bei Spiele-Apps für Smartphones und Tablets. 2018 fiel er von 3,7 Prozent auf 3,2 Prozent. Hier ist der Wettbewerbsdruck besonders hoch. Die teilweise kostenfrei für Entwicklungen zur Verfügung stehenden Software-Bestandteile (z. B. Engines) und die zentrale, interna- tionale Distribution der Spiele über wenige große Plattformen haben die Einstiegs- hürden für diesen Markt stark gesenkt. In der Folge ist das Angebot in den vergange- nen Jahren immer weiter gestiegen. So wurden allein im ersten Halbjahr 2019 (Januar bis Juni) rund 21.500 neue Spiele-Apps in den App Store von Apple hochgeladen. Der geringe Marktanteil deutscher Spiele-Entwicklungen deutet auf eine Be- sonderheit der nationalen Games-Industrien hin: Mit Ausnahme von Staaten wie den USA, China, Kanada, Japan und Schweden sind die meisten Länder Spiele-Importeure. Der Schwerpunkt der Umsätze deutscher, spanischer oder italienischer Firmen liegt in der Vermarktung und Lokalisierung, d. h. Anpassung der Spiele durch z. B. Synchroni- sierung bzw. Übersetzung, internationaler Spiele – in Europa häufig aus den USA und Kanada – für den lokalen Markt. Die großen Games-Unternehmen in Deutschland, die Umsätze im Bereich von 50 Millionen Euro und mehr aufweisen, haben meist ausländi- sche Mutterkonzerne und ihre Umsätze sind vor allem Vertriebsumsätze.

226 —— 227 Dies war nicht immer so. Die deutsche Games-Industrie kam in den 2000er Jahren re- lativ gut und schnell in das Geschäft der sogenannten Browsergames, digitale Spiele, die auf dem PC gespielt werden, internetbasiert und oft »Free to play« sind. Die wei- 6.2 teren Entwicklungen in Richtung von Spielen für Smartphones und Tablets, Spiele mit weltweiten Spielergemeinden wie World of Warcraft (2004) oder die Entwicklung von Top-Titeln im Konsolenbereich wurden jedoch in der Regel nicht mehr von deutschen Unternehmen beeinflusst. Bei den Online- und Browsergames hält der Abwärtstrend bis heute an: Während 2017 noch 17 Prozent des Umsatzes in diesem Teilmarkt auf Entwicklungen aus Deutschland entfielen, waren es 2018 nur noch 13 Prozent. In der kritischen Phase in den Jahren 2005 bis 2010 sorgte eine aktive und an der Ansiedlung großer Games-Entwickler interessierte Förderpolitik in anderen Staaten wie z. B. in Ka- nada für großes Wachstum. Die großen Inhalteproduzenten im Games-Bereich heißen heute Nintendo, Ubisoft, Electronic Arts, Sony, Activision Blizzard, Take-Two, teilwei- se mit, teilweise ohne begleitende Plattform. Nur wenige von ihnen vertreiben nicht nur, sondern produzieren auch in Deutschland. So eröffnete 2018 der französisch-ka- nadische Branchenriese Ubisoft ein Entwicklerstudio in Berlin und hofft, bis 2020 im- merhin 150 Stellen besetzen zu können. Der Großteil der heimischen Entwicklerszene INDEPENDENT besteht aber aus kleinen Unternehmen, sogenannten Indie-Studios (→), deren Mitar- 6.5 GAMES beiterzahlen sich in der Regel im einstelligen Bereich bewegen. International wettbe- werbsfähige Großproduktionen, bei denen oft viele Hundert Personen über mehrere Jahre an einem Games-Titel arbeiten, werden in Deutschland praktisch nie entwickelt und wenn, dann als Teil eines international agierenden Entwicklerteams mit Nieder- lassungen auf der ganzen Welt. Um international konkurrenzfähige Produkte zu ent- wickeln, braucht es in der Regel große Studios, die bereit sind, mindestens achtstelli- ge Summen zu investieren. Während also im Kino Produktionen wie »Fack ju Göhte« (seit 2013) in Deutschland Einspielergebnisse erzielten, die trotz deutlich geringerer Herstellungskosten in einer Liga mit Star-Wars- und Marvel-Produktionen lagen, ist dies bei Games noch nicht der Fall. Der Games-(zumeist Netto-)Unternehmensumsatz, also der Umsatz entlang der Wertschöpfungskette durch den Verkauf oder das Erbringen von Dienstleistungen auf Unternehmensebene, lag in Deutschland 2015 bei 2,8 Milliarden Euro. Er unter- scheidet sich vom Handelsumsatz. Ein Beispiel: Bei einem digitalen Spiel gehört zum deutschen Unternehmensumsatz das, was z. B. ein deutscher Publisher über Plattfor- men wie den App Store erzielt. Der Endkundenumsatz hingegen, der zunächst auf das Konto der ausländischen Plattform eingeht und die hiervon ihre Vertriebsgebühr ab- zieht, bevor sie den Rest an das Unternehmen abführt, zählt nicht zum Unternehmens- umsatz des deutschen Publishers. Der tatsächliche Handelsumsatz ist also höher als der Unternehmensumsatz. Im Vergleich zu anderen Branchen der Kultur- und Kreativbranche gehört die Games-Industrie trotz ihres großen wirtschaftlichen Potenzials noch zu den kleineren Branchen. Die Umsätze der Buchbranche oder der Filmindustrie, auf den verschiede- nen Plattformen, wie z. B. Kino, DVD, Subscription-Video-on-Demand, Pay- und Free- TV, sind deutlich höher. Allerdings ist die deutsche Games-Industrie deutlich inter-

WIRTSCHAFT nationaler als beispielsweise die Filmindustrie: Während deren Exportquote unter 5 Prozent liegt, generierten im Jahr 2015 deutsche Games-Unternehmen 46 Prozent 6.2 ihres Umsatzes im Ausland. Die Unternehmen des Games-Kernmarktes erwirtschafteten im Jahr 2015 nur 72 Prozent ihres Umsatzes mit der Produktion oder dem Vertrieb von Computerspielen. Bei einer nach der Umsatzstärke differenzierten Betrachtung fällt auf, dass der Anteil des Umsatzes, der nicht auf Games entfällt, steigt, je kleiner das Unternehmen ist. Eine Erklärung hierfür findet sich in dem Umstand, dass kleine Unternehmen öfter darauf angewiesen sind, auch als Dienstleister für andere Teile der Medienbranche zu agie- ren, z. B. im Bereich Webdesign und -programmierung oder Unternehmensberatung. Im Kernmarkt der deutschen Games-Branche arbeiten ca. 11.000 Personen, im Buchmarkt oder in der Filmbranche sind es mit ca. 24.000 bzw. 36.000 Personen deutlich mehr. Die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die digitale Spie- le entwickeln und vertreiben, ist von 2018 auf 2019 abermals gesunken, um rund 6 Prozent. Der Negativtrend des Vorjahres hat sich damit fortgesetzt, trotz des Wachs- tums des Games-Markts um 9 Prozent. Bereits von 2017 auf 2018 musste die deut- sche Games-Branche in diesem Bereich einen Rückgang ihrer Beschäftigten um 13 AUSBILDUNG & ARBEITSMARKT 6.3 Prozent verkraften (←). Gleichzeitig steigt die Zahl der Games-Unternehmen in Deutschland. Wäh- rend 2018 insgesamt rund 520 Unternehmen in der Entwicklung und dem Verlegen von Computer- und Videospielen tätig waren, stieg deren Zahl auf über 600 im Jahr 2019. Dies ist auch ein Beleg für die unverändert klein- und mittelständisch geprägte Branche, die sich seit 2015 kaum verändert haben dürfte: In diesem Jahr erwirtschaf- teten 4 Prozent der Unternehmen circa 80 Prozent des gesamten Umsatzes, während 44 Prozent der deutschen Games-Unternehmen lediglich 0,2 Prozent des Unterneh- mensumsatzes auf sich vereinigen konnten. Insgesamt zeigt die Situation, dass die Rahmenbedingungen für die Games- Branche in Deutschland international konkurrenzfähig und über längere Zeit verläss- lich ausgestaltet werden müssten, um signifikante Wachstumschancen zu schaffen FÖRDERUNG 5.2 (←). Während der Games-Markt in Deutschland und weltweit stark wächst und ande- re Kultur- und Mediengüter überholt hat, spielen Entwicklungen von deutschen Un- ternehmen derzeit kaum eine Rolle.

Literatur ✕ Anderie, Lutz: Games Industry Management. Springer Verlag, Berlin/Heidelberg 2016 ✕ Castendyk, Oliver; Müller-Lietzkow, Jörg: Die Computer- und Videospielindustrie in Deutschland. Vistas, Berlin 2017 ✕ Vogel, Harold: Entertainment Industry Economics: A Guide for Financial Analysis. Cambridge University Press, New York 2015

228 —— 229 AUSBILDUNG 6.3 & ARBEITSMARKT ANNEGRET MONTAG

STRUKTUR, Games sind das Leitmedium des 21. Jahrhunderts. Sie gelten als wichtiges Kulturgut, TRENDS & 6.1 FORSCHUNG Wirtschaftsfaktor und Innovationsmotor. Für den Digital- und Wirtschaftsstandort

Deutschland sind sie von allergrößter Bedeutung (→), wie der 2019 veröffentlichte 6.2 MARKTDATEN »Jahresreport der deutschen Games-Branche« belegt: 2018 wurden rund 4,4 Milliar- den Euro mit Computerspielen sowie Games-Hardware in Deutschland erwirtschaf- tet. Das ist knapp drei Mal so viel, wie von der deutschen Musikindustrie im selben Zeitraum umgesetzt und etwa fünf Mal so viel, wie von der deutschen Kinobranche erzielt wurde. Aktuell spielen in Deutschland über 34 Millionen Menschen Compu- terspiele. Das heißt, rund jeder zweite Deutsche ist ein Gamer. Mit etwa 48 Prozent machen Frauen dabei die Hälfte der Spielerschaft aus. Die größte Gruppe an Spiele- rinnen und Spielern ist entgegen zahlreicher Annahmen jedoch nicht die der Kinder- und Jugendlichen – es ist die der Altersklasse 50+. Mit über 10 Millionen Spielern greift die Gruppe der sogenannten »Silver Gamer« am häufigsten zu Smartphones, Tablets und Co., um digital eine Runde zu spielen. Mit Blick auf all die Faktoren, mit denen sich Games wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich bestimmen lassen, kommt die Frage auf, welche Bedeutung die Spieleentwicklung in Deutschland selbst hat. Wie sieht die Ausbildungs- und Be- schäftigungssituation in der Branche aus? Welche Berufsbilder gibt es und wo steht die deutsche Games-Branche als Arbeitsumfeld im internationalen Vergleich? Fakt ist, dass Games-Technologien Schlüsseltechnologien der Digitalisierung sind. Viele Entwicklungen wie Virtual Reality und Augmented Reality stammen ursprünglich aus der Games-Branche und finden heute breiten Einsatz in anderen Industriezweigen TECHNOLOGIE (→) – sei es in der Mobilitätsbranche bei Autoherstellern, in der Gesundheitsbran- 6.4 & INNOVATION che bei Medizinern oder der Immobilienbranche bei Architekten. Firmen wie Siemens, die Deutsche Bahn oder viele mittelständische Unternehmen aus Deutschland haben längst die großen Potenziale von Games-Technologien erkannt und nutzen diese be- reits seit Jahren gewinnbringend für ihre eigenen Bereiche und Produkte. Das Wissen rund um die Entwicklung solch neuer Technologien ist also eine wichtige Ressource

WIRTSCHAFT auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitnehmer der Games-Branche gelten als hochspezia- lisierte Fachkräfte, deren Fachwissen auch jenseits der Games-Entwicklung gefragt 6.3 ist. Sich selbst verstehen die in der Games-Branche Tätigen darüber hinaus als Künst- ler und Kreative, als Softwareentwickler und Unternehmer oder als all das zusammen. Denn die Berufsbilder innerhalb der Games-Branche sind vielfältig, die Grenzen zwi- schen den einzelnen Berufen sind fließend und werden abhängig von den Trends des sehr dynamischen Marktes oft neu definiert. 2018 waren laut des genannten Jahresreports in Deutschland knapp 11.000 Beschäftigte in der Spielebranche tätig. Hierunter zählen all jene, die mit der Erstel- lung oder der Vermarktung von digitalen Computerspielen beschäftigt sind. Darüber hinaus gibt es neben dieser »Kerngruppe« viele weitere Beschäftigte, die im weiteren Sinne der Games-Branche zuzurechnen sind, beispielsweise Games-Journalisten oder Referenten aus Bildung und Politik, Games-Lehrende und -Forscher an Hochschulen oder Mitarbeiter im Fachhandel. Werden diese Arbeitnehmer hinzugezählt, kommt die Games-Branche in Deutschland auf rund 29.000 Beschäftigte. Mit diesem Wert liegt Deutschland in etwa gleichauf mit Großbritannien. Von den Zahlen der USA oder Ka- nada, die zu den größten Games-Produzenten der Welt gehören, ist Deutschland aber weit entfernt. So waren laut einer 2017 veröffentlichten Studie von Oliver Castendyk und Jörg Müller-Lietzkow in den USA 2016 rund 66.000 Menschen mit der Entwick- lung oder Vermarktung von Games beschäftigt. In Kanada waren es rund 20.000. Bei- de Zahlen verstehen sich ohne angrenzende Berufe. In Deutschland gibt es damit noch viel Entwicklungspotenzial. Insbesondere die 2019 verabschiedete bundesweite Games-Förderung, nach der die deutsche Spielebranche bis einschließlich 2023 eine jährliche Förderung in Höhe von 50 Millionen Euro erhalten wird, hat den Grundpfeiler dafür gelegt, dass sich FÖRDERUNG 5.2 auch die deutsche Games-Branche ähnlich der kanadischen entwickeln kann (←). In Kanada hat die staatliche Förderung der Branche dazu beigetragen, dass sich große Publisher und Entwickler wie Ubisoft Montreal, Electronic Arts Vancouver oder Bio- Ware angesiedelt haben und dadurch die Entwicklung von Spielegroßproduktionen (auch Blockbuster- oder »AAA«-Titel genannt) ermöglicht wurde. Diese Entwicklung hat nicht nur den Games-Standort Kanada als Wirtschaftsstandort gestärkt, sondern auch die Nachfrage nach Fachkräften gesteigert. So gibt es laut der Publikation »Ar- beiten in der Games-Branche. Kreativität trifft Technologie« des game-Verbands der- zeit in Kanada rund 43,2 Mitarbeiter pro Spielefirma, während es in Deutschland 21,5 sind. Von den bei deutschen Games-Unternehmen angestellten Arbeitnehmern sind rund 75 Prozent in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen; etwa 72 Pro- zent haben ein festes Anstellungsverhältnis. Im Vergleich zu anderen Zweigen der Kul- tur- und Kreativwirtschaft ist das ein außergewöhnlich hoher Wert. Der Anteil auslän- discher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter liegt bei fast einem Viertel, etwa 23 Prozent. Das liegt zum einen daran, dass kaum eine Branche derart international geprägt ist wie die Games-Branche. Games werden primär digital und Landesgrenzen überschreitend vertrieben. Zum anderen hat es auch mit einem Fachkräftemangel zu tun. So ist beson- ders in den Bereichen Programmierung sowie Grafik- undGame Design der Bedarf an

230 —— 231 spezialisierten Fachkräften hoch. Während in Skandinavien oder den USA bereits in den 1990er Jahren Lehrstühle und -pläne für die entsprechenden Fächer aufgesetzt GAME wurden, war in Deutschland etwas Vergleichbares lange nicht zu finden (→). Man- 1.2 STUDIES gels dualer Ausbildungsmöglichkeiten für Games-Entwickler haben sich in Deutsch- land deshalb erst nach der Jahrtausendwende zunächst diverse private Hochschulen wie beispielsweise die Games Academy in Berlin und Frankfurt, die SAE Hochschulen oder die btk-Hochschulen gegründet. Sie boten Interessierten eine praxisnahe Ausbil- dung, die im Idealfall direkt in einer Anstellung in einem Unternehmen mündete. Seit 2010 entstehen zudem auch an staatlichen Hochschulen Studiengänge im Bereich des Game Design. Eine der ersten deutschen Institutionen war das Cologne Game Lab an der TH Köln: Hier kann sowohl der Bachelor und aufbauend der Masterstudien- gang im Studiengang Digital Games studiert werden. Auch das Institut für Games der Hochschule der Medien (HdM) in Stuttgart bietet drei Bachelor- und zwei Masterstu- diengänge an. Andere Hochschulen wie die Hochschule Darmstadt, die Hochschule Trier oder die Hochschule in Mittweida bieten spezielle Studiengänge im Bereich des Game Design an. Auch eine wissenschaftliche Karriere im Bereich der Games ist mög- lich, derzeit jedoch oftmals mit einer Promotion in angrenzenden Wissenschaftsgebie- ten (vor allem Geistes-, Medien- und Sozialwissenschaften) verbunden. Einige Unternehmen der deutschen Games-Branche haben sich zudem dazu entschieden, Berufseinsteiger selbst weiterzubilden. Besonders im Bereich der Spie- leentwicklung ist aktuell zu beobachten, dass Unternehmen eigene, interne Weiter- bildungsangebote und Berufsakademien gründen, um zur Spezialisierung ihrer Arbeit- nehmer beizutragen. Denn nach wie vor besteht eine der größten Herausforderung für Games-Firmen darin, dass es an deutschen Berufsschulen noch keine dualen Ausbil- dungsmöglichkeiten für Spieleentwickler gibt. Verwandten Berufsausbildungen wie beispielsweise zum Fachinformatiker fehlen aktuell Lehrplanelemente wie Game De- sign und Game Engineering, die für die Arbeit in der Spieleentwicklung essenziell sind. Trotz des Engagements deutscher Games-Unternehmen gestaltet sich die Etablierung einer standardisierten Berufsausbildung für Spieleentwickler allerdings schwierig, da der Markt für Games so schnelllebig ist. Besser sieht da schon die Ausbildungssitua- tion auf der vertrieblichen Seite der Spieleproduktion aus. Tätigkeiten wie Marketing oder Sales Management ähneln den Berufsbildern anderer Medien- und Unterhal- tungsbranchen und entsprechende Ausbildungsangebote finden sich deutschlandweit. Da im Games-Bereich klassisch getrennte Berufsfelder wie Entwicklung und Vertrieb durch digitale Lösungen immer weiter verschmelzen, sind aber auch hier zunehmend Experten gefragt, die mit den Besonderheiten der Branche vertraut sind. Der Mangel an gut ausgebildetem Nachwuchs führt zwangsläufig auch zu einem Mangel an er- fahrenem Personal mit Führungsqualitäten. Besonders im kreativen Teil der Spieleent- wicklung müssen deutsche Unternehmen Teamleiter und andere Mitarbeiter mit Per- sonalverantwortung oft aus dem Ausland rekrutieren, was zusätzliche Komplikationen, erhöhte Kosten und Verzögerungen beim Ausbau der Teams schafft. Gleichzeitig wan- dern viele erfahrene deutsche Spieleentwickler ins Ausland ab, da bei internationalen Unternehmen dank besserer wirtschaftlicher Rahmenbedingungen regelmäßig lukra-

WIRTSCHAFT tivere Angebote locken. Dieser stetige Verlust von Talenten und Know-how ist prob- lematisch. Auch hier liegt eine Hoffnung auf den positiven Effekten der bundeswei- 6.3 ten Games-Förderung. Games zu entwickeln bedeutet also das Zusammenspiel vieler unterschiedli- cher Professionen und ihrer Spezialisierungen. Welche einzelnen Arbeitsfelder es da- bei in der Games-Branche gibt, hat der game – Verband der deutschen Games-Bran- che anhand von zwölf Berufsbildern illustriert und typische Aufgabengebiete benannt und auf seiner Webseite zusammengefasst. Von diesen sollen an dieser Stelle ­einige etwas genauer dargestellt werden, um die Bandbreite der Branche aufzuzeigen: Im Fokus der Tätigkeit des Game Designers steht das Erschaffen der grund- legenden Spielmechanik, welche für den Spielspaß sorgt. Ähnlich wie ein Regisseur trägt er dafür Sorge, dass die Spielidee in Regeln übertragen wird und das Game da- durch eine spielinterne Logik bekommt. Dabei betreut er das Game vom Konzept über die Erstellung und das Ausbalancieren von Spielmechaniken und Spielinhalten bis zum fertigen Produkt. Es ist von Vorteil, wenn Game Designer unter anderem Kreativität, lo- gisches und strukturiertes sowie mathematisches Denken aber auch kommunikative Fähigkeiten mitbringen. Um in diesem Berufsfeld zu arbeiten, ist es denkbar, eine Aus- bildung oder ein Studium in den Bereichen Mediengestaltung, Game Design, Medien- informatik, Kommunikationsdesign sowie Film oder Filmregie zu absolvieren. Bringt man insbesondere künstlerische Talente mit und möchte in der Games- Branche tätig werden, bietet sich eine Tätigkeit im Bereich des Grafikdesign an. Als Grafikdesigner ist man für das Spieldesign zuständig. Das heißt in diesem Fall, die Ideen auf eine visuelle Ebene zu übertragen und einen visuellen Stil zu erschaffen, der zum Spiel passt. Innerhalb des Berufsbildes ist eine Spezialisierung in Richtung 3D- Modellierung, Animation, Texturen und vieles mehr möglich. Ein Weg in dieses Tätig- keitsfeld ist unter anderem über eine Ausbildung oder ein Studium in die Felder Medi- engestaltung, Kommunikationsdesign, Medieninformatik oder Game Design möglich. Ein weiteres Tätigkeitsgebiet ist der Level & Content Designer. Zu seinen Auf- gaben gehört die Ausgestaltung der digitalen Welten und das Umsetzen der Ideen des Grafikdesigners in spiel- und erlebbare Spielsequenzen. Dabei müssenLevel & Con- tent Designer die Balance, Dramaturgie, Story und Performance, d. h. Annegret Montag ist wissen- die Lauf‌fähigkeit des Spiels auf verschiedener Computer- und Konso- schaftliche Mitarbeiterin an len-Hardware, im Blick behalten. Ein Einstieg in dieses Berufsgebiet ist der Martin-Luther-Universität mit einer Ausbildung oder einem Studium in den Bereichen Medienin- Halle-Wittenberg. formatik, Game Design, Kommunikationswissenschaften, Journalistik, Publizistik, Germanistik, Literaturwissenschaften, Theaterwissenschaften oder Ähnli- chem möglich. Es ist hilfreich neben Kreativität auch räumliches Denken sowie ein Ver- ständnis von Gameplay-Anforderungen und Spielerführung mitzubringen. Das vermutlich bekannteste Tätigkeitsgebiet der Games-Branche ist das des Programmierers. Er überträgt das Game Design in einen Programmcode und arbeitet direkt an der Engine, der Entwicklungs- und Darstellungsumgebung eines Spiels. Da- bei gibt es ganz unterschiedliche Engines, die eingesetzt werden. Die bekanntesten sind sicher die CryEngine, die Unity Engine und die Unreal Engine. Der Programmierer­

232 —— 233 sollte neben der Kenntnis der verschiedenen Engines auch Programmiersprachen be- herrschen und eine Vorstellung von Spielabläufen und den technischen Spieleplatt- formen haben. Typische Studiengänge, in denen dieses Wissen vermittelt wird, sind 6.3 der des Fachinformatikers in der Anwendungsentwicklung sowie Systemintegration, Informatik, Medieninformatik, Physik oder Mathematik. Ein hohes Maß an Freiheit und Kreativität muss der Writer und Storyteller mit- bringen. Seine Aufgabe ist das Erdenken der gesamten Geschichte inklusive aller Hin- tergründe, Charaktere, Orte, Konflikte, das Segmentieren der Geschichte in kleinere Einheiten, das Erarbeiten eines Lösungsweges, inklusive des gesamten Gameplays. Ein Studium aus den Bereichen Journalistik, Publizistik, Medienwissenschaft, Germanis- tik, Sprach- und Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Politikwissenschaft, Film oder Ähnliches sind hilfreich für einen erfolgreichen Einstieg in den Beruf. Weitere Berufsbilder, die vom game-Verband illustriert worden sind, sollen hier noch kurz aufgelistet werden: Product Manager, Community Manager, Sound & FX Design, QA Manager, Localisation Manager, Technical Artist, Game Producer. Ne- ben diesen Kerngruppen gibt es weitere Berufsbilder, die innerhalb der Branche ge- sucht werden. Der Vollständigkeit halber sollen diese Berufe hier auch benannt wer- den: Data Scientist, welcher die Welten der Statistik und der Softwareentwicklung verbindet; der User Acquisition Manager, zu dessen Aufgabenbereich das Planen und Umsetzen von digitalen Werbekampagnen gehört; der Payment Manager, welcher sich um Bezahlmethoden in den verschiedenen Ländern kümmert; der Fraud Investi- gation Manager, der sich mit der Entwicklung und Umsetzung von Aktionsplänen zur Aufdeckung betrügerischer Aktivitäten beschäftigt; der Monetization Manager, der sich mit Mechanismen beschäftigt, die es ermöglichen, mit Spielen Umsätze zu er- wirtschaften; der Social Media Manager, welcher sich mit der Zielgruppenplanung und der strategischen Planung der Sozialen Netzwerke beschäftigt; sowie der Busi- ness Development Manager, welcher für den Aufbau und die Pflege vertriebsrele- vanter Kontakte zuständig ist. Es wird deutlich, dass innerhalb der deutschen Games-Branche vielfältige und ganz unterschiedliche Talente gesucht werden. Der Einstieg über ein Studium und eine Folgeanstellung bei einem Studio ist dabei nur einer von vielen Wegen. Auch ein Quereinstieg in die Branche ist möglich. Insbesondere in der Games-Entwicklung ist es bei einem Quereinstieg hilfreich, bereits ein Portfolio an Arbeitsproben mit einzu- reichen. Generell gilt, die Augen nach Stellenausschreibungen offen zu halten. Be- geisterung für das Medium und auch persönliche Weiterbildung und das Aufbauen eines Netzwerkes sind für einen erfolgreichen Einstieg in die Branche sehr hilfreich.

WIRTSCHAFT 6.3

Literatur ✕ Bartholdy, Björn; Breitlauch, Linda; Czauderna, André; ­ Freyermuth, Gundolf: Games studieren – was, wie, wo? Staatliche Studienangebote im Bereich digitaler Spiele. ­ Transcript Verlag, Bielefeld 2018 ✕ Game – Verband der deutschen Games-Branche: Arbeiten in der Games-Branche – Kreativität trifft Technologie. Berlin 2019: game.de/arbeiten-in-der-games-branche- kreativitaet-trifft-technologie ✕ Schulze-Grotkopp, Christine: Der unterschätzte Riese der Medienindustrie. In: Arbeitsmarkt Kultur 1/4. Beilage zu Politik & Kultur – Zeitung des Deutschen Kulturrates. 1/2016: kulturrat.de/publikationen/arbeits-markt-kultur-1 ✕ Lang, Stephanie: New Players wanted. In: Arbeitsmarkt Kultur 3/4, Beilage zu Politik & Kultur – Zeitung des Deutschen Kulturrates. 1/2018: kulturrat.de/publikationen/arbeits-markt-kultur-3

234 —— 235 TECHNOLOGIE 6.4 & INNOVATION THOMAS BEDENK

Die Games-Industrie ist bereits seit ihren Ursprüngen in der Mitte des 20. Jahrhun- derts Antreiber von Innovation. Im Mittelpunkt stehen dabei häufig technische Ent- wicklungen wie etwa leistungsfähige Prozessoren und spezialisierte Hardware zur Berechnung und Ausgabe aufwändiger Grafik (sogenannte Grafikkarten). Aktuell sind es Themen wie Virtual Reality, Künstliche Intelligenz und Cloud Computing – über das Internet verfügbar gemachte Hard- und Software-Dienstleistungen – die disku- tiert werden. Der Spieler und dessen Wunsch nach Neuem fordern diese schnellle- bige Branche aber in allen Bereichen. Oft übersehen ist der wegweisende Einfluss auf die Mensch-Maschine-Interaktion, auf digitale Vertriebsmodelle und moderne Arbeitsmodelle. In all diesen Bereichen wurden von der Games-Industrie Standards 1.1 SPIELEN gesetzt, lange bevor andere Wirtschaftsbereiche folgten. Das liegt vor allem an der SCHNITT- Nähe des Produkts Spiel zur Natur des Menschen (→). Der Mensch entdeckt sich im 1.5 STELLEN Spiel selbst. Das Spiel schafft einen Raum, um gedanklich zu experimentieren und sich gesellschaftlich einzuordnen. Games prägen so die Gesellschaft, nehmen aber auch Entwicklungen vorweg, die früher oder später in den privaten Alltag und das Geschäftsleben Einzug finden. Diese Innovation geschieht immer im Kontext von Forschung oder im Aus- tausch mit anderen Industrien, doch ganz besonders im Kontext des Spielens selbst, denn Games funktionieren nur mit dem Spieler als Akteur. Das Nutzererlebnis stand bei Games im Mittelpunkt, lange bevor der Begriff »User Experience« (UX) geprägt wurde. Unter UX wird der Ansatz verstanden, das Nutzererlebnis bei der Mensch-Ma- schine-Interaktion ganzheitlich zu betrachten. Eine Funktion soll nicht nur nützlich sein, sondern auch ansprechend und die emotionale Reaktion des Nutzers berücksichtigen. Neben der direkten Interaktion geht es auch um die Antizipation und Nachwirkung der Nutzung. Beim Spieledesign ist diese Betrachtungsweise schon immer eine Notwen- digkeit, weil Spielmechanik und resultierende Ästhetik stark verschränkt sind. Games schaffen es, Spieler aus eigenem Antrieb heraus zu motivieren, weil sie im Moment der Interaktion faszinieren. Durch eine geschickte Abstimmung von Aufgaben, individuel-

WIRTSCHAFT ler Herausforderung und Handlungsmacht gehen Spieler in ihrer Tätigkeit auf, dieser Zustand ist wissenschaftlich auch als »Flow« beschrieben worden. Diese intensiven 6.4 Erlebnisse beschäftigen Spieler über den Moment hinaus. Folgerichtig ergeben sich für die Wirtschaft und Gesellschaft enorme Chancen aus diesem Verständnis über die psychologischen Abläufe, wenn der Blick über den Tellerrand in diese Unterhaltungs- branche nicht nur zugelassen, sondern gezielt ins Auge gefasst wird.

Games und Arbeit Gamification beschreibt den Ansatz, spieltyptische Elemente in anderem Kontext zu nutzen, um Aufgaben interessanter zu gestalten und so die Motivation zu erhöhen GAMIFICATION 5.8 (←). Das Thema ist inzwischen in der Konzernwelt angekommen, allerdings ist es nicht ohne weiteres möglich, diese tiefgreifenden Änderungen organisatorisch auch durchzusetzen. Zudem muss sich noch zeigen, in welchen Bereichen diese Metho- de wirklich langfristig funktioniert. Schließlich bleibt der Hauptzweck der jeweils ge- stellten Aufgaben die produktive Arbeit, was sich nur bedingt durch spielerische An- sätze verschleiern lässt. Aber auch bei weiteren modernen Arbeitsmethoden ist die Games-Branche oft einen Schritt voraus. In der Computerspielentwicklung ist die glo- bal vernetzte Zusammenarbeit seit vielen Jahren etabliert und gilt so als Vorbild für andere Bereiche. Durch die digitale Natur des Produkts gibt es relativ geringe Hürden für die Arbeit in verteilten Teams. Das gilt umso mehr, seit die Branche in den letzten zehn Jahren zunehmend auf den digitalen Vertrieb umgeschwenkt ist. Auch die agi- le Softwareentwicklung wurde von der Branche sehr schnell verinnerlicht und feder- führend vorangetrieben. »Agil« meint hier, dass Spiele, statt vorab vollumfänglich ge- plant, Schritt-für-Schritt entwickelt und so iterativ, in sich wiederholenden Abläufen, und inkrementell, schrittweise, optimiert werden. Sinnvoll ist das vor allem aufgrund der enormen Komplexität des Produkts, aber auch, weil Spiele grundsätzlich ein nur vage zu definierendes Erlebnis sind. Sie müssen immer wieder ausprobiert werden, um zu sehen, was nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis unterhält und was noch verbessert werden muss. Dieses Prinzip wird inzwischen von vielen Unter- nehmen auch außerhalb der Softwareentwicklung adaptiert. Schließlich sind große Organisationen selbst nur schwer greifbare Konstrukte und profitieren so von diesem Ansatz der kontinuierlichen Anpassung.

Von Games lernen Betrachten wir die Entwicklung der räumlichen Medien Virtual und Augmented Re- ality, wird schnell klar, welches Potenzial neben dem der Unterhaltung darin schlum- mert. »Virtual Reality« (VR) beschreibt ein Medium, dass die Sinne weitgehend täuscht und ein Gefühl erzeugt, in einem anderen simulierten Raum anwesend zu sein. »Aug- mented Reality« (AR) bezeichnet die Erweiterung der natürlichen Wahrnehmung im Raum. So können zusätzliche Informationen oder Objekte ins Gesichtsfeld projiziert werden, als ob sie sich im physischen Raum befinden. Für beide Technologien trägt der Nutzer meist eine Datenbrille, ein sogenanntes »Head-Mounted-Device« (HMD). Zur Eingabe wird die Augen-, Hand- und restliche Körperbewegung kontinuierlich er-

236 —— 237 fasst. Die Anwendungsszenarien von VR und AR sind so vielfältig wie der Reifegrad der einzelnen Anwendungen. Die folgenden Szenarien sind allerdings keine Zukunfts- musik, sondern alle bereits verfügbar und machen sich Wissen aus der Games-Indus- 6.4 trie zu Nutze, um effektiver zu wirken, beim Anwender beliebter und kostengünstiger in der Anwendung zu sein. Das globale Reiseaufkommen kann massiv reduziert werden, indem Experten überall sofort präsent sind. Geschäftstermine und Konferenzen können zumindest zum Teil in die virtuelle Welt verlagert werden. Nutzer agieren mithilfe von VR und AR zu- sammen im virtuellen Raum, während Videokonferenzen oft eine kommunikative He- rausforderung darstellen, weil dort der räumliche Bezug fehlt. Schüler lernen in be- stimmten Szenarien besser und behalten mehr von ihrem Wissen. Statt der Abbildung einer tropischen Klimazonen im Buch, können sie gemeinsam auf virtuelle Exkursio- nen durch den Urwald gehen und die Fauna beobachten. Großeltern sitzen mit ihren hunderte Kilometer entfernten Enkelkindern im virtuell verschmolzenen Kinderzimmer und stapeln Klötzchen oder lesen eine Geschichte vor. Jugendliche Thomas Bedenk ist Director bleiben in Bewegung bei virtuellen Tanzspielen und Laserschwert- Immersive Media bei der gefechten. Medizinische Verfahren können dem Patienten besser Berliner Digitalagentur Exozet. visualisiert werden. Vor der medizinischen Untersuchung im Ma- gnetresonanztomographen (MRT) nimmt die virtuelle MRT-Tour die Angst vor dem Unbekannten. VR-Bewegungstherapien helfen durch die präzise erfassten Körperbe- wegungen mobil zu bleiben. Bei Schlaganfallpatienten hilft eine VR-Rehabilitations- therapie gar wieder das Laufen zu lernen. Der Patient kann seine Beine in der VR-Si- mulation leichter bewegen als in der Realität. Dadurch wird das Gehirn stimuliert, die Beine wieder ins Körperschema zu integrieren. Gleichzeitig kann die Therapie pass- genauer und motivierender gestaltet werden.

Risiken und Herausforderungen Diese Potenziale gilt es zu nutzen und zu fördern, ohne dabei die Risiken zu überge- hen, die die neuen Technologien mit sich bringen. Denn natürlich wirken die oben be- schriebenen Mechanismen auch im Marketing und der politischen Kommunikation ausgezeichnet. Der echte Raum wird durch den augmentierten Raum überlagert. Bei- spielsweise erhielten Burger-King-Kunden 2019 in Brasilien einen kostenlosen Burger, wenn sie mit ihrem Smartphone die Werbeanzeigen von McDonald’s virtuell in Flam- men setzten. Noch funktioniert eine solche Nutzung über eine Smartphone-App le- diglich wie ein Fenster in eine andere Welt. Sollten wir allerdings in unserem Alltag AR- Brillen tragen, dann stellt sich die Frage, wer in Zukunft kontrolliert, was wir um uns herum wahrnehmen. Sehr wahrscheinlich werden die Plattforminhaber diese Funkti- on übernehmen, ähnlich wie das in sozialen Medien heute schon Realität ist. Auch die technologiebedingt detailliert erhobenen Bewegungsdaten stellen eine neue Heraus- forderung für den Datenschutz dar. Die Aufmerksamkeit der Anwender lässt sich zu je- der Zeit von Kopf- und Augenbewegung ableiten und sogar lenken. Wenn es Spielde- signern geschickt gelingt, den Spieler unterstützt durch ein Level­ zu navigieren, dann ist es zumindest plausibel, dass es ähnliche Methoden bald auch in der Realität geben

WIRTSCHAFT könnte. Das zusätzliche Potenzial zur Manipulation erfordert in jedem Fall eine intensi- ve Auseinandersetzung mit der Thematik und ein Verantwortungsbewusstsein der An- 6.4 wendungsdesigner. Wir sollten uns der Entwicklung also nicht verschließen, sondern mit offenen Augen voranschreiten. Es gilt, aufzuklären und die Bedingungen zu schaf- fen, dass diese Technologien im bestmöglichen Sinne unserer Gesellschaft und Wirt- schaft zugute kommen. Die Risiken sind am besten zu kontrollieren, wenn die Plattfor- men und Anwendungen aktiv mitgestaltet werden. Die Games-Industrie macht sich neue Möglichkeiten sehr schnell und direkt zunutze, um Spieler auf der ganzen Welt zu begeistern. Die Innovationszyklen sind ver- hältnismäßig kurz und die Motivation, Neues auszuprobieren, sehr hoch. Auch wenn die Games-Branche weit davon entfernt ist, über jeder Kritik zu stehen, stellt sie in manchen Belangen eine Art Testballon für die Gesellschaft dar, ohne das unbedingt selbst sein zu wollen. Spiele sind frei, sie stellen einen risikoarmen Raum zum freiwil- ligen Experimentieren bereit. Spiele verbinden und vermitteln über Grenzen hinweg. Wir sollten uns mehr Zeit nehmen, um spielerisch zu lernen und um von der Games- Industrie zu lernen.

238 —— 239 INDEPENDENT 6.5 GAMES VALENTINA BIRKE & TINO HAHN

Die Computerspiele von unabhängigen Entwicklern werden häufig auchIndie -Spiele genannt (»Indie« wird hier als Kurzform für »Independent« genutzt). Denn wie auch bei Film, Musik und Theater gibt es auch im Gaming-Bereich eine große Bandbrei- te an unabhängigen Produktionen. Über 16 Millionen deutsche Gamer haben bereits von Indie-Spielen gehört – was auf den ersten Blick erfreulich aussieht, unterstreicht gleichzeitig den enormen Nachholbedarf, den Indie-Gaming in der Wahrnehmung auch innerhalb der eigentlichen Zielgruppe hat: Denn laut des »Jahresreport der deutschen Gamesbranche 2019« spielen in Deutschland rund 34,4 Millionen Men- schen (48 Prozent Frauen, 52 Prozent Männer). Weniger als die Hälfte hat somit be- reits bewusst den Begriff »Indie-Spiel« gehört bzw. assoziiert damit eine besondere Art von Spiel, die sich nicht nur inhaltlich und optisch, sondern auch durch die Pro- duktionsbedingungen unterscheidet. So werden Indie-Games in der Regel von Ein- zelpersonen oder kleinen Teams ohne die finanzielle Sicherheit eines etablierten Un- ternehmens entwickelt. Zahlreiche Initiativen werben deshalb massiv für Indie-Spiele, um deren Be- kanntheit zu erhöhen: Die Indie Arena Booth ist der weltweit größte Gemeinschafts- ausstellungsstand für unabhängige Spieleentwickler und gastiert auf verschiedenen Games-Messen und -Events in Deutschland; das »gamescom indie village« ist ein ei- gener Hallenbereich für Indie-Spiele im Rahmen der gamescom. Der game als Ver- band der deutschen Spielebranche verzeichnet seit Jahren wachsende Mitgliedszah- len von unabhängigen Entwicklern und wird dadurch immer mehr zur gemeinsamen Stimme im Dialog mit der Politik bei Themen wie Förderung und Jugendschutz. Dazu kommen zahlreiche Zusammenschlüsse auf sozialen Netzwerken wie Facebook und LinkedIn sowie unregelmäßig stattfindende Treffen und Veranstaltungen wie »Game Jams«, auf denen Entwickler innerhalb kürzester Zeit gemeinsam ein Spielkonzept um- setzen, sich vernetzen und Erfahrungen austauschen (→). Bei Veranstaltungen wie der 4.6 EVENTS Hamburg Games Conference, der gamesweekberlin oder der Entwickler-Fachmes- se GermanDevDays in Frankfurt am Main stehen Indie-Entwickler ebenfalls im Fokus.

WIRTSCHAFT Charakteristiken von Indie-Spielen 42 Prozent der Spielerinnen und Spieler in Deutschland schätzen an Indie-Games die 6.5 große Kreativität, die auch die einzige Möglichkeit ist, bei der Fachpresse auf großes Interesse zu stoßen: Ohne ein klares Alleinstellungsmerkmal ist es für Indie-Entwick- ler nahezu unmöglich, mediale Resonanz zu erzielen, da die personellen Ressourcen für professionelle Pressearbeit oft schlichtweg nicht vorhanden sind. Der individuelle Grafik-Stil vieler Indie-Titel stellt für fast jeden dritten Gamer (32 Prozent) einen Anreiz dar. Den großen Abwechslungsreichtum nennen 29 Prozent der Befragten als Vorteil – hier lässt sich eine Sättigung vieler Gamer durch die zahlreichen Fortsetzungen popu- lärer Spielereihen im sogenannten »AAA«-Bereich der Großproduktionen vermuten. Für 25 Prozent sind die herausfordernden und komplexen Themen ein weiteres Merk- mal, mit denen sich Indie-Spiele inhaltlich abgrenzen können. Die künstlerische Frei- heit und damit einhergehend die individuelle Handschrift einzelner Entwickler ist für 22 Prozent ein Anreiz, Indie-Games zu spielen. Dies steht im starken Kontrast zu Groß- produktionen, die oftmals in Teams von mehreren hundert Mitarbeitern entstehen und in denen sich nur selten die individuelle Handschrift eines einzelnen Künstlers zeigt. Die verwendeten Daten für diesen Status quo zur Wahrnehmung von Indie- Spielen beruhen auf einer Online-Umfrage der YouGov Deutschland GmbH im Auf- trag des Verbands der deutschen Games-Branche, an der 2101 Personen zwischen dem 24. und 29. Juli 2019 teilnahmen. Die Ergebnisse wurden gewichtet und sind re- präsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 16 Jahren. Erfolgreiche Indie-Projekte aus Deutschland setzen deshalb auf einen Mix die- ser genannten Vorteile und kombinieren komplexe Themen mit einer kreativen Um- setzung. Auf diese Weise sind in den letzten Jahren Spiele in Deutschland entstanden, die beispielsweise den politischen Widerstand im Dritten Reich sowohl künstlerisch als auch spielerisch anspruchsvoll umsetzen und dadurch nicht nur bei der Fachpres- ERINNERUNGS­ KULTUR 3.2 se, sondern auch im Feuilleton positive Erwähnung fanden (←). Weitere Beispiele für spielerische Auseinandersetzungen mit Themen von gesellschaftlicher Relevanz sind etwa Games, die sich kritisch mit den Folgen eines Überwachungsstaats, den Gren- zen der Privatsphäre und Gefahren des digitalen Zeitalters beschäftigen. Durch die weltweit immer stärker werdende Akzeptanz von Indie-Spielen kon- zipieren auch viele deutsche Entwickler ihre Spiele bewusst für den internationalen Markt und können aufgrund ihrer kürzeren Entwicklungszeiten schneller auf Trends reagieren. Das führt wiederum dazu, dass ihre Spiele oft von Let’s Playern aufgegrif- fen werden, die diese Spiele für Tausende von Zuschauern gleichzeitig über Livestrea- LET’S PLAY & STREAMING 4.2 ming-Portale wie Twitch spielen und kommentieren (←).

Marktausrichtung, Fördermöglichkeiten und Umsätze Eine weitere Herausforderung, vor der unabhängige Künstler und Kreative auch in an- deren Branchen stehen: Wo hört Selbstverwirklichung auf und wo fängt Selbstaus- beutung an? Viele Indie-Entwickler berichten von langen Arbeitstagen, unklaren Ver- dienstaussichten und leben in prekären Verhältnissen. Kunstschaffende wollen Kunst schaffen und sich nicht ökonomischen Erwartungen unterwerfen. Dieser Spagat zwi-

240 —— 241 schen Kunst und Kommerz fordert viele unabhängige Spieleentwickler deshalb be- sonders heraus, wie persönliche Berichte immer wieder zeigen. Um die eigene Exis- tenz zu sichern, übernehmen Indies deshalb häufig Auftragsarbeiten für Unternehmen 6.5 und öffentliche Einrichtungen und quersubventionieren dadurch die eigentliche Spie- leentwicklung. Diese wirtschaftliche Herausforderung bedarf einer systemischen Lö- sung: Die Studiengänge für Game Designer sollten sich stärker an den Anforderungen einer erfolgreichen Selbstständigkeit orientieren, da viele Absolventen ihr eigenes Un- AUSBILDUNG & ternehmen gründen (→). Das dafür benötigte Wissen eignen sich diese Gründer nach 6.3 ARBEITSMARKT dem Studium allerdings selbst an, werden aber auch zunehmend durch Initiativen wie das Mediengründerzentrum NRW unterstützt. Dadurch wird deutlich, dass dieser Be- darf erkannt wurde und auf regionaler Ebene verstärkt daran gearbeitet wird. Gleichzeitig müssen die Fördermöglichkeiten für die Spieleentwicklung ver- bessert werden. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hinkt im internationalen Ver- gleich deutlich hinterher (→). Das zeigt sich auch deutlich in konkreten Zahlen: Laut 5.2 FÖRDERUNG des game-Jahresreports 2019 landen von 100 Euro, die in Deutschland für Games aus- gegeben werden, nur ca. 4,30 Euro bei deutschen Entwicklern. Ein Jahr zuvor lag die- ser Wert noch bei knapp 5,40 Euro und vor zwei Jahren bei 6,40 Euro – die Tendenz ist also eindeutig rückläufig. Die nötigen Formulare für den Antrag stellen zahlreiche Entwickler außerdem vor einen erheblichen Mehraufwand – doch ohne Förderungen ist die Spieleentwicklung vor allem für neugegründete Studios kaum machbar: Bis ein Prototyp fertiggestellt ist, mit dem sich das Spiel zumindest rudimentär demonstrie- ren lässt, sind oft mehrere Monate Arbeit notwendig. Für etablierte Indie-Entwickler bietet sich eine alternative Form der Finanzie- rung an, die sich nicht nur an Spieler aus Deutschland, sondern aus aller Welt rich- tet: Via Crowdfunding kann man sich an die potenzielle Zielgruppe des Spiels wen- den und interessierten Spielern die Möglichkeit bieten, das Spiel Valentina Birke ist Head of bereits vor der Entwicklung zu kaufen. Dadurch wird die Finanzie- Indie Arena Booth, der welt- rung der Entwicklungsarbeiten zumindest teilweise sichergestellt weit größten Plattform für und gleichzeitig die Bindung zur Zielgruppe erhöht. Faktoren, die Indie-Spiele. Tino Hahn ist den Erfolg einer Crowdfunding-Kampagne begünstigen sind vor- Director of Communications handene Referenzen aus bereits erfolgreich umgesetzten Projek- bei Super Crowd Entertain- ten, ein eingängiges und sofort verständliches Game-Konzept so- ment, dem Veranstalter der wie aussagekräftiges Bildmaterial und Trailer. Indie Arena Booth.

Ausblick Für eine langfristige Stärkung deutscher Entwickler ist neben der weiteren Professio- nalisierung der Branche und einem Ausbau der Fördermöglichkeiten bei gleichzeiti- gem Abbau der bürokratischen Hürden auch eine pragmatischere Herangehenswei- se der Entwickler wünschenswert: Die Erfolgsaussichten des eigenen Spiels sollten vor Entwicklungsstart kritisch beleuchtet werden und das dafür nötige Rüstzeug soll- te von den Ausbildungsstätten und Universitäten vermittelt werden. Denn handwerk- lich können deutsche Indie-Spiele im internationalen Vergleich sicherlich mithalten und immer wieder auch Maßstäbe setzen.

WIRTSCHAFT 6.5

Literatur ✕ Diver, Mike: Indie Games – The Complete Introduction to Indie Gaming. Michael O’Mara Books, London 2016 ✕ Juul, Jasper: Handmade Pixels – Independent Video Games and the Quest for Authenticity. MIT Press, Cambridge/ Massachusetts 2019

242 —— 243 AUTORINNEN & AUTOREN

HANDBUCH GAMESKULTUR A Andree, Martin (PD Dr.) Birke, Valentina studierte an der Universität zu Köln und der ist Head of Indie Arena Booth, der weltweit University of Cambridge, Tätigkeit im inter­ größten Plattform für Indie-Spiele. nationalen Marketing bei Henkel, zuletzt als Vicepresident International Marketing, seit Breuer, Markus (Prof. Dr.) 2015 Lehrbeauftragter an der Universität zu studierte Betriebswirtschaftslehre, Volkswirt- Köln, Institut für Medienkultur und ­Theater, schaftslehre und internationales Steuerrecht 2018 Habilitation im Fach Medienwissen- in Braunschweig, Chemnitz und Hamburg. schaft, unterrichtet als Privatdozent an der Nach Promotion (2011, Friedrich-Schiller-Uni- Universität zu Köln mit dem Schwerpunkt versität Jena) und mehrjähriger Praxistätig- ­digitale Medien. keit bei einer Big-Four-Gesellschaft wurde er 2014 zum Professor an die Fakultät für Wirt- schaft die SRH Hochschule Heidelberg beru- fen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen B unter anderem in der wirtschaftswissenschaft- lichen Analyse des E-Sports und der Frage, Bedenk, Thomas inwieweit eSport öffentlich gefördert werden ist Director Immersive Media bei der Digital- kann bzw. sollte. agentur Exozet und freiberuf‌licher Advisor & Creative Mind mit über 20 Jahren Erfahrung Brincken, Jörg von (PD Dr.) in digitalen Produktionen. Sein Fokus ist VR/ ist Film- und Medienkulturwissenschaftler AR für die digitale Transformation. Er ist ein und Akademischer Oberrat am Institut für gefragter Sprecher auf internationalen Konfe­ Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians- renzen. Bedenk ist Gründungsmitglied des Universität München. Forschungs- und Lehr- ­Virtual Reality Vereins Berlin Brandenburg so- schwerpunkte: Filmphilosophie, ­Filmtheorie, wie des GAME– Bundesverband der deut- Ökonomie des Films, Körperkino, filmische schen Games-Branche e.V. und Jurymitglied Performativität, Blockbuster, Horrorfilm, expe­ diverser Awards. Von 2009 bis 2015 leitete rimenteller Film, transgressives Kino, ­Ästhetik er sein eigenes Spieleentwicklungsstudio und Performativität von Computerspielen, Brightside Games. Davor war er zehn ­Jahre ­Gewalt, Sexualität und gesellschaftlich Tabu­ lang freiberuflicher‌ Designer und Entwick- isiertes in den Medien, Affekttheorie und ler. Er ist Diplom-Mediendesigner und M. Sc. ­Mediennutzung. Zahlreiche Veröffentlichun- Human Factors und lehrte als freier Dozent gen zu den genannten Bereichen. an verschiedenen Hochschulen. 1996 ver­ öffentlichte er seine ersten Computerspiele im Internet.

244 —— 245 C F Castendyk, Oliver (Prof. Dr. jur.) Falk, Felix ist Partner der Kanzlei Brehm & von Moers ist seit 2018 Geschäftsführer des game. in Berlin und berät Mandanten im Bereich Zuvor war er in derselben Funktion bereits für von Filmproduktion, Rundfunk und Print und den BIU tätig und setzte hierbei den Zusam- ist außerdem für die Produzentenallianz (PA) menschluss mit dem GAME – Bundesverband und den Verband Technischer Betriebe für Film der deutschen Games-Branche e.V. mit um. und Fernsehen (VTFF) tätig. Er veröffentlicht Von 2009 bis 2016 war Falk ­Geschäftsführer und forscht als Direktor des Forschungs- und der Unterhaltungssoftware ­Selbstkontrolle Kompetenzzentrums audiovisuelle Medien (USK). Als stellvertretender Vorsitzender der der Hamburg Media School (HMS) zu medien- International Age Rating Coalition (IARC) ökonomischen und -rechtlichen Themen. ­entwickelte er in dieser Zeit unter anderem den globalen Kennzeichnungsstandard für On- line-Spiele und Apps mit. Von 2004 bis 2009 leitete er das Büro von Monika Griefahn, der E Vorsitzenden des Ausschusses für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag. In dieser Eilert, Melanie Funktion verantwortete Falk auch das Thema beschäftigt sich seit vielen Jahren mit The- Computerspiele und begleitete unter ande- men rund um Inklusion. Sie selbst lebt rem die Entstehung des Deutschen Computer­ mit Spinaler Muskelatrophie, einer stetig fort- spielpreises, der 2008 im Deutschen Bundes- schreitenden Muskelschwäche, und nutzt tag beschlossen und 2009 erstmalig vergeben seit früher Kindheit einen elektrischen Roll- wurde. Im Nebenberuf ist er als ­Saxophonist stuhl. Seit sie, nach mehr als 15-jähriger aktiv. (unfreiwilliger) Pause, im Sommer 2017 wie- der zum Gaming gekommen ist, fokussiert Falkenhagen, Lena sie sich ­insbesondere auf Inklusion im Bereich ist Schriftstellerin, Narrative Designerin und des Gamings.­ Sie twittert unter @melly_maeh Dozentin für Games (u. a. University of ­Applied darüber,­ bloggt gelegentlich auf meilert.net Sciences Europe, Hamburg). Sie engagiert und bringt sich auch als Speakerin, Gastauto­ sich als Bundesvorsitzende des Verbands rin oder Gesprächspartnerin bei anderen deutscher Schriftstellerinnen und Schrift­steller ­Medien ein. Im echten Leben ist sie ­gelernte (VS in ver.di) für die Rechte von Autorinnen Bürokauffrau‌ und arbeitet bei einem Assis- und Autoren. tenzdienst für Menschen mit Behinderung in der Verwaltung.

AUTORINNEN & AUTOREN Feige, Daniel Martin (Prof. Dr.) Freyermuth, Gundolf S. (Prof. Dr.) studierte zunächst Jazzpiano, dann Philo­- Ko-Gründungsdirektor des Cologne Game sophie,­ Germanistik und Psychologie an den Lab der TH Köln, dort Professor für Media Universitäten Gießen und Frankfurt am and Game Studies sowie Associate ­Professor Main. In Frankfurt erfolgte die Promotion in für Comparative Media Studies an der ifs Philosophie,­ an der Freien Universität Ber- ­Inter­nationale Filmschule Köln. Zuvor Redak- lin die ­Habilitation. Nach einer Juniorprofes­- teur und freier Autor (Romane, Sachbücher, sur in Stuttgart und einer ­Gastprofessur an Essays, Reportagen, Arbeiten für Hörfunk, Film, der Burg Giebichen­stein in Halle ist er seit Fernsehen). Seine ­Forschungsschwerpunkte 2018 Professor für Philosophie und Ästhetik sind Audiovisualität, ­Transmedialität und an der Staatlichen Akademie der Bildenden Game Studies. Jüngste Publikationen: »Playing Künste Stuttgart. Seine ­Publikations- und ­ Utopia. Futures in Digital Games« (Hrsg. mit Forschungsschwerpunkte liegen an der Benjamin Beil und Hanns Christian Schmidt), Schnittstelle von Ästhetik und theoretischer Bielefeld 2019; »Games | Game Design | Game Philosophie. Seine Monographie zum Com­ Studies. Eine Einführung«, Bielefeld 2015. puterspiel ist 2015 im Suhrkamp-Verlag ­erschienen; sein neues Buch »Die Natur des Friedrich, Jörg Menschen« wird 2021 ebenda erscheinen. ist Game Designer aus Berlin, freier Dozent für Game- und Narrative-Design und ­Gründer Fischer, Jan des unabhängigen Spieleentwicklers Paint­ studierte Kreatives Schreiben und Kultur­ bucket Games, das 2020 die historische Wider- journalismus in Hildesheim. Als freier ­standssimulation »Through the Darkest Journalist arbeitet er lokal und überregional, of Times« veröffentlichte. Vor der Gründung on- und off‌line unter anderem für nacht­- seines Studios arbeitete er 15 Jahre an gro- kritik.de, die Deutsche Bühne, die Hannover- ßen Produktionen wie »Spec Ops: The Line«, sche Allgemeine Zeitung und die WASD. »Dead Island 2« oder »Drakensang« mit. Weiter veröffentlicht er Kurzgeschichten in ­Literaturzeitschriften und Anthologien. Er ist Redakteur der Website vom Spiel des Jahres, Lehrender für Kulturjournalismus an der HBK Braunschweig und international ­bekannter Luftgitarrist.

246 —— 247 Fritsch, Melanie (Dr.) Ghellal, Sabiha (Prof. Dr.) ist Ludomusikologin und Gamesforscherin. studierte Technology Management UID & Ihre Doktorarbeit »Performing Bytes. Musik- Strategy. Sie war Managerin Research & Inno- performances der Computerspielkultur« vation bei Sony Europa, danach Tätigkeit wurde 2018 veröffentlicht. Aktuell arbeitet als freiberufliche‌ Dozentin, sie ist Professorin sie mit Tim Summers an der Herausgabe am Institut für Games der ­Hochschule der des »Cambridge Companion to Video Game Medien Stuttgart. Music«. Sie ist Mitglied der ­Ludomusicology Research Group (ludomusicology.org), Görlich, Daniel (Prof. Dr.-Ing.) Mitherausgeberin­ der Buchreihe »Studies in ist Professor für Game Development und Game Sound and Music « und Mitbegrün- ­Virtual Reality an der SRH Hochschule Heidel- derin der Society for the Study of Sound berg und Mitglied im Branchenverband and ­Music in Games (sssmg.org) sowie des game. Er unterrichtet unter anderem Soft- Journal of Sound and Music in Games. Sie wareentwicklung, Virtual, Augmented und arbeitete außerdem­ als PR & ­Communications Mixed Reality sowie wissenschaftliches Managerin in der Gamesbranche und war ­Arbeiten mit dem Schwerpunkt auf der Ent- Lehrbe­auftragte an der Humboldt-Universi- wicklung und Gestaltung virtueller Welten. tät zu Berlin. 2020 erschien sein Buch »eSport: Status quo und Entwicklungspotenziale«, gemein- sam herausgegeben mit seinem Kollegen G Markus Breuer. Graf, Michael Garbe, Andreas hat 2003 seine Ausbildung bei ­GameStar absolvierte sein Abitur und Philosophie­ begonnen und – zumindest gefühlt – ­nie- studium in . Seit 1999 ist er als Ex-­ mals abgeschlossen, weil ihm die turbu­lente perte für Computer- und Videospiele beim Spiele­branche ständig neue Lehren und deutschen Fernsehen tätig, seit 2007 Überraschungen beschert. Heute gestaltet im ZDF. Darüber hinaus ist er freier Autor, er als Mitglied der Chefredaktion den Moderator und regelmäßig Gesprächs- redaktionellen Kurs des Computerspiel­ gast zu allen Themen rund um das Medium magazins ­GameStar mit und verantwortet Game. Mit Gewaltspielen und Wirkungs­ das Mit­gliederangebot ­GameStar Plus forschung beschäftigt er sich seit mehr als samt GameStar-Podcast. zehn Jahren besonders intensiv. Grube, Susanne ist Mitarbeiterin für Wissenskommuni­- kation am Staatlichen Museum für Natur­ kunde Stuttgart.

AUTORINNEN & AUTOREN H Hahn, Tino Huberts, Christian ist Director of Communications bei Super studierte Kulturwissenschaften und ästheti­ Crowd Entertainment, dem Veranstalter der sche Praxis an der Universität Hildesheim Indie Arena Booth. und arbeitet seit 2009 als kultur- und medien­ wissenschaftlicher Publizist in Berlin. Sein Heinrich, Karen (Dr.) ­inhaltlicher Fokus ist die digitale Spielkultur ist Dipl.-Kulturwissenschaftlerin (Szenische in allen Facetten. Zurzeit ist er Redakteur und Künste) und promovierte 2013 an der Stiftung Autor für das Spielkultur-Bookazine WASD, Universität Hildesheim über Cosplay und kuratiert Texte auf dem News-Aggregator Fan Costuming in Deutschland und ­Amerika, piqd.de und hat regelmäßige ­Auftritte als Ex- mit Fokus auf dem Anime- und Star-Wars- perte für digitale Spiele. Zuletzt hat er den Fandom. Arbeitet seither in der freien Wirt- Game-Studies-Sammelband »Zwischen | schaft als Assistentin und freiberuf‌lich Welten: Atmosphären im Computerspiel« im als Autorin und Lektorin. Bloggt und spricht vwh-Verlag herausgegeben. Daneben unter- leidenschaftlich über Cosplay, Handwerk stützte er als Associate Producer das Berliner und Fankultur auf wigs101.com. Studio waza! Games bei der Entwicklung der politischen Bildungs-App »Konterbunt«. Heinz, Daniel Für die Stiftung Digitale Spielekultur arbeitet ist Fachbereichsleiter Digitale Spiele bei er aktuell als Projektmanager für den »Pitch der Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW, Jam: Memory Culture with Games«. er hat die Projektleitung für den Spielerat­ geber-NRW und als Redaktionsleiter Digitale Spiele pädagogisch beurteilt. J Junge, Jens (Prof. Dr.) absolvierte zuerst eine Ausbildung als Verlags­ kaufmann und studierte danach Volkswirt- schaft und Geschichte. Zusammen mit dem Zeichner Kim Schmidt verlegte er Comics, seit Ende der 1990er Jahre entwickelte er erste Internetprojekte unternehmerisch. Seit 2014 ist er Direktor des Instituts für Ludologie an der SRH Hochschule für Kommunikation und Design in Berlin.

248 —— 249 K Kiel, Nina Koubek, Jochen (Prof. Dr.) lebt und arbeitet als Spielejournalistin, -for- ist Professor für Digitale Medien an der scherin und -entwicklerin in Düsseldorf. Fakultät für Sprach- und Literaturwissen- 2014 erschien ihr Buch »Gender in Games«. schaften der Universität Bayreuth. Er stu­dierte Als Deutschlands führende Expertin für Mathematik, Philosophie und Informatik in Diversität in der Spielekultur veröffentlicht Darmstadt und Bordeaux. Anschließend pro- sie regelmäßig Texte und hält Vorträge movierte er in Kulturwissenschaften mit ei- zu diesem­ Themenbereich. Ihr aktueller For- ner Arbeit über kulturelle Auswirkungen des schungsschwerpunkt ist die Darstellung ­Internets und arbeitete am Institut für Infor- von (insbesondere queeren) Beziehungen matik der Humboldt-Universität zu Berlin mit und Sexualität in Games. dem Forschungsschwerpunkt informatische Bildung und digitale Kompetenzen. Seit 2009 Köhler, Stefan ist er Medienwissenschaftler an der Univer­ ist vormittags Lehrer für Deutsch und Eng- sität Bayreuth und arbeitet zur Geschichte, lisch an einer Sekundarschule in Nieder- ­Ästhetik, Medialität und Kultur von Computer­ sachsen und beschäftigt sich nachmittags spielen. An der Universität Bayreuth können mit dem Schreiben für und dem Nach­- Computerspielwissenschaften im Bachelor denken über digitale Spiele. Dabei interes­ und Master studiert und in einem Promotions- sieren ihn (auch als freier Dozent) neben programm beforscht werden. der Bedeutung von Modding für die Games­ kultur, die er als Diplom-Kulturwissen- schaftler seit 2010 erforscht, vor allem das Thema Spielerisches Lernen (zuletzt 2017 als Narrative Designer für das Serious Game »Martin Luther auf der Spur«) und die Rolle von Spielen in der Ästhetischen Bildung wie auch im Deutschunterricht.

Kohring, Torben ist freier Medienpädagoge und Jugend- schutzsachverständiger bei der Unterhal- tungssoftware Selbstkontrolle (USK).

AUTORINNEN & AUTOREN L M Lange, Andreas Montag, Annegret ist Geschäftsführer des Europäischen Ver­ studierte Lehramt für Gymnasien an der Uni- bandes der Computerspielarchive, -­museen versität Kassel. Nach dem Studium der ­Fächer und Bewahrungsprojekte (EFGAMP) und Germanistik und Politik & Wirtschaft war Gründungsdirektor des Computerspielemuse- sie dort als Lehrkraft für besondere Aufgaben ums in Berlin, das er bis 2018 kuratorisch lei- im Fachgebiet Primarstufendidaktik Deutsch tete. Der studierte Religions- und Theater­ ­tätig. Von 2019 bis 2020 war sie als ­Referentin wissenschaftler­ co-initiierte 2019 mit »Art of für Talents und Serious Games beim game – Coding« den weltweit ersten Kulturerbe­- Verband der deutschen Games-Branche ange- antrag einer digitalen Kulturpraxis und ist Mit- stellt. Seit Juni 2020 ist sie wissenschaftliche glied in verschiedenen Gremien wie dem Mitarbeiterin an der Martin-Luther-­Universität Fachausschusses Kulturerbe des Deutschen Halle-Wittenberg und verfasst ihre Disser- Kultur­rates oder dem Branchenausschuss tation zum Einsatz von Computerspielen im Kreativ­wirtschaft der IHK Berlin. Darüber hin- Deutschunterricht. Ihre Forschungsschwer- aus arbeitet er unter anderem als Experte punkte sind: Mediendidaktik, ­Literaturdidaktik, für die EU und die UNESCO. Medienverbünde, Games im schulischen ­Kontext. Lorber, Martin studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Möring, Sebastian (Dr.) Völkerkunde an der Universität zu Köln und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ko­ volontierte anschließend beim Süddeutschen operationsstudiengang Europäische Medien- Rundfunk in Stuttgart. Seit 2004 arbeitet er wissenschaft der Universität Potsdam und für Electronic Arts als PR Director und Jugend­- der Fachhochschule Potsdam und leiten- schutzbeauftragter. Er ist Beisitzer bei der der Koordinator des DIGAREC (Zentrum für Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Me- ­Computerspielforschung der Universität dien, stellvertretendes Mitglied des Beirats Potsdam). Seine ­Forschungsschwerpunkte der Unterhaltungssoftware ­Selbstkontrolle ­liegen in der Philosophie und Ästhetik von (USK) und im Vorstand von JusProg, einem Computerspielen, In-Game-Fotografie ­sowie Anbieter einer staatlich anerkannten Jugend- den Green Game Studies. Er promovierte schutzsoftware. Er ist Mitbegründer der in- am Center for Computer Games Research ternationalen Konferenz über digitale ­Spiele der IT University of Copenhagen mit einer »Clash of Realities«, die seit 2006 an der TH ­Arbeit über den Metapherdiskurs in den Game Köln stattfindet. An der Universität zu Köln ­Studies und untersuchte als Postdoc an der hat er einen Lehrauftrag für Public Relations. School of Creative Media der City ­University of Hong Kong existenzielle Strukturen von Computerspielen.

250 —— 251 P Müller-Lietzkow, Jörg (Prof. Dr.) Pfister, Eugen (Dr.) absolvierte zuerst eine Banklehre und studier- ist Historiker und leitet das SNF-­Ambizione te anschließend Wirtschaftswissen­schaften Forschungsprojekt »Horror-Game-Politics: in Wuppertal. Seine Dissertation befasst sich Die visuelle Rhetorik politischer Mythen in di- mit Virtualisierungsstrategien in klassischen gitalen Horrorspielen« an der Hochschule ­ ­Industrien. In Jena hatte er eine Professur für der Künste Bern (HKB). Er studierte Geschich- Kommunikationswissenschaft mit dem Schwer- te und Politikwissenschaften an der Univer­sität punkt Ökonomie und Organisation der Me- Wien sowie der Universität Paris-Sorbonne dien inne, danach war er Lehrstuhlinhaber für und promovierte an der Universita degli studi Medienökonomie und Medienmanagement di Trento sowie an der Johann Wolfgang in Paderborn. Seit 2019 ist er Präsident der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine HafenCity Universität Hamburg und Professor Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich für Ökonomie und Digitalisierung. der Politikgeschichte und Ideengeschichte des Digitalen Spiels. Er ist Gründungsmitglied des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft N und Digitale Spiele (AKGWDS). Pfister, Linda Nolden, Nico (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ins- lehrt und forscht seit 2019 in der Public titut für Games der Hochschule der Medien History an der Leibniz Universität Hannover. Stuttgart. Seine Schwerpunkte liegen auf Geschichte in digitalen Spielen und Virtual Reality. Von 2014 bis 2019 baute er an der Universität Hamburg das GameLab der Historiker und die dortige Spielebibliothek auf. Er ist Grün- dungsmitglied des Arbeitskreises Geschichts- wissenschaft und Digitale Spiele (AKGWDS) und seither in dessen Leitungsgremium. 2020 erschien seine Doktorarbeit unter dem Titel »Geschichte und Erinnerung in Com­ puterspielen. Erinnerungskulturelle Wissens- systeme«. Seit 2009 schreibt er über his­ torische Aspekte von digitalen Spielen in seinem Blog »Keimling«.

AUTORINNEN & AUTOREN R Raczkowski, Felix (Dr.) Rodewald, Vera Marie ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehr- ist Medienpädagogin in Hamburg. Als wissen- stuhl für Digitale und Audiovisuelle ­Medien schaftliche Mitarbeiterin an der ­Hochschule der Fachgruppe Medienwissenschaft an für Angewandte Wissenschaften Hamburg und der Universität Bayreuth, wo er im Master­ Lehrbeauftragte unter anderem für die Leu- studiengang Computerspielwissenschaften phana Universität Lüneburg unterrichtet sie unterrichtet. Er hat seine Promotion an der im Bereich Medienbildung und Kulturvermitt- Ruhr-Universität Bochum mit einer Arbeit lung. Sie ist Mitglied der Initiative Creative zur Digitalisierung des Spiels abgeschlossen, Gaming (creative-gaming.eu) und konzipiert die die Wissens- und ­Mediengeschichte Workshops und Fortbildungen zum kreativen »nützlicher« Spiele wie Serious Games und Umgang mit digitalen Spielen für Jugendliche, ­Gamification untersucht. Seine Forschungs­ Eltern, Lehrkräfte und Multiplikatoren. Als interessen sind Theorien des Spiels und Festivalleitung von PLAY – Creative Gaming des Spielens sowie die Geschichte, ­Ästhetik Festival (playfestival.de) gibt sie der digita- und Theorie digitaler Medien. ­Zudem inter­ len Spielekultur und ihren Potenzialen für Bil- essiert er sich für die Medien moderner Büro­ dung und Kultur jährlich eine Plattform. arbeit und arbeitet an einem ­Projekt zu den ­Dimensionen von Fakes in digitalen Kulturen. Rauscher, Andreas (PD Dr.) S ist Privatdozent für Medienwissenschaft mit dem Forschungsschwerpunkt Filmwissen- Schemer-Reinhard, Timo (Dr.) schaft und Game Studies an der Universität hat von 2006 bis 2008 für das medienwissen- Siegen, Journalist und Ausstellungskurator. schaftliche Seminar der Universität Siegen Er promonvierte an der Johannes Gutenberg- als medienwissenschaftlicher Koordinator des Universität Mainz zum Thema »Das Phäno- Studiengangs Medieninformatik gearbeitet – men Star Wars – Virtuelle Räume und meta­ seit 2008 ist er dort Lehrkraft für besondere phorische Welten«. In seiner Habilitation ­ Aufgaben. 2017 hat er zum Thema Interface- befasste er sich mit »Spielerischen Fiktionen – theorie promoviert. ­Forschungsschwerpunkte Genrekonzeptionen in Videospielen«. Er ist und Veröffentlichungen in den Bereichen Mitherausgeber diverser Publikationen, die Game Studies und Interfacetheorie. sich mit Film, Games und populärer Kultur auseinandersetzen.

Retz, Celina ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ins- titut für Games der Hochschule der Medien Stuttgart.

252 —— 253 Schmid, Ulrich Strobel, Benjamin (Dr.) studierte Biologie und Geografie für das Lehr- ist Psychologe. Seit mehr als zehn Jahren be- amt in Tübingen. Nach dem 1. Staatsexamen schäftigt er sich mit digitalen Spielen und absolvierte er das Referendariat für das Lehr- ihrer kulturellen, medienpädagogischen und amt an Gymnasien, das er mit dem 2. Staats­ psychologischen Bedeutung. Sein Interesse examen abschloss. Daran schloss er ein Volon- gilt den besonderen Merkmalen digitaler tariat an den Staatlichen Museen für Natur- Spiele, ihren Gemeinschaftsräumen und den kunde in Stuttgart an. Seit 1989 ist er dort tä- vielfältigen Kulturpraxen rund um Games. tig, zuerst als Wissenschaftlicher Angestellter In der Initiative »Keinen Pixel den Faschisten!« und seit 2003 als Leiter der Abteilung Kom- engagiert er sich für Vielfalt und sichere munikation. Räume in Gaming-Communitys.

Schwingeler, Stephan (Prof. Dr.) ist Professor für Medienwissenschaft an der Hochschule für angewandte Wissenschaft U und Kunst Hildesheim/Holzminden/­Göttingen (HAWK). Zuvor war er Professor für Game Uzunoğlu, Çiğdem ­Design in Stuttgart. Sein erstes Buch mit dem ist seit Februar 2018 Geschäftsführerin der Titel »Die Raummaschine« analysiert Raum Stiftung Digitale Spielekultur. Sie bringt und Perspektive in Computerspielen. Sein umfangreiche Erfahrungen aus der Stiftungs­ zweites Buch »Kunstwerk Computerspiel« un- arbeit mit: Zuletzt war sie Geschäftsführerin tersucht die Strategien der Game Art. Er lei- von »Die gelbe Villa«, der Stiftung Jovita. tete das GameLab der HfG Karlsruhe und hat Bereits zuvor sammelte sie umfangreiche Er- das Next Level Festival als Beiratsmitglied fahrungen in Leitungspositionen als Mitglied und Berater begleitet. Als Kurator war er unter der Geschäftsleitung bei der Walter Blüchert anderem verantwortlich für die Ausstellung Stiftung sowie als Bereichsleiterin bei der »ZKM_Gameplay« im ZKM | Zentrum für Kunst ­Stiftung der Deutschen Wirtschaft. Uzunoğlu und Medien. Mit dem Goethe-Institut kura- studierte Politikwissenschaft an der Freien tierte er »Games and Politics«, die als Welt- Universität in Berlin. tournee in 40 Länder reist. Er kuratierte die GameZone des Internationalen Trickfilmfesti­ vals Stuttgart sowie die Ausstellung »Digital Games« im Ludwigforum in Aachen.

AUTORINNEN & AUTOREN W Wiedemann, Thorsten S. Zimmermann, Olaf ist Gründer und Künstlerischer Leiter von Publizist, Kunsthändler, war ­Geschäftsführer A MAZE., einem internationalen Arthouse verschiedener Galerien. 1987 gründete er Event Label für Games und Playful Media. eine eigene Galerie für zeitgenössische Kunst in Köln und Mönchengladbach. Seit 1997 ist Zimmermann Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, des Spitzenverbandes der Bun- Z deskulturverbände in Berlin. Zudem ist er Her- ausgeber und Chefredakteur von Politik & Zimmermann, Felix Kultur, der Zeitung des Deutschen Kulturrates. studierte Kommunikationswissenschaft, Ge- 2018, 2019 und 2020 war er Vorsitzender schichtswissenschaft und Public ­History in der Hauptjury des Deutschen Computerspiel- Münster und Köln. Er ist Promotionsstipen­diat preises. Er ist Vorsitzender des Beirates der der a.r.t.e.s. Graduate School for the Huma- Stiftung Digitale Spielkultur. nities Cologne und Mitglied des Leitungsgre­ miums des Arbeitskreises Geschichtswis- senschaft und Digitale Spiele (AKGWDS). Er forscht zu Digitalen Spielen als Teil erlebnis- orientierter Geschichtskulturen sowie zum ­atmosphärischen und erinnerungskulturellen Potential des Mediums. Neben seiner wissen- schaftlichen Tätigkeit tritt er als Beobachter und Kommentator der Digitalspiel­branche auf und veröffentlicht seit 2012 Beiträge zu The- men der Digitalspielkultur.

254 —— 255 GLOSSAR

HANDBUCH GAMESKULTUR A Action-Adventure Anzahl von Spielversuchen), werden daher → Adventure auch als Arcade-Spiele bezeichnet. Durch das Verbot von Spielautomaten an öffentlichen Adventure Plätzen 1985 konnte sich eine vergleichbare Das Genre der Adventures umfasst Com­- Arcade-Kultur nicht in Deutschland entwickeln. pu­terspiele, bei denen Räume, Landschaften oder Szenen von einem Ausgangspunkt zu Atari einem Endpunkt durchquert werden müssen. Das Unternehmen wurde 1972 von Nolan Üblicherweise setzt der Spielfortschritt das Bushnell und Ted Dabney in Sunnyvale, Sammeln verschiedener Gegenstände zum Lö- Kalifornien, in den USA gegründet. 1971 ver­ sen von logischen Rätseln voraus. Die ersten, öffentlichten die beiden Elektroingenieure Text-basierten Adventures wie Zork (1980) wer- mit ihrer Vorgängerfirma Syzygy Engineering den noch über Texteingaben auf der Tastatur bereits das erste kommerzielle Arcade-Spiel gesteuert (z. B. »öffne Tür«), bei grafischen Computer Space (1971). Unter dem Namen ­Atari Point-and-Click-Adventures wie The Secret of folgte der sehr einfluss- und erfolgreiche Monkey Island (1990) wird der Spielverlauf mit Spielautomat Pong (1972). Aufbauend auf ­ihrem der Maus kontrolliert (»Zeigen und Klicken«). finanziellen Erfolg, wurde Atari zu ­einem Moderne Adventures wie Life is Strange (2015) ­Pionier und Wegbereiter der Gameskultur. legen ihren Fokus oft auf eine an Filmen und Neben stilprägenden Spieleklassikern wie Serien orientierte Präsentation und stellen Asteroids (1979) und Battlezone (1980), produzier- Dialoge und dramatische Entscheidungssitu- te das Unternehmen auch Konsolen wie die ationen in den Vordergrund. Action-Adven- 1977 erschienene und auch als Atari Video tures wie The Legend of Zelda (1986) überneh- Computer System (Atari VCS) bekannte Atari men hingegen Elemente aus Actionspielen, 2600. 1976 verkauften Bushnell und Dabney wie feindliche Figuren und Passagen, die Ge- Atari an das Medienunternehmen Warner. Zu schicklichkeit und schnelle Reflexe erfordern. diesem Zeitpunkt machte das ­Unternehmen einen Umsatz von etwa zwei Milliarden US- Arcade Dollar. Durch wachsende Konkurrenz und Bei Arcades handelt es sich um vor allem den einbrechenden Markt für ­Computerspiele in den 1980er und 1990er Jahren in den USA in den 1980er Jahren wurden die einzelnen und Japan populäre, öffentliche Spielhäuser ­Produktsparten des Unternehmens 1984 ge- in denen Spielautomaten gegen Geldeinwurf trennt weiterverkauft. Heute existiert Atari benutzt werden können. Computerspiele wie nur noch als Marke und ist seit 2009 der neue Space Invaders (1978) oder Donkey Kong (1981) Name der französischen Aktiengesellschaft haben hier ihren ersten Auftritt als Münzauto­ Infogrames Entertainment mit Sitz in Paris. Be- mat. Computerspiele, die ursprünglich aus schäftigte das Unternehmen zu Hochzeiten der Spielhalle kommen sowie neue Computer- etwa 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, spiele wie Cuphead (2017), die ähnliche typische sind es heute nur noch 20. Der jährliche Um- Elemente aufweisen (z. B. kurzweiliger Spiel- satz beträgt rund 15 Millionen Euro. verlauf, hoher Schwierigkeitsgrad, ­begrenzte

256 —— 257 B Aufbau-Strategie Battle Royale → Strategie Battle Royale ist ein noch außerordentlich ­junger Genrebegriff, der eine Art von ­Spielen Avatar beschreibt, die grundlegend auf drei Prin­ Der Avatar ist der sichtbare Stellvertreter zipien fußt: Erstens werden die Avatare der der Spielenden in der Spielwelt. Klassischer- Spielenden in einem abgegrenzten Gebiet weise wird in den Avatar-Theorien der Game mit einer großen Anzahl an anderen Spielen- Studies die Doppelrolle des Avatars betont: den abgesetzt. Zweitens müssen die Spiel­ Auf der einen Seite bestimmt der Avatar die enden dort mit den Mitteln, die ihnen oft per Perspektive auf das Spielgeschehen. Auf der Zufall zur Verfügung gestellt werden (also anderen Seite ist der Avatar das Werkzeug z. B. mit in der Spielwelt gefundenen Waffen) mit dessen Hilfe Spielende auf die ­Spielwelt gegen die anderen Spielenden kämpfen. einwirken können. Anhand dieser beiden Und drittens gewinnt am Ende die Person, die ­Linien werden Computerspiele dann auch oft als letztes übrigbleibt, wobei sich die Spiel- unterschieden. Es gibt Spiele aus der ersten welt automatisch immer weiter verkleinert und Person (z. B. First-Person-Shooter), dann sind so eine Spielentscheidung erzwungen wird. meist nur die Hände des Avatars oder klassi- In dieser klaren Struktur kam das Genre erst- scherweise eine Waffe zu sehen. Es erscheint mals mit PlayerUnknown’s Battlegrounds (2017) so, als würden die Spielenden direkt in die zu großem Erfolg; weltweit bekannt ist bei- Welt hineingreifen. Verbreitet ist darüber hin­ spielsweise Fortnite (2017). Seitdem wurde das aus das Spielen aus der dritten Person (z. B. ­grundlegende Spielprinzip vielfach variiert. Third-Person-Shooter). Hier ist die Avatarfigur Geläufig sind mittlerweile solche Abwandlun- in der Spielwelt zu sehen. Es erscheint so, gen, die das Spielen in kleinen Teams ermög­ als würden Spielende eine andere Person in lichen, sodass es nicht ausschließlich um der Spielwelt steuern. den Kampf jeder gegen ­jeden, sondern auch um Kooperation geht.

GLOSSAR C D Controller Deutscher Computerspielpreis (DCP) Mit Controller werden zusammenfassend Der Deutsche Computerspielpreis ist ein seit alle Eingabegeräte beschrieben, die zum Steu- 2009 verliehener Förderpreis für die ­deutsche ern von Computerspielen genutzt werden. Computerspielbranche, der aus der Koope- Besonders sind hierbei an PCs und Konsolen ration der beiden Branchenverbände GAME – die sogenannten­ Gamepads hervorzuheben, Bundesverband der deutschen Gamesbranche also Eingabegeräte, die über ­unterschiedliche und Bundesverband Interaktive Unterhaltungs- Zusammenstellungen von beweglichen Steu- software (BIU) und dem damaligen Beauf- erungsknüppeln (engl.: »Sticks«), Steuerkreuz tragten der Bundesregierung für Kultur und sowie Aktionsknöpfen und Schultertasten ver- ­Medien (BKM) hervorgegangen ist. Seit 2014 fügen. Über Gamepads hinaus gibt es noch steht der Preis von Bundesseite unter der Ver- viele weitere Controller-Geräte, die zum Steu- antwortlichkeit des Bundesministeriums für ern verwendet werden können. Bekannt ist Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI). Von beispielsweise der Controller der Konsole 2019 an vertritt der aus den oben ­genannten Nintendo Wii, der über Bewegungssteuerung Verbänden fusionierte game – Verband der funktioniert, also indem er im Raum hin und deutschen Gamesbranche die Seite der Kultur- her bewegt wird. Des Weiteren gibt es soge- wirtschaft. Unter den oft aktualisierten Aus- nannte Joysticks, die im Grunde einem großen zeichnungskategorien lassen sich z. B. »Bestes­ Steuerungsknüppel entsprechen, der durch Deutsches Spiel«, »Bestes Serious Game« verschiedene Funktionstasten ergänzt wird. oder »Bestes Mobiles Spiel« als Konstanten Insgesamt lässt sich allerdings festhalten, dass identifizieren. Auch internationale, d. h. nicht das Gamepad die verbreitetste Controller-Art überwiegend in Deutschland entwickelte darstellt und häufig auch Gamepads gemeint Spiele werden ausgezeichnet, doch sind ­diese sind, wenn beispielsweise von einem Xbox- Auszeichnungen im Gegensatz zu den oben Controller oder einem PlayStation-Controller genannten explizit nicht dotiert. 2020 wurden gesprochen wird. insgesamt Preisgelder in Höhe von 590.000 Euro ausgeschüttet, wovon besonders auch Nachwuchsstudios, die in Kategorien wie »Bestes Debüt« oder »Bester Prototyp« ausge­ zeichnet werden, profitieren. Der Preis wird im jährlichen Wechsel in Berlin oder München vergeben.

258 —— 259 Deutscher Kulturrat Echtzeitstrategie Der Deutsche Kulturrat ist der Spitzenver- → Strategie band der Bundeskulturverbände. Seinen acht Sektionen gehören insgesamt 258 Bundes- Ego-Shooter kulturverbände und -organisationen an. Der → Shooter Deutsche Kulturrat repräsentiert Verbände ­aller kulturellen Sparten (Muik, ­Darstellende Engine Kunst und Tanz, Literatur, Bildende Kunst, Eine Engine ist die einem Computerspiel Baukultur und Denkmalkultur, Design, Film ­zugrundeliegende Software, die alle wesent- und Medien, Soziokultur und kulturelle Bil- lichen Aspekte des Gameplays steuert. Dazu dung. Ihm gehören Verbände der Künstler, der gehören die Produktion und Ausgabe von Kulturunternehmen, der Kultureinrichtungen ­Grafiken und Tönen (z. B. die ­dreidimensionale und der Kulturvereine an. Seit 2006 befasst Umgebung eines Ego-Shooters), physikali- sich der Deutsche Kulturrat intensiv mit dem sche Berechnungen (z. B. der Sprung eines Thema Games und hat hierzu diverse Ver­ Avatars), die Weitergabe und Umsetzung der öffentlichungen vorlegt. Ziel des Deutschen Eingaben der Spielerinnen und Spieler (z. B. Kulturrates ist es, die Rahmenbedingungen das Drücken eines Knopfes auf dem Control- für Kunst und Kultur zu verbessern. ler), das Speichern von Informationen (z. B. das Beenden eines Levels) oder die Kommu­ nikation mit anderen Computern über das Internet (z. B. in einem Online-Rollenspiel). E Bis in die 2000er Jahre war es üblich, dass Entwicklerstudios eigene Engines für ihre Pro­ Electronic Entertainment Expo (E3) duktionen entwickeln. Mittlerweile stellt Die Electronic Entertainment Expo ist eine von das Entwickeln eigener Engines nur noch die dem US-amerikanischen Branchenverband Ausnahme dar, denn es stehen diverse kom- Entertainment Software Association (ESA) seit merzielle, lizenzierbare Engines wie Unity, 1995 jährlich meist in Los Angeles in den USA Unreal oder CryEngine zur Verfügung. Das veranstaltete Besuchermesse. Sie gilt als eine Verwenden einer bereits existierenden ­Engine der einflussreichsten Fachmessen für Compu- schränkt zwar die Flexibilität ein, weil jede terspiele – neben der gamescom in Köln und ­Engine eigene technische Schwerpunkte setzt der in Japan. Vor allem die und damit nicht für jedes Spielkonzept geeig- oft aufwendig inszenierten Pressekonferenzen, net ist, bietet aber den großen Vorteil der auf denen Publisher und Konsolenhersteller Zeit- und Kostenersparnis. Besonders Indie- wie Sony ihre neuesten Produkte präsentieren, Produktionen profitieren von dem niedrig- sorgen in jedem Jahr für viel ­Aufmerksamkeit schwelligen Zugang zu leistungsfähiger Soft- und werden mittlerweile auch über das Inter­ ware. net live gestreamt. Bis 2017 war die E3 nur Fachbesuchern geöffnet, seitdem ist sie aber auch für die Öffentlichkeit zugänglich.

GLOSSAR F First-Person-Shooter Gamepad → Ego-Shooter → Controller

Gameplay Gameplay beschreibt meist das Spielen oder G das Spielgefühl eines Computerspiels und wird dabei als mehr als die Summe der Regeln, Game die ein Spiel vorgibt, der Berechnungen, die Game ist der Verband der deutschen Games- ein Spiel zumeist im Hintergrund unbemerkt Branche. Mitglieder sind ­Entwickler, Publisher durchführt, und der Handlungen der Spieler­ und viele weitere Akteure der Games-Branche innen und Spieler verstanden. Was in einem wie eSport-Veranstalter, Bildungseinrichtun- Computerspiel im Rahmen dieser Elemente als gen und Dienstleister. Als ­Mitveranstalter der Spielerfahrung für die Spielerinnen und Spie- gamescom verantwortet Game das weltgröß- ler entsteht, ist das Gameplay. Die Regeln und te Event für Computer- und Videospiele. Er ist Berechnungen des Spiels können als Spielme- Gesellschafter der USK, der Stiftung ­Digitale chanik beschrieben werden. Aber erst wenn Spielekultur, der esports player foundation Spielerinnen und Spieler aktiv mit der Spielme- und der devcom sowie Träger des Deutschen chanik interagieren, entsteht Gameplay. Computerspielpreises. Als zentraler Ansprech- partner für Medien, Politik und Gesellschaft gamescom beantwortet er alle Fragen etwa zur Marktent- Die gamescom ist eine vom game – ­Verband wicklung, Spielekultur und Medienkompetenz. der deutschen Games-Branche getragene und seit 2009 jährlich in Köln stattfindende Game Design / Game Designer Besuchermesse für Computerspiele. Sie er- Game Design beschreibt zum einen den ganz- setzt die von 2002 bis 2008 jährlich in ­Leipzig heitlichen Prozess, ein Computerspiel zu stattfindende Games Convention. Mit mehr ­produzieren. Dieser Prozess zeichnet sich da- als 300.000 Besuchern gilt die gamescom als durch aus, dass er in sich wiederholenden eine der populärsten und einflussreichsten Phasen (iterativ) von Konzept über Pro­totyp Fachmessen für Computerspiele – neben der bis zu ersten Tests abläuft, bis ein Computer­ Electronic Entertainment Expo in Los ­Angeles spiel den Erwartungen des Studios entspricht. und der Tokyo Game Show in Japan. Die Mes- Zum anderen kann Game Design aber auch se ist geteilt in eine öffentlich zugängliche nur einen bestimmten Teilbereich der Compu­ »Entertainment Area« und eine dem Fachpu- terspielentwicklung beschreiben. Game blikum vorbehaltenen »Business Area«. Be- ­Designer sind in diesem Sinne diejenigen, die gleitet wird die ­gamescom vom gamescom ein Spiel grundlegend erdenken, also eine ­congress, einer Fachkonferenz, auf der neben Spielidee zu einem umsetzbaren Konzept ent- wirtschaftlichen ebenso kulturelle und ge- wickeln. sellschaftspolitische Aspekte von Computer­ spielen durch Expertinnen und Experten ­diskutiert werden.

260 —— 261 Genre Heimcomputer Genres sind im Kontext der Games – wie Die ersten Computersysteme waren zu schwer auch allen anderen Kulturformen – ein ge- anwendbar, zu kostspielig und zu großräu- meinsamer Nenner der Verständigung über mig, um sie im Heimbereich nutzen zu können, das Medium. Genres wie der Ego-Shooter, und wurden daher vor allem in militärischen das Strategiespiel oder das Adventure sind und zivilen Forschungseinrichtungen und in- nicht klar abgegrenzt, sondern treten in nerhalb von privaten Unternehmen eingesetzt. der Realität oft in Mischformen auf. Dass Erst im Laufe der 1970er Jahre ermöglichte trotzdem mithilfe von Genrekategorien über die fortschreitende Mikroprozessor-Technolo- Computerspiele gesprochen wird, hat da- gie kostengünstige und praktikable Compu- mit zu tun, dass Spielende so einen groben ter für den Heimgebrauch. Zu den Pionieren Eindruck davon bekommen können, ob ­gehört 1976 der Apple Ⅰ und ein Jahr später das grundlegende Gameplay eines Spiels der Apple Ⅱ, der bereits über eine eingebaute ­ihren eigenen Vorlieben entspricht. Tastatur und einem Anschluss für einen TV- Monitor verfügt. In den 1980ern Jahren wur- de die Technologie immer ausgereifter und durch die sinkenden Kosten auch für Compu­ H terspiele interessanter. Die erstmals 1982 ­veröffentlichten Heimcomputer Commodore Handheld 64 (C64) und Sinclair ZX Spectrum, der 1985 → Mobile veröffentlichteAtari ST sowie der 1987 veröf- fentlichte Commodore Amiga 500 waren Hardware beliebte Plattformen für Spiele wie The Hobbit Hardware beschreibt die physischen Kom- (1982), Maniac Mansion (1987), The Great Giana ponenten eines Computers. Konsolen sind Sisters (1987) oder Lemmings (1991). Der ab 1982 hier auch eingeschlossen, sodass sowohl von durch den Personal Computer (PC) von IBM Computer-Hardware wie auch von Konso­len- vereinheitlichte Hardware-Standard für Heim- Hardware gesprochen werden kann. Es sind computer verdrängt spätestens ab den 1990er mit Hardware allerdings nicht nur die inner­ Jahren alle anderen Konkurrenten weitge- lichen Bestandteile eines Computers, z. B. hend vom Markt. Heute werden Heimcompu- ­Grafikkarte und Festplatte gemeint, ­sondern ter allgemein­ als PCs bezeichnet und unter­ auch die Eingabegeräte wie Tastatur und scheiden sich im Wesentlichen nur durch ihr ­Gamepad. Die Hardware führt wiederum Betriebssystem, z. B. Windows, Mac OS oder die Software aus, also die nicht-physischen Linux. Bestandteile eines Computers, darunter Be- triebssysteme, Anwendungsprogramme, aber auch Computerspiele. Die Hardware be- stimmt so entscheidend die Leistungsfähig- keit eines Computers, die Software legt fest, wie diese Leistung eingesetzt wird.

GLOSSAR I J Independent Game Joystick Mit dem Begriff Independent Game ist zu- → Controller nächst die weitgehende Unabhängigkeit eines Entwicklerstudios und dessen ­Produkte Jump ’n’ Run von einem Publisher gemeint. Allerdings Das Genre der Jump-’n’-Run-Spiele (Kurzform ist diese Abgrenzung nicht scharf, denn es von Jump and Run) zeichnet sich dadurch aus, ist durchaus möglich, dass ein unabhängiges dass in ihm – wie der Name schon andeutet – Entwicklerstudios auf die Hilfe eines Publis- vor allem gelaufen und gesprungen wird. Das hers zurückgreift, um ein Spiel zu vermarkten. zentrale Gameplay-Element ist damit das prä- Gemeint ist daher ebenso, dass ein Indepen- zise Laufen und Springen. Im 2D-Jump-’n’-Run dent-Entwickler nicht unmittelbar Teil eines wird der Avatar auf einer zweidimensionalen (zumeist großen und finanzstarken) Publishers Bildebene in der Regel von links nach rechts ist, also etwa ein Tochterunternehmen. Ein bewegt. Im 3D-Jump-’n’-Run wird das ­Lau- weiterer Bedeutungsaspekt ist hiermit direkt fen und Springen dadurch erschwert, dass im verbunden: Unabhängige Entwicklerstudios dreidimensionalen Raum auch Abstände rich- haben in der Regel nur geringe Finanzkraft und tig eingeschätzt und die Spielkamera gedreht setzen sich nur aus wenigen Personen zu- werden müssen. Da es in Jump ’n’ Runs oft sammen – auch Studios, die nur aus einer Per- darum geht, auf und über zumeist schweben- son bestehen, sind nicht ungewöhnlich. Hie- de Plattformen springen, werden diese Spie- raus ergibt sich, dass mit dem Begriff Inde- le im englischen Sprachraum oft als »platform pendent Game auch eine bestimmte Art von games« bzw. »platformer« bezeichnet. Spielen gemeint ist, die z. B. nicht an die grafi­ sche Brillanz von Großproduktionen heran­ reichen können, dafür aber in anderen Berei- chen, also mit innovativen Spielmechaniken, einer besonderen audiovisuellen Darstellung oder mit sonst kaum bearbeiteten, oft auch kontroversen Thematiken auf‌fallen. Der Über- gang zu größeren Produktionen oder zu Ko- operationen mit Publishern ist jedoch fließend, sodass eine geläufige und oft ironisch gestell- te Frage in der Games-Branche lautet: »Ist das noch Indie?«

Indie → Independent Game

262 —— 263 K L Konsole Level Konsolen beschreiben geschlossene Spielsys- Level kann im Gameskontext zwei Dinge be- teme von bestimmten Herstellern auf ­denen deuten. Erstens kann damit ein Spiellevel wiederum allein dafür entwickelte Spiele von gemeint sein, also ein abgetrennter Abschnitt ausgewählten Herstellern gespielt werden der Spielwelt. Zweitens kann aber auch das können. »Geschlossen« meint in diesem Fall Charakterlevel gemeint sein. Häufig ­können und in Abgrenzung zu Heimcomputern, dass Avatarfiguren vor allem in Rollenspielen, mitt- Konsolen als Gesamtpaket erworben werden, lerweile aber in immer mehr Genres »aufge­ die Hardware also vom Hersteller ­speziell levelt« werden, d. h. durch das Sammeln von zusammengestellt wurde. Modifikationen sind Erfahrungspunkten – z. B. durch das Töten hier in der Regel nicht vorgesehen. Wegen von Monstern oder das Erfüllen von Quests – ihres Charakters als abgeschlossene ­Systeme können diese Figuren stärker werden. Dieses müssen Konsolen in Abständen von einigen »Leveln« stellt in vielen Spielen einen Kern Jahren durch ihre jeweiligen Nachfolger er- des Gameplays und damit einen zentralen Reiz setzt werden, um die neusten Spiele spielen des Spiels dar. zu können (sogenannte Konsolengeneratio- nen). Dafür liefern die Konsolen in dieser Zeit ein verlässliches Spielerlebnis, weil durch die abgestimmten Hardwarekomponenten M ­gewährleistet ist, dass für die Konsole entwi- ckelte Spiele auch tatsächlich lauf‌fähig sind. Machinima Auf dem PC können im Gegensatz hierzu Der Begriff Machinima setzt sich aus den eng- ­veraltete Hardware oder ­Softwareprobleme lischen Wörtern »Machine« und »Cinema« die Lauf‌fähigkeit von Spielen beeinträchti- ­zusammen. Er beschreibt Filme, die innerhalb gen. Für die gebotene Leistung sind die Kon- oder mit Hilfe von Computerspielen und solen vergleichsweise günstig zu erwerben, deren Engines erstellt werden. In der Praxis was ebenso zu ihrem Erfolg beiträgt. Insge- können etwa die Avatare im Mehrspieler- samt lässt sich in den letzten Jahren eine An- Modus eines Spiels wie Schauspielende agie- näherung von PCs und Konsolen beobachten, ren, die dann von einer oder mehreren Per- ­sodass auch auf Konsolen Spiele installiert sonen, die die Rolle der Kamera übernehmen, und weitere Spieldateien heruntergeladen aufgezeichnet werden. Als erster Machinima werden müssen, ein einfaches Spiel-einlegen- gilt der Kurzfilm Diary of a Camper (1996), und-Losspielen also kaum noch möglich ist. der mit dem Ego-Shooter Quake (1996) erstellt wurde. Computerspiele wie Die Sims 2 (2004) haben mit speziellen Funktionen zur Aufnah- me und Ausgabe von Spielszenen die Pro­ duktion von Machinima maßgeblich verein- facht und damit popularisiert.

GLOSSAR Microsoft Mobile Microsoft wurde 1975 von Bill Gates und Paul Der englische Begriff »Mobile« bezieht sich Allen in Albuquerque, New Mexico, in den ursprünglich auf Mobiltelefone (engl.: »Mo- USA gegründet. Die Firma ist vor allem für ihr bile Phone«) sowie speziell dafür ­angepasste Betriebssystem Windows und das Office- Computerspiele, sogenannte Mobile Games. Paket (Word, Excel usw.) bekannt. Mit der Diese Art von Spielen ist üblicherweise Xbox stieg Microsoft allerdings 2001 auch in auf die technischen Einschränkung (z. B. Be- den Konsolenmarkt ein und ist mittlerweile dienung über das Nummernfeld oder einen neben Sony und Nintendo einer der drei wich- Touchscreen) und die veränderten Nutzungs- tigsten Konsolenhersteller. Der Ego-Shooter bedingungen (z. B. das Spielen während ei- Halo: Kampf um die Zukunft (2001), der exklu- ner Busfahrt) optimiert, beispielsweise durch siv für die Xbox erschien, trug erheblich zum vereinfachtes Gameplay und kurze Spielrun- Erfolg der Konsole bei. Die Abteilung Xbox den. Besonders der Trend zum Smartphone ab Game Studios (zuvor Microsoft Game Studios den späten 2000er Jahren hat zu einer star- und Microsoft Studios) ist außerdem als Pu- ken Ausbreitung von Mobile Games geführt, blisher in der Branche aktiv. Entwicklerstudios die durch leistungsfähige Technologie und wie Rare oder Obsidian Entertainment ge- neue Hardware (z. B. Controller mit Funkver- hören Microsoft und sind unter anderem für bindung) oft kaum noch von Spielen auf der Spiele wie Sea of Thieves (2018) oder The Outer Konsole oder dem PC zu unterscheiden sind. Worlds (2019) verantwortlich. Das Unterneh- Eine ältere Bezeichnung für tragbare Spiel- men macht einen jährlichen Umsatz von mehr konsolen und Spiele ist der englische Begriff als 125 Milliarden US-Dollar und beschäftigt »Handheld«, der etwa noch beim sogenann- weltweit rund 150.000 Mitarbeiterinnen und ten »Handheld Mode« der Nintendo Switch Mitarbeiter. Aktueller Firmensitz ist Redmond, eine Anwendung findet – die Spielkonsole Washington. lässt sich sowohl am heimischen Fernseher als auch als transportierbares System benutzen. MMORPG Durch die große Dominanz der Mobile Games → Rollenspiel am Markt, wird »Handheld« aber zunehmend als Begriff verdrängt.

264 —— 265 N Nintendo Mit Spielkonsolen wie der 2006 erschiene-­ Nintendo wurde bereits 1889 als Hersteller nen Nintendo Wii mit ihrem Controller auf von Spielkarten in Kyoto in Japan gegründet. ­Basis von Bewegungssteuerung oder der 2017 Ende der 1960er Jahre begann Nintendo erschienenen Nintendo Switch, die sowohl mit der Herstellung von anderem Spielzeug an einem Fernseher wie unterwegs genutzt und stieg in den 1970er Jahren in den wach- werden kann, verfolgt Nintendo eine ­andere, senden Computerspielemarkt ein. Schon vor ­stärker auf Familien ausgerichtete ­Strategie dem Nintendo Entertainment System (NES, als Sony und Microsoft, deren Konsolen sich 1985; in Japan schon 1983 als Nintendo vor allem durch immer weiter verbesserte Family Computer) hatte Nintendo ­Konsolen ­grafische Möglichkeiten auszeichnen. Auch veröffentlicht, doch mit dem NES gelang die Spiele, die Nintendo entwickelt und ver- der weltweite Durchbruch – auch, weil hier treibt, wurden seit den 1980er Jahren oft nur bis heute erfolgreiche Spieleserien wie behutsam an moderne Spielgewohnheiten Super Mario Bros. (seit 1985) und The Legend of ­angepasst. Die Super-Mario-Spiele haben sich Zelda (seit 1986) ihren Anfang nahmen. ­Mario, beispielsweise in ihrer Grundanlage bis heute der schnauzbärtige Hauptcharakter der erst- kaum verändert, bieten dafür Innovationen im genannten Serie, tauchte schon 1981 im Detail. Heute macht das Unternehmen einen ­Arcade-Spiel Donkey Kong (1981) auf (damals jährlichen Umsatz von umgerechnet rund zehn noch als »Jumpman«) und ist als agiler und Milliarden Euro und beschäftigt weltweit mehr wandlungsfähiger Hoch- und Weitsprin­- als 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. ger bis heute ein Dauergast in den Spielen von Nintendo. Mit dem Game Boy sorgte Nintendo 1989 für den Durchbruch der Mo- bil-Konsolen (engl.: »Handhelds«). Bis heute O zeichnet sich die Firma als ein Konsolen- Hersteller und Publisher aus, dessen veröf­ Online-Rollenspiel fentlichten Geräte und Spiele ein Profil auf- → Rollenspiel weisen, das sich deutlich von den beiden Hauptkonkurrenten Sony und Microsoft un- terscheidet.

GLOSSAR P PC Puzzlespiel → Heimcomputer Puzzlespiele sind solche Spiele, bei denen es darum geht, Rätsel zu lösen. Dieser Genre­ Point-and-Click-Adventure begriff ist insoweit sehr offen, dass nicht näher → Adventure bestimmt ist, welche Art von Rätsel hiermit gemeint ist. Ein erfolgreiches Mobile Game Publisher wie Candy Crush Saga (2012) kann als Puzzle- Gamespublisher sind mit den aus anderen Kul- spiel bezeichnet werden, weil es hier darum turbereichen bekannten Verlagen vergleich- geht, Farbmuster zu erkennen und Spiel- bar, sind in der Regel aber noch stärker in die steine entsprechend zu verschieben, um Kom- Herstellung des Werkes eingebunden. Pu- binationen herzustellen. Gleichzeitig kann blisher finanzieren in der Regel die Spieleent- aber auch ein Spiel wie Portal (2007) als Puzzle- wicklung, indem sie entweder externe Spiele­ spiel bezeichnet werden, obwohl es sich hier studios beauftragen oder die Entwicklung an um ein deutlich komplexeres Ego-Shooter- ein inhäusiges Studio abgeben, ein ­Studio also, Spiel handelt. Dennoch geht es durch das Set- das dem jeweiligen Publisher gehört. ­Große zen von Teleportationsportalen darum, Raum- Publisher wie Electronic Arts (EA) und ­Ubisoft anordnungen zu erkennen und mithilfe der haben mittlerweile ein weltumspannendes Spielmechanik Objekträtsel in dreidimensio- Netzwerk an Tochterstudios (darunter z. B. nalen Umgebungen zu lösen. BioWare, das zu EA gehört) aufgebaut, in die jeweils einzelne Teilarbeiten einer Spielent- wicklung ausgelagert werden. Großprodukti- onen wie Assassin’s Creed Odyssey (2018) oder (2018) Q Battlefield Ⅴ sind in der für die Spieleent- wicklung in der Regel angedachten Entwick- Quest lungszeit von ca. drei Jahren sonst überhaupt Eine Quest, zu deutsch eigentlich »Suche«, nicht zu realisieren. Häufig nutzen diese Pu- bezeichnet in Computerspielen eine ­Aufgabe, blisher eigene Engines für ihre Spielproduk- die an Spielende gestellt wird. Besonders im tionen und können so in den ­eigenen Studios Bereich der Rollenspiele hat sich der Begriff eine einheitliche Arbeitsweise gewährleis- etabliert, sodass »eine Quest annehmen« eine ten. Darüber hinaus sind Publisher auch für die geläufige Wendung ist, um zu beschreiben, Vermarktung der Spiele zuständig – egal ob dass sich Spielende bei einem Charakter in der intern oder extern entwickelt. Neben ­solchen Spielwelt (dem sogenannten Questgeber) großen Publishern gibt es auch kleinere Pu­ eine Aufgabe abholen. Als Gegenleistung für blisher wie Devolver Digital oder Annapurna die Erfüllung winken in der Regel Belohnungen Interactive, die sich hauptsächlich durch in Form von Spielwährung und Erfahrungs- die Vermarktung von Independent Games punkten. Typische Formen von Quests sind hervortun. solche, bei denen Gegenstände gesammelt und abgeliefert, bei denen Monster erlegt oder bei denen Rätsel gelöst werden müssen.

266 —— 267 R Rennspiel Rollenspiel In Rennspielen müssen Spielende eine mal In Rollenspielen steht das Ausfüllen und mehr mal weniger offene Rennstrecke mit Ausleben einer Rolle im Fokus – etwa durch Fortbewegungsmitteln befahren. Klassischer- das Führen von Dialogen und das detaillier- weise handelt es sich um Autorennspiele, te Bestimmen von Charaktereigenschaften. bei denen auf begrenzten Strecken ­gegen Computerrollenspiele stehen hier besonders Kontrahenten um die Erstplatzierung ge- in der Tradition von Pen-and-Paper-Rollen- kämpft werden muss. Viele ­Untergruppen spielen wie Dungeons & Dragons (1974), ­lassen sich allerdings identifizieren: Bei ­waren also vor allem in ihrer Frühphase stark ­Arcade- oder Fun-Racern verhalten sich die von Fantasy-Szenarien geprägt. Mittlerwei- Fahrzeuge kaum realitätsnah und sind da- le gibt es eine breite Palette an Rollenspielen her einfacher zu kontrollieren. Häufig kom- in verschiedensten Settings. Ebenso ­greifen men auch sogenannte Items zum Einsatz, Rollenspielelemente vermehrt auch in ­andere in der Mario-Kart-Reihe (seit 1992) z. B. Schild­ Genres aus. Typische Elemente, die ursprüng- krötenpanzer, die auf Kontrahenten gewor- lich aus dem Kontext der Rollenspiele stam- fen werden können, um diese zurückzuwer- meln, sind das Personalisieren des eigenen fen. Renn-Simulationen legen wiederum Charakters, das Erfüllen von Quests sowie das einen besonderen Fokus darauf, mög­lichst Sammeln von Erfahrungspunkten und das ­realitätsnah das Fahrgefühl in einem Auto Ausrüsten und »Auf‌leveln« (Level) des ­Avatars. zu simulieren, wobei sogar ­bestimmte Das gemeinsame Rollenspielen und damit ­Controller zum Einsatz kommen, die realen auch das Aufeinandertreffen der erdachten Lenkrädern nachempfunden sind. Spielfiguren ermöglichen Online-Rollen­spiele. Die englische Bezeichnung Massively Multi- player Online Role Playing Game (MMORPG) stellt dabei besonders in den Vordergrund, dass die riesigen Welten moderner Online- Rollenspiele von enormen Spielerzahlen ge- meinsam bevölkert werden. Den Durchbruch schaffte diese Untergattung des Computer­ rollenspiels mit World of Warcraft (2004).

GLOSSAR S Sandbox-Spiel Shooter Sandbox-Spiele sind Computerspiele, die den Ein Shooter beschreibt im weitesten Sinne Spielenden große kreative Freiheit dabei ein Spiel, in dem Spielende auf irgendeine lassen, mithilfe bestimmter Spielmechaniken Art und Weise auf etwas schießen müssen. die vom Game gestellten oder selbst gesetz- Shooter werden in der Regel näher über ten Ziele zu erreichen. Häufig sind Sandbox- die angebotene Spielperspektive bestimmt. Spiele in große, offene Welten (engl.: Open Mit Ego-Shooter (engl.: First-Person-Shooter Worlds) eingebettet, weil sich Synergieeffekte [FPS]) sind daher Spiele beschrieben, die zwischen spielmechanischer und räumli- eine Ego-Perspektive bzw. First-Person- cher Freiheit ergeben. So können sich Spielen- Perspektive anbieten. Vom Spielavatar sind de häufig auch in der Gestaltung dieser Land- in diesem Fall nur die Hände bzw. häufig schaften ausleben und nutzen die weitläufigen nur die in den Händen gehaltene (Schuss-) Flächen mit ihren verschiedenen Interaktions- Waffe zu sehen. Ein Ego-Shooter ist damit angeboten als Experimentierfeld. Das bekann- ein Spiel, bei dem aus einer Ich-­Perspektive teste Beispiel für ein solches Sandbox-Spiel auf etwas oder jemanden geschossen wer- ist Minecraft (2009), das Spielenden in einer dy- den muss. Mit Third-Person-Shooter sind wie- namisch wachsenden Spielwelt die Möglich- derum Shooter beschrieben, in denen die keit gibt, aus quadratischen Blöcken Gebäude Avatarfigur sichtbar ist, Spielende also eine und Vorrichtungen aller Art zu bauen. Figur steuern, die auf andere Wesen oder Gegenstände schießt. Sega 1951 als Service Games of Japan (SEGA) in ­Tokio gegründet, tat sich Sega besonders seit 1985 mit dem Master System als Konso- lenhersteller hervor. Das Mega Drive (1990), der Saturn (1994) und die Dreamcast (1999) sind weltweit bekannte Konsolen, die ­unter Fans bis heute als Liebhaberstücke gelten. Grund dafür sind unter anderem Spiele wie die Sonic-the-Hedgehog-Reihe (seit 1991), für die Sega als Publisher fungiert. 2001 stieg Sega aus dem Konsolengeschäft aus, ist allerdings weiterhin als Publisher aktiv. Der jährliche ­Umsatz des Unternehmens beträgt umgerech- net etwa zwei Milliarden Euro und es ­wer- den weltweit rund 8.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.

268 —— 269 Simulation Sony Der Übergang zwischen Simulationen und Sony wurde 1946 in Tokio in Japan gegrün- Games ist fließend. Mit Simulationen sind Pro- det und ist bis heute für seine vielfältige gramme gemeint, die auf Basis von mathe- Unterhaltungselektronik bekannt. Im Audio­ matischen Modellen realweltliche ­Prozesse bereich hinterließ Sony z. B. mit dem Walk- ­darstellen können. Auch Games simulieren man und seiner Beteiligung an der Entwick- in diesem Sinne ständig, indem sie z. B. in ­einer lung der CD nachhaltige Spuren. 1994 stieg Spielwelt dafür sorgen, dass sich herunter­ Sony auch in den Konsolenmarkt ein, nach- fallende Gegenstände so verhalten, als ­würde dem zuvor eine Kooperation mit Nintendo ge­- die Schwerkraft wirken. Simulationen als scheitert war. Die PlayStation ist bis ­heute Genre meinen jedoch nur Games, die den As- eine der erfolgreichsten Konsolen der Welt pekt des Spielens hinter den der realistischen und wird 2020 in der fünften Generation fort- Simulation stellen und deswegen in ­extremen gesetzt. Gleichzeitig ist Sony, wie Nintendo Fällen von vielen Spielenden nicht mehr als und Microsoft, als Sony Inter­active Entertain- Games verstanden werden. Bei Simulations- ment als Publisher aktiv. Entwicklerstudios programmen (oder -spielen) zählt die Quali- wie Naughty Dog, das für die Uncharted- tät der Simulation, d. h. es wird eine möglichst Reihe (seit 2007) und die The-Last-of-Us-Reihe (seit realitätsnahe Erfahrung erwartet. Bekannt 2013) verantwortlich zeichnet, gehören zu Sony. und erfolgreich sind z. B. der Landwirtschafts- Das Unternehmen erwirtschaftet einen jähr­ Simulator (seit 2008) oder der Microsoft Flight lichen Umsatz von mehr als 70 Milliarden Euro Simulator (seit 1982). und beschäftigt weltweit rund 114.000 Mit­ arbeiterinnen und Mitarbeiter. Software → Hardware Spielhalle → Arcade

Spielmechanik → Gameplay

GLOSSAR T Strategie Third-Person-Shooter Strategiespiele sind Spiele, die Vorausplanung → Shooter und taktisches Geschick erfordern, um er­ folgreich gespielt werden zu können. Zwei Un- tergruppen können unterschieden werden, die sich in der langen Tradition des Computer­ W strategiespiels eng mit Brettspielen und auch dem historischen militärischen ­Planspiel Walking-Simulator verbunden herauskristallisiert haben: die Echt- Walking-Simulator ist ein noch junger Genre­ zeit­­strategiespiele und die Rundenstrategie­- begriff, der sich nach dem Erscheinen von spiele. Echtzeitstrategiespiele verlangen zeit- Dear Esther (2012) etabliert hat, einem Spiel, in kritisches strategisches Handeln, also virtu­- dem es keine Gewalthandlungen gibt, son- elle Ressourcen, Gebäude und Zivil- und/oder dern eine Spielwelt aus der Ego-Perspektive Militäreinheiten unter Zeitdruck – z. B. im An- erkundet werden muss. Walking-Simula- gesicht eines drohenden Angriffs eines Geg- toren spielen bewusst mit den Prinzipien des ners – zu kontrollieren. ­Rundenstrategiespiele Shooters und brechen den Zwang zur Hand- verlangen in ähnlicher Weise Ressourcen-, lung auf, indem sie mehr Raum für die Wahr- Gebäude- und Einheitenmanagement, ­lassen nehmung der Spielwelt lassen. Allerdings wur- Spielenden hierfür allerdings in der Regel de der Begriff Walking-Simulator ursprünglich viel oder unbegrenzt Zeit. Erst wenn Spielen- als abwertender Begriff für Spiele wie Gone de alle ihre gewünschten Aktionen durch- Home (2013), Proteus (2013) oder What Remains geführt und die Runde beendet haben, sind of Edith Finch (2017) genutzt. Er legt nahe, dass beispielsweise Gegenspieler an der Reihe. es sich hier nicht um Spiele, sondern um Simu- Als weitere, allerdings schwieriger abgrenz­ lationen der vermeintlich langweiligen Tätig- bare Untergruppe erweisen sich die Auf- keit des Gehens handelt. Dabei ist die bewuss- baustrategiespiele. In den meisten Strategie- te Weltwahrnehmung bzw. die bewusste spielen müssen Ressourcen (z. B. Holz oder Wahrnehmung der Atmosphären dieser Spiel- ­Eisen) abgebaut und genutzt werden, um Ge- welten der Reiz dieser Games und stellt kei- bäude und ggf. Zivil- und/oder Militärein­ neswegs einen Mangel dar. heiten aufzubauen. In ­Aufbaustrategiespielen liegt der Fokus besonders auf dieser ­Praxis des Aufbauens, sodass in ihnen oftmals der Aspekt des taktischen Verschiebens von ­Militäreinheiten zum Kampf gegen andere ­Einheiten entfällt.

Super Mario → Nintendo

270 —— 271 GAMEINDEX A—Z

HANDBUCH GAMESKULTUR A Abgetaucht – ein Fischlernspiel (2019) Beatmania (1997) → 133 → 087 Age of Empires* (1997) Bouncing Balls (1949) → 113 → 046 Age of Empires Ⅱ: Definitive Edition (2019) Bretterretter (EPPSA) (2018) → 057 → 132 Alien: Isolation (2014) → 082 America’s Army (2002) C → 066 Anno 1800 (2019) Call of Duty* (2003) → 054, 057, 114 → 113, 139, 140, 226 ArmA 2 (2009) Call of Duty: Black Ops (2010) → 163 → 226 Assassin’s Creed* (2007) Call of Duty: Warzone (2020) → 071, 088, 113, 223 → 140 Assassin’s Creed Ⅲ (2012) Candy Crush Saga (2012) → 071 → 139, 267 Assassin’s Creed Odyssey (2018) Castle Smurfenstein (1983) → 071, 267 → 162 Assassin’s Creed Origins (2017) Castle Wolfenstein (1981) → 071 → 162 Asteroids (1979) Celeste (2018) → 257 → 206 Attentat 1942 (2017) Chiller (1986) → 118 → 196 Computer Space (1971) → 257 B Counter-Strike (Mod) (1999) → 147, 163, 193 Battlefield* (2002) Counter-Strike* (2000) → 113 → 066, 094, 095, 147, 163, 164, 167, 195 Battlefield 3 (2011) Counter-Strike: Source (2004) → 163 → 193 Battlefield Ⅴ (2018) Crash Bandicoot* (1996) → 148, 267 → 193 Battlezone (1980) Cuphead (2017) → 257 → 257 Custer’s Revenge (1982) → 196

272 —— 273 D E Dance Dance Revolution (1998) The Elder Scrolls* (1994) → 087 → 083 Dark Souls* (2011) The Elder Scrolls Ⅳ: Oblivion (2006) → 148 → 083 DayZ (2012) The Elder Scrolls Ⅴ: Skyrim (2011) → 163 → 083, 147 Dear Esther (2012) Elite Dangerous (2014) → 089, 163, 271 → 149 Death Race (1976) E.T. (1982) → 083 → 082 Defense of the Ancients (DotA) (2003) Everybody’s Gone to the Rapture (2015) → 147, 163 → 089 Demon’s Souls (2009) → 211 Deus Ex (2000) F → 042 Dirt Rally 2.0 (2019) FIFA* (1993) → 122, 123 → 139 Disco Elysium (2019) Final Fantasy (1987) → 101 → 086 Donkey Kong (1981) Fortnite (2017) → 086, 257, 266 → 055, 139, 140, 154, 163, 196, 258 Doom (1993) Foul Play (2013) → 095, 162, 166 → 071 Dota 2 (2013) Frogger (1981) → 167 → 086 Dragon Age* (2009) → 205 Dragon Quest (1986) G → 089 Dragon’s Lair (1983) God of War* (2005) → 081 → 095 Dreams (2020) Gone Home (2013) → 163 → 271 Grand Theft Auto* (1997) → 041 Grand Theft Auto: San Andreas (2004) → 163 Grand Theft Auto Ⅳ (2008) → 072

GAMEINDEX A—Z J The Great Giana Sisters (1987) Journey (2012) → 262 → 014, 056 Guild Wars 2 (2012) → 149 Guitar Hero (2005) K → 087 Kentucky Route Zero (2013) → 070, 071, 101 H Kingdom Come: Deliverance (2018) → 114 Half-Life (1998) → 055, 147, 163 Half-Life 2 (2004) L → 055, 163 Half-Life: Alyx (2020) Landwirtschafts-Simulator* (2008) → 037 → 270 Halo: Kampf um die Zukunft (2001) Landwirtschafts-Simulator 19 (2018) → 265 → 059 Harvester (1996) The Last Ninja (1987) → 197 → 098 Hellblade: Senua’s Sacrifice (2017) The Last of Us (2013) → 206 → 270 Der Herr der Ringe: Gollum (voraus. 2021) League of Legends (2009) → 074 → 139, 163, 167 The Hobbit (1982) The Legend of Zelda* (1986) → 262 → 037, 054, 086, 100, 257, 266 Hotline Miami (2012) The Legend of Zelda: Link’s Awakening (2019) → 087 → 054 Lemmings (1991) → 262 I Life is Strange (2015) → 205, 257 The Immortal (1990) Little Big Planet (2008) → 152 → 163 Indiana Jones* (1989) Lover Boy (1983) → 082 → 036 Indiana Jones and the Temple of Doom (1985) → 083

274 —— 275 M O Manhunt (2003) Open World: → 197 The Open World Game (2019) Maniac Mansion (1987) → 070 → 262 Orwell (2016) Mario Kart* (1992) → 076, 077 → 058, 268 The Outer Worlds (2019) Mario Kart 8 Deluxe (2017) → 265 → 058 OutRun (1986) Microsoft Flight Simulator (1982) → 087 → 270 Minecraft (2009) → 042, 057, 139, 152, 269 P Monkey Island 2: LeChuck’s Revenge (1991) Pac-Man (1980) → 087 → 086 Monument Valley 2 (2017) Papers, Please (2013) → 057 → 076, 077, 078 Moorhuhnjagd (1999) PaRappa the Rapper (1996) → 178 → 087 Mortal Kombat* (1992) PlayerUnknown’s Battlegrounds (2017) → 095 → 163, 258 Mortal Kombat Ⅹ (2015) Pokémon Go (2016) → 095 → 139 M.U.L.E. (1983) Pokémon Snap (1999) → 098 → 123 Pong (1972) → 049, 085, 086, 137, 178, 221, 257 N Portal (2007) → 055, 267 Narbacular Drop (2005) Postal 2 (2003) → 055 → 197 Natureworld (voraus. 2020) Prince of Persia (1989) → 133 → 083 Ni No Kuni 2: Proteus (2013) Schicksal eines Königreichs (2018) → 271 → 058

GAMEINDEX A—Z Q Quake (1996) Silent Hill (1999) → 162, 264 → 095 Quake Ⅲ Arena (1999) SimCity* (1989) → 065 → 217 Die Sims* (2000) → 164, 205 R Die Sims 2 (2004) → 264 Rally-X (1980) SingStar (2007) → 086 → 087 Red Dead Redemption* (2010) Sonic the Hedgehog (1991) → 083 → 269 Red Dead Redemption Ⅱ (2018) Space Invaders (1978) → 069, 071 → 065, 085, 086, 088, 089, 166, 257 Re-Mission (2006) Spacewar! (1962) → 108 → 160, 161, 166 Resident Evil (1996) Spiel des Friedens (2015) → 095 → 132 Rez (2001) The Stanley Parable (2011) → 087 → 163 Star Wars* (1982) → 082, 083 S Super Mario Bros. (1985) → 086, 100, 123, 178, 193, 266 Sea of Thieves (2018) Super Mario Odyssey (2017) → 265 → 056 The Secret of Monkey Island (1990) → 257 The Secret World (2012) → 044 Sekiro: Shadows Die Twice (2019) → 148 Shark Jaws (1975) → 083 Sid Meier’s Civilization* (1991) → 108 Sid Meier’s Civilization Ⅵ (2016) → 112, 113

276 —— 277 T W Tetris (1984) Warcraft Ⅲ: Reign of Chaos (2002) → 027, 054 → 147, 163 Tetris Effect (2018) Watch Dogs (2014) → 054 → 042 This War of Mine (2014) Western Gun/Gun Fight (1975) → 076, 077 → 085, 086 Through the Darkest of Times (2020) What Remains of Edith Finch (2017) → 076, 077, 117, 118 → 271 Tomb Raider* (1996) The Witcher 3: Wild Hunt (2015) → 083, 223 → 074 Tom Clancy’s The Division (2016) Wolfenstein 3D (1992) → 065 → 066, 162 Total Annihilation (1997) Wolfenstein Ⅱ: The New Colossus (2017) → 099 → 114, 118 Trials Fusion (2014) World of Tanks (2010) → 122, 123 → 075 Trüberbrook (2019) World of Warcraft (2004) → 056 → 222, 228, 268 Turrican (1990) World of Warcraft Classic (2019) → 088 → 058, 125 World of Warships (2015) U → 075 Ultima Online (1997) Z → 149 Uncharted (2007) Zork (1980) → 270 → 257 The Unstoppables (2015) → 206 V Vampire: The Masquerade – Bloodlines (2004) → 164

* Spielreihe

GAMEINDEX A—Z 278 —— 279 GAMEINDEX 1949—2021

HANDBUCH GAMESKULTUR 1949 1980 Bouncing Balls Battlezone → 046 → 257 Pac-Man 1962 → 086 Spacewar! Rally-X → 160, 161, 166 → 086 Zork 1971 → 257 Computer Space → 257 1981 Castle Wolfenstein 1972 → 162 Pong Donkey Kong → 049, 085, 086, 137, 178, 221, 257 → 086, 257, 266 Frogger 1975 → 086 Shark Jaws → 083 1982 Western Gun/Gun Fight Custer’s Revenge → 085, 086 → 196 E.T. 1976 → 082 Death Race The Hobbit → 083 → 262 Microsoft Flight Simulator 1978 → 270 Space Invaders Star Wars* → 065, 085, 086, 088, 089, 166, 257 → 082, 083 1979 1983 Asteroids Castle Smurfenstein → 257 → 162 Dragon’s Lair → 081 Lover Boy → 036 M.U.L.E. → 098

280 —— 281 1984 1990 Tetris The Immortal → 027, 054 → 152 The Secret of Monkey Island 1985 → 257 Indiana Jones and the Temple of Doom Turrican → 083 → 088 Super Mario Bros. → 086, 100, 123, 178, 193, 266 1991 Lemmings 1986 → 262 Chiller Monkey Island 2: LeChuck’s Revenge → 196 → 087 Dragon Quest Sid Meier’s Civilization* → 089 → 108 The Legend of Zelda* Sonic the Hedgehog → 037, 054, 086, 100, 257, 266 → 269 OutRun → 087 1992 Mario Kart* 1987 → 058, 268 Final Fantasy Mortal Kombat* → 086 → 095 The Great Giana Sisters Wolfenstein 3D → 262 → 066, 162 The Last Ninja → 098 1993 Maniac Mansion Doom → 262 → 095, 162, 166 FIFA* 1989 → 139 Indiana Jones* → 082 1994 Prince of Persia The Elder Scrolls* → 083 → 083 SimCity* → 217

GAMEINDEX 1949—2021 1996 1999 Crash Bandicoot* Counter-Strike (Mod) → 193 → 147, 163, 193 Harvester Moorhuhnjagd → 197 → 178 PaRappa the Rapper Pokémon Snap → 087 → 123 Quake Quake Ⅲ Arena → 162, 264 → 065 Resident Evil Silent Hill → 095 → 095 Tomb Raider* → 083, 223 2000 Counter-Strike* 1997 → 066, 094, 095, 147, 163, 164, 167, 195 Age of Empires Deus Ex → 113 → 042 Beatmania Die Sims → 087 → 164, 205 Grand Theft Auto* → 041 2001 Total Annihilation Halo: Kampf um die Zukunft → 099 → 265 Ultima Online Rez → 149 → 087 1998 2002 Dance Dance Revolution America’s Army → 087 → 066 Half-Life Battlefield* → 055, 147, 163 → 113 Warcraft Ⅲ: Reign of Chaos → 147, 163

282 —— 283 2003 2006 Call of Duty* The Elder Scrolls Ⅳ: Oblivion → 113, 139, 140, 226 → 083 Defense of the Ancients (DotA) Re-Mission → 147, 163 → 108 Manhunt → 197 2007 Postal 2 Assassin’s Creed* → 197 → 071, 088, 113, 223 Portal 2004 → 055, 267 Counter-Strike: Source SingStar → 193 → 087 Grand Theft Auto: San Andreas Uncharted → 163 → 270 Half-Life 2 → 055, 163 2008 Die Sims 2 Grand Theft Auto Ⅳ → 264 → 072 Vampire: The Masquerade – Landwirtschafts-Simulator* Bloodlines → 270 → 164 Little Big Planet World of Warcraft → 163 → 222, 228, 268 2009 2005 ArmA 2 God of War* → 163 → 095 Demon’s Souls Guitar Hero → 211 → 087 Dragon Age* Narbacular Drop → 205 → 055 League of Legends → 139, 163, 167 Minecraft → 042, 057, 139, 152, 269

GAMEINDEX 1949—2021 2010 2013 Call of Duty: Black Ops Dota 2 → 226 → 167 Red Dead Redemption* Foul Play → 083 → 071 World of Tanks Gone Home → 075 → 271 Kentucky Route Zero 2011 → 070, 071, 101 Battlefield 3 The Last of Us → 163 → 270 Dark Souls* Papers, Please → 148 → 076, 077, 078 The Elder Scrolls Ⅴ: Skyrim Proteus → 083, 147 → 271 The Stanley Parable → 163 2014 Alien: Isolation 2012 → 082 Assassin’s Creed Ⅲ Elite Dangerous → 071 → 149 Candy Crush Saga This War of Mine → 139, 267 → 076, 077 DayZ Trials Fusion → 163 → 122, 123 Dear Esther Watch Dogs → 089, 163, 271 → 042 Guild Wars 2 → 149 Hotline Miami → 087 Journey → 014, 056 The Secret World → 044

284 —— 285 2015 Everybody’s Gone to the Rapture Monument Valley 2 → 089 → 057 Life is Strange PlayerUnknown’s Battlegrounds → 205, 257 → 163, 258 Mortal Kombat Ⅹ Super Mario Odyssey → 095 → 056 Spiel des Friedens What Remains of Edith Finch → 132 → 271 The Unstoppables Wolfenstein Ⅱ: The New Colossus → 206 → 114, 118 The Witcher 3: Wild Hunt → 074 2018 World of Warships Assassin’s Creed Odyssey → 075 → 071, 267 Battlefield Ⅴ 2016 → 148, 267 Orwell Bretterretter (EPPSA) → 076, 077 → 132 Pokémon Go Celeste → 139 → 206 Sid Meier’s Civilization Ⅵ Kingdom Come: Deliverance → 112, 113 → 114 Tom Clancy’s The Division Landwirtschafts-Simulator 19 → 065 → 059 Ni No Kuni 2: 2017 Schicksal eines Königreichs Assassin’s Creed Origins → 058 → 071 Red Dead Redemption Ⅱ Attentat 1942 → 069, 071 → 118 Sea of Thieves Cuphead → 265 → 257 Tetris Effect Fortnite → 054 → 055, 139, 140, 154, 163, 196, 258 Hellblade: Senua’s Sacrifice → 206 Mario Kart 8 Deluxe → 058

GAMEINDEX 1949—2021 2019 Abgetaucht – ein Fischlernspiel → 133 Age of Empires Ⅱ: Definitive Edition → 057 Anno 1800 → 054, 057, 114 Dirt Rally 2.0 → 122, 123 Disco Elysium → 101 The Legend of Zelda: Link’s Awakening → 054 Open World: The Open World Game → 070 The Outer Worlds → 265 Sekiro: Shadows Die Twice → 148 Trüberbrook → 056 World of Warcraft Classic → 058, 125 2020 Call of Duty: Warzone → 140 Dreams → 163 Half-Life: Alyx → 037 Natureworld (voraus.) → 133 Through the Darkest of Times → 076, 077, 117, 118 2021 Der Herr der Ringe: Gollum (voraus.) → 074

* Spielreihe

286 —— 287 Handbuch Gameskultur 1. Auf‌lage, Berlin 2020

Deutscher Kulturrat e.V. Taubenstraße 1 10117 Berlin [email protected] kulturrat.de

Herausgeber Olaf Zimmermann & Felix Falk Gefördert aus Mitteln Der Be- Redaktion auftragten der Bundesregierung Christian Huberts & für Kultur und Medien aufgrund Felix Zimmermann eines Beschlusses des Deutschen Redaktionsschluss Bundestags sowie von game – der Mai 2020 Verband der deutschen Games- Branche. Gestaltung 4S Dem Buch liegt das Plakat »Games als Kulturgut in Deutschland« bei. Druck Optimal Media Die inhaltliche Verantwortung für die Beiträge liegt bei den Autorin- Schriften nen und Autoren. Guida Pro, Circular XX Die Deutsche Nationalbibliothek Papier verzeichnet diese Publikation f.color Feinkorn, 280 g/m2 in der Deutschen Nationalbiblio­ Fly 05, 115 g/m2 grafie. Detaillierte bibliografi- ISBN sche Angaben sind unter dnb.de 978-3-947308-22-4 abrufbar.

IMPRESSUM

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