QUELLENSAMMLUNG ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCHEN SOZIALPOLITIK 1867 BIS 1914 QUELLENSAMMLUNG ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCHEN SOZIALPOLITIK 1867 BIS 1914

begründet ,·on

PETER RASSOW

im Auftrag der Historischen Kommission der Akademie der Wissenschaften und der Literatur herausgegeben von

KARL ERICH BORN· HANSJOACHIM HENNING FLORIAN TENNSTEDT

IV. ABTEILUNG

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�� SEMPER � Gustav Fischer Verlag· Stuttgart· Jena· New York· 1993 DIE SOZIALPOLITIK IN DEN LETZTEN FRIEDENSJAHREN DES KAISERREICHES (1905-1914)

4.BAND

DIE JAHRE 1911 BIS 1914

bearbeitet von

KARL ERICH BORN, REINER FLIK, KLAUS HESS, GABRIELE ILG, ULRICH KREUTLE, DIETER LINDENLAUB

1. TEIL

"' ::::, �! SEMPER� Gustav Fischer Verlag· Stuttgart· Jena· New York· 1993 Gefördert durch das Bundesministerium fur Forschung und Technologie, Bonn, und das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Wiesbaden.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einhe:tsaufnahme

Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik: 1867 bis 1914 / begr. von Peter R,issow. lrn Auftr. der Historischen Kommission der Akademie der \X'issensch,1ften und der Literatur hrsg. ,·on Karl Erich Born ... - Stuttgart; Jena, '.\Iew York: c;_ Fischer. Fruher 1m Ver!. Ste1ner, W,esb.iden, Stuttg,ut NE: Rassow, Peter [Begr.J; Born, K.ul Erich [Hrsg.) Abt. 4. Die Sozialpolitik in den let1ten Friedensjahren des Kaisermches ( 1905-1914 ). Bd. 4. D1eJ,1hre 1911 bts 1914 / bcarb. rnn Karl Erich Born. Teil l. - 1993 !SB'.\! 3-437 50365-0

© 1993 by Akademie der Wissrnschaften und der Literatur, Mainz. Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdruckliche Genehmigung ist es nicht gestattet, das Werk oder Teile daraus nachzu­ drucken oder auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie usw.) zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Pfälzische Verlagsanstalt Gmbfl, Landau. Princed in

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Einleitung 11 fraktion des Zentrums gewesen war. Seine Korrespondenz mit dem bayeri­ schen Gesandten beim Heiligen Stuhl, soweit sie den Gewerkschaftsstreit betrifft, wird hier abgedruckt. Mit diesen Hinweisen sind einige der wesentlichen Entwicklungen und Ereignisse in der Sozialpolitik der Jahre 1911-1914 skizziert. Welche sozialpolitischen Themen dieserJahre insgesamt in den Quellen zur Sprache kommen, zeigt die folgende systematische Gliederung.

A 1. Diskussion und Bewertung staatlicher Sozialpolitik allgemein 1. Allgemeine Fragen 2. Sozialpolitische Belastung der Industrie 3. Stillstand der sozialpolitischen Gesetzgebung (Kritik der Delbrück-Rede 1914) 4. Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik (Kritik des Bernhard-Buchs 1912)

11. Arbeitsrecht 1. Angestelltenrecht a. Vereinheitlichung desAngestelltenrechts b. Konkurrenzklausel c. Patentgesetzentwurf 2. Arbeitskammergesetz 3. Arbeitswilligenschutz 4. Hausarbeitsgesetz 5. Koalitionsrecht 6. Reichseinigungsamt 7. Tarifrecht

III. Arbeiterschutz)Arbeitsschutz 1. Arbeitszeitregelung 2. Arbeitsschutzin verschiedenen Gewerben 3. Kinder-, Jugend- und Frauenarbeitsschutz

IV. Fortbildungsschulwesen

V. Sozialversicherung 1. Angestellenversicberung 2. Arbeiterversicherung/Reichsversicherungsordnung 3. Arbeitslosenfürsorgeund -versicberung 4. Volksversicherung 12 Einleitung

VI. Sozialpolitische Klauseln bei öffentlichen Aufträgen

VII. Betriebliche Sozialpolitik in Staatsbetrieben und in der staatlichen Verwaltung

VIII. Wohnungsreform

B. I. Betriebliche Sozialpolitik 1. Arbeiterausschüsse 2. Arbeitsordnung 3. Arbeitsvertrag 4. Betriebliche Arbeitszeitregelung 5. Betriebliche Unterstützungskassen 6. Gewinnbeteiligung/Gratifikation 7. Konkurrenzklausel 8. Konstitutionelles Fabriksystem 9. Urlaub für Angestellte 10. Urlaub für Arbeiter 11. Werkvereine 12. Werkswohnungen

II. KirchlicheSozialpolitik 1. Christliche Gewerkschaften 2. Konfessionelle Arbeitervereine

III. Kommunale Sozialpolitik 1. Kommunale Arbeitslosenfürsorge und -versicherung 2. Sozialpolitik in kommunalen Betrieben und kommunaler Ver­ waltung 3. Sozialpolitische Klauseln bei öffentlichenAufträgen

IV. Sozialpolitik der Selbsthilfeorganisationen 1. Konfessionelle Arbeitervereine 2. Konsumgenossenschaften/Konsumvereine 3. Unterstützungseinrichtungen der Arbeitnehmerverbände 4. Volksversicherung Einleitung 13

C. 1. Arbeitskampfrnaßnahmender Arbeitgeber 1. Arbeitgeber-Arbeitsnachweise 2. Aussperrung 3. Schwarze Listen (Arbeits- bzw. Berufsverbot) 4. Streikbrechervermittlung 5. Streikklausel 6. Streikversicherung

II. Arbeitskampfmaßnahmender Arbeitnehmer 1. Arbeitnehmer-Arbeitsnachweise 2. Boykott (Sperre) 3. Kontraktbruch 4. 1. Mai-Feier (Demonstrationsstreik) 5. Sabotage 6. Streik

III. Rechtsprechungbei sozialpolitischen Auseinandersetzungen 1. Ordentliche Gerichte 2. Schiedsgerichtefür Tarifverträge 3. Sondergerichte/Gewerbe- und Kaufmannsgerichte

IV. Verhandlungen zwischenArbeitgebern und Arbeitnehmern 1. Lohn- und Arbeitszeitverhandlungen 2. Tarifverhandlungen/-verträge

D. 1. Arbeitgeberverbände 1. Hauptstelle und Verein 2. Zusammenschluß von Hauptstelle und Verein 3. Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände

II. Arbeitnehmerverbände 1. Angestelltenverbände a. KaufmännischeAngestelltenbewegung b. Technikerbewegung 2. Gewerkschaften a. Christliche Gewerkschaften b. Freie Gewerkschaften c. Hirsch-Duncker'sche Gewerkvereine 3. Konfessionelle Arbeitervereine 4. Werkvereine/"Gelbe" 14 Einleitung

E. 1. Allgemeine wirtschaftliche und soziale Lageder Arbeitnehmer 1. Arbeitslosigkeit 2. Lohnentwicklung 3. Lohnsysteme 4. Teuerung (Entwicklung der Lebenshaltungskosten) 5. Wohnungsfürsorge a. Werkswohnungen b. Wohnungsreform

II. Heimarbeit 1. Hausarbeitsgesetz

III. Internationale Sozialpolitik Nr. l

1911 Januar 1

Deutsche Arbeitgeber-ZeitungNr. 1 Verbandsmitteilungen: DeutscheStreikentschädigungsgesellschaft

(Aufgabe und Leistungender Deutschen Streikentschädigungsgesellschaft)

Am 8. Dezember wurde in Berlin die Deutsche Streikentschädigungsgesell­ schaftvon folgenden neun dem Verein Deutscher Arbeitgeberverbände ange­ hörenden Verbänden und Gesellschaften konstituiert: 1. Arbeitgeber-Schutzverband Deutscher Schlossereien und verwandter Ge­ werbe, Berlin; 2. Arbeitgeberverbandfür das Wagenbaugewerbe, Berlin; 3. Arbeitgeber-Schutzverband für die Deutsche Posamentenindustrie1, Bar­ men; 4. Verband der EtuisfabrikantenDeutschlands, Leipzig; 5. Arbeitgeberverbandvon Rathenow und Umgebung, Rathenow; 6. Verein der Arbeitgeber von Nordenham und Umgebung, Nordenham; 7. Schutzverband Deutscher Blasinstrumentenfabrikanten, Berlin; 8. Verein Berliner Schilderfabrikanten, Berlin; 9. Verein Berliner Metallbildhauer, Berlin;

Die Deutsche Streikentschädigungsgesellschaft hat bei der Gesellschaft des Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände zur Entschädigung bei Arbeitsein­ stellungen Rückversicherung genommen. Sie hat den Zweck, den kleineren Verbänden und einzelnen Firmen die Möglichkeit zu geben, sich gegen die wirtschaftlichen Folgen von unvermeidlichen Arbeitseinstellungen zu versi­ chern. Geschäftsbetrieb nach Erwerbsgrundsätzen ist ausgeschlossen. Mitglie­ der der Gesellschaft können nur Verbände und einzelne Firmen werden, wel­ che dem Verein Deutscher Arbeitgeberverbände in irgendeiner Form ange­ schlossen sind. Vor allen Dingen ist den Mitgliedern solcher Verbände, welche selbst eine Streikentschädigungsgesellschaft nicht gründen wollen, die Mög­ lichkeit gegeben, sich gegen Streik zu versichern. Das Eintrittsgeld beträgt 25 Pfg. pro 1000 Mark der versicherten Jahreslohnsumme; der jährliche Mit­ gliedsbeitrag ist auf 1 Mark pro 1000 Mark derselben Lohnsummefestgesetzt. Als Entschädigung werden 25 % des durchschnittlichen Tagesverdienstes des Arbeiters für den durch Streik und Aussperrungausgefallenen Arbeitstag und

1 Posamenten: Sammelbegriff für Besatzartikel, wie z.B. Bänder, Borten, Fransen, Litzen, Qua­ sten, Tressenu.a.m. 16 Nr.2

Arbeiter in Aussicht gestellt, d.h., z.B. bei einem täglichen Durchschnittsver­ dienst in Höhe von 4 Mark würde sich die Entschädigung für jeden streiken­ den und ausgesperrten Arbeiter auf 1 Mark stellen.

Nr.2

1911 Januar 7

Solidarität Nr. 1 Arbeitslosen-Versicherungnach Genter System in Schöneberg.

[Erste kommunale Arbeitslosenversicherung in Groß-Berlin und Preußen)

Nun hat das Genter System1 auch seinen Einzug in Preußen gehalten. Schö­ neberg ist die erste Stadt des Groß-Berliner Städtekranzes und zugleich Preu­ ßens, die die kommunale Arbeitslosenversicherung nach diesem System ein­ führt. Nach dem am 19. Dezember beschlossenen Ortsstatut handelt es sich zunächst um eine provisorische Einrichtung, bis eine gesetzliche Regelung dieser Frage erfolgt oder bis eine solche Versicherung für Groß-Berlin ein­ geführtwird. Unter diesen Voraussetzungen werden vorerst bis zum 31. März 1913, also auf die Dauer von zweiJahren, jährlich 15 000 Mk. in das Gemein­ debudget eingestellt, um die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit zu fördern. Die Förderung besteht in städtischen Zuschüssen an solche Berufsvereine von Arbeitern und Angestellten, die ihren Mitgliedern Arbeitslosenunterstützung gewähren. Der Zuschuß beträgt die Hälfte der seitens des Berufsvereins ge­ währten Arbeitslosenunterstützung, aber nicht über 1 Mk. pro Tag und wird nur für solche Mitglieder gezahlt, die mindestens ein Jahr ununterbrochen in Schöneberg wohnen, wobei indes die Zeit angerechnet wird, die der Betref­ fende unmittelbar vorher in einer Stadt, die in gleicher Weise Beihilfen zur

1 Das Genter Systemstammt von Dr. Varlez aus Gent und besteht in folgendem: Es wird ein paritätisch veiwalteter Arbeitslosenfonds geschaffen, der von der Gemeinde jährliche Zuschüsse empfängt. Diesem Fonds können sich diejenigen Arbeitervereinigungen anschließen, welche ihrerseits ihren Mitgliedern satzungsgemäß festgesetzte Arbeitslosenunterstützung gewäh­ ren und zwischen dieser Unterstützung und der gewerkschaftlichen Streikunterstützung streng un­ terscheiden. Der städtische Fonds gewährt den Arbeitslosen der Arbeitervereinigung einen Zu­ schuß zur gewerkschaftlichen Arbeitslosenunterstützung. Der Zuschuß wird auf die Dauer von 60 Tagen gegeben, richtet sich in seiner Höhe nach der gewerkschaftlichen Arbeitslosenunterstützung und darf einen gewissen Betrag nicht überschreiten. Für die nicht organisienen Arbeiter besteht als Ergänzung des Systems ein Sparfonds. Die betreffenden Arbeiter können in diesen Fonds Spargelder bis zu einem Höchstbetrag einlegen, die samt Zinsen nur im Falle der Arbeitslosigkeit in bestimmten Wochenbeträgenabgehoben werden können. Vgl. Nr. 538. 1911 Januar 7 17

Arbeitslosenversicherung gewährt, zugebracht hat. Nicht gezahlt wird dieser Zuschuß bei verschuldeter Arbeitslosigkeit, sowie bei Arbeitslosigkeit infolge von Ausständen, Aussperrungen oder deren Folgen, "oder wenn in dem Ge­ werbe, dem das bereits unterstützungsberechtigte Mitglied angehört, nach­ träglich der Fall des Streiks oder der Aussperrung eintritt." Er hört auf, wenn dem Betreffenden vom städtischen Arbeitsnachweise Arbeit nachgewiesen wird und endet längstens mit dem 60. Unterstützungstage. Ist die Arbeitsstelle durch Ausstand oder Aussperrung frei geworden, so besteht eine Verpflich­ tung zur Annahme derselben nicht. Die Berufsvereine, die auf den städtischen Zuschuß reflektieren, müssen beim Magistrat unter Einreichung ihrer Satzungen einen entsprechendenAn­ trag stellen und der städtischen Deputation Einsicht in ihre Buchführung gewähren, soweit es notwendig ist zur Kontrolle der bezüglichen Bestimmun­ gen. Das arbeitslose Mitglied hat sich mit der Arbeitslosenkarte seiner Ge­ werkschaft auf dem städtischen Arbeitsnachweis zu melden, welcher darüber entscheidet, ob in seinem Falle städtische Unterstützung gewährt wird. Die Zahlung wird derart geregelt, daß die Kassen der Berufsvereine den städti­ schen Zuschuß verauslagen und monatlich ihre Rechnungslisten dem Magi­ strat einreichen. Als Äquivalent für Nichtorganisierte und solche, die von ihren Berufsverei­ nen keine Arbeitslosenunterstützung erhalten, sieht das Schöneberger Orts­ statut einen städtischen Sparzuschuß vor. Denselben erhalten solche, die sich in eine beim städtischen Arbeitsnachweis geführte Sparerliste eintragen lie­ ßen, für die Zeit ihrer Arbeitslosigkeit in Höhe der Hälfte der abgehobenen Spareinlagen, aber höchstens 1 Mk. pro Tag. Dieser Zuschuß wirdnur solchen Sparern gewährt, die mindestens ein Jahr in Schöneberg wohnen und seit min­ destens drei Monaten in die Sparerliste eingetragen sind. Einlagen, die erst während der letzten drei Monate vor der Abhebung gemacht worden sind, werden nicht berücksichtigt. Die Zahlung des Zuschusses beginnt, nachdem sich der Sparer mindestens eine Woche lang täglich auf dem Arbeitsnachweis gemeldet hat. Solchen, die sich unberechtigter Weise in den Empfang städtischer Zu­ schüsse zu setzen suchen, wird neben strafrechtlicher Verfolgung der Aus­ schluß vom städtischen Zuschuß auf ein Jahr angedroht. Über alle Streitigkei­ ten entscheidet unter Ausschluß des Rechtsweges die Deputation für die Ver­ waltung des städtischen Arbeitsnachweises. In zwei von der Stadtverordnetenversammlung beschlossenen Resolutionen wird der Magistrat um eine Vorlage über Gewährungvon Unterstützungen an solche, auf welche die gegenwärtige Ordnung nicht Anwendung finden kann, ersucht, sowie ferner, daß zu den Deputationen für Notstandsarbeiten und Ar­ beitslosenversicherung je ein Vertreter vom Kuratorium des Berliner Arbeits- 18 Nr. 3 nachweises und der Berliner Gewerkschaftskommission als Sachverständige mit beratender Stimme hinzugezogen werden. Das Schöneberger Statut enthält sicherlich eine Reihe von Mängeln und Be­ denklichkeiten, auf deren Beseitigung unsere Genossen während der Beratung vergeblich hingewirkt haben. Besonders bedenklich erscheint uns die Einfüh­ rung von Sparprämien, weil auf diesem Wege niemals eine gesunde Arbeitslo­ senversicherung erreicht werden kann, vielmehr ein Teil der Arbeiter nur von dem einzig möglichen Wege der Versicherung durch ihre Berufsvereine abge­ halten werden dürfte. Indes trägt das ganze Vorgehen Schönebergs noch den Charakter eines Provisoriums, und die erste der beiden angenommenen Re­ solutionen läßt deutlich genug erkennen, daß in der Schaffung einer städti­ schen Fürsorge für Arbeiter, die nicht gewerkschaftlich versichert sind, das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Das dürften auch die Erfahrungen der nächsten zwei Jahre beweisen. Von diesen Unfertigkeiten abgesehen, kann man nur lebhaft wünschen, daß die übrigen Stadt- und Vorortgemeinden von Groß-Berlin sich dem Vorgehen Schönebergs anschließen und daß vor allem die Reichsregierung daraus den einzig richtigen Schluß ziehen möge, ihre ab­ wartende Haltung aufzugeben und einer lokalen Kräftezersplitterung vorzu­ beugen durch eine reichsgesetzliche Lösung der Frage im Sinne der öffentli­ chen Förderung der gewerkschaftlichen Arbeitslosenversicherung.

Nr.3

1911 Januar 9

Eingabe des Centralverbandes Deutscher Industrieller an den Präsidenten des Kgl. Staatsministeriums in Stuttgart1 Gedruckte Ausfertigung

[Grundsätzliche Bedenken gegen die Beschlüsse der Reichstagskommission zur Reichsversicherungsordnung im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie]

1 HauptstaatsarchivStuttgart, E 130a, Bü 1070. Karl Freiherr von Wei7.Säcker (1853-1926), würt­ tembergischer Ministerpräsident und Staatsminister der auswärtigen Angelegenheiten (1906- 1918). Unterzeichnetvom Vorsitzendendes Centralverbandes Deutscher Industrieller Max Rötger (1860-1923, Vorsitzender des Centralverbandes 1909-1919) und vom Geschäftsführer Dr. Ferdi­ nand Schweighoffer. 1911 Januar 9 19

Euer Exzellenz beehren wir uns in der Anlage die auf der Delegiertenversammlung des Cen­ tralverbandes deutscher Industrieller am 9. Dezember 1910 zu dem Entwurf einer Reichsversicherungsordnung gefaßte Entschließung zur geneigten Kenntnisnahme und Berücksichtigung ganz ergebenst zu übersenden.

Erklärung zur Reichsversicherungsordnung

Der Centralverband Deutscher Industrieller gibt im Anschluß an seine in der Versammlung der Delegierten am 12. April d.J. zur Reichversicherungs­ ordnung gefaßte Entschließung der Befriedigung darüber Ausdruck, daß die Reichstagskommission fürdie Reichsversicherungsordnung mit den bisher be­ schlossenen Abänderungen des Gesetzentwurfs in mancher Hinsicht den vom Standpunkte der Industrie vorgetragenen Bedenken Rechnung getragen hat. Es wird insonderheit mit Genugtuung begrüßt, daß die Errichtung selbständi­ ger Versicherungsämter abgelehnt worden ist und die Kosten fürdie an Stelle der Versicherungsämter tretenden Abteilungen für Arbeiterversicherung bei den unteren Verwaltungsbehörden, sowie auch für die Oberversicherungs­ ämter den einzelnen Bundesstaaten auferlegt worden sind. Zustimmung findet fernerder Beschluß der Kommission, durch welchen das Zuständigkeitsgebiet dieser Abteilungen für Arbeiterversicherungwesentlich eingeschränkt und die erstinstanzliche Spruchtätigkeit der Ämterauf dem Ge­ biete der Unfallversicherungbeseitigt worden ist. Dagegen muß der Centralverband Deutscher Industrieller seine Stimme erheben gegen eine Anzahl von Beschlüssen, von denen im Falle der endgülti­ gen Annahme schwerwiegende Nachteile fürdie weitesten Kreise der Industrie zu befürchten sind.

I. Versicherungsbehörden Es wird Einspruch dagegen erhoben, daß die Träger der Unfall- und Invali­ denversicherung bei der Wahl der Arbeitgebervertreter für die Oberversiche­ rungsämter und das Reichsversicherungsamt fortan völlig ausgeschaltet sein sollen. Bei dem von der Kommission beschlossenen Wahlverfahrenwürde die Bedeutung dieser beiden Versicherungsträger in keiner Weise zu ihrem Rechte kommen und das eigentliche Unternehmertum gegenüber den Klein­ gewerbetreibenden bei den Spruch- und Beschlußkollegien der höheren In­ stanzen eine völlig ungenügende Vertretung finden. 20 Nr.3

II. Krankenversicherung 1. Schwere Besorgnis erregt das bisherige Ergebnis der Verhandlungen der Kommission über den Fortbestand und die Errichtung der Betriebskranken­ kassen. Es wird dringend verlangt, daß dieses Kassensystem, das den Kassen­ mitgliedern auf dem Gebiete der Krankenfürsorge größere Vorteile zu bieten vermag als irgendeine andere Kassenart und vielerorts noch einen starken Zu­ sammenhalt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bildet, ungeschmälert erhalten wird und alle den Fortbestand oder die Errichtung der Betriebskran­ kenkassen irgendwie erschwerende Bestimmungenabgelehnt werden. 2. Es müssen entschieden alle hinsichtlich der Regelung der Arztfrage ge­ machten Vorschläge zurückgewiesen werden, die über die von der Kommis­ sion in der ersten Lesung gefaßten Beschlüsse hinaus die rechtlichen Bezie­ hungen zwischen den Kassen und den Ärzten einseitig im Interesse der Ärzte ohne die erforderliche Rücksichtauf die Existenzbedingungen der Kassenre­ geln würden. 3. Der Centralverband Deutscher Industrieller spricht sich gegen den Be­ schluß der Kommission aus, durch welchen die derzeitige Drittelung des Stimmrechts und der Beiträge der Arbeitgeber und der Versicherten bei den Kassenverwaltungen gegenüber der im Entwurfvorgesehenen Hälftelung wie­ derhergestellt worden ist. Die gleiche Zumessung des Stimmengewichts an Arbeitgeber und Versicherte in den Kassenorganen wird als eine unbedingte Voraussetzung erachtet, um die politische Ausnutzung der staatlichen Ein­ richtungen der Krankenkassen von seilen der Sozialdemokratie zu verhindern und den Arbeitgebern eine positive Mitarbeit zu ermöglichen.

III. Unfallversicherung Grundsätzliche Bedenken müssen gegen die Beschlüsse der Kommission er­ hoben werden, durch welche die Entschädigungspflicht der Unternehmer in immer weitergehendem Maße ausgedehnt wird. Ferner ist aufrichtig zu bedau­ ern, daß zahlreichen Vorstellungen der Berufsgenossenschaften insbesondere gegen die Anhäufung übergroßer Reservefondsnicht Rechnunggetragen wor­ den ist. Der von der Regierung vorgeschlagenen Gleichstellung der Inländer und Ausländer auf dem Gebiete der Unfallfürsorgekann solange nicht zugestimmt werden, als nicht die ausländischen Staaten eine der deutschen materiell gleichwertige Gesetzgebung in dieser Hinsicht eingeführt haben. 1911 Januar 10 21

IV. Hinterbliebenenversicherung Der Centralverband hat sich in seiner Delegiertenversammlung vom 12. April d.J. mit der Einführung einer Hinterbliebenenfürsorge trotz der damit verbundenen weiteren großen Belastung der Gewerbetätigkeit grundsätzlich einverstanden erklärt. Er muß aber einer jeden Erhöhung dieser Belastung durch Gewährungneuer Zuschußrenten entschiedenwidersprechen.

Der Centralverband faßt seine Stellungnahme dahin zusammen, daß die Erhaltung der Leistungsfähigkeit der deutschen Erwerbstätigkeit der oberste Gesichtspunkt auch auf dem Gebiete der Arbeiterversicherungbleiben muß. Eine über die zulässigen Grenzen hinausgehende Belastung der Versiche­ rungsträger würde nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volks­ wirtschaft schädigen, sondern schließlich sogar die Wohltaten der gesamten deutschen Arbeiterversicherung in Frage stellen. Das Zustandekommen eines Gesetzes, das den oben dargelegten Gesichtspunkten nicht Rechnung trüge, müßte den Centralverband mit allerernstester Sorge erfüllen.

Nr.4

1911 Januar 10

Eingabe des Verbandesder deutschen Versicherungsbeamten an die Kommis­ sion zur Vorbereitung der Reichsversicherungsordnung in Berlin1 Ausfertigung

[Forderung nach dem Fortbestehender kaufmännischenErsatzkassen]

Die mehr als Hunderttausend kaufmännischeAngestellten, die zur Zeitden freien Hilfskassen angehören, haben geglaubt, daß ihren Krankenkassen als Ersatzkassen die Existenzmöglichkeit gelassen würde, zumal die Reichsregie­ rung erklärt hat, daß sie den freien Hilfskassen volle Sympathie entgegen bringt. Wenn aber der Regierungsentwurf angenommen wird, dann können

1 Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 130a, Bü 1070. Gezeichnet von den Vertretern der Kranken- und Sterbekasse der deutschen Versicherungs-BeamtenE. H. Th. Sucro und G. Woltereck und von den Vertretern des Verbandes der deutschen Versicherungs-Beamten A Liening und A Ockert. Vermerk am Kopf des Schreibens: "2 Stück dem K. Ministerium des Innern vorgelegt. Berlin, 24. 1. 11." 22 Nr.4 die eingeschriebenen Krankenkassen der kaufmännischen Verbände nicht wei­ ter bestehen. 2 In der Orts- und Betriebs-Krankenkasse werden die Lebensgewohnheiten, die Eigenart und die Bedürfnisse der Privatangestellten in keiner Weise berücksichtigt, da das für sie notwendige Krankengeld ebenso wenig gewährt wird wie ein ausreichendes Begräbnisgeld. Unsere Krankenkasse gibt bis zu 5.­ Mk. tägliches Krankengeld auf die Dauer von 1 Jahr und 400.- Mk. Begräbnis­ geld. Durch Verträge mit den Ärzte-Vereinigungen ist die Bezahlung dersel­ ben nach der staatlichen Gebührenordnung bei freier Arztwahl festgesetzt und somit auch eine angemessene Behandlung der Mitglieder gewährleistet. Die Zwangskrankenkassen sind ausschließlich für die Bedürfnisse der gewerbli­ chen Arbeiter ausreichend und es würde in sozialer Beziehung einen Rück­ schritt bedeuten, wenn den kaufmännischen freien Hilfskassen die Weiter­ existenz unmöglich gemacht würde. Die erfolg- und segensreiche Wirksamkeit könnten sie als Zuschußkassen nicht entfalten, da die Privatangestellten eine Doppelversicherung nicht bezahlen können. Nur als gleichberechtigter Faktor in der Reichsversicherung können sie erfolgreich weiter arbeiten.

§ 177

Wir bitten die Gehaltsgrenze für Versicherungspflichtige wieder heraufzu­ setzen. Die Grenze von 2000 Mark entsprach wohl den Verhältnissen bei Inkrafttreten des Gesetzes, aber in keiner Weise mehr den heutigen Ver­ hältnissen. Bei der Verteuerung aller Lebensbedürfnisse ist die Kaufkraft selbst von 2500 Mark nicht die gleiche, wie die von 2000 Mark bei Einführung der Krankenversicherung. Für die Privatangestellten bedeutet die Festlegung der 2000 Mark-Grenze einen sozialen Rückschritt, da diese Bestimmung auch für die Ersatzkassen Gültigkeit hat, und weil bei der Neuordnung eines Geset­ zes mit Verbesserung desselben bei den wichtigsten Bestimmungen gerechnet wird.

§ 530

Wenn den Ersatzkassen die Risikoauswahl untersagt wird, dann ist es denselben nicht möglich, weiter bestehen zu können. Die Eingabe des Hauptausschusses für die staatliche Pensionsversicherung der Privatangestell­ ten vom 26. Mai 1910 hat deutlich gezeigt, daß die Zahl der Krankheitstage

2 Vgl. Karl Goldschmidt, Zur Aufhebung des Hilfskassengesetzes, in: Der Gewerkverein, Nr. 13 vom 11.2.1911. 1911 Januar 10 23 und Krankenfälle bei den kaufmännischen Hilfskassen grösser ist, als bei den zum Vergleich heranzuziehenden Ortskrankenkassen für kaufmännische Be­ triebe, und daß auch trotz der Risikenauswahl die Erkrankungsgefahr im ersten Mitgliedschaftsjahr größer ist, als der Kassendurchschnitt bei den Mit­ gliedern älterer Jahrgänge. Unsere Krankenkasse nimmt schon heute sehr viele Mitglieder ohne ärztliches Gesundheits-Attest auf, würde dies jedoch als Zwang für alle Beitrittsuchende vorgeschrieben, dann könnte sie ihren Ver­ pflichtungen nicht nachkommen und müßte ihren Betrieb einstellen. Die Zwangskasse findet den notwendigen Risikenausgleich in der zwangsweisen Zuführung aller Versicherungspflichtigen, die Ersatzkasse aber würde nur die leidenden Versicherungspflichtigen in übergroßer Anzahl bekommen, da lei­ der viele solange in der billigeren Zwangskasseverbleiben, als sie gesund sind, und erst, wenn sie sich gesundheitlich nicht mehr taktfest fühlen, in die ihnen größere Leistungen gewährende Ersatzkasse eintreten würden. Es ist aber weder gerecht noch sozial, die vorsichtigen Angestellten, die rechtzeitig für ausreichenden Schutz in Krankheitsfällengesorgt haben, zugunsten der leicht­ sinnigen oder unkollegial berechnenden zu schädigen. Es wäre im Gegenteil der unehrlichen Ausbeutung der Ersatzkassen durch minderwertige Charak­ tere Tür und Tor geöffnet. Die Regierung hat diese Erfahrungen ja selbst gemacht und berücksichtigt sie bei der Invaliden- und Hinterbliebenen-Versi­ cherung (Seite 394/5 des Entwurfes). Nun hat die Kommission sogar noch eine Verschlechterung des Regierungsentwurfes eingefügt, indem sie den dritten Absatz des § 323 hier anfügte. Die Ersatzkassen sind nicht gesetzliche Träger der Krankenversicherung, deshalb können ihnen auch durch die Reichsversi­ cherung keine Vorschriften über die Aufnahme nichtversicherungspflichtiger Personen gemacht werden. Aber wenn hier ein Irrtum vorliegen sollte und diese Bestimmung nicht für Versicherungsberechtigte, sondern nur für Ver­ sicherungspflichtigegültig sein soll, dann bedeutet sie nichtsdestoweniger eine schwere Benachteiligung der Ersatzkassen, da sie wohl gegenüber erkrankten Personen schützt, nicht aber gegenüber solchen, die zu Krankheiten disponiert sind. Sollten aus den freien Hilfskassen nicht Scheingebilde gemacht werden, die bald von der Bildfläche verschwinden müssen, dann muß der § 530 gestri­ chen werden.

§ 541

Ebenso unmöglich ist der Fortbestand der Ersatzkassen, wenn die Zahlungspflicht der Arbeitgeber an die Zwangskassen bestehen bleibt. Auch durch die von der Kommission getroffene Bestimmung, daß der Arbeitgeber, der den Nachweis erbringt, daß er seinen Beitragsanteil an die Ersatzkasse 24 Nr.4 ge7,3hlthat, von der Zahlung an die Ortskrankenkasse befreit ist, bietet keine Rettung für die Hilfskassen, denn die vielen Scherereien und Schwierigkeiten, die der Prinzipal hiebei hätte, würden ihn sehr bald veranlassen, sein Personal wieder bei der Zwangskasse zu versichern. Auch würde den Ersatzkassen eine große Mehrarbeit durch das Ausschreiben und Versenden von doppelten Quittungen in jedem Monat aufgelastet werden. Bei unsrer Krankenkasse be7llhlen heute eine An1llhl Prinzipale die gesamten Beiträge für ihre Ange­ stellten, sie würden dies sofort einstellen, wenn ihnen aus ihrem Wohlwollen auch noch Unzuträglichkeiten erwachsenwürden. Auch die Bestimmung, daß der Versicherte bei jedem Stellenwechsel das Ruhen seiner Pflichten und Rechte bei der Zwangskasse beantragen muß, führt zu unhaltbaren Zuständen, denn bei nicht rechtzeitiger Meldung muß der Angestelltebei zwei Kassen7llhlen. Wir bitten deshalb, den Paragraphen folgendermaßenzu formulieren: § 541. Die Arbeitgeber versicherungspflichtiger Mitglieder einer Ersatz­ kasse sind von der Verpflichtung befreit, diese zur Pflichtkasse anzumelden, sie haben aber den Beitragsanteil, den sie für die Angestellten in der Pflicht­ kasse zu 7llhlenhätten, den Angestellten zu vergüten. Wir bitten die Kommission, den vorstehenden von allen kaufmännischen Hilfskassen und Angestellten-Verbänden gemachten Einwendungen, Beach­ tung schenken zu wollen und bei der Beschlußfassung zu berücksichtigen, daß die freien Hilfskassen als Ersatzkassen ausgeschlossen sind und damit auch ihre Existenzmöglichkeit unterdrückt ist, wenn die Zahlungspflicht des Arbeitgeberbeitrages an die Zwangskasse und der Aufnahmezwangohne Risi­ koauswahl Gesetzeskraft erhalten. 1911 Januar 12 25

Nr.S

1911 Januar 12

Bericht des Königlichen Oberbergamts in Dortmund an den preußischen Mi­ nister fürHandel und Gewerbe1 Abschrift Teildruck Geheim!

[Sicherheitsmänner als Agitationshelfer des sozialdemokratischen Bergarbei­ terverbandes J

Der Verlauf der Sicherheitsmännerwahlenim Bezirk war, von wenigen Aus­ nahmen abgesehen, im allgemeinen ein ruhiger. Nach den Berichten der Berg­ revierbeamten,welche wir in Anlage urschriftlich überreichen, ist es nur auf dem Zechenplatzder Möllerschächte, Königliche Berginspektion 22, während des Wahlganges infolge der überaus starken Agitation des alten Verbandes3 unruhig hergegangen. Die Anhänger des christlichen Verbandes haben sich dadurch in ihren Rechten beeinträchtigtgefühlt. Auf Zeche Hannover, Revier Nord-Bochum, hat ein nicht zur Belegschaft gehöriges Mitglied des alten Verbandes trotz wiederholter Verwarnung zu Gunsten seiner Organisation während der Wahl zu agitieren versucht und ist wegen Hausfriedensbruchs zur Anzeige gekommen. Wie zu erwarten stand, haben die einzelnen Bergarbeiterorganisationen des Bezirks, insbesondere aber der alte Bergarbeiterverband,vor den Wahlen eine sehr rege Agitation für ihre Verbände entfaltetund in Versammlungen, durch Zeitungsartikel und Flugblätter und auf sonstige Weise für die von ihnen auf­ gestellten Kandidatengeworben. Die in der Anlage überreichte Zusammenstellung über den Ausfall der Si­ cherheitsmännerwahlen läßt die Wahlbeteiligung und das Wahlergebnis im einzelnen ersehen. Wir bitten auf den Inhalt desnäheren Bezug nehmen zu dürfen. Im Durchschnitt hat die Wahlbeteiligung 56,12 % betragen. Sie ist je nach der Rührigkeit und der Stärke der Verbände in den einzelnen Bezirken

1 Deutsches Zentralarchiv Abt. Potsdam, Rdl 7003. Reinhold v. Sydow (1851-1943), 1909-1918 preußischer Handels- und Gewerbeminister. Die Berichterstatter waren Oberbergrat Kreisel, Justitiar und OberbergratOverthum. Gezeichnetvon Berghauptmann Liebrecht, Vorsitzenderder fommissionfür die Bergreferendarprüfungen. Die Berginspektion2 befandsich in Gladbeck. 3 Damit ist der Verband der BergarbeiterDeutschlands gemeint. 26 Nr.5 verschieden stark gewesen. Gewählt sind im ganzen 1546 Sicherheitsmänner, von denen 1040 dem alten sozialdemokratischen Bergarbeiterverbande, 311 dem christlichen Gewerkverein, 10 dem Hirsch-Duncker'schen Verband, 3 dem Zechenverband, 105 dem polnischen Verband angehören und 77 nicht organisiert sind. Der alte Bergarbeiterverband, der im Gegensatz zu seinem früheren Verhal­ ten bei den Wahlen der Arbeiterausschüsse in Erkenntnis des Wertes der In­ stitution der Sicherheitsmänner für seine Zwecke ganz besonders lebhaft agi­ tiert hatte, hat somit den bei weitem größten Erfolgzu verzeichnen. Beschwerden über die Wahl sind mehrfach bei uns und den Revierbeamten eingegangen. Sie sind in dem in Anlage überreichten Aktenstück4 gesammelt und in der überreichten Beschwerdeliste des einzelnen nach dem Beschwer­ deführer, dem Gegenstand der Beschwerde und dem Ergebnis der Untersu­ chung verzeichnet. Diejenigen Beschwerden, deren Entscheidung der Zuständigkeit der Berg­ revierbeamten unterlag, haben wir an diese mit einem Hinweis auf den Inhalt des zu erlassenden Bescheides abgegeben. Abschriften dieser Beschwerden und der Anschreiben an die Bergrevierbeamten befinden sich in dem über­ reichten Aktenstück. Wir bitten auf den Inhalt der Liste und der Akten Bezug nehmen zu dürfen. Der Bergausschuß ist aus Anlaß der Entscheidungen des Oberbergamtes über Sicherheitsmännerwahlennicht angerufen worden. Die von den Bergrevierbeamten und deren Hilfsarbeiternbisher mit den Si­ cherheitsmännern gemachten Erfahrungen gehen dahin, daß von einem Nut­ zen derselben keine Rede sein kann. Die Bergrevierbeamten sind fast durch­ weg der Ansicht, daß die Einrichtung nur Schaden gebracht hat und noch wei­ terhin wesentlicheren Schaden bringen wird. Sie berichten, daß bei den Wah­ len keineswegs die tüchtigsten Leutegewählt sind,weil stets die von der Lei­ tung der Verbände nominierten Kandidaten gewählt wurden, deren Auf­ stellung sich lediglich nach dem Umfangihrer Betätigung in der Organisation gerichtet hat. Die Bergrevierbeamten klagen darüber, daß den Sicherheitsmännern zu­ meist die für ihr Amt unentbehrlichen Kenntnisse fehlten, daß ihnen jede Urteilsfähigkeitermangelt, daß sie eine große Unkenntnis der wichtigsten Re­ geln der Bergbaukunde und polizeilichen Vorschriften gezeigt hätten und des­ halb nicht fähig seien, den ihnen vom Gesetzgeber zugedachten Pflichten zu genügen. Die Eintragungen in den Fahrbüchern betrafen fast stets nur Kleinigkeiten und geringfügige Sachen, die gerügten Mängel seien auch vielfach unbegrün­ det, während wirklich bedeutsame Verfehlungen und gefahrdrohende Zu-

4 Nicht abgedruckt. 1911 Januar 12 27 stände übersehen würden. Zumeist werde bei den Befahrungen"alles in Ord­ nung" befunden. In allen den Fällen, in welchen die Sicherheitsmänner eine dringende Gefahrfür vorliegend erachtet haben, so in den BergrevierenHattingen, West­ &sen, Süd-Bochum und Wattenseheid, hat die nachher angestellte Untersu­ chung ein negatives Resultat ergeben. In einzelnen Fällen, so im Bergrevier Oberhausen und Witten sind Verfehlungen der Sicherheitsmänner selbst festgestellt worden. Welch' mora­ lisch minderwertige Leute zu Sicherheitsmännerngewählt sind, zeigt ein Fall, der von ZecheWerne, Revier Hamm, berichtet wird.Ein Sicherheitsmann hat sich dort von einem Arbeiter für Bewilligung einer Unterstützung aus der Unterstützungskasseder Zechein Höhe von 20 M den Betrag von 5 M zahlen lassen. Was das Verhalten der Sicherheitsmänner anlangt, so haben sie insbeson­ dere in der ersten Zeitvielfach ihre Befugnissezu überschreiten versucht. Sie haben sich z.B. berechtigt gehalten, auch den Betrieb über Tage, Maschinen, Seilscheiben, Lampenbuden zu revidieren. Zumeist haben sie, nach Anwei­ sung des alten Verbandes, unmittelbar nach Beendigungder Befahrungen die Ausfahrt verlangt, auch wenn die Schichtzeit noch nicht beendigt war, und haben ihre Forderungen damit begründet, daß sie nach der Vorschrift die Ein­ tragungen in die Fahrbücher sofortvorzunehmen hätten. & sind dieserhalb vielfachbei uns und den BergrevierbeamtenBeschwerden erhoben worden, über welche die überreichte Liste und die Aktendas Nähere enthalten. Unsererseits ist hierbei die Auffassung vertreten worden, daß die Sicher­ heitsmänner zur Kontrolle der Betriebsanlagen über Tage nicht befugt sind, und daß die sofortige Ausfahrt nach der Befahrung nur dann erfolgen darf, wenn hierdurch keine Betriebsstörung verursacht wird. Einzelne Zechen sind dazu übergegangen, den Sicherheitsmännern nach Beendigung der Befahrungdie Fahrbücher alsbald unter Tage vorlegen zu las­ sen, um so ihrer Forderung entgegenzukommen. Unsere stets geäußerte Befürchtung, daß die Arbeiterorganisationen in den Sicherheitsmännern lediglich ihre Organe sehen und sie für ihre politischen Zweckeausnutzen würden, hat sich als begründet erwiesen. & gilt dieshaupt­ sächlich vom alten Bergarbeiterverband.Er hat bereits im September 1910 an die ihm angehörenden Sicherheitsmänner eine Anweisung erlassen, die wir Eurer Exzellenzmit Bericht vom 14. Oktober 1910 - J.Nr. 1, 134605 überreicht haben. Des Weiteren sind in den einzelnen Verbandsbezirken Belehrungs­ kurseeingerichtet worden, in denen die Sicherheitsmänner an der Hand der in

5 Nicht abgedruckt. 28 Nr.5

Anlage überreichten Broschüre6: "Welche Aufgaben haben die Sicherheits­ männer" über ihre Tätigkeit belehrtwerden. Der Inhalt der Broschüre, ihre Schreibweise, lassenohne weiteres erkennen, daß sie nicht von einem Arbeiter verfaßt sein kann; zweifelsohnerührt sie von jemand her, der über eine größere Kenntnis der Bergbaukunde verfügt. Siche­ rem Vernehmen nach ist sie denn auch im Auftrage der Verbandsleitung von dem Vorsitzendendes Steigerverbandes,Steiger Wernerverfaßt worden. In ihr erhalten die Sicherheitsmänner genaue Anweisungen, wie sie sich zu verhalten haben. Wir bitten auf den Inhalt Bezug nehmen zu dürfen und heben aus ihr folgendeshervor: [ ... Bestimmungen bezüglich der Vorgehensweise der Sicherheitsmänner bei ihren Kontrollen.]

7. & wird empfohlen, wichtige Erfahrungen, die der Sicherheitsmann bezüglich der Verhältnisse im Revier gemacht habe, die aber nicht ins Fahr­ buch der Zeche eingetragen werden sollten, in das vom Verbande gelieferte Buch einzutragen. DieseBemerkungen seien als solche durch den Zusatz "Nur in dieses Buch eingetragen" kenntlich zu machen. [ ... Befolgungder Bergpolizei-Vorschriftenund weiterer Kontrollberichte.)

19. Bezüglich der Stellung des Sicherheitsmannes den Arbeitern gegenüber wird Seite 28 folgendes ausgeführt. "Auf die Fehler der Arbeiter solle er und zwar in allen den Fällen hinweisen, wo er Gefahr für vorliegend halte. Er werde bei näherer Überlegung eine Menge Vorschriften finden, deren Befol­ gung für den Sicherheitszustand äußerst gleichgültig sei, und um die er sich am besten gar nicht kümmere. Vergehen der Arbeiter solle er nur dann ins Fahrbuch eintragen, wenn er wirkliche Gefahr für vorliegend halte und sein Zureden, seine Aufforderung zur Abhilfe bei ihnen auf Ablehnung stoße. Vor dem Betriebe solle er aber eingehend nach den Gefahrenquellen fragen, an denen die Arbeiter keine Schuld tragen könnten. Sein ganzes Verhalten den Arbeitern gegenüber müsse derartig sein, daß er sich ihr Vertrauen erwerbe.Er müsse es so weit bringen, daß er der vollständige Vertrauensmann der Arbeiter sei und ihm diese alle ihre Sorgen und Beschwerden vortrügen. [ ... Anweisung betreffendder Haltung der Sicherheitsmänner den Steigern gegenüber.]

21. Seite 29 wird es ferner in der Broschüre als wahrscheinlich bezeichnet, daß die Steiger, die den Sicherheitsmann begleiten müssen, doppelt machen

6 Nicht abgedruckt. 1911 Januar 12 29 müßten. Dieses solle der Sicherheitsmann bei der nächsten Gelegenheit dem Revierbeamten melden. Schaffedieser keine Änderung,so sei das ein Zeichen dafür, daß ihm nichts daran liege, das heutige Treibsystem auf den Zechen zu ändern, welches die Ursache des großen Arbeiterwechsels und indirekt der vielen Unfälleund Erkrankungen sei. 22. Über die Stellung des Sicherheitsmannes gegenüber der Betriebsleitung wird Seite 30 folgendesausgeführt: Gefahrenquellen, die in Verfehlungen der Betriebsleitungen ihre Ursachen hätten, müßten stets ins Fahrbuch eingetragen werden. Davon solle man sich durch keine schönen Reden abbringen lassen. Die höheren Beamten trügen die Hauptschuld an dem großen Arbeiter­ wechsel; sie trügen infolge des Prämien- und Inspektorensystems auch an einem großen Teil der Unfälle und Erkrankungen die Schuld, aber sie wüschen vor der Öffentlichkeit ihre Hände in Unschuld und auch die Bergbehörde wüßte von ihrer Schuld nichts; darum sei es bitter notwendig, auf die Gefahren hinzuweisen, die durch die heutige Betriebsführung bedingt würde. Müßten z.B. Steiger wegen schlechter Förderung oder aus sonstigen Ursa­ chen Strafschichtenverfahren, oder aber erfahreder Sicherheitsmann von Prä­ mienstreichungen oder von Revierentziehungen oder von schlechter Be­ handlung der Beamten und wisse, daß diese Bestrafungzu Unrecht erfolge,so solle er diese Tatsachen zur Kenntnis des Revierbeamten und auch der Ver­ bandsleitung bringen. Je schlechter die Steiger behandelt würden, um so schlechter gehe es dann auch den Arbeitern und der Arbeiterwechselsei eine Folge diesesZustandes. Wie die vorstehenden Auszüge der Broschüre ersehen lassen, werden die Si­ cherheitsmänner darauf hingewiesen, Steiger und Arbeiter zu schonen, gegen die Zechenverwaltungenaber in scharfer Weise vorzugehen. Das Mißtrauen der Arbeiter gegen die Zechenbesitzer wird in nicht ver­ kennbarer Absicht vermehrt. Ihnen wird alle Schuld an Unfällen, Erkrankun­ gen der Arbeiter zugeschoben. Nicht genug hiermit, werden die Sicherheitsmänner nicht nur angewiesen, ihre Befugnisse zu überschreiten und sich in Angelegenheiten einzumischen, die sie nichts angehen, sie werden auch zur direkten Verletzung ihrer Pflichten angehalten. Nach den Berichten der Revierbeamten handeln die Sicherheitsmänner des alten Verbandes nach der ihnen erteilten Instruktion. Wie schon hervorgehoben, haben sie in zahlreichen Fällen das Recht der Revision der Tagesanlagen gefordert und wenn ihnen dies verweigert ist, Beschwerde erhoben. 30 Nr.5

Weiterhin wurde zumeist von ihnen auch die alsbaldige Ausfahrt nach Beendigung der Befahrungverlangt und in einzelnen Fällen, wenn ihnen diese verweigertwurde, die Eintragung in die Fahrbücher verweigert. Mehrfach ist esauch vorgekommen, so auf den Zechen Nordstern, Graf Bis­ marck (Revier West-Recklinghausen), daß die Sicherheitsmänner des alten Verbandes in die Rechte der Beamten eingegriffen haben. Auf Zeche Carlinenglück (Revier Nord-Bochum), ist ein Sicherheitsmann wegen schwerer Beamtenbeleidigung entlassen worden. Desgleichen ist ein Sicherheitsmann, Peter Mülle von Zeche Ver. Bonifacius, entlassen worden, weil er die Autorität des Steigers gegenüber den Arbeitern in schwerster Weise zu schädigen versuchte. Vor Ort fragte er bei den Befahrungen die Leute in Gegenwart des Steigers, ob sie Beschwerden über den Steiger hätten, ob Holzmangel da wäre, ob sie auch schon zu Unrecht bestraft worden wären, und kritisierte die Anordnungen des Steigers. Als ihm der Steiger erklärte, er hätte dazu kein Recht, und er würde, wenn er es weiterhin so machen würde, allein fahren, entgegnete ihm der Sicherheitsmann: "Fahren sie getrost weiter, ich habe Zeitgenug". Die Zechehat ihn entlassen, der Revierbeamte hat die Gründe untersucht. Den in der Broschüre erteilten Anweisungen entsprechend schonen die Si­ cherheitsmänner, wie die Revierbeamten berichten, geflissentlich Steiger und Arbeiter. Nach Annahme der Zechenbesitzer ist den Sicherheitsmännern des alten Verbandes von der Leitung der Organisation die Anweisung gegeben, sich mit den Steigern gut zu stellen und sie zu schonen, um diese in das sozial­ demokratische Lagerhinüberzuziehen. Über Verfehlungen der Arbeiter sehen die Sicherheitsmänner nach den Be­ richten insbesondere dann hinweg, wenn sie der gleichen Organisation wie sie selbst angehören. In einzelnen Fällen sind zwar in erster Zeit von den Sicherheitsmännern auch Mängel der Arbeiter in die Fahrbücher eingetragen worden. Nachdem die betreffenden Arbeiter bestraft worden sind, ist von der Eintragung von Verfehlungen, welche sich Arbeiter zu schulden kommen lassen, abgesehen worden. Auf Zeche Victor 1/2 (Revier Herne) soll ein Sicherheitsmann, der Mängel gerügt hatte, von den Arbeitern geprügelt worden sein. Auf Zeche Rheinelbe (Revier Gelsenkirchen), spricht kein Arbeiter mehr mit einem Sicherheitsmann, der Mängel von Arbeitern gerügt hatte, die des­ wegen bestraft worden waren. Auf Zeche Hannibal 1 (Revier Nord-Bochum) hatte der Sicherheitsmann Berczynski in das Fahrbuch die Bemerkung eingetragen: "Kann über das Er­ gebnis meiner Befahrungkeine Eintragung machen, da ich Bestrafungder Ar­ beiter befürchte". Zur Rede gestellt, machte er geltend, daß auf seine Eintra­ gung ins Fahrbuch Arbeiter bestraft worden seien; seine Kameradschaft wolle 1911 Januar 12 31 mit ihm nicht mehr arbeiten. Als ihm der Betriebsführer anheimstellte, sich aus der ganzen Belegschaft seine Freunde, die ihn gewählt hätten, als Kamera­ den auszusuchen, antwortete er "Ich habe keine Freunde in der Belegschaft; wenn die Belegschaft mich als Sicherheitsmanngewählt hat, so ist sie darin nur den Anweisungen unseres Verbandes gefolgt,der mich aufgestellthat". Von Zeche Dahlbusch (Revier Gelsenkirchen) wird ebenfalls berichtet, daß die Sicherheitsmänner Mängel bei den Arbeitern nicht mehr rügten, seitdem diese bestraftworden seien. Im Gegensatz hierzu suchen die Sicherheitsmännernach den Berichten der Revierbeamten nach Möglichkeit Verfehlungen der höheren Werksbeamten und Zechenverwaltungen festzustellen, wie ihnen dies in der Broschüre zur Pflicht gemacht ist. Wie weit sie hierin gehen, zeigt ein Vorfall auf Zeche Dorstfeld, wo Sicherheitsmänner absichtlich Lampen in der Lampenbude bei der Revision beschädigt haben. Sie sind entlassen worden; ihre Klage ist von dem Berggewerbegericht abgewiesen worden. Die Sache schwebt zur Zeit in zweiter Instanzbei dem Landgerichtin Dortmund. [ ... Hinweis auf Bericht über diese Vorfälle.] Ein ähnlicher Vorfall wird von Zeche Königsborn (Revier Dortmund I) be­ richtet. Auch dort haben die Sicherheitsmänner versucht, Lampen durch al­ lerlei Versuche zum Erlöschen zu bringen. Die Annahme der Revierbeamten, daß die Sicherheitsmänner, und zwar insbesondere die des alten Verbandes, von den Leitern der Organisation als deren Organe angesehen und zu ihren politischen Zwecken gebraucht werden, daß sie sich hierzu auch gebrauchen lassen, trifft unseres Dafürhaltens ohne Zweifel zu. [... Berichte über Sicherheitsmänner, die das Amt dazu mißbrauchten, Nichtorganisierte zum Eintritt in den Verband zu bewegen oder Arbeiter vom Austritt abzuhalten.]

Die Revierbeamten berichten, daß insbesondere die dem alten Verbande angehörenden Sicherheitsmänner über Verfehlungen der ihrer Organisation angehörenden Arbeiter hinweggesehen hätten, während sie Verfehlungen bei anderen Arbeitern gesucht und oft gänzlich haltlose Mängel eingetragen hät­ ten. [... Ungleiche Behandlung von Arbeitern verschiedener Organisationen durch die Sicherheitsmänner des alten Bergarbeiterverbandes.] Daß die Zechenverwaltungen oder Beamten die Sicherheitsmänner schikanie­ ren und in ihren Rechten zu beeinträchtigen suchen, trifft nach den Berichten der Revierbeamten und nach den von uns in den einzelnen Beschwerdefällen angestellten Ermittlungen nicht zu. 32 Nr.6

Unseres Dafürhaltens wird sich das jetzt noch auskömmliche Verhältnis der Zechenverwaltungen zu den Sicherheitsmännern aber verschlechtern, je mehr die Sicherheitsmänner sich als Organe der Verbände fühlen und den Anwei­ sungen der Leitungenblindlings Gefolgschaftleisten, was in der Zukunft noch weit mehr der Fall sein wird als gegenwärtig, wo die Einrichtung noch neu ist, und die Sicherheitsmänner von der Leitung des alten Verbandes in ihrem Sinne noch nicht so geschult sind, wie es gewünscht wird.

Nr.6

1911 Januar 12

Resolution des deutschen Heimarbeitertags zum Entwurf eines Hausarbeits­ gesetzes 1

[Forderungen zur Verbesserung der Lageder Heimarbeiter, u.a. durch Zwang zum Abschluß rechtsverbindlicher Tarife)

1. Der deutsche Heimarbeitertag2 begrüßt in dem Entwurf eines Haus­ arbeitsgesetzes, das dem Reichstag zur Beschlußfassung vorliegt, den er­ sten Versuch eines gesetzlichen Heimarbeiterschutzes, für den auch das Arbeitskammergesetz und die Reichsversicherungsordnung eine Ergän­ zung bieten können. Dringend erforderlichist indes, daß die bis jetzt von

1 Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 130b, Bü. 3177. Gezeichnet von - Prof. Dr. Ernst Francke (1852-1921), 1901-1913 Generalsekretär der Gesellschaft für Soziale Reform. - Prof. Dr. Robert Wilbrandt. 1908-1929o. Prof. der Volkswirtschaftslehre in Tübingen. - Margarete Behm, Vorsitzendedes christlichen Gewerkvereinsder Heimarbeiterinnen. -E. Bernhard - Johannes Giesberts (1865-1938), Mitbegründer der Christlichen Gewerkschaftsbewegung, seit 1905 MdR (Zentrum). - Karl Goldschmit, MdL (Freis. Volkspartei), Verbandsredakteur der Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereine. - Paul Krüger - Joh. Sassenbach - Robert Schmidt (1864-1943), 1903-1938 MdR (SPD), Mitglied der Generalkommission der Freien Gewerkschaften. 2 Abgehalten zu Berlin am 11. Januar 1911. Vgl. die beidengegensätzlichen Stellungnahmen: Die Bedeutung des Heimarbeitertages, in: Der Gewerkverein, Nr. 2 vom 7. Januar 1911 und der Heimarbeitertag, in: Deutsche lndustrie-2'.eitung. Nr. 3vom 21. Januar 1911. 1911 Januar 12 33

den Reichstagskommissionen hinzugefügten Verbesserungen der Geset­ zesentwürfe erhalten bleiben; beim Hausarbeitsgesetz die obligatorischen Lohntafeln und Lohnbücher, beim Arbeitskammergesetz die Wählbar­ keit der Angestellten der Berufsvereine,ohne die auch die Heimarbeiter ihrer besten Vertreter beraubt sind.

2. Der Heimarbeitertag erinnert an die Heimarbeit-Ausstellung 1906 in Berlin3, deren Ergebnisse im deutschen Volke, ja weit über dessen Gren­ zen hinaus, den Eindruck erschreckend niedriger Bezahlung der Heim­ arbeit hinterließen und Rückschlüsse aufdrängtenauf das Elend und die Verkümmerung der hausindustriellen Schichten der Nation. An alledem wird durch den Entwurf des Hausarbeitsgesetzes noch nichts geändert. Die Entlohnung der Arbeit bleibt schrankenloser Konkurrenz und per­ sönlicher Willkür, der Ausbeutung der Notlage, der Unkenntnis und des sozialen Leichtsinnspreisgegeben.

3. Der Heimarbeitertag erklärt in Übereinstimmung mit den wissenschaft­ lichen Untersuchungen über das Wesen der Heimarbeit und im Einklang mit den internationalen Erfahrungen praktischerReformversuche: In der Heimarbeit muß staatlicher Arbeiterschutz vor allem durch Hebung der oft unwürdig geringen, zu Überarbeit und gesundheitsschädlicher Ar­ beitsweise zwingenden Löhnegeleistet werden. Alle den Fabrikgesetzen nachgebildeten Maßnahmen, so nötig sie für das Gemeinwohl sind, tref­ fen den Hausarbeiter selbst, machen ihn persönlich verantwortlich für die Folgen niedrigen Lohnes. Für diese Verantwortung muß als Voraus­ setzung eine bessere Bezahlung, die den Heimarbeiter tragfähig für die Anforderungen des Gesetzes macht, verlangt werden.

4. Diese Erkenntnis, ein Gemeingut moderner Sozialpolitik, hat bereits zu dankenswerten Beschlüssen im Reichstag geführt, so u.a. dazu, daß es zu den Aufgaben der Arbeitskammern gehören soll, "in der Hausindustrie die Vereinbarung und Regelung der Lohnsätzezu fördern". Für die hilfs­ bedürftigsten Industriezweige jedochmüssen außerdem durch Bundesrat oder Landeszentralbehörde Einrichtungen geschaffen werden mit der Befugnis, durch die gewählten Vertreter der Arbeitgeber und der Arbei­ ter unter unparteiischem Vorsitz Tarife ausarbeiten zu lassen, die dann rechtsverbindlich und in ihrer Durchführung staatlich geschützt sind.

3 Vgl. Nr. 27. 34 Nr.6

5. Nur dann, wenn die hier versagende Kraft der Arbeiterorganisationen durch die des Staates ersetzt wird, um Tarifverträge zu erringen und durchzuführen, nur dann wird der anständige Unternehmer von der Schmutzkonkurrenz, der Heimarbeiter von dem verhängnisvollen Lohn­ druck befreit, nur dann wird den hoffnungslos Ermatteten die Kraft der Selbsthilfe gegeben, kurz wirklicher Heimarbeiterschutzauf der Basis des Gesetzeserrichtet sein.

6. Außer dieser Hauptforderung erneuertder Heimarbeitertag die während der letzten Jahre in zahlreichen Eingaben und Kundgebungen ausgespro­ chenen Wünsche der Heimarbeiter und zwar: a) Für das Hausarbeitsgesetz: Auferlegung der allgemeinen Registrier­ pflicht; Unterstellung unter die Gewerbeaufsicht; Durchführung eines sanitären Schutzes; Beschränkung der Ausnahmen auf die dringend­ sten Fälle, Abkürzung der Übergangsvorschriften; allgemeine Einfüh­ rung von Abrechnungsbüchern, obligatorischer Aushang von Lohn­ tafeln; Entschädigung für unverschuldete Zeitversäumnis beim Holen oder Bringen von Arbeit.

b) Für das Arbeitskammergesetz4: Verpflichtung zur Förderung der Ver­ einbarung und Regelung der Löhne in der Heimarbeit; Wählbarkeit der Angestellten der Berufsvereine.

c) Für die Reichsversicherungsordnung: Ausdehnung der Versiche­ rungspflichtauf alle Heimarbeiter nicht nur für die Krankenversiche­ rung, sondern auch fürdie sämtlichen übrigen Zweige der Reichsversi­ cherungsordnung.

Der deutsche Heimarbeitertag gibt der Überzeugung Ausdruck, daß mit der Verwirklichung dieser Forderungen dem Elend in der hausindustriellen Be­ völkerung gesteuert werden kann, und erwartet deshalb von Bundesrat und Reichstag, daß diese seine Resolution bei den Beratungen und Beschlüssen volle Berücksichtigung findet.

4 Vgl. die Quellen zum Arbeitskammergesetz in: Akten zur staatlichen Sozialpolitik in Deutsch­ land 1890 - 1914, hrsg.v. P. Rassowu. K. E. Born, Wiesbaden1959, S. 344 - 411. 1911 Januar 15 35

Nr.7

1911 Januar 15

Deutsche Buchdrucker-Zeitung Nr. 3 Tarifverträge und Organisationszwang

[Resolution des Landesverbands Evangelischer Arbeitervereine Sachsens ge­ gen sozialdemokratischen Organisationszwang]

Der engere soziale Ausschuß des Landesverbandes Evangelischer Arbeiter­ vereine veröffentlicht die nachfolgende, von ihm gefaßte Resolution: "Der Landesverband Evangelischer Arbeitervereine im Königreich Sachsen lenkt die Aufmerksamkeit aller bürgerlichen Kreise auf die Tatsache, daß neuer­ dings die sozialdemokratischen Gewerkschaften dadurch ihre Macht zu ver­ größern bestrebt sind, daß sie Tarifverträge mit Arbeitgeberverbänden ab­ schließen, kraft welcher nicht sozialdemokratisch organisierte Arbeiter von der Beschäftigung in den Betrieben der vertragschließenden Unternehmer ausgeschlossen werden. Muß es schon wundernehmen, daß die Arbeiterorgani­ sationen derartige Verträge vorzulegen den Mut haben, so ist unsere Ent­ rüstung darüber noch viel größer, daß Arbeitgeberorganisationen um des lie­ ben Friedens willen vor der gewerkschaftlich organisierten Sozialdemokratie die Waffen strecken, obwohl sie von der politisch organisierten Sozial­ demokratie nach wie vor aufs heftigste bekämpft werden. Wir richten die ern­ ste Bitte an die Unternehmer, allen Versuchen von sozialdemokratischer Seite, ihnen solche Tarife aufzudrängen, mit größter Entschiedenheit zu be­ gegnen, und hegen die bestimmte Erwartung, daß alle Kreise des Bürgertums, ganz gleich welcher Parteirichtung sie angehören, die nicht sozialdemokrati­ schen Arbeiterorganisationen in ihrem Kampfum Entwicklungsfreiheitunter­ stützen möchten." - Diese Resolution ist zurzeit insofern von besonderem Interesse, als in Rötha infolge eines solchen Tarifvertrages, wie er oben ge­ kennzeichnet wurde, ein schwerer Konflikt im Kürschnergewerbe ausgebro­ chen ist. 36 Nr.8

Nr.8

1911 Januar 16

Bericht des württembergischen Innenministers an das Königliche Staatsmini­ sterium betreffenddas Hausarbeitsgesetz1 Ausfertigung

[Württemberg für Lohnämterund Rechtsverbindlichkeit der Lohntarife]

Nach dem Bericht des stellvertretenden Bundesratsbevollmächtigten, Mini­ sterialrat Dr. von Köhler, vom 12. Januar des. Jhs. Nr. 88hat im Reichsamt des Innern eine Besprechung der Bevollmächtigten der größeren Bundesstaaten über die Frage der Schaffungvon Lohnämterndurch den z. Zt. dem Reichstag vorliegenden Entwurf eines Hausarbeitsgesetzes stattgefunden, wobei die vom Reichsamt des Innern im Einvernehmen mit dem preuss. Minister für Handel und Gewerbe hierüber aufgestellten Grundzüge, die dem K. Preuss. Staats­ ministerium vorgelegt werden sollen, mitgeteilt wurden. Wenn auch im allgemeinen gegen ein staatliches Eingreifen in die Festset­ zung der Arbeitslöhne schwere Bedenken grundsätzlicher Art zu erheben sind, so lässt sich doch nicht verkennen, dass auf dem Gebiet der Hausarbeit beson­ dere Verhältnisse gegeben sind, die ausnahmsweise staatliche Massnahmen rechtfertigen können. Die Heimarbeits-Ausstellungen haben gezeigt, dass in einzelnen Zweigen der Hausindustrie in der Tat völlig unzureichende Löhne bezahlt werden.2 Sodann kommt in Betracht, dass die Heimarbeiterschaft aus eigener Kraft kaum eine wesentliche Besserung der Lohnverhältnisse her­ beizuführen vermag. Die in dem Hausarbeitsgesetz-Entwurf vorgesehenen Be­ stimmungen bezwecken in erster Linie auch einen höheren gesundheitlichen und sittlichen Schutz der Heimarbeiter; eine Durchführung dieses Schutzes ist aber nur möglich, wenn auch die Löhne gleichzeitig erhöht werden. Gerade der letztere Gesichtspunkt wird in der Literatur und in der Presse mehr und mehr geltend gemacht, wie denn überhaupt in der Öffentlichkeit eine grund­ legende Verbesserung der Heimarbeits-Verhältnisse auf dem Weg der Gesetz­ gebung mit Bestimmtheit erwartetwird. Nachdem England mit der Errichtung von Lohnämternvorangegangen ist, wird sich die Schaffung ähnlicher Einrich­ tungen auch in Deutschland jetzt nicht mehr vermeiden lassen. Von aus­ schlaggebender Bedeutung ist aber noch der Umstand, dass nun wohl nicht

1 Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 130b, Bü 3177. Unterzeichnet von Dr. Johann v. Pischek (1843- �916), 1893-1912 württembergischer Staatsminister des Innern. Vgl. Nr. 27 (18. Febr. 1911 - Brentano) 1911 Januar 16 37 mehr auf die Arbeitskammern verwiesen werden kann, für welche nach den Kommissionsbeschlüssen als eine ihrer wesentlichen Aufgaben gerade die Forderung der Vereinbarung und Regelung der Lohnsätze in der Hausindu­ strie vorgesehen worden ist. Hienach möchte ich gegen die nunmehr in Aussicht zu nehmende Errich­ tung von Lohnausschüssen keine Einwendung erheben. Auch kann ich mich mit den hierfür mitgeteilten Grundzügen im allgemeinen (zu vgl. jedochinsbe­ sondere die Bemerkungen zu § 16g unter Ziff. 5 unten) einverstanden erklä­ ren. Im einzelnen gestatte ich mir hierzu noch folgendes zu bemerken. 1. In dem vorgeschlagenen § 16a sollte der Eingang etwa wie folgt gefasst werden: "Der Bundesrat kann für bestimmte Gewerbezweige, in denen nach­ gewiesenermassen eine grössere Anzahl von Hausarbeitern gegen ein Entgelt beschäftigt werden", usw. Hiebei gehe ich davon aus, dass der erforderliche Nachweis sowohl durch behördliche Ermittlungen (z.B. durch den Beirat für Arbeiterstatistik) als auch durch zuverlässige Mitteilungen seitens beteiligter Kreise erbracht werden kann. Sodann dürfte in Zeile 3 des § 16a das Wort "Leistungsfähigkeit"zu ersetzen sein durch die Worte "tatsächliche Leistungen". 2. Die Ziffer 1 des§ 16b dürfteetwa wie folgtzu fassen sein: "l. in geeigneter Weise ... sowie von Auskunftspersonen die Lohnverhält­ nisse der Hausarbeiter des näheren zu ermitteln,". Eine Ermittlung der tatsächlichen Höhe des Verdienstesmuss ja nach§ 16a bereits vor der Errichtung des Lohnausschusses stattgefunden haben. Auf der anderen Seite dürfte es sich empfehlen, nicht bloss die Höhe des Verdienstes, sondern die Lohnverhältnisse überhaupt (z.B. auch die Art der Berechnung und der Bezahlungdes Lohnes) ermitteln zu lassen. 3. In § 16c sollte in Satz 1 in der 3. Zeile vor dem Worte "Beisitzerin" das Wort "sachkundige" eingeschaltet und sodann der Satz 2 gestrichen werden. Es wird anzunehmen sein, dass als Vorsitzender in der Regel ein Beamter bestellt werden wird, der zwar auf dem sozialen Rechtsgebiet bewandert ist, aber mit den Verhältnissen des in Betracht kommenden Gewerbezweigessich erst noch vertraut machen muss. Es kann sich auch empfehlen, dass ein und derselbe Beamte den Vorsitz bei mehreren Lohnausschüssen führt. Um nun bei der Durchführung des Gesetzes Schwierigkeiten zu vermeiden, dürfte für den Vor­ sitzenden nicht der Besitz der erforderlichen Sachkunde gesetzlich vorzu­ schreiben sein; die Landeszentralbehördewird schon von selbst eine geeignete Persönlichkeit zum Vorsitzenden ernennen. 4. In§ 16eist in der Klammer in der 2ten Reihe versehentlich der Buchstabe "c" statt des Buchstabens "b" gesetzt. 5. Nach § 16g soll den von den Lohnausschüssen endgültig festgesetzten Entgelten nicht allgemeine Rechtsverbindlichkeit, sondern nur aushilfsweise 38 Nr.8

Gültigkeit zukommen. Hierdurch soll die Freiheit der Lohnvereinbarung zwi­ schen Arbeitgeber und Arbeiter gewahrt und den grundsätzlichen Bedenken, welche gegen ein staatliches Eingreifen in die Lohnfestsetzung geltend ge­ macht werden können, Rechnung getragen werden. Auf der andern Seite ver­ mag eine solche Regelung der Frage doch nicht zu befriedigen; denn die Ein­ richtung von Lohnausschüssen, deren Lohnfestsetzungen nicht eine allge­ meine Rechtsverbindlichkeit beigelegt werden kann, erscheint als eine lex imperfecta; auch könnte hiebei das Ansehen des Staates, der die Lohnaus­ schüsse eingesetzt hat, leicht sehr geschädigt werden. Wenn sich jedoch der Reichstag, was wohl kaum anzunehmen sein wird, mit der hier vorgeschlage­ nen Regelung zufrieden geben sollte, so könnte auch ich mich schliesslich damit abfinden. Die vorgeschlagene Bestimmung könnte vielleicht folgende verschärfte Fassung erhalten: "Die so veröffentlichten Entgelte können gefordert werden, soweit nicht eine andere Vereinbarung in schriftlicher Form getroffen und dem Lohnaus­ schuss mitgeteilt worden ist". Ausserdem hätte ich indessen nichts dagegen zu erinnern, wenn etwa noch folgendeweitere Bestimmung beigefügtwürde: • Auf Antrag des Lohnausschusses kann der Bundesrat den veröffentlichten Entgelten allgemeine Rechtsverbindlichkeit beilegen". 6. Wenn nach§ 16i die Kosten der Lohnausschüsse den Bundesstaaten auf­ erlegt werden sollen, so vermag ich hiegegen eine Einwendung um so weniger zu erheben, als die Kosten voraussichtlich nicht sehr hoch sein werden. Es wird sich in der Hauptsache um die Tagegelder und Reisekosten der Mitglie­ der der Lohnausschüsse handeln. Die erforderlichen Geschäftsräume können wohl von Behörden des Departements des Innern (von der Zentralstelle für Gewerbe und Handel, den Kreisregierungen und Oberämtern) zur Verfügung gestellt werden. Die Sitzungen der Lohnausschüsse werden, zumal wenn die l.i>hneeinmal festgesetzt sind, nicht häufigstattfinden. Auch werden für Würt­ temberg jedenfalls in den nächsten Jahren nicht viele Lohnausschüsse in Be­ tracht kommen, zumal da in der württ. Hausindustrie (Musikinstrumenten-, Uhren-, Textil- und Konfektionsindustrie) im allgemeinen anständige Löhne bezahltwerden. Wegen der infolgeder Durchführungdes Hausarbeitsgesetzes erwachsenden Kosten, die sich hauptsächlich aus der Ausdehnung der Gewerbeaufsicht auf die Hausindustrie ergeben, muss ich mir übrigens die Einbringung einer nach­ träglichen Etats-Forderung vorbehalten. Dem K. Staatsministerium beehre ich mich eine den vorstehenden Ausfüh­ rungen entsprechende Instruktion des stellvertretenden Bundesratsbevoll­ mächtigten, Ministerialrat Dr. von Köhler, in der Anlage vorzuschlagen. 1911 Januar 18 39

Nr.9

1911 Januar 18

Der Gewerkverein Nr. 5 Die Belastung der deutschen Industriedurch die Arbeiterversicherung Dr. Ernst Cahn

(Berechnung der Belastung der Industrie durch die einzelnen Zweige der Arbeiterversicherungim Verhältnis zu den Lohnkosten; sozialpolitische Bela­ stung macht nur einen Bruchteil der durch Lohnerhöhung u.a. gestiegenen Gesamtbelastung aus]

Gegen die Erweiterungder sozialen Gesetzgebung, speziell auch der Arbei­ terversicherung, ist immer wieder eingewendet worden, daß die Industrie die Lasten, die auf sie gelegt seien, ohne Gefährdung ihrer Lebens- und Konkur­ renzfähigkeit nicht tragen könne. Speziell bei den Verhandlungen über den Entwurf der Reichsversicherungsordnung werden wieder allerlei Verbesse­ rungsanträge mit diesem Argumente bekämpft.1 Es erscheint daher notwen­ dig, einmal an der Hand der Tatsachen zu prüfen, wie weit die Vorwürfe der Gegner eines Ausbaues unserer sozialen Versicherungsgesetzgebung gerecht­ fertigt sind. Nur an der Hand genauer zahlenmäßiger Darlegungen läßt sich ein derartiges Urteil gewinnen. Die Belastung der Industrie durch die Arbeiterversicherung ist eine drei­ fache; erstens haben die Arbeitgeber in der Krankenversicherung ein Drittel der Beiträge zu zahlen; zweitens haben sie in der Unfallversicherung die gan­ zen Lasten aufzubringen und drittens von den Beiträgen zur Invalidenver­ sicherung die Hälfte zu entrichten. Wie hoch sich diese Belastung nun tatsächlich gestaltet, davon wird man sich am besten ein Bild machen, wenn man zunächst berechnet, welchen Prozentsatz der Löhnedie Arbeiterversiche­ rungslasten ausmachen. Da es genaue Ziffern für die Allgemeinheit hierüber nicht gibt, so sind wir auf Schätzungen angewiesen. In der Krankenversiche­ rung ist - ebenso wie bei den anderen Zweigen der Arbeiterversicherung - nicht gesetzlich bestimmt, welchen Prozentsatz der Löhne die Kassenbeiträge ausmachen sollen, nur in § 31 des Krankenversicherungsgesetzes ist der Höchstsatzder Beiträge für Arbeitgeber und Arbeiter zusammen auf 4½ Pro­ zent, in gewissen Ausnahmefällen auf 6 Prozent festgesetzt, und ähnliche Be­ stimmungen sollen nach dem§ 416 ff. des Entwurfesder Reichsversicherungs­ ordnung Platz greifen. l Vgl. Nr. 3, Nr. 28. 40 Nr.9

Die durchschnittliche Belastung von Arbeitgeber und Arbeiter zusammen dürfte sich auf 3 bis 3¼ Prozent der Löhnebelaufen. Man gewinnt diese Zahl, wenn man für den einzelnen Krankenversicherten einen Durchschnittsjahres­ arbeitsverdienst von 800 Mark, was eher zu gering als zu hoch bemessen ist, annimmt, und diese Ziffer mit der Zahl der Versicherten, heute rund 12½ Millionen, multipliziert. Das ergibt dann eine Lohnsumme von 10 Milliarden; da nun die Gesamtausgaben für Krankenversicherungheute 325 Millionen be­ tragen, so ergibt sich die angegebene Ziffer von 3 bis 3¼ Prozent der Lohn­ summe. Doch sind naturgemäß in zahlreichen Einzelfällen die Belastungen etwas höher; in Frankfurt a.M. z.B. beträgt die Belastung durchschnittlich 3,7 Prozent der Löhne für Arbeitgeber und Arbeiterzusammen, schwankt jedoch im Einzelfall, da die Beiträge nicht nach den Individuallöhnen, sondern klas­ senmäßig erhoben werden, zwischen 2,5 Prozent und 5,4 Prozent. In der Unfallversicherungbeträgt die Belastung rund 1,7 Prozent der Löhne. Man gewinnt diese Ziffer, wenn man berechnet, welchen Prozentsatz die Ge­ samtausgaben der gewerblichen Berufsgenossenschaften, das sind für 1908 147 874 428 Mark, von der Gesamtlohnsumme der bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften Versicherten, das sind 8 447 580 140 Mark, ausmacht. Tatsächlich freilich schwankt dieser Prozentsatz je nach der Unfallhäufigkeit in den einzelnen Berufen, er steigt z.B. bei der Knappschaftsberufsgenossen­ schaft auf 2,86 Prozent, bei der Binnenschiffahrtsberufsgenossenschaftgar auf 4,2 Prozent, sinkt aber auf der anderen Seite bei der Buchdruckereiberufs­ genossenschaft auf 0,42 Prozent, bei der Tabakberufsgenossenschaft gar auf 0,18 Prozent. Bei der Invalidenversicherung dürfte die durchschnittliche Belastung der Löhne fürArbeitgeber und Arbeiter zusammen1,8 Prozent betragen. Da sich freilich die Beitragshöhe hier nach Lohnklassen bemißt und die Einreihung des einzelnen Versicherten in die einzelne Lohnklassewenigstens bei gewerb­ lichen Arbeitern nicht nach dem Individuallohn, sondern nach der Lohn­ bemessungsgrundlage für die Beiträge zur Krankenversicherung richtet, so kommen auch hier nicht unbeträchtliche Schwankungen nach oben und unten vor, die sich zwischen 2,8 Prozent und 0,9 Prozent der Lohnsumme bewegen. Die Belastung ist hier größer in den niedrigeren Lohnklassen, als in den höhe­ ren, zu denen aber heute die übergroße Masse unserer gewerblichen Arbeiter gehört. Die Durchschnittsbelastung mit Arbeiterversicherungsbeiträgen würde da­ nach heute für Arbeitgeberund Arbeiter zusammen betragen 6,75 Prozent der Löhne, eine Ziffer, die aber wahrscheinlich eher um ¼ bis ½ Prozent zu hoch gegriffen ist; davon hätten die Arbeitgeber zu zahlen 3,68 Prozent, die Arbei­ ter 3,07 Prozent. In besonders ungünstigen Fällen kann die Gesamtbelastung für Arbeitgeber und Arbeiter 11½ Prozent betragen, obwohl sie im Einzelfall 1911 Januar 18 41

schwerlich diesen Satz erreichen dürfte, wovon auf die Arbeitgeber 7,1 Pro­ zent, auf die Arbeiter 4,4 Prozent treffen würden. In besonders günstigen Fäl­ len kommen Lohnbelastungen von bloß 3½ Prozent in Frage, wovon die Arbeitgeber 1 ½ Prozent, die Versicherten 2 Prozent zu zahlenhätten. Hat man sonach eine Grundlage fürdie Lohnbelastung,die durch die Arbei­ terversicherung für unsere Industrie erwächst,so kann man an die Beantwor­ tung der weit schwierigeren Frage herantreten, welchen Einfluß die Arbeiter­ versicherungslasten auf den Preis des fertigen Produkts, den Reingewinn des Unternehmens und auf die Konkurrenzfähigkeit der Industrie ausüben. Eine solche Betrachtung, die ihr Augenmerk auf die wirtschaftlichePsychologie des Unternehmertums, sein ganzes Motivenleben richten muß, wird sich teils auf allgemeine volkswirtschaftliche Beobachtungen, teils auf ziffernmäßige Ein­ zeluntersuchungen stützen müssen. Grundlegend ist heute noch hierfür die ausgezeichnete Untersuchung, die Fabrikdirektor Greißl in München, also kein grauer Theoretiker, sondern ein Mann der Praxis, im 23. Jahrgang des Schmollerschen Jahrbuchs für Gesetzgebung, Verwaltungund Volkswirtschaft (1899) angestellt hat und die als ein Muster verständiger abwägender Beur­ teilung derartiger Fragen angesehen werden muß.2 Wenn im folgendenauf die Darlegungen Greißls weitgehend zurückgegriffen wird, so geschieht dies, weil eine breitere Öffentlichkeit davon bislang noch wenig Notiz genommen hat und die dort niedergelegten Urteile im allgemeinen auch heute noch Geltung haben. Wie wirkt die Belastung durch die Arbeiterversicherung auf die Preise der Produkte, den Reingewinn und die Konkurrenzfähigkeit der Industrie? Da muß zunächst festgestellt werden, daß die Frage verschieden zu beantworten ist, je nachdem die Aufwendungen für Lohn einen größeren oder geringeren Teil der Produktionskosten des fertigen Produktes ausmachen, je nachdem die Industrie hohe oder mäßige Gewinne abwirft, je nachdem durch Kartellierung der Konkurrenzkampf eingeschränkt ist oder nicht, je nachdem der Einzelbe­ trieb geschickt oder ungeschickt geleitet ist oder je nachdem eine Industrie nur für den inländischen Markt oder für den Weltmarkt produziert. Wie dem aber auch sei, der Betriebsunternehmer wird die Belastung durch die Arbeiterversi­ cherungsgesetzgebung ähnlich empfinden wie eine auf den Betrieb gelegte Produktionssteuer, und die allgemeinen, aus der Finanzwirtschaft bekannten Grundsätze über die Tragung und Abwälzung von Produktionssteuer greifen auch hier Platz. Der Betriebsunternehmer wird, da eine Erhöhung der Preise oft unangenehme Konsequenzen und Verschiebungen bringt, in erster Linie die Tendenz haben, die auf das Unternehmengelegte Lastdurch Ersparungen im Betriebe infolge besserer Organisation, Einführung technischer Verbesse-

2 Greißl. Wirtschaftliche Untersuchungen über die Belastung der deutschen Industrie durch die Arbeiter-Versicherungs- und Schutzgesetzgebung, a.a.O., S. 855-912. 42 Nr.9 rungen usw. auszugleichen. Da aber eine derartige Ausgleichung dieser Lasten nicht in jedembeliebigen Augenblick möglich ist, so würde die Abwälzung auf die Konsumenten durch eine Erhöhung der Preise nahe liegen, insbesondere bei Industrien, die nur für das Inland produzieren, wo also die Konkurrenz an­ derer Länder nicht zu befürchten steht. Auf die Dauer wird bei aller Produk­ tion für den inländischen Markt auch die Last der Arbeiterversicherung re­ gelmäßig durch Abwälzung auf die Konsumenten, das heißt durch Erhöhung der Preise der fertigen Produkte, ausgeglichen; da aber Preiserhöhungen in der Regel in viel höheren Prozentsätzen vor sich gehen, als der Erhöhung der Pro­ duktionskosten durch die Arbeiterversicherung entspricht, so wird die Bela­ stung durch die Arbeiterversicherungin der Regel nur einen Faktor neben an­ deren Faktoren bilden, die die Erhöhung der Preise herbeiführen, einen Fak­ tor, der nie für sich allein, sondern erst wenn noch andere Faktoren dazu tre­ ten, in einer Preiserhöhung zum Ausdruck kommen, daß vorübergehend für einige Jahre, d.h. bis auch andere Elemente der Produktionskosten teuer ge­ worden sind, die Last der Arbeiterversicherung auf dem Betriebsunternehmen liegen bleibt und damit seinen Gewinn schmälert. Hat nun diese vorüber­ gehende Gewinnschmälerung etwa lähmend auf den Unternehmungssinn gewirkt? Wer die Entwicklung unserer Industrie in den letzten Jahrzehnten verfolgt hat, und wer die sonstigen Faktoren, die für das Gedeihen von Unter­ nehmungen von Bedeutung sind, berücksichtigt, wird diese Frage glattweg verneinen. Gerade seit Einführung der Arbeiterversicherung haben wir einen Aufschwung unserer Industrie erlebt, wie ihn sich vorher niemand hätte träu­ men lassen. Dieser Aufschwung ist vor sich gegangen, obgleich dabei Lohn­ erhöhungen vorgekommen sind, die insgesamt die Gesamtbelastung von Arbeitgeber und Arbeiter durch die Arbeiterversicherung um das drei- bis fünffache,ja noch mehr, überstiegen haben, und manchmal ist auch heute die Lohnerhöhung, die bei einem siegreichen Streik die Arbeiter erzielen, nicht geringer als die Gesamtbelastung, die die Arbeitgeber für sich allein in den Beiträgen zur Arbeiterversicherung zu tragen haben. Damit ist auch zugleich der Einwurf derer erledigt, die sicherlich meist mit Recht der Meinung sind, daß auf die Dauer die Arbeitgeber in Gestalt höherer Löhne auch den Teil der Lasten der Arbeiterversicherung zu tragen hätten, der nach dem Gesetz von den Arbeitern zu tragen ist. Dabei ist noch besonders zu betonen, daß sich im Gegensatz zu manchen Lohnerhöhungen, die ganz sprunghaft eingetreten sind, die Lasten der Arbeiterversicherung erst allmählich zu ihrer jetzigen Höhe entwickelt haben, einmal, weil die Unfallversicherungslasteninfolge des Umlageverfahrens erst ganz langsam gestiegen sind, und dann, weil auch die Lasten der Krankenversicherung teils durch die gesetzliche Erweiterung der Höchstunterstützungsdauer, teil durch die statutarischen Erweiterungen der 1911 Januar 20 43 gesetzlichen Leistungen u.a. erst langsam zur jetzigen Höhe emporgestiegen sind. (Schluß folgt. )3

Nr.10

1911 Januar 20

Runderlaß des preußischen Ministers fürHandel und Gewerbean die Königli­ chen Oberbergämter1 Ausfertigung Eilt!

[Keine Zusicherung von Pensionen bei der Neueinstellung von vertragsmäßig angestellten Beamten]

Es ist bisher vielfach Brauch gewesen, den vertragsmäßig angestellten Werksbeamten gleich beim Abschlusse des Dienstvertrages die Gewährung eines Ruhegehaltes auf Grund der für die einzelnen Staatswerke erlassenen Pensionszuschuß-Reeulative vom 24. April 1874 in Aussicht2 zu stellen3• Wenn auch durch den in den Dienstverträgen gewählten Wortlaut eine recht­ liche Verpflichtung zur Gewährung des Ruhegehalts nicht begründet wurde, so wird doch unter den in Betracht kommenden Beamten allgemein die An­ sicht vertreten sein, daß nur sehr schwerwiegende Gründe sie von dem Emp­ fange des Ruhegehalts ausschließen würden. Daß solche Zuversicht Platz greift, ist, soweit sie dazu führt, die tüchtigen Kräfte dem Werksdienste zu er­ halten, nur zu begrüßen. Sie hat jedoch auch den nicht zu unterschätzenden großen Nachteil, daß sie auch da an das Werk fesselnwird, wo es in dessen In­ teresse läge, minderwertige Kräfte abzustoßen. Bei den hohen Einkünften, welche die Staatskasse mit Rücksicht auf die Privatindustrie diesen Angestell­ ten zu gewähren gezwungen ist und bei der Voraussicht, sich im Privatdienste zu verschlechtern, werden solche Beamte erst recht an ihrer Stellung festhal­ ten, wenn sie diese nicht zum Vorteil des Werks ausfüllen. Besonders groß kann der Schaden sein, wenn solche Beamte leitende Stellen bekleiden.

3 Vgl. Nr. 11. 1 Bergbau-archiv,32/254. �ezeichnet von Minister Reinhold v. Sydow. handschriftlichunterstrichen. 3 Vgl. auch Nr. 753 u. Nr. 819. 44 Nr.11

Ich bestimme daher, daß fortan bei den Verhandlungen über die Annahme von Vertragsbeamten die wenn auch nur bedingte Zusicherung eines Ruhe­ gehaltes zunächst zu unterbleiben hat. Die Möglichkeit der Erlangung eines Ruhegehaltes ist Vertragsbeamten vielmehr erst dann in Aussicht zu stellen, wenn der Verlauf einer fünfjährigen Beschäftigungszeit wie auch die Charak­ tereigenschaften des Beamten sichere Gewähr dafür bieten, daß dessen künf­ tiges Wirken für den Betrieb dauernd ersprießlich sein und die enge Bindung an das Werk keinen Nachteil bringen wird.

Nr.11

1911 Januar 21

Der Gewerkverein Nr. 6 Die Belastung der deutschen Industrie durch die Arbeiterversicherung (Schluß)1 Dr. Ernst Cahn

[Keine entscheidende Erschwerung des deutschen Exports durch die Lasten der Arbeiterversicherung, da die Gewinnchancen nur minimal verringert wur­ den; ein Ausbau der Sozialversicherung und damit eine höhere sozialpoliti­ sche Belastung kann von der Industrie leicht getragen werden]

Die Lastender Arbeiterversicherungim Gegensatz zu anderen Faktoren der Produktionskosten haben zudem den Vorteil, daß sie ein stabiler Faktor sind, der sich in seiner stets wiederkehrenden Größe im voraus berechnen und bei der Kalkulation ohne Schwierigkeiten in Rechnung setzen läßt. Viel unange­ nehmer sind fürdie Industrie die anderen Faktoren in den Produktionskosten, die fortgesetzt den größten Schwankungen unterworfen sind, wie z.B. die Preise der Rohstoffe von Jahr zu Jahr, gewisse Naturereignisse, und denen sie sich doch auch anpassen muß. Auch plötzliche Preisherabsetzungen infolge starker Gegenkonkurrenz müssen von ihr auf sich genommen werden. Wenn die Industrie aber mit solchen Schwankungen zu rechnen hat, dann kann nicht gesagt werden, daß eine ziffernmäßig so kleine, dazu noch voraussehbare Bela­ stung wie die Beiträge zur Arbeiterversicherungnicht getragen werden könne. Nun hat man eingewendet, daß in Industrien mit besonders schwierigen Exi­ stenzbedingungen die Lasten der Arbeiterversicherung den letzten Rest von

l Vgl. Nr. 9. 1911 Januar 21 45

Gewinnmöglichkeit wegnähmen. Das mag in einzelnen Fällen zutreffen, kann aber keinen Grund abgeben, der Gesamtheit der Arbeiterschaft die segens­ reiche Einrichtung der Arbeiterversicherung oder deren Ausbau vorzuenthal­ ten. Jede gesetzliche Einrichtung hat Härten im Gefolge; humanitär und kul­ turell wertvolle Einrichtungen aber deshalb zu unterlassen, weil kleine Teile der Gesamtbevölkerung davon einen Schaden haben, wäre verkehrt und eng­ herzig. Besonders umstritten ist die Frage der Belastung der Industrie durch die Beiträge zur Arbeiterversicherung in den Industriezweigen, die für den Welt­ markt produzieren und dort mit der Industrie anderer Länder konkurrieren müssen2• Es darf dabei vorausgeschickt werden, daß die Produktion unserer Industrie für den Weltmarkt nur einen kleinen Teil der Gesamtproduktion, etwa 1/5 ausmacht. Hat hier nachweisbar die Lastder Arbeiterversicherungzu einer Aufhebung oder wesentlichen Erschwerung der Konkurrenzfähigkeit geführt? Es leuchtet ein, daß hier eine Abwälzung der Lastender Arbeiterver­ sicherung auf den Konsumenten, wie sie bei den nur für den inländischen Markt arbeitenden Industrien möglich ist, ausgeschlossen ist. Die Lasten der Arbeiterversicherung werden sich also hier durchweg in einer Verringerung der Gewinnchancen zeigen. Aber diese Schmälerung der Gewinnchancen ist, wie Greißl3 nachdrücklich hervorhebt, viel zu gering, um irgendwie auf das Gedeihen unserer Exportindustrie einen maßgebenden Einfluß zu üben. Wird überhaupt der Export unternommen, so geschieht das bei der großen Masse von Mühe, Weitsicht, Opfer, Risiko und Tatkraft, die dazu nötig ist, um auf dem Weltmarkte ein lohnendes Absatzgebiet zu finden, niemals, um einen so minimalen Nutzen zu erzielen, wie er den Lasten der Arbeiterversicherung gleichkäme. Ein Export, der sich innerhalb so enger Grenzen bewegen würde, wie es die Lasten der Arbeiterversicherung tun, würde überhaupt nicht unter­ nommen und ebensowenig würde er um dieser Lasten willen nachher aufge­ hoben. Ein Export ist nur dann lebensfähig, wenn er wesentlich größere Ge­ winne abwirft, als die Ziffern darstellen, die in den Lasten der Arbeiterversi­ cherung zum Ausdruck kommen, andernfalls ist er überhaupt nicht existenz­ fähig und würde es auch ohne die Lasten der Arbeiterversicherung nicht sein. Freilich wird es auch da Fälle geben, wo etwa unter dem Druck der ausländi­ schen Konkurrenz der Nutzen minimal gewordenist und die Last der Arbei­ terversicherunggerade die letzte Gewinnmöglichkeit wegnimmt. Aber auch da wird man wegen der Erhaltung einiger leistungsschwacher Betriebe nicht auf den ungeheuren Vorteil verzichten dürfen, den die soziale Versicherungsge­ setzgebung der Arbeiterschaft bringt.

2 Vgl. Nr. 165. 3 Fabrikdirektor Greißl aus München. Nr.11 46

Wir haben uns bisher in allgemeinen Erörterungen mit der Wirkung der Arbeiterversicherung auf das Gedeihen der Industrie befaßt. Es ist noch not­ wendig, Einzelziffern zu geben. Leider stehen neuere Einzelziffern nicht zu Gebote, so daßauf die Ziffern zurückgegriffenwerden muß, die Greißl in sei­ nem erwähnten Aufsatz niedergelegt hat4; sie dürften aber in weitem Maße auch heute noch maßgebend sein und können daher als wertvolle Anhalts­ punkte dienen. Greißl gibt uns Ziffern einmal darüber, welchen Prozentsatz der Preise der fertigen Produkte die Arbeiterversicherungslasten ausmachen, dann welchen Prozentsatz sie vom Reingewinndes Unternehmens ausmachen, und endlich, welchen Prozentsatz sie vom Unternehmergewinn des Unter­ nehmens ausmachen, worunter er die Summe versteht, die nach Abzug der Produktionskosten, 4 Prozent Verzinsung auf das investierte Kapital und 1 Prozent Risikoprämie verbleibt. Da ergibt sich, daß bei Hüttenwerken die La­ sten der Arbeiterversicherung½ Prozent des Preises der fertigen Produkte, in der Brauereiindustrie sie 1 Prozent des Preises der fertigen Produkte ausmach­ ten. Ferner machten sie aus: vom Reinerträgnis einer Strassenbahn 4,2 Pro­ zent, einer Lokalbahn 3,6 Prozent, bei drei Brauereien 4 Prozent, 5 Prozent und 7 Prozent, bei zwei Kohlenbergwerken (wo die Arbeiterlöhne etwa ½ bis 2/3der Produktionskosten ausmachen) 10,5 Prozent und 14 Prozent, 3 Prozent bei zwei Bergbau- und Hüttenbetrieben, bei einem Hüttenbetrieb 4 Prozent und bei einem Zementwerk 3,9 Prozent. Endlich betrug der Unternehmer­ gewinn in dem oben erörterten Sinne bei einer Straßenbahn 7 Prozent, bei drei Brauereien 55, 9 und 40,5 Prozent, bei zwei Kohlenbergwerken 14,4 und 73,8 Prozent, bei zwei Bergbau- und Hüttenbetrieben 20,8 und 20,2 Prozent und bei einem Zementwerk 6,5 Prozent. Greißl kommt zu dem Schlußergeb­ nis, daß unsere Industrie selbst eine Verdoppelung der Lasten der Arbeiter­ versicherungruhig tragen könnte. Wir stehen wieder vor einem Ausbau unserer Arbeiterversicherungsgesetz­ gebung. Abgesehen von den in die Reichsversicherung neu einbewgenen Berufszweigen,die mit Ausnahme der Heimarbeiter und unständigbeschäftig­ ten Arbeiter mit der Industrie gar nichtszu tun haben, wirddie Mehrbelastung durch die geplante Reform für die Industrie, selbst wenn der Reichstag noch eine Reihe mäßiger Erweiterungen beschließt,nur gering sein. In der Unfall­ versicherung wird ja so gut wie nichts geändert, in der Krankenversicherung jedenfallsnur ganz wenig, und lediglich die Invalidenversicherung bringt durch die infolge der Einführung der Witwen- und Waisenversicherung gebotene Erhöhung der Beiträge eine gewisse Mehrbelastung. Man wird aber diese Mehrbelastung in allen drei Versicherungszweigenen,selbst wenn nochErwei-

4 Vgl. Greißl, Wirtschaftliche Untenuchungen über die Belastung der deutschen Industrie durch die Arbeiter-Venicherungs- und Schutzgesetzgebung, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 23. Jg. (1899), Leipzig 1899, S. 855-912. 1911 Januar 21 47

terungen sollten beschlossenwerden, auf höchstens 1 Prozent der Lohnsumme ansetzen dürfen. Aus den 6 3/4 Prozent durchschnittlich für Arbeitgeber und Arbeiter würden also 7 3/4 Prozent werden; da gerade jetzt unsere Industrie sich wieder in einer Aufwärtsentwicklung bewegt, kann diese Mehrbelastung leicht ertragen werden. Möchten unsere Volksvertreter dies beherzigen und sich nicht aus übergrosser Angst vor der Schwächung der Leistungsfähigkeit unserer Industrie, einer Angst, die mehr auf allgemeinen Stimmungen als auf genauer Untersuchung der Einzeltatsachen beruht, von einer Gestaltung des Reformwerkes abhalten lassen, die für die Sicherung der Lebenshaltung der Arbeiterbevölkerungeinen wirklichen Fortschritt bringt!

Nr.12

1911 Januar 21

Der Gewerkverein Nr. 6 Die Privatbeamtenversicherung

[Völlige Unzulänglichkeit desRegierungsentwurfs einer Angestelltenversiche­ rung]

Es haben Berge gekreißt, und es ist ein winziges Mäuslein geboren. So un­ gefähr ist das Gefühl, das wir beim Studium des Entwurfs eines Versiche­ rungsgesetzes für Angestellte haben, der am Montag, den 16. Januar, in der Nummer 13 des "Reichsanzeigers" veröffentlicht wurde1. Wenn man berück­ sichtigt, wie im Laufe der zurückliegenden 10 Jahre, in denen der Hauptaus­ schuß für die staatliche Versicherung der Privatangestellten in Gemeinschaft mit der Regierung an dem Zustandekommen eines Gesetzes für die Versiche­ rung der Privatangestellten gearbeitet haben, was den Privatangestellten alles versprochen wurde, und was im Gegensatz hierzu der jetzt herausgekommene Gesetzentwurf an Leistungen vorsieht, dann muß man der Ansicht zuneigen, daß es sich für die Regierung mit dem Herausbringen des Entwurfes nur darum gehandelt hat, ihr den Privatangestellten gegebenes Versprechen for­ mell einzulösen. In der im Sommer 1908 von der Regierung herausgegebenen Denkschrift betr. die Pensions- und Hinterbliebenenversicherungder Privatangestellten ist bereits der Plan einer Privatangestelltenversicherung technisch erörtert; auch

1 Zur Kritikdes Gesetzentwurfsvgl. Nr. 23, 26,33, 134. 48 Nr.12 wollte die Denkschrift den Beteiligten bereits eine Übersicht darüber ermögli­ chen, welche Beiträge zu leisten sind, wenn beabsichtigt wird, den Privatange­ stellten und ihren Hinterbliebenen eine Versicherung in dem für die einzelnen Rentenbezüge erkennbar gemachten Umfange zu sichern. Vielerorts war man deshalb der Ansicht, daß sieb der versprochene Gesetzentwurf auf der Grund­ lage dieser Denkschrift bewegen würde. Nichts von dem ist verwirklicht wor­ den. Wir dürfenim Gegenteil ruhig erklären, daß es besser gewesen wäre, man hätte die Privatangestellten vor dieser Enttäuschung, die ihnen der jetzt ver­ öffentlichte Gesetzentwurf bringt, bewahrt. Während die früheren Vorschläge der Regierung eine Beitragsleistung von 8 Prozent des Einkommens vorsahen, mit der eine Höchstrente von 50 Prozent des Gehalts erreicht werden konnte, sind jetzt die Beiträge prozentual abgestuft, etwa von 5,3 bis 7 Prozent, denen die Höchstrente mit 25 bis 45 Prozent des Durchschnittsgehaltes gegenüber­ steht. Der Abgeordnete Dr. Potthoff'2 brachte im "Berl. Tagebl." vom 17. Ja­ nuar zur Verdeutlichung der finanziellen Seite ein Beispiel, das auf die Ver­ hältnisse der Handlungsgehilfen zutreffend erscheint und deshalb hier wieder­ gegeben werden soll. Potthoff sagt: Ein Angestellter mit 1200 Mark Jahreseinkommen zahlt monatlich 3,40 Mark Prämie, also jährlich 40,80 Mark. Sein Chef ebensoviel. Nach 10 Jahren hat er dafür einen Pensionsanspruch von 204 Mark jährlich oder von 17 Mark monatlich erworben.Zahlt er weitere 10 Jahre lang seine Prämie in der nächst höheren Gehaltsklasse 1500 bis 2000 Mark, so beträgt diese jährlich 57,60 Mark für ihn und ebensoviel fürden Arbeitgeber. Der Pensionsanspruch macht dann nach 20 Jahren 348 Mark oder monatlich 29 Mark aus. Steigt sein Gehalt weiter bis 2500 Mark, so zahlter in den nächsten 10 Jahren jährlich 79,20 Mark, sein Chef dasselbe und den Pensionsanspruch beträgt nach 30jähriger ununterbrochener Versicherung 546 Mark jährlich oder 45,50 Mark monatlich. Dieses Ruhegeld erhält er, wenn er nicht mehr die Hälfte des für Gesunde Normalen, also etwa 1200 Mark, jährlich zu erwerben vermag. Von seinem letzten Verdienste (jährlich 2500 Mark) macht die Pension 22 Prozent aus, also kaum die Hälfte dessen, was ein Staatsbeamter bekommen würde. Stirbt der Angestellte nach den skizzierten 30 Versicherungsjahren, so erhält seine Witwe jährlich 218,40 Mark, jedes Kind unter 18 Jahren 43,68 Mark jährlich oder 3,60 Mark monatlich. Wer angesichts solcher Zahlen von einer Versicherung der Hinterbliebenen redet und die soziale Fürsorge der Regierung lobt und anerkennt, dem ist wahrlich nicht zu helfen. Es wird sieb im Laufe der nächsten Wochen noch des öfteren Gelegenheit bieten, auf andere Einzelheiten de Gesetzentwurfes ein-

2 Dr. Heinz Potthoff, Arbeitsrechtler und Sozialpolitiker, MdR 1903-1912 (Freisinnige Verei­ nigung/ FortschrittlicheVolkspartei). 1911 Januar 21 49 zugehen. Für heute wollen wir es mit der Wiedergabe der wesentlichsten Be­ stimmungen bewenden lassen, wobei noch bemerkt sei, daß eine enge Verbin­ dung besteht zwischen diesem Entwurf und der Reichsversicherungsordnung, auf die er bei zahlreichen Paragraphen Bezug nimmt und von denen manche ohne Heranziehung der Reichsversicherungsordnung gar nicht verständlich sind. Die Versicherungspflicht erstreckt sich lediglich auf solche Privatange­ stellte, deren Jahresarbeitsverdienst 5000 Mark nicht übersteigt und die beim Eintritt in die versicherungspflichtige Beschäftigung das Alter von 60 Jahren noch nicht vollendet haben. Als Privatangestellte gelten die im § 1212 der Reichsversicherungsordnung, Absatz 2 bis 6, aufgeführtenPersonenkreise. Die Versicherung für Angestellte ist als selbständige Zuschußkasse gedacht. Sie lehnt sich im wesentlichen an die Bestimmungen der Reichsversicherungsord­ nung an. Für die größte Mehrheit der Angestellten tritt also eine doppelte Versicherung mit zwei verschiedenen Prämien und Renten ein, einmal die all­ gemeine Invalidenversicherung und das andere Mal die neu zu errichtende Zu­ satzkasse. Für die im Absatz 1 des § 1212 der Reichsversicherungsordnung aufgeführten Personen, für die Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge und Dienstboten kommt nur die allgemeine Invalidenversicherung mit den in der Reichsversicherungsordnung festgesetzten Beiträgen und Leistungenin Frage. Nach der Höhe des Jahresarbeitsverdienstes werden für die Versicherten folgende Gehaltsklassen gebildet: Klasse A bis 550 Mark " B " 550 - 850 Mark " C " 850 - 1150 " D " 1150 - 1500" E " 1500- 2000" F " 2000- 2500" G " 2500- 3000" H " 3000- 4000" J " 4000- 5000" Die Beitragssätze betragen bis auf weitere in GehaltsklasseA 1,60 Mark, " B 3,20 " " C 4,80 " " " D 6,80 " " E 9,60 " " F 13,20 " G 16,60 " " " H 20,00 " " J 26,60 " 50 Nr.12

Gegenstand der Versicherung sind: Ruhegeld und Hinterbliebenenrente. Das Ruhegeld erhält derjenige Versicherte, welcher das Alter von 63 Jahren vollendet hat oder bei körperlichen Gebrechen oder wegen Schwäche seiner Körper- und Geisteskräfte zur Ausübung seines Berufes dauernd unfähig ist. Berufsunfähigkeit (früher nannte man es Invalidität) ist dann anzunehmen, wenn die Arbeitsfähigkeit auf weniger als die Hälfte eines körperlich und gei­ stig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Witwe soll eine Witwen­ rente und den beim Tode des versicherten Vaters vorhandenen ehelichen Kin­ dern unter 18 Jahren eine Waisenrente gewährt werden. Stirbt eine weibliche Versicherte unter Hinterlassung vaterloser Kinder, dann wird auch diesen die Waisenrente bis zum 18. Lebensjahre gezahlt. Der Entwurf des Versiche­ rungsgesetzes für Angestellte sieht schließlich auch das Heilverfahren vor. Eine Anspruchsberechtigung besteht jedoch für die männlichen Versicherten erst dann, wenn 120 Monatsbeiträge gezahlt sind, für die weiblichen Ver­ sicherten dauert die Wartezeit 60Beitragsmonate. Zur Durchführung des Gesetzes wird in Berlin eine Reichsversicherungsan­ stalt für Angestellte als öffentliche Behörde errichtet. Die Organe sind das Direktorium, der Verwaltungsrat, der Verwaltungsausschuß, die Rentenaus­ schüsse und die Vertrauensmänner. Wir wollen es uns heute versagen, des nä­ heren auf die Wahlen zu diesen einzelnen Körperschaften einzugehen. Erwähnt mag nur werden, daß zum Verwaltungsrat, der gutachtlich über die Jahresrechnungen, über die Aufstellung des Pensionsetats usw. zu hören ist, nur Männer gewählt werden dürfen. Die Beiträge sollen monatlich gezahlt werden, und wird der Arbeitgeber die eine und der Angestellte die andere Hälfte des Beitrages zu entrichten haben. Über die eingezahlten Beiträge wird durch Marken quittiert, so daß die Versicherung für Angestellte ebenfalls ein Markengesetz werden soll. Ziemlich unklar sind die Bestimmungen über die besonderen Pensionsein­ richtungen. Die in Fabrik-, Seemanns- und ähnlichen Kasseneinrichtungen bereits versicherten Personen können nach den Bestimmungen des Ge­ setzentwurfes auch weiterhin in diesen Kassen versichert bleiben, wenn die Satzungen der Kassedie Genehmigung der zuständigen Behörde erhalten. Die Beiträge der in den privaten Kassen versicherten Personen sollen aus den Mit­ teln der Kasse entrichtet werden, doch müssen die Arbeitgeber Zuschüsse zu der Kasse zahlen, die mindestens der Hälfte der nach dem Gesetzentwurf zu entrichtenden Beiträge gleich kommen. Würde also eine private Pen­ sionskasse höhere Beiträge und höhere Leistungen gewähren, als es die Reichsanstalt vorsieht, dann wäre von der privaten Kasse nur dergesetzliche Beitrag an die Reichsanstalt zu zahlen, die nun ihrerseits nur die Leistung gewährt, die sich aus dem gezahltenBeitrage berechnen läßt. Bei eintretender 1911 Januar 21 51

Invalidität oder bei Erreichung der Altersgrenze leistet dann die Reichsanstalt ihre Zahlungen nicht an die Versicherten direkt, sondern an die privaten Kassen, die nun die Gesamtrente zur Auszahlung bringen. Sollte die Regelung so zu verstehen sein, dann können wir beim besten Willen nicht zustimmen. All die schweren Schädigungen, welche die Angestellten durch ihre Zugehörigkeit zu Fabrikkassen erleiden, sind auch damit nicht aus der Welt geschafft. Verläßt der Angestellteseine Stellung, so hat er fürdas Mehr, das er an Beiträgen gezahlt hat, nichts. Sein Arbeitgeber hat die Verpflichtung der Reichsversicherungsanstalt gegenüber nur mit den gesetzlichen Beiträgen erfüllt. Von ihr kommen nun die gesetzlichen Leistungenan den Versicherten direkt, wenn er vor Eintritt des Versicherungsfalles aus der Fabrik entlassen wird oder selbst seine Stellung aufgibt. Da scheint uns der § 365 des Gesetzentwurfes empfehlenswerter zu sein, der einfach bestimmt, daß die Wartezeit der Mitglieder durch Einzahlung einer entsprechenden Prämien­ reserveabgekürzt werden kann. Mögen die privaten Versicherungskassen ihre angesammelten Gelder zur Abkürzung der Wartezeit hergeben, dann werden die Angestelltendafür gewiß dankbar sein. Anders ist die Übergangsbestimmung für solche Versicherten, die bereits einen Versicherungsvertrag mit einer privaten Lebensversicherung abge­ schlossen haben. Sie können auf ihren Antrag von der Beitragsleistung befreit werden, wenn der Jahresbetrag der Beiträge für diese Versicherung beim In­ krafttreten des Gesetzes mindestens den ihren Gehaltsverhältnissen zur Zeit des Antrags entsprechenden Beiträgen gleichkommt, die sie nach dem Gesetz zu tragen haben. Damit nun aber der Angestellte auch wirklich versichert bleibt und das Gesetz nicht durch Aufhören seiner Lebensversicherung um­ gangen wird, ist schließlich noch bestimmt worden, daß die Versicherungsge­ sellschaften die Aufhebung von Versicherungsverträgen an die Reichsanstalt mitteilen müssen. Soweit für heute! Wie sich das Schicksal des Entwurfs gestalten wird, ist schwer zu sagen. Noch hat der Bundesrat das Wort, der den Gesetzentwurf noch nicht beraten hat und der wohl auch schwerlich eine Verbesserung des Entwurfs vornehmen wird. Vom Reichstage aber erwarten wir, daß er auch den Arbeitern eine bessere Versicherung gibt. Von unserem Standpunkte aus dürfte es sich deshalb empfehlen, die Beratungen und Beschlüsse zu dem Ent­ wurf eines Versicherungsgesetzes für Angestellteim Reichstage vor der Erle­ digung der Reichsversicherungsordnung vorzunehmen. Erhalten die Privat­ angestellten eine Zusatzversicherung, dann fordern wir als gleichberechtigte Staatsbürger einen Ausbau des Invalidengesetzes in der Reichsversicherungs­ ordnung. 52 Nr.13

Nr.13

1911 Januar 22

Der Technische Grubenbeamte Nr. 2 Die Zukunftdes Angestelltenrechts1

[Enttäuschte Erwartungen der Angestellten an den Reichstag des "Bülow­ Blocks" auf dem Gebiet des Zivil- und Prozeßrechts)

Meine sehr geehrten Herren! Als im Reichstage zum letztenmal von Privat­ beamtenfragen die Rede war, bei der ersten Beratung des Etats, als dort die Pensionsversicherungs-Vorlage gefordert wurde, da meinte der betreffende Redner - es war ein Zentrumsabgeordneter -, dieser Reichstag, der sich jetzt seinem Ende nähere, hätte in einem ganz besonderen Verhältnisse zu den Pri­ vatbeamten gestanden. Diese Behauptung ist zweifellosrichtig. Es hat kaum je einmal einen Reichstag gegeben, auf den seitens der Angestellten so große Hoffnungen und Erwartungen gesetzt worden sind, als der jetzt verflossene. Noch niemals ist ein Reichstag mit so großen Hoffnungen begrüßt worden, wie der sogenannte Bülow-Block-Reichstag2 vor 5 Jahren von dem der Reichs­ kanzler selbst sagte: "Nun erst recht Sozialpolitik!" Vor den Blockwahlen im Jahre 1907 haben die Privatbeamten den Kandidatenihre Wünsche vorgetra­ gen und sie speziell für die staatliche Pensionsversicherung erwärmt. Hunderte von Kandidaten hatten in der Wahlbewegung versprochen, mit allem Eifer für die bescheidenen Wünsche der Angestellten im Reichstage zu wirken. Noch niemals hat aber ein Reichstag die Angestelltenso absolut enttäuscht wie die­ ser Reichstag. Was die technischen Angestellten vom Reichstag forderten, war auf dem Gebiete des Zivil- und Prozessrechts wesentlich folgendes: Einmaldie rechtli­ che Gleichstellung mit den Handlungsgehilfen. Eine diesbezügliche Novelle zur Gewerbeordnung ist 1907 unerledigt geblieben, nicht wiedergekommen und wird nicht wiederkommen. Die Handlungsgehilfen können im Erkran­ kungsfalle die Fortsetzung des Gehaltes auf die Dauer von 6 Wochen verlan­ gen, ohne sich das Krankengeld anrechnen lassen zu müssen, während dies bei den technischen Angestellten ausdrücklich gestattet ist. Der Reichstag war

1 Vortrag desReichstagsabgeordneten Dr. Heinz Potthoff (Fortschrittliche Volkspartei), gehalten in einer am 15. Januar 1911 in Essen-Ruhr stattgefundenen öffentlichen Grubenbeamten-Ver­ fmmlung. Der sogenannte Bülow-Block 1907 bestand aus den beiden konservativen Parteien, den Nationalliberalen und den 3 linksliberalen Parteien. Sie schlossen unter der Parole: Kampf gegen Sozialdemokratie und Zentrumein Wahlbündnis. 1911 Januar 22 53 dafür gewesen, der Bundesrat hat es abgelehnt, und somit ist nichts zustande gekommen. Weiter wurden gefordert Schutz des Koalitionsrechts, der Schutz der per­ sönlichen Freiheit, daß die Angestellten sich zu Berufsvereinen und anderen Verbänden zusammenschließen, ihre Berufsinteressen fördern und verfolgen dürfen, aber nichts ist geschehen. Die letzten politischen Ankündigungen zei­ gen vielmehr, daß auf eine Beschränkung hingearbeitet wird. Im Steigerberuf läßt diese Freiheit des Zusammenschlusses noch viel zu wünschen übrig. In keinem anderen Berufe wird diese Organisationsfreiheit so beschränkt, und zwarin rein systematischer Weise, wie hier. Und nun zur sozialen Versicherung. Auch hier ist noch kein Fortschritt festzustellen, sondern eher ein Rückschritt. Die Reichsversicherungsordnung sollte ja eine wesentliche Verbesserung unserer sozialen Versicherung brin­ gen. Sie wird den bergbaulichen Beamten aber gar nichts bringen, vorausge­ setzt, daß etwas zustande kommt, was ja noch zweifelhafterscheint. Die weitere Ausdehnung der Krankenversicherung wurde von der Kommis­ sion wieder rückgängig gemacht, in der Unfallversicherung wird gar nichts geändert; in der Invalidenversicherung gibt's eine Verschlechterung nach den Kommissionsbeschlüssen gegen früher. Die Frage der Werkspensionskassen, die gerade hier im Industriegebiet eine so große Rolle spielt, wurdenicht einen Schritt vorwärtsgebracht. Alleswurde vertröstet auf das Gesetz über die staatliche Pensionsversicherung der Privat­ angestellten. Ich komme nun zu unserer Rechtsprechung. Es ist ja klar, das Recht der Angestellten hängt nicht ab allein von den Gesetzen, die auf dem Papier ste­ hen, es hängt davon ab, wie unsere Gerichte diese Gesetze anwenden. Gegen­ wärtig ist die Anwendung viel wichtiger als die Paragraphen selber. Unsere Rechtsprechung hat zu sehr lebhaften Klagen Anlaß gegeben. Der großen Masse ist die Rechtsprechung zu langsam, zu kostspielig und zu umständlich. Die Gewerbe- und Kaufmannsgerichtehaben nun ja in erfreulicher Weise auf den Geist unserer Rechtsprechung gewirkt. Was wir auf sozialem Gebiete in den letzten Jahren erreicht haben, das ist nur ein besserer Geist in der Rechtsprechung. Das Bürgerliche Gesetzbuch hat 2 Paragraphen, die unseren Richtern die Mittel in die Hand geben, fast alle Wünsche der Angestellten zu erfüllen. Die beiden Rechtsgrundsätze sind: 1. "Ein Geschäft, das gegen die guten Sitten verstößt,ist ungültig." 2. "Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem andern Schaden zufügt, ist zum Ersatze dieses Schadens verpflichtet." Mit diesen beiden Paragraphen könnten soziale Richter unsere ganze schlechte Gesetzgebung über den Haufenwerfen. S4 Nr.13

Nach§ 138 wird als besonderer Fall des Verstoßes gegen die guten Sitten das wucherische Geschäftgenannt, durch das jemand die Notlage, den Leicht­ sinn, die Jugend oder die Unerfahrenheit eines anderen ausbeutet. Das Straf­ gesetzbuchbedroht diesenWucher mit erheblicher Freiheitsstrafe und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Dieser Wucherschutz war lange Zeit ein reiner Vermögensschutz. Nur Geld, Sachgüter und alle Dinge, die sich handeln las­ sen, wurden geschützt, nicht aber der Mensch selbst und seine unveräußer­ lichen Güter. Wer also die Not eines stellenlosen, verheirateten Steigers dadurch ausnützte, daß er ihm ein Darlehen mit 30 % Zinsen gewährte, der wurde mit seiner Zinsenforderung von jedem deutschen Gerichteabgewiesen und riskierte, vor den Strafrichter gewgen zu werden. Wer aber die Not eines solchen stellenlosen Familienvaters dadurch ausnützte, daß er ihn engagierte zu einem Lohn, der in krassem Missverhältnis zu seiner Leistung und dem daraus gewgenen Nutzen stand, der ist noch nie von einem Staatsanwalt be­ helligt worden. Und erst in allerjüngster Zeit haben die Kaufmannsgerichte, namentlich das Berliner, den Grundsatz ausgesprochen, daß darin ein Verstoß gegen die guten Sitten zu sehen sei. Sie haben dem sozialen Gedanken zum Siege verholfen, Verträge mit Schundlöhnen zerrissen und den Angestellten ein angemessenes Gehalt zugesprochen - von Rechtswegen. Jetzt hat das Reichsgericht einen solchen Grundsatz für richtig erkannt und damit den größten Fortschritt unseressozialen Rechts eingeleitet. Schadenersatzpflichtig ist man für einen Schaden, den man in unsittlicher Weise einem andern zufügt. Eskommen aber heute immer noch Fälle vor, daß ein Angestellter, der vielleicht 30 Jahre und noch länger in einem Betriebe seine Pflicht erfüllthat, seine Kündigung bekommt, einfach weil er alt gewor­ den ist und nicht mehr das leisten kann, was man von ihm erwartete. Im Volksempfinden besteht gar kein Zweifel darin, daß diese Handlungsweise eines Unternehmers nicht gerade ein Beweis besonders anständiger Gesin­ nung ist. Bei Gericht bekommt ein solcher Angestellter kein Recht, wenn er Ersatz verlangen will. Kein Gericht in ganz Deutschland wird den Unterneh­ mer verurteilen. Ich glaube aber, man würde den Angestellten vielleicht auf seinen Geisteszustand untersuchen lassen. Wir müssen also zu erreichen suchen, daß derjenige, der wie der Volksmund sagt, wie eine ausgepresste Zi­ trone weggeworfen wird, nachher bei Gericht klagen kann. Die Organisationen arbeiten nun mit aller Macht darauf hin, unsere Richter zu sozialen Richtern zu erziehen. DieseErziehung zu sozialer Rechtsprechung würde natürlich viel leichter sein, wenn es sich überall nur um solche Grund­ sätze handelte. Wie Sie wissen, ist das leider nicht der Fall. Unser ganzes Ar­ beitsrecht, Dienstrecht, überhaupt unser ganzes Privatbeamtenrecht besteht nicht aus einer Reihe einheitlicher Grundsätze, sondern aus 5 Dutzend von einzelnen Gesetzen, die in folgende drei Gruppen zerfallen: 1911 Januar 22 55

1. Das Bürgerliche Gesetzbuch, dessen allgemeine Grundsätze für alle Rechtsverhältnisse maßgebend sind, und dessen Bestimmungen über den Dienstvertrag soweit gelten, als nicht Sondergesetze und Landesgesetze Aus­ nahmen schaffen. II. Sondergesetze des Reichs: Gewerbeordnung, Handels­ gesetzbuch, Seemannsordnung, Binnenschiffahrtsgesetz, Flößereigesetz,deren Bestimmungen in erster Linie maßgebend sind, während das Bürgerliche Gesetzbuch als Ergänzung eintritt. III. Landesgesetze: Berggesetze, Eisen­ bahngesetze, landwirtschaftliche Gesetze, Gesindeordnungen, die teilweise kraft reichsgesetzlicher Bestimmungen den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches vorgehen, teilweise nur soweit Geltung besitzen, als sie nicht mit den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches in Widerspruch ste­ hen. Die Zahldieser Landesgesetzedürfte über 50 betragen. Bei der Bearbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches hatte allerdings die Reichstagskommission, "die Erwartung ausgesprochen, daß die Verträge, durch welche sich jemand verpflichtet,einen Teil seiner körperlichen oder gei­ stigen Arbeitskraft für die häusliche Gemeinschaft, ein wirtschaftliches oder gewerbliches Unternehmen eines anderen gegen einen vereinbarten Lohn zu verwenden, für das deutsche Reich baldtunlichst einheitlich geregelt werden." Aber diese Resolution hat bisher keinerlei Wirkung ausgeübt und es ist viel­ leicht auch ganz gut, daß zweimal nicht der Versuch eines deutschen Arbeits­ rechtes gemacht wurde, weil dieses voraussichtlich noch nach den Bedürfnis­ sen des scheidenden 19. Jahrhunderts und nicht nach denen des 20. Jahrhun­ derts zugeschnitten worden wäre. Aber nunmehr ist der Stein ins Rollen gebracht worden von seiten einer neuen sozialen Schicht, den Privatbeamten, die noch stärker in der Zersplitterung des Rechtes steht und unter ihr leidet als die Arbeiterschaft. Denn unsere unter dem falschen Schlagworte vom Schutze der wirtschaftlich Schwachen stehende Spezialgesetzgebung hat dazu geführt, daß für die Privatangestellten nicht nur die Verschiedenheit des Be­ rufes, des Landesteiles, der Betriebsart (ob gewerbliches oder landwirtschaftli­ ches Geschäft oder gemeinnützige Betriebe usw.), sondern auch der Gehalts­ höhe eine Rechtsverschiedenheit bedingen (sowohl die soziale Versicherung wie die Vorschriften über Kündigungsfristen, Gewerbe- und Kaufmanns­ gerichte beschränken sich auf Angestellte unter einem bestimmten Einkom­ men, das in jedem Gesetz verschieden bemessen ist). Man kann beinahe sagen, daß jeder Stellungswechsel eines technischen Angestellten mit einem Wechsel des Rechts verbunden ist. Deswegen hat es namentlich bei den technischen Angestellten und ihren zahlreichen Organisationen lebhaften Anklang gefunden, als ich im Januar­ hefte der Annalen des Deutschen Reiches 1906 auf die "beispiellose Zerfah­ renheit der Rechtsverhältnisse" hinwies und die Forderung nach einem ein­ heitlichen Angestelltenrecht erhob. Die Gesellschaftfür soziale Reformhat in 56 Nr.13 dankenswerter Weise sich der Frage angenommen, in den Heften 25-31 ihrer Schriften ein außerordentlich wertvolles Material über die wirtschaftliche und rechtliche Lage der Angestellten veröffentlicht und ihre Hauptversammlung von 1909 ausschließlich den Angestellten gewidmet. Dadurch und durch die Arbeit verschiedener Verbände ist auch der Reichstag interessiert worden; verschiedene Parteien haben eine Reihe von Anträgen im Sinne einer Verein­ heitlichung des Rechtes eingebracht, die allerdings mit einer Ausnahme nie­ mals zur Verhandlung gekommen sind. Und nun hat der Deutsche Juristentag seine Autorität ebenfallsin die Waagschale geworfen. Allerdings ging die Fra­ ge in Danzig nur dahin, ob gewisse Schutzvorschriften des Handelsgesetzbu­ ches auf alle Privatbeamte zu übertragen seien. Aber Gutachter wie Referen­ ten mußten naturgemäß über diesen engen Rahmen hinaus auf ein einheit­ liches Privatbeamtenrecht zielen, und es konnte auch darüber kein Zweifel bleiben, daß dieses Privatbeamtenrecht wieder in engster Verbindung stehen muß mit einer Regelung des Arbeitsvertrages überhaupt. Der XXX. Deutsche Juristentag hat sich denn auch nicht damit begnügt, die Übertragung der für Handlungsgehilfen erlassenen Bestimmungen auf die technischen, landwirt­ schaftlichen, liberalen und Bureauangestellten zu befürworten, sondern auch seine ständige Deputation beauftragt, auf die Tagesordnung des nächsten Juri­ stentages die Frage zu setzen, welche sonstigen sozialen Schutzvorschriften für alle Privatangestellten zu treffen seien, um die Schaffung eines einheitlichen Rechts für den Dienstvertrag der Privatangestellten vorzubereiten. Damit ist das einheitliche Recht eine greifbare, praktische Aufgabe naher Zukunft geworden. Sie zerfällt naturgemäß in zwei Teile: einen mehr formel­ len: die Vereinheitlichung des bestehenden Rechts, und einen materiellen: die Weiterbildung dieses Rechts nach den Bedürfnissen der Gegenwart. Über die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der formellen Rechtseinheit besteht fast Einstimmigkeit. Die Berichterstatter, der frühere österreichische Justizmini­ ster Klein und der Reichstagsabgeordnete Junck, haben sich energisch für das einheitliche Recht eingesetzt, ebenso auch Professor Ortmann, der neben mir ein schriftliches Gutachten erstattet hat. Selbstverständlich kann es sich nicht darum handeln, nun alle Dienstver­ träge über einen Leisten zu schlagen. Das Gesetz soll ja überhaupt nicht den Dienstvertrag ersetzen, sondern nur die Mindestgrenze angeben, unter die die Rechte der Arbeitnehmer nicht gedrückt werden dürfen. Und auch diese Min­ destgrenze muß für einen Hauslehrer anders liegen als für einen Schuhputzer, für einen Schauspieler anders als für einen Bierbrauer, oder um im Angestell­ tenberufe zu bleiben, fürden Beamten eines Saisonbetriebes anders als für den eines dauernden Betriebes, beispielsweise des Bergbaues. Dem tatsächlichen Unterschied im Zwecke und Wesen des Dienstverhältnisses muß Rechnung getragen werden. Aber in unserem Rechte spielt nicht diese Rücksicht, son- 1911 Januar 22 57

dem meist einfach der Zufall die entscheidende Rolle. Oder welchen inneren, logischen Sinn hat es, daß der Handlungsgehilfe ein schriftliches Zeugnis bei der Kündigung, der Techniker erst beim Abgange, der Bureaubeamte nur beim Scheiden aus einem dauernden Dienstverhältnis verlangen kann? Oder daß der Handlungsgehilfein Krankheitsfällen sein Gehalt auf 6 Wochen ohne Anrechnung von Kassenbezügen unbedingt erhält, der Werkmeister oder Ingenieur nur, soweit nichts anderes vereinbart ist und mit Anrechnung der Kassenbezüge, der Bureaubeamte nur für eine verhältnismässig nicht erheb­ liche Zeit und der Güterbeamte je nach den Landesgesetzen das Gehalt oder eine Verpflegung im Haushalte des Arbeitgebers, oder auch gar nichts erhält? usw. Man könnte Dutzende solcher Fragen stellen. Die Zersplitterung des Rechtes in mehreren Dutzend von einander abwei­ chenden Gesetzen ist nun die größte Schwierigkeit für die richtige Kenntnis und Auslegung des Rechts. Man darf dreist behaupten, daß kein Jurist in Deutschland das Arbeitsrecht so beherrscht, wie viele von ihnen das Vermö­ gensrecht, das Erbrecht oder das Handelsrecht beherrschen. Auf keiner Uni­ versität werden Vorlesungen über das Arbeitsrecht gehalten, sondern höchstens fallen in den Kollegien über Schuldverhältnisse, über Handelsrecht einige Bemerkungen über bestimmte Verhältnisse. Ja bis vor kurzem, bis zum Erscheinen des Buches von Professor Lotmar3 gab es auch keine Darstellung des deutschen Arbeitsrechts. Darunter litt nicht nur die Wissenschaft, sondern vor allem auch die Rechtsprechung. Der Vorwurf, daß diese nicht verstanden hat, die allgemeinen Rechtsgrundsätze zeitgemäß fortzuentwickeln, die Bedin­ gungen und Erfordernisse des modernen Lebens zur Geltung zu bringen, ist nirgendwo so berechtigt wie auf dem Gebiete des Dienstrechtes, wo eine Fülle von unbefriedigenden Urteilen vorliegt und wo durch die Schaffung der Ge­ werbe- und Kaufmannsgerichteja die Unzufriedenheit deutlichsten Ausdruck gefunden hat. Oertmann stellt mit Recht die Forderung auf, daß analog dem Handelsrecht und Gewerberecht auch ein Arbeitsrecht neben das Bürgerliche Gesetzbuch treten muß. Dieses könnte etwa so aufgebaut sein, daß ein allge­ meiner Teil die allen Arbeitsverträgen gemeinsamen Normen enthält, dann ergänzende Bestimmungen für die großen Gruppen der Privatangestellten, der Industriearbeiter u.s.w. folgen (denn zwischen beiden bestehen große Ver­ schiedenheiten schon deswegen, weil der Arbeiter möglichste Freiheit zu ge­ werkschaftlichem Kampfe, der Angestellte eine möglichst gesicherte, dauernde Stellung erstrebt); für einzelne Berufe (Schauspieler, Brennereileiter und andere Saisonbetriebe) würden einige Sondervorschriften nötig sein, ebenso auch wohl zwischen großen Betrieben und kleinen Betrieben Unter-

3 Ph. Lotmar. Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrechtdes Deutschen Reiches. 2 Bde., 1902/08. 58 Nr.13 schiede zu machen sein. Trotzdem würden vielleicht neun Zehntel der jetzt bestehendenUnterschiede in Wegfallkommen. Wichtiger noch als diese formelle Einheit ist natürlich der Inhalt des neuen Rechts. Über eines dürfte auch Einmütigkeit bestehen, nämlich, daß die Ver­ einheitlichung nicht nach dem Prinzipe der mittleren Linie erfolgen dürfte, sondern nur dadurch, daß die gegenwärtig günstigsten Sonderbestimmungen auf die Gesamtheit der Angestellten (und soweit möglich, auf die Gesamtheit der Arbeitnehmer überhaupt) ausgedehnt würden. D.h. praktisch zunächst, daß die Vorschriften des Handelsgesetzbuches neben die Gewerbeordnung kommen, diese dann auch für die Techniker in den nicht "gewerblichen" Be­ trieben maßgebend werden und die Bureauangestellten ein dem Handelsge­ setzbuch entsprechendes Dienstrecht erhalten. In dieser Richtung hat sich der Reichstag bereits eingesetzt und die Regierung hatte auch eine Novelle zur Gewerbeordnung vorgelegt, die aber unerledigt geblieben ist. Aber auch das Handelsgesetzbuch entspricht ja durchaus noch nicht den Wünschen der An­ gestellten und auch nicht den Interessen der Allgemeinheit, die ein soziales Recht braucht. Was ist nun sozial? Ich halte das bisher maßgebende Schlagwort vom Schutz der wirtschaftlich Schwachen (das im B.G.B. meist noch verwandt ist, ein Schutz der kleinen Vermögen vor den großen Vermögen) nicht für richtig, sondern sehe den Fehler unseres Rechtes darin, daß es noch ein Recht für ge­ bundene Menschen ist (stark ausgedrückt ein Sklavenrecht), während wir den Menschen persönlich frei gemacht haben. Infolgedessen braucht der Arbeitge­ ber heute die Kosten des Menschenlebens nicht bei seiner Kalkulation zu be­ rücksichtigen. Er steckt in den Angestellten nicht sein Geld hinein wie in sein Vieh, seine Gebäude und Maschinen. Er hat also auch kein privatwirtschaftli­ ches Interesse daran, ob das im Menschen steckende Kapital sich gut verzinst oder nicht. Kein Bauer wird ein junges Füllen vor den Pflugspannen, aber ge­ gen Kinderarbeit auf dem Feld hat er nichts einzuwenden. Jeder Unternehmer wird sein Pferd gut nähren und vor übermäßiger Anstrengung möglichst hüten. Ob die Familie seines Arbeiters ausreichend wohnen und sich ernähren kann, ob dieser durch lange Arbeitszeit, mangelnde Pausen usw. vor der Zeit abgenützt wird, läßt ihn kaufmännisch kalt. Sein Inventar versichert er gegen jede Schadenmöglichkeit; eine ähnliche Fürsorge für seine Angestellten gilt ihm höchstens als ein Wohltätigkeitsgeschenk. Den Acker, der müde gewor­ den war, ließ man früher sich ausruhen, jetzt führt man ihm die entzogenen Kräfte wieder zu. Daß auch der Mensch eine Erholung von der Arbeitsan­ strengung, einen Ersatz der Muskel- und Nervensubstanz braucht, ist nicht so selbstverständlich. Es wird ja kein Arbeitgeber ärmer, wenn sein Arbeiter frü­ her alt, arbeitsunfähig, invalide wird. Er hat nach ordnungsgemäßer Kündi­ gung keine Verpflichtung gegen den Arbeitsunfähigen und seine Familie. 1911 Januar 22 59

Aber das Volk hat ein sehr dringendes Interesse daran. Denn (was leider so viel übersehen wird) der größte Teil des Nationalvermögens wird nicht in Geld, Häusern, Maschinen usw., sondern in den Kindern angelegt.Viele Hun­ derte von Milliarden haben wir aufgewandt, um unsere 63 Millionen Men­ schen groß zu ziehen, von der Rentabilität dieser Riesensummen hängt das Reicher- oder Ärmerwerden des Volkes ab. Deswegen ist soziales Recht das­ jenige, das die wirtschaftlichen Interessen der Gesamtheit schützt gegen den wirtschaftlichen Egoismus des einzelnen. Eshindert, daß der einzelne sich auf Kosten der Gesamtheit bereichert, indem er durch übermäßige Ausnutzung der Arbeitskraft Raubbau an der Gesundheit seiner Mitmenschen treibt. Sozial bedeutet daher das Vorrecht des lebendigen Menschen vor allen Gütern und Einrichtungen dieser Erde. Sozial ist das Recht nur, wenn es die Persönlichkeit des Menschen, des Staatsbürgers höher wertet, als Sachgüter, als Vermögensinteressen, als irgendwelche Institutionen. Das soziale Recht dient dem obersten Zwecke des Staates, recht viele gesunde, leistungsfähige, frohe Menschen als Bürger zu zählen. Wie ein unsoziales Vermögensrecht sich zu einem sozialen Personenrecht entwickelt, haben wir vor kurzem an einem interessanten Beispiel erlebt. der Wucherparagraph 138 des B.G.B. und ebenso die entsprechende Vorschrift des Strafgesetzbuches sind bis vor kurzem nur als Vermögensschutz aufgefaßt worden. Wer durch Ausbeutung der Notlage usw. das Vermögen seines Mit­ menschen beschädigte, schloß ein ungültiges Rechtsgeschäft und riskierte hohe Strafe, nicht wer den Menschen selbst ausbeutete. Das Berliner Kauf­ mannsgericht hat den Grundsatz durchgeführt, daß auch die Ausbeutung der Arbeitskraft ein den guten Sitten widersprechenderWucher sei. Das Reichsge­ richt hat diesen Grundsatz anerkannt, und wir warten nun darauf, ob auch einmal ein Staatsanwalt die Konsequenzen daraus zieht. Da die Entwicklung des Wirtschaftslebens im Gegensatz zur politischen Entwicklung auf immer größere Abhängigkeit des Arbeiters vom Betriebslei­ ter geht, so muß der soziale Schutz der sogenannten Vertragsfreiheit, d.h. der Willkür der Machthaber entrückt sein. Soziales Recht muß Zwangsrecht sein. Weit über unser deutsches Reich hinaus hat das neue österreichische Privat­ beamtengesetz, das eine vollständige Regelung des Dienstvertrages für etwa 90 %der kaufmännischen, technischen und Bureauangestelltenbringt, solches Zwangsschutzrecht gebracht. Von solchen Schutzvorschriftendieser Art seien erwähnt: 1. Recht des Angestellten auf schriftliche Bestätigung des abgeschlossenen Dienstvertrages. 2. Fortzahlung des Gehaltes bei Verhinderung durch Krankheit oder Un­ glücksfall bis zur Dauer von sechs Wochen, ohne Anrechnung der Bezüge aus einer öffentlich-rechtlichenVersicherung. 60 Nr.13

3. Fortz.ahlung des Gehaltes bei Verhinderung durch andere wichtige, die Person betreffende Gründe ohne Verschulden, während einer verhältnismäßig kurzen Zeit. 4. Fortzahlung des Gehaltes bei Erfüllung der Militärdienstpflicht bis zur Dauer von vier Wochen. 5. Ausschluß der Entlassung ohne Kündigungsfrist wegen der unter 2-4 ge­ nannten Gründe. 6. Recht des auf Provision angestellten Dienstnehmers auf Mitteilung eines Buchauszuges über die durch die Tätigkeit zustande gekommenen Geschäfte. 7. Angemessene Entschädigung, wenn der Dienstnehmer vom Dienstgeber vertragswidrig gehindert wird, Provisionen oder Tagegelder in den nach den Vereinbarungen zu erwartendem Umfangezu verdienen. 8. Recht des mit Gewinnbeteiligung Angestellten auf Einsicht in die Ge­ schäftsbücher. 9. Gehaltszahlungspätestens am Schlusse jedes Kalendermonats. 10. Recht des mit Anspruch auf "periodische Remuneration" (Gratifikation) Angestellten auf einen entsprechenden Teilbetrag, wenn das Dienstverhältnis vor Fälligkeit des Anspruches gelöst wird. 11. Anspruch auf einen jährlichen Urlaub von mindestens 10 Tagen, 2 Wochen oder 3 Wochen, je nachdem das Dienstverhältnis 6 Monate, 5 Jahre oder 15 Jahre gedauert hat, ohne Gehaltskürzung, ohne Anrechnung von Dienstbehinderung durch Krankheit, Unglücksfall oder Militärzeit. 12. Pflicht des Dienstgebers zum Schutze von Leben, Gesundheit und Sitt­ lichkeit durch entsprechende Einrichtung der Arbeitsräume, Gerätschaften usw., eventuell auch der Wohnräume. 13. Beschränkung des Rechts zu sofortiger Entlassung bei Probezeit auf die Dauer eines Monats. 14. Mindestkündigungsfristvon einem Monat zum Monatsschluß. Gleichheit vertragsmäßiger Kündigungsfristen. 15. Recht des Angestellten, ein auf längere Zeit abgeschlossenes Dienstver­ hältnis nach 5 Jahren zu kündigen. 16. Recht auf angemessene Zeit zum Aufsuchen einer neuen Stellung nach der Kündigung. 17. Einseitiges Recht des Dienstnehmers auf sofortige Beendigung des Dienstverhältnisses bei Konkurs des Dienstgebers. 18. Beschränkung des Anspruches des Dienstgebers auf sofortige Räumung der Dienstwohnung nach dem Tode eines Dienstnehmers. 19. Anspruch des Dienstnehmers auf sofortige Auszahlung der bis zur ord­ nungsgemäßen Lösung des Dienstverhältnisses fällig werdenden Bezüge, wenn das Dienstverhältnis durch vertragswidriges Verhalten des Dienstgebers vorzeitig gelöst wird. 1911 Januar 22 61

20. Festlegung des Schadenersatzanspruches des Dienstnehmers bei Rück­ tritt des Dienstgebers vom Anstellungsvertrage. 21. Vorrecht der Gehaltsforderung im Konkurse des Dienstgebers. 22. Sicherstellung einer Sechsmonatsfrist für die Geltendmachung von Er­ satzansprüchenwegen vorzeitiger Entlassung oder wegen Rücktritts vom Ver­ trage. 23. Anspruch des Dienstnehmers auf gerichtliche Hinterlegung der von ihm geleisteten Kaution, wenn beim Austritt Schadenersatzansprüche geltend ge­ macht werden. 24. Wesentliche Beschränkung der Konkurrenzklausel. 25. Richterliches Mäßigungsrecht für Konventionalstrafen. 26. Anspruch auf ein schriftliches Zeugnis während und bei Beendigung des Dienstverhältnisses. Etwa ein Drittel dieser Vorschriften gelten auch in Deutschland für kauf­ männische Angestellte als bindendes Recht, vielleicht ein Sechstel für techni­ sche Beamte und nur 4 Vorschriften (No. 12, 15, 21, 25) für alle Privatange­ stellten und anderen Arbeitnehmer. Man wird vielleicht Bedenken gegen die weitgehende Kasuistik erheben und ich persönlich bin gegen jede Kasuistik. Aber der Verzicht darauf hat zur Voraussetzung, daß die Rechtsprechung die allgemeinen Rechtsregeln richtig auf die einzelnen Fälle anwendet, daß sie die Regeln je nach der wirtschaftlichenEntwickelung mit neuem zeitgemäßem In­ halt füllt. Und darin hat leider die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des Arbeitsrechtes fastvöllig versagt. Oder wo ist ein Gericht, das die Konkur­ renzklausel stets in richtiger Weise einschränkt und das 90 % der bestehenden Klauseln glatt aufheben würde? Wo hat ein Gericht den regelmäßigen Erho­ lungsurlaub für einen selbstverständlichen Bestandteil jedes dauernden Dienstverhältnisses erklärt oder die grundlose Kündigung eines im Dienste · eines Unternehmens ergrauten Angestellten als einen Verstoß gegen die guten Sitten angesehen, der zum Schadenersatz verpflichtet? Über die einzelnen Bestimmungen eines solchen sozialen Arbeitsrechts läßt sich natürlich reden. Wichtiger als die Einzelheiten ist der soziale Grundzug als Vorrecht des Menschen vor dem Vermögen, Schutz der Persönlichkeit vor dem Kapital. Das Durchsetzen dieses Grundgedankens ist deshalb von so be­ sonderer Bedeutung, weil er sich nicht auf das Arbeitsrecht beschränkt. In je­ dem Lebensverhältnis sollte der Mensch dem Rechte und Staate wichtiger sein als etwas anderes. Alles Recht sollte das Vorrecht des lebendigen Bürgers an­ erkennen. Das würde nicht nur dazu führen, unsere ganze Sozialpolitik aus einer Barmherzigkeit zu einer Staatsnotwendigkeit, aus einer Fürsorgeauf­ wendung zu einer volkswirtschaftlichen rentablen Kapitalanlage zu machen, sondern es würde naturgemäß alle Gebiete der Staatspolitik durchdringen müssen. 62 Nr.14

Die Nutz.anwendung auf das wichtigste politische Recht, das Wahlrecht, er­ gibt sich von selbst. Ein plutokratisches Wahlrecht das den Einfluß des Bür­ gers auf seinen Staat ausschließlich nach seinen Vermögensverhältnissen bemißt, ist unsozial. Steuern sind um so unsozialer, je mehr sie den Menschen selbst, d.h. sein Dasein treffen, sein Lebenund Arbeiten erschweren, desto so­ zialer, je mehr sie andere Dinge außerhalb der Persönlichkeit belasten. Unso­ zial sind Steuern auf notwendige Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände. Sozial ist die Steuer auf das, was dem Menschen ohne Arbeit zuwächst wie Kapitalzinsen, Erbschaft, Bodenrente, Monopolgewinn. Unsozial ist die Ein­ kommensteuer, wenn sie nicht ein geringes Existenzminimum freiläßt, mit der Größe des Einkommens progressiv wächst und fundierte Einkommen stärker heranzieht als Arbeitseinkommen.

Nr.14

1911 Januar 23

Eingabe des Arbeitgeber-Verbandes für das Damenschneidergewerbe Deutschlands an den DeutschenReichstag 1

(Antragauf Errichtung von Lohnämternin der Heimindustrie2J

Einern hohen Hause des Deutschen Reichstags erlaubt sich der Arbeit­ geberverbandfür das Damenschneidergewerbe Deutschlands im Auftrage der am 9. Januar 1911 in Kellers Konzerthaus, Köpenickerstraße 96f}7, stattge­ habten öffentlichen Versammlung der selbständigen Schneidermeister in der Berliner Damenkonfektion, die in dieser Versammlung mit Einstimmigkeit gefaßte Resolution zur gefälligen Kenntnisnahme und Berücksichtigung zu überreichen: "In der Erkenntnis, daß unsere Bemühungen um Einführungeines Minimal­ Preistarifs für die selbständigen Schneider in der Damenkonfektion an dem Widerspruch der Kaufmannschaft gescheitert sind; ferner in der Erkenntnis, daß ohne Minimal-Preistarif für die selbständigen Schneider diese nicht in der Lage sind, ihren Arbeitern und Arbeiterinnen gleichmäßige und durch Tarif festgelegte Löhne zu zahlen, erblicken wir in der gesetzlichen Errichtung von

1 HStA Stuttgart, E 130 b., Bu. 3177. Unterzeichnet vom Vonitzenden Emil Drews (Berlin) smvie Hermann Kupke (Breslau) und tugust Senf (Erfurt). Vgl. Nr. 118. 1911 Januar 24 63

Lohnämtern das einzige Mittel, die Löhne in der Heimindustrie der Damen­ konfektionzu heben. Wir beauftragen daher den Arbeitgeberverband für das Damenschneider­ gewerbe Deutschlands, bei dem hohen Hause des Deutschen Reichstags um Errichtung von Lohnämtern namentlich auch für die Heimindustrie in der Damenkonfektion vorstelligzu werden." Dieser Resolution schlossen sich auch die Vertreter der Breslauer und Er­ furter Vereinigungen in der Damenkonfektion an. Als Fachmänner geben wir hierzu noch die Erklärung ab, daß der gegen die Einführung von Lohnämtern erhobene Einwand, als seien solche in der Da­ menkonfektion unmöglich, weil Minimalpreise und -löhne in dieser Branche wegen der großen Verschiedenartigkeit ihrer Erzeugnisse undurchführbarwä­ ren, nicht stichhaltig ist. Bei aller Verschiedenartigkeit der einzelnen Stücke sind die zugrunde liegenden Far;

Nr.15

1911 Januar 24

Erklärung des Zentralausschusses der Prinzipalverbände in Sachen der "Pensionsversicherung der Privatangestellten"1 Ausfertigung

[Ablehnung einer Sonderversicherung für Privatangestellte und stattdessen Forderung nach maßvollem Ausbau der Invalidenversicherung)

1 Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zuKöln, 20/199/3 HK Duisburg, Pensionsversiche­ rung. Mitgeteilt alsAnlage zu einem Rundschreibenan die Handelskammernund wirtschaftlichenVer­ bände. Unterzeichnetvom VorsitzendenEmil D. Feldbeckund von Dr. Kunow. 64 Nr.15

Erklärune.

Ungeachtet der schwerwiegendenund begründeten Bedenken, die gegen die Rieb tlinien der im Jahre 1908veröffentlichten Denkschriftdes Reichsamts des Innern nicht nur mit vollständiger Einmütigkeit aus den Kreisen der Prinzipa­ lität, sondern auch von maßgeblichen Gruppen der Angestelltenorganisatio­ nen geltend gemacht worden sind, hält der Entwurf eines "Versicherungsgeset­ zes für Angestellte" an den Grundsätzen der Denkschrift fest. Die Durchfüh­ rung der Versicherung auf dem Wege der Sonderkasse schafft eine Reihe, aus dem Rahmen und den Grundlagen der Invalidenversicherung herausfallender Sondervergünstigungen, wie die Doppelversicherung für Angestellte mit einem Einkommen bis zu 2000 M, die Errichtung einer versicherungsberech­ tigten Einkommensgrenze bis zu 5000 M, die Herabsetzung der Altersgrenze auf 65 Jahre sowie die Einführung des Begriffes "Berufsinvalidität". Hierin liegt nicht nur eine sozialpolitische Ungerechtigkeit gegenüber den nicht unter dieses Gesetz fallenden Angestellten, sondern auch ein äußerst bedenkliches Präjudiz, das sehr bald zu Berufungen der minder begünstigten Angestellten­ kategorien führen muß. Namentlich aber bedingt die Lösungdes Problems auf dem Wege der Sonderkasse die Schaffung eines neuen, höchst verwickelten und zu den Leistungen der Versicherung in gar keinem Verhältnis stehenden Verwaltungsapparates (Reichsversicherungsanstalt, Direktorium, Verwal­ tungsrat, Verwaltungsausschuß, Rentenausschüsse, Vertrauensmänner usw.), der wiederum zu einer wesentlichen Erhöhung der über die Leistungsfähigkeit breiter Schichten des Arbeitgebertums hinausgehenden Versicherungslast führt. Auch würden sich aus der organischen Loslösung der Angestelltenver­ sicherung von der allgemeinen Invalidenversicherung praktische Schwierigkei­ ten in ungeheurer Zahl ergeben, die das neue soziale Reformwerk weiten Schichten zu verleiden geeignet ist. Aus diesen Erwägungen hält der Zentral­ ausschuß an der Lösung des Problems auf dem Wege eines maßvollen, den Bedürfnissen der Privatangestellten angepaßten Ausbaues der Invalidenver­ sicherung fest.2 Der Zentralausschuß bedauert zugleich, daß der Entwurf durch eine einseitige Berücksichtigung der Wünsche eines Teiles der Ange­ stellten und die Nichtbeachtung der Interessen und Wünsche der Prinzipalität, die das Zustandekommen des großen sozialen Werkes im Interesse ihrer Angestellten dringlich wünscht, eine Gegensätzlichkeit zwischen beiden Gruppen geschaffen hat, die die Vollendung der vorliegenden gesetzgebe­ rischen Arbeit nicht nur verzögern, sondern auch den innerpolitischen Kon­ fliktzu verschärfengeeignet ist.

2 Vgl. die ähnlich lautenden Stellungnahmen aus Arbeitgeberkreisen, Nr. 40, Nr. 42. Nr. 134. 1911 Januar 26 65

Eine eingehende Stellungnahme behält sich der Prinzipalausschuß bis zur Veröffentlichung der Begründung des Gesetzentwurfs vor, deren baldige Be­ kanntgabe dringend zu wünschenist.

Nr.16

1911 Januar 26

Die Hilfe Nr. 4 Submissionswesen und Sozialpolitik Emil Heinrich Meyer

(Das Submissionswesen als wirksames sozialpolitisches Instrument der Ge­ meinden]

Die Gemeinwesen sind die bedeutendsten Arbeitgeber unsrer Zeit. Sie haben als solche die Möglichkeit, in weitgehendster Weise auf die Regelung der Arbeitsverhältnisse einzuwirken und eine Sozialpolitik zu betreiben, wel­ che die Anbahnung des sozialen Friedens erleichtert. Dies steht aber den Gemeinwesenals Wirtschaftskörpern um so mehr frei, als sie nicht unbedingt den ökonomischen Grundsätzen der billigsten Beschaffung von Produkten zu folgen brauchen, sondern kraft ihrer besonderen Stellung auch eine den ökonomischen Grundsätzen entgegenlaufende Politik betreiben dürfen und aus ethischen Gründen, wenn es sich um das Wohl und Wehe eines großen Teils ihrer Glieder handelt, betreiben müssen. Dabei bedeutet die Befolgung von ethischen und sozialen Grundsätzen in der Wirtschaftsführung nicht un­ bedingt einen Gegenpol zu den wirtschaftlichen Prinzipien, vielmehr decken sich beide des öfteren, in vielen Fällen sind die ersteren sogar die wirtschaftli­ cheren. Denn was zur Hebung der Arbeiter aufgewendet wird, wird im unglei­ chen Maße gespart an Armenlasten, Spitalgeldern, Krankenhäusern, Arbeits­ losen- und Gefangenen-Unterstützung. Die Hebung der untersten Klasse ist produktionsfördernd, da sie die Konsumtionsfähigkeit der größten Klasse der Gesellschaft hebt. Die Gemeinwesen sollen aber nicht nur als unmittelbare Arbeitgeber, son­ dern auch als mittelbare Arbeitgeber in Harmonie mit den allgemeinen Zielen ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik vorgehen. Es wäre inkonsequent, wollte ein Gemeinwesen bloß da, wo es als unmittelbarer Arbeitgeber auftritt, sich um die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse bemühen. Es läßt sich nicht 66 Nr.16 leugnen, daß das Submissionswesen bei seiner ihm innewohnenden Tendenz, bei der Lieferung für öffentlicheArbeiten im Wettbewerb ein möglichst preis­ wertes Angebot zu erzielen, einen Ansporn enthält, den geschmälerten Gewinst des Unternehmers durch eine Herabsetzung der Arbeitslöhne wieder auszugleichen. Die Gemeinwesen müssen deshalb nicht nur verhindern, daß von den mit ihnen im Vertragsverhältnis stehenden Arbeitgebern dieses Stre­ ben in Wirklichkeit umgesetzt wird und zu einer wirtschaftlichen Knebelung der Arbeiter führt, sondern müssen ihren Einfluß auf Besserung der Arbeits­ verhältnisse mit Nachdruck geltend machen. Diese Betätigung kann sich auf folgendePunkte richten. Auf die Regelung von Arbeitslohn und -zeit und Sicherstellung des Arbeitslohnes, auf die Förderung der Einschränkung der Akkordarbeit und den Schutz der Arbeiter bei Weitervergebung der übernommenen Arbei­ ten, auf hygienische Vorschriften, auf Bevorzugung einheimischer Arbeiter und Benutzung der paritä­ tischen öffentlichen Arbeitsnachweise, auf die Streikklausel und die Anerkennung von Tarifverträgen. Eine derartige gerichtete Sozialpolitik hat sich erst langsam gegenüber den Theorien vom freien Arbeitsvertrag durchzusetzen vermocht, erst nachdem die Wirklichkeit im Zeitalter des Kapitalismus gelehrt hatte, daß der freie Ar­ beitsvertrag in seiner theoretischen Durchbildung ohne eine Sozialpolitik ein Schattenbild ohne Blut und Lebenbleiben würde. In England wurde die Fair-Wages-Resolution1 vom Jahre 1891 entschei­ dend für die Regelung der Arbeitsbedingungen im Submissionswesen. Hervor­ gerufen durch die Mißstände, die das Sweating-System2 erzeugt hatte, das als eine Folge des unsozialen Submissionswesens erschien, postulierte diese Resolution die Pflicht der Regierung, dem Übelstande zu begegnen. Infolge­ dessenkam es in ganz England zu einer Änderung der Submissionsordnungen im sozialen Sinne. 392 Orte in England und Wales, 53 in Schottland und 42 in Irland nahmen Bestimmungen über Arbeitslohn und -zeit in ihre Submis­ sionsordnungen auf. Für Frankreich wurde die Frage angeschnitten durch den Pariser Gemeinderat im Jahre 1883 und zu einer Lösung derselben geschrit­ ten, die zu einem Konflikt zwischen Gemeinderat und Regierung führte, der erst 1899 durch drei Dekrete ausgeglichen wurde. Diese besagten, daß auslän-

1 Die Fair-Wages-Resolution des House of Commons verlangte, daß alle Regierungsaufträge die Fair-Wages-Klausel enthielten, wonach die beauftragten Unternehmen ihre Arbeiter nach den lo­ flen Gewerkschaftstarifenentlohnen mußten. Das Sweating-System bezeichnet ein Arbeitsverhältnis in der Hausindustrie, bei dem der Un­ ternehmer die Arbeitzu einem festen Preis an einen Faktor oder Zwischenmeister ('Sweater") ver­ gibt, der sie dann gegen möglichst niedrige Löhnedurch Heimarbeiterausführen läßt. 1911 Januar 26 67 dische Arbeiter nur in einem geringen prozentualen Verhältnis zur einheimi­ schen Arbeitermhl eingestellt werden dürften, daß normale Löhne und Ar­ beitszeiten eingehalten werden müßten, die durch die Verwaltung im Anschluß an die vertraglichen Abmachungen von Arbeitgebern und Arbeit­ nehmern geregelt werden sollten. Belgien, Italien, Niederlande und die Schweiz enthalten in ihren Submissionsordnungen soziale Bestimmungen. Österreich-Ungarn besitzt keine zusammenfassende Regelung. In den Vereinigten Staaten haben z. B. New York, die Bundesregierung und 20 andere Staaten den Achtstundentag proklamiert, dessen Übertretung eine strafbare Handlung darstellt. In Neuseeland ist die Regelung schon so weit ge­ gangen, den Submittenten einfach auszuschalten und die Arbeit an organi­ sierte Arbeitergruppenzu vergeben (System des cooperativelabour). In Deutschland sind bis jetzt bloß Ansätze zu einer Sozialpolitik im Submis­ sionswesen vorhanden, eine einheitliche Regelung fehlt noch. In Preußen umfaßt die Submissionsordnung für öffentliche Bauten vom 23. Dezember 1905, die auch für die Reichsbehörden maßgebend ist, im wesentlichen Be­ stimmungen für die persönliche Sicherheit und Wohlfahrt der Arbeiter und Schutzmaßnahmen in hygienischer Hinsicht und verpflichtetdie Unternehmer zur genauesten Befolgung der Arbeiterversicherungsgesetze. Die Lohnfrage und sonstige Arbeitsbedingungen sind dabei nur insoweit berücksichtigt, als die Behörden darauf zu halten haben, daß die Unternehmer ihren Verpflich­ tungen gegenüber den Arbeitern nachkommen.Ein Einflußauf die Arbeitsbe­ dingungen wird durch diese Bestimmungen durchausnicht erstrebt. Württem­ berg ist mit seiner Submissionsordnung vom 3. Februar 1903 weitergegangen. In den Submissionsvertrag wird nämlich die Klausel aufgenommen: "daß der Unternehmer an die von ihm angegebenen Arbeitslöhne und Arbeitszeiten, oder soweit Tarifgemeinschaftenoder ähnliche Vereinbarungen zwischen den Verbänden der Arbeitgeber und Arbeiter bestehen, an die von diesen festge­ stellten Arbeitsbedingungengebunden sind". Damit ist Württemberg der erste Staat, der den korporativen Arbeitsvertrag schützt und damit die Arbeiter­ organisationen und Arbeitgeberverbändeanerkennt. Von den Kommunen haben nur wenige Mindestlöhne festgelegt, zum Bei­ spiel Straßburg, Mülhausen i.E., andere wie München, Regensburg, Augsburg, Frankfurt a.M., Chemnitz, verlangen die Zahlungder orts- und berufsüblichen Löhne, wieder andere legen die Abmachungen von Tarifverträgen zugrunde, teils prinzipiell wie Ulm, Freiburg, Metz u.a., teils bloß für Tagelohnarbeiten wie Berlin, Schöneberg u.a. Nachdem die Erkenntnis von der Bedeutung der Tarifverträge zur Anbahnung des sozialen Friedens sich einmal Bahn gebro­ chen hatte, ist die Anerkennung dieser in den Submissionsbedingungen der Gemeinwesen ein Programmpunkt sozialer Submissionspolitik geworden.Daß der Frage der Lohnpolitik in den Submissionsordnungen durch Festsetzung 68 Nr.16 von Lohngrenzen und Höchstarbeitszeit die Gemeinwesen nur so vereinzelt näher getreten sind, liegt wohl zum Teil in der Furcht begründet, daß damit in die Freiheit des Arbeitsvertrages eingegriffen würde und eine allgemeine Fest­ setzung von Minimallöhnen daraus resultieren könnte und daß auf diesem Wege den sozialistischen Ideen zum Durchbruch verholfen würde. Gegen eine derartige Lohnpolitik hat man auch vielfach geltend gemacht, daß diese ein starkes Eingreifen in den Privatbetrieb des einzelnen Unternehmers bedeuten und eine ständige Kontrolle individueller Wirtschaftsbetriebezur Folge haben würde,die sich vielfachgar nicht durchführen ließe oder über die spezielle Be­ tätigung des Unternehmers für das Gemeinwesen hinausgehen würde. Hier­ gegen soll man aber bedenken, daß jede Sozialpolitik ein Eingreifen in die wirtschaftliche Betätigung des Einzelindividuums bedeutet, und die trotzdem durchzuführen Pflichtder Gesellschaftist. Bezüglich der andern Punkte, zu denen die Submissionsordnungen im In­ teresse der Arbeiter Stellung zu nehmen haben, haben nur wenige Gemein­ wesen eine Regelung getroffen. Da die Arbeitslosigkeit in steigendem Maße eine Kalamität des Wirtschaftslebens und der Gesellschaft geworden ist, so muß jeder Weg, ihr zu steuern, dem Gemeinwesen willkommen sein. Da die Arbeitslosigkeit vielfach resultiert aus mangelnder Arbeitsmarktorganisation, so mußte die Benutzung der öffentlichen Arbeitsvermittlungsstellen,die in so­ zialer Weise die Organisation anstreben, mit zu einer Vertragsklausel der Submissionsbestimmungen gemacht werden. Die Versuche dazu sind bis jetzt noch vereinzelt. Die Überfüllung des Arbeitsmarkts ließ eine Regelung der Anstellung von Arbeitern in den Submissionsordnungen dahin angezeigt sein, daß nur in beschränktem Maße auswärtige oder ausländische Arbeiter ver­ wendet werden dürften. Dies bedeutet, soweit es sich gegen die ausländischen Arbeiter richtet, eine Art Schutzzoll auf die Arbeitskräfte des Auslands, wel­ cher verhindert, daß der einheimische Arbeiter in Konkurrenz mit dem aus­ ländischen zurückgedrängt wird. Gegenüber den auswärtigen Arbeitern bedeutet es für die Gemeinden eine Verminderung der Armenlasten infolge der Arbeitslosigkeit der eignen Bürger. Von seilen der Arbeitgeber hat man vielfach verlangt, daß in die Submis­ sionsordnungen eine Bestimmung aufgenommen würde, daß durch Streiksund Aussperrung die Lieferungsfrist entsprechend hinausgeschoben werde. Diese Frage der Streikklausel ist aber nicht eigentlich eine Frage der Arbeitsbedin­ gungen, sondern eine Frage des Verhaltens der ausschreibenden und verge­ benden Behörde, falls zwischenArbeitgebern und Arbeitern über die Arbeits­ bedingungen oder sonstige Fragen, Streitigkeiten entstehen oder die Ausfüh­ rung der Arbeiten durch Streiks, welche die betreffenden Arbeiter aus Solida­ rität mitmachen, gestört wird. Eine unbedingte Stellungnahme der Gemeinden bezüglich der Aufnahme oder Ablehnung der Streikklausel ist nicht zu ver- 1911 Januar 27 69 zeichnen. Die Gemeinden wollten sich mit dieser Frage nicht binden und die Entscheidung, ob durch den Streik eine Verschiebung der Lieferungsfrist ein­ treten sollte oder nicht, dem billigen Ermessen des einzelnen Falles überlas­ sen. Eine solche Entscheidung läuft dann meistens, juristisch betrachtet, auf die Frage hinaus, ob der Streik oder die Aussperrung sich als "höhere Gewalt" darstellt. Mit einer solchen Regelung waren aber die Arbeitgeber meistens nicht zufrieden. Auf ein Gesuch der Baugeschäfte auf unbedingte Einführung der Streikklausel hat sich der Minister der öffentlichen Arbeiten3 dahin ge­ äußert, daß er es mit den staatlichen Interessen nicht für vereinbar halte, all­ gemein die beantragte Streikklausel in die Vertragsbedingungen einzufügen, er sich vielmehr die Entscheidung Fall für Fall vorbehalte, inwieweit der Aus­ stand oder die Sperre gerechtfertigten Grund bietet, den Unternehmer aus seinen Vertragspflichten zu entlassen, ihm eine Verlängerung der Fristen zu­ zugestehen oder die verwirkteVertragsstrafe nachzulassen." Viele Gemeinden haben die Einsetzung eines Schiedsgerichts zur Prüfung aller vertraglichen Bedingungen vorgesehen, um durch dasselbe auch die Stellungnahme zu Streiks und Aussperrungen erörtern zu lassen. Das Gebiet des Submissionswesens bietet also einen weiten Raum für die dankbare Aufgabe einer Versöhnung und Ausgleichung der Klassen und zur Überbrückung des Gegensatzes von Kapital und Arbeit unter Befestigung der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungdurch Anbahnung des so­ zialen Friedens.

Nr.17

1911 Januar 27

Protokoll der Arbeiterausschußsitzung der Firma M.AN. AG., Nürnberg1 Ausfertigung

[ AllgemeineBetriebsverhältnisse J

Bei Beginn der ersten Sitzung gibt Herr Lippart2 Ausführungen über die Rechte und Pflichtendes Arbeiterausschusses.Der Arbeiterausschußs oll glei­ cherweise die Interessen der Firma und der Arbeitskollegen vertreten; soweit

3 Paul Justin v. Breitenbach,1906-1918 preußischer Minister füröffentliche Arbeiten. 1 HistorischesArchiv der M.AN. AG., Augsburg, Werk Nürnberg, 221.5. Vgl. Nr. 240, Nr. 718, �r. 784. Lippart,Direktor der M.AN. AG., Werk Nürnberg. 70 Nr.17 erforderlich, sollen die Mitglieder desselben auf die Arbeiterschaft belehrend und erziehend einwirken. Neuner teilt mit, daß 2 neugewählte Ausschuß-Mitglieder noch am Tage der Wahl versetzt worden wären. Der Fall Schlapp ist dadurch erledigt, daß der Betreffendevom Helfer zum Feuerschmied vorrückte. Von dem Fall Moser ist Herrn Köhnke nichts bekannt. Moser soll sofort nach der Wahl von Meister Brummer auf einen anderen Platz versetzt worden sein. Herr Köhnke wird die Sache untersuchen. Bachelbel fragt, ob der Arbeiterausschuß ein Recht habe, sich um Un­ glücksfälle zu kümmern. Man scheint hiermit nicht einverstanden zu sein, weil sich Herr Köhnke beim letzten Vorkommnis in so auffallender Weise erkun­ digt hätte, wohin Bachelbel gegangen sei. Lippart: Da die Mitglieder des Arbeiterausschusses über die ganze Fabrik verteilt sind, hat es keinen Zweck, wenn das Bureau des Arbeiterausschusses bei jedem Vorkommnis sich an der Unfallstelle trifft. Wenn schwere Un­ glücksfälle vorkommen sollten, so wird man gerne den gewählten Vorsitzen­ den des Arbeiterausschusses Auskunft erteilen. Im allgemeinen wird es als ausreichend erachtet, wenn das Ausschußmitglied der betreffenden Betriebs­ abteilung sich über den Unglücksfall orientiert, sofern es sich um Vorfälle handelt, welche allgemeines Interesse haben. Neuner: In der ersten Januarwochewar Fabrikversammlung, in welcher die Arbeitsverhältnisse in der M.AN. besprochen wurden. Man war mit den bis­ herigen Verhältnissen im allgemeinen einverstanden, man hat jedoch erwartet, daß die Direktion weiter gehen würde und hat Zulagen beim Jahreswechsel erwartet. Da diese Lohnerhöhungen ausgeblieben sind, habe die Versamm­ lung eine Resolution gefaßtfolgenden Wortlauts: s. Beilage.3 Ferner wurde noch über das Systemder Arbeiterausschußwahlgesprochen. Lippart: Eine Änderung im Wahlmodus wurde bis jetzt von Ihnen selbst nicht verlangt. Nach meiner Ansichthat eine solche auch gar keinen Wert. Bis jetzt ist der Ausschuß über das ganze Werk verteilt, beim Proporzsystemwird sich das nicht mehr durchführen lassen, da die Verhältnisse nicht günstiger werden. Linsenmann: Die Altersgrenze sollte herabgesetzt werden von 30 auf 25 Jahre. Lippart: Der ältere Mann ist abgeklärter und hat mehr Lebenserfahrung als der jüngere. Das kann Ihnen doch auch nicht gleich sein; denn es ist Ihnen si­ cher erwünscht, daß Ihre Interessen durch einen Mann mit entsprechenden Erfahrungenvertreten werden.

3 Nicht abgedruckt. 1911 Januar 27 71

Zum 2. Punkt: Wenn Sie in Ihrer Resolution der Firma Ihre Entrüstung ausdrücken, über das, was die Firma Ihnen im vorigen Jahr gegeben hat, daß sie Ihnen die Arbeitszeit verkürzt hat, daß man die Ufäne erhöht hat und daß man Ihnen Urlaub gewährt hat, so kann ich das nur als einen Scherz auffassen; denn sonst müßte ich Ihnen das übel nehmen. Glauben Sie nicht, daß der Firma ein solches Entgegenkommen leicht ist. Für jeden Pfennig, den wir un­ serer Arbeiterschaft mehr geben, müssenwir auf irgend eine Weise ein Äqui­ valent erreichen; denn bei unserer industriellen Lage haben wir nichts zu ver­ schenken. Wenn wir statt Dank zu ernten, die größte Entrüstung ausgedrückt erhalten, so ist das durchaus deplaciert. Bachelbe!: Der Vorsitzende hat lediglich seinen Bericht gemacht und darin erwähnt, daß die Firma auch in diesemJahr etwas tun könnte. Die Resolution ging von der Versammlung aus und da war man der Ansicht, daß eine Resolu­ tion gar nicht scharf genug sein könnte. Lippart: Ich kann die Punkte Ihrer Resolution nur als Wunsch entgegen­ nehmen. Über die Sache selbst muß die Gesamtdirektion entscheiden. Glau­ ben Sie ja nicht, daß jeder Pfennig, den wir zulegen, durch Ihre Beihilfe wieder hereinkommt; denn man darf auch die konstruktiven Arbeiten, welche von der Firma geleistet werden, nicht vergessen. Ohne neue Konstruktionen könnten die Werkstätten dauernd nicht beschäftigt werden. Wir verkaufen Lizenzen auf unsere Maschinenkonstruktionen und schaffen uns Einnahmen damit. Auch dürfen Sie nicht außer Acht lassen, welche große Summe wir jedes Jahr in unsere Einrichtungen stecken, um mit modernsten Mitteln wieder billig zu arbeiten und die Mehrausgaben für unsere Zugeständnisse auszugleichen. Dieseshat mit Ihren Arbeitenalles nichts zu tun und ist Ihre Behauptung, daß Sie durch Mehrleistung die Mehrausgaben wieder quitt machen, daher nicht richtig. Haid: Ich glaube, daß das mit der "Entrüstung" ein Mißverständnis ist. Man hat die Leute mit der Aufbesserungbis auf Weihnachten vertröstet. Herr Ein­ berger habe davon gesprochen. Neuner: In unserer Werkstätte haben die Leute auch geglaubt, daß an Weihnachten eine Aufbesserungkommt. Lippart: Die Direktion hat kein derartiges Versprechen gegeben. Vergessen Sie nicht, daß man während des ganzen Jahres immer etwas aufgebessert hat. Es ist für den Einzelnen besser, man gibt sofort etwas, wenn man glaubt, daß er es verdient, als man läßt ihn ½ Jahr warten. Linsenmeier: Wenn das Wort Entrüstung auch falsch angewendet wurde, so ist doch zu bedenken, daß die Leute nicht aus den besten Schulen kommen. Man kann nicht jedes Wort in einer Versammlung abwägen. Die ganze Reso­ lution kam aus der Versammlung, wir konnten nicht viel dagegen sprechen. 72 Nr.17

Wir sind der Ansicht, daß man die Arbeitszeitverkürzung wieder durch Mehr­ leistung ausgleichen kann. Von den verschiedenen Ausschußmitgliedern wird im allgemeinen dasselbe wiederholt und begründet. Ritzenthaler: In der Gießerei soll durch das Gießen am Samstag die Luft so schlecht werden, daß man von 12 Uhr ab kaum mehr atmen kann. Lippart: An den anderen Tagen ist es das Gleiche, da muß man auch von 5-6 Uhr weiter arbeiten, wenn abgegossen ist. Schulz, G 3: wiederholt das Gleiche für die Gußputzerei. Ferner seien in der Putzerei die Löhneso herabgedrückt, daß man vor 3 Jahren 5-6 M. mehr ver­ dient habe als jetzt. Der Verdienst sei 25-28 M., nur bei sehr starker Arbeit M 30.- (Herr Lippart beweist anhand der Statistik das Gegenteil). Haid: Am unangenehmsten ist der späte Schluß am Samstag für die Arbei­ ter, welche auswärts wohnen. Dieselben müssen mehrere Stunden warten, weil sie die Züge nicht mehr erreichen. Reck: Die Leute, welche mit Druckluftwerkzeugen arbeiten, können um 12 Uhr die Werkzeuge gar nicht mehr halten. Es hat also keinen Wert für die Firma, wenn sich die Leuteweiter überanstrengen. Schiller, Betrieb II: Im Gießereibetrieb II wurden wiederholt Akkorde her­ abgesetzt. Für einen Bügel wurde früherM. 14,-, jetzt M. 12,- bezahlt. Lippart: Die Sache ist mir bekannt, ich möchte jedoch erwähnen, daß für den gleichen Bügel in unserer Gießerei nur M. 10,- bezahlt werden. Wenn wir Ihnen in Betrieb II mehr zahlen müssen, so ist dies eben ein Beweis dafür, daß Sie nicht das leisten können, was unsere Former machen. Die Former in Mö­ geldorf müssen eben auf dieselbe Leistungsfähigkeitkommen, dann werden sie auch unsere Akkorde auskömmlich finden. Schiller, Betrieb II: Herr Neumeier gibt selbst Veranlassung zu Stunden­ schiebungen. Als Leykam mit dem Preis nicht auskam, hat Herr Neumeier selbst gesagt, daß für diese Stücke kein Geld mehr da sei. Er solle sehen, wie er zurecht komme. Wegen der schlechten Kranverhältnisse muß Leykam täglich Überstunden machen, ohne daß man etwas dafürzahlt. Reck: In G 1 wird auch bessere Ventilation gewünscht. Die Leute beschwe­ ren sich dauernd. 2/3der Gießereiarbeiter soll lungenkrank sein. Lippart: Bestreitet die Richtigkeit des angegebenen Prozentsatzes und be­ merkt, daß nach ärztlicher Überzeugung der Gießereistaub einem sonst ge­ sunden Menschen nicht schädlich sei. Für Leute, welche bereits lungenkrank in eine Gießerei kämen, wäre natürlich der Staub nicht zuträglich. Haid klagt, daß in der letzten Zeitin der Modellschreinerei viel nasses Holz und schlechter Leim verwendet werden mußte. Es ist direkt gefährlich, an der Drehbank zu arbeiten, weil es wiederholt vorgekommen ist, daß verleimte 1911 Januar 27 73

Stücke auseinanderfliegen. Der Leim ist ganz entschieden schlechter wie frü­ her. Kipfmüller fragt, ob ein Satz für die Kalkulation der Maschinistenlöhne festgelegt sei. Meister Unterlehner soll die Preise willkürlich ändern. (Herr Lippart antwortet, daß er bei dem beanstandeten Zyler 58,1 Pfg. verdient habe). Kraus: Die Rohrmacherei sei viel zu klein. Die Belegschaft sei in den letzten Monat ganz erheblich gewachsen und die Arbeitsverhältnisse werden immer schlechter. Lippart: Wir sind bereits auf der Suche nach einem Lokal. Schmidt: Die Zimmerleute in A 33 haben nicht genügend Platz zum Arbei­ ten. Man sollte anbauen. Schütz: In der Gußputzerei sind nicht genügend Kleiderschränke vorhan­ den. Viele Schränke müssen doppelt belegt werden. Außerdem sind die Klei­ derschränke so unmittelbar am Einfahrtsgeleise,daß es fast unmöglich ist, sich umzuziehen, wenn ein Wagen in der Putzerei steht. Lippart: Wir bauen eine neue große Metallgießerei und werden bei diesem Neubau auch für ausreichende Wasch- und Umkleideräume für Gußputzerei und Metallgießerei sorgen. Haid: Für die Zimmerleute sollte eine besondere Kreissägeund eine Wand­ säge aufgestellt werden. Die Zimmerleute kommen zum Holzschneiden stän­ dig in die Modellschreinerei und verderben die dort aufgestellten Maschinen. Sosau: Die Abortverhältnisse bei M 8 sind sehr schlecht, weil dieser Abort von den vielen Bauhandwerkern benützt wird. Viele Reinigung ist unbedingt erforderlich. Kohl bringt den allbekannten Wunsch, daß der Durchgang westlich vom W 1 freigehalten werden soll. Bachelbel: Die Reparaturschlosser in W 8 möchten eine Revision ihrer Lohnverhältnisse. Der Partieführer bekommt eine wöchentliche Zulage, die Gehilfen, welche die Schmutzarbeitmachen, erhalten nichts. Forster klagt über die schlechte Lüftung von E 1 beim Probelauf von Ma­ schinen. Schmidt fragt,ob der§ 4 der Einigunga noch beachtetwird. Lippart: Wir gewährleisten den Wochenlohn gemäß dem festgesetzten Stundensatz. Wie es in anderen Gießereien gehalten wird, geht uns nichtsan. Grimm bringt die alte Klage über die schlechten Waschraumverhältnisse in M7/E211. Lippart: Ein Projekt zur Schaffungbesserer Waschräume ist bereits in Aus­ arbeitung.

a "Einigung" wurde anstelle von "Nötigung" handschriftlich eingesetzt. 74 Nr.18

Forster: Die Fahrradhallen haben sich im letzten Sommer als zu klein er­ wiesen und viele Kollegen konnten ihre Räder nicht unterbringen. Es wird ge­ beten, noch vor dem Frühjahr fürVergrößerung der Fahrradhallen zu sorgen. Neuner: Die Stockheimer4 Schmiedekohlen werden immer schlechter. Lippart: Wir haben unsere Abschlüsse, welche wir aufbrauchen müssen. Sie haben ja in früherer Zeit selbst behauptet, daß die Stockheimer Kohlen vor­ züglich waren. Man wird jedenfalls auf schlechtere Flöze gestoßen sein. Daß die Stockheimer Kohlelager nicht das halten, was man sich von ihnen verspro­ chen hat, mußte ja auch der Staat fühlen. Sobald unsere Abschlüsse zu Ende gehen, werden wir fürbesseres Material sorgen.

Nr.18

1911 Januar 28

Schreiben des Centralverbandes Deutscher Industrieller an die Fa. Feiten & Guilleaume1 Abschrift Vertraulich

[Ergebnisse einer Erhebung unter den Mitgliedern betreffend die Gewährung von bezahltem Urlaub an Arbeiter; Arbeiterurlaub als wirksame sozial­ politische Maßnahme fürdie Interessen des Unternehmens]

Erholungsurlaubfür Arbeiter In den auf das Rundschreiben No. 15 Reihe A vom 1. Dezember 19102 er­ gangenen Antworten macht ein großer Teil der Mitglieder (etwa 170 Firmen) nur kurz davon Mitteilung, daß regelmäßige Urlaubseinrichtungen in ihren Betrieben nicht beständen und sie keine Erfahrungen auf diesem Gebiete be­ säßen. Es sind dies hauptsächlich Berg- und Hüttengesellschaften, eine große Zahl von Firmen der Textilindustrie, einige Schiffswerften, Maschinenfabri­ ken, Papier- und Zuckerfabriken, die also gar keine Stellung weiter zu der Frage nehmen.

4 Stockheim,Gemeinde der belgischenProvinz Limburg. 1 Archivder Firma Feiten & Guilleaume, Köln-Mülheim, A 1 9020. 2 Das Rundschreiben ging an sämtliche Mitglieder des Centralverbandes mit der Bitte, Mittei­ lungen über Urlaubseinrichtungenund die damit gemachten Erfahrungenzu geben. 1911 Januar 28 75

Von den übrigen Eingängen, die die größere Hälfte ausmachen, ist etwa ein Drittel in ausgesprochen gegnerischem Sinne gehalten, während die anderen 2(3 bereits Urlaubseinrichtungen vorweisen, oder der Einführung sympathisch gegenüber stehen und sie in Aussicht genommen haben. Gegner Zu den ausgesprochenen Gegnern jeder regelmäßigen Urlaubsgewährung gehört die Mehrzahlder Textilindustriellen, eine kleine AnzahlSchiffswerften, Berg- und Hüttengesellschaften, einige Zuckerfabrikanten und Industriever­ bände. Sie machen im wesentlichengeltend, daß die obligatorische Einführung einer jährlichen Urlaubsbewilligung mit den Betriebsverhältnissen nicht in Einklang zu bringen und mit Rücksicht auf die hohe sozialpolitische Belastung ihrer Betriebe durchaus zu verwerfensei. Sie verweigern vornehmlich ihre Zustimmung dazu, dem Arbeiterein Recht auf den Urlaub einzuräumen, aus dem er evtl. klagbar werden könnte. Eine Fortzahlung des Lohnes würde einer allgemeinen Lohnheraufsetzung gleich­ kommen, die bei den ohnehin trotz schlechter Konjunktur sehr hohen Löhnen gegenwärtig undurchführbar sei. Auch sei es unmöglich, für die fragliche Ur­ laubszeit jeweils die geeigneten Ersatzleute herbeizuschaffen, denen man, ohne einen erheblichen Produktionsrückgang befürchten zu müssen, die Be­ dienung der komplizierten Maschinen anvertrauen könne. Vielfach würde nicht einmal auf eine besondereAnerkennung seitens der Arbeiter zu rechnen sein, und auch sonst keine Veranlassung vorliegen, regelmäßig und jährlich Urlaub zu erteilen. So erklären z.B. einige Zuckerfabriken, daß ihre Arbeiter fast ganz auf dem Lande leben, meistens Haus und Garten, auch kleine Land­ parzellen besitzen, die sie bewirtschaftenund die ihnen reichlich Gelegenheit zur Erholung verschaffen. Erholungsheime Von denjenigen Mitgliedern, die bereits Urlaubseinrichtungen in irgend einer Form getroffen haben, nehmen die Großbetriebe des Bergbaues und Hüttenwesens eine gesonderte Stellung ein. Sie haben meistens so vorzügliche Wohltätigkeitseinrichtungen und Vergünstigungen für ihre älteren Arbeiter unter Festlegung bedeutender Kapitalien vorgesehen, daß ihnen eine ander­ weitige Regelung des Urlaubswesens nicht zugemutet werden kann. Ihre Ur­ laubseinrichtungen knüpfen sich an die Form von Erholungsheimen, die in landschaftlich schöner Gegend gelegen, mit den Errungenschaften moderner Technik versehen, gewöhnlich 30-50 Arbeitern zugleich Aufnahme gewähren. Die Arbeiter erhalten hier, indem auf Vorschlag und Befinden des Kassenarz­ tes vornehmlich die der Erholung bedürftigenund die älteren Arbeiter je nach Verdienst und Würdigkeit bevorzugt werden, in der Zeitvon Mai bis Oktober, in sich abwechselndenTrupps von 30-50 Personen, freienAufenthalt und freie Verpflegung auf die Dauer von 8-14 Tagen, ja sogar darüber bis zu 4 Wochen. 76 Nr. 18

Als Entgelt für den entgangenen Lohn wird ihnen meistens eine Pauschalver­ gütung in Höhe von 15,-- bis 18,-- Mark pro Woche als Taschengeld gewährt, wozu sie Gelegenheit haben, sich durch freiwillige Gartenarbeit in den Anla­ gen des Erholungsheims ganz nennenswerte Beträge dazuzuverdienen, Bedin­ gungen für die Aufnahme in das Erholungsheim, dessen Hausordnung zu befolgen ist, ist das Freisein von ansteckenden Krankheiten, tadellose Führung und mehrjährige Tätigkeit in dem betreffendenBetriebe. Die Erfahrungen, welche mit diesen Einrichtungen bisher gemacht wurden, haben sich als günstig herausgestellt, indem es manchen Betrieben gelungen ist, sich einen Stamm von mehreren Hundert Arbeitern heranzuziehen, die bis zu 10 Jahren und weit darüber ununterbrochen in demselben Werk gearbeitet haben. Es ist anzunehmen, daß auch diejenigen Großbetriebe, die in ihren kurzen Antworten auf das Rundschreiben keine Stellung zu der Frage der Urlaubs­ bewilligung genommen haben, mit ähnlichen umfangreichen Wohlfahrtsein­ richtungen versehen sind, aber von der öden demokratischen Gleichmacherei, nach der auch der jüngste und faulste, wie der älteste und talentvollste Arbei­ ter mit demselben "Tariflohn" und Urlaub belohnt werden soll, nichts wissen wollen. Urlaubsbewilligung Denjenigen Mitgliedsfirmen, die bereits ständige eigentliche Urlaubsein­ richtungen getroffen und mit diesen fast durchweg gute Erfahrungen gemacht haben, ist gemeinsam, daß sie den Jahresurlaub, d.h. seine zeitliche Ausdeh­ nung und die Urlaubsfähigkeitvon der mehr oder weniger langen ununterbro­ chenen Tätigkeit in demselben Fabrikbetrieb abhängig machen. Gewöhnlich beginnt die Urlaubsfähigkeit mit dem vollendeten 2. Dienstjahr und erstreckt sich auf zuerst 2-3 Tage; mit jedem oder mit je 2 weiteren Dienstjahren steigt dann die Anzahl der Urlaubstage bis zu einer Grenze, die gewöhnlich im 10. Dienstjahr mit 14 Tagen jährlichen Urlaubs gezogen ist. Häufig gewähren die Werke ihren Arbeitern aber auch von vornherein einen jährlichen Urlaub von 3-8 Tagen unter voller Lohnzahlung, ja, einzelne kleinere Gewerbetreibende und Gruppen von solchen in Bayern haben Tarifverträge bewilligt, in denen von den Gewerkschaften die Urlaubsbewilligung unter Lohnfortzahlung aus­ drücklich festgesetzt ist. Im allgemeinen aber sind solche Verträge abgelehnt worden. Bei einigen Firmen erhalten die Arbeiter dann einen jährlichen Ur­ laub von 1-2 Wochen unter Gewährung eines Lohnpausehals, wenn sie 25 Jahre im Betriebe tätig gewesen sind. Eine Firma (Hanfspinnerei3 Feiten und Guilleaume - Köln a/Rh.) gewährt ihren sämtlichen Arbeitern einen regelmä­ ßigen Urlaub unter Fortzahlung des Lohnes in der Weise, daß sie ihnen den Sonnabend Nachmittag vor Pfingsten und den ganzen Dienstag nach Pfingsten

3 Richtige Firmenbezeichnung: Hanfseilerei. 1911 Januar 28 77 frei gibt. Außerdem bekommen ihre Meister, welche 25 Jahre im Dienst sind, jährlich eine Woche Urlaub. überhaupt sind Urlaubseinrichtungen für Mei­ ster, Vorarbeiter und die ältesten Arbeiter bei dem überwiegenden Teil der eingegangenen Antworten festzustellen. Was die einzelnen Branchen anbetrifft, so sind es vornehmlich Papierfabri­ ken, welche das Institut der Urlaubsbewilligung am weitesten ausgebaut ha­ ben. Aber es finden sich auch zahlreiche Anhänger in der Textilindustrie, die sonst überwiegend einen gegnerischen Standpunkt einnimmt. Auch Eisen­ und Stahlwerke, Walzwerke, Schiffswerftenund Maschinenfabrikenstellen ein erhebliches Kontingent, und sehr zahlreich sind die chemischen Fabriken mit Urlaubseinrichtungen vertreten. Beispielsweise teilt der Verein chemischer Fabriken in Mannheim mit, daß die ihm angehörenden Werke Arbeitern, die dauernd Tag- und Nachtschicht zu verrichten haben, einen jährlichen Erho­ lungsurlaub von einer Woche gewähren,und zwar: bei mindestens lOjährigerDienstzeit unter voller Lohnzahlung bei mindestens5jähriger Dienstzeit unter Zahlungvon 2(3 bei mindestens 3jähriger Dienstzeit unterZahlung von 1(3des Lohnes. Ein Mitglied, Besitzer einer großen Druckerei und Verlagsanstalt, bittet seinen Namen nicht öffentlich zu nennen (Reissmann-Grone, Essen-Ruhr) und teilt mit, daß er mehr als der Hälfteseiner Arbeiter, aber nur den bewähr­ ten, tüchtigen Leuten jährlich 3-6 Tage Urlaub unter Weiterzahlung des Loh­ nes gibt, weil er keine Angehörigen des Buchdruckerverbandes habe und zei­ gen wolle, daß er tue, was er könne. Auch wolle er schon jetzt dem kommen­ den Tarif (1912) und dem Buchdrucker-Verband den Wind aus den Segeln nehmen; es soll nicht aller Vorteil und aller Fortschritt vom Tarif ausgehen. Gewährsmann weist ferner darauf hin, daß die Gewährung von Urlaub im Buchdrucker-Gewerbe stark verbreitet ist und vom Buchdrucker-Verband fortwährend gefordert werde. Für die nächste Tarif-Periode (Beginn 1912) werde der Verband amtlich Zwangsferien unter voller Lohnzahlung beantra­ gen und dabei auf England hinweisen. In England habe man aber Zwangs­ ferien unter Fortfall des Lohnes eingeführt, wozu sich die deutschen Buch­ druckereibesitzer sehr gern und leicht entschließen könnten. Man halte eine regelmäßige Urlaubsbewilligung im Buchdrucker-Gewerbe, wenn sie mit Lohnfortzahlung verbunden sei, ganz besonders deswegen für unbillig, weil der Buchdrucker-Tarif für jede Minute Überstundenarbeit die Bezahlung einer vollen halben Stunde vorsehe und überdies Überstunden mit 20, 50 und sogar 100 % Lohnaufschlag bezahlt werden müßten. Demgegenüber stellten die Ferien für kaufmännische und sonstige Angestellte nur eine gerechte Kompensation für die vielen kostenlosen Überstunden dar, welche die Saison erzwinge. 78 Nr.18

Eine andere Firma, Auskunftei Schimmelpfeng, die ihren im Akkordlohn arbeitenden Maschinenschreiberinnen, wie den kaufmännischen Angestellten, jährlich nach 2jähriger Dienstzeit 14 Tage Urlaub und 2,50 M. pro Tag ge­ währt, weist darauf hin, daß in ÖSterreich nach § 17 des Handlungsgehilfen­ Gesetzes vom 16.1.1910 für Handlungsgehilfen und andere Dienstnehmer in ähnlicher Stellung Urlaubszwang eingeführt sei, und zwar: vom 1. bis 5. Dienstjahr 10 Tage jährlich, vom 5. bis 15. Dienstjahr 2 Wochen jährlich, bei längerer Dienstdauer 3 Wochen jährlich. Endlich liegt ein erhebliches Mate­ rial aus den Jahresberichten der Gewerbeaufsichtsbeamten für das Jahr 1908 vor, woraus hervorgeht, daß in sämtlichen preußischen Regierungsbezirken ohne Ausnahme, ferner in den Kreishauptmannschaften Sachsens, in Württemberg und Baden eine mehr oder weniger große Anzahl von Fabrik­ betrieben festgestellt ist, in denen die Urlaubsgewährung unter Fortzahlung des Lohnes üblich ist. So wird in den meisten städtischen Betrieben Urlaub nach folgendenAbstufungen erteilt: Bei einer Dienstzeit von 5 Jahren 5 Tage jährlichen Urlaubs " 8 " 7 " " 15 " 10" " " " " 20" 14 " " " Im Landespolizeibezirk Berlin sind im Berichtsjahre gelegentlich der Revi­ sionen etwa 120 Betriebe festgestellt worden, wo Urlaubsbewilligungen zur Regel geworden sind. Das gilt insbesondere von sämtlichen Betrieben des Vereins der Brauereien Berlins und der Umgegend, in denen durch Tarifver­ trag mit dem Zentralverband deutscher Brauereiarbeiter für die Zeit vom 1. Januar 1907 bis 31. März 1910 auch die Urlaubsfrageeinheitlich geregelt wor­ den ist. Auch in anderen Betrieben der Nahrungsmittelindustrie erfreuen sich die Arbeiter dieser Einrichtung in weitem Maße. In denjenigen Landesbezir­ ken, in welchen selten Urlaub erteilt wird, handelt es sich vorzugsweise um katholische Arbeiter und hängt damit zusammen, daß hier die Fabrikation an den vielen Feiertagen fast sämtlich ruht und damit dem Erholungsbedürfnis der Arbeiter über das anderweitübliche Maß hinaus Rechnung getragen ist. Zu erwähnen sei noch, daß auch der preußische Staat im Betriebe der Eisenbahnen und in seinen Kohlenrevieren seit einigen Jahren mit der Ein­ führung regelmäßigen Jahresurlaubs unter Lohnbezugbegonnen hat. In Anbetracht dessen, daß die allermeisten Firmen, welche Urlaubseinrich­ tungen in irgend einer Form getroffen haben, diese von einem gewissen Dienstalter und guter Führung abhängig machen, und mit Rücksicht darauf, daß die bisherigen Erfahrungen fast ohne Ausnahme als gut bezeichnet wer­ den, scheint sich die Einführung eines regelmäßigen Jahresurlaubs unter Lohnfortzahlung als ein Mittel zu erweisen, die Seßhaftmachung der Arbeiter zu erleichtern, ihren häufigen Stellungswechsel zu beschränken und die 1911 Januar 30 79

Heranziehung eines Stammes von älteren bewährten Arbeitern zu ennögli­ chen. Bei zweckmäßigem Ausbau neben den sonstigen Wohlfahrtseinrichtun­ gen ließe sich hier vielleicht eine Maßnahme einführen, um letzten Endes die Streikbewegung einzudämmen und zuweilen wenigstens das allzu leichtsinnige Heraufbeschwöreneines Streiks zu verhindern.

Nr.19

1911 Januar 30

Bericht des Landrats in Dinslaken 1 an den Regierungspräsidenten in Düssel­ dorf2 Ausfertigung Eigenhändig!

[Vorbereitungen für den Fall von Arbeiterunruhen; Einsatz von Zechenweh­ ren)

Sämtliche Vorbereitungen für den Fall von Arbeiterunruhen, wie sie in der Besprechung vom 21.v.Mts. in Essen für erforderlich erachtet wurden3, sind für den Kreis Dinslaken getroffen. Die Übersichten und Karten der z.Zt. das sogenannte Streikgebiet bilden­ den Gemeinden Hamborn und Sterkrade werden in den Anlagen überreicht. Die Pläne über die Verteilung der auswärtigen Gendarmen sind aufgestellt, die Telegramme zu ihrer Einberufung vorbereitet, ihre Quartiere sicher­ gestellt; letzteres gilt insbesondere auch von den 49 Reservegendarmen, die Euer Hochwohlgeboren zunächst nach Hamborn zu entsendenbeabsichtigen. Die kommunalen Polizeiverwaltungen beabsichtigen nicht, sich bei auswär­ tigen kommunalen Polizeiverwaltungen weitere Polizeikräfte durch Abschluß von Verträgen zu sichern, da sie der Ansicht sind, daß die eigenen Polizei­ mannschaften in Verbindung mit den Gendannen ausreichen.Auch ich halte nicht für erwünscht, daß weitere kommunale Polizeikräfte, deren unbedingte Zuverlässigkeit nicht feststeht, zur Verwendung kommen. Sowohl die Hamborner Gewerkschaften (Deutscher Kaiser und Zeche Neumühl) als die Gutehoffnungshütte in Sterkrade haben die Gründung von

1 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Reg. Düsseldorf 15.965. Unterzeichnet von Dr. v. Wülftng, �ndrat in Dinslaken. Dr. HeinrichKruse, Regierungspräsidentin Düsseldorf.Vgl. Nr. 37, Nr. 45, Nr. 264. 3 Nicht abgedruckt. 80 Nr.19

Zechenwehren ins Auge gefaßt. Ich beabsichtige, diejenigen Mitglieder der Wehren, die sich in gehobener Stellung befinden, zu Hilfspolizeibeamten ein­ tretenden Falls zu bestätigen. Die Dienstanweisung der Schutzwehrist der von dem Landrat in Recklinghausen4 für die Zeche Osterfeld erlassenen nachge­ bildet. Als Waffen sollen die Wehren Gummiknüppel und Revolver bezw. Dreysepistolen erhalten, hingegen keine Seitengewehre. Sollte zu dieser Art der Bewaffnung eine besondere ministerielle Genehmigung, wie sie der Aus­ stattung von gewöhnlichen Schutzleuten mit Schußwaffen vorauszugehen hat, für erforderlich erachtet werden, so bitte ich dies herbeizuführen. M.E. dürfte die Ausstellung einfacher Waffenscheinegenügen. Die Polizeiverwaltung von Hamborn erbittet die Erlaubnis, 30 und die Poli­ zeiverwaltung von Sterkrade, 15 Polizeibeamte mit Karabinern ausrüsten zu dürfen. Ich befürworte diese Anträge und bitte die Überweisungder Karabiner auf Kosten der Gemeinden herbeiführenzu wollen. Die Polizeiverwaltung von Sterkrade beabsichtigt ferner, 4 Polizeibeamte (ehemalige Kavalleristen) für den Fall des Streikausbruches beritten zu ma­ chen. Die Ausrüstungsgegenstände für die Mannschaften sind bereits be­ scham, hingegen fehlendie Pferde. Der Bürgermeister bittet um die Entschei­ dung, ob er sich wegen leihweiser Überlassung von 6 Dienstpferden unmittel­ bar mit den in Wesel in Garnison stehenden Artillerieregimentern5 in Verbin­ dung setzen soll, oder ob diese Verhandlungen von Euerer Hochwohlgeboren geführtwerden. Ich halte den Antrag an sich für praktisch. Wegen der weiteren Maßnahme zur Verhütung von Störungen der öffent­ lichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung habe ich mit sämtlichen Polizeiverwal­ tungen auf einer Bürgermeistereikonferenzdas Erforderliche besprochen. Ins­ besondere sind auch sowohl von den Gewerkschaften6 als auch von den Poli­ zeiverwaltungenselbst Leuchtfackelnbeschafft worden.

4 Grafvon Merveldt. 5 Feldartillerie-Regimenter7 und 43. 6 Die als bergrechtliche Gewerkschaften konstituierten Zechen. 1911 Februar 1 81

Nr.20

1911 Februar 1

Gründungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Kaufmanns-Erholungs­ heime1

Privatdruck

[Anliegen und Vorgehensweise der Gesellschaft]

Die Deutsche Gesellschaft für Kaufmanns-Erholungsheime2 bezweckt durch die Errichtung und den Betrieb von Erholungsheimen in den verschie­ densten Gegenden des deutschen Reiches männlichen und weiblichen kauf­ männischen Angestellten und minderbemittelten selbständigen Kaufleuten, ohne Rücksicht auf das religiöse Bekenntnis, auf die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder zu irgend einer Vereinigung, für geringes, den Ver­ brauch zu Hause nicht nennenswert übersteigendes Entgelt, den Aufenthaltin einem Erholungsheim zu ermöglichen. Sie beabsichtigt, zunächst 20 Heime, teils an der See (Nord- und Ostsee), teils im Mittelgebirge (Harz, Thüringerwald, Riesengebirge, sächsisches Erz­ gebirge, Odenwald, Taunus, Vogesen, Schwarzwald usw.), teils im Hochge­ birge (Oberbayern) und an sonstigen klimatisch und landschaftlich bevorzug­ ten Orten zu errichten. Hierfür sollen Mk. 2 700000.- durch Ausgabe von 4 %igen verlosbaren An­ teilscheinen (Schuldverschreibungen) aufgebracht werden. (Näheres über Voranschlag und Berechnung siehe Seite 15 und 16 der Schrift: "Ein soziales Problem des Kaufmannsstandes"von Joseph Baum, Wiesbaden.)3 Für diese 4 %igen Anteilscheine haftet das gesamte Vermögen der Gesell­ schafteinschließlich der Liegenschaften und Gebäude. Die Gebäude, die nur an erster Stelle hypothekarisch beliehen werden (zweite Hypotheken werden nicht aufgenommen), gewähren an sich schon eine wertvolle Sicherheit, da die Herstellung derartig erfolgt, daß sie jederzeit für öffentliche Zwecke vielerlei Art, als Krankenhäuserusw. aber auch fürpri­ vate Unternehmungen, als Sanatorien, Hotels usw. zu dienen vermögen. Bei der Auswahl der Plätze wird auf die eventuelle anderweitige Verwendungs­ möglichkeit besondere Rücksicht genommen.

1 Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, 5/23/17. 2 Vgl. Nr.44. 3 Nicht abgedruckt. 82 Nr.20

Für die Beurteilung des Wertes dieser Anstalten ist zu beachten, daß Grunderwerbskostenim Allgemeinen in Fortfallkommen, da die Anstalten in der Regel auf von Gemeinden usw. kostenfrei überlassenem Gelände erbaut werden sollen. Das Gelände, auf dem die Anstalten errichtet werden, wirdje­ doch Eigentum der Gesellschaft, die dadurch einen wesentlichen Zuwachs ihres Vermögens erhält. Die Anleihe wird innerhalb 50 Jahren durch jährlich mindestens 2 %ige Auslosung des ursprünglichen Anleihebetrages getilgt. Die erstmalige Ziehung findet am 1. Juli 1914 statt, die erstmalige Auszah­ lung erfolgtam 1. Oktober 1914. Die Gesellschaft behält sich vor, nach Maßgabe ihrer Mittel die Anteil­ scheine in schnellerem Zeitraum durch mehr als 2 %ige jährliche Auslosung zu tilgen. Seitens der Inhaber der Anteilscheine ist eine Kündigung ausge­ schlossen. Die Einzahlungdes gezeichneten Betrages hat binnen drei Monaten nach Aufforderung in bar an von der Gesellschaft bekannt zu gebender Stelle zu geschehen. Die Anteilscheine werden dem Zeichneralsdann sofortausgehändigt. Die Anteilscheine, welche über je Mk. 10 000.- (Lit. A), je Mk. 1 000.- (Lit. B) je Mk. 500.- (Lit. C), je Mk. 100.- (Lit. D), lauten, sind in sich mit fortlau­ fenden Nummern und Zinsbogen versehen und werden auf den Namen ausge­ stellt. Die Zinsscheine sind am 1. April und 1. Oktober eines jeden Jahres fällig. Die Zahlung erfolgt außer an der Kasse der Gesellschaft an noch bekannt zu gebenden Stellen in Frankfurta.M., Berlin, München, Köln und Hamburg. Die Nummern der zur Rückzahlung ausgelosten Schuldverschreibungen werden den Inhabern sofortnach Auslosung bekannt gegeben. Bei Überzeichnung des ausgelosten Betrages unterliegt die Zuteilung dem freien Ermessen der Gesellschaft. Die Zuteilung wirddem Zeichner schriftlich mitgeteilt. Die Zeichnersind an die Zeichnungbis Ende 1913 gebunden. 1911 Februar 4 83

Nr.21

1911 Februar 4

Deutsche Industrie-ZeitungNr. 5 Fortbildungsschulwesen und Industrie

[Erhebliche Belastung der Industrie durch die Erweiterung der Fortbildungs­ schulpflichtnach dem preußischen Gesetzentwurf)

Aus Westdeutschland wird uns geschrieben: Das in der Vorbereitung be­ griffene Gesetz über das Fortbildungsschulwesen bildet Gegenstand eingehen­ der Beratungen industrieller Kreise1. Es sieht bekanntlich die Verlängerung der Fortbildungsschulpflicht für die ungelernten, jugendlichen Arbeiter von zwei auf drei Jahre vor und begrenzt die Schlußzeit fürdie Unterrichtsstunden für diese mit 8 Uhr abends, legt den Arbeitgebern die Pflicht zur Zahlung eines Schulgeldes bis zu 10 Mk. für den Schüler und bis zu 30 Mk. für den Schüler der kaufmännischen Fortbildungsschule auf, sieht endlich die Ertei­ lung eines sechsstündigen Unterrichts für die Woche an die jugendlichen Arbeiter vor, wobei allerdings den Ortsbehörden mit Zustimmung des Bezirksausschussesgestattet ist, die Zahlder Schulstunden fürdie ungelernten Arbeiter, wie bisher, mit vier Stunden wöchentlich zu bemessen. Die Industrie erblickt nun in der Verlängerung der Fortbildungsschulpflicht für die unge­ lernten, jugendlichen Arbeiter eine erhebliche Erweiterung der mit dem Fort­ bildungsschulwesen für den Industriebetrieb ohnehin schon verknüpften Unzuträglichkeiten und eine über das Ziel hinausschießende Maßregel. Nach den mit dem Fortbildungsschulunterricht gemachten Erfahrungen, besuchen die ungelernten Arbeiter den Unterricht vielfach nur widerwillig. Solche wi­ derstrebenden Bestandteile erschweren selbstverständlich den Unterricht und üben auch auf die willigen Teilnehmer einen nachteiligen Einfluß aus. Eine Verlängerung der Unterrichtspflicht um ein weiteres Jahr, also bis zum 17., gegebenenfallssogar bis zum 18. Jahre, für diese jungen Leute,die ihren eige­ nen Erwerb haben, würde voraussichtlich lediglich weitere Mißstände in dem Fortbildungsschulwesen herbeiführen, zumal jetzt schon sozialdemokratische Einflüsse auf die Fortbildungsschüler, z.B. durch Verteilung von Flugblättern an diese beim Verlassen der Schulräume, auszuüben versucht werden. Außer­ dem trifft der gewerbegesetzliche Begriff des jugendlichen Arbeiters nur auf solche von 14-16 Jahren zu, bis wohin das Gesetz ihm besondere Fürsorge widmet. Für die großgewerbliche Tätigkeit ist eine Verlängerung der Schul-

1 Zum Gesetzentwurfvgl. Nr. 194. 84 Nr.21 pflicht für diese ungelernten Arbeiter aber nachteilig, weil ihr zeitweiliges Fehlen im Fabrikbetrieb Störungen verursacht, zumal dann, wenn sie, wie das vielfach der Fall ist, als Kolonnenarbeiter beschäftigt sind, wo kein Glied feh­ len darf zur Verrichtung der einer solchen Abteilung obliegenden Be­ triebsaufgaben. Hier im Westen kommt zu diesen Bedenken gegen die ge­ plante gesetzliche Neuerung hinzu, daß die Unterrichtsstunden um 8 Uhr abends schließen sollen, während sie bisher vielfach, so z.B. in Cöln, um 8½ Uhr geschlossen werden können. Die beteiligten industriellen Kreise streben daher eine Beibehaltung dieser Einrichtung an, die sie auch mit dem Unter­ schied in der täglichen Tageszeit2 begründen, der durch die mitteleuropäische Zeitgeschaffen worden ist, der es auch berechtigt, daß hier im Westen, wo die Arbeitszeit im allgemeinen eine halbe oder eine Stunde später beginnt, als in Mittel- und Norddeutschland, der abendliche Fortbildungsschulunterricht eine halbe Stunde später schließen darf. Was die angelernten, jugendlichen Arbeiter anbetrifft, fürdie ebenfallseine Pflichtfortbildungsschuledurch Orts­ statut seitens fast aller größeren Städte eingeführt ist, und die jetzt ohnehin schon einen dreijährigen Unterricht genießen, so wünscht man auch für diese die Beibehaltung des vierstündigen Unterrichts an den Wochentagen und des zweistündigen Zeichenunterrichts an den Sonntagen, damit die Schüler nicht länger, als durchaus für die Schulzwecke notwendig, dem Betrieb entzogen werden. Ganz allgemein wird der zweifellos berechtigte Wunsch ausgespro­ chen, daß die Fortbildungsschulen in der Nähe der Fabrikbetriebe errichtet oder, wie z.B. in Cöln, großenteils erhalten werden, weil dadurch die Schüler Zeit für den Schulweg ersparen, außerdem möglichst an Kneipenbesuch und dergleichen verhindert werden, der sich an den Fortbildungsschulunterricht besonders dort knüpfen kann, wo dieser in besonderen Gebäuden im Mittel­ punkt der Stadt erteilt wird. Aus allen diesen Gründen hegt man in den indu­ striellen Kreisen den lebhaften Wunsch, daß bei der gesetzlichen Neuordnung des Fortbildungsschulwesens die Industrie ausgiebiger gehört werde, insbe­ sondere auch bei der Regelung der Frage durch gemeindliche Anordnungen, bei welcher Festsetzungden beteiligten Arbeitgebern ein entsprechender Ein­ flußeingeräumt werden müßte.

2 Gemeint ist die 2.eit des''Tageslichts". 1911 Februar 4 85

Nr.22

1911 Februar 4

Schreiben des Vorsitzendender mitteldeutschen Gruppe im Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller an den Generalsekretär des Hauptvereins1 Ausfertigung

[Unterschiedliche Haltung der Arbeitgeber gegenüber dem Gesetzentwurf zur Angestelltenversicherung]

Nach Versendung der Einladung zu unserer für den 25. (Februar) anbe­ raumten Hauptversammlungmacht sich unter unseren Mitgliedern eine starke Divergenz über den "Entwurf eines Versicherungsgesetzesfür Angestellte"gel­ tend.2 Um das wiedererwachende Leben3 in unserer Gruppe nicht zu stören, gestatte ich mir daher die vertrauliche Anfrage, ob Sie sich vielleicht ent­ schließen könnten, über ein anderes Thema zu referieren. Jede andere, die Industrie interessierende Materie (ausgenommen die Reichsversicherungs­ ordnung), welche nicht den Anstoß zu unliebsamen Auseinandersetzungen zu geben geeignet ist, würde ich gern akzeptieren.

1 Bundesarchiv Koblenz, R 13 1/21. Henry Junk, Vorsitzender der mitteldeutschen Gruppe im Verein deutscher Eisen- und Stahl­ industrieller und Generaldirektor der SächsischenMaschinenfabrik Chemnitz. Henry Axel Bueck (1830-1916), 1894-1912 Geschäftsführer des Vereins deutscher Eisen- und �tahlindustrieller und Generalsekretärdes Centralverbandes Deutscher Industrieller. Bueck hatte am 27. Januar 1911 zugesagt, zu dem Thema ein Referat in der Hauptversammlung ju halten. Seit 1892 befand sich die Mitteldeutsche Gruppe in einer anhaltenden Krise, die sich in häufi­ gem Wechsel der Vorsitzenden, der Sekretäreund starkem Mitgliederrückgang äußerte. 86 Nr.23

Nr.23

1911 Februar 4

Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch­ lands Nr. 5 Zum Entwurfeines Versicherungsgesetzes für Angestellte 1.1

(Grundlegende Kritik des Gesetzentwurfs, insbesondere bezüglich des Miß­ verhältnisses zwischen Beiträgenund Leistungen)

Der am 16. Januar d. J. im "Reichsanzeiger" veröffentlichte Entwurf eines Versicherungsgesetzes für Angestellte kommt gerade noch so rechtzeitig vor den Reichstagsneuwahlen, daß es schwer fällt, darin nicht mehr als einen belanglosen Zufall zu erblicken.2 Seit 10 Jahren sind die Angestelltenkreise unausgesetzt bestrebt, eine gesetzliche Versicherung zu erhalten, und seit 1904 hat sich auch der Reichstag dieser Wünsche angenommen. Aber immer wur­ den die Angestellten vertröstet. Die erste 1907 erschienene Regierungsdenk­ schrift hatte eine Pensionsversicherung nach Maßgabe der den Reichs- und Staatsbeamten zustehenden Leistungen im Auge und berechnete die dafür erforderlichen Beiträge auf 19 Proz. des Gehalts der Angestellten, - eine zweite Denkschriftvom Jahr 1908 erörterte die verschiedenen Möglichkeiten der Gestaltung von Pensionen und Hinterbliebenenbezügen bei einer Bei­ tragshöhe von 8 Proz. des Gehalts. Aber der Gesetzentwurfließ auf sich war­ ten und noch im Januar und Februar 1910 verlangte der Reichstag erneut eine baldige Vorlage, wobei einzelne Redner in nicht mißzuverstehender Weise andeuteten, daß eine Enttäuschung der Kreise der Privatangestellten viele der letzteren in das sozialdemokratische Lagertreiben würde. Jetzt erst ist ein bezüglicher Gesetzentwurf fertiggestelltworden, aber er hat dem Bundesrat noch nicht vorgelegen und es dürfte bis zum April währen, ehe er an den Reichstag gelangt. Angesichts der Überlastung des Reichstages mit großen Gesetzentwürfen (Reichsversicherungsordnung, Arbeitskammergesetz, Hausarbeitsgesetz, Strafgesetznovelle, Wertzuwachssteuergesetz usw.) ist es natürlich völlig ausgeschlossen, diesen neuen Entwurf noch vor dem Reichs­ tagsschluß durchzuberaten, - es müßte denn sein, daß den Mehrheitsparteien so viel an der Erledigung gerade dieser Materie liegt, daß sie den Entwurf in wenigen Wochen durch alle Beratungen hindurchpeitschen, - das Verhängnis- l Vgl. Nr. 26. 2 Zur Kritik des Gesetzentwurfs vgl. Nr. 12, 33, 134. Die nächste Reichstagswahl fand am 12. Januar 1912 statt. 1911 Februar 4 87

vollste, was es für ein Versicherungsgesetz geben könnte, dasder sorgfältigsten kritischen Durcharbeitung bedarf. Unter diesen Verhältnissen kann man den Entwurf nicht höher als ein Schaugericht bewerten und der Regierung dürfte der Vorwurf kaum erspart bleiben, daß sie vielleicht gerade deshalbden Zeitpunktder Fertigstellung und Veröffentlichung so spät gewählt habe, um damit die Reichstagsneuwahlen wirksam beeinflussen zu können. Bei näherer Prüfung dürfte sich dieser Vor­ wurf aber als nicht ganz gerechtfertigt herausstellen, denn der Entwurf ist so schlecht geraten, daß er auf die Angestelltenkreise eher die gegenteilige Wir­ kung ausübt und deren Widerspruch geradezu herausfordert. In der Tat macht sich dieser Widerspruch bereits in einem Teil der Ange­ stelltenpresse in scharfer Weise geltend und selbst der Hauptausschuß zur Herbeiführung einer staatlichen Pensions- und Hinterbliebenenversicherung für die Privatangestellten ist nicht völlig mit dem Entwurf einverstanden, son­ dern hat bereits die Agitation für eine Reihe von Änderungen eingeleitet. Im allgemeinen dürfte der Entwurf in den Kreisender Angestellten mehr Enttäu­ schung als Befriedigung hervorrufen und wirkt diese Empfindung schon an sich mehr verstimmend als anfeuernd auf die Haltung dieser Kreise bei den kommenden Reichstagswahlen, so ist die Gefahr, dieses Monstrum könnte vielleicht doch noch vor den Neuwahlen Gesetz werden, noch mehr geeignet, die Angestellten kopfscheu zu machen. Herr v. Bethmann Hollweg3 war also wieder einmal herzlich schlecht beraten, als er diesen Entwurf so nahe vor den Wahlen veröffentlichte. Der Entwurf hat zunächst den großen Fehler, den Angestellten für ihr teu­ res Geld nichts Halbes und nichts Ganzes zu bieten. In Angestelltenkreisen sind bekanntlich zwei Richtungen vertreten; die einen verlangen eine Pen­ sionsversicherung, die sich den Ruhegehältern, Witwen- und Waisenpen­ sionen der Staats- und Gemeindebeamten nähert, auf der Basis einer besonde­ ren Standesversicherung, die die Angestellten von der Arbeiterversicherung isoliert - die anderen wollen einen Ausbau der Invalidenversicherung der Arbeiter durch Schaffung höherer Lohnklassen für Angestellte und Erweite­ rung der Versicherungsleistungen auf Hinterbliebenenfürsorge. Der neue Entwurf stellt sich zwar auf den Boden einer selbständigen Standesversiche­ rung, aber er ändert nichts an der Invalidenversicherungspflichtder Angestell­ ten bis zu 2000 Mk. Jahreseinkommen und schafft dadurch drei Klassen von versicherten Angestellten: 1. solche, die nur der Invalidenversicherung unter­ liegen, da die neue Versicherung nicht alle Angestelltenklassenumfaßt , 2. sol­ che, die nur der neuen Versicherung unterstellt werden, also bisher nicht invalidenversicherungspflichtig waren und es auch durch die Reichsversiche­ rungsordnung nicht werden, und 3. solche, die der Invalidenversicherung und

3 Theobaldv. Bethmann Hollweg, 1909-1917 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident. 88 Nr.23 der neuen Versicherung zugleich angehören müssen. Diese Unterscheidung hat schwere Nachteile für Angestellte, Arbeitgeber und für die Versicherung im Gefolge. Sie schafft zunächst einmal bevorrechtete und degradierte Ange­ stellte, je nachdem diese für würdig befunden sind, der gehobenen Versiche­ rung angehören zu dürfen,woraus eine Quelle tiefgehender Mißstimmung und Differenzen, sowie eine scharfe Agitation gegen solche soziale Ungerechtig­ keit entspringen muß. Den nur invalidenversicherungspflichtigenAngestellten versagt der Entwurf die Vorteile der neuen Versicherung, den Nur­ Standesversicherten bleibt der Reichszuschuß versagt, der den Invalidenver­ sicherten von Gesetzes wegen zusteht. Den Doppelversicherten und ihren Arbeitgebern dagegen werden doppelte Beitragslasten aufgebürdet. Dazu kommt die Schaffung eines neuen komplizierten Verwaltungsapparats, dessen Kosten die neue Versicherung belasten und der zu zahlreichen Kompetenz­ schwierigkeiten führen muß, unter denen wieder in erster Linie die versicher­ ten Angestelltenzu leiden haben werden. Und warum vertritt die Regierung diesen seltsamen Standpunkt, das Werk der Arbeiterversicherung von neuem zu zersplittern? Sie will der Masse der Arbeiter die Vorteile vorenthalten, die sie den Angestellten aus politischen Motiven gewähren will. Die Angestellten sollen Invalidenpension erhalten schon, wenn sie nur berufsinvalid sind, während für die Arbeiter Erwerbsinva­ lidität vorausgesetzt wird. Die Angestellten brauchen nur auf die Hälfte ihrer bisherigen Erwerbsfähigkeit zurückgekommen zu sein, die Arbeiter müssen auf ein Drittel derselben gesunken sein. Die Angestellten sollen bereits vom 65. Lebensjahrab Altersrente (Ruhegehalt) bekommen, die Arbeiter müssen bis zum 70. Jahre warten, das natürlich eher 10 Angestellte als ein Arbeiter erreichen. Die Witwen der Angestellten sollen ohne weiteres Witwenrente erhalten, bei den Arbeitern ist eine solche nur für invalide Witwen in Aussicht gestellt, damit ihre Arbeitskraft der Nation nicht vorenthalten bleibt. Um also jede Reform der Leistungen der Invalidenversicherung zu erschweren, sollen die Ansprüche der Angestelltenim Wege der Sonderorganisation verwirklicht werden. Außerdem will die Regierung sich dadurch vor der Möglichkeit eines Anwachsens des Reichszuschusses schützen, der zur Invalidenversicherung beigesteuert wird. Für die Angestellten will das Reich keine Opfer bringen, diese sollen ihre Versicherungsansprüche aus eigenen Beiträgen und aus sol­ chen der Arbeitgeber decken. Daß unter solchen Voraussetzungen mit enorm hohen Beiträgen und bei den weitgehenden Ansprüchen mit niedrigen Pen­ sionssätzen gerechnet werden muß, versteht sich am Rande, und diese Gestal­ tung des Entwurfs ist es vor allem, die in Angestelltenkreisen das Gefühl der Unzufriedenheit ausgelöst hat. Der Entwurferstreckt die Versicherungspflichtauf 1. Angestellte in leitender Stellung, 191 l Februar 4 89

2. Betriebsbeamte, Werkmeister und andere Angestellte in einer ähnlich gehobenen oder höheren Stellung, ohne Rücksicht auf ihre Vorbildung, sämt­ lich, wenn diese Beschäftigungihren Hauptberuf bildet, 3. Handlungsgehilfen und -lehrlinge, Gehilfen und Lehrlingein Apotheken, 4. Bühnen- oder Orchestermitglieder ohne Rücksicht auf den Kunstwert ihrer Leistungen, 5. Lehrerund Erzieher, 6. aus der Schiffsbesatzung deutscher Seefahrzeuge und aus der Besatzung von Fahrzeugen der Binnenschiffahrt Kapitäne, Offiziere des Decks und Maschinendienstes, Verwalter und Verwaltungsassistenten sowie die in einer ähnlich gehobenen oder höheren Stellung befindlichen Angestellten, ohne Rücksicht auf ihre Vorbildung, sämtlich, wenn diese Beschäftigung ihren Hauptberuf bildet, sofern das Jahreseinkommen dieser Kategorien 5000 Mk. nicht übersteigt und diese Personen nicht bereits berufsunfähig oder über 60 Jahre alt sind. Versicherungsfrei sind die in Reichs-, Staats-, Gemeindeämtern oder -betrie­ ben, sowie von Trägern der reichsgesetzlichen Kranken-, Unfall- oder Invali­ denversicherung Beschäftigten, wenn ihnen Anwartschaftauf Ruhegehalt und Hinterbliebenenrenten im Mindestbetrageder Bezüge dieses Gesetzeszusteht. Die freiwillige Weiterversicherung wird nur solchen Personen gestattet, die bereits 60 Monatsbeiträge geleistet haben und aus der versicherungspflichti­ gen Beschäftigung ausscheiden. Bei 120 gezahlten Monatsbeiträgen kann der Ausscheidende sich die erworbenen Anrechte durch Zahlung einer Anerken­ nungsgebühr erhalten. Ein freiwilliger Eintritt in die Versicherung wird nicht gestattet. Die Versicherung gewährt: 1. Ruhegeld bei Eintritt der Berufsunfähigkeit oder nach Vollendung des 65. Lebensjahres, sofern 120 Monatsbeiträge geleistet sind und die Anwartschaft aufrechterhaltenwird; 2. Hinterbliebenenrenten fürWitwen (Witwer) und Waisen nach dem Tode des Versicherten, fürWaisen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr; 3. Heilbehandlung in Krankheitsfällen zwecks Verhütung der Berufsinvali­ dität. Eine Beitragserstattung beim Ausscheiden aus der Versicherung ist nur beim Todesfall weiblicher Versicherter vorgesehen. In diesem Fall, wenn die Gewährung von Ruhegeld nicht in Frage kommt, wird die Hälfte der für die Versicherte geleisteten Beiträge zurückgezahlt. Weibliche Versicherte, die nach Erlangung der Anwartschaft ausscheiden, können ihre erworbenen An­ sprüche sich entweder durch Anerkennungsgebührerhalten oderin eine Leib­ rente umwandeln lassen. Witwerrente erhält nach dem Tode einer weiblichen Versicherten der Ehemann nur, wenn er erwerbsunfähig ist, Waisenrente 90 Nr.23

erhalten nur die ehelichen Kinder eines männlichen Versicherten, aber bei weiblichen Versicherten auch die unehelichen. Die Wartezeit für Ruhegeld beträgt für männliche Versicherte 120, für weibliche 60 Beitragsmonate, für Hinterbliebenenrente in jedem Falle 120 Beitragsmonate. Für die Beitragsbemessung sind folgende 9 Gehalts- und Beitragsklassen vorgesehen:

Monats- Jahres- Klasse Jahresarbeitsverdienst beitrag beitrag Mk. Mk.

A bis zu Mk. 550 1,60 19,20 B über Mk. 550 ••• 850 3,20 38,40 C • • 850 • • • 1150 4,80 57,60 D • • 1150 • • • 1500 6,80 81,60 E • • 1500 • • • 2000 9,60 115,20 F • • 2000 ••• 2500 13,20 158,40 G • • 2500 • • • 3000 16,60 199,20 H • • 3000 ft ft ft 4000 20,00 240,00 J ft ft 4000 ft ft ft 5000 26,60 319,20

Die Angestellten in den Klassen A bis E sind in der Regel zugleich invali­ denversicherungspflichtig. Die geleisteten Beiträge betragen also während der zehnjährigen Wartefrist in den LohnklassenAb is E neben den Invalidenversi­ cherungsbeiträgen 192 bis 1152 Mk., in den Lohnklassen F bis J 1948 bis 3192 Mk. Für diese Beiträge leistet die Versicherung an Ruhegehalt für männliche Versicherte eine Rente in Höhe eines Viertels des Wertes der ersten 120 geleisteten Monatsbeiträge und eines Achtels der übrigen geleisteten Monats­ beiträge, - fürweibliche Versicherte in Höhe eines Viertels der ersten 60gelei­ steten Monatsbeiträge und eines Achtels der übrigen Monatsbeiträge, - an Hinterbliebenenrenten für Witwen zweiFünftel, für Waisen je ein Fünf­ tel, Doppelwaisen ein Drittel des Ruhegehalts, zusammen aber nur bis zur Gesamthöhe des Ruhegehalts. Nach diesen Sätzen würden die Ruhegehälter, Witwen- und Waisenpensio­ nen in den 9 Lohnklassen betragen: 1911 Februar 4 91

Renten in Mark Lohn- Ruhegehalt Witwenrente Waisenrente klasse nach Ablauf von Jahren 10 25 50 10 25 50 10 25 50 A 48 84,00 144 19,2 33,6 57,6 3,84 6,72 11,52 B 96 168,0 288 38,4 67,2 115,2 7,68 13,44 23,04 C 144 252,0 432 57,6 100,8 172,8 11,52 20,16 34,52 D 204 357,0 612 81,6 142,8 244,8 16,32 28,56 48,96 E 288 504,0 864 115,2 201,6 345,6 23,04 40,32 69,12 F 396 693,0 1188 158,4 277,2 475,2 31,68 55,44 95,04 G 498 871,5 1494 199,2 348,6 597,6 39,84 69,72 119,52 H 600 1050,0 1800 240,0 420,0 720,0 48,00 84,00 144,00 J 798 1396,5 2394 319,2 558,6 957,6 63,84 111,72 191,52

Wer hiernach in der höchsten Gehaltsklasse 50 Jahre lang gesteuert und an Beiträgen 15 960 Mk. eingezahlt hat, die unterdes durch Zinzeszins auf mehr als das Doppelte angewachsen sind, etwa auf 32 000 Mk., der erhält von die­ sem angesammelten Prämien- und Zinsesfonds jährlich nicht ganz 2400 Mk. Ruhegehalt. Er könnte, wenn er dieses Kapital auf einer Sparkasse oder in 5prozentigen Werten anlegte, etwa 17 ½ Jahre lang den gleichen Betrag abhe­ ben, ehe Kapital und Zinsen erschöpft wären. Da indes die wenigsten Ange­ stellten 82 Jahre alt werden und auch ihre Witwen in diesem Alter selten so lange im Rentengenuß bleiben dürften,auch unterstützungsbedürftige Waisen bei Altersrentnern höchst selten in Frage kommen, so stellen sich die gewähr­ ten Pensionen als eine recht zweifelhafte Versorgung der Angestellten dar. Aber diese Höchstgrenze des Ruhegehalts wird kaum jemals ein Angestellter erreichen, denn es setzt dies voraus, daß er vom 16. bis zum 66. Lebensjahre ununterbrochen in der höchsten Gehaltsklasse Beiträge geleistet hat, was in Wirklichkeitso gut wie ausgeschlossen ist. Der größte Teil der Angestellten gehört den Gehaltsklassen E, F und G an mit einem Einkommen von 1500 bis 3000 Mk. In diesen Klassen beträgt das Ruhegehalt nach 10 Jahren erst 288bis 498 Mk., nach 25 Jahren 504bis 871,50 Mk. und nach 50 Jahren 864 bis 1494 Mk. Eine ununterbrochene Beitragszeit von 50 Jahren dürfte wohl in der Praxis kaum jemals erreicht werden. In der Gehaltsklasse E käme zu diesem Ruhegehalt die reichsgesetzliche Invaliden­ bezw. Altersrente, die erstere aber nur bei Verlust von 2(3 der Erwerbsfähig­ keit, die letztere erst vom 70. Lebensjahre an. Die Witwenrenten in diesen Klassen E bis G schwanken nach 10 Beitragsjahren zwischen 115,20 und 199,20 Mk. pro Jahr, nach 25 Beitragsjahren zwischen 201,60 und 348, 60 Mk. 92 Nr.23 pro Jahr, die Waisenrenten nach 10 Beitragsjahren zwischen 23,04 Mk. und 39,84 Mk., nach 25 Jahren zwischen 40,32 Mk. und 69, 72 Mk. pro Kind. Das sind sicherlich Sätze, die die Angestelltenstark enttäuschen müssen, wenn sie der hohen Beiträge gedenken, die ihnen dafür abgenommen werden. Ein Angestellter der Lohnklasse E i.ahlt neben den Beiträgen zur Reichs­ invalidenversicherung in zehn Jahren 576 Mk., in 25 Jahren 1440 Mk., ein Angestellterder Klasse F in dieser Zeit792 bis 1930 Mk., ein Versicherter der Klasse G 996 bis 2490 Mk. an Monatsbeiträgen aus eigener Tasche ein und ebensoviel i.ahltsein Arbeitgeber. Bei solchen Beiträgen hatten die Angestell­ ten sicherlich auf ganz andere Leistungen gehofft und die Enttäuschung, die ihnen der Regierungsentwurf bereitet, wird sicherlich andere Wirkungen aus­ lösen, als die Regierung erwartethatte. Zwei Umstände sind es, die dieses Mißverständnis zwischen Beiträgen und Leistungenerklären. Das ist einmal die Absicht der Regierung, den Versicher­ ten und Arbeitgebern die nicht unbedeutende Last des Verwaltungsapparates aufzubürden, der für diese Versicherung besonders geschaffen werden soll, und zweitens die Weigerung der Regierung, der Angestelltenversicherung in ähnlicher Weise wie der Invalidenversicherung einen Zuschuß von Reichs we­ gen zu gewähren. Das letztere hätte sich nicht umgehen lassen, wenn die Angestellten im Wege der Erweiterung der Invalidenversicherung versichert worden wären, und auch die Verwaltunghätte dann bedeutend verbilligt wer­ den können. Für diese Entwicklung der Dinge mögen sich die Angestellten bei ihren Freunden vom "Hauptausschuß" bedanken, der in schärfster Weise jede Angliederung an die Arbeiterversicherungablehnte. Über die Organisationsvorschläge für die neue Versicherung werden wir in einem weiteren Aufsatzberichten. 1911 Februar 6 93

Nr.24

1911 Februar 6

Eingabe des Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände an den Staatssekretär des Reichsjustizamtesl Ausfertigung

(Privatdruck: Auswüchse aus dem Koalitionsrecht und die Notwendigkeit ihrer Beseitigung durch neue gesetzliche Regelungen im Straf- und Strafprozeßrecht]

Die Auswüchse aus der durch den § 152 G.O. gewährleisteten Koalitions­ freiheit, d. h. dem Recht freier Verabredung und Vereinigung behufs Erlan­ gung günstigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen, haben für die Arbeitgeber­ schaft in Industrie und Handwerk sowohl als auch namentlich für die Unorganisierten in der Arbeitnehmerschaft eine Notlage geschaffen, welche im Interesse einer gedeihlichen Weiterentwicklung unseres wirtschaftlichen und sozialen Lebens dringend baldigste Abhilfe erfordert. Zwar bietet § 153 G.O. die Möglichkeit, gegen diejenigen strafrechtlich vorzugehen, welche andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverletzung oder durch Verrufserklärung zu bestimmen suchen, an den Koalitionen zur Erlangung günstigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen teilzunehmen. Diese Bestimmung reicht aber unter den gegenwärtigen Ver­ hältnissen nicht mehr aus, um die außerhalb der Koalition Stehenden vor dem von streikenden Arbeitsgenossen ausgeübten Zwange zu schützen, denn die Gewerkschaftenhaben inzwischen an Größe und Macht bedeutend zugenom­ men. Ihre ständig anwachsende Mitgliederzahl beläuft sich gegenwärtig schon auf rund 2,5 Millionen und umfaßt somit den vierten Teil aller deutschen Arbeiter. Bei den freien Gewerkschaften, welchebekanntlich in engstem Zusammen­ hang mit der sozialdemokratischen Partei stehen, befindetsich eine große An­ zahl von national gesinnten und fleißigenArbeitern, welche sich nur durch den Anschluß an die freien Gewerkschaften dem von ihnen ausgeübten Terroris­ mus entziehen zu können glauben. Es gilt nicht nur diese Elemente wieder zu gewinnen, sondern vor allem die noch außerhalb der Koalition stehenden Arbeiter zu schützen, damit sie nicht ebenfalls unter die Gewaltherrschaft

1 DeutschesZentralarchiv, Abt. Potsdam, Rep. 120 BB VI, Nr. 164,vol. 5. Unterzeichnet vom Generalsekretär Dr. Grabenstedt und dem stellvertretenden Vorsitzenden Menck. Hermann Lisco (1850-1923),1909-1917 Staatssekretär des Reichsjustiz.amtes. 94 Nr.24 einer politischen Partei fallen, die der bestehenden Ordnung feindlich gegen­ übersteht. Daß Gefahrim Verzuge ist, ist allen Eingeweihten zur Genüge bekannt. Mit dem Anwachsen der Arbeiterkoalitionen haben naturgemäß auch die Arbei­ terbewegungen an Umfang, Schärfe und Bedeutung zugenommen. Bei diesen Bewegungen handelte es sich indessen nicht nur um bloße Lohnfragen, son­ dern bei den meisten von ihnen um die Austragung von Machtfragen mit dem Ziele, die Organisation zu stärken und alles unter ihr Joch zu beugen. Daß sich während der Streikzeit und auch beim Nebeneinanderarbeiten im Betriebe täglich Hunderte von Fällen ereignen, bei welchen Arbeitswillige und Unorganisierte durch Angehörige der Gewerkschaften genötigt werden, ist für jeden, welcher dem Erwerbsleben nahesteht, eine bekannte Tatsache. Von ihnen gelangt jedoch nur ein geringer Bruchteil zur Aburteilung und damit zur Kenntnis der Öffentlichkeit. Die Gründe hierfür sind hauptsächlich darin zu suchen, daß die Arbeitswilligen aus Scheu vor den Repressalien der Gewerk­ schaften lieber alle Schikanen, Beschimpfungen und häufig auch tätliche Angriffe der Streikenden über sich ergehen lassen, als gegen die letzteren Strafantragwegen Nötigung zu stellen. Von den Waffen, welche den Gewerkschaften in ihrem Kampfe gegen das Unternehmertum und die Arbeitswilligen zur Verfügung stehen, ist die gefährlichste das Streikpostenstehen, welches nach der bestehenden Rechtsprechung als ein Ausfluß des Koalitionsrechtes angesehen wird. Das Aufstellen von Streikposten vor den Toren der Fabrik, an den Zugangsstraßen und auf den Bahnhöfenu.s.f. ist dazu geeignet, selbst in solchen Fällen, wo nur ein kleiner Teil der Belegschaft in den Ausstand getreten ist, den gesamten Betrieb stark zu beeinträchtigen und unter Umständen zum Stillstand zu brin­ gen. Diejenigen Arbeiter, welche sich den oft aus frivolen Gründen angezettel­ ten Streiks nicht anschließen möchten, es vielmehr vorziehen würden, in friedlicher Arbeit für den Unterhalt ihrer Familien zu sorgen, müssen sich Belästigungen von Streikposten gefallen lassen, die sie zunächst in ruhiger Weise darüber aufzuklären suchen, daß sie bis zur Beendigung des Streiks nicht zur Arbeit gehen dürfen; dann aber zeigen sich die in nächster Nähe auf­ haltenden Arbeitskollegen, welche nur den geeigneten Augenblick abwarten, um tätlich einzugreifen. Drohungen, Beschimpfungen aller Art und körperli­ cher Zwang sind hierbei an der Tagesordnung. Haben diese Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg, so wird zu schlimmeren gegriffen. In den sozial­ demokratischen Blättern werden die Namen und Wohnungen der Arbeitswil­ ligen zu dem Zweck bekanntgegeben, damit auf dieselben gleich morgens, wenn sie ihre Arbeitsstätte aufsuchen wollen, eingewirkt werden kann. Ihre Haus- und Wohnungseingänge werden mit Zetteln beklebt, auf denen sie mit großen Lettern als Streikbrecher und dergleichen bezeichnet werden. Die 1911 Februar 6 95

Angehörigen der Arbeitswilligen werden durch Drohungen eingeschüchtert und veranlaßt, ihre Ernährer von der Arbeit zurückzuhalten. Selbst Gewerbe­ treibenden wird mit Boykott gedroht, wenn sie an Arbeitswillige Lebensmittel usw. abgeben. Der Zuzug Arbeitswilliger von außerhalb wird durch die Streikposten auf den Bahnhöfen und auf den Zugangsstrecken zur Stadt ebenfalls zur Unmög­ lichkeit gemacht. In den meisten Fällen werden die Arbeitertransporte abge­ fangen und abgeschoben. Gelingt es aber dennoch, den mühselig und unter erheblichen Opfern beschafften Ersatz von Arbeitskräften in den Betrieb zu bringen, so muß denselben in der Fabrik Unterschlupf für die Nacht gewährt werden, damit sie nicht in die Hände der wütenden Menge geraten. Fast aus­ geschlossen aber ist es, diese Arbeitskräftelängere Zeitzu behalten, da sie sich vor den späteren Verfolgungender Gewerkschaftlerfürchten. Wir gestatten uns ergebenst, Ew. Exzellenz in der Anlage aus der Fülle un­ seres Materials eine Reihe von Fällen zur Kenntnis zu bringen, aus denen ersichtlich ist, mit welch beispiellosem Terrorismus die Gewerkschaften, ihre Mitglieder und die von ihnen aufgestellten Streikposten gegen die Arbeitswil­ ligen vorgehen. Durch die Duldung der Streikposten, gegen welche die Polizeibehörden gegenwärtig nur dann einschreiten können, wenn öffentliche Verkehrsinteres­ sen es erfordern, ist die Koalitionsfreiheit zum Koalitionszwang geworden. Denn jedem wird der Krieg erklärt, der sich nicht der Gewerkschaft oder ihrem Vorgehen anschließt. Deshalb kann das Streikpostenstehen nicht als ein Ausfluß, sondern als ein Mißbrauch des Koalitionsrechtesangesehen werden. Seine baldigste Beseitigung scheint um so dringender geboten, als den Ge­ werkschaftenandere Mittel, wie die Presse, Einberufung von Versammlungen, sowie schriftlicher Verkehr usw., zur Verfügung stehen, um ihre Mitglieder über bestehende Streiks aufzuklären. Durch eine solche Maßnahme würde also das Koalitionsrecht selbst nicht, sondern nur Auswüchse desselben besei­ tigt werden. Ferner hat sich mit Rücksicht auf den von den Gewerkschaften ausgeübten unerbittlichen Terrorismus die Notwendigkeit ergeben, eine empfindliche Lücke in den Bestimmungen über die Koalitionsfreiheit auszufüllen. Bisher war nur das Streikrecht geschützt. Jetzt gilt es, unter den veränderten Verhält­ nissen auch dem Recht auf ungehinderte Ausübung der Arbeit, wo solche vor­ handen ist, welches von den beiden unbedingt als das Höhere zu bewerten ist, einen ausreichenden Schutz zu gewähren. Dieses kann unseres Erachtens nur dadurch erreicht werden, daß höhere Strafen als bisher für diejenigen ange­ droht werden, welche sich Nötigungen Arbeitswilligen gegenüber zu Schulden kommen lassen. Lediglich schärfere Strafbestimmungen reichen jedoch noch nicht aus, um das erschütterte Vertrauen auf staatlichen Schutz bei den Arbei- 96 Nr.25 tern, welche sich dem Zwange der Gewerkschaften nicht fügen wollen, wieder zu befestigen. Vielmehr ist es noch erforderlich, daß die Vergehen sofort abgeurteilt werden, ehe die Beteiligten das Interesse an der Bestrafung der Schuldigen mehr oder minder verloren und sich bei ihnen die Einzelheiten der Vorgänge verwischt haben. Wir verweisen hierbei auf das von dem Herrn Reichskanzler unter Berufung auf den Herrn Grafen Posadowsky in der Reichstagsrede vom 10. Dezember 1910 (Sten. Ber. S. 3545) gefällte Urteil über den jetzigen Gang bei unserem Gerichtsverfahren. Hiernach entspricht "dasselbe nicht dem Rechtsbedürfnis des Volkes und verfehlt durch seine Weitläufigkeitund Langsamkeitden staatlichen Zweck." Die Möglichkeit, die von uns angeführten Auswüchse aus dem Koalitions­ recht zu beseitigen, scheint uns gekommen anläßlich der Neubearbeitung unseres Strafrechts. Demgemäß gestatten wir uns, Ew. Exzellenz die ganz ergebene Bitte zu unterbreiten, dahin wirken zu wollen, daß in die Strafgesetznovelle, oder aber in die Novelle der Strafprozeßord­ nung Bestimmungen aufgenommen werden, durch welche 1. das Streikpostenstehen allgemein untersagt, 2. den Arbeitswilligen ausreichender Schutz durch Androhung von hohen Strafen gewährleistet, 3. eine sofortige Aburteilung der Exzedenten herbeigeführt wird.

Nr.25

1911 Februar 11

Buchbinder-Zeitung Nr. 7 Arbeitslosenunterstützung und Arbeitsnachweis fürBerlin

[Verhandlung des Berliner Stadtverordneten-Kollegiums über die Einführung einer kommunalen Arbeitslosenversicherung]

Das Berliner Stadtverordnetenkollegium verhandelte vor einigen Tagen die Anträge des Genossen Dr. Arons, eine städtische Arbeitslosenunterstützung zu gewähren und einen städtischen Arbeitsnachweis zu errichten. Genosse Dupont wies darauf hin, daß die Lagedes Arbeitsmarktes immer noch Schwie­ rigkeiten zeige. Die Stadt Berlin dürfe sich nicht der Pflicht entziehen, die Arbeitslosen in irgendeiner Form zu unterstützen und die Not zu verhindern. Die Arbeitslosenfragewerde für das ganze Groß-Berlin gelöst werden müssen. 1911 Februar 11

Gen. Wurm forderte einen paritätischen Arbeitsnachweis, der unter Aufsicht der Stadt Berlin stehen soll. Die Arbeitsvermittlung müsse unentgeltlich erfol­ gen. Die Kosten der Errichtung, Unterhaltung und des Ausbaues des Arbeits­ nachweisessoll die Stadt Berlin tragen. Was die Stadt für einen guten Arbeits­ nachweis aufwende, erspare sie an Armenunterstützungen. Nach einer langen Debatte, in der Stadtrat Fischbeck meinte, die Erörterung solcher Fragen sei Aufgabe des deutschen Städtetages,wurden die Anträge der gemischten Depu­ tation überwiesen, die durch sechs Stadtverordnete und drei Magistratsmit­ glieder verstärkt wird.

Nr.26

1911 Februar 11

Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch­ lands Nr. 6 Zum Entwurf eines Versicherungsgesetzes fürAngestellte. II. (Schluß)1

[Kritik der Organisation und Verwaltungder Angestelltenversicherung, insbe­ sondere im Hinblick auf das Fehlen jeglicher Selbstverwaltung; Zurückwei­ sung einer "Standesversicherung" der Angestellten und Forderung nach Aus­ bau der allgemeinen Invalidenversicherung]

Wir haben schon in unserem vorhergehenden Artikel dargelegt, daß für die Versicherung der Angestellten eine vollständig neue Organisation geplant ist. Diese Organisation führt den Namen "Reichsversicherungsanstalt" mit dem Sitz in Berlin und ist weder beruflich noch territorial in Unterabteifungen gegliedert. Geleitet wird die Reichsversicherungsanstalt von einem aus Beam­ ten ernannten Direktorium, dem ein Verwaltungsrat zur Seite steht. Die Mit­ glieder und der Präsident des Direktoriums werden vom Kaiser ernannt, die übrigen Beamten vom Reichskanzler angestellt. Der Verwaltungsrat geht aus der Wahl von Versicherten und deren Arbeitgebern hervor. Der Wahlmodus ist der folgende: Die Versicherten und deren Arbeitgeber wählen in getrennter Wahl ihre Vertrauensmänner, die den Wahlkörper bilden fürdie Wahl des Verwaltungs­ rates, der Rentenausschüsse und der Beisitzer in den Schiedsinstanzen. Die Vertrauensmännerwahlen finden nach dem Verhältnissystem statt. Wahlfähig l Vgl. Nr. 23. 98 Nr.26 sind volljährige Versicherte beiderlei Geschlechts und deren Arbeitgeber, sofern sie Deutsche sind und nicht die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter infolge strafgerichtlicher Verurteilung verloren haben oder infolge gerichtlicher Anordnung in der Verfügung über ihr Vermögen beschränkt sind. Wählbar sind nur wahlfähigemännliche Versicherte bezw. deren Arbeit­ geber, die im gleichen Bezirk der unteren Verwaltungsbehörde wohnen. Die Wahl der Vertrauensmänner erfolgt auf 6 Jahre. Die Vertrauensmänner wählen aus ihrer Mitte den Verwaltungsrat, minde­ stens je 25 Vertreter der Versicherten und Arbeitgeber. Für die Wählbarkeit gelten die gleichen Vorschriften wie zur Wahl der Vertrauensmänner. Die Wahl erfolgt auf 6 Jahre und findet nach dem Verhältnissystem statt. Der Verwaltungsrat tagt unter dem Vorsitz des Präsidenten des Direktoriums. Er hat die Aufgabe, das Direktorium auf Erfordern gutachtlich zu beraten. Der Verwaltungsrat muß gutachtlich gehört werden über die Jahresrechnungen und Bilanzen, über die Aufstellungund Abänderung des Besoldungs- und Pen­ sionsetats, über die Besetzung erledigter Stellen im Direktorium mit Aus­ nahme derjenigen des Präsidenten sowie über den Erwerb oder die Ver­ äußerung von Grundstücken. Seine Funktionen sind also lediglich beratender Natur; nirgends steht ihm das Recht der Beschlußfassung, Mitentscheidung oder Mitverwaltungzu. Der Verwaltungsrat wählt aus seiner Mitte noch einen Verwaltungsaus­ schuß zur Beaufsichtigung der Verwaltung der Reichsversicherungsanstalt, bestehend aus je 2 Vertretern der Arbeitgeber und Versicherten. Diese Aus­ schußmitglieder können an allen Sitzungen des Direktoriums beratend teil­ nehmen und während der Geschäftszeit in Begleitung eines Mitglieds des Direktoriums von dem Geschäftsgang und den Büchern Kenntnis nehmen sowie Kassenrevisionen beiwohnen und über ihre Wirksamkeit dem Verwal­ tungsrat Bericht erstatten. Auch diesem Organ stehen also nur beratende und Kontrollfunktionen ohne irgendwelchen entscheidenden Einfluß zu. Die Berichte des Verwaltungsausschusses an den Verwaltungsrat sind nutzlose Zeitverschwendung, da der letztere in keiner Weise in den Gang der Verwal­ tung eingreifen darf. Die Selbstverwaltungder Mitglieder ist also völlig auf das tote Gleis geschoben. Nur auf dem Gebiete der Rentenfestsetzung ist den Versicherten und Arbeitgebernein gewisser Einfluß gesichert. Die Rentenfestsetzung erfolgt in erster Instanz durch Rentenausschüsse; rechtsprechende Organe sind die Schiedsgerichte und das Oberschiedsgericht. Bezirk und Sitz der Rentenaus­ schüsse werden von der Reichsversicherungsanstalt mit Zustimmung des Bun­ desrats bestimmt, Bezirk und Sitz der Schiedsgerichte durch kaiserliche Ver­ ordnung mit Zustimmung des Bundesrats; das Oberschiedsgericht hat seinen Sitz in Berlin. 1911 Februar 11 99

Der Rentenausschuß besteht aus dem ständigen Vorsitzenden und dessen Stellvertreter (beide vom Reichskanzler ernannt) und mindestens je 10 Beisit­ zern der Arbeitgeber und Versicherten. Diese Beisitzer werden von den Ver­ trauensmännern (Arbeitgebern und Versicherten) im Bezirk des Rentenaus­ schusses aus deren Mitte gewählt. Die Wahl findetnach dem Verhältnissystem auf die Dauer von 6 Jahren statt; wählbar sind nur Männer. Dem Rentenaus­ schuß werden die nötigen Hilfskräfte durch die Reichsversicherungsanstalt beigegeben, die auch die Kosten der Rentenausschüsse trägt. der Rentenaus­ schuß hat Ruhegeld, Renten und Abfindungen festzustellen und anzuweisen, Ruhegeld auf Einleitung des Heilverfahrens entgegenzunehmen und die Reichsversicherungsanstalt zu benachrichtigen, wenn ein Heilverfahren mit Aussicht auf Erfolg eingeleitet werden kann, sowie in Angelegenheiten der Angestelltenversicherung Auskunft zu erteilen. Gegen die Feststellung des Rentenausschusses ist die Berufung an das Schiedsgericht zulässig. Jedes Schiedsgericht besteht aus dem Vorsitzenden und dessen Stellvertreter sowie mindestens je 6 Beisitzern der Versicherten und Arbeitgeber. Die Beisitzer werden von den Vertrauensmännern aus ihrer Mitte gewählt. Für die Wahl gelten die gleichen Vorschriften wie für die der Rentenausschüsse. Gegen die Entscheidung des Schiedsgerichts findet nur noch die Revision beim Oberschiedsgericht statt. Das Oberschiedsgericht entscheidet endgültig. Die Zusammensetzung des Oberschiedsgerichts entspricht der der Schieds­ gerichte. Das Hilfspersonal der Schiedsgerichte wird durch die höhere Verwal­ tungsbehörde, in deren Bereich der Sitz des Schiedsgerichts gelegen ist, bestellt; das Personal des Oberschiedsgerichts bestimmt der Reichskanzler. Die Revision ist ausgeschlossen, wenn essich um Höhe, Beginn oder Ende von Ruhegeld oder Leibrente, um Hinterbliebenenrente, um Abfindung oder Bei­ tragserstattung oder um Kosten des Verfahrens handelt. Eine Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das angefochtene Urteil auf Nichtanwendung oder unrichtiger Anwendung des bestehenden Rechts oder auf einem Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten beruhe oder daß das Verfahrenan wesent­ lichen Mängeln leide. Der Aufbau der Organisation der geplanten Versicherung ist danach völlig bureaukratisch. Die Leitung der Verwaltung, die Anstellung, Besoldung und Pensionierung des Beamtenpersonals, die Beschaffung der Lokalitäten, die Anlage des Vermögens - das alles ist dem Einfluß der Mitglieder wirksam ent­ zogen. Der Aufbau der Invalidenversicherung ist demgegenüber ein Muster von Selbstverwaltung, denn hier sind die Versicherten wenigstens noch im Vorstand der Landesversicherungsanstalt vertreten und haben ein gewisses Mitentscheidungsrecht. Das Verrückteste aber, was je den Versicherten zuge­ mutet wurde, ist, daß diese durch die "Reichsversicherungsanstalt" die gesam- 100 Nr.26 ten Verwaltungskosten zu tragen haben. Die Reichsversicherungsanstalt trägt die Kosten des Direktoriums und seiner Hilfskräfte(§ 105), die Kosten der Rentenausschüsse und ihres Beamtenapparats (§ 145); sie erstattet den Bundesstaaten die sämtlichen vorgeschossenen Kosten der Schiedsgerichte (§ 172) und der Reichshauptkasse die des Oberschiedsgerichts(§ 173). Und alle die Versicherten und Arbeitgeber, die aus ihren Beiträgen allein diesen neuen kostspieligen Verwaltungsorganismuserhalten müssen, haben kein Atom von Selbstverwaltungsrecht,sind samt und sonders diesem Beamtenapparat ausge­ liefert. Woher nimmt sich die Reichsregierung die Legitimationzu solch uner­ hörter Entrechtung? Sie zahltkeinen Pfennig Beitrag zu den Renten und Lei­ stungen der neuen Versicherung, sie trägt nichts zu den Verwaltungskosten bei. Trotzdem maßt sie sich das Recht an, allein die Hand auf den Hebel dieses Verwaltungsapparates zu legen. Wenn sich die Masse der Angestellten diese Entrechtung gefallen läßt, wenn sie nicht alles aufbietet, um diese Anmaßung der Bureaukratie gebührend zurückzuweisen, - dann hat sie dieses Schicksal verdient! Sie wäre es wert, mit Fußtritten regaliert zu werden, wenn sie sich nicht zum Protest erhöbe. Die Verantwortung fürdieses Attentat auf die Rechte der Angestellten trägt nicht bloß die Reichsregierung als Macher des Entwurfs, sondern zu einem guten Teile auch der "Hauptausschuß zur Herbeiführung einer staatlichen Pensions- und Hinterbliebenenversicherung für die Privatangestellten", der anscheinend aus der Besorgnis heraus, daß früher oder später der freige­ sinntere Teil der Angestelltenschaft das Übergewicht gewinnen könnte, der Verbureaukratisierung der neuen Versicherung zugestimmt hat. Die Siebe­ nerkommission dieses Ausschusseshat im Beisein von zwei Oberregierungsrä­ ten vom Reichsamt des Innern zu dem neuen Entwurf Stellung genommen. In ihren Beschlüssen, die zwölf Punkte umfassen, spricht sich die Kommission hinsichtlich der Verwaltungnur dafüraus, daß der Verwaltungsrat auf Verlan­ gen des Verwaltungsausschusses einberufen werden muß, und daß für die Vermögensanlage der Reichsversicherungsanstalt die Zustimmung des Ver­ waltungsausschusseserforderlich sei. Das ist alles,was der "Hauptausschuß" an dem organisatorischen Aufbauder Versicherung nach dem Entwurf auszuset­ zen hat. Mehr Mitentscheidung, mehr Selbstverwaltung hält er für die Ange­ stelltenschaft entweder nicht nötig oder gar von Übel, insbesondere keinerlei Entscheidung bei Beamtenanstellung und deren Besoldungsgrundsätzen. So opfert dieser Hauptausschuß die Interessen der Angestelltenschaft der Bureaukratie! Dem Militäranwärtertum, das sich die Arbeiterklasse in der Arbeiterversicherung vom Leibe hält, werden die Schleusen der Angestellten­ versicherunggeöffnet,und in kürzester Frist wirddieses Element alles überflu­ tet haben, alle Kräfteder Selbstverwaltungverdrängend. 1911 Februar 11 101

Aber nicht genug damit, fordert die Siebenerkommission des "Hauptaus­ schusses" auch noch, daß die bestehenden Pensionskassen der Berufsverbände von der Reichsversicherungsanstalt übernommen werden sollen. B gehört schon der Wahnwitz der Standesversicherungsfreunde dazu, den Angestellten jede Art von Selbstversicherung unmöglich zu machen und ihnen damit auch die letzte Zuflucht der Selbstverwaltung zu rauben. Kostspieliger, unzuläng­ licher und unsympathischer dürfte kaum eine selbständige Pensionskasse arbeiten als die neue Zwangsversicherung nach dem Vorentwurf. Die Ange­ stelltenschaft wird hoffentlich nicht lange zögern, der Regierung und ihren Freunden aus dem Lager der Standesversicherung eine scharfe Absage zu erteilen. Der Vorentwurf besitzt auch für unsere Gewerkschaftskreise ein gewisses Interesse. Daß ein großer Teil der Mitglieder der Verbände der Handlungs­ gehilfen, Lagerhalter und Bureauangestellten von dem neuen Versicherungs­ zwange betroffen werden, liegt ohne weiteres auf der Hand. Diese Berufs­ zweigehaben in erster Linie allen Anlaß, zu dem Vorentwurf Stellung zu neh­ men. Aber auch die Gewerkschaftsangestellten bleiben davon nicht völlig unberührt. Außer Zweifel steht, daß sämtliche in der Gewerkschaftspresse tätigen Redakteure und Schriftsteller, Berichterstatter und Journalisten versi­ cherungspflichtig sein sollen. Auch die "Angestellten in leitender Stellung" sollen nach § 1, Ziffer 1, dem Versicherungszwang unterstehen. Hinsichtlich der übrigen Gewerkschaftsangestellten bestehen Zweifel, die durch die Begründung des Entwurfs nicht geklärt werden, da als übrige versicherungs­ pflichtige Kategorien nur Angestelltengruppen in Gewerbeberufen, Hofdien­ sten, Kirchen- und Anstaltsdiensten, Gewerbe- und Fachschulen, Erziehungs­ anstalten, Bibliotheken und Sammlungen, Gesundheitspflege und Kranken­ dienst, ferner Stenographen, Privatsekretäre, Übersetzer, Dolmetscher, Rechnungsführer, Schreiber und die mit Musik, beim Theater und bei Schau­ stellungen beschäftigten Personen aufgezählt werden. Aber die Gefahr, dem Versicherungszwang unterstellt zu werden und dadurch zu Beiträgen für den neuen kostspieligen Apparat herangezogen, an den unzulänglichen Leistungen dieses Gesetzes interessiert zu werden, besteht auch für die Masse der Gewerkschaftsangestellten und natürlich nicht minder für die Parteiangestell­ ten sowie fürdie Gewerkschaftenund Partei als deren Arbeitgeber. Die Tatsa­ che, daß diese Kreise sich seit langem eine eigene Unterstützungskasse geschaffen haben, die bei erheblich niedrigeren Beiträgen teilweise bedeutend höhere Unterstützungen gewährt, begründet keinen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht. Im Gegenteil würde nach Lage der Sache für diese Angestelltenkreise, angesichts der unzulänglichen Leistungen der Ange­ stelltenversicherung die Doppelversicherung unter Aufrechterhaltung der Unterstützungsvereinigung nicht zu umgehen sein, was eine Mehrbelastung 102 Nr.26 mit doppelt- bis dreifach hohen Beiträgen einschließt. Wir wollen nicht unterlassen, die Gewerkschaftskreise rechtzeitig auf diese Konsequenzen der neuen Angestelltenversicherung hinzuweisen. Aufgabe der Gewerkschafts­ presse wird es nunmehr sein, möglichst uneingeschränkt und rückhaltlos zu diesem Vorentwurf Stellung zu nehmen. Für uns kann es diesem Monstrum gegenüber nur eine scharfe Zurückwei­ sung geben. Wir verwerfen jede Art von Standesversicherung und fordern demgegenüber einen Ausbau der allgemeinen Invalidenversicherung, die allen Arbeitnehmern bis zu 5000 Mk. Einkommen den Erwerb einer Invalidenrente bei Verlust der Hälfte der Erwerbsfähigkeit oder bei Überschreitung des 60. Lebensjahres und allen Witwen der Versicherten ohne Unterschied, ob erwerbsfähig oder nicht, eine auskömmliche Witwenrente, sowie den hinter­ bliebenen Waisen eine entsprechende Waisenrente sichert. Diese allgemeine Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung soll auf den Grundsätzen der Selbstverwaltung aufgebaut werden, weil nur eine Organisation, die von dem vollen Vertrauen der Versicherten und der beitragspflichtigenArbeitgeber ge­ tragen ist, entwickelungsfähigbleibt. Das Reich hat auch für die Versicherung der Angestellten Opfer zu bringen; dafür hat es den wohlbegründeten Anspruch, in den gerichtlichen Instanzen dieser Versicherung durch unpar­ teiische Richter vertreten zu sein. Eine Versicherung auf der Basis des Vorentwurfs muß zur Verkümmerung der Selbstverwaltung weiterer Bevölkerungskreise und zu Gegensätzen zwi­ schen Versicherung und Versicherten führen,wie sie sich leider zu einem Teil schon in der Unfall- und Invalidenversicherung zeigen. Das bureaukratische System kann nur solche Früchte zeitigen, lediglich die Erziehung des Volkes zur Selbstverwaltung bringt die Triebe der Solidarität und Opferwilligkeit, des Gemeinsinns zur vollen Reife. 1911 Februar 18 103

Nr.27

1911 Februar 18

Berliner Tageblatt und Handelszeitung Morgenausgabe Nr. 90 Der Entwurf eines Hausarbeitsgesetzes Lujo Brentanol

[Unzulänglichkeit des Regierungsentwurfs eines Hausarbeitsgesetzes vor allem wegen ungelöster Lohnfrage)

Die Heimarbeitsausstellungen von 1904 und 1906 haben entsetzliche Lohn­ verhältnisse gezeigt2• Stundenlöhne von 4 1/6 bis 10 Pfennig kommen vor. In der Weberei und Spulerei auf dem Lande Durchschnittsverdienste einer Familie von 5 bis 8 Mark die Woche; dabei Arbeitsdauer bis 14 Stunden täg­ lich und mehr, große Unregelmäßigkeit in der Beschäftigung, entsetzliche Wohnungszustände. Mitunter erhält der Arbeiter in der Fabrik für gleiche Leistung das Doppelte des Heimarbeiters. Begreiflich ist da die häufige Er­ gänzung der unzureichenden Löhne der Heimarbeiterinnen durch Prostitu­ tion. Begreiflich auch, daß die Räume, in denen die Produkte der Arbeiter gefertigt werden, mitunter Krankheitsherde sind, von denen aus mit den Pro­ dukten Krankheiten in die Kreise der Kunden getragen werden. Seit diese Mißstände zu allgemeiner Kenntnis gekommen sind, hat man sich mit der Frage, wie abzuhelfen, beschäftigt. einige haben die gänzliche Unter­ drückung der Heimarbeit verlangt; das scheint sehr einfach, wie aber durch­ führen? Und wohin mit den Tausenden von Existenzen, deren letzte Zuflucht die Heimarbeit ist? Statt dessen haben die Besonneneren unter denen, welche sich seit Jahren um das Studium der Hausarbeitsfrage und um Reformen zugunsten der Heimarbeiter bemüht haben, die Feststellung behördlicher Lohntarife gefordert; denn allenthalben haben sich die Heimarbeiter zu schwach gezeigt, durch Koalition Einfluß auf die Feststellung der Lohnsätze zu gewinnen. Nun hat die Regierung dem Reichstag den Entwurf eines Hausarbeitsgeset­ zes vorgelegt, über den eine Kommission schon am 29. November 1910 berich­ tet hat. Seitdem hat man nichts weiter über das Schicksal dieses Entwurfes ge­ hört. Und so dringlich die Erledigung eines wirksamen Hausarbeitsgesetzes sein würde, diesem Entwurfe wird kein Sozialreformer nachtrauern, wenn er niemals Gesetz wird. Er leidet wie so manche andere Maßnahme der deut-

1 Dr. Lujo Brentano (1844-1931), ord. Prof. für Nationalökonomie in München, führender �thedersozialist. Heimarbeitsausstellungen fanden vom 7. bis 9. März 1904 in Berlin und vom 17. Januar bis 25. Februar 1906in Berlin statt. Vgl. den Band "Das Jahr 1906", Nr. 65. 104 Nr.27 sehen Sozialpolitik daran, daß er die Frage nicht an dem Punkt, auf den es ankommt, anpackt und infolge davon durch ganz gute Bestimmungen von an sich geringerer Bedeutung die Lage derer, denen geholfen werden soll, noch erschwert. So enthält der Entwurf treffliche Bestimmungen über Beschaffenheit und Einrichtung der als Arbeitsräume benutzten Wohnungen zum Schutze von Leben und Gesundheit der Hausarbeiter und zur Beseitigung der der öffentli­ chen Gesundheit von der Hausarbeit drohenden Gefahren. Aber es ist, als ob sich der Gesetzgeber über die Hausarbeiter lustig machen wollte, wenn er ihnen die Aufwendungen für ihre Wohn- und Arbeitsräume zumutet, ohne ihnen die Mittel zu sichern, sie auch zu machen. In der Kommission wurde dies nachdrücklichst hervorgehoben, um die Einführung von Lohnämtern, bestehend aus einer gleichen Anzahl von Arbeitern und Arbeitgebern, zu begründen, welche rechtsverbindliche Mindestlöhne festsetzen sollten. In England - um von Australien zu schweigen - gibt es solche Lohnämter auf Grund eines Gesetzes von 1909, und sie sind dort schon mit gutem Erfolg wirksam geworden. Aber wo es sich darum handelt, Organisationen zu schaf­ fen, in denen Arbeiter und Arbeitgeber auf Grundlage von Gleichberechti­ gung die Löhnefestsetzen sollten, ist die deutsche Regierung plötzlich schüch­ tern geworden. Sie, welche auf ihre sozialpolitische Initiative sonst so stolz zu sein pflegt, erklärt, die englische Einrichtung sei noch nicht ausreichend erprobt. Es heiße dies, eine Verpflichtung des Staates anerkennen, die Löhne zu regeln. In Wirklichkeit dürfte der Grund ihrer ablehnenden Haltung sein, daß damit das von unseren industriellen Magnaten so lebhaft bekämpfte Prin­ zip der Regelung der Arbeitsbedingungen durch Vertreter beider Interessen­ tenparteien auf Grundlage ihrer Gleichberechtigung und zwar mit Hilfe von Organisationen der Arbeiter, ohne die es nicht gehen würde, anerkannt würde. Der Präzedenzfall würde gefährlich werden. Daher hat sich denn auch in der Kommission keine Mehrheit für die Errichtung von Lohnämterngefunden. Nun ist ja richtig, daß unsere Gesetzgebung im ganzen bisher daran festge­ halten hat, daß der Arbeitsvertrag zweierlei sei: ein Vertrag, vermöge dessen der Arbeitgeber, und zwar notwendig, eine Herrschaft über Leib, Leben, Gesundheit und das gesamte persönliche Dasein des Arbeiters erlangt, und ein Kaufvertrag über die Ware Arbeit. Bisher hat der Staat in das Arbeitsverhält­ nis nur eingegriffen, soweit der Arbeitsvertrag Herrschaftsvertrag ist; das geschah in der Arbeiterschutzgesetzgebung. Von jedwedem Eingriff in den Kaufvertrag über die Ware Arbeit hielt sich diese dagegen sorgfältigfern. Man hatte ja dem Arbeiter das Koalitionsrecht gegeben. Das sollte er gebrauchen, um seine Interessen beim Abschluß des Arbeitsvertrages zu wahren. Prinzi­ piell war das ganz richtig, wenn die Durchführung des Prinzips auch ein anderes Koalitionsrecht als das dermalen in Deutschland bestehende voraus- 1911 Februar 18 105

setzt. Aber selbst wenn wir ein wirkliches Koalitionsrecht hätten, handelt es sich bei den Heimarbeitern um Personen, die sich aus einer Anz.ahl der betrüblichsten Gründe seiner nicht zu bedienen vermögen. Eben deshalb ist ja der Begriff Heimarbeit synonym mit Elendsindustrie geworden. Hier handelt es sich um einen Ausnahmefall, der die bittersten Notstände zur Folge hat. Und da beruft sich die Regierung nun auf einmal auf theoretische Gesichts­ punkte und macht ein Prinzip, von dem sie bei Arbeitern, die es wirklich zu gebrauchen imstande sind, sonst regelmäßig nichts wissen will, das Recht der Arbeiterzur Selbsthilfe, geltend, um da, wo der Staat allein helfen kann, sein Eingreifenzu verweigern. Und wiewar's doch, als es sich um das Gesetz über den Absatz von Kalisalzengehandelt hat?3 Wenn die Freiheit der Festsetzung eines Preises für Arbeit ein unantastbares Prinzip ist, so sollte man meinen, die Freiheit, den Preis beliebig zu vereinbaren, gelte erst recht für die Käufer und Verkäufer von Kalisalzen. Aber in den§§ 20 bis 25 des Kaligesetzes hat man nichtsdestowenigereingehende Bestimmungen über die Preise getroffen, zu denen Kalisalzeim Inland und Ausland verkauf werden dürfen. Ist die Exi­ stenz von Tausenden unglücklicher deutscher Arbeiter von geringerem öffentlichen Interesse als die Dividenden der Kaliwerksbesitzer und der Preis, zu dem die deutschen LandwirteKalisalze beziehen? Indes die Abneigung gegen die Regelung des Arbeitsverhältnisses auf Grundlage der Vereinbarung der Arbeitsbedingungen mit Vertretern organi­ sierter Arbeiter tritt uns noch in weiteren Bestimmungen entgegen. Der Gesetzentwurf enthält, wie gesagt, eine Anz.ahl im einzelnen trefflicher Bestimmungen hygienischer Art und über die Dauer der Arbeitszeit. Die Schwierigkeit ist nur, ihre Durchführungzu sichern. Das einzige, wodurch sie erreicht werden kann, ist, wenn die Arbeiter, zu deren Gunsten sie erlassen sind, bei ihrer Durchführung mitwirken. Das kann nur geschehen, wenn man sie organisiert. Sie selbst vermögen sich ja nicht wirksam zu organisieren. Aber mit Hilfe der Register, in welche nach dem Gesetzentwurf die Heimarbeiter eingetragen werden müssen, ließen sich Zwangsorganisationen schaffen. Und so sehr man sonst gegen den Zwangsein mag, diese Abneigung kann jedenfalls nicht bei einer Regierung herrschen, die Zwangsinnungen ins Leben gerufen hat. Warum nicht statt dieser Gebilde von höchst zweifelhaftem Wert Zwangsorganisationen da, wo nur vermöge des Geistes, den sie ins Leben rufen, eine gegenseitige Kontrolle der meist nicht zusammenwohnenden Heimarbeiter zur Durchführung der in ihrem Interesse getroffenen Bestim­ mungen gesichert werden kann? Jedenfallsist ohne das Argusauge der Organi­ sierten an solche Durchführung nicht zu denken. Aber auf allen übrigen Gebieten haben wir heute Organisationen, eventuell von oben herab; nur bei

3 Gesetz über den Absatz von Kalisalzenvo m 25. Mai 1910 (RGBI. 1910, S. 775), mit dem das Zwangssyndikatfür Kalierrichtet wurde. 106 Nr.27 denen, die sie am nötigsten haben, den Arbeitern, will die Regierung nichts davon wissen. Statt dessen will der Gesetzentwurf die Hauseigentümer, die Gewerbetreibenden und die Gewerbeinspektoren fürdie Durchführungseiner Bestimmungen verantwortlich machen. Um davon abzusehen, daß die ersteren oft dem Bock gleichen dürften, der zum Gärtner gemacht ist, welch unmögliche Aufgabe wird damit der Gewer­ beinspektion zugemutet! Und dabei heißt es im § 16 Absatz 2: "Während der Nachtzeit darf eine Revision (seitens der Gewerbeinspektion) nur stattfinden, wenn Tatsachen den Verdacht begründen, daß gegen die in§§ 5, 6, 9 erlasse­ nen Bestimmungen verstoßen wird", ohne daß die Möglichkeiten, welche mit diesem Satze angedeutet sind, die Kommission veranlaßt haben, an dem Ein­ dringen der Gewerbeinspektoren in die Schlaf-, Wohn- und Kochzimmer der Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen überhaupt Anstoß zu nehmen! So wird der Gesetzentwurf, trotz aller guter Absichten seiner Urheber, falls er Gesetz werden sollte, den Heimarbeitern nichts nützen, wohl aber den Bit­ ternissen ihres Lebens neue hinzufügen. Die hygienischen Vorschriften des Entwurfs und seine Bestimmungen über die Wohnräume würden, wenn man auf ihrer Durchführungbestände, mit einem Verbot der Heimarbeit identisch sein, denn woher sollten die Heimarbeiter die dazu nötigen Mittel nehmen! Die Durchführung wäre eine grausame Mordpolitik. Und dies alles, weil die Regierung nicht den Mut findet, sich auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Der Kernpunkt der Hausarbeitsfrageist die Lohnfrage,und ohne Mithilfe von Organisationen läßt sie sich nicht lösen. Vor Regelung der Lohnfrageu nd vor Organisationen schreckt die Regierung zurück. Nur der Staatsmann aber kann sich Hoffnung auf Erfolg machen und beanspruchen, überhaupt als Staats­ mann zu gelten, der den Dingen, wie sie sind, ins Gesicht zu blicken den Mut hat und ihnen entsprechendeMaßnahmen trifft. 1911 Februar 25 107

Nr.28

1911 Februar 25

Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 8 Die öffentlichenLasten der Industrie Dr.J.

[Drohende sozialpolitische Überlastung der deutschen Industrie; Zurückwei­ sung der Thesen Herkners und Ballods, daß England höhere sozialpolitische Lastenzu tragen habe)

Während in letzter Zeit die Stimmen derjenigen immer zahlreicher gewor­ den sind, die auf die drohende Überlastung der deutschen Industrie durch steuerliche und soziale Abgaben warnend hingewiesen haben, hat die Frage jetzt auch in akademischen Kreisen stärkeres Interesse erweckt. Lebhaft sind die AusführungenProfessor Bernhards 1 besprochen, der in einem vor höheren Regierungsbeamtengehaltenen Vortrag mit Nachdruck betont hat, daß eines der gefährlichsten Dogmenunseres sozialen Zeitaltersdas von der unbegrenz­ ten Tragfähigkeit der deutschen Industriesei. Es hat nicht lange gedauert, so sind zweiseiner Fachgenossen auf dem Plan erschienen, die zu einem anderen Resultat gelangt sind; sie haben nämlich herausgefunden, daß von einer sol­ chen Überlastung nicht gesprochen werden könne und daß unser Hauptkon­ kurrent auf dem Weltmarkt, England, nicht geringere, sondern sogar noch höhere soziale Lasten zu tragen habe als Deutschland.2 Diese neue Weisheit zu verkünden, war den Professoren Ballod und Herkner vorbehalten geblie­ ben. Letzterer beschäftigt sich namentlich auch mit der viel besprochenen Schrift von Paul Steller, "Das Übermaß der öffentlichen Lasten der Industrie in Deutschland"3, die in weitesten Kreisen eine ganz besondere Beachtung gefunden hat. Herkner geht im Dezemberheft der Preußischen Jahrbücher4 davon aus, daß es unzulässig ist, Ausgaben so verschiedenen Wesens wie Steu­ ern, Beiträge für Handelskammern, Gewerbegerichte, Arbeiterversicherung, freiwillige Leistungen für wirtschaftliche Vereine und Wohlfahrtseinrichtun­ gen einheitlich zusammenzufassen. Dazu sei zunächst bemerkt, daß die Bei-

1 Professor Ludwig Bernhard (1875-1935), Autor des 1912 veröffentlichten Buches "Unerwünschte Folgender deutschen Sozialpolitik". 2 Vgl. hierzuNr. 424 und vgl. Nr. 9, Nr. 11. 3 Köln 1910. 4 Heinrich Herkner, Die öffentlichen Lasten der deutschen Industrie, in: PreußischeJahrbücher, 142. Bd., Berlin 1910, S. 539-543. Vgl. auch: Paul Steller, Erhöhung der Gestehungskosten der deutschen Industrie durch die sozia­ len Lasten. Eine Antwort an Herrn ProfessorDr. H. Herkner, Köln 1911. 108 Nr.28 träge für Handelskammern und Gewerbegerichte doch nur selten unter den öffentlichen Lasten hervorgehoben werden, da sie im Verhältnis zu den übri­ gen Ausgaben dieser Art nur eine höchst nebensächliche Rolle spielen und, wo es geschieht, nur der Vollständigkeit halber aufgezählt werden. Daß aber die Leistungen fürprivate wirtschaftliche Interessenvertretungen den sozialen Lasten zugerechnet werden, dürftekaum vorkommen, im allgemeinen werden sie wohl bei den Generalunkosten verrechnet werden. So hat denn auch Dr. Jüngst in seiner Untersuchung über "Die öffentlichen Lasten des Ruhrberg­ baues"5 eine Berücksichtigung dieser freiwilligen Beiträge ausdrücklich abge­ lehnt. Die Berechtigung der Aufzählung der Gemeindesteuern bestreitet Herkner damit, daß er auf die besonderen Vorteile hinweist, die der Industrie aus der Wirksamkeit der Gemeinden auf dem Gebiet des Schul-, Gesundheits­ und Verkehrswesens erwachsen. Das ist ein etwas merkwürdiger Gesichts­ punkt. Dann müßten wir ja auch die Staatssteuern aus der Rubrik der Lasten streichen, denn es ist doch unzweifelhaft,daß durch die Leistungende Staates teilweise doch ebenfalls die steuerlichen Aufwendungen aufgewogen werden, wenn auch oft nicht unmittelbar so leicht erkenntlich wie bei den Gemeinden. Es ist in dieser Beziehung nur an die Handels- und Verkehrspolitik de Staates zu denken. Die Beiträge aber für die Sozialversicherung, so behauptet Herkner weiter, werden von den Unternehmern meistens abgewälzt durch entsprechende Gestaltung der Preise. Die Wohlfahrts-Einrichtungen endlich, soweit sie übrigens als solche angesprochen werden könnten, brächten den Werken mehr Vorteile, als den Leistungen entsprächen. Auf diese Weise beweist Herkner, daß von einer Belastung der Industrie überhaupt nicht gesprochen werden könne; danach könnte man also höchstens von Vorteilen reden, denn diese seien oftgrößer als die Leistungen! Ein herrliches Beispiel, wie man aus schwarz weiß und aus weiß schwarz machen kann. Wenn bei der Gemeindebesteuerung allerdings mehr der Grundsatz von Leistung und Gegenleistung zur Geltung kommt, so kann doch ernstlich kaum bestritten werden, daß die kommunalen Einrichtungen im allgemeinen Interesse liegen; daß auch Einzelne zuweilen ein besonderes Interesse damit verknüpfen, ändert daran nur wenig. Jedenfalls sind diese Vorteile für Private nur in seltenen Fällen rechnerisch so erfaßbar, daß deren Aufwendungen als aufgewogen gelten können. In Industriegegenden ist das undenkbar, ist es doch z.B. im Ruhrrevier vorgekommen, daß die Zechen mehr bezahlen müssen, als der gesamte Steuerbedarf der Gemeinden ausmacht. Was ferner die Wohlfahrtseinrichtungen betrifft, so ist hier nicht der Ort, über den Wohlfahrtscharakter dieser Einrichtungen zu streiten. Selbstverständlich versprechen sich auch die Werke selbst einigen Nutzen aus ihnen. Daß aber die Hunderttausende und Millionen, die z.B. die Unternehmungen der

5 Nicht abgedruckt. 1911 Februar 25 109 rheinisch-westfälischen Industrie jährlich in ihre Pensions- und Hinter­ bliebenenkassen usw. 1.ahlen, hauptsächlich den Werken wieder zugute kommen sollen, ist eine völlig beweislose Behauptung, die außerhalb der kathedersozialistischen Kreise nur in der sozialdemokratisch-gewerkschaft­ lichen Presse zu finden ist. Es wäre interessant, zu wissen, wie Herlrner sich den Nutzen der Firma errechnet,die 1907/08 5 Mill. Mk., 1908ft)9 5,3 Mill. Mk., 1909/10 5,5 Mill. Mark für Wohlfahrtszwecke ausgegeben hat. Die Tatsache also, daß die Gemeindesteuern und die Aufwendungen für Wohlfahrtseinrichtungen die Bilanzen der gewerblichen Unternehmungen stark belasten, bleibt bestehen, auch wenn zu einem gewissen Teil für letztere einige Vorteiledaraus erwachsen. Ein weiterer Einwand Herkners richtet sich dagegen, daß nur immer von den Aktiengesellschaften gesprochen würde. Sie erführen in steuerlicher Hin­ sicht eine ungünstigere Behandlung als die anderen Unternehmungsformen. Indessen ist doch in den sozialen Leistungenkein Unterschied, und in diesen liegt das Schwergewicht. Außerdem ist zu bedenken, daß, wenn die Aktien­ gesellschaften auch nur ein Teil der gewerblichen Unternehmungen sind, in ihnen doch immer ein Kapitalvon über 13 Milliarden Mark investiert ist. Ihre Bedeutung kann also durch den obigen Hinweis nicht abgeschwächtwerden. Als drittes Moment wird geltend gemacht, daß man an der absoluten Steige­ rung der Arbeiterversicherungsbeiträgedeswegen keinen Anstoß nehmen darf, weil diese sich nach dem Lohnerichten, der infolge der teuren Lebenshaltung stark gestiegen sei. Nun ist die Entwicklungder zur Sozialversicherung ge1.ahl­ ten Beiträge, auf den Kopf der versicherten Arbeiter berechnet, folgende ge- wesen: Kranken- Unfall- Invaliden- Insgesamt versicherung versicherung versicherung 1888 M. 13.87 M. 2.63 M. -.- M. 16.50 1898 M. 17.06 M. 4.11 M. 9.41 M. 30.68 1908 M. 26.62 M. 7.67 M. 12.11 M. 46.40

Daraus ergibt sich, daß unter Berücksichtigung der Erweiterung des Kreises der Versicherten durch die Invaliden-Versicherung die Belastung auf den Kopf der Versicherten sich in 20 Jahren mehr als verdoppelt hat. Um 100 Pro­ zent sind aber die Löhne in Deutschland nicht gestiegen, sondern seit 1885 nach Berechnungen von Calwer6 nur um 36-37 Prozent. In den vorangegange­ nen sieben Jahren hat jedoch eine bedeutend geringere Lohnsteigerung statt­ gefunden, so daß doch mindestens ein Unterschied von 50 Prozent bleibt. Herkners Behauptung kann daher nicht als zutreffend anerkannt werden. Wir wollen aber noch einen Augenblick bei den obigen Zahlen verweilen. Die

6 Nicht abgedruckt. Vgl. aberzu den Untersuchungen Calwers Nr. 124. 110 Nr.28

Hauptsache für die Unternehmer bleibt nicht eine Betrachtung, warum die Soziallasten gestiegen,sondern daß sie gestiegen sind. Da zeigt sich, daß unter Hinzurechnung der Invalidenversicherungsbeiträge die gesamten Aufwendun­ gen sich fast verdreifacht haben. Wenn diese Steigerung ertragen ist ohne sichtbare Schädigung unserer Volkswirtschaft, so kann dies eben nur die Bewunderungfür die Tüchtigkeit unserer Unternehmer vermehren, die gewiß keinen leichten Kampfgehabt haben, um die jetzige Höhe zu erreichen. Durch die Schutzzölle, meint nun aber Herkner, wäre die Kartellbildung und damit jedenfalls auch die Konkurrenz mit dem Auslande erleichtert. Denn er fährt wörtlich fort: "Selbst wenn England geringere soziale Lasten hätte, so wäre damit noch nicht eine ungünstigere Stellung der deutschen Industrie erwie­ sen." Durch die Kartelle würden also die Preise gesteigert und dadurch die sozialen Lasten wieder abgewälzt. An einer anderen Stelle wiederholt er aus­ drücklich, daß tatsächlich die Preisgestaltung eine andere sein würde, wenn die sozialen Lasten und Steuern nicht aufgetreten wären. Darauf ist zu erwidern, daß unsere deutsche Industrie zu einem sehr großen Teil eine Exportindustrie ist und daher die Preisgestaltung vom Wettbewerb des Auslandes, also auch von dessen Produktionskosten abhängig ist. Letztere sind nun aber teilweise noch wesentlich niedriger. Wenn z.B. auf die höheren Löhne in England als Ausgleich für unsere größeren Lasten hingewiesen wird, so ist andererseits darauf aufmerksam zu machen, daß England z.B. in der Eisenindustrie durch niedrigere Transportkosten einen Vorsprung von etwa 20 Prozent der Geste­ hungskosten besitzt. Dazu kommt noch als erschwerender Umstand, daß in manchen Industrie­ zweigen, die besonders auf Export angewiesen sind und zu denen unsere bedeutendsten Industrien gehören, die Zahl der Arbeiter besonders groß ist und infolgedessen die sozialen Ausgaben desto fühlbarer sind gegenüber dem damit nicht beschwerten ausländischen Wettbewerb, wiez.B. in der Eisen- und Textilindustrie. Ein Beweis dafür, daß die Lasten nicht abgewälzt werden kön­ nen und immer fühlbarer werden, ist übrigens in der Tatsache, die General­ sekretär Bueck auf dem letzten Delegiertentage des Centralverbandes Deut­ scher Industrieller betont hat, zu erblicken, daß nämlich in steigendem Maße die berufsgenossenschaftlichen Beiträge auf dem Zwangswege eingezogen werden müssen. Nun bestreitet aber Herkner weiter, daß die herrschende Anschauung, nur die deutsche Industrie habe die sozialen Lasten zu ertragen, nicht aber die ausländische, den Tatsachen entspreche. Dabei sucht er die bisher beispiello­ sen Errungenschaften unserer Sozialversicherung dadurch abzuschwächen, daß er erklärt, für mittellose Kranke, Invalide oder Greise müßte in jedem gesitteten Staate in irgendeiner Weise gesorgt werden. In England und Ame­ rika versichere der Arbeiter sich selbst. Bisher hatte freilich der Ersatz der 1911 Februar 25 111

Armenfürsorge durch unsere Sozialversicherung als Fortschritt gegolten. Daß aber die minder gelohnten Arbeiter nicht aus sich heraus die Zahlungen regelmäßig leisten würden, wenn sie einer freiwilligen Versicherung angehö­ ren, steht festund braucht nicht mehr bewiesen zu werden. Wenn diese Ersatz­ institute auch nur einigermaßen als solche fürunsere Sozialversicherung ange­ sprochen werden könnten, würde dann etwa auch so aufdringlichdie Armut in den Städten Englands sich breit machen, daß ein Arbeiterabgesandter, der sogar Stadtrat war, nach vierwöchentlichem Aufenthalt in Deutschland er­ klärte, er habe in seiner Heimatstadt mehr Armut gesehen, als in ganz Deutschland?! In England sollen nach Schätzungen 30 Proz. der gesamten Be­ völkerung in dürftigsten Verhältnissen leben. Und dies, trotzdem dort wie in Amerika die Löhne (wegen der Verwendung eines Teils für Versicherung usw.) angeblich bedeutend höher seien, als bei uns. Das letztere geschieht aber in Wirklichkeit nur zu einem Teil, weil das wichtigste Prinzip unserer Versi­ cherungsschutzgesetzgebung, der Zwang zur Beitragszahlung, in jenen Län­ dern noch nicht herrschend ist. Für die höheren Löhnebezieht sich Herkner auf Schadwell, nach dem, wenn die Metallarbeiterlöhne in England = 100 gesetzt werden, diese in Deutsch­ land nur 65-78, in Amerika aber 161-169 betrugen. Ähnliches sollen die Ermittlungen des englischen board of trade ergeben haben. Herkner hat aber bezeichnenderweise vergessen, auch anzuführen, wie Schadwell über die Er­ rechnung von Durchschnittslöhnen überhaupt denkt. Im Grunde hält dieser nämlich davon herzlich wenig. Abgesehen davon, daß nur die Vereinigten Staaten ausreichende statistische Unterlagen besäßen, seien selbst in den glei­ chen Gewerben die Berechnungsarten der Lohnsätze so verschieden, daß Ver­ gleiche eigentlich unmöglich seien. Ferner ist zu bedenken, daß die Löhne selbst für gleiche Arbeit in gleichem Lande in verschiedenen Gegenden ver­ schieden seien. "Es scheint mir daher höchst unbefriedigend und irreführend, diese alle zusammenzuwerfen und eine fiktive Person, den "Durchschnitts­ arbeiter", daraus entstehen zu lassen." Erst nach Beherzigung dieses Kommen­ tars sollte man die angeführten Vergleiche benutzen. Den Lohn eines unge­ lernten Tagearbeiters allerdings hält Schadwell fürDeutschland, England und Vereinigte Staaten fürvergleichbar, und zwarfindet er folgendesVerhältnis: England = 100, Deutschland = 78,6, Amerika = 142,8. Gegenüber diesen Angaben ist indessen daran zu erinnern, daß nach den Berichten englischer nach Deutschland entsandter Arbeiterdeputationen der ungelernte Arbeiter bei uns durchschnittlich besser entlohnt würde als in England. Man könnte ja nun eigentlich von jemand, der diese Verhältnisse objektiv untersuchen will, erwarten,daß er bei den gewaltigen Unterschiedengerechterweise auf die ganz verschiedenen Kosten der Lebenshaltung aufmerksam machen würde. Herk­ ner tut das nicht. Wir möchten deshalb einiges dazu ergänzen. Nach einem 112 Nr.28 vorjährigen Bericht in der "Kölnischen Zeitung•hat das demokratische Staats­ komitee für den Staat New York ermittelt, daß die Preise für die nachstehen­ den Lebensmittel im laufenden Jahre die unten angegebenen sind; diesen seien nun gegenübergestellt die entsprechenden Preise bei der Kruppschen Konsumanstalt in F.ssenvom Jahre 1910:

Lebensmittelpreisein NewYork 19 10 bei Krupp 1910 Kalbfleisch M. 3.52 M.1.84 Rindfleisch1 kg M. 1.96 M.1.44 Speck M. 1.96 M.1.90 Kartoffeln100 kg M.9.20 M.7.17 Brot 1 kg M.0.66 M.0.18

Ferner kosteten in Amerika fertige Anzüge 18 Dollar = 75,60 Mk. Wenn hiernach die Einnahmen der arbeitenden Bevölkerung nach den für 1908 ver­ öffentlichtenamtlichen Ermittlungen im Durchschnitt 10 Dollar = 42 Mk. für die Woche oder 168 Mk. für den Monat betrugen und seitdem wohl auch noch eine gewisse Steigerung erfuhren, so ergibt sich schon hieraus zur Genüge, daß der Lohn der amerikanischen und deutschen Arbeiter, gemessen an den Kosten der Lebenshaltung, in keiner Weise den behaupteten Unterschied zeigt. Zum Beweise, daß unserer Sozialgesetzgebung in England entsprechende Lasten gegenüberständen, verweist Herkner auf die hohen Armenlasten und bezieht sich auch auf Ausführungen, die Prof. E. Ballod vor einiger Zeitin der "Täglichen Rundschau" veröffentlicht hat.7 Letzterer vergleicht die Summen, die in Deutschland durch die Sozialversicherung, Volksversicherung und Armenlast aufgebracht werden,mit dem Betrag, der in England durch freiwil­ lige Versicherung und Armenlast entsteht. An Invalidenversicherungs-Beiträ­ gen sind nun 1908 in Deutschland 31 5 Millionen Mark gezahlt, rechnet man an Prämienbeiträgen für die private Volksversicherung 91 Mill. Mk. hinzu (laut Veröff.d. Aufsichtsamts für Privatversicherung 1910, S. 52) und nicht 80 Millionen, wie Ballod, so kommen wir auf 326 Mill. Mk. = 5,20 Mk. auf den Kopf der Bevölkerung.In Ermangelung eines näheren Materials kann eine Nachprüfung der Angaben für England nicht vorgenommen werden, weshalb die Ballodschen Zahlen unverändert eingesetzt werden. Danach wurden dort für Volksversicherung 272 Mill. Mk. bezahlt, d.h. 6, 10 Mk. pro Kopf. In der Unfallversicherungentspräche einer deutschen Belastung von 3 Mk. eine eng­ lische von 4,10 Mk. Dies scheint nicht ganz zutreffend zu sein. Denn zu der gesetzlichen Unfallversicherung müßte Ballod auch die Beträge rechnen, die zu demselben Zweck an die privaten Versicherungsgesellschaften gezahltwor-

7 Nicht abgedruckt. 1911 Februar 25 113

den sind. Diese stellen sich aber 1908 auf rund 90 Mill. Mk. und kommen daher insgesamt statt 3 Mk. 4,48 Mk. auf den Kopf der Bevölkerung. Über­ nehmen wir dann die Belastung durch die Armenfürsorge nach Ballod mit 3 Mk. für Deutschland und 8 Mk für England, so stellt sich als Gesamtergebnis heraus, daß die Belastung pro Kopf in Deutschland nicht 16-17 Mk., sondern 18,50 Mk. beträgt, während für England Ballod 18,20 Mk. ohne Krankenver­ sicherung berechnet hat. Zusammengestellt würde dies folgendes Bild erge­ ben:

Belastung pro Kopf der Bevölkerung in Mark Deutschland England Volks- bzw. Invalidenversicherung 5.20 6.10 Unfallversicherung 4.50 4.10 Krankenversicherung 5,80 ? Armenlast 3.-- 8.-- Insgesamt 18.50 18.20

Dazu ist indessen folgendes zu bemerken. Soweit die Zahlen die Versiche­ rungen betreffen, sind sie für Deutschland entschieden zu ungünstig gegen­ über den englischen. Es ist nämlich zu bedenken, daß der Kreis der Ver­ sicherten, wie er bei uns für die Sozialversicherung gezogen ist, nicht derselbe ist wie derjenige der englischen Volksversicherung. Dort ist, wie schon hervor­ gehoben, nur die Elite der Arbeiterschaft in der Lage,die freiwillige Versiche­ rung auf die Dauer durchhalten zu können. Bezüglich der Armenlasten ist ebenfalls ein schweres Bedenken geltend zu machen. In England 7lihlt dazu fast die Hälfte der gesamten Belastung. Diese Armensteuern muß aber dort die gesamte Bevölkerung aufbringen, während in Deutschland von den gesamten Lasten die gewerblichen Kreise 3/4 allein zu tragen haben. Da also eine Selbstversicherung für große Kreise der Bevölkerung in Eng­ land nicht in Frage kommt, ist ein Vergleich der deutschen sozialen Belastung mit der englischen Volksversicherung und Armenlast nicht statthaft. Die Trä­ ger der Lasten gehören in beiden Ländern verschiedenen Bevölkerungsgrup­ pen an, und daher ist auch ein Vergleich der Belastung auf den Kopf der Bevölkerung unzulässig. Nicht diese steht zur Diskussion, sondern die Bela­ stung der deutschen Industrie. Herkner weist ferner darauf hin, daß Deutschland mit seiner Sozialversiche­ rung durchaus nicht mehr allein stehe. Denn es gäbe Länder,die das deutsche Vorbild der Arbeiterversicherung zum Teil nachgeahmt haben. Es sei also auch nach Einführung der Hinterbliebenen-Versicherung durchaus nicht zu befürchten,daß die sozialen Leistungenim Vergleich mit denen der Konkur­ renz sich höher stellen könnten als früher. Während vorher Herkner die 114 Nr.28

Abwälzbarkeit dieser Lasten behauptet hatte, kommt ihm hier plötzlich die Erkenntnis, daß der ausländische Wettbewerb der grundlegende Maßstab für diese Möglichkeit sei. Weiterhin ist ihm aber auch nicht der Beweis gelungen, daß durch die Nachahmung des deutschen Beispiels die auswärtige Konkur­ renz nicht mehr günstiger als früher dastehe. Denn erstens ist der Kreis der Versicherten in jenen Staaten längst nicht so weit gezogen wie bei uns, und ebensowenig sind die Aufwendungen auf den Kopf des Versicherten mit den deutschen auf dieselbe Stufe zu stellen: für die Krankenversicherung sollen dies die folgendenAngaben in etwas veranschaulichen. Es waren in Krankenkassen versichert von den Lohnarbeiternin: Deutschland 82 % Frankreich 45% Ungarn 25 % Luxemburg 65% England 45% Belgien 20 % Schweden 59% Österreich 30% Italien 10 %

Dann aber: Welche Staaten nennt Herkner als Konkurrenz? Österreich­ Ungarn, Italien, Luxemburg, Norwegen, Dänemark, Holland. Gewiß, mit ÖSterreich-Ungarn leben wir teilweise in scharfem Wettbewerb,aber als indu­ strieller Konkurrent tritt doch dieser Staat gegen England und Amerika sehr weit zurück, und noch mehr Frankreich, das jetzt einen Teil unserer Sozialver­ sicherung, die Invaliden- und Altersversicherung eingeführt hat. Wo bleibt aber England, wo Amerika? Wenn im Staate New York eine Verschärfung der Haftpflicht der Arbeitgeber eingetreten ist, so kann diese für die Arbeiter sicherlich zu begrüßende Maßnahme doch nicht entfernt an unserer Versiche­ rungsgesetzgebung gemessen werden. Als weiteren Punkt führt Herkner an, es sei irreführend, wenn die sozialen Lasten in Prozenten vom Reingewinn dargestellt würden. Um diesen Betrag würden sich die Gewinne nicht erhöhen. Das letztere soll nicht durchaus bestritten werden, wohl aber, daß die Rentabilität des Industriekapitals ohne soziale Lasten nicht höher sein würde. Ein strikter Beweisläßt sich allerdings nach beiden Seiten hin kaum führen. Soweit aber im Inlande die Preise ohne soziale Lasten niedriger gehalten werden könnten, wäre ein größerer Ver­ brauch und entsprechend höhere Gewinnrate wohl denkbar, und ebenso würde durch eine erleichterte Wettbewerbsfähigkeit im Auslande die Renta­ bilität der Unternehmungen nicht unberührt bleiben. Wenn endlich Herkner die jetzige Rentabilität als immer noch günstig genug ansieht, so fragen wir: Wäre sie wesentlich geringer als diejenige, deren sich jetzt die Gesellschaften im allgemeinen zu erfreuen haben, würde dann sich das deutsche Kapitalnoch ebenso unseren industriellen Unternehmungen zuwenden? Wir vermuten, man würde dann vorziehen das Risiko, das mit sol­ cher Kapitalanlage verbunden ist, nicht auf sich zu nehmen und lieber dahin 1911 Februar 25 115 sein Geld zu geben, wo größere Sicherheit bei gleicher Verzinsung geboten wird. Vor einiger Zeithat der frühere Kolonialstaatssekretär Dernburg darauf hingewiesen, daß das deutsche Kapital verzichten wird, sich für die deutschen Kolonien weiterhin zu interessieren, wenn die Gefahr der damals wieder ver­ langten Gesetzgebung gegen die größeren Kapitalassoziationen bestehen bleibt. Einern höheren Risiko muß eben die Möglichkeit größerer Gewinne gegenüberstehen. Es ist von berufener und fachkundiger Seite oft genug darauf hingewiesen, daß die in der Reichsversicherungsordnung vorgesehene Erweiterung der Lei­ stungen nur sehr schwer von der deutschen Industrie getragen werden kann und daß eine weitere Steigerung die Grenze unserer Leistungsfähigkeit über­ schreitet. Hält man demgegenüber die Anschauungen Herkners und Ballods, so ist nur wieder aufs neue zu erkennen, daß in Fragen, die die Industrie ange­ hen, von vielen Vertretern der Wissenschaft nicht die Gründlichkeit und Unbefangenheitzu erwartenist, deren sonst die deutschen Gelehrtengerühmt werden.

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Deutsche Techniker-Zeitung Nr. 9 Die rieuenSätze unserer Stellenlosenunterstützungskasse Bauingenieur Gornik

[Vergleich der Beiträge und Leistungen der Arbeitslosen-Unterstützungskas­ sen der verschiedenen Angestelltenverbände)

Die Zeit liegt noch nicht so weit hinter uns, wo man die Stellenlosigkeit der Angestellten nicht als einen Ausfluß der modernen wirtschaftlichen Entwick­ lung unserer Nation betrachtete, sondern sie als ein Mißgeschick des einzelnen auffaßte. Der Privatbeamte, der seine Stellung verloren hatte und dem es in der Folgezeit nicht gelang, rasch eine neue Wirksamkeit zu finden, wurde eben vom Schicksal hart verfolgt und allgemein bemitleidet. Demgemäß trachteten früher die Organisationen danach, ihren stellenlosen Mitgliedern durch Un­ terstützungen über die traurigen Folgen unverschuldeter Arbeitslosigkeit hin­ wegzuhelfen. Diese Unterstützungen hatten jedoch mehr den Charakter einer Wohltätigkeit. Als aber immer weitere Kreise von dem sozialen Übel unver- 116 Nr.29 schuldeter Arbeitslosigkeit betroffen wurden, und die sozialen Schäden ihre Schatten nicht nur über den persönlich davon Betroffenen, sondern über den ganzen Beruf auswarfen, da waren es wiederum die Verbände, die zuerst ihre Hand an die Wunde legten. So waren es beispielsweise noch im Jahre 1906erst rund 100000 Angestellte, die durch ihre Organisation Stellenlosenunterstüt­ zung erhielten, während ihre Zahlheute auf über 500000 gestiegen ist. Man hat die Ursachen der Stellenlosigkeit erkannt in den wirtschaftlichen Krisen, in der Konzentration der Industriezu Riesenbetrieben, der ungemein raschen Bevölkerungszunahme und nicht zuletzt in dem Bestreben der hand­ arbeitenden Klassen, ihren Kindern eine angeblich bessere soziale und wirt­ schaftliche Position zu sichern. Mögen auch noch weitere Erscheinungen für eine Arbeitslosigkeit sprechen, in ihren Hauptursachen darf man sie aber auf die oben skizzierten Vorgänge zurückführen. Nachdem die Angestellten-Organisationen erkannt hatten, daß die meisten ihrer Mitglieder unverschuldet stellenlos wurden, daß diese gern arbeiten wür­ den, wenn ihnen nur Gelegenheit zu einer beruflichen Tätigkeit geboten wird, zögerten sie keinen Augenblick, nach Mitteln Umschau zu halten, um ihre Mitglieder vor dem Elend, das die Arbeitslosigkeit nach sich zieht, zu bewah­ ren. Die Angestellten-Organisationen schufen Stellenlosen-Unterstützungs­ kassen. Ein jedes Mitglied hatte bei unverschuldeter Stellenlosigkeit ein Anrecht auf Unterstützung durch seine Organisation. Denselben Entwicklungsgang finden wir beim Deutschen Techniker-Ver­ band. Einmal das Ziel richtig erkannt, gab es für die Verbandsleitung kein Zurück mehr. Am 1. Juli 1907 trat seine Stellenlosen-Unterstützungskasse in Kraft. Die segensreiche Wirkung haben seit jener Zeit viele unverschuldet brotlos gewordene Kollegen am eigenen Körper erfahren. Aber nicht nur diese. Nein, die wohltuende Wirkung kommt dem ganzen Berufsstandezugute. Der stellenlose Kollege wird durch die Unterstützung vor der allerschlimm­ sten Not bewahrt. Er ist nicht mehr unbedingt gezwungen,als Preisdrücker auf dem Arbeitsmarkt zu erscheinen. Mit diesem Erfolge hat sich jedoch der Deutsche Techniker-Verband nicht beschieden. Nachdem einmal der Gedanke sich Bahn gebrochen hatte, daß augenblicklich die einzige sichere Hilfe gegen eine unverschuldete Stellenlo­ sigkeit in den Selbsthilfeeinrichtungen der Organisation zu erblicken ist, wurde die Frage des Ausbaues seiner Stellenlosen-Unterstützungskasse im Interesse seiner Mitglieder nicht mehr aus dem Auge gelassen. Im Vorder­ grund standen die Bestrebungen nach einer Erhöhung der Sätze und einer Verlängerung der Unterstützungsdauer. Man wollte dem unverschuldet arbeitslos gewordenen Kollegen ein Existenzminimum bieten, und dann hat sich die Verbandsleitung der Tatsache nicht verschließen können, daß es ge­ rade dem Angestellten in den seltensten Fällen gelingt, in kurzer Zeit einen 1911 Februar 25 117 seinen Fähigkeiten entsprechenden Wirkungskreisbei angemessener Entschä­ digung für seine Leistungen zu erlangen. Sollen aber der unverschuldet stel­ lungslos gewordene Kollege und die seiner Sorge unterstellten Angehörigen nicht der Armenfürsorgeanheimfallen, dann verbleibt nur als letztesdie Hilfe seiner Organisation. Man verschloß sich nicht der Erkenntnis, daß über dem stellenlosen, wirtschaftlich schwachen Angestellten das Damoklesschwert hängt, seine höhere soziale Position zu verlieren, eine Gefahr, die dem gelern­ ten Arbeiter viel weniger und dem ungelernten fast gar nicht droht, da es die­ sen stets gelingen wird, wiederals Arbeiter Beschäftigung zu erhalten. Es liegt aber weder im Interesse eines Berufsstandes noch des Staates, wenn seine Angehörigen sozial sinken. Einern Gebot vorsorglicher Klugheit entspricht es aber, an der Hand von Erfahrungen die Durchführbarkeit von Plänen, die so tief in das innere Ver­ bandsleben eingreifen, zu prüfen. Es muß des weiteren für die Ausgaben eine Deckung vorhanden sein. Als aber der Stuttgarter Verbandstag eine Erhöhung der Verbandsbeiträge beschlossen hatte, um die heute kein Verband mehr herumkommt, wenn er eine schlagfertige Organisation bleiben will, und als ferner die eigenen Erfahrungen auf dem Gebiete der Stellenlosenfürsorge es der Verbandsleitung ratsam erscheinen ließen, an eine Erhöhung der Sätze und eine Verlängerung der Unterstützungsdauer heranzutreten, zögerte man auch hier nicht, mit dem Ausbau unserer Stellenlosen-Unterstützungskasse zu beginnen. Die Frage des Ausbaues der Stellenlosen-Unterstützungskasse wurde in der Gesamtvorstandssitzung, die am 8. und 9. Januar in Sondershausen stattfand, eingehend behandelt. Das Resultatist unseren Lesernbereits in Heft 7 mitge­ teilt worden und dürfte bei allen nur aufrichtige Freude ausgelöst haben.1 Gewiß wollen wir uns nicht Illusionen hingeben, daß hiermit dem stellenlosen Mitgliedein sorgenloses Lebenermöglicht wird oder hiermit die soziale Frage gelöst sei. Aber wir müssen zugeben, daß das arbeitslose Mitglied des D.T.-V. gegen die allergrößten Härten einer unverschuldeten Arbeitslosigkeit ge­ schützt ist, wie wir auch anerkennen müssen, daß mit dem beschlossenen Aus­ bau der Stellenlosen-Unterstützungskasse der Deutsche Techniker-Verband eine kulturelle und nationale Tat gefördert hat, indem er seine Mitglieder, die immerhin einen Teil des Staatsganzen darstellen, vor einem Hinabsinken in tieferesoziale Schichten schützt. Wenn wir nun die Selbsthilfe-Einrichtungen der Stellenlosen-Unterstüt­ zungskassen der verschiedenen Angestellten-Organisationen mit der des Deutschen Techniker-Verbandes vergleichen, so erhalten wir das folgende Bild: (TabelleS. 182)2.

1 Nicht abgedruckt. 2 Nicht abgedruckt. 118 Nr.30

Aus dieser Tabelle geht hervor, daß der Deutsch-Nationale Handlungs­ gehilfen-Verband die höchsten Endsätze an seine stellenlosen Mitglieder zahlt. Berücksichtigt man aber, daß der Höchstsatz erst nach einer 35jährigen Mitgliedschaft erreicht werden kann - ein Fall, der aller Voraussicht nach nie oder ganz vereinzelt eintreten wird -, so kann dieser Satz nicht zu einem Ver­ gleich herangezogen werden. Der weitere Überblick lehrt nun, daß der Deut­ sche Techniker-Verband mit seiner Stellenlosenfürsorgean erster Stelle mar­ schiert. Er hat damit bewiesen, daß er nicht nur sozialpolitische Forderungen aufstellt, sondern, daß er auch bestrebt ist, aus eigener Kraft die sozialen Schäden zu mildern. An den Mitgliedern draußen im Reich wird es nun liegen, allen Berufskollegen die Vorteile der Mitgliedschaft im Deutschen Techniker­ Verband klar vor Augen zu führen und alle unorganisierten Kollegen unserem Verbande zuzuführen.

Nr.30

1911 Februar 27

Schreiben der M.AN. AG. an den Centralverband Deutscher lndustrieller1 Ausfertigung

[Bedenken wegen möglicher Auswirkungen des geplanten Versicherungsge­ setzes für Angestellte auf die bestehenden Betriebspensionskassen insbeson­ dere hinsichtlich einer Herabsetzung des pensionsfähigenAlters]

Gemäß dem uns erteilten Auftrage haben wir in der Frage der reichsgesetz­ lichen Versicherung der Privatangestellten mit den beteiligten Behörden Fühlung zu nehmen und namentlich dahin zu wirken gesucht, daß der Fortbe­ stand der bisher bewährten privaten Pensionskassen neben der in Aussicht genommenen Reichsversicherungsanstalt gesetzlich gewährleistet würde. Der Umstand, daß dem mit der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs betrauten Reichsamte Materialien und Vorschläge von den verschiedensten Seiten und in außerordentlicher Menge bereits unterbreitet worden waren, veranlaßte uns, soweit angängig von umfangreichen Eingaben und einer ausführlichen schriftlichen Formulierung unserer Wünsche und Vorschläge Abstand zu nehmen und den Schwerpunkt unserer Tätigkeit in die persönliche Fühlung-

1 Historisches Archiv Krupp, WA 41/47 - 321. Gezeichnet von Hugo Meyer. 1911 Februar 27 119 nahme mit den nächst beteiligten Instanzen sowie in mündliche Verhandlun­ gen zu legen. Der im Januar d.J. veröffentlichte "Entwurf eines Versicherungsgesetzes für Angestellte"2 entsprach in dem neunten Abschnitt, der das Verhältnis zu den bestehenden privaten Pensionskassen regelt, leider nicht den Erwartungen,die von den bestehenden Kassen hinsichtlich der Möglichkeit ihres Fortbestandes gehegt wurden. Der Entwurf wollte diese Kassen nicht als gleichwertige Ersatzinstitute anerkennen, sondern beschränkte sie auf die Stellung als Zu­ schußkassen, die als solche für ihre Mitglieder bei der Reichsanstalt die Versi­ cherung zu nehmen hätten. Diese, den Interessen der privaten Pensionskassen in keiner Weise ent­ sprechenden Bestimmungen des Gesetzentwurfes haben uns veranlaßt, in Übereinstimmung mit andern Interessenten-Vertretungen nochmals an das Reichsamt des Innern heranzutreten und in mündlicher Verhandlung auf die Nachteile hinzuweisen, die aus den Bestimmungen des Entwurfs für die priva­ ten Kassenund insbesondere die darin versicherten Mitglieder entstehen wür­ den. Nach einer in letzter Zeit veröffentlichten Zeitungsnotiz soll der Regie­ rungsentwurf in den Bestimmungen über das Verhältnis zu den bestehenden Kasseneinrichtungeneiner Änderungunterzogen werden, die den von uns ver­ tretenen Interessen, soweit möglich, gerecht zu werden sucht. Nach den abge­ änderten Bestimmungen sollen Werks-Pensions-Kassen usw. als Ersatzein­ richtungen unter besonderen festgesetzten Bedingungen zugelassen werden. Ohne die vorerwähnte, für die bestehenden Pensionskassen überaus wich­ tige Abänderung als ein Ergebnis unserer Tätigkeit in Anspruch zu nehmen, glauben wir uns mit Ihnen in Übereinstimmung darüber zu befinden, daß der Gesetzentwurf in der jetzt abgeänderten Fassung den Fortbestand der von uns vertretenen Pensionskassen unter erreichbaren Bedingungen ermöglichen wird. Wir fügen den Abdruck einer an den Bundesrat abgesandten Eingabe bei, aus der Sie ersehen werden, welche Wünsche wir auf weitere Abänderung des Gesetzentwurfes noch haben.

2 Vgl. Reichsanzeiger Nr. 13 vom 16. Januar 1911. 120 Nr.31

Nr.31

1911 März 1

Der Arbeitgeber Nr. 5 Der Kampf des Arbeitgeberverbandes Eilenburg gegen die Tyrannei der sozi­ aldemokratischen Gewerkschaften

[Organisationszwang und Boykott durch die freien Gewerkschaften; Aussper­ rung durch die Arbeitgeber]

In Eilenburg an der Mulde ist am 30. Januar dieses Jahres ein Kampf ausge­ brochen, der das öffentliche Interesse auf das lebhafteste beansprucht. Die Zahlder Lohnarbeiterin Eilenburg beträgt etwa3000, von denen 2000zu den sozialdemokratischen Verbänden gehören. Deshalb glaubten die Gewerk­ schaften es wagen zu können, die 1000 Arbeiter, welche sich noch nicht ihrer Fahne angeschlossen hatten, aus den Betrieben zu verdrängen und die Arbeit­ geber zur Anerkennung ihrer Alleinherrschaft zu zwingen. Bereits im vorigen Jahre wurde ein Versuch in dieser Richtung auf den Dermatoidwerken unter­ nommen. Die Forderungen, welche von dem Fabrikarbeiterverbande erhoben wurden, gingen auf Anerkennung des Verbandes als Unterhändler der gesam­ ten Arbeiterschaft, sowie auf Entlassung der Arbeitswilligen, d.h. sowohl der treugebliebenen, als auch der neuangestellten. Es gelang indessen den Betrieb mit Hilfe von Arbeitswilligen aufrechtzuerhalten. Und so kam es, daß der Fabrikarbeiterverband das Ziel des Kampfes nicht erreichte und die Arbeit am 13. September zu den schon wochenlang vorher von der Betriebsleitung bewil­ ligten Lohnbedingungen wieder aufgenommen werden mußte. Das Verhalten der Arbeiterschaft nach der Beilegung des Konfliktes ließ aber schon damals keinen Zweifel darüber aufkommen, daß der Fabrikarbeiterverband systema­ tisch auf einen neuen Kampf hinarbeitete. Von einem sozialdemokratischen Stadtverordneten wurde bereits im Herbst vorigen Jahres in einer öffentlichen Stadtverordnetensitzung eine "Abrechnung" mit den Arbeitgebern angekün­ digt und der Direktion der Deutschen Celluloid-Fabrik gegenüber wurde von sozialdemokratischer Seite ausgesprochen, daß sie im kommenden Frühjahr "mit eisernen Handschuhen angefaßtwerden würde". Sodann wurde eine skru­ pellose Agitation entfaltet, um alle noch nicht organisierten Arbeiter in die sozialdemokratischen Verbände zu drängen. Den Mitgliedern vaterländischer Vereine wurde angedroht, daß ihnen jede Arbeitsgelegenheit am Orte ge­ nommen werde, falls sie nicht aus diesen Vereinen austreten und in die sozial­ demokratischen Gewerkschaften eintreten würden. Seitens der sozialdemokra- 1911 März 1 121 tischen Arbeiter wurde den Mitarbeitern, welche sich ihren Forderungen nicht zugänglich zeigten, die Arbeit erschwert oder völlig unmöglich gemacht. Dem Leiter des nationalen Arbeitersekretariats wurde zum 1. Januar die Wohnung gekündigt, weil dem Inhaber einer Wirtschaft, welche sich in demselbenHause befindet, von den Sozialdemokraten mit dem Boykott gedroht war. Kaum hatte der Sekretär eine andere Wohnung bei einem Geschäftsmann gemietet, so wurde auch diesem die Mitteilung gemacht, daß, wenn er die Wohnung an den Leiter des Sekretariats vermiete, sein Geschäft boykottiert werden würde. Ebenso wurde ein Bäckermeister, welcher zur Kinderbescherung des nationa­ len Arbeitervereins Christstollen geliefert hatte, boykottiert. Auch Arbeitswil­ ligen wurden die Wohnungen gekündigt, und die Geschäftsleute in Eilenburg weigerten sich aus Furcht vor dem Boykott der sozialdemokratischen Ver­ bände, ihnen Nahrungsmittel zu liefern. Nachdem der Kampf auf diese Weise vorbereitet war, legten plötzlich am 31. Januar diesesJahres 300 Arbeiter und Arbeiterinnen der Deutschen Celluloidfabrik ohne Angabe irgend eines Grundes und ohne Erhebung von Forderungen die Arbeit nieder. Die sozial­ demokratische Presse hat die Nachricht verbreitet, daß die Arbeitgeber die Arbeiter gezwungen hätten, den vaterländischen Arbeitervereinen als Mitglie­ der beizutreten. Diese Behauptung ist völlig unwahr. Das geht schon daraus hervor,daß der Arbeitgeberverbandwährend des Streiks öffentlicherklärt hat, daß außer nichtorganisierten Arbeitern und den Mitgliedern der auf nationa­ lem Boden stehenden Arbeitervereinigungen auch den Mitgliedern der christ­ lichen Gewerkschaften jederzeit der Eintritt in ihre Betriebe freistehe. Die Arbeitgeber Eilenburgs denken nicht daran, den Arbeitern ihr Koalitionsrecht zu nehmen. Dagegen machen sie nur von einem jedem Arbeitgeber zustehen­ den Rechte Gebrauch, wenn sie bei der Auswahl der Arbeiter die Mitglieder solcher Arbeiterorganisationen zur Mitarbeit in ihren Betrieben bevorzugen, von denen sie sich ein erträgliches Zusammenarbeiten versprechen und welche auch das freieKoalitionsrecht ihrer Mitarbeiter nicht beeinträchtigen. Gegen­ über dem mutwillig vom Zaun gebrochenen Streik der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, welcher sich ausschließlich gegen die Existenzberechtigung anders- oder nichtorganisierter Arbeiter richtet, hat sich in dem Arbeitgeber­ verband Eilenburg die einmütige Überzeugung Bahn gebrochen, daß ohne festes Zusammenhalten der Arbeitgeber die Tyrannei der sozialdemokrati­ schen Gewerkschaften nicht abzuschütteln ist. Auf die Herausforderung der sozialdemokratischen Arbeiter erklärtesich daher der dortige Arbeitgeberver­ band mit der Deutschen Celluloidfabrik solidarisch und beschloß, sämtlichen Arbeitern und Arbeiterinnen, welche zu den sozialdemokratischen Gewerk­ schaften gehören, zum 11. Februar dieses Jahres zu kündigen, solange diese das Koalitionsrecht ihrer Mitarbeiter nicht anerkennen und die Ausübung desselben verhindern. Die Gesamtzahl der streikenden bezw. ausgesperrten 122 Nr.31

Arbeiter beträgt zur Zeitetwa 750. B wird angesichts der erfreulichen Einmü­ tigkeit der Arbeitgeberschaft des Eilenburger Verbandes den sozialdemokrati­ schen Verbänden kaum gelingen, den Arbeitgebern ihren Willen aufzuzwin­ gen. Der Betrieb ist in allen Fabriken mit Hilfe der besonneren Elemente der Arbeiterschaft, welche mit den Eilenburger Verhältnissen, insbesondere mit den Löhnen gemäß ausdrücklicher Erklärung durchaus zufrieden sind, sowie von mehreren hundert von auswärts herbeigewgenen Arbeitswilligen auf­ rechterhalten. Dabei sind diese Arbeitswilligen - das wollen wir gegenüber dem fortwährenden Gerede von der "Minderwertigkeit" der Arbeitswilligen ausdrücklich feststellen - durchaus tüchtige und brauchbare Arbeiter, die auch fürdie ausgeschiedenen gelernten Arbeiter vollen Ersatz bilden. Eine größere Anzahl der von auswärts gekommenen Arbeiter hat die Absicht, dauernd in Eilenburg zu bleiben und ihre Familien nachkommen zu lassen. Zwei Erscheinungen während dieses Arbeitskampfes sind noch besonders erwähnenswert. Um Unruhen, wie sie bei der Ankunft von Arbeitswilligen gewohnheitsgemäß von den sozialdemokratischen Verbänden inszeniert wer­ den, zu vermeiden, hatte sich die Direktion der Deutschen Celluloidfabrik an die Königliche Bahnverwaltung in Eilenburg mit der Bitte gewendet, die Son­ derwagen mit den Arbeitswilligen direkt auf den Hof der Fabrik, welche etwas außerhalb Eilenburgs liegt und ein Anschlußgleis hat, fahren zu lassen. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt, offenbar in der Befürchtung, sich damit Unannehmlichkeiten durch die Gewerkschaften zuzuziehen. Wir meinen frei­ lich, daß es mehr im Interesse des Staates liegt, wenn die Behörden der Gefahr öffentlicher Unruhen nach Möglichkeit vorbeugen. Ferner hat der Arbeitge­ berverband Eilenburg, da die dortigen Geschäftsleute sich aus Furcht vor dem sozialdemokratischen Boykott zum Teil weigerten, Lebensmittel zu liefern, Lebensmittel en gros von auswärtigen Lieferanten bezogen und an die Arbei­ ter zum Selbstkostenpreis abgegeben. Dasselbe wurde mit der Beschaffungvon Bier gemacht, da auch sämtliche ortsansässige Brauereien nicht wagten, Bier für die Arbeitswilligen zu liefern. B soll gewiß gegen die kleinen Geschäfts­ leute, welche in hohem Maße von der Arbeiterschaft abhängig sind, kein unbe­ rechtigter Vorwurf erhoben werden, indessen dürften sie sich wohl selbst der Erkenntnis nicht verschließen, daß sie auf dem unter dem Druck der Gewerk­ schaften beschrittenen Wege zuletzt sich selbst am meisten schädigen würden. Auch ist wohl anzunehmen, daß gerade der Zwang der sozialdemokratischen Gewerkschaften gegen die von ihnen abhängigen Geschäftsleute diesen die Augen öffnen wird, auf welche Seite sie in dem Kampfeder Arbeitgeber gegen unberechtigte Forderungen dieser Gewerkschaften gehören. 1911 März 1 123

Nr.32

1911 März 1

Der Gewerkverein Nr. 17 Die Reformdes Arbeitsrechts

(Leitsätzezur Gestaltung eines gleichberechtigten Arbeitsverhältnisses.J

Das Arbeitsverhältnis als Gewaltsverhältnis und als Rechtsverhältnis1

A Unsere Volkswirtschaft beruht auf dem Arbeitsverhältnis, d. h. darauf, daß diejenigen, die über die sachlichen Produktionsmittel verfügen, durch Vertrag die Möglichkeit der Verfügung über die notwendigen Arbeitskräfte erhalten. Eine Unterordnung des Arbeiters unter den Produktionsleiter innerhalb des Produktionsprozesses ist also unvermeidbar. Da indes die unvermögende Bevölkerung zur Gewinnung des eigenen Bedarfs und des Unterhalts der Familie durchaus auf das Eingehen von Arbeitsverträgen und auf das Verbleiben in denselben angewiesen ist, ist derjenige, der über die Produktionsmittel verfügt (der Produktionsleiter, sei er Eigentümer der Pro­ duktionsmittel oder nicht), vielfach in der Lage, die Bedingungen, unter denen er andere zur Arbeit zuläßt, d.h. unter denen er Arbeitsverträge mit Unvermö­ genden abschließt, nach seinem Ermessen oder nach seiner Willkür zu gestal­ ten. Hierdurch kann sich eine Herrschaft der Produktionsleiter über die Arbeiter entwickeln, die weiter geht, als fürden ungestörten Gang der Produk­ tion erforderlich ist, und die um so unbeschränkter ist, je mehr Produk­ tionsmittel (Kapital, Grund und Boden, Maschinen usw.) in einer Hand ver­ einigt sind und je weniger der einzelne Unvermögende andere Arbeitsgele­ genheit zu finden vermag. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die Entwicklung eines solchen mit der Grundlage der Staatsordnung: der Gleichheit der Staatsbürger, nicht im Einklang stehenden Machtverhältnisses zu verhüten. Wenn also auch die rechtliche Regelung des Arbeitsverhältnisses im Hand­ werk und in kleineren Betrieben vielfach eine andere sein wird als in Groß­ betrieben, so muß doch der bezeichnete Gesichtspunkt, gleichmäßig mit der Fürsorge für Handel und Verkehr, bei Beurteilung jeder einzelnen Maßnahme

1 Als Vortrag unter gleichem Titel gehalten von Dr. Karl Flesch auf dem Verbandstag deutscher Gewerkvereine Pfingsten 1910; vgl.: Potthoff, Heinz: ''Probleme des Arbeitsrechts". Jena 1912, S. 238. Die Leitsätze von Dr. Flesch wurden in der abgedruckten Form vom Zentralrat der deutschen Gewerkvereine als Programm angenommen. Vgl. Der Gewerkverein, 43. Jahrgang, Nr. 17 vom 1. März 1911, S. 65. Dr. Karl Flesch, Frankfurter Sozialpolitiker und Schriftsteller, seit 1884 Stadtrat in Frankfurt/M., Landtagsabgeordneter (Fortschrittliche Volkspartei). 124 Nr.32 der öffentlichen Verwaltung und der Gesetzgebung berücksichtigt werden, damit das Ziel aller Rechts- und Staatsordnung: die Gewährung eines mög­ lichst großen Maßes von Freiheit, der ungehinderten Geltendmachung der Persönlichkeit für jeden einzelnen, unbeschadet der Achtung des gleichen Rechtsjedes andern, zur Durchführung gelange. B. Folgerungen, die sich aus dieser Auffassung des Arbeitsvertrages als der, neben der Familie, wichtigsten Grundlage unserer gesamten Staats- und Rechtsordnung ergeben, sind außer denjenigen, welche sich auf die dem Arbeitsvertrag vorausgehende Erlangung der Macht zur Leitung der Produk­ tion und auf die nach Abschluß des Produktionsprozesses folgende Gewinn­ verteilung beziehen (Verhinderung der allzugroßen Macht-Anhäufung in den Händen Weniger: Erbschaftssteuern, Maßregeln gegen Vertrustung, Zugäng­ lichkeit deshöheren Unterrichtsfür alle Befähigteusw.): I. Zur Wahrung der Stellung der Unvermögenden als Staatsbürger. 1. Die Durchführung des gleichen Wahlrechts unter Berücksichtigung der Minoritäten. Das Wahlrecht muß geheim sein, um den im Arbeitsvertrag Schwächeren, - meist also den Lohnarbeiter, mitunter den von der Kundschaft usw. abhängigen kleinen Handwerker usw. - gegen den Stärkeren, mehr "Vermögenden• zu schützen. 2. Die Sicherung der Anteilnahme an den Geschäften der Selbstverwaltung in allen Gebieten des öffentlichen Lebens (Staat, Provinz, Gemeinde, soziale Gesetzgebung), für alle im Arbeitsverhältnis Stehenden, also a) Festsetzung von Tagegeldern für den in die Arbeitszeit fallenden ehren­ amtlichen Dienst als Beisitzer an Gerichten, Verwaltungsbehörden und den durch die soziale Gesetzgebung geschaffenen Ausschüssen, Schiedsgerichten usw. Vergl. § 20 G.G.G.2 b) Vorschriften, die dem Arbeitgeber verbieten, den Arbeiter in der Über­ nahme eines in Gemäßheit der Gesetze ihm übertragenen Ehrenamtes zu beschränken. (Vergl.§ 1801.-V.-G.3, § 141 U.-V.-G.4, § 823 B.G.-B.) II. Zur Wahrung der Stellung desUnbemittelten im Arbeitsvertrag. 1. Öffentlich-rechtliche Festsetzung der zum Schutz von Sittlichkeit, Leben und Gesundheit geforderten, auf die Sicherheit im Betriebe, die Länge der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit, die Pausen, die Sonntagsruhe, Urlaub usw. bezüglichen Vorschriften (Arbeiterschutzim engeren Sinn). 2. Öffentliche Organisation des lokalen und interlokalen Arbeitsnachweises; gesetzliche Regelung und Beaufsichtigung der von Arbeitgebergemeinschaften ins Lebengerufenen Veranstaltungen zur Arbeiterbeschaffung.

2 = Gewerbegerichtsgesetz. 3 Invalidenversicherungs-Gesetz. 4 = = Unfallversicherungs-Gesetz. 1911 März 1 125

3. Gleichberechtigte Mitwirkung der Arbeiter und Arbeitgeber unter Wah­ rung der Koalitionsfreiheit auch der Angehörigen schwächerer Parteien bei der Arbeitsvermittlung (paritätische Arbeitsnachweise); der Streitvermittlung (Gewerbegerichte, Kaufmannsgerichte, Arbeitskammern; mit Ausgestaltung der Einigungsämter - § 62 G.-G.-G. - durch Einführung des Verhandlungs­ zwanges und der Vollstreckbarkeit mindestens der einstimmig zustande gekommenen Schiedssprüche); der Feststellung von Arbeitsnormen und Ent­ scheidung über Streitigkeiten bei deren Anwendung (Tarifschiedsgerichte, Schlichtungskommissionen usw.; vergl. den Buchdruckertarif). 4. Für solche Arbeitsverhältnisse, bei denen der Machtunterschied zwischen dem Arbeiter und dem Arbeitgeber besonders groß ist, im Großbetriebe, den Staats- und Gemeindebetrieben usw.: a) Freigewählte Vertretung der Arbeiter bei Durchführungder Bestimmun­ gen des Arbeitsvertrages und Sicherung der hierzu berufenen Arbeiter bei Ausführung ihrer Obliegenheiten (vergleiche § 30 f. des preußischen Berg­ gesetzes vom 28. Juni 1909). b) Übersichtliche, den Arbeitern jederzeit zugängliche Zusammenstellung der allgemeinen, auf den Arbeitsvertrag bezüglichen Anordnungen des Arbeitgebers, insbesondere der Bestimmungen über die Lohnberechnungen (Akkordsätze, Einheitspreise, Prämientarifeusw.) c) Schutz vor willkürlicher, d. h. nicht durch wichtige, mit dem Arbeitsver­ hältnis in sachlichem Zusammenhang stehende Gründe gerechtfertigter Ent­ lassung oder Nichtzulassung zur Arbeit (schwarze Listen usw.). III. Zur Wahrung der Persönlichkeit der Unvermögenden, insbesondere in ihrer Eigenschaft als Familienvorstand. 1. Sicherung des Besitzes der zur geordneten Lebensführungfür den Arbei­ ter und seine Familie unentbehrlichen wirtschaftlichen Güter (vergl. die ame­ rikanischen Heimstätten- und Pfandbefreiungsgesetze; verg. § 811, § 850 der Zivilprozeßordnung) und Schutz der Arbeiter vor übermäßiger Ausbeutung der Arbeitskraft (vergl.§ 138 B. G.-B.,§ 139 G.-0.). 2. Staatliche Einrichtungen, welche die Fortdauer des Einkommens bei unverschuldeter zeitweiser oder gänzlicher Unterbrechung des Arbeitsverhält­ nisses sichern (Lohnregulierung; Kranken-, Invaliden-, Unfallversicherung, Arbeitslosenfürsorgeusw.). 3. Staatliche Einrichtungen, die es gestatten, trotz des mangelnden Zusam­ menhangs zwischen Arbeitslohn und Familienbedarf doch den durch die Familienbegründung gesteigerten Ansprüchen gerecht zu werden (Korrektur des Lohnsystems), die allerdings nur nach Maßgabe der Leistungsfähigkeitvon Staat und Gemeinde, also unter Voraussetzung entsprechender Steuer- und Finanzpolitik, und unter Berücksichtigung der internationalen Verhältnisse erfolgenkann. Hierher gehörige Maßregeln sind z.B. die Unentgeltlichkeit der 126 Nr.32

Volksschulen, der Lehrmittel, der Krankenpflege und Wöchnerinnenpflege, der Bestattungen; die Maßnahmen zur Minderung der Säuglingssterblichkeit, zur Kräftigungschwächlicher Kinder usw. 4. Staatliche Einrichtungen, die der Entwicklung sowohl der heranwach­ senden Generation als der eigenen Persönlichkeit dienen. a) Verbot der gewerblichen Kinderarbeit, Vorschriften zur Erhaltung der Frauenarbeit für die Familie (Beschränkung der gewerblichen Arbeit der Frau, Hauspflege), Fürsorge für das Wohnungswesen (die Wohnfrage ist Lohnfrage ) durch Hilfe der öffentlichen Gewalt; Wohnungsgesetz; Regelung des Städtebaus; Fürsorge für die Wohnungsergänzungen, d. h. für die Veranstaltungen, die zur Ergänzung der engen Mietswohnungen erforderlich sind (Erholungsplätze, öffentlicheParks, Kindergärten, Kinderhorte usw.). b) Einrichtungen zur geistigen Fortentwicklung der Arbeiter selbst (Fortbildungsschulwesen, Fortbildung für Erwachsene, Volksvorlesungen, öffentliche Bibliotheken usw.), die vom Staat, von Vereinen oder von einzel­ nen Arbeitgebern für ihre Arbeiter (Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen) errich­ tet werden können, die aber stets unter gleichberechtigter Mitwirkung derjeni­ gen, für die sie errichtet sind, verwaltetwerden müssen. IV. Für die Stellung der Unvermögenden zu den politischen Parteien. 1. Arbeiter und Angestellte sollten nur solche Parteien unterstützen, die sich ernstlich um die Durchführung derjenigen Forderungen bemühen, durch die das Arbeitsverhältnis aus einem Machtverhältnis in ein Rechtsverhältnis umgewandelt wird. 2. Die energische Betonung der Notwendigkeit der Umwandlung des Arbeitsverhältnisses aus einem Gewaltrecht in ein reines Rechtsverhältnis ist für die Wohlfahrtder Arbeiter wieder Volksgesamtheit wichtigerals Spekula­ tionen und Prophezeiungen über die ökonomische Entwicklung der Gesell­ schaft. Aufgabe unserer Organisation5 ist es nunmehr, alles daran zu setzen, daß die in obigen Leitsätzen zusammengefaßten Forderungen erfüllt werden. Zu diesem Zwecke werden wir unablässig auf die gesetzgebenden Körperschaften einwirken. Und um so größer wird unser Einfluß sein, je mehr Anhänger wir unter dem Banner der Deutschen Gewerkvereine gesammelt haben. Deshalb müssen diese Leitsätze uns auch eine Mahnung sein zu unermüdlicher Agita­ tion, die um so erfolgreicher sein wird, je mehr wir die Arbeiter von der Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit jener Forderungen zu überzeugen ver­ stehen. Aus diesem Grunde werden wir die Leitsätze demnächst in einer Arti­ kelserie einer ausführlichen Erläuterung unterziehen.

5 Gemeint sind die Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereine. 1911 Män 2 127

Nr.33

1911 März 2

Soziale Praxisund Archiv für VolkswohlfahrtNr. 22 Der Entwurf eines Versicherungsgesetzes fürAngestellte 1 Dr. A Günther

[Stellungnahme zu 4 Argumenten gegen eine Angestelltenversicherung]

Der Entwurf hat innerhalb der sozial-politisch interessierten Kreise eine derart neue und merkwürdige Gruppierung hervorgerufen, daß man ihm gerade deshalb vielleicht eine günstige Diagnose stellen darf. Die großen Organisationen der Industriellen, der Zentralverband der Handlungsgehilfen, mit diesem eine die Minorität der Privatangestellten vertretende "Freie Verei­ nigung", dann die Versicherungsanstalten und der Deutsche Privatbeamten­ verein haben sich hier in der Opposition gegen das, was die große Mehrheit der beteiligten Kreise als gute und brauchbare Grundlage ihrer Versicherung ansieht, zusammengefunden. Soviel ich sehe, sind vorwiegend vier Gesichts­ punkte gegen den Entwurf geltend gemacht worden, die sich untereinander vielfachaufheben dürften: 2 Einmal befürchtet ein Teil der Unternehmer eine bedeutende Mehrbela­ stung; umgekehrt ist man in den Kreisen der "Freien Vereinigung" der Mei­ nung, daß eine Überwälzung und damit die ausschließliche Belastung der Angestellten zustande kommt. Nachdem der Entwurf - leider - dem Drängen gerade dieser Kreise auf Herabsetzung der Prämien Folge leistete, kann man sich jetzt nicht genug tun mit Vorführung der geringen Leistungen! Zweitens erwartet die Großindustrie mit Recht eine Schädigung ihrer Werkpensionskassen, deren freizügigkeitsfeindliche Tendenz der Entwurf bedroht3• Man leistet in diesen Betrieben, was gewiß anzuerkennen ist, viel­ fach Außerordentliches zur Sicherstellung der Beamten, benutzt aber die Kas­ sen gleichzeitig zu einem starken Druck auf den Angestellten. Die an erster Stelle genannten Arbeitgeber, die meist über Mittel- und Kleinbetriebe verfü­ gen - besonders die Detailistenverbände haben Front gemacht -, bedenken nicht, wie sehr eine allgemeine Versicherung das Übergewicht der kapi­ talkräftigen Großindustrie beeinträchtigen wird, der das Privileg der Sonder­ kassen und der Risikenauswahl geschmälertwird.

1 Dieser Artikel ist der 8. Beitrag innerhalb einer Artikelserie über die Angestelltenversicherung p der "Sozialen Praxis". Zur Kritik des Gesetzentwurfsvgl. Nr. 12, Nr. 15, Nr. 23, Nr. 26, Nr. 40, Nr. 42, Nr. 49, Nr. 134. 3 Vgl. Nr. 30. 128 Nr.33

Daß drittens der Deutsche Privatbeamtenverein, der eine besonders lebhafte Agitation gegen das Gesetz unternimmt, in eigner Sache handelt, liegt auf der Hand. Wir erkennen seine bedeutenden Versicherungsleistungen an, halten aber das Standesinteresse für wichtiger als diese Selbsthilfeeinrichtungen, die der Angestellte meist ohne Unterstützung seines Arbeitgebers bezahlen muß. Auf dem gleichen Blatte, aber noch weniger berechtigt, steht die Sonderbün­ delei des Verbandes Deutscher Diplomingenieure, dem erfreulicherweise andere Akademiker-Organisationennicht zur Seite getreten zu sein scheinen. Die vierte Richtung endlich bekämpft nicht den Gedanken einer weiter­ gehenden Versicherung als solchen, sie will ihn nur innerhalb der geltenden Invalidenversicherung verwirklicht sehen. Für recht bedenklich halten wir den Sukkurs, der dieser Idee gerade jetzt aus Arbeitgeberkreisen wird.4 Lange Jahre hörte man, daß maßgebende Unternehmerorganisationen dem Spezial­ gesetz vor dem Ausbau den Vorzug geben. War das so, weil damals die Versi­ cherungsordnung zur Debatte stand und damit die theoretische Möglichkeit der Einführungneuer Lohnklassen, einer herabgesetzten Altersgrenze und der Berufsinvalidität gegeben war? Während heute, nachdem der Ausbaugedanke - gewiß bedauerlicherweise, denn er steht an sich der Zusatzkasse nicht entge­ gen - als erledigt gelten muß und für die letztere ein lebensfähiger Entwurf vorliegt, die ganze Stoßkraft sich gegen diesen letzteren zu richten hat? Ein solcher Frontwechsel müßte allerdings gerade den Organisationen zu denken geben, die aus allgemeinen sozialpolitischen Sentiments eine Standeszusatz­ versicherung verwerfen, nur deshalb, weil hier endlich einmal eine Aktion ausschließlich den Privatangestellten zugute kommen soll. Unter den Äußerungen bewährter Fachleute, welche die Tages- und Fach­ zeitungen in reicher Fülle brachten, sind jene des Reichstagsabgeordneten Dr. Stresemann5 und von Prof. Dr. Moldenhauer6 besonders zu erwähnen. Beide stehen sich in wesentlichen Fragen gegenüber; einige der von Moldenhauer gegen den Entwurf vorgebrachten Gründe erledigen sich bereits durch die obige Zusammenfassung; wenn in der Standesversicherung eine "soziale Unge­ rechtigkeit" gegen die Arbeiterklasse erblickt wird, so sollte doch die ganze Geschichte der sozialen Gesetzgebung, die stets vorwiegend Arbei­ tergesetzgebung war, dem entgegenstehen, nicht weniger die Tatsache, daß die Interessen des Arbeiters doch nicht annähernd im gleichen Maße wie die des Angestellten die Berufsinvalidität, das 65. Lebensjahr und erhöhte Renten verlangen.

4 Vgl. Nr. 15, Nr. 40. Nr. 42, Nr. 134. 5 Dr. (1878-1929). damals Geschäftsführer des Verbandes Sächsischer Indu­ strieller und Präsidiumsmitglied des Bundesder Industriellen, MdR 1907-1912(NL). 6 Prof. Dr. Paul Moldenhauer (1876-1947). Versicherungswissenschaftler und Politiker; verfaßte in den Jahren 1905bis 1912 ein mehrbändiges Werk "Das Versicherungswesen". 1911 März 2 129

Hauptargumente entnimmt Moldenhauer weiterhin dem Eingriff des Ent­ wurfs in das Werkkassenwesen, ohne dessen Schäden zu erwähnen, und den beträchtlichen Verwaltungskosten, die er mir etwas zu überschätzen scheint. Demgegenüber schließt sich Stresemannin wichtigen Punkten der Ansicht der großen Angestelltenverbände an.• Jedenfalls bezeichnet er es mit dem Führer der nationalliberalen Partei, Abg. Bassermann7 , "als communis opinio der gesamten bürgerlichen Parteien, daß dieser Gesetzentwurf noch von dem jet­ zigen Reichstag erledigt werden müsse". Endlich hat Dr. Potthoft8, der ja auch in diesen Blättern das Wort genom­ men hat, Denkschriftund Entwurf kritisch gegenübergestellt. ••9 Die Frage der Nichteinbeziehung wichtiger Gruppen der Privatangestellten ist durch die Motive zum Gesetzentwurf sowie durch offiziöse und wissenschaftliche Inter­ pretation des § 1 einigermaßen geklärt. Dagegen bleibt grundlegende Forde­ rung die Versicherung aller Privatangestellten, auch derer mit mehr als 5000 M Einkommen, unter Belassung der jetzigen Höchstklasse. Die Gleichsetzung des Personenkreises mit jenen der Invalidenversicherung ist theoretisch zu fordern, hat aber mit dem Zustandekommen des Privatbeamten-Versiche­ rungsgesetzes nichts zu tun. Die Beiträge müssen nach der 2. Denkschrift geregelt werden, um die dort vorgesehenen erhöhten Leistungen der Versicherung zu ermöglichen. Das bleibt ein Kernpunkt der Forderungen, denen Herr Roth10 ebenfallsan dieser Stelle schon Ausdruck verliehen hat!!) Nicht kann ich diesem Gutachter hinsichtlich der Frage der Selbstverwaltungbeistimmen, in der doch die guten Erfahrungen mit den Berufsgenossenschaften - die erst kürzlich anläßlich des Jubiläums von amtlicher Seite nachdrücklich hervorgehoben worden sind verwertet werden müßten. Dagegen ist die Frage der Ersatzinstitute grund­ sätzlich richtig angefaßt, wenn auch noch zahlreiche Detailvorschriften durch den Bundesrat notwendig sein werden. Unerläßlich ist endlich die volle Einbeziehung der auf Privatdienstvertrag bei Behörden-Angestellten. Staat und Gemeinde dürfen von einer Last, die man der Privatindustrie auferlegt, nimmermehr ausgenommen werden.

Düsseldorfer Zeitung 3. Februar 1911, Allg. Ztg. für Chemnitz und Umgegend. - "Diese An- schauung der übergroßen Mehrzahl, die Hauptausschuß und Privatbeamtenvertreten haben, hat kürzlich eine ziemlich unerwartete Zustimmung seitens des sozialen Ausschussesvon Vereinen technischer Privatangestellten gefunden, der unter Führung des Werkmeister- und Techniker­ Verbandesallerdings an der Forderungdes Ausbaus grundsätzlich festhält, aber doch in dem Ent­ rfeine Grundlageder Absicherungerblickte, wenn gewisseVerbesserungen eintreten." JF,ErnstBassermann, Rechtsanwalt, MdR 1893-1917 (NL). �.Dr. Heinz Potthoff, MdR 1903-1912(Freisinnige Vereinigung/FortschriftlicheVolkspartei). FrankfurterZeitung, 27.1.1911. 9 Vgl. Dr. Heinz Potthoff: Der Entwurfeines Versicherungsgesetzes für AngestellteII, in: Soziale l�s und Archivfür Volkswohlfahrt,20. Jg., Nr. 18vom 2.2.1911. Vgl.: AlfredRoth, Der Entwurfeines Versicherungsgesetzes für Angestellte,in: Soziale Praxis und Archivfür Volkswohlfahrt,20. Jg., Nr. 18 vom 2.2.1911. 130 Nr.34

Bundesrat und Reichstag stehen vor der Entscheidung, ob eine sozialpoli­ tisch fast unfruchtbare Gesetzgebungsperiode durch Zustandekommen des Versicherungsgesetzes für die Privatangestellten doch noch einen guten Abschluß erfahren soll. Unter keinen Umständen dürfen politische Gesichts­ punkte ... maßgebend sein, weder hier noch dort. Nicht um die Neuwahlen handelt es sich, sondern um Einlösung eines Versprechens, durch dassich alle gesetzgeberischen Faktoren dem Privatangestelltenstande verpflichtet haben, nicht erstverpflichten sollen.

Nr.34

1911 März 7

Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker, Steindrucker und verwandte Ge­ werbe Nr. 19 Die Forderungen der Berliner Gehilfenfür Tarifrevision

[Kritik der Arbeitgeber an den Forderungen der Berliner Gehilfen zur Ta­ rifrevision]

In Nr. 14 der "Zeitschrift"vom 17. Februar haben wir die Forderungen der Berliner Gehilfen zur diesjährigen Revision des Deutschen Buchdruckertarifs1 mitgeteilt. Wir wollen sie jedoch hier wiederholen. Gefordertwird: 1. Verkürzung der Arbeitszeit von 9 auf 8½ Stunden für Tagesarbeit und auf 7½ Stunden für Nachtarbeit; Einführung der durchgehenden Arbeitszeit für Berlin; 2. Erhöhung des Minimums um 15 Prozent; Abschaffung der mittleren Lohn­ staffel (21-24 Jahre) und Festsetzung folgender Minimallöhne: für Gehil­ fen bis zu 21 Jahre 26,50 M., für Gehilfen über 21 Jahre 28,75 M. aus­ schließlich Lokalzuschlag; 3. Einschränkung der Überstunden durch eine Bestimmung, wonach ein Gehilfe nur 5 Stunden pro Woche leisten darf;

••• Wie diesausgesprochenennaßcn auf der jüngsten Tagung des Vereinsfür Venicherungswis­ fnschaftzutraf. Zum 1. Juli 191 1 lief derTarifvertrag, der am 27. Juli 1906zwischen den Arbeitgebern und Ar­ beitnehmerndes Buchdruckgewerbes geschlossen worden war, a�. Er solltenun ein weiteresJahr gelten, wenn er nicht drei Monate vor Ablauf gekündigt und Anderungsvonchläge eingebracht würden. 1911 Män 7 131

4. Einschränkung der Lehrlingszahl (für die Berechnung der Lehrlingszahl soll die Zahl der Setzer, Drucker und Stereotypeure eines Geschäftes zu­ sammengerechnet werden und dann auf 1-3 Gehilfen = 1, 4-8=2, 9- 14=3, 15-20=4, 21-26=5, 27-34=6 Lehrlingekommen); 5. Obligatorische Benutzung der Arbeitsnachweise (Ausnahmen sollen ge­ stattet sein, wenn innerhalb 24 Stunden keine passende Arbeitskraft ver­ mittelt werden kann); 6. Dreijährige Tarifdauer(bisher 5 Jahre); 7. Änderung des Vertrages betreffend die Tarifgemeinschaft (Organisations­ vertrag).2 Bezüglich der Lohnerhöhung wurde ein Antrag auf eine Erhöhung des Minimums um 20 Prozent zurückgewgen, um ein einmütiges Votum zu erzielen, und weil vom Vorstand erklärt wurde, daß bei den Verhandlungen auf einer 15prozentigen Lohnerhöhung unbedingt bestanden werde. Die Ver­ sammlung der Berliner Gehilfen hat alsdann ihrem Einverständnismit obigen, ihr vom Vorstand des Gaues Berlin des Verbandes der Deutschen Buch­ drucker vorgelegten Forderungen durch Annahme nachstehender Resolution Ausdruck gegeben: "Die am 12. Februar 1911 in den überfüllten Sälen der "Neuen Welt" ver­ sammelten mehr als 10 000 Buchdrucker Berlins erklären sich mit den Aus­ führungen des Referenten und den Anträgen des Gauvorstandes sowie der Antragsteller zur diesjährigen Tarifrevision in jeder Beziehung einverstanden und bezeichnen eine den herrschenden Teuerungsverhältnissen entsprechende Lohnaufbesserung, sowie eine Bekämpfung der erschreckend hohen Arbeits­ losigkeit durch Verkürzung der Arbeitszeitund wirklich durchgreifende Maß­ nahmen gegen das Überstundenunwesen als unbedingt erforderlich.Die Ver­ sammlung verlangt für Berlin die durchgehende Arbeitszeit und spricht die feste Zuversicht aus, daß der bevorstehende Verbandstag in Hannover den ernsten Willen unseres größten Gaues mit etwa12 000 Mitgliedern gebührend würdigen und die Gehilfenvertreter beauftragen wird, die volle Schwerkraft unserer großen Gesamtorganisation für die Verwirklichung dieser unumgäng­ lich notwendigen Forderungen einzusetzen." Die Vorschläge des Gauvorstandes sind demnach durch die Berliner Ver­ bandsmitglieder gedeckt worden, und diesewerden durch ihre Delegierten die im Mai in Hannover stattfindende Generalversammlung des Verbandes um das Plazet bzw. um die Verallgemeinerung dieser Forderungen ersuchen. Die Beschlüsseder Generalversammlung werden esalso sein, die unsere Aufmerk­ samkeit erfordern. In ihr werden die verantwortlichen Führer zu den Berliner und den aus den anderen Gauen vorliegenden Anträgen Stellung nehmen.

2 Zur Begründung der Forderungen vgl.: "Zum Tarifablaur', in: Buchbinder-Zeitung, 27. Jg., Nr. 13 vom 25. Män 1911. 132 Nr.34

Fassen wir die Wirkung der Berliner Anträge, hinter welche diese "die volle Schwerkraft der großen Gesamtorganisation" stellen wollen, in einer Summe zusammen, welche die uns zugemutete Belastung zeigt. Die Lohnerhöhung soll 15 Prozent betragen, die Verkürzung der Arbeitszeit 2½ Stunden pro Woche. Die weiteren Forderungen (Lehrlingsskala)lassen sich in ihrer direk­ ten materiellen Wirkung nicht erfassen, sie sind nachhaltiger in kleinen Druckereien. weniger bedeutendfür große Betriebe. Niedrig bemessen, ergibt sich eine Belastung des Lohnbudgetsum 20 Prozent. Haben wir nun die letztmalige zehnprozentige Lohnerhöhung hereinge­ bracht? Ist es in unserem Gewerbe überhaupt möglich, Belastungen so abzu­ wälzen, wie in andern Industrien? Ob mit oder ohne Preistarif: es ist nicht möglich. Daraus ist der Schluß zu ziehen, daß für die geforderte Lohnerhö­ hung usw. ein Ausgleich nicht geschaffen werden könnte, die Wirkung der Belastung in ihrem wesentlichen Teil demnach auf den Arbeitgeber zurück­ fallenmüßte. Für zahlreichekleinere Betriebe jedoch, die heute schon um ihre Existenz ringen, namentlich auch für eine große Anzahl unserer Provinzzei­ tungsdruckereien, bedeutete eine solche Belastung den Ruin. Das mußte vor­ angestellt werden, um die Tragweite der Berliner Beschlüsse zu erkennen. Aber selbst wenn hinter diese Forderungen nicht die "Schwerkraft der Organi­ sation" gestellt wird, sondern wenn sie nur ein "Objekt zum Handeln" darstel­ len, so sind sie ungeeignet zur Diskussion. Können wir nun auch von dem einzelnen Gehilfennicht verlangen, über die Tragweite solcher Beschlüsse sich Klarheit zu verschaffen, so müssen wir es doch verlangen von den verantwortlichen Führern. In Berlin hat man sich darum wohl nie bemüht, dort bemißt man seine Wünsche nach der Wind­ richtung; die Berliner Gehilfen-Tarifpolitik befindet sich schon von jeher auf einem Nebengeleise und blieb auch schon bisher nur aus Ohnmacht wenig­ stens in der gleichen Richtung. Von den übrigen Vertretern des Verbandes aber darf erwartet werden, daß sie sich des "Grundtons der Tarifdebatte" der letzten Gauvorsteherkonferenz, "Ausbau und Aufbau" ("Korr." Nr. 61 von 1910), erinnern, und die Forderungen auf eine hiermit in Übereinstimmung liegende Basis bringen. Dabei wollen wir ihnen zunächst in Erinnerung rufen, was das Tarifamt in seinem letzten Geschäftsbericht sagte: "Gefällt sich die eine Partei darin, die an die Tarifgemeinschaft zu stellenden Forderungen auf ein möglichst hohes Ziel zu spannen und Wünsche erfüllt zu sehen, die weder durch eine Tarif­ gemeinschaft noch durch getrenntes Marschierenund die Macht der Organisa­ tionen zu verwirklichen sind, so würde hierin die Gefahr liegen, das Tren­ nende zwischen beiden Parteien zu einem nicht überbrückbaren Hindernis zu gestalten." In zweiter Linie wollenwir an die "Besonderen Beschlüsse und Re­ solutionen" erinnern, nach welchen "eine Glaubhaftmachung und Beweisfüh- 1911 März 7 133 rung für die Berechtigung der geäußerten Wünsche zur Bedingung gestellt wird." Eine solche würde für die Berliner Forderungen weder mit Bezug auf den Umfang der Arbeitslosigkeit noch auf den der Verteuerung der Lebens­ bedingungen in einer den bezüglichen Anträgen entsprechenden Weise gelin­ gen. Alsdannwollen wirnoch darauf aufmerksam machen, daß auch die Macht der Organisation zu der Erfüllung solcher Wünsche nicht verhelfen kann. Schlagworte ("unheimliche Verteuerung des Lebensunterhaltes", "Korr." Nr. 21 vom 21. Febr. d.J.) tun es auch nicht, weil damit noch nichts bewiesen ist, und so bleibt die Notwendigkeit, sich nur an die Tatsachen zu halten. Diese sind in der wirklichen Arbeitslosigkeit, in der tatsächlichen Verteuerung der Lebenshaltung und schließlich in der Möglichkeit der Durchführung von Tarifbeschlüssenzu suchen. Zu dieser Realpolitikzurückzukehren, ist die Aufgabe der verantwortlichen Gehilfenführer gegenüber den aus den Kreisen der Gehilfen auftauchenden Tarifwünschen. Ein gleiches gilt für die Prinzipale. Nur so ist es möglich, daß "unannehmbare und undurchführbare Anträge der Beratung durch den Tarifausschußmöglichst ferngehalten werden", wie das Tarifamtim Kommen­ tar zum § 93 des Tarifs sagt. In der Resolution der Berliner Gehilfen liegt noch ein Symptom, dem wir zum Schlusse einige Worte widmenw ollen. "Die Versammlung spricht die Zu­ versicht aus, daß der bevorstehende Verbandstag den ernsten Willen unseres größten Gaues mit etwa 12 000 Mitgliedern gebührend würdigen wird", so heißt es in der Resolution. Die Berliner beanspruchen also die Superiorität unter den Antragstellern. Wenn aber die Berliner Gehilfen die Führerschaft schon immer gehabt hätten, dann hätten wir überhaupt keine Tarifgemein­ schaft. Vielleicht nicht, weil man sie dort absolut nicht will, sondern weil sie in einer Hand, die gewohnt ist, am Tische der Opposition sich zu betätigen, sich nicht hätte entwickeln können. Über die Massen aber, welche der Berliner Gauvorstand als Urheber dieser Anträge hinter sich hat, sagt der Hamburger Gewerkschaftsführer v. Elm: "Man dichtet den Massen Tugenden an, die sie gar nicht besitzen. Vor allem fehlt ihnen die Kenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse." In Berlin jedoch versäumen die Führer die Pflicht, dem Rumpfe den Kopf zu geben; sie gehen dem von Bebe) empfohlenen "demokratischen Mißtrauen der Massen" aus dem Wege und halten es fürrichtiger, in der Rolle der Opposition ihren Ruhm zu suchen. Der Generalversammlung des Ver­ bandes fällt demnach auch die Aufgabe zu, die Berliner Wünsche von diesen Gesichtspunkten aus zu betrachten. 134 Nr.35

Nr.35

1911 März8

Der Technische GrubenbeamteNr. 5 Beiträge und Leistungen der Pensionskasse des AK.V.1 im Vergleich zu den­ jenigen der Privatbeamtenversicherungsvorlage

[Pensionskasse desAKV erweist sich als leistungsfähiger und sozialer als die­ jenige desGesetzentwurfs einer Angestelltenversicherung)

Der vorliegende Entwurf des Privatbeamtenversicherungsgesetzes läßt bei den Grubenbeamten wohl zu allererst die Frage laut werden: "Sind die Lei­ stungen, die er enthält, verhältnismäßig besser als in der Knappschaft?" Die Antwort kann nur durch einen Vergleich der Leistungen und Beiträge gegeben werden. Die Pensionskasse des A K. V. ist eine Kasse, die sich ohne Staatszuschuß aus den Beiträgen der Mitglieder erhält. Das gleiche soll nun bei der Privat­ beamtenversicherung der Fall sein. Deshalb eignet sich die Pensionskasse des A K.-V. gut zum Vergleich. Sieht man von der Bezeichnung Arbeiter oder Beamte ganz ab und gebraucht den Ausdruck "Versicherte", so können die Beiträge und Leistungen in der Arbeiterklasse ganz besonders zum Vergleich heran gezogen werden, da ja die Zahl der Versicherten in dieser Klasse sehr groß ist. Die Beiträge in der Arbeiterklasse betragen pro Woche 2 x 0,98 M. = 1,96 M. Da laut Statistik jedes Mitglied im Jahre 50 Wochen zahlt, so beträgt der Jahresbeitrag 98 M. Da in der Knappschaftskasse Krankfeierzeiten sowie militärische Übungen und die reguläre Militärdienstzeit als Beitragswochen gerechnet werden, so steigt die Rente bei 50 geleisteten Wochenbeiträgen um das 52fache des wöchentlichen Steigerungssatzes. In dem Entwurf des Privatbeamtenversicherungsgesetzes werden Krank­ feierzeiten, Militärdienstzeiten und militärische Übungen nicht als Bei­ tragszeit angerechnet. Man braucht deshalb das Verhältnis zwischenBeiträgen und Leistungen nicht noch besonders umzurechnen, wie es in der Pensions­ kasse desA K.-V.geschehen muß.

1 AK.V.: Allgemeiner Knappschaftsverein zu Bochum. Zur Tätigkeit des AKV vgl.: Der Allge­ meine Knappschaftsvereinzu Bochum1910, in: Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahn, Nr. 47 vom 24. August 1911. 1911 März 8 135

Der Entwurf sieht 9 Gehaltsklassen vor. Es wäre nun verkehrt, wenn man z.B. die Klasse D des Entwurfs, die die Einkommensstufe von 1150-1500 M umfaßt, der Arbeiterklasse im A K.-V. gleich setzen wollte. Das darf man nicht, da die Beiträge nicht gleich sind. Da in dem Entwurf das Verhältnis zwi­ schen Beiträgen und Leistungenfest geregelt ist, so konstruiertman am besten eine Klasse, die jährlich 98 M. Beiträge zahlt. Die Invalidenrente beträgt nach dem Entwurfnach Ablauf von 10 Jahren 1/4 des Wertes,der bis dahin gezahl­ ten Beiträge und 1/8 der übrigen Beiträge. Die Witwenrente beträgt 2/5 des Invalidengeldes. Vaterlose Waisen erhalten 1/5, Ganzwaisen 1/3 der Witwen­ rente. Die nachfolgende Tabelle zeigt das Verhältnis der Leistungenin beiden Klassen.

Leistungenfür Halb- Ganz- Invaliden Witwen waisen waisen AK.V. Entwurf AK.V. Entwurf AK.V. Entwurf AK.V. Entwurf 10 980 228,80 245,00 135,20 98,00 38,40 19,60 76,80 32,66 15 1470 314,60 306,25 166,40 122,50 24,50 40,83 20 1960 384,80 367,50 200,20 147,00 29,40 49,00 25 2450 442,00 428,75 239,20 171,50 34,30 57,16 30 2940 481,00 490,00 283,40 196,00 39,20 65,33 35 3430 525,20 551,25 332,80 220,50 44,19 73,50 40 3920 569,40 662,50 392,60 245,00 49,00 81,66 45 4410 652,60 673,75 452,40 269,50 53,90 89,93

Diese Tabelle zeigt, daß das Verhältnis von Beiträgen und Leistungen im Entwurf viel ungünstiger ist als im A K.V. Legt man einem Beispiel die Durchschnittswerte für Invaliden aus der Ar­ beiterklasse im A K.V. unter, so ergibt sich: Das Durchschnittsdienstalter der Invalidisierten betrug 21,0 Jahre, das der Witwen 21,6 Jahre. Die Rente beträgt: A K.V. Entwurf für Invaliden 396,24 M. 379,75 M. Witwen 208,-- M. 159,90M. Halbwaisen 38,40 M. 31,98 M. Ganzwaisen 76,80M. 53,30 M. Die vorstehenden Beispiele zeigen also, daß die Leistungenfür die Arbeiter im A K. V. viel niedriger ausfallen würden, wenn sie nach den Sätzen des Entwurfsihre Rente berechneterhielten. Wie verhält es sich nun mit den Beamten? Die Beiträge und Leistungen in den Beamtenklassen des Allg. K. V. stehen in einem festen Verhältnis zuein­ ander. Die Renten steigen in jedem Jahre gleichmäßig. Legt man, wie bei den 136 Nr. 35

Beiträgen der Arbeiter 50 Wochenbeiträge zugrunde, so zeigt die folgende Gegenüberstellung das Verhältnis: Klasse Beiträge Leistungen % 1 159M. 24,95 15,69 2 212M. 33,28 15,69 3 318 M. 49,92 15,69 4 424M. 66,56 15,69 5 530M. 83,20 15,69 Die Renten betragen also 15,69 % der gezahlten Beiträge. Da die Witwen­ renten 2/3malso groß sind, so betragen sie 2/3 x 15,69 = 10,46 % der Beiträge. Die nachstehende Tabelle zeigt das Wachsen der Renten in % des Jahresbe­ trags: Jahre 5 10 15 20 25 30 35 40 45 lnval.-Rente AK.V. 78,45 156,9 235,35 313,8 392,25 470,7 549.15 627,6 706,05 Entwurf 125,- 250,- 312,5 375,- 437,5 500,- 562,5 625,- 687,5 Witwenrente AK.V. 52,3 104,6 156,9 209,2 261,5 313,8 366,1 418,4 460,7 Entwurf 50,- 100,- 125,- 150,- 175,- 200,- 225,- 250,- 275,- Diese Tabelle zeigt, daß die Invalidenrenten im Entwurf höher sind, als im A K. V. Erst im 40. Jahre sind sie gleich. Die Witwenrenten sind im A K. V. von vornherein höher. Diese Rechnung hat jedoch auch einen Fehler, und zwar beruht er darauf, daß die Beamten, die nach dem Entwurf versichert sind, die ersten 10 Jahre, in denen die Renten prozentual stärker steigen, in einer niedrigen Gehaltsstufe versichert sind. Die später gezahlten höheren Beiträge verursachen dann nur ein geringeres Steigen als im A K.-V. Das folgende Beispiel möge es zeigen. ein Beamter ist 35 Jahre versichert: Jahre Gehaltsklasse GezahlteBeiträge ErworbeneRente 1 - 6 1150-1560M. 509,60M. 127,40M. 6-10 1400-2000" 360,80" 90,20" 10 - 15 2000-2500" 792,00" 90,00" 15 - 30 2500-3000" 2988,00" 373,50" 30 -35 3000-4000" 1200,00" 150,00" 5850,40M. 849,10 M.

In 35 Jahren hat er 5850,40 M. Beiträge bezahlt, d. s. pro Jahr 167,15 M. Nach der umstehenden Tabelle müßte die Rente 562,5 % des Jahresbeitrags betragen, d. w. 940,22 M. In Wirklichkeit erhält er 91,12 M. weniger. 1911 Män 8 137

Im A K V. erhält ein Versicherter, der in 35 Jahren 5849,49M Beiträge be­ zahlthat, d. h. durchschnittlich pro Jahr 167,15 M, 549,5 % des Jahresbeitrags als Rente = 917,90M. Dieses Beispiel zeigt schon, daß der Entwurfnur scheinbar höhere Invali­ denrenten zahlt. In Wirklichkeit liegt die Sache aber noch viel ungünstiger. Denn die Grubenbeamten, und vor allen die technischen, sind fast ohne Aus­ nahme aus dem Arbeiterstande hervorgegangen. Nun steigen aber die Renten in der Arbeiterklassein den ersten Jahren auch vielstärker als in den späteren Jahren. Da die Beamten in den erstenJahren, die der Rentenberechnung zu­ grunde liegen, der Arbeiterklasse angehört haben, so haben sie in Wirklichkeit denselben Vorteil, den der Entwurf bietet. Das folgende Beispiel, dem wir die Zahlen der Knappschaftsstatistik zu­ grunde legen, möge dies beweisen. Die Invaliden, die aus den Beamtenklassen hervorgehen, haben ein durch­ schnittliches Dienstalter von 30,5 Jahren. Davon entfallen auf die Arbeiter­ klasse 7 und auf die II. B.A 2 4 Jahre. Ihr durchschnittliches Einkommen hat also betragen: 3 Jahre 1150-1500M 4" 1500-2000M 2" 2000-2500M 2" 2500-3000M 19,5" 3000-4000M In der Knappschaftskasse haben sie an Beiträgen• bezahlt und an Rente erworben: Beitragsjahre Beiträge Rente 7 Jahre Arbeiterklasse 686,--M. 160,16M. 4 Jahre II. B.A 848,-- • 133,12" 19,5" III. B.A 6201,-- • 973,44" 30,5 Jahre 7735,--M. 1266,72M.

Nach dem Entwurf wären Beiträge gezahltund würde die Rente betragen: Beiträge Rente 3 Jahre 1150-1500Klasse 244,80M. 61,20M. 4" 1500-2000" 460,80" 115,20" 2" 2000-2500" 316,40" 59,32" 2" 2000-2500" 398,40" 99,80" 19 5" 4680,00" 585,00" 30,5 Jahre 6100,40M. 920,52M.

; B.A: Beamten-Abteilung. Die Beiträge sind inkl. desArbeitgeberbeitrages angenommen. 138 Nr.35

Für 100M. Beiträge wird Rente gei.ahlt: Im A K. V.: 1266,72: 77,35 = 16,38 M. Nach dem Entwurf 920,52 : 61,004 = 15,09 M.

Die vorstehenden Beispiele beweisen, daß bezgl. der Invalidenrenten der A K. V. im allgemeinen höhere Renten i.ahlt,als der Entwurf vorsieht. Die Witwenrenten sind im A K. V. erheblich höher. Sie betragen 2/3 ge­ genüber 3/5 des Entwurfs. Das Kindergeld wird nach dem Entwurf bis zum 18. Lebensjahr,im A K. V. bis zum 14. Lebensjahr gei.ahlt. Die Höhe desselben gleicht sich ungefähr aus, jedoch ist die Berechnung nach dem Entwurf unsozialer als im A K. V. Die Kindergelder sind im Entwurfum so höher, je länger der Vater Mitglied war. Alte Leute haben aber keine Kinder mehr und deshalb sind die hohen Sätze nur Schein. In der Knappschaft ist das Kindergeld in jeder Klasse gleich und nicht nur vom Dienstalter abhängig. Da erhalten die Waisen, deren Vater noch nicht sehr lange Mitglied war, bedeutend höheres Kindergeld, als sie nach der Berechnung des Entwurfsenthalten würden. Die Knappschaftspensionskasse hat aber noch zweiweitere Unterstützungs­ arten, die im Entwurffehlen. Einmal erhalten die Invaliden, bezw. deren Angehörige ein Sterbegeld, wenn der Versicherte stirbt. Dasselbe beträgt in den einzelnen Beamten­ Abtlg.: 1. 112,50 M, II. 150,00M, III. 225,00M, IV. 300,00 M, V. 375,00M. Ferner erhalten die Invaliden freie Kur und Arznei. Ein weiterer Punkt, der nicht vergessen werden darf, sind die mehr oder minder großen Schwierigkeiten, die sich dem Invalidewerden entgegenstellen. Der A K. V. erkennt die Berufsinvalidität an, der Entwurf nicht. Hier muß die Erwerbsunfähigkeitunter 50 % sinken. Aus allen diesen Gründen kann man sagen, die Leistungen der Pensions­ kasse des A K. V. sind so vielbesser als die im Entwurf vorgesehenen, daß die Grubenbeamten ein Interesse daran haben müssen, im A K. V. zu bleiben. Sollte der Entwurf in absehbarer Zeit Gesetz werden, was stark zu bezwei­ feln ist, so muß aber versucht werden, die guten Bestimmungen des Entwurfs in die Pensionskasse des A K. V. zu übernehmen. Es wären dies z.B. die Bestimmungen, daß jeder Beamte gezwungenist, in die Gehaltsklasse Beiträge zu i.ahlen, der er infolge seines Verdienstes angehört; ferner, daß die Besitzer die halben Beiträge i.ahlen müssen. Des weiteren wird es sich um Übergangs­ bestimmungen handeln, wenn ein Grubenbeamter seinen Beruf verläßt, z.B. Aufrechterhaltung der Ansprüche ohne Feierschichtengeld, u.s.w. 1911 Män 13 139

Auf diese Einzelheiten soll jedoch erst eingegangen werden, wenn Aussicht vorhanden ist, ein Privatbeamtenversicherungsgesetz zu bekommen. Bis dahin ist es jedoch noch weit.3

Nr.36

1911 März 13

Der Bergknappe Nr. 10 Tarifliche Arbeitsmonopole

[Feststellung von sozialdemokratischen Arbeitsmonopolen in verschiedenen Gewerbezweigen)

Die evangelischen Arbeitervereine Sachsens haben sich kürzlich in einer Resolution gegen den sozialdemokratischen Terrorismus gewandt, der seinen unerträglichsten und gefährlichsten Ausdruck in tariflich festgelegten Arbeits­ monopolen findet.1 Der "Grundstein", das Organ des sozialdemokratischen Bauarbeiterverbandes, regte sich in seiner Nr. 3 vom Jahr 1911 darüber auf und schrieb zum Schluß, solange der Beweis nicht erbracht würde, wo von den sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen die tarifliche Ausschließung Anders- oder Nichtorganisierter von der Arbeit verlangt sei, müsse er diese Behauptung "als eine grobe Unwahrheit" bezeichnen. Der Beweis ist leicht erbracht. Ein sozialdemokratisches Arbeitsmonopol besteht: 1. im Chemigra­ phen- und Kupferdruckgewerbe für das ganze Reichsgebiet; 2. im badischen Hafnergewerbe; 3. in einer Anzahl von örtlichen Betrieben resp. Gewerbe­ gruppen, hauptsächlich der Nahrungs- und Genußmittelindustrie. Der vom sozialdemokratischen Buchdruckerverband mit großer Zähigkeit verfolgte Plan, auch für das deutsche Buchdruckergewerbe ein solches Monopol durch­ zudrücken, ist nur an dem festen Widerstand der christlichen Gewerkschaften gescheitert. Deren weitere Erstarkung bietet die einzige Gewähr dafür, den sozialdemokratischen Machtgelüsten wirksam Einheit zu bieten. Mögen das auch die im Bergbau beschäftigten Kameradengut beherzigen.

3 Zum Versicherungsgesetz für Angestelltevgl.: Reichs-Gesetzblatt 1911, Nr. 68, S. 989-1061. 1 Vgl. Nr. 7. 140 Nr.37

Nr.37

1911 März 19

Erlaß des preußischen Ministers des Innern an den Regierungspräsidenten in Düsseldorfl Ausfertigung

[Bedingungen für die Ausrüstung von Zechenwehren mit HandfeuerwaffenJ

Ich bin damit einverstanden, daß die bei einem allgemeinen Bergarbeiter­ ausstande zur Unterstützung der Sicherheitsmaßnahmen im dortigen Bezirk zu bildenden "Zechenwehren" - unter der Voraussetzung, daß sie auf dem von Ihnen angegebenen Wege Beamtenqualität erlangen - mit einer Handfeuer­ waffe ausgerüstet werden. Ich mache jedoch darauf aufmerksam, daß es sich voraussichtlich empfiehlt, den Wehrmitgliedern, bei denen im allgemeinen ein geringeres Maß von Ver­ trautheit mit der Handhabung der Waffeals bei den ständigen Polizeibeamten vorausgesetzt werden muß, nicht die, eine enorme Durchschlagskraft und Tragweite aufweisenden Browning- oder Dreyse-Selbstladepistole, sondern lieber den weniger gefährlichenRevolver in die Hand zu geben. Wegen des Gebrauchs der Schußwaffe ist eine Instruktion auszuarbeiten, welche neben der Dienstanweisung für die Zechenwehren jedem Mitgliede auszuhändigen ist. Als Muster für die Instruktion und die Dienstanweisung sind die im Regie­ rungsbezirk Arnsberg erlassenen Instruktionen und Anweisungen zu benut­ zen, die dort schon im Jahre 1905 zur Anwendung gekommen sind und auch in Zukunft wieder angewendet werden sollen. Ich überlasse Ihnen, sich zur Erlangung derselben mit dem Regierungspräsidenten in Arnsberg2 in Verbin­ dung zu setzen.

1 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Reg. Düsseldorf, 15. 965. Unterzeichnet vom preußischen Mini­ ster des Innern,Johann von Dallwitz. Dr. Heinrich Kruse, Regierungspräsident in Düsseldorf. Vgl. �r. 19, Nr. 45, Nr. 264. Alfredvon Bake. 1911 März 25 141

Nr.38

1911 März 25

Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch­ lands Nr. 12 Die wirtschaftlicheBedeutung einer umfassenden Arbeitslosenversicherung Wilhelm Düwell

[Einsparen von Ressourcen der Volkswirtschaft als Argument für die Einfüh­ rung einer Arbeitslosenversicherung]

Die Arbeitslosenversicherung wird von den Gegnern der Arbeiterbewegung viel zu sehr als eine Wohlfahrtseinrichtung im landläufigen Sinne betrachtet. Sie muß aber von dem Auslug des Volkswirtes aus beurteilt werden. Was kostet die Geschichte? Das ist die erste Frage, die der Spießer aufwirft. Und die direkte Ausgabe gilt ihm als Verlust, als materiell zwecklose Aufwendung, die keinen Vorteil bringt. Dergleichen Schlußfolgerungen sind aber völlig unzutreffend. Sie entspringen der allerbeschränktesten Krämerlogik. Man kann den wirtschaftlichen Effekt einer Arbeitslosenversicherung nicht nach der Höhe der gezahlten oder zu zahlenden Unterstützungsgelder berechnen. Die durch solche Aufwendungen erzielten Ersparnisse und volkswirtschaftli­ chen Werte müssen mit eingestelltwerden. Die Summierung der als Arbeitslo­ senunterstützungen verwendeten Beträge gibt wohl eine mathematisch ein­ wandfreie Rechnung, aber keine ökonomische Bilanz. Jeder Kaufmann stellt den Ausgaben, die eine Einrichtung seines Betriebes erfordert, die Vorteile gegenüber, die daraus sich ergeben. Und bei der Frage der Arbeitslosenversi­ cherung darf der Volkswirt diese kaufmännischenGesichtspunkte nicht unbe­ rücksichtigt lassen. Humanität und Gerechtigkeit spielen als soziale Triebkräfte keine große Rolle, wenn die Entscheidung beim - Geldsack liegt. Wir lassen daher die moralischen Faktoren gar nicht mitsprechen. Der Einwand, daß die Gesell­ schaft, die das Recht auf Arbeit verweigere, aber durch ihre kapitalistische Produktionsunordnung die Arbeitslosigkeit verschulde, müsse ihre Opfer vor Verelendung schützen, ist zweifellos sehr schön, aber er nutzt wenig oder gar nichts! Das jedoch darf man sogar von der herrschenden Gesellschaft fordern, daß sie in ihrem eigenen Interesse die Volkskraft, die Elemente der Reich­ tumsschaffung nicht sinnlos verschwende. Das geschieht aber infolgedes Man­ gels einer entsprechenden Versicherung. Die Arbeitslosenfürsorge durch Inangriffnahme von sogenannten Notstandsarbeiten hat sich im allgemeinen 142 Nr.38

als wenig zweckdienlich erwiesen. In den kommunalen Körperschaften ist wenig Neigung vorhanden, große Arbeitenin Angriff zu nehmen, wenn Han­ del und Wandel stockt und alle Welt durch die pessimistische Brille schaut. Sodann kann sich die gemeindliche Arbeitsbeschaffung in der Hauptsache nur auf Erd- und Bauarbeiten erstrecken. Ein großer Teil der Arbeitslosen schei­ det aber für solche Beschäftigungaus. Von Schneidern, Mechanikern und der­ gleichen an Tätigkeit in geheizten Räumen gewohnten Berufsarbeitern kann man keine Arbeit im Freien verlangen. Sie würden wenig leisten und dabei noch sicher und schnell ihre Gesundheit untergraben. Im Rahmen der kapita­ listischen Wirtschaftsweise bleibt naturgemäß die Arbeitslosenfrage immer akut, weil die Arbeitslosigkeit in ihr wurzelt und nicht abgeschafft werden kann. Aber es ist möglich, in gewissen Grenzen für die Arbeitslosenzu sorgen, so ähnlich, wie für Kranke, überhaupt für Arbeitsunfähige, nämlich durch eine Versicherung, das heißt durch die Sicherstellung einer Unterstützung. Wir verlangen die Arbeitslosenversicherung aus sozialen Gründen, das Unternehmertum müßte sie aus geschäftlichen Erwägungen fordern. Die deut­ sche Sozialversicherung in ihrem bisherigen Ausbau ist wirtschaftlich unratio­ nell. Sie garantiert nur den arbeitsunfähigen Arbeitslosen, den Kranken, Unfallverletzten und Invaliden, eine Unterstützung, während die arbeitsfähi­ gen und arbeitswilligen Arbeitslosen jedes Anrechtes auf ein Einkommen ent­ behren. Erst wenn diese Arbeitslosen durch Not und Entbehrungen krank und invalide geworden sind, haben sie einen Anspruch auf Unterstützung aus der sozialen Versicherung erworben. Ist das nicht ein Nonsens? Der Ruin der Gesundheit, als das Resultat der Unterernährung bei andauernder Arbeitslo­ sigkeit, kann durch den späteren Bezug von Krankengeld und Invalidenrente natürlich nicht wieder gut gemacht werden. Die Gesellschaft hat nicht nur die Arbeitskraft verloren, sie muß auch dauernd Aufwendungen machen. Ein Teil davon als Arbeitslosenunterstützung gezahlt, würde den Empfänger arbeitsfä­ hig erhalten haben. In kurzer Zeithätte er als Güterproduzent das wieder ein­ gebracht, was die Unterstützung erforderte,als Invalide bleibt er dauerndoder doch längere Zeitnur Konsument. In welchem Ausmaß die infolge von Arbeitslosigkeit krank und invalide Gewordenendie Krankenkassenund die Invaliditätsversicherung belasten, wie viele Unfälle auf das Konto der durch Entbehrung während einer Arbeitslo­ sigkeit geschwächten Körper der Arbeiter zu setzen sind, das kann man selbst­ verständlich nicht mathematisch genau berechnen. An der Kurve der Ausga­ ben der Krankenkassen macht sich jedes ausgesprochene Krisenjahr durch einen schärferen Aushub bemerkbar. Berechnungen, die auf die Erscheinung aufbauten, würden aber doch ein falsches Bild ergeben. Sie würden nur einen Teil der als Unkosten der Arbeitslosigkeit zu buchenden Summen erfassen. Wir haben eine gewisse Permanenz in der Arbeitslosigkeit, indem sie in ein- 1911 März 25 143 zeinen Berufen beginnt, wenn in anderen wieder eine bessere Konjunktur ein­ setzt. Daher besteht auch eine permanente Belastung der Krankenkassen als Folge der Arbeitslosigkeit. Die Belastung ziffernmäßig nachzuweisen ist nicht möglich. Solcher Berechnung bedarf es auch gar nicht, um zu erkennen, daß das Fehlen einer Arbeitslosenversicherung eine maßlose Verschwendung von Volkskraft im Gefolgehat und unberechenbar große materielle Opferbedingt. Die wirtschaftlichen Schäden sind nämlich noch weit größer, als die vorste­ henden Ausführungen enthüllen. Einen großen Teil der Arbeitslosen zwingt die Arbeitslosigkeit auf den Weg zur - Armenverwaltung! Was die Gesell­ schaftdurch die Verweigerungder Arbeitslosenversicherung"erspart", muß sie wenigstens zum Teil direkt als Krankengeld, Invalidenrente, für Heilverfahren oder als Armenunterstützung aufwenden. Berücksichtigt man dazu die gesundheitlichen Schädigungen, die für den Arbeiter und für seine Angehöri­ gen aus der Unzulänglichkeit der Bezüge erwachsen, dann kann man wohl kaum daran zweifeln, daß das Ersparte in gar keinem Verhältnis steht zu den ungeheuren Schäden und Härten, die das Fehlen einer Arbeitslosenunterstüt­ zung verursacht. Und das ist die Ironie des Schicksals: als Gäste der Armen­ verwaltung kommen vorwiegenddie sonst so geliebten Schützlingedes Unter­ nehmertums, die Nichtorganisierten, in Betracht. Die meisten organisierten Arbeiter erhalten Unterstützung aus ihrer Gewerkschaft, sie sind weniger auf eine Bettelgabe angewiesen,als die Nichtorganisierten, die es versäumten, sich irgendeinen Unterstützungsanspruch zu sichern. Die Inanspruchnahme der Armenverwaltungaus Anlaß von Arbeitslosigkeit ist zudem nicht nur ein sehr schlechtes Surrogat einer Arbeitslosenversiche­ rung, sie wirkt auch demoralisierend. Zwingen die Verhältnisse, den Wider­ willen gegen die Empfangnahmevon Armenunterstützung einmal zu überwin­ den, dann ist damit auch sehr leicht die Widerstandskraft gegen freiwillige Arbeitslosigkeit und weitere Inanspruchnahme der Armenverwaltung gebro­ chen. Doch sehen wir ab von solchen Schäden als Wirkung einer fehlenden Arbeitslosenversicherung. Das wird sicher niemand leugnen: entweder die Arbeitslosenbeziehen von der Gewerkschaftoder aus irgendeiner allgemeinen sozialen Einrichtung ein Einkommen, das ein Existenzminimum garantiert, oder es erwachsenfür die Betroffenenaus der Arbeitslosigkeit gesundheitliche Schäden und daraus materielle Opfer, die ein Vielfaches einer ausreichenden Versicherung ergeben. Eine planmäßige Versicherung erfordert daher, volks­ wirtschaftlich betrachtet, nicht nur keine Opfer, im Gegenteil, sie ist ein aus­ gezeichnetes Sparsystem, die Verhinderung einer maßlosen Verschwendung von Volkskraft! Die Gewerkschaftenkönnen das Existenzminimumnicht garantieren, schon darum nicht, weil sie nur einen Teil der Arbeiter umfassen. Von der Arbeitslo­ sigkeit werden aber Nichtorganisierte, als die weniger leistungsfähigen Arbei- 144 Nr.38 ter, jedenfalls mehr betroffen als Organisierte. Zudem haben den Vorteil der Versicherung in erster Linie die Unternehmer und der Staat. Diese Faktoren zusammen sollten daher aus wohlverstandenem Interesse die Bestrebungen der Gewerkschaften, die eine Erweiterung der Arbeitslosenversicherung zu einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung fordern, tatkräftig unterstützen. Die Arbeitslosenunterstützung muß mindestens für die notdürftige Ernährung ausreichen. Man könnte einwenden, daß eine Anzahl Arbeiter einer Unterstützung nicht bedürfe, weil sie während der arbeitslosen Perioden von dem leben, was sie in der Zeit guter Konjunktur ersparten. Ein billiger Einwand! Wer schon an das Evangelium vom Sparen als volkswirtschaftliches Allheilmittel glaubt, sollte doch darauf bedachtsein, den Sparsinn nicht zu ersticken, was sicherlich leicht geschieht, wenn jemand einige Male infolgevon Arbeitslosigkeitauf das Nichts oder noch darunter zurückgeworfen wird, nachdem er durch Verzicht auf bessere Lebenshaltungein paar Groschen erübrigt hatte. Überdies ist die Zahl der Arbeiter, die eventuell von Ersparnissen einige Zeit existieren könnte, viel zu gering, um deshalb von der Einführung einer allgemeinen Arbeitslosenversicherung Abstand nehmen zu können. Die Sparer sind zudem meistens die ganz seßhaften Arbeiter, die von einer Arbeitslosigkeit am aller­ seltensten betroffen werden. Eben weil sie dauernd Arbeit haben, können sie sparen. Also mit dem Einwand ist es auch nichts! Fassen wir die durch eine genügend hohe Arbeitslosenunterstützung zu erwartenden Vorteile zusammen. Es sind diese: Verminderung der Erkran­ kungsfälleund frühzeitigen Invalidität, ferner Abschwächung der Unfallgefah­ ren, daher erhebliche Minderausgaben der Krankenkassen, Entlastung der Invaliditäts- und Unfallversicherung und Einschränkung der Armenlasten, dazu Erhaltung und Steigerung der Arbeitsfähigkeit der von Arbeitslosigkeit Betroffenen. Diese Vorteile wiegen die Kosten der erforderlichen Versiche­ rung mehrfachauf. Das dürfte kaum bezweifeltwerden. Wie erklärt sich trotz der offenbaren Vorteile einer Arbeitslosenversiche­ rung der Widerstand, den das Unternehmertum und die bürgerlichen Vertre­ ter speziell in den Kommunen einer solchen Einrichtung entgegensetzen? Zunächst durch den Mangel an Objektivität! Die Frage der Arbeitslosenversi­ cherung hat praktische Bedeutung durch die Gewerkschaften erlangt. Alle Bestrebungen von dieser Seite werden aber von den bürgerlichen Elementen mit Mißtrauen oder gar mit unbedingter Feindschaft betrachtet und behan­ delt. Man glaubt, alle Vorschläge, die von Sozialdemokratie und Gewerkschaf­ tern gemacht werden, grundsätzlich verwerfen zu müssen. Daß das geschieht, haben wir ja bei allen sozialen Forderungen erlebt. Zunächst wurden sie auf Tod und Lebenbekämpft. Allmählich schwächte der Widerstand ab und heute gilt manche der einstmals mit bitterem Haß abgelehnten Forderungen als ganz 1911 April 1 145

selbstverständlich, als eine Heldentat bürgerlicher Sozialpolitik. Zu dem Man­ gel der Sachlichkeit, als Hemmung sozialen Fortschritts, tritt die volkswirt­ schaftliche Einsichtslosigkeit, die infolge lokaler Eigenheiten bei einzelnen bürgerlichen Kommunalpolitikern zu einer kompletten Borniertheit ausge­ wachsen ist. Sie denken nur mit ihrem Portemonnaie für den Tagesgebrauch, das heißt, an die direkte Ausgabe. Würden sie, um bei dem Bilde zu bleiben, mit ihren Geldschränken denken, die die Renten und Gewinne im nächsten Jahre aufnehmen sollen, dann wäre es mit dem Widerstandevorbei. Die Unternehmer sollten sich von einer kleinlichen Engherzigkeit befreien, die ihnen Angst einflößt, ein anderer von der Zunft in der anderen Gemeinde könnte vielleicht Vorteil von ihren Ausgaben haben. Daß die Wechselbezie­ hungen zwischen den Gemeinden immer einen Ausgleich herbeiführen, daran denken die kurz.sichtigenKirchtumspolitiker nicht. Daher das unverständliche Verwerfeneiner Einrichtung, die sich später als ebenso heilsam erweisen wird, wie die Regelung der Arbeitszeit, die tariflichen Abmachungen, der einheit­ liche Ladenschluß usw. Ist die Arbeitslosenversicherung erst eingeführt, dann wird sie niemand mehr missen wollen.

Nr.39

1911 April 1

Der Arbeitgeber Nr. 7 Eine. wichtige Entscheidung des Reichsgerichts

[Gerichtliche Feststellung der Parteifähigkeit und Verklagbarkeit der Tarif­ gemeinschaften]

Das Reichsgericht hat am 22. März d. J. in der Klagesache Zillessen contra Tarifgemeinschaft der Deutschen Buchdrucker endgültig festgestellt, daß die letztere parteifähigund somit vor Gerichtverklagbar ist.1 Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes für das Buchdruckgewerbe, Buchdruckereibesitzer Fr. Zillessen in Berlin, war durch Beschluß des Tarif­ amts vom 22. September 1908aus der Tarifgemeinschaftder Deutschen Buch­ drucker ausgeschlossen worden. "Das Urteil stützt sich," heißt es wörtlich in

1 Das Reichsgericht präzisierte die rechtliche Stellung der Tarifgemeinschaft der deutschen Buchdrucker als nicht rechtsfähigen Verein nach§ 54 BGB. Die Tarifgemeinschaftals solche kann deshalb zwar vor Gericht verklagt werden, doch nicht selbst als Kläger auftreten (§ SO, II. ZPO). Vgl. Nr. 444, Nr. 804. 146 Nr.39 dem den Ausschluß ankündigenden Schreiben des Tarifamts vom 26. Septem­ ber 1908, "auf den Kommentar zum Tarif (also nicht auf irgendeinen Paragra­ phen des Tarifs selbst), nach welchem wiederholte Maßregelungen von Gehil­ fen einen Tarifbruch bedeuten und den Ausschluß einer Firma aus der Tarif­ gemeinschaft zur Folge haben können". Schon vorher war der Versuch gemacht worden, den Buchdruckereibesitzer Zillessen aus der Tarifgemeinschaft auszuschließen. Damals wurde als Grund angeführt "die absichtliche Nichtbefolgung der Entscheidungen des Berliner Schiedsgerichts vom 25. Juni und 9. Juli 1908". (Schreiben des Tarifamts vom 17. Juli 1908). Buchdruckereibesitzer Zillessen wies indes nach, daß dieser Grund nicht stichhaltig sei. Im Urteil des Schiedsgerichts vom 28. Juni sei kei­ nerlei Forderung an ihn gestellt und der Wortlaut des Schiedsgerichtsurteils vom 9. Juli sei ihm noch gar nicht mitgeteilt worden. Mithin könne weder in dem einen noch in dem andern Fall von einer "absichtlichen Nichtbefolgung der Entscheidungen des Berliner Schiedsgerichts" die Rede sein. In dem Schreiben vom 10. August 1908 mußte das Tarifamt dem Buchdruckereibesit­ zer Zillessen hierin Recht geben, und es handelte sich nun für dasselbe darum, einen anderen Grund ausfindig zu machen, sollte dem Wunsche des sozial­ demokratischen Gehilfenverbandes auf Ausschluß des Vorsitzenden des Arbeitgeberverbandes für das Buchdruckgewerbe aus der Tarifgemeinschaft entsprochen werden. Inzwischen ereignete sich in den Maßnahmen des Buchdruckereibesitzers Zillessen nichts Neues. Welcher Grund wurde aber nachträglich von dem Ta­ rifamt für seinen Ausschluß aus der Tarifgemeinschaft gefunden? Die Buch­ druckerei Gutenberg (Fr. Zillessen) sollte sich zweimal einer Maßregelung von Gehilfen bezw. der Verletzung des Koalitionsrechts der Gehilfen schuldig gemacht haben. Buchdruckereibesitzer Zillessen bestritt dies. Er hatte bei Arbeitsmangel zweimal je zwei Gehilfen entlassen, die dem Verbande ange­ hörten. Das sei keine "Maßregelung" gewesen, sondern er habe einfach von seinem Prinzipalsrecht Gebrauch gemacht, Gehilfen nach seinem Ermessen einzustellen und zu entlassen. Der Tarif verbiete ihm das nicht, und das "Koalitionsrecht" der Gehilfenwerde dadurch nicht beeinträchtigt. Das Tarifamt war entgegengesetzter Ansicht und vollzog, wie gesagt, den Ausschluß. Der Buchdruckereibesitzer Zillessen, der von Anfangan der Tarif­ gemeinschaft angehört hatte, hielt es nun für geboten, gerichtlich den Inhalt der Begriffe "Maßregelung" und "Koalitionsrecht" feststellen, auch Entschei­ dung darüber treffen zu lassen, ob die Mitglieder der Tarifgemeinschaft über den Inhalt des von ihnen anerkannten Tarifs hinaus an Beschlüsse des Tarifausschusses bezw. des Tarifamts gebunden seien. Aus diesem Grunde legte er bei dem Landgericht Berlin I Klage gegen die Tarifgemeinschaft der Deutschen Buchdrucker, vertreten durch das Tarifamt, ein und beantragte 1. 1911 April 1 147 festzustellen, daß sein Ausschluß zu Unrecht erfolgt sei; 2. die Tarifgemein­ schaft zu verurteilen, a) ihn wieder in das Verzeichnis der Mitglieder der Tarifgemeinschaft aufzunehmen, b) ihm den durch den Ausschluß aus der Tarifgemeinschaft entstandenen Schaden zu ersetzen. Dieser von dem Buchdruckereibesitzer Zillessen angestrengte Prozeß erlangte nun eine um so höhere prinzipielle Bedeutung, als das Tarifamt es für unzulässig erklärte, der Tarifgemeinschaft gegenüber den Rechtsweg zu beschreiten. Vier prozeßhindernde Einreden wurden vorgebracht: a) die der mangelnden Parteifähigkeit, b) die der mangelnden gesetzlichen Vertretung, c) die der Unzulässigkeit des Rechtsweges überhaupt und d) die, daß die Ent­ scheidung des Rechtsstreits durch das Tarifamt als Schiedsgericht zu erfolgen habe. Ad 1) wurde geltend gemacht, daß die Tarifgemeinschaft ein soziales Gebilde sei, das jeder Parteifähigkeitentbehre; sie sei keine Gesellschaft, kein Verein, überhaupt in keiner Weise ein Rechtsgebilde. Zu 2) wurde in Abrede gestellt, daß das Tarifamt die Tarifgemeinschaft vor Gericht vertreten könne. Das Tarifamt sei weder der Vorstand der Tarifgemeinschaft, noch ein dieselbe nach außen hin vertretendes Organ. Es seien ihm nur gewisse Befugnisse über­ tragen, die sich aber sämtlich auf die inneren Angelegenheiten der Tarifge­ meinschaft bezögen. Hinsichtlich 3) und 4) wurde auf die Bestimmung des Tarifs und namentlich auf die des Organisationsvertrages (welch letzterer gar nicht in Betracht kam, da er nur für die Mitglieder des Buchdruckervereins, zu denen der Kläger schon seit Jahren nicht mehr gehört, bindend ist) hingewie­ sen, nach welcher die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte ausgeschlossen sei und die Entscheidungen des Tarifamts füralle Mitglieder der Tarifgemein­ schaft rechtsverbindlich seien. Durch Urteil vom 24. Mai 1909hatte das Landgericht Berlin I sämtliche vier prozeßhindernden Einreden als unbegründet verworfen. Die Tarifgemein­ schaft weise alle Merkmale auf, die nach Entscheidung des Reichsgerichts Bd. 60, S. 94 ff. für einen nicht-rechtsfähigen Verein gegeben seien; sie sei mithin nach§ 50, Abs. 2 der Zivil-Prozeß-Ordnung parteifähigund also auch verklag­ bar. Das Tarifamt sei zur Vertretung der Tarifgemeinschaft vor Gericht legi­ timiert, wenn es auch nicht ausdrücklich durch Statut damit beauftragt sei, da es tatsächlich die Funktionen eines auch nach außen hin wirksamen Organs der Tarifgemeinschaft ausübe. Die Unzulässigkeit des Rechtsweges sei nur dann zutreffend, wenn sie durch Gesetz ausgesprochen sei, oder wenn über­ haupt ein öffentlich-rechtliches Moment sie gebiete, was beides hier nicht der Fall sei. Schließlich sei esauch nicht angängig, daß das Tarifamt, das die Tarif­ gemeinschaft vertrete, in eigener Sache urteile. Es sei gegen dessen Vorgehen Klage erhoben, es könne mithin unmöglich selbst die endgültige richterliche Entscheidung treffen. 148 Nr.39

Das Tarifamt gab sich mit dieser Entscheidung des Landgerichts nicht zufrieden. Es wollte durchaus von jeder Verantwortung für seine Maßnahmen dem staatlichen Gericht gegenüber befreit sein und weiter nach Gutdünken handeln können. Deshalb legte es beim Kammergericht Berufung ein. Allein auch hier wurde es mit seinen Einredenzurückgewiesen. Das Kammergericht bestätigte unter dem 26. November 1909 die Entscheidung des Landgerichts Berlin I und begründete noch eingehender das von demselben erlassene Urteil. Nunmehr blieb nur noch der Antragauf Revision beim Reichsgericht übrig. Und auch diesen Weg betrat das Tarifamt.Bei der bekannten Überlastung des Reichsgerichts wurde Termin für diese Verhandlung erst auf den 22. März d. Js. angesetzt. Allein auch das Reichsgericht verwarf die beantragte Revision, erklärte mithin die Entscheidungen der beiden Vorderrichter als zu Recht erfolgtund verurteilte die Tarifgemeinschaft zur Tragung der Kosten.2 Durch dieses Urteil des Reichsgerichts ist endgültig festgestellt, daß die Tarifgemeinschaft der Deutschen Buchdruckerei verklagbar ist, und daß alle die sich durch ihre Maßnahmen direkt oder indirekt geschädigt glauben, mit gerichtlicher Klage gegen sie vorgehen können. Von welch weittragender Bedeutung diese Feststellung ist, liegt auf der Hand. Das Tarifamt muß jetzt bei all seinen Beschlüssen und Maßnahmen darauf gefaßt sein, daß es - von Mitgliedern oder Nicht-Mitgliedern der Tarifgemeinschaft - vor den staatli­ chen Gerichten zur Verantwortung gezogen wird. Werden auf seine Veranlas­ sung hin Buchdruckereibesitzer mit Streik und Boykott überzogen, so kann die Klage auf Schadenersatz gegen die Tarifgemeinschaft, vertreten durch das Tarifamt, erhoben werden. Und was vor der Tarifgemeinschaft der Deutschen Buchdrucker gilt, das gilt auch von allen andren ihr gleich oder ähnlich gestal­ teten Tarifgemeinschaften. Der Prozeß Zillessen contra Tarifgemeinschaftder Deutschen Buchdruckerei hat mithin für das ganze gewerbliche Leben die höchst erwünschte Klarstellung gebracht, daß gegen Tarifgemeinschaften auf dem Wege der Anrufung der staatlichen Gerichte vorgegangen werden kann.3

2 Zur Stellungnahme der Tarifgemeinschaftvgl. "Die Tarifgemeinschaft als nicht rechtsfähiger Verein",in: Deutsche Buchdrucker-Zeitung,58. Jahrgang, Nr. 22 vom 28.Mai 1911, S. 169 f. 3 Das war nur eine Vorentscheidung. In der Frageder Wiederaufnahmevon FriedrichZillessen in die Tarifgemeinschaft schlossendie Parteieneinen Vergleich. Danach verzichtete F. Zillessenauf die Weiterführung desProzesses und die Wiederaufnahmein die Tarifgemeinschaft.während die Tarifgemeinschaftdie Kostendes Verfahrens übernahm. 1911 April 4 149

Nr.40

1911 April 4

Erklärung des Deutschen Handelstags zur Versicherung der Privatangestellten und zur Sozialpolitik im allgemeinen1 Privatdruck Teildruck

[Ablehnung einer Sonderversicherung für Privatangestellte und stattdessen Forderung nach Ausbau der bestehenden Invalidenversicherung)

Die beiden Erklärungen der vereinigten Kommissionen lauten: "Die vereinigten Kommissionen des Deutschen Handelstags betr. Sozialpo­ litik und betr. Kleinhandel erklären sich damit einverstanden, daß dem Be­ dürfnisse der Privatangestellten nach einer weitergehenden Invaliditäts-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung, als sie durch die geltenden Gesetze oder den Entwurf einer Reichsversicherungsordnung geboten wird, auf dem Wege der Reichsgesetzgebung baldigst Rechnung getragen werde. Die im Entwurf eines Versicherungsgesetzes für Angestellte2 vorgeschla­ gene Ulsung der Frage muß jedoch mit aller Entschiedenheit abgelehnt wer­ den. Dieser Lllsung stehen zunächst wichtige Bedenken einer finanziellen Über­ lastung der Angestelltenund Arbeitgeber,insbesondere der Kleingewerbetrei­ benden und Kleinhändler, entgegen, und zwar um so mehr, als die hohen Bei­ träge des Entwurfs zur Deckung der vorgesehenen Leistungen vermutlich noch nicht einmal ausreichen werden. Die für die Sonderkasse der Angestellten geforderten höheren Leistungen werden außerdem nicht abzuweisende gleiche Ansprüche der Arbeiter hervorrufen, deren Erfüllung die Existenzfähigkeit i.ahlreicher Gewerbebetriebe geradezu in Frage stellen würde. Mit der Ausdehnung der Zwangsversicherung auf die Angestellten mit höherem Einkommen als 3000 M und damit auf Personen, die sich in einer wirtschaftlich besseren Lage befinden als ein sehr großer Teil der selb­ ständigen Gewerbetreibenden, wird das Grundprinzip unserer ganzen Sozial­ versicherung - "den wirtschaftlich Schwachen Schutz vor Not zu gewähren" -

1 Bericht überdie Sitzung der vereinigten Kommissionenbetr. Sozialpolitik und betr. Kleinhandel vom 4. und 5. April1911, in: Deutscher Handelstag. Mitteilungen an die Mitglieder, 51. Jg., Nr. 15 r·m 30.Juni 1911. Der Entwurf einesVersicherungsgesetzes für Angestelltewurde im "Reichsanzeiger"Nr. 13 vom 16. Januar 1911 veröffentlicht. 150 Nr.40 verlassen und die Entfaltung des Triebes der Selbsthilfe, dieses wichtigen Fak­ tors allen Fortschritts, gehemmt. Dazu kommt, dass die Zersplitterung der staatlichen Versicherung durch Einrichtung einer Sonderversicherung a) die Leistungen der Versicherung beeinträchtigt, weil die umfangreiche neue Organisation große, in der Begründung des Entwurfs wesentlich unterschätzte Kosten verursacht, b) die Unternehmer mit neuer ehrenamtlicher Tätigkeit und neuem Schreib­ werk belastet, c) fürdie Angestellten bis zu 2000 M Gehalt eine doppelte und in den Bedin­ gungen verschiedene Versicherung mit allen ihren Nachteilen und einen zweifachen Rechtsweg (für die Invaliden- und die Angestelltenversiche­ rung) einführt und die Rechtsprechung in bedenklicher Weise verlangsamt und zersplittert, d) zu einer weiteren Vermehrung des Beamtenheeres und zu neuer Beunruhi­ gung durch öffentliche Wahlen führt, e) bei der Unmöglichkeit der Abgrenzung des der Sonderversicherung unter­ stehenden Personenkreises und dem ständigen Übergang zwischen der Klasse der gewerblichen Gehilfen und Arbeiter und der Klasse der Ange­ stellten neue Schwierigkeiten in die Reichsversicherung hineinträgt, f) die Erhaltung der bestehenden Pensionskassen und Versicherungen erschwert und teilweise unmöglich macht. Alle diese gegen eine Sonderversicherung geltend zu machenden Bedenken fallen bei einem Ausbau der Invalidenversicherung fort.3 Es empfiehlt sich deshalb, den Privatangestellten durch die Anfügung einigerhöherer Lohnklas­ sen in der Invalidenversicherung und durch die Ausdehnung der Versiche­ rungspflicht auf alle Angestellten bis zum Gehalt von 3000 M mit dem Rechte freiwilliger Weiterversicherung eine bessere Versorgung zu gewähren. Die Anfügung höherer Lohnklassen entspricht zudem berechtigten Wünschen höher gelohnter Arbeiterklassen. Den von der Begründung des Entwurfs gegen höhere Lohnklassen geltend gemachten Bedenken kann durch eine andere Berechnung der Renten in der Reichsversicherungsordnung Rechnung getragen werden. Die Herabsetzung der Altersgrenze für Angestellte und Arbeiter von 70 auf 65 Jahre für die Gewährung der Altersrente muß zurückgestellt werden, bis die mit der deutschen Industrie auf dem Weltmarkt konkurrierenden Länder Deutschland in der sozialpolitischen Fürsorge gefolgt sein werden. Den Ansprüchen der Angestellten hinsichtlich der Berufsinvalidität trägt der Invaliditätsbegriff des Invalidengesetzes bei verständiger Auslegung, abge­ sehen von dem an sich nicht berechtigten Unterschiede zwischen halber und

3 Vgl. die ähnlich lautenden Stellungnahmen aus Arbeitgeberkreisen, Nr. 15, Nr. 42, Nr. 134. 1911 April 4 151

drittel Erwerbsunfähigkeit, nicht weniger Rechnung als der Begriff des Son­ dergesetzes, wie ihn die Begründung des Entwurfs erläutert. Die Versorgung der nichtinvaliden Witwen der Angestellten ist der Selbst­ hilfe zu überlassen, zumal die im Entwurfvorgesehenen Renten in den mei­ sten Fällen noch nicht einmal das Existenzminimum gewähren. Soll vom Ausbau der Invalidenversicherung abgesehen werden, ist vor wei­ terer Verfolgung der im Gesetzentwurf vorgesehenen Sonderversicherung zu untersuchen, ob das erstrebte Ziel nicht besser mit Hilfe der Lebensversiche­ rungs-Gesellschaften zu erreichen ist. Zu diesem Zwecke wären die Gesell­ schaften von der Reichsverwaltung zur Vorlegung von Vorschlägen zu veran­ lassen."

"Angesichts der unaufhörlichsteigenden Lasten, die Deutschlands Industrie und Handel infolge der fortschreitenden sozialpolitischen Gesetzgebung auf sich zu nehmen haben, wird die Frage immer brennender, wie bei dieser wach­ senden Verteuerung der Produktion (durch Versicherungsbeiträge und Be­ triebsbeschränkungen) die deutsche Ausfuhrindustrie auf dem Weltmarkt den Wettbewerb der sozialpolitisch noch zurückbleibenden Völker aushalten soll. Der Deutsche Handelstag hat auf die drohende Gefahr schon seit Jahren nachdrücklich hingewiesen. Zur schärferen Beleuchtung der Lage, und um sachlich unbegründete sozialpolitische Bestrebungen in Zukunft wirksamer bekämpfen zu können, ist aber eine authentische vergleichende Darstellung der sozialpolitischen Belastung in den wichtigsten Exportindustrie-Staaten dringend notwendig. Diese Darstellung muß namentlich die Verhältnisse in den Ländern aufdecken, deren Industrie ohnehin schon mit Hilfe billigerer Lebenshaltung und niedrigerer Löhne unsere Stellung auf dem Weltmarkt gefährdet. Die vereinigten Kommissionen des Deutschen Handelstags betr. Sozialpoli­ tik und betr. Kleinhandel empfehlen deshalb, der Deutsche Handelstag wolle im Anschluß an seine Stellungnahme zum Entwurf eines Versicherungsgeset­ zes für Angestellte die Bearbeitung und Veröffentlichung einer solchen ver­ gleichenden Darstellung der internationalen sozialpolitischen Belastung bei der Reichsverwaltungbeantragen. Die Kommissionen beantragen ferner, der Deutsche Handelstag möge der Reichsverwaltung gegenüber aufs schärfste betonen, daß neuen sozialpoliti­ schen Plänen nicht eher nähergetreten werden dürfe,als bis der Ausgleich zwi­ schen unserer sozialpolitischen Belastung und derjenigen unserer Konkur­ renzstaatenhergestellt ist." 152 Nr.41

Nr.41

1911 April 8

Deutsche Techniker-ZeitungNr. 15 Ausnahmebestimmungen fürdie Werkspensionskassen? Dr. Güntherl

Die Kritik, die seitens einer Minorität der Privatangestellten an dem Ge­ setzentwurf über die Pensionsversicherung geübt wurde2, mußte an einem Punkte vorübergehen: an der hier getroffenen Regelung der Ersatzkassen­ frage.3 Wer große Schäden, die das Werkspensionskassenwesen vielfachgezei­ tigt hat, einigermaßen kennt, mußte als eine sozialpolitische Leistung ersten Ranges begrüßen, daß der Entwurf einen radikalen Weg einschlug und Ersatz­ institute grundsätzlich ausschloß. Nunmehr scheint es dem vereinten Bemü­ hen der Gegner gelungen zu sein, in diese sozialpolitisch und versicherungs­ technisch allein zulässige Ordnung Bresche zu legen und damit das Zustandekommen des Gesetzes überhaupt zu bedrohen.4 Es ist nicht zufällig, wenn die anscheinend gut unterrichtete "Kölnische Zeitung"die geplante Neu­ regelung mit einem Kommentar versieht, bei dem der Wunsch, der Entwurf möge überhaupt nicht Gesetz werden, leicht erkennbar Vater des Gedankens ist, - dasselbe Blatt, das einen durchaus einseitigen Bericht über den Privat­ beamtentag brachte und deshalb ausgerechnet in den Kreisen der Freien Ver­ einigung eine ehrende Erwähnungerhalten mußte.5 Wir folgen den Angaben der "K. Z.", nach denen die Regierung "grundsätz­ lich entschlossen" sein soll, "die sogenannten Werkspensionskassen als Ersatz­ anstalten der staatlichen Versicherung zuzulassen". Als Voraussetzungen hier­ für sollen nach der gleichen Quelle die folgenden gelten, - wobei zunächst unentschieden ist, ob auch andere Ersatzinstitute unter entsprechend modifi­ zierten Bestimmungen zugelassen werden sollen: "l. Die Kassenleistungen müssen den gesetzlichen Leistungen mindestens gleichwertig sein. 2. Die Erfüllbarkeit der gesetzlichen Leistungen muß dauernd gewährleistet sein.

� Dr. Adolf Günther, Privatdozent in Berlin. Vgl. Nr. 12, Nr. 23, Nr. 26 u. Nr. 33. 3 Die Ersatzkassenfrage wird in den§§ 372-386 des Versicherungsgesetzes für Angestellte gere­ ijelt. Vgl. hierzu: Reichsgesetzblatt 1911, Nr. 68, S. 989-1061. Vgl. Nr. 30 u. Nr. 46. 5 Nicht abgedruckt. 1911 April 8 153

3. Die Beiträge der Arbeitgeber zu den Kassen müssen mindestens den gesetzlichen Arbeitgeberbeiträgen gleichkommen und die Kassen müssen die sämtlichen versicherungspflichtigen Angestellten eines Arbeitgebers ohne Auswahl der Risiken aufnehmen. 4. Den Kassenmitgliedern muß ein Rechtsanspruch auf die Kassenleistungen und bei der Verwaltung und der Entscheidung über die Gewährung von Kassenleistungen eine den gesetzlichen Vorschriften entsprechende Mit­ wirkung eingeräumt werden. 5. Streitigkeiten über die Leistungen müssen in dem durch das Gesetzvorge­ sehenen Verfahrenerledigt werden. 6. Im Falle des Stellenwechsels muß eine den gesetzlichen Vorschriften und der Beteiligungsdauer bei der Kasse nach dem Inkrafttreten des Gesetzes entsprechende Anwartschaft aufrecht erhalten und beim Eintritt der gesetzlichen Versicherungsfälle das Deckungskapital der während der Beteiligungsdauer bei der Kasse erworbenen gesetzlichen Ansprüche an die Reichsanstalt überwiesenwerden.• Originell wären diese Vorschläge keineswegs, vielmehr nähern sie sich dem Standpunkt der zweiten Denkschrift, den der Entwurf zugunsten der Grund­ sätze des Hauptausschusses verlassen hatte. Die ganze Tragweite der Ände­ rung läßt sich augenblicklich noch nicht übersehen. Klar liegt der grundsätz­ liche sozialpolitische Fehler, auf den schon aufmerksamgemacht wurde, sehr berechtigt ferner sind die versicherungstechnischen Bedenken, die sich vor­ nehmlich auf die österreichischen Erfahrungen stützen und die in der Haupt­ sache auf Folgendem gründen: 1. Die Auswahl der günstigen Risiken durch die Werkspensionskassen ist durch die dritte "Bedingung" nur scheinbar hintangehalten. Tatsächlich findet eine derartige Auswahl in hohem Umfang statt, indem nach Mög­ lichkeit nur solche Angestellte in den Dienst aufgenommen werden, die für die Kasse keine zu große Belastung darstellen. Unter der Herrschaft des sogenannten "freien" Arbeitsvertrages wird dies dem Arbeitgeber stets unbenommen bleiben, die Folge ist die Auslese der versicherungstechnisch guten Risiken seitens der privaten Kassen und das Verbleiben der schlech­ ten in der Reichsanstalt. 2. Wenn diese Sachlage an sich nichts Neues enthält, da die Auslese ja auch schon heute stattfindet, so wird sie sich nach Zustandekommen des Geset­ zes noch verschärfen. Nach Punkt 6 der "Bedingungen" muß eine entspre­ chende Anwartschaft auf die Kassenleistungen bei Ausscheiden aus dem Dienste aufrecht erhalten bleiben.In diesem Falle wird das Deckungskapi­ tal für die bereits erworbenen Ansprüche an die Reichsanstalt überwiesen. Es steht grundsätzlich nichts im Wege, daß eine Kassesich nachträglich der schlechten Risiken dadurch entäußert, daß das Werk die betreffenden 154 Nr.41

Angestellten entläßt. Nahm man heute vielleicht noch Rücksichten, so wird dies künftig kaum mehr der Fall sein. Auf diese Weise ist es wahrscheinlich, daß sich die Reichsanstalt mit der Zeit zu einer Art Reservoir aller schlechten Risiken entwickelt; sie ist nicht in der Lage,jene zurückzuweisen, da sie das Kündigungsrecht des Arbeitgebers nicht antasten kann. Natürlich stellt dies alle versicherungstechnischen Berech­ nungen in Frage. 3. Die oben genannte Bestimmungin Punkt 6 ist aber auch nicht geeignet, in jedem Falle den Angestellten selbst schadlos zu halten. Es werden nicht etwa die einge:r.ahlten Beiträge, sondern es wird das Deckungskapital für die Leistungen der staatlichen Versicherung überwiesen. Da die Werks­ pensionskasse von vornherein die günstige Risikenauswahl hat, so sind die Leistungen, die ihre Mitglieder während der Dauer ihrer Zugehörigkeit zur Kasse entrichtet haben, im Verhältnis zu den seitens der Reichsanstalt zu befriedigenden Ansprüchen und im Verhältnis zum Gros der Versicherten relativ hohe; bei besserem Menschenmaterial ist die Invaliditätsgefahreben eine geringere, die Dauer der Beitragsleistung eine längere. Scheiden nun solche Versicherte aus der Werkspensionskasse aus, so entstehen ihnen trotz jener Überweisung beträchtliche Nachteile, da sie in der privaten Kasse fürdieselben Leistungenhöhere Ansprüche besaßen (und bei versi­ cherungstechnisch richtigem Aufbau der Kasse infolge des gesiebten Mit­ gliederstandes auch unbedingt haben mußten). Daß die Besorgnis, solche Einbußen zu machen, den Druck, den die Kassen heute ausüben, nicht mindert, liegt auf der Hand, die freizügigkeitsfeindliche Tendenz der Wohlfahrtseinrichtungbleibt also erhalten. 4. Vielleicht am schwersten aber wiegt der Umstand, daß diese Neuregelung geradezu eine Prämie auf die Gründung von Werkspensionskassen setzen muß. Der einzelne Arbeitgeber wird sich seinen Einfluß auf die Pensionie­ rung seiner Angestellten in möglichst weitem Umfang sichern wollen. Wenn nun auch die 4. und 5. "Bedingung" Reformen in Verwaltung und Rechtsprechung der Kassen - dringend nötige Reformen!• - vorsieht, so ist doch die Garantie freier Betätigung der Angestelltenvertreter nicht gege­ ben. Im Bannkreis des einzelnen Werks, zumal des Riesenbetriebs, ist für eine solche nur bedingt Raum, das zeigen Erfahrungen, die gerade der DeutscheTechniker-Verband hinreichend machte. Das alles ist nur ein Teil der Gründe, die uns auf das Entschiedenste an der Regelung des Entwurfs festhalten und die neuen Vorschläge abweisen lassen. Mögen die Privatangestellten wenigstens in diesem Punkte geschlossen vorge­ hen! Nicht nur um die skizzierten versicherungstechnischen Bedenken handelt

• Es sei auf die jüngste Literatur über die Werkspensionskassen, insbesondere die Schriften von Götze, Laporte, Löwenfeld, auf die wir nochzuriickkommen, verwiesen. 1911 April 10 155 es sich und auch nicht ausschließlich um die Pensionsversicherung und ihr Zustandekommen: Dinge, die den Arbeitsvertrag in seinem Innersten berüh­ ren, die für die Freiheit der Persönlichkeit schwer ins Gewicht fallen, stehen auf dem Spiel und wir müssen erklären, daß die Annahme der neuen Vor­ schläge unser Interesse an dem Gesetz selbst wesentlich herabschrauben würde.

Nr.42

1911 April 10

Resolution der Vereinigung von Handelskammern des niederrheinisch-west­ fälischenlndustriebezirks 1 Ausfertigung

[Kritik an der Einbeziehung von Angestellten mit über 3000 Mark Jahresge­ halt im Entwurfeines Versicherungsgesetzes für Angestellte und Empfehlung des Ausbaus der bestehenden Invalidenversicherung)

"Die Vereinigung von Handelskammern des niederrheinisch-westfälischen Industriebezirks steht dem Gedanken einer Erweiterungder sozialen Fürsorge für die Privatangestellten über das bisher gewährte Maß hinaus nach wie vor sympathisch gegenüber. Sie muß aber gegen den dem Bundesrat vorgelegten Entwurfeines Versicherungsgesetzes für Angestellte2, der für alle Angestell­ ten mit einem Gehalt bis zu 5000Mark einschließlich eine Sonderversicherung einführen will, aus grundsätzlichen Erwägungen nachdrücklich Einspruch er­ heben. Die Reichsversicherungsgesetzgebung hatte von Anfang an den bei allen späteren Reformen auch beibehaltenen Zweck, nur denjenigen Kreisen der unselbständig arbeitenden Bevölkerung einen Schutz vor den Notlagen des Lebens zu gewähren, die für die Fälle der Krankheit, des Unfalls und der In­ validität nicht selbst Vorsorge treffen können. Diese Voraussetzung trifft für große Kreise derjenigen Privatangestellten, die nach dem vorliegenden Ge­ setzentwurfin die Versicherung einberogen werden sollen, nicht zu.

1 Abgedrucktim Berichtüber die XXXV. Sitzung der Vereinigungvon Handelskammerndes nie­ derrheinisch-westfälischen Industriebezirksvom 10. April1911 in Essen. Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv 20/194/3 (HK Duisburg). Pensionsversicherung 1909-1911. Veröffentlichtim "Reichsanzeiger"Nr. 13 vom 16. Januar 1911. 156 Nr.42

Sieht man aber bei Weiterführung der Reichsversicherungsgesetzgebung von jener Voraussetzung ab und gewährt, wie dies in dem Gesetzentwurf vor­ gesehen wird, verhältnismäßig gut situierten Privatangestellten, deren Ein­ kommen über das Einkommen weiter Kreise der selbständig tätigen Personen hinausgeht, im Wege der Zwangsversicherung eine gesetzliche Fürsorge, so werden Berufungen von unabsehbarer Tragweite aus jenen Kreisen sich nicht vermeiden lassen. Schon aus diesem Grunde muß verlangt werden, daß auch bei Erweiterung des Kreises der von dem staatlichen Versicherungszwang er­ faßten Privatangestellten an dem Grundgedanken der sozialen Versicherungs­ gesetzgebung unbedingtfestgehalten wird. Unter Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes wird sodann erneut und sorgfältig geprüft werden müssen, ob dem Zweck einer erweiterten Fürsorge für die Privatangestellten statt durch Einführung einer Sonderversicherung nicht besser durch Ausbau der bereits bestehenden Invalidenversicherung ent­ sprochen werden kann. Ein solcher Ausbau der Invalidenversicherung durch Einfügung neuer Lohnklassen erscheint gegenüber den Nachteilen, die eine Sonderversicherung durch weitere Komplizierung unseres Versicherungssystems, durch Schaffung eines neuen, großen und kostspieligen Beamtenapparates und durch die Schwierigkeit der Abgrenzung des Kreises der versicherungspflichtigen Privat­ angestellten mit sich bringen würde, als das nächstliegende3• Eine Entschei­ dung darüber, welcher Weg als zweckmäßig anzusehen ist, wird sich aber erst fällen lassen, wenn die Tragweite einer Einbeziehung der Angestelltenkreise etwa bis zu einre Gehaltsgrenze von 3000 Mark in die Invalidenversicherung und die Rückwirkung einer solchen Angliederung der höher besoldeten Ange­ stellten auf die Arbeiterversicherung seitens der Reichsregierung durch Bei­ bringung ausreichender Unterlagen völlig klargestellt ist. Einer überstürzten Behandlung und Verabschiedung des Entwurfes eines Versicherungsgesetzes für Angestellte muß die Vereinigung mit Entschieden­ heit widersprechen. Eine sachgemäße Regelung der Frage der Angestellten­ versicherung ist nicht nur direkt für unsere Gewerbetreibenden, sondern auch grundsätzlich für unser gesamtes Staatswesen von einer derartigen Tragweite, daß diese Regelung unbeeinflußt von politischen Erwägungen vorübergehen­ der Bedeutung lediglich nach sachlichen Gesichtspunkten, unter Hinzuzie­ hung nicht nur der Angestelltenkreise, sondern auch der Unternehmer erfol­ gen muß."

3 Vgl. die ähnlich lautenden Stellungnahmen aus Arbeitgeberkreisen; Nr. 15, Nr. 40, Nr. 134. 1911 April 10 157

Nr.43

1911 April 10

Anlage zum Protokoll der 10. Sitzung der Kommission fürsoziale Angelegen­ heiten der Siemens AG.1 Ausfertigung

[Vor- und Nachteile von Tarifverträgen)

Die Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse erfolgt in unsern Betrie­ ben bisher durch die Bestimmungen der Firma insbesondere in den Arbeits­ ordnungen, und, soweit der Firma insbesondere in den Arbeitsordnungen, und, soweit es sich um Löhneund Akkorde handelt, durch Verabredungen mit den einzelnen Arbeitern. Diese Handhabung wünschen die Arbeiter-Gewerkschaften in Überein­ stimmung mit den Sozialreformern zu ersetzen und durch kollektive Verein­ barungen (Tarifverträge) zwischen Arbeiter-Gewerkschaften und Un­ ternehmer-Verbänden oder einzelnen Unternehmern. Wir haben bisher, wo solche Forderungen an uns herangetreten sind, diese entschieden abgelehnt, in Übereinstimmung mit dem größten Teil der übrigen Groß-Industrie,insbesondere auch in Übereinstimmung mit der AE.G. Es be­ steht auch nicht die Aussicht, daß wir in kürzerer Zeit etwa genötigt werden könnten, in unsern Fabriken Tarifverträgeeinzuführen. Der AE.G. ist in diesen Tagen vom Transportarbeiter-Verband die Auffor­ derung zum Abschluß eines solchen Tarifvertrages für ihre Lager-, Transport­ und Hofarbeiter vorgelegt worden. In einer daraufhin einberufenen Bespre­ chung mit dem Vorsitzenden des Berliner Metall-Industriellen-Verbandes2 und den Herren Baurat Dihlmann3 und Direktor Pfei14 wurde beschlossen, daß einige Zugeständnisse gewährt, der Abschluß eines Tarifvertrages aber abgelehnt werden soll.

1 Werner-von Siemens-Institut, SAA 4/LK17 - Nachlaß Wilhelm von Siemens, 2257 M. Die Kommission für Soziale Angelegenheiten war ein Vorstandsausschuß der Siemens AG mit Entscheidungsbefugnis,in dem Wilhelm von Siemens als Delegierter desAufsichtsrats den Vorsitz führte. Die ersteSitzung dieserKommission fand am 17.6.1907statt, die letzte am 3.4.1914. An der 10. Sitzung der Kommission nahmen teil: Wilhelm von Siemens (1855-1919), Arnold von Siemens (1853-1918), Direktor Dr. Berliner, Direktor Pfeil, Prof. Dr. Raps, Direktor Dr. Francke �nd Fr. Fellinger 1. Ernstv. Borsig(1869-1933). 3 CarlDihlmann, seit 1893 als Werkstattdirektor beider FirmaSiemens zuständig für die gesamte Jtarkstromproduktionund für Arbeiterangelegenheiten. Robert Pfeil, Direktor beider Firma Siemens und Expertefür Arbeiterfragen. 158 Nr.43

Die Umstände, die uns veranlassen, Tarifverträge abzulehnen, sind im We­ sentlichen: Tarifverträge werden immer nur auf kurze Zeitabgeschlossen. Der Ablauf dieser Zeitist ein Anreiz zur Stellung neuer Forderungen. Der Tarif­ vertrag enthält als Hauptsache Mindestlöhne. Vertraglich vereinbarte Min­ destlöhne haben die Tendenz nach den bestehenden Durchschnittslöhnen be­ messen zu werden, also das ohnehin dauernd vor sich gehende Steigen der UJhne noch weiter zu beschleunigen. Durch den Tarifvertrag ist der Unter­ nehmer unter allen Umständen gebunden. Er hat aber niemals die Sicherheit, ob er zu den Bedingungen des Tarifvertrags auch Arbeiter bekommt. Er hat keinen Vertragsgegner, an den er sich bei Nichteinhaltung des Vertrages hal­ ten kann. Die Gewerkschaften schließen zwar Tarifverträge ab, ihre Haftbar­ machung fürdie Einhaltung dieser Verträge ist aber illusorisch, da sie sich fast in jedem Fall der Verantwortung entziehen und die Schuld auf die einzelnen Arbeiter abwälzen können. Der Tarifvertrag bindet also lediglich den Unter­ nehmer, ohne ihm die seinen Zugeständnissen entsprechende Sicherheit zu gewähren. Die Unsicherheit wird nun allerdings vielfach schlimmer hinge­ stellt, als sie ist. Wenn eine Firma, wie die unsere, sich heute entschließen würde, mit den bestehenden roten und gelben Gewerkschafteneinen Tarifver­ trag zu schließen, so wäre dies für diese Gewerkschaften eine so bedeutende Reklame, daß auf absehbare Zeitmit Sicherheit angenommen werden könnte, daß von Seiten auch der roten Gewerkschaftenalles versucht würde, um unse­ rer Firma das Tarifverhältnis so angenehm wie möglich erscheinen zu lassen, denn die Gewerkschaften, auch die sozialdemokratischen, stehen, im Ge­ gensatz zur politisch-sozialdemokratischen Partei, dem Abschluß von Tarifver­ trägen sehr sympathisch gegenüber, weil sie dadurch Mitglieder zu gewinnen pflegen. Eine Sicherheit vor Arbeitsunruhen aber wäre uns durch den Ab­ schluß eines Tarifvertragesnicht gewährleistet, denn wenn aus irgendwelchen Gründen aus der Arbeiterschaft selbst Unzufriedenheit oder Streiklust er­ stünde, wären erfahrungsgemäß die Gewerkschaften ihrerseits nicht in der Lage, einen Streikausbruch zu verhindern, da sie gerade bei solchen Gelegen­ heiten vielfachdie Massen aus der Hand verlieren. Für unsere Firma ist vorläufig die beste Sicherung der gelbe Verband, und der Abschluß von Tarifverträgen in unseren Fabriken würde für uns nichts weiter bedeuten, als ein Zugeständnis an die durch die Sozialreformer beein­ flußte öffentliche Meinung, welche eine Regelung des Arbeitsverhältnisses durch Verträge zwischen Koalitionen von Arbeitern und Unternehmern als eine notwendige und gerechte Forderung ansieht. Besonders geartet sind die Arbeitsverhältnisse in unseren Technischen Bureaus. Diese sind einmal Außenposten mit verhältnismäßig verschwinden­ den in keinem Fall einige wenige Hundert übersteigenden Arbeiter1.ahlen,und dann sind diese Arbeiter Monteure, die nicht in geschlossenen Werkstätten, 1911 April 10 159 sondern einzeln oder in ganz kleinen Gruppen an zahlreichen Baustellen zer­ streut arbeiten, wo sie mit den Arbeitern gerade der zum Baugewerbe gehö­ renden Kategorien zusammenkommen, die bekanntlich zu den am straffsten organisierten Gewerkschaftengehören, und die am nachdrücklichstenden Ta­ rifgedanken vertreten. An diesen Stellen ist der Einfluß der Arbeitergewerk­ schaften natürlich viel stärker als in unseren Fabriken. Die Bildung einer gelben Gewerkschaft ist dort so gut wie ausgeschlossen; es sind also in erster Linie die sozialdemokratischen, im Westen vielleicht noch die christlichen Gewerkschaften unter unseren dortigen Arbeitern wirksam. Für die Techni­ schen Bureaus kann nicht mit solcher Bestimmtheit gesagt werden, daß uns ein Tarifvertrag, wenn wir ihn nicht wollen, so leicht nicht aufgenötigt werden könnte. In den Technischen Bureaus hatten wir daher auch, seit die Gewerk­ schaften sich die Heranziehung der Monteure zur Mitgliedschaft angelegen sein ließen (seit 1905), dauernd zu den immer wieder an uns herantretenden Forderungen des Metallarbeiterverbandes auf Abschluß von Tarifverträgen Stellung zu nehmen. Wir haben uns bisher überall in der Weise verhalten, daß wir uns unsern Arbeitern gegenüber zu Zugeständnissen bereit findenließen, jedoch ausdrücklich ablehnten: 1. Jede Verhandlung mit dem Metallarbeiterverband, 2. Abschluß von Tarifverträgen, 3. Gewährung von Mindestlöhnen. Unser Vorgehen spielte sich regelmäßig so ab, daß wir die in Frage kom­ menden Installationsfirmen an den betreffenden Orten, unter denen immer nur ganz wenige größere, meistensteils aber Handwerksbetriebe vertreten wa­ ren, entweder direkt oder durch Vermittlung des Verbandes der elektrotechni­ schen Installationsfirmen in Deutschland zusammenberiefen und mit diesen gemeinsam vorgingen. Mit diesem Vorgehen hatten wir bisher folgende Ergebnisse: In den Städten Berlin (1907), Breslau (1907), Karlsruhe (1907), Magdeburg (1909)genügt die Einberufung der Installationsfirmen und die Ablehnung des Abschlusses von Tarifverträgen,um die Bewegungen im Keime zu ersticken. In Dresden (1909) kam es in Folgedieser Ablehnung zu einem Streik, der 5 Wochen dauerte und dann im Sande verlief, ohne daß irgendwelche Ver­ handlungen stattgefunden hatten. Auch in Mannheim (1907) kam es zu einem Streik, der ebenfalls nicht mit Abschluß eines Tarifvertrages, sondern mit einer Vereinbarung zwischenden einzelnen Firmen und deren Arbeitern über Lohnaufbesserungenendigte. In Hamburg (1907) kam es nach fünfwöchigem Streik zu einer von dem dortigen Arbeitgeberverband einerseits und einer Kommission der Monteure, hinter welcher der Metallarbeiterverband stand, andererseits unterzeichneten 160 Nr.43 schriftlichen Vereinbarung, in der Mindestlöhne ausdrücklich festgesetzt wa­ ren, und die als Anhang in der Arbeitsordnungaufgenommen worden ist. In Stuttgart (1910) endete ein bei allen Installationsfirmen ausgebrochener Streik, den diese gegen unseren Einspruch mit teilweiser Aussperrung beant­ wortet hatten, damit, daß in einer Versammlung der Installateure, welche in Abwesenheit unserer Vertreter stattfand, zwischen den Installateuren und dem Metallarbeiterverband ein Tarifvertrag mit Mindestlöhnen u.s.w. verein­ bart wurde. Der Tarifvertrag wurde von sämtlichen Firmen angenommen, mit Ausnahme unseres Technischen Bureaus, dessen Arbeiter die Arbeit wieder aufnahmen, als ihnen zugesagt wurde, daß ihnen die gleichen materiellen Zugeständnisse bewilligt würden, wie sie im Tarifvertrag bei den andern Fir­ men niedergelegt seien. In Nürnberg (1910) kam es ebenfalls zum Streik, doch waren die Arbeiter unserer Zweigniederlassung und die der AE.G. nicht daran beteiligt. Es fanden dort Verhandlungen zwischen den Installationsfirmen und einer Kommission von Arbeitern unter Zuziehung eines Beraters des Metallarbei­ terverbandes statt, an der Dr. S1uzewski5 von der AE.G. als Berater der Installateure teilnahm. Dabei kam eine Vereinbarung zu Stande, in welcher unter Vermeidung des Begriffes "Mindestlöhne" Durchschnittslöhne festge­ stellt wurden, die eine Spannweite der Löhne von + 10 % vorsahen. Die in der Vereinbarung enthaltenen Zugeständnisse sind von unserer Zweigniederlas­ sung übernommen, die Vereinbarung ist jedoch nicht durch Unterschrift aner­ kannt worden. In München (1910) brach der Streik zuerst bei uns, der AE.G. und 2 ande­ ren größeren Firmen aus und wurde erst später auf die übrigen Installations­ betriebe ausgedehnt. Nach dem Vorgang in Nürnberg fanden auch dort Ver­ handlungen zwischen einer Kommission der Installateure und einer solchen der Arbeiter statt. Für die Arbeiter führten die Verhandlungen 2 Beamte des Metallarbeiterverbandes, für die Installateure Dr. Sluzewski und Dr. Fellin­ ger6. Auf Antrag des Metallarbeiterverbandeshatte der Direktor des Münche­ ner Gewerbegerichts, Dr. Prenner, alle erdenklichen Versuche gemacht, die Verhandlung vor das Gewerbegericht zu ziehen, sich dann aber zurückgezo­ gen, als seitens der Firmen die Mitwirkung des Gewerbegerichts entschieden abgelehnt wurde, und seinem Aerger darüber in einem sehr wenig unpartei­ ischen Artikel in einer Münchener Zeitung Luft gemacht. Die Verhandlungen führtenzu einer schriftlichen Vereinbarung mit "Durchschnittslöhnen". In Düsseldorf (1910) wurden wiederum nur die kleineren Installateure, nicht aber die AE.G. und wir, bestreikt. Es kam hier unter vollkommenem Ausschluß des Metallarbeiterverbandes und seiner Beamten zu einer Verein-

5 Dr. Sluzewski, Experte für Sozialpolitik beider Firma AEG. 6 Dr. Richard Fellinger, Experte für Sozialpolitik bei der Firma Siemens. 1911 April 10 161 barung zwischenden bestreikten Firmen und ihren Arbeitern vor dem Düssel­ dorfer Gewerbegericht. Unser Technisches Bureau blieb von der ganzen Bewegung unberührt. Es wurde auch nicht zur Annahme der Vereinbarung aufgefordert. Beim gegenwärtigen Stand der Konjunktur ist vorauszusehen, daß wir auch im laufenden Jahr mit gleichartigen Forderungen an einzelnen Orten zu rech­ nen haben werden. Der Anfangist schon gemacht: In Dresdenhaben die Mon­ teure unseres Technischen Bureaus Versammlung abgehalten und durch eine Kommission schriftlich die Forderung gestellt, die bestehenden Arbeitsver­ hältnisse, die kurz zuvor durch das Zugeständnis erhöhter Überstundenbe­ zahlung verbessert worden waren, sollten nicht in einer Arbeitsordnung, son­ dern in einer "Vereinbarung" niedergelegt werden. Die Angelegenheit schwebt noch. Es erscheint wünschenswert, eine Entscheidung darüber herbeizuführen, ob auf Grund der bisher gewonnenen vorstehend kurz dargestellten Erfahrungen auch künftig, d.h. zunächst bei den im laufenden Jahre etwaeintretenden Fäl­ len in der gleichen Weise wie bisher vorgegangen werden soll. Es steht zu vermuten, daß der Metallarbeiterverbandauf Grund ebendieser Erfahrungen in Zukunft teilweise anders verfahrenwird, als bisher. So soll in Dresden die Parole ausgegeben sein, daß zunächst in diesem Frühjahr der Reihe nach jeder Firma bestimmte und jeder wieder andere Forderungen gestellt, und nachher alle Firmen wieder aufgefordert werden sollen, die Summe des in irgendeiner Firma Erreichten in einer Vereinbarung, also einem Tarifvertragfestzulegen. Der Metallarbeiterverbanderleichtert sich das Vorgehen auf diese Weise, da er Streiks bei einzelnen Firmen natürlich sehr lange aushalten kann. Es fragt sich nun, wie weit unsere Firma die ganze Angelegenheit als wichtig ansehen muß. Lediglich vom Standpunkt der Ge­ schäftsinteressen der einzelnen Technischen Bureaus aus betrachtet erscheint das Eingehen von Tarifvertragsabschlüssen nicht als unmittelbar abzuweisen. Es ist möglich, daß wir, wenn wir Tarifverträge schließen, in nächster Zeit mehr Ruhe in den Technischen Bureaus haben werden, als bei Beharren auf unserem bisherigen Standpunkt; und zwar auch dann, wenn wir die Vereinba­ rung lediglich mit unseren Arbeitern oder zusammen mit andern Firmen mit einer Kommission von Arbeitern verschiedener Firmen unter Ausschluß des Metallarbeiterverbandes als solchen oder höchstens mit Zulassung eines von dessen Beamten (wie in Nürnberg oder München) abschließen, denn der Metallarbeiterverbandwird in jedem Fall mit Recht erklären, daß er die Ver­ anlassung zum Abschluß der Vereinbarung gegeben hat, und daswird ihm ge­ nügen, da er hierdurch seine Absicht, Mitglieder zu gewinnen, schon zu errei­ chen vermag. Der Fall, daß es zum Streik kommt, lediglich weil die Firmen nicht mit dem Metallarbeiterverband als solchen verhandeln wollen, ist nach 162 Nr.43 den vorjährigen Erfahrungen unwahrscheinlich. Dies gilt natürlich nur für die allernächsteZeit. Haben Tarifverträgeeinmal festen Fuß gefaßt,dann wird die Forderung nach dem Abschluß durch den Metallarbeiterverband bald genug auftauchen. Es muß also bei der Entscheidung der Frage über das künftige Vorgehen ins Auge gefaßt werden, daß auch nur ein teilweises Entgegenkom­ men unter allen Umständen eine Stärkung der Kampfgewerkschaften an den betreffenden Orten zur Folge habe. Es muß weiter berücksichtigt werden, daß der Abschluß von Tarifverträgen in unseren Technischen Bureaus die Forde­ rungen nach solchen auch in den Fabriken unserer Firma und der AE.G. ver­ stärken wird, vor allem an den Orten, wo gleichzeitig Technische Bureaus und Fabriken sind, also füruns in Nürnberg und Berlin, umsomehr, als bekanntlich ein großer Teil unserer Monteure abwechselndauf Montage und in der Werk­ statt tätig ist. Wie schon hervorgehoben, ist nun vorläufigdie Möglichkeit, daß wir in unseren Fabriken zum Abschluß von Tarifverträgen genötigt werden könnten, jedenfalls für Berlin als ziemlich ausgeschlossen zu betrachten. Immerhin wird der sogenannte "Tarifgedanke" durch den Abschluß solcher Verträge in den Technischen Bureaus seitens einer Firma, wie der unseren, erheblich an Boden gewinnen. Hat unsere Firma also ein Interesse daran, die Ausbreitung der Tarifver­ träge vorläufig noch aufzuhalten, z.B. möglichst so lange, bis den bestehenden großen Kampfgewerkschaften durch andere Arbeiterorganisationen ein Gegengewicht erwachsensein wird, so dürfte es sich empfehlen, die Forderung nach dem Abschluß von Tarifverträgen in den Technischen Bureaus nach wie vor abzulehnen, und auf diesem Gebiet, wenn es notwendig ist, sich jedes Zugeständnis abringen zu lassen, und dies auch dann, wenn hierdurch die Arbeitsverhältnisse in den Technischen Bureaus für die nächste Zeit weniger ruhige sein sollten, als dies beim Abschluß von Tarifverträgen vielleicht der Fall wäre. Esmuß noch darauf hingewiesenwerden, daß die kleineren und namentlich die kleinsten Installationsfirmen sich vielfach sehr geneigt gezeigt haben, Tarifverträge abzuschließen, und daß man lediglich von deren Standpunkt aus diese Neigung als nicht unberechtigt ansehen muß. Es ist uns bisher, mit Aus­ nahme des Stuttgarter Falles, gelungen, die Installationsfirmen von der Bedenklichkeit des Abschlusses von Tarifverträgen zu überzeugen. Es fragt sich eben nach dem Stuttgarter Vorgang, ob dies für die nächste Zeit so blei­ ben wird. Wir würden uns dann mit den anderen Installationsfirmen nur mit dem Vorbehalt solidarisch erklären, daß Tarifverträge nicht abgeschlossen werden, und würden in dem Stuttgarter Vorgang gleichgearteten Fällen nöti­ genfalls ebenso wie dort unseren Arbeitern freiwillig in wesentlichen gleich­ wertige Zugeständnisse machen, zu denen die anderen Firmen durch den Tarifvertraggezwungen sein würden. 1911 April 13 163

Zur Entscheidung steht also die Frage: Werden wir uns wie bisher und zwar, auch wenn es dadurch zu Streiks kommt, ablehnend verhalten gegen 1. die Verhandlung mit dem Metallarbeiterverband, 2. den Abschluß von Tarifverträgen, 3. wenn möglich, gegen die Festsetzung von Mindestlöhnen und uns diesen drei Forderungen gegenüber jedes Zugeständnis nur in Fällen, in denen es sich nicht vermeiden läßt, abringen lassen? oder aber: Werden wir freiwillig den Abschluß von Vereinbarungen nur mit unsern eigenen Arbeitern oder aber im Verein mit anderen Installateuren mit einer Kommission der Arbeiter verschiedener Firmen oder endlich mit dem Metallarbeiterverbandeingehen ?7

Nr.44

1911 April 13

Aufrufder Deutschen Gesellschaftfür Kaufmanns-Erholungsheime1 Teildruck

[Aufforderungan Kaufleuteund Industrielle, der Gesellschaft beizutreten]

Vor wenigen Wochen ist unter begeisterter Zustimmung aus allen Gauen des Reiches die "Deutsche Gesellschaft für Kaufmanns-Erholungsheime" gegründet worden. Sie ist berufen, eine Lücke in unserer sozialen Fürsorge auszufüllen. Die Erhaltung und Hebung der Volksgesundheit ist im Hinblick auf die fortschreitende Industrialisierung Deutschlands, auf das rapide Anwachsen der Städte, mit seiner Zusammendrängung großer Volksmengen, auf die

7 Wä_�rend der 10. Sitzung der Kommission für soziale Angelegenheiten wurde beschlossen: " ... eine Anderung in unserem Vorgehen nicht eintreten zu lassen, vielmehr auch künftig jeden Fall nach seinen besonderen Erfordernissen zu entscheiden, und wie bisher nach Möglichkeit den Ab­ schluß von Tarifverträgen oder sonstigen Vereinbarungen, das Zugeständnisvon Mindestlöhnen, die Verhandlung mit Arbeiterverbänden, sowie die Verhandlung in Kommissionen verschiedener Arbeitgeber mit Kommissionen von Arbeitern verschiedener Finnen zu vermeiden." Vgl. hierzu: Protokoll der 10. Sitzung der Kommissionfür soziale Angelegenheiten vom 10.4.1911. Werner-von-Siemens-Institut, SAA 4/LK17 - Nachlaß Wilhelm von Siemens, 2257 M. 1 Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, 5/23/17. 164 Nr.44

immer größer werdende Hast und Unruhe, die mit der neuzeitlichen Ent­ wicklung unabweisbar verknüpft sind, ein dringendes Gebot für jeden Vater­ landsfreund. In richtiger Erkenntnis der Erfordernisseder Zeit haben in den letzten Jah­ ren Berufsvereinigungen aller Art Erholungsheime errichtet.

Zu den Anstalten für den Handwerkerstand gesellten sich Erholungsheime für Lehrer, für städtische Beamte und Angestellte, für Seeleute, für Arbeiter, fürdie Schutzmannschaft, fürFeuerwehrleute, für die Angehörigen staatlicher Verkehrsanstalten. Für die Offizierebesteht ein Heim im Taunus, ein weiteres ist geplant, Künstlererholungsheime sind im Entstehen begriffen. Die Gemeinde-Beamten Preußens, die bayerischen Eisenbahnangestellten besitzen ebenfalls eigene Erholungsheime. Nur ein Stand, aus dessen Reihen sich zu jeder Zeit Männer gefunden haben, die sich an die Spitze aller sozialen Be­ strebungen stellten, von dem mit Recht gesagt wird, daß er eines der wichtig­ sten Elemente der nationalen Wohlfahrtund des Fortschritts, ein Kulturträger allererster Bedeutung sei, er allein hat sich bisher wenig mit dieser Frage beschäftigt.

Dieser Stand ist die deutsche Kaufmannschaft. Mangelndes Bedürfnis kann man zur Begründung dieser Unterlassung nicht anführen. Im Gegenteil. Es dürfte wenig Berufsarten geben, die so hohe An­ sprüche an die geistige und körperliche Spannkraft des Einzelnen erheben, die eine so intensive und anstrengende Tätigkeit bedingen, wie das moderne kaufmännische Leben. Diese Anforderungensind so gewaltige, daß sie in häu­ figen Fällen zu schweren gesundheitlichen Schädigungen führen. Die zu lohnender Selbständigkeit oder auf höher bezahlte Posten aufgestie­ genen Mitglieder des Kaufmannsstandes stellen demgemäß auch ein starkes Kontingent der auf Badeplätzen, in Sanatorien, Kurorten u.s.w. Erholung Suchenden. Diejenigen jedoch, welche sich den Luxus einer solchen Erholungsreise gönnen dürfen, sind gering an Zahlgegenüber dem Millionen­ heer kaufmännischer Angestellter und minderbemittelter selbständiger Kauf­ leute, denen es an den Mitteln zu solchem Aufenthaltfehlt. Ein längerer oder kürzerer Urlaub wird heutzutage in den meisten geschäftlichen Betrieben gewährt. Aber wie viele können von der goldenen Freiheit jenen Gebrauch machen, der ihnen wirklich eine Erholungs- und Stärkungspause in dem Ner­ ven, Geist und Körper zerrüttenden Berufsleben bedeutet. Für weitaus die meisten besteht keine Möglichkeit, einige Wochen auszuspannen, ohne an die Scholle gefesselt zu sein. [ ... Ausführungen über die Schönheit der freien Natur.] 1911 April 13 165

Ganz besonders gilt dies von den jugendlichen Personen und den im allge­ meinen geringer bezahltenweiblichen Angestellten. Dem will die Deutsche Gesellschaft für Kaufmanns-Erholungsheime abhelfen. Die Deutsche Gesellschaft für Kaufmanns-Erholungsheime bezweckt, durch die Errichtung und den Betrieb von Erholungsheimen in den verschiedensten Gegenden des Deutschen Reiches männlichen und weiblichen kaufmännischen Angestellten und minderbemittelten selbständigen Kaufleu­ ten, ohne Rücksicht auf das religiöse Bekenntnis, auf die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder zu irgend einer Vereinigung, für geringes, den Verbrauch zu Hause nicht nennenswert übersteigendes Entgelt den Aufent­ halt in einem Erholungsheim zu ermöglichen. Sie beabsichtigt 20 Heime, teils an der See (Nord- und Ostsee), teils im Mit­ telgebirge (Harz, Thüringerwald, Riesengebirge, sächsisches Erzgebirge, Odenwald, Taunus, Vogesen, Schwarzwald u.s.w.), teils im Hochgebirge (Bayern) und an sonstigen klimatisch und landschaftlich bevorzugtenOrten zu errichten, in deren Auswahl die Besucher nicht beschränkt werden und die sie nach ihren Wünschen und den Erfordernissenihres Gesundheitszustandes frei wählen in der Lagesein sollen. Dieser gewaltige Plan soll verwirklichtwerden allein durch die Selbsthilfe der Kaufmannschaft. Nur die Grundstücke sollen durch den sozialen Sinn von Staat und Gemeinden kostenlos für diesen Zweck zur Verfügunggestellt werden. In die­ ser Erwartung hat sich die Gesellschaft nicht getäuscht, wie die jetzt schon zahlreichenAnerbietungen beweisen. [ ... Aufrufan Kaufleuteund Industrielle, der Gesellschaftbeizutreten.)

Deutsche Gesellschaftfür Kaufmanns-Erholungsheime. [Es folgen die Namen der Präsidiums- und Ausschußmitglieder der Gesell­ schaft.] 166 Nr.45

Nr.45

1911 April 14

Erlaß des Regierungspräsidenten in Düsseldorf an den Oberbürgermeister in Duisburg1 Eigenhändige Ausfertigung! Geheim!

[Verwendungund Ausrüstung von Zechenwehren]

Ich habe keine Einwendungen dagegen zu erheben, daß die Ernennung der Mitglieder der Zechenwehren zu Hilfspolizeibeamten und ihre Vereidigung erst kurz vor oder unmittelbar nach dem Ausbruch eines allgemeinen Berg­ arbeiterstreiks vorgenommen wird. Es ist alsdann auch gemäߧ 53 Nr. 6 der Städteordnung die Stadtverordnetenversammlung zu hören. Ich behalte mir ferner bis dahin die Bestätigung, die gegebenenfalls telegraphisch zu beantra­ gen ist, vor. Alle Vorbereitungen sind jetzt zu treffen. Unter anderem sind die Listen der zu Hilfspolizeibeamten zu bestellenden Personen ständig auf dem laufenden zu halten, und es ist mir von jeder Änderung Anzeige zu erstatten. Auch die Ernennungsurkunden für die einzelnen Mitglieder der Zechenwehrenund die Ausweiskarten, betreffend die Ermächtigung zur Führung eines Revolvers, sind bereit zu halten. Bezüglich einiger der von Euerer Hochwohlgeboren für die Ernennung zu Hilfspolizeibeamten in Aussicht genommenen Personen habe ich Bedenken gegen die Bestätigung wegen der von ihnen erlittenen Strafen, solange diese Strafen nicht in den polizeilichen Listen gelöscht sind. Es gilt dies von Ludwig Schmidt, Peter Brief, Hermann Seeger, Gustav Reinshagen. Falls nicht aus besonderen Gründen darauf Wert zu legen ist, auch diese Personen gegebe­ nenfalls zu Hilfspolizeibeamten zu bestellen, ersuche ich, sie zu streichen. Eine neue Liste bitte ich mir alsdann vorzulegen. Die über die einzelnen Per­ sonen geführtenVerhandlungen folgenanliegend zurück. Bezüglich der Ausrüstung der zu Hilfspolizeibeamten bestellten Mitglieder der Zechenwehren mit Schußwaffen nehme ich auf den abschriftlich anliegen­ den Erlaß des Herrn Ministers des Innern vom 19. v.Mts. Bezug.2 Diesem

1 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Reg. Düsseldorf, 15 965. Unterzeichnetvon Koenigs, dem Ver­ treter desRegierungspräsidenten. Geheimer RegierungsratLehr, Oberbürgermeister von Duisburg. Vgl. Nr.19. 2 Vgl. Nr. 37. 1911 April 15 167

Erlasse entsprechend ersuche ich die Ausrüstung mit Revolvern statt mit Selbstladepistolen vorzusehen. Im übrigen ist die Ausrüstung mit einem Gummiknüppel der mit Seitengewehr vorzuziehen. Eine Dienstanweisung für die Zechenwehren und eine Gebrauchsanweisung für den Revolver ist von Euerer Hochwohlgeboren zu erlassen; ich ersuche dabei die Ihnen alsbald vom Polizeipräsidenten in Essen zugehenden Anwei­ sungen als Muster zu nehmen. Die Anweisungen sind in genügender Zahl vorrätig zu halten. Je 1 Exemplar bitte ich mir vorzulegen. Mit der Verteilung der Anweisungen wird zweckmäßig bis zur Verwendung der Zechenwehren gewartet. Sollte die von Euerer Hochwohlgeboren aufgestellte Dienstanwei­ sung bereits in größerer Zahl hergestellt sein, ersuche ich, sie mir vor einer etwaigen Änderung zur Prüfung einzureichen. 3

Nr.46

1911 April 15

Schreiben des Ausschusses vereinigter Betriebspensionskassen an die Pen­ sions-, Witwen- und Waisenkassen für die Beamten der Firma Fried. Krupp1 Ausfertigung

(Anerkennung der Betriebspensionskassen als gleichwertige Ersatzinstitute ist im Versicherungsgesetzentwurf für Angestellte nicht gewährleistet]

Wir bitten um gefl. Mitteilung, ob von Seiten des Centralverbandes irgend­ welche Schritte geplant sind, um die Interessen der Industriellen-Betriebe, welche bisher private Pensionseinrichtungen geschaffen haben, gegenüber dem Gesetzentwurf zu vertreten. Nach dem neuen Entwurf2 sind Ersatzinsti­ tute nicht zugelassen. Die einzige Vergünstigung, welche sie genießen sollen, besteht darin, daß sie gemäß den Vorschriften des § 363 ff. des Entwurfes ge­ wissermaßen als Zahlstellen für die Einziehung der Beiträge und die Auszah­ lung der Renten dienen. Durch diese Vorschriften wird aber bedingt, daß die

3 Am Schluß der handschriftliche Vennerk: "Ich habe heute mit Herrn Direktor Brockhaus ver­ handelt. Die Zeche hält bereit: Anneerevolver mit Munition, Gummiknüppel, Annbinden, Poli­ feimützen, 200Wachsfackeln." HistorischesArchiv M.AN. AG, Nürnberg03 1. Unterzeichnet von Anton v. Rieppel, Generaldirektor der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg �nd Vorstandsvorsitzenderdes Verbandes Bayerischer Metallindustrieller 1904bis 1919. Der Entwurfeines Versicherungsgesetzes für Angestellte wurde im "Reichsanzeiger"Nr. 13 vom 16. Januar 1911 veröffentlicht. 168 Nr.46 bestehenden Kassen für alle diejenigen ihrer Mitglieder, welche auch nach dem Entwurf versicherungspflichtig sein müßten, diejenigen Rechnungs­ grundlagen anzunehmen haben, welche der Reichsversicherung zugrunde lie­ gen. Eine solche Veränderung kann unter Umständen den Weiterbestand einer Kassein Frage stellen. Es kommen aber noch andere, viel bedenklichere Wirkungen für uns in Frage. Die bestehenden Einrichtungen gehen in ihren Leistungen zum großen Teil weit über die Leistungendes Entwurfeshinaus; sie bleiben dafürvielleicht in anderen Punkten hinter diesem zurück und zwar in solchen, welche für die betreffende Beamtenschaft von sehr geringer Bedeutung sind. Dies ist auch bei dem Pensionsverein unserer Firma der Fall. Wie Sie aus den beifolgenden Sat­ zungen ersehen wollen, betragen die Höchstleistungen bei den Beamten mit M 5 000,- Gehalt bei unserer Kasse M 4 050,- Jahresrente gegenüber aller­ höchstens M 1 995,- bei der Reichsversicherung. In Wirklichkeit wird aber selbst diese Höhe bei der Reichsversicherung niemals erreicht werden, weil sie zur Voraussetzung hätte, daß der Versicherte während seiner ganzen 40jährigen Beitragsdauer schon den Gehalt von M 5 000,- bezogen hätte, was wohl niemals der Fall sein wird. Hingegen weicht unser Verein von dem Ent­ wurf insofern wesentlich ab, als das Recht auf Pension, sofern nicht vorher Arbeitsunfähigkeit eintritt, erst mit dem 70. Lebensjahre erreicht wird. Es muß hervorgehoben werden, daß darin keineswegs eine Härte liegt; die Erfah­ rung hat vielmehr gelehrt, daß unsere Beamten, sofern sie mit 70 Jahren noch arbeitsfähigsind, nur sehr ungern in Pension gehen; es kann vielmehr als die Regel betrachtet werden, daß sie, um ihren höheren Gehalt weiterzubeziehen, noch weiter arbeiten würden, wenn die Firma dies zuließe. Würde nun durch das neue Gesetz unser Pensionsverein gezwungen, seine Satzungen dahin zu ändern, daß die Pensionsberechtigung mit 65 Jahren ein­ tritt, so würde dadurch die rechnungsmäßige Grundlage und damit der Be­ stand unseres Vereins in seinen Grundlagen erschüttert. Der beiliegende Rechnungsabschluß zeigt, daß der Pensionsfonds unseres Vereins zu Ende 19092½ Millionen Mark betrug. Im Laufedes Jahres 1910 ist er auf etwa 2 3/4 Millionen gewachsen. Würde man aber dazu übergehen müssen, das pensionsfähige Alter auf 65 Jahre festzulegen, so wäre entweder eine Erhö­ hung des Fonds um über ½ Million Mark, oder eine ganz wesentliche Erhö­ hung der Beiträge nötig. Diese betragen aber zurzeit schon durchschnittlich etwa 14 %, von denen die Firma die Hälfte be1.ahlt. Es ist aber weder die Firma in der Lage, eine einmalige Zahlungvon solcher Höhe zu leisten, noch könnte eine dauernde Erhöhung der Beiträge den Mitgliedern zugemutet wer­ den. Es muß nachdrücklich betont werden, daß es sich bei dieser Angelegenheit um eine einschneidende Änderung der wirtschaftlichen Lage des größten Tei- 1911 April 15 169

les der über 400 Beamten handelt, welche dem Pensionsverein angehören, insofern als deren Einkommen aus den Leistungen des Pensionsvereins gege­ benenfalls ganz wesentlich vermindert werden müßte. Daß dagegen die Pen­ sionsfähigkeit schon mit 65 Jahren erworben werden könnte, kommt demge­ genüber ganz und gar nicht in Betracht; denn, wie schon betont, gehen unsere Beamten selbst mit 70 Lebensjahren nur ungern in Pension, wenn sie noch arbeitsfähig sind und ist dies nicht der Fall, so erwerben sie ja schon früher, nämlich mit Eintritt der Arbeitsunfähigkeitdas Recht auf Pension. Es ist uns nicht bekannt, ob auch bei den Pensionskassen anderer Werke ähnliche Verhältnisse vorliegen. Da die Sache aber für uns von großer Wich­ tigkeit ist, so wären wir Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie baldigst Schritte ergreifen würden, um unsere Interessen in dieser Sache zu übernehmen. Wir machen noch aufmerksam auf die Vorschläge, welche der deutsche Pri­ vat-Beamtenverein in Magdeburg gemacht hat und welche dahin gehen, daß bestehende Kassen als Ersatzinstitute zugelassen werden, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen. Ohne uns mit den dort vorgeschlagenen Bedingungen zu identifizieren, würden wir doch den dort gewiesenen Weg als gangbar und erwünschtbezeichnen.

NB.: Der Inhalt vorstehenden Briefes ist durch Ihre heute zugelaufene Mit­ teilung von der am 4. Mai stattfindenden Konferenz nun überholt. Wir lassen den Brief trotzdem mit Rücksicht auf die geschilderten Verhältnisse unseres Pensionsvereins auslaufen.

Nr.47

1911 April 15

Der Arbeitgeber Nr. 8 Die staatliche Unterstützung der öffentlichenArbeitsnachweise

[Sozialpolitische Vorteile der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften durch die staatliche Unterstützung der öffentlichenArbeitsnachweise]

Wie im vorigen Jahre so sind auch in diesem Jahr wieder im Etat der preu­ ßischen Handels- und Gewerbeverwaltung öffentliche Mittel zur Förderung der nicht gewerbsmäßigen Arbeitsvermittlung ausgeworfen worden. Die 170 Nr.47

Summe beträgt in diesem Jahre 90 000 Mark, 25 000 Mark mehr als im Vor­ jahre. In der Begründung ist hierzu ausgeführt worden, daß vornehmlich die zunehmende Neubegründung von Arbeitsnachweisverbänden, welche eine dauernde Verbindung zwischen den einzelnen Arbeitsnachweisstellen eines Bezirks herzustellen bestimmt seien, staatliche Beihilfen in wesentlich ver­ mehrter Höhe erforderlich machten. B kann u.E. keinem Zweifel unterliegen, daß die Gewährung öffentlicher Mittel an die kommunalen Arbeitsnachweise, um die es sich hier in erster Linie handelt, eine einseitige Förderung dieser Nachweise darstellt, deren Berechtigung unternehmerseitig nicht anerkannt werden kann. Zunächst haben sich die Vorwürfe, die man von gegnerischer Seite gegen die Arbeitsnachweise der Unternehmer erhoben hat, gegenüber der einwandfreien Geschäftsführung der Arbeitgebernachweise als unberech­ tigt erwiesen. Als bei der Ende vorigen Jahres im Ruhrkohlenbezirk einset­ zenden Arbeiterbewegung seitens der drei zusammengehenden Verbände des sozialdemokratischen Bergarbeiterverbandes, des Hirsch-Dunckerschen Ge­ werkvereins und der polnischen Berufsvereinigung die Forderung erhoben wurde, Beschwerden von Arbeitern gegen den Arbeitsnachweis des Zechen­ verbandes durch Vertreter der Arbeiterschaft untersuchen zu lassen, war die Geschäftsführung des Zechenverbandes in der Lage, diese Forderung mit dem Hinweis darauf zurückzuweisen, daß ein praktisches Bedürfnis dafür nicht anerkannt werden könne, da gegenüber 180000 nachgewiesenen Stellen nur eine einzige Beschwerde eingelaufen sei, welche auch von den Vertretern der Königlichen Staatsregierung gelegentlich einer Besichtigung des Arbeitsnach­ weises als unbegründet anerkannt worden sei. Während sich also die gegen die Arbeitsnachweise der Unternehmer erhobenen Vorwürfe in keiner Weise haben rechtfertigenlassen, diese Arbeitsnachweise vielmehr sich ein hervorra­ gendes sozialpolitisches Verdienst durch die Arbeitsvermittlung besonders für gelernte Arbeiter erworben haben, verfolgen andererseits die öffentlichen Arbeitsnachweise Ziele, welche sie schließlich zu einem bestimmenden Faktor über die rein wirtschaftliche Seite des Arbeitsvertrages werden lassen müssen. Im Herbst 1909 wurde von dem Regierungsrat Dominikus in Straßburg, dem Mit-Herausgeber des "Arbeitsmarkt", des Zentralorgans der öffentlichen Arbeitsnachweise, in der genannten Zeitschrift der Schleier über die eigentli­ chen Ziele der paritätischen Arbeitsnachweise gelüftet. Dominikus führte damals aus, daß die öffentlichen Arbeitsnachweise über die reine Arbeitsver­ mittlung hinaus eine ganze Anzahl von Aufgaben aufnehmen müßten, die in den Abschluß des Arbeitsvertrages selbst hineingreifen, zum Beispiel die Fest­ setzung von Mindestlöhnen und einer bestimmten Arbeitszeit, den Schutz des Koalitionsrechts sowie den Schutz des Arbeitnehmers vor übermäßiger Inan­ spruchnahme usw. Dominikus wies darauf hin, daß in Straßburg die Unter­ nehmer städtischer Arbeiten gezwungen seien, den städtischen Arbeitsnach- 1911 April 15 171

weis zu benutzen und die von ihm festgestellten Mindestlöhne einzuhalten, andernfalls trete eine Bestrafung der Unternehmer durch den Bürgermeister ein. Hier wird also ganz offen zugegeben, daß die öffentlichen Arbeitsnach­ weise gerade das werden wollen, was sie den Arbeitsnachweisen der Arbeitge­ ber immer mit Unrecht vorwerfen, nämlich ein Maßregelungsbüro, nicht allerdings für die Arbeiter, sondern für diejenigen Arbeitgeber, welche sich den von den Arbeitsnachweisen festgesetzten Arbeitsbedingungen nicht fügen wollen oder können. Gegen derartige Ziele muß von Arbeitgeberseite der ent­ schiedenste Einspruch erhoben werden. Wir können nicht annehmen, daß die Regierung durch die Unterstützung der öffentlichen Arbeitsnachweise auch diese weitreichenden, mit der Freiheit unseres Wirtschaftslebens nicht verein­ baren Ziele fördern will. Es ist aber nicht zu verkennen, daß die Bewilligung öffentlicher Mittel für die Zwecke der öffentlichen Arbeitsnachweise eine indirekte Förderung auch dieser Ziele bedeutet. Bei der Beratung dieser Angelegenheit im Abgeordnetenhause hat der Ab­ geordnete Brütt auch nach anderer Richtung auf die Bedenklichkeit der För­ derung der öffentlichen Arbeitsnachweise durch die Regierung hingewiesen und an die Staatsregierung das Ersuchen gerichtet, ein wachsames Auge auf deren Weiterentwicklung zu haben, damit die paritätischen Arbeitsnachweise nicht der Sozialdemokratie die Wege ebnen zur Beherrschung des Arbeits­ markts. Der Abgeordnete Brütt, wies darauf hin, daß die Sozialdemokratie in den Stadtverordentenversammlungen immer mehr Boden und so auch auf die Zusammensetzung des Magistrats mehr Einfluß gewinne. Es sei hiernach zu befürchten, daß meistens Sozialdemokraten ohne weiteres die Stellen der Arbeitnehmer in diesen Arbeitsnachweisen besetzen dürfen. In dieser Er­ kenntnis hätten die Sozialdemokraten ihre Meinung über die paritätischen Arbeitsnachweise gewandelt und begünstigten jetzt die öffentlichen Arbeits­ nachweise. In der bayrischen Kammerund im Berliner Stadtverordnetenkolle­ gium sei deshalb ein solcher Antrag eingebracht worden. Wenn die Sozial­ demokratie auf der ganzen Linie mit solchen Anträgen hervortrete, dann ver­ folge sie nur dabei den einen Zweck, dem ihre ganze agitatorische Tätigkeit gelte, das sei, den Staat der Diktatur der Handarbeiter auszuliefern. Die Aus­ führungen des Abgeordneten Brütt scheinen uns sehr beachtenswert. Von Arbeitgeberseite darf jedenfalls nicht der geringste Zweifel darüber gelassen werden, daß die einseitige Parteinahme der Regierung zu Gunsten dieser öffentlichen Nachweise nicht als gerecht anerkannt werden kann. Wenn jetzt neuerdings in der "Fachzeitung der Tischlermeister und Holzindustriellen Deutschlands" der Vorschlag gemacht worden ist, den für Berlin bestehenden paritätischen Arbeitsnachweis für das Holzgewerbe in städtische Regie über­ gehen zu lassen, so kann hieraus durchaus kein Schluß auf eine veränderte Stellungnahme der industriellen Arbeitgeber zu den öffentlichen Arbeits- 172 Nr.48 nachweisen gezogen werden. Der Vorschlag, der hier gemacht ist, beweist nur, daß der paritätische Arbeitsnachweis im Holzgewerbe zu einem Kreuz für die Arbeitgeber geworden ist, und daß gegenüber diesen unhaltbaren Zuständen der öffentliche Arbeitsnachweis den betroffenen Arbeitgebern noch als das kleinere Übel erscheint. Das Richtige würde auch hier sein, einen Arbeitge­ bernachweis einzurichten, da es sich in diesem Gewerbe auch beinahe aus­ schließlich um gelernte Arbeiter handelt, diese aber nicht einfach nach Num­ mern ohne jedeRücksicht auf ihre besondere Qualifikationvermittelt werden können 1. Zur Zeit liegen die Dinge im Holzgewerbe so, daß beide Parteien von dem paritätischen Arbeitsnachweise nicht befriedigt sind, also auch die Arbeiter nicht. Die "Holzarbeiterzeitung" vom 14. Januar d. J. gibt zu, daß in Kreisen der Arbeiter "große Mißstimmung" verbreitet sei, und die "Fachzeitung der Tischlermeister und Holzindustriellen" schreibt, daß bei dem Zwangssystem des paritätischen Arbeitsnachweises die Arbeitgeber zur Ver­ zweiflung getrieben würden; es sei ferner bekannt, daß gerade die besten Arbeiter nur mit dem größten Widerwillen nach dem Nachweis gingen und es als eine ihnen persönlich angetane Schmach empfänden, als Nummern einge­ reiht zu werden. Die Praxis hat also erwiesen, daß der paritätische Arbeits­ nachweis bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern große Mißstimmung hervor­ ruft und daß durch das Nummernsystem in der Vermittlung beide Teile geschädigt werden, aber der Idee der Parität zuliebe darf an dem Institut nicht gerüttelt werden.

Nr.48

1911 April 16

Die Deutsche Arbeitgeber-Zeitung Nr. 16 Zur Politik der Tarifverträge

[Umbesetzung im Vorstand des Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände ändert nichts an ablehnender Haltung gegenüber Tarifverträgen in der Indu­ strie]

1 Die Vermittlung geschah zwar in der Reihenfolge, wie sich die Arbeitslosen meldeten, beson­ dere Ansprücheder Arbeitgebersollten jedochebenfalls berücksichtigtwerden. Vgl. z.B. die Reglements der paritätischen Arbeitsnachweise für die Berliner und die Hamburger Holzindustrie, in: Jahrbuch 1911 des Deutschen Holzarbeiterverbands. hrsg. vom Verbandsvor­ stand, Berlin 1912, S. 92-95. 1911 April 16 173

Das "Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands" behandelt in seiner letzten Ausgabe den Geschäftsbericht des Vereins DeutscherArbeitgeberverbände und knüpft an die Tatsache der Neu­ bildung des Vereinsvorstandes die Vermutung, daß dies Revirement vielleicht einen Systemwechsel zur Folge haben könnte.1 Denn Herr Baurat Enke, der nunmehrige zweite Vorsitzende des Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände, könne, so meint das genannte Organ, doch nicht gut als zweiter Vorsitzender des Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände das Prinzip der "Herren im eige­ nen Hause" wahren, während er zu gleicher Zeit als erster Vorsitzender des Arbeitgeberbundes für das deutsche Baugewerbe als Träger der Tarifver­ tragsidee auftrete. Oder solle das doch für ihn möglich sein? Ein Anlaß, uns mit dieser versteckten Drohung an die Adresse des Herrn Baurat Enke zu befassen, läge füruns kaum vor, wenn esnicht erforderlich wäre, in aller Kürze auf die irrtümlichen Voraussetzungen sachlicher Art einzugehen, die der zitierten Auslassung zugrunde liegen. Die Tarifvertragsfrage ist tatsächlich keine Prinzipienfrage, sondern einzig und alleine eine Frage der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit. Wer dies zu leugnen versucht, begibt sich damit auf den Boden des politischen Machtkampfes. Nun läßt es sich gewiß denken, daß kollektive Vertragsabschlüsse zwischen den Organisationen der Arbeitgeber und denen der Arbeitnehmer zu Unterbrechungen des nun ein­ mal infolge der Koalitionsgesetzgebung in Permanenz erklärten Arbeits­ krieges führenkönnen. Diese Taktik der Waffenstillstandsverträge vermag des ferneren auch inso­ fernrecht nützlich zu wirken, als sie die kleineren Unternehmer, die aus nahe­ liegenden Gründen stets sehr schwer zu einigen sein werden, einander näher­ bringt und sie zu solidarischer Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen und arbeitgeberischen Interessen veranlaßt. Anderseits liegen irgendwelche ab­ schließende Erfahrungen darüber, wie sich das Tarifvertragswesen (vor allem im Hinblick auf die Rolle, die die Sozialdemokratie in der modernen Arbei­ terbewegung spielt) als sozialpolitische Institution bewähren wird, überhaupt noch nicht vor; befinden wir uns doch noch im ersten Anfangsstadium der Entwicklung der Dinge auf diesem Gebiet. Soviel steht aber heute schon fest: die Gewerkschaften erblicken ihrerseits in den Tarifverträgen das denkbar bequemste Werkzeug zu ständiger Hinaufschraubung der Arbeitsbedingungen ohne jede Berücksichtigung der Marktlage, geschweige denn der wirtschaftli­ chen Lage des einzelnen Unternehmers; ganz abgesehen davon, daß sie die

1 Am 23. Mai 1910 war der bisherige Vorsitzende des Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände, Geheimer Kommerzienrat Paul Heckmann, gestorben. Zudem waren der stellvertretende Vorsit­ zende, Kommerzienrat Johann A Menck und KommerzienratOtto Engelhard aus dem Vorstand zurückgetreten. In der Vorstandssitzungvom 28. März 1911 wurde daher Emil Garvenszum neuen Vorsitzendenund Baurat Otto Enke zu seinem Stellvertretergewählt. Vgl. auch: "Jahresberichtfür 1911" hrsg.vom Verein Deutscher Arbeitgeberverbände, Berlin 1912. 174 Nr.48

Perioden des zeitweiligen Arbeitsfriedens bestens dazu auszunutzen verstehen, um sich würdig auf den Kampf um den nächsten Vertragsabschluß vorzu­ bereiten.2 Und wenn das so manchem Arbeitgeber fürs erste trotz allem nicht ganz unerträglich erscheint, weil er dafür die Möglichkeit eintauscht, wenig­ stens für einige Zeit mit Lohnstreitigkeiten verschont zu bleiben, so soll es sich doch erst in der Zukunft entscheiden, wie er sich damit abzufinden ver­ mag, daß er derart für alle Dauer, in guten und in schlechten Zeitläuften mit einer etappenweise fortschreitenden Verteuerung der Arbeitsleistung zu rech­ nen hat. Dazu kommt, daß zum letzten Ende durch den Tarifvertrag der Arbeitgeber in einem weit höheren Maße gebunden wird als der Arbeitneh­ mer, insoweit derlei Abmachungen zwar die Entlohnung bis ins Detail zu regeln pflegen, nicht aber, sofern man von der Akkordarbeit absieht, die Lei­ stung des einzelnen Arbeiters. Soll nach alledem das Tarifvertragswesen wirklich die Gestaltung der Ver­ hältnisse auf dem Arbeitsmarkt in bestimmender Weise beeinflussen, so muß sich die gewerkschaftlich organisierte Lohnarbeiterschaft vor allem zu einer grundlegenden Revision ihres bisherigen Verhaltens gegenüber dem Unter­ nehmertum verstehen. Sie muß sich dazu entschließen, das Abhängigkeitsver­ hältnis aufzukündigen, in dem sie zu einer Partei steht, die es nicht auf den Frieden mit dem Unternehmertum, sondern auf den Krieg bis aufs Messer abgesehen hat; sie muß ihr Einverständnis mit der Fortdauer der geltenden Rechts- und Wirtschaftsordnung bekunden und sich dermaßen dem Unter­ nehmertum als eine wirklich vertragsfähige Instanz präsentieren. Sie muß von der Gepflogenheit Abstand nehmen, in dem Arbeitgeber nach Maßgabe der kindischen Doktrin des radikalen Sozialismus den gewissenlosen Ausbeuter zu erblicken, der nichts als sein Kapital in die Wagschale zu werfen hat und darum ein Drohnendasein führt. Erst dann, wenn alle diese Bedingungen als erfüllt anzusehen sind, wird man zu einer Entscheidung darüber gelangen können, inwieweit sich der Abschluß von kollektiven Arbeitsverträgen wirt­ schaftlichrechtfertigt; erst dann wird darüber zu reden sein, wie das Vertrags­ wesen etwa gesetzgeberisch zu reglementieren ist. So wie die Sachen zurzeit stehen, handelt es sich dagegen bei dem Abschluß von Tarifverträgen einzig und allein um die rein äußerliche Umgestaltung der Art und Weise, wie der Arbeitskrieg weiter geführt wird; das feindselige Verhältnis zwischen Arbei­ tern und Arbeitgebern, welches unserm Erwerbsleben so schwere Wunden schlägt, bleibt nach wie vor bestehen. Unter diesem Gesichtswinkel ist es denn auch leicht genug zu verstehen, daß das organisierte Unternehmertum nicht die mindeste Neigung bezeigt, der Tarifvertragsfrageirgendeine prinzipielle Bedeutung beizumessen. Mit weiten

2 DieseAuffassung kommt auch im Artikeldes "Arbeitgebers"vom 15. April 1913 zum Ausdruck. Vgl. Nr.605. 1911 April 22 175

Kreisen des deutschen Handwerks ist das deutsche Baugewerbe allerdings zu der Ansicht gelangt, daß sich nach Lage der Dinge für seine Mitglieder ein versuchsweises Eingehen auf das Tarifvertragswesen aus taktischen Gründen recht wohl empfiehlt. Anderseits wird es keinem einzigen der beteiligten Organisationsleiter einfallen, aus diesem Vorgehen den Schluß zu ziehen, daß nun etwa auch die Industrie zum System der Tarifabschlüsseüberzugehen hat. Sie wissen sehr wohl, daß in dieser Frage der Rücksichtnahme auf die gewerb­ liche Besonderheit das entscheidende Wort zusteht, wie denn schon das weitaus größere Maß von persönlicher und geschäftlicher Verantwortung in industriellen Betrieben das Verlangen der Betriebsleiter, "Herren im eigenen Hause zu bleiben", nach jeder Richtung hin vollauf rechtfertigt. So ist denn in der Tat durch die Bestellung eines um das Baugewerbe so hochverdienten Mannes, wie Herrn Baurat Enke, zum zweiten Vorsitzenden des Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände der Annahme, es könne sich dabei um etwas wie einen "Systemwechsel" handeln, in keiner Weise Vorschub geleistet; vor allem insofern hierbei die Beurteilung des grundsätzlichen Wertes der Tarif­ verträge in Frage kommt. Wenn irgend etwas, dann könnte, um esnoch einmal hervorzuheben, allenfalls die völlige Abkehr der Gewerkschaftler von dem bisher von ihnen beschrittenen Wege zu einer Änderung der Anschauungen Anlaß geben, wie sie einstweilen für das Verhalten der Zentralinstanzen des organisierten Unternehmertums gegenüber der zum überwiegenden Teil sozialdemokratisch infizierten Arbeiterbewegung maßgebend sind. Wobei indessen ausdrücklich zu bemerken ist, daß die Stellungnahme der Industrie, speziell zur Frage der Tarifverträge, stets in erster Linie von der gewissenhaf­ ten Abschätzung der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit solcher Bindung des Unternehmertums abhängig zu machen sein wird!

Nr.49

1911 April 22

Hansa-Bund Nr. 16 Arbeitgeber, Angestellte und Privatbeamtenversicherung

[Nutzen einer Pensionsversicherung der Privatangestellten für Arbeitnehmer und Arbeitgeber) 176 Nr.49

Von Herrn J. Reif , dem 1. Vorsitzendendes Hauptausschusses f. st. Pens.­ Vers. d. Pr.1, wird uns der nachstehende Artikel zur Verfügung gestellt, dem wir im Interesse eines Ausgleichs der entgegenstehenden Meinungen über die Pensionsversicherungder Privatangestelltengern Raum geben2: Die staatliche Pensionsversicherung wird zunächst natürlicher Weise zum Nutzen der Angestellten und ihrer Angehörigen geschaffen; wenn aber die Arbeitgeberdie richtige Stellung zu der Frage, insbesondere zu der für sie ein­ tretenden Belastung, finden sollen, so werden sie sich davor hüten müssen, einseitig nur das ihnen zugemutete Opfer in Betracht zu ziehen, und sie wer­ den der Sachlage nur dann gerecht werden, wenn sie zugleich die Vorteile ins Auge fassen, die zweifellosauch für sie dabei herausspringen. 1. Daß von einer solchen Sicherung des Lebens gegen die schlimmsten Wech­ selfälle und gegen den Verfall der Kräfte ein großes Stück Beruhigung in die Unrast des Angestelltendaseins Einkehr halten wird und dadurch Arbeits­ freude und in der Folge davon Leistungsfähigkeit eine Steigerung erfahren werden, wollen wir nur so nebenher hier anführen. Wenn von mancher Seite das Gegenteil erwartet wird, nämlich ein Nachlassen des Strebens, so ist das wohl schon aus dem Grunde als unzutreffend abzuweisen, weil sich doch die Sicherung nur auf die Zukunft bezieht, in der Gegenwart aber und für das ganze Leben alle die Beweggründe bestehen bleiben, die Anlaß eines gesunden Strebens sind. Wer nichts Ordentlichesgelernt hat, wer nicht tüchtige Leistun­ gen anzubieten hat, der wird nicht vorwärts kommen, sondern unten bleiben; daran ändert sich auch künftig nichts. Sicherlich beflügelt nichts so sehr die Arbeitsfreude als das Bewußtsein, daß die Arbeit lohnt und daß man etwas zu hoffen bat; wer nichts zu hoffenbat, ist wohl selten ein guter Arbeiter, wie der Unzufriedeneselten ein guter Bürger ist. 2. Der jetzige Zustand hat die Wirkung, daß dem Dienst in Handel und Indu­ strie tüchtige Kräfte verloren gehen, und zwar dem Kleinbetriebe noch mehr als dem Großbetriebe. Die bestehende Unsicherheit veranlaßt tüchtige Kräfte aus dem Nach­ wuchse des Volkes, sich dem Staats- und Gemeindedienste zuzuwenden, was die Eltern gewöhnlich begünstigen, da sie das unsichere Dasein der Privatan­ gestellten kennen. Es mag gegen diese Neigung manches einzuwenden sein, aber die Tatsache ist vorhanden. Industrie und Handel sind aber ganz gewiß darauf angewiesen, daß ihnen vorzügliches Hilfspersonal zur Verfügungsteht, und sie werden es immer mehr sein, je mehr das Bestreben nach Konzentra­ tion Platz greiftund je mehr im Laufedieser Entwicklung die Angestellten mit wichtigen Funktionen in den Geschäftsbetriebenbetraut werden müssen.

1 Hauptausschuß fürstaatliche Pensionsvenicherung der Privatangestellten. 2 Vgl. auch Nr. 15, 23, 26, 40, 42, 130, 134. 1911 April 22 177

Aber nicht nur der Großbetrieb braucht tüchtige Angestellte, sondern ganz ebenso die Kleinbetriebe, für die es oftgeradezu eine Frage des Fortkommens ist, ob sie gute oder schlechte Angestelltehaben. Ja, der kleine Unternehmer befindet sich hier in einer besonders schwierigen Lage, weil er sich nicht so leicht helfen kann wie der große Unternehmer. Wenn Staats- und Gemeinde­ dienst den tüchtigsten Nachwuchs an sich ziehen, so weiß der Großbetrieb die­ sem Übelstande dadurch zu begegnen, daß auch er Einrichtungen schafft, die von den Angestellten gesucht werden: höhere Gehaltszahlung, Versicherung durch eigene Pensionskassen, beamtenmäßige Stellung und manches andere. Daher besteht, wie im ganzen ein Drängen nach dem öffentlichen Dienste, so hier ein Drängen in die Großbetriebe und in die großen Städte, und das gerade auf Kosten des kleinen Unternehmertums, denn dieser erzieht häufig die Kräfte,die dann die günstigeren Stellungen in den Großbetrieben aufsuchen. Und nun kommt der Staat und willeine Einrichtung schaffen,die den Ange­ stellten gesetzlich eine Befestigung und Sicherung der Lebenslage bringt, und damit die hauptsächlichsten Bedingungen für Groß- und Kleinunternehmer­ tum ungefähr gleich macht, ja, mit der er gerade dem kleinen Unternehmer etwas zur Verfügung stellt, was sich bisher nur der große leisten konnte. Soll­ ten das nicht gerade die kleinen Unternehmer begrüßen? 3. Die Sicherung der Privatangestellten gegen die Gefahrendes Altersund der Invalidität wird die kleinen Gewerbetreibenden von einem guten Teile Kon­ kurrenzdruck entlasten. Jetzt machen sich immer noch in beachtlicher Zahl Angestellte selbständig. Die Betriebszählungvon 1907zeigt eine Zunahme der Selbständigen nur in der Gruppe Handel und Verkehr, und zwar um beinahe 20 Prozent, während die Zahlder Selbständigen in der Industrie abgenommen hat._ Diese Zunahme ist nicht durch die Gründung von Großbetrieben ent­ standen, sondern gerade durch das massenhafte Errichten von kleinen und kleinsten Geschäften. Man sehe sich doch in den Städten um, straßauf, straßab, wie eng sie nebeneinander sitzen, und immer schieben sich neue da­ zwischen, und man begreift nicht, wie sie leben; aber man weiß, daß die mei­ sten kümmerlich leben, daß sie einander Licht und Luft streitig machen. Das sind nicht solche Leute, die die Selbständigkeit schon in jungen Jahren als Ziel vor sich hatten und die Mittel dazu besaßen, sondern meist solche, die wegen vorgerückten Alters keine Stellung mehr finden, oder solche, die das Altwer­ den als Angestellte fürchten, weil sie seine Gefahren kennen und daher mit irgendwie beschafftem kleinem Kapitalund größerem Kredit ein Geschäft er­ richteten. Andere bemühen sich, wenigstens Vertretungen zu bekommen oder sich sonstwie auf eigene Füße zu stellen. Soweit das erfolgreiche Geschäfts­ gründungen sind, vermehren sie die Konkurrenz gerade in den kleinen gewerblichen Kreisen, soweit es aber Unternehmungen sind, die nicht gedei­ hen können, vermehren sie das volkswirtschaftliche Parasitentum, die Zahlder 178 Nr.49 zwecklosen Existenzen, die im Wege sind und mitgeschleppt werden müssen auf Kosten anderer und zum Schaden der Volkswirtschaft. Hier würde also zweifellos die neue Versicherung eine wahrscheinlich fühlbare Entlastung bringen! 4. Aus dieser Erwägung ergibt sich die nächste günstige Wirkung der staatli­ chen Angestelltenversicherung für das kleine Unternehmertum. Alle diese Leute, die jetzt im Alter mühsam irgendwie kärglich ihr Brot verdienen müs­ sen (nicht nur als kleine Händler, sondern auch als Schreiber, Agenten, Ver­ treter verschiedenster Art, besonders Lebensversicherungsagenten), oder die verdienstlos von Kindern und Verwandten oder gar von der Allgemeinheit erhalten werden müssen, sie werden später auch im Alter noch vollgültig als Konsumenten sein: Leute, die noch etwas auszugeben haben, die noch etwas kaufen können. Ihre Renten sind doch nicht Schätze, die aufgespeichert wer­ den, damit Rost und Motten sie verzehren, sondern sie sind Groschen, die sofort gebraucht werden und die gar keine andere Verwendung finden, als daß sie in die Kassen der Geschäftsleute wandern für die Befriedigung der nötigen Lebensbedürfnisse. So haben wir eine Verbesserung gerade dieses kleinen in­ neren Marktes zu erwarten, die der Gesamtheit derer, die produzieren und verkaufen wollen, vornehmlich aber den kleinen Gewerbetreibenden, zugute kommt. Alle die Millionen aus Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung, wohin fließen sie? Wieviel weniger käme in die Kassen der kleinen Geschäfts­ leute, wenn diese Mittel aufhörtenzu fließen? 5. Die kleinen Geschäftsinhaber möchten auch beherzigen, was der Abgeord­ nete Jäger-Dillingen am 13. Oktober 1910 in der bayerischen Kammer der Abgeordneten zu ihnen sagte, nämlich, daß sie selbst ja wenig angestelltes Per­ sonal haben, daß aber vielfachihre Söhne als Angestellte in Handel und Tech­ nik in die Betriebe hineingehen, denn der Überschuß der Söhne des Mittel­ standes muß Stellung suchen und wird von der Wohltat der Versicherung der Privatangestellten Gebrauch machen. 6. Künftig werden überhaupt die meisten der kleinen Geschäftsinhaber und Fabrikanten für ihre eigene Person die Vorteile der neuen Versicherung genießen, denn sie sind ja meist selbst Angestellte gewesen und als solche in die Versicherung hineingekommen. Wer aber einmal darin ist, der kann ja nicht besser tun, als die Versicherung fortzusetzen, auch wenn sein versiche­ rungspflichtigesDienstverhältnis aufhört. 7. Hiernach sollen die Lasten doch wohl nicht mehr ganz so unerträglich erscheinen. Die Belastung durch die allgemeine Invalidenversicherung, wo es sich um viele Millionen von Arbeitern handelte, ist doch viel größer gewesen, und trotzdem hat unsere Volkswirtschaft gerade in der Zeit dieser Belastung die größten Fortschritte gemacht und ist zu ihrer Weltstellung emporgestie­ gen. Die Angestellten haben doch auch mitgearbeitet an dieser Weltstellung. 1911 April 22 179

Sollte unsere Volkswirtschaft sich nicht getrauen, das zu leisten, was das viel schwächere Österreich leistet? Dort beträgt die Belastung bei der allerdings mit mancherlei Fehlern behafteten Privatangestelltenversicherung durch­ schnittlich 12 Prozent des Gehaltes, und die Dienstgeber tragen in den unte­ ren Gehaltsklassen 2/3 davon. Bei uns soll die Belastung für die Dienstgeber wie für die Angestellten je 4 Prozent betragen. Konkurrenzrücksichten kön­ nen nicht in Frage kommen, denn die Lastentreffen alle. Nach einigen Jahren wird sich alles an die neue Ordnung der Dinge gewöhnt haben. Die Belastun­ gen, die, fürdie verschiedensten Geschäfteberechnet, 14, 18, 20, 30 Pfennig,in Ausnahmefällen etwas mehr (nach verschiedenen Berechnungen aus dem Leben) von 100 Mark Umsatz betragen, sind so gering, daß sie nicht einmal mit einem Aufschlageauf die Preise zum Ausdruck gebracht werden könnten. Schließlich würde auch ein solcher Aufschlag den Weg aller dieser Unkosten gehen und er würde wie indirekte Steuern in die Preise der Ware hineingehen und letzten Endesvon der gesamten Volkswirtschaft getragen werden. 8. Früher standen die Arbeitgeber günstiger zur Frage der Pensionsversiche­ rung für die Angestellten; es war die Vorstellung des Zahlens nicht so nahe gerückt als heute. Das ist menschlich begreiflich, sollte aber umsomehr zu ernsthafter Prüfung bestimmen. Wenn heute so viele Arbeitgeber durch ihre Vertreter erklären lassen, daß sie nur für einen Ausbau der alten Reichsinvali­ denversicherung zugunsten der Angestellten zu haben seien, so müssen sie sich überlegen, daß damit gar nichts gewonnen sein würde, denn den Ange­ stellten kann nur eine solche Versicherung etwas nützen, die auf ihre besonde­ ren Verhältnisse und Bedürfnisse Rücksicht nimmt und ihnen die 65 Jahr­ Grenze für die Altersrente (statt 70 Jahre), die Berufsinvalidität (statt der all­ gemeinen Invalidität des alten Gesetzes) und vor allem eine einigermaßen aus­ reichende Hinterbliebenenversorgung (die die alte Versicherung überhaupt n'icht enthält und die Reichsversicherungsordnung nur in der kümmerlichsten Form bieten will) verschafft. Die alte Versicherung ist eben ganz bewußter Weise auf die Verhältnisse der Arbeiter zugeschnitten, und die Verhältnisse der Angestellten sind nun einmal andere. Gewohnheiten und Notwendigkei­ ten, Lebenshaltung sind die der bürgerlichen Kreise. Schon aus Rücksichten auf die geschäftliche Stellung muß sich der Angestellte anders kleiden, als der Arbeiter das kann, muß anders wohnen, seine Kinder fangennicht mit 14 Jah­ ren an zu verdienen wie die des Arbeiters, die Witwe ist viel weniger in der Lage als die Arbeiterwitwe, sich durch Arbeit weiterzuhelfen und die Kinder weiter zu bringen. Der Angestellte kann das nicht nach seinem Beliehen ändern, der ganze Lebenskreis, in den er eingespannt ist, zwingt ihn dazu, für gewisse äußere oder Kulturbedürfnisse mehr auszugeben, während bekannt­ lich der Arbeiter häufig besser ißt und trinkt, weil er einen größeren Teil seines Einkommens für diese Dinge aufwenden kann. Darum kann auch der 180 Nr.49

Angestellte nichts Rechtes anfangen mit den kleinen Renten der alten Versicherung, die eben auf andere Verhältnisse berechnet ist. Die bessere Fürsorge kann er auch vom Reiche nur verlangen, wenn er auf den Reichs­ zuschuß verzichtet, und da er darauf verzichtet, da er das Mehrerfordernis (mit Hilfe seiner Dienstgeber freiwillig) selbst bezahlen will, so sind auch die häufigen Hinweise auf die Bevorzugung, mit der er angeblich gegenüber dem Arbeiter bedachtwerden soll, hinfällig. 9. Die Dienstgeber erklären sich vielfach deshalb für den Ausbau, weil sie glauben, dieser Weg sei billiger. Wenn man aber dem Angestellten die vorhin als notwendig doch wohl nachgewiesene Besserstellung gewähren will, dann muß man ihm auch die Sonderkasse oder eigentlich Ergänzungskasse gewäh­ ren, denn im Rahmen des alten Gesetzes, also durch Ausbau, ist das nur mög­ lich, wenn man diese Verbesserungen auf die Gesamtheit der Versicherten ausdehnt, also auf die jetzt vorhandenen mehr als 15 Millionen. Das ist aber sehr viel teurer als die Sondereinrichtung für die Angestellten. Sind die Her­ ren, die den Ausbau wollen, sich klar darüber, was das bedeutet? Die Regie­ rung hat nachgewiesen, daß eine solche Ausdehnung allein nach der Rechnung auf das Jahr 1910 folgende Mehrkosten verursachen würde: Durch Einführung des besseren Invaliditäts- begriffsfür das Reich 65 569 800Mk. für die Versicherungsanstalten etwas mehr als das Doppelte dieser Summe, also etwa 13113 9 600Mk. 196 7fYJ400 Mk. Die Mehrbelastung des Versicherungsträgers würde mit der Zeitdurch die Steigerung der durchschnitt­ lichen Jahresrente auf das Dreifacheanwachsen. Hierzu käme noch durch die Herabsetzung der Alters- grenze eine Jahresmehrausgabe fürdas Reich von 12611 100 Mk. für die Versicherungsanstalten von 27 946 300Mk. für 1910 also eine Mehrbelastung von insgesamt 23 7 266800 Mk. Bei diesen Zahlenist noch gar nicht an eine Erhöhung der Renten gedacht, und ferner fehlenhier auch die Kosten für eine Hinterbliebenenversicherung. Nach einer Erklärung des Grafen Posadowsky im Reichstage am 3. Februar 1906 würde eine allgemeine Hinterbliebenenversicherung, bei der der Witwe als Jahresrente die Hälfte der beim Tode des Ehemannes aufgelaufenen Inva­ lidenrente und jeder Waise bis zum vollendeten 14. Lebensjahre ein Drittel davon als Waisenrente gewährt werden würde, ebensoviel kosten wie die Inva­ lidenversicherung. Das würde also eine gewaltige Erhöhung der Beiträge, sowie der Zuschüsse aus allgemeinen Mitteln nötig machen, und der größere Teil dieser Mehrko­ sten müßte von den Arbeitgebern direkt durch die höheren Beiträge und indi- 1911 April 22 181 rekt durch den Mehraufwand der Reichskasse aufgebracht werden. Es kann hiernach gar nicht zweifelhaft sein, daß die Zusatzkasse, die sich nur mit den Privatangestellten befaßt, den Arbeitgeber wesentlich billiger zu stehen kommt. Man hört in letzter Zeit immer häufiger die Behauptung, die Dienstgeber seien nur deshalb auf den Weg des Ausbaues geführt worden, weil es ganz gewiß ist, daß dieser Weg nicht zu einer Verwirklichung der Versicherung führt, sondern zu einem gänzlichen Scheitern des Versicherungswerkes. Wir können nicht glauben, daß das leitende Absicht bei vielen deutschen Arbeit­ gebernsein sollte, denn damit würden sie sich in Widerspruch setzen mit allen früheren Erklärungen. Wir glauben auch, daß die deutsche Arbeitgeberschaft im großen und ganzen einsieht, daß die Angestellten ihre besonderen Interes­ sen wahrzunehmen haben und daß ein dringendes Bedürfnisvorliegt. Sie wol­ len nur möglichst billig zur Erfüllung dieser Pflicht gelangen. Nun, es wird nach den letzten Ausführungen doch zugegeben werden müssen, daß der billi­ gere Weg eben doch die Zusatzkasse ist und nicht der sogenannte Ausbau. Und es wird ferner anerkannt werden müssen, daß das Versicherungswerk als Ganzes seine segensreichen Wirkungen nicht auf die Angestellten und ihre Angehörigen beschränkt, sondern daß es auch seine ganz bestimmten bald wahrnehmbaren Vorteile für die Arbeitgeberschaft hat, und zwar nicht bloß fürdie großen Unternehmer,sondern auch fürdie kleinen.

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1911 April 22

Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch­ lands Nr. 16 Zur Reichsversicherungsordnung (nach den Kommissionbeschlüssen) 1. (Verschlechterung des Regierungsentwurfs zur Krankenversicherung durch die Reichstagskommission)

Wenn die neue Reichsversicherungsordnung schon im Stadium des Regie­ rungsentwurfs wenig Freude, aber desto mehr Proteste auslöst, so hat es die Reichstagskommission meisterlich verstanden, auch das wenige Gute, das die Vorlage enthielt, noch zu verderben. Der Regierungsentwurf stellte in mate­ rieller Hinsicht eine Ausdehnung der Krankenversicherung auf die Landarbei­ ter, Dienstboten, Hausgewerbetreibenden, Wandergewerbetreibenden und 182 Nr.SO unständigen Arbeiter, sowie die Neueinführung einer Zusatzversicherung zur Invalidenversicherung, sowie einer Witwen- und Waisenversorgung in Aus­ sicht. In organisatorischer Hinsicht war eine Vereinfachung der Krankenkas­ senorganisation durch Wegfall der Gemeindeversicherung und der freien Hilfskassen, sowie durch Verschmelzung kleiner, leistungsunfähiger Orts- und Betriebskassen mit größeren und Aufstellungvon Mindestmitgliederzahlenfür Orts- und Betriebskassen geplant. Endlich sollten für alle drei Zweige der Arbeiterversicherung gemeinsame Verwaltungs- und Spruchbehörden (Versi­ cherungsämter, Oberversicherungsämter, Landesversicherungsämter, Reichs­ versicherungsamt) gelten. - Diese Neuorganisation der Arbeiterversicherung sollte der Regierung gleichzeitig Gelegenheit geben, eine Reihe alter, reaktionärer Wünsche zu verwirklichen, vor allem hinsichtlich der Verwaltung der Krankenkassen. Hier sollte das seitherige Übergewicht der Versichertenin den Vorständen durch Hälftelung der Beitragszahlung und Vertretung beseitigt werden. Auch für die Beamtenanstellung waren zahlreiche, die Selbstverwaltungder Kassen einschränkende Bestimmungen vorgesehen, nicht minder für den Abschluß von Verträgen mit den Ärzten und Apothekern. Überall sollten die Verwaltungsbehörden in die Geschäftsführung der Kassen eingreifen können. Hinsichtlich der Unfallversicherung sollte das Reichsver­ sicherungsamt nur noch in Ausnahmefällen die Berufungsinstanz bilden; als Ersatz wurde den Versicherten ein höchst zweifelhaftes Rechtsverfahren vor den Versicherungsämtern geboten. Auch bezüglich der Rentenentziehung und des Rubens der Rente waren einige Verschlechterungen geplant. Die Arbeiten der ersten Kommissionslesung schienen einige der wesentlich­ sten Bedenken gegen die Regierungsvorlage beseitigen zu wollen. So hatte die Kommission neben einer erfreulichen Ausdehnung der Wöchnerinnen- und Mutterschaftsfürsorge die Streichung der "Landesversicherungsämter" sowie der "Sonderversicherungsämter" und "Sonderoberversicherungsämter" be­ schlossen, ferner die Hälftelung der Beitragszahlung und der Vertretung in den Krankenkassen abgelehntund auch die Ausnahmestellung der Landkran­ kenkassen hinsichtlich der Zusammensetzung des Vorstandes und der Einset­ zung von Ausschüssen beseitigt. Alles dies konnte nur unter scharfem Wider­ spruch der Regierung geschehen und dieser Widerspruch war fürdie Kommis­ sion hinreichend, um in der zweiten Lesung ihre früher gefaßten Beschlüsse wieder umzustoßen. Es bildete sich ein Verschlechterungsblock, bestehend aus Konservativen, Zentrum und Nationalliberalen, einschließlich des zur Wirt­ schaftlichen Vereinigung stehenden Abg. Behrens, der die Regierungsvorlage förmlichverschandelte. Daß der Einspruch unserer Genossen in der Kommis­ sion ebenso wenig beachtet wurde, wie ihre Verbesserungsanträge, versteht sich unter diesen Umständen von selbst. 1911 April 22 183

Wenn es aber noch einer Erklärung dieses Umfalles der Kommissions­ mehrheit bedürfte, so ist dieselbe in der allgemeinen innerpolitischen Lagezu finden. Bekanntlich soll im Anfang des Jahres 1912 die Legislaturperiode des Reichstags ihr Ende erreichen und da es ebensowohl der Regierung, als auch den bürgerlichen Mehrheitsparteien an einer zugkräftigen Wahlparole fehlt, so soll die neue Reichsversicherungsordnung mit der Hinterbliebenenfürsorge dazu ausgenützt werden. Dazu gehört natürlich, daß sie bis zum Reichstags­ schluß verabschiedet werden kann. Das umfangreiche Gesetzeswerk soll aber nicht bloß unter allen Umständen fertiggestellt werden, sondern es soll auch gegen die Stimmen der Sozialdemokratie beschlossen werden, damit bei den nächsten Wahlen den Wählermassen erklärt werden könne, die Sozialdemo­ kratie sei Gegnerin jeder maßvollen Sozialpolitik und habe sogar beabsichtigt, die Witwen- und Waisenfürsorge zu Fall zu bringen. Um die Durchpeitschung der Reichsversicherungsordnung im Reichstage zu sichern und zugleich zu beschönigen, dichtet die bürgerliche Reaktion der Sozialdemokratie bereits Obstruktionsgelüste an, gegen die man sich nicht anders wehren könne, als durch Diskussionsbeschränkungen und kapitelweise Abstimmungen. Nun hat die Sozialdemokratie auch nicht im entferntesten an Obstruktion zur Verhin­ derung der Annahme der Reichsversicherungsordnung oder irgendwelcher Bestimmungen derselben gedacht - es wäre dies ja auch anbetrachts der seit der Zollgesetzberatung verschärften Geschäftsordnung des Reichstages völlig nutzlos. Andererseits kann aber die Sozialdemokratie auch nicht den bürger­ lichen Mehrheitsparteien zuliebe auf eine eingehende Beratung dieses zwar recht umfangreichen, aber für die Arbeiterklasse zweifellos auch recht wichti­ gen Gesetzeswerkes verzichten. Wollen die Mehrheitsparteien durchaus die legale parlamentarische Tätigkeit zur Obstruktion stempeln, um ihre illegale Gesetzesmacherei zu retten, so wird sie zwar niemand daran hindern können, aber sie werden auch die Verantwortung fürihr Tun zu tragen haben. Betrachten wir nun das Machwerk der Kommissionsmehrheit etwas näher. Was zunächst denjenigen Teil der Vorlage anbelangt, der die Vereinheit­ lichung der Arbeiterversicherung repräsentiert, die Einheit der Verwaltungs­ und Spruchbehörden, so hatte die Kommission in ihrer ersten Lesung die Bil­ dung von Sonderversicherungsämtern, Sonderoberversicherungsämtern und Landesversicherungsämternabgelehnt, da ein Bedürfnisfür derartige Sonder­ einrichtungen nicht bestehe. In der zweiten Lesung wurden diese Sonderein­ richtungen wiederhergestellt. Die direkte Wahl der Vertreter zu den Versiche­ rungsämtern und Oberversicherungsämtern wurde von der Mehrheit abge­ lehnt, ebenso die Gewährung des passiven Wahlrechts an die Frauen. Landes­ versicherungsämter wurden für solche Bundesstaaten zugelassen, in denen mindestens zwei Oberversicherungsämter bestehen. Für die Bundesstaaten ohne Landesversicherungsamt ist das Reichsversicherungsamt die höchste 184 Nr.SO

Aufsichts- und Spruchinstanz. Die Oberversicherungsämter bilden die letzte Spruchinstanz in Unfallsachen. Nur Entscheidungen, ob ein versiche­ rungspflichtiger Unfall vorliegt, sowie Entscheidungen über Dauerrenten ver­ bleiben dem Reichsversicherungsamt. Dafür sollten die Versicherungsämter zu einer Art erster Instanz in Unfallsachen ausgebaut werden. Hier sollten Vertreter der Arbeitgeber und Versicherten jeden Fall begutachten und diese Gutachten sollten der Berufsgenossenschaft als unverbindliche, aber doch beachtliche Anregung zur ersten Rentenfestsetzung unterbreitet werden. Da die Berufsgenossenschaften auch in dieser zarten Andeutung einer kritischen Würdigung ihrer Rentenfestsetzung einen Angriff auf ihre Selbstverwaltung erblickten, so strich die Kommission diese instanzlichen Rechte. Die Oberversicherungsämter sollen also künftig die einzige Rechtsinstanz in Unfallsachenbilden . Aber noch weit schmählicher gestaltete sich der Rückzug der Kommis­ sionsmehrheit auf den anderen Gebieten des Entwurfs. Hinsichtlich der Krankenversicherung verhieß der Entwurf eine Einschrän­ kung der Organisationszersplitterung dadurch, daß neuzugründende Orts­ oder Betriebskrankenkassen mindestens 500 Mitglieder zählen müßten. Die Kommission setzte diese Mindestziffer für Ortskrankenkassen auf 250, für Betriebskassen auf 150 (für landwirtschaftliche Betriebskassen sogar auf 50) Mitglieder herab und sah bezüglich der Innungskrankenkassen von jeder Min­ destziffer ab. Hiernach kann von einer wirksamen Bekämpfung der Kas­ senzersplitterung kaum noch ernstlichdie Rede sein. Im Mittelpunkt der Kommissionsverhandlungen stand die Entrechtung der Versicherten in der Leitung der Ortskrankenkassen. Nachdem die Kommis­ sion in erster Lesungdie Hälftelungder Beiträge und der Vertretung im Vor­ stand und Ausschuß gestrichen hatte, wollte sie jetzt ihren Beschluß nicht wie­ der autbeben. Sie beschloß weit schlimmeres. Die Versicherten sollen nach wie vor zwei Drittel der Beiträge zahlen, aber trotzdem nur genau so viel Wahlrecht haben, als die Arbeitgeber. Als zum Vorsitzenden gewählt soll nur derjenige gelten, der sowohl die Mehrheit der Stimmen der Versicherten, als auch der Arbeitgeber auf sich vereinigt. Kommt bei der Wahl eine solche Mehrheit nicht zustande, so wird die Wahl vertagt. Versagt auch dieser zweite Wahlgang, so bestellt das Versicherungsamt einen Vertreter auf Kosten der Kasse bis zu einer gültigen Wahl. Eine flagrantere Verletzung der Selbstverwaltung der Krankenkassen und eine dreistere Verhöhnung der Versicherten ist kaum denkbar. Was aber ver­ schlägt es bei den Mehrheitsparteien, daß diese Beschlüsse mit den ganzen seitherigen Grundzügen der Arbeiterversicherung, die auf der Verteilung der Rechte nach dem Anteil der Beitragszahlung beruhen, im Widerspruch ste­ hen? Die Konsequenz dieses Beschlusses ist indes, daß damit auch der Selbst- 1911 April 22 185

verwaltung der Berufsgenossenschaften die Axt an die Wurzel gelegt ist, und die Arbeiterklasse wird nicht müde werden, im Verfolgdieser Entwicklung die Mitverwaltungin den Berufsgenossenschaftenzu verlangen. Nicht besser verfuhr die Kommissionsmehrheit mit den Versicherten der Landkrankenkassen, denen sie in erster Lesung die gleichen Rechte wie den Mitgliedern der Ortskrankenkassen zugebilligt hatte. Die Freude über diese Anwandlung von Gerechtigkeit war sehr kurz, denn in zweiter Lesung wurde der Ausnahmeparagraph 343 wiederhergestellt, wonach in den Land­ krankenkassen die Gemeindevertretung die Vorstandsmitglieder nach § 346, ebenso die Ausschußmitglieder wählt. Nur durch Landesgesetz kann für ein­ zelne Gebiete oder Gebietsteile angeordnet werden, daß zum Vorstand und Ausschuß analog den Ortskrankenkassengewählt wird. Auch bei der Regelung der Anstellungsverhältnisse wurde in die Selbstver­ waltungsrechte der Krankenkassen Bresche gelegt. Zur Besetzung von Stellen soll es künftig der übereinstimmenden Mehrheitsbeschlüsse beider Gruppen im Vorstande bedürfen. Einigen sich die Gruppen nicht, so wird die Beschlußfassung vertagt und in einem zweiten Wahlgang genügt es dann, daß mehr als zwei Drittel der Anwesenden dafür stimmen, deren Beschluß dann aber der Zustimmung des Versicherungsamts bedarf. Wird die Bestätigung versagt, so entscheidet das Oberversicherungsamtendgültig. Da für alle Wah­ len das Verhältniswahlsystem eingeführt ist, so genügt ein einziger dissentie­ render Arbeitervertreter, um eine Mehrheitswahl im Sinne der Versicherten zu verhindern. Kommt ein legaler Mehrheitsbeschlußnicht zustande oder wird die Bestätigung endgültig versagt, so hat das Versicherungsamt die Stelle auf Kosten der Kasse zu besetzen und kann den auf diese Weise Bestellten die Stelle mit Genehmigung des Oberversicherungsamts endgültig übertragen, falls sie die Geschäfte ein Jahr lang geführt haben. In diesen Befugnissen des Versicherungsamts, die Vorsitzenden und Angestellten der Kassen zu bestel­ len, birgt sich die Gefahr, der Selbstverwaltung der Kassen den Garaus zu machen und die Kassenverwaltungeinem unfähigen, unsozial denkenden Mili­ täranwärtertum 1 auszuliefern. Es genügt, diese Gefahr der Arbeiterschaft zu offenbaren,um diese zu einer nachhaltigen Protestbewegung zu veranlassen. Nicht minder reaktionär sind die neuen Vorschriften über die Dienstord­ nungen für die Angestellten, die der Maßregelung Tür und Tor öffnen. Die Aufsichtsbehörde kann den Vorstand, wenn er von seinem Entlassungsrecht keinen Gebrauch machen will, dazu anhalten, ja sie kann einen Angestellten über den Kopf des Vorstandes hinweg entlassen, "wenn von einem Gewählten

1 Militäranwärter waren ehemalige Berufssoldaten, die aufgrund des Mannschaftsversorgungsge­ setzes vom 31.5.1906 die Anwartschaft auf Anstellung im öffentlichen Dienst (Zivilversorgungs­ schein) erworbenhatten. 186 Nr.SO

Tatsachen bekannt werden, die seine Wählbarkeit oder seine Vertrauens­ würdigkeit fürdie Geschäftsführungausschließen." Hinsichtlich der Ärzteverträge hat die Kommission nichts an den Vor­ rechten der Ärztevereinigungen geändert; sie hat lediglich dem Ausweg fürdie Kassen zugestimmt, mit Genehmigung des Oberversicherungsamts den erkrankten Mitgliedern an Stelle der ärztlichen Behandlung ein erhöhtes Krankengeld zu zahlen. Dagegen hat die Kommission den Krankenkassen eine wesentliche Ver­ schlechterung in bezug auf die Arzneimittelbeschaffung gebracht. Danach können, wenn die Kasseauch nur mit einzelnen Apothekern Verträge zu Vor­ zugsbedingungen abschließt, alle Apotheker im Kassenbereich an diesen Ver­ einbarungen teilnehmen. Dadurch wird die Erlangung von Vorzugsbedingun­ gen geradezu verhindert. Auch soll die Kasse die Be1.ahlungvon Arzneimitteln aus einer Apotheke zu Handverkaufspreisen deshalb nicht ablehnen können, weil sie mit Arzneihändlern anderer Art niedrigere Preise vereinbart habe. Hierdurch wird die Vertragsfreiheit der Krankenkassen in der Tat völlig auf­ gehoben. Hinsichtlich des Versicherungszwangesist in die neue Krankenversicherung der Landarbeiter bereits wieder Bresche gelegt worden, indem auf Antrag des Arbeitgebers landwirtschaftliche Arbeiter, Angestellte oder Dienstboten von der Versicherungspflicht befreit werden, wenn sie an den Arbeitgeber Rechtsanspruch in bezog auf eine der Krankenversicherung gleichwertige Unterstützung haben. Voraussetzung dafür ist, daß der Arbeitgeber diese Unterstützung völlig aus eigenen Mitteln deckt und daß er für dieselbe Sicher­ heit bietet. Ferner kann auf Antrag des landwirtschaftlichen Arbeitgebers das Krankengeld in Wegfallgebracht und die Beiträge dementsprechend ermäßigt werden, wenn der Arbeitsvertrag der Versicherten auf ein Jahr abgeschlossen ist und die Versicherten Rechtsanspruch für ein Jahr auf Sachleistungen im 300fachen Wert des satzungsgemäßen Krankengeldes haben. Über diese Zeit hinaus hat der Versicherte wieder Anspruch an die Kasse, welcher der Arbeit­ geber das Krankengeld zu erstatten hat. Auch in anderen Fällen, wenn der Arbeitgeber die Unterstützung nicht leistet, soll die Kassedem auf Antrag von der Versicherungspflicht Befreitendie satzungsgemäßen Leistungen gewähren und wird auf die Erstattungspflicht des Arbeitgebers verwiesen, wobei sie natürlich gegenüber zahlungsunfähigen Arbeitgebern ohne Deckung bleibt. Fernerwird bestimmt, daß die Landkrankenkassenallgemein oder für gewisse Gruppen von Versicherten das Krankengeld für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. März bis auf ein Viertel des Ortslohnes herabsetzen können, wofür sie die Beiträge zu ermäßigen oder das Krankengeld für die übrige Zeit zu erhöhen haben. 1911 Mai 1 187

Bereits erwähnt wurde, daß die Kommission in der ersten Lesung eine erweiterte Mutterschaftsfürsorge beschlossen hatte. Es sollten versicherungs­ pflichtige Wöchnerinnen im Falle der Niederkunft die erforderlichen Hebammendienste und ärztliche Geburtshilfe auf Kassenkosten geleistet wer­ den. Diese Leistungen sollten fakultativ auch auf Familienmitglieder der Ver­ sicherten ausgedehnt werden können. In der zweiten Lesung wurde diese Erweiterung wieder gestrichen. So hat die Kommission auf dem Gebiete der Krankenversicherung eine sehr wenig segensreiche Arbeit geleistet. Sie hat die Regierungsvorlage zu einem Teil wesentlich verschlechtert. Auf die Kommissionsbeschlüsse bezüglich der Unfall- und der Invalidenversicherung nebst Hinterbliebenenfürsorge kom­ men wir in einem zweitenArtikel zurück.

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1911 Mai 1

Zentralblattder Christlichen GewerkschaftenDeutschlands Nr. 9 Zur zweitenLesung der Reichsversicherungsordnung

[Zurückweisung der grundlegenden Kritik der Sozialdemokratie an der Reichsversicherungsordnung]

1. Das sozialpolitische Barometer steht auf Sturm. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, so wird die Verabschiedung der Reichsversicherungsordnung, deren Beratung in zweiter Lesung nach den Osterferien stattfinden soll, nicht uner­ heblichen Schwierigkeiten begegnen. Die Sozialdemokratie bereitet sich vor, dem Gesetze die schärfste Opposition zu machen, und nach der Tonart zu schließen, welche die sozialdemokratische Partei und ihre Gewerkschafts­ presse anschlägt, wird wohl alles versucht werden, um die Reichsversiche­ rungsordnung zu werfen. Inwiefern diesem Bestreben Unterstützung geliehen wird von anderen Parteien im Reichstag, ist nicht zu übersehen. Zweifellos wird das schwierige Gesetzgebungswerk nur dann zustande kommen, wenn eine geschlossene starke Mehrheit der sozialdemokratischen Obstruktion gegenübersteht. Ob sich eine solche feste Mehrheit finden wird, können erst die Beratungen selbst ergeben. Die Erledigung eines Gesetzes von 1700 und mehr Paragraphen, zu dem in den drei Lesungen, welche die Kommission 188 Nr. Sl gehalten hat, über 8000Abänderungsanträge gestellt worden sind, bietet einer opponierenden Gruppe genügend Handhaben, um die Beratung bis Ultimo hinauszuschieben, das Parlament zu ermüden und schließlich durch Herbei­ führungvon Zufallsabstimmungendasselbe zu werfen. Es braucht also eigentlich seitens der Sozialdemokratie keine Obstruktion gemacht zu werden wie beim Zolltarif; es bedarf nur der ausgiebigen Ausnut­ zung der Geschäftsordnung. Das einzige Mittel, das eine Mehrheit demgegen­ über hat, ist Abkürzung der Debatten. Aller Voraussicht nach wird es hierüber wohl nochzu schweren Auftrittenim Reichstag kommen. Zweifellos enthält das Gesetz manche Bestimmungen, welche die eine oder andere Partei, je nach ihrem Standpunkt, nicht gerade als angenehm empfin­ det. Gesetze kommen in der Regel nur auf dem Wege des Kompromisses zu­ stande. Weder eine Partei ist in der Lage, im Reichstag allen anderen Parteien ihren Willen aufzuzwingen, noch ist eine Mehrheit in der Lage, der Regierung ihren Willen aufzuzwingen, am allerwenigstenbei sozialpolitischen Gesetzen. Die Reichsversicherungsordnung ist ein rechtes Kompromißgesetz. Keine Par­ tei dürftesagen, daß in ihr alle diejenigen Wünsche berücksichtigt sind, die sie glaubt stellen zu müssen. Und auch wir von unserem Standpunkte der Arbei­ terinteressen aus müssen bei aller Anerkennung für die großen materiellen und sachlichen Fortschritte, die das Gesetz enthält, bekennen, daß manche Bestimmungen desselben es uns äußerst schwer machen, demselben mit Freu­ den zuzustimmen. Indes - der Gewerkschafter ist ja meistens in die Notwen­ digkeit versetzt, von den Forderungen und Wünschen, die er aufstellt, ganz erhebliche Abstriche machen zu müssen, wenn die Widersprüche gegen das gesteckte Ziel sich als zu stark erweisen. Fast jede Lohnbewegungschließt mit einem Kompromiß ab, in dem auch wir vieles zugeben müssen, und wie viele schließen scheinbar ohne Erfolgab. Und doch hat die Gewerkschaftsbewegung vermocht, mit 1.äher Ausdauer kleine Erfolge aneinander zu reihen, die Lage der arbeitenden Klassen im Laufe der Zeit ganz erheblich zu verbessern. Warum sollen wir nicht den Maßstab der gewerkschaftlichen Kritik auch an die Versicherungsgesetzgebung legen. Von diesem Gesichtspunkt aus wird ab­ zuwägen sein, welche Vorteile das Gesetz bietet und welche Nachteile ent­ stehen könnten. Über die materielle Seite dieser Frage werden wir demnächst aus sachkundiger Feder eine Reihe von Artikeln bringen.1 Aber schon heute· verdient festgestellt zu werden, daß im allgemeinen das Gesetz erhebliche materielle Fortschritte bringt. Allein die Witwen- und Waisenversicherung ist ein so kolossaler Fortschritt in der sozialen Versicherung, daß die kleinliche Kritik an der ungenügenden Höhe der Renten sich mäßigen sollte. Steht Deutschland mit seiner sozialen Versicherung schon an und für sich an der

1 Vgl.: Zur Verabschiedung der Reichsversicherungsordnung, in: Zentralblatt der christlichen GewerkschaftenDeutschlands, Nr. 12 vom 12.6.1911. 1911 Mai 1 189

Spitze aller Kulturländer, so überholt es durch die Einführung der Witwen­ und Waisenversicherung alle anderen Länder wieder um ein beträchtliches. Nicht minder hoch ist einzuschätzen die Einbeziehung der Landarbeiter, Dienstboten und Heimarbeiter in die Krankenversicherung. Es werden ca.sie­ ben Millionen Menschen erneut die Wohltaten der gesetzlich öffentlichen Reichskrankenversicherung zuteil werden. Die Invalidenversicherung erhält durch Einführung der Kinderrenteneine schätzenswerte Erweiterung. Ob die Neuordnung des Rechtsverfahrensein Fortschrittist gegen den bisherigen Zu­ stand, darüber sind sich die sozial-juristischen Sachverständigen allerdings nicht einig. Gleichwohl sind auch hier wesentliche Verbesserungen erzielt worden, die der soziale Praktiker schätzen soll. In organisatorischer Hinsicht sind gewiß nicht alle Wünsche, besonders bezüglich der Zentralisation der Krankenkassen erfüllt worden. Aber auch hier ist mit der Einschränkung der Betriebskrankenkassen, gegen welche die Industriellen gegenwärtig Sturm bla­ sen, ein Fortschritt erzielt.2 Das ist aber schließlich die Hauptsache, was zählbar und wägbar für die Ärmsten des Volkes bei diesem Gesetz herausspringt. Und wer seinen Blick gerichtet hält auf die größere Fürsorgemöglichkeit für Witwen und Waisen, für die Landarbeiter, bei denen bisher die ärztliche Versorgung, wie auch die Fürsorge für die erwerbslosen Tage vollständig fehlte, der wird, so schwer es ihm grundsätzlichankommen mag, Unvollkommenheiten des Gesetzes mit in den Kauf nehmen müssen. Das möchten wir gesagt haben, ohne uns in allen Teilen festzulegen. Diejenigen Abgeordneten im Reichstag, die unserer christlichen Arbeiterbewegung näher stehen, verdienen die Anerkennung, daß sie mit Energie, Zähigkeit und Geschicklichkeit die Interessen der Arbeiter bei den schwierigen Beratungen in den Kommissionen vertreten haben und wird ihnen mancher Beschluß nicht leicht geworden sein. Das zeigt schon die Tatsache, daß sie sehr oft gegen die Mehrheit ihrer eigenen politischen Partei gestimmt haben. Heute begnügen wir uns damit, die Aufmerksamkeit unserer Leser hinzulenken auf die strittigen Punkte um deretwillen die Sozialdemo­ kratie eine so starke Opposition ankündigt. II. Die erste Schwierigkeit bieten die Landkrankenkassen. Materiell ist die Landkrankenkasse nach den Beschlüssen der Kommission besser wie die bis­ herige Gemeindeversicherung, die ja jetzt vollständig aus dem Gesetz ver­ schwinden wird. Daß man den eigenartigen Bedürfnissen und Verhältnissen der ländlichen Bevölkerunghierbei Rechnung tragen mußte, versteht sich von selbst. Die Landwirtschaft läßt sich nicht in allen Punkten einfachhin über einen industriellen Leisten schlagen. Angefochten wird ganz besonders die Organisation der Landkrankenkassen. Die Kommission hat in ihrer ersten

2 Vgl. Nr. 107. 190 Nr.51

Lesungbeschlossen, daß die Vorstände der Landkrankenkassen in einem glei­ chen Wahlrecht wie bei den anderen Krankenkassen gewählt werden sollen. Die Regierung hat dem, gestützt durch die konservativen Parteien, unerbittli­ chen Widerstand entgegengesetzt, der schließlich dazu führte, das Wahlrecht fallen zu lassen. Nach dem jetzigen Beschluß sollen die Vorstände der Kran­ kenkassen gewählt werden durch die Kreistage resp. die Kreisausschüsse,also die erweiterten Gemeindevertretungen. Die Ursache des Widerstandes seitens der Regierung liegt im wesentlichen in der Befürchtung, daß durch die Einfüh­ rung allgemeiner Wahlen zu den Krankenkassendie politische Verhetzung in die Kreise der Landarbeiter getragen wird durch die Sozialdemokratie. Es ist also ein politischer Grund, dem man vom Standpunkt der Versicherten aus allerdings entschieden widersprechen muß. Wenn man auf dem Lande das Eindringen der Sozialdemokratie verhindern will, wird man nicht an einer Organisation der Landarbeiterselbst vorbeikommen. U. E. würde gerade eine solche Wahltätigkeit ein guter Resonanzboden für die soziale Erziehung der Landarbeiter bilden, die leider Gottes jetzt arg vernachlässigt wird. Indes, wenn man vor die Frage gestellt wird, die Landkrankenkassenscheitern zu las­ sen an der Frage des Wahlrechts, so möchten wir die materielle Fürsorge, die die Landkassen bieten, höher einschätzen, wie das Recht, die Vorstände zu wählen. Auch so wird das Landkrankenkassengesetzauf die Landarbeiter auf­ rüttelnd wirken. Und früher oder später wird man das Wahlrecht auch in die­ sen Kassen einführenmüssen. Ob allerdings der Kreisausschuß, der im letzten Grunde nur der Willensvollstrecker des Landrats ist, ein geeignetes Organ ist für die Verwaltung der Landkrankenkasse, erscheint zweifelhaft. Die Praxis muß hier die Lehrmeisterin sein. Das Gesetz gibt übrigens den Einzelstaaten das Recht, in ihrem Bereich oder auch für bestimmte Bezirke den Landkran­ kenkassen das Wahlrecht zu verleihen. Um dieser Unvollkommenheiten wil­ len, die wir durchaus nicht gering einschätzen, die Reichsversicherungsord­ nung abzulehnen, nachdem sie unter anderen Umständen nicht zu haben ist, wäre ein großes Unrecht gegen die Landarbeiter. III. Der zweite kritische Punkt, der bedeutend erheblicher ist wie der erste, und der wohl den Kernpunkt der sozialdemokratischen Opposition bildet, ist die Änderung in den Befugnissen der Vorstände der Ortskrankenkassen. Bekanntlich wollte die Regierung ursprünglich die Hälftelung einführen, d.h., daß Arbeiter und Arbeitgeber die Hälfteder Beiträge zahlen und auch zu glei­ chen Teilen im Vorstand vertreten sein sollen. Die Regierung hat anfangs angekündigt, daß das Gesetz ohne diese Hälftelung für sie nicht annehmbar sei. Sie hat in diesem Punkte nachgegeben, nachdem wenigstens in der Wahl der Vorsitzenden der Krankenkassenbeamten eine Änderung des bisherigen Zustandes vorgenommen worden ist. Die Lageist jetzt folgendermaßen: 1911 Mai 1 191

Der Kassenvorstand bestehtaus einem Drittel Arbeitgeber und zwei Drittel Versicherter. Für die Wahlen gilt die Verhältniswahl. Soweit die materiellen Leistungen der Krankenkassen in Betracht kommen im Rahmen des Bei­ tragsmaximums, gilt für die Beschlußfassungwie bisher die einfache Majorität. Der materielle Ausbau der Kasse, die Regelung der Mehrleistungen über das gesetzliche Mindestmaß hinaus usw. unterliegt also nach wie vor dem ein­ fachen Mehrheitsbeschluß, der den Versicherten unter allen Umständen die Majorität sichert. Eine Änderung ist nur eingetreten in der Wahl der Kassen­ vorsitzenden und der Kassenbeamten. Das Gesetzwill, daß hier eine Verstän­ digung zwischen Arbeiter- und Arbeitgebervertretern erfolgen soll. Der Kas­ senvorsitzende soll nur als gewählt gelten, wenn er die Hälfteder Stimmen der Arbeitgeber und der Versicherten im Vorstand auf sich vereinigt. Kommt eine solche Wahl nicht zustande, hat das Versicherungsamt das Recht, einen Ver­ treter zu ernennen, bis sich die Parteien geeinigt haben. Für die Anstellung der Krankenkassenbeamten soll folgender Modus gelten: Die Anstellung eines Beamten soll erfolgen, wenn mindestens die Hälfte der Arbeitgeberstimmen und die Hälfte der Stimmen der Versicherten im Vorstande auf ihn fallen. Kommt ein Beschluß nicht zustande, soll die Abstimmung nach einem bestimmten Zeitraume wiederholt werden. Wird auch dann keine Einigung erzielt, soll eine erneute Abstimmung im Vorstande stattfinden und der Beamte als gewählt gelten, wenn er mehr als zwei Drittel der Stimmen der anwesenden Vorstandsmitglieder (Arbeiter und Arbeitgeber) auf sich ver­ einigt. Kommt auch auf diese Weise kein Beschluß zustande, so hat das Versi­ cherungsamt das Recht, selbst die Kassenbeamten zu bestellen auf Widerruf. Ist innerhalb eines Jahres noch keine Einigung im Vorstande erzielt, so kann das Versicherungsamt mit Genehmigung des Oberversicherungsamtes die Stellen endgültig besetzen. Der Zweck dieser Bestimmungen ist, aus den Krankenkassendie Parteiwirt­ schaft auszumerzen und fernzuhalten. Wenn die Sozialdemokratie sich über diesen Beschluß außerordentlich aufregt, so verrät dies schon ihr schlechtes Gewissen. Sie trägt indirekt die Schuld und die Verantwortung für diese Einengung des Selbstverwaltungsrechts der Arbeiter. Wir werden uns vorbe­ halten, zur gegebenen Zeit die entsprechenden umfangreichen Materialien zu veröffentlichen, die den Nachweis bringen, mit welcher Schrankenlosigkeit die sozialdemokratischen Kassenmehrheitengewirtschaftet haben. Mit dem mate­ riellen Versicherungszweck haben diese Bestimmungen des Gesetzes wenig oder gar nichts zu tun. Die Krankenkassen sind öffentliche Reichseinrichtun­ gen. Es ist nicht jedem ins Belieben gestellt, der Kasse beizutreten oder nicht, sondern der Arbeiter wird von Gesetzeswegen gezwungen, den Krankenkassen beizutreten, und die Arbeitgeber werden von Gesetzeswegen gezwungen, ein Drittel der Beiträge zu leisten. Der Gesetzgeber hat deshalb auch die Pflicht, 192 Nr. 51

Fürsorge zu treffen, daß die öffentlich-rechtlichneutrale Institution der Kran­ kenkasse nicht Tummelplatz für politische Agitation oder zu Agitationen für bestimmte Richtungen in der Arbeiterbewegung wird. Der Versicherungs­ zweck selbst ist ein so großer und idealer Gedanke, daß er nicht durch politi­ sche Strömungen seinem Zweck entfremdet werden sollte. Nur die Sozialde­ mokratie in ihrer ganzen klassenkämpferischen Natur hat Interesse daran, daß es anders ist. Ihre Praktiken sind es denn auch, wie schon gesagt, die diese Bestimmungen veranlaßt haben. Wenn also die sozialdemokratische Presse über die Entrechtung der Arbeiter, über den Raub an dem Selbstverwaltungs­ recht der Krankenkassen zetert3, so ist das eine Verkehrung der Tatsachen. Es handelt sich darum, das Selbstverwaltungsrecht der Arbeiter sicher zu stellen gegen Mißbrauch und Intoleranz. Wir sind keine Freunde solcher Bestimmun­ gen. Gerechtfertigt können sie nur werden, wenn der bisherige Zustand unhaltbare Mißstände ergeben hat. Darüber wird, wie gesagt, noch ein wei­ teres Wort zu reden sein. IV. Ein dritter kritischer Punkt ist die im Einführungsgesetz für die Versiche­ rungsordnung vorgesehene Annullierung der geltenden Verträge mit den Krankenkassenbeamten. Nach dem Gesetz wird eine Dienstordnung für die Krankenkassenbeamten aufgestellt. Dieselbe bedarf der Genehmigung des Oberversicherungsamtes. In dieser Dienstordnung sind direkt die Dienstver­ hältnisse der Angestellten geregelt, z.B. die Zahl der Beamten, die Art der Anstellung, Aufrücken in höhere Stellung, Besoldungspläne, die Bestimmun­ gen über die Kündigung, Entlassung und Festsetzung von Strafen. Die Ober­ verwaltungsbehörde hat Bestimmungen zu erlassen, die die Befähigung der mit der Kassen- und Rechnungsführungbeauftragten Angestellten und Beam­ ten ordnet. Die Dienstordnung soll in Kraft treten einen Monat nach ihrer Publikation durch das Oberversicherungsamt. Auf diesem Umwege werden alle geltenden Verträge der Krankenkassenbeamten aufgehoben. Dieser Schritt ist nicht unbedenklich. Ganz gewiß hat der Gesetzgeber die Möglich­ keit, durch ein Gesetz bestehende Rechtsverhältnisse, infolgedessen auch Ver­ träge zu annullieren. Aber solch ein Schritt unterliegt doch erheblichen Bedenken, er erschüttert das Rechtsbewußtsein und die Rechtssicherheit, zumal im Gesetze keinerlei Übergangsvorschriften vorgesehen sind. Das Ein­ führungsgesetz wird gleich nach den Osterferien in erster Lesungberaten wer­ den und dann in die Kommission gehen. Wir hegen die Erwartung, daß die Kommission Mittel und Wege finden wird, um diese Frage einer loyalen und gerechten Lösung entgegenzubringen. Auch wenn noch so erhebliche Miß­ stände auf einem Gebiet vorliegen, so soll man dreimal überlegen, bevor man mit einem Federstrich alte Vertragsverhältnisse, die im guten Glauben gege-

3 Vgl. Nr. 50. 1911 Mai 1 193 ben und genommen sind, umwirft. Aber auch hier muß festgestelltwerden, was die eigentliche Ursache zu diesemganz auffallendenSchritt der Regierung ist. Und diese Ursache ist wiederum ausschließlich auf das Konto der sozialdemo­ kratischen Krankenkassenvorständezu setzen. Im Jahre 1906 ist in einer Konferenz der sozialdemokratische Kranken­ kassenbeamten in Düsseldorf ein Vertragsmuster aufgestellt worden, nach dem die Anstellung der Beamten an den Krankenkassen erfolgen sollte. Es sind nach diesem Vertragsmuster z. Zt. massenhaft die Beamten angestellt. Auf einen Einspruch des Magistrats der Stadt Spandau gegen die Anstellung der Beamten an der Krankenkasse der Handwerker haben sich die Gerichte mit der Angelegenheit befaßt, und am 21. März 1910 fällte das Oberverwal­ tungsgericht ein Urteil, nach dem der Vertrag als wider die guten Sitten ver­ stoßend für rechtsungültig erklärt wurde. (Wir werden diese Angelegenheit noch in einem besonderen Artikel besprechen. D.Red.) Auf Grund dessen wurden bei der Krankenkasse die Verträge abgeändert. Eine Anzahl Kassen hatten schon vorher selbständig den Mustervertrag geändert, weil ihnen die Bestimmungen desselben zu ungeheuerlich waren. Diese Vorgänge haben die Regierung veranlaßt, im Einführungsgesetz mittelst der Dienstord­ nungsvorschriften die bestehenden Verträge sämtlich zu annullieren. Es sei noch hinzugefügt, daß bei dieser Gelegenheit sich herausgestellt hat, daß ein­ zelne Kassenbeamte außerordentlich hohe Gehälter beziehen, die weder mit den Arbeitsleistungen, noch mit der Vorbildung der Beamten zu rechtfertigen sind. Es darf nun wohl erwartet werden, daß der Reichstag einen Weg findet, wie die wohlerworbenenRechte der Beamtenan den Krankenkassen geschützt und gleicherzeit Mißbräuche in der Anstellung der Beamten verhindert wer­ den können. Wir resümieren nun zum Schluß dahin: die umstrittenen Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung, die wir hier gezeichnet haben, erscheinen im Einzelnen und im Zusammenhang nicht erheblich genug, um deshalb das ganze Reformwerk der Versicherungsordnung zum Scheitern zu bringen. Wir halten weder die Regelung der Landkassenfrage noch die Bestimmungen über die Wahl der Vorsitzenden und Beamten der Krankenkassen für eine glückli­ che und ideale. Bezüglich der Anstellungsverträge erwarten wir einen billigen Ausgleich. Vor die Frage gestellt, ob wir die Verantwortung für das Scheitern des Gesetzes tragen wollten, falls in den beiden kritisierten Punkten eine Änderung nicht erfolgen sollte, müßten wir eine solche Verantwortung rund­ weg ablehnen. Die materielle Fürsorge für die Witwen und Waisen, für Land­ arbeiter, Dienstboten und Heimarbeiter und Verbesserung der Invalidenrente ist wichtiger und bedeutungsvoller als die Mängel in der Organisation der Institute selbst. Diejenigen bürgerlichen Parteien, welche der zu erwartenden Obstruktion der Sozialdemokratie lässig gegenüberstehen und dadurch das 194 Nr.52

Scheitern des Gesetzes herbeiführen, würden sich nicht den Dank der natio­ nal-gesinnten Arbeiterschaft verdienen, im Gegenteil, sich einer schweren Verantwortung schuldig zu machen. Von der Sozialdemokratie ist eine loyale Haltung dem Gesetz gegenüber keineswegs zu erwarten. Dieses Gesetz wird gegen die Sozialdemokratie gemacht werden müssen,wie alle bisherigen Ver­ sicherungsgesetze.

Nr.52

1911 Mai3

Bekanntmachung der Firma Siemens-Schuckert-Werke in Berlin-Charlotten­ burg an sämtliche Meister1 Ausfertigung

[Eintragung der Urlaubszeit auf Listen und Festlegung der urlaubsberechtig­ ten Arbeiter)

In den beiliegenden3 Arbeiter-Urlaubslisten ist die Zeit, für welche Urlaub gewährtwerden soll, einzutragen. Eine Liste behält der Meister, die beiden anderen sind bis Ende dieses Mo­ nats an den Betriebsingenieur einzureichen. Letztererbehält ein Exemplar für sich und gibt das andere nach erfolgterBestätigung an das Lohn-Bureau. Eine Verlegung des einmal festgesetzten Urlaubs ist nur in Ausnahmefällen gestattet und dann dem Lohn-Bureausofort bekanntzugeben. Gewährt wird Urlaub bestimmungsgemäß an: männliche Arbeitnehmer, welche mindestens 35 Jahre alt und seit minde­ stens 10 Jahren ununterbrochen bei der Firma beschäftigt sind, sowie an Arbeiterinnen, welche mindestens 25 Jahre alt und seit mindestens 5 Jahren bei der Firma beschäftigtsind.

1 Wemerv. Siemens-Institut, 2257 M, SAA14/LH 656. 1911 Mai 13 195

Nr.53

1911 Mai 13

Metallarbeiter-ZeitungNr. 19 Terrorismusgeschrei

(Vorwurfan die christlichen Gewerkschaften, durch ihr Zusammenwirken mit den "Scharfmachern" und durch ihr "verlogenes Terrorismusgeschrei" die freien Gewerkschaftenschädigen zu wollen]

Die Vergewaltigung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung soll mit Nachdruck betrieben werden. Das zeigt nicht nur die geplante Entrechtung der Arbeiter durch die Reichsversicherungsordnung, sondern auch das Bestre­ ben der Scharfmacher, der Junker, der Regierungskreise und ihrer Gefolg­ schaft, der deutschen Arbeiterschaftmit Ausnahme-, wenn eben möglich, mit Zuchthausgesetzen aufzuwarten. Jahrelang wird schon gewühlt. Wer sich zum Beispiel über das Bestreben der Scharfmacher und ihrer Gefolgschaft in der Frage des Mitbestimmungs- und Verwaltungsrechtsder Arbeiter in den Versi­ cherungskassen orientieren will, braucht ja nur das im laufe der Jahre zusammengeschleppte Material zu prüfen. Wo auch das geringste vorkam in den Ortskrankenkassen, wurde der "Fall" aufgeschnappt und zur Begründung der arbeiterfeindlichen Pläne mächtig ausgeschlachtet. Um Material zu erhal­ ten, arbeiteten sich Scharfmacher, Behörden, "christliche" und gelbe Gewerk­ schaften,wie die verschiedenen reaktionärenParteien getreulich in die Hände. Ob das Material einwandfreiwar, danach haben die Leutein ihrem Haß gegen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung nicht gefragt. Wer erinnert sich nicht der Denkschrift der Reichsregierung, die die Zuchthausvorlage stützen und begründen sollte? Und wer kennt nicht das zusammengestoppelte und zusammengelogene Zeug, das die Reichsverbändler1 gegen die Sozialdemo­ kratie und die freien Gewerkschaften auch in der Frage der Krankenkassen gesammelt haben - wie gesagt, unter getreuer Assistenz der "Christlichen"? So geht es jetzt mit Volldampf ans Sammeln von allerhand Terrorismusgeschich­ ten. Welche Absichten mit dem Geschrei über den "freigewerkschaftlichen Terrorismus" verbunden sind, ist schon ausgesprochen worden. Wer weiß, wie lange es noch dauern wird, und so eine Art Zuchthausvorlage ist da. Darauf weist die systematische Tätigkeit hin, wie sie durch die Scharfmacher und die

1 D.h. die Propagandisten desReichsverbandes zur Bekämpfungder Sozialdemokratie. 196 Nr.53

Dunkelmänner betrieben wird. Allen voran die "christlichen" Gewerkschafts­ organe und die Zentrumspresse. In den christlichen Gewerkschaftsblättern kann man fast in jeder Nummer von allerhand "Vergewaltigungen" christlicher und unorganisierter Arbeiter durch die freigewerkschaftlichen Arbeiter lesen; von einer "Ausschaltung" christlicher Arbeiter aus den Betrieben, von Monopolverträgen u.s.w.2• Diese Terrorismusgeschichten sind aber in 99 bis 100 Fällen erlogen und entstellt. Aber die Wirkung bleibt dieselbe wie beim Material, das gegen das Verwal­ tungsrecht der Arbeiter in den Krankenkassen und bei der Zuchthausvorlage zusammengetragen war. Das Besondere beim christlichen Terrorismusgeschrei ist noch, daß fast an jedem "Fall" ein Hinweis auf Ausnahmegesetze, die die "roten Terroristen heraufbeschwören", geknüpft wird. Man beliebt eben den Teufel so lange an die Wand zu malen, bis er da ist. Ein Ziel, das die "Christlichen" aufs innigste wünschen. Ausnahmegesetze gegen die freien Gewerkschaften, damit die christlich-na­ tionale Arbeiterbewegung Luft bekommt! Bei einer freien Entwicklung sehen sich die christlich-nationalen Organisationen zu ständiger Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit gegenüber den freien Gewerkschaften verdammt, und dieser Zustand wird den ersteren immer unerträglicher. Nur so ist das ekel­ hafteund erlogene Geschrei über Terrorismus in den christlichen Organen zu verstehen. Wir streiten nicht ab, daß Terrorismusfälle sich ereignen. Wo geschieht das nicht? Katholische Facharbeiter schreien über Terrorismus der "christlichen" Gewerkschaften und umgekehrt. Wo Organisationen verschiedener Richtun­ gen sich gegenüberstehen, auch im Unternehmerlager, ist man ja auch allzu­ leicht geneigt, jeden schiefen Blick als Terrorismus aufzufassen. Aber das eine steht fest, daß sich in den freien Gewerkschaftender Terrorismus nicht breiter macht als sonstwo auch. Wir gehen nicht einmal fehl, wenn wir sagen, daß der Terrorismus am schlimmsten ist, wo man über ihn am meisten schreit und zetert. Das ist eine Binsenwahrheit. Und dann ist noch die Frage zu prüfen, wie denn der Terrorismus entsteht und zustande kommt. Wenn sich "christliche" Gewerkschaftler durch Denunziation, Streikbruch und sonstigen Verrat in den Betrieben ausgezeichnet haben, wenn sie durch Hinterlistigkeiten aller Art den Arbeiter um die Früchte oft jahrelanger Arbeit bringen, wenn sie geradezu den Hemmschuh für das wirtschaftliche Fortkommen der Arbeiter in den Betrieben bilden, dann kann man verstehen, wenn ehrlichen Arbeiterndie Galle überläuftund sie dem verlogenen und ver­ räterischen Gesellen im Christenkittel die Meinung sagen, oder herkommen und sich diese Burschen vom Leibe zu halten suchen. Wo die Christlichen

2 Vgl. Nr. 7, Nr. 36, Nr. 390. 1911 Mai 13 197

Kameradschaftlichkeit pflegen, Klassensolidarität üben, den Verrat und die Hinterlist meiden, kommen sie nicht in die Lage,über Terrorismus zu klagen. Man erinnere sich aber nur daran, was sich seit der Lohnbewegung der Bergarbeiter im Ruhrbecken im christlichen Gewerkschaftslager alles ereignet hat, ein Streikbruch jagte den andern, Tarife wurde christlicherseits hinter dem Rücken der freien Gewerkschaften abgeschlossen, offen wie heimlich geht man mit den Unternehmern Hand in Hand, und nur zu dem Zwecke, den freigewerkschaftlichenArbeitern zu schaden; Dutzende derartiger Fälle haben sich in letzter Zeitereignet, die zum Teil schon in der Presse erörtert worden sind. Wie die "Christlichen" gleich den Gelben den guten Namen der deutschen Arbeiterklasse in den Kot treten, dafürheute wieder folgendeBeweise: In Düsseldorf beabsichtigen in der großen Bauschlosserei Meißwinkel die Mitglieder des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes der Firma einige Forde­ rungen zu unterbreiten. Die Branchenleitung hielt eine Mitgliederbespre­ chung ab, und nun stellte sich heraus, daß auch eine Anzahl "christlicher" Arbeiter im Betriebe waren. Man beschloß deshalb, mit dem christlichen Verband gemeinsam vorzugehen und acht Tage später eine gemeinschaftliche Versammlung abzuhalten. Das geschah auch. Die Christlichen wurden einge­ laden und die Versammlung fand statt. Obwohl also der Deutsche Metall­ arbeiter-Verband ganz korrekt vorging, stellte sich doch heraus, daß Herr Leupke, der Angestellte des christlichen Metallarbeiterverbandes, bereits vor der gemeinschaftlichen Versammlung bei dem Unternehmer vorstellig war, und zwar hinter dem Rücken der Arbeiter, auch der christlichen! Er hatte den Unternehmer ersucht, nichts davon zu sagen, daß er dagewesen sei. In dem Betriebe der Kontrollergesellschaft, gleichfalls in Düsseldorf, herrschten sehr schlechte Arbeitsverhältnisse. Als nach verschiedentlichen Verhandlungen die Zustände keine durchgreifende Besserung erfuhren, be­ schloß eine Betriebsversammlung, die Sperre zu verhängen. Das konnte mit Aussicht auf Erfolg geschehen wegen des riesigen Wechsels der Arbeiter. Bis dahin waren nur Mitglieder des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes dort beschäftigt. In der betreffenden Versammlung meldete sich nun ein "Christ­ licher", der mittlerweile dort angefangen hatte und erklärte, er sei mit der Sperre einverstanden, er bitte aber, seine Organisation in Kenntnis zu setzen. Das Mitglied des Metallarbeiter-Verbandes, Rahn, benachrichtigte Herrn Leupke telephonisch und machte ihm den Vorschlag, mit ihm gemeinschaft­ lich bei dem Direktor vorstellig zu werden, womit sich Leupke einverstanden erklärte. In Anbetracht des Umstandes, daß nur ein christliches Mitglied im Betriebe war, sicher ein außerordentliches Entgegenkommen. Was tat Herr Leupke? Er wurde hinter dem Rücken des Metallarbeiter-Verbandes allein vorstellig und schloß mit dem Direktor einen Vertrag ab. Man denke, er hatte 198 Nr.53 ein Mitglied im Betrieb und der Deutsche Metallarbeiter-Verband 20. Der Firma stellte er dann trotz der Sperre Arbeitskräfte zur Verfügung. Zirka 12 Christliche nahmen auf Anweisung ihres Verbandes als Streikbrecher die Arbeit auf. In der Baubeschlagfabrik Hahn in Neuß waren sämtliche Arbeiterim Deut­ schen Metallarbeiter-Verband organisiert. Das mußte wohl Herrn Hahn, der ein Zentrumsmann und guter Katholikist, nicht passen. Er setzte sich mit dem "christlichen" Metallarbeiterverband in Verbindung und stellte nur noch Christliche ein. Bald hatten diese das Übergewicht. Mitglieder des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes wurden von der Einstellung gänzlich ausgeschlos­ sen! Ein Unorganisierter erhielt von der Firma das Beitrittsgeld mit der Wei­ sung, sich in den "christlichen" Verband aufnehmen zu lassen. Unseren Mit­ gliedern legte man wiederholt nahe, zum christlichen Verband überzutreten. Als nun Herr Hahn den Schleifern, die alle drei dem Deutschen Metallarbei­ ter-Verband angehörten, einen Abzug von 10 Prozent machte, kündigten diese, und selbstverständlich wurde die Schleiferei gesperrt. Obwohl der christliche Verband genau über die Sache informiert war, ließ er sofort einen Streikbrecher anfangen. Der Unternehmer entließ nun den Vertrauensmann des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes am Morgen nach einer Betriebsver­ sammlung, an der auch drei "christliche" teilnahmen! Auch ein anderes Mit­ glied vom Verbande mußte mit aufhören. Unsere Kollegen wandten sich an den "christlichen" Verband mit der Frage, wie er sich dazu stelle. Herr Leupke antwortete, er habe sich erkundigt, die Entlassungen seien zu Recht erfolgt, der christliche Verband störe sich nicht daran! Nun stellte der Unternehmer, der ja den christlichen Verband im Rücken hatte, an die noch im Betrieb befindlichen Mitglieder des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes das Ansin­ nen, entweder die Sperre aufzuheben oder er würde sie alle hinauswerfen. Natürlich krochen unsere Kollegen nicht ins Mauseloch, sie hoben die Sperre nicht auf und Herr Hahn hielt Wort: Er warf sie alle auf die Straße! Zwei kippten schließlich um, sie traten aus dem Verband aus und durften dableiben. So "siegte" der fromme Unternehmer und sein christlicher Schutzverband gemeinsam über die freieGewerkschaft. In Hagen-Schwelm brachen bei der Firma Eicken & Co. wegen Betriebsmiß­ ständen Differenzen aus. 80 Prozent der Arbeiter sind organisiert, davon die meisten im "christlichen" Metallarbeiter-Verband. Am 4. April wurden plötz­ lich ohne Kündigung fünf Drahtzieher entlassen, zwei der Entlassenen gehör­ ten dem Deutschen Metallarbeiter-Verband, zwei der christlichen Organisa­ tion und einer dem Gewerkverein H.-D.- an. In einer gemeinschaftlichen Ver­ sammlung wurde beschlossen, die Wiedereinstellung der Gemaßregelten zu beantragen. Hier schon suchte der Christenführer Alef die Gekündigten zu veranlassen, bei der Betriebsleitung um gut Wetter anzuhalten, die Ver- 1911 Mai 13 199 sammlung aber beschloßdie Einreichung der Klage beim Gewerbegericht, und in einer weiteren gemeinschaftlichen Versammlung sollten weitere geeignete Schritte unternommen werden. Der Vertreter der Hirsche erklärte damit sein Einverständnis, während der Christenführer plötzlich erklärte, die Bewegung nicht mitmachen zu wollen. "Wir halten keine gemeinschaftlichen Versamm­ lungen mehr ab." Der Vertreter des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes und der der Hirsche sagten darauf, daß durch die Haltung der "Christlichen" die Sache der Drahtarbeiter verloren sei. Die Schuld träfe voll die christliche Organisation, die ihrer Sonderinteressen halber die Existenz von Arbeitern opfert. Jedenfallswar der christlichen Organisation um die Kosten bange, die ein eventueller Kampf verursacht hätte. Wie es die "Christlichen" beim Bauschlosserstreik in Stuttgart treiben, wurde in Nr. 17 (Seite 139) gezeigt.3 In Eilenburg hat der christliche Bezirksleiter Minter den Unternehmer besucht und ihm Streikbrecher für den Fall angeboten, daß die Mitglieder des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, die in der Reparaturwerkstätte der Zelluloidfabrikbeschäftigt sind, auch die Arbeit einstellten. Da unser Verband seine Mitglieder nicht zu einer nutz- und zwecklosen Arbeitseinstellung ver­ anlaßte, hatten Minter und seine Verbandspresse die Frechheit, von Streik­ bruch des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes zu reden. Und so treiben es die "Christlichen" fort und fort. Verrat reiht sich an Ver­ rat. Führer der freienGewerkschaftsbewegung, die mit den Christlichen zu tun haben, klagen überall, daß trotz des größten Entgegenkommens die Christ­ lichen zu allem fähig seien. Treu und Glauben sind den meisten Christenfüh­ rern unbekannte Begriffe geworden. Und da schreit man über Terrorismus Freigewerkschaftlicher, wenn diese in berechtigtem Zorn den Christen die Wahrheit geigen. Wie haben die Christen über Streikbruch und Treubruch der Arbeiter geschrieben, wie waren sie über solche elenden Streiche empört und entsetzt! Aber die Dinge haben sich allmählich so entwickelt, daß alles das, was die christlichen Gewerkschaften über die schnödesten Verrätereien schrieben, auf sie jetzt selbst zurückfällt. Daß unter solchen Umständen ver­ nünftig denkende Arbeiter sich mit Abscheu aus solchen Organisationsgebil­ den wenden, ist selbstverständlich, und ebenso klar ist, daß die freien Gewerk­ schaften immer mehr und mehr als die wirkungsvollste und ehrlichste Arbei­ tervertretung anerkannt werden. Das sehen auch die Christenführer ein. Darum ihr Zusammenwirken mit den Scharfmachern, darum ihr verlogenes Terrorismusgeschrei und darum die Sehnsucht, daß mit Hilfe der Gesetz­ gebung den freien Gewerkschaften die Bewegungsfreiheit unterbunden werde, ohne Rücksicht darauf, daß schließlich die christliche Arbeiterschaft genau so

3 Nicht abgedruckt. 200 Nr.54 unter Entrechtungund Vergewaltigungzu leiden hat, wie die sozialdemokrati­ schen Arbeiter. Nur so weiter, die deutschen Arbeiter werden den christlichen Heerführerndie Antwort nicht schuldig bleiben. Wir haben in N. 5 (Seite 40)4 geschrieben, daß man keine allgemeine Regel darüber aufstellen könne, ob es zweckmäßig sei, Mitglieder gegnerischer Organisationen von der Beschäftigung in tariftreuen Betrieben auszuschlie­ ßen, darüber müsse von Fall zu Fall entschieden werden. Die "christliche" Westdeutsche Arbeiter-Zeitung, dieses ausgeprägte Jesuitenorgan, bezeich­ nete unsere Bemerkung als zynisch. Und der Tischgenosse der Scharfmacher, der Herr Giesberts, verstieg sich im Reichstag dazu, wir wollten den "Christlichen" von Fall zu Fall die Hälse umdrehen. Wir brauchen uns gegen eine solche Unterstellung nicht zu veiwahren, sie ist eine gemeine Verdächti­ gung. Wir haben damals mit Absicht auf dieseAnwürfe nicht reagiert, weil wir aus Erfahrung wissen, daß sich bald Beispiele genug finden würden, die unsere Bemerkung rechtfertigen. Und wie die oben geschilderten Vorgänge zeigen, war unsere damalige Äußerung mehr als gerechtfertigt. Wer fortgesetzt so wider Treu und Glauben verstößt, wie diese "Christlichen", kann nicht den Anspruch erheben, bei Tarifabschlüssenberücksichtigt zu werden.

Nr.54

1911 Mai 15

Der Arbeitgeber Nr. 10 Ein Reichseinigungsamt? Dr. Tänzler1

(Ablehnung eines von Berlepsch vorgeschlagenen Reichs-Einigungsamtes)

Staatsminister Dr. Frhr. v. Berlepsch2 hat in der Ortsgruppe Berlin der Gesellschaft für soziale Reform im März d. J.3 einen Vortrag gehalten, in wel­ chem er die Schaffung eines Reichseinigungsamtes zur Schlichtung und Hintanhaltung von Arbeitsstreitigkeitenfür notwendig erklärt. Der Vortrag ist

4 Nicht abgedruckt. 1 Dr. Fritz Tänzler, 1910-1913 Geschäftsführender Syndikus der Hauptstelle Deutscher Ar­ ritgeberverbände,seit 1913 der Vereinigungder Deutschen Arbeitgeberverbände. Hans Hermann Frh. v. Berlepsch (1843-1926), 1890-97 preußischer Minister für Handel und �ewerbe, Gründer der Gesellschaftfilr soziale Reform. Am 8. März1911. 1911 Mai 15 201

jetzt als Sonderabdruck aus der "Sozialen Praxis" erschienen4, die schon im Sommer des vergangenen Jahres Aufsätze mit der gleichen Tendenz aus der Feder des Prof. Francke5 und des Magistrats Wölbling6 brachte. Den letzt­ genannten Herren diente hierbei der vorjährige große Kampf im Baugewerbe und dessen Beilegung zum Ausgangspunkte und zur Grundlage ihrer Vor­ schläge7. v. Belerpsch geht in seinen Ausführungen von weiteren Gesichtspunkten aus und untersucht zunächst, ob ein Bedürfnis für das von ihm verlangte Reichseinigungsamt anzuerkennen sei. Er unterzieht deshalb die bereits be­ stehenden, teils privaten, teils öffentlichen Schlichtungseinrichtungen einer Erörterung und kommt hierbei zu dem Schlusse, daß die bisherigen Wege zur Herbeiführung von Einigungen gewiß eine Reihe guter Erfolge gehabt, in vie­ len großen Arbeitskämpfenaber ganz versagt hätten. So ist v. Berlepsch voller Bewunderung für die Einrichtungen, die das Buchdruckgewerbe zur Vermei­ dung von offenen Arbeitskämpfen getroffen hat8; aber auch bei anderen Ge­ werhen ist nach ihm die im Einverständnis beider streitenden Parteien erfolgte Heranziehung von Unparteiischen zur Schlichtung einzelner Streitfälle fast stets erfolgreich gewesen. Wenn er trotzdem der von ihm verlangten staatli­ chen Einrichtung das Wort redet, so will er damit die Fälle treffen, in denen eine Partei oder beide es ablehnen, sich eines besonderen Mittlers und Eini­ gers zu bedienen; in solchen Fällen soll der Staat unaufgeforderteingreifen. Es erscheint zweifelhaft, ob es v. Berlepsch gelungen ist, die Bedürfnisfrage für ein solches Reichseinigungsamt überzeugend nachzuweisen. v. Berlepsch hebt ja gerade besonders hervor, daß die bisherigen freiwilligen Einrichtungen oder von Fall zu Fall getroffenen Verabredungen sich bewährt haben, er meint nur, es seien deren zu wenig und es fehle vielfach noch an beiderseitigen star-

4 Abgedruckt in der "Sozialen Praxis", XX.Jg., Nr. 24 u. Nr. 25 vom 16. u. 23. März1911. 5 Prof. Dr. Ernst Francke, seit 1897 Herausgeber der "Sozialen Praxis". Vgl. den Artikel: Beuge vor!, in: Soziale Praxis,XIX. Jg., Nr. 37 vom 16. Juni 1910. 6 Vgl. den Artikel: Der Gedanke eines Reichseinigungsamtes,in: Soziale Praxis, XIX. Jg., Nr. 37 vom 16. Juni 1910. 7 Am 15. April 1910 legten die etwa 20000 organisierten Arbeitgeber des Baugewerbes ihre Be­ triebe still. Mit der so durchgeführten Aussperrungvon etwa 300 000 Arbeiternbegann der bisher �rößte Arbeitskampfim deutschen Baugewerbe. Bereits seit dem Jahre 1873 war im Buchdruckgewerbe ein Tarifvertag abgeschlossenund in fe­ sten Intervallen erneuert worden. Mit der "Stettiner Revision" von 1889 wurde zudem festgelegt, daß seitens der Prinzipale nur Gehilfen eingestellt werden sollen, die nachweislich zu tarifmäßigen Bedingungen gearbeitet hatten bzw.in tariftreuen Betriebenausgebildet worden waren. Nachdem die Tarifgemeinschaft 1891 im Kampf um den 9-Std.-Tag zerbrochen war, gingen die Prinzipaleund Gehilfen 1896 wieder an den Aufbau einer neuen gemeinsamenBasis mit folgenden Grundlagen: 1. Ein zentralesTarifamt ist die obersteInstanz. 2. Die Kostender Tarifgemeinschaft werden beiderseitiggetragen. 3. Schiedsgerichte und Arbeitsnachweisstellenwerden eingerichtet(bis 1912 65 Schiedsgerichte und 63 Arbeitsnachweiseim gesamtenDeutschen Reich). 4. Eine Revisiondes Tarifs findet alle 5 Jahre statt. 202 Nr.54 ken und entschlossenen Organisationen. Bei dem großen Wert, den man in der Gesellschaft für soziale Reform auf die Organisationen legt, bei der Anerken­ nung, die man der Entwicklung dieser Organisationen zollt, und bei dem von derselben Seite behaupteten siegreichen Vordringen der Tarifvertragsidee er­ scheint es einigermaßen befremdlich, daß der Wortführer der Gesellschaft für soziale Reform nun nicht die Forderung auf weiteren Ausbau dieser freiwilli­ gen Einrichtungen und Vereinbarungen stellt, sondern mit einem gesetzlichen Eingriff dieser Fortentwick.lung zweifellos hemmend entgegentritt und den Schiedsspruch eines Unparteiischen gesetzlich einführen will, von dem er selbst sagt, daß er nur ein "mangelhaftes Auskunftsmittel" (soll wohl heißen "Aushilfsmittel") ist, dem direkte Vereinbarungen zwischen den beteiligten Vertretern bei weitem vorzuziehen seien. Zwar sagt v. Berlepsch, daß durch die Schaffung eines Reichseinigungsamtes die privaten Schlichtungseinrich­ tungen nicht beschränkt werden sollen, tatsächlich wird es aber natürlich der Fall sein, denn wenn das Reichseinigungsamt so stark das öffentliche Interesse in den Arbeitskämpfen vertreten soll, dann muß es in allen größeren Kämpfen eingreifen, mögen private Einigungseinrichtungen bestehen oder nicht; v. Ber­ lepsch gibt dies selbst zu, wenn er schreibt, das Einigungsamt solle nur solange nicht eingreifen, als nicht erwiesen ist, daß die privaten Einrichtungen nicht imstande sind, die Differenzen zu beseitigen, bezw. ihnen vorzubeugen oder daß die Tätigkeit der Gewerbegerichte versagt. Das wird zweifellos zu einer Beschränkung dieser freiwilligen Einrichtungen führen, auch nach der Richtung, daß künftighin der Anreiz zur Schaffung freiwilliger Schlich­ tungseinrichtungen geringer wird. Waldeck-Rousseau9 geht, wie das "Berliner Tageblatt" mitteilt, sogar soweit, zu sagen, daß jede Intervention eine Vernei­ nung des Streikprinzips ist. "Wie soll man sich eine Interventiondenken, ohne vorauszusetzen, daß sie gewisse Streiks gutheißen und andere verwerfen muß? Und wo bleibt dann das Recht auf Streik?" Man wird zugeben müssen, daß, wer sich auf den Boden des Streikprinzips stellt - und das tun gerade unsere modernen Sozialreformer, konsequenterweise die staatliche Intervention schon aus Grundsatz ablehnen muß. Fast möchte man aus der Überstürzung, mit der sich die Vorschläge für den sozialen Frieden häufen, den Schluß ziehen, daß die Einbringer der Vor­ schläge doch nicht so sehr von der Friedenswirkung der bisherigen privaten Einrichtungen, wie sie namentlich auf den Tarifverträgen beruhen, überzeugt sind, und daß die Menge der zu schaffenden Einigungsmöglichkeitenüber die Mängel jedes einzelnen hinweghelfen soll, man schafft nicht multum, sondern multa: Arbeitskammern zur Sicherung des industriellen Friedens, Eini-

9 Pierre Waldeck-Rousseau (1846-1904), 1899-1902französischer Ministerpräsident. Seine Äuße­ rung fiel in der öffentlichen Diskussion über das von dem Handelsminister seines Kabinetts, Millerand, 1900vorgeschlagene Schiedsverfahren. 1911 Mai 15 203 gungsämter bei den Gewerbegerichten, deren Zuständigkeit über den örtli­ chen Bezirk hinaus v. Berlepsch ausdrücklich bejaht und nun noch das Reichs­ einigungsamt in Konkurrenz mit diesen Einrichtungen, ganz abgesehen von all den kleinen gesetzlichen und außergesetzlichen Mitteln, mit denen man sonst die widerstrebenden Teile zwangsweiseversöhnen will. Auch die Fälle im Baugewerbe und im Bergbau, die v. Berlepsch als Stütze für seine Forderung anzieht, wirken kaum überzeugend. Im Bergbau hat die Regierung 1905 eingegriffen, auch ohne daß ein Reichseinigungsamt bestand, und zwarzu Gunsten der Arbeiter durch die Berggesetznovelle10, und im Bau­ gewerbe zeigt gerade die von Herrn v. Berlepsch so anerkannte Vermittlungs­ aktion im Jahr 1908, daß diese doch den Kampf nicht beendet, sondern nur hinausgeschoben hat, und daß einem frühzeitigeren Eingriffe der Regierung 1910 wohl günstigstenfalls derselbe "Erfolg" beschiedengewesen wäre. Genau so war es in Schweden 1908 der Fall, als sich die Regierung in den drohenden Streit einmischte: die Führer der Arbeitgeber und der Arbeiterhaben mir mit gleicher Bestimmtheit erklärt,daß jene Vermittelung den Konfliktnur vertagt hätte, der gerade deshalb im Jahre darauf mit doppelter Heftigkeit ausbrach, und ich habe Grund anzunehmen, daß auch die schwedische Regierung das Fehlerhafte ihres damaligen Eingreifens erkannt hat. Man löst nicht die Span­ nung, indem man das Ventil schließt. Überdies zeigt gerade das schwedische Beispiel, daß ein solches Eingreifen vielfach nicht geeignet ist, die Autorität und das Ansehen der Regierung besonders zu erhöhen, diese wird vielmehr recht oft Gefahr laufen,wenigstens den einen Teil in dauernde Opposition zu drängen, wenn sie sich nicht, was erfahrungsgemäß das Wahrscheinlichere ist, beide Teile entfremdet. Da bei dem vorliegenden Vorschlage vor allem an große Kämpfe, an denen weite Kreise beteiligt sind, gedacht ist, wird man er­ messen können, was dies, namentlich unter den jetzigen politischen Verhält­ nissen, wo der Gegensätze wahrlich genug sind, und die Regierung sich sicher nicht über zu große Anhängerschaftbeklagen kann, bedeutet. Noch soll nach dem Vorschlage v. Berlepsch' der Schiedsspruch nicht erzwingbar sein, "wenigstens zur Zeitnicht", es scheint ihm jedoch "nicht aus­ geschlossen, daß die öffentliche Meinung den Zwangs-Schiedsspruch fordern wird". Dabei übt schon jetzt, wie v. Berlepsch selbst zugibt, die öffentliche Meinung einen starken moralischen Zwang aus und diejenige Partei, die den Schiedsspruch des Reichseinigungsamtes, der nach Berlepsch veröffentlicht werden soll, ablehnen würde, würde sich wohl schon jetzt öffentlicherÄchtung lO Vom 16. Jan. - 9. Febr. 1905streikten die Bergarbeiter des Ruhrreviers. Auf dem Höhepunkt der Bewegung waren von etwa 250.000Bergleuten 195.000im Ausstand. Am 1. Februar 1905kündigte der Staatssekretärdes Reichsamtsdes Innernund preußische Staats­ minister ohne Portefeuille Graf Posadowsky im Reichstag eine Novelle zum preußischen Berg­ gesetz zur Behebung berechtigterBeschwerden der Berarbeiteran. DieseAnkündigung wurde mit der Novelle zum Berggesetz vom 14. Juli 1905 in die Tat umgesetzt. Vgl. den Band 1 der IV. Abtlg.: Das Jahr 1905. 204 Nr.54 aussetzen. Daß ein solches Zwangseinigungsamt mit dem von v. Berlepsch verlangten Verhandlungszwang, dessen technische Durchführbarkeit überdies jedem Praktiker ein Rätsel sein muß, dem sozialen Frieden und der Versöhnung der streitenden Parteien dienen würde, das wird wohl im Ernst nicht angenommen werden können. Es geht doch wirklich nicht mehr an, diejenigen, die nach gewissenhafter Prüfung erklären, weitere wirtschaftliche Konzessionen nicht machen zu können, einfach, wie es Prof. Francke in der genannten "Sozialen Praxis" vorschlägt, "als Unversöhnliche dem Urteil der Öffentlichkeitpreiszugeben". v. Berlepsch sucht die Notwendigkeit des öffentlichen Eingriffs vor allem auch damit zu begründen, daß die Allgemeinheit an einer Beilegung der Arbeitskämpfe stark interessiert sei. Demgegenüber möchte ich es doch auch einmal aussprechen, daß die Allgemeinheit vielfach ein recht erhebliches Interesse daran haben muß, daß Arbeitskämpfe nicht auf mehr oder weniger gewaltsame Weise niedergedrückt, sondern daß sie ausgefochten werden, damit die zu erstrebende Einigung auch wirklich der Ausdruck wirtschaftlicher Gerechtigkeit ist. Es braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden, daß Ver­ mittelungen und Einigungen sich wohl ausnahmslos auf der berühmten "mittleren Linie" bewegen, daß also praktisch bei allen solchen Schiedssprü­ chen immer etwas für die Arbeiterseite herausspringt, Angriffskämpfe der Arbeitgeber mit der Forderung positiver Verschlechterung der Arbeitsver­ hältnisse sind bei uns ausgeschlossen. Das Hinaufschrauben der Arbeitslöhne ist aber nun keineswegs andauernd ein praktischer Erfolg für die Betroffenen und ein Segen für die Allgemeinheit, es kommt leicht die Grenze, wo der unbeteiligte Konsument die fortgesetzte Lohnsteigerung der Lohn­ arbeiterschaft durch die erfahrungsgemäß damit Schritt haltende Preissteige­ rung der Lebensbedürfnisse recht empfindlich merkt. Daß auch hier die Bäume nicht in den Himmel wachsen, daran hat also die Allgemeinheit ein recht erhebliches Interesse. Es lag nahe, zur Begründung eines neuen staatlichen Eingriffsauch auf aus­ ländische Einrichtungen und Gesetze einzugehen. v. Berlepsch führt hierzu die Gesetzgebungen in Neuseeland, Nordamerika, Frankreich und England an und bemerkt, aus dieser Zusammenstellung ergebe sich, daß in den Ländern mit entwickelter Großindustrie "überall" das Bedürfnis zu solchen gesetzgebe­ rischen Maßnahmen hervorgetreten sei. Es ist immer eine heikle Sache, aus­ ländische Verhältnisse ohne weiteres auch für inländische maßgebend sein zu lassen, man übersieht dabei so leicht, ganz ohne Absicht, das Differentiellein den verschiedenen Verhältnissen. Die Verhältnisse in Neuseeland sind so exzeptionell,namentlich weil es sich dort um ein Neuland handelt, überdies so kleine, daß sie für uns völlig außer Betracht zu bleiben haben, ganz abgesehen davon, daß die Urteile über die Wirkung dieser sozialpolitischen Gesetzge- 1911 Mai 27 205

bung doch recht verschieden sind. Frankreich und Nordamerika dürfte auch Herr v. Berlepsch wohl nur der Vollständigkeit halber mit aufgetiihlt haben. Bleibt England. Und in der Tat wird recht viel Propaganda mit dem dortigen gesetzlichen Einigungswesen gemacht. Man benutzt die Reporte der engli­ schen Regierung, um die Erfolge dieser staatlichen Vermittlungen zu bewei­ sen. Daß die englische Regierung ihre Tätigkeit nach dieser Richtung mög­ lichst erfolgreich darzustellen sucht, ist erklärlich, eine Statistik über 67 ver­ mittelte Fälle i. J. 1910 (die Rekordziffer seit 1896) ist aber nicht gerade besonders überwältigend, und gerade bei den größten und einschneidendsten Bewegungen des vergangenen Jahres, im Kampf der Bergarbeiter in Südwales und bei den Werftenim Norden, hat auch das gesetzlicheEinigungsamt nichts genützt. Ich komme zu dem Schlusse, daß weder das Bedürfnis noch die Nützlichkeit eines Reichseinigungsamtes nachgewiesen ist.

Nr.55

1911 Mai 27

Rundschreiben der Firma Robert Bosch an die Abteilungsvorstände1. Ausfertigung

[Verfügungallgemeiner Werksferien]

Betrifft: Urlaub. Es ist beabsichtigt, im Laufe des Monats August die Büros und die Fabrik 8 Tage zu schließen, der genaue Zeitpunkt kann voraussichtlich Ende nächsten Monats angegeben werden. (Für die Erledigung dringender Angelegenheiten während dieser Zeit wird ein Notdienst eingerichtet werden, das Personal hierzu ist bereits bestimmt und die Urlaubsfragedesselben auch geregelt.) Der Urlaub derjenigen Beamten, für die bereits eine Woche vorgesehen war, fälltnun natürlich mit dem allgemeinen 8tägigen Schluß zusammen. Diejenigen Beamten, die zwei Wochen Urlaub erhalten, wollen die zweite Woche möglichst anschließend an den erwähntenSchluß nehmen, d. h. entwe­ der eine Woche vor oder eine Woche nach demselben. In besonderen Fällen kann die zweite Woche des Urlaubs auch vor dem Monat August, unabhängig von dem Schluß, genommen werden. Nach dem Monat August soll jedoch das

1 Bosch-Archiv,A III b 1. Gezeichnet Robert Bosch (1861-1942). Vgl. Nr. 377 u. Nr. 851. 206 Nr. 56

Personal wieder vollzählig sein. Anbei eine Liste der Beamten der 2ten Kate­ gorie. Sofern der eine oder andere davon seinen Urlaub getrennt, d. h. eine Woche während desallgemeinen Schlusses und eine Woche einige Zeitvorher nehmen will, so ist in der beigefügten Liste ein entsprechender Eintrag zu ma­ chen. Weiter ist zu berücksichtigen, daß in der Woche vom 26. Juni bis 1. Juli der Inventur-Aufnahme wegen, kein Urlaub bewilligt werden darf. Beifolgende Liste ist bis nächsten Dienstag ausgefüllt an die Personal­ Abteilung zurückzugeben.

Nr.56

1911 Mai 27

Buchbinder-ZeitungNr. 22 Die Gesetzgebung gegen Konsumgenossenschaften

[Ablehnung der Konsumvereins-Umsatzsteuer als eines ungerechten Aus­ nahmegesetzes J

Jede selbständige Regung der unbemittelten Volksschichten ruft das Mißfallenund die Unterdrückungssucht der herrschenden Klasse wach. Selbst wenn dieser Drang nach Selbständigkeit sich streng in gesetzlichen Formen äußert, ist er nicht sicher vor der Bevormundungs- und Knechtungswut der Besitzenden. Das müssen die das Koalitionsrecht im Arbeiterinteresse benut­ zenden Gewerkschaftler täglich spüren. Derselbe Vorgang ist bei den Bestre­ bungen der Arbeiter wahrzunehmen, die sich auf die geistige und körperliche Bildung ihrer Klassengenossen erstrecken. Und ganz besonders beobachten wir es in der Stellung, welche die den Besitzenden dienende Gesetzgebung zu den Konsumgenossenschaften einnimmt, die sich zur Aufgabe gewählt haben, dem Arbeiter alles, was er zu des Leibes Nahrung und Notdurft gebraucht, in guter Beschaffenheitzu möglichst niedrigem Preise zu vermitteln. Die Gesetzgebung, die Schlag um Schlag dem Proletariat seine unentbehr­ lichsten Bedarfsartikel durch empörende ungerechte indirekte Steuern ver­ teuert, hätte alle Ursache, schon um des bloßen Staatsinteresses willen jeden Versuch der Arbeiter, ihre Lebenshaltung zu heben bezw. vor einer Ver­ schlechterung zu bewahren, freudig zu begrüßen. Je höher die Konsumkraft der Massen, je gesunder, widerstandsfähiger das gesamte Staatswesen! Statt 1911 Mai 27

dessen trachtet man danach, den von der Hand in den Mund lebenden Schaf­ fern aller Werte esunmöglich zu machen, durch vernünftigeRegulierung ihres Warenbezuges einen Teil der unerträglichen Lasten, die ihnen eine grausame, aller Billigkeit hohnsprechende Steuergesetzgebung aufpackt,herunterzuwirt­ schaften! In einer großen Zahl Bundesstaaten - allen voran natürlich Sachsen - hat man die Konsumvereine bereits unter ein steuerliches Ausnahmegesetz gestellt 1. In Preußen, wo man größere Vereine teilweise durch die Warenhaus­ steuer schröpft, - der skandalöseste Fall ist der Langenbielauer, wo arme, nie aus dem Hunger herauskommende Weber ihre Einkaufsersparnisse den Geschäftsleuten opfern müssen! - ist man drauf und dran, nach dem Wunsche des konservativen Innungskrauters Hammer2 eine Umsati.steuer zu schaffen, in Lippe-Detmold brütet die Gesetzgebung schon seit Monaten über einem Steuerstrafgesetz für die Konsumvereine und der Bürgerschaft der angeblich freien Hansestadt Hamburg ist ein Entwurf vorgelegt, der eine ungeheuerliche Umsati.steuer für die Konsumvereine fordert. Wo es den Staaten an Geld gebricht, da denken sie immer zunächst an die breite, geduldige Masse. Die mag stärker bluten! Mit Vorliebe wendet man jetzt gegen die Konsumvereine die Umsati.steuer an. Man zieht sonst nur Einkommen zur Steuer heran, von der richtigen Erwägung ausgehend, daß, wer Steuern zahlen soll, zunächst auch etwas ver­ dient haben muß. Denn woher sonst nehmen und nicht stehlen? Beiden Kon­ sumvereinen wirftman diese Logikkurzerhand über Bord, dekretiert: Ihr habt soviel Umsatz, ergo nehmen wir an, daß Ihr soviel Einkommen habt und dafür zahlt Ihr so und so viel Steuer! Diese rein schablonenmäßige Berechnung führt zu den unglaublichsten Konsequenzen. Jedes Kind weiß, daß der Geschäftsgewinnsich durchaus nicht nach dem Umsatz richtet. Eine mechanische Besteuerung des Umsatzes spricht aller kaufmännischen Erfahrung,Hohn, weil sie von der unglaublichen Voraussetzung ausgeht, daß Gewinnschwankungen ausgeschlossen seien, daß stets ein ganz bestimmter Überschuß das Ergebnis des Geschäftes sei. Sie läßt es schließlich zu, daß Betriebe, die mit Verlust gearbeitet haben, Steuernzah­ len und gesetzlich vorgeschriebene Fonds angreifen müssen, um Einkommen zu versteuern,die nur in der Phantasie der Gesetzgeber bestehen! Jede Umsati.steuer muß die Folge haben, daß die Konsumvereine ihre Rückvergütung, also den Vorteil, den die Arbeiter durch den gemeinschaft­ lichen Einkauf erzielen, vermindern müssen. Die Steuer trifft also am härte­ sten die Vorstände großer Familien, die am schwersten um eine bescheidene

1 Vgl. etwa Dr. Th. Cassau: "Zur Besteuerung der Konsumvereine", in : Soziale Praxis und Archiv fürVolkswohlfahn, Nr. 31 vom 4. Mai 1911. 2 Friedrich Hammer, deutsch-konservativer Reichstagsabgeordneter. 208 Nr.S6

Existenz zu ringen haben. Sie vor allem sind genötigt, fast ihren ganzen Arbeitsverdienst fürdas zu desLeibes Nahrung und Notdurftam dringendsten Notwendige auszugeben. Sie haben daher den größten Jahresumsatz und eine entsprechend hohe Rückvergütung. Während kinderlose Eheleute vielleicht für 500 Mark Waren kaufen und damit bei 5 Proz. Rückvergütung eine Ersparnis von 25 Mk. erzielen, ver­ braucht die große Familie für 1000 Mk. Waren und erwartet 50 Mk. Ersparnis. Nach dem Vorschlage, der der Hamburger Bürgerschaft beispielsweise vor­ liegt, würden davonden kinderlosenEheleuten 3, 75 Mark, der großen Familie dagegen 7,50 Mk. Umsatzsteuerabgewgen! Ja, Leute, die wegen der Geringfügigkeit ihres Einkommens überhaupt nicht zur Einkommensteuer herangewgen werden, wie arme Witwen, die mit ihrer Hände Arbeit ein Häuflein unmündiger Kinderernähren, Alters-, Invali­ den- und Unfallrentner und ähnliche bedauernswerte Mitmenschen, werden als Konsumvereinsmitglieder durch diese Konfiszierung eines Teiles ihrer Einkaufersparnisin der härtestenWeise besteuert! Dieser Einkaufsvorteil, der dem genossenschaftlich organisierten Arbeiter in Form von Rabatt und Rückvergütung zufließt, ist nichts anderes, als der Vorteil des Bar- und Großeinkaufs, den sich der reiche Mann dank seiner Kapitalkraft ohne weiteres zu sichern vermag, während er dem Armen stets verloren gehen muß. Der genossenschaftliche Warenbezug ist fürletzteren die einzige Möglichkeit, sich das zu schaffen, was seinem wohlhabenden Mit­ menschen mühelos zuströmt! Und dafür, daß er als verständiger, sorgender Familienvater sich diese Möglichkeit zunutze macht, straft man ihn durch harte unbillige Ausnahmesteuern,während man den Reichen völlig ungescho­ ren läßt. Die Konsumvereinsumsatzsteuerist eine indirekte Steuer und trifft, wie alle indirekten Steuern, gerade die wirtschaftlich schlechtest gestellten Arbeiter am empfindlichsten, sie erhöht damit das himmelschreiende Unrecht, das seit langen Jahren die Reichsgesetzgebung rücksichtslose am deutschen Proleta­ riat verübt! Was in den einzelnen Staaten, die wir genannt, beschlossen werden wird, steht dahin. Wir fordern jedenfalls zunächst unsere Kollegen auf, sich aus­ nahmslos an der Protestbewegung, die gegen diese neuen Attentate auf den Geldbeutel und den Magen der Arbeiter beginnen wird, intensiv zu beteiligen und den Gesetzgebernzu zeigen, welches bittere Unrecht und welches Verbre­ chen an der Volksgesundheitzu begehen sie im Begriffstehen. Vor allem aber erwarten wir, daß unsere Kollegen die wirksamste Waffege­ gen solches Treiben reaktionärer Elemente nicht unbenutzt lassen werden. Und das ist: Handeln im Sinne des Kölner Gewerkschaftskongresses3 und des

3 Der 4. Gewerkschaftskongreß fandvom 22.-27. Mai 190S in Köln statt. 1911 Mai 209

Internationalen Kongresses von Kopenhagen4! Mitglied und treuer Kämpfer in der konsumgenossenschaftlichen Organisation werden! Wenn das von allen gewerkschaftlich organisierten Arbeitern unverzüglich und gewissenhaft durchgeführt wird, dann prallen auch die steuerlichen Ausnahmegesetze un­ wirksam am Proletariat ab und werden eine Quelle neuen Fortschritts, neuer Erfolge!

Nr.57

1911 Mai

Rundschreiben der Gesellschaft des Gesamtverbandes Deutscher Metallindu­ strieller zur Entschädigung bei Arbeitseinstellungen an die Mitglieder des GesamtverbandesDeutscher Metallindustrieller1 Gedruckte Ausfertigung

[Beiträge und Leistungender Gesellschaft]

Die von Jahr zu Jahr anwachsende Mitgliederzahl der Gewerkschaften, die zunehmende Unzufriedenheit der Arbeiter, welche durch gewissenlose Agita­ toren aufgewiegelt werden, und die sich stetig mehrenden frivolen Streiks machen es den Arbeitgebern zur Pflicht, rechtzeitig für geeignete und ausrei­ chende Maßnahmen zum Schutze ihrer gefährdeten Interessen zu sorgen. Die Zugehörigkeit zu einem Arbeitgeberverband und der den Betrieben zuteil werdende Schutz durch Nichteinstellung ihrer streikenden und ausgesperrten Arbeiter.während der Dauer der Arbeiterbewegung genügt, wie die Erfahrung gelehrt hat, allein nicht mehr, um die Arbeitgeberinteressenin hinreichendem Maße zu wahren. Es muß vielmehr zu der Sperre der streikenden Arbeiter er­ gänzend noch die finanzielle Unterstützung der bestreikten Firmen durch die Allgemeinheit hinzutreten, wie sie von unserer Gesellschaftgewährt wird. Wir gestatten uns, Ihnen in der Anlage die neueste (9.) Auflageunserer Sat­ zung zu überreichen und Sie zum Beitritt aufzufordern.

4 In Kopenhagen tagte vom 28. August bis 3. September 1910 der 8. Internationale Sozialisten­ kongreß. 1 Wemerv. Siemens-Institut, 2236 M 61/L938, 1911-1914. Gezeichnet vom Vorsitzenden der Gesellschaft des Gesamt-Verbandes Deutscher Metallindu­ strieller zur Entschädigung bei Arbeitseinstellungen, C. Laval und dem Geschäftsführer Dr. Boelcke. 210 Nr.57

Unsere Gesellschaft, welche von Mitgliedern des Gesamtverbandes Deut­ sche Metallindustrieller gegründet ist, und welche im 7. Geschäftsjahr steht, ist gegenwärtig so organisiert, daß sie allen an sie herantretenden Anforderungen genügt. Sie gewährt ihren Mitgliedernin Streikfälleneine ausreichende Unter­ stützung, die im allgemeinen 25 % des durchschnittlichen Tagesverdienstes des gesamten Personals pro ausgefallenen Arbeitstag und streikenden oder ausgesperrten Arbeiter (Manntag) beträgt. Firmen mit 1 bis 250 Arbeitern erhalten eine höhere Entschädigung. Es beträgt der Entschädigungssatz bei Firmen mit 1 bis 10 Arbeitern 50 % des durchschnittlichen Tagesverdienstes, also das Doppelte der Entschädigung, welche Firmen mit 251 und mehr Arbei­ ternerhalten können. Bei einer Zunahme der Arbeiterzahl um je 10 ermäßigt sich die Entschädigung in 25 Abstufungen um je 1 %, bis sie bei Firmen mit 251 Arbeiternden Normalsatz erreicht. (Zu vergl.§ 17 der Satzung.) Ferner muß hervorgehoben werden, daß unsere Gesellschaft durch die in diesem Jahre erfolgte Gründung eines Vorschußfonds in der Lage ist, Firmen, die durch einen Streik oder durch die Beteiligung an einer Aussperrung vor­ übergehend in eine finanziell schwierige Lage geraten sind, auf Befürwortung des Bezirksverbandes einen sofort auszahlbaren Vorschuß auf die später nach Schluß desGeschäftsjahres zu erwartende Entschädigung zu gewähren. Diesen Leistungen der Gesellschaft stehen folgende finanzielle Verpflich­ tungen der Mitglieder gegenüber. Esist zu zahlen: a) einmalig 1. ein Eintrittsgeld in Höhe von M 0,25 pro 1000,- M der jeweilig im Vor­ jahre an die Arbeiter, jugendlichen und weiblichen Arbeitskräfte und an die Betriebsbeamten mit einem Einkommen bis zu M 3000,- einschließlich tatsächlich gezahltenLohnsumme; 2. ein Beitrag zum Vorschußfonds in Höhe von M 1,- pro 1000,- M dersel­ ben Jahreslohnsumme; b) dauernd ein Jahresbetrag von M 3,- pro 1000,- M der erwähnten Jahreseinkommen. Firmen, welche erst in der 2. Hälfte des Jahres Mitglied der Gesellschaft werden, sind nur zur Zahlungdes halben Jahresbeitrags verpflichtet. Nachzahlungensind ausgeschlossen. Die den einzelnen Firmen durch die Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft entstehenden Lasten müssen als gering bezeichnet werden gegenüber den Opfern, welche sich die Arbeiter im Interesse der finanziellen Stärkung ihrer Organisation auferlegen. 1911 Mai 211

Es betrugen im Jahre 1909bei den

a) Sozialdemokratischen Gewerkschaften mit 1 832 667Mitgliedern die Gesamteinnahmen M 50 529 114,­ die Gesamtausgaben M 46264 031,­ das Vermögen M 43 480932,-

b) Christlichen Gewerkschaften mit 270 751 Mitgliedern die Gesamteinnahmen M 4612 920,­ die Gesamtausgaben M 3 843 504,­ das Vermögen M 5 365 338,-

c) Deutschen Gewerkvereinen (Hirsch-Duncker) mit 108 028 Mitgliedern die Gesamteinnahmen M 2806220,­ die Gesamtausgaben M 2594 202,­ das Vermögen M 4 372 495,-

Auf den Deutschen Metallarbeiter-Verband den hauptsächlichsten Gegner der Metallindustrie, entfallen von diesen gewaltigen Summen (für Haupt- und Lokalkassenzusammen) allein an Einnahmen M 15 296352,36 an Ausgaben M 14 466802,57 Sein Gesamtvermögen belief sich auf M 6 248 251,29

Diese Ziffern werden sich in Zukunft noch vergrößern, da die Absicht be­ steht, den Mitgliederbeitrag von M 0,60 auf mindestens M 0,70 pro Woche zu erhöhen. Ferner ist zu beachten, daß die Mitgliederz.ahl, welche am Ende des Jahres 1909 noch 365 270 betrug, am Schlusse des ersten Quartals 1911 bereits auf 481 680angewachsen ist. Diesen Zifferngegenüber ist die Mitgliederz.ahlund die Finanzkraft unserer Gesellschaft als sehr gering zu bezeichnen. Es muß deshalb von jedem Me­ tallindustriellen als Pflicht angesehen werden, sich umgehend unserer Gesell­ schaft anzuschließen. Unsere Gesellschaft umfaßte am Ende des Jahres 1910 insgesamt 693 Fir­ men mit ca. 160000 Arbeitern, welche sich auf insgesamt 27 Bezirksverbände des Gesamtverbandes Deutscher Metallindustrieller verteilen. Von diesenha­ ben 13 Verbände, nämlich: 212 Nr. 57

1. Verband der Metallindustriellen des Herrogtums Anhalt, 2. Arbeitgeberverband der Metallindustriellen in Bielefeld, 3. ArbeitgeberverbandUnterweser-Bremen, 4. Verband Schlesischer Metallindustrieller, Breslau, 5. Verband BreslauerSchlossereien und verwandter Gewerbe, 6. Verband der Metallindustriellen in der KreishauptmannschaftDr esden, 7. Verein der Metallindustriellen von Oldenburg und Ostfriesland, 8. Verein der Metallindustriellen von Halle (Saale) und Umgegend, 9. Verband der Eisenindustrie Hamburgs, Hamburg, 10. Verein der Metallindustriellen der Provinz Hannover und angrenzenden Gebiete, 11. Arbeitgeberverbandder Eisen- und Metallindustrie Kiels, 12. Verein Lübecker Metallindustrieller, 13 . Verband der Metallindustriellen Magdeburgs und Umgegend, ihren Mitgliedern die Zugehörigkeit zur Entschädigungsgesellschaft obliga­ torisch gemacht. Zu diesen Verbänden ist neuerdings noch der Verein Braun­ schweiger Metallindustrieller getreten. An Entschädigungen hat die Gesellschaft seit ihrem Bestehen insgesamt M 2 844 390,55gezahlt. Hiervon entfallen allein auf das Jahr 1910 M 131 7 785,78, welche an 93 Firmen zur Auszahlunggelangten. Diese Summe verteilt sich auf die einzelnen Firmen wie folgt: 39 Firmen erhielten pro Antrag eine Entschädigung bis 1000M 25" " " " " von 1 000 - 5 000 M 8" • ff ff von 5 000 -10000 " 6" • ff ff ff von 10 000 - 25 000ff 7ff • ff von 25000 - 50 000ff

4ff ff n ff ff von 50 000 - 75 000ff 1 Firma erhielt • ff • von mehr als 90 000 " 1 n ff ff n von " 100000" 2 Firmen erhielten ff ff n von " " 175000"

Nach der Abrechnung pro 1910 schließt der Entschädigungsfonds der Gesellschaft mit einem Bestand von M 1467 267,9 6. Nach Abzug der für das Vorjahr bewilligten Entschädigungen von M 1317 785,78 bleibt noch ein ver­ fügbarer Rest von M 149 482, 18, welcher auf neue Rechnung vorgetragen wurde. Hierzu kommen die auf M 620 000,- zu veranschlagenden Jahresbei­ träge pro 19 10, der von dem Entschädigungsfonds getrennt verwaltete Liqui­ dationsfonds, in welchen die Eintrittsgelder fließen, mit M 55 000,- und der sich auf etwa M 200000,- belaufende Vorschußfonds. Es verfügt somit unsere 1911 Juni 3 213

Gesellschaftfür das laufende Geschäftsjahr 1911 über ein Vermögen von über 1 Million Mark. Wir sind zu weiteren Auskünften über unsere Gesellschaft jederzeit gern bereit und geben uns der Hoffnung hin, daß Sie sich unserer Gesellschaft als Mitglied anschließen werden. Für den Fall Ihres Beitritts bitten wir Sie erge­ benst, sich desbeifolgenden Formulars zu bedienen.

Nr.58

1911 Juni 3

Der GewerkvereinNr. 11 Der Kampfum die Reichsversicherungsordnung

[Forderung nach gründlicher Revisionder Reichsversicherungsordnung]

Der Kampf um die Reichsversicherungsordnung ist nach mehrjähriger Dauer beendigt. Am 30. Mai ist das Gesetz in dritter Lesung mit unerwartet großer Majorität, nämlich mit 232 gegen 58 Stimmen bei 15 Stimmenthaltun­ gen angenommen worden. Daß auch der Bundesrat seine Zustimmung gibt, steht außer Frage. Am 1. Januar 1912 wird das Gesetz in Kraft treten. Bot schon der Regierungsentwurf außerordentlich viel Anlaß zur Kritik, so haben die Beratungen in der Kommission die Mängel des Gesetzesnoch vermehrt. In ihrer heutigen Form ist die Reichsversicherungsordnung zweifellos schlechter als sie von der Regierung geplant war. Jedes neue Stadium der Beratungen brachte neue Verschlechterungen. Selbst zwischen der zweiten und dritten Le­ sung im Plenum des Reichstages wurdenoch die unerhörte Verschlechterung eingeführt, daß in den Landkrankenkassen das Wochengeld von 8 auf 4 Wo­ chen herabgesetzt werden kann. Auch sonst sind in dem Gesetz so viel bescheidene Wünsche der Arbeiter unberücksichtigt geblieben und anderer­ seits so viele Verschlechterungen gegenüber dem bestehenden Zustande ein­ geführt worden, daß die Fortschritte dadurch vollständig verdunkelt werden. "Es ist nichts weiter als ein Meisterstück bureaukratischer Gesetzesmacherei, ein aus Kompromissen zusammengeschweißtes Paragraphengefüge, dessen einzelne Bestimmungen in der Form, in der sie endlich angenommen worden sind, überwiegendnicht sachlichen Erörterungen, guten Gründen, sozialpoliti­ scher Einsicht ihre Entstehung verdanken, sondern die vornehmlich aus "taktischen Erwägungen" heraus geboren sind." So beurteilt mit Recht die 214 Nr.58

"Soz. Prax." das Werk.1 Die deutsche Arbeiterschaft aber, die auf die Reform der Arbeiterversicherung große Hoffnungen gesetzt hatte, ist um eine Enttäu­ schung reicher. Mit unermüdlicher Zähigkeit wird sie daran arbeiten müssen, daß so schnell wie möglich an dem Gesetz einschneidende Reformen vorge­ nommen werden. Der Zentralrat der Deutschen Gewerkvereine hat in seiner gestrigen Sit­ zung zu der Reichsversicherungsordnung Stellung genommen und seine An­ sicht über das Werk in folgender, einstimmig angenommenen Resolution zu erkennen gegeben: "Der Zentralrat der Deutschen Gewerkvereine (H.-D.) bedauert lebhaft, daß in der nunmehr auch in dritter Lesung vom Reichstage beschlossenen Reichsversicherungsordnung wesentliche Wünsche der Gewerkvereine unbe­ rücksichtigt geblieben sind, so daß dieses große gesetzgeberische Werk die Arbeiterschaft nicht zu befriedigen vermag, zumal an den bisherigen Ver­ sicherungsgesetzen direkte Verschlechterungen vorgenommen wurden. Das Gesetz bringt die erwartete Einheitlichkeit der sozialen Versicherung nicht. Die Selbstverwaltung in den Ortskrankenkassen hat eine erhebliche Ein­ schränkung erfahren, die auch von den nicht sozialdemokratischen Arbeitern mißbilligt wird.So sehr wir auch die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf weitere 6-7 Millionen Arbeiter begrüßen, können wir uns doch nicht einver­ standen erklären mit der Art, wie die Verwaltung der Landkrankenkassen geregelt worden ist. Der große Segen, der aus der Beteiligung der Arbeiter an der Selbstverwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten entspringt, ist hier ganz außer Wirkung gesetzt worden. Lebhaft bedauert wird, daß die Wöchnerin­ nenfürsorge in den Landkrankenkassen noch in dritter Lesung eine weitere Verschlechterung erfahren hat. Die von der gesamten Arbeiterschaft gefor­ derte Herabsetzung der Altersgrenze von 70 auf 65 Jahre in der Invalidenversi­ cherung ist leider ebenfalls abgelehnt worden. Die angenommene Resolution, daß im Jahre 1915 eventl. die Altersgrenze herabgesetzt werden soll, ist nur ein schwacher Trost, weil die Gefahr besteht, daß es hierbei ähnlich so geht, wie mit dem Beschluß des Reichstages, eine Hinterbliebenenfürsorge einzu­ führen. Der Zentralrat sieht in der nunmehr mitbeschlossenen Hinterbliebe­ nenversicherung eine durchaus unzureichende Erfüllung des Reichstags­ beschlusses vom Jahre 1902. Die Verbesserungen, die wir in der Einführung der Kinderzusatzrente, ferner in der Erhöhung des voll anrechnungsfähigen Arbeitsverdienstes in der Unfallversicherung auf 1800 Mark und in der Ausdehnung der Krankenversicherungspflicht für Einkommen bis zu 2500 Mark erblicken, entsprechen ebenfalls nicht den von den Deutschen Gewerkvereinen ausgesprochenen Wünschen. Der Zentralrat erhofft vom nächsten Reichstage eine Revision der Reichsversicherungsordnung wenig­ stens in den wichtigen Punkten, damit die soziale Versicherungsgesetzgebung

1 Vgl. Dr. Felix Clauß, Die Reichsversicherungsordnung - angenommen, in: Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt, Nr. 35 vom 1.6.1911. 1911 Juni 11 215 die von ihr übernommenen Verpflichtungen auch im vollen Maße zur Durchführungbringen kann.

Nr.59

1911 Juni 11 (vor)

Drucksachen desZweiten Deutschen Wohnungskongresses1 Der Zweite Deutsche Wohnungskongreß Privatdruck

[Vorankündigung und Themen des Zweiten Deutschen Wohnungskongresses]

Zweiter Deutscher Wohnungskongreß?2 Ein neuer Kongreß? Wozu haben wir den nötig? So wird mancher fragen, und deshalbbedarf das Unternehmen der Deutschen Wohnungskongresseeiner gewissenRechtfertigung. Seit ungefähr 60 Jahren macht unsere Nation durch den immer stärkeren Übergang vom Agrar- zum Handels- und Industrievolk eine Umwandlung ihrer ganzen Daseinsgrundlage durch, wie sie so tiefgreifend und umfassend wohl noch keine Periode unserer langen Geschichte gesehenhat. Durch diese Umwandlung ist die Wohnungs- und Ansiedlungsfrage zu einer ungeahnten, grundlegenden Bedeutung in unserem Volksleben emporgewachsen. Zu den alten Aufgaben der Wohnungsverbesserung fürdie ländliche Bevölkerung hat sich die neue gewaltige und verwickelte Aufgabe gesellt, den immer stärker anschwellenden städtischen und industriellen Bevölkerungsmassen eine räumliche Grundlage ihres Daseins zu schaffen, welche sie vor Degeneration behütet und ihnen auf Jahrhunderte hinaus dauernde Leistungsfähigkeitund Gesundheit verbürgt. Jedermann weiß aber, wie außerordentlich große Miß­ stände auf diesem Gebiete noch vorhanden sind, Mißstände, die in ihren Fol­ geerscheinungen wie z.B. dem Zusammenhang mit der Tuberkulose, der Säuglingssterblichkeit, dem Sinken der Wehrflihigkeit der städtischen Bevöl­ kerung u. dgl. m. geradezu an das Mark unseres Volkes gehen. Zwar wird zur Bekämpfung der Übelstände in unserem Wohnungs- und An­ siedlungswesen schon seit Jahrzehnten und in immer steigendem Maße von vielen Seiten eine umfassende, aufopfernde und im ganzen auch erfolgreiche

1 Herausgegebenvom DeutschenVerein für Wohnungsreform. 2 Vgl. auch: "Sozialpolitik und Wohnungskongreß", in: Soziale Praxis und Archiv für Volks­ wohlfahrt, Nr. 34 vom 25. Mai 1911 und Dr. Gerhard Kessler, "Der zweite deutsche Woh­ nungskongreß",in: ebd.,Nr. 38vom 22. Juni 1911. Vgl. Nr. 60. 216 Nr.59

Arbeit aufgewendet, aber der ungeheuren Größe der Aufgabe gegenüber hat sich die Abhilfe bisher doch als durchaus unzureichend erwiesen.Es gilt daher, die Arbeit der Wohnungs- und Ansiedlungsreform immer aufs neue zu bele­ ben und zu kräftigen, sie durch Vermittlung der neuen Forschungen und Erfahrungen, durch Bekanntmachung neuer Wege der Reform auszubreiten und zu fördern und die allgemeine Aufmerksamkeit und Stimmung für sie zu gewinnen. Ebenso aber gilt es auch, diese Arbeit mehr als bisher auf die rich­ tige Erkenntnis der großen volkswirtschaftlichen Grundlagen unseres Woh­ nungs- und Ansiedlungswesens und auf die richtige Benutzung und den zweckentsprechenden Ausbau dieser Grundlagen unter dem Gesichtspunkte der Wohnungsreformhinzulenken. Diese Aufgaben haben sich die Deutschen Wohnungskongresse gesetzt, die, unbeschadet der Wirksamkeit der schon länger bestehenden internationalen Wohnungskongresse, ausschließlich der eingehenden Behandlung der Ver­ hältnisse unseres Vaterlandes dienen. Der Erste Deutsche Wohnungskon­ greß3, fandim Herbst 1904in Frankfurta. M. statt, und nunmehr soll vom 11.- 14. Juni d. J. in Leipzig der Zweite Deutsche Wohnungskongreß abgehalten werden. Dieser Kongreß wird veranstaltet von den hervorragendsten der Wohnungsfrage sich widmenden Organisationen, wiez.B. den Provinzialverei­ nen für Wohnungswesen, dem Deutschen Verein für Wohnungsreform, der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, dem Bund Deutscher Bodenreformer, dem Verband Deutscher Mietervereine,den großen Baugenossenschaftsverbänden, zahlreichenBerufsorganisationen, usw. usw. Graf Posadowsky4 hat auf Anfrage sich gütigst bereit erklärt, eine etwaige Wahl zum Vorsitzenden anzunehmen. Von der Stadt Leipzig wird der Kon­ greß auf mannigfache Weiseunterstützt und gefördert. Der Kongreß wird als Hauptgegenstände die beiden Kernfragen der Woh­ nungsreform behandeln, die Bodenfrage und die Finanzierung unserer Bau­ tätigkeit. Hervorragende Redner und Sachkenner für die einzelnen Gegen­ stände sind gewonnen. Besonderes Gewicht wird darauf gelegt werden, daß nicht nur Theorien vorgetragen, sondern vor allem auch die Verhältnisse der Wirklichkeit aus der Praxis herausvorurteilsfrei beleuchtet werden. So werden u.a. die wirtschaftlichen Wirkungen der zahlreichenbehördlichen Vorschriften und Auflagen in unserem Stadterweiterungsprozeß auf die Baustellenpreise zur Erörterung kommen; ebenso werden die neuesten Erfahrungen und Ver­ suche unserer Städte in der Verwertung ihres Grundbesitzes, sowie die not­ wendigen Maßregeln zur Anpassung der städtischen Finanzverwaltung an die sozialen Erfordernisse der Bodenpolitik zur Darstellung gelangen. Der so

3 Vgl. hierzu u.a. den Artl.: Der 1. Allgemeine Deutsche Wohnungskongreß, in: Soziale Praxis, Nr. l vom 6. Oktober 1904. Arthur Grafvon Posadowsky-Wehner, der ehemalige Staatssekretär des Reichsamts des Innern, wurdezum Ehrenpräsidenten des Zweiten Deutschen Wohnungskongresses gewählt. 1911 Juni 11 217 brennenden Frage der Beschaffung der zweiten Hypotheken wird eine beson­ dere Erörterung zuteil werden, wobei auch Bericht erstattet werden wird über den neuen österreichischen Staatsfonds zur Garantierung zweiter Hypothe­ ken. In der Diskussion werden eine größere Anzahl von Mitteilungen über besonders wertvoll erscheinende einzelne Versuche, Erfahrungen und Fest­ stellungen gemacht werden. Bei alledem sollen nicht nur die großen Städte, sondern auch nach Möglich­ keit die kleineren Orte behandelt werden. Durch den Begrüßungsabend, durch ein einfaches gemeinsames Essen, durch gemeinsame Besichtigungen und Ausflügewird Gelegenheit zu persön­ lichem Verkehr und Anknüpfungpersönlicher Beziehungen gebotenwerden . Die oben schon erwähntenBesichtigungen werden den Kongreßteilnehmern die Möglichkeit gewähren, die großartigen kommunalen Schöpfungen der Stadt Leipzig, die interessante Anlage der Stadt im ganzen und hervorragende Werke gemeinnütziger Tätigkeit wie z. B. die ausgedehnten Schreberkolonien und die großen gemeinnützigen Wohnungsanlagen kennen zu lernen. Endlich wird sich an den Kongreß ein gemeinsamer Ausflug zur Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden5 anschließen, woselbst offizielle Begrüßung, sachverständige Führung und eine Nachversammlung stattfinden. So darf die Hoffnung ausgesprochen werden, daß der Zweite Deutsche Wohnungskongreß ein reiches Maß von Belehrung und Anregungen bieten und sich der Sache der Wohnungsreform als nützlich erweisen wird. Darum ergeht an alle Freunde und Gesinnungsgenossen die dringende Aufforderung: "Auf nach Leipzig!"

5 Die Internationale Hygiene-Ausstellungwurde am 6. Mai 1911 im Beisein des Königs Friedrich August in Dresdeneröffnet. 218 Nr.60

Nr.60

1911 Juni 11

Eröffnungsansprache des Grafen von Posadowsky-Wehner auf dem Zweiten DeutschenWohnungskongreß in Leipzig1

[Ursachen der Wohnungsnot liegen in der durch starke Bevölkerungszunahme bedingten Urbanisierung; Lösung des Problems nur durch Wohnungsgesetz­ gebung möglich]

Um die Wohnungsfrage zu fördern, das heißt, um die Möglichkeit zu schaf­ fen, unsere minderbemittelte Bevölkerung in einer den Anforderungen der Sittlichkeit und den Mindestanforderngen der Gesundheitspflege entspre­ chenden Weise zu behausen, genügt es nicht, im allgemeinen auf den beschleunigtenBau normaler Wohnungen zu dringen; man muß vielmehr auf die inneren Ursachen der Wohnungsnot und all dieser Mißstände zurückge­ hen, um ihnen rechtzeitig und wirksam vorbeugen zu können. Von den großen Kulturländern Europas hat Deutschlanddie verhältnismäßig stärkste Bevölke­ rungszunahme. Und dieser große Bevölkerungszuwachs drängt nach den Städ­ ten und zwar nach den Großstädten. Im Jahre 1816 lebte in Deutschland nur jeder achtzigste Einwohner in Großstädten, 1855 schon jeder dreiunddreißig­ ste und 1910 ist schon mehr als jeder fünfte unserer Mitbürger ein Groß­ städter. Welche entscheidenden Umwälzungen der Lebenswerte und in den Auffassungen unseres Volkes sind in diesen drei Zahlen verborgen! Welche Entfremdungvon der Natur und welche Beeinflussungdurch eine immer mehr verfeinerte technische Kultur! Während zum Beispiel Berlin im Jahre 1650 nur 5000 Einwohner und Paris schon mehr als 200000 Einwohner zählte,wird Groß-Berlin schon in wenigen Jahren ebenso vielEinwohner haben wie Oroß­ Paris. Bis zu dem wirtschaftlichen Umschwung, der den Kriegen von 1866 und 1870-71 folgte, hatten Regierung und Volk alle Kräfte anzustrengen, um sich von der fürchterlichen Ausplünderung durch die Napoleonischen Kriege im Anfangdes vorigen Jahrhunderts zu erholen. Man war viel zu arm, um, abge­ sehen von den Stein-Hardenbergschen Reformen, Wohlfahrtspflege zu trei-

1 Abgedruckt u.a. in: "Die Ursachen der Wohnungsnot", in: Der Gewerkverein, Nr. 49 vom 21.6.1911 und Nr. 50vom 24.5.1911. Arthur Grafvon Posadowsky-Wehner (1845-1932), 1897-1907 Staatssekretär des Reichsamts des Innernund preußischerStaatsminister. Ehrenpräsident des Zweiten deutschen Wohnungskongres­ sesin Leipzig.Vgl. Nr. 59. Vgl. auch: "Sozialpolitikund Wohnungskongreß",in: Soziale Praxis und Archivfür Volkswohlfahrt, Nr. 34vom 25. Mai 1911 und Dr. Gerhard Kessler: "Der zweite deutsche Wohnungskongreß", in: ebd.,Nr. 38vom 22. Juni 1911. 1911 Juni 11 219 ben. Man erwartete die wirtschaftlicheBelebung des Staatesvorzugsweise von einer kräftigen Merkantilpolitik und hatte deshalb auch keine Aufmerksam­ keit fürdie hygienischen Bedürfnisse der sich schnell vermehrenden, zum Teil sich in den befestigtenStädten zusammendrängenden Bevölkerung. Erstdurch die deutsche Sozialpolitik ist man gezwungen worden, sich eingehend mit den Lebensverhältnissen und Lebensbedingungen der minderbemittelten Volks­ klasse, das heißt der großen Masse zu beschäftigen, insbesondere mit den Ursachen von Krankheit und Tod. Dabei entdeckte man auch und entdeckt noch heute fast täglich Wohnungszustände, die auf alten Bau- und Verwal­ tungssünden beruhen und allen Anforderungen der Sittlichkeit und Gesund­ heit widersprechen. Ich nehme aus dem überreichen Material nur Bezug auf die Wohnungsenqueten der Ortskrankenkasse der Kaufleutezu Berlin, auf die Berliner städtische Wohnungsstatistik, auf die Berichte der Dresdener Stadt­ mission, auf die Schilderung Professor Dr. Eberstadts in den "Preußischen Jahrbüchern" von den Wohnungszuständen der Arbeiterwohnhäuser in Spandau2• Ich verweise endlich, um unsere süddeutschen Reichsgenossen nicht zu übersehen, auf die traurigen Wohnungszustände in München. Als Musterbeispiel führe ich von Berlin nur an, daß dort 1905 über eine halbe Million besetzter Wohnungen gezählt wurden, wovon nahezu die Hälfte nur ein einziges heizbares Zimmer hatte. Rund ein Siebentel von diesen Wohnun­ gen war noch dazu ohne Küche, über ein Drittel aller Berliner besetztenWoh­ nungen bestand überhaupt lediglich aus einem heizbaren Zimmer und Küche. Dr. Grünspan kommt zu dem sogar recht optimistischen Resultat, daß von je 100 Berliner Kleinwohnungen wenigstens 7 übervölkert sind, und daß von je 100in Berliner Kleinwohnungen lebenden Menschen mindestens 14 schlechte und zu enge Wohnungen haben. Selbst in Einzimmerwohnungen finden sich Schlafgänger und Zimmermieter, und von den Zweizimmerwohnungen sind nur 72 Prozent ohne Zimmermieter und Schlafgänger. Die Statistik lehrt fer­ ner einen Rückgang des Geburtenüberschusses und namentlich einen schnel­ len Rückgang der weiblichen Fruchtbarkeit. In Berlin betrug zum Beispiel dieser Rückgang der weiblichen Fruchtbarkeit innerhalb der drei Jahrzehnte von 1876 bis 1905 mehr als 40 Prozent. Wir scheinen uns in der Tat in den Großstädten dem so oft verurteilten französischen Zweikindersystem zu nähern. Dabei wächst gleichzeitig die Verhältniszahl der unehelichen Gebur­ ten. Der ungünstige Einfluß des großstädtischen Zusammenlebens auf die Wehrhaftigkeit ist erwiesen. Obgleich die landwirtschaftliche Tätigkeit schon wegen ihrer klimatischen Abhärtung günstigere Vorbedingungen für die Wehrfähigkeit liefert, so ist doch infolge Unterernährungein ständiger Rück­ gang der körperlichen Tauglichkeit für den Heeresdienst auch bei der länd­ lichen Bevölkerung von Jahr zu Jahr bemerkbar. Der Übergangvon der Natu-

2 Keiner dieser Berichte wirdhier abgedruckt. 220 Nr.60 ralwirtschaft zur Geldwirtschaft auch in bäuerlichen Betrieben bewirkt den Verkauf der Erzeugnisse der eigenen Wirtschaft und die Ernährung mit gekauften,häufig minderwertigen Lebensmitteln. Während sich aber unsere deutsche Gesamtbevölkerung jährlich um fast 850 000 Seelen vermehrt, müssen wir doch Arbeiterheere aus Rußland, ÖSter­ reich und Italien herbeiziehen, um die deutsche Scholle zu bearbeiten, um unsere Häuser und Straßen zu bauen und um unsere Bergwerke auszunützen. Gleichzeitig hören wir aber aus den Großstädten alljährlich Klagen über Arbeitslosigkeit. Es zeigt sich hierin bei unserer Bevölkerung eine zuneh­ mende Abneigung gegen schwere körperliche Arbeit, die als minderwertig angesehen wird, und damit hängt zusammen die Neigung zur Abwanderung nach den Großstädten, den Brennpunkten von Industrie und Handel, wo sich mehr Gelegenheit für körperlich leichtere, gegen die Unbilden des Wetters mehr geschützte,wenn auch vielfachhöchst mechanische Arbeit findet. Es sind indes nicht nur die auf ihrer Hände Arbeit angewiesenen Gesell­ schaftsklassen, welche dem Liebte der Großstädte zufliegen. Auch weite Kreise der besitzenden Klassen glauben in völliger Verkennung menschlicher Lebensaufgaben und kluger Lebenskunst nur in den Großstädten ihr Glück und ihre geistige Befriedigung finden zu können. Tausende siedeln nach den Großstädten über, Tausende, welche kein notwendiger und nützlicher Zweck dazu drängt, Tausende, die in den Menschenmassen der Großstädte wie ein Sandkorn im Ozeanverschwinden, während sie in den Provinzstädtenund auf dem flachenLande in der Gemeinschaftihrer Mitbürger noch wesentliche und geachtete Dienste leisten könnten. So entstand neben dem natürlichen und noch immer anhaltenden Wachs­ tum unserer Bevölkerung ein fortgesetzterZuzug nach den Großstädten, eine örtliche Überlastung, welcher der Bau von Kleinwohnungen für die minder­ bemittelte Bevölkerung vielfach nicht gefolgt ist. Diese minderbemittelte Bevölkerung findet zum Teil keine ausreichenden kleinen Wohnungen, oder sie vermag die durch die enorm gestiegenen Bodenpreise und die Häuser­ spekulation emporgeschnellten Mieten nicht zu erschwingen. Wenn man bis­ weilen liest, daß in den Großstädten tausende von Wohnungen leerstehen, so sind das meistens nicht Wohnungen für die untere Klasse; ein wesentlicher Druck auf die Mieten pflegtauch durch eine solche Flaute nicht geübt zu wer­ den, weil durch die hohen Erstehungskosten der Bauten und ihre hypothekari­ sche Belastung eine wesentliche Ermäßigung der Mieten ausgeschlossen ist. So sucht der kleine Mann die Mietausgaben seines Jahreshaushalts herabzu­ drücken, indem er sich mit seiner Familie in den denkbar kleinsten Räumen zusammenpreßt und womöglich noch Zimmermieter und Schlafgänger auf­ nimmt. Hierdurch entsteht die Erscheinung, daß je geringer die Miete, desto größer die menschliche Belastung des Rauminhalts der Wohnung ist. Kinder- 1911 Juni 11 221

segen wird da zur fürchterlichen Last, Unsittlichkeit zur notwendigen Folge des fast tierischen Zusammenlebens von Familie und Fremden. Die Übertra­ gung von physischenund sittlichen Ansteckungsstoffen ist die unvermeidliche Folge dieses Wohnungselends, und fortschleichende Krankheiten und verbre­ cherische Neigungen, Siechtum und Entartung von Körper und Seele werden in diesen überlastetenWohnungen erzeugt und erzeugen sich stets von neuem in diesem eigenen giftigenDunstkreis. Das Programm unserer Versammlung ist: Wie sind diese Mißstände zu bekämpfen? Die größte Schwierigkeit liegt in der so ungleichen Verteilung unseres Volkes über die deutschen Lande, eine Ungleichheit, die keineswegs nur durch die unabänderlichen geographischen und naturgeschichtlichen Ver­ hältnisse, wie Wasserstraßen, unterirdische Schätze, oder Bodenbeschaffen­ heit, bedingt ist. Irgendwelche Beschränkung der Freizügigkeit erscheint selbstverständlich ausgeschlossen. Die Regierung, die selbst hierzu den kurzsichtigen Mut hätte, würde sich bei den gegenwärtigen Verkehrs- und Erwerbsverhältnissen sehr bald von der Unausführbarkeit eines derartigen gesetzlichen Unternehmens überzeugen. Unsere ganze Arbeit in der Woh­ nungsfrage muß beim fortgesetzten Wachstum unserer Bevölkerung und den nicht vorauszusehenden und nicht zu beherrschenden Gründen des Zusam­ menströmens immer größerer Massen an gewissen Schnittpunkten unseres wirtschaftlichen Lebens eine Danaidenarbeit bleiben, wenn wir nicht unter­ stützt werden durch die Bestimmungen eines Wohnungsgesetzes, welches nicht nur gewisse Mindestforderungen fürdie Herstellung von Wohngebäuden aufstellt, sondern auch den Verwaltungs- oder Polizeibehörden das Recht gewährt, Art und Umfang der Benutzung der Wohnräume entsprechend den Anforderungen von Sittlichkeit und Gesundheit zu regeln. Ohne solche vor­ beugenden Vorschriften werden auch die nach den besten Plänen für die minderbemittelten Volksklassen hergestellten Wohnhäuser von den zuwach­ senden und zuziehenden Massen immer wieder in schädlicher Weise überfüllt werden. Man denke nur an Orte mit großen Saisonbetrieben, wo man sich kaum darum zu kümmern pflegt,wie den zahlreichenfür den Betriebszeitraum zuziehenden Arbeitskräften ein Unterkommen geschaffen werden kann. In solchen Bestimmungen kann ebensowenig eine Beschränkung der Freizügig­ keit gefunden werden, wie in den gesetzlichen und landespolizeilichen Vor­ schriften, welche der Verbreitung von Volkskrankheiten vorbeugen sollen. Mit einem Wohnungsgesetz muß auch die Möglichkeit einer ausreichenden Aufsicht über seine Durchführung gegeben sein. Wie nötig das ist, zeigen die neuesten Vorgänge in Berlin, wo die Belegung von Dachwohnungen verboten ist und trotzdem, wie sich aus amtlichen Erlassen ergibt, zahlreiche derartige Wohnungen tatsächlich belegt waren. Ein solches Gesetz muß auch Vorschrif- 222 Nr. 60 ten enthalten, daß gewisse Ländereienbebaut und die darauf errichteten Häu­ ser auch nur als Kleinwohnungen benützt werden dürfen. Es ist sozialpolitisch und wirtschaftlich falsch, die minderbemittelten Klas­ sen, deren Dienste die besitzenden Gesellschaftskreise doch fortgesetzt bedürfen, in weitentfernte Vororte zusammenzudrängen. Durch die weiten Wege zur Arbeitsstelle ist deshalb für diese Bevölkerungsschichten ein unver­ hältnismäßiger Verbrauch an Kraft und Zeit verbunden. Man denke an die Unterbeamten und Arbeiter von Staat und Gemeinden, an Handlungsgehilfen und niedere Bureauangestellte, an das ganze Personal der zahlreichen Ver­ kehrseinrichtungen. Nicht alle Beteiligten vermögen mit dem Fahrrad diese Schwierigkeiten zu überwinden, ganz abgesehen von der damit verbundenen körperlichen Abnutzung. Andere Verkehrsmittel sind vielfach zu kostspielig. Wenn man Bestimmungen erläßt über die Feststellung der Bebauungspläne zum Besten von Villen, so ist es unerläßlich und gerecht, auch für den Bau von Kleinwohnungen derartige Bestimmungen zu erlassen. In das Zweckverbands­ gesetz für Groß-Berlin ist nach den Beschlüssen des Abgeordnetenhauses auch einbezogen das Recht, ein bestimmtes Gelände für den Bau von Kleinwoh­ nungen zu erwerbenund durch Bebauung nutzbar zu machen. Man scheint im Herrenhaus diese Bestimmung streichen zu wollen. Das wäre ein sozialpoliti­ scher Fehler, mindestens soweit es sich um den Erwerb von Ländereien han­ delt. Dadurch, daß man die Herstellung von gesunden Kleinwohnungenin den Großstädten zu erschweren sucht, verhindert man nicht den Zug nach den Großstädten. Die Ursachen liegen tiefer. Ferner müssen wir eine Ergänzung der lapidaren Vorschriften des Bürgerli­ chen Gesetzbuches über das Erbbaurecht fordern. Denn in dieser Rechtsein­ richtung liegt die Möglichkeit, mit geringstem Kostenaufwandden Besitz von Grund und Boden für Wohnungszwecke auf die Lebensdauer mehrerer Geschlechter hinauf zu erwerben, während dem Eigentümer und seinem Erben der volle Ertrag künftiger Wertsteigerung verbleibt. Meines Erachtens kann man jetzt schon im Wege des Vertrages die Rechte des Grundbesitzers und die Rechte des Pfandgläubigers an dem Erbpachtland sowie an dem auf dem Erbpachtland errichteten Gebäude völlig sicherstellen. Reich, Staat, Gemeinden und die sozialpolitischen Versicherungsanstalten haben ja in die­ ser Weise schon große Flächen zum Erbbaurecht ausgegeben und die auf ihnen errichteten Gebäude beliehen, ohne Geldverluste zu erfahren. Diese Maßregeln konnten aber selbstverständlich nur Arbeitern und geringbesolde­ ten Beamten von Reich, Staat und Gemeinden zugute kommen. Soll das Erb­ baurecht für die großen Massen unserer Bevölkerung nutzbar gemacht wer­ den, so muß das Großkapital hierin Gelegenheit zur Kapitalanlage suchen. Es müssen sich Erbbaubanken bilden. Hierzu genügt nicht die Möglichkeit ver­ tragsmäßiger Sicherstellung, sondern man wird stets eine klare, umfassende 1911 Juni 11 223

gesetzliche Ergänzung des Bürgerlichen Gesetzbuches abwarten müssen. Für die Gemeinden liegt in der Anwendung des Erbbaurechtes zur Förderung des Kleinwohnungsbaues ein besonders nützliches Tätigkeitsgebiet. Aber freilich darf in diesem Falle das für den Kleinwohnungsbau aufzuteilende Gelände nicht nach finanziellen Gesichtspunkten, sondern nur unter Wahrung allen Vorbehalts gegen Mißbrauch und nur nach sozialpolitischen Grundsätzen und nach Maßgabe der Selbstkosten ausgegeben werden. Die Wertzuwachssteuer schließlich mag für das Reich eine gute Finanzquelle sein, und wäre sie mir während meiner Stellung als Reichsschatzsekretär so eindringlich angeboten, ich hätte sie gerne auch für das Reich angenommen. Aber davon, daß hier­ durch die Grundstücksspekulation eingeschränkt und die weitere maßlose Steigerung der Grundstückspreise gehemmt werden wird, kann ich mich wenigstens zurzeit noch nicht überzeugen. Ich fürchte vielmehr, daß in Zukunft der Mieter auch noch die Zinsen dieser neuen Grundstücksbelastung zu tragen hat. Die offenen und stillen Gegner der Sozialpolitik werden für unsere Arbeit nicht zu gewinnen sein, und wenn wir mit Engelszungen redeten. Das ist ein­ mal Charakteranlage. Es gibt aber sozialpolitisch freundlich gesinnte Kreise, die nur vor der Größe der Aufgabe erschrecken und deren guter, edler Wille gegenüber vielfachen Anforderungen staatlicher und privater Fürsorge so­ zialer Art zu erlahmen droht. Man hört das Wort: Nun möge man einmal mit der Sozialpolitik aufhören! Das kommt mir so vor, als wenn man dem Handel oder der Industrie oder der Landwirtschaft zurufen wollte: Wir mögen doch nun einmal mit unserer Handels-und Wirtschaftspolitik aufhören! Es entste­ hen eben auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens fortgesetzt neue Forde­ rungen, die man nicht mit dem Gefühl bequemen Beharrungsvermögens abschlagen kann. Deshalb möchte ich zum Schluß meiner Ausführung allen denen, die das große Ziel unserer Arbeit unterstützen, das schöne Bibelwort zurufen: Lassetuns Gutes tun und nicht müde werden! 224 Nr. 61

Nr.61

1911 Juni 11

Nationalliberale Blätter Nr.24

Zur Pensionsversicherungder Privatbeamten• Dr. GustavStresemann

[Begründung der kurzen Beratungsdauer des Gesetzentwurfes]

Der Reichstag ist nicht in die erste Lesung des Entwurfs eines Versiche­ rungsgesetzes für Angestellte - wie der offizielle Name des neuen Gesetzent­ wurfes lautet - eingetreten. Man hat also davon abgesehen, eine Sommer­ kommission zu bilden, wie sie bei der Reichsversicherungsordnung und Straf­ prozeßreform eingesetzt worden ist, und hofft, in der Zeit von Anfang Oktober bis Ende November dieses Gesetzeswerk in der Kommission und im Plenum des Reichstags zu verabschieden. Das wird heftige Gegnerschaft bei denjenigen hervorrufen, die der Meinung sind, daß hierin eine überstürzte Erledigung eines soweit tragenden Gesetzes liege1 . Andererseits wird man aber dagegen anführen können, daß um die Grundgedanken des Pensionsver­ sicherungsgesetzes schon seit zehn Jahren in der Öffentlichkeitgestritten wird, daß der erste Entwurf der Regierung monatelang Gegenstand lebhafter Kritik der Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Versicherungsgesellschaften und anderer Interessenten gewesen ist, und daß der jetzt vorgelegte Entwurf sich aufbaut auf dem, was für die Verbündeten Regierungen als Ergebnis dieser jahrelan­ gen Debatten, Verhandlungen und Erörterungen sich ergeben hat. Um es zunächst vorwegzunehmen: Der Kampf um die Form der Versiche­ rung muß als erledigt angesehen werden. In den Lagern der Angestellten hat man jahrelang darum gestritten, ob der Ausbau des lnvalidengesetzes der Son­ derkasse für die Privatbeamten vorzuziehen wäre2. Wollte man diese Frage im Rahmen des Ausbaues des Invalidengesetzes lösen, so war die Beratung der Reichsversicherungsordnung die einzige Möglichkeit, dies zu tun. Die Sozial­ demokratie und einige wenige weit links stehende Mitglieder der Fortschritt­ lichen Volkspartei haben dies denn auch versucht, die überwiegendeMehrheit des Reichstags hat aber diesen Gedanken ebenso zurückgewiesen, wie schon vorher die Kommission für die Beratung der Reichsversicherungsordnung .

• Aus der "KönigsbergerAllgemeinen Zeitung". Vgl. Nr. 488. 1 Vgl. Nr. 182,198,458. 1911 Juni 11 225

Man darf danach annehmen, daß die Erledigung dieser Frage im Rahmen der bestehenden Arbeitergesetze, die sich ja auch nicht ohne Einbeziehung der Arbeiter in die einzelnen Bestimmungen über die Privatbeamten hätten erle­ digen lassen, praktisch aus der Möglichkeit der Erwägung ausscheidet, und daß man deshalb damit zu rechnen hat, daß das Pensionsversicherungsgesetz in der Form in Kraft tritt, wie sie die Regierung will, das heißt, auf der Grundlage des Verbleibens der Privatbeamtenin der allgemeinen Alters- und Invalidenversorgung, soweit die Gehaltsgrenze dieses Verbleiben vorschreibt, und in der Schaffung einer Sonderkasse für alle Privatbeamten, die daneben ins Lebentritt und auf weitergehenden Beiträgen und Lastenaufgebaut wird. Damit ist für die gesetzgeberische Behandlung der Frage der größte Streit­ punkt aus dem Wege geräumt. Die Höhe der Beiträge entspricht im wesent­ lichen den Vorschlägen, die der Hauptausschuß der Privatbeamten gemacht hat, wobei zu berücksichtigen ist, daß für den größten Teil der Privatbeamten die Beiträge zur Alters-und Invaliditätsversicherung noch hinzutreten. Die Leistungen werden sich natürlich diesen Beiträgen anzupassen haben, und es ist fraglich, ob die statistischen Unterlagen, auf denen die Berechnungen der Verbündeten Regierungen beruhen, zu erschütternsein werden. Eswürde also als wesentlicher Punkt des Kampfes bei dem Gesetz nur noch die Regelung der Ersatzkassenfrage und die Frage der Selbstverwaltung zurückbleiben, wenn man nämlich annimmt, daß über das Prinzip der Notwendigkeitder Pen­ sionsversicherung ein Streit der Meinungen nicht mehr obwaltet. In bezug auf diese Ersatzkassenfrage bedeutet nun der neue Gesetzentwurf der Regierung eine Konzession an die lebhafte Bewegung, die in den Kreisen der Arbeitgeber und Angestellten fürdie Erhaltung der bisherigen Ersatzkas­ sen eingesetzthat 3. Anscheinend hat die Regierung die Lehregewgen aus den Kämpfen um die Betriebskrankenkassen bei der Reichsversicherungsordnung, da auch dort diese Betriebskrankenkassen nach dem Wunsche der Regierung nach Möglichkeit ausgeschaltet werden sollten, was einem heftigen Wider­ stand im Reichstag begegnete, so daß man sich schließlich dahin geeinigt hat, wenigstens die bestehenden Betriebskrankenkassen zu erhalten. So beruht auch derjetzt von den Verbündeten Regierungen vorgelegte Kompromißvor­ schlag in bezug auf die Ersatzkassen auf der Anerkennung der bestehenden Kassen unter gewissen Kautelen, welche gefordert werden. Unzweifelhaft hat die Regierung recht, wenn sie sich gegen die kritiklose Nebeneinanderstellung der Leistungen der Ersatzkassen und der geplanten allgemeinen Reichskasse verwahrt, da sich die beiderseitigen Risiken doch nur schwer miteinander ver­ gleichen lassen und die privaten Kassen sich dabei vielfach in einer weitaus günstigeren Lagebefinden. Immerhin ist die Regierung bereit, diejenigen Kas­ sen, die bei Verkündigung des Gesetzes bereits bestehen, zu erhalten, wenn

3 Vgl. Nr. 30, 46. 226 Nr.61 die Kassenleistungenmindestens den reichsgesetzlichen Leistungengleichwer­ tig und in deren Höhe gewährleistet sind, wenn ferner die Arbeitgeber min­ destens die Hälfte der Kosten tragen, wenn den Versicherten bei der Verwal­ tung der Kasse und bei der Entscheidung über die Kassenleistungen eine den Vorschriften des Pensionsversicherungsgesetzes entsprechende Mitwirkung eingeräumt wird, und wenn ferner das Prinzip der vollen Freizügigkeit dadurch gewährleistet wird, daß die bei den Ersatzkassen zurückgelegte Beitragszeit mindestens die gleichen Ansprüche begründet, als wenn die Beitragszeit bei der Reichsversicherungsanstalt zurückgelegt wird. Die Entscheidung darüber, ob die jeweiligen Bedingungen für die Zulassung einer Ersatzkasse erfüllt sind, soll nach der Vorlage in die Hände des Bundesrates gelegt werden. Bisher sind aus den Kreisen der bestehenden Kassen noch keine Äußerungen zu diesen Vorschlägen, die sich im wesentlichen mit dem decken, was ich selbst im Reichstag bei der Beratung dieser Frage als Mög­ lichkeit der Anerkennung für die bestehenden Kassen vorgeschlagen habe, gemacht worden. Die Gewährung der Freizügigkeit würde allerdings eine wesentliche Änderung der Satzungen und Leistungen vieler Kassen bedingen, bei denen jetzt vielfach das Ausscheiden aus der Kasseeinen ganzen oder teil­ weisen Verlust der erworbenenAnrechte zur Folge hat. Esist auch fraglich, ob die jetzt vielfach über das Maß des Gesetzes hinausgehenden Beiträge der Arbeitgeber in Zukunft aufrechterhalten werden, da manche persönliche Initiative durch diese Einschränkung der Freiheit der Kassen verlorengeht. Immerhin wird man aber sagen können, daß diese jetzigen Vorschläge die Grundlage für eine Verständigung bieten, und man wird sich auch damit abfinden müssen, daß neue Ersatzkassen nicht gegründet werden können, weil sonst die Gefahrbestände, daß fortgesetzt die besseren und besten Risiken der Reichskasse dauernd entzogen werden. Zu begrüßen ist schließlich, daß auch in der Frage der Selbstverwaltung der neue Entwurf bereits Konzessionen zeigt, und daß die geplanten Verwaltungs­ körper nicht mehr eine rein gutachtliche, sondern zum Teil eine beschließende Tätigkeit ausüben sollen. Arbeitgeber und Angestellte finden sich in der For­ derung möglichst weitgehender Selbstverwaltung zusammen, und der Reichs­ tag wird sich sicherlich bemühen, nach dieser Richtung hin das Gesetz noch weiterhin umzugestalten. Überblickt man das Ganze, so wird man sagen können, daß es nur noch wenige Hauptfragen sind, die der Erledigung harren, und deshalb wird der Reichstag, wenn er nach langer Sommerpause frisch in die Arbeit eintritt, auch die Möglichkeit haben, dieses Gesetz nach etwa vierwöchentlicher Kommissionsberatung, die allerdings ohne Zwischenpause geschehen müßte, zur Erledigung zu bringen. Meiner persönlichen Auffassung nach wäre es allerdings wünschenswert gewesen, die erste Lesung schon jetzt abzuhalten 1911 Juni 15 227

und die Kommission mindestens für den l. Oktober zusammenzuberufen, da sich in zehn Kommissionssitzungen, die nicht durch die Plenarberatungen unterbrochen werden, mehr schaffen läßt, als in zwanzig Sitzungen während der Verhandlungen des Plenums, die sich doch meist auf eine dreistündige tägliche Arbeit beschränkenmüssen. Eswar aber einesteilsdie durch die Bera­ tung der Reichsversicherungsordnung eingeengte Geschäftslage, und es war weiterhin wohl die Erwägung, daß die Hauptfragen geklärt seien, welche den Reichstag bewogen, die Beratung des Gesetzes auf den Herbst zu verschieben in der Hoffnungund Erwartung, es dann ebenso zur Verabschiedung zu brin­ gen, wie trotz mancher pessimistischen Voraussagen auch die Reichsversiche­ rungsordnung mit ihrem weit gewaltigeren Material und ihren weitaus größe­ ren Schwierigkeiten glücklich in dem Hafender Verabschiedung gelandet ist.

Nr.62

1911 Juni 15

Sozialistische MonatshefteNr. 12 Arbeitsnachweisund Arbeitslosenversicherung Hugo Petzsch

[Beste Uisung der Versorgung der Arbeiterschaft durch paritätische Arbeits­ nachweise und gewerkschaftlicheArbeitslosenversicherung)

Es ist durchaus richtig, daß der kommende Gewerkschaftskongreß die Fra­ gen des Arbeitsnachweises und der Arbeitslosenversicherung zusammen in einem Punkt der Tagesordnung behandeln will: eins hängt hier vom andern ab, und beides muß möglichst einer gemeinsamen Uisung entgegengeführt wer­ den. Mit der steigenden Entwicklung des Verkehrs gewinnt die Frage des Arbeitsnachweises eine immer größere Bedeutung. Die alten ungeregelten Formen der Vermittlung genügen nicht mehr. Im früheren Mittelalter war eine festgeregelte Form einer Stellenvermittlung vorhanden; die Zunftorgani­ sation hatte sie geschaffen, und sie genügte auch vollkommen den damaligen Anforderungen. Übrigens - das sei nebenbei bemerkt - war auch jener primi­ tive Nachweis von Arbeit auf der Zunftherberge schon mit einer ArtArbeits­ losenunterstützung verknüpft. Der Zehrpfennig wurde demjenigen Zunft­ gesellen etwas reichlicher bemessen, dem Arbeit am Ort nicht nachgewiesen 228 Nr.62 werden konnte, der also weiterwandern mußte. Mit dem Niedergang der Zünfte kam die regellose Stellensuche und -vermittlung auf, namentlich das Zeitungsinserat und die gewerbsmäßige Stellenvermittlung mit allen ihren Nachteilen für die Arbeiterschaft. Erst mit dem Aufkommen der modernen Berufsorganisationen suchen diese sich wieder des Arbeitsnachweises zu bemächtigen. Die Arbeiter suchen dadurch ihre Position dem Unternehmer­ tum gegenüber zu befestigen, Einfluß auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen zu gewinnen. Darauf gingen auch die Organisationen der Arbeitgeber mit der Gründung von Arbeitsnachweisen vor. Hier war der Hauptzweck nicht die Vermittlung von Arbeitskräften, sondern die Abwehr unberechtigter Forderun­ gen der Arbeiterschaft, Abhaltung und Maßregelung unliebsamer Elemente, von Hetzern und Agitatoren aus den Betrieben, schließlich Heranziehung von Streikbrechern. Auf seilen der Arbeiter hat die Auffassung über die Zwecke und Aufgaben des Arbeitsnachweises eine ständige Wandlung durchgemacht. Von einem Kongreß zum andern sind die deutschen Gewerkschaften einen Schritt weiter­ gegangen nach der Richtung hin, den Arbeitsnachweis zu einer gänzlich neu­ tralen Institution zu machen•. Nicht so die Unternehmer, die in den letzten Jahren ihre Anstrengungen verdoppelt haben, den Nachweis an sich zu reißen. Sie sprechen es auf ihren Generalversammlungen ganz offen aus, daß ihnen die Beherrschung des Arbeitsnachweises ein Mittel sein soll, einen Druck auf die Arbeiter auszuüben. Auf dem 6. deutschen Arbeitsnachweiskongreß 1910 in Breslau äußerte sich Dr. Keßler - Berlin in seinem Referat Die einseitigen Arbeitsnachweiseder Arbeitgeber und Arbeitnehmer wie folgt: "In der Tat denkt die Öffentlichkeit, wenn von einseitigen, nichtparitätischen Arbeitsnachweisen die Rede ist, heute nur noch an die Arbeitsnachweise der Arbeitgeber, nicht an die der Arbeitnehmerverbände... Die organisierten Arbeit­ nehmer haben heute grundsätzlich den Gedanken der gewerkschaftlichen Arbeitsvermittlung als Ideal aufgegeben; die Arbeitgeber dagegen erklären heute noch viel energischer und in noch größerer Zahl als früher, daß ihre Arbeitsvermittlung die einzig berechtigte und zweifellos die zweckmäßigste sei." Wohl um den Widerstand der Unternehmer gegen die gemeinnützigen, paritätischen Arbeitsnachweise zu beseitigen, unternahmen es auf der Bres­ lauer Tagung der Referent Dr.Keßler wie auch der Korreferent, Regierungsrat Dominicus - Straßburg, der jetzige Oberbürgermeister von Schöneberg, und schließlich auch einige Diskussionsredner aus den Kreisen der bürgerlichen Sozialreformer, für das Verhalten der öffentlichen Nachweise bei Konflikten zwischenUnternehmern und Arbeitern etwas in Vorschlag zu bringen, was bei

• Siehe meinen Artikel Die gesetzliche Regelung des Arbeitsnachweises in den Sozialistischen Monatsheften, 1910, 1. Band, pag. 38ff. 1911 Juni 15 229

den anwesenden Arbeitervertretern den größten Widerspruch hervorrufen mußte. Dr. Keßler sagte: "Ich glaube sogar, daß die öffentlichen Arbeitsnachweise ihre Neutralität nicht gefährden würden, wenn sie nicht nur die Arbeiter benachrichtigen, daß in dem und jenem Betrieb augenblicklich gestreikt wird, sondern wenn sie, ent­ sprechend ihrer Unparteilichkeit, auch die Arbeitgeber benachrichtigen: Dieser Arbeiter kommt aus einem Streikort. Ich glaube, daß das keine Verletzung der Unparteilichkeit wäre." Diese Ausführungen unterstrich der zweite Referent, Herr Dominicus, und er überraschte die Versammlung durch die Mitteilung, daß eine solche Ein­ richtung beim Straßburger städtischen Arbeitsnachweis bereits seit einigen Jahren bestehe und bei beiden Parteien keinen Widerspruch finde. Die Ver­ treter der Arbeitgeberverbände auf dem Kongreß nahmen von diesem Aner­ bieten wohl mit Befriedigung Kenntnis, zu einem Entgegenkommen fühlte sie sich aber darum keineswegs veranlaßt. Mehr als einer von ihnen betonte, daß die Arbeitgeber den Nachweis auf jeden Fall in der Hand haben müßten. Die anwesenden Arbeitervertreter legten gegen diese Art Neutralittlt den entschie­ densten Protest ein. Und der Vorsitzende des Verbandes deutscher Arbeits­ nachweise erklärte am Schluß der Verhandlungen über diesen Beratungs­ gegenstand, daß Herr Dominicus, wenn er auch Mitglied des Vorstands sei, nur seine persönliche Meinung geäußert habe, daß der Ausschuß in seinen Sit­ zungen noch nicht mit einem Wort darauf zurückgekommen sei. Vorher hatte Herr Dr. Freund aber schon mitgeteilt, daß der Verbandsausschuß sich dem­ nächst mit dieser Frage beschäftigen werde. Das scheint bisher noch nicht der Fall gewesen zu sein;wenigstens ist nach außen nichts davon bekannt gewor­ den. Man wird in der Annahme nicht fehlgehen, daß die Generalkommission gerade durch diese in Breslau gefallenen Äußerungen sich veranlaßt gesehen hat, diesen Gegenstand von neuem auf die Tagesordnung des kommenden Gewerkschaftskongresses zu setzen. Der springende Punkt ist: Können die Gewerkschaften an den gemeinnützigen Arbeitsnachweisen noch mitwirken, fallsdie von den Referentenempfohlene Neutra/itlit allgemein zur Einführung gelangen sollte? Auf die Unternehmer haben, wie schon hervorgehoben wurde, die Lockungen keinen Eindruck gemacht; seit Breslau ist der Eifer für die eigenen einseitigen Arbeitsnachweise nur noch größer geworden. Die Ar­ beitgeberverbände der Großindustrie werden nimmermehr durch ethische Er­ wägungen dazu gebracht werden können, ihren starren Herrenstandpunkt auf­ zugeben, nur der Zwang der Verhältnisse, das heißt die wachsende Macht der Arbeiterorganisationen, wird früher oder später auch die großen Scharf­ macherverbände zu Tarifabschlüssen und gemeinsamen, paritätisch verwalte­ ten Arbeitsnachweisen drängen. Lehnen aber in einem gegebenen Fall die Arbeitervertreter die Einführung jener Bestimmung ab, so haben die Unter- 230 Nr.62 nehmer wieder einen billigen Einwand, dem gemeinnützigen Arbeitsnachweis fernzubleiben. Gehen sie darauf ein, so liefern sie den Unternehmern die streikenden Arbeiter auf Gnade und Ungnade aus. Die Unternehmer können dann die schwarzen Listen sparen, der Arbeitsnachweis nimmt ihnen diese Mühe ab. Diejenigen, die einen solchen Vorschlag empfehlen, vergessen ganz, daß der einzelne Unternehmer über eine ungleich größere Macht verfügt als der einzelne Arbeiter; ebenso die Unternehmerorganisation gegenüber der Organisation der Arbeiter. Die Unternehmer sind schon durch ihre kleinere Zahl im Vorteil, sie können sich leichter verständigen und brauchen ihre Maßnahmen nicht in aller Öffentlichkeitzu besprechen und auszuführen. Eine solche Neutralität läuft also auf eine Hypemeutra/ität hinaus, auf eine ganz gewaltige Begünstigung der Unternehmer. Eine solche Maßnahme überhaupt zu diskutieren ist mindestens solange gänzlich unangebracht, als die Unter­ nehmer gar nicht einmal Miene machen, ihre eigenen Nachweise aufzulösen und deren Anschluß an die paritätisch verwalteten gemeinnützigenrespektive städtischen Arbeitsnachweise zu vollziehen. Die bisher bestehenden Institute dieser Art waren im allgemeinen von dem Vertrauen der Arbeiter getragen; geht dieses verloren, dann kann das nicht ohne ungünstige Rückwirkung auf die Nachweise bleiben. Die städtischen Verwaltungen und die sonstigen Trä­ ger der öffentlichen Nachweise sollten es sich also reiflich überlegen, ehe sie mit derartigen Zumutungen an die beteiligten Arbeiter herantreten; die bis­ lang gemachten Fortschritte auf diesem Gebiet, die ruhige, normale Ent­ wickelung würden gestört werden. Im übrigen darf man überzeugt sein, daß die Gewerkschaften durch ihre Beschlüsse das Zweckdienlichste treffen werden; den Entscheidungen des Kongresses möchte ich nicht vorgreifen. Die sonstigen Forderungen, die von der organisierten Arbeiterschaft an die kommunalen gemeinnützigen Arbeits­ nachweise gestellt werden, sind in den Resolutionen des Hamburger und des Frankfurter Gewerkschaftskongresses niedergelegt; weitgehende Änderungen an diesen Grundsätzen dürften kaum zu erwartensein. Mit der Frage des Arbeitsnachweises steht, wie gesagt, die Arbeitslosenfrage in unmittelbarem Zusammenhang. Wer auch der Träger einer Arbeitsvermitt­ lung sei, es wird an ihn - abgesehen natürlich von den gewerbsmäßigen Stellen­ vermittlern - immer die Frage herantreten: Was wird aus denjenigen, die sich um Arbeit bemühen, denen solche aber nicht zugewiesen werden kann? Je nach dem Charakter des betreffenden Instituts wird das Verantwortungsgefühl geringer oder größer sein. Die Armenpflege ist ein unzulängliches Surrogat, das um so mehr versagt, je zahlreicher die Massen der Arbeitslosen werden, und je mehr das Selbstbewußtsein in der Arbeiterklasse wächst. Mit dem Empfangvon Armenunterstützung ist in Deutschland bekanntlich der Verlust politischer Rechte verknüpft. Das Problem der Arbeitslosigkeit und der 1911 Juni 15 231

Arbeitslosenunterstützung wird seit Jahren studiert; über ErwiJgungen ist man bisher in Deutschland kaum hinausgekommen. Nur in einigen wenigen Kommunen sind bescheidene Ansätze von Unterstützungskassen vorhanden.1 In umfänglicherem Maß haben bis jetzt nur die Arbeiter selbst, vor allem die freien Gewerkschaften, sich der Sorge um ihre arbeitslosen Mitglieder hinge­ geben. Hatten diese doch von 1891 bis Ende 1909 insgesamt die Summe von 44½ Millionen Mark allein für Arbeitslosen- und Reiseunterstützung ausge­ geben. So achtungsgebietend diese Summe auch ist, so genügt sie natürlich keines­ wegs, das Elend der Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Bleibt doch gerade die große Masse der unorganisierten Arbeiter hiervonausgeschlossen. Es muß aber auch prinzipiell gefordert werden, daß für die Folgen unver­ schuldeter Erwerbslosigkeit nicht der Arbeiter, sondern die Gesellschaft (Staat und Kommune) aufzukommen hat. Zweifellos ist die beste Hilfe, die man der Arbeiterklasse zuteil werden lassen kann, die Verhütung der Arbeitslosigkeit, in zweiter Linie die möglichst schnelle Beschaffung neuer Arbeitsgelegenheit. Auch hier hat die Arbeiterklasse selbst getan, was ihr nur möglich war: durch das Streben nach Verkürzung der Arbeitszeit und dadurch, daß ihre Vertreter in den Parlamenten dafüreingetreten sind, daß Notstands­ arbeiten und überhaupt, daß Kulturarbeiten in Angriff genommen wurden. Die Beschaffung neuer Arbeitsgelegenheit wäre Aufgabe der kommunalen Arbeitsämter, wie sie von der Sozialdemokratischen Partei im Reichstag schon durch den bekannten Arbeiterschutzgesetzentwurf von 1885 - 1886 gefordert wurden. Durch ein über das ganze Reich verbreitetes enges Netz von solchen Arbeitsämtern wäre die Möglichkeit gegeben, einen Ausgleich auf dem Arbeitsmarktschnellstens herbeizuführen. Gänzlich ist jedoch die Arbeitslosigkeit innerhalb unserer Wirtschaftsord­ nung nicht zu beseitigen. Der Winter bringt regelmäßig für eine Reihe von Berufen Beschäftigungslosigkeit mit sich. So auch die immer zahlreicher wer­ denden Berufemit einer flottenund einer flauenSaison. Dazu die allgemeinen Wirtschaftskrisen. Diese auch nach bürgerlichen Begriffen unverschuldete Arbeitslosigkeit trifft die Arbeiterklasse ungemein hart und hat so schwere Schäden wirtschaftlicher und sozialer Natur auch für die Allgemeinheit im Gefolge, daß diese nicht umhin kann, helfend einzugreifen. Ist dies richtig, so darf man den Opfern bestimmter gesellschaftlicher Zustände diese Sorge nicht allein überlassen: Arbeitgebern, Gemeinde, Staat und Reich erwächst die Beitragspflicht. In Deutschland fehlt es zunächst noch an einem Gesetz, das diese Verpflichtungbindend machte. Von den Versuchen, die bisher im Ausland wie in Deutschland auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung gemacht worden sind, hat sich einzig und l Vgl. Nr. 95. 232 Nr.62 allein das in der Zeitschrift des öfteren behandelte Genter System bewährt. Dieses System- zuerst in der belgischen Stadt Gent durchgeführt - beruht be­ kanntlich auf öffentlichenBeihilfen zur Arbeitslosenunterstützung der Berufs­ organisationen der Arbeiter. In Deutschland ist es in Straßburg und in Schö­ neberg eingeführt. Reich und Unternehmer sehen in dieser Einrichtung fälschlicherweise eine Unterstützung der sozialdemokratischen Gewerkschaf­ ten. Zu Unrecht, denn es hat sich erwiesen - unter anderem auch in Straß­ burg-, daß die Gewerkschaften, die die Arbeitslosenunterstützung eingeführt haben, und deren Mitglieder im Fall der Arbeitslosigkeit demzufolge aus städtischen Mitteln einen bestimmten Zuschuß erhalten, darum durchaus nicht mehr an Mitgliedern zunehmen. Die Zunahme der Mitglieder in den Gewerkschaften beruht auf ganz anderen Faktoren; sie ist immer besonders groß bei Lohnbewegungen, und nicht bei großer Erwerbslosigkeit. Auch dort, wo das Genter System eingeführt ist, wurden dieselben Beobachtungen gemacht. Dann ist dagegen ins Feld geführt worden, daß bei dieser Methode die Unorganisierten nicht miteinbezogen würden. Das ist richtig. Vom gewerk­ schaftlichen Standpunkt aus liegt keine Veranlassung vor, sich besonders für diese egoistischen, des Solidaritätsgefühls ermangelnden Elemente zu erwär­ men. Jedoch Staat und Gemeinde haben es ja in der Hand, in anderer Weise auch für diese zu sorgen, in dem sie kommunale Arbeitslosenkassen für Unor­ ganisierte einrichten. Günstige Erfahrungen sind bisher mit derartigen Kas­ sen, weder wenn sie freiwillig, noch wenn sie obligatorisch waren, allerdings noch nicht gemacht worden. Die gewerkschaftliche Arbeitslosenversicherung hingegen hat sich bisher am besten bewährt und ist noch sehr entwicklungsfähig. Auch die nicht geringen Schwierigkeiten der Kontrolle werden hier am besten überwunden. Vom Reich ist vorläufigkaum ein Zuschuß zu erwarten. Zunächst werden also die Kommunen einzuspringen haben. Aber die Gesetzgebung sollte wenigstens füreine einheitliche Regelung Sorge tragen. Heute führt jede Stadt ein von den anderen abweichendes System ein. Und da das Ziel sein muß: einheitliche Regelung und Organisierung der Arbeitslosenversicherung über das ganze Reich und durch das Reich, so sollte beizeiten für Einheitlichkeit gesorgt werden. 1911 Juni 15 233

Nr.63

1911 Juni 15

Sozialistische Monatshefte, Nr. 12 Strafrecht gegen Koalitionsrecht Wolfgang Heine1

[Gefährdung des Koalitionsrechts der Arbeiterschaft durch die Rechtspre­ chung und die Neuregelung des Strafrechts]

Es ist sehr zeitgemäß, daß der Gewerkschaftskongreß den Vorentwurfeines neuen Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich und sein Verhältnis zum Koalitionsrecht der Arbeiter auf seine Tagesordnung gesetzt hat. Die Erneue­ rung des deutschen Strafrechts ist eine dringende Notwendigkeit, worüber Juristen und Laien aller politischen Richtungen ziemlich übereinstimmen. Aber es ist das besondere Unglück der preußisch-deutschen Politik, daß jeder Fortschritt mit Verschlechterungen aufgewogenwerden soll, daß die regieren­ den Kasten jedes Zugeständnis an den Geist der Neuzeit um den Preis neuer Verstärkungen ihrer Machtmittel und neuer Unterdrückungen des Volkes abgekauft haben wollen. Besonders soll die Arbeiterklasse, sowie man ihr den größten Teil aller neuen drückenden Steuern aufhalst, auch bei solchen Gele­ genheiten die Kosten tragen. Was wir bei der Reichsversicherungsordnung erlebt haben, das könnte sich beim Strafgesetzbuchwiederholen. Wer die poli­ tischen Verhältnisse Deutschlands kennt, der kann durch die Versuche, das große Werk der neuen Kodifikation des Strafrechts für volksfeindliche Machenschaften auszunutzen, nicht überrascht sein. Schon ein Jahr vor der Veröffentlichung des Vorentwurfs berichteten Zeitungen, daß höfische Kreise bei dieser Gelegenheit die alte Umsturzvorlage von 1894 wieder aufwärmen wollten. Und in der Tat enthalten die politischen Bestimmungen des Vorent­ wurfs geradezu ungeheuerliche Vorschläge zur Knebelung der öffentlichen Meinung und der politischen Freiheit, die zum Teil noch weit über das selige Umsturzgesetz hinausgehen. Kaum war der Vorentwurf bekannt gemacht, da verlangte die Scharfrnacherpresse, voran die Post, daß das neu zuschaffende Strafrecht die "Grenzen des Koalitionsrechts auf ihren berechtigten Umfang zurückführen "müsse, und daß" die Auswüchse "des Rechts zur Arbeitsnieder­ legung" nicht mehr geduldet werden sollten". Auch müßten im Zusammen­ hang damit stärkere Schutzmaßregeln für die Arbeitswilligen und überhaupt ein stärkerer persönlicher Schutz bei Arbeiterbewegungen geschaffen werden.

1 Wolfgang Heine (1861-1944), Rechtsanwalt und sozialdemokratischerPolitiker. 234 Nr.63

Die persönliche Ehre müßte mit größeren Sicherheitsmaßregeln umgeben werden. Da neuerdings berichtet wird, daß die preußische Regierung auch wieder am Werk ist, Material für eine gesetzgeberische Beschränkung des Koalitionsrechts zu sammeln, muß die Arbeiterklasse recht sehr auf der Hut sein. Der Vorentwurf zum Strafgesetzbuch enthält für die politische Freiheit und damit auch für das Koalitionsrecht schon die eine Gefahr, daß er durchweg allgemeine, jeder begrifflichen Einengung entzogene Ausdrücke bevorzugt, Wendungen wie wide"echtlich, böswillig, ungebührlich, gefiJhrlich und andere sind an der Tagesordnung. Das hängt mit der allgemeinen Tendenz der Juri­ sten zusammen, im angeblichen Interesse einer Verfeinerung der Rechtspre­ chung dem Richter eine möglichst große Freiheit in der Anwendung des Gesetzes auf den einzelnen Fall einzuräumen, sein billiges Ermessen entschei­ den zu lassen. Nun läßt sich gewiß sagen, daß es außerordentlich schwer ist, einen strafrechtlichen Tatbestand so klar mit Worten zu umschreiben, daß nicht Zweifel entstehen und Grenzfälle bleiben, in denen es schließlich mehr oder weniger vom Zufall abhängen kann, ob Verurteilung oder Freisprechung erfolgt. So unangenehm aber dieser Übelstand ist, so scheint doch hier das gewählte Heilmittel schlimmer als die Krankheit zu sein. Zwar behauptet die Begründung zu dem Vorentwurf des Strafgesetzbuchs, die in der Gegenwart in der Öffentlichkeit umgehenden Klagen über mangelndes Vertrauen der Bevölkerung zu den Strafgerichten wären meistens politisch gefärbtund größ­ tenteils unbegründet. Die Bevölkerung habe weder einen triftigen Grund zu einem solchen Mißtrauen, noch hege sie es.2 Man kann aber, wenn man die Verhältnisse wirklich kennt und mit der Stimmung des Volkes vertraut ist, sich kaum einen größeren Widerspruch zur Wahrheit denken als diese Be­ hauptung. In Wirklichkeit ist das Mißtrauen gegen die Justiz so groß, daß es nicht selten sogar übertrieben wird. Die großen Massen der Bevölkerung den­ ken gar nicht daran, von der Justiz einen gerechten Urteilsspruch zu erwarten, sondern fürchtensich vor Parteilichkeit auch in Fällen, wo wirklichkeine Ver­ anlassung dazu vorliegt. Die Arbeiterbewegung hat zu einem Vertrauen in die Rechtsprechung wahrhaftig keinen Grund. Wer es miterlebt hat, wie die Justiz in der Frage der Streikposten vor der Polizei kapituliert und sich selbst jede Prüfung der Berechtigung des polizeilichen Eingreifens so gut wie abgeschnitten hat, wer die kleinlichen und gekünstelten Auslegungen kennt und womöglich am eige­ nen Leib erfahrenhat, durch die das Koalitionsrecht der Arbeiter und die freie Kritik ihren Arbeitgebern gegenüber eingeschränkt werden, wer schließlich die drakonischen Urteile berücksichtigt,die bei jeder wirklich etwas gröberen Ausschreitung verhängt werden, sobald sie mit Lohnkämpfen der Arbeiter

2 Siehe die Einleitung der Begründungzu dem Vorentwurf desStrafgesetzbuchs, pag. XL 1911 Juni 15 235 zusammenhängen, mögen sie von Führern der Bewegung auch noch so sehr abgelehnt worden sein und ganz auf persönliche Leidenschaft oder mangel­ hafte Bildung der Beteiligten zurückgehen, der kann über die Behauptung der Begründung des Vorentwurfs nur die Achseln zucken. Es darf nicht vergessen werden, daß das Reichsgericht in einem vielbesprochenen Urteil von dem Koalitionsrecht der Arbeiter, das im § 152 der Gewerbeordnung festgestellt ist, nichts anderes zu sagen weiß, als daß es ein "strafrechtliches Privilegium" wäre; keine Spur von Verständnis dafür, wie dieses Recht aus dem Wesen der politischen Freiheit, der Versammlung und Vereinigung überhaupt folgt, und welche Bedeutung es fürdie Arbeiterklasseals Grundlage jeden Strebens nach Besserung ihrer Verhältnisse besitzt. Und nicht selten findetman in richterli­ chen Urteilen die Bemerkung, daß Ausschreitungen bei Arbeitseinstellung härter beurteilt werden müssen als andere; auch hier nicht das geringste Ver­ ständnis dafür, daß der mit persönlichen Opfern geführte Kampf für eine gemeinsame Sache, für eine der Kultur der gesamten Arbeiterschaft dienende Bestrebung etwaige in der Aufregung vorgefallene Exzesseentschuldigen und milder beurteilen lassen müßte als die alltäglichen, lediglich aus persönlicher Gehässigkeit erwachsenen Brutalitäten. Selbstverständlich erst recht nicht die Einsicht, daß das formaleRecht des Streikbrechers zu arbeiten nicht über sein moralisches Unrecht hinwegtäuschen darf und daß gerade die Empörung über dies staatlich geschützte und in die Form äußerlichen Rechtes gekleidete Un­ recht oft die Entrüstung hervorruft,die sich in Exzessen entlädt. Die Arbeiter­ klasse kann also das Grundprinzip des Vorentwurfs,dem richterlichen Ermes­ sen möglichst Freiheit einzuräumen, wie die Verhältnisse in Deutschland jetzt liegen, nicht als einen Fortschritt ansehen; sie muß befürchten, daß damit die Handhabe zu weiteren Unterdrückungen gegeben sein würde. Im Zusammenhang dieses Aufsatzes sollen nun im wesentlichen nur die Teile des Vorentwurfs erörtert werden, die auf das Koalitionsrecht speziell Bezug haben oder einwirken können. Der Vorentwurf hat davon abgesehen, die sogenannten strafrechtlichen Nebengesetze in das allgemeine Gesetz hinein­ zuarbeiten. Das ist an sich ein großer Mangel und beweist wenig Zutrauen in die gesetzgeberische Kraftder gegenwärtig maßgebenden politischen Kreise. Zu den von dem Vorentwurf unberührt gelassenen Gebieten gehört das des gewerblichen Arbeitsverhältnisses als solchen, besonders die Bestimmung der §§ 152 und 153 der Reichsgewerbeordnung.3 Das bedeutet zunächst, daß an diesen Paragraphen nichts gebessert werden soll, während man doch von einem neuen umfassenden Strafrechtswerk verlangen müßte, daß es die offen­ baren Unbilligkeiten des bisherigen Rechts zu beseitigen suchte. Die Unge­ rechtigkeit liegt hier darin, daß der geringste Zwang zur Koalition durch ein

3 Siehe die Begriindungzu dem Vorentwurfdes Strafgesetzbuches, pag. 672. Auch an dieserStelle ist auf die Möglichkeit einer neuen Sondergesetzgebunghingewiesen. 236 Nr.63

Ausnahmegesetz verfolgt wird, daß Handlungen für strafbar erklärt werden, wenn sie dem Koalitionsrecht dienen sollen, die unter anderen Umständen überhaupt frei sein würden, daß aber andererseits auch der brutalste Zwang straffrei bleibt, wenn er die Arbeiter an der Ausübung ihres Koalitionsrechts hindern will. Das wenigstens müßte man verlangen, daß in dieser Beziehung Licht und Schatten gleich verteilt würden. Diesum so mehr als die übermäch­ tigen Arbeitgeberkoalitionen gerade jetzt damit prahlen, einen ungeheuren Geldschatz anzusammeln, der lediglich der Vernichtung der Arbeiterkoalitio­ nen dienen soll, und als sie gerade in den letzten Jahren mehrfach in rück­ sichtslosester Weise das wirtschaftliche Leben der ganzen Nation durch allge­ meine Aussperrung von Arbeitern schwer geschädigt haben, ohne einen andern Grund als um die Arbeitervereine zu erdrosseln. Aber, wie gesagt, der Vorentwurf denkt nicht an eine solche Erweiterung des Gesetzes; er will alles beim alten lassen. Und fast möchte man einen solchen Verzicht für besser hal­ ten als unzulängliche gesetzgeberische Versuche, die doch wiederum die Reak­ tion fördern würden. Die Professoren Kahl, von Liszt, von Lilienthal und Goldschmidt haben einen Gegenentwurf zum Vorentwurf aufgestellt, worin sie unter Verzicht auf die bisherigen akademischen Streitigkeiten über die Grundlage des Strafrechts den Versuch machen wollen, die Mängel zu beseitigen, die dem Vorentwurf anhaften.4 Namentlich wollen sie die vom Vorentwurf unberücksichtigt gelas­ senen Nebengesetzein ihn hineinarbeiten. Es ist hier nicht der Platz, über die­ sen Gegenentwurf im allgemeinen zu sprechen; die Namen eines Teiles der Verfasser bürgen dafür, daß eine Unterstützung volksfeindlicher Machen­ schaftennicht beabsichtigtsein wird. Dennoch kann man nicht behaupten, daß der Versuch des Gegenentwurfs, den Vorentwurf zu verbessern, gerade hin­ sichtlich des Koalitionsrechts geglückt wäre. Der § 278 des Gegenentwurfs lau­ tet: "Koalitionszwang: Wer auch ohne die im § 277 bezeichnete Absicht einen andern durch Gewalt oder Drohung, durch Beleidigung oder Verrufserk.lärung nötigt oder zwingt, an Vereinbarungen teilzunehmen oder ihnen Folge zu lei­ sten, deren Ziel die Herbeiführung einer Änderung des Arbeitsvertrags ist, wird mit Gefängnis bis zu l Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 5000 Mark be­ straft." Die im § 277 bezeichnete Absicht ist die Absicht, "einen dem Recht zuwi­ derlaufenden Erfolg" herbeizuführen. Damit wird also der Koalitionszwang aus dem allgemeinen Gebiet der Nötigung herausgehoben; in anderen Fällen soll die Nötigung nur strafbar sein, wenn ihr Zweck "dem Recht zuwiderläuft", der Koalitionszwang aber soll unter allen Umständen bestraft werden, das heißt, er wird immer als eine dem Recht zuwiderlaufende Handlung angese-

4 Siehe Kahl, von Liszt, von Lilienthal, Goldschmidt: Gegenentwurf zum Vorentwurf eines Strafgesetzbuchs/Berlin 1911/. 1911 Juni 15 '237

hen. Schon dadurch charakterisiert sich auch der § 278 des Gegenentwurfs als ein Ausnahmegesetz, das freilich der Form nach nicht lediglich gegen Arbeiter gerichtet ist. Dasselbe ist aber bei § 153 der Gewerbeordnung der Fall, und doch weiß man nur zu gut, daß der Paragraph gegen Arbeitgeber nur auf dem Papier steht und so gut wie ausschließlich gegen Arbeiter angewandt wird. Neu ist an dem Vorschlag des Gegenentwurfs, daß er auch die Behinderung der Ausübung des Koalitionsrechts treffen will. Da die Arbeiter nicht das Koalitionsrecht der Arbeitgeber, wohl aber regelmäßig die Arbeitgeber das Koalitionsrecht der Arbeiter illusorisch zu machen suchen, so könnte man darin einen Fortschritt sehen. Nur ist zu befürchten, daß auch er lediglich auf dem Papier stehen bleiben wird. Ja, es ist keineswegs ausgeschlossen, daß auch die Erweiterung wieder in erster Reihe gegen Arbeiter angewandt würde. Man könnte den Streik um Forderungen, deren Bewilligung der Arbeitgeber­ verband untersagt hat, die also der einzelne Unternehmer nur unter Austritt aus dem Verband bewilligen dürfte, als einen Versuch gewaltsamer Behin­ derung des Koalitionsrechts der Unternehmer auslegen. Wenn man sich erin­ nert, welche Mühe es gekostet hat, die Breslauer Staatsanwaltschaft zur Anklage gegen die Unternehmer der Metallindustrie zu bewegen, die ganz dasselbe getan hatten, weshalb wenige Wochen vorher der Bevollmächtigte des Metallarbeiterverbands auf Betreiben derselben Staatsanwaltschaft verurteilt worden war, und wie dann die Sache noch so eingefädelt wurde, daß die angeklagten Arbeitgeber freigesprochen wurden, während der Arbeiter seine Gefängnisstrafe absitzen mußte, der wird keine besondere Hoffnung haben, daß die Staatsanwaltschaft sich hochmögenden Arbeitgebern gegenüber gerade des bedrängten Koalitionsrechts der Arbeiter annehmen dürfte, und muß jede den Arbeitern schädliche Anwendung des Gesetzes für möglich halten. Das Bedenklichste an diesem Vorschlag des Gegenentwurfs ist aber dies: Man erinnert sich, wie in den letzten Jahren die Rechtsprechung, einem Reichsgerichtsurteil folgend, dazu überging, Arbeiter aus § 153 der Gewerbe­ ordnung anzuklagen, weil sie von Arbeitgebern die Unterwerfung unter Lohnforderungen, Tarifverträge oder dergleichen verlangt hatten. Diese Judi­ katur stützte sich auf die Worte andere und Folge leisten im § 153 der Gewer­ beordnung. Erst nach Aufdeckung der himmelschreienden Imparität, zu der gerade in dem Breslauer Fall diese neue Auslegung geführt hatte, und nach ausführlicher Erörterung dieser Vorgänge im Reichstag bequemte sich das Reichsgericht zu einem Rückzug. Es erkannte an, daß, wenigstens in den re­ gelmäßigen Fällen, der § 153 der Gewerbeordnung nur den Koalitionszwang des Arbeiters gegen den Arbeiter oder des Arbeitgebers gegen den Arbeitge­ ber beträfe, daß aber die Drohung eines Streiks durch den Arbeiter dem Arbeitgebergegenüber nicht unter diese Form fiele. 238 Nr.63

Dies wäre eigentlich für jeden denkenden Menschen selbstverständlich ge­ wesen, weil andernfalls die in § 152 der Gewerbeordnung gegebene Koali­ tionsfreiheit in § 153 wieder aufgehoben und unter Strafe gestellt worden wäre. Trotzdem waren, wie man gesehen hat, entgegengesetzte Urteile auch des höchsten Gerichtshofs möglich gewesen, und man mußte ihre Unzulässig­ keit aus der Geschichte des § 153 umständlich nachweisen. Der Gegenentwurf der vier Professorenwählt nun wieder die allgemeine, nicht glückliche Fassung andere und Folge leisten. Da er aber unzweifelhaft, wie die Hineinziehung der Behinderung des Koalitionsrechts beweist, auch Handlungen von Arbeitgebern gegen Arbeiter treffen will, so muß daraus gefolgert werden, daß auch die Handlungen von Arbeitern gegen Arbeitgeber unter die Strafandrohung fal­ len. Damit wäre die ganze Errungenschaft einer Besserung der Judikatur, einer Sicherung des Koalitionsrechts wieder beseitigt, ja, die Sache stände noch schlimmer, als wenn die falsche Auslegung des Reichsgerichts Geltung behalten hätte. Jede Drohung, also auch die Drohung mit Streik, dessen Ziel die Herbeiführung einer Änderung des Arbeitsvertrages wäre, würde strafbar sein, zumal ausdrücklich bestimmt ist, daß der beabsichtigte Erfolg durchaus nicht dem Recht zuwiderzulaufen braucht. Bis jetzt liegt die Begründung zu diesem Teil des Gegenentwurfs noch nicht vor. Man kann also nicht sicher sagen, was seine Verfasser sich bei dieser Bestimmung vorgestellt haben. Es ist eigentlich kaum anzunehmen, daß sie derartige Konsequenzen beabsichtigt haben sollten. Die Justiz aber würde sie sicherlich aus dieser Bestimmung ab­ leiten, ja bei dem Wortlaut des Gegenentwurfsdies tun müssen. Deshalb muß die Arbeiterklasse eine solche Verbesserung höflich, aber entschieden ableh­ nen. Beiläufig sei bemerkt, daß zu einer Erweiterung des Strafrahmens von 3 Monaten auf 1 Jahr Gefängnis wirklich keine Veranlassung vorliegt. Die un­ geheuerliche Geldstrafe bis zu 5000 Mark wäre wie dazu geschaffen, die Kassen der Gewerkschaften auszuplündern, die nicht umhin können würden, den unglücklichen Opfernsolcher Gesetzgebung mit Darlehen auszuhelfen. Der Koalitionszwang ist ein Spezialfall der Nötigung, als der er auch im Gegenentwurf behandelt ist. § 240 des Strafgesetzbuchs bestraft wegen Nöti­ gung denjenigen, der einen andern widerrechtlich durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen zu einer Handlung, Dul­ dung oder Unterlassung nötigt. Die Strafe ist Gefängnis bis zu 1 Jahr oder Geldstrafe bis zu 600 Mark. Zahllos sind die Fälle, in denen bei Gelegenheit von Streiks Verurteilungen aus § 240 des Strafgesetzbuchs erfolgen. § 153 der Gewerbeordnung kann eigentlich nur bei den harmlosesten Drohungen An­ wendung finden. Sobald einmal eine der dem Volksmund nicht allzu ungeläu­ figen Redensarten, die oft nur scherzhaft gemeint werden, wie die Einladung, die Knochen im Schnupftuchzu sammeln, oder dergleichen fällt,wird die Be­ drohung mit einem Verbrechen oder mindestens einem Vergehen angenom- 1911 Juni 15 239 men und wegen Nötigung verurteilt. Dies ist nicht immer zum Nachteil der Angeklagten, da § 240 auch Geldstrafe zuläßt, die ausgeschlossen ist, wenn nur ein Delikt gegen § 153 der Gewerbeordnungvorliegt. Der Vorentwurf(§ 240) versucht diese Bestimmung zu erweitern. Nicht nur die Drohung mit einem Verbrechen oder Vergehen, sondern jede Drohung soll, wenn sie in rechtswidrigerAbsicht einen andern zu einer Handlung, Dul­ dung oder Unterlassung nötigen will, strafbar sein. Dabei soll die Freiheits­ strafe im Maximum bis zu 2 Jahren, die Geldstrafebis 3000 Mark erhöht wer­ den. Zunächst liegt für diese Straferhöhung nicht der geringste Grund vor, denn bei weitem der größte Teil aller verhängten Strafen bewegt sich gegen­ wärtig im Rahmen bis zu 3 Monaten. Man versteht überhaupt nicht, daß der Vorentwurf in einer Zeit, wo die Gerichte die höheren Strafandrohungen praktisch schon außer Anwendung gesetzt haben und wo die öffentliche Mei­ nung vielfach die verhängten Strafen noch immer als zu hoch ansieht, sich die Mühe macht, die Maximalstrafen fast durchweg zu erhöhen. Darin zeigt sich offenbar die zunehmende Neigung zu grob materiellen Gewaltmitteln, die als Folge eines mißverstandenen Materialismus sich gerade in den höheren Gesellschaftskreisen breitmacht - glücklicherweiseim allgemeinen mehr theo­ retisch - und die in auffälligemWiderspruch zu der sonstigen Verfeinerungdes allgemeinen Lebens und Denkens steht. Noch weiter als § 240 des Vor­ entwurfs geht der Gegenentwurfder vier Professoren,der nur bei mildernden Umständen Geldstrafe zulassen will, die aber im höchsten Fall sogar 10 000 Mark betragen soll. Für das Koalitionsrecht liegt nun die Gefahr nicht nur in dieser kolossalen Erhöhung der Strafmaxima sondern vor allem in der Erweiterungder Begriffs­ bestimmung auf jede Drohung, auch auf solche mit durchaus berechtigten Handlungen. Die Ankündigung eines Streiks oder einer Sperre ist im Sinne dieses Gesetzes eine Drohung: Nun soll die Strafe allerdings nur eintreten, wenn die Absicht rechtswidrig ist; wann dies aber der Fall ist, das unterliegt wieder dem richterlichen Ermessen. Wir wissen aus der bisherigen Rechtspre­ chung über Erpressung und Betrug, daß die Juristen als rechtswidrig das Erstreben eines jeden Vorteils ansehen, auf den man noch keinen Rechts­ anspruch besitzt. Aus diesem Grund sind Arbeiter wegen Erpressung verur­ teilt worden, weil sie unter Androhung des Streiks fürihre Kollegen oder sich eine durchaus angemessene Lohnerhöhung gefordert haben. Nichts liegt näher, als daß dieselbe Auslegung auch bei der Nötigungsbestimmung des Vorentwurfs angewandt wird; zumal die erwähnteDefinition des Rechtswidri­ gen auch bei der Abänderung der Bestimmungen über Erpressungnicht fallen gelassen ist. Dann könnte also jede Ausübung des Koalitionsrechts zum Zweck der Erlangung höherer Löhne oder vorteilhafterer Arbeitsbedingun­ gen, kurz jedesStreben zur Besserungder Lageüber das bereits vertragsmäßig 240 Nr.63

Garantierte mindestens als Nötigung bestraft werden. Damit wäre wiederum die Ausübung desKoalitionsrechts unter Strafe gestellt. Auf diese Art würde dann auch die ganzeVerbesserung illusorisch, wodurch die Gesetzgebungdem Mißbrauch der Bestimmungüber Erpressungentgegentreten will. Die Lahmlegung des Koalitionsrechts durch Erpressungsprozesse und die Verurteilung ehrenhafter Arbeiter auf Grund einer gesetzlichen Bestimmung, die nach der allgemeinen Auffassungeines der ehrlosesten Delikte bezeichnet, war immer mehr zu einem öffentlichen Skandal geworden. Ich darf diese Rechtsprechung hier wohl als bekannt voraussetzen: Sie beruht, wie schon vorhin erwähnt, darauf, daß jede Drohung, auch die mit gesetzlich erlaubten Handlungen, zum Beispiel Arbeitsniederlegung, Sperre usw., als Erpressung angesehen werden kann, und daß die Justiz als rechtswidrig jeden Vermögens­ vorteil betrachtet, auf den nicht bereits ein vertragsmäßiges Recht besteht. Das Reichsgericht erwiessich unfähig,von seiner einmal vorgefaßtenMeinung abzugehen, und deshalbentschloß das Reichsjustizamtsich zu einer Änderung desGesetzes. Diese ist in der sogenannten kleinen Strafgesetznovelle vom Jahr 1908enthalten, die nach dem Schluß des Reichstags im Jahr 1909 von neuen eingebracht wurde und noch in der Herbsttagung 1911 erledigt werden soll.5 Während es bisher als Erpressung bestraft wurde, wenn jemand in der Ab­ sicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu ver­ schaffen, einen andern zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigte, will die kleine Strafgesetznovelle die Verurteilung außerdem davon abhängig machen, daß das Vermögen eines andern beschädigt ist. Der Fort­ schritt gegen die bisherige Gesetzgebung soll darin liegen, daß die Bestrafung ausgeschlossen ist, wo kein Vermögensschaden eintritt. Hierbei ist gerade an die Fälle gedacht, die häufig zur Verurteilung der Gewerkschaftsbeamten geführt haben. Wenn sich organisierte Arbeiter weigerten, mit nicht organi­ sierten zusammenzuarbeiten, nahm die Rechtsprechung an, daß dies geschähe, um die Nichtorganisierten zum Anschluß an die Organisation zu bewegen und dadurch der Organisation den Vermögensvorteil der Beitragsleistungen der neu Beitretenden zuzuwenden. Auf diesen Gedanken war anläßlich eines Spe­ zialfallsdas Reichsgericht gekommen, und der preußische Justizminister hatte sich beeilt, seinen ihm untergeordneten Staatsanwälten die Erhebung solcher Anklagen dringend ans Herz zu legen. Diese ganze Auslegung beruht an sich schon auf einer abstrusen Auffassung. Jeder Arbeiter weiß, was die gelehrten Herren nicht eingesehen haben, daß es in solchen Fällen den Arbeitern meist gar nicht darauf ankommt, die Nichtorganisierten - oft recht minderwertige Elemente - für ihre Organisation zu werben, noch weniger dieser den lächer­ lich geringen Gewinn der einzelnen Beiträge zuzuführen, sondern daß Motiv

5 Siehe den Bericht der 7. Kommission des Reichstags (Reichstagsdrucksache 392 der 2. Session 1909-1911). 1911 Juni 15 241

und Absicht auf dem Gebiet des Ehrgefühlsliegen. Der Arbeiter empfindetes als Ehrensache, mit Nichtorganisierten nichts zu tun zu haben, was bei den unvermeidlichen engen Berührungen, in die Arbeiter auf demselben Arbeits­ platz miteinander kommen müssen, auch durchaus begreiflich ist. Aber abge­ sehen hiervon leidet diese Auslegung an dem weitem Mangel, daß sie die Gegenleistungen nicht berücksichtigt, die durch den Beitritt zur Organisation gewonnen werden. Von einem Vermögensvorteil der Organisation kann man kaum reden, da unter Umständen die Leistungen, die sie übernimmt, wesent­ lich größer sind, als durch die Beiträge gerade der betreffendeneinzelnen Per­ sonen je gedeckt werden könnte. Gerade dies aber wollte die Rechtsprechung nicht berücksichtigen; entweder sagte sie, es käme auf die Gegenleistungen überhaupt nicht an, oder sie redete sich damit heraus, daß die Vorteile, die der Arbeiter durch den Beitritt zur Organisation gewönne, in der Zukunft lägen und ungewiß wären, während die Bereicherung der Organisation durch seine Beiträge einen unmittelbaren Vorteil darstellte. Hier will die kleine Strafgesetznovelle einsetzen: Durch das Erfordernis der Vermögensbeschädigung soll zum Ausdruck gebracht werden, daß keine Erpressung vorliegt, wenn dem durch Bedrohung erlangten Vermögensvorteil gleichwertige Gegenleistungen gegenüberstehen. Ich habe an anderer Stelle nachgewiesen, daß dieser Erfolgnicht absolut sicher ist.6 Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß die Rechtsprechung nach wie vor erklärt, eine Vermö­ gensbeschädigung läge auch dann vor, wenn den unmittelbar in der Gegenwart zu leistenden Beiträgen nur die Aussicht auf zukünftige, von unbekannten Voraussetzungen abhängige Gegenleistungen gegenüberstünde. Indessen mag bei der Bestimmtheit, mit der die Motive der kleinen Strafgesetznovelle sich aussprechen, die Hoffnung erlaubt sein, daß hier eine wirkliche Besserung zugunsten der Arbeiterbewegung erzielt wird. Fraglicher ist noch, ob die Novelle auch die Erpressungsprozesse beseitigen wird, die wegen der Forde­ rung nach Erhöhung der Löhne angestrengt worden sind und die nicht selten mit Verurteilung geendet haben. Wenn die Arbeiterorganisation von einem Arbeitgeberunter Androhung des Streiks die Erhöhung der Löhne verlangt, so ist trotz des Gegenwerts in der Arbeitsleistung die Annahme einer Vermö­ gensbeschädigung nicht völlig ausgeschlossen. Einmal - und darauf weist die Begründung der Novelle selbst hin -, wenn der Richter die Lohnerhöhung als unangemessen ansieht; angesichts des Mangels an Verständnis der technischen Prozesse und der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft bei vielen Richtern eine sehr bedenkliche Aussicht. Aber selbst wenn der geforderte Lohn als angemessen anerkannt wird, bleibt die Möglichkeit, daß er für den Arbeitgeber eine Vermögensbeschädigung bedeutet. Es kann oft eintreten, daß der Arbeit-

6 Siehe meinen Artikel:Das Verhältnis der Strafgesetznovellezum gewerblichen Koalitionswesen in der Zeitschriftfür die gesamteStrafrechtswissenschaft, 1909, pag. 656 ff. 242 Nr.63 geber nicht in der Lage ist, den Mehrbetrag an Löhnen durch Erhöhung der Preise auf seine Ware wieder einzubringen, zum Beispiel wenn er selbst durch Verträge mit den Kunden oder durch Preiskonventionen gebunden ist. Eine volle Sicherheit gewährt also die Novelle dem Koalitionsrecht auch noch nicht. Der Vorentwurf zum Strafgesetzbuch will nun die Erpressungsbestimmung noch etwas anders fassen als die kleine Novelle. Er definiertdie Erpressung als die Abnötigung eines Vermögensvorteils durch Gewalt oder Drohung, in der Absicht, sich oder einem Dritten unrechtmäßigen Gewinn zu verschaffen. Im allgemeinen fälltdies mit der Begriffsbestimmung der Novelle zusammen, und die Bedenken, die gegen diese gelten, treffen auch hier zu. Immer noch würde es im wesentlichen dem Ermessen des Gerichts überlassen bleiben, ob es den Gewinn, der beispielsweise den Arbeitern durch Lohnerhöhung oder der Organisation durch Beitritt neuer Mitglieder zufällt, als unrechtmäßig anse­ hen will. Bleibt die Rechtsprechung dabei, daß jeder Gewinn, auf den ein Rechtsanspruch noch nicht besteht, unrechtmäßig sei, dann wird diese Frage in den meisten Fällen bejaht werden. Auch daß die Drohung mit erlaubten Handlungen, zum Beispiel der Arbeitseinstellung, Grundlage der Erpressung sein kann, bleibt unverändert. Ob das, was dem Bedrohten abgenötigt worden ist, ein Vermögensvorteil für den andern oder Dritten war, kann wiederum in hohem Maß von richterlicher Willkür abhängen. Einen Fortschritt bedeutet lediglich das Wort "abnötigen". Der Sinn dieser Verbesserung zeigt sich, wenn man sich folgenden Fall vergegenwärtigt: Die Arbeiter erklären, sie würden die Arbeit niederlegen (Drohung), wenn der Arbeitgeber nicht die Nichtorganisierten entließe (Vermögensbeschädigung der Nichtorganisierten) und Organisierte einstelle (Vermögensvorteil der Organisierten, der rechtswidrigwäre, weil sie keinen Anspruch daraufhaben). Nach dem geltenden Recht wäre das Erpressung; ebenso nach der kleinen Strafgesetznovelle, denn es ist nach ihr nicht erforderlich, daß der Vermö­ gensnachteil des Geschädigten mit dem Vermögensvorteil des Bereicherten zusammenfällt. Diesaber will der Vorentwurf verlangen, indem er fordert, daß der Vermögensvorteil abgenötigt sei. Im Fall des gewählten Beispiels wird dem Arbeitgeber, von dem die neu eingestellten Organisierten ihren Lohn erhalten, nichts abgenötigt; er hat auch keinen Vermögensschaden, denn ihm kann es gleichgültig sein, ob er den Lohn an Organisierte oder Nichtorgani­ sierte zahlt. Freilich, wenn die Organisierten mehr Lohn erhielten, würden sich wieder die schon vorher erörterten Bedenken einstellen. Aber auch den Nichtorganisierten wird nichts abgenötigt; sie verlieren zwarihren Lohn, aber aus ihrem Vermögen gelangt nichts in das der Organisierten. Wenn also auch anerkannt werden mag, daß die Formulierung der Erpres­ sungsbestimmung im Vorentwurf geeignet ist, gewisse besonders verkehrte 1911 Juni 15 243

Verurteilungen wegen Erpressung bei Ausübung des Koalitionsrechts auszu­ schließen, und noch einen gewissen Fortschritt über die Novelle bedeutet, so bliebe in gewisser Weise das ganz legale Koalitionsrecht doch auch unter dem neuen Strafrecht von Erpressungsanklagen bedr9ht. Übrigens bedeutet der Gegenentwurf der Professoren in dieser Beziehung schon wieder einen Rück­ schritt. Auf alle Fälle würde der Gewinn für die Gerechtigkeit, den die Ein­ schränkung des Erpressungsbegriffsbedeutet, durch die maßlose Ausdehnung des Delikts der Nötigung und, wenn der Gegenentwurf durchdränge, des Koalitionszwangswieder aufgehoben werden, die beide in der Hand einer von Klassenvorurteilen beeinflußten Jusitz so bestimmt zu Waffen gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter werden, wie sie sicherlich den Arbeitgebern nicht wehe tun würden. Wo aber Nötigung und Erpressung versagten, würden die Feinde der Arbei­ terbewegung immer noch zu dem § 241 des Vorentwurfs, zur gefährlichen Bedrohung greifen können. Nach dem bisherigen Strafgesetz ist nur die Bedrohung mit einem Verbrechen strafbar, und zwar mit Gefängnis bis zu 6 Monaten oder Geldstrafe bis zu 300 Mark. Der Vorentwurf will jede "gefährliche Drohung", die einen andern in seinem Frieden stört, mit Gefäng­ nis oder Haft bis zu 1 Jahr oder Geldstrafe bis zu 1000 Mark bestrafen, wäh­ rend der Gegenentwurfder Professorensieb auf die Bestrafungder friedenstö­ renden Androhung von Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen beschränken will. Die Begründung des Vorentwurfs preist es als einen großen Fortschritt an, daß die Bestrafung fortan nur bei der Störung des subjektiven Friedens des Bedrohten eintreten soll. Ich fürchte, daß diese Besserung nur ein Schein ist. Nichts leichter für einen Bedrohten als zu behaupten, er sei in seinem Frieden gestört worden; es gibt ja doch Leute, deren Seelenfriede schon unter dem Bewußtsein leidet, daß auch Arbeiter Rechte beanspruchen wie andere Menschen. In welchem Maß die Rechtsprechung diesem bornierten Parteifanatismus entgegenzukommen geneigt ist, beweisen all die bekannten Urteile wegen groben Unfugs. Ein öffentliches Ärgernis, eine Belästigung des Publikums hat die Rechtsprechung unter anderem gefunden in dem öffentlichen Bekenntnis zu sozialdemokratischen Überzeugungen, in der Aufforderung, Lokale zu meiden, wo Gesinnungsgenossen nicht als gleich­ berechtigt mit anderen behandelt werden, in der Verbreitung von inhaltlich ganz unanfechtbaren Flugblättern, sofern sie der Sache der Arbeiter dienen sollten, in Boykott und Sperren, also unentbehrlichen Formen des gewerk­ schaftlichen Kampfes. Um wieviel leichter ist es, die Störung des subjektiven Friedens einer Einzelperson anzunehmen. Das kostet eine Justiz, die sich an solche Gedankengänge gewöhnthat, nicht mehr als eine ZeileSchreibarbeit. Also mit dieser Einschränkung des Gesetzes wird es nichts sein. Um so wirksamer wird sich die Ausdehnung auf jede Drohung anstatt der bisher er- 244 Nr.63

förderlichenDrohung mit einem Verbrechenzeigen. Denn nunmehr soll auch die Drohung mit ganz erlaubten Handlungen strafbar sein, sofern sie gefähr­ lich ist. Die Begründung hebt hervor, daß der Begriff gefährliche Drohung keineswegs auf die Gefahr gegen die Person beschränkt sei sondern sich auch auf Drohungen erstrecke, die sich gegen andere Rechtsgüter richten. Kann es eine Drohung geben, die dem Spießer gefährlicher erschiene und ihn mehr in seinem Frieden störte als die mit Arbeitseinstellung? Der Streik braucht gar nicht ihm als Gewerbetreibenden angedroht zu sein. Die Drohung eines Streiks der Bäcker wird sicher den Frieden eines jeden Philisters stören. Die Gefahr, daß das Frühstücksbrot ausbleiben könnte, wird sein Gemüt ausrei­ chend erschüttern,um eine Verurteilung zu begründen. Für solche Fälle hat der Vorentwurf aber noch eine weitere Bestimmung in § 134 (Landzwang). Das geltende Strafgesetzbuch sagt in§ 126: "Wer durch Androhung eines gemeingefährlichen Verbrechens den öffentlichen Frieden stört, wird mit Gefängnis bis zu 1 Jahr bestraft." Dagegen will § 134 des Vorentwurfsbestimmen: "Wer durch gemeingefährliche Drohung, insbesondere mit Mord, Raub oder Brand den öffentlichen Frieden stört, wird mit Gefängnis bis zu 2 Jahren bestraft." Der Gegenentwurf wieder will in § 184 die Strafbarkeitauf die Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Gewalttätigkeiten gegen Perso­ nen und Sachen beschränken. Ich bin absolut sicher, daß gerade diese Erweite­ rung in § 134 vornehmlich bestimmt ist das Koalitionsrecht, namentlich grö­ ßere Streiks zu treffen. Mord, Brand und Raub sind nur als Beispiele ange­ führt, aus denen keinesfalls geschlossen werden kann, daß nur an ähnliche Fälle der Drohung gedacht ist. Die Begründung erklärt die jetzige Beschrän­ kung des Gesetzes auf die Androhung gemeingefährlicher Verbrechen für "zu eng" und sagt, es ließen sich Drohungen denken, die ohne den Tatbestand eines bestimmten Verbrechens oder Vergehens in Aussicht zu stellen, doch für die Allgemeinheit höchst beunruhigend sein könnten. Ich zweifle nicht einen Augenblick, daß die Rechtsprechung darunter gerade die Ankündigung großer allgemeiner Streiks, namentlich in Berufszweigen, die das tägliche Bedürfnis des Publikums betreffen, zum Beispiel von Kohlenarbeitern, Bäckern, Milch­ kutschern usw. oder gar des Generalstreiks rechnen würde. Hieraufist die so unscheinbar aussehende Neuerung offenbar zugeschnitten, wenn auch die Begründung sich weislich hütet, dies irgendwie anzudeuten. Die hohe Strafandrohung (Gefängnis ohne Zulassung von Geldstrafe) würde die Mög­ lichkeit geben, die Streikleiter und die den Streik unterstützenden Politiker und Redakteure noch vor Entwicklungder Bewegung zu verhaften. Als Aushilfsmaßregel, als kriminalistisches Mädchen für Alles benutzte die Judikatur bekanntlich längere Zeit den groben Unfug. Beispiele habe ich schon an einer frühem Stelle dieses Aufsatzes gegeben. Schließlich hat die 1911 Juni 15 245

allgemeine Entrüstung über den Mißbrauch diese Praxis etwas eingeschränkt. Nach dem Vorentwurf, der sich als einen großen zeitgemäßen Fortschritt aus­ gibt, soll sie eine fröhliche Auferstehung feiern. Freilich, der ruhestörende Lärm ist als eine besondere Bestimmung ausgeschieden. (Vorentwurf§ 308 Nummer 9). Dagegen heißt es in§ 306Nummer 11: "Wer durch Schlägerei, Erregung von Unordnung oder anderes ungebührliches Verhalten vorsätzlich das Publikum belästigt ... " Die Begründung enthält nicht die geringste Andeutung, was unter der Erre­ gung von Unordnung oder anderrn ungebührlichen Verhalten zu verstehen sein soll. Um so schrankenloser kann sich die Auslegung betätigen. Jede Men­ schenansammlung, auch wenn nicht die Voraussetzungen des Auflaufs vorlie­ gen, kann darunter gebracht werden. Die Streikposten werden ohne Zweifel daran glauben müssen. Alle möglichen Artenvon Agitation, zum Beispiel die Versuche, die Öffentlichkeit für die Unterstützung streikender oder ausge­ sperrter Arbeiter zu interessieren, Saalboykotte, Kundensperre und derglei­ chen können eins- zwei- drei im Handumdrehen als ungebührliches Verhalten und Belästigung des Publikums angesehen werden. In welcher Weise dies schon unter dem geltenden Recht geschehen ist, habe ich bereits erwähnt. Die neue Bestimmung ist aber noch viel gefährlicher. Der Anwendung desjetzigen groben Unfugs waren immerhin gewisse Grenzen durch die Entstehung der Norm aus einem preußischen Strafgesetz gegen den Gassenbubenunfug gezogen. Nach der neuen Kodifikation werden diese Erwägungen kaum mehr eine Rolle spielen. Ohne Zweifel ist § 306 Nummer 11 bestimmt, eine neue Ära der groben Unfugs-Prozesse hervorzurufen, nur daß sie jetzt Belästi­ gungsprozesse heißen werden; während die Strafe früher im Höchstbetrag bis zu 6 Wochen Haft oder 150 Mark Geldstrafe ging, soll jetzt Gefängnis oder Haft bis zu 3 Monaten oder Geldstrafebis zu 300 Mark darauf gesetzt werden. Man sieht, daß die äußere und innere Ruhe des sogenannten ordnungslieben­ den Staatsbürgers, besonders des Lieblings der heutigen Gesetzgebung, des Arbeitswilligen, durch einen drei- bis fünffachen Panzer von Strafgesetzen geschützt werden soll und daß namentlich die Gewerkschaftsbewegung diese Bestimmungen als gegen sich gerichtet ansehen muß. Der Vorentwurf bringt nun noch einige Spezialgesetze, die ausgesproche­ nermaßen gegen die Ausübung des Koalitionsrechts gerichtet sind. Da haben wir die folgenden Paragraphen: "§ 184: Wer vorsätzlich den Betrieb einer dem öffentlichen Verkehr dienenden Eisenbahn oder der Post oder einer zur öffentlichen Versorgung mit Wasser oder Beleuchtung dienenden Anstalt verhindert, wird mit Gefängnis bis zu 3 Jahren oder mit Haft, bei mildernden Umständen mit Geldstrafe bis zu 1000 Mark bestraft. § 185: Wer den Betrieb einer zu öffentlichen Zwecken dienenden Telegra­ phen-, Fernsprech- oder Rohrpostanlage vorsätzlich verhindert oder gefährdet, 246 Nr.63 wird mit Gefängnis bis zu 3 Jahren oder mit Haft oder mit Geldstrafe bis zu 5000 Mark bestraft. Ist die Handlung aus Fahrlässigkeit begangen, so tritt Gefängnis oder Haft bis zu 6 Monaten oder Geldstrafe bis I 000 Mark ein." Die Begründung setzt auseinander, wie wichtig die Regelmäßigkeit der öf­ fentlichen Verkehrseinrichtungen und der Versorgung mit Wasser und Beleuchtung für das öffentliche Wohl sei und daß es deshalb nötig sei, die Verhinderung des Betriebs der Eisenbahnen, Straßenbahnen, der Wasser- und Beleuchtungsanlagen unter Strafe zu stellen, ohne Rücksicht darauf, ob durch die Betriebshinderung eine allgemeine Gefahr für den öffentlichen Verkehr herbeigeführt werde oder nicht. Damit geht der Vorentwurf weit über den Entwurf des Zuchthausgesetzes von 1899 hinaus. Das geplante Zuchthausge­ setz wollte Strafe nur bei Zwangsmaßregeln gegen Mitarbeiter oder Unter­ nehmer eintreten lassen, und es wollte die erhöhte Strafe für derartige Betriebe von einer "Gefährdung der Sicherheit des Reichs" oder "Herbei­ führungeiner allgemeinen Gefahr für Menschenleben oder Eigentum" abhän­ gig machen. Jetzt soll der Streik der Eisenbahner, der Gas-, Elektrizitäts- und Wasserleitungsarbeiter schlechtwegunter Strafe gestellt werden, soferner den "Betrieb verhindert". Dies aber ist schon der Fall, wenn nur ein Teil des Betriebs lahmgelegt wird; es ist durchaus nicht eine vollständige Verhinderung des gesamten Betriebs die Voraussetzung. In der Begründung ist zunächst auf die Sabotage hingewiesen, gegen deren wichtigste Fälle übrigens die §§ 182 und 183 noch besondere Strafandrohun­ gen enthalten. Dies interessiert uns weniger, denn die deutsche Gewerk­ schaftsbewegung greift nicht zu solchen Kampfmitteln. Freilich wäre eine besondere Strafbestimmung angesichts der Bestimmungen gegen qualifizierte Sachbeschädigung überflüssig. Daneben aber weist die Begründung des Vor­ entwurfs ausdrücklich auf die Verhinderung des Betriebs durch Verweigerung der Dienste der Angestellten hin. Hier findet sich nun in der Begründung der Satz: "Stellt der Angestellte den Dienst berechtigterweise, insbesondere unter Beobachtung der vereinbarten oder gesetzlichen Kündigungsfrist ein, so han­ delt er selbstverständlich nicht rechtswidrig, und es findet die Strafbestimmung auf ihn keine Anwendung, wenn sein Vorgehen auch zur Folge haben sollte, daß mangels ausreichender Kräfte der Verkehr unterbrochen oder eingestellt werden muß." Dies würde allerdings die Gefahr der Vorschrift etwas einengen, nicht aber vollständig beseitigen, denn schließlich lassen sich gewerkschaftliche Kämpfe dieser Art nicht immer mit Innehaltung der Kündigungsfristen durchführen. Oft kann es auch sehr streitig sein, ob die Frist innegehalten werden muß, oder ob einer der Fälle vorliegt, wo der Arbeiter ohne Kündigung austreten darf. Es ist mir aber überhaupt nicht sicher, ob dieser Satz der Begründung von der Praxis respektiert werden würde. Aus dem Wortlaut des Gesetzes folgt diese 1911 Juni 15 247

Einschränkung zugunsten von formell berechtigten Arbeitseinstellungen kei­ neswegs. Berücksichtigt man die Neigung unserer Gerichte zur ausdehnenden Auslegung aller Gesetze, die gegen die Arbeiterbewegung gerichtet sind, so muß man fürchten, daß diese Äußerung der Motive als eine private Meinung ihrer Verfasser angesehen werden könnte, die im Gesetz selbst keinen Aus­ druck gefunden habe. Jedenfalls wird bei der Beratung des neuen Strafgesetz­ buchs energisch dafür gesorgt werden müssen in dieser Beziehung Klarheit zu schaffenund auch den Wortlaut desGesetzes entsprechend zu fassen. Zu § 185 ist zu bemerken, daß schon die bloße Gefährdung eines Telegra­ phen-, Telephon- oder Rohrpostbetriebs, nicht erst seine Verhinderung die Straftat vollendet. Die Arbeiter dieser Anlagen sollen also noch mehr ein­ geengt werden als die anderen. Der Vorentwurf enthält nun unter seinen übrigen Strafbestimmungen natürlich noch eine ganze Menge, die geeignet sind, auf die Ausübung des Koalitionsrechts angewandtzu werden, die es einschränken und gefährden. Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es nicht gut möglich, alle einzelnen Paragraphen des Entwurfs daraufhin durchzugehen. Nur einer sei noch hervorgehoben: Nach § 116 des geltenden Strafgesetzbuchs wird wegen Auflaufs bestraft, wer sich nicht entfernt, nachdem ein zuständiger Beamter eine auf der Straße ver­ sammelte Menschenmenge 3mal aufgefordert hat auseinanderzugehen. Die Strafe ist Gefängnisbis zu 3 Monaten oder Geldstrafe bis zu 1500Mark. § 128 des Vorentwurfs will dies erweitern. Erstens soll die Strafe auf Gefängnisoder Haft bis zu 6 Monaten erhöht werden, zweitens aber wird die Androhung auf jede "öffentlich versammelte Menschenmenge" ausgedehnt. Aus der Begrün­ dung geht hervor, daß auch an Menschenmengen in geschlossenen Räumen gedacht ist. Auf diese Art versucht der Vorentwurf eine erhebliche Besserung zu besei­ tigen, die durch das Vereinsgesetz vom 19. April 1908 eingeführt worden ist. In Preußen und anderen Bundesstaaten bestanden zum Teil sehr rigorose Strafandrohungenfür den Fall, daß man nach Auflösung einer Versammlung auf Aufforderung des Beamten sich nicht sofort entfernte. Diese Strafen sind in § 18 des Vereinsgesetzes auf Geldstrafe bis zu 150 Mark herabgesetzt, an deren Stelle nur im Fall der Nichtbeitreibung eine Haftstrafe treten kann. Diese Milderung war wohl ein Ausfluß des Bestrebens der Regierungen, ihren freisinnigen Parteigängern entgegenzukommen. Nachdem diese Episode vor­ über ist, scheint man die Zeit für gekommen zu halten, aufs neue die Polizei­ gewalt gegen das Versammlungsrecht der Staatsbürger zu stärken, und man greift zu dem der Bureaukratie gewohnten Mittel unsinnig hoher Strafandro­ hungen. Wäre die Regierung 1908beim Vereinsgesetz mit einem solchen Vor­ schlag gekommen, so wäre er mit Hohnlachen in den Papierkorb befördert worden. Vielleicht denkt man, daß solche Vorschläge bei dem großen Gesetz- 248 Nr.63 gebungswerk unbeachtet mit durchschlüpfen können. Welche Bedeutung gerade diese Bestimmungfür die Arbeiterkoalitionen hat, die durchweg darauf angewiesen sind, sich in öffentlichen Lokalen zu versammeln, bedarf keiner besondem Ausführung. Der Gegenentwurf (§ 138) lehnt übrigens diese Ausdehnung des Auflaufbegriffsauf geschlossene Räume ab und will ihn sogar auf Wege, Straßen und Plätze beschränken, die dem öffentlichen Verkehr dienen. Nicht zu vergessen ist schließlich auch die allgemeine Bestimmung des § 18 des Vorentwurfs, der ganz allgemein bei Gefängnisstrafen Verschärfungen durch Kostminderung und harte Lagerstätte zulassen will, wofern nach den Vorbestrafungen des Täters anzunehmen ist, daß der gewöhnliche Strafvollzug auf ihn nicht die erforderliche Wirkung ausüben werde. Ich halte es nicht für unmöglich, daß diese Bestimmung gegen Gewerkschaftsführer angewandt wird, wenn sie wegen mutigen Eintretens für die Sache ihrer Klassengenossen auf Grund der üblichen Gesetzesauslegungenwiederholt bestraft sind. Die große Gefahrder Kodifikationliegt darin, daß die unleugbaren Verbes­ serungen, die das Gesetz auf einigen Gebieten bringt, und das dringende Bedürfnis nach einer Änderung des jetzigen Zustands dazu verführen können, unerträgliche Verschlechterungen des Rechtszustands mit in den Kauf zu nehmen. Ein großer Teil des Publikums hat immer nur lückenhafte Kennt­ nisse von solchen Gesetzen, und selbst bei den meisten Parlamentariern steht es damit nicht viel besser. Es ist auch nicht leicht, ein großes, umfassendes Ge­ setzbuch ganz zu überblicken und die Tragweite aller seiner Einzelbestim­ mungen zu beurteilen. Selbst allgemeine wissenschaftliche Fachkenntnisse rei­ chen dazu nicht aus, sondern es müssen praktische Erfahrungen hinzukom­ men, die den Theoretikern nicht zu Gebot stehen. Die Mitglieder des Gewerkschaftskongresses sind in der Frage des Koali­ tionsrechts Theoretiker und Praktiker zugleich. Mögen sie ihre warnende Stimme erheben und rechtzeitig auf die Gefahren hinweisen, die dem Koali­ tionsrecht der Arbeiter und damit dem innern Frieden des deutschen Volkes und der legalen Fortentwickelung unserer Zustände von dem Vorentwurf dro­ hen. 1911 Juni 15 249

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Sozialistische Monatshefte Nr. 12 Die Aussperrung als gewerbliches Kampfmittel Rudolf Wisselll

[Erörterung der rechtlichen Zulässigkeit von Einzel- und Massenaussperrung]

Wie sich jedem Streik die Sperre des betreffenden Betriebs oder doch der betreffenden Abteilung für die Berufsgenossender Streikenden anschließt, so folgt heute beinahe regelmäßig auf je,den Streik eine Aussperrung der Arbei­ ter, womit die Unternehmer fast durchweg jede Differenz mit diesen beant­ worten. Soweit die Niederlegung der Arbeit seitens eines Teils der Arbeiter eine Hemmung im Produktionsprozeß bedingt, ist die Entlassung der noch Arbeitenden durchaus verständlich:Wenn ein Rad in der Maschine fehlt,kann der Gang der ganzen Maschine nicht aufrechterhaltenwerden. Andersliegt es, wenn es sich um die Aussperrung von Arbeitern in anderen als den Streik­ betrieben handelt. Seit dem Crimmitschauer Textilarbeiterkampt2 wurde die­ ses Mittel von den Unternehmernin immer steigenderem Maß in Anwendung gebracht, um den Arbeitern ihren Willen aufzuzwingen. Die Solidarität zur Durchführung dieses .Kampfmittels erwächst aus der Interessengemeinschaft der Unternehmer, die dadurch zum tatkräftigenAusdruck gelangt. Damit ha­ ben wir uns abzufinden. Moralische Erwägungenüber die Unternehmerbruta­ lität und über den rohen Machtkampf der vor keinem Geldopfer zurück­ scheuenden Kapitalistensippe führen über diese Tatsachen nicht hinweg und ändern an ihnen nichts. Die hier in die Erscheinungtretende gewerbliche Soli­ darität der Unternehmer ist, wie die Riesenaussperrungen der allerletzten Zeit3 und die Versuche und ihre Androhungen gezeigt haben, den Unterneh­ mern so selbstverständlich erschienen, daß sich die Arbeiterschaft auf deren energische Betätigung gefaßt machen muß. Durch den mit diesen Aussper­ rungen bezweckten Druck auf unbeteiligte Dritte soll die den Unternehmern gegenüberstehende .Kampfparteiveranlaßt werden, entweder von ihren Forde­ rungen Abstand zu nehmen oder die der Unternehmer anzuerkennen. Bewußt suchen die Unternehmer durch Massenaussperrungen die Streikkassen der

1 (1869-1962), Gewerkschaftssekretär. 2 Der CrimmitschauerArbeitskampf endete nach halbjähriger Dauer am 19.1.1904 mit einer Nie­ �erlage der Textilarbeiter. Angesprochenwird hier wahrscheinlich die Aussperrungvon 50 000Textilarbeitern in Hof am 3. April 1911 und die Aussperrungvon Schiffsbauernin Danzig am 24.April 1911. 250 Nr.64

Arbeiter zu erschöpfen, um dadurch die Widerstandskraft ihrer Gegner lahm­ zulegen. Das gleiche Ziel wird mit der Entziehung der Arbeitsgelegenheit für die im Kampf Stehenden erstrebt. Wie die Arbeiter mit der Parole, daß der Zuzug fernzuhalten ist, an die Solidarität ihrer Berufsgenossenappellieren, so die Unternehmer mit der Versendung von schwarzen Listen an einzelne Unternehmer und durch Instruktion der Arbeitsnachweise der ihnen naheste­ henden Arbeitgeberverbände.4 Vor allem hat man es dabei auf solche Arbeiter abgesehen, die aus irgendwelchem Grund sich Unternehmern mißliebig gemacht haben. Deren Aussperrung wird namentlich mit Hilfe der von den Unternehmerneingerichteten Arbeitsnachweise oder auch durch Versendung von schwarzen Listen vollzogen. Ob und unter welchen Verhältnissen diese beiden Arten von Aussperrungen gegebenenfallszum Schadenersatz verpflich­ ten, ist ein bisher noch viel zu wenig erörtertes Thema, das es verdient, zur Klärungder Sachlage einmal etwas eingehender erönert zu werden. Die Gerichte bis hinauf zum Reichsgericht haben mehrfach Gelegenheit gefunden, sich mit den zivilrechtlichen Folgen solcher Massen- oder Einzel­ aussperrungen zu beschäftigen. Aus diesen Urteilen ist als sicherstehend zu entnehmen, daß diese Mittel des gewerblichen Kriegsrechts an und für sich keine unerlaubten Maßregeln zur Durchführung der gewerblichen Kämpfe oder auch der wirtschaftlichen Interessenvertretungsind, daß sie jedoch unter gegebenen Voraussetzungen unstatthaft sind und zum Schadenersatz ver­ pflichten. Das erste Urteil über diese Fragen ist im Jahr 1900 aus Anlaß der Werftarbeiteraussperrung in Hamburg ergangen. In diesem reichsgerichtli­ chen Uneil ist die Schadenersatzpflicht der verklagten Unternehmer verneint. Das Reichsgericht hielt das Vorgehen der Werftbesitzer, die es nach den Lohnbewegungen aus wirtschaftlichen Gründen für gut befundenhatten, Wie­ derholungen solcher Bewegungen für absehbare Zeit durch einen Gegen­ angriffunmöglich zu machen, nicht für einen Arbeitskampf mit unerlaubten Mitteln. Auch wenn die Werftbesitzernur die Gelegenheit benutzen wollten, den Lohnforderungen und den damit unvermeidlich verbundenen Beunruhi­ gungen entgegenzutreten und die Arbeitslagein einer fürsie günstigen Weise festzulegen,sei dieser Lohnkampf, so sehr man ihn auch bedauern möge, nicht mit Mitteln, die gegen die guten Sitten verstoßen, geführtworden. Zur Frage der Einzelaussperrung sind mehrere Uneile ergangen. In einer Entscheidung des Reichsgerichts wird gesagt, daß in dem Ersuchen an die Berufsgenossen, die Kläger nicht einzustellen, weil diese dem Ersuchenden in seinem Gewerbebetriebdurch sachlich nicht gerechtfertigte Arbeitseinstellung Schaden zugefügthätten und das Ziel verfolgten,mit Hilfe der Organisationen die Arbeitgeber rücksichtslos ihrem Willen zu unterwerfen, kein Verstoß ge­ gen die guten Sitten zu erblicken sei. Die in den heutigen gewerblichen Lohn-

4 Vgl. hierzudie Quellen zu "SchwarzeListen". 1911 Juni 15 251

kämpfenvon der einen wie von der andern Seite zur Anwendung gebrachten Maßregeln, wie Streik und Aussperrung, würden gewöhnlich die Bedeutung eines auf den andern Teil geübten Druckesoder Willenszwangshaben und auf die materielle Schädigung des Gegners, soweit solche mit der zeitweiligen Beeinträchtigung seiner Erwerbslage verknüpft sei, abzielen, ohne daß man deshalb solchen Maßregeln immer den Charakter einer sittlich verwerflichen Handlung beilegen dürfe. Andrerseits wird in einem Urteil des Reichsgerichts ausgesprochen, daß die unbefristete Aussperrung eines einzelnen Arbeiters zum Schadenersatz verpflichte. Ein Berliner Metallarbeiter K. war von seinem Arbeitgeber, bei dem er durch Vermittlung des Arbeitsnachweises des Ver­ bands der Berliner Metallindustriellen Arbeit nachgewiesen erhalten und auch angetreten hatte, entlassen worden. Die frühere Arbeitgeberin hatte dem genannten Verband mitgeteilt, daß sie, weil K. sich in ihrer Werkstätte agita­ torisch hervorgetan habe, es im Interesse der Allgemeinheit für angebracht befände, K. bis auf weiteres von der Arbeit zu sperren. Er wurde entlassen, und von der Arbeitsnachweisstelle wurde ihm ein neuer Nachweisschein versagt und die Mitteilung hinzugefügt, daß er überhaupt keinen Schein mehr bekomme. Die Beklagte wurde mit folgenderBegründung verurteilt: "Die Verhängung der Arbeitssperre habe für die Dauer ihres Bestands Folgen, die der vollständigen Ausschließung des betreffenden Arbeiters von der Beschäftigung in einem größern Betrieb der Metallbranche nahekomme, und es könne mit Grund die Frage aufgeworfen werden, ob nicht eine Einrichtung, die einem Unternehmerverband einen so eminenten Eingriff in die Betätigung der Arbeitskraft eines andern ermögliche, beziehungsweise die Betätigung der dadurch gegebenen Gewalt als gegen das Gesetz verstoßend anzusehen sei. Die fragliche Maßregel enthalte einen sehr schweren Eingriff in das wirtschaft­ liche Leben des davon Betroffenen, denn es werde ihm die Gewinnung von Arbeitsgelegenheit auf einem gewerblichen Gebiet, das bezüglich der Zahl der darin beschäftigten Arbeiter in allererster Reihe stehe, in weitestgehender Weise beschränkt und erschwert. Der Übergang zu einem andern gewerblichen Gebiet sei aber auch für einen Arbeiter, der keine besondere Fachausbildung genossen habe, regelmäßig mit sehr großen Nachteilen verbunden. Es gelinge ihm der Natur der Sache nach meist nicht sofort, in einem ihm zunächst fremden Gebiet eine für ihn geeignete Beschäftigung zu finden, und er müsse sich fast immer mit geringerem Lohn begnügen als er in einem Arbeitszweig, für den ihm die durch längere Übung etworbenen Fertigkeiten und Kenntnisse zustatten kämen, erzielt haben würde. Gegenüber dem Verhalten des Klägers müsse die Maßregel als eine gegen die Billigkeit verstoßende Härte bezeichnet werden. Die Beklagte hätte nicht beantragen dürfen, und die Vertrauenskom­ mission des Verbands, wenn sie recht und billig urteilen wollte, nicht beschließen dürfen, eine zeitlich unbegrenzte Arbeitssperre über den Kläger zu verhängen und ihn somit so schweren Nachteilen auszusetzen wie sie diese Maßregel nach den von dem Verband geschaffenen Einrichtungen mit sich bringe. An der Unbilligkeit und der daraus folgenden Unrechtmäßigkeit einer 252 Nr.64

Maßnahme ändere sich nichts dadurch, daß derjenige, welcher sie vornehme, sich innerlich vorbehalte, sie vielleicht später, sei es aus eigenem Antrieb oder auf besonderes Ansuchen des Betroffenen, gewissermaßen aus Gnade, wieder aufzuheben." In einem anderen Fall nun wieder ist der vom Kläger erhobene Schaden­ ersatz.anspruch wegen einer ursprünglich wegen Streikvergehens, im Prozeß aber mit Geisteskrankheit des Klägers motivierten Aussperrung abgewiesen worden. In diesem Urteil des Reichsgerichts heißt es, daß zwar die Aussper­ rung des Klägers zunächst wegen einer Handlung erfolgt sei, die er während einesStreiks gegenüber einem Arbeitswillige führenden Mann begangen habe: Diese Maßregelung sei dann aber nach der nicht widerlegten Angabe des Beklagten der Tatsache wegen aufrechterhalten worden, weil der Kläger erhebliche Bestrafungen erlitten hätte und in einer Weise krank sei, die im Interesse der Vereinsmitglieder seine Fernhaltung von ihren Betrieben geboten erscheinen lasse. Es bestehe kein Gesetz, durch das den Arbeitgeberverbänden verwehrt werde, durch irgend eine Einrichtung eine Vorprüfung der sich um Beschäftigung meldenden Arbeiter darüber vorzunehmen, ob sie nach ihrer Vergangenheit und insbesondere ihrer körperlichen und geistigen Beschaffenheit etwa als zur Annahme in einem der dem Verband angehörenden Betriebe von vornherein ungeeignet anzusehen sei. Das verstoße auch nicht gegen die guten Sitten; nur in der Art, wie dabei verfahren werde, könne unter Umständen eine unrechtmäßige Handlung zu finden sein. Wie es einem einzelnen Unternehmer trotz des Mitleids, das dem Kläger bis zu einem gewis­ sen Grad nicht versagt sein möge, nicht verargt werden könne, wenn er die Beschäftigung eines Mannes von der körperlichen und geistigen Beschaffenheit des Klägers ablehne, so könne auch den Vertretern des beklagten Vereins nicht der Vorwurf eines gegen die guten Sitten verstoßenden Verhaltens gemacht werden, wenn sie die Anordnung getroffen hätten, daß dem Kläger ein Handzettel des Vereins nicht erteilt werde und ihm dadurch die Mög­ lichkeit bei einem der zum Verein gehörenden Betriebe genommen zu werden, entzogen werde. Endlich aber auch sei noch eines Urteils des Oberlandesgerichts Colmar vom 29. November 1905 Erwähnunggetan, in dem ausgesprochen ist, daß eine Maßregel, die darauf abziele, dem Gegner nur vorübergehend, das heißt auf die Dauer eines Lohnkampfs, die Erwerbsmöglichkeit in seinem Arbeitszweig zu unterbinden und ihn dadurch zur Unterwerfung unter den Willen des Arbeitgebers zu nötigen, das Maß desjenigennicht überschreitet, was im wirt­ schaftlichen Streit zulässig sei: Das gleiche würde auch für die sogenannten schwarzen Listen zu gelten haben, die die Beklagte an andere Arbeitgeber versandt habe, vorausgesetzt, daß damals der Streik - aus dessen Anlaß der Kläger auf die schwarze Liste gesetzt war - noch nicht erloschen war oder doch wenigstens Ungewißheit über seinen Ausgang herrschte. Ein ganz anderer Maßstab würde dagegen an die Zulässigkeit dieses Kampfmittels angelegt werden müssen, wenn es zu einer Zeit angewandt sein sollte, wo der Ausstand schon sein Ende oder doch 1911 Juni 15 253 ein Stadium erreicht hatte, in dem der Nichterfolg der Lohnbewegung bereits klar zutage trat. Nun sei zur Zeit der Übersendung der Liste für die Beklagte schon jede Gefahr beseitigt und die Niederlage der Ausständigen bereits fest besiegelt gewesen. Seit diesem Augenblick könne von einer zum Zweck der Abwehr oder im Interesse des Selbstschutzes gebotenen Handlungsweise nicht mehr gesprochen werden. Die betreffende Maßregel liefe vielmehr offensicht­ lich einzig und allein darauf hinaus, dem bereits besiegten und wehrlos gewor­ denen Gegner gerade innerhalb des Gebiets, wo er ansässig war und seinen Hausstand zu unterhalten hatte, jedwede Arbeitsgelegenheit abzuschneiden, ihn mit einem Wort dort brotlos zu machen. Derartige gehässige schwerwiegende Eingriffe in die Betätigung der Arbeitskraft des Gegners, auch wenn sie in Verfolgung sonst erlaubter Zwecke geschehen, stellten sich als ein allzu hartes, unbilliges, wider die guten Sitten verstoßendes Kampfmittel dar. Daher sei die Beklagte für den dem Kläger hierdurch verursachten Schaden ersatzpflichtig. Die sich aus diesen drei letzten Entscheidungen ergebendenAnschauungen sind von besonderer Bedeutung. Wenn zum Beispiel in den Satzungen des Vereins deutscher Arbeitgeberverbände mit als Zweckdes Verbands angege­ ben wird, eine Verbindung zwischen den verschiedenen Verbänden zur gemeinsamen Bekämpfung von Streiks und Boykotts der Arbeiter herbeizu­ führen und dem von unberechtigtem Streik oder Boykott betroffenen Arbeit­ geber Hilfe zu gewähren, so liegt die Gefahr recht nahe, daß auch sonst miß­ liebig gewordene Arbeiter, ohne daß sie nur eine Ahnung davon besitzen, mit Hilfe der zur Durchführungdieser Vereinssatzungen getroffenen Maßnahmen, insbesondere durch die Handhabung des Arbeitsnachweises, auch außerhalb der Zeit eines Lohnkampfs gemaßregelt werden. Sind diese Maßnahmen von der Rechtsprechung für die Zeit eines Kampfes auch nicht beanstandet, viel­ mehr als Nötigungen zum Abbruch des Streiks oder auch zur Erfüllung ande­ rer gewerblicher Forderungen im Arbeitsvertrag angesehen, so würde doch deren Anwendung über die Zeit des wirtschaftlichen Kampfes hinaus nur in besonderen Fällen zulässig sein, im allgemeinen aber ihre Anwender zum Ersatz des den Arbeitern erwachsenen Schadens verpflichten. Nur eben, daß der Arbeiter in den seltensten Fällen von den gegen ihn gerichteten Maßnah­ men Kenntnis bekommen wird. In welchen besonderen Fällen wird nun eine solche Repression einzelner statthaft sein? In dem einen der oben erwähnten Urteiledes Reichsgerichtsist gesagt, daß sie bei solchen in der Person des Betreffendenliegenden Gründen, die die Verweigerung der Einstellung auch bei billiger Beurteilung rechtferti­ gen, zulässig ist, also zum Beispiel bei Krankheiten, die den Betreffendennach den gewöhnlichen Lebensanschauungennicht für die Arbeit geeignet erschei­ nen lassen. Als Grund dieser Art wird aber, abgesehen von den Zeiten des gewerblichen Kampfes, eine Betätigung auf gewerkschaftlichem oder poli­ tischem Gebiet nicht gerechnet werden können. In einem unlängst bei Gustav Fischer in Jena veröffentlichten Buch des Kieler Privatdozenten Maschke 254 Nr.64

"Boykott, Sperre und Aussperrung•5 wird vom Verfasser ganz besonders betont, daß eine gewerkschaftliche Agitation auch in der Fabrik, voraus­ gesetzt,daß sie nicht während der Arbeitszeit geschehe, nicht die Ordnung des Betriebs verletze und nicht durch Beleidigungen, Körperverletzungen oder Drohungen zu wirken suche, niemals Grund einer Repression werden könne. Nur wo hierüber hinausgegangen werde, könne man in gewissen Grenzen es fürzulässig halten, Personen, die derart gegen die Ordnung des Betriebs ver­ stoßen hätten, auch von den Betrieben ähnlicher Art durch Mitteilung an den Arbeitgeberverband usw. auszuschließen. Auch politische oder gewerkschaft­ liche Betätigung, zum Beispiel bei Wahlen fürdie Vorstände von Krankenkas­ sen, für Arbeiterausschüsse, für Gewerbegerichte usw. könne nicht Gegen­ stand einer Repression sein. Maschke weist besonders darauf hin, daß nur, wo eine ethisch zu mißbilligende Handlung von einiger Schwere vorliege, die die Interessen der Unternehmer gefährde, man eine Aussperrung nicht als durch Rache veranlaßt und deshalbals rechtswidrigansehen könne. Wo die Aussper­ rung sich gegen eine willkürliche, aus dem Belieben des Arbeiters hervor­ gegangene Handlung richte, die entweder überhaupt keiner oder nur einer so geringen Mißbilligung unterliege, daß eine Reaktion durch die schwerwie­ gende Strafe der Aussperrung unzulässig oder nicht adäquat erscheine, handle es sich um eine solche aus Rache. Aber immerhin könnten sich nur allgemeine Richtlinien in den allgemeinsten Umrissen umschreiben lassen, und oftgenug werde bei der Beurteilung der Lage des einzelnen Falles für das subjektive Empfinden des Beurteilers ein nicht erwünschter Spielraum übrigbleiben. Unzulässig sei die Repressioninsbesondere in allen jenen Fällen, wo ein Ord­ nungsstrafrechtdes Unternehmers, wie es in gewissen Grenzen die Gewerbe­ ordnung gebe, nicht bestehe. Grundsätzlich müsse in diesen Fällen die Aus­ sperrung als das gegenüber der Ordnungsstrafe des Unternehmers schwerere ausgeschlossen sein. In allen Fällen aber auch sei eine heimliche Aussperrung unzulässig. Derjenige, an dem ein Akt der Ahndung vorgenommen werde, müsse wissen, weshalb dieses geschehe. Handeln die bisherigen Ausführungen im wesentlichen von Einzelaussper­ rungen, so bleibt noch die Besprechung der Aussperrung der Arbeiter in ande­ ren als den Betrieben, in denen Differenzen bestehen, übrig. Maschke erklärt hier mit dem Reichsgericht die Sympathieaussperrung an sich für zulässig. Aber er meint doch, daß auch da eine gewisse Grenze geboten sei. Er sieht sie in der Beschränkungauf gleiche oder verwandteBranchen. Zwar ist er der An­ sicht, daß man rein theoretisch auch dazu kommen könne, diese Begrenzung zu verneinen, da bei der heutigen Zuspitzung des Klassenstandpunkts eine Solidarität aller Arbeiter gegenüber den Arbeitgebern und aller Unternehmer gegenüber den Arbeitern bis zu einem gewissen Grad unleugbar vorliege. Al-

5 Richard Maschke, Boykott, Sperreund Aussperrung. Eine sozialrechtliche Studie, Jena 1911. 1911 Juni 15 255

!ein die Benutzung einer so weit ausgedehnten Solidarität zur Unterstützung einer beliebigen Arbeiter- oder Unternehmergruppe würde nicht ein ver­ kehrsmäßiges Zwangsmittel darstellen, sondern lediglich als Mißbrauch dieser Zusammengehörigkeit erscheinen. Noch hält Maschke diese Grenze in der bisherigen Praxis nicht fürüberschritten, obgleich die in neuerer Zeit übliche Ausdehnung der Sympathiekämpfe hart an sie heranführe. Ich bin jedoch der Meinung, daß dies in einzelnen Fällen doch tatsächlich schon geschehen ist. Hält man an der Auffassung fest, daß als Kampfmittel bei der Austragung gewerblicher Differenzen verkehrsmäßige Übel, aber auch nur diese, zulässig und erlaubt sind, dann muß man zu dem Ergebnis kommen, daß in einzelnen dieser Aussperrungen ein Mißbrauch der Solidarität geübt wurde. Ich erinnere da insbesondere an die Aussperrung der Bauarbeiter im Essener Bezirk im Jahr 1905. In Essen war zwischen den Bauarbeiterverbänden und den Unter­ nehmern durch Vermittlung des Essener Oberbürgermeisters Zweigert ein Tarifvertrag vereinbart worden, und zwischen den beiden Parteien bestand nicht die geringste Differenz mehr. In anderen Bezirken jedoch war es zu Streitigkeiten gekommen, und um die Arbeiter in diesen Bezirken zum Nach­ geben zu bewegen, beschlossen die Unternehmer auch die Aussperrung in Essen.Wie wenig die Unternehmer damals im Rechtwaren, ergibt sich aus der Tatsache, daß der Oberbürgermeister Zweigert den Unternehmern rundher­ aus erklärte, daß, wenn sie sich an der Aussperrung beteiligten, er dieses gro­ ben Tarifsbruchs wegen sofort sämtliche städtischen Arbeiten in städtischer Regie auf Kosten der Unternehmer fertigstellen lassen und die Mehrkosten einklagen werde; fernerwerde er beim Stadtverordnetenkollegium die Bewilli­ gung von 20 000 Mark zur Unterstützung der Arbeiter beantragen, die im Kampfgegen die kontraktbrüchigen Unternehmerbrotlos gewordenwären. In diesem Fall wurde nach meiner Überzeugung die Grenze der von jeder Kampfpartei zu erwartenden Solidarität weit überschritten. Ist das aber der Fall, dann ist den geschädigten Arbeitern ein Schadenersatzanspruch gegeben, und es würdesich gegebenenfalls einmal sehr empfehlen, diese Schadenersatz­ ansprüche geltend zu machen. Die Deutsche Arbeitgeberzeitung hat beim letzten großen Bergarbeiter­ streik6 geschrieben, daß es sich da nicht um eine ruhige, im Rahmen der Gesetzmäßigkeit bleibende Arbeitseinstellung handle, sondern um einen bru­ talen offenen Bürgerkrieg, wie er im Hinblick auf den Umfang, auf die Artund das Ziel der Bewegung durchaus so genannt zu werden verdiene. Die in der letzten Zeit mehrfach von den Unternehmern geplanten Arbeiteraussperrun­ gen, zuletzt die in der Metallindustrie, wären danach sicherlich über diese jedem Arbeitskampf gezogene Grenze hinausgegangen. Es handelte sich da

6 Gemeint ist der Bergarbeiterstreik im Ruhrrevier vom 14. Januar bis 9. Februar 1905. Vgl. die entsprechenden Quellen in dem Band "Das Jahr 1905". 256 Nr.65

nicht mehr um ein den Arbeitern angedrohtes Übel, das als verkehrsüblich angesehen werden kann, als das sonst fraglos jeder Streik, jede Sperre, Aus­ sperrung und jeder Boykott gelten muß, sondern um ein den Rahmen des Gesetzmäßigen weit überschreitendes Mittel. Die im vorstehenden angeschnitten Fragen bedürfen sicher eingehender Aussprache. Zu ihr regt auch das erwähnte Buch Maschkes, das eifrige Leser verdient, in hohem Maß an. Man sollte in Gewerkschaftskreisensich näher mit diesen Dingen beschäftigenund sie zu systematisierenversuchen.

Nr.65

1911 Juni 16

Deutsche Industriebeamten-Zeitung Nr. 12 Das Reichsmarineamtals Arbeitgeber

[Das Reichsmarineamt stellt die Techniker vor die Wahl zwischen Kündigung oder Umwandlung ihres Arbeitsvertrages in einen Privatdienstvertrag]

Durch einen großen Teil der Tagespresse ging vor kurzem die Nachricht, daß auf Anordnung des Reichsmarineamts in den Marinebetrieben auf den Kieler Werften allen Technikern gekündigt worden sei, die noch nicht fest angestellt sind. Das Reichsmarineamt soll sich aber bereit erklärt haben, sämtliche Techniker in ihren Stellungen zu belassen, wenn sie einen Privat­ dienstvertrag1 eingehen. Der Zweck der Maßregel ist also der, die bisher mit Steuerprivileg, Aussicht auf feste Anstellung und auf Pensions- und Hinter­ bliebenenversorgung angestellten Techniker zwangsweise in ein privatrecht­ liches Dienstverhältnis zu überführen. Wie uns bekannt geworden ist, sind von der Kündigung etwa 70 Techniker der zum Reichsmarineamt gehörigen Bauämter betroffen worden. Diese Kündigungen sind allem Anschein nach als Folge einer Verfügungdes Reichsmarineamts vom 3. Februar d. J. anzusehen, in der bestimmt wird, daß das Hilfspersonal der Kaiserlichen Werften in Zukunft nur noch auf Privatdienstvertrag anzustellen sei, und daß auch von den zurzeit im Beamtenverhältnis stehenden Hilfstechnikern diejenigen auf Privatdienstvertrag anzunehmen seien, die es wünschen. Es war schon damals vorauszusehen, daß die im Beamtenverhältnis stehenden Hilfstechniker keine Lust haben würden, ihre Vorrechte ohne entsprechende Entschädigung aufzu-

1 Vgl. Nr. 105, Nr. 106,Nr. 113, Nr. 206, Nr. 214 und Nr. 385. 1911 Juni 16 257

geben, und tatsächlich haben die Hilfstechniker auch in einer Eingabe an das Reichsmarineamt um die Festsetzung einer angemessenen Entschädigung für die Überführung in das Privatdienstverhältnis gebeten. Bevor jedoch diese Eingabe eine Antwort gefunden hat, sind nun die erwähnten Kündigungen erfolgt. Ohne Zweifel widersprechen diese Kündigungen der Verfügung vom 3. Februar, denn darin heißt es ausdrücklich, daß die Überführung in das Pri­ vatdienstverhältnis nur auf eigenen Wunsch der Betreffendengeschehen solle. Es gibt aber eine ganze Anzahl Hilfstechniker, die das nicht wünschen, und denen jetzt doch gekündigt worden ist. Außerdem aber hätte man zum minde­ sten erwartendürfen, daß den gekündigten Bautechnikernfür den Verlust der Beamtenprivilegien eine bestimmte finanzielle Entschädigung zuteil geworden wäre und das ist nicht der Fall. Statt dessen soll der Privatdienstvertrag, der den Gekündigten vorgelegt worden ist, Bestimmungen enthalten, die sich an Einseitigkeit mit den unsozialsten Dienstverträgen der Privatindustrie messen können.2 Wenn sein Inhalt sich mit dem eines vorliegenden Vertragsentwurfs für die im Maschinenbauressort tätigen Hilfsbautechniker deckt, können wir das nur vollauf bestätigen. Darin findet sich nämlich u.a. im § 3 die Bestim­ mung, daß der Dienstverpflichtete erforderlichenfalls verpflichtet sei, "auch über die festgesetzten Dienststunden hinaus" an Sonn- und Feiertagen ohne besondere Vergütung zu arbeiten. Ferner wird im § 9 der Anspruch auf Urlaub ausdrücklich ausgeschlossen. Im § 12 wird bestimmt, daß, wenn eine Krankheit des Dienstverpflichtetenlänger als vierzehn TageDauer und seitens des Arztes nicht mit einiger Bestimmtheit angegeben werden kann, daß dieselbe innerhalb einer weiteren 14tägigen Frist behoben sein wird, dem Erkrankten gekündigt werden kann. Wenn die Krankheit länger als 4 Wochen dauert, soll in der Regel gekündigt werden. Im§ 16 heißt es genau wie in den Dienstverträgen unserer Großindustrie: "Alle Erfindungen, welche der Dienst­ verpflichtete in Ausübung seines Dienstes oder mit Benutzung amtlichen Materials macht, sind Eigentum der Kaiserlichen Marine." Alle diese Bestimmungen verraten einen so unsozialen Geist, daß man den gekündigten Hilfstechnikerndurchaus recht geben muß, wenn sie sich dagegen mit allen Kräften wehren. Wie sich aus dem Vorhergesagten ergibt, ist bisher nur den Bautechnikern gekündigt worden; es ist jedoch zu erwarten, daß über kurz oder lang den Werfthilfstechnikern, unter denen sich eine ganze Anzahl Bundesmitglieder befinden, das gleiche Schicksal widerfahren wird. Sie werden gut tun, sich schon heute bereit zu halten, um nötigenfallsder Zumutung, sich auf derartige Bedingungen hin anstellen zu lassen, mit allem Nachdruck ent­ gegentreten zu können. Wie uns bekannt geworden ist, wehren sich auch die

2 Zu dem Inhalt des Vertragsvgt die Gegenüberstellung desvom Reichsmarineamt und von den Organisationen vorgelegten Vertragsmustern, in: Deutsche Techniker-Zeitung, Nr. 11 v. 9.3.1912 und Nr. 13 vom 23.3.1912. 258 Nr.66 bisher gekündigten Bautechniker gegen diesen Dienstvertrag. Unter diesen Umständen ist es selbstverständlich Ehrenpflicht jedes Kollegen, die Über­ nahme einer Stellung bei den Bauverwaltungendes Reichsmarineamtssolange abzulehnen, bis der Konflikt beigelegt ist.

Nr.66

1911 Juni 16

Deutsche Industriebeamten-Zeitung Nr. 12 Die Reichsversicherungsordnung im Reichstage (Fortsetzung)1 Teildruck

[Verwaltungder Krankenkassen und Frage der Ersatzkassen]

Am heißesten umstritten waren die Bestimmungen über die Verwaltungder Krankenkassen. Bisher hemchte hier der Grundsatz: Gleiche Rechte - gleiche Pflichten, so daß die Versicherten, die 2/3 der Beiträge zu tragen hatten, auch das Übergewicht in der Verwaltung hatten. Die Regierung, die die R.V.O. ja vor allem zur Entrechtung der Arbeitnehmer mißbrauchen wollte, hielt wenig­ stens an jenem Grundsatze fest: Die Arbeitgeber sollten ihren größeren Ein­ fluß auch entsprechend bezahlen, sie sollten in Zukunft statt ein Drittel die Hälfte der Beiträge aufbringen. Das hätte ihnen ungefähr 56 Millionen Mark jährlich mehr gekostet! Die Mehrheitsparteien haben den Arbeitgebern diese 56 Millionen glatt geschenkt und ihnen doch den erhöhten Einfluß auf die Verwaltung gesichert! - § 412 bestimmt, daß die Versicherten zwei Drittel, ihre Arbeitgeber ein Drittel der Beiträge aufzubringen haben. Trotzdem bestimmt § 340, daß zum Kassenvorsitzenden gewählt ist, wer die Mehrheit der Stimmen aus der Gruppe der Arbeitgeber als auch der Versicherten im Vorstande erhält. Kommt diese Mehrheit auch bei einer zweiten Wahl nicht zustande, so bestellt das Versicherungsamt einen Vertreter. Ein Arbeitnehmer darf nur dann bestellt werden, wenn die Mehrheit aus der Gruppe der Arbeitgeber keinen Einspruch erhebt und umgekehrt. - Bei den Land­ krankenkassen wird der Vorsitzende und der gesamte Vorstand gar von der Vertretung des Gemeindeverbandesernannt! - Für die Anstellung der Kassen­ beamten gelten die gleichen Bestimmungen wie für die Wahl des Vorsit-

1 Vgl. Die Reichsversicherungsordnungim Reichstage,Teil I, in: Deutsche Industriebeamten-Zei­ tung Nr. 10 vom 19.5.1911. 1911 Juni 16 259

zenden. Die Dienstordnung kann ebenfalls nur durch übereinstimmenden Beschluß der Mehrheiten in beiden Vorstandsgruppen festgesetzt werden und unterliegt der Genehmigung der Aufsichtsbehörde! - In den Betriebs­ krankenkassen führt der Arbeitgeber den Vorsitz. Wer seine Mitgliedschaft in einer Betriebskrankenkasse freiwillig fortsetzt, verliert aktives und passives Wahlrecht. Von dieser Entrechtung werden besonders die Angestellten schwer betroffen! - Eine Sonderbestimmung zu Gunsten des ländlichen Großgrund­ besitzes schaffen die§§ 447, 447a, nach denen in den Landkrankenkassen auf Antrag des Arbeitgebers(!) von der Versicherungspflichtbefreit wird, wer auf eine diesem Rechtsanspruch auf die Leistungen der Krankenkasse gleich­ wertige Unterstützung Anspruch hat. Die Entscheidung über den Antragsteht dem Versicherungsamt, in diesem Falle also dem Landrat zu! Was wird der nicht alles für "gleichwertig" halten! - Eine weitere Sonderbestimmung zu Gunsten der Agrarier enthält der § 452, der gestattet, für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 1. März das Krankengeld auf ein Viertel des Ortslohnes herabzusetzen. Danach werden tägliche Krankengelder von 20 und 25 Pfennig keine Seltenheit sein! Neben den landwirtschaftlichen Arbeiten und den Dienstboten werden auch die Heimarbeiter in Zukunft der Krankenversicherung teilhaftig werden! So begrüßenswert das an sich ist, die völlige Rechtlosigkeit der Versicherten in den Landkrankenkassen, denen die Heimarbeiter ebenso wie die Dienstboten sonderbarerweise unterstehen,macht diesen Ausbau der Krankenversicherung äußerst problematisch. Von besonderem Interesse sind für die Privatangestellten noch die Bestim­ mungen über die Ersatzkassen. Wir stehen grundsätzlich auf dem Standpunkt einer Vereinheitlichung unserer Krankenversicherung in großen allgemeinen Ortskrankenkassen. Dennoch bedauern wir es, daß der Entwurf - auch in der vom Reichstage angenommenen Form - mit zweierlei Maßmißt. Hat man den Betriebs- und Innungskrankenkassen alle Liebe angedeihen lassen - den freien Hilfskassenwill man den Todesstoß versetzen!2 Zugelassen sind nur Kassen, die vor dem 1. April 1909 errichtet wurden, wenn sie dauernd mehr als 1000 Mitglieder haben. Auf Antragkann die ober­ ste Verwaltungsbehörde die Mindestzahl auf 250 herabsetzen. Erschwert wird den Hilfskassen ihre Existenz vor allem durch die Bestimmung des § 541, wonach der Arbeitgeber seinen Beitragsteil für seine in Hilfskassen versicher­ ten Angestellten an die Krankenkasse (nicht an die Ersatzkasse!) zahlt. Ein Antrag, daß die Krankenkassen vier Fünftel der ihnen hieraus zufließenden Einnahmen an die Ersatzkassen abführen müssen, wurde in dieser allgemeinen Form abgelehnt. Durch§ 541a wurde der Anspruchhierauf nur den Ersatzkas-

2 Vgl. Nr. 4. Vgl. auch Karl Goldschmidt, Zur Aulbebung des Hilfskassengesetzes, in: Der Ge­ werkverein, Nr. 13 vom 11.2.1911. 260 Nr. 67 sen für Handlungsgehilfen, Apotheker, Bühnen- und Orchestermitglieder, Lehrer und Erzieher und - Ziegler zuerkannt. Die Hilfskassen der Arbeiter und technischen Angestellten dürfen diese Beträge von den Krankenkassen nicht fordern! Grund: die Handlungsgehilfen sind Leute, die oft ihre Arbeits­ stätte wechseln! So sagt wenigstens Ministerialdirektor Caspar! 3 Und die technischenAngestellten - - - ? - Unsinn, Du siegst! 4

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1911 Juni 16

Deutsche Industriebeamten-ZeitungNr. 12

Reichseinigungsamt W. Vollbrecht

(Besprechung des Berlepschen Vortrags zum Reichseinigungsamt und dessen Kritik durch die Arbeitgeber]

Die Riesenaussperrung der Bauarbeiter während des Sommers 19101 lenkte den Blick weiter Kreise auf die Gefahr der schweren wirtschaftlichen Erschüt­ terungen, die durch Aussperrungen und Streik hervorgerufenwerden, und rief eine rege Diskussion der Frage ins Leben, wie solche vernichtenden Gewitter im Interesse der gesamten Volkswirtschaftzu vermeiden seien. In einem in der Gesellschaft für soziale Reform am 8. März 1911 gehaltenen Vortrage2 be­ handelt Staatsminister a. D. Dr. Freiherr von Berlepsch den Weg, der ihm der geeignete erscheint, um die Wirkungen zukünftiger Streiks oder kommender Aussperrungen so wenig wie möglich schädigend für die nationale Volkswirt­ schaft zu gestalten. Es ist dies nach Berlepsch die Einsetzung eines Reichseini­ gungsamtes. Berlepsch tritt dem Problem näher, indem er zwei Fragen auf­ stellt: 1. Ist die Schaffung einer öffentlich-rechtlichen ständigen Instanz notwen­ dig, und erweisen sich die bisher schon gegebenen und betretenen Wege als unzureichend?

3 Franz Caspar, Direktor der sozialpolitischenAbteilung im Reichsamtdes Innern. 4 Zu den Fortsetzungen vgl. Die Reichsversicherungsordnung im Reichstage, in: Deutsche In- 1ustriebeamten-Zeitung, Nr. 13, 14 u. 21 vom 14. Juli, 28. Juli und 21. Oktober1911. Vgl. Nr. 54, Anm. 7. 2 Vgl. Nr.54. 1911 Juni 16 261

2. Wird ein Reichseinigungsamt geeignet sein, und welche Befugnisse muß es haben, um das Gewolltezu erreichen? Die Aufgaben des Reichseinigungsamtes sieht Berlepsch nicht in rechtspre­ chender (z.B. Auslegung bestehender Arbeitsverträge), sondern in recht­ schaffender Tätigkeit, d.h. in der Regelung der Streitigkeiten, die bei Ordnung oder Neuordnung des Arbeitsverhältnisses im besonderen bei gewerblichen Kollektivbewegungen sich ergeben. An Versuchen, solchen die Volkswirtschaft schwer erschütternden Arbeits­ kämpfen vorzubeugen, fehlt es nicht. So haben z.B. die Organe der Buch­ druckergemeinschaft, die in allen Instanzen paritätisch zusammengesetzt sind3, in dem Deutschen Buchdruckertarif nebst Kommentar sich ein Gesetz geschaffen, das als ein Schiedsrichterin der Schlichtung tariflicherStreitigkei­ ten benutzt werden soll. In anderen Fällen schaffen Unternehmer und Arbeiterorganisationen von Fall zu Fall Instanzen, die entstehende Differenzen bei Erneuerung der Tarif­ verträge auszugleichen haben. Aber alle diese Einrichtungen, so erfolgreichsie im einzelnen Falle wirken mögen, gewähren keine dauerndeGarantie, solange sie nicht unterstützt werden von starken, gut disziplinierten Organisationen, die beiderseits den entschlossenen Willen haben, von diesen Einigungsorga­ nen Gebrauch zu machen. Diese notwendige Voraussetzung vermißt Berlepsch aber in den meisten bedeutenden Gewerben Deutschlands. Ein an­ deres Mittel zur Herbeiführung einer Einigung über die Arbeitsbedingungen ist die Heranziehung von Unparteiischen zu Leiternder Schlichtungskommis­ sion oder zu Schiedsrichtern. Berlepsch ist der Meinung, daß, wenn auch durch Schiedsspruch manch guter Erfolg erzielt wurde, dieses Mittel dennoch nur ein mangelhaftesist. Und zwarbesonders deshalb, weil keine ständig wirkende Stelle vorhanden ist, die verpflichtet ist, sofort einzugreifen, sobald sich eine Differenzdrohend erhebt. Die deutsche Gesetzgebung hat ebenfalls versucht, einen Weg zu weisen, um, falls der Wille zur Einigung da ist, einen unparteiischen Boden zu Ver­ handlungen finden zu können. Durch das Gewerbegerichtsgesetz4 wird bestimmt, daß das Gewerbegericht bei Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern als Einigungsamt angerufen werden kann. In dem ganzen Verfahren ist jedoch der Zwang ausgeschlossen, mit Ausnahme des Erschei­ nungszwanges, der aber nur angewendet werden darf, wenn das Einigungsamt (Gewerbegericht)von einer oder beiden Parteien angerufenworden ist. Weder die Durchführung der erfolgten Einigung noch der gegebenenfalls geflillte Schiedsspruch ist erzwingbar. Die Einigungsbestrebungen der Gewerbe-

3 Die Organe der Buchdruckergemeinschaft waren die zentrale Tarifkommission, die Schieds­ !ierichte und die Arbeitsnachweise. Gewerbegerichtsgesetzvom 29. Juni 1890. RGBI. 1890, S. 141 und RGBI. 1901, S. 249. 262 Nr.67 gerichte haben, wenn besonders geeignete Persönlichkeiten Vorsitzende waren, oft ihr Ziel bei örtlich beschränkten Differenzenerreicht. Wenn nun aber auch alle diese Einrichtungen einige Erfolge erzielten, so haben sie doch gerade bei den großen umfassenden Streitigkeiten, die der Volkswirtschaft die schwersten Wunden schlugen, versagt oder doch erst nach monatelangen verlustreichen KämpfenErfolg gehabt. Den Grund hierfür sieht Berlepsch hauptsächlich in zwei Lücken des gesamten bestehenden Eini­ gungswesens. Es sind dies einmal das Fehlen einer Instanz, die kraft Gesetzes ohne auf Anrufung seitens der Parteien angewiesen zu sein, und auch bevor ein Konfliktausbricht, vermittelnd eingreifen kann; zweitens das Fehlen eines Erscheinungszwanges außer vor dem Gewerbegericht, sowie der Mangel an Mitteln, die Parteien zu veranlassen, die getroffene Einigung innezuhalten oder den Schiedsspruch zu befolgen. Deswegen bejaht Berlepsch die Frage nach der Notwendigkeit einer öffentlich-rechtlichen Instanz. Ob diese Instanz Erfolg haben wird, hängt von ihrer Organisation ab. Berlepsch ist der Meinung, daß man in Deutschland, wenn man an ein gesetz­ liches Eingreifen in die großen Kämpfe zwischen Arbeitgebern und Arbeit­ nehmern durch ein Reichseinigungsamt denkt, keinerlei Zwang einführen darf, als den Erscheinungs- und Verhandlungszwang. Den Verhandlungs­ zwang, der widersinnigerscheinen möchte, verteidigt Berlepsch mit der Hoff­ nung, daß eine moralische Wirkung erzielt wird, wenn ein Protokoll den Gang der Verhandlung darlegt oder ein Schiedsspruch feststellt, daß die Vertreter einer Partei ihre Teilnahme ablehnten oder dieselbe so einrichteten, daß der Wille, die Verhandlung illusorisch zu machen, von vornherein feststand. Bei der Ausdehnung der großen Arbeitskämpfe über die Grenzen des einzelnen Bundesstaates hinaus auf das Gesamtgebiet des Reiches könnte zweckmäßig das in Frage kommende Gesetz nur ein Reichsgesetz sein. Diese gründliche und umfassende Erörterung der Frage, wie die gesamte Volkswirtschaft vor den tiefgreifenden Erschütterungen, die Streiks und Aus­ sperrungen hervorrufen, nach Möglichkeit bewahrt bleiben könnte, ist den Arbeitgebern gewaltig auf die Nerven gefallen. H. A BueckS, der vor kurzem wegen seines hohen Alters ausgeschiedene Generaldirektor (sie l) des Central­ verbandes deutscher Industrieller, nimmt in der Nummer 117 des "Tag" ener­ gisch Stellung gegen den von Berlepsch vertretenen Gedanken eines Reichs­ einigungsamtes. Er sagt dort mit einer nicht mißzuverstehenden Wendung gegen die Regierung: "Gerade die großen maßgebenden Arbeitgeber wollen von dem Reichseinigungsamte, wie überhaupt von jeder behördlichen Ein­ mischung in die Kämpfe zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nichts wissen." Bueck versucht, diesen Standpunkt der "maßgebenden" Arbeitgeber

5 Henry Axel Bueck (1830-1916), 1887-1910 Geschäftsführer des Centralverbandes Deutscher industrieller und 1904-1910 Geschäftsführerder Hauptstelle deutscher Arbeitgeberverbände. 1911 Juni 16 263

auch zu begründen, und geht dabei von der Behauptung aus, daß die Arbeit­ nehmer gar nicht die ernsthafte Absicht haben, den wirtschaftlichen Frieden zu erhalten oder zu erstreben. Und er erklärt daher den Kampf zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern für unbedingt notwendig. "Die Arbeitgeber wissen, daß dieser Kampf unvermeidlich ist, wenn das Deutsche Reich seine große, machtvolle, in vielen Beziehungen überlegene Stellung behaupten soll." Mit dieser Phrase begründet Bueck die Absicht der großen Unternehmer, bei günstiger Gelegenheit den Kampf zwischen den Unternehmern und Gewerkschaften ohne Rücksicht auf das Gesamtinteresse der Volkswirtschaft bis zur völligen Vernichtung der Gewerkschaften durchzufechten, "denn ein nur unvollkommener Sieg der Unternehmer würde einer völligen Niederlage gleichzurechnen sein." In dem von Berlepsch propagierten Reichseinigungs­ amte sieht Bueck nun einen Faktor, der durch die Vergleichsbestrebungen einen vollkommenen Sieg der Arbeitgeber unmöglich macht, da es im Wesen eines Vergleiches liegt, daß auf keiner Seite ein völliger Sieg errungen werden kann. Natürlich muß auch das rote Gespenst aufmarschieren: Durch ein Reichseinigungsamt, so macht Bueck seine erschreckte Leserglauben, wird die Sozialdemokratie in ihrer gesamten Stellung befestigt und begünstigt. Daher ist für ihn der Gedanke des Reichseinigungsamts und aller Vermitt­ lungsbestrebungen verfehlt, ehe nicht die Arbeitgeber mit den Gewerkschaf­ ten den Kampf bis zur Entscheidung ausgetragen haben. Als Kronzeugen für seine Ansicht führt Bueck den ehemaligen Handelsminister von Möller6 an, "der den durchaus korrekten Standpunkt einnahm, daß vor Prüfungder Frage, ob und welche gesetzliche Maßregeln (zwecks Einigungsverhandlungen) zu ergreifen seien, der Kampf erst beendet sein müßte." Wie sich das Kapital diese Beendigung denkt, hat Bueck ja auch ausgespro­ chen und daß bei völliger Vernichtung der Gewerkschaften von Vergleichs­ verhandlungen nicht die Rede sein kann, wird jeder selbst überlegen. Die ganze Bereiterklärung des Kapitals zu Vergleichsverhandlungen ist also leere Phrase. Nach dieser entschiedenen Abweisung des Gedankens eines Reichseini­ gungsamtes durch die großen in Preußen-Deutschland maßgebenden Arbeit­ geber ist unter Berücksichtigung der Erfahrungen, die man in Bezug auf die soziale Gesetzgebung schon gemacht hat, kaum zu erwarten, daß die Regie­ rung es wagen wird, den Gesetzentwurf eines Reichseinigungsamtes einzubrin­ gen. Die allen sozialen Gedanken unzugänglichen manchesterliberalen Unter­ nehmer wollen im freien Spiel der Kräfteihre Differenzenmit den Arbeitneh­ mern um Gestaltung des Verhältnisses zwischen Kapitalgewinn und Arbeits­ rente austragen, um ungehindert in krassester Weise, wenn auch unter Preis-

6 Theodor Adolf v. Möller (1840-1925), 1901-1905 preußischer Minister für Handel und Gewerbe. 264 Nr.68 gabe der Interessen der gesamten Volkswirtschaft, ihre wirtschaftliche Über­ legenheit ausnutzen zu können. Mit dieser Stellungnahme der Unternehmer ist auch den Gewerkschaften der Weg gewiesen, den ihre Bestrebungen gehen müssen, nämlich sich ausrei­ chend zu rüsten, um aus jenem Vernichtungskampfe, den die Arbeitgeber beabsichtigen, durch eigene Kraft siegreich hervorzugehen.

Nr.68

1911 Juni 17

Der GewerkvereinNr. 48 XI. Generalversammlung des Gewerkvereins der Deutschen Fabrik- und Handarbeiter (Schluß) Teildruck

[Neue Bestimmungen und Sätze für Arbeitslosen-, Streik- und Maßregelungs­ unterstützung des Gewerkvereins]

Bei der Beratung des Rechtsschutzreglements setzte man fest, daß Rechts­ schutz nur bei Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis gewährt werden soll. Die Arbeitslosen-Unterstützung wird künftig vom ersten Tag an gezahlt und beträgt ja nach den Wochenbeitragsstufen von 15, 20, 25 und 30 Pfg. 3, 4, 5 und 6 Mark drei Wochen lang nach einjähriger Mitgliedschaft. Die Unterstüt­ zung steigt bei jedem weiteren Jahre der Mitgliedschaft in jeder Stufe um 1 Mark und eine Woche. Die Saisonarbeiter erhalten in der Zeit vom 1. Novem­ ber bis 1. April eine um 25 Prozent gekürzte Unterstützung; in den übrigen Monaten sind sie den anderen Mitgliedern gleichgestellt. Mitglieder, die in eine höhere Stufe übertreten, erhalten die erhöhte Unterstützung bei Arbeitslosigkeit erst nach Erstattung von 26 Wochenbeiträgen, bei Streiks, Aussperrungen und Maßregelungen jedoch schon nach Erstattung von 13 Wochenbeiträgen. Die Streikunterstützng beträgt bei 13-wöchentlicher Mit­ gliedschaft 5, 6, 7 und 8 Mark für Verheiratete und 4, 5, 6, und 7 Mark für Unverheiratete, bei 26-wöchentlicher Mitgliedschaft 10, 12, 14 und 16 Mark für Verheiratete und 8, 10, 12 und 14 Mark für Unverheiratete. Weibliche Mitglieder erhalten bei einem Beitrage von 15, 20 resp. 25 Pfg. dieselben Unterstützungen; bei 8, 10 resp. 13 Pfg. jedoch nur die Hälfte. 1911 Juni 17 265

Maßregelungsunterstützung wird auf die Dauer von höchstens 8 Wochen gewährt.1 Bei größeren Bewegungen kann der Generalrat Ausnahmen von obigen Bestimmungen machen. Außerdem werden für jedes Kind unter 14 Jahren wöchentlich 50 Pfg., jedoch nur bis zum Höchstbetrage von 2 M. ge­ zahlt. Mitglieder, welche auf Wanderschaft gehen, erhalten eine Wander­ unterstützung von 2 Pfg. pro Kilometer bis zu 500 Kilometer; die erneute Wanderunterstützung kann erst nach zwei Jahren erfolgen.

Nr.69

1911 Juni 17

Deutsche Techniker-ZeitungNr. 25 Die Fortzahlungdes Gehaltes bei militärischen Übungen Kfm.

(Industrie erschwert ihren Angestellten die Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen militärischen Pflichten durch Maßnahmen wie Lohnentzug bis hin zu Entlas­ sung; Erlaß des Kriegsministersbet r. einer Abstellung diesesMißstandes)

In industriellen Kreisen herrscht, wie wir an Einzelfällen wiederholt nach­ gewiesen haben und auch gegenwärtig wieder in der Lage sind, nachweisen zu können, die Gepflogenheit, den Angestellten bei militärischen Übungen das Gehalt ganz oder teilweise zu sperren. Auf diese Weise wird den Angestellten eine außergewöhnliche Belastung durch Erfüllung militärischer Pflichten auf­ erlegt. Auch solche Firmen, die direkt für Heer und Marine liefern, deren Unternehmen abhängig ist von der Landesverteidigung, scheuen sich nicht, den Angestellten durch Gehaltsentzug für die Ausübung seiner militärischen Pflichtenzu bestrafen. Diese Firmen verkennen ganz, daß Heer und Marine in erster Linie dazu da sind, den Industriellen ungestörte Produktions- und Ab­ satzmöglichkeiten zu sichern, also auch die militärischen Übungen nicht zuletzt mit in ihrem Interesse liegen. Wie oft kann man in Ausschreibungen lesen, daß nur militärfreie Leute angenommen werden, und wie mancher Angestellte wurde bei der Besetzung eines Postens ausgeschieden, weil eine militärische Übung in nächster Aus-

1 Bei Maßregelungsmaßnahmen handelt es sich um eine befristete Kündigung durch den Ar­ beitgeber.Solche Maßregelungen sind z.B. Aussperrungenbei Arbeitsstreitigkeiten. 266 Nr.69 sieht stand. Nicht wenige Firmen legen vor Abschluß des Engagements einen Fragebogen vor, von dessen Ausfüllung die Anstellung abhängig gemacht wird. Vor uns liegt ein solcher Fragebogen der Maschinenfabrik Carl Krause, Leipzig, der typisch ist für die Industrie. Wir finden da Fragen nicht nur nach dem Personalstand und der Ausbildung, sondern auch: "Haben Sie Schulden, bezw. welche? Wo wohnen Sie und bei wem? Wie groß ist evtl. Ihre Familie? Haben Sie ein Gebrechen oder körperliche Fehler? Sind Sie ernstlich oder lang andauernd krank gewesen? Welches Gehalt bewgen Sie bis jetzt? Wie sind Ihre Gehaltsansprüche gegenwärtig?" usw. Daß neben diesen Fragen auch die Erkundigung über die Militärverhält­ nisse nicht fehlen darf, ist selbstverständlich. Hier geschieht dies besonders eingehend: "Wie sind Ihre Militärverhältnisse? Sind Sie im Besitze der Berechtigung zum einjährigen Dienst? Haben Sie gedient (wann, wie lange, wo)? Welche Übungen haben Sie mitgemacht? Wie lautet Ihre Ausmusterung (Ersatzreserveoder Landsturm)?" Die erstgenannten Fragen, die wieder einmal die Abhängigkeit des Ange­ stellten beim Abschluß des "freien" Arbeitsvertrags illustrieren, scheiden für die gegenwärtige Betrachtung aus, und wir haben es nur mit den Fragen nach dem Militärverhältniszu tun. Wenn der Angestellte diese Fragen wahrheitsgemäß beantwortet und daraus hervorgeht, daß er zu einer weiteren Übung einberufen werden kann, ist es um die Anstellung schlecht gestellt. Wird aber trotzdem der Angestellte engagiert, vielleicht weil seine sonstige Qualifikation besonders hervorragend ist, dann hat der Unternehmer in den Dienstverträgen die beste Handhabe, die Lasten einer militärischen Einberufung von sich auf den Angestellten abzuwälzen. In vielen Fällen wirdin den Dienstverträgen gleich gesagt, daß bei militärischen Übungen auf Gehalt nicht zu rechnen ist. Aber auch Firmen, die ihre Ange­ stellten sonst zufriedenstellend behandeln, können sich noch nicht von der Erschwerung der Erfüllung militärischer Pflichten des Angestellten emanzi­ pieren. So steht in den Anstellungsbedingungen und allgemeinen Dienstvor­ schriften für die Beamten der Maschinenfabrik Eßlingen und der mit dieser verbundenen Firma G. Kuhn, G. m. b. H., Stuttgart-Berg, daß bei Bemessung des Urlaubs, der sonst erfreulicherweise gewährt wird, Dienstversäumnisse infolge militärischer Übungen auf den Urlaub in Anrechnung gebracht wer­ den. Selbst Firmen wie Voigt & Haeffner, A-G. in Frankfurt a. M., die durch Einführung eines Beamtenausschusses bewiesen haben, daß sie modernen 1911 Juni 17 267

Anschauungen zugänglich sind, haben im § 4 der allgemeinen Bestimmungen fürihre Beamten die militärischen Übungen als Urlaub angerechnet. Die "Erschwerung der Erfüllung militärischer Pflichten der Personen des Beurlaubtenstandesdurch Privatfirmen"hat sich aber nicht nur in den Kreisen der Angestellten bemerkbar gemacht, sondern ist bereits so groß geworden, daß auch das Kriegsministerium sich gezwungen sah, dazu Stellung zu neh­ men. In einem besonderen Erlaß, der uns bekannt geworden ist, wendet sich der Preußische Kriegsminister, Gen. d. Inf. von Heeringen1, recht energisch gegen die Firmen, die ihre Angestellten unter der Erfüllung militärischer Pflichten leiden lassen. Der Erlaß ist auch nach anderer Seite hin so interessant, daß wir glauben, ihn im Wortlaut folgenlassen zu müssen: Kriegsministerium. Erschwerung der Erfüllung militärischer Pflichten der Personen des Beur­ laubtenstandes durch Privatfirmen. Wie aus den u. R. beifolgenden Berichten der Generalkommandos usw. im allgemeinen hervorgeht, macht sich in industriellen Kreisen immer mehr das Bestreben geltend, den dienst- und übungspflichtigen Personen des Beurlaub­ tenstandes die Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen, militärischen Pflichten zu erschweren. Fälle, in denen bei einer Einberufung zur Übung die Entlassung aus dem Dienst- und Arbeitsverhältnis angedroht und zum Teil auch verwirk­ licht wird, oder in denen die Anstellung von bestimmten Forderungen abhän­ gig gemacht wird, z. B. binnen Jahresfrist nicht zu üben, sich nicht zur Wahl zum Reserveoffizier stellen zu lassen usw. oder in denen seitens der Arbeit­ geber auf Befreiung von der befohlenen Übung gedrängt wird, sind nicht sel­ ten. Ich verkenne durchaus nicht, daß bei dem heutigen Wettbewerb die geschäftlichen Verhältnisse zum Teil schwierig sind und daß daher selbst der zeitweise Ausfall einer Arbeitskraft, der durch Heranziehung eines Arbeiters oder Angestellten zur Übung entsteht, für die Arbeitgeber mit Nachteilen ver­ bunden sein kann. Andererseits wird aber m.E. in Betracht gezogen werden müssen, daß es sich nach den Anlagen vielfach um Groß-Firmen und Indu­ strielle handelt, denen mehr oder weniger auch staatliche Lieferungen übertra­ gen werden, und bei denen sich der Ausfall durch Einziehung einzelner Ange­ stellten usw. zu Übungen bei weitem nicht so fühlbar machen dürfte, als in den Kleinbetrieben. Das Verhalten dieser Firmen kennzeichnet deutlich das Bestreben weiter industrieller Kreise, gegenüber den Staatsbehörden in erster Linie ihre eigenen Interessen zu vertreten, deren Schutz und Förderung zu verlangen, dagegen sich möglichst den Opfern zu entziehen, die ihnen aus der Erfüllung gesetzlicher Pflichten seitens ihrer Angestellten und Arbeiter entste­ hen können. Nach meinem Dafürhalten ist es in sozialpolitischer Beziehung

1 General der Infanterie Josias von Heeringen (1850-1926), 1909-1913 preußischer Kriegsmini­ ster. 268 Nr.69 und im Interesse des Staatswohls dringend geboten, derartigen Bestrebungen mit allen Mitteln entgegenzutreten. Eure Exzellenz beehre ich mich daher ergebenst zu ersuchen, mich in dieser Hinsicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit gefälligst zu unterstützen und Ihren Einfluß auf die in Frage kommenden Kreise im staatlichen Interesse gel­ tend machen zu wollen. Soweit Firmen namhaft gemacht sind, denen Lieferungen im Bereiche der Militärverwaltung übertragen sind, wird von hier aus der Versuch gemacht werden, auf sie einzuwirken. Gleichzeitig habe ich die Königlichen General­ kommandos ersucht, etwaige besondere charakteristische Einzelfälle, die sich im nächsten Übungsjahr herausstellen sollten, hier zur Sprache zu bringen. Dem Herrn Minister für Handel und Gewerbe2, der Abschrift hiervon erhal­ ten hat, werde ich die Anlagen nach Rückgabe zustellen. Eurer Exzellenz würde ich für eine gefällige Rückäußerung dankbar sein. gez. v. Heeringen.3 An den Herrn Reichskanzler4 (Reichsamt des Innern) hier. Mit erfrischender Deutlichkeit wird hier von autoritativer Stelle gewissen industriellen Kreisen einmal gesagt, daß sie nichts weiter als das nackte Profit­ interesse kennen und obendrein dazu den staatlichen Schutz beanspruchen, sich sonst aber herzlich wenig darum kümmern, wo ihre Angestellten und Arbeiter bleiben. Der Erlaß atmet soviel soziales Verständnis, daß wir wahr­ haftig hoffen können, daß der Kriegsminister auch in den Betrieben, die ihm selbst unterstellt sind, und die sich hinsichtlich der Behandlung ihrer Ange­ stellten in nichts von privatkapitalistischen Unternehmungen unterscheiden, jene Änderungen vornimmt, "die in sozialpolitischer Beziehung und im Inter­ esse des Staatswohls dringend geboten" erscheinen. Wir denken da vor allen Dingen an die Beseitigung der schwarzen Listen, die noch immer, wie wir nachweisen können, seitens der Heeresverwaltung und anderer Reichs-Ressortsgegen Angestellte in Umlauf gesetzt werden. Aber auch hinsichtlich der Fortzahlungdes Gehalts bei militärischen Übun­ gen darf der Kriegsminister noch im eigenen Hause bessern. Es ist gar nicht so lange her, daß bei den Militärbauämtern Versäumnisse infolgemilitärischer Übungen vom Gehalte abgezogen wurden. In den Bedingungen für Annahme und Beschäftigung der Techniker bei den technischen Instituten der Infanterie und Artillerie, die nicht weniger als 45 Paragraphen enthalten und für die Gewehrfabriken in Danzig, Erfurt und Spandau, für die Munitionsfabrik und die Infanterie- und Artillerie-Konstruk­ tions-Bureaus in Spandau, für die Artillerie-Werkstätten in Spandau, Danzig, Lippstadt und Straßburg i. E., für die Geschoßfabrik und das Feuerwerks-

2 Reinhold von Sydow (1851-1943), 1909-1918 preußischer Minister für Handel und Gewerbe. 3 General der InfanterieJosias v. Heeringen (1850-1926), 1909-1913 preußischer Kriegsminister. 4 Theobaldvon Bethmann Hollweg (1856-1921 ), 1909-1917 Reichskanzler und preußischer Mini­ sterpräsident. 1911 Juni 17 269

Laboratorium in Siegburg, für die Pulverfabriken in Spandau und Hanau und endlich für die Geschützgießerei in Spandau gelten, also einen recht großen Personenkreis umfassen, findenwir in § 34: "Bei militärischen Übungen von nicht mehr als 14 Tagen erhalten die minde­ stens ein Jahr ununterbrochen bei der Militärverwaltung beschäftigten Techni­ ker 2/3 der Vergütung, wenn sie verheiratet oder überwiegend Ernährer von Familienangehörigen sind. Bei länger als 14 Tage dauernden Übungen ist ihnen die bezeichnete Teilvergütung nur für die ersten 14 Tage zu zahlen." Das Kriegsministerium wird uns gewiß dankbar sein, wenn wir auf diese Bestimmungen hinweisen mit der Bitte, in den eigenen Betrieben das einzuführen, was es von den Privatunternehmern mit seinem berechtigten Erlasse fordert.Aber auch das Reichsmarineamt, welchesnoch mit Verfügung vom 23. Mai den Verdacht aussprach, daßauch bei Privatfirmen, die mit dem Reichsmarineamt bezw. mit den Kaiserlichen Werften in Verbindung stehen, die Erfüllung militärischer Pflichten erschwert wird, hat alle Ursache, Gewis­ senserforschung zu halten. Nicht nur, daß die Kaiserlichen Werften in Wil­ helmshaven und Danzig Technikerstellen ausgeschrieben haben, mit der Bemerkung, daß die Bewerber "militärfrei" sein müssen, d.h. ebenfalls von militärischen Übungen verschont bleiben sollen. Auch in dem neuen Dienst­ vertrag, welcher den bisher im Hilfsbeamtenverhältnis stehenden Angestellten vorgelegt worden ist, finden sich Bestimmungen, nach denen Angestellten, die nicht mindestens ein Jahr im Marinedienst beschäftigt sind, während militäri­ schen Pflichtübungendas Gehalt entwgen werden kann. Der Kriegsminister hat also reichlich zu tun. Er muß nicht nur auf die Fir­ men einwirken, die für die Militärverwaltung arbeiten - wir wollen ihn dabei gern durch Bekanntgabe besonders charakteristischer Einzelfälle unterstüt­ zen -, sondern vor allen Dingen in den eigenen und verwandten Reichsbetrie­ ben nach dem Rechten sehen. Wir hoffen, daß dies gründlich geschieht und daß mit Einführung der Fortzahlung des vollen Gehalts bei militärischen Übungen auf die ganze Dauer derselben auch eine Reihe anderer Mißstände, die in den Reichsbetrieben vorhanden sind, beseitigtwerden. 270 Nr. 70

Nr.70

1911 Juni 17

Hansa-Bund Nr. 24 Der Verlauf des Hansatages Teildruck

[Eröffnungsansprache des Präsidenten des Hansa-Bunds, Prof. Dr. Riesser1; scharfe Frontstellung gegen die "Über-Agrarier".]

Im Namen des Präsidiums und der Gesamtverwaltung eröffne ich den Ersten Allgemeinen Deutschen Hansa-Tag, die erste große Heerschau des in Gewerbe, Handel und Industrie geeinten deutschen Bürgertums.Mit freudiger Genugtuung heiße ich die Tausende willkommen, die mitten aus angestrengter Tätigkeit heraus hierher geeilt sind, um Zeugnis abzulegen, daß sie helfen wollen, eine neue Zeitfür unser Vaterland herbeizuführen. Selbst die kühnsten Hoffnungen derer, die heute vor zwei Jahren unter ju­ belnder Begeisterung den Hansa-Bund begründet haben, sind übertroffen. In diesen beiden Jahren, die man ohne Übertreibung als Kriegsjahre bezeichnen kann, ist eine gewaltigeund schlagfertigeOrganisation geschaffen,und die von lauen Freunden und grundsätzlichen Gegnern für unmöglich erklärte einheit­ liche Front trotz aller Quertreibereien hergestellt. In langsamer, aber zäher Erziehungsarbeit ist das erwerbstätige Bürgertum zu seinem eigenen Staunen allmählich daran gewöhntworden, gemeinsam zu marschieren, um gemeinsam schlagen zu können. Nicht weniger als elf der agrardemagogischen Richtung bei den Reichstagsersatzwahlen entrissene Wahlkreise sind die erste Frucht dieser Taktik, weitere werden folgen. Jene einheitliche Front zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichenund wirtschaftspolitischen Interessen sichert unserer großen Bewegung nicht nur die Dauer, weit über den zufälligen Moment ihrer Gründung, weit über den vorübergehenden Moment einer Wahl hinaus, sondern wahrt ihr zugleich das, was jede solche Vereinigung besitzen muß, wenn sie von Dauer sein will: idealeund nationale Ziele. Gewiß ist unter jenen gemeinsamen Interessen nicht das letzte das rein ma­ terielle Interesse; denn es gilt, die wirtschaftlichen Schädigungen abzuwehren und wieder gut zu machen, welche übermächtige Gegner dem deutschen Ge-

1 Jacob Riesser (1853-1932), Bankier (Darmstädter Bank), Honorarprofessor an der Univenität Berlin, Vonitzender desZentralverbandes des deutschen Bank- und Bankiergewerbes. 1911 Juni 17 271 werbe in einseitigster Handels-, Finanz- und Verkehrspolitik zugefügt haben. (Beifall.) Aber weit darüber hinaus ragt die nationale und ideale Aufgabe, der wirun­ sere Arbeit widmen und aus der wir, wie aus einem Jungbrunnen, immer von neuem Kraft und Begeisterung schöpfen.Das ist die Aufgabe, in unserem Va­ terlande eine allen Erwerbsgruppen einschließlich der Landwirtschaft glei­ chermaßen zugute kommende Politik auf wirtschaftlichem und wirtschafts­ politischem Gebiet endlich einmal zu einer Wirklichkeit zu machen. (Beifall.) Eine solche Politik, welche die staatlichen Rechte und Stellen allen Staats­ bürgern ohne Unterschied ihrer sozialen, politischen und religiösen Stellung gleichermaßen gewährleistet und die Staatslasten unter alle nach Maßgabe ihres Besitzes und ihrer Leistungsflihigkeit verteilt, vermag alleinden Frieden nach innen und einen ehrlichen und ehrenvollen Frieden nach außen zu ver­ bürgen. Dieses unser Ziel ist also das direkte Gegenteil von dem, was unkundige, übermütige oder böswillige Gegner uns unterschieben.Unser Ziel ist ehrlicher Frieden, zu dem wir heute freilich nur durch ehrlichen Kampf gelangen kön­ nen, ist Versöhnung, nicht Verhetzung. (Stürmischer Beifall.) Nur wer den ruhigen Besitz einer Vorzugsstellung im Staate und den ungestörten Genuß sozialer und finanzieller Privilegienals ein gottgegebenes Grund- und Naturrecht betrachtet, hat überall zu allen Zeiten diejenigen als Hetzer bezeichnet, welche diesem Idyll ein Ende bereiten wol­ len. Wer gewöhntist, das Heute, also die Forderungen und Ereignisse des Tages als Ergebnisse des Gestern zu würdigen, konnte mit mathematischer Sicher­ heit den Tag berechnen, da endlich auch die Vertreter des mobilen Kapitals und des gesamten Bürgertums den Anteil an der ihnen fehlenden politischen Macht als selbstverständliches und notwendiges Korrelat der von ihnen errun­ genen wirtschaftlichen Macht in Anspruchnehmen würden. Das Bürgertum, durch Gesetz und Verfassung schon lange formell aus der früheren Untertanen-Stellung entlassen, mußte endlich einmal den Anspruch erheben, auch tatsächlich die freie Stellung eines Staatsbürgers einzunehmen, der vor niemandem bevorzugt, aber auch in Gesetzgebung, Verwaltung und Leitung des Staats hinter niemandem zurückgestellt sein will. (Lebhafter Bei­ fall.) Der hieraus erwachsene Kampf, in dessenAnfängen wir stehen, muß natur­ gemäß eine Zeit besonders erschüttern, die schon gerade genug unter dem schweren Kampf zwischen Kapital und Arbeitzu leiden hat. Und doch ist die­ ser Kampf des mobilen Kapitals um eine wirkliche, nicht nur auf dem Papier stehende Gleichberechtigung notwendig und kann nicht länger aufgeschoben 272 Nr. 70 werden. Er ist nur ungemein erschwert dadurch, daß den Freunden und Ver­ tretern des mobilen Kapitals nicht allein die politische Machtstellung,sondern auch jene kluge Taktik fast völlig abgeht, welche den Vertretern des immobi­ len Kapitals kraft einer Jahrhunderte langen politischen und administrativen Schulung zu eigen ist. Es liegt im Lebensinteresse des Staates, daß so bald wie möglich über die Fortdauer der jetzigen oder über die energische Durchführungeiner gerechten Politik auf wirtschaftlichem und politischem Gebiete entschieden werde. Diese Entscheidung kann nicht zweifelhaftsein: den bodenständigen Elemen­ ten muß in einem geschichtlich, wirtschaftlich und sozial so komplizierten Staatswesen,wie esdas deutsche ist, stets die ihnen zustehende Stellung belas­ sen werden, aber nur den bodenständigen, nicht den rückständigen. (Beifall. - Sehr gut!) Den Vertretern der Landwirtschaft, der agrarischen Richtung, muß der ihnen gebührende, also der gleiche Einfluß, wie den anderen Ständen belassen, den Ausschreitungen der Ober-Agrarier aber und ihren Versuchen, überlebte soziale Ungleichheiten im Interesse ihrer Vormachtstellung dauernd zu unterhalten, muß im Interesse des Staatswohls endlich und dauernd ein Ende gemacht werden. (Stürmischer Beifall.) Gewiß ist eine Alleinherrschaft des mobilen Kapitals, welche gleichfalls schwere Ausschreitungen mit sich bringen könnte, ebenso bedenklich, wie eine Ablösung des reinen Agrarstaats durch den reinen Industriestaat. Aber wirmüssen dafür sorgen, daß aus der Tatsache des längst erfolgtenUntergangs des reinen Agrarstaats auf allen Gebieten des Staats- und Wirtschaftslebens die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. Die Gebundenheit und Geschlossenheit des früheren Agrar-, Feudal- und Polizeistaates darf nicht fortwuchern auf dem gesunden Boden des modernen Verfassungsstaats. Eine einseitige Ausnutzung des übermächtigen Einflusses gewisser Kreise auf die Gesetzgebung, auf die Staats-, Gemeinde- und Provinzialverwaltung, auf die Kirchen-, Schul- und Gutspolizei kann auf die Dauer im modernen Staate nicht mehr geduldet werden. (Lebhafter Beifall.) Noch weniger kann es von einem seines Werts bewußten Bürgertum ertragen werden, wenn diese Vor­ machtstellung jener Kreise, namentlich des Großgrundbesitzes, wie eine ewige Krankheit fortgeschleppt wird, durch eine nur auf die Sicherung ihrer Vor­ herrschaftberechnete Wahlkreiseinteilung und durch ein Wahlrecht, das noch in letzter Zeit der Historiograph des preußischen Staates, Exz. v. Schmoller2, als "das reaktionärste Wahlrecht Europas" bezeichnet hat. (Hört!, hört")

2 Gustav von Schmoller (1838-1917), Nationalökonom und Historiker, Professor an der Universi­ tät Berlin, Mitglied despreußischen Herrenhauses (seit 1899). 1911 Juni 17 273

Die "Ackerkultur", die in diesem Saale in einer anderen Versammlung als Gegensatz zur Kultur der "knickebeinigen Städter" gefeiert wurde, darf nicht gering geschätzt werden, aber die alleinige Kultur eines modernen, von tau­ send geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Strömungen durchfluteten Staatswesens ist sie nicht und darf sie sich nicht anmaßen, zu sein. (Lebhafter Beifall.) Dieses moderne Staatswesen muß behufs Durchführung einer gerechten Politik im Sinne einer friedlichen Ausgleichung der wirtschaftlichen, politi­ schen und kulturellen Gegensätze geleitet werden, und jenem Ausgleich muß auch unser Kampf gelten. (Lebhafter Beifall.) Nur unwissende oder unwahr­ haftige Gegner können uns unterschieben, alles, was besteht, vernichten und herunterreißen zu wollen, uns, die wir davon durchdrungen sind, daß Deutschlands Kultur und Wirtschaft, sein Bürgertum und seine Beamten­ schaft,den Vergleich mit keinem anderen Staatszu scheuen brauchen. Die im Hansa-Bund vertretenen Erwerbsstände haben in erster Linie dazu beigegetragen, Deutschlands Ansehen, Würde, Kraft und Macht im In- und Auslande zu mehren, und keine noch so berechtigte Klage, die wir zu erheben haben, kann uns die Freude rauben am Vaterlande oder gar den festen Glau­ ben an seine Zukunft. Diese Zukunft wollen wir auf unserem Wege und mit dem Kampfe sicher­ stellen, den wir mit festem Vertrauen auf den Sieg unserer guten Sache ener­ gisch führen werden. Der Sieg aber in diesem Kampfeist nur zu erringen mit jenen Waffen, welche bisher vielfach nur unsere Gegner zu handhaben wuß­ ten, d. h. mit unbedingter Solidarität (Beifall), mit eiserner Disziplin und mit jener dem geringsten Arbeiter oft mehr als den Vertretern des Bürgertums eigenen Opferwilligkeit, zu der ich unser Bürgertum nochmals in dieser ern­ sten Stunde aufrufe. (Stürmischer Beifall.) Mit diesen Gedanken dem Morgenrot einer neuen Zeit entgegensehend, akzeptieren wir freudig die gegnerische Bezeichnung des Hansa-Bundes, als einer " Augenblicks-Erscheinung", in dem Sinne, daß wir mit der Gründung des Hansa-Bundes den richtigen Augenblick zum Erscheinen gewählt und daß wir in jedem Augenblick erscheinen werden, wo es gilt, den Rückschritt zu be­ kämpfen und einem gesunden Fortschritt die Bahn frei zu machen! (Jubelnder, sich immer wieder erneuernder Beifall.) 274 Nr. 71 · Nr. 72

Nr.71

1911 Juni 17

Resolutiondes VerbandesDeutscher Privateisenbahn-Beamten 1 Abschrift

[Die Einführung einer Sonderkasse als geeignete Grundlage zur Durchfüh­ rung der Angestelltenversicherung]

Die am 16. und 17. Juni in Neuruppin tagende Hauptversammlungdes Ver­ bandes Deutscher Privateisenbahn-Beamten erkennt den dem Reichstagzuge­ gangenen Entwurfeines Versicherungsgesetzes fürAngestellte, besondersden Gedanken, die Versicheruni: durch eine Sonderkasse herbeizuführen, als eine eeeimete Grundlaee zur Durchführung der Privatbeamten-Versicherung an. Die Hauptversammlung spricht den zuständigen Instanzen im Namen der Privateisenbahnbeamten ihren besonderen Dank für die Änderung des § 14 des Versicherungsgesetzes aus2, durch die den Pensionsverhältnissen dieser Beamtenschichtin geeigneter Weise Rechnunggetragen wird.

Nr.72

1911 Juni 22

Der Technische GrubenbeamteNr. 12 Fortbildungsschulen

(Forderung nach Ausbau des Fortbildungsschulwesens unter Einbeziehung der Bergarbeiter]

Die Reform des Fortbildungsschulwesens steht gegenwärtig im Vorder­ grunde des Interesses.1 Am 6. März er. hat die preußische Regierung dem Ab-

1 HauptstaatsarchivStuttgart, El30b,Bu 3316. Mitgeteilt als Anlage zu einem Schreiben desVerbandes Deutscher Privateisenbahn-Beamten an gasKönig!. WürttembergischeStaatsministerium in Stuttgart vom 29. Juni 1911. § 14 regelte die Versicherungsfreiheitvon Angestelltenmit beamtenähnlichem Status in Betrie­ ben, welche wie bspw. Privateisenbahnen, Aufgaben des öffentlichen Dienstes übernahmen. Vgl. tasVersicherungsgesetz für Angestelltevom 20. Dezember1991, RGBI. 1911, S. 992. Vgl. Nr. 21 und Nr. 194. 1911 Juni 22 275

geordnetenhause einen Gesetzentwurf über die Errichtung und den Besuch von Pflichtfortbildungsschulen vorgelegt, wodurch das Fortbildungsschulwe­ sen für Preußen einheitlich geregelt werden soll.2 Bisher bildete der§ 120 der Reichsgewerbeordnung die wesentliche gesetzliche Grundlage. Darnach kön­ nen Fortbildungsschulen von Gemeinden, Kommunalverbänden, Innungen, Handwerks- und Handelskammern errichtet werden. Die Gewerbeunterneh­ mer sind verpflichtet, ihren Arbeitern unter 18 Jahren die zum Schulbesuch notwendige Zeit zu gewähren. Auch können die Arbeitgeber zur Bestreitung der Kosten herangewgen werden. Während des sonntäglichen Hauptgottes­ dienstes darf kein Unterricht stattfinden. Übertretungender gesetzlichenoder statutarischen Bestimmungen stehen unter Strafe. Unter diesen gesetzlichen Bestimmungenhat sich das Fortbildungsschulwe­ sen gut entwickelt. So betrug die Zahl der Schüler 1910 400000, die auf 2200 Schulen entfielen, während sich 1884 nur erst 60 000 Schüler auf 650 Schulen verteilten. Aus der anfänglichenfreiwilligen Schule hat sich nach und nach die Pflichtschule gebildet. Die Erfahrunghatte nämlich gelehrt, daß nur durch die Pflichtschuledas gesteckte Ziel erreicht werden konnte. In sämtlichen preußi­ schen Großstädten ist denn heute auch die Pflichtschule zur Einführung gelangt. Der Pflichtunterrichtermöglicht es,Lehrstoff und Lehrmethodemehr und mehr den praktischen Bedürfnissen von Werkstatt und Fabrik, Kontor und Laden anzupassen. Daneben willdie Fortbildungsschule die staatsbürger­ liche Erziehung der jungen Leute fördern, allerdings in der Weise, wie wirsie nun einmal bei der ganzen Ausbildung unserer Jugend gewohnt sind. Die gesetzlichen Bestimmungen waren aber so lückenhaft, daß vielfach der Weiterbestand mancher Fortbildungsschule gefährdet war. So wurde vom höchsten Gerichtshof entschieden, daß Schüler nur dann zum Schulbesuch verpflichtet seien, wenn der Stundenplan durch Ortsstatut festgesetzt sei. Fer­ ner hat das Reichsgericht entschieden, daß die Fabrikanten der westlichen Provinzen zur Leistung von Beiträgen nicht verpflichtet seien. Auch die Ab­ grenzung zwischen gewerblichen Arbeitern und andern jungen Leuten mit ähnlicher Berufsarbeit hat vielfach zu Beschwerden Anlaß gegeben. So sind die Angestellten staatlicher und städtischer Betriebe, der Verkehrsunterneh­ mungen, Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit u.a. nicht zum Be­ such der Fortbildungsschule verpflichtet. Desgleichen auch ungelernte Arbei­ ter nicht. Hierzu gehören auch die jungen Bergleute, obzwar diese einer erziehlichen Einwirkung durch die Schule gerade am meisten bedürfen. Nun soll die Pflichtfortbildungsschule allgemein eingeführt werden. Nach dem eingangs erwähnten Gesetzentwurf ist jede Gemeinde mit mehr als 10 000 Einwohnern verpflichtet, eine Fortbildungsschule zu errichten und zu

2 Der Entwurf eines Pflichtfortbildungsschulgesetzes scheiterte im Juni 1911 aufgrund der Un­ einigkeit zwischen Regierungund Abgeordnetenhausmehrheit. 276 Nr. 71 · Nr. 72 unterhalten. Zum Schulbesuch verpflichtetsind alle in öffentlichenund priva­ ten Diensten beschäftigten männlichen Personen unter 18 Jahren. Die Schulzeit dauert 3 Jahre. Auch weibliche Personen unter 18 Jahren und sonstige nicht schulpflichtige männliche Personen, die noch keine Arbeitsstelle gefunden haben, können zum Besuch der Fortbildungsschule verpflichtetwerden. Leider sollen auch die Bestimmungen des neuen Gesetzes nicht auf die jugendlichen Bergarbeiter angewendetwerden. Das ist ein großer Mangel, der nicht genug kritisiert werdenkann. Wir habenbereits in einem früheren Arti­ kel darauf hingewiesen, wie notwendig der Fortbildungsunterricht gerade für die jungen Bergleute ist. Der Bergbaubetrieb wird immer schwieriger und komplizierter; immer größere Anforderungen müssen darum sowohl in kör­ perlicher als auch in geistiger Hinsicht an den Bergmann gestellt werden. Wenn früher das Wort "Bergmann kann jeder werden" vielleicht auch Berech­ tigung hatte, so ist das heute längst nicht mehr der Fall. Zum tüchtigen, lei­ stungsfähigen Bergmann gehört heute ein großes Maß von Intelligenz. Neh­ men wir doch einmal die vielen, rn der Letztzeit im Grubenbetrieb eingeführ­ ten, den verschiedensten Zwecken dienenden Maschinen. Diese ergiebig für sich und die Zeche zu meistem ist keiner imstande, der nicht die dazu gehörige Intelligenz besitzt. Dasselbe trifft auf die Verarbeitung der Kohle, des Gesteins, das Einrichten der Zimmerung usw. zu. Als Grubenbeamter erlebt man es ja alle Tage, daß der intelligente Arbeiter auch durchweg mehr leistet als sein beschränkter Kamerad. Es wird darum auch nicht weit daneben gegriffen sein, wenn man annimmt, daß der Rückgang des allgemeinen Lei­ stungseffekts, worüber ja so viel gejammert wird, damit zusammenhängt, daß durch die gewaltige Vermehrung der Belegschaftdie Intelligenten in die Min­ derzahl gedrängt worden sind. Während früher der größere Teil der Beleg­ schaftenaus tüchtigen, selbständigen Leutenbestand, ist es heute nur noch ein verschwindend kleiner Teil. Denn das Gros unserer Arbeiterschaft besteht heute aus fremden Elementen, bei denen erfahrungsgemäß die nötigen Vor­ bedingungen zum Bergmannsberuf, wie sie der von der Pike an dienende rhei­ nisch-westfälische Bergmann mitbringt, nicht vorhanden sind. Darauf ist unseres Erachtens auch die bedauerliche Tatsache zurückzuführen, daß trotz schärferer polizeilicher Vorschriften die Zahl der Unfälle immer größer wird. Denn nur derjenigekann sich gegen die ihn bedrohenden Gefahrenwappnen, der diese erkennt, der weiß, welchen Quellen sie entspringen. Kann man bei­ spielsweise Schlagwetterexplosionen verhüten, wenn man keine Schlagwetter kennt? Kann sich einer vor matten und andern bösen Wettern schützen, wenn er nicht weiß, unter welchen Begleiterscheinungen diese auftreten? Und wie­ viel Bergleute sind denn heute über diese Dinge aufgeklärt? Wie vielewissen sich selbst zu helfen, wenn Not an den Mann kommt? 1911 Juni 22 277

Anstatt sich da herumzustreiten, ob es ratsam ist, den Religionsunterricht als Pflichtfach in den Lehrplander Fortbildungsschule einzureihen, sollte man darum lieber nach einem Modussu chen, die jungen Bergleute in den Kreis der Schulpflichtigen einzubeziehen. Es heißt, wirtschaftliche Erwägungen ließen das nicht tunlich erscheinen; man müßte dann nicht nur in den größeren Orten, sondern im ganzen Bergbau Schulen gründen. Diese Begründung will uns wenig plausibel erscheinen. Wenn es für die jungen Leutedes Handwerks, des Handels und des Gewerbes genügt, wenn in Orten mit über 10 000 Ein­ wohnern eine Schule errichtet wird, warum nicht auch fürden Bergbau. Oder sind gerade die Bergbaudistrikte so dünn bevölkert, daß man, um allen jungen Leuten den Besuch der Schule zu ermöglichen, auch in Orten mit weniger als 10 000 Einwohnern Fortbildungsschulen errichten müßte? Im Gegenteil, bei der großen Bevölkerungsdichte der Bergbaureviere kommt ja ohnehin fast für jede Ortschaft eine Schule in Frage. Dieser brauchen die Bergleute nur zuge­ teilt werden (bei der Eigenart des Bergbaus vielleicht in einer besonderen Abteilung), und die Sache ist gemacht. Welcher Art die wirtschaftlichen Erwägungen sein sollen, die gegen die Ausdehnung der Pflichtfortbildungsschule auf den Bergbau sprechen, ist uns nicht recht sinnfällig. Sollte man dabei das im Bergbau übliche Doppelschicht­ system im Auge haben, so muß demgegenüber eingewendetwerden, daß ja der vorliegende Gesetzentwurf den Unterricht in die Zeitzwischen 7 Uhr morgens und 8 Uhr abends legt, somit auch den Bergleuten, ganz gleich was fürSchicht sie haben, den Besuch der Schule möglich macht. Daß wir nicht allein stehen mit der Forderung nach Ausdehnung der Pflichtfortbildungsschule auf den Bergbau, beweisen die Verhandlungen des letzten außerordentlichen preußischen Fortbildungsschultages, der am 18. März er. in Berlin stattfand.3 Dort ist ein Antrag des Oberbürgermeisters Cuno, Hagen zur Annahme gelangt, der auch die jugendlichen Bergleute durch ein besonderes Gesetz dem Fortbildungsschulzwangunterwerfen will. Durch die Pflichtfortbildungsschule für Bergleute würde für die späteren Bergvorschülerauch die Lücke ausgefüllt,die zwischen der Entlassung aus der Volksschule und dem Beginn der Bergvorschule liegt. Das wäre ein zweiter Vorteil dieser Richtung, der nicht hoch genug angeschlagen werden kann und der den Anfang einer Bergschulreform darstellen würde,wie wir sie bereits in einem Artikel des vorigen Jahrganges in Vorschlag gebracht haben. Der erste und Hauptvorteil aber ist sozialer und ethischer Natur. Die jungen Bergleute würden ihr Wissen bereichern, was ihnen sicher in ihrem spätem Berufsleben zu Nutze käme. Mehr aber noch würde ihre Erziehung in den Flegeljahren von 14 - 17 Jahren günstig beeinflußt. Diese Erziehungwürde sicher auf ihr ganzes

3 Vgl. hierzu u.a. den Artikel: Ein außerordentlicher PreußischerFortbildungsschultag, in: Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt,Nr. 27 vom 6. April1911. 278 Nr. 73 · Nr. 74 späteres Leben abfärben, wodurch der ganze Stand im Ansehen der Welt erheblich steigen würde.

Nr.73

1911 Juni 22

Mitteilung der BergwerksgesellschaftHibemia (Herne) an Direktor Meyer1 • Ausfertigung

[Strafandrohungbei Teilnahme an der 1. Mai-Feier]

Am 29. April 1911 meldete der Sicherheitsmann Meyer, daß er am 1. Mai nicht anfahrenwolle. Auf die Frage desHerrn Betriebsftlhrers Latsch,weshalb er nicht anfahren wolle, antwortete Meyer, er wollte den ersten Mai feiern, worauf Herr Betriebsführer Latschsagte, das sei fürihn keine genügende Ent­ schuldigung, er würde bestraft,wenn er nicht anfahre.

Nr.74

1911 Juni 23

Mitteilung der BergwerksgesellschaftHibemia (Herne) an den Vorstand1 HandschriftlicheAusfertigung

[Strafabzugbei der Löhnungwegen Teilnahme an der 1. Mai-Feier]

Die Feier des 1. Mai hat den Charakter einer eintägigen Ausstandsbewe­ gung. Als genügende Entschuldigung zum Ausbleiben von der Arbeit kann es nicht angesehen werden, wenn unsere Arbeiter uns behufs Teilnahme an einem Demonstrationsstreik, also an einer gegen die Arbeitgeber gerichteten Bewegungohne Arbeitskräfte lassen CWWenn Dein starker Arm es will, stehen alle Räder still") wollen.3 l • Bergbau-Archiv32/4264, unterzeichnet von Rehfenter. Vgl. Nr. 74. 1 Bergbau-Archiv, 32/4264,unterzeichnet von Direktor Meyer. 1911 Juni 23 279

Die !.-Maifeier hat die Eigenschaft einer Massenfeier + ist als solche von den Veranstaltern erklärtermaßen gedacht. Die einem Arbeiter erteilte Er­ laubnis muß auch anderen2 Arbeitern gegeben werden. Meyer + Genossen werden beim Berggewerbegericht klagen, sobald sie den Strafabzugbei der Löhnung festgestellthaben; diese Absicht haben sie mir in der letzten Ausschußsitzung kundgegeben; daher diese Meldung. a Am Rande handschriftlicher Vermerk des Vorstandsmitgliedes Dr. 8. vom 26.6.1911: "Durchaus mein Standpunkt".

Nr.75

1911 Juni 23

Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker, Steindrucker und verwandte Gewerbe Nr. 50 Der Konfliktim Berliner Zeitungsgewerbe1 Teildruck

[Ursachen, Verlauf und Ergebnisse des Streiks der Maschinenmeister und Hilfsarbeiterin den Firmen Scherl GmbH, Mosse und Ullstein & Co.; Scharfe Kritikdes Tarifbruchs]

Vor wenigen Wochen haben die Hauptversammlungen der Prinzipale und Gehilfen im Deutschen Buchdruckgewerbe, des Deutschen Buchdruckerver­ eins und des Verbandes der Deutschen Buchdrucker, der erstere zu Hamburg, der letztere zu Hannover tagend, sich in unzweideutigerWeise fürdie Erneue­ rung des Tarifvertrages ausgesprochen. Ein gleiches geschah seitens des Ver­ bandes der Hilfsarbeiterauf deren Generalversammlung in Bremen. Besonde­ ren Anlaß hierzu bot der Ablauf des Deutschen Buchdrucker-Tarifs und des Hilfsarbeiter-Tarifs mit Ende dieses Jahres. Wir haben keinen Anlaß anzu­ nehmen, daß hinter den Beschlüssen unserer Gehilfen- und Arbeiterschaft nicht der gleiche ernstliche Wille steht, an den Errungenschaften unserer Tarife festzuhalten, wie dies bei uns der Fall ist. Und wenn wir hieran gezwei­ felt hätten, dann wären wir in den Tagen des 16.-19. Juni wenigstens der Über­ zeugung geworden, daß die organisatorische Leitungder Arbeiterschaftdiesen Willen hat. Den Trägern der zu Hamburg und Hannover gefaßten Resolutio-

�Vgl.Nr. 73. Vgl. Nr. 79, Nr. 91. 280 Nr. 75 nen ist in Verbindung mit der ausführenden Körperschaft der Tarifgemein­ schaft, dem Tarifamt, inzwischen durch eine urplötzlich hervorgerufene Gele­ genheit - einen Bruch desTarifvertrags durch Berliner Gehilfen- sehr schnell Veranlassung gegeben worden, dem von ihnen der Tarifgemeinschaft beigeleg­ ten Werte praktische Gestalt zu verleihen. Und sie haben keinen Moment gezögert, im Sinne der Resolution zu handeln und die äußersten Konsequen­ zen zu ziehen, um ihre Handlung erfolgreich zu gestalten im Interesse der Aufrechterhaltung der Tarifgemeinschaft. Über die Vorgänge in Berlin, welche die Fundamente unseres Tarifvertrages mit den Gehilfen- und Hilfsarbeitern - zu gefährdengeeignet schienen, haben wir schon berichtet. Wir wollen jedoch die Ereignisse und ihre Ursache noch­ mals kurz darlegen. Im Dezember vorigen Jahres kündigte die Firma August Scherf G.m.b.H. in Berlin sieben Rotationsmaschinenmeistern, ordnete aber bald darauf Über­ stunden an, welche von den Maschinenmeistern mit Rücksicht auf die Entlas­ sungen abgelehnt wurden. Wegen dieser Arbeitsverweigerung kam es zur Klage vor dem Schiedsgericht bzw. Tarifamt. Bei dieser Gelegenheit hielt das Tarifamt eine Neuregelung der Arbeitszeit im Seherischen Rotationsbetriebe für erforderlich und gab den Parteien anheim, sich über eine dem Tarife ent­ sprechende Arbeitszeit zu verständigen. Eine Verständigung wurde aber nicht erzielt, und deshalb mußte sich das Tarifamt am 28. April d. J. erneut mit die­ ser Angelegenheit befassen. Es setzte eine Arbeitszeit fest, welche mit Wir­ kung vom 8. Mai für beide Teile verbindlich sein sollte. Als die Firma Schert die tarifamtlich festgesetzte Arbeitszeit einführen wollte, stieß sie bei den Rotationsmaschinenmeistern auf Widerstand. Das Personal verlangte die Einführung einer anderen, sich in einer Hausordnung begründenden Arbeits­ zeit. Scherl bestand jedoch mit Recht auf der Einführung der vom Tarifamt festgesetzten Arbeitszeit. Als jedoch das Personal die Arbeit verweigerte und das Erscheinen des "Lokal-Anzeigers" hierdurch in Frage gestellt war, mußte die Firma nachgeben. Sie tat dies unter Protest und Ankündigung einer Klage wegen Kontraktbruchs, weil die Maschinenmeister die Arbeit mehrere Stun­ den hatten liegen lassen und der "Lokal-Anzeiger" infolgedessen verspätet erschienen war. In der hierauf folgenden Verhandlung vor dem Tarifamt am 9. Juni fällte dieses wegen dieser Arbeitsverweigerung ein Urteil, demzufolge die 39 Rota­ tionsmaschinenmeister des Tarifbruchs und Kontraktbruchs für schuldig be­ funden wurden. Von einer Tarifuntreuerklärung wurde nachsichtigerweise abgesehen. Bezüglich der zwei Vertrauenspersonen dieser 39 Maschinenmei­ ster, namens Huf und Wallnig, sprach sich das Tarifamt dahin aus, daß diese als schuldig anzusehen seien, den am 8. Mai begangenen Tarif- und Kontrakt­ bruch nicht verhindert zu haben, auch sprach das Tarifamt die Meinung aus, 1911 Juni 23 281

daß das Verbleiben derselben in dem Betriebe der Firma Scher! einem friedli­ chen Arbeitsverhältnisim Wege stehe. Auf Grund diesesUrteils entließ die FirmaScher! am 9. Juni den einen, und am 12. Juni den anderen Vertrauensmann. In einer am 11. Juni stattgehabten Versammlung erklärten die verbleibenden 37 Maschinenmeister, daßsie in der Entlassung ihrer beiden Vertrauensleute eine ungerechte Härte erblickten. Die beantragte Wiedereinstellung lehnte die Firma Scher! jedoch ab. Am 16. Juni fanden unter Hinzuziehung der Gehilfen-Organisationsvorstände wegen dieser Entlassungen erneut Verhandlungen mit der Firma Scherl statt, welche durch das Entgegenkommen der Geschäftsleitung wahrscheinlich zu einer Einigung geführt haben würden, wenn nicht die Maschinenmeister in letzter Minute abermals versucht hätten, durch Zwangsmaßregeln eine unbedingte Nachgiebigkeit der Geschäftsleitungzu erreichen. An diesem Punkte scheiter­ ten nun die Verhandlungen. Die Firma weigerte jedes Zugeständnis, und nun geschah das Unerhörte, daß die 37 Maschinenmeister die Arbeit niederlegten und so den Seherischen Rotationsbetrieb zum Stillstand brachten. Alle Be­ mühungen der Organisationsleitungen blieben erfolglos und so sah sich die Leitungdes Seherischen Betriebes gezwungen,die Betriebe von Rudolf Mosse und Ullstein & Co. zu ersuchen, den Druck ihrer Zeitungen ("Lokalanzeiger", "Tag", "Abendzeitung") zu übernehmen. Diese erklärten sich hierzu auch bereit, dagegen weigerten sich die Maschinenmeister beider Betriebe, die Seherischen Blätter zu drucken, und zwar trotzdem sie von ihren Organisa­ tionsverbänden aufgefordertwurden, die Arbeit auszuführen.An dieser Stelle muß eingefügt werden, daß die Organisationsverbände des Gehilfen- und Hilfsarbeiter-Verbandes alles getan haben, ihre Mitglieder zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten, daß ihnen dies aber am 16. und 17. Juni noch nicht ge­ lungen war. Auch das Tarifamt hat durch öffentliche Darstellung des wirkli­ chen Sachverhalts schon am 16. Juni einer von den Streikenden versuchten Verhetzung der Berliner Arbeiterschaftvorgebeugt. Der in diesem Falle unberechtigten Solidarität der Gehilfen untereinander stellten nun die beteiligten Berliner Zeitungsverleger ihre eigene Solidarität gegenüber, die sich in der Folge als sehr wirksam erwies. Da infolge der Wei­ gerung der Mosseschen und Ullsteinschen Maschinenmeister, die Seherischen Blätter zu drucken, diese nicht erscheinen konnten, beschlossen die Firmen Rudolf Mosse und Ullstein & Co., ihre Zeitungen ebenfalls nicht erscheinen zu lassen, bzw. in nur ganz beschränktem Umfange. Hiermit sollte der Mög­ lichkeit einer Benachteiligung des Seherischen Verlages durch Abonnenten­ verlust usw. vorgebeugt werden. Auch die meisten übrigen Berliner Zeitungs­ verleger erklärten sich mit den betroffenen Firmen solidarisch, indem sie die folgendeErklärung veröffentlichten: "Die Verleger der unterzeichneten Berliner Zeitungen erklären nach Kennt­ nisnahme der Vorgänge in den Zeitungsdruckereien der Firmen Rudolf Mosse, 282 Nr. 75

August Scher}, G.m.b.H., und Ullstein & Co., daß sie die von den Geschäfts­ leitungen getroffenen Maßnahmen in vollem Umfange billigen, und erklären, daß sie darauf verzichten, aus dem erschwerten, beziehungsweise verringerten Erscheinen der betroffenen Zeitungen geschäftliche Vorteile irgendwelcher Art für sich zu gewinnen. Ferner stellen sie ihre Bereitwilligkeit fest, sich nöti­ genfalls für die Dauer des aufgedrungenen Konflikts in gemeinschaftlicher Ent­ schließung mit den betroffenen Firmen über gemeinsame Abwehrmaßnahmen zu verständigen."

Berlin, den 18. Juni 1911. "Berliner Blatt", "Berliner Börsenzeitung", Berliner Neueste Nachrichten", "Deutsche Lehrerzeitung", "Deutsche Nachrichten", "Deutsche Tageszeitung", "Deutsche Warte", "Märkische Volkszeitung", "Nationalzeitung", "Neue Preu­ ßische (Kreuz-)Zeitung", "Nordische Volkszeitung", "Die Post", "Staatsbürgerzeitung", "Tägliche Rundschau", "Vossische Zeitung".

Auf den gleichen Standpunkt stellte sich der Vorstand des Vereins Deut­ scher Zeitungsverleger, dessen Hauptversammlung am Dienstag, den 20. Juni, zu Berlin tagte. Tatsächlich sind die in Frage kommenden Berliner Zeitungen, insgesamt acht, auch mehrere Tage nur in geringem Umfangerschienen. Inzwischen hatten sich die Personale der Firmen Mosse, Scherl und Ullstein versammelt, um zu der Arbeitseinstellung bei Scherl Stellung zu nehmen. In diesen Versammlungen, die am Sonnabend, den 17., und Sonntag, den 18. Juni stattfanden, fand das Vorgehen der Scherlschen Maschinenmeister und eines Teiles der dortigen Hilfsarbeiter, welche sich dem Streike angeschlossen, all­ gemeine Verurteilung. Zu dieser Auffassung haben besonders die Leiter der Gehilfen- und Hilfsarbeiter-Organisation beigetragen, welche in diesen Ver­ sammlungen die Tarifvertragstreue als erstes Erfordernis bezeichneten, und damit Zustimmung fanden.Es wurde schließlich beschlossen, die Geschäftslei­ tung der Firma Scherl durch Entsendung einer aus den verschiedenen Arbei­ tergruppen des Betriebes bestehenden Kommission zu bitten, die Ausständi­ gen wieder einzustellen. Man hatte also, und zwar auch seitens der Streiken­ den, das begangene Unrecht eingesehen und war bereit, sich zu unterwerfen. Noch im Laufe des Sonntags wurde in den Betrieben von Mosse und Ullstein die Arbeit wieder aufgenommen, während bei Schert am Montag früh diese Kommission vorsprach, um die Wiedereinstellung der Streikenden zu erwir­ ken. Die Kommission desSeherischen Personals wurde von der Geschäftsleitung dahin beschieden, daß ihnen nach Rücksprache mit den Firmendirektoren von Mosse und Ullstein, sowie mit den Organisationsleitungen und Tarifamtsver­ tretern Bescheiderteilt werde. Hiermit gab sich die Kommission zufrieden. Im Laufedes Montag, des 19. Juni, fandenneue Beratungen statt, an welcher Ver­ treter der Firmen Mosse, Schert und Ullstein, des Deutschen Buchdrucker- 1911 Juni 23 283

Vereins (Herr Dr. Petersmann)2, des Tarifamts (Herr Geheimrat Büxen­ stein)3, des Verbandes der Deutschen Buchdrucker und des Hilfsarbei­ terverbandes teilnahmen. Über die Verhandlungen wurde ein Protokoll auf­ genommen, welches wir nachstehend mit zum Abdruck bringen, und auf wel­ ches wir hiermit verweisen.4 Es wurde die nunmehrige völlige Unterwerfung der Streikenden unter die Beschlüsse der Versammlungen zur Voraussetzung erhoben und schließlich ein Einigungsvorschlag angenommen, nach welchem von den 37 Maschinenmeistern 30 wieder zur Anstellung kommen sollen, außerdem das gesamte Hilfspersonal, soweit es benötigt werde. Einer Kom­ mission des Seherischen Personals wurde der Einigungsvorschlag unterbreitet und von dieser angenommen, nachdem ihr noch das Recht eingeräumt wurde, von den Maschinenmeistern, welche nicht wieder eingestellt werden sollen, drei selbst zu bestimmen. Die Firma Schert machte von der Einstellung sofort Gebrauch und die Streikenden traten die Arbeit wieder an. Hiermit war die letzte Veranlassung gefallen, welche das Erscheinen der Zeitungenausschloß, und der Buchdruckerstreik beendet. Einen Antrag auf Zahlungeiner Entschä­ digung von 10 000M. wg die Firma Schert zurück, nachdem der Verbandsvor­ stand erklärt hatte, fürdie für die 39 Maschinenmeisterfestgesetzte Kontrakt­ bruchstrafezu haften.

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Die so rasche Beendigung des Berliner Zeitungsausstandes wird gewiß das gesamte deutsche Bruchdruckgewerbe mit um so größerer Befriedigung erfül­ len, als die Folgen, welche der noch nicht dagewesene schwere Disziplin- und Vertragsbruch für Berlin, wie für die ganze Tarifgemeinschaft leicht haben konnte, von der ernstesten und eingreifendsten Art hätten werden können. Ebenso große Befriedigung darf man über die glänzende Solidarität der gesamten Prinzipalschaft des Buchdruck- und des Zeitungsgewerbes empfin­ den, die sich gegenüber dem eingetretenen Tarifbruch offenbarte sowohl in der selbstlosen Hilfe, welche die Firmen Mosse und Ullstein der bestreikten Firma Schert sofort und mit großen materiellen Opfern leisteten, als auch in dem Verhalten der übrigen Berliner Zeitungsverleger und dem Eintreten des Vereins Deutscher Zeitungsverleger und des Deutschen Buchdrucker-Vereins für ihre bedrohten Mitglieder und für die nicht minder gefährdete Tarif­ gemeinschaft. Mit großer Befriedigung dürfen wir auch auf die außerordent-

2 Dr. JosefPetersmann, Vorsitzenderdes Deutschen Buchdrucker-Vereins. 3 GeorgW. Büxenstein, Prinzipalsvorsitzenderder Tarifkommissionfür Deutsche Buchdrucker. 4 Nicht abgedruckt. 284 Nr. 75 liehe Arbeitsleistung blicken, welche die tariflichen Instanzen zur Beilegung des Konfliktes aufzuwenden hatten, und in gleicher Weise ist das korrekte, vertragsgemäße Verhalten der Leitungen des Verbandes der Deutschen Buch­ drucker und des Hilfsarbeiterverbandes einzuschätzen, das wesentlich mit dazu beigetragen hat, die Tarifsünder zur Einsicht zu bringen und damit die Beilegung des Ausstandeszu beschleunigen. Über die Genugtuung über die Beendigung des Ausstandes wollen wiraber auch nicht den ernsten Betrachtungen ausweichen, zu denen der begangene Tarifbruchanregt Denn so sehr man auch der Überzeugung sein mag, daß der wiederhergestellte Friede von Dauer sein und sich solche grobe Verstöße gegen die Tarifgemeinschaft nicht so bald wiederholen werden, so bleibt doch das letztere immer nur Hoffnung, wenn es nicht gelingt, die Ursachen zu be­ heben, die überhaupt zu der Auflehnung der Seherischen Rotationsmaschi­ nenmeister gegen das Tarifamtund gegen die Verbandsleitung geführt haben. Sucht man nach einem Erklärungsgrund fürdie Auflehnungder streikenden Rotationsmaschinenmeister gegen das Tarifamt und die tariflichen, sowie die Instanzen der Gehilfenorganisation, so kann er wohl zumeist in der sogenann­ ten Spartenbewegung gefunden werden, die derart ins Kraut geschossen ist, daß sich die einzelne Sparte, hier die Rotationsmaschinenmeister, über alles hinwegsetzen und auf jeden Fall eigene Wege gehen zu können glaubt.5 In ganz direktem ideellen Zusammenhangesteht, wie deutlich erkennbar ist, aber auch die Institution der Vertrauensmänner zu dem Falle Schert. Die Unantastbarkeit, die dieser im Tarife selbst gar nicht existierenden Instanz sei­ tens der Gehilfenorganisation mit großer Beharrlichkeit erwirkt worden ist, macht diese Funktionäre glauben (genau wie die Sparten), daß eigentlich in ihrer Hand die Macht ruhe, und die Geister, die sie rief, wird nun die Organisation nicht wieder los. Es ist ein Hohn auf den Namen und die wirk­ liche Aufgabe des Vertrauensmannes, wenn, wie im Falle Schert, gerade er die eigentlich treibende Kraft beim schnellen Schreiten desSchicksals ist. Die Erklärungen der Hauptversammlung des Verbandes der Deutschen Buchdrucker und der Hauptversammlung des Deutschen Buchdrucker-Ver­ eins, auf tariflichem Boden Verständigung zu suchen und vor allem die für Gehilfen wir Prinzipale als so wertvoll erkannte Tarifgemeinschaft aufrecht zu erhalten, gelten den Sparten und Vertrauensleuten in Berlin nichts; ihnen gilt auch nichts, daß die Verbandsgeneralversammlung in Hannover im Hinblick auf die Berliner Vorgänge ihre "schärfste Mißbilligung über solche Vorkomm-

5 Die Sparten waren Spezialorganisationeninnerhalb des Verbandesder deutschen Buchdrucker; esgab folgendeSparten: - Zentralkommissionder Maschinensetzer Deutschlands - Zentralkommissionder MaschinenmeisterDeutschlands - Zentralkommissionder Stereotypeureund Galvanoplastiker Deutschlands. - Zentralkommissionder Korrektoren Deutschlands, - Zentralkommissionder SchriftgießerDeutschlands. 1911 Juni 23 285

nisse" aussprach und unter allen Umständen von den Mitgliederndes Verban­ des die vollste Anerkennung der tariflichen Institutionen und Unterwerfung unter die Rechtssprechung derselben verlangte". So nur konnte es kommen, daß zwei Personen eine ernste Gefahr für das ganze Gewerbe heraufbeschwo­ ren. Von verhängnisvollem Einfluß ist übrigens auch die ganze gewerkschaft­ liche Erziehung und die daraus hervorgehende Disziplinlosigkeit des Berliner Gehilfen, denn: "anders wohl wie sonst in Menschenköpfen malt sich in die­ sem Kopf die Welt". Obwohl nun alle zuständigen Organe, einschließlich derjenigen der Gehil­ fenschaft, ihre Pflicht getan haben, dürfen wir uns doch dem Ernst der Lage nicht verschließen und müssen aus dem eingetretenen Umstande, daß über Nacht aus dem Mißbrauch des Solidaritätsgefühlsunter den Arbeitern und der Herrschsucht der Sparten ernste Gefahren für den gewerblichen Frieden und fürdie Tarifgemeinschaft entstehen konnten, Lehre ziehen. Die Berliner Vor­ gänge haben mit der Grellheit eines Wetterleuchtens die Situation erhellt und gezeigt, daß nicht nur die kluge und bewährte Verbandsleitung plötzlich vor ganz unerwartete vollendete Tatsachen gestellt werden kann, sondern daß auch Verbandsmitglieder sich gegen alle Grundbegriffe gesunden Menschen­ verstandes vergehen können, und zwar haben das nicht nur die 37 bei Schert an der Sache direkt beteiligten Leutegetan, sondern ebenso die Personale von Mosse und Ullstein, von denen doch eine vernünftigere Auffassung erwartet werden mußte. Es soll dahingestellt bleiben, wie weit für die Vorkommnisse die spezifisch berlinerischen Verhältnisse verantwortlich zu machen sind und wie weit ähnliche Widersprüche zwischen der Haltung der leitenden Stellen und der Mannschaften auch anderwärts,wenn auch vielleicht nicht so kraß wie in Berlin, in die Erscheinung treten können. Das aber scheint sicher: Der ungeheure Gegensatz zwischendem verständigen, einsichtsvollen und friedfer­ tigen Tone der Hauptversammlungs-Resolutionen und dem Geiste, der sich in der Berliner Gehilfenschaft offenbart hat, kommt nicht von ungefähr. Mögen es Größen zweitenund dritten Ranges sein, die in Sparten- und Druckereiver­ sammlungen der Begierde, ebenfalls zu herrschen, freien Lauf ließen - es wird notwendig sein, Klarheit darüber zu schaffen, wie es letzten Endes mit der Tariftreue steht. Nicht nur einer Tariftreue, die grobe Tarifbrüche vermeidet, sondern einer solchen, die den Geist der Tariftreue ehrlich wahrt. Der Berliner Tarifbruchsfall hat gezeigt, daß es, um Wiederholungen und erneute Gefährdungen des tariflichen Übereinkommens hintanzuhalten, not­ wendig ist, den von der Verbandsleitung vertretenen Organisationswillen mit stärkeren Garantien zu umgeben, damit er sich im Ernstfallezur Wahrung der Vertragstreue und zur Aufrechterhaltung des gewerblichen Friedens auch wirklich durchsetzen kann. Dazu genügt es aber anscheinend nicht, die Ver­ bandsmitglieder zur Disziplin anzuhalten und eintretendenfalles ein paar 286 Nr. 76

Renitente aus dem Verbande auszuschließen. Das letztere erfolgt immer erst nach geschehner Tat und hat dann nur eine vorübergehende Wirkung, die zudem noch von den vorhergegangenen wirtschaftlichen und anderen Störun­ gen wenig wieder gutmachen kann. Viel wichtiger als die Bestrafung der begangenen Tat ist das Vorbeugen. Dies aber kann nur erzielt werden, wenn man den Organisationswillen, wie er sich in den Hauptversammlungsbe­ schlüssen ausdrückt, oberstes Gesetz sein läßt und seine Beeinträchtigung durch Neben- oder Sonderorganisationen unmöglich macht. Den Auswüchsen der Spartenbewegung und dem Einflusse einzelner Vertrauensmänner muß insoweit entgegengetreten werden, daß diese sich nicht über die Verbandslei­ tung hinwegsetzen. In der jetzigen Berliner Tarifbruchsangelegenheit hat offenbar das übertriebene Selbstgefühl, das durch die Zugehörigkeit zur Sparte der Rotationsmaschinenmeister genährt wird, die Tarifbrecher bei ihren Entschlüssen geleitet, darin erhalten und sie auch bestimmt, dem Ver­ bandsvorstande Trotz zu bieten. Das ist ein sehr bedenkliches Beispiel. Wenn schon die Vertrauensmänner und Sparten sich sollen herausnehmen können, so einschneidende Eingriffe in den Geschäftsbetrieb von Tarifdruckereien zu unternehmen, wie in Berlin geschehen, so hört im Verbande sowohl die Diszi­ plin, wie die Vertragsfähigkeitauf. Der Berliner Tarifbruchsfall ist also geeignet, sehr ernste Betrachtungen auszulösen. Mit seiner Erledigung ist es nicht getan, sondern es muß darauf Bedacht genommen werden, möglichen Wiederholungen vorzubeugen. Das wird eine Aufgabe für den Tarifausschuß der Deutschen Buchdrucker beim Zusammentritt zur Tarifrevision sein, das wird aber auch eine Aufgabe der den Tarifvertragstützenden Organisationen werden müssen.

Nr.76

1911 Juni 24

Deutsche Industrie-ZeitungNr. 25 Rundschau, Landrat a.D. Roetger tritt aus dem Präsidium des Hansa-Bundes aus.

[Rechtfertigung von Roetgers Ausscheiden aus dem Präsidium des Hansa­ Bundes und seines Austrittsaus dem Hansa-Bund)

Vom Centralverband Deutscher Industrieller geht uns der nachstehend abgedruckte Brief des Vorsitzenden des Direktoriums, Herrn Landrat a.D. 1911 Juni 24 'ZP,7

Roetger, an den Präsidenten des Hansa-Bundes, Herrn Geheimrat Dr. Rießer, zur Veröffentlichung zu: "Berlin, den 21. Juni 1911. Herrn Geh. Justizrat Dr. Rießer, Berlin NW. 7, Dorotheenstraße 36. Sehr geehrter Herr Geheimrat! Meine in den an Sie gerichteten Schriftstückenvom 14. und 16. Juni enthal­ tenen deutlichen Hinweise darauf, daß ich nicht gewillt bin, die Verantwor­ tung für Ihre von Ihnen als "persönliche Bemerkungen" bezeichneten hoch­ politischen Schlußdarlegungen auf dem ersten allgemeinen Hansatage mit zu übernehmen 1, haben zu meiner Überraschung nicht verhindert, daß ein wesentlicher Teil Ihrer Ausführungen ohne vorherige Besprechung im Präsi­ dium des Hansabundes in die Form eines Aufrufs zur Werbung neuer Mitglie­ der gekleidet worden ist. Dadurch sind Ihre Ausführungen unzweideutigihres "persönlichen Charakters" entkleidet und als Ansicht des Hansabundes und damit seines Präsidiums hinausgesandtworden, trotzdem ich in meinem zwei­ ten Schreiben deutlich darauf hinwies, daß "über die Einpassung Ihrer Darle­ gungen in die satzungsgemäßen Ziele des Hansabundes die Ansichten auch innerhalb des Hansabundes voneinander abweichen dürften". Ich gehe über die in diesem Vorgehen enthaltene Nichtachtung der Rechte des Präsidiums des Hansabundes hinweg; es kann jetzt nur noch darauf ankommen, festzustellen, daß der von Ihnen persönlich ohne Vorwissen Ihrer Kollegen im Präsidium geforderte politische Kampf gegen Rechts als sat­ zungsgemäßes Ziel des Hansabundes nun auch, wiederum ohne vorherige Beratung, zur Losungdes Hansabundes gemacht worden ist. Das widerspricht nach meiner pflichtmäßigen Überzeugung,wie ich wieder­ holt zu erkennen gegeben habe, dem Geiste der Satzungen und der Richtlinien des Hansabundes und meiner Stellung als Vorsitzender des Centralverbandes Deutscher Industrieller, eines wirtschaftlichen Verbandes, in dem alle bürger­ lichen politischen Parteien, sowohl links- wie rechtsstehende,vertreten sind. Über die zwischen Ihnen und Ihrer Gefolgschaft einerseits und mir und meinen Freunden anderseits in diesem ausschlaggebenden Punkte bestehen­ den Meinungsverschiedenheiten eine Verständigung etwa durch Aussprache im Direktorium des Hansabundes zu versuchen, erachte ich für zwecklos. Nach langer reiflicher Überlegung finde ich für eine solche Verständigung keinen Weg. Unter diesen Umständen sehe ich mich genötigt, auf die Mitarbeit am Hansabunde zu verzichten. Ich lege demgemäß und in Übereinstimmung mit der Anschauung desheute versammelten Direktoriums des Centralverbandes

1 Vgl. auch Nr. 70. 288 Nr. 76 mein Mandat als Mitglied des Direktoriums und Präsidiums im Hansabunde nieder. Ich tue dies in dem Bewußtsein, alles daran gesetzt ZQ. haben, um an einer den Satzungen und Richtlinien des Hansabundes entsprechenden Führung desselbenauf der mittleren Linie mitzuarbeiten. In vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebenster Roetger."

Der Centralverband Deutscher Industrieller teilt uns ferner mit, daß Herr Landrat Rötger mit besonderem Schreiben auch seinen Austritt aus dem Hansabunde erklärt hat. Der Schritt des Herrn Landrats a.D. Roetger kommt nicht unerwartet; wer die Haltung des Präsidenten des Hansabundes schon seit der Gründung des Bundes nicht aus einem einseitigen Parteistandpunkt beobachtet hat, der konnte darüber nicht im Zweifel sein, daß die deutsche Industrie, die im Cen­ tralverband Deutscher Industrieller ihre hauptsächlichste und einflußreichste Vertretung sieht, dem stark ausgesprochenen agitatorischen und parteipoli­ tisch einseitigen Vorgehen des Hansabundes auf die Dauer nicht Hilfeleisten kann, und daß infolgedessen ein schwerer Konflikt zwischen den führenden Kreisen des Hansabundes unvermeidlich sein wird. Die Vorgänge auf der Hansabund-Tagung am 12. d. M. haben die Entscheidung gebracht. Der Vor­ sitzende des Direktoriums des Centralverbandes Deutscher Industrieller, der vor zwei Jahren mit dem Vorsitzenden des Centralverbandes des deutschen Bank- und Bankiergewerbes die Versammlung im Zirkus Schumann einberu­ fen hatte, ist aus dem Direktorium des Hansabundes im Einverständnis mit dem Direktorium des Centralverbandes Deutscher Industrieller ausgeschie­ den. Es wird sich für uns noch reichlich Gelegenheit bieten, zu diesem bedeu­ tungsvollen Vorgange Stellung zu nehmen. Aber schon heute möchten wir dem bereits hervortretenden Versuche, den Centralverband Deutscher Indu­ strieller als den einseitigen Vertreter der sogenannten schweren Industrie zu charakterisieren2, entgegentreten, da dieser Versuch dazu dienen soll, die Bedeutung des gemeldeten Vorganges abzuschwächen. Die diese Meinung verbreiten und wissen, daß sie unzutreffendist, machen sich der bewußten Fäl­ schung der öffentlichen Meinung schuldig, und die, welche den Centralver­ band Deutscher Industrieller nicht besser kennen und ihn in Wirklichkeit für den Vertreter der schweren oder gar nur der rheinisch-westfälischenschweren Industrie halten, die kennen weder die Geschichte, noch den Arbeitskreis und die Mitgliedschaft dieses größten und umfassendsten aller industriellen Ver­ bände, und haben somit kein Recht, über ihn mitzusprechen. Wir werden die-

2 Vgl.Nr.82. 1911 Juni 26-Julil 289 sen Versuchen, der öffentlichen Meinung Sand in die Augen zu streuen, nach­ drücklich entgegentreten. 3 Auch die Unterstellung weisen wir zurück, als ob der Rücktritt des Herrn Landrats a.D. Roetger aus dem Hansabund mit einer konservativen Kandida­ tur in Merseburg zusammenhinge. Herrn Roetger selbst ist von einer solchen Kandidatur nichts bekannt. Im übrigen verrät eine so ungeheuerliche Ver­ dächtigung einen bedenklichen Tiefstand politischer Gesinnung, und es ist erstaunlich, daß ernste Zeitungendenselben Raum gegeben haben.

Nr.77

1911 Juni 26 - Juli 1

Protokoll der Verhandlungen des 8. Kongresses der Freien Gewerkschaften Deutschlands in Dresden Die Errichtung einer gewerkschaftlich-genossenschaftlichen Unterstützungs­ kasse G. Bauer1

[Beschluß zur Gründung einer Unterstützungskasse)

J. l. Die Generalkommission wird beauftragt, gemeinsam mit dem Zentral­ verband Deutscher Konsumvereine eine gewerkschaftlich-genossenschaftliche Unterstützungsvereinigung ins Leben zu rufen. Aufgabe der Vereinigung soll sein, den Mitgliedern der Gewerkschaftenund Genossenschaften, die freiwillig Beiträge leisten, und deren Familienangehörigen Unterstützung in Fällen des Todes, des Alters, der Kinderversorgungusw. zu gewähren. Die zur Durchführung dieses Auftrages mit dem Zentralverband Deutscher Konsumvereine zu treffenden Vereinbarungen und das Statut der Unterstüt­ zungsvereinigung bedürfen der Genehmigung der Konferenzder Vertreter der Verbandsvorstände.

3 Vgl. Nr. 89, Nr. 109. 1 Gustav Bauer (1870-1944), Mitglied der Generalkommissionder GewerkschaftenDeutschlands. 290 Nr. 78

Nr.78

1911 Juni 27

Korrespondent fürDeutschlands Buchdrucker und Schriftgießer Nr. 71 Der LeipzigerÄrzteverband

[Jahresversammlungdes Verbandes in Stuttgart]

Der Leipziger Ärzteverband1 hielt dieser Tage in Stuttgart seine Jahresver­ sammlung ab2 und tat sich, wie nicht anders zu erwarten, als Scharfmacher­ organisation zur Ausbeutung der Sozialversicherung im eignen Interesse her­ vor. Es zeigte sich in den Verhandlungen, daß die Reichsversicherungsord­ nung den Wünschen dieser Herren in keiner Weise entspricht, und besonders die im Gesetz offen gelassene Ärztefrage ihr ärgstes Mißfallen hervorgerufen hat.3 Nun soll ein neugeschaffener Beirat alle Finessen ausfindig machen, um die in Zukunftgegen die Krankenkassen zu führendenVertragskämpfe erfolg­ reich durchführen zu können. Auch die freien Hilfskassen sollen in Zukunft noch schärfer von den Ärzten unter die Lupe genommen werden, weil sie ebenfallsgeeignet seien, die freieÄrztepraxis immer mehr einzuschränken und die Freiheit des Ärzteverbandes zu gefährden. Mit den privaten Hilfskassenals den eigentlichen Schwindelkassen sollen überhaupt keine und bei den Berufs­ kassen nur noch Organisationsverträge abgeschlossen werden. Die Zu­ schußkassen, die keine freie ärztliche Hilfe gewähren, können wegen der Honorierung auf freie Abkommen rechnen. An Stelle des bisherigen Vorsit­ zenden Hartmann wurde Dr. Götz (Leipzig) als solcher gewählt.4

� Verband der ÄrzteDeutschlands zur Wahrungihrer wirtschaftlichen Interessen. Vgl. Nr.90. 3 Das Verhältnis zu Ärzten, Zahnärzten, Krankenhäusern und Apotheken ist in den §§ 368ff. ge­ regelt. 4 Zur Auseinandersetzung der Änte und den Krankenkassen vgl. Nr. 740, Nr. 759, Nr. 765, Nr. 802und Nr. 814. 1911 Juli 1 291

Nr.79

1911 Juli 1

Solidarität Nr. 26 Zum Berliner Zeitungskonflikt1

[Auseinandersetzung desHauptvorstandes des Deutschen Buchdruckervereins mit der Berliner Ortsverwaltung über den Tarifbruch in 3 Berliner Drucke­ reien)

Die bedauerlichen Vorkommnisse im Berliner Zeitungsgewerbe, über deren Verlauf wir in letzter Nummer berichteten2, haben weit über die Zeit hinaus, während welcher namhafte Berliner Blätter in ihrer gewohnten Erscheinungs­ weise gehindert waren, die große Öffentlichkeit beschäftigt. Weniger des­ wegen, weil solche Ereignisse nicht alltäglich in Erscheinung treten, sondern in der Hauptsache aus dem Grunde, weil das Buchdruckgewerbe mit seinen besonderensozialen Einrichtungen stets die Aufmerksamkeitsowohl der übri­ gen Arbeiterschaftals auch bürgerlicher Kreise auf sich zog. 3 Esist daher auch nicht verwunderlich,wenn solche Erscheinungen, wie sie in Berlin zutage tra­ ten, neuerdings die Streitfrageüber den Wertund die Bedeutung von Tarifver­ trägen, besonders des Buchdruckertarifes, auftauchen lassen. Wir haben aber im Augenblick keine Veranlassung, uns über das Für und Wider auszulassen, weil hierüber lediglich die beteiligten Kreise das Recht und auch die Möglich­ keit haben, zu entscheidenund auch deswegen,weil fürunsere Stellungnahme zu unserer Tarifgemeinschaft die prinzipiellen Richtlinien von den höchsten Verbandsinstanzen gegeben sind. Was esuns aber zur Pflichtmacht, nochmals auf die Vorgänge zurückzukommen, das ist die dabei zum Ausdruck gekom­ mene Haltung eines Teiles der Berliner Kollegenschaft. Wir sagen ausdrück­ lich eines Teiles, und zwar desjenigen, der an dem Konflikt direkt beteiligt war! Die Berliner Ortsverwaltung hatte zum Sonntag, den 25. Juni, eine Mitglie­ derversammlung einberufen, die zu den Vorgängen in den Firmen Scherl, Ull­ stein und Mosse Stellung nehmen sollte. Von den über 5000 Berliner Mitglie­ dern waren etwa,; über ein Fünftel erschienen, die sich mit verschwindenden Ausnahmen aus den Personalen der drei genannten Betriebe rekrutierten. In dieser Zusammensetzung waren nun die Versammlungsbesucher in eigener l Vgl. Nr. 75, 91. i Nicht abgedruckt. Vgl. Nr. 473. Nr. 79

Sache die eigenen Richter! Der Ortsvorsitzende Moritz referierte über den bereits bekannten Hergang des Konfliktes und machte besonders Mitteilung über die Stellungnahme der anfangs voriger Woche in Berlin stattgefundenen Gauleiterkonferenz. Die Art, in der dies geschah, war von vornherein für die fernere Haltung der Versammlung entscheidend. Kein sachliches Moment, auf Grund deren allein die Gauleiter urteilten, kein Hinweis auf die durch die Tarifgemeinschaft gebotene Haltung des Verbands-Vorstandes trübte die Wirkung dieses "Referates", aber um destobesser wurde die Versammlung mit Redensarten und Schlagworten gefüttert. Die Entrüstung der Versammlung über den Verbands-Vorstand und die Gauleiterkonferenz (in Zwischenrufen "Provinzparlament" genannt) erreichte schon eine ziemliche Siedehitze, als Moritz mit einem gewissen Galgenhumor verkündete, er hätte in der ersten Vormittagssitzung der Konferenz soviel "Schläge" bekommen, daß er sich am Nachmittag "krank" melden mußte. Wie waren denn aber in Wirklichkeit die Vorgänge auf jener Konferenz? - die, wie wir ausdrücklich feststellenwollen - nicht zu dem Zwecke einberufen war, um zu den Berliner Vorgängen Stellung zu nehmen, sonderndie schon vor Wochen anberaumt war, um über Tarifrevi­ sionsfragenzu beraten und zu beschließen. Es lag dabei doch nichts näher, als daß die Gauleiter in erster Linie zu einer Stellungnahme in dieser zurzeit brennenden und das Tarifverhältnis so einschneidend berührenden Erschei­ nung gedrängt wurden. Sollten die berufenen Vertreter der gesamten deut­ schen Kollegenschaft mit verbundenen Augen an Dingen vorüber gehen, die unsere Organisation und die Tarifgemeinschaft bis ins Mark zu erschüttern in der Lagewaren? Nie und nimmer durften sie das, und wenn sie zu einer klaren unzweideuti­ gen Stellungnahme kommen wollten, dann mußten sie auch den Ursachen auf den Grund gehen, aus denen heraus unsere in Frage kommenden Berliner Kollegen so gehandelt haben, wie geschehen. Und als eine der Hauptursachen für die Einmischung des Seherischen Hilfspersonalsin die Differenzenmit den Rotationsmaschinenmeistern wurde die Haltung des Berliner Ortsvorstandes und als dessen verantwortlicher Leiter der Vorsitzende erkannt und von den Gauleitern für die Vorgänge verantwortlich gemacht. Es steht außer aller Frage, daß Kollege Moritz esin der Hand hatte, die Kollegen des Seherischen Betriebes auf das Unstatthafte ihrer Handlungsweise von allem Anfange an aufmerksam zu machen und sie von unüberlegten Schritten zurückzuhalten. Was geschah aber anstatt dessen? Als Moritz dem Verbandsvorstande eine halbe Stunde nach der Arbeitsniederlegung der 37 Maschinenmeister von die­ ser Tatsache Kenntnis gab und auch davon Mitteilung machte, daß das Hilfs­ personal Solidarität zu üben beabsichtigt, da wurde ihm sofort erklärt, daß die 1911 Juli 1 293

Buchdruckerorganisation von unserem Verbande4 keinerlei Solidaritäts­ bekundung nachsuche, und deshalb von unseren Mitgliedern eine solche auch nicht geübt werden könne. Hierauf erwiderte er, daß der Buchdruckerverband unsere Solidarität nicht verlangt, weil die Maschinenmeister bei ihrem Vorge­ hen im Gegensatz zu ihrer Organisationsleitung handeln! Als ihm ferner gesagtwurde, daß, wenn trotzdem unsere Kollegen sich auf die Seite der Aus­ ständigen stellen, sie dies auf eigene Gefahr tun und keinerlei Unterstützung zu beanspruchen haben, da erklärte dies Kollege Moritz als eine "Ansichts­ sache" und wies darauf hin, daß sich mit der Unterstützungsfrage die Ortsver­ waltung beschäftigenwird. Darnach ist unzweifelhaft festgestellt, daß der verantwortliche Leiter der Berliner Zahlstelle von vornherein mit dem tarifwidrigen Vorgehen der Seherischen Kollegen nicht nur allein einverstanden war, sondern dieses Vor­ gehen noch dadurch unterstützte, daß er keine Gelegenheit nahm, die Kolle­ genschaft über den Standpunkt der Verbandsleitung zu unterrichten! Als die beiden Verbandsvorsitzenden auf Ersuchen der bereits in der Angelegenheit tätigen Parteien in die Angelegenheiteingreifen mußten und sie den Kollegen Moritz zu einer Konferenz mit den Vertrauensleuten rufenließen, da trug die­ ser mit seinem passiven Verhalten und mit seinem deutlich zum Ausdruck gekommenen Mißtrauen gegen die Darlegungen der Verbandsvorstandsvertre­ ter dazu bei, daß deren Worte in den Wind geschlagen wurden. Auch in einer sofort einberufenen Geschäftsversammlung war Kollege Moritz, selbst nach wiederholten Aufforderungen der Vertrauensleute und einiger Versamm­ lungsbesucher, nicht zu bewegen, seinen Standpunkt klar und eindeutig zu präzisieren. Er beschränkte sich darauf, zu erklären, daß er in der Angelegen­ heit nichts mehr zu sagen habe und die Kollegen nach den Ausführungen des Verbandsvorstandestun und lassen sollen, was sie fürgut befinden. Nach so vielen Erfahrungen, die wirin ähnlichen Fällen leider machen muß­ ten, war es nun nicht mehr zweifelhaft,was die Kollegen bei einer solchen Hal­ tung des Ortsvorsitzendentun werden - sie taten denn auch das Gegenteil von dem, was der Hauptvorstand wollte. Diese Haltung des Kollegen Moritz und die von ihm schon seit längerer Zeit geübte systematische Untergrabung des Einflusses des Verbandsvor­ standes auf einen Teil der Berliner Kollegen war es, die von den Gauleitern nicht begriffen werden konnte, und die deshalb deren schärfste Verurteilung fand und letzten Endes finden mußte. Es kann auch nicht so leicht begriffen werden, daß einer unserer an exponierter Stelle stehenden Verbandsfunktio­ näre die statutarischen Vorschriften, nach denen wir in erster Linie zu handeln haben, einfach als eine "Ansichtssache" hinstellt. Eskann aber auch dafürkein

4 Die 'Solidarität'war das Organ der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter- und Arbeiterinnen Deutschlands. 294 Nr. 79

Verständnisgeben, wenn der Leiterunserer größten Mitgliedschaft auf einmal "bloß ein Amt und keine Meinung" hat; obendrein in einem Moment, in dem so vieles für den Verband und seine Mitglieder auf dem Spiele steht. Und als die Gauleiterkonferenz während ihrer Tagung sehen mußte, wie Kollege Moritz gerade in dem Augenblick "krank" wurde, als es galt, den Konflikt bei Scher! beizulegen, bevor noch große Opfer an Existenzen gebracht werden mußten, da gab es für sie nur eine Stellung und die kam in der bekannten Resolutionunzweideutig zum Ausdruck. Wenn nun die in der letzten Versammlung anwesend gewesenen Berliner Mitglieder für dieses fragwürdige Beginnen ihres Vorsitzenden nicht das ent­ sprechende Verständnis aufbrachten, so ist dies - besonders für sie selbst - recht bedauerlich; um so mehr, als sie erneut mit ihrem Verhalten, das teil­ weise jeder Beschreibung spottete, den Beweis erbrachten, daß sie allen sach­ lichen Erwägungen und Argumenten unzugänglich sind und daß sie kein Ver­ ständnis dafür hatten, wie sehr sie ihrer Sache und ganz besonders dem Anse­ hen ihrer Organisation schadeten. Wir wollen hierbei absehen von den rüden Beschimpfungen und persönlichen Insulten, denen einzelne Mitglieder des Verbandsvorstandes ausgesetztwaren - denn zum Schluß ist jeder Mensch das Produkt seiner Erziehung, und was auf diesem Gebiete in letzter Zeit unter den Berliner Mitgliedern geleistet wurde, das entschuldigt vieles. - Es würde zu weit führen, hier eine Schilderung des Verlaufes jener Ver­ sammlung zu geben und die verschiedensten Auslassungen des Diskussions­ redner richtig zu stellen oder zu widerlegen. Wir wollten uns lediglich an den Extrakt halten, der als Ergebnis der so recht erhebenden Verhandlungen nie­ dergelegt wurde in folgender Resolution:5 "Die am 25. Juni tagende Außerordentliche Mitglieder-Versammlung beschäftigt sich mit dem Solidaritätsstreik der Hilfsarbeiter des "Berliner Lo­ kal-Anzeigers". Die Versammlung erklärt, daß formell ein Tarifbruchdes Hilfspersonals zu verzeichnen ist, nimmt aber mit Entrüstung Kenntnis von der provokatori­ schen Haltung der Geschäftsleitungdes "Berliner Lokal-Anzeigers"gegenüber dem gesamten Personal, insbesondere aber gegen die Rotationsmaschinen­ meister und deren Vertrauensleuten. Die Versammlung ist ferner der Ansicht, daß dem Hilfspersonal von Scherl, Ullstein und Mosse gar kein anderer Weg übrig blieb, als Solidarität zu üben und daß dies Solidaritätsgefühl ein ehrendes und ehrliches, entgegen der Ansicht der Redaktion der "Solidarität" genannt werden muß, welches nur geeignet sein kann, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Rotationsmaschi­ nenmeister und Arbeiter auf das vorteilhaftestezu stärken und zum Ausdruck zu bringen.

5 Nicht abgedruckt. 1911 Juli 1 295

Die Versammlung sieht auch in dem Spruch des Tarifamtes,welches auch in Hilfsarbeiter-Fragen zu entscheiden hat, einen unbedingtenFehlspruch. Weiter sieht die Versammlung in dem Verhalten desVerbandsvorstandes in der Mitunterzeichnung der erschienenen Extrablätter, sowohl auch des Säu­ lenanschlages eine Handlung, die aller bisherigen Auffassung in der gesamten Arbeiterbewegung beiAusständen direkt ins Gesichtschlägt. Außerdem hat die Versammlung die Auffassung, daß Arbeitervertreter nicht dazu da sind, der bürgerlichen Presse die Wege zu ebnen. Das Hilfsper­ sonal meint auch, daß der Hauptvorstand,sein Bedürfnis an die Öffentlichkeit zu treten, im "Vorwärts"betätigen konnte. Die Versammlung protestiert auf das entschiedenste gegen die im letzten Absatz des Artikels "Solidarität oder Disziplinbruch" enthaltene Ausdrucks­ weise, die entschieden nicht geeignet ist, das SolidaritAtsgefühl der Berliner Mitgliedschaftzu heben oder zu fördern. Aus allem diesen mißbilligt das Berliner Buchdruck-Hilfspersonal den ein­ genommenen Standpunkt des Zentralvorstandes und der stattgefundenen Gauleiter-Konferenzin der schärfsten Weise und drückt ihnen gleichzeitig ihr besonderes Mißtrauen aus." Diese Resolution beschäftigt in erster Linie unsere in der letzten Nummer zum Ausdruck gebrachte Ansicht, daß ein Tarifbruch vorliegt. Welcher Unter­ schied zwischen einem "formellen"und einem anderen Tarifbruch liegen soll, dürftedas Geheimnis der Verfasser der Resolutionsein, uns sind bis jetzt sol­ che Nuancierungen nicht bekannt geworden. Wir wollen aber gerne soviel guten Willen aufbringen und zu verstehen versuchen, was dieses "formell" bedeuten soll. Erstens kann darin ein Milderungsgrundfür das Verhalten der Tarifbrecher gemeint sein, die sich der Tragweite ihrer Handlungsweise in "formeller" Hinsicht nicht bewußtwaren. Dann müßte man aber erwarten, daß die bessere Einsicht mit dem wiederkehrenden Bewußtsein, sich dazu aufzu­ schwingen vermag, begangene Fehler einzusehen und Vorkehrungen gegen eine Wiederholung zu treffen. Soll aber diese Bezeichnung besagen, daß man unter ihrer Deckung für eine begangene Rechtsbeugung nicht verantwortlich gemacht werden kann, dann eröffnen sich eigentlich für unsere künftige tarif­ liche Rechtsprechung herrliche Perspektiven. Dann müßte eben über jedes "formelle" Tarifvergehen der Mantel der christlichen Nächstenliebe gebreitet werden und dieser Mantel dürfte allerdings nicht zu klein bemessen sein. Aber, da das erstere nicht eingetreten ist und das letztere nie eintreten wird, bleibt eben dieses"formelle" eine Redensart, die an der Tatsache des auch von der Versammlung als solchen anerkannten Tarifbruches absolutnichts ändert. Wenn ferner die Versammlung ihrer Entrüstung über das provokatorische Verhalten der Geschäftsleitung der Firma Schert Ausdruck gibt, so hat sie nach den verschiedensten Vorgängen, die bereits früher bekannt wurden, 296 Nr. 79

Recht. & soll aber hierbei ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß die Tarifinstanzenimmer und jederzeit bereit waren, auftauchende Differenzenzu schlichten, und daß sie nie Anstand nahmen, die Geschäftsleitung überall da ins Unrecht zu setzen, wo sie im Unrecht war und dies stets mit dem Erfolg, daß die Firma sich widerspruchslos den Entscheidungen fügte. Glaubte aber das Personal, daß dennoch Anlaß zu Klagen vorhanden waren, dann hatte es den legalen tariflichenWeg zu beschreiten. Nun kommen wir aber zu jenem Punkt in der Resolution, der so recht dra­ stisch beweist, welche Verwirrung der BegriffSolidarität in den Köpfen betei­ ligter und unbeteiligter Kreise hervorrufen kann. Die Kollegen erklären, es blieb ihnen kein anderer Weg übrig als, wie geschehen, Solidarität zu üben. Nun beachte man folgendes: Neben den infragekommenden 37 Rotationsmaschinenmeistern arbeiten in derselben Firma noch hunderte von Schriftsetzern, Stereotypeuren und Flach­ druckmaschinenmeistern - alles Buchdruckergehilfen, Berufs- und Verbands­ kollegen der 37 Mann, die rühren keinen Finger für ihre ausständigen Kolle­ gen! Sie alle unterstützen das Vorgehen nicht, sie alle arbeiten ruhig weiter und nehmen in keiner Weise eine solidarische Haltung ein!! Aber unsere Kollegenschaft, die doch hier erst in zweiterund dritter Linie in Frage kommt, die stürzt sich mit einer Bravour - die wahrlich einer besseren Sache würdig wäre - in den Kampf, trotzdem man keinen Augenblick über den Wert dieser Aktion im Zweifel sein konnte. Gerade um diesen Punkt aber drücken sich die Beurteiler der Solidaritätsfrage so gern herum, weil sie wissen, daß hier das sinnlose Vorgehen der Seherischen Hilfsarbeiter in bengalische Beleuchtung gerückt wird. Niemals ist es den Gehilfen auf Grund ihrer Tarifgemeinschaft eingefallen, bei den verschiedensten Kämpfen der Hilfsarbeiter, selbst solcher um die Herbeiführung von Tarifen, in solch aktiver Form einzugreifen. Bitter haben wir diese Passivität oft empfunden, aber wir mußten uns sagen und sagen lassen, daß das tarifliche Gesetz trotz "Arbeiterehre" und "Arbeitersoli­ darität" nicht gebrochen werden darf. Schon das allein hätte müssen unseren Kollegen zu denken geben. Mit diesen Hinweisen unterstreichen wirjedes bis­ her in der Angelegenheit gesagte und geschriebene Wort. Damit hat sich gleichzeitig auch der vorletzte Absatz der Berliner Resolution füruns erledigt. Was nun weiter den Passus anbelangt, der in dem Urteil des Tarifamtes der Deutschen Buchdrucker einen Fehlspruch sieht, so möchten wir unseren Kol­ legen den wohlgemeinten Rat geben, sich nicht um Dinge zu bekümmern, die sie nichts angehen, über die einzig und allein die Träger der Buchdrucker­ Tarifgemeinschaft zu befinden haben6• Der Hinweis, daß das Tarifamt auch in Hilfsarbeiterfragen zu entscheiden hat, berechtigt uns noch lange nicht,

6 Gemeint sind der Deutsche Buchdruckerverein als Arbeitgeberorganisation und der Verband der deutschen Buchdrucker. 1911 Juli 1

Urteile zu kritisieren, die reine Buchdruckangelegenheiten betreffen. Wir haben keine Veranlassung, das Geschwaflenachzuplappem, mit dem während und nach dem Konflikte gewisse Kreise, denen nichts radikal genug ist, unter der Arbeiterschaft krebsen gingen. Dieser niemand gegenüber verantwortliche Radikalismus ist billig, er kommt aber immer denjenigen teuer zu stehen, die ihn in die Tat umzusetzenversuchen. Höchst ergötzlich ist zum Schlusse noch die Beurteilung des Verhaltens unseres Verbandsvorstandes und das "Mißtrauen", welches ihm und der Gauleiterkonferenzausgesprochen wird. Also: Ein Teil der Kollegenschaft hat demnach das unbeschränkte Recht, sich über alle gewerkschaftliche Disziplin hinwegzusetzen, Verträge, die die Verbandsleitung mit Genehmigung der All­ gemeinheit abgeschlossen hat, nach Belieben zu brechen und damit jahrelange mühevolle und nicht zuletzt erfolgreiche Arbeit zu zerstören. Dazu hätte der Verbandsvorstand zu schweigen und das "Provinzparlament" nichts zu sagen. Wir dagegen erklären, daß die Verbandsleitung nicht die Empfindung hat, vielleicht nur "formell" durch das Vertrauen der Gesamtkollegenschaft auf ihren verantwortungsvollen Posten gestellt zu sein, sondern daß sie die Aufga­ ben, die ihr gestellt sind, nach bestem Wissen und Können zu lösen gewillt ist. Daran wird das Mißtrauensvotum der Kollegenschaftdreier Betriebe so lange nichts zu ändern vermögen, so lange die Gesamtkollegenschaft mit ihrem Vertrauen hinter ihrer Leitungsteht.

Nr.SO

1911 Juli 1

Resolution des 8. Kongresses der Freien Gewerkschaften vom Juni 1911 betr. Koalitionsrecht und Novellierung desStrafgesetzbuches 1

(Einengung der Koalitionsfreiheit]

Resolution

K. 1. "Das Koalitionsrecht, das Sozialpolitiker der verschiedensten Richtun­ gen als eine Waffe erklärt haben, die die Arbeiter im Dienste der Zivilisation der Menschheit führen, ist im Deutschen Reiche zwar theoretisch anerkannt.

1 Aus: Protokoll der Verhandlungen des 8. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, abge­ halten zu Dresdenvom 26. Juni bis 1. Juli 1911, Berlin oJ. 298 Nr.80

Die praktische Ausübung dieses Rechtsaber wird durch die Gesetzgebung und Rechtsauslegung erschwert,oft nahezu unmöglich gemacht. Dieses Ziel wird zunächst dadurch erreicht, daß man den Begriff der Er­ pressung auf den ehrlichen Arbeiter anwendet, der unter Ankündigung der Arbeitsniederlegung höheren Lohn fordert. Die Motive zum Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch erkennen das Unerträgliche dieses Zustan­ des an. Der Entwurf will dadurch Abhilfe schaffen, daß er das Tatbestands­ merkmal der Abnötigung eines Vermögensvorteils in den Begriff der Erpres­ sung einfügt. Diese Fassung wird an der heutigen Rechtsprechung nicht das geringste ändern. Denn die Praxis wird in jeder Lohnerhöhung einen Ver­ mögensvorteil für den Arbeiter finden. Die einzige Neuerung, die der Entwurf bringt, besteht darin, daß die Arbeiter nicht mehr, wie bisher, nur mit Gefäng­ nis, sondern daneben noch mit Arbeitshaus oder gar mit Zuchthausstrafe belegt werden können. Viele Wackere unter den deutschen Arbeiternsind ferner unter völliger Ver­ kennung der Klassenanschauungen und Klasseninteressen der Arbeiterschaft wegen Erpressung bestraft worden, weil sie das Zusammenarbeiten mit Unor­ ganisierten oder Arbeitswilligen abgelehnt haben. Die Formulierung des Ent­ wurfs läßt diese Rechtsprechung in vollem Umfange fortbestehen. In der Zahlung der Mitgliedsbeiträge an die Gewerkschaftskasse wird die Praxis die Abnötigung eines Vermögensvorteils sehen. Der Entwurf läßt ferner den § 153 der Reichsgewerbeordnung fortbestehen, der sich als ein Ausnahmegesetz gegen die Arbeiterklassedarstellt. Diese Vor­ schrift erklärt sonst im ganzen Recht erlaubte Handlungen nur deshalb für strafbar oder wenigstens für schwerer strafbar, weil sie von den gewerblichen Arbeitern zur Verbesserung ihrer Lebenshaltung vorgenommen sind. Diesel­ ben Handlungen bleiben dagegen nach § 153 straflos, wenn sie verübt werden, um den gewerblichen Arbeiter an der Ausübung seines Koalitionsrechts zu hindern. Infolge dieser Straffreiheitersinnt das Unternehmertum immer neue Mittel und Wege zur Zerstörung der Koalitionsverbände. Der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch enthält keinerlei Vorschrift zum Schutze der Koalitionsfreiheit. Der Vorentwurf beschränkt sich aber nicht auf die Aufrechterhaltung der heute bestehenden gesetzlichen Vorschriften, die die Koalitionsfreiheitauf ein äußerst geringes Maß herabgedrückt haben. Er geht erheblich darüber hinaus und enthält Bestimmungen,die an Arbeiterfeindlichkeit sogar die Zuchthaus­ vorlage weit übertreffenund sich als rücksichtsloseste Klassenjustiz darstellen. Dies gilt zunächst von den §§ 184 und 185 des Entwurfs. Diese rauben das Koalitionsrecht allen Arbeitern, die im Betriebe einer Eisenbahn, der Post, einer Telegraphen-, Fernsprech- oder Rohrpostanlage, sowie einer zur öffent­ lichen Versorgung mit Wasser oder Beleuchtung dienenden Anstalt beschäf- 1911 Juli 1 299 tigt sind. Die vorbezeichneten Arbeiter bedürfen aber des vollen Koalitions­ rechtes, sollen sie nicht wirtschaftlich wie rechtlich noch weiter hinter den übrigen Arbeitern zurückstehen. Deshalb sind die §§ 184 und 185 des Ent­ wurfszu streichen. Weiter kommen insbesondere, wenn auch keinesfalls allein in Betracht die §§ 240 und 241 des Entwurfs. Diese Vorschriften wenden sich nicht mehr gegen angebliche Auswüchse bei der Betätigung des Koalitionsrechts, sie bestrafen vielmehr die Ausübung des Koalitionsrechts als solche. Wird der Entwurf Gesetz, so bleibt den Arbeitern nichts anderes übrig, als stetszu dem schärfsten Mittel, zum Streik, zu greifen, da Äußerungen, die sich mit Vorver­ handlungen aus der Natur der Sache ergeben und daher nicht zu vermeiden sind, als Nötigung bestraftwerden müssen. Aus diesen Gründen fordertder Gewerkschaftskongreßbei der Revision des Strafgesetzbuches die Beseitigung aller die Ausübung des Koalitionsrechts erschwerenden Vorschriften des geltenden Rechts aus dem Strafgesetzbuch, dem Landesstrafrecht und den strafrechtlichen Nebengesetzen. Dagegen for­ dert der Gewerkschaftskongreß die Aufnahme von Strafbestimmungen in das Strafgesetzbuch gegen Unternehmer, die das Koalitionsrechtder Arbeiter hin­ dern. Er protestiert ferner energisch gegen die neu vorgeschlagenen Bestim­ mungen, die die Koalitionsfreiheit direkt aufheben, die äußersten Wünsche des Scharfmachertums verwirklichen und der Gleichheit vor dem Gesetz Hohn sprechen."

Nr.81

1911 Juli 1

Württembergische Industrie Nr. 7

Mitteilungen desVerbandes Ist Rötger Industrieller?

[Geheimrat Riesser ist im Gegensatz zu Gutsbesitzer Rötger ein Mann der Industrie, des Handels und Gewerbes]

Zu der Kampfansage, die der Centralverband Deutscher Industrieller mit dem Austritt seines Vorsitzenden. des Herrn Landrat Rötger, dem Hansa- 300 Nr.81 bunde gemacht hat1, nimmt nunmehr auch die dem Centralverband bekannt­ lich sehr nahestehende ·Deutsche Volkswirtschaftliche Korrespondenz• das Wort: Sie tritt in eine Untersuchung der Frage ein, ob Geheimrat Riesser zu seiner führenden Stellung in einem "Bunde für Gewerbe, Handel und Indu­ strie• die nötige Kinderstube besitze, indem sie einen Artikel überschreibt: "Gehört Herr Geheimrat Riesser zu Gewerbe, Handel oder lndustrie?"2 Dann folgt ein aus "Degeners Zeitgenossenlexikon" entnommener Bericht über Lebens- und Bildungsgang und bisherige Tätigkeit Riessers, ganz offensicht­ lich mit der Tendenz, aus diesen Angaben eine Negation ihrer Fragestellung herauszudestillieren. Man kann zunächst wohl annehmen, daß die "Deutsche Volkswirtschaftliche Korrespondenz" nunmehr auch die Personalia der weiteren im Präsidium befindlichen Herren bringen wird, um so der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Und da kann man mit Spannung den Angaben entgegensehen, die sie über den nunmehr ausgetretenen Präsidenten Rötger bringt, über den vorläufig lexika­ lische Aufzeichnungen bei Degener nicht zu finden sind. Bei ihren Beziehun­ gen zum Centralverband wird sie in der Lagesein, die bisher bereits bekannten Tatsachen, daß Herr Rötger agrarischen Kreisen des preußischen Ostens ent­ stammt, lange Jahre preußischer Landrat, also konservativerBeamter gewesen ist und dann mehrere Jahre dem Direktorium der Kruppschen Werke ange­ hört hat, durch wertvolle Einzelheiten ergänzen zu können. Heute ist Herr Landrat a.D. Rötger unseres Wissens Gutsbesitzer. Vorläu­ fig ist die Beantwortungder Frage: "Gehört Herr Rötger zu Gewerbe, Handel oder Industrie?" wohl noch berechtigter als bei Geheimrat Riesser, der als langjähriger Bankier dem Handel angehört und durch seine Ehrenstellungen in industriellen Korporationen - er war u.a. auch Ältester der Kaufmannschaft und Vizepräsident der Handelskammer in Berlin - seit Jahren in engsten Beziehungen zu Gewerbe, Handel und Industrie steht. Die feindseligeHaltung der "Deutschen Volkswirtschaftlichen Korrespondenz" gegen den Hansabund und seinen Präsidenten erklärt sich übrigens leicht aus dem agrarischen Cha­ rakter, den diese Korrespondenz, die früher einmal industriellen Zwecken dienen wollte, in der neuesten Zeitmehr und mehr annimmt.

l Vgl. Nr. 76. 2 Nicht abgedruckt. 1911 Juli 1 301

Nr.82

1911 Juli 1

Württembergische Industrie Nr. 7 Mitteilungen des Verbandes Immer dieselben

[Austritt Rötgers aus dem Hansabund ist erfreulich, da dieser nur die Sonder­ interessen der rheinland-westfälischen Schwerindustrie und der Agrarier ver­ tritt]

"Bürger heraus!" Das war der Schlachtruf, mit dem Riesser1 auf dem Ersten Deutschen Hansatag seine kraftvollen Ausführungen schloß und zum Kampfe gegen jene Überagrarier aufforderte, die in der Gesetzgebung nur ein Mittel zur Durchführung ihrer Sonderzwecke sehen.2 Mit tosendem Beifall, nein, mit Jubel wurde Riessers Appell von den vieltausendköpfigen Hanseaten aufge­ nommen. Neben dem Präsidenten, zu seiner Rechten, saß aber einer, dem diesestürmische Kundgebung des geeinigten, erwerbstätigenBürgertums nicht paßte. Es war Herr Landrat a.D. Rötger, der Vorsitzende des Centralverban­ des Deutscher Industrieller. Er hätte eine Parole gewünscht, die sich gegen die Sozialdemokratie hätte richten sollen. Daß der Kampf gegen die Umsturzpar­ tei, von der den Hansabund nach den Worten seines Präsidenten "eine Welt trennt", gar nicht in das Programm des Hansabundesfällt und daher satzungs­ widrig wäre, das kümmert den Herrn Landrat nicht. Daß es bei uns in Deutschland auch noch andere, ebenso wichtige Ziele gibt als den Kampf gegen die Sozialdemokratie, davon scheint Herr Rötger nichtswissen zu wol­ len. Für ihn muß einfachjede Organisation, mag sie Bestrebungen verfolgen, welche sie will - sofern sie natürlich nicht sozialistische sind - nach § 1 ihrer Satzungen auch die Vernichtungder Sozialdemokratie erstreben. Dem Vorsitzenden des Centralverbandes paßt die wirtschaftspolitische Einigung des Bürgertums nicht, das sich als einen Feind jeder einseitigen Interessen-Politik bekennt, wie sie vom "Junkertum" betrieben wird. Mit berechtigt scharfen Worten hat sich Riesser gegen junkerliche Anmaßungen gewandt, wie er auch den Leutenkräftig zu Leibrückte, die ein Liebäugeln mit den Überagrariern nicht lassen können. Hier scheint sich Herr Rötger getrof­ fen gefühlt zu haben; er nahm diese Ausführungen Riessers zum äußeren Anlaß seines Austrittsaus dem Hansabund.

Jakob Riesser, Präsidentdes Hansabundes. i Vgl. auch Nr. 70. 302 Nr.82

Als sich vor stark zwei Jahren der Centralverband Deutscher Industrieller und dessen Vorsitzender an der Gründung des Hansabundes mitbeteiligten, glaubte man schon die Hoffnungenhegen zu dürfen, der Centralverband wolle auch seinerseits die mittlere Linie suchen helfen, er wolle abgehen von dem bisher begangenen Wege der selbstsüchtigen Politik der Sonderinteressen. Schon sehr bald hat sich jedoch diese Hoffnung als trügerisch erwiesen. Ja, wenn es ihm gelungen wäre, die Macht im Hansabunde an sich zu reißen und ihn in zentralverbändlerische Bahnen zu lenken, hätte der Centralverband nicht genug des Lobes für den Hansabund gefunden. Aber er sah sich im Hansabund eben doch auch anderen mächtigen wirtschaftspolitischen Fakto­ ren gegenüber: der verarbeitenden Industrie, die nicht mehr gewillt ist, sich von der im Centralverband in erster Linie organisierten Rohstoffindustrie regieren zu lassen, dem Handel und Handwerk, deren Interessen ebenfallsweit entfernt sind von denen der schweren Industrie Rheinlands und Westfalens, und dem großen Kreise der Angestellten, die dem sozialpolitischen Wünschen wenig zugänglichen Centralverband an und für sich schon skeptisch gegen­ überstehen. Immer dieselben: Die anderen sollen benützt werden, um eigene Vorteile zu erreichen. Das ist das Bestreben des Centralverbandes. Dieses Prinzip wollte er auch im Hansabund für sich zur Durchführung bringen. An gemeinsame Arbeit zur Durchführung gemeinsamer Interessen dachte er nie. Darum war die Zugehörigkeit Rötgers und seiner Freunde zum Hansabund eine innere Unwahrheit. Mit Rötgers Austritt hat dieser selbst den Beweis geliefert, daß es ihm an dem Willen mangelt, mit Vertretern der übrigen im Hansabund ver­ einigten Berufsstände zusammenzuarbeiten, daß seine Mitarbeit im Hansa­ bund nur Schein, nur Heuchelei war. Jetzt sieht man wieder klar, und der Hansabund hat seine Bewegungsfreiheit erlangt. Das ist das hocherfreuliche Ergebnis des Rötgerschen Bekenntnisses. Rötgers Austritt aus dem Hansabund wird auch denjenigen Industriellen und Verbänden die Augen öffnen, die heute, irregeleitet, sich zum Centralverband zählen. Sie werden erkennen müssen, daß es der Führung des Centralverban­ des nur darum zu tun ist, die Sonderinteressender schweren Industrie Rhein­ lands und Westfalens zu verfolgen, die uns die Kohlen- und Eisenpreise dik­ tiert, daß aber eine billige Rücksichtnahme auf den großen Kreis der verarbei­ tenden Industrie fast vollständig zu vermissen ist. So wird man hoffen dürfen, daß die erfolgte Klärungim Hansabund auch zu einer Klärung im Centralver­ band führen wird. Die einsichtigen Kreise des Centralverbandes, denen es ernst ist mit dem Strebennach Durchführungeiner gerechten Wirtschaftspoli­ tik, werden dem GutsbesitzerRötger die weitere Gefolgschaftverweigern. 3

3 Vgl.Nr.83,93. 1911 Juli 1 303

Nr.83

1911Julil

Württembergische Industrie Nr. 7 Mitteilungen desVerbandes. Rötgers Austritt aus dem Hansabund.

[Sympathiekundgebungen des Verbandes Württembergischer Industrieller und des Bundes der Industriellen an den Hansabund anläßlich dessen Ausein­ andersetzung mit dem Centralverband Deutscher Industrieller]

Die Auseinandersetzungen zwischen Hansabund und Centralverband Deut­ scher Industrieller beim Ausscheiden des Landrats a.D. Rötger veranlaßten den Verband Württ. Industrieller, dem Hansabund folgende Sympathie­ kundgebung zukommen zu lassen: Der Verband Württ. Industrieller, der in der Gründung des Hansabundeseine befreiendeTat für das deutsche Erwerbslebensah, anerkennt dankbardie seit­ herige ersprießliche Tätigkeit des Hansabundes im Interesse der gesamten Industrie sowie aller übrigen ErwerbsschichtenDeutschlands. Er findet in den neuesten Erklärungen Riessers1 auf dem ersten deutschen Hansatag2 eine erfreuliche Bestätigung dafür, daß der Hansabund auf dem eingeschlagenen Wege der Bekämpfung des Oberagrariertums zielbewußtweiterschreiten wird. Er erklärt für seine Kreise ein treues Festhalten am Hansabund, den er in sei­ ner weiteren Arbeit mit allen Kräftenund aller Wärme unterstützenwird . •••

Der Bund der Industriellen hat folgendes Schreiben an Herrn Geheimrat Riesser gerichtet: Anläßlich des Ausscheidens des Herrn Landrat a.D. Rötger aus dem Präsi­ dium des Hansabundes hat der Vorstand des Bundes der Industriellen beschlossen, Ihnen, sehr geehrter Herr Geheimrat, erneut die Sympathie des Bundes der Industriellen für die Bestrebungen des Hansabundes auszuspre­ chen und dieser Kundgebung auch in der ÖffentlichkeitAusdruck zu geben. Den im Hansabund erfolgten Zusammenschluß von Industrie, Handel und Gewerbe einschließlich der Angestellten zur Erringung größeren Einflusses auf die Gesetzgebung sieht der Bund der Industriellen nach wie vor als not-

1 Jakob Riesser,1909-1914 Präsidentdes Hansa-Bundes. 2 Vgl. Nr. 70. 304 Nr.83

wendig und wertvoll an. Die deutsche Industriehat allen Grund, sich geschlos­ sen und einig diesem Zusammengehen anzuschließen, und keiner ihrer Ver­ treter sollte diesen Zusammenschluß wegen Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen oder gar aus parteipolitischen Gründen oder Wahlkreisrücksich­ ten stören. Deshalb bedauert der Bund der Industriellen außerordentlich, daß der Zentralverband Deutscher Industrielle abermals das Zusammengehen der Industrie durchbricht, wie er es bereits früher bei dem angestrebten Zusam­ menschlusse der deutschen Arbeiterorganisation, beim Plane einer Außen­ handelsstelle und beim Aufbringeneines Wahlfonds getan hat. Der Bund der Industriellen und die in ihm vereinigten großen Fachverbände und Landesverbände der deutschen Industrie stellen demgegenüber fest, daß sie nach wie vor zum Hansabunde stehen und sprechen die Hoffnung aus, daß auch die Kreise des Zentralverbandes Deutscher Industrieller jetzt die Einig­ keit der deutschen Industrie höher als parteipolitische Bestrebungen stellen und in diesem Falle ihrem Vorsitzenden, Herrn Landrat a.D. Rötger, nicht folgen werden. Der Württembergische Landesverband des Hansabundes gab nachstehende Erklärung ab: Der Württembergische Landesverband des Hansabundes erblickt im Aus­ tritt des Herrn Landrat Rötger aus dem Hansabund ein Verlassen der gemein­ samen Fahne, um die sich Gewerbe, Handel und Industrie in harten Zeiten geschart haben. Diese Fahnenflucht soll lediglich die agrar-demagogische Richtung unterstützen, deren Bekämpfung vor zwei Jahren bei Gründung des Hansabundes in voller Einmütigkeit als nationale Aufgabe erkannt wurde.3 Der Württ. Landesverband stimmt den Ausführungen Geheimrat Riessers auf dem Ersten Deutschen Hansatag rückhaltlos zu, er sieht in ihnen den einzigen Weg zur Befreiung von dem auf Gewerbe, Handel und Industrie lastenden Druck, und er ist auch überzeugt, daß die Weiterarbeit des Hansabundes nach Ausscheiden einzelner, die nur Sonderinteressen im Hansabund verfolgten, erst recht dem allgemeinen Wohl dienen wird.

3 Vgl. Nr. 711, 712. 1911 Juli 1 30S

Nr.84

1911 Juli 1

Rundschreiben des Verbands Berliner Metall-Industrieller an die Verbands­ mitglieder1 Ausfertigung

[Bestimmungen betreffenddas Inserieren nach Arbeitern)

Da mehrfach Beschwerden von Seiten des Gesamtverbandes Deutscher MetalJindustrieller über das Nichtinnehalten der Bestimmungen über das Inserieren nach Arbeitern laut geworden sind, teilen wir Ihnen nachstehend die Beschlüsse mit, die der Vorstand des GesamtverbandesDeutscher Metall­ industrieller in seiner Sitzung am 22. November 1907gefaßt hat: 1. Das Inserieren nach Arbeitern in sozialdemokratischen und Gewerk­ schaftsblättern soll völlig unterbleiben. 2. Das Inserieren nach Arbeitern in der Pressebestreikter Orte und Bezirke nach denjenigen Arbeiterkategorien, welche sich im Streik befinden, ist nicht zu gestatten. 3. Die Inserate, die in der bürgerlichen Presse derjenigen Bezirke, welche für das Annoncieren nach Arbeitern freigegeben sind, aufgegeben wer­ den, sind nach wie vor gemäß dem in der Ausschußsitzung vom 20. März 1907 gefaßten Beschlusse durch die Geschäftsstelle der Bezirksverbände darauf zu prüfen, daß durch dieselben kein Zwiespalt unter den Bezirks­ verbänden hervorgerufen wird, andernfalls ist eine entsprechende Ände­ rung der Annonce zu veranlassen. Insbesondere ist das Inserieren nach Arbeitern unter Versprechung hoher Löhne als unzulässig zu erachten, da ein solches Verfahrennur zu Lohntreibereien und Differenzenführen kann. 4. Das Aussenden von Werbeagenten seitens der Firma oder Arbeitsnach­ weise, um Arbeiter aus anderen Betrieben befreundeter und kartellierter Verbände herauszuziehen, ist für unmoralisch und verwerflichanzusehen und deshalb strengstens zu vermeiden. Dieselben Beschlüsse hat der Ausschuß des Vereins Deutscher Arbeitgeber­ verbände gefaßt; jedoch ist Punkt 3 der vorstehend aufgeführten Beschlüsse durch folgendeBestimmung ergänzt worden:

1 Wernerv. Siemens-Institut, 2236M, 61/le11 3, 1911-1913. Gezeichnetvom Verbandsvorsitzen­ den Ernstv. Borsig. 306 Nr.85

In denjenigen Orten, in denen Arbeitsnachweise von Verbänden des Ver­ eins Deutscher Arbeitgeberverbände �tehen, soll nicht inseriert werden, sondern es sollen die dort �tehenden Arbeitsnachweise zur Heranziehung von Arbeitskräftenin Anspruch genommen werden. Wir empfehlen Ihnen, sich in allen Fällen, in denen es sich um die Vermitt­ lung schwer zu �chaffender Arbeiter handelt, mit unserem Geschäftsführer Herrn Dr. Kose persönlichin Verbindung zu setzen.

Nr.85

1911 Juli 6

Rundschreiben des Verbands Berliner Metall-Industrieller an die Verbands­ mitgliederl Ausfertigung

[Aufforderung zur Nichtweitergabe von Informationen an den öffentlichen Arbeitsnachweisder Provinz Brandenburg]

Der Verband Märkischer Arbeitsnachweise hat sich an eine Reihe unserer Mitglieder mit der Bitte gewandt, ihm bis zum 13. jeden Monats über die jeweilige Lage des Arbeitsmarktes zu berichten. Diese Berichte sollen dann bearbeitet und der Presse zugänglich gemacht werden und in dem vom Kaiser­ lichen Statistischen Amt herausgegebenen Reichsarbeitsblatt zur Veröffent­ lichung gelangen. Wir ersuchen unsere Mitglieder auf das dringendste, diesem Verlangen des VerbandesMärkischer Arbeitsnachweise nicht zu entsprechen, auch wenn Sie auf das Ersuchen bereits im bejahenden Sinne geantwortet haben. Aus fol­ genden Gründen: Der Verband Märkischer Arbeitsnachweise ist die Zusammenfassung der öffentlichen Arbeitsnachweise der Provinz Brandenburg. Diese öffentlichen Nachweise behaupten zwar, völlig paritätisch zu sein, besorgen aber tatsäch­ lich bis zu einem gewissen Grade die Geschäfte der freien Gewerkschaften, unserer entschiedensten Gegner, wie aus ihrem Verhalten bei Streiks ersicht­ lich ist. Ist nämlich eine Firma �treikt, so wird auf dem öffentlichen Nach­ weise dem Arbeiter von dem Bestehen des Streiks sofort Mitteilung gemacht!

1 Wemerv. Siemens-Institut, 2236M, 61 le 113, 1911-193. Gezeichnetvom Verbandsvorsitzenden Ernstv. Borsig. 1911 Juli 7 307

Dagegen erfolgt eine Benachrichtigung an den Arbeitgeber darüber, daß dieser oder jener Arbeiter, der vom öffentlichen Nachweis der Firma zugesandt wird, sich im Streik befindet, nicht. Daß dieses Verhalten der öffentlichen Nachweise den Grundsätzen dessen, was man Neutralität nennt, zuwiderläuft, wurde auf dem 6. Kongress von maßgebender gegnerischer Seite ohne weiteres zugegeben. Trotzdem bat sieb bisher der Verband Deutscher (öffentlicher) Nachweise nicht veranlaßt gesehen, in dieser Beziehung für Abhilfe zu sorgen und es ist nicht zu erwarten, daß dieses in absehbarer Zeit geschieht. Es liegt demnach für die Arbeitgeber, in erster Linie für unsere Mitglieder keine Veranlassung vor, den genannten Verband durch Hergabe von Material zu unterstützen und wir ersuchen deshalb unsere Mitglieder, unserem Wun­ sche unbedingt zu entsprechen. Außerdem wird dem Kaiserlichen Statisti­ schen Amt von einer großen Anz.ahl von Firmen direkt monatlich Bericht erstattet, so daß schon aus diesem Grunde eine Berichterstattung für den Verband Märkischer Arbeitsnachweise überflüssigist.

Nr.86

1911 Juli 7

Der TypographNr. 27 Die neue Reichsversicherungsordnung. Die Hinterbliebenenversicherung

[Die Konditionen der neuen Hinterbliebenenversicherung innerhalbder Inva­ lidenversicherung)

Diese Versicherungsart wird ganz neu eingeführt. Sie ist ohne Beispiel in der bisherigen Sozialversicherung aller Länder der Welt. Bei der deutschen Unfallversicherung besteht ja schon eine gewisse Versicherung der Witwen und Waisen, deren versicherter Ernährer durch einen Unfall zu Tode kommt. Nun wird die Hinterbliebenen-Versicherung aller bei der Invalidenversiche­ rung Versicherten durchgeführtund mit der Invalidenversicherung verbunden. Durch die Reichsversicherungsordnungwird also neu eingeführt: 1. eine Witwenrente an die erwerbsunfähigen Witwen, für deren Ehemann bei dessenTod die Wartezeit fürdie Invalidenrente erfülltwar, 308 Nr.86

2. Waisenrente an hinterlassene eheliche Kinder bis zu deren 15. Lebens­ jahr unter den gleichen Voraussetzungen, 3. ein Witwengeld an die Witwe, die im Zeitpunkt der Fälligkeit der Wit­ wenrente selbst versichertgewesen ist und durch eigene Beitragsleistung die Wartezeit für die Invalidenrente erfüllt und die Anwartschaft auf­ rechterhalten hat, 4. eine Waisenaussteuer an die Kinder der Witwe, die zur Zeit der Voll­ endung des 15. Lebensjahres der Kinder durch eigene Beitragsleistung die Wartezeit für die Invalidenrente erfüllt hat. Die Witwenversicherung ist nicht so ausgefallen, wie manche sie erwartet haben. Nach den Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung, die vom Reichstag in Fassung der Regierungsvorlage angenommen wurden, erhalten nicht etwa alle Witwen verstorbenerVersicherten eine Rente, sondern nur die Witwen, die selbst dauernd Invalide sind, nach dem Tode ihres versicherten Mannes.1 Die Ursache dieser nicht ganz befriedigenden Lösung der Witwen­ versorgung ist nicht etwa böser Wille des Gesetzgebers, sondern wiederum der Kostenpunkt. Der Staatssekretär des Innern2 legte in der Kommission und im Plenum des Reichstags dar, daß die Kostenfrage einer sehr eingehenden Prü­ fung unterzogen worden sei und die Regierungen einer über die Vorlage hin­ ausgehenden Belastung entgegentreten müßten, da in Rücksicht auf das Reich und unsere Produktion deren Leistungsfähigkeit erhalten werden müsse. Durch die Vorlage werde das Reich um 28 Millionen, die Gesamtheit um 136 Millionen neu belastet. Kein Landder Welt habe eine solche bis in die Einzel­ heiten durchgeführte Arbeiterversicherungwie wir. Ihre Leistungenhätten bis 1908 den Betrag von acht Milliarden Mark überstiegen. Alle Wünsche, insbe­ sondere die vielen Wünsche auf dem Gebiete der Sozialpolitik, zu befriedigen, sei einfach unmöglich. Bei diesem Widerstand und den entgegenstehenden Schwierigkeiten kam eine Erweiterungder Vorlage nicht zustande. Wie oben schon dargetan, handelt es sich bei der Hinterbliebenen-Versiche­ rung um einen Komplex von Versicherungs- und Unterstützungsmöglichkei­ ten; zunächst Witwenrente. Diese wird nur der Witwe gegeben, die vor oder nach dem Ableben des versicherten Ehemannes Invalide geworden ist. Als Invalide gilt die Witwe, die nicht imstande ist, durch eine Tätigkeit, die ihren Kräften und Fähigkeiten entspricht und ihr unter billiger Berücksichtigung ihrer Ausbildung und bisherigen Lebensstellung zugemutet werden kann, ein Drittel dessen zu erwerben,was körperlich und geistig gesunde Frauen dersel­ ben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen.Der Begriffder Invalidität unterscheidet sich von jenem der

1 Vgl. Einführungsgesetzzur Reichsversicherungsordnung. RGBI. 1911, §f 1258 ff., S. 743 ff. 2 Clemens Delbrück (1856-1921), 1905-1909preuß. Minister für Handel und Gewerbe,1909-1916 Staatssekretärdes Reichsamts des Innern. 1911 Juli 7 309

Versicherten selbst nur insoweit, als nicht der bisherige Beruf der Witwe, son­ dern die bisherige Lebensstellung für die Bemessung des Drittels (nach § 1240) maßgebend ist. Auch die bisherige Lebensstellung ist mitbestimmend bei der Gewährung von Rente. Es sind vor Eintritt der Invalidität nicht alle Witwen erwerbstätig gewesen. Es gibt glücklicherweiseviele Frauen, die nur im Haushalt tätig sind. Für diese kann als Vergleichsmaßstab für die Erwerbsmöglichkeit nicht der bisherige Beruf herangewgen werden, denn sie waren ja in einem solchen nicht tätig. Bei der Witwe eines Tagelöhnerswird als Maßstab der Verdienst einer Tagelöhnerin angenommen werden können. Kanndie Witwenicht mehr den dritten Teil davon verdienen, erhält sie die Rente. Handelt es sich um die Witwe eines höher gelohnten Versicherten, so wird zu untersuchen sein, ob sie, unter Berücksichtigung der Lebensstellung des verstorbenen Mannes, die Tätigkeit einer Köchin, Wirtschafterin usw. übernehmen kann; wenn nicht, wird ihr die Witwenrente zu gewähren sein. Es handelt sich also hier um eine Witweninvalidenrente. Ist die Frau eines Mannes auf Grund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung selbst ver­ sichert, oder hat sie sich weiterversichert und die Anwartschaft auf die Invali­ denversicherung aufrechterhalten, so erhält sie im Falle der Invalidität die Invalidenrente. Diese ist immer höher als die Witwenrente. Damit aber die selbstversicherte Frau nicht benachteiligt werde, bekommt sie beim Tode ihres Mannes, auch dann, wenn sie nicht invalide ist, Witwengeld. Dieses besteht in einer einmaligen Barzuwendung in Höhe des zwölffachen Betrages der berechneten Witwenrente. Sind Kinder vorhanden, so wird beim Tode des Mannes einer gleichfalls versicherten Frau auch eine Waisenaussteuer im achtfachen Betrage der Waisenrente bezahlt. Waisenrente erhalten nach dem Tode des versicherten Vaters seine ehe­ lichen Kinder unter 15 Jahren und nach dem Tode einer Versicherten ihre vaterlosen Kinder unter 15 Jahren. Als vaterlos gelten auch uneheliche Kin­ der. Nach dem Tode eines Versicherten mit Familie und Kindern unter 15 Jah­ ren wird also vom 1. Januar 1912 ab Waisenrente gezahlt, unabhängig davon, ob die Mutter selbstversichert ist oder nicht, ob sie invalide ist oder nicht. Wird die Mutter invalide, so kommt ihre Rente dazu. Die Höhe der Rente der Hinterbliebenen richtet sich nach der Lohnklasse, in welcher der verstorbene Vater versichert war, sowie nach der Zahl der geklebten Marken. Als Zuschuß gewährt das Reich 50 M. für jede Witwen­ rente, 25 M. für jede Waisenrente; 50 M. fürjedes Witwengeld, 16 2(3 M. für jede Waisenaussteuer. Dazu kommt der Grundbetrag der Versicherungs­ anstalt und die Steigerung nach der Zahl der geklebten Marken. Eine Witwe mit zwei Kindern würdejährlich an Witwen- und Waisenrente erhalten: 310 Nr. ff7

nach 500 Wochen nach 2000 Wochen in der I. Lohnklasse 135 M. 158 M. in der V. " 176 M. 261 M. Beivier Kindernbeträgt die Gesamtrente: nach 500 Wochen nach 2000 Wochen in der I. Lohnklasse 189M. 213M. in der V. w 263M. 329M.

& ist der Anfang zu einer Hinterbliebenen-Versicherung gemacht, das ist das Erfreuliche. Die Renten sind ja rechtbescheiden; man wird aber in nicht allzu ferner Zukunft mit einer Erhöhung derselben rechnendürfen. Der Kapi­ talwert der Belastung des Reichs durch die neue Hinterbliebenen-Versiche­ rung beträgt immerhin die große Summe von drei Milliarden Mark. Die Sozialdemokraten, welche auch diese Versicherung ablehnten, haben eine große Schuld auf sich geladen: sie haben die Hand aufgehoben zum Schlage gegen die Witwen und Waisen. Daswird ihnen unvergessenbleiben.

Nr.87

1911 Juli 8

Korrespondenzfür DeutschlandsBuchdrucker und Schriftgießer Nr. 76 Rundschau: Die gewerkschaftlicheVolksversicherung 1

[Ablehnende Reaktion der Rechtspresse auf die Ankündigung einer gewerk­ schaftlichenVolksversicherung)

Die gewerkschaftliche Volksversicherung, wie sie vom Dresdner Gewerk­ schaftskongreß2 einzuführen beschlossen wurde, hat schon Wutausbrüche der

1 Unter Volksversicherungen verstand man keine Lebensversicherungen, sofern sie unter 1500 M Versicherungssumme abgeschlossensind. Eshandelt sich dabeium Versicherungenfolgender Art: 1) Sterbegeldversicherung; 2) Versicherungenauf den Todes- und Lebensfall; 3) Versorgungsversicherungen; 4) Versicherungenfür Kinderim Alterbis zu 14 Jahren; 5) Zusatzversicherungen. 2 Der Gewerkschaftskongreß fand nach dreijähriger Pause vom 26. Juni - 1. Juli 1911 statt. Vgl. auch: Dr. L. Heyde, Der VIII. Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands, in: Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt, Nr. 40 vom 6. Juli 1911 und Nr. 41 vom 13. Juli 1911. 1911 Juli 8 311

Scharfmacher und der aus der heutigen Privatversicherung Riesenprofite zie­ henden Aktionäre, Direktoren usw. entfesselt. Sogar die Staatsgewalt wird angerufen,den Arbeitern das Recht der Selbstverwaltung ihrer eignen Gelder zu rauben, noch ehe die Gewerkschaften die Grundlagen der von ihnen beab­ sichtigten Volksversicherung festgestellt haben. Allen voran ist die "Post" in Berlin.3 Sie schreibt: "Man muß bedenken, daß hier der Staat mit der Ver­ staatlichung der Eisenbahnen, der Post und Telegraphen, mit seinen Wirt­ schaftsunternehmungen überhaupt vorangegangen ist. Bezeichnend dafür ist, daß zur gleichen Zeit, in der die Gewerkschaften den Plan ihrer Selbstver­ sicherung entwickeln, die italienische Regierung mit dem Plan einer Monopo­ lisierung des Versicherungswesens in ihrer Hand vor die italienische Volksver­ tretung tritt. Der Staat wird hier ein sehr dringendes Interesse haben, zu ver­ hüten, daß die Gelder dieser Volksversicherung zu sozialen Kampfzwecken mißbraucht werden oder auch nur mißbraucht werden können. Daß das Reichsaufsichtsamt für Privatversicherung die Versicherung gestatten könnte ohne Leistungszwang,kann als vollkommen ausgeschlossen gelten. Auch dann aber bleibt das schwere Bedenken unbehoben, daß die Volksversicherung für die Versorgung sozialdemokratischer Führer dieselbe Rolle spielen kann, wie sie bisher die Krankenkassenverwaltungen gespielt haben. Sehr zu überlegen wäre deshalb, ob nicht die Reichsregierung eine freiwilligeVolksversicherung, wie sie hier geplant ist, ihrerseits in die Hand nehmen sollte.. ." Es wird also auch auf diesem neuen Gebiete für die Gewerkschaftenmanche Schwierigkeit zu überwinden sein. Und man kann dem Berliner Scharfmacherblatt nur dankbar dafür sein, daß es in seiner sinnlosen Wut gegen die Arbeiterschaft jetzt schon verraten hat, mit welchen Schikanen das neue Unternehmen der organisierten Arbeiterschaft zu rechnen haben wird. Allerdings werden die Herren aber vergebens darauf warten, bis die Arbeiter ihre Kassenehemaligen Unteroffizierenoder sonstigen Inhabern des Zivilversorgungsscheinszur Ver­ waltung überlassen. Daran wird auch die Einführung einer freiwilligen Volks­ versicherung durch die Reichsregierung nichts ändern; denn was eine solche Versicherung den Arbeitern bieten könnte, das lehrt die Arbeiter schon die Reichsversicherungsordnung und die ganze Richtung der Reichsregierung gegen den sogenannten inneren Feind, der überall dort gewittert wird, wo Arbeitergleiches Recht und wirtschaftlicheBesserstellung erstreben.

3 Die 'Post' (Berlin) stand der freikonservativenDeutschen Reichspartei nahe. 312 Nr.88

Nr.88

1911 Juli 8

Deutsche Techniker ZeitungNr. 28 Die Gelben

[Verurteilung der Werkvereinsbewegung; Notwendigkeit von Berufsorganisa­ tionen, die ihre Interessengegenüber den Unternehmerngleichberechtigt ver­ treten wollen und streikbereit sind]

Seit einigen Jahren ist eine Wandlung eingetreten im Verhältnis der Arbeit­ geberverbände zur Arbeiterschaft. Während früher in den meisten Fällen die Arbeiter bei Differenzen aus dem Arbeitsvertrag der angreifende Teil waren, haben neuerdings die Unternehmer die bloße Defensive aufgegeben und suchen, wo und wie sie nur können, die ihnen unbequemen Organisationen der Arbeitnehmer zu zersprengen. Neben der etwas groben Methode der Aus­ sperrung hat sich als vorzügliches Mittel, einen Keil in die Reihen der Arbei­ ter zu treiben, die Gründung von sog. gelben Arbeitervereinen, gelben Beam­ tenvereinen erwiesen, auch Werkvereine, Unterstützungsvereine, Sparvereine genannt. & wird unter den Arbeitnehmern immer Menschen geben, die außerhalb ihrer Berufsorganisation stehen und die als Unorganisierte von den Folgen eines Streiks oder einer Aussperrung am empfindlichsten getroffen werden. Auf diesen Teil der Arbeiter und Angestellten spekuliert man zunächst, und wie die Erfolge der neuesten Gründungen beweisen, hat man richtig gerech­ net. So oft ein solcher Verein ins Leben gerufenwird, hört man über die Not­ wendigkeit und den Zweck des Vereins freilich nur wenig. & heißt da mei­ stens: Die älteren Angestellten und Arbeiter, die schon jahrelang im Betrieb gearbeitet haben, hätten ein Bedürfnis,öfters zusammen zu kommen, möchten dann und wann bei einem Glase Bier mit den Direktoren des Werks zusam­ men sein. Die Direktoren hätten ähnliche Wünsche. Da wäre ein Verein das Richtige. Den einen Vorzug hätte solch ein Verein nebenher, daß kleine Mei­ nungsverschiedenheiten zwischen Leitung und Werkangehörigen ohne viel Aufhebensund unter der Hand beglichen werden könnten. So lange es Streber, schwache, charakterlose Menschen geben wird, so lange werden derartige unternehmerfreundliche Arbeiter- und Beamtenvereine, die sich von vornherein des Streikrechts begeben, die schwerste Gefahr aller Berufsorganisationen darstellen, weil sie nichts anderes sind als ein Werkzeug der Unternehmer gegen die unabhängigen Verbände der Arbeiter und Ange- 1911 Juli 8 313 stellten, von vornherein dazubestimmt, im gegebenen Augenblick diesen Ver­ bänden in den Rücken zu fallen. Überlegenwir einen Augenblick, unter welchen Voraussetzungen die Orga­ nisationen der Arbeitnehmer existieren, warum sie für den, der nichts hat als seine Arbeitskraft, eine absolute Notwendigkeit sind. Die heutige Wirtschaftsordnung beruht im wesentlichen auf den fünf Grundelementen: Arbeit, Arbeitsteilung, Eigentum, Freiheit und Tausch. Die Freiheit ist unter diesenerst die Errungenschaftder neuestenZeit. Erstals die freie Konkurrenz Zunftordnung und Hörigkeit über den Haufen warf, wurde die Basis geschaffen für den heutigen freienArbeitsvertrag. Erst heute stehen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer rechtlich als einander gleichberechtigte Kontrahenten gegenüber. Aber wie steht es in Wirklichkeit? Während die Gesetzgebung formell Unternehmer und Arbeiter als Gleichberechtigte gegenüberstellt, benachteiligt die freie Konkurrenz den Arbeiter aufs schwer­ ste. Er sollte seine Ware Arbeit zu dem bestmöglichen Preis verkaufen, wie es jeder andere Verkäufer von Waren auch anstrebt. Dabeivergaß man zweierlei: Erstens, daß die Ware hier den Menschen selber darstellt. Wer die Arbeit eines Menschen kauft, hat Herrschgewalt über die Person des Menschen. Der Käufer, also der Arbeitgeber, setzt die Arbeitsbedingungen, in denen der Arbeiter körperlich, geistig, moralisch existieren soll. Und zweitens vergaß man, daß in der überwiegendenMehnahl der Fälle die Arbeitdas einzige Mit­ tel ist, durch deren Verkauf der Besitzer sein Dasein fristet. Er kann also als einzelner mit seinem Angebot nicht zurückhalten, sondern muß - bei Strafe des Verhungerns - seine Arbeitlosschlagen, ob er will oder nicht und gleich­ gültig, ob ihm die gestellten Bedingungen gefallen oder nicht gefallen. Mit anderen Worten, der einzelne Arbeitsverkäufer ist dem Unternehmer auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Für den einzelnen Arbeiter und Ange­ stellten gibt es keine Freiheit des Arbeitsvertrages, sondern nur das wird der Inhalt des Vertrages, was der Unternehmer von sich aus einseitig diktiert. Auch nicht diktiert für den einzelnen, sondern in gleicher Weise und einheit­ lich für Hunderte und Tausende, die in der gleichen Lagesind. Damit war die Notwendigkeit gegeben, daß in Berufsorganisationen die Arbeitnehmer, Arbeiter wieAngestellte, sich zusammenschlossen,um gemein­ sam diese Mißstände zu beseitigen, um das vordem bedingungslose Angebot zurückhalten zu können, um nötigenfallsin den Streik zu treten. Erst in dem Maße, als diese Berufsorganisationen die Angehörigen jedes einzelnen Gewerbes durch das ganze Land hindurch in ihren Reihen zusam­ menschließen, wird der vordem nur rechtlich freie Arbeitsvertrag zu dem nun auch in Wirklichkeit freienArbeitsvertrag, stehen sich in Wirklichkeit Arbeit­ nehmer und Arbeitgeber als Gleichberechtigte gegenüber. Nun erst wird das Herrschaftsverhältnis,das dem Unternehmer überden wehrlosen Einzelarbei- 314 Nr.88 ter durch den Vertrag in die Hände gelegt wird, gemildert, nun erst können Angestellteund Arbeiterwirklich freie Menschen werden. Freilich nannten viele Unternehmer diesen Zusammenschluß der Arbeit­ nehmer, diese Verwirklichung der Gleichberechtigung: unberechtigte Anma­ ßung, Unbotmäßigkeit; immer noch befangen von veralteten Vorstellungen, die im Arbeitnehmer den Menschen zweiter Klasse sehen, die nur eine Pflicht des Arbeiterszu arbeiten kennen. So schlossen auch die Unternehmer sich zu Arbeitgeberverbänden zusam­ men mit der ausgesprochenen Absicht, die Organisationen der Arbeitnehmer zu zerbrechen. Es ist nicht immer offener Kampf nötig, um dieses Ziel zu erreichen. Ein viel unscheinbareres, aber für die Arbeitnehmer um so gefähr­ licheres Mittel ist nun die Gründung gelber Vereine. Hier wird proklamiert, daß die Unternehmer, daß die Direktoren es gut meinen mit der Arbeiter­ schaft und den Angestellten; ein freundliches Zusammenarbeiten im Interesse des Betriebes wird angestrebt, der Streik, das einzige Mittel, den Gemein­ schaftswillen durchzusetzen, wird als unbrauchbare Waffe, als veraltet ausran­ giert. Alle Streitigkeiten werden auf dem Wege friedlicher Verständigung aus der Welt geschafft - und das alte Hörigkeitsverhältnis von ehedem ist wieder hergestellt. Darum sind diese Gründungen überaus gefährlich, sie wirken mit ihren Lockungen einschläfernd, zermürben das moralische Rückgrat der Arbeitnehmer, zerstören die Tugenden des Solidaritätsgefühls, des Opfer­ sinnes und beschwören schließlich wieder Zustände herauf, von denen wir uns eben in jahrzehntelangem schweren Ringen freigemachthatten und die helfen, daß wieder der Unternehmer Herrschgewalt gewinnt über Person und Leben des Angestellten. Im Getriebe des Alltags lassen sich die Verführten kostbare Güter langsam und allmählich aus den Händen winden, langsam und allmäh­ lich sinken in den Staub die Ideale des freien Mannes, der freien Arbeit, des freien Arbeitsvertrages. Darum fortmit den Gelben! Sie taugen uns nichts. 1911 Juli 8 315

Nr.89

1911 Juli 8

Deutsche Industrie-ZeitungNr. 27 Rundschau. Das Ausscheiden der Industrie aus dem Hansabund: die Niederrheinisch­ Westfälische Gruppe; die Saarindustrie; die Industriellen in Altona; die Kon­ ferenz der Geschäftsführer der dem Centralverband Deutscher Industrieller angeschlossenenkorporativen Mitglieder.

(Linksschwenkdes Hansabundes zwingtdie Industrie zum Austritt]

Schneller, als vorauszusehen war, vollzieht sich das Ausscheiden der Indu­ strie aus dem Hansa-Bund. Aber es wäre ein großer Irrtum, wenn man glauben wollte, es handle sich bei dieser Sezession lediglich um die schwere Industrie des Westens oder überhaupt nur um die Industrie. An der am 30. Juni in Essen unter dem Vorsitz von Geheimrat Kirdorf abgehaltenen Sitzung des Aus­ schusses und Vorstandes der Niederrheinisch-Westfälischen Bezirksgruppe des Hansa-Bundes, in der das Ausscheiden aus dem Hansa-Bund und die Bil­ dung einer selbständigen Organisation, der Niederrheinisch-Westfälischen Bezirksgruppe zum Schutze und zur Förderung der Interessen von Gewerbe, Handel und Industrie beschlossen worden ist, war unter den 56 erschienenen Mitgliedern nicht nur die schwere Industrie vertreten, und in dem vorläufigen geschäftsführenden Ausschuß von 66 Mitgliedern befinden sich Vertreter der verschiedensten Industriezweige und sonstigen Berufsarten, Kaufleute, Ban­ kiers, Beamte, Angestellte und Handwerker. Es wird sich auch zeigen, daß dem Rufe zur Bildung dieser Bezirksgruppe Angehörige aller Erwerbskreise folgenwerden, ja es ist nicht unmöglich, daß der größte Teil der Mitgliedschaft der Bezirksgruppe desHansa-Bundes in die neue Organisation übergeht; denn kaum irgendwo ist das Gefühl für den engen Zusammenhang zwischen allen Gliedern der wirtschaftlichen Arbeit so lebhaft, wie gerade im westlichen Industriebezirk. Dort ist man aber auch mehr als anderswo durchdrungen davon, daß Wohl und Wehe des Ganzen in erster Linie von dem Gedeihen der Industrie abhängt. Das kommt jetzt auch zum Ausdruck in der Nationallibe­ ralen Korrespondenz für Westfalen, die einen vollgültigen Beweis dafür liefert, daß die Industrie des Westens durchaus keine einseitige Parteipolitik getrieben hat, als sie sich entschloß, der von Riesser dem Hansa-Bund gegebenen Richtung nicht zu folgen. Die genannte Korrespondenzschreibt: 316 Nr.89

"Man wird, so bedauerlich an sich der scharfe Riß manchem erscheinen mag, zugeben müssen, daß die Gründe, die für die Trennung der Industrie vom Hansabund ins Feld geführt werden, außerordentlich schwerwiegende sind. Die Industrie kann sich , ohne ihr Gedeihen, ja ihre Existenz zu gefährden, nicht einseitig nach links drängen lassen. Sie muß unter allen Umständen im Auge behalten, daß ihr Wohlergehen in erster Linie von der Sicherstellung und Fortführung der Politik eines wirksamen Schutzes der nationalen Arbeit in allen Erwerbszweigen abhängt. Diese Politik ist aber aufs schwerste gefähr­ det, wenn entsprechend den Intentionen der Leitung des Hansabundes alles, was rechts steht, aufs äußerste bekämpft werden soll. Ein solcher Kampf kann nur zur Folge haben, daß an Stelle von zuverlässigen Verfechtern unserer heu­ tigen Wirtschaftspolitik Gegner und unsichere Kantonisten in den Reichstag gewählt werden, von Vertretern der Sozialdemokratie, "der gefährlichsten Feindin aller gesunden Weiterentwicklung unserer Gewerbetätigkeit", ganz zu schweigen. Daran mitzuhelfen, hat die Industrie nicht nur kein Interesse, son­ dern sie muß sich aufs äußerste dagegen wehren, nicht nur ihres eigenen Gedeihens wegen, sondern auch wegen des Gedeihens aller Erwerbsstände, deren Wohlergehen mit ihrem eigenen Wohlergehen aufs engste verknüpftist. Das hätte "unser Riesser• sich sagen müssen, und das mögen auch andere sich gesagtsein lassen, die geneigt sind, im Wettlauf um die Gunst der Massen den­ selben Weg zu gehen wie Riesser! Es ist leicht gesagt, daß die Industrie hätte versuchen sollen, innerhalb des gemeinsamen Bundes ihre Anschauungen nachdrücklich zur Geltung zu brin­ gen, daß sie aber um der gemeinsamen Sache willen nicht hätte austreten sol­ len. Der Versuch ist, wie oben bereits angedeutet, gemacht, und nachdrücklich gemacht. Trotzdem hat die Leitung des Hansabundes den verderblichen Weg beschritten. So trifft sie allein auch die Verantwortung für das, was geschehen ist, und fürdas, was folgt. Nicht recht verständlich ist, wie man dem Vorgehen der Industrie die Deu­ tung unterlegen kann, sie habe der konservativen Partei zu Gefallen die gemeinsame Sache im Hansabund im Stich gelassen. Solange die Vertreter der landwirtschaftlichen Interessen sich in solchen Einseitigkeiten befangen zei­ gen, wie sie beispielsweise bei der Behandlung der rheinischen Landgemein­ deordnung und bei der Eingemeindungsfrage Elberfeld-Vohwinkel hervorge­ treten sind, hat die Industrie doch wahrlich keine Ursache, ein derartiges Ent­ gegenkommen zu zeigen. Sache der Leitung des Hansabundes wird es sein, zu überlegen, ob sie gut tut, ihre einseitig links gerichtete Politik weiter zu verfolgen. Entschließt sie sich, auf den Mittelweg zurückzukehren, so hat die Industrie keine Veranlas­ sung, ihr in den Weg zu treten. Gleitet sie aber, gewissen Strömungen nachge­ hend, nach links ab, so wird die Hansabundleitung und werden die, die mit ihr 1911 Juli 8 317

gehen, sich allerdings nicht wundem dürfen, wenn man ihnen mit Proudhon sagt: "Auf meine Ehre und Gewissen, die Jahrhunderte lang der Ehre und Wohlfahrt repräsentieren, als von Demagogen, die innerlich auf Volk und Staat pfeifen und die dem ersteren nur schmeicheln, um sich des letzteren zu bemächtigen." Das ist eine deutliche Sprache nach links und nach rechts. Die Industrie ist keineswegs gewillt, sich irgendeiner Partei zu verschreiben, am wenigstens freilich ist die geneigt, ihr Schicksal in die Hände der äußersten Linken zu legen. Der Versuch, sie dahin zu drängen, ist jetzt gründlich zurückgewiesen worden, sobald er als solcher erkannt worden ist und sich der Pferdefuß gezeigt hat. In dem Verhältnis der Industrie zu den Parteien hat sich also nichts geändert. Die Stellung zur äußersten Linken bleibt die alte, nur wird die Industrie nach dieser Richtung in Zukunft vorsichtiger sein und sich deren Leute genauer ansehen. Zu allen Parteien, die bereit sind, die Interessen der Industrie wahrzunehmen, im Sinne eines gleichmäßigen und wirksamen Schutzes der nationalen Arbeit, wünscht die Industrie in guten Beziehungen zu stehen. Sie wird als solche weder liberal noch konservativ sein, vielmehr das Gute suchen, wo sie es findet. Das Ausscheiden des Herrn Landrat a.D. Rötger aus dem Hansa-Bund2 zieht immer weitere Kreise. Nachdem am 30. Juni die Bezirksgruppe für Rheinland-Westfalen ausgeschieden ist und eine selbständige Organisation geschaffenhat, haben am 2. Juli in einer Sitzung der wirtschaftlichen Vereine der Saar-Industrie die Vorstände der südwestlichen Gruppe des Vereins deut­ scher Eisen- und Stahlindustrieller, des Vereins zur Wahrung der gemein­ samen wirtschaftlichen Interessen der Saar-Industrie und des Arbeitgeber­ Verbandes der Saarindustrie den Austritt aus dem Hansa-Bunde beschlossen. Auch aus andern Bezirken als den großen Industriebezirken des Westens kommen Nachrichten über die Unzufriedenheit mit der Leitung des Hansa­ Bundes. Der bisherige Vorsitzende des Zweigvereins des Hansa-Bundes für Altona, Ottensen und Umgegend, Herr Emil Seidler in Altona, Stadtver­ ordneter und Mitglied der Altonaer Handelskammer, hat seinen Austritt aus dem Hansa-Bund erklärt, ebenfalls der Geh. Kommerzienrat Bolckens, der Kommerzienrat Joh. A Menck, Präsident der Altonaer Handelskammer, Herr H. J. Bösch, zweiter Vorsitzender des Zweigvereins, der Fabrikant Olaf Michaelsen.

2 Vgl. Nr. 76, 82. 318 Nr.90

Nr.90

1911 Juli 10

Die Betriebskrankenkasse Nr. 13 Ärztetag Teildruck

(Entschließung der Ärzteverbände auf dem Ärztetag vom 22.-24. Juni 1911 in Stuttgart]

(Themen der Verhandlungen)

Die Versammlung stellte folgende Entschließung auf, die das Wesentliche aus dem Berichtenthält: "Der in Stuttgart versammelte deutsche Ärztetag1, auf welchem die Dele­ gierten aus allen Teilen Deutschlands vertreten sind, stellt vor der Öffentlich­ keit fest, daß Reichstag und Bundesrat bei Erlaß der Reichsversicherungsord­ nung die ebenso sehr im Interesse der Krankenfürsorge und der hygienischen Wissenschaft, wie des ärztlichen Standes gelegenen, seit langen Jahren erho­ benen Grundforderungen der Ärzteschaft auch nicht erfüllt haben, während die für den Ärztestand verwerfliche Erhöhung der Versicherungsgrenze ein­ geführtwurde. Der Ärztetag gibt jede Hoffnungauf die Gesetzgebung auf und weist die Ärzte an, nur durch das Mittel der Selbsthilfe und der Organisation den ärztlichen Berufsstand freizuhalten, und so die Gesundheitspflege vor Gefahren zu schützen. Der deutsche Ärztetag beauftragt den Ausschuß des Vereins zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen der Ärzte2, Maßnahmen vorzubereiten, unverzüglich gemeinsam mit dem Vorstand der wirtschaftli­ chen Vereinigung eine Verbandszentrale zur Prüfung aller Kassenarztverträge zu errichten und macht den örtlichen Prüfungsstellen zur Pflicht, jeden Kas­ senarztvertrag der Zentralstelle einzuschicken, vor Unterzeichnung die Rück­ äußerung der Zentralstelle abzuwarten. Zur Förderung und weiteren Durch­ führung der freien Ärztewahl, unter Berücksichtigung der örtlichen Verhält­ nisse, sind Einigungskommissionen und Schiedsgerichte notwendig. Ferner sind Bestimmungen über die Errichtung von Kontrollinstanzen zu erlassen, um die Behandlung von Kranken durch Kurpfuscherauf Kosten der Kranken­ kassen unmöglich zu machen, und um eine den Zeitverhältnissenangemessene

1 Der Ärztetag umfaßte die 11. Hauptversammlung des Leipziger Verbandes und die 38. Ver­ rmmlung desArztevereinsbundes. Damit ist der LeipzigerVerband gemeint. 1911 Juli 11 319

Honorierung der ärztlichen Arbeitzu gewährleisten. Auch fürdie Behandlung derjenigen, die durch Erhöhung der Versicherungsgrenze und durch Ausdeh­ nung der Versicherung auf selbständige private Kreise der freien ärztlichen Behandlung entzogen sind, und aller Mitgliedervon Krankenkassen, die über 2000 Mk. Gesamteinkommen haben, sind die Honorarsätze für private Behandlung sicherzustellen. Die wirtschaftliche Abteilung des Bundes wird den örtlichen Organisationen bei Durchführungdieser Beschlüssemit Rat und Tat zur Seite treten. In Übereinstimmungmit dem Geschäftsausschußund der Vertrauensmännerversammlung hat die Verbandsprüfstelle diejenigen Maß­ nahmen mitzuteilen, welche in Anwendung kommen müssen, wenn die Aner­ kennung ärztlicher Forderungen bei den Kassenvorständen auf Widerstand stößt."3

(••. J Aussprache

Nr. 91

1911 Juli 11

Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker, Steindrucker und verwandte Gewerbe Nr. 55 Die Stellungnahme des Verbandes der Deutschen Buchdrucker zum Berliner Zeitungsstreik1

(Gauvorsteherkonferenz des Deutschen Buchdruckerverbandes stellt sich in ihrer Resolution eindeutig hinter den Hauptvorstandund verurteilt den Berli­ ner Tarifbruchaufs schärfste]

Zu den beklagenswerten Berliner Vorgängen hat nunmehr auch die nächst der Verbands-Generalversammlung höchste Instanz im Verbande, die Gau­ vorsteherkonferenz, Stellung genommen und in sehr entschiedener Weise die Maßnahmen des Verbandsvorstandes und die Haltung des "Korrespondent"2 gegenüber den schweren Tarif- und Disziplinbrüchen des Seherischen Rota­ tionsmaschinenpersonals gutgeheißen, ebenso die Maßnahmen des Tarif­ amtes. Diese Stellungnahme konnte ja wohl bei der großen Bedeutung der

3 Zur Auseinandersetzungder Äntemit den Krankenkassenvgl. Nr. 740, 759, 765, 802und 814. l Vgl. Nr. 75, 79. 2 Gemeint ist die Zeitschrift: Korrespondent für DeutschlandsBuchdrucker und Schriftgießer. 320 Nr.91 ganzen Sache und ihrer möglichen Folgen nicht ausbleiben, daß sie aber in so nachdrücklicher und unumwundener Weise zugunsten der Tarif- und Ver­ tragstreue erfolgt ist, wie geschehen, wird der obersten Verbandsleitung innerhalb wie außerhalb des Buchdruckgewerbes bei allen Einsichtigen nur Anerkennungeintragen. Der Verbandsvorstand hatte im Anschluß an den Dresdner Kongreß der Freien Gewerkschaften3, der ja von einem Teil der Berliner Buchdruckerei­ arbeiterschaft auch angerufen worden war, für den 3. und 4. Juli eine Konfe­ renz der Gauvorsteherdes Verbandesder Deutschen Buchdrucker nach Berlin berufen und diese Konferenz hat nach fast zweitägiger Beratung der Berliner Vorgänge und der durch sie herbeigeführten Maßnahmen der Verbandsorgane einstimmig - die Vertretung eines Gaues enthielt sich der Abstimmung - die folgende Resolution beschlossen: "Die Gauvorsteherkonferenz bringt nach eingehender Erörterung des Kon­ traktbruchs der Rotationsmaschinenmeister der Firma Scher) und der damit zusammenhängenden Vorkommnisse einmütig zum Ausdruck, daß der Beschluß des Tarifamts in betreff der Vertrauensmänner genannter Firma nach der gepflogenen Aussprache als völlig verständlich anzusehen ist und seine Begründung in den wiederholten tariflichen Verstößen findet. Weiter verurteilt die Konferenzdie wiederholten Tarif- und Disziplinbrüche in Berlin, die nicht allein die Tarifgemeinschaft, sondern auch die Organisa­ tion als Vertragskontrahent aufs tiefste zu schädigen geeignet sind und die weitere Entwicklung auf diesem Gebiete gefährden müssen, auf das schärfste. Die Konferenz fordertdemgemäß alle Mitglieder auf, im Interesse der Einheit der Organisation sich den Bestimmungendes Statuts und den Beschlüssen der Generalversammlungen auf das strikteste zu unterstellen und beauftragt den Verbandsvorstand, gegen Disziplinbrüche mit den im Statut gegebenen Mit­ teln energisch vorzugehen. Die Solidaritätserklärung der Vertrauensmänner und Personale mit den kontraktbrüchigen Maschinenmeistern kann die Konferenz nur als ein voll­ ständiges Verkennen der tatsächlichen Verhältnisse sowie der Vertragstreue und der Verbandsdisziplin bezeichnen. Die Gauvertreter erklären ihren festen Willen, an den bewährten Grundsät­ zen der Organisation und der Tarifgemeinschaft festzuhalten, selbst dann, wenn die zurzeit in Berlin vorhandene Strömung diesen Boden verlassen sollte. Die das Ansehen der Organisation aufs schwerste schädigenden Vorkomm­ nisse in der Berliner Vereinsversammlung vom 21. Juni 1911 sowie das Anru­ fen außenstehender Kreise in internen Organisationsangelegenheiten verur-

3 Der 8. Kongreßder Generalkommissionder deutschen Gewerkschaften fandvom 26. Juni bis zum 1. Juli 1911 statt. 1911 Juli 11 321

teilt die Konferenz auf das entschiedenste und erklärt sich mit den Maßnah­ men desVerbandsvorstandes sowie mit der Haltung des"Korr." einverstanden. Die Konferenz erblickt in der Angehörigen Art, in der einige sozialdemo­ kratische Parteiorgane das Urteil des Tarifamts wie die Stellungnahme des Verbandsvorstandes glossierten, einen neuen Beweisfür die abfällige Beurtei­ lung, deren sich die Buchdrucker in ihren Handlungen seit Jahren von dieser Seite zu "erfreuen" haben; sie bringt zum Ausdruck, daß eine solche Einmi­ schung in interne Organisationsfragen nicht im Interesse der Arbeiterschaft liegt und deshalbauch von den Buchdruckernzurückgewiesen werden muß. Ist diesescharfe und entschiedene Resolutionschon an sich bezeichnend für die Gauvorsteherkonferenz, so tritt die Haltung der letzteren noch deutlicher hervor in dem erläuternden Artikel über die geführten Verhandlungen4, mit dem das Verbandsorgan sie begleitet und aus dem wir hier einiges wenige wie­ dergeben. Zunächst wurden die Verhältnisse im Seherischen Geschäftsbetriebe einer eingehenden Untersuchung unterrogen und festgestellt, daß diese das Verhal­ ten der Rotationsmaschinenmeister nicht zu entschuldigen vermochten. "Die von der Berliner Gauvertretung vorgebrachten Momente vermochten die übrigen Teilnehmer nicht zu überzeugen, daß bei der Firma Schert die Ver­ hältnisse ungünstig liegen, und auf dem Lohngebiete insbesondere nicht". Dann bestätigte die Konferenz die von uns in Nr. 50 der "Zeitschrift" ausge­ sprochene Meinung5, daß der Grund für die Auflehnung der streikenden Maschinenmeister vor allem in der Spartenbewegung6zu suchen und daß von verhängnisvollem Einfluß auch die ganze eigentümliche Haltung der Berliner Gehilfen in gewerblich-sozialen Angelegenheiten gewesen sei. In Berlin besteht ein Sonderverein der Rotationsmaschinenmeister, der sich an keine Verbandsinstanzen kehrt und Politik auf eigene Faust betreibt. Diesem "Rundklub" genannten Sonderverein wurdeaufgegeben, sich unverzüglich auf­ zulösen, und seinen Mitgliedern, sich dem Berliner Maschinenmeisterverein anzuschließen. - Starke Mißbilligung fand das Verhalten eines Teiles der Ber­ liner Verbandsmitglieder und ihre Disziplinlosigkeit, und dem gegenüber wird in der Resolution erklärt, daß die Provinz entschieden an den Prinzipien des Verbandes wie an der bisherigen Taktik festhalten werde. Weiter wurde dem Tarifamt hinsichtlich der in seinem Urteil ausgesprochenen Disqualifizierung der beiden entlassenen Vertrauensleute auch von anfänglichenGegnern dieser Maßnahme nach dem Ergebnis der Verhandlungen der Konferenzbescheinigt, daß es bei diesemschwerwiegenden Vorfallegar nicht andershandeln konnte; es sei vielmehr zuzugeben, daß es noch Milde haben walten lassen gegen die

4 Nicht abgedruckt. � Nicht abgedruckt. Vgl. Nr. 75 Anm. 6. 322 Nr.92 kontraktbrüchigen Maschinenmeister. Ebenso wurde die Haltung der Gehil­ fenmitglieder in den Tarifinstanzen, sowie das Verhalten der Verbandsleitung und des Verbandsorgans gebilligt; es sei niemandem aus diesen drei Instanzen ein Vorwurfzu machen. In seinen Schlußausführungen läßt der "Korrespondent" die Bemerkung einfließen: Man möge sich keiner Täuschung hingeben,die gefaßteResolution sei keine leere Papierdekoration! So wird das auch die Gauvorsteherkonferenz gemeint haben, und wenn das überall in der Gehilfenorganisation gewürdigt und darnach·gehandelt wird, so wird das ebenso deren Ansehen, wie der Tarif­ gemeinschaftund dem gewerblichen Frieden zugute kommen.

Nr.92

1911 Juli 11

Protokoll der Stuttgarter Besprechung von badischen, bayerischen und württembergischen Ministern 1 Abschrift Teildruck

[Stellung gegenüber dem Süddeutschen Eisenbahner-Verband2• Agitation des Verbands, Erörterung über gemeinsames Vorgehen)

Nachdem der Präsident des Kgl. Württembergischen Staatsministeriums Exzellenz Dr. von Weizsäcker3 die erschienenen Herren begrüßt hatte, führte der K. . Staatsminister für Verkehrsangelegenheiten Exzellenz von Frauendorfer4 folgendes aus: Die Frage, welche Stellung gegenüber den Bestrebungen des Südd. E.V. ein­ zunehmen sei, habe bereits im Jahre 1906den Gegenstand einer Beratung zwi­ schen Vertretern der württembergischen, badischen und bayerischen Regie­ rung gebildet. Bayernhabe damals die Auffassung vertreten, daß sich ein Vor­ gehen gegen den Südd. E.V. nicht empfehle, weil sich derartige Bewegungen nicht mit Gewalt unterdrücken ließen. Man sollte sich auf sorgfältige Beob-

1 BayerischesHauptstaatsarchiv, Ministeriumdes Innern, Nr. 73439. 2 Vgl. Nr. 533. 3 Karlvon Wewäcker (1853-1926), 1906-1918württ. Ministerpräsident. 4 Heinrich v. Frauendorfer (1855-1921), 1904-12 und 1918-20 bayerischer Verkehrsminister; trat 1912 zurück, weil er die Forderung desZentrums ablehnte, die Beamten zu verpflichten, sich nicht als Sozialdemokratenzu betätigen. 1911 Juli 11 323 achtung sowie darauf beschränken, keinerlei Agitation im Dienste zu dulden, Gewaltmaßregeln hätten wohl nur zur Folge, daß die Bestrebungenin geheime Zirkel gedrängt und ihnen ein radikaler, unter Umständen auch ein revolutio­ närer Zug aufgeprägt werde. Der bayerischen Anschauung hätten sich die württembergische und badische Regierung damals angeschlossen. In der Zwischenzeit seien nun aber manche Anzeichen hervorgetreten, die sich dahin deuten ließen, daß der Südd. E. V. mehr und mehr in das sozial­ demokratische Fahrwasser geraten sei. Man könne vielleicht mit einer gewis­ sen Berechtigung sagen, daß er nunmehr der politischen Sozialdemokratie nahe stehe. Eine Zusammenstellung über das Material, das der bayerischen Regierung nach dieser Richtung vorliege, werde er zu übergeben sich erlau­ ben. Mündlich möchte er aus demselben nur folgendeshervorheben: [ ... ] Verstärkung der sozialdemokratischen Tendenzen im Verband. Im vorigen Jahre habe nun die Mehrheitspartei5 der bayerischen Abge­ ordnetenkammer einen Vorstoß gegen den Südd. E.V. unternommen, indem sie eine Resolution einbrachte, die dahin ging, daß die Kammer die Inan­ spruchnahme des Streikrechtes in den Betrieben der Verkehrsanstalten für unzulässig erachten und an die K. Staatsregierung das Ersuchen stelle, mit voller Entschiedenheit allen Bestrebungen entgegenzutreten, welche die Gefahreines Ausstandesin den Betrieben der Verkehrsanstaltenherbeizufüh­ ren geeignet seien. In der 1. Kammer des Landtags habe dann Reichsrat Freiherr von Soden gefordert, daß der Südd. E. V. überhaupt unterdrückt werde; nicht nur den Beamten, auch den Arbeitern sei die Zugehörigkeit zu untersagen. Ein Teil der Zentrumspartei schließe sich dieser weitergehenden Forderung an. Er habe sich gegen die Forderung des Reichsrates Freiherrn von Soden aus­ gesprochen. Genügende Anzeichen dafür, daß der Verband den Streik­ gedanken propagiere, lägen nicht vor. Im Jahre 1905 habe der Verband aller­ dings insofern Stellung für den Streik genommen, als er es verurteilte, daß der bayer. (christliche) Eisenbahner-Verband auf das Streikrecht der Eisenbahner verzichtet habe. Allein seitdem seien Kundgebungen dieser Art nicht mehr vorgekommen. Und er habe es doch nicht fürangängig erachtet, im Jahre 1910 auf ein vereinzeltes Vorkommnis aus dem Jahre 1905 zurückzugreifen. Er habe indessen zugegeben, daß der Südd. E.V. unter sozialdemokratischem Einfluß stehe und daß seine Mitglieder überwiegend der Sozialdemokratie angehören; er habe aber doch vor einer förmlichen Unterdrückung gewarnt, weil dadurch nur die Bewegung, die sich bis dahin offen entwickelt habe, in geheime Kreise gedrängt und der Kontrolle entzogen werde. Bewegungen,

5 Das Zentrumhatte in der bayerischenAbgeordnetenkammer seit 1899 die absoluteMehrheit. 324 Nr.92 welche die Geister großer Massen ergriffen hätten, ließen sich nicht mit Ge­ walt unterdrücken. Im Sommer 1910 seien der Verwaltung verschiedene Fälle heftiger Agita­ tion in der Münchener Hauptwerkstätte bekannt geworden.[ ... ] Die Verwal­ tung habe die Hauptagitatoren durch Versetzung von München unschädlich gemacht, und zwar neben mehreren Mitgliedern des Südd. E. V. auch ein Mit­ glied desbayerischen Eisenbahner-Verbandes. [ ... ] Das Zentrum habe nunmehr den äußersten Kampf gegen die Sozialdemo­ kratie als die Todfeinde der Monarchie, auf seine Fahne geschrieben und for­ dere hierfür die tatkräftige Unterstützung der Regierung. Mit besonderem Nachdrucke sei in der Parteipresse sowie in mehreren Versammlungen das Postulat erhoben worden, esmüsse mindestens den Staatsbeamten und Staats­ beamten-Anwärtern die Zugehörigkeit zu sozialdemokratischen Verbänden als ein solcher wurde der Südd. E.V. bezeichnet - untersagt werden. Dabei habe man besonders auf Art. 16 des Beamtengesetzes vom 16. August 1908 (gültig seit 1.1.09) hingewiesen, wonach den Beamten die Teilnahme an einem Verein untersagt sei, dessen Zwecke oder Bestrebungen den staatlichen oder dienstlichen Interessen zuwiderliefen. Da der Südd. E. V. ohne Zweifel zur Sozialdemokratie hinneige, während es andererseits immerhin fraglich sein könne, ob die Disziplinargerichte den Verband als eine nach Art. 16 des Beamtengesetzes staats- oder dienstgefähr­ lichen Verein qualifizieren würden, beabsichtige die bayerische Regierung zunächst einen verwarnenden Erlaß ergehen zu lassen, der etwa folgenden Inhalt haben solle: "Der Südd. E.V. sei nach seinen Statuten eine rein wirtschaftliche, politisch neutrale Vereinigung. Auch in verschiedenen Resolutionen habe der Verband seinen rein wirtschaftlichen Charakter betont. Das tatsächliche Verhalten des Verbandes stehe aber damit nicht in Ein­ klang. Es läge eine Reihe von Vorkommnissen vor, die Anhaltspunkte dafür böten, daß der Verein die politische Neutralität nicht gewahrt habe, daß innerhalb des Verbandes parteipolitische Strömungen und Bestrebungen bestünden, die der politischen Sozialdemokratie zuneigten. Hierfür spreche die Beobachtung der Tätigkeit, welche erklärte Sozial­ demokraten innerhalb des Südd. E.V. wie umgekehrt Mitglieder des Verban­ des innerhalb der politischen Sozialdemokratie und für diese politische Partei entfalteten;[ ... ]. Das BG lege den Beamten eine gewisse Beschränkung der Vereinsfreiheit auf und begründe für die Regierung zugleich die Pflicht, das Verhalten des staatlichen Personals auf dem Gebiete des Vereinswesens im Auge zu behalten. 1911 Juli 11 325

Für die Eisenbahnverwaltung würde sich daher im Hinblicke auf Art. 16 des Beamtengesetzesvon selbst der Weg ergeben, den sie zu betreten hätte, falls die vorhandenen Anzeichen über nähere Beziehungen des Südd. E. V. zur Sozialdemokratie sich mehren und zum vollen Nachweise eines engen Zusammenhanges verdichten sollten". [ ... ] Württemb. Minister-Präsident Dr. von Weizsäcker: Seit 1906 herrsche in Württemberg absolute Stille. [ ... ] Es habe sich in Württemberg stets nur um eine kleine, übrigens nie genau ermittelte Zahl von Beamten, im wesentlichen wohl nur unter den Lokomotivheizern gehandelt, die dem Verband angehört hätten, und es sei die Annahme begründet, daß die Zahl der Verbandsmitglieder unter den Beamten nicht nur klein, sondern auch im Rückgange begriffensei. [ ... ] Beispiel für Agitation Er vermute übrigens, daß auch bei der Preußisch-Hessischen Staatseisen­ bahnverwaltung wohl ebensoviele Sozialdemokraten im Dienst stehen als in Süddeutschland. Er wolle nicht bestreiten, daß auch in Württemberg die Vermutung bestehe, der Süddeutsche Eisenbahner-Verband habe eine sozialdemokratisch gefärbte Richtung; bestimmte Nachweise könne man aber nicht führen.[ ... ] Agitatoren träten zur Zeit nicht auf. Auch die Württembergische Ver­ waltung dulde übrigens absolut keine Agitatoren in den Werkstätten. [ ... ] Entwicklung der Löhneund Gehälter. In Württemberg befindeman sich also zur Zeitim schönsten Sonnenschein. Diese Situation zu stören, sei für die Regierung schwer, es wäre auch unpoli­ tisch. Denn er dürfe hoffen, auch nach der Parteikonstellation, daß die Dinge zunächst so blieben. Auch würde es, wie er glaube, auf parlamentarischemGe­ biete große Schwierigkeiten machen, die Parteien - vielleicht mit Ausnahme der zweikonservativen - fürein Vorgehen gegen den Südd. E.V. zu gewinnen. [ ... ] Keine Handhabe und kein Anlaß fürEingreifen Württembergs. Die Württembergische Regierung werde von ihrer abwartenden Haltung wohl kaum abgehen können. Sie danke der bayer. Regierung sehr, daß diese so offenihre Stellung kundgegeben und vorher von den beabsichtigten Schritten Mitteilung gemacht habe. Die Möglichkeit einer gewissen Rückwirkung von Bayern nach Westensei ja vorhanden; aber er sehe für Württemberg zur Zeit keinen Anlaß und keinen Weg zu einer veränderten Haltung und zu einem Verlassen der bisherigen Stellung.[ ... ] Gehe die Staatsregierung vor, dann sei sie auf einem Wege, auf dem ein Zurück ohne Schädigung ihrer Autorität kaum möglich sei. Bayer. Staatsminister von Frauendorfer: 326 Nr.93

In Bayern beginne die Bewegung, die sich im Südd. E. V. verkörpere, mehr als es in Württemberg der Fall zu sein scheine, auf den Beamtenkörper über­ zugreifen. [ ... ] Von der Regierung erlassenesVerbot der Teilnahme am Südd. E.V. hat nur für die widerruflichenBeamten Wirksamkeit.

Nr.93

1911 Juli 13

Schreiben N. Eichs an M. Steinthal1 Ausfertigung

[Mitteilung über den Austritt aus dem CDI und der Beibehaltung der Mit­ gliedschaft im Hansabund)

Der Zentralverband deutscher Industrieller hat sich vom Hansabund los­ gesagt; Herr Geheimrat Kirdorf2und sein Anhang haben in Essen eine beson­ dere Organisation zum Schutz der Industrie geschaffen und werben um Mit­ glieder. Wir haben, da wir schon früher mit dem Zentralverband sehr unzu­ frieden waren, unsern Austritt aus diesem Verein erklärt und beabsichtigen, dem Hansabund treu zu bleiben, weil wir für die Politik des Herrn Kirdorfund des Zentralverbandes weder Verständnis besitzen, noch auch uns irgend wel­ chen Erfolg von ihr versprechen. In einer recht imposanten Versammlung in Düsseldorf am vorigen Montag haben sich 36 rheinisch-westfälische Ortsgrup­ pen des Hansabundes energisch auf den von seinem Präsidium, mit Ausschluß des ausgeschiedenen Landrats Rötger3, eingenommenen Standpunkt gestellt; der Präsident, Geheimrat Riesser, betonte aber ganz richtig, daß nunmehr an die Opferwilligkeit der Hansabundmitglieder noch höhere Anforderungen gestellt werden müßten als früher und er gab der Hoffnung Ausdruck, daß diese Opferwilligkeit klingenden Ausdruck finden möge. Er hat mich gebeten, in das Direktorium des Hansabundes einzutreten; das habe ich, da er mir sagte, daß nur drei Sitzungen im Jahr in Frage kämen, angenommen, seinen

1 MannesmannAktiengesellschaft Archiv, M 11.079. Nikolaus Eich, Generaldirektor der Mannesmann-Röhren-Werke. Dr. jur. Max Steinthal, 1873 - 1906Mitglied desVorstandes, seit1906 des Aufsichtsrats der Deutschen Bank. rgl. Nr. 89. 3 Vorsitzenderder Niederrheinisch-WestfälischenBezirksgruppe des Hansa-Bundes. MaxRötger, Vorsitzenderdes Centralverbandes Deutscher industrieller. Vgl. Nr. 76, 81, 82, 83. 1911 Juli 18 327

Wunsch aber, ins Präsidium des Bundes einzutreten, habe ich ablehnen zu müssen geglaubt. Ich hoffe, daß es dem Hansabund gelingt, für den ausgetre­ tenen Landrat Rötger einen besseren Ersatzzu finden. Wenn wir nun in der nächsten Aufsichtsratssitzung Mittel für den Hansa­ bund verlangen, so werden wir auf einigen Widerstand stoßen, weil Herr Dr. Baare4 und Herr v. Langen5 positive Anhänger der Kirdorfschen Richtung sind, diese Herren stehen sehr rechts. Wie die Berliner Aufsichtsratsmitglieder denken, weiß ich nicht, aber jedenfalls, meine ich, müßten wir Mittel und Wege finden, auch für unser Teil dem Wahlfondsdes Hansabundesaufzuhel­ fen.

Nr.94

1911 Juli 18

Korrespondenz für Deutschlands Buchdrucker und SchriftgießerNr. 80 An die Mitglieder desVerbandes der DeutschenBuchdrucker Der Verbandsvorstand: Döblin, Großmann, Eifler, Glaser, Beuermann, Düjon, Hoyer, Wenzel, Wonitzki

[Aufrufzur Einigkeit im Verband)

Kollegen! Die bedauerliche Handlungsweise der Rotationsdrucker in der Druckerei des "Lokalanzeigers" in Berlin und die dagegen seitens der Tarif­ instanzen ergriffenen notwendigen Maßnahmen haben, speziell an letzterem Orte, einigen Mitgliedern die gewünschte Handhabe geboten, ihre Abneigung gegen den Tarifvertragund die durch denselben geschaffene gewerbliche Ord­ nung in einer Weise zum Ausdrucke zu bringen, die ebenso sehr gegen die guten Sitten wie gegen das Verbandsinteresse verstößt.1

4 Louis Baare, Generaldirektor desBochumer Vereins. 5 Gott lieb v. Langen, Zuckerindustrieller. 1 Nach monatelangen Verhandlungen zwischen der Firma Scherl in Berlin und ihren Maschinen­ setzern war am 28. April 1911 vor dem Tarifamt der Buchdrucker eine neue Arbeitszeitregelung festgelegt worden. Als die neue Arbeitszeitregelung am 8. Mai 1911 eingeführt werden sollte, beharrtendie Maschinensetzer auf der alten Regelung und drohten mit Streik. Vor dem Schiedsgericht desTarifamts erhielt die FirmaScherl Recht, die Maschinensetzer wurden des Kontraktbruchs schuldiggesprochen. Im Revisionsverfahren erkannte auch das Tarifamt auf grobenTarifbruch, schloßjedoch die Maschinensetzernicht aus der Tarifgemeinschaftaus. Als die Firma Scherl daraufhin zwei Maschinensetzer entließ, legten die übrigen am 16. Juni 1911 die Arbeit nieder und forderten die Wiedereinstellung der Entlassenen. Die Finnen Rudolf Mosse und Ullstein & Co. erklärten sich mit der Firma Scherl solidarisch und boten sich an, den Druck des "Berliner Lokalanzeigers" zu übernehmen. Dies wurde jedoch von einem Teil desjeweiligen 328 Nr.94

Die Versammlungen in Berlin dienen trotz aller wohlmeinenden Bemühun­ gen des Gauvorstandes nicht mehr der gegenseitigen Aufklärung, sondern lediglich der Beschimpfung der Personen, welche durch das Vertrauen der Gesamtheit berufen sind, die Beschlüsse der Generalversammlung auszu­ führen und der von letzterer gegebenen Richtschnur Geltung zu verschaffen. Durch Herabwürdigung dieser Vertrauenspersonen des Gesamtverbandes sucht man das gesteckte Ziel, einen neuen Kurs herbeizuführen,zu erreichen, indem man die Amtsniederlegung derselben erzwingen will, um dann Vertre­ ter einer der bisherigen entgegengesetzten Verbandspolitik ans Ruder zu brin­ gen. Daß diese Tätigkeit mit den Beschlüssen der Generalversammlung nicht in Einklang zu bringen ist, ist selbstverständlich, und charakterisiert sich daher diese fortgesetzte Beschimpfung und Herabwürdigung der Mitglieder des Ver­ bandsvorstandes und des Tarifamtsals eine Tätigkeit, die eine schwere Schädi­ gung der Verbandsinteressen darstellt. Die systematische Untergrabung des Vertrauens zu diesen Funktionären muß organisationsschädigend wirken; sie bietet daher ohne weiteres dem Vorstand die Handhabe, auf Grund des Sta­ tuts mit dem Ausschlusse vorzugehen. Wenn von diesem äußersten Schritte noch Abstand genommen wurde, so lediglich deshalb, um ihn nicht ohne vorhergehende Warnung zu unternehmen. Der Vorstand will jedoch keinen Zweifel darüber lassen, daß wenn die betreffenden Mitglieder ihre die Ver­ bandstaktik untergrabende und ehrabschneiderische Tätigkeit gegen die Ver­ bands- und Tariffunktionäre fortsetzen sollten, rücksichtslos gegen sie vorge­ gangen wird. Ihnen gegenüber sei noch besonders bemerkt, daß sie ihr Ziel mit den angewandten Mitteln unter keinen Umständen erreichen werden. Die Vertreter in den Zentralinstanzen betrachten es als ihre Ehrenpflicht, gerade jetzt auf ihrem Posten auszuharren, um die Beschlüsse der Generalversamm­ lung zur Durchführung zu bringen, und die Ziele, die den Verband groß gemacht und auf dem Gebiete der Tarifgemeinschaft bahnbrechend für die gesamte Arbeiterschaftgewesen sind, mit aller Energie weiter zu verfolgen. Der große Teil der Verbandsmitglieder, welcher noch nicht begriffen hat, wohin der Weg führen muß, den jene Organisationsschädiger beschreiten wollen, möge sich vor Augen halten, daß wir in wenigen Wochen vor neuen Tarifberatungen stehen2, und daß die Kosten der Tätigkeit der radikalen Phra­ seure die große Masse bezahlen muß, wenn sie nicht den Beweis liefert, daß der Verband gewillt und fähig ist, seine Vertragsfähigkeit und Vertragstreue zu beweisen.

Personals abgelehnt, trotz der Aufforderungender Vorstände des Deutschen Buchdruckverbands zur Wiederaufnahme der Arbeit. Die streikenden Maschinensetzer wurden daraufhin vom Ver­ band ausgeschlossen.Am 29. Juni 1911 kamein Kompromiß zustande, wonach die Firma Schert 30 �er 37 ausständigenMaschinensetzer wieder anstellte. Vgl. hierzu: Nr. 75, 78, 79, 91. Zum 1. Juli 1911 lief der Tarifvertrag, der am 27. Juli 1906 zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmerndes Buchdruckgewerbes geschlossen worden war, aus. 1911 Juli 27 329

Darum fort mit allen Quertreibereien und Einigkeit in dem Bestreben, das Errungene zu fördernund zu befestigen!

Nr.95

1911 Juli 27

Sozialistische MonatshefteNr. 15 Die kommunale Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenunterstützung in Deutschland Gustav Krüger

[Beispiele kommunaler Arbeitslosenversicherungs- und Arbeitslosenunter­ stützungseinrichtungen]

Nachhaltig und oftwird heute in Gewerkschaftskreisendie Meinung vertre­ ten, daß bei den immer größer werdenden Aufwendungen, die die freiwillig übernommene Verpflichtung zur Unterstützung arbeitsloser Gewerkschafts­ mitglieder erfordert, auch diejenigen Kreise, auf deren Wirtschaftsweise die Arbeitslosigkeit in der Hauptsache zurückzuführen ist, mit zu deren Kosten herangewgen werden sollen. Die Schäden, die der Arbeiterschaft durch die Arbeitslosigkeit zugefügt werden, sollen weder von den Unternehmern allein noch von den Arbeitern insgesamt oder einzeln getragen werden, sondern die Allgemeinheit soll hierfüraufkommen. Genauwie bei der Kranken- und Inva­ lidenversicherung die Ursachen der Schädigung zu einem großen Teil in der heutigen Produktions- und Wirtschaftsweise begründet sind und das Reich durch Gesetze die Materie geregelt und sogar aus Mitteln des Reiches Zuschüsse hierzu gewährt hat, hätte dies auch bei der Versicherung und Unterstützung bei Arbeitslosigkeit zu geschehen. Die Gewerkschaften arbei­ ten ja schon seit einigen Jahren darauf hin, die Öffentlichkeit und vor allem die Behörden auf diese Kalamitätaufmerksam zu machen. Da es aber vorläu­ figso gut wie gänzlich aussichtslos ist, vom Reich in dieser Beziehung etwas zu erwarten, so wird versucht, wenigstens auf kommunaler Grundlage Einrich­ tungen zu schaffen, die den Gewerkschaftendie Unterstützung ihrer Mitglie­ der erleichtern und auch der allgemeinen Arbeiterschaft Nutzen bringen sol­ len. In einer ganzen Reihe von Städten werden regelmäßig im Jahr Zählungen Arbeitsloser vorgenommen und den Kommunen die Resultate mit dem Antrag unterbreitet, zur Linderung der Not Maßregeln zu ergreifen. Der 3.30 Nr.95

Widerstand der Unternehmer gegen diesevon den Kommunen geplanten oder schon errichteten Arbeitslosenfürsorgeeinrichtungen wird zum Teil dadurch überwunden, daß sie annehmen, die Gewerkschaften mit ihren Unterstüt­ zungseinrichtungen würden dann keine so große Zugkraft mehr auf die unor­ ganisierte Arbeiterschaft auszuüben vermögen, und auf diese Weise könnte der Gefahr begegnet werden, daß die Arbeiterschaft geschlossen dem Unter­ nehmertum gegenübertritt. Den natürlichen Rückhalt finden die Gewerk­ schaften, wenn sie ihre Anträge auf Fürsorge für die Arbeitslosen stellen, bei den sozialdemokratischen Gemeindevertretern, aber auch eine Reihe bürger­ licher Sozialpolitiker hat sich dieser Frage warm angenommen. Je stärker der Einfluß der Arbeiterschaft auf politischem Gebiet wird, umso mehr wird sie auch mit ihren Forderungen durchdringen können. Es ist nicht in letzter Linie auf den immer größer werdenden Einfluß der Arbeiterbewegung zurückzufüh­ ren, daß man ebenfalls in bürgerlichen Kreisen dieser Frage immer größere Beachtung schenkt. Eine ganze Anzahl größerer und kleinerer Städte hat sich bereits praktisch auf das Gebiet der Arbeitslosenfürsorge begeben. Und die Vielgestaltigkeit des Geschaffenen und Gebotenen beweist am deutlichsten, daß es sich in der Hauptsache um Versuche handelt. Man ist sich noch nicht klar darüber, ob diese Einrichtungen auf die Dauer werden bestehen können und ob sie den Ansprüchen und Erfordernissen auch zu genügen imstande sind. Wo man nicht oder wenig geneigt ist, der Frage näherzutreten, beruft man sich gern darauf, daß ihre Lösung Sache des Reiches sei. Jedoch steht so viel fest, daß auch hier wieder die Gesetzgebung erst dann eingreifen wird, wenn es sich darum handelt festzulegen, was schon zum großen Teil praktisch durchgeführt ist. Die Kommunen sind gerade hierzu die geeigneten Stellen und in der Lage, die wichtigsten Vorarbeiten zu leisten. Im nachfolgendensoll nun das bis jetzt Geschaffene vor Augen geführt werden. Hierbei soll ein Unterschied zwischen der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenunterstützung gemacht und die von sehr vielen Kommunen bereitgestellten Mittel zur Inangriffnahmevon Notstandsarbeiten ganz außer Betracht gelassen werden, die nur als Zuwen­ dungen, fürdie Gegenleistungen nicht verlangt werden, zu registrieren sind. Die älteste Versicherungseinrichtung besteht in Köln; es ist die Stadtkölni­ sche Versicherungskasse gegen Arbeitslosigkeit im Winter, die jetzt bereits auf 15 Geschäftsjahre zurückblicken kann. Die Kasse ist eine selbständige Organi­ sation; sie bezog in den letzten Jahren von der Stadt einen Zuschuß von jähr­ lich 20 000 Mark. Die Versicherung bei ihr hat den Mangel der Freiwilligkeit. Dadurch kommt es, daß die Zahl der Versicherten an und für sich außer­ ordentlich niedrig ist (im Jahr 1909-1910waren es nur 1938), und daß die Ver­ sicherten selbst sich in der Hauptsache aus solchen Berufen zusammensetzen, die mit außerordentlich großem Arbeitslosenrisiko verbunden sind. Waren 1911 Juli 27 331

doch unter den Versichertennicht weniger als 1386,die den Bauberufenange ­ hörten. Die Kassemußte an 1481 Mitglieder, das heißt 82,9 % aller Versicher­ ten, 61 934 Mark Unterstützungen zahlen; von dieser Summe sind nur 26 439 Mark durch Beiträge der Versicherten aufgebracht worden. Der Beitrag beträgt für gelernte Arbeiter 45, für ungelernte 35 Pfennig pro Woche. Eine Steigerung der Beiträge dürfte sich kaum noch durchführenlassen. Ähnlich, wenn auch in den Leistungen und im Umfang herzlich unbedeu­ tend, ist die Arbeitslosenversicherungskasse zu Leipzig. Sie erhält von der Kommune außer den mietefreien Bureauräumen keinerlei Zuschüsse. Auch bei ihr geschieht die Versicherung freiwillig. Die Versicherten werden in 4 Klassen eingeteilt, deren Beiträge nach dem Risiko der Arbeitslosigkeit ver­ schieden sind. Die l. Klasse mit einem Beitrag von 30 pfennig pro Woche umfaßtdie Frabikarbeiter, Handels- und Transportarbeiter, Schmiede, Schlos­ ser, Arbeiter der Buch- und Steindruckerei, Textil- und Metallarbeiter; die 2. Klasse mit 40 Pfennig Beitrag die Bau- und Hilfsarbeiter, Buchbinder, Tisch­ ler, Heizer, Mühlenarbeiter, Tapezierer, Schneider; die 3. Klasse mit 50 Pfen­ nig Beitrag die Buchdrucker, Lithographen, Handlungsgehilfen, Kürschner, Maler, Zimmerer, die 4. mit 60 Pfennig Beitrag die Maurer, Steinbildhauer, Ofensetzer. Im Jahr 1908-1909wurden an 38 Arbeitslosevon 227 Versicherten 1249 Mark Unterstützung gezahlt, an Beiträgen aber nur 1143 Mark erhoben. Der Zuschuß kam aus Zinserträgen des angelegten Kapitals und anderen Ein­ nahmen. Die Höhe der täglichen Unterstützungsbeträge schwankt zwischen 1 und 1,60Mark. Die Stadt Straßburg hat sich ganz dem Genter System1 verschrieben. Sie gewährt jährlich 5000 Mark an Zuschüssen. Fast alle Arbeiterorganisationen, die Arbeitslosenunterstützung zahlen, beteiligen sich an der städtischen Arbeitslosenversicherung. Die Stadt zahlt zu den Aufwendungen der Organi­ sationen 50 % hinzu, jedoch nur fürdiejenigen Mitglieder, die 1 Jahr in Straß­ burg wohnen. Die Unterstützung seitens der Stadt wird nicht gezahlt für Arbeitslosigkeit durch Streik oder durch Folgen von Streiks. Obwohl in den letzten Jahren der Zuschuß von 5000 Mark nicht aufgebraucht wurde, hat sich die Stadt doch nicht verleiten lassen, diese Summe herabzusetzen, vielmehr bestimmt, daß die Überschüsse für Krisenjahre aufgespart werden. Für das Jahr 1908 wurden aus städtischen Mitteln 3507 Mark gezahlt, wogegen die Organisationen einen Betrag von 14 327 Mark aufwandten. Der große Unter­ schied erklärt sich daraus, daß die Organisationen auch solche Mitglieder unterstützen, die ihren Wohnsitz in den Vororten oder nicht in Straßburg haben. Desweitern unterstützen manche Verbände auch für die Sonntage und für solche Tage, die von der Stadt wegen unvorschriftsmäßiger Meldung nicht in Frage kamen. Bemerkenswert bei der Straßburger Versicherungist, daß von

1 Vgl. Nr. 2; Anm. 1. 332 Nr.95 ihr die Bauberufe gar nicht getroffen werden konnten. Für diese Berufe wur­ den erhebliche Mittel für Nostandsarbeiten bereitgestellt, die die für die Versicherung seitens der Stadt aufgewandten Kosten bedeutend überstiegen. Die zwei Nachbargemeinden Schiltigheim und Bischheim haben ebenfalls die Arbeitslosenversicherung nach Genter System und Straßburger Muster ein­ geführt. Seit dem 1. Januar 1909 hat Erlangen eine Arbeitslosenversicherung, die sich mit einigen Abweichungen ebenfalls dem Genter System anlehnt. Die Unterstützung können nur gelernte Arbeiter erhalten, die sich zu den Not­ standsarbeiten nicht eignen. Sie kann auch nur heimatberechtigten und sol­ chen nicht heimatberechtigten Arbeitern zugute kommen, die seit 3 Jahren ih­ ren Wohnsitz in Erlangen haben. Die Unterstützung wird nur für unver­ schuldete, nicht durch Aussperrung und Streik hervorgerufene Arbeitslosig­ keit gezahlt,und sie wirddann eingestellt, wenn nachträglich der Fall der Aus­ sperrung oder des Streiks eintreten sollte. Der von der Stadt gewährte Zuschuß beträgt ebenfalls 50 % der von der Gewerkschaft oder einer andern Organisation gezahlten Unterstützung, jedoch nicht mehr als 60 Pfennig pro Tag; er wird nicht über 6 Wochen hinaus gewährt, und zwar vom 8. Tag der Arbeitslosigkeitan. Während nach dem Genter System nur Arbeiterorganisa­ tionen mit Arbeitslosenversicherungder Zuschuß gewährt wird, geschieht dies bei der Erlanger Versicherung schlechthin, so daß auch von Unternehmern errichtete Arbeitslosenkassen Anspruch auf den Zuschuß erheben können. In Mülhausen im Elsaß ist eine Arbeitslosenversicherung seit dem 1. Dezember 1909 in Kraft. Sie hat sich das Straßburger Vorbild als Muster genommen. Es wird den Arbeiterorganisationen angehörigen Arbeitslosenein Zuschuß von 70 % zu der von diesen bezogenen Unterstützung gewährt. Der Zuschuß erhöht sich auf 80 %, wenn die Arbeitslosen daraus noch Familien­ angehörige zu unterhalten haben. Er darf jedoch 1 Mark pro Tag nicht über­ steigen. Voraussetzung ist !jähriger Arbeits- und Wohnsitz in Mülhausen und unfreiwillige Arbeitslosigkeit, die nicht von Streik oder Aussperrung herrüh­ ren darf und auch nicht auf Unfalloder Invalidität zurückgeführt werden kann. Die Vereine, deren Mitgliedern die Unterstützung gezahlt wird, müssen sich verpflichten, auf möglichste Einschränkung der Arbeitslosigkeit bedacht zu sein. Mit dem Jahr 1910 hat auch Freiburg in Baden die Arbeitslosenversiche­ rung eingeführt. Zu dem Zweck wurden 3000 Mark zur Verfügung gestellt. Gewährt wird sie nur für unverschuldete, unfreiwillige,nicht durch Streik oder Aussperrung, Krankheit oder Invalidität oder durch Unfall hervorgerufene Arbeitslosigkeit. Voraussetzung ist !jähriger Wohnsitz oder innerhalb der letzten 3 Jahre ununterbrochene !jährige Wohnhaftigkeit in Freiburg. Von der Versicherung ausgeschlossen sind alle Arbeiter, die nach ihrem Beruf oder 1911 Juli 27 333 ihrer körperlichenVeranlagung zu Notstandsarabeitensich eignen. Die Versi­ cherung lehnt sich ebenfalls eng an das Genter System an. Es wird den Ange­ hörigen einer Arbeitslosenunterstützung zahlenden Organisation im Fall der Arbeitslosigkeit 50 % zu der von diesergezahlten Unterstützunghinzugezahlt, jedoch nicht mehr als 1 Mark pro Unterstützungstag und nicht über 40 Tage innerhalb eines Jahres. Außerdem können auch solche Arbeitslose die Versi­ cherung wahrnehmen, die von der zu dem Zweck errichteten Spareinrichtung Gebrauch machen. Gespartwird durch Einklebenvon Sparmarken in Sparkar­ ten. Die Spareinlagen dürfen 40 Mark nicht übersteigen. Bei Arbeitslosigkeit wird die Hälfte des gesparten Betrags als Zuschuß gewährt. Wird der ganze Betrag gleichzeitig abgehoben, so geht der Zuschuß verloren. Während der Arbeitslosigkeit darf nur 1 Mark pro Tag von dem Sparguthaben erhoben werden, und an Zuschuß wird ebenfallsnicht über 1 Mark pro Tag gewährt. Seit dem 29. November 1910 hat die Stadt Schöneberg die Arbeitslosen­ versicherung eingeführt. Sie bewilligt vorläufig bis zum März 1913 jährlich 15 000 Mark. Sollte eine Arbeitslosenversicherung für Groß-Berlin schon vor dieser Zeitins Lebentreten, so wird bei deren Einführung dieseVersicherung aufgehoben. Auch hier ist das Genter System als Muster genommen. Angehö­ rigen von Berufsorganisationen, die Arbeitslosenunterstützung zahlen, wird ein Zuschuß von höchstens 1 Mark pro Tag für nicht mehr als 60 Tage gewährt. Die Versicherten müssen1 Jahr ununterbrochenin Schöneberg ihren Wohnsitz gehabt haben; jedoch wird die Zeit des Wohnens in einer andern Gemeinde Groß-Berlins angerechnet, wenn von dieser Gemeinde ebenfalls eine Arbeitslosenversicherung gewährt und der Wohnsitz in anderen Gemein­ den Groß-Berlins ebenfalls angerechnet wird. Der Zuschuß wird eingestellt, wenn Arbeit durch den städtischen Arbeitsnachweis angeboten wird. Durch Ausstände oder Aussperrungen frei gewordene Arbeit braucht nicht ange­ nommen zu werden. Für nichtorganisierte Arbeiter ist eine Spareinrichtung geschaffen, die nur von den der Invalidenversicherungspflicht unterstehenden Personen in Anspruch genommen werden kann. Zu dem von dem Spargutha­ ben erhobenen Betrag wird die Hälfte, jedoch nicht mehr als 1 Mark pro Tag, als Zuschuß gewährt und nicht über 60 Tage hinaus. Der Sparer muß 1 Jahr ununterbrochen in Schöneberg gewohnt haben und seit mindestens 3 Monaten in die Liste der Sparer eingetragen sein. Einlagen der letzten 3 Monate werden unberücksichtigt gelassen. Die Zahlung beginnt nach einer Woche der Arbeitslosigkeit, während der Arbeitc;lose sich täglich auf dem Arbeitsnach­ weis gemeldet habenmuß. Eine sonst nirgends vorhandene Neuerung bietet der Entwurf der Stadt Charlottenburg, der vorsieht,daß außer den Angehörigen von Berufsvereinen die 50 % Zuschuß zu der von diesengeleisteten Unterstützung erhalten, auch Kollektiwersicherungen mit Vereinen füreinzelne namentlich zu benennende 334 Nr.95

Mitglieder oder für den unbeschränktenMitgliederkreis abgeschlossen werden können. Diese Versicherungenwerden durch besondere Verträge abgeschlos­ sen. Der Zuschuß für alle Versicherten kann höchstens 1 Mark pro Tag betra­ gen. Einen ähnlichen Entwurf haben die Arbeitervertreter Groß-Berlins aus­ gearbeitet und ihn dem eingesetzten städtischen Ausschuß überwiesen, von dem aber kaum zu erwartenist, daß er ihn akzeptiert, obgleich er das Produkt eingehender Beratungen von Vertrauensmännern der Arbeiterschaft ist. Der Bürgerausschuß der Stadt Mannheim hat am 7. März 1911 seine Genehmigung zur Einstellung einer Summe von 5000 Mark in das Budget für 1911 zum Zweck der Unterstützung Arbeitsloser gegeben. Für die Zukunft sollen die erforderlichen Beträge in den Voranschlag eingestellt werden. Die Versicherung ist bereits am 1. Mai 1911 in Kraft getreten. Die Unterstützung wird nur solchen Arbeitern oder Arbeiterinnen gewährt, die 1 Jahr lang in Mannheim ihren Wohnsitz gehabt haben oder den früher erworbenen Unter­ stützungswohnsitz in Mannheim noch nicht verloren haben. Sie darf nur jähr­ lich 30 Mark betragen. Abhängig ist die Unterstützung von einem Spargutha­ ben, das der Bewerber bei der Sparkasse erworben haben muß. Die Bezugs­ berechtigung ist an eine bestimmte Höhe des Sparguthabens nicht gebunden. Die Unterstützung beginnt am 4. Tag der Arbeitslosigkeit; sie besteht aus einem Zuschuß, der zu den Sparbeträgen gewährt wird, die in der Zeit der Arbeitslosigkeit aus dem Guthaben abgehoben werden. Der Zuschuß beträgt immer die Hälfte des Betrags, der für den Werktag erhoben wird, aber nicht mehr als 75 Pfennigpro Tag. Die Spareinlage darf 60 Mark nicht übersteigen, der Zuschuß wird nur bis zum Betrag von 30 Mark gewährt. Ist die Spareinlage geringer als 60 Mark, so beträgt der Zuschuß auch nur die Hälfte dieser Ein­ lage. Berechtigt zur Inanspruchnahme der Unterstützung sollen alle Arbeiter sein, deren jährliches Einkommen 1800 Mark nicht übersteigt. Wer die Unter­ stützungseinrichtung in Anspruch nehmen will, muß sich auf dem Arbeitsamt ein Arbeitersparbuch ausstellen lassen. Die Einzahlungen müssen bei der städtischen Sparkasse erfolgen; Einzahlungen von unter 1 Mark werden nicht entgegengenommen. Die Einzahlung kann jederzeit erfolgen, zum Beispiel auch unmittelbar vor der Arbeitslosigkeit mit insgesamt 60 Mark, um sich die Höchstleistung zu sichern. Der Sparer kann über seine Einlagen jederzeit frei verfügen, also auch bei anderen Anlässen diese ganz oder zum Teil abheben. Die Verzinsung erfolgtnach demselben Zinsfuß wie bei anderen Sparern. Der Zuschuß kann nur in Anspruch genommen werden bei unfreiwilliger, unver­ schuldeter Arbeitslosigkeit; bei Streiks und Aussperrungen wird er nicht gewährt. Der Entwurf deswirtschaftlichen Ausschusses der Stadt Nürnberg sieht die Gründung einer freiwilligen Versicherungskasse vor, aus der wöchentliche Unterstützungen von 6 bis 10 Mark gewährt werden sollen, bis zur Höchst- 1911 Juli 27 335 dauer von 60 Tagen. Mitgliedern anderer Organisationen wird ein Zuschuß von 50 Pfennig pro Tag gewährt, wenn die Unterstützungen mindestens so hoch sind wie die von der städtischen Kasse gezahlten. Wir kommen nunmehr zu den Einrichtungen, die als Arbeitslosenversiche­ rungen nicht mehr angesprochen werden können, die vielmehr den Charakter von Unterstützungen an sich tragen. Da wäre zunächst München zu nennen. Im Januar 1909 wurde beschlossen, für diesen Zweck 17 192 Mark aufzu­ wenden, aus denen diejenigen Verheirateten mit 3 Mark und die Ledigenmit 2 Mark pro Woche unterstütz werden sollten, die seit 1. Januar 1908 Wohnsitz und Arbeit in München hallen und seit 8 Tagen nach dieser Zeit arbeitslos waren. Die Ledigen mußten außerdem noch die Heimatsberechtigung nach­ weisen. Die Auszahlung geschah für die unorganisierten Arabeiter durch die Bezirkspflegekommissionenund für die Organisierten durch die Organisatio­ nen. In der Zeit vom 18. Januar bis zum 13. März 1909, wo die Aktion ihr Ende nahm, wurden 4464 organisierte und 1999 unorganisierte Arbeiter aus der obigen Summe unterstützt. Auf die Organisierten entfielen hiervon 48 185, auf die Unorganisierten 18 075 Mark. Der amtliche Bericht stellt fest, daß die Mitwirkung der Gewerkschaftenbei der Kontrolle sich bewährt habe. Ähnlich wie München verfuhr die Stadt Mainz, die im Februar 1909 10 000 Mark zur Unterstützung aller mindestens18 Jahre alten Arbeiter, die 1 Jahr in Mainz wohnten und seit 14 Tagen arbeitsloswaren, bewilligte. Die Unterstüt­ zung wurde auf höchstens 4 Wochen gezahlt. Sie betrug für Ledige 3, für Ver­ heiratete 4 und für Verheiratete mit Kindern unter 14 Jahren 5 Mark pro Woche. Auch hier wurden die Gewerkschaften zur Kontrolle herangewgen, die sich gut bewährt haben. Die Stadt Wernigerode bewilligte im Februar und März 1906 6000 Mark, die zu Arbeitslosenunterstützung an verheiratete Arbeiter verwandt werden sollten. Unverheiratete sollten nur dann daran partizipieren können, wenn sie Eltern oder andere Angehörige mit zu unterhalten hatten. Die Unterstützung betrug 1 Mark pro Woche und fürjedes Kindunter 14 Jahren 50 Pfennig von der 2. Woche der Arbeitslosigkeit an. Von der Summe kamen jedoch nur 4342 Mark zur Auszahlung,von denen auf die organisierten 2629, auf die Unorgani­ sierten 1713 Mark entfielen. Die Unorganisiertenerhielten die Unterstützung von der Armenverwaltung,die Organisierten durch das Gewerkschaftskartell. Die Berliner Vorortgemeinde Rixdorf brachte von 10 000 Mark, die für die Unterstützung Arbeitsloser bewilligt waren, Anfang 1909 7601 Mark zur Ver­ teilung. Es wurden nur hilfsbedürftige Arbeitslose unterstützt, die seit 1 Jahr ihren Wohnsitz in Rixdorf hatten, alleinige Ernährer ihrer Fmailien und seit mindestens8 Wochen arbeitsloswaren. Die Unterstützung wurde auch nur als Darlehen gewährt; sie sollte wieder zurückgezahlt werden, wenn die Verhält- 336 Nr.95 nisse im Sommer des Jahres 1910 es ihnen gestatteten. Jedoch sollte die zwangsweiseBeitreibung unterbleiben. Im März 1909 beschloß Flensburg 10 000 Mark zur Gewährung von Dar­ lehen an Arbeitslose aufzuwenden. Die Darlehen sollten aber spätestens nach 6 Monaten wieder zurückerstattet sein. Sie sollten nur solchen Personen gewährtwerden, die zwarAnspruch auf die Beschäftigungmit Notstandsarbei­ ten hatten, aus Gründen ihrer körperlichen Eigenschaften diese zu leisten aber nicht imstande waren. Die Bewerber durften noch keine Armenunter­ stützungbezogen haben, oderwenn diesdoch der Fall war, mußte diesewieder zurückerstattet sein. Auf den Ausschluß gerade der Bedürftigsten ist es denn auch wohl zurückzuführen, daß nur 88 Bewerber zu verzeichnen waren, die eine Summe von 849 Mark erhielten. Für 1910 wurden nur 2000 Mark zu dem gleichen Zweck bewilligt, jedoch hatten sich Bewerber für Darlehen bis AnfangFebruar noch nicht eingestellt. Die Darlehen wurden zinsfreigewährt. Von anderen Städten wurde zum Beispiel in Rostock noch Barunterstüt­ zung zur Einlösung von auf dem Leihamt versetzten Kleidungsstücken und Betten gewährt, außerdem noch Naturalunterstützungen und Mietszuschüsse. Lübeck, Karlsruhe, Magdeburg,Altenburg, Dresden und Quedlinburg gewähr­ ten ebenfallsNaturalunterstützungen verschiedener Art. Wenn zu den Arbeitslosenversicherungen einige kritische Bemerkungen gemacht werden mögen, so sei zunächst daruaf hingewiesen, daß die von bür­ gerliche Seite erhobenen Bedenken gegen das Genter System, nämlich daß dadurch die Gewerkschaftsbewegung gefördert werden könne, im 1. Bericht über die Straßburger Versicherung auf das entschiedenste als unbegründet bezeichnet worden sind. Wohl haben sich die Gewerkschaftenjeder von ihnen verlangten Mitarbeit unterzogen, abereinen werbenden Vorteil zugunsten des Wachstums hat man nicht bemerken können. Erfreulich ist auch, daß die Scheu vieler Stadtverwaltungen vor der Mitarbeit der Gewerkschaften bis zu einem gewissen Grad überwuden wurde. Der Begriffunverschuldete Arbeits­ losigkeit kann zu vielen Meinungsverschiedenheiten Anlaß geben, aber in einigen Schiedskommissionen, die über Streitigkeiten zu entscheiden hatten, ist er insofern gelöst worden als man eine unverschuldete Arbeitslosigkeit angenommen hat, wenn der Arbeiter durch das Verhalten des Unternehmers zum Verlassen der Arbeit genötigt wurde. Auch die Zumutung unter dem bestehenden Lohntarif zu arbeiten wurde als berechtigter Grund für die Arbeitsniederlegung angesehen, der eine Verweigerung der Unterstützung nicht rechtfertige. Daß die Unterstützung bei Streiks nicht gewährt werden soll, kann aus Gründen der Unparteilichkeit verstanden werden, obgleich auch hier in fast allen Fällen ein Verschulden der Arbeiter nicht vorliegen dürfte.Die Arbeiter zetteln heutzutageaus purer Streiklust keinen Streik an, und wenn er wirklich 1911 Juli 27 337 ausbricht, dann sind sicher alle Mittel zur gütlichen Beilegung vorher erschöpft. Jedoch dürfte hierbei wie bei der Aussperrung die finanzielle Mas­ senbelastung der Einrichtung den Ausschlag gegeben haben, die eventuell an einem einzigen Tag sämtliche Mittel aufbrauchen könnte. Sonst würde die Nichtunterstützung bei unverschuldeter Aussperrung seitens der Unter­ nehmer geradezu eine Ungerechtigkeit und eine Parteiergreifung seitens der Versicherung bedeuten, die bei dem Gegenstück. dem Streik, so ängstlich vermieden wird. Was die Höhe der Unterstützungssätze, die Karenzzeiten,die übrigen Vor­ aussetzungen zum Bezug der Unterstützungen angeht, so ist esselbstverständ­ lich, daß bei der Neuheit der Einrichtung und der Unerfahrenheit auf diesem Gebiet solche Schutzvorkehrungen getroffen wurden, die das ganze Unter­ nehmen von vornherein sichern helfen sollten. Mit dem weitem Ausbau wer­ den auch hier erhebliche Verbesserungen durchgeführt werden können. Im allgemeinen ist zu sagen, daß das Genter System sich noch immer am besten bewährt hat. Durch dieses System werden die Arbeiter auch gleichzeitig wirt­ schaftlicherzogen, indem sie sich gegen solche Notlagen schon vor der Zeit zu schützen suchen. Aber auch den Kommunen, die eseinführen, wird damit eine der schwersten Arbeiten abgenommen, nämlich die Kontrolle über die Arbeitslosen,die von den Organisationen so gewissenhaft ausgeführt wird wie es zuverlässiger nicht geschehenkann. Eine der wichtigsten Grundlagen aber, auf der eine durchgreifende Versi­ cherung aufgebaut werden könnte, bildet die Arbeitsvermittelung. Gut funk­ tionierende paritätische Arbeitsnachweisetragen schon in sich die Gewähr für eine erhebliche Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Hier liegt eine der Hauptschwierigkeiten, die zu überwinden sind. Das geht am besten daraus hervor, daß zum Beispiel die Industriellen von Mannheim sich nicht dazu ver­ stehen konnten, ihren Arbeitsnachweis, mit dem sie den ganzen Arbeitsmarkt in Mannheim beherrschen,zugunsten eines von der Stadtzu errichtenden pari­ tätischen Arbeitsnachweises aufzulösen, der eine der wesentlichsten Voraus­ setzungen zur Lösungdes Problems der Arbeitslosenversicherung darstellt. Es kann daher unseren Gemeindevertretern nicht dringend genug ans Herz gelegt werden, der Errichtung von kommunalen Arbeitsämtern und paritätischen Arbeitsnachweisen das Wort zu reden. Wo solche bestehen oder erreicht wer­ den, müssen die Gewerkschaften auch darauf hinarbeiten, schon bestehende Facharbeitsnachweise diesen anzugliedern. 338 Nr.96

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1911 Juli 28

Deutsche Industriebeamten-ZeitungNr. 15 Standesbewegung: Die Dienstverträge der Berliner Eisenkonstrukteure

[Warnung vor Abschluß eines Arbeitsvertrages, der eine Verschlechterung des bisherigen Anstellungsverhältnisses bedeutete]

Die Ergebnisse der im Herbst 1910 von den Berliner Eisenkonstrukteuren herausgegebenen Gehaltsstatistik ergab, daß etwa 25-30 % der Kollegen noch nicht das für Berlin festgesetzte Mindestgehalt beziehen. Da ferner die Arbeitszeit teilweise noch eine achteinhalbstündige, statt wie sonst in Berlin üblich, eine achtstündige ist, und hinsichtlich der Bezahlung der Überstunden, des Erholungsurlaubs etc. unbefriedigende Verhältnisse herrschen, sind im vergangenen Winter verschiedene kleinere gewerkschaftlicheAktionen unter­ nommen worden. Wenn auch der Erfolg nicht immer beim ersten Anhieb ein befriedigender gewesen ist, so haben sie doch fast überall dazu gedient, die Kollegen vor einer übertriebenen Ausnutzung ihrer Arbeitskraft durch Über­ stunden zu bewahren. Daneben hat die gewerkschaftliche Schulung dazu geführt, daß beim Streike der Eisenbaukonstruktionsarbeiter die Zumutung von Streikarbeit rundweg und einmütig abgelehnt wurde. Um nun in der Eisenkonstruktionsbranche zu gleichartigen Anstellungsver­ hältnissen zu gelangen, wurden auch direkte Verhandlungen mit den Arbeit­ gebern angeknüpft und dem Verbande der Berliner Eisenbau-Anstalten am 11. April offiziell unsere Forderungen überreicht. Seitdem sich jedoch dieser Verband gelegentlich des Arbeiterstreikes dem Verbande Berliner Metall­ industrieller angeschlossen hat, ist die Neigung zu Verhandlungen mit uns anscheinend recht gering geworden. Ja, es mehren sich sogar die Anzeichen, als ob der Anschluß eine allgemeine Verschlechterung der bestehenden Ver­ hältnisse im Gefolgehaben soll. So verlautet aus unterrichteten Kreisen, daß die Firmen einen gemeinsamen Dienstvertrag für alle Angestellten in Vorbereitung haben, aus dessen Inhalt wir folgendeswiederzugeben in der Lagesind: Von Überstunden werden 25 %, auf 200 Stunden im Monat bezogen, nicht bezahlt, darüber hinaus mit 20 % Aufschlag. Urlaub wird im ersten Jahr nicht gewährt, im zweiten und dritten Jahr 8 Tage, im vierten und fünften Jahr 10 Tage, nach fünf Jahren 14 Tage. Militärische Übungen werden auf den Urlaub angerechnet. Gehalt für Übungen wird nach einjähriger Tätigkeit bezahlt, aber 1911 Juli 28 339

nur für die Hälfte der Übungen bis zur Dauer von 4 Wochen und nur, wenn sich der Betreffende verpflichtet, in den folgenden sechs Monaten nicht zu kündigen. Erfindungensind Eigentum der Firma usw. Diese Bestimmungen würden eine solche Verschlechterung der bisherigen Anstellungsverhältnisse bedeuten, daß energische Abwehr geboten ist. Die Regelung des Überstundenwesens z.B. würde in der Praxis bedeuten, daß täg­ lich zweiunbezahlte Überstunden verlangt werden können. Bei der Firma D. Hirsch ist auch bereits der Versuch gemacht, den von der Firma Degenhardt übergetretenen Kollegen einen Dienstvertrag aufzudrän­ gen, der einige Bestimmungen des oben gekennzeichneten, wohl als Normal­ Dienstvertrag für alle Eisenkonstruktionsfirmen zu bezeichnenden Vertrags enthält, und die diese Kollegen im Falle der Unterschrift in verschiedenen Punkten ungünstiger gestellt hätten, wie ihre bei derselben Firma befind­ lichen, aber ohne Dienstvertrag beschäftigen Kollegen. Auf diese Anzeichen haben nun die Berliner Eisenkonstrukteure die einzig richtige Antwortgegeben, indem sie nun auch ihrerseits einen Normal-Dienst­ vertrag ausgearbeitet haben, um für alle in der Eisenkonstruktionsbranche beschäftigten Kollegen gleichmäßige Anstellungsverhältnisse zu schaffen. Dere Vertrag ist am 20. Juli dem Verbande der Berliner Eisenbauanstalten durch die Ortsgruppe Berlin des B. t. i. B. eingereicht worden. Zur Orientie­ rung geben wir ihn nachstehend im Wortlaut wieder: § 1. Die Firma ...... im folgenden kurz als "die Firma" bezeichnet engagiert hiermit Herrn ...... (im folgenden kurz als "der Angestellte" bezeichnet) zum ...... für folgende Tätigkeit...... § 2. Der Angestellte erhält für seine Tätigkeit ein Gehalt von ...... Mark monatlich, das am Ende eines jeden Monats zu zahlenist.

§3. Der Vertrag wird auf unbestimmte Zeit abgeschlossen, die gegenseitige Kündigungsfrist ist eine monatliche ...... die gesetzliche. §4. Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt 8 Stunden (bei durchgehender Arbeits­ zeit einschl. einer halbstündigen Frühstückspause), am Sonnabend 6 Stunden bei durchgehender Arbeitszeit. 340 Nr.96

§5. Zur Leistungvon Überstunden ist der Angestelltenur in dringenden Fällen verpflichtet. Sie werden mit einem Zweihundertstel des Monatsgehaltes zuzüglich eines Zuschlages von 30 % vergütet. §6. Im Falle einer Erkrankung des Angestellten gelten die gesetzlichen Bestimmungen der R.G.0.1; bei einer Krankheitsdauer von mehr als 3 Tagen hat er auf Verlangen der Firma und auf deren Kosten ein ärztliches Attest bei­ zubringen. §7. Während militärischer Pflichtübungenbis zur Dauer von 8 Wochen ruht das Kündigungsrecht. Das Gehalt läuft weiter. §8. Alljährlich steht dem Angestellten ein Urlaub zu, der nach sechsmonatli­ cher Tätigkeit mindestens 10 Arbeitstage, nach einem Jahre mindestens 14 Arbeitstage beträgt und mit jedem weiteren Dienstjahre um 2 Tage bis zur Dauer von 3 Wochen steigt. DasGehalt wird fürdie Dauer des Urlaubs fortge­ zahlt. §9. Für den Fall der Lösungdieses Vertrages hat der Angestellte bereits bei der Kündigung ein Zeugnis zu beanspruchen, das auf Verlangen des Angestellten erschöpfende Angaben über Art und Umfang seiner Tätigkeit und seiner Lei­ stungen erhalten muß. § 10. Erfindungendes Angestellten sind sein Eigentum. § 11. Glaubt sich der Angestellte durch die Firma benachteiligt, oder hält er im Falle der Lösung des Vertragsverhältnisses von seilen der Firma die Entlas­ sungsgründe für nicht stichhaltig, so hat er das Recht, sich an den Angestell­ tenausschuß zu wenden, der von der Firma eine motivierte Antwort auf die vorgebrachten Wünsche und Beschwerden verlangen kann. Bei allen Engagementsmit EisenkonstruktionsfirmenBerlins ist daher dar­ auf zu achten, daß keine Verträge abgeschlossen werden, die eine Verschlech­ terung der bisherigen Anstellungsverhältnisse bedeuten. Insbesondere werden die Kollegen im Reiche auf diese Weise die Forderungen ihrer Berliner Kolle­ gen unterstützen müssen.

1 Reichs-Gewerbeordnung. 1911 Juli 28 341

Nr.97

1911 Juli 28

Deutsche Industriebeamten-ZeitungNr. 15 Die Schutztruppe des Unternehmertums

[Politik des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes dient den Inter­ essendes Unternehmertums)

Einzelvorkommnisse sind im allgemeinen nicht entscheidend für die Beur­ teilung einer Persönlichkeitoder einer Bewegung. Auch der tüchtigsteMensch ist vor Irrtümern nicht geschützt,auch in einer durchaus zielbewußten Organi­ sation können Fehler vorkommen. Und doch können einzelne Vorgänge sehr wohl zur Klärung von Zweifeln beitragen! Sie sind Symptome, die, wenn sie sich häufen und in das gesamte Charakterbild einer Persönlichkeit oder einer Bewegung folgerichtigeinfügen, als wertvolle Beweisstücke dienen. Schon lange sind sich Eingeweihte darin einig, daß die Politik des Deutsch­ nationalen Handlungsgehilfen-Verbandes den wohlverstandenen Angestell­ teninteressen nicht entspricht. Unfähig, sich zu ernsthaftem gewerkschaft­ lichem Handeln aufzuraffen, verschwendet er seinen Wortradikalismus in der Hauptsache zur Bekämpfung der Konkurrenzverbände und trägt so mit in erster Linie die Schuld daran, daß die Bewegung der kaufmännischen Ange­ stellten sich in unfruchtbaren Zänkereien verliertund große Ideale so gut wie völlig vermissen läßt. In parteipolitischer Hinsicht neigt er bekanntlich zur Unterstützung jener politisch rechtsstehenden Parteien, deren Wirtschaftspolitik wir die Verteue­ rung der Lebenshaltung verdanken, und schädigt schon damit die Interessen der Angestellten. Rechnet man ferner hinzu, daß er durch seine erst auf dem 12. Handlungsgehilfentag in Breslau wieder unterstrichene partikularistische Haltung in sozialpolitischen Fragen ein geschlossenes Eintreten der Angestellten für die Verbesserung ihrer Rechtsverhältnisse durchkreuzt, so gelangt man auf diese Weise schon zu der Überzeugung, daß die Politik des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes nicht so sehr den Interessen der Angestellten,als vielmehr denen desUnternehmertums gerechtwird. In dieser Überzeugung wird man bestärkt, wenn man sich vor Augen hält, welche Haltung der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband eingenom­ men hat, wenn es sich darumhandelte, in Konfliktenmit dem Arbeitgebertum für die Interessen der Angestellten einzutreten. Nie wird er jene Schuld von sich abwälzen können, die er dadurch auf sich geladen hat, daß er angesichts 342 Nr.97 des Vorstoßen der bayerischen Metallindustriellen gegen die Koalitionsfrei­ heit ihrer Angestellten die Solidarität mit den übrigen Angestelltenverbänden verleugnete. Und nun liegen neue Beweise dafür vor, daß der Deutschnatio­ nale Handlungsgehilfenverband es wohl versteht, mit hochtönenden Phrasen um sich zu werfen, daß aber hinter all dem Wortgeklingel kein Wille zu gewerkschaftlichem Handeln steckt, ja noch mehr, daß er und seine Ver­ trauenspersonen sich nicht scheuen, Kollegen, die mit den Arbeitgebern im Kampfe stehen, in der schnödesten Weise in den Rücken zu fallen. Wiederholt ist an dieser Stelle über den Konflikt der Angestellten bei den Bergmann-Elektrizitätswerken mit ihrem Arbeitgeber gesprochen worden. Dabei war es notwendig festzustellen, daß im Anfange des Konfliktes sowohl der D.H.V. als auch der Verein der deutschen Kaufleute versagt haben. Der Verein der deutschen Kaufleute hat sich nachträglich eines besseren beson­ nen. Zu der Versammlung, die am 9. Juni d.J. in den Sophiensälen gegen das Vorgehen der Bergmannwerke protestierte, hatte neben anderen Angestell­ tenverbänden auch er einen Vertreter entsandt, der in der Diskussion das Wort ergriff, um festzustellen, daß, nachdem die Firma Bergmann sich einen so empörenden Eingriff in das Koalitionsrecht ihrer Angestellten habe zuschulden kommen lassen, die Mitglieder seines Vereins sich mit den gemaß­ regelten Kollegen solidarisch erklärten. Nur ein Verband war nicht vertreten, und das war der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband. Er hat eine ganze Anzahl Mitglieder bei den Bergmann-Werken, er war auch zu der Ver­ sammlung eingeladen worden; aber diesmal galt es ja nicht, die Mitglieder einer anderen Organisation an Lungenkraftzu überbieten, diesmal ging's zum Kampf gegen einen Arbeitgeber, und da verzichtete der D.H.V. darauf, sich mit in die Front zu stellen. Aber es kam noch schlimmer! Die Vertreter sämtlicher Verbände erklärten, daß sie der Firma solange ihren Stellennachweis sperren würden, bis sie den Angriffauf die Koalitionsfreiheitihrer Angestellten rückgängig gemacht habe. Und sie haben auch Wort gehalten! Es fielden Bermgann-Elektrizitätswerken nach der Versammlung schwer, Arbeitskräfte zu bekommen, bis sie auf den Gedanken kamen, die Berliner Stellenvermittlung des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes um die Zusendung von kaufmännischen Arbeitskräften zu ersuchen. Dort fanden sie bereitwilligst Unterstützung. Auf telephonischen Anruf hin wurden ihnen sofort einige jüngere Handlungs­ gehilfen zugeschickt, die sich noch dazu mit wahren Schundgehältern begnüg­ ten. So verriet die Berliner Leitung des Deutschnationalen Handlungsgehilfen­ verbandes die Angestellteninteressen, und nicht besser war das Verhalten ihres Vertrauensmannes bei den Bergmann-Elektrizitätswerken. Die Firma Bergmann geht seit einiger Zeit mit dem Plan um, einen gelben Beamtenver- 1911 Juli 28 343

ein ins Leben zu rufen. Also eines von den Gebilden, deren höchster Zweck der ist, die Angestellten von ernsthafter Standesarbeit abzuhalten und sie unter der Obhut der Herren Direktoren zu willigen Kreaturen der kapitalisti­ schen Interessen zu erziehen. In einer Versammlung der Bergmann-Elektrizi­ tätswerke nun, die sich mit den wahren Zielen dieses Beamtenvereinsbeschäf­ tigte, brachte es Herr Grabert, so heißt der biedere Vertrauensmann des D.H.V. bei den Bergmann-Elektrizitäswerken, fertig, eine Lanze für den gelben Beamtenverein zu brechen. Nach einem sofort aufgenommenen Bericht sagte Herr G. etwa folgendes: Er habe sich bislang noch nicht für den neuen Beamtenverein entschieden. Als er aber heute mittag eine Einladung zu der Angestelltenversammlung bekommen habe, hätte er sich gesagt,daß wahrscheinlich Mitglieder des Bun­ des der technisch-industriellen Beamten diese Gegenversammlung ins Werk gesetzt hätten, und deswegen habe er sich entschlossen, in den Beamtenverein einzutreten! Denn alles, was der Bund unternehme, sei bekämpfenswert und nebenbei erfolglos. Protestversammlungen und Resolutionen, Solidaritäts­ erklärungen der anderen Verbände, der ganze öffentliche Tamtam sei alles Humbug und nur dazu bestimmt, für den Bund im Trüben fischen zu können. Dagegen arbeite der D.H.V. im Stillen. Er führeim Geheimen Verhandlungen mit den Bergmann-Elektrizitätswerken und wäre dabei, zu untersuchen, ob es berechtigt wäre (!), den Stellennachweis für die Bergmann Elektrizitätswerke zu sperren. Die Verhandlungen hierüber schwebten zurzeit noch. Solidaritäts­ erklärungen wären billig wie Brombeeren, besonders für die Vereine, die in den Sophiensälen vertreten waren. Der D.H. V. könne nicht mit dem Bund zusammengehen, weil auf den Bund in solchen Dingen kein Verlaß wäre. (!) Deswegen müsse er allein und im Stillen arbeiten, und er könne versichern, daß man auf diese Weise weiter käme. In diesen Worten erkennt man die Früchte deutschnationaler Erziehungs­ arbeit. Kein Preis ist diesen Herren fürdie Bekämpfung anderer Angestellten­ organisationen zu hoch, selbst nicht der des Verrats an den Interessen der eigenen Mitglieder. Eine famose Gewerkschaft das, die mit dem Arbeitgeber darüber verhandelt, ob sie ihren Stellennachweis für seinen Betrieb sperren soll! Aber natürlich auf den Gedanken, sich mit den anderen Angestelltenver­ bänden zu verständigen und so im Interesseder kämpfenden Kollegen Solida­ rität zu üben, auf den Gedanken kann der D.H.V. unmöglich kommen. Einern solchen Verbande steht es dann aber auch besonders gut an, einem anderen vorzuwerfen, daß auf ihn in solchen Dingen kein Verlaß sei. Aber wozu sich erregen, das Verhalten des D.H.V. in diesem Konflikt paßt vortrefflich zu seinem gesamten Charakterbild! Die Heuchelei seiner Politik tritt nur bei solchen praktischen Fällen am deutlichsten in die Erscheinung. Sonst hat er ja immer die Möglichkeit, vor Leuten, deren Urteil an der Ober- 344 Nr.98 fläche haftet, sein wahres Gesicht zu verbergen. Aber wenn ihn einmal ein wirtschaftlicher Kampf zur Stellungnahme zwingt, dann fällt die Maske, und dann kann esauch dem blödesten Auge nicht verborgen bleiben, welche Inter­ essen der D.H.V. in Wahrheit vertritt. Dann gewinnt man auch den richtigen Maßstab, um den Wert der Be­ schlüsse einzuschätzen, die auf dem letzten Handlungsgehilfentagzur Gehalts­ frage der Handlungsgehilfen gefaßt worden sind. Man lernt den Hohn verste­ hen, der darin liegt, wenn der D.H.V. die Handlungsgehilfenschaftaufruft, mit allen "tauglichen" Mitteln eine Gehaltspolitik durchzuführen. Die Führer des D.H.V. haben sich ja wohl gehütet, auf dem Verbandstag zu sagen, welche Mittel sie in Anwendung bringen wollen, um die Gehälter der Handlungs­ gehilfenin die Höhe zu treiben. Oder soll etwa darin die Antwort liegen, daß man versuchen will, durch "geeignete Maßnahmen" eine Erhöhung der Anfangsgehälter der Handlungsgehilfen in ihren ersten Gehilfenstellen her­ beizuführen? Da bliebe ja nur die Frage übrig, was man denn im D.H.V. unter "geeigneten Maßnahmen" versteht. Wer es fertig bringt, Angestellten, die im Kampf um das Koalitionsrecht stehen, in den Rücken zu fallen, wer sich nicht scheut, Angestellte, die in eine Lohnbewegungeingetreten sind, zu verhöhnen, weil ihre Bewegung ohne Erfolg geblieben ist, wer gelbe Beamtenvereine unterstützt, der kann füglich nicht mehr verlangen, daß man zu seiner Fähig­ keit, "geeignete Maßnahmen" zur Verbesserung der Gehaltslage zu finden, noch irgend welches Vertrauen hat. Es steht dem schlecht an, sich als Messias anzupreisen, der das Judaszeichen des Verrates an der Stirne trägt!

Nr.98

1911 Juli 30

Die Deutsche Arbeitgeber-ZeitungNr. 31 Organisationsfragen

[Forderung nach einer reichseinheitlichen Arbeitgeberorganisation und Aus­ bau der Kampfmittelgegen die Gewerkschaften)

Wie bereits in unserer Nr. 27 berichtet worden ist1, hat auf der diesjährigen Versammlung des Verbandes der Etuifabrikanten Deutschlands Herr Dr.

1 Nicht abgedruckt. 1911 Juli 30 345

Grabenstedt2 einen Vortrag über den Ausbau der Arbeitgeberorganisationen gehalten. Diesem Vortrage, der uns jetzt im Wortlaut vorliegt, ist folgendes zu entnehmen: Der Redner gab zunächst eine Übersicht über die Arbeitgeberbewegung der letzten zehn Jahre, die allerdings quantitativ ein recht stolzes Gepräge zeigt. Es müsse aber die Frage aufgeworfen werden, ob mit der Ausbreitung der Organisationsformen auch der innere Aufbau und Ausbau der Arbeitgeber­ verbände in der rechten Weise Schritt gehalten hat, und ob die Organisa­ tionsformen selbst in allen Fällen als zweckmäßig anzuerkennen sind. Hierzu bemerkte Dr. Grabenstedt: Da die Arbeitgeberverbände dazu ins Leben gerufen sind, den Organisa­ tionen der Arbeitnehmer mit ihren weitgehenden Forderungen den Arbeit­ gebern gegenüber entgegenzutreten, so muß als Grundsatz anerkannt werden, daß diejenigen Organisationen der Arbeitgeber am zweckmäßigsten sind, wel­ che sich am besten den taktischen Organisationsformen der Arbeitnehmer anpassen. Deshalb muß immer wieder betont werden, daß sich die Arbeit­ geber, so weit als irgend möglich, in gleicher Weise organisieren sollten, wie es die Arbeitnehmer in den Gewerkschaften getan haben. Um die Frage, ob die Organisation des Unternehmertums zweckentsprechend oder noch verbesse­ rungsbedürftig ist, zu beantworten, erscheint es deshalb zwecksmäßig, zunächst einen Blick auf die Organisation der gewerblichen Arbeitnehmer­ schaft zu werfen. Der Vortrag gibt nunmehr eine sehr gründliche und ausführliche Schilde­ rung über die Natur, die Gliederung und die Aufgaben der gesamten gewerk­ schaftlichen Organisation. Stellt man den Verbänden der Gewerkschaften die Organisation der Arbeitgeber gegenüber, so muß zunächst bemerkt werden, daß auf Arbeitgeberseite verschiedene Strömungen nach politischen Motiven, wie sie bei den Arbeitnehmern zu bemerken sind, glücklicherweise nicht exi­ stieren. Die Politik im Sinne von Parteipolitik sei bei den Arbeitgeberver­ bänden ausgeschlossen. Im übrigen könne man eine Reihe ähnlicher Momente, daneben aber auch weitere starke Verschiedenheiten feststellen. Die Hauptfrage, in welcher Weise man die Organisation der Arbeitgeber noch verbessern könnte, beantwortete der Redner, wenn wir seine eingehenden Betrachtungen kurz zusammenfassen durch nachstehende Forderungen: Erstens müßten sämtliche Lokal- und Bezirksorganisationen auf beruflicher Basis zu einer einzigen Berufszentralorganisation verschmolzen werden. Ein gemeinsames Handeln aller Berufsgenossen ist bei den Arbeitskämpfen von ausschlaggebender Bedeutung. Gemeinsame Abwehrmaßregeln, wie Aus­ sperrungen, ferner finanzielle Unterstützungsaktionen können einen durch-

2 Dr. Karl Grabenstedt, Syndikus des Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände und des Gesamt­ verbands Deutscher Metallindustrieller. 346 Nr.98 schlagenden Erfolg nur dann haben, wenn sie nicht auf der Grundlage des ein­ zelnen Orts- oder Bezirksverbandes, sondern auf der Basis des Gesamtberufs­ verbandes aufgebaut sind. Zweitens erscheint es besonders wichtig, daß die Arbeitgeber den Arbeit­ nehmerorganisationen in ihrem Bestreben folgen, die verwandtenBerufsgrup­ pen von Gewerbe und Industrie zusammenzuschließen. Es muß darnach gestrebt werden, eine möglichst lückenlose, geschlossene Organisation auf der Arbeitgeberseite zu erreichen, die in ihrem Autbau möglichst genau der gewerkschaftlichen Organisation entspricht. Deshalb erscheint die Vereini­ gung verwandterBerufe auf Arbeitgeberseite dringend geboten. Drittens muß noch mehr als bisher der Zusammenschluß der örtlichen Berufsverbände zu gemischt-gewerblichen Arbeitgeberverbänden gepflegt werden. - Diese gemischt-gewerblichen Arbeitgeberverbände haben den Zweck, eine Aussprache über örtliche Arbeiterbewegungen herbeizuführen. Das ist aber von großer Wichtigkeit, denn gewerkschaftliche Erfolge einer Arbeiterorganisation, namentlich bezüglich der Reduktion der Arbeitszeit, Erhöhung der Löhne etc. pflegen die übrigen Arbeiterkategorien zu veranlas­ sen, bei ihren Arbeitgebern die gleichen Forderungen zu stellen, so daß an sol­ chen Konzessionen nicht nur die betreffende Branche, sondern die Gesamtheit der Arbeitgeber der betr. Bezirke interessiert ist. Weiter wird durch diese gemischten Arbeitgeberverbände das überaus wünschenswerte Zusammengehen von Industrie und Handwerk angebahnt. Am letzten Ende muß der Zusammenschluß aller Arbeitgeberorganisationen des Reiches zu einer gemeinsamen großen Zentrale angestrebt werden. Zum Ausbau der Arbeitgeberorganisation gehört aber, wie Dr. Grabenstedt bemerkte, nicht nur die Vervollständigung des äußeren Rahmens, für welche in obigem die hauptsächlichsten Richtlinien angedeutet worden sind, sondern, wenn die Verbände ihre Ziele erreichen wollen, auch der Ausbau der Kampf­ mittel. Die Betrachtung dieser Maßnahmen bildete den besonders interessan­ ten Schluß des inhaltreichen Vortrages. Der Abschnitt lautet: In erster Linie kommen die Abmachungen mit den Materiallieferanten in Frage, damit, wenn es notwendigist, auch die Materialsperre verhängt werden kann. Noch besser ist der Anschluß dieser Materiallieferantenverbändean die betreffende Organisation, wie es z.B. im Baugewerbe vielfach geschehen ist. Der Erfolg eines solchen Vorgehens wird stets eine bedeutende Stärkung der Arbeitgeberorganisation sein. Ferner sei hingedeutet auf den Ausbau der Aussperrungstaktik, der bisher noch viel zu wenig Bedeutung beigelegt wird. Es ist aber keine Frage, daß in Zukunft mehr wie bisher mit der Anwendung dieses scharfen Mittels gerech­ net werden muß, da die Angriffskämpfe der Arbeitnehmer an Heftigkeit immer mehr zunehmen. 1911 August 1 347

Schließlich sei die Notwendigkeit hervorgehoben,die finanziellenMittel der Arbeitgeberverbändezu stärken, sei esdurch Ansammlung von großen Fonds, sei es durch Errichtung sogenannter Streikentschädigungsgesellschaften3• B ist keine Frage, daß die Gewerkschaften ihre großen Erfolge den bedeutenden finanziellen Mitteln zuzuschreibenhaben, mit welchen sie einerseits die groß­ artige, aber kostspielige Organisation durchführen und andererseits auch energische Kämpfeführen können. Das Geheimnis des Erfolges bei den Gewerkschaften liegt unbedingt in ihrer Opferwilligkeit, welche bei den Arbeitgebern leider zum großen Teil in viel zu geringem Maße vorhanden ist. Nur wenn die Arbeitgeberorganisationen nicht nur in ihrer äußeren Form und Zusammensetzung sich den Gewerkschaftsorganisationen anpassen, son­ dern wenn sie auch energisch und zielbewußtan dem Ausbau ihrer Kampfmit­ tel arbeiten, werden sie in der Lage sein, dem immer stärker werdenden Ansturm der Arbeiterorganisationen schließlich doch erfolgreich gegenüber­ zutreten.

Nr.99

1911 August 1

Schreiben der Firma Zimmermann & Schmitz an den Verband der Arbeit­ geber im bergischen Industriebezirk, Elberfeld1 Abschrift

[Schutz der Arbeitswilligen vor den Streikposten ist ungenügend)

Betreffsder Metallarbeiterbewegung gestatten wir uns, Ihnen folgende Mit­ teilungen zu machen.2 Unsere Arbeiter sind am 26. er. in den Ausstand getreten. Seit dieser Zeit umstehen die Streikposten unsere Fabrik, und zwar nicht nur, wie gesetzlich zulässig, zu zweien,sondern oft in Gruppen von 8, 10 und mehr Personen, und wehren den Arbeitswilligen den Zugang zu unserer Fabrik. Einern Arbeiter, welcher sich bei uns um Arbeit bewerben wollte, wurde sein, in einem Pakete mitgeführtes Arbeitszeug weggenommen, und er wurde

3 Vgl. die Quellen zur Streikversicherung. 1 Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, 22 (HK Wuppertal), 122 (Schutz der �beitswilligen) Vgl. Nr. 102, 103, 109,138. 348 Nr.99 dann zu dem Arbeiterbureau geführt, wo auf ihn eingewirkt wurde, dass er bei uns keine Arbeit annehmen sollte. Auch sei seitens eines der Streikposten die Äußerung gefallen, "wenn er Arbeit beiuns annähme, würde er wohl bald auf dem Kirchhofesein. w Wir hatten inzwischen die Polizei um ihren Schutz ersucht, doch erweist sich derselbe als unzulänglich, da nicht überall Polizeiposten ausgestellt wer­ den können. Wir machten dem Polizei-Serganten von obigem Vorkommnis Mitteilung, doch erklärteuns dieser, essei sehr schwierig, in solchem Falle den Schuldigen zu fassen, da selten der Betreffende ausfindig gemacht werden könne und selbst wenn diesmöglich sei, die Streikkameradendie Tatsache bestritten. Drei Arbeiter, welche wir engagiert haben, sahen sich durch größere Grup­ pen streikender Arbeiter veranlaßt, umzukehren, und erst unter dem Schutze der Polizei haben sie esgewagt, die Arbeitsstelle zu betreten. Nach Schluß der Arbeit wurden sie wiederum von der Polizei bis zur elektrischen Straßenbahn geführt, doch fanden sich auch hier Streikende ein, welche die betr. Arbeiter bis zu ihrer Wohnung verfolgten. Die Vorstellung, welche dem Gesetzgeber vorgeschwebt hat, als er das Streikpostenstehen gestattete, beruht auf vollständiger Verkennung der realen Verhältnisse. Solange das Streikpostenstehen gesetzlich gestattet ist, wird, wenn man von den großen und sehr potenten Betrieben absieht, der Industrielle der Willkür seiner Arbeiter, resp. deren Aufwieglerausgesetzt sein. Der gesetzlichen Erlaubnis zum Streikpostenstehen liegt wohl die Auffas­ sung zugrunde, daß der Arbeitgeber im allgemeinen ein hinreichendes Gegen­ gewicht in seinem Kapitalbesitz habe. Wir vermögen diese Auffassungals rich­ tig nicht anzuerkennen, sondern sind der Meinung, daß die Mehrzahl der Industriellen keinen Kapitalüberfluß haben, sondern die Überschüsse guter Jahre dazu verwenden müssen, ihren Betrieb auf der Höhe zu erhalten. Die Tatsache, daß sich für solche Industrielle ein längerer Streik zu einer Exi­ stenzfragegestalten kann, liegt auf der Hand. Wir erachten esdeshalb als eine dringende Notwendigkeit, darauf hinzuwir­ ken, daß die Staatsregierung durch Gesetz das Streikpostenstehen untersagt, da eine Ausübung dieses Rechtes im Sinne des Gesetzgebers in der Praxis aus­ geschlossenist. Wir gestatten uns noch, einen Brief eines Arbeiters beizufügen, woraus ersichtlich ist, daß lediglich die Furcht vor körperlichen Gefahren manchen Arbeiter veranlaßt, die Arbeit niederzulegen. Damit nicht durch irgend eine Zufälligkeitder Name des Arbeiters bekannt wird, und ihm hierdurch Unan­ nehmlichkeiten erwachsen möchten, haben wir die Unterschrift durchgestri­ chen. 1911 August 1 349

Anhang V.Bannen,30.7.11 Herrn C. Zimmermann, hier, Fuchsstr. 48. Leider mag ich es nicht zu umgehen, Ihnen die Mitteilung zu machen, daß ich meine Ansicht über die Bewegung durchaus nicht geändert habe noch ändern werde. Ich meine dieses hauptsächlich in bezug auf das Streikposten­ stehen. Mir ist es ja sehr unangenehm, leider mußte ein jeder ein Revers unterschreiben, und es ist nur derjenige unterstützungsberechtigt, der diesen Bestimmungen genüge leistet. Ferner möchte ich es nicht, wie schon seinerzeit ich persönlich bemerkte, nicht unerwähnt lassen, daß ich ja auch auf ähnliche Art und Weise in die Bewegung gewgen worden bin. Der Zweck meines Schreiben soll sich haupt­ sächlich darauf stützen, nicht die Annahme zu erwecken, ich täte Arbeitswil­ lige Ihrem Betriebe fernhalten. Hoffentlich waren diese Zeilen Ihnen nicht unangenehm, ich wüßte wenig­ stens keinen Grund dieses annehmen zu können, da ich mit meiner Stellung zufriedenwar und auch meiner Überzeugung nach zu urteilen, meinen Pflich­ ten nachgekommen bin. Sollten Sie ja nach Beendigung der Bewegung gewillt sein, auf mich zurückzukommen, so bin ich gern bereit, meinen Posten wieder anzunehmen, würde auch gerne bereit sein, falls Sie solange mit einer Hilfs­ kraft arbeiten möchte, mit Rat über die(?) gerne zur Seite zu stehen. Natür­ lich überlasse ich es durchaus Ihnen, wie Sie da zu tun gedenken und wollte es eben nur bemerktgeben. Um mich vor den körperlichen Schäden zu bewahren, habe ich eslieber vor­ gewgen, den finanziellen Schaden zu leiden und mich der Bewegung anzu­ schließen, und bitte ich nochmals, jede andere Annahme zu verwerfen. Indem ich Sie ergebenst bitte, dieses Schreibensofort zu vernichten, schließe ich mit Hochachtung. Nr.100 350

Nr.100

1911 August 6

Deutsche Buchdrucker-ZeitungNr. 32 Organisierter Terrorismus

[Sozialdemokratie zwingtkleine Geschäftsleutein ihre Organisationen)

Im Osten Berlins hat ein Angehöriger der christlichen Gewerkschaften ein Milch- und Backwarengeschäft erworben. Schon nach kurzer Zeit erschienen die Genossen, um ihn als Abonnenten des "Vorwärts"zu gewinnen und in den sozialdemokratischen Wahlverein aufzunehmen. Von der Frau des Laden­ inhabers wurde sogar verlangt, daß sie dem sozialdemokratischen Frauenver­ ein beitrete und für das verkaufte Brot "Vorwärts"-Papier zum Einschlagen verwende! Die Genossinnen waren noch eifriger für die sozialdemokratische Partei tätig als die Männer. Schließlich gab der christlich-nationale Mann dem unerhörten Terrorismus nach; um nicht sein Kaufgeld zu verlieren und seine Existenz zu untergraben, abonnierte der christliche Gewerkschaftler auf den "Vorwärts" und zahlte den Beitrag zum sozialdemokratischen Wahlverein für sich und seine Frau. Leider steht dieser Fall nicht vereinzelt da, er gehört zur Regel. Die kleinen Berliner Geschäftsleute sind gezwungen, mit ihrer politi­ schen Gesinnung Schacher zu treiben, wenn sie nicht verhungern wollen. Die Sozialdemokratie nennt sich stolz die Partei der Freiheit; ein namhafter Teil ihrer Angehörigenbesteht aber nur aus Zwangsmitgliedern, und besonders die Handwerker und Kleingewerbetreibenden sind nicht aus Überzeugung Sozial­ demokraten, sondern zahlenihre Beiträge, weil sie sich dem Terrorismus beu­ gen müssen. Wann endlich werden sich die Regierungen und die staatserhal­ tenden Parteien dazu aufraffen, das deutsche Bürgertum vor dieser schmach­ vollen Vergewaltigung durch die Sozialdemokratie wirksam zu schützen? 1911 August 7 351

Nr. 101

1911 August 7

Aus dem Urteil des Kgl. Oberlandesgerichts in Hamm, III. Zivilsenat i.S. Pie­ kers u. Genossen gegen den Zechenverbandin Essen (Ruhr)1 Ausfertigung

[Schwarze Listen. Zulässigkeit von Boykott und Aussperrung)

Die für die Klagebegründung bedingende und nur noch zu prüfende Uner­ laubtheit und Rechtswidrigkeit des Aussperrungsverfahrens hat das Land­ gericht richtig und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung namentlich des Reichsgerichts sowie mit den in der Literatur, insbesondere in den Ver­ handlungen des 29. deutschen Juristentages2 sowie auch in den Verhandlun­ gen des Reichstags vom 29. Januar, 8. und 10. Februar 1909 (Band 234 der Verhandlungen des Reichstags) zur Anerkennung gelangten Grundsätze beur­ teilt. Diese können jetzt als unbestritten geltend angesehen werden und wer­ den auch vom Berufungsgerichtegeteilt. Danach sind die Aussperrungen und der Boykott an sich eine zwar vielfach als unerfreulich angesehene, aber mit der herrschenden Wirtschaftsordnung zusammenhängende und erlaubte Maßnahme, und zwarnicht nur als Mittel in Lohnkämpfen, worüber sich die§§ 152 und 153 der Gewerbeordnungausspre­ chen, sondern auch in Zeiten des wirtschaftlichen Friedens zur Erreichung anderer wirtschaftlich berechtigter Zwecke, wie insbesondere Disziplinierung von Arbeitern und Fernhaltung ungeeigneter Elemente aus den Betrieben (Vergl. Nachweis bei Oertmann3 in dem Gutachten Blatt 80 der Akten S. 12 und 1. Gutachten, 28. Juristentag Bd. 2, S. 77, und der vom Reichsgericht ent­ schiedene Fall Bd. 56 Nr. 72, 57 Nr.%, 60Nr. 21, 65 Nr. 100,71 Nr. 31). Die Aussperrung und der Boykott enthalten keine Verletzung der Rechte der Arbeiter im Sinne des§ 823 Abs. 1 B.G.B., weder ihres Vermögens im all­ gemeinen, da es kein Recht im Sinne dieses Paragraphen ist, noch der Freiheit, die - von dem Schutze gegen Zwang und Betrug abgesehen -, nur als körperliche Bewegungsfreiheit durch § 823 Abs. 1 geschützt wird, noch insbesondere des - abgesehen von eingerichteten Gewerbebetrieben - nicht als

1 Zentrales Staatsarchiv, Abt. Potsdam. 15.01. RAdl, Nr. 6810.Vgl. Nr. 244. 2 Der 29. Deutsche Juristentag fand vom 10 bis 12. September 1908 in Karlsruhe statt. Zu den Themen desJuristentages vgl. Sozialrechtliche Fragenvor dem Juristentage, in: Soziale Praxis und �chiv für Volkswohlfahrt, Nr. 51 vom 17. September1908. Dr. Paul Oertmann, Professor für Zivilrecht in Erlangen; er schrieb einen Kommentar zum BGB. 352 Nr. 101 unter § 823 Abs. 1 fallend anerkannten Rechts auf freie Entfaltung der Erwerbstätigkeit, insbesondere der durch Fachausbildung erworbenen Fähigkeit (vgl. Riezler im Archiv für Bürgerliches Recht Bd. 27, S. 245 ff., ferner Verhandlungen des 24. Juristentages Bd. 5, S. 186 ff.) noch endlich der Gewerbefreiheitim Sinne des§ 1 der Gewerbeordnung)(vgl. Oertmann in den Verhandlungen des 28. Juristentages Bd. 2, S. 65 ff.; Reichsgericht Bd. 51, S. 372 ff.). Auch Gesetze zum Schutze der Arbeiter in der Ausübung ihrer Erwerbs­ tätigkeit, insbesondere solche zum Schutze der Bergarbeiter, sind durch die Aussperrung nicht verletzt und deshalb stempelt auch § 823 Abs. 2 B.G.B. nicht die Aussperrung zu einer unerlaubten und rechtswidrigen Handlung. Auch in dieser Beziehung wird auf die überall zutreffenden Ausführungen des Landgerichtsverwiesen. Wie§ 823, so leidet auch§ 824 B.G.B. bei der in der Klage und bei der jetzi­ gen Erörterung unterstellten, an sich satzungsmäßigen und richtigen Aus­ übung der Aussperrung, also bei vorliegender Vertragsbrüchigkeit der Kläger, keine Anwendung, wie das Landgerichtbereits richtig ausgeführthat. Es kann sich daher nur fragen, ob die Aussperrung unter§ 826 B.G.B. fällt und deshalb unerlaubt und, wie weiter zu folgern ist, rechtswidrig ist (vgl. Enneccerus 4. und 5. Auflage§ 453 Fußnote 9). Tatsächlich wird in der Rechtsprechung die Anwendung der an sich oft bedauerten Maßnahmen der Aussperrung und des Boykotts wie schon unter der Herrschaft des früheren Rechts (Reichsgericht Bd. 28, S. 238 und Bähr, Gesammelte Aufsätze Bd. 1, S. 339 folgende), so insbesondere nach dem Rechte des B.G.B. nicht schrankenlos zugelassen, sondern durch die Rücksicht auf die guten Sitten beschränkt und insoweit als rechtswidrig nach § 826 cit. anerkannt, als in Aussperrung und Boykott ein Verstoß gegen die guten Sitten liegt, und durch einen solchen, die, wie schon ausgeführt, in der Ausführung liegende vorsätzliche Schadenszufügung herbeigeführtwird. Die Rechtsprechung geht im allgemeinen dahin, die Sittenwidrigkeit anzu­ nehmen, wenn unsittliche Mittel wie wahrheitswidrige und aufhetzende Dar­ stellungen oder die Herbeiführung eines den Verrufenen wirtschaftlich zu ver­ nichten geeigneten Nachteils angewendet werden oder doch der Nachteil für den Verrufenen in keinem erträglichen Verhältnisse zum Vorteile für den Verrufer steht oder der erstrebte Erfolg nicht mehr als wirtschaftlich berech­ tigt anerkannt werden kann. Dagegen ist die Aussperrung, die Wahl entspre­ chender Mittel vorausgesetzt, als berechtigt da anerkannt, wo sie einem großen und gemeinsamen, vom einzelnen nicht zu erreichenden und staatlich an sich vertretbaren Ziele (z.B. Wohl der Förderung volkswirtschaftlich nütz­ licher Arbeit und ihrer angemessenen Entlohnung) dient (vgl. die Rede des damaligen Staatssekretärs von Bethmann Hollweg vom 29. Januar 1909, S. 1911 August 7 353

6627, der Verhandlungen des Reichstags, Bd. 234, und Oertmann, Verhand­ lungen des 28. Juristentags Bd. II, S. 78). Diesentspricht auch der in der Theo­ rie zur Anerkennung gelangten Ansicht (vgl. die im Tatbestande angewgenen Gutachten, insbesondere von Lotmar und Oertmann und dem nach dem Berichte von Rosin auf dem 29. Juristentage gefaßten Plenarbeschlüsse Bd. 5, S. 777 ff. der Verhandlungen). Die Annahme des Lotmar'schen Gutachtens, daß es bei den schwarzen Listen den Unternehmern auf Rache an den Arbeitern, die sie zur Strecke bringen wollten, zu tun sei, ist nach dem dem Gerichte vorliegenden Material in keiner Weise begründet, ganz abgesehen von der Frage, ob die Rache als mitwirkendes Motiv gegen die Zulässigkeit der Aussperrung spräche (vgl. Reichsgericht Bd. 71, S. 172 ff.). Auch die im Reichstage von den Arbeitervertretern scharf hervorgekehrte Seite der Sache, daß die Anwendung der schwarzen Liste in Zeiten des wirt­ schaftlichen Friedens als ein heimtückisches Kampfmittel zu verwerfen sei, trifft die zu entscheidende Frage nicht. Denn die Bekämpfung des einzelnen Vertragsbruches liegt außerhalb der Lohnkämpfe, und der Angriffder Arbei­ ter könnte vielmehr nur gegenüber § 8 Nr. 1 der Satzungen der Beklagten gerechtfertigt sein, wonach nach Beendigung von Ausständen noch eine gewisse ZeitSperre der Ausständischen eintreten soll. Handelt es sich endlich bei der Aussperrung um einen Akt des fortdauern­ den und nach den Reichstagsverhandlungen von den Arbeitern heftig geführ­ ten Klassenkampfes, so rechtfertigt der hier fragliche Kampfgegenstand, der Vertragsbruch, auch den Zusammenschluß der Zechen, soweit er der Errei­ chung des zu billigenden Zieles der Arbeitgeber dient oder dafür notwendig ist. Das Kampfmittel der Aussperrung seitens verbundener Unternehmer ist gegenüber den meist vermögenslosen Bergarbeitern tatsächlich das einzige, das den Unternehmern zu Gebote steht und Erfolg zu versprechen geeignet ist. Seine Anwendung zur Bekämpfung von Disziplinwidrigkeiten der Arbeiter steht nach den angezogenen Beispielen aus der höchstrichterlichen Rechtspre­ chung in unbestrittener Anerkennung. Die Zulässigkeit der Aussperrung ver­ tragsbrüchiger Arbeiter hat auch einen vom Landgericht bereits verwerteten Anhalt in § 86 des Berggesetzes (vgl. § 125 der Gewerbeordnung), und zugleich ist damit die Zulässigkeit der Vereinbarungen der Unternehmer zur gegenseitigen Mitteilung der Vertragsbrüche anerkannt. Ist also das Strafmittel der gemeinsamen Aussperrungen ein berechtigtes, so ist es in der hier von der Beklagten angewendeten Form und bezüglich des Maßes seiner Anwendung im Reichstage wie in einem Teile der Gutachten einer scharfen Kritik unterzogen. Insbesondere hat der damalige Staatssekre­ tär von Bethmann Hollweg die selbst von Oertmann im Archiv für bürger- 354 Nr.102 liebes Recht Bd. 34, S. '11!,7, als nicht unbedenklich angesehene und von der Beklagten beim Arbeitsnachweise auch ganz bedeutend herabgesetzte lange Dauer der Aussperrung, die oft zu den entschuldigenden Beweggründen des Vertragsbruchs nicht im rechten Verhältnis stehen möge, daneben die etwaige Heimlichkeit des Verfahrens gegenüber den Arbeitern und die Mängel einer sorgfältigen und sachlichen Feststellung des Vertragsbruchs als bedenklich bezeichnet. Auch der weitere Angriff Lotmars, daß die Bestrafung von einem anderen als dem Geschädigten ausgehe und dem Bestrafenden die Möglichkeit der Verzeihung fehle, erscheint ungerechtfertigt, weil die Bestrafung immer von einem Gliede der solidarisch zusammengeschlossenen Interessengemeinschaft ausgeht. Dagegen ist die Aussperrung unter dem Gesichtspunkte des § 826 B.G.B. insoweit allerdings zu beanstanden, als die Ausdehnung auf sechs Monate für die einfachen (nicht qualifizierten) Fälle eine unzulässige Härte darstellt.

Nr.102

1911 August 7

Schreiben der Firma Zimmermann & Schmitz an das Oberbürgermeisteramt Barmen1 Abschrift Teildruck

[Forderung nach stärkerem Polizeischutz wegen Ausschreitungen gegen Arbeitswillige]

Heute morgen gegen 5½ Uhr sind wiederum Arbeitswillige, welche in einem Taxameter zur Arbeitsstelle fuhren, vor unserer Fabrik überfallen und zur Umkehr gezwungen worden. Einern derselben sind im Wagen von einem Außenstehenden die Zähneeingeschlagen worden. Wir bringen dieses zu Ihrer Kenntnis, um Ihnen den Ernst der Situation klarzulegen. Wir haben uns wiederum um Schutz an die Polizei gewandt, doch ist die Zahl der Schutzleute anscheinend für diese anormale Lage nicht ausreichend,

1 Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, 22. (HK Wuppertal), 122 (Schutz der Arbeitswilligen) 1911 August 8 355 und dürfte Remedur dringend geboten sein, um weitem Ausschreitungenvor­ zubeugen.2

Nr.103

1911 August 8

Schreiben der Firma Zimmermann & Schmitz an den Verband der Arbeitge­ ber im bergischen Industriebezirk, Elberfeld1 Abschrift Teildruck

[Forderung nach gesetzlichem Verbot des Streikpostenstehens wegen wieder­ holter Ausschreitungen gegen Arbeitswillige]

Einige Arbeitswillige, welche wir eingestellt hatten, sind von den Streiken­ den wiederholt überfallenund geschlagen worden, so daß dieselbensich genö­ tigt sahen, die Arbeit niederzulegen. Wir wiederholen, daß solche bedauer­ lichen Verhältnisse nur durch das Streikpostenstehen ermöglicht werden, es empfiehlt sich deshalb mit allen Kräftendaraufhinzuwirken, daß durch Gesetz das Streikpostenstehen verboten wird. Die Polizei erweist sich in solchen Fällen als unzulänglich, um den Arbeits­ willigen überall Schutz angedeihen lassen zu können. Auch ist es vorgekom­ men, daß sie unsern Arbeitern ab Fabrik das Geleit gegeben hat bis zur elek­ trischen Straßenbahn, wo sie dieselben in Sicherheit glaubte, es waren jedoch auch streikende Arbeiter mit aufgestiegen, und die betr. Arbeitswilligen wur­ den beim Aussteigen von jenen überfallen, wobei dieselben bei den an jeder Haltestelle postierten ausständigen Arbeitern Unterstützung fanden. Solche Zustände zu beseitigen gibt es nur ein Mittel, und das ist das gesetzliche Ver­ bot des Streikpostenstehens.

2 Zu den Ereignissen beider Firma Zimmermann & Schmitzvgl. auch Quellen Nr. 99, Nr. 103, f r. 104,Nr. 138. Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, 22. (HK Wuppertal), 122 (Schutz der Arbeitswilligen). Vgl. Nr. 99,Nr. 102, Nr. 104,Nr. 138. 356 Nr. 104 · Nr. 105

Nr.104

1911 August 11

Schreiben der Firma Zimmermann & Schmitz an den Verband der Arbeit­ geber im bergischen IndustriebezirkElberfeld. 1 Abschrift

[Ausschreitungen gegen Arbeitswillige]

Am Freitag, dem 4. er. nachm. gegen 5 Uhr, sammelten sich wohl über 100 Arbeiter in der Ronsdorferstr. und warteten ab, bis die in unserer Fabrik täti­ gen 4 Arbeitswilligen von 6 Schutzleuten bis zur Alleestr. begleitet wurden. Ich schloß mich den Arbeitswilligen an, um nach Hause zu fahren. An der Unionstr. bestiegen wir die elektrische Straßenbahn, mit uns aber gleichzeitig einige der uns verfolgenden Arbeiter. Als die Arbeitswilligen an der Adler­ brücke abstiegen, wurden sie dort von einem Haufen streikender Arbeiter überfallen, bedroht und geschlagen. Auch ich wurde bedroht, und flüchtete mit einem der 4 Arbeitswilligen in die Schwebebahn, um nach Elberfeld zu fahren, doch folgten uns auch 2 Arbeiter in die Schwebebahn nach, ohne daß wir jedoch beim Aussteigen in Elberfeldweiter behelligt wurden.

Nr.105

1911 August 11

Deutsche Industriebeamten-ZeitungNr. 16 Das Reichsmarineamt weicht zurück! Heinrich Gramm

[Reichsmarineamt lenkt im Arbeitskampf mit den Hilfstechnikern ein und kündigt neuen Dienstvertragan; Kritik am Nachgeben des Deutschen Techni­ ker Verbandes]

1 Rheinisch-Westfälisches Winschaf�rchiv zu Köln, 22. (HK Wuppertal), 122 (Schutz der Arbeitswilligen). Gezeichnet von Adolf Ullenberg. Vgl. Nr. 99, Nr. 102, Nr. 103, Nr. 138. 1911 August 11 357

Am 31. Juli war die Kündigungsfrist für die bei den Marine-Intendantur­ und Gamisonbauämtem angestellten Bautechniker abgelaufen, und es mußte zum offenen Konflikt kommen, wenn das Solidaritlltsbewußtsein der betref­ fendenKollegen sich als stark genug entwickelt erwies und das Reichsmarine­ amt keine wesentlichen Zugestllndnisse mehr machen sollte.1 Die in Wil­ helmshaven und Cuxhaven beschäftigtenBautechniker traten, da die Situation unverändert war, am 1. August ihren Dienst nicht an. Dahingegen hatten sich die Kollegen der Bauämter in Kiel von ihrem Intendanturrat einreden lassen, daß der vorgelegte Dienstvertrag geändert werde, sie blieben deshalb im Dienst. Allerdings hatte sich der Staatssekret1lr2 mit einer Verfügungvom 22. Juli "redaktionelle Änderungen einzelner Bestimmungen des Vertrags­ musters" vorbehalten, und darauf berief sich der lntendanturrat in Kiel3• Es wäre jedenfalls richtiger gewesen, wenn die Kieler Kollegen ebenso einmütig wie die übrigen den Dienst verweigert hätten, denn dann wäre der Eindruck auf das Reichsmarineamtein noch stllrkerergewesen. Immerhin läßt sich aber schon heute feststellen, daß das solidarische Zu­ sammenstehen der Angestellten der Kaiserlichen Marine das Reichsmarine­ amt bis zu einem gewissen Grade zum Rückzuge veranlaßt hat: Am 24. Juni hatte das Reichsmarineamt durch eine Verfügung angeordnet, daß die Hilfs­ techniker die ihnen jetzt gewährte Remuneration4 so lange beziehen sollen, "bis das Einstellungsdienstalter das Aufrückennach den neuen Sätzen erlaubt, so daß z.B. ein Hilfsarbeiter,der am 1. Dezember1907 eingetreten ist und jetzt schon 2400 M. bezieht, erst am 1. Dezember 1914 in diese Stufe zu rücken hätte. Das nächste Aufrücken könnte erst am 1. Dezember 1915, und zwar in Stufe 2500 M. erfolgen". Diese Bestimmung eröffnete den Angestellten die Aussicht, unter Umständen 6-8 Jahre auf der jetzigen Gehaltsstufe stehen zu bleiben, sodaß die Einführung des neuen Dienstvertrages den Angestellten auch noch materielle Verschlechterungen gebrachthaben würde. Diese unso­ ziale Bestimmung ist nunmehr durch die bereits erwähnte Verfügungvom 22. Juli aufgehoben worden. Darüber hinaus wird in dieser Verfügung weiter be­ stimmt, daß die Kaiserliche Intendantur das Recht hat, "zum Ausgleich für alle sonst entstehenden Härten für die bisher im Beamtenverhältnis befindlich gewesenen Hilfsarbeiter eine Vergütung festzusetzen, die bis zu drei Stufen höher sein kann, als die im Beamtenverhältnis bewgene Remuneration". Das ist gegenüber der Verfügung vom 24. Juni eine bedeutende Verbesserung, ja,

1 Vgl. Nr. 85, Nr. 106,Nr. 113, Nr. 206,Nr. 214 und Nr. 385. 2 Alfredvon Tirpitz,1897-1916 Staatssekretärdes Reichsmarineamtsund 1898-1916preußischer �taatsminister. Zu dem Inhalt des Vertrages vgl. Gegenüberstellung des vom Reichsmarineamt und von den Organisationen vorgelegten Vertragsmusters, in: Deutsche Techniker-Zeitung, Nr. 11 vom 9.3.1912, und Nr. 13vom 23.3.1912. 4 Remuneration:Vergütung, Entschädigung. 3S8 Nr.10S die Verfügung vom 22. Juli ist zweifellos der erste Rückzug, den das Reichs­ marineamtin diesemKampfe angetreten hat. Trotz.dem war es verfehlt, daß die im D.T.V.5 organisierten Kollegen der Kieler Bauämter ihren Dienst am 1. August wieder aufnahmen, denn es bestand immer noch der Dienstvertrag in der bisherigen Form, von dessen Zurücknahme bisher nicht die Rede gewesen war. Es ist sicher erst dem soli­ darischen Vorgehen der größtenteils im Bunde organisierten technischen Hilfsbeamtender Werften zu danken, daß sich das Reichsmarineamtin letzter Stunde entschlossen hat, noch einen weiteren Schritt zurückzuweichen, was aus der nachstehenden Verfügungdeutlich hervorgeht: Der Staatssekretär des Reichs-Marine-Amts Berlin, den 2. August 1911. Nr. C.U.11. 6794

Den im Telegramm vom 29. Juli enthaltenen Forderungen der Hilfstechni­ ker kann nicht entsprochenwerden. Dagegen bin ich bereit, mit Rücksicht darauf, daß die Werften aus inneren Gründen für die vorhandenen beamteten Hilfstechniker den Übergang in ein Dienstvertragsverhältnis dem Ermessen der einzelnen Hilfstechniker anheim­ gestellt haben, diese Vergünstigung nachträglich auch dem im Bereich der Kaiserlichen Intendantur befindlichen Hilfstechniker-Personal (einschließlich Regierungsbaumeister) zuzugestehen; die schon im Beamtenverhältnis in der Marine angestellt gewesenen Hilfstechniker dürfen daher wählen, ob sie in Zukunftauf Dienstvertrag beschäftigt werdenwollen. Die endgültige Form dieses Dienstvertrages muß, wie bereits in der Verfü­ gung vom 22. Juli 1911 - C.U.11. 64856 - zum Ausdruck gebracht, noch vorbe­ halten bleiben. Auch für Bauschreiber und Bauaufseher gelten die vorstehenden Bestim­ mungen. Im Sinne des Vorstehenden sind bereits erfolgte Kündigungen - so weit erforderlich- mit rückwirkender Kraftzurückzuziehen. In Vertretung des Staatssekretärs gez. Capelle7 Mit dieser Verfügung sind also die Kündigungen zurückgezogen und die Hilfsbeamten werden zunächst nach den alten Bestimmungen weiter beschäf­ tigt. Aber es wäre verkehrt, wollte man diesen Rückzug des Reichsmarineamts schon als einen endgültigen Sieg der Techniker feiern, denn der neue Ver-

S DeutacherTechniker Verband. 6 Nicht abgedruckt. 7 AdmiralEduard von Capelle(1855-1931), 1904-1914Direktor desVerwaltungsdepartements im Reichsmarineamt,1916-1918 Staatssekretärdes Reichsmarineamts. 1911 August 11 359 tragsentwurf liegt noch nicht vor, man weiß deshalb auch noch nicht, wie er aussehen wird. Zudem bezieht sich die Verfügung nur auf die Bautechniker. Den technischen Hilfsarbeitern der Werften steht der Kampf noch bevor. Ihnen ist zwar noch nicht mit jener brutalen Härte, wie den Bautechnikern gekündigt worden, aber es wurden in den Monaten April und Mai Neuanstel­ lungen auf Grund des neuen Vertrages vorgenommen. Da damals von dem Vorgehen der Marinebehörde noch nichts bekannt war, hatten die meist von außerhalb kommenden Herren den Vertrag in Unkenntnis der Verhältnisse angenommen. Erfreulicherweise ist aber von diesen Kollegen die Solidarität gewahrt worden. So weit sie Bundesmitgliedersind, haben sie ihrer vorgesetz­ ten Behörde mitgeteilt, daß sie gewillt seien, die Anerkennung des Vertrages wieder rückgängig zu machen. Sollte ihnen die Zurückziehung ihrer Unter­ schrift nicht gestattet werden, so wollen sie solidarisch am 15. August ihre Kündigung einreichen. Wenn also das Reichsmarineamt seine an die Intendanturen gerichtete Verfügungnicht auch auf die Werften und auf die neueingestellten Techniker ausdehnt, dann wird der Kampf weitergehen. An uns soll esdabei nicht fehlen, denn wir fürchten den Kampf nicht, der den Angestellten durch das rigorose Vorgehen der Reichsmarinebehörde aufgezwungenworden ist. Die erfolgreiche Durchführungdes Kampfes hängt also in erster Linie von der entschiedenen Haltung der in Frage kommenden Techniker selbst ab. Wenn sie standhalten und sich nicht, wie die Kieler Bautechniker überreden lassen, dann muß der Sieg auf der ganzen Linie errungen werden. Dieser Sieg aber liegt nicht nur im Interesse der gerade davon betroffenen Kollegen, son­ dern der ganze Stand würde an ihm teilnehmen. Wenn es der Kaiserlichen Marine gelingt, den vorgelegten oder einen ähnlichen gegen die guten Sitten verstoßenden Dienstvertrag einzuführen,dann dauert es nicht mehr lange, und das private Unternehmertum wird seinen Angestellten ebenfalls solche Ver­ träge zu diktieren versuchen. Dadurch würde aber die Kampfesfront ganz wesentlich zu Ungunsten der Angestellten verschoben werden, denn es ist unbestreitbar,daß ein Kampf mit der Großindustrie ein wesentlichschwierige­ rer ist, als mit einer staatlichen Behörde, weil in einem solchen Kampfe die öffentliche Meinung nicht in dem Maße die Angestellten unterstützen könnte, wie das hier der Fall ist. Wenn also die Angestellten der Kaiserlichen Marine noch etwas auf persönliche Freiheit geben, dann müssen sie in diesem Kampfe Rückgrat zeigen! 360 Nr.106

Nr.106

1911 August 12

Deutsche Techniker-Zeitung Nr. 33 Zum Konfliktmit dem Reichsmarineamt

(Deutscher Techniker-Verband rechtfertigtsein Einlenken im Arbeitskampf)

Mit hoffnungsvollen Worten schlossen wir den Leitartikel der letzten Nummer, in dem wir unseren Lesern über den Stand des Konfliktes mit dem Reichsmarineamt berichteten.1 Die Energie, die aus den Beschlüssen sprach, die Arbeit einzustellen, wenn die Verträge nicht verbessert würden, mußte jeden von uns mit außerordentlicher Freude erfüllen. In diesem Kampfekonn­ ten wir der Sympathie unserer Mitbürger in weitestem Sinne sicher sein. Die beiden Versammlungen, die in Kiel und Wilhelmshaven unter großer Teil­ nahme der Bürgerschaft stattfanden, gaben uns hiervon den Beweis. Der Abgeordnete Struve2 unterstrich in der Kieler Versammlung noch einmal, daß der Konflikt nicht durch uns entstanden sei, sondern vom Reichsmarineamt sei uns der Kampf aufgezwungen worden. Der Abgeordnete rief den Tech­ nikern zu, daß kein honoriger Techniker sich finden möge, dem Reichsmari­ neamt unter den angebotenen Verträgen Arbeit zu verrichten. Wenn noch etwas besonders geeignet war, den kämpfenden Kollegen ihren Mut zu stei­ gern, dann war es die alle Erwartungen übertreffende Opferfreudigkeit der Kollegen im Reiche. Ging beim Ausbruch des Kampfes ein Sturm der Ent­ rüstung durch unsere Reihen, so folgten der Ausschreibung unserer Samm­ lung die Taten. Mancher begeisterte Brief gelangte in unsere Hände, der Zeugnis von der Zusammengehörigkeit aller Techniker gibt, deren wir uns immer erinnern werden, wenn es gilt, eine gleiche Aktion durchzuführen. Und doch wollen wir uns nicht verhehlen, daß die erste Aktion an dieser Stelle besondere Gefahrenin sich bergen mußte. Die Mehrzahl derer, die aus ihrer Stellung scheiden wollten, schieden nicht aus einer beliebigen Arbeits­ stelle, sondern aus einem Amte; entstand doch der Konflikt dadurch, daß ihr Beamtenverhältnis in ein Privatdienstverhältnis umgewandelt werden sollte. Die Mehrzahlvon ihnen wähnte sich auch im Kampfeals Beamte mit all ihren Rücksichten und Verpflichtungen ihrer Behörde gegenüber. Es war deshalb nicht das durchschnittliche Menschenmaterial, mit dem gekämpft werden

1 Vgl.: Zum Konflikt mit dem Reichsmarineamt, in: Deutsche Techniker-Zeitung Nr. 32 vom 5.8.1911. yg1. auch Nr. 65, Nr. 105, Nr. 113, Nr. 206, Nr. 214 und Nr. 385. Dr. Wilhelm Struve, prakt. Arztin Kiel,MdR Jan. 1907 - Nov.1918 (FrVg/DFVp). 1911 August 12 361 sollte, sondern wir müssen gestehen, daß in diesem Kreise noch manch beson­ dere Hindernisse zu überwinden waren. Wenn trotzdem die Einmütigkeit erzielt wurde, so freuen wir uns, weil die Einmütigkeit des Beschlusses ein Dokument für das Fortschreiten desOrganisationsgedankens darstellt. Wir wollen der Hoffnung Ausdruck geben, daß auch beim Staatssekretär, Herrn von Tirpitz, bei unseren Behörden überhaupt mit diesem Konflikt das Verständnis für die Bedeutung der Organisation und ihre gerechte Würdigung gewachsen ist. Wenn wir den weiteren Verlauf des Kampfes überblicken, so ist ohne Zweifel festzustellen, daß Herr von Tirpitz seinen ablehnenden Standpunkt hat verändern müssen, denn wozu er ursprünglich nicht bereit war, in fried­ licher Verhandlung mit dem Deutschen Techniker-Verband die Lage der Techniker zu erörtern, dazu hat er sich bereitfindenmüssen, unter dem Druck derselben Organisation. In der letzten Nummer bereits kündigten wir in einem Nachsatz an, daß die Kieler Behörden versprochen hätten, den von uns ausgearbeiteten und von jedem einzelnen Techniker seiner Behörde vorgelegten Dienstvertrag anzuer­ kennen, so daß die Arbeitsniederlegung dort nicht zu erfolgenbrauchte. Wäh­ rend man noch in Kiel über die Kompetenz und die Form der Zusage verhan­ delte, lief aus Wilhelmshaven die Nachricht ein, daß der Staatssekretär be­ kanntgegeben habe, den Konflikt damit zu entscheiden, daß man den Techni­ kern freistellen solle, zwischen dem alten Dienstvertrag und einem neuen Pri­ vatdienstvertrag zu wählen. Auf diese Zusage hin traten die Techniker wieder in ihre Stellung ein. Das ist der Erfolg, der auf das erste energische Vorgehen sich erzielen ließ. Wir verhehlen uns nun nicht, daß auch das alte Dienstverhältnis kein glück­ liches war, denn wir wissen, daß die Klagenauch unter den alten Verhältnissen sich von Jahr zu Jahr mehrten. Der Schwerpunkt der kommenden Zeit muß darum der sein, den Privatdienstvertrag, den ein großer Teil vorziehen wird, durchaus und sofortin unserem Sinne zu gestalten und wir zweifeln nicht,daß eine Rückwirkung auf das Beamtenverhältnis eintreten wird. Gelingt uns dies, dann können wir von der Aktion behaupten, daß sie einen Sieg bedeutet und ihre Früchte auch weiterhin zeitigen wird. Das Ressort des Herrn von Tirpitz zeigt in bezug auf Personalfragen keine große Klarheit, und man vermißt auch den großen Zug, der einem solchen modernen Ressort eigentümlich sein müßte. Man erinnert sich unwillkürlich der Lehren des Kieler Werftprozesses und wünscht das Vordringen kaufmän­ nisch-technischen Geistes gegenüber dem militärisch-bureaukratischen. Die Werfthilfstechniker sind mit ihren Forderungen seither auch immer abge­ wiesen worden und man kann es ihnen nicht verdenken, wenn auch sie beun­ ruhigt werden durch die Pläne des Staatssekretärs. Die Umwandlung von 362 Nr. 106

Beamtenstellen in solche mit Privatdienstvertrag war keine zufällige Erschei­ nung, sondern ist symptomatisch für das Ressort des Herrn von Tirpitz. Die Höhe des Pensionsfondsbedrückt Herrnvon Tirpitz und ihn willer entlasten. Das geschieht nun nicht dadurch, daß er die Pensionierungen ins Auge nimmt, die ungeheure Mittel erfordern, sondern die bescheidenen Stellungen der technischen Beamten sind ihm gerade recht, mit seiner Reform zu beginnen. Aus Friedrichsort3 verlautet, daß für den nächsten Etat Stellen für Kon­ struktionsmechaniker, die durch Deckoffiziere besetzt werden sollen, bean­ tragt wurden. Mit diesen soll der Druck auf die Techniker ausgeübt werden. Über die technische Zweckdienlichkeit diesesVerfahrens wollen wiruns heute nicht unterhalten, sondern nur feststellen, daß damit nicht das erreicht wird, was der Reichstag wünscht, eine Verringerung des Pensionsfonds, sondern im Gegenteil eine Vermehrung! Militärischer Geist soll gefördert werden! Ist es wahr, daß man sogar beabsichtigt, einen Mechaniker-Obermaaten ein Jahr zu beurlauben, damit er (ein Jahr!) Technik studiere? Daß unter solchen Umständen die Erbitterung auch in diesem Teile des Tirpitzschen Ressorts wächst, brauchen wir nicht zu sagen. Doch genug für heute. wir sehen, daß der letzte Kampf nur ein Vorgefecht bedeutet. Es steht noch mehr auf dem Spiel und wir müssen auf der Hut sein, aber uns bangt nicht davor! Wir stellen uns weiter in den Dienst der Interessen unserer Berufsgenossen. Unsere Arbeitsfreude für diese Tätigkeit wird umso größer sein, je größerer Anteilnahme wir aus allen Kreisen sicher sein können. Immer deutlicher sehen wir, daß der Kampf in der Tat kein lokaler ist, son­ dern daß er nur einen Teil jenes allgemeinen Ringens bedeutet, den die gesamten Angestellten um Arbeitsvertrag und Arbeitsrecht zu führen haben. Arbeitsvertragund Arbeitsrecht! Wir rütteln damit an Vorrechten und Vorur­ teilen, alt eingesessen in ihrer ganzen Rückständigkeit. Nicht freiwillig wird man uns geben, was uns gebührt, sondern ein dauerndes Fordern, Verhandeln und Kämpfen wird es sein müssen, so lange, bis uns der Sieg winkt, unseren Stand eingefügt zu haben als gleichberechtigten Stand ins Wirtschaftsleben der Gegenwart. Diese Aussichten beleben uns, sie führen uns alle zusammen, ihnen wird sich niemand mehr entziehen können. Wenn Herr von Tirpitz vielleicht glaubte, unseren Verband zum Schaden der Organisation ignorieren zu kön­ nen, er hat sich mit keiner Auffassung so getäuscht, wie mit dieser. Größer werden unsere Reihen und stärker wird die Kraft werden, mit der wir uns wehren werden. Wir könnten den Kampf aufnehmen, weil der Idealismus, der uns bewegt, die Mittel für den Kampf reichlich fließen läßt und wir wissen auch, daß die Opferwilligkeit nicht nachlassen wird nach der ersten Etappe, die hinter uns liegt. Auch diesen Bericht schließen wir deshalb mit der Auffor-

3 In Friedrichsort war die Torpedowerkstatt des Reichsmarineamts. 1911 August 13 363 derung: Spornt Eure Opferfreudigkeit von neuem an, sammelt eifrig für den Kriegsfonds, damit wir gerüstet sind und mit Ehren alle Kämpfe der Zukunft bestehenkönnen!

Nr.107

1911 August 13

Die Deutsche Arbeitgeber-ZeitungNr. 33 Eine neue Reformder Reichsversicherungsordnung

[Kritik an vermeintlichen weiteren Versicherungsreformplänen des Reichs­ amts des Innern)

Die Reichsversicherungsordnung ist verabschiedet, es lebe die "Reform der Reichsversicherung"! So denken die Geheimräte im Reichsamt des Innern. Wenn das deutsche Volk zurzeit in dem Glauben lebt, daß es mit der Verab­ schiedung des Riesenwerks der Reichsversicherungsordnung mit seinen 1805 Paragraphen nunmehr einige Zeit Ruhe vor der "Reform der Reichsversiche­ rung" habe, so hat es die Rechnung ohne die Arbeiter unserer sozialpoliti­ schen Gesetzesfabrik gemacht. Das Reichsamt des Innern betrachtet die Reichsversicherungsordnung als eine Etappe auf dem Wege zur völligen orga­ nisatorischen und materiellen Verschmelzung der verschiedenen Zweige der Reichsversicherung. Es scheint im Reichsamt des Innern die Absicht zu beste­ hen, unter Aufhebungder bestehenden Einrichtungen fürdie gesamte Reichs­ versicherung eine einheitliche Institution zu schaffen. Es liegt auf der Hand, daß bei einer solchen Institution kein Raum sein kann fürdie Beteiligung von Arbeitgebern und Versicherten; die Selbstverwaltung wird beseitigt, an ihre Stelle tritt die Bureaukratie, das Beamtentum. Selbstverständlich muß sich das deutsche Volk gegen dieseAbsichten mit allem Nachdruck wenden, und es tut gut daran, von vornherein in dieser Hinsicht eine besondere Aufmerksamkeit zu entfalten, wenn das Reichsamt des Innern in nächster Zeit beginnt, mehr oder weniger versteckt für seine Pläne Propaganda zu machen. Daß essich bei den vorstehenden Angaben nicht um Gespensterseherei, sondern um hand­ greiflicheTatsachen handelt, zeigen die folgendenAusführungen: Auf S. 4 und 5 der Begründung des Entwurfs der Reichsversicherungsord­ nung legt das Reichsamt des Innern als seine Ansicht dar, daß vorläufig von einer Verschmelzung der gesamten Arbeiterversicherung abgesehen worden 364 Nr. 107 sei, nicht etwa weil Krankheit, Unfall, Invalidität ganz grundverschiedene Zustände sind, die auch ganz verschieden behandelt werden müssen, sondern nur aus dem Grunde, weil sich trotz mannigfacher Vorschläge keine geeignete Organisation für die vereinheitlichte Reichsversicherung habe finden lassen. Deshalb sei gegenwärtig von einer Reform abgesehen worden, welche die bestehende Organisation der Reichsversicherung von Grund auf umgestaltet. Die Verschmelzung sollte aber angebahnt werden durch ein gemeinsames Bindeglied, das Versicherungsamt. Denn die Verschmelzung werde um so eher und leichter durchzuführen sein, so heißt es in der Begründung, je mehr gemeinsame Berührungspunkte die Versicherungsträger inzwischen gewonnen haben. Demgemäß wurde diesem gemeinsamen Bindeglied die weitgehendste Zuständigkeit gegeben. Nach dem Entwurf konnte sich das Versicherungsamt in alle möglichen Dinge einmischen und Befugnisse an sich ziehen. Dabei waren die Befugnisse des Amts zum Teil ziemlich dunkel gehalten, sicherlich mit der Absicht, die Bestimmungen nachher in weitestem Sinne zugunsten des Versicherungsamts auszulegen. Die Hälftelung der Beitragspflichten und Stimmrechte, wie sie der Entwurfvorsah, war auch als Mittel gedacht, die spä­ tere Verschmelzung zu vereinfachen. Daß die Reichsversicherungsordnung vom Reichsamt des Innern lediglich als ein Zwischenwerk angesehen wird, das die beabsichtigte Verschmelzung vorbereiten soll, zeigen in besonderem Maße die Bestimmungen des Entwurfs über die äußere Verfassungder Krankenkassen. Hier drängt sich fast aus jeder Bestimmung die Ansicht auf, daß es sich um vorläufige Maßnahmen handelt, die darauf ausgehen, die spätere Schaffung großer einheitlicher Gebilde zu erleichtern. Warum sollten u.a. die Betriebs- und Innungskrankenkassen die Orts- und Landkrankenkassen nicht "gefährden" oder sogar "beeinträchtigen" dürfen? Warum hielt man die vorgesehene Auslegung des Begriffs "gefährden" so geflissentlich dunkel? Erst im letzten Augenblick war es den Beteiligten möglich, zu erkennen, daß das Reichsamt des Innern durch die von ihm auszu­ gebende Auslegung dieses Begriffs die Betriebs- und Innungskrankenkassen in verhältnismäßig kurzer Zeit beseitigen und den Ortskrankenkassen einver­ leiben wollte. Die Beteiligten waren über diese Absichten hinweggetäuscht, weil in der Begründung insbesondere das hervorragende Wirken der Betriebs­ krankenkassen anerkannt und die sozialdemokratische Agitation gegen die Betriebskrankenkassen als unbegründet zurückgewiesenwird. Wahrhaftig eine des Reichsamts des Innern wenig würdige Taktik! Kurzsichtig ist hierbei auch die die Absichten des Reichsamts des Innern fördernde Politik der Sozial­ demokratie. In zentralisierten Einheitsinstitutionen wird nicht, wie jetzt zu einem erheblichen Teile bei den Krankenkassen, die Sozialdemokratie leitend, sondern, wie schon oben dargelegt, die Selbstverwaltung völlig beseitigt sein, die Beamten und Bureaukraten werden herrschen! 1911 August 18 365

Allerdings hat der Reichstag durch diese Pläne in wichtigen Punkten einen Strich gemacht, oder, um mit Staatssekretär Delbrück zu reden, das "System" des Entwurfs in mannigfacher Beziehung verschoben. Dies wird aber die Geheimräte im Reichsamt des Innern, die in bezug auf Herausgabe von Gesetzentwürfenin starkem Wettbewerb untereinander stehen, nicht hindern, weiter im Sinne ihrer Absichten und Pläne zu wirken, und es dürfte daher die obige Mahnung und Warnung durchaus am Platze sein!

Nr.108

1911 August 18

TypographNr . 331 Beilage Was bringt uns die Reichsversicherungs-Ordnung?

(Würdigung der Verbesserungen in der Arbeiterversicherung]

Am 30. Mai 1911 wurde nach langen, mühevollen Beratungen im deutschen Reichstag die Reform der Arbeiterversicherungs-Gesetze,die Reichsversiche­ rungs-Ordnung, mit 231 gegen 57 Stimmen angenommen. Es gilt nunmehr, die deutschen Arbeiter aufzuklären über die Vorteile und Neuerungen, welche das Gesetz bringt, damit sie in der Lage sind, ihre Rechte und Ansprüche nach dem neuen Gesetz zu wahren. Diesem Zweck soll dies Flugblatt dienen; es kann zwar kein erschöpfendes Bild über das Gesetz geben, es soll vielmehr durch Hervorhebung der wichtigsten Änderungen zum Studium der Gesetze und der demnächst erscheinenden Literatur anregen. Es scheint dies um so notwendiger, als die Sozialdemokratenlandauf landab bemüht sind, dem deut­ schen Arbeiter auch diesen Erfolgder sozialen Gesetzgebung zu verekeln. Die Sozialdemokraten reden zwar von den vielen Dingen, die nicht im Gesetz stehen, lassen aber die Arbeiterabsichtlich im unklaren über die wesentlichen Änderungen, die das Gesetz bringt. Für sie ist die Reichsversicherungs-Ord­ nung ein "schmachvoller Arbeiterverrat" der bürgerlichen Parteien im allge­ meinen und der christlichen Arbeitervertreter im Reichstage im besonderen. Sie schreien von der großen Entrechtung der Arbeiterklasse und tragen dadurch mit dazu bei, daß tausende Arbeiter sich um die neuen Rechts-

1 Bereits früher erschienenals Flugblattdes ChristlichenMetallarbeiter-Vereins. 366 Nr.108 verhältnisse nicht kümmern, ihre Ansprüche nicht rechtzeitig geltend machen und somit zu Schaden kommen. Demgegenüber ist eine wahrheitsgemäße Darstellung des Sachverhaltes notwendig. Die R.-V.-0. ist ein erheblicher Fortschritt und eine neue Etappe zu dem Ziele einer möglichst vollkommenen Versicherungs-Gesetzgebung. Dieses Zeugnismuß jeder objektiv Denkende dem neuen Gesetz ausstellen, ohne daß man deshalb die für manche strittige Fragen gefundene Lösung als eine ideale und allen Verhältnissen gerecht werdende bezeichnen könnte. So hat auch die große Mehrheit der bürgerlichen Parteien im Reichstag die Reformaufgefaßt. Die gewaltige Mehrheit - 231 gegen 57 (50 sozialdemokratische, 7 bürgerliche) Stimmen beweist dies. Darin liegt eine scharfe Zurückweisung der sozial­ demokratischen Alles- oder Nichtspolitik; darin bekundet sich der feste Wil­ lensausdruck aller bürgerlichen Parteien, den erreichbaren Fortschritt in der Gesetzgebung für die deutsche Arbeiterklasse zu sichern, gegenüber der Tak­ tik der Sozialdemokratie, die Gesetze abzulehnen, wenn nicht auch die radi­ kalsten Forderungen darin verwirklicht werden. Was bringt uns nun die Reichsversicherungs-Ordnung? 1. Vereinheitlichung der Versicherungsgesetze durch Schaffung eines gemeinsamen Unterbaues und Instanzenzuges und Einführungder Hinter­ bliebenenversicherung war diesmal das Hauptziel der Reform, weniger die materielle Ausgeslifll­ tung der bisherigen Gesetze. Neu ist, daß zu den Organen der Versicherungs­ träger (Vorstand, Ausschüsse) in Zukunft auch Frauen wählbar sind, daß fer­ ner das Verhältnis-Wahlsystem eingeführt ist, wodurch den Minderheiten in der Arbeiterbewegung eine Mitarbeit zugesichert ist.2 Die Arbeiter sind in Ausübung der Ehrenämter im Vorstand und Ausschuß bei den Versicherungsträgern gegen willkürliche Entlassung aus dem Arbeits­ verhältnis in weitgehendstem Maße geschützt. Die Versicherungsbehörden (das sind jene Instanzen, denen vor allem die Rechtsprechung über die Arbei­ ter-Versicherung obliegt) haben eine neue zweckmäßige Gestaltung erfahren, und zwar durch folgende Gliederung: 1) Versicherungsämter an Stelle der unteren Verwaltungsbehörde. 2) Oberversicherungsämter an Stelle der bishe­ rigen Schiedsgerichte für Arbeiterversicherung. 3) Reichsversicherungsamt. Eine erhebliche Verbesserung bedeutet die Einsetzung des lokalen Versiche­ rungsamtes, das sich über den Bereich einer unteren Verwaltungsbehörde (Landratsamt, Bezirksamt) oder einer Stadt von 10 000 Einwohnern und mehr erstreckt, unter der Leitung eines berufsmäßigen Versicherungs-Amtmanns steht und alle Streitigkeiten aus der Krankenversicherung als erste rechtspre­ chende Instanz behandelt. Bei der Unfall- und Invalidenversicherung hat es

2 Vgl. Nr. 540.

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(ortsüblicher Tagelohn) sind 3 eingeführtund zwar für Personen von unter 16 Jahren, solche von 16-21 und solche über21 Jahre. 5) Die Wöchnerinnenunterstützung, jetzt Wochenhilfe genannt, ist für die gewerblichen Arbeiterinnen von 6 auf 8 Wochen erhöht worden, bei den Landkrankenkassen, wo die Wochenhilfe neu eingeführt ist, beträgt sie 4 Wochen, dieselbe kann aber durch Statut auf 8 Wochen ausgedehnt werden. Außerdem habendie Krankenkassen die Möglichkeit, freiwillige Mehrleistun­ gen fürdie Wochenhilfe (Schwangerenhilfe) einzuführen. 6) Für die Knappschaftskrankenkassen ist die geheime Wahl für die Ver­ treter (Knappschaftsälteste) an Stelle der bisherigen, durch die einzelstaat­ liche Gesetzgebung vielfach vorgeschriebenen öffentlichen Wahl eingeführt. Außerdem ist die Wählbarkeit der Invaliden, soweit sie Beiträge, auch freiwil­ lig, zur Krankenversicherung zahlen, wieder hergestellt. Dieselbe war für Preußen durch die letzte Knappschaftsnovelle beseitigt worden. 7) Als Wahlsystem ist die Verhältniswahl eingeführt. Die 2/3 Mehrheit der Versicherten entscheidet nach wie vor in allen Fragen bezüglich der mate­ riellen Leistungen der Kassen innerhalb der bisherigen Beitragsgrenze von 4½ % des Lohnes. Eine Änderung des Wahlrechtes ist vorgenommen für die Wahl des Vorsitzenden und der Kassenbeamten. Hier sollen die Stimmen der Arbeitgeber mit zur Geltung kommen. Dadurch ist eine neutrale objektive Kassenverwaltung garantiert und der Ausnutzung der Kassenämter für politi­ sche Zwecke ein Riegel vorgeschoben. Selbst die Sozialdemokraten haben sie schließlich ohne großen Widerstand passieren lassen, angesichts der großen Mißstände, die sich in der Verwaltung der Krankenkassen herausgestellt hat­ ten. Die Neuordnung der Krankenversicherung garantiert eine weitere günstige Entwicklung dieses so wichtigen segensreich wirkenden Zweigen unserer Sozial-Versicherung. III. Die Unfallversicherung hat eine wesentliche Änderung nicht erfahren. Immerhin sind auch hier einige Fortschritte zu verzeichnen. a) Der Versicherungskreis ist erweitert, indem eine Reihe kleiner Gewerbe mit eingeschlossen sind: das Dekorateurgewerbe, Badeanstalten, Steinzerklei­ nerungsbetriebe, Eisgewinnung, gewerbliche Fahr-, Reittier- und Stallhal­ tungsbetriebeusw. 2) Die Versicherungsgrenze fürdie Betriebsbeamten ist von 3000 auf 5000 M. erhöht worden, wodurch tausende von Betriebsbeamten und technischen Angestelltender Unfallversicherung unterstellt sind. 3) Der bei der Berechnung der Unfallrente voll anrechnungsfähige Jah­ resarbeits-Verdienst ist von 1500 auf 1800 M. erhöht und dadurch eine

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Das sind die wesentlichsten Mehrleistungen welche die R.-V.-0. den deutschen Arbeitern bringt und die materiell auf jährlich 180-200 Millionen M. berechnet werden. Wir sind die letzten, welche in diesen Bestimmungen eine vollkommene, den Wünschen der Arbeiter ent­ sprechende I.i)sung sehen, aber die Gerechtigkeit verlangt anzuerkennen, daß sie einen erheblichen Fortschritt darstellen. Die Kritik der Gegner richtet sich hauptsächlich gegen folgendePunkte: 1. Die Witwen- und Waisenrenten sind zu gering. Dem kann man ohne wei­ teres zustimmen, aber ist es nicht ein bedeutsamer Erfolg, daß überhaupt die Witwen- und Waisenrente eingeführt ist, die in keinem Kulturstaat der Welt bisher besteht? Nachdem die Grundlage geschaffen ist, ist der Ausbau um so leichter. 2. Die Herabsetzung der Altersgrenze für den Bezug der Altersrente von 70 auf 65 Jahre ist abgelehnt. Dazu ist folgendes zu bemerken: a) die Einführung der Kinderrente und die Herabsetzung der Altersgrenze war zu gleicher Zeit nicht erreichbar. Vor die Wahl zwischen beiden Neuerungen gestellt, ist die Einführungder Kinderrente wichtiger als die schematische Herabsetzung der Altersgrenze zum Bezug der Altersrente. b) im Jahre 1915 muß dem Beschlusse des Reichstages zufolge erneut über die Herabsetzung der Altersgrenze ein Beschluß herbeigeführt werden; c) die Sozialdemokraten haben kein Recht, in Sachen der Altersgrenze zum Bezug der Altersrenteden bürgerlichen Parteien Vorwürfezu machen. Es genügt, den Sozialdemokraten einmal etwas das Gedächtnis zu stärken: Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion Deutschlands, Herr Abgeordneter Molkenbuhr, hat auf dem Parteitage in Jena (Protokoll Seite 227)4 selbst eindringlich gewarnt, diese Forderung zu sehr zu betreiben. Er behauptete damals: "daß es keine unglücklichere Forderung beim Alters- und Invaliditäts-Versi­ cherungsgesetz geben kann, als gerade diese. Mit ihrer Verwirklichung würde den Industriearbeitern der denkbar schlechteste Dienst erwiesenwerden." Herr Molkenbuhr wies dann nach, daß in der Regel eine Lohnkürzung ein­ treten werde, wenn voll arbeitsfähigenPersonen die Altersrente gei.ahltwürde und schloß: "Sobald die Altersrente heraufgesetzt wird, wird der Zuwachs an Altersrent­ nern so groß sein, daß die Beiträge erheblich erhöht werden müssen; die Durchführung dieser Forderung wäre also nichts anderes, als eine Belastung der Industriearbeiter zu Gunsten der Grundbesitzer. Das ist auch der Grund, weshalb die Sozialdemokraten dieses Forderung nicht mehr erheben. Sie ist

4 Nicht abgedruckt. 1911 August 18 371

zuletzt im Reichstag von dem bekannten Führer des Bundes der Landwirte, v. Plätz, erhoben worden, der sich sagte, daß dadurch die Grundbesitzer eine erhebliche Ersparnis an Löhnen haben würden. Ich sehe also nicht ein, wes­ halb wir mit einer solchen Forderung kommen sollten. Wollen wir an dem Gesetz etwas ändern, so haben wir dafür zu sorgen, daß die Leute leichter in den Bezug der Invalidenrente kommen können." Der auf dem Parteitag gestellte Antrag auf Herabsetzung der Altersgrenze wurde alsdann abgelehnt. Wenn die Sozialdemokraten inzwischen wieder anderer Meinung gewordensind, so sind doch die AusführungenMolkenbuhrs nicht entkräftet. Ohne uns diesen Gründen anzuschließen, sind auch wir der Meinung, wenn noch mehr Geld für die Invalidenversicherung aufgebracht werden könnte, so würde es zweckmäßiger verwendet zur Besserstellung der Invaliden: Einführung der Berufsinvalidität, Ausgestaltung des Heilverfahrens, Erhöhung der Witwen- und Waisenrenten; alles Dinge, die sich diesmal nicht durchsetzen ließen wegen des Widerstands der Regierung und der Meinungs­ verschiedenheiten innerhalb der bürgerlichen Parteien. 3. Die Wochenhilfe soll nicht ausreichend sein. Gewiß wäre es wünschens­ wert, wenn das, was das Krankenversicherungsgesetz an fakultativen Leistun­ gen hier ermöglicht, hätte obligatorisch werden können. Man kann aber billigerweise die Frage aufwerfen, ob die an und für sich notwendige bessere Fürsorge für Mutter und Kind den Arbeitgebern und noch mehr den Arbeitern zur Last gelegt werden soll, oder ob hier nicht auch die Allgemein­ heit, die Gesellschaftals Ganzes, eine nationale Pflichtzu erfüllen hat. Wenn bei den Landkrankenkassen nur 4 Wochen der pflichtmäßigen Wöchnerinnen-Unterstützung festgelegt wurden, im Gegensatz zur 8wöchigen Unterstützung bei den gewerblichen Krankenkassen, so ist das bedauerlich aber insofern erklärlich, als die Landwirtschaft an solche soziale Hilfe noch nicht gewöhnt ist und für die landwirtschaftlichen Arbeiterinnen ein Arbeits­ verbot für Wöchnerinnen noch nicht besteht. Außerdem ist zu bedenken, daß auch die gewerbliche Krankenkasse mit 4 Wochen Wöchnerinnen-Unterstüt­ zung angefangenhat. 4. Die Verfassung der Landkrankenkassen ist mangelhaft, weil die Vor­ stände derselben nicht gewählt werden von den Versicherten und den Arbeit­ gebern, sondern von den Kreistagen. Dem stimmen wir ohne weiteres zu; ein Wahlrecht wäre auch uns lieber, aber vor die Frage gestellt, an dem Wahlrecht fürdie Landkrankenkassendas ganze Gesetz scheitern zu lassen und den Landarbeitern auch in Zukunft die Wohltaten der Krankenversicherung vorzuenthalten oder ihnen dieses Wohl­ taten einstweilen noch ohne Wahlrecht zukommen zu lassen, ist uns die Land­ krankenkasse ohne Wahlrecht lieber, als überhaupt keine Krankenversiche­ rung.

1911 August 18 373 lieh, weil sie von ihren, zwei Milliarden pro Jahr, Mehrleistungen erfordern­ den Anträgennicht ablassen wollte. Außerdem hat sie bisher gegen alle Versi­ cherungsgesetze gestimmt, wie sie auch diesmal gegen die R.-V.-0. gestimmt hat. Sie betrachtet es als ihre wesentliche Aufgabe, Anträge zu stellen von denen sie weiß,daß sie unter den gegebenen Verhältnissen nicht durchführbar sind. Das hat zwar einst ein sozialdemokratischer Abgeordneter (v. Vollmar)5 als die Politik von Kindern bezeichnet, die sozialdemokratische Reichstags­ fraktion setzte aber diese Kinderei munterfort, im Vertrauen darauf, daß die bürgerlichen Parteien schon das mögliche Erreichbare fürdie Arbeitersichern würden. Als ihre eigentliche Aufgabe betrachteten die Sozialdemokraten es, die erzielten Erfolge zu verkleinern und die ganze Sozialgesetzgebung den Arbeitern zu verekeln. Steine statt Brot! 7. Über die Tragweite der sozialdemokratischen Anträge zur R.-V.-0. wird die Öffentlichkeitvon den Sozialdemokraten systematischbeschwindelt. Nach einer maßgebenden Berechnung, soweit überhaupt Unterlagen vorhanden waren, würden die sozialdemokratischen Forderungen eine jährliche Mehrlei­ stung von zwei Milliarden und 27 Millionen Mark erforderthaben. Die Beiträge der Krankenversicherung würden sich bei Verwirklichung der sozialdemokratischen Forderungen, nach den Berichten des Abgeordneten Horn-Reuß (Reichstagssitzung vom 27. Mai 1911)6 um 157 %, die der Invali­ denversicherung um 592 % und die der Unfallversicherungum 70 % gesteigert haben. Die Arbeiter-Beiträge für Kranken- und Invaliditätsversicherung würden sich also folgendermaßen gestalten: Für einen Arbeitermit Mk. 30,- Wochen­ lohn bei einer Krankenkasse, die die Maximalgrenze, 4½ % des Lohnes benutzt, würde der Wochenbeitrag Mk. 2,28, der Beitrag zur Invalidenversi­ cherung Mk. 1,42 pro Woche betragen, also zusammen M. 3,70, das sind 12,3 % seines Lohnes.Ob der Arbeiterhaushalt solche Belastung an Versiche­ rungsbeiträgen ertragen kann, ganz besonders bei schlechtem Geschäftsgang oder Arbeitslosigkeit, danach fragt die Sozialdemokratie selbstverständlich nicht. Wenn der Arbeiter 12,3 % seines Lohnes zur Kranken- und Invaliden­ versicherung beisteuert, weiter Steuern, sowie Bildungsbedürfnisse, Gewerk­ schafts- und Parteibeitrag, Ausgaben für Parteipresse etc. bestreiten soll, was bleibt ihm schließlich dann noch übrig fürseine übrige Lebenshaltung?

5 Georg v. Vollmar, MdR 1883-1918 (SPD). 6 Vgl. Stenographische Berichte der Verhandlungen des Reichstags, XIII LP, II. Sess., Bd. 267, Berlin 1911, 185, Sitz., S. 7161 ff. 374 Nr.108

Schließlich aber kommt es nicht darauf an, was wünschenswert, sondern auf das, was politisch möglich und erreichbar ist. Daß solche Beitragssätze die gesamtedeutsche Volkswirtschaftin ihrer harten Konkurrenz schwer belasten würde, ist ohne weiteresersichtlich. Was hat Deutschland bisher auf dem Gebiete der Sozialversicherung gelei­ stet? Die Krankenversicherung wurde 1885 eingeführt und :zählte ( einschließlich der Knappschaftskassen) an Mitgliedern: 1884 4 670959 = 10 % der Bevölkerung 1909 13 385 290 = 21 % " " Nach der R.V.O. 10500000 = 34 % " • An Krankheitskostenwurden gezahlt: 1885 52,7 Millionen Mark 1909 337,6" " Insgesamt wurden seit Bestehen der Krankenversicherung an Krankheits­ kosten gezahlt: 3 Milliarden 969 Millionen Mark Verwaltungskosten. Die Unfallversicherung :zählte 1909 zusammen in Landwirtschaft und Gewerbe 24 Millionen Versicherte. Die gewerblichen Berufsgenossenschaften :zählten 1886 3,8 Millionen 1909 9,0Millionen Versicherte. die sämtlichen Berufsgenossenschaftenzahlten an Renten usw.: 1887 5,9 Millionen Mark 1909 161,3" " Die Invaliditätsversicherung :zählte: 1890 11 Millionen 1909 15,5 • Versicherte. Die Leistungenstiegen jährlich: Renten Erstattungen Vermögen. 1891 15,2 81,6 Mill. Mk. 1909 158,2 9,4 1574,0 " Die Gesamteinnahmen der Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung betrugen bis zum Jahre 1909 10 Milliarden 652 Millionen Mark. Davon wurden als Entschädigungen gezahlt: 7651 Millionen, als Vermögen angesammelt: 2209 Millionen Mark. Die Differenzin dieser Summe stellen die Verwaltungskostendar. 1911 August 18 375

An Beiträgen leisteten insgesamtbis 1909: die Arbeitgeber 4792 Millionen Mark die Arbeiter 4257 " das Reich an Zuschuß 587 " Diese Riesensummen, welche in erheblichem Maße Not und Armutbei den Ärmsten der Armen gelindert haben, wären den deutschen Arbeitern nicht zugeflossen, wenn die bürgerlichen Parteien die gleiche Taktik verfolgthätten, wie die Sozialdemokraten im Reichstag, d.h. die Gesetze abgelehnt hätten deshalb, weil nicht alle ihre Wünsche befriedigt waren. Christlich-nationale Metallarbeiter! In diesem Resultat unserer Sozialversicherung liegt ein großes Stück Pflichterfüllung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staatesgegen die arbei­ tenden Klassen. Das Gegenteil kann nur der auf Klassenverhetzung berech­ nete Fanatismus behaupten. Der erwiesene stetige Fortschritt und Ausbau unserer Versicherungs-Gesetze rechtfertigt die Politik der christlichen Arbei­ terbewegung, die an einen allmählichen aber sicheren Aufstieg der Arbeiter­ klasse glaubt und daran mitarbeitet durch Selbsthilfe in den Gewerkschaften und Staatshilfein der Richtung einer staatserhaltenden Politik. Die Sozialdemokratie läßt die deutschen Arbeiter nicht zum vollen Bewußt­ sein ihrer Erfolge kommen. Ihr sind diese Leistungen Bettelsuppen. Aber hin und wieder kommt auch ein objektiv denkender Sozialdemokrat zu einem andern Urteil als die sozialdemokratische Presse und die ihr nachbetenden Agitatoren. In den sozialistischen Monatsheften,Jahrgang 1902 schreibt unter anderm Paul Kampffmeyerfolgendes: "Die deutsche Arbeiterversicherung hat fast in der gleichen Richtung wie eine Arbeiterschutzgesetzgebung gewirkt... Es ist sicher, daß, wenn die erkrankten Arbeiter die Kosten für 733 Millionen Krankheitstage selbst aus ihren einzelnen Geldbeuteln gezahlthätten, sie vielleicht die doppelte Summe für diesen Posten hätten zusammentragen müssen. Derartig hohe Aufwendun­ gen dürften die Arbeiterfamilieökonomisch völlig erschöpft haben... Die Auf­ bringung von ca. zwei bis drei Milliarden für die Gesunderhaltung der Volks­ klassen aus den Taschen der einzelnen Proletarier ist eine bare Unmög­ lichkeit. Bei dem Stand der deutschen Haftpflichtgesetzgebungwäre die deut­ sche Arbeiterschaft bei Verletzungen in den meisten Fällen leer ausgegangen. Die Berufsgenossenschaften der Unfallversicherung dagegen verausgabten über 350 Millionen Mark für Verunglückte. Die deutsche Arbeiterversiche­ rung bedeutet eine tatsächliche ökonomische Besserstellung um 1 ½ Milliar­ den Mark." Das schrieb also Kampffmeyer im Jahre 1902. Man wende diese Schlußfol­ gerung auf die inzwischen noch weiter gestiegenen Leistungen unserer Versi­ cherungs-Gesetzgebung an und es bedarf keiner weiteren Beweisführung für 376 Nr. 108

die Richtigkeit unserer Auffassung. Wie wir auf gewerkschaftlichem Gebiete einen Erfolg an den anderen reihen und so langsam und sicher die Arbeits­ bedingungen verbessern, so soll auch auf dem Gebiete der Arbeitgesetzgebung ein Erfolgnach dem anderen errungen und erhalten werden. Die sozialdemokratische Partei verfolgt im Reichstage die entgegengesetzte Politik, welche ihre eigenen Parteianhänger in den Gewerkschaften als die beste und erfolgreichste preisen. Jeden erreichbaren Erfolg sichern! In den Gewerkschaften preisen sie jede, auch die kleinste Verbesserung den Arbei­ tern als großen Erfolg der praktisch sozialen Arbeit an, wenn sie auch 90 % ihrer ursprünglichen Forderungen haben preisgeben müssen. Im Reichstag gibt sich die sozialdemokratische Partei keinerlei Mühe, die politischen Schwierigkeiten überwinden zu helfen, die dem Fortschritt der Sozialpolitik im Wege stehen, im Gegenteil, sie verschärft die Gegensätze durch übermäßige Kritik und Beschimpfung der bürgerlichen Parteien, insbe­ sondere auch der christlichen Arbeiter-Abgeordneten. Um so mehr ist es unsere Pflicht, die deutschen Arbeiter wahrheitsgemäß aufzuklären über die Fortschritte der Gesetzgebung. Die Sozialdemokraten aber schädigen die Arbeiter, weil sie ihnen nicht sagen, welche Verbesserungen das Gesetz bringt, ja sie zur Meinung führen, es enthalte Verschlechterungen gegenüber dem bisherigen Recht. Wenn der Arbeiteraber die Verbesserungen des neuen Gesetzes nicht kennt, kann er sie nicht für sich anwenden. Deutschland steht unter allen Kulturnationen mit seiner Sozialgesetz­ gebung an der Spitze. England und Frankreich, die bedeutend reicher sind wie unser Vaterland, beginnen jetzt erst schüchterne Versuche zu machen. In Frankreich weigern sich die sozialdemokratischen Arbeiter, an der Durch­ führung des Alters-Versicherungsgesetzes mitzuarbeiten. England hat jetzt erst seinem Parlament einen Gesetzentwurf über Arbeiterversicherung vorgelegt. Deutschland ist nicht so reich, wie diese beiden Länder, steht in schärfster Weltkonkurrenz mit seiner Industrie und hat trotzdem mit dem Wachsen und Werden unserer immer blühender sich entfaltenden Volkswirt­ schaft die Versicherungsgesetze fürdie Arbeiter ausgebaut. Das anzuerkennen, ist Pflicht eines jeden christlich und national denkenden Arbeiters. Wir lassen uns die Freude am Reich und das Vertrauen auf die Zukunft unseres Volkes nicht durch Sozialdemokratische Klassenverhetzung rauben. Unsere Parole ist daher: Gegen Klassenverhetzung! Gegen Arbeiterverekelungan unserm deutschen Vaterland! Für schrittweisen, dauernden sozialen Fortschritt! Hinein in den christlichen Metallarbeiter-Verband. Der Christliche Metall­ arbeiter-Verband Deutschlands hat 42 000 Mitglieder, über 1000000 Mark 1911 August 18 377

Verbandsvermögen, ein gut ausgebautes Unterstützungswesen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Umzug, Streiks und Maßregelung. Wochenbeitrag 70 Pf. Weibliche 30 Pf. Aus anderen Verbänden Übertretendenwird die Mitgliedschaftgemäß Sta­ tut angerechnet.

Nr.109

1911 August18

Rundschreiben Nr. 9 des Centralverbandes Deutscher Industrieller an die Verbandsmitglieder1 Gedruckte Ausfertigung

[Zurückweisung der Vorwürfe des Hansabundes; Zusammenarbeit mit dem Hansabund scheiterte an der Verschleppungstaktik desHansabunds)

Der Centralverband Deutscher Industrieller hat vor einigen Tagen Veran­ lassung nehmen müssen, falschenNachrichten über angebliche Austritte kör­ perschaftlicherund einzelner Mitglieder entgegenzutreten. An diese Berichti­ gung, die in dem größten Teile der maßgebenden Tagespresse Aufnahme gefunden hat, war von der "Kölnischen Zeitung" (Nr. 9042) die Vermerkung geknüpft worden, daß die Falschmeldung vom Büro des Hansabundes der Öffentlichkeit übergeben worden sei. Auch in anderen Blättern, wie dem "Niederschlesischen Anzeiger", der "Bremer Bürger-Zeitung", der "Jenaischen Zeitung" usw., ist die unwahre Nachricht, daß "der Wollwaren-Fabrikanten­ Verein zu Görlitz wegen der Haltung des Centralverbandes dem Hansabunde gegenüber beschlossen habe, aus dem Centralverbande auszutreten", als eine von der Geschäftsführungdes Hansabundesausgehende Mitteilung bezeichnet worden. Dieses Vorgehen der Geschäftsführung des Hansabundes, durch der Wahrheit widersprechendeMeldungen die öffentliche Meinung irre zu führen, zwingt uns zu unserem Bedauern, aus der Reserve, welche wir in der letzten Zeitallen Anfeindungen gegenüber mit Absicht eingenommen hatten, heraus­ zutreten, zumal auch die Darlegungen in dem Rundschreiben der Geschäfts­ führung des Hansabundes vom 5. August3 und in dem Verbandsorgan des

1 BundesarchivKoblenz, R 13 I, 176. 2 Nicht abgedruckt. 3 Nicht abgedruckt. 378 Nr. 109

Hansabundes (Nr. 31 und 324) den tatsächlichen Verhältnissen in keiner Weise gerecht werden. 1. In der vom 12. August datierten Nr. 32 des "Hansabundes" findensich die Ausführungen des HerrnGeheimrat Riesserüber den Verlauf des am 11. Juni, also einen Tag vor dem Hansatage zwischen ihm und Herrn Landrat Rötger stattgehabten Telephongesprächs, Ausführungen, welche beweisen sollten, daß Herr Rötger nicht berechtigt gewesen sei, gegen die hochpolitischen Dar­ legungen des Herrn Riesser in seinen Reden auf dem Hansatage Einspruch zu erheben. Bereits am Montag, dem 7. August, war in den "Berliner Politischen Nachrichten" die Erklärung abgegeben5, daß diese Darstellung des Herrn Geheimrat Riesser in mehrfacher Beziehung eine unrichtige war, und daß sich der Hergang des Telephongesprächs wesentlichanders abgespielt hat. Es hätte also wohl "dem Gebote sachlicher Kampfesweise", über deren Mangel bei sei­ nen Gegnern sich der Hansabund in seinem offiziellen Organ wiederholt beklagt, entsprochen, wenn von der Erklärung der Gegenseite, die wohl den gleichen Anspruch auf öffentlichen Glauben hat, wie Herr Geheimrat Riesser, die gebührende Notiz genommen wäre. Es wäre alsdann auch vermieden wor­ den, eine Berichtigung der Erklärung des Herrn Geheimrat Riesser auf Grund des § 11 des Preßgesetzes zu verlangen, wiees jetzt geschehen mußte. 2. Wenn der Hansabund sich nicht nur in seinem Verbandsorgan, sondern auch in einem besonderen Rundschreiben dagegen verwahrt, "daß er die Poli­ tik des Schutzes der nationalen Arbeit bekämpfe" und die Erklärung abgibt, "er sei ebensowenig freihändlerisch wie hochschutzzöllnerisch", so soll die Ehrlichkeit der von den "maßgeblichen Instanzen" des Hansabundes gehegten Absichten in keiner Weise in Zweifel gezogen werden. Die Tatsache aber, daß die unbedingt freihändlerischen Kundgebungen der Beamten des Hansabun­ des, der Herren Dr. Neumann und Hüttemann, auf den Versammlungen in Dortmund und Mülhausen i.E. den ungeteilten Beifallder Zuhörer und auch die volle Zustimmung der linksliberalen Presse gefunden haben, dürfte der Leitungdes Hansabundes eigentlich ein Beweis dafür sein, welche wirtschafts­ politischen Tendenzen von einem großen Teil der Anhänger des Hansabundes verfolgt werden und die nächste Zukunft wird gleichfalls lehren, auf welchem Boden in dieser Hinsicht die mit Unterstützung des Hansabundes in das Par­ lament entsandten Volksvertreter stehen werden. Durch diese wird der Hansabund Gelegenheit haben, seine "Worte" vom Schutz der nationalen Arbeit in die "Tat" umzusetzen. 3. Den Vorwurf, in der Frage eines erhöhten Schutzes der Arbeitswilligen der Aufforderungdes Centralverbandes zur Mitarbeit nicht nachgekommen zu

4 Nicht abgedruckt. 5 Nicht abgedruckt. 1911 August 18 379 sein 7, lehnt die Geschäftsführung des Hansabundes mit der Bemerkung ab, daß der Centralverband den Entwurfseiner Eingabe der Geschäftsführungdes Hansabundes trotz wiederholter Bitten niemals zur Verfügung gestellt und auch die Gründe hierfürnicht mitgeteilt habe. Der tatsächliche Verlauf dieser Angelegenheit, wie er jeder Zeit aus den Akten des Centralverbandes urkundlich nachgewiesen werden kann, war fol­ gender: Der Centralverband Deutscher Industrieller hatte unter dem 19. Sep­ tember 1910 beim Präsidium des Hansabundesangefragt, ob der Hansabund in der beregten Angelegenheit mit dem Centralverband zusammengehen wolle. Von dem Präsidium des Hansabundes ist eine Antwort hierauf niemals erteilt worden. Es ist vielmehr lediglich seitens der Geschäftsführung des Hansabun­ des stets und noch in einem Schreiben vom 11. April 1911 - J.-No. 50558 -, also ein halbes Jahr nach dem Beginn der Verhandlungen, erklärt worden, daß eine endgültige Stellungnahme vorbehalten bleiben müsse. Diese stets wiederkeh­ rende Antwort hatte den Geschäftsführer des Centralverbandes veranlaßt, in einer mündlichen Unterredung dem Geschäftsführer des Hansabundes die beabsichtigte Eingabe in ihren ganzen Umrissen darzulegen. Hierbei wurde auch unter Hinweis auf§ 241 des neuen Entwurfs eines Strafgesetzbuches der Wortlaut der in Vorschlag zu bringenden gesetzlichen Bestimmung ausdrück­ lich bekannt gegeben, sodaß die Geschäftsführungdes Hansabundes sehr wohl in der Lage war, dem Präsidium über die Angelegenheit Vortrag zu halten. Die grundsätzliche Stellungnahme des Präsidiums zu der Sache kennen zu lernen, war aber vor weiterer gemeinsamer Arbeit eigentlich eine selbstver­ ständliche Forderung und dieses Ersuchen wurde vom Geschäftsführer des Centralverbandes gegenüber den stets als unverbindlich bezeichneten Äuße­ rungen der Geschäftsführungdes Hansabundes mit Nachdruck wiederholt. Als auf dieses Ersuchen am 11. April lediglich die Antwort eintraf, "daß im Bereiche der Verwaltung des Hansabundes beim Mangel aller Vorgänge ein Versuch legislatorischer Redaktion, gleichzeitig mit einer solchen innerhalb des Centralverbandes, voraussichtlich mit weniger Aussicht auf Erfolg unternommen werden könnte" und ohne eine endgültige Stellungnahme zur Sache nur nochmals um Mitteilung des Entwurfs einer legislatorischen Regelung gebeten wurde, wurden vom Centralverbande weitere Verhand­ lungen als zwecklos aufgegeben. Nachdem nunmehr aber die Eingabe des Centralverbandes betreffend den Schutz der Arbeitswilligen9 der Öffent­ lichkeit durch Abdruck in der "Industriezeitung" bekannt gegeben worden ist, wird sich zeigen, ob der Hansabund überhaupt geneigt ist, seinerseits für den so dringend erforderlichen erhöhten Schutz der Arbeitswilligen einzutreten.10

7 Vgl. Nr. 76. � Nicht abgedruckt. Vgl. Nr. 565. 10 Vgl. Nr. 391. 380 Nr.110

4. Die Art der hinzögernden Behandlung der wichtigsten sozialpolitischen Fragen hat auch auf einem anderen Gebiete eine gemeinsame Arbeit desCen­ tralverbandes mit dem Hansabunde unmöglich gemacht. Als im Jahre 1910 angesichts der Reform der Arbeiterversicherung und der Wahrscheinlichkeit des demnächstigen Erlasses eines Gesetzes betreffend die Privatbeamtenversi­ cherung die Feststellungder Belastung der Industrie mit öffentlichen Abgaben von besonderer Bedeutung erschien, erging im Mai des Jahres 1910 eine Rundfrage des Hansabundes, die diesen Zweck erfüllen sollte. Sie hat, wie bekannt, reichliches Material ergebenund auch der Centralverband hat, um in dieser Sache dem Hansabund entgegenzukommen und in der gleichen Frage nicht doppelte Arbeii zu leisten, dem Hansabunde auf Wunsch bereitwilligst Material zur Verfügung gestellt. Durch Schreiben vom 27. Dezember 1910 teilte der Hansabund dem Centralverbande alsdann mit, daß er das gesamte Material statistisch sichten und veröffentlichten wolle. Diese Arbeit ist aber bis jetzt nicht geleistet worden, obgleich gerade die sozialpolitischen Vorlagen des Jahres 1910 einer Organisation, die sich den Schutz des erwerbstätigen Bürgertums als Ziel gesetzt hat, mehr als je Anlaß zu einer energischen Ver­ tretung der Interessenvon Industrie, Handel und Gewerbe boten. Eswäre sehr erfreulich, wenn der Hansabund mit Rücksicht auf die dem Reichstage noch vorliegenden weiteren sozialpolitischen Gesetzentwürfe, die den Erwerbsstän­ den erneut neue Lasten bringen werden, sein Programm des Schutzes dieser Erwerbsstände nunmehr tatkräftig durchführen und davon absehen würde, seine Arbeitskraft in der Agitation gegen eine andere Wirtschaftsvereinigung, die bereits auf gewisse Erfolgezurückblicken kann, zu erschöpfen.

Nr.110

1911 August 19

Metallarbeiter-ZeitungNr. 33 Die Kölner Versicherungskassegegen Arbeitslosigkeit

(Das Funktionieren der Kölner Arbeitslosenversicherung]

Die erste auf kommunaler Grundlage ruhende Arbeitslosenversicherung ist in Köln errichtet worden. Und zwar geschah das im Jahre 1896. Es war ein Privatunternehmenmit städtischer Unterstützung. Die Mittel dieser "stadtköl­ nischen Versicherungskasse gegen Arbeitslosigkeit im Winter" wurden aufge- 1911 August 19 381

bracht durch die Beiträge der Stifter, das heißt der Personen, die einen einmaligen Beitrag von mindestens 300 M. leisteten, durch die Beiträge der Ehrenmitglieder, das heißt derjenigen, die jährlich mindestens 5 M. leisteten, durch die Zuwendungen von Behörden, Vereinen und Einzelpersonen, durch den Zuschuß der Stadt und durch die Beiträge der Versicherten. Das Ganze hatte eine starke Beigabe von Wohltäterei. Einmal deshalb, weil der größere Teil der Mittel von privater Seite außerhalb des Kreisesder Versicherten kam, und dann weil die Verwaltung der Kasse fast völlig in den Händen der verschiedenen Gönner lag, die da glaubten, für ihr Geld auch angemessene Vorrechte beanspruchen zu können. Die Arbeiter ließen sich für das Unter­ nehmen nicht erwärmen. Der Versichertenbestand ging die ersten Jahre nicht viel über 300 hinaus. Als dann die Statuten zugunsten der Arbeiter etwas ver­ bessert und dadurch auch die Gewerkschaften für die Sache interessiert wur­ den, ging die Mitgliederzahl merklich in die Höhe. Aber auch der höchste Bestand hielt sich immer noch unter 2000- eine im Verhältnis zur Gesamtzahl der Kölner Arbeiterverschwindend geringe Zahl. Da kam man im Kreise der städtischen Verwaltung vor zwei Jahren auf den Gedanken, das Unternehmen dadurch fruchtbarer zu gestalten, daß man die Arbeitslosenunterstützung der Gewerkschaften mit der Arbeitslosenversiche­ rungskasse in Zusammenhang brachte, daß man das Kölner mit dem Genter System1 verband. Das Genter System besteht darin, daß man die Arbeitslosen­ versicherung durch Vermittlung der Gewerkschaften vornehmen läßt, indem man diesen einen Zuschuß gewährt. In seiner reinen Form würde das heißen, daß nur organisierte Arbeiter der Versicherung teilhaftig würden. In Straßburg besteht diese Form des Genter Systems, während anderswo daneben auch den Unorganisierten die Versicherung zugänglich ist. Und in dieser für organisierte wie für unorganisierte Arbeiter berechneten Form ist nun auch nach langen und mühsamen Vorarbeiten die Kölner Arbeitslosenversicherung neu hergerichtet worden. Die Grundzüge der "Versicherungskasse gegen Arbeits- und Stellenlosigkeit in Köln", wie das Unternehmen nunmehr heißt, lassen sich wiefolgt kurz wiedergeben: Die Mitglieder der Kasse zerfallen in ordentliche: die Versicherten und die Rückversicherten2, und in außerordentliche: die Stifter, die Ehrenmitglieder und die Stadtgemeinde Köln. Den arbeitslosen Versicherten werden von den paritätischen Arbeitsnachweisen der Stadt Köln vor den übrigen Angemelde­ ten offene Stellen nachgewiesen; er hat eine Arbeit, die seinem Beruf und sei­ nem bisherigen Verdienst entspricht, anzunehmen, wenn die Stelle nicht durch Ausstand oder Aussperrung freigewordenist. Findet sich solche Arbeit

1 Vgl. Nr. 2; Anm.1. 2 Mit Rückversicherten sind solche Arbeiter gemeint, die durch die Gewerkschaften versichert werden.Die Versichertensind Einzelversicherte. 382 Nr. 110 nicht für ihn, so bezieht er Tagegelder, und zwar für jeden arbeitslosen Wochentag innerhalb 52 Wochen bei einer Versicherung nach Tarif A für die ersten 20 Tage 1,50, für die weiteren 40 Tage 0,75 M, nach Tarif B für die ersten 20 Tage 2, für die weiteren 40 Tage 1 M. Die Bezugsberechtigung tritt erst ein nach Leistung von mindestens 52 Wochenbeiträgen, die jedoch zum erstenmal in 26 Wochen entrichtet werden können. Für die ersten 6 Tage nach Anmeldung der Arbeitslosigkeitwird Tagegeld nicht gezahlt.Die Versicherten werden nach ihrem Beruf in drei Gefahrenklassen eingeteilt.3 Der Wochenbeitrag beträgt nach Tarif A für Gefahrenklasse I 15, Gefahrenklasse II 20 und Gefahrenklasse III 45 Pfg., nach Tarif B für Gefahrenklasse I 20, Gefahrenklasse II 30, Gefahrenklasse III 60 Pfg. Arbeiter unter 18 Jahren werden nur zur Versicherung nach Tarif A zugelassen; für Arbeiter über 60 Jahre erhöht sich der Wochenbeitrag um etwa 25 Prozent über die genannten Sätze hinaus. Für die organisierten Arbeiter gelten folgende Bestimmungen: Berufsver­ eine von Arbeitern,die in Köln eine selbständige Verwaltungsstellehaben und Arbeitslosenunterstützung gewähren, können der Kasse durch Abschluß eines Vertrages als Mitglied beitreten. Die Kasse gewährt auf Grund dieses Vertra­ ges den Vereinen Rückversicherung für einen Teil der von ihnen ihren Mit­ gliedern gegebenen Arbeitslosenunterstützung. Die Ersatzleistung beträgt für Tag und Fall nach Entrichtung von 52 Wochenbeiträgen 75 Pfg., von 104 Wochenbeiträgen 1 M, von 156 Wochenbeiträgen 75 Pfg., von 104 Wochenbei­ trägen 1 M, von 156 Wochenbeiträgen 1,25 M, von 208 und mehr Wochenbei­ trägen 1,50 M, höchstens aber das 6()fache dieser Sätze innerhalb 52 Wochen. Der Unterstützungssatz des Vereins muß um mindestens 25 Pfg. höher sein. Der Wochenbeitrag beträgt für Vereine, deren Mitglieder der Gefahrenklasse I angehören, 4, der Gefahrenklasse II 10 und der Gefahrenklasse III 30 Pfg. Gehören die Mitglieder verschiedenen Gefahrenklassenan, so ist ein entspre­ chender Durchschnittsbeitrag zu zahlen. Die ziemlich weitgehende finanzielle Vergünstigung, die die organisierten Arbeiter genießen, wird ermöglicht durch den Zuschuß der Stadt Köln, der sich das erste Jahr nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen auf 80 000, im zweitenJahr auf 100000 M. belaufen wird. Es sei noch erwähnt,daß ein Versi­ cherter, der in dreimal aufeinanderfolgendenWochen Tagegeld nicht bezogen hat, 25 Prozent der geleisteten Beiträge vergütet erhält, und daß, wenn auch

3 Die Einteilung in Gefahrenklassen erfolgte, um eine Abstufung der Beitragsleistungen zu ermöglichen. Zur ersten Gefahrenklasse gehörten Metallarbeiter, Fabrikarbeiter, Holzarbeiter, Böttcher, Buch­ binder, Schuhmacher, Maschinisten, Bäcker, Lithographen und Sattler. Der zweiten Gefahren­ klassegehörten Tapezierer, Dachdecker, Porzellanarbeiter, Hutmacher und Zimmerer an, zur drit­ ten und höchsten Gefahrenklasse zählten die Baugewerbe, künstlerische Gewerbe, Land- und Forstwirtschaft, Tierzucht, Fischerei, Industrie der Erde und Stein und das Verlagsgewerbe, aus­ schließlich der in den anderen Gefahrenklassengenannten Berufe. 383 1911 August 19

dann die Kasse nicht in Anspruch genommen wird, die Erstattung desselben Prozentsatzes jedesmal nach Einrichtung von 52 Wochenbeiträgen stattfindet. Durch diese Bestimmung sollten auch die besten Risiken4 zum Anschluß an die Kasse veranlaßt werden. Während die bisherige Kasse nur gegen Arbeitslosigkeit im Winter, das heißt für die Monate Dezember, Januar und Februar versicherte, erstreckt das jetzige Unternehmen sich auf die Arbeits­ losigkeit des ganzen Jahres.5 Von der Versicherung sind ausgeschlossen die Heimarbeiter, die kaufmännischen Angestellten und die weiblichen Arbeiter außerhalb der Organisation. Zum Schluß mag erwähnt werden, was die bei der Umwandlung der Kölner Kasse von der Stadtverwaltung herausgegebene Denkschrift6 über die kom­ munale Unterstützung der Arbeitslosenversicherung im allgemeinen und der organisierten Arbeiter im besonderen sagt. Esheißt da: "Man hat gegen die Arbeitslosigkeit mit öffentlicher Unterstützung geltend gemacht, daß von einer Arbeitslosigkeit als Gesamterscheinung, die erst das Eingreifen der Öffentlichkeit rechtfertigen würde, nicht gesprochen werden könne. Nach den Erscheinungen der letzten Winter läßt sich diese Behaup­ tung wohl nicht mehr aufrechterhalten. Die Erscheinung ist sogar internatio­ nal. Weiter heißt es, die Arbeitslosenversicherung in jeder Form untergrabe den Arbeits- und Sparsinn und fördere die Landflucht noch mehr; die Arbeitslosenversicherung wirke als Prämie auf die Faulheit. Von einer Unter­ grabung des Sparsinns kann nun da keine Rede sein, wo er gefördert wird. Durch die Kassewerden im Sinne unserer Ethik nur bessere Gefühlegeweckt: Familiensinn und Sorge für die Zukunft. Wer faulenzen will, der spart nicht monatelang, besonders wenn der Anreiz der Tagegelder so gering ist, daß er lieber Arbeit behält. Dazu muß er zunächst Arbeit annehmen, wenn ihm sol­ che zugewiesen wird. Was die Landfluchtangeht, so beruht diese auf anderen, tiefer liegenden Gründen. Nach den Beobachtungen der Kölner Kasse ist es jedenfallsder seßhafte gediegene Arbeiter, der sich versichert ... Gegen das Genter System (Arbeitslosenversicherung durch Vermittlung und Unterstützung der Gewerkschaften) wird gesagt, daß es die Organisation stärke und eine einseitige Parteinahme zugunsten der Arbeiterschaft darstelle. Diese Vorwürfe sind nicht berechtigt. Eine einseitige Parteinahme wird ausge­ schlossen dadurch, daß sich ein Eintreten bei Streik und Aussperrung verbie­ tet. Es ist auch nicht anzunehmen, daß sich jemand einer Arbeiterorganisation anschließt, weil er im Falle einer Arbeitslosigkeit einen Zuschuß bis zu 1 M.

4 Mit Risiko ist hier die Wahrscheinlichkeit gemeint, mit der die verschiedenen Berufe von �beitslosigkeit betroffen werden können. Vgl.: Öffentliche Rückversicherung für gewerkschaftliche Arbeitslosenunterstützung, in: Corres­ 42 21. pondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands Nr. vom Oktober 1911. Vgl. Nr. 376. 6 Nicht abgedruckt. 384 Nr. 111 erhält. Der Arbeiter sucht in der Organisation andere Werte. Ein plötzlicher Anschluß an die Organisation, um Unterstützung (durch die Gewerkschaft) und Zuschuß (durch die Kasse) zu erhalten, ist wegen der Wartezeit nicht möglich. Dazu nehmen die Organisationen in Krisenzeiten ab. In allen Berich­ ten ist festgestellt worden, daß eine Stärkung der Organisation bis jetzt nir­ gendwo beobachtet worden ist. Aber ist denn die Stärkung einer Organisation durch Ausbau der Versicherung so von der Hand zu weisen? Führt man sie damit nicht Aufgaben zu, die ihre Mittel für friedliche und ethische Zwecke stark in Anspruch nehmen?

Nr.111

1911 August 25

Deutsche Industriebeamten-ZeitungNr. 17 Kämpfende Kollegen Hermann Ludemann

[Überblick über die Arbeitskämpfe des Bundes der technisch-industriellen Beamten]

Noch nie zuvor ist es so deutlich gewesen, welche Kraft heute in den techni­ schen Angestellten steckt. In eingeweihten Kreisen allerdings weiß man längst, welche tiefgreifenden Veränderungen die gesamten Berufsverhältnisse der technischen Angestellten seit dem Bestehen des Bundes1 erfahren haben. Die Kämpfe mit den bayeri­ schen Metallindustriellen und mit den oberschlesischen Grubengewaltigen entbehrten gewiß nicht der Größe, und die vielen kleinen Konflikte, in denen Kollegen sich gegen geplante Verschlechterungen der Arbeitsverhältnisse auflehnten oder selbst die Initiative zu einer Verbesserung ihres Dienstvertra­ ges ergriffen, waren sicherlich keine Spielereien, sondern jeder für sich das Ergebnis ernster gewerkschaftlicher Organisationsarbeit.2

1 Gemeint ist der Bund der technisch-industriellen Beamten, der im Mai 1904mit SitzBerlin als pund der industriellenBeamten (Arbeitnehmerbund)" gegründet wurde. Die angesprochenen Kämpfefanden in den Jahren1908 und 1909 statt. Am12.5.1908 faßtder Verband der Bayerischen Metallindustriellen einen Beschluß, den Anteilder Angestellten, die im Bund der technisch-industriellen Beamten, im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband,im Verein für Handlungskommisvon 1858, im VereinDeutscher Kaufleute undim Verband Deut­ scher Handlungsgehilfen organisert waren, möglichst zu reduzieren und bei Einstellungen von 1911 August 25 385

Aber in ihrer ganzen Tiefehat sich die vollzogene Umwälzung desDenkens, die von Grund auf veränderte Auffassungdes sogenannten "freien" Arbeitsver­ trageserst in der allerjüngsten Zeitgeoffenbart. Dabei muß allerdings bemerkt werden, daßdie geändertenVerhältnisse sich dem Auge wohl kaum so plastischdarbieten würden, wenn nicht der Kontrast mit den stagnierenden Anschauungen des Unternehmertums in jedem einzel­ nen Falle für ihre besondere Hervorhebungsorgte. Während nämlich die technischen Angestellten weder Zeit noch Mühe gescheut haben, um ihr gesamtes Denken umzuformen, sich den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen durch energische Ausmerzung veralteter Gedankengänge und vorurteilslose Annahme neuer Erkenntnisse anzupassen, haben unsere Arbeitgeber esnicht für nötig gehalten, der neuen Zeitauch nur die leiseste Konzession zu machen. Durch starres Festhalten an einer veralte­ ten, in der Gegenwart jeder inneren Berechtigung entbehrenden patriarcha­ listischen Auffassung des Arbeitsvertrages, in der Praxis zum Teil noch ver­ schärft durch die Übernahme amerikanischer Rücksichtslosigkeiten, hat sich selbst in den modernsten Betrieben eine Handhabung des sogenannten "freien" Dienstvertrages herausgebildet, die in unsere Zeit genau so schlecht hineinpaßt wieetwa die Postkutsche des siebzenten Jahrhunderts. Während in sozialpolitisch aufgeklärten Kreisen immer vernehmlicher der Ruf nach höherer Achtung allgemein gültiger Persönlichkeitsrechte, nach freimütigem Verzicht auf unsoziale Bindungen und offene Anerkennung der Koalitionsfreiheiterschallt, verharrt das deutsche Arbeitgebertum in kurzsich­ tiger Verteidigung eines falschen Herrenstandpunktesund provoziert dadurch bei jeder leisesten Differenz den offenen Konflikt. Ich erinnere in dieser Beziehung nur an den letzten großen Kampf im Baugewerbe und das nicht minder gefährliche Spiel, das jetzt wieder von den sächsisch-thüringischen Metallindustriellen getrieben wird. War bisher noch in weiten Schichten der Privatangestellten der irrige Glaube verbreitet, das kapitalistische Unternehmertum würde sich ihnen, den "Mitarbeitern", den "Vertrauenspersonen", gegenüber selbst in Konfliktsfällen grundsätzlich anders verhalten als gegenüber der Lohnarbeiterschaft, so beginnt die neuere Entwicklungdiesem alten Überbleibsel der durch die wirt­ schaftlichen Verhältnisse längst überholten Lehre von der Harmonie der Interessen zusehends den Boden zu entziehen. Die Arbeitgeber haben es aber auch gar zu eilig, ihre Angestellten die tiefe Kluft zwischen kapitalistischem

Angestelltenauf Organisationszugehörigkeit zu achten, da die angeführten Verbände arbeitgeber­ feindliche Interessenvertreten würden. Dieser Beschlußwurde im Dezemeber1908 aufgehoben. Im Januar 1909wurde einem Angestelltender Gieschegrube in Schappinitz wegen seiner Zugehö­ rigkeit zum Bund der technisch-industriellen Beamten gekündigt. Nach Protesten stellte der Direktor sämtliche Angesetllten vor die Wahl, aus dem Bund auszutreten oder die Kündigung hinzunehmen. 386 Nr.111

Unternehmerund besitzlosem Arbeitnehmer in ihrer ganzen brutalen Schärfe fühlen zu lassen, selbst wenn essich nur um denkbar geringfügige Streitpunkte handelt. Ein besonders lehrreichesBeispiel bildet in dieser Beziehung die kleine Mo­ torenfabrikin Dessau, die da plötzlich glaubte, ihren Angestellten eine längere Arbeitszeit verordnen zu müssen. An sich gewiß kein neues Vorkommnis, nur durch seinen weiteren Verlauf ein Schulbeispiel für die divergierenden Anschauungen gewerkschaftlich aufgeklärter Techniker und ihrer sozial rück­ ständigen Arbeitgeber. Alter Gewohnheitgemäß dekretiert der Herr Direktor eine Verlängerung der Arbeitszeit von acht auf achteinhalb Stunden. Ihrer gewerkschaftlichen Überzeugung entsprechend lehnten die technischen Ange­ setllten die längere Arbeitszeit ab. Wiederum im Banne eines veralteten Her­ renstandpunktessetzt der Herr Direktor "seine" Technikerauf die Straße. Ein furchtbar einfacher Vorgang, dessen sämtliche Einzelheiten sich inner­ halb vierundzwanzig Stunden abgespielt haben mögen, und doch so reich an Kontrasten, so voller anregender Hinweise auf die gewaltigen Gegensätze, von denen das moderne Arbeitsverhältnis erfülltist. Ganz anders liegen die Dinge in Kassel. Aber wenn dieser Konflikt auch nicht so einfach verlief und vor allem des wuchtigen Abschlusses ä la Dessau entbehrte, so lag das lediglich daran, daß die Leiter der Maschinenfabrik "Hassia" zufällig nicht so festen Boden unter ihren Füßen hatten wie der Direktor der MotorwerkeDessau und infolgedessen ihre Angestellten nicht so rigoros behandeln konnten. In Kassel handelte es sich darum, die durch Mißwirtschaft ihrer leitenden Personen arg heruntergekommene Maschinen­ fabrik Hassia vor dem Zusammenbruch zu retten. Zu diesem Zwecke sollte nach bekannten Vorbildern das Personal gehörig reduziert und für die übrigbleibenden die Arbeitszeit von acht auf neun Stunden verlängert werden. Also eine "Sanierung" auf Kosten der Angestellten. Aber die Herren hatten ihre Rechnung ohne den Bund gemacht. Durch sein energisches Eingreifen und die vorzügliche Haltung unserer Kollegen sind die geplanten Härten ver­ mieden und eine Reihe wertvoller Zugeständnisse errungen worden. In der Öffentlichkeit hat dies einen so vorzüglichen Eindruck gemacht, daß das Kas­ seler Volksblatt über das Vorgehen unserer tapferen Kollegen schreibt: "Daraus zu lernen hatten die Arbeiter der Firma Hassia alle Ursache". Beiden Fällen ist die Rücksichtslosigkeit gemeinsam, mit der das kapitalisti­ sche Unternehmertum die wirtschaftliche Schwäche der Privatangestellten für seine Zwecke auszunutzen sucht. Beide Fälle bilden daher auch vorzügliche Belege für die Notwendigkeit gewerkschaftlichen Zusammenschlusses. Was die Solidarität vermag, wenn sie von einer leistungsfähigen Organisation gestützt wird, ist durch den Kasseler Fall vorzüglich illustriert. Aber auch in Dessau würde es unseren Kollegen ohne den Bund wohl kaum gelungen sein, 1911 August 25 387 den einseitigen Verfügungen der Motorwerke so mannhaft und so zuversicht­ lich entgegenzutreten, wie es tatsächlich geschehen ist. Es müssen eben eine ganze Reihe wichtiger Voraussetzungen erfüllt sein, bis der einzelne Arbeit­ nehmer sich genügend stark fühlt, um mit ruhiger Festigkeitseinem Arbeitge­ ber gegenüber die Forderungen seines Standeszu vertreten. Diese Festigkeit verleiht allein die Organisation, und es muß deshalb mit aufrichtiger Freude erfüllen, daß wir in dieser Beziehung gerade in den letzten Wochen so vorzügliche Fortschritte beobachten konnten. Der Zuwachs an Kraft wird vielleicht am besten dadurch dokumentiert, daß die Berufskollegen sich nicht mehr auf die Verteidigung vorhandener Rechte und die Abwehr ihnen zugemuteter Verschlechterungen beschränken, sondern dort, wo die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Vorgehen gegeben erscheinen, bereits zum offenen Kampfe um die Ausweitung des Dienstvertrages zugunsten der Arbeitnehmer übergehen.3 Und die Freude darüber wird noch erhöht durch die ruhige Festigkeit, die überlegene Entschlossenheit, mit der die kämpfenden Kollegen von der neuen Kraft Gebrauch zu machen wissen. Man betrachte nur einmal den Verlauf unserer Aktion bei der Maschinenfabrik Horst in Berlin.4 Daß unsere dort tätigen Kollegen ernsthaft daran gegangen sind, die namentlich für Berliner Verhältnisse viel zu lange Arbeitszeit zugunsten der achtstündigen zu beseiti­ gen, war sicher die allerhöchste Zeit. Derartig überlange Arbeitszeiten sollten grundsätzlich nicht mehr geduldet werden, und es ist nur zu bedauern, daß sie an vielen Orten noch so geduldig ertragen werden. Man ergreife ruhig die Initiative und versuche, sich mit den leitenden Per­ sonen offen über die Schäden der herrschenden Zustände auseinanderzuset­ zen. Beweisefür den frühzeitigenKräfteverfall bei allzu ausgedehnter Arbeits­ zeit gibt es doch mehr als genug. Zeigt sich dann, daß die Herren Arbeitgeber noch nicht so weit sind, um auf dem Wege freimütigen Entgegenkommens eine Vereinbarung zeitgemäßer Bürostunden zu ermöglichen oder erweisen sie sich gar als ähnlich rückständige Zeitgenossen wie der Herr Teichert in Liegnitz5; der eine höfliche Bitteunserer Kollegen um Beseitigung der neun­ einhalbstündigen Arbeitszeit mit der Kündigung sämtlicher technischer Ange­ stellten beantwortete, so lasse man es ruhig auf einen Kampfankommen. Das Vorbild unserer Berliner Kollegen in der Maschinenfabrik Horst verdient es durchaus,recht zahlreicheNachfolger zu finden. Es würde natürlich eine große Unzulänglichkeit bedeuten, wollte man in diesem Zusammenhange nicht auf die ganz besondere Bedeutung derjenigen

3 Vgl. Nr. 96. 4 Vgl. Nr. 112. 5 Inhaberder FirmaTeichert & Söhne in Liegnitz. Vgl. Nr. 121. 388 Nr. 111

Aktion hinweisen, auf die gegenwärtig wohl die gespannteste Aufmerksamkeit aller organisierten Berufskollegen konzentriert ist. Mögen auch die vielen kleinen Konflikte, einzeln und im ganzen betrachtet, lehrreiche Illustrationen zu dem von Grund auf veränderten Verhältnis zwi­ schen den technischen Angestellten und ihren Arbeitgebern sein, so werden sie naturgemäß an Bedeutung weit übertroffen durch das nach Art und Umfang wohl einzig dastehende Vorgehen der Berliner Eisenkonstrukteure6• Einmal handelt es sich hier nicht bloß um eine einzelne Firma, sondern auf dem zwar örtlich begrenzten, nach Raum und industrieller Entwicklung aber sehr umfangreichen Gebiete Groß-Berlins sind alle den Bau von Eisen­ konstruktionen als Hauptgebiet betreibenden Firmen an dieser Bewegung beteiligt; zum anderen haben sich die Kollegen nicht darauf beschränkt, eine einzelne Forderung unseres Standes herauszugreifen, sondern von der durch­ aus berechtigten Erwägung getragen, daß unsere Dienstverhältnisse in allen Teilen einer durchgreifenden Umgestaltung bedürfen, haben sie den Arbeit­ gebern gleich einen fertig ausgearbeiteten Normaldienstvertrag unterbreitet, in dem alle Seiten des Vertragsverhältnisses durch möglichst ungeschwächte Übernahme der vom B.t.i.B. vertretenen Forderungen geregelt sind. Aber noch ein Drittes ist da, was der Bewegung der Berliner Eisenkonstruk­ teure ihre besondere Bedeutung verleiht. In der sehr richtigen Erkenntnis, daß es sich über Änderungen des Dienst­ vertrages umso leichter verhandelt, je freier beide an dem Vertragsschluß beteiligte Parteien einander gegenüberstehen, haben die Kollegen an den Anfangder Aktion die solidarische Kündigung ihrer bisherigen Dienstverträge gestellt. Ein vernünftiger Grundsatz, eine sehr verständige Auffassung des sogenannten "freien" Arbeitsvertrages: Erst wollen wir uns der Fesseln des gegenwärtigen Vertrages entledigen und dann als freie Männer über den Abschluß eines neuen Vertrages verhandeln! Nun mag der Kampf beginnen. Die Bahn ist frei. Glauben die Arbeitgeber sich berufen, die Erhaltung des Bestehenden zu verteidigen, dem sozialpoliti­ schen Stillstand ein neues Denkmal zu setzen, so fühlen wir uns als die Boten einer neuen Zeit, als die Vertreter einer freieren, gerechteren Lebensauf­ fassung,deren Verwirklichungnicht bloß der Gegenwart zum Vorteil, sondern allen späteren Generationen zu unendlichem Segen gereichen würde. Wenn nicht alle Zeichentrügen, gibt es unter den Arbeitgebern des Berliner Eisenbaues zahlreiche Stimmen, die es unter keinen Umständen zum offenen Konflikte kommen lassen möchten und ihren nicht geringen Einfluß zugun­ sten einer friedlichen Verständigung in die Waagschale geworfen haben. Trotzdem sind wir mit Rücksicht auf frühere Erfahrungen doch nicht opti­ mistisch genug, an eine kampflose Erfüllung der erhobenen Forderungen zu

6 Vgl. hierzu Nr. 94. 1911 August 25 389 denken. Im festen Vertrauen auf die gute Rüstung, die wir uns in unserem Bunde zugelegt haben, erinnern wir uns des alten Wortes: Ohne Kampf kein Sieg! und sehen dem weiteren Verlauf der Dinge ruhig entgegen. Nur an den in den nächsten Tagen zusammentretenden Bundestagwenden wir uns mit der Aufforderung, seinen früheren Beschlüssen getreu dem geplanten Ausbau unserer Organisation durch Billigung der ihm vom Vorstande unterbreiteten Antrage die letzte Weihe zu geben und damit an seinem Teile zum Gelingen der Bewegung beizutragen. Die größte Hilfe jedoch erwarten wir von den Mitgliedern. Auf die breiten Massen der Berufskollegen setzen wir die Erwartung, daß sie die Größe des Augenblicks erkennen und durch Bekundung einer aufrichtigen und ernsten Solidarität den kämpfendenKollegen den Rücken freihalten. Möge jeder ein­ zelne sich daran erinnern, daß er durch das Verhalten seines Arbeitgebers jeden Augenblick zu einem ähnlichen Schritt genötigt werden kann, daß das, was gestern den Kollegen in Dessau und vorgestern den Kollegen in Liegnitz angetan worden ist, sich schon morgen an seinem eigenen Leibe wiederholen kann. Eure Sorgen sind unsere Sorgen! Und Euer Kampf ist unser Kampf! Das möge jeder Angestellte sagen, der von dem mutigen Verhalten unserer kämp­ fenden Kollegen liest, und wir sind sicher, daß uns der Erfolg nicht versagt bleiben wird.

Nr.112

1911 August 25

Deutsche Industriebeamten-Zeitung Maschinenfabrik Horst, Berlin

[Verlängerung eines Boykotts der Angestellten)

Die Arbeitszeit der Angestellten dieser Firma beträgt bisher 9 Stunden. Um ihre Verkürzung auf 8 Stunden und die Einführung der englischen Arbeits­ zeit1 zu erreichen, richteten die dortigen Kollegen eine entsprechende Ein­ gabe an die Firma. Infolge des schroff ablehnenden Verhaltens der Firma gelang es jedoch nicht, eine Verständigungzu erreichen. Selbst als die Kolle-

1 Die sogenannte englische Arbeitszeit unterschied sich von der deutschen durch eine andere Pau­ senregelung und einen früheren Arbeitsschluß am Samstagnachmittag. 390 Nr.113 gen andeuteten, daß sie gezwungen wären, zu kündigen, wenn die Firma ihren Wünschen nicht entgegenkomme, wurde ihnen nur die überaus bezeichnende Antwortzuteil: "Dann bekommen wir andere Angestellte und Sie einen ande­ ren Chef." Erfreulicherweisehaben sich unsere Kollegen durch diese Antwort nicht davon abhalten lassen, die einzig richtige Konsequenz zu ziehen. Am 14. August haben von den acht technischen Angestellten der Firma die sieben im Bund2 organisierten ihre Stellung zum 1. Oktober gekündigt. Die drei im kaufmännischen Büro beschäftigten Stenotypistinnen haben sich diesem Vor­ gehen angeschlossen. Esist mit Bestimmtheitanzunehmen, daß die Firma ver­ suchen wird, noch nachträglich zu einer Verständigung mit den Angestellten zu kommen, wenn es ihr nicht gelingt, neue Arbeitskräfte zu erhalten. Wir warnen deshalb alle Kollegen, eine Stellung bei der Firma Horst anzunehmen.

Nr.113

1911 Augsut 25

Deutsche Industriebeamten-ZeitungNr. 17 Der Konfliktin den Marinebetrieben

[Reichsmarineamt führt durch Neueinstellung von Hilfstechnikernnach altem Dienstvertrag und Ausbildung von Hilfstechniker den Arbeitskampf fort)

Wie wir erfahren, haben die unmittelbaren Vorgesetzten der Hilfsbeamten, die um Entbindung von dem seinerzeit unterzeichneten unsozialen Privat­ dienstvertrag gebeten hatten, sowohl in Danzig als auch in Wilhelmshaven versprochen, die Gesuche befürwortend an das Reichsmarineamt weiterzuge­ ben. Da hierin eine Zusage der Werften erblickt werden muß, selbst auf eine angemessene Formulierung der Vertragsbestimmungen zu dringen, haben die Kollegen vorläufig davon abgesehen, ihre Kündigung einzureichen und wollen zunächst die Antwort des Reichsmarineamts abwarten.1 Wir haben inzwi­ schen, trotz des ablebenden Verhaltens des Reichsmarineamts gegenüber unserer ersten Bitte um Gewährung einer Audienz, ein Gesuch an das Reichsmarineamt gerichtet, in dem um Änderung des für die technischen Hilfsbeamten bestimmten Privatdienstvertrages nach einem beigelegten Ver-

� Bund der technisch-industriellen Beamten. Vgl. Nr. 65, Nr. 105, Nr. 106, Nr. 206, Nr. 214 und Nr. 385. 1911 August 25 391 tragsentwurfe gebeten wird.2 Außerdem haen wir in dieser Eingabe unter Hinweis auf den Beschluß des Reichstages vom 16. Februar ds. Js.3 die Bitte wiederholt, einen Vertreter unserer Organisation zu einer Besprechung der Angestellten zu empfangen. Eine Antwort auf diese Eingabe, die am 16. ds. Mts. abgesandt und inzwischennoch telegraphisch durch die Bitte unterstützt worden ist, die Werften veranlassen zu wollen, den technischen Hilfsbeamten den Privatdienstvertrag nach Verfügung B. 1. 5941/10 nicht mehr vorzulegen, ist allerdings bis heute noch nicht erfolgt. Es muß daher befürchtet werden, daß das Reichs-Marine-Amt an seiner ungesetzlichen Praxis festhält. Inzwi­ schen versuchen die Werften, wie uns berichtet wird, nach wie vor technische Hilfsbeamte auf Grund des wiederholt kritisierten Dienstvertrages zu enga­ gieren. Es ist auch kaum anzunehmen, daß das R.M.A sich eher zu einer beschleunigten Änderung dieses Dienstvertrags bereit findenwird, als bis ihm von den Werften berichtet wird, daß sie auf Grund dieses Vertrages keine Hilfskräfte mehr bekommen können. Wir fodern deshalb alle Berufskollegen auf, in den Kaiserlichen Marine-Betrieben solange keine Stellung mehr anzu­ nehmen, bis der Konfliktbeigelegt ist. In diesem Zusammenhang muß auch das neuerdings geübte Verfahren der Kaiserlichen Werften, selbst Techniker zu fabrizieren, scharf verurteilt wer­ den. Man behilftsich nämlich jetzt bei dem Mangel an technischvorgebildeten Hilfskräften damit, daß man die sogenannten technischen Arbeiter, d.s. einfa­ che Pauser, nach einer einfachen Prüfung zu Hilfstechnikern avancieren läßt. Es ist ja zweifellos im allgemeinen nichts dagegen einzuwenden, wenn die Behörden auch den Autodidakten eine gewisse Möglichkeit des Aufstiegs si­ chern wollen. Was aber dem einen recht ist, das sollte dem anderen billig sein. Wenn schon die technische Vorbildung für Werfthilfstechniker nicht unbe­ dingt erforderlichist, dann verzichte man auf dieseBedingung auch gegenüber denjenigen, die neu eingestellt werden.So aber, wie jetzt verfahrenwird, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Beförderung der technischen Arbeiter zu Hilfstechnikern nur erfolgt, um den Hilfstechnikern zu beweisen, daß man sie auch ersetzen kann.

2 Zu dem Inhalt des Vertragesvgl.: Gegenüberstellung desvom Reichsmarineamt und von den Organisationen vorgelegten Vertragsmusten, in: Deutsche Techniker-Zeitung, Nr. 11 vom 9.3.1912 und Nr. 13vom 23.3.1912. 3 Vgl. Stenographische Berichte der Verhandlungen des Reichstags; XII LP., II. Sess., Bd. 264, 129. Sitzungvom 16. Februar1911, S. 4703 ff. 392 Nr.114

Nr.114

1911 August 27

Die Deutsche Arbeitgeber-ZeitungNr. 35 Kathedersozialismus und die Gewerkschaften

[Irrlehren des Kathedersozialismus in Bezug auf den Wert und die Funktion der GewerkschaftenJ

Johann Jacobi hat bekanntlich einmal den Ausspruch getan, daß die Grün­ dung des kleinsten Arbeitervereins ein größeres historisches Ereignis sei als etwa die Schlacht bei Sadova. Mit dieser prächtigen Kennzeichnung der redne­ rischen Überschwenglichkeit des aufgeregten Königsberger Demokraten lei­ tete vor etwa einem Dutzend Jahren Professor Dr. Sombart1, damals Inhaber eines Lehrstuhles an der Universität Breslau, einen Vortragszyklus ein, der unter dem Titel: "Dennoch! Aus Theorie und Geschichte der gewerkschaft­ lichen Arbeiterbewegung" alsbald in Buchform erschien2• Zwar gestand Som­ bart im weiteren zu, daß Jacobi mit der zitierten Bewertung der Arbeiterbewe­ gung insofern über das Ziel hinausgeschossen sei, als er sich dabei einer ganz bedeutenden Unterschätzung der nationalen Konflikte und ihrer Lösung für den Gang der Geschichte schuldig gemacht habe. Indessen habe er an und für sich mit der Hervorkehrung der "Wichtigkeit jener Neuorganisation der Gesellschaft, wie wir sie in der modernen Gewerkschaftsbewegung beobach­ ten", vollkommen recht. Und im weiteren Verlauf seiner Darlegungen gelangte Sombart denn auch seinerseits zu dem Ergebnis, daß "vom Stand­ punkt der Gesamtentwicklung aus dem Vordringen der Gewerkschaftsidee eine eminent staatserhaltende Bedeutung eigne". Die Gewerkschaftsidee sei eben dazu berufen, einer neuen Wirtschaftsform die Wege zu ebnen, indem sie der Lohnarbeiterschaft den ihr bisher vorenthaltenen, ihr gerechterweise aber zuzubilligenden Anteil am Gesamtertrag der Gütererzeugung sichere. Mit Hilfe des von der Gewerkschaftsbewegungmit wachsendem Erfolge propagier­ ten Arbeitskonstitutionalismus werde gleichzeitig weiterer Überhandnahme des "unfruchtbaren sozialrevolutionären Utopismus innerhalb der Lohnarbei­ terschaft" eine Grenze gesetzt. Dermaßen bilde also das Gewerkschaftswesen die denkbar beste Brücke zum Übergang in jene neue soziale Ordnung, auf die "der unaufhaltsame innere Umbildungsprozeß des kapitalistischen Wirt-

1 Werner Sombart, Professor an der Handelshochschulein Berlin. 2 Erschienenin Jena 1900. 1911 August 27 393 schaftssystems" nun einmal allem Widerspruch der Kur:zsichtigen und Rück­ ständigen zum Trotz abziele. Der dokumentarische Wert dieser und ähnlicher Darlegungen steht um so mehr außer Frage, als sie ja überaus bestimmend auf die öffentliche Meinung eingewirkt haben. Noch bis in die jüngste Zeit hinein bildeten sie das Brevier des Kathedersozialismus, dienten sie vor allem denen zum handlichen Rüst­ zug, die aus Erwägungen fraktionspolitischer Art einen Frieden um jeden Preis mit der modernen Arbeiterbewegung abzuschließen trachteten. So dürfte denn auch nichts dagegen einzuwenden sein, daß man sie jetzt, wo wir inzwi­ schen um eine große Menge praktischer Erfahrungen auf sozialpolitischem Gebiet reicher geworden sind, wieder ausgräbt, um sie an der Hand dieser Erfahrungenauf ihre Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Da wäre zunächst zu konstatieren, daß von dem "inneren Umbildungs­ prozeß des kapitalistischen Wirtschaftssystems", welches Sombart und die Seinen witterten, eigentlich recht wenig zu merken ist. Im Gegenteil! Rings in der Welt zeigt es sich, daß die Tatsachen denen Recht geben, die von der völligen Unersetzlichkeit dieses Systems überzeugt sind, solange wenigstens die Kulturmenschheit von dem instinktiven Drange nach Selbsterhaltung mit Hilfe ständiger Mehrleistung zugunsten der Nachkommen beseeltist. Freilich bahnt sich überall ein gewisser Ausgleich der mit dem Beginn des Maschinen­ zeitalters hervorgetretenen sozialen Disharmonien an. Dieser Ausgleich ist aber zum überwiegenden Teil auf Rechnung des allmählichen Hineinlebens der Gesellschaft in die moderne Wirtschaftsmethode, ist auf Rechnung der zunehmend sich verbessernden Organisation des Wirtschaftslebens zu setzen. Wobei gerne zugestanden werden soll, daß die Arbeiterbewegung als solche nach dieser Richtung hin stimulierend gewirkt hat. Dermaßen ergibt sich aus der Entwicklung selbst heraus gerade das Gegenteil dessen, was die Repräsen­ tanten des Kathedersozialismus prophezeit haben: der Kollektivismus in der Produktion ist nicht über einige kümmerliche Ansätze hinausgediehen; eine Systemänderungist nirgends zu konstatieren und wird obendrein von denjeni­ gen Sozialisten selbst, die sich trotz allem ein einigermaßen klares und unbe­ fangenes Urteil zu bewahren suchten, gar nicht empfohlen. Damit soll natür­ lich nicht gesagt sein, daß für alle Dauer alles so bleiben wird, wie es augen­ blicklich ist. Vielmehr werden sich die Härten und Schärfen des Systems auch weiterhin mildern und abschleifen; man wird fortfahren, wilde Sprößlinge zu beschneiden und Vorkehrungen zu treffen, um mißbräuchlicher Ausnutzung des kapitalistischen Übergewichts zum Wohl der wirtschaftlich Schwächeren zu steuern. Denn nicht das kapitalistische System, sondern dessen unerfreuli­ che, aber aus der Lage der Dinge selbst unschwer erklärliche Begleiterschei­ nungen sitzen auf der Anklagebank. 394 Nr. 114

Eine der wichtigsten Funktionen, die der Kathedersozialismusdem Gewerk­ schaftswesen zubilligen wollte, ist demnach hinfällig geworden. Wie steht es nun mit dem mildernden Einfluß, den die Gewerkschaftlerei Herrn Professor Sombart zufolge auf die wilden Sitten der Sozialdemokratie ausüben sollte? Unzweifelhaft haben die Gewerkschaften angesichts der rapiden Zunahme ihrer Mitglieder ein gewichtiges Wort bei der Formulierung der Partei­ beschlüsse mitzureden. Ist es darum nun etwa wirklich zur Ausschaltung des unfruchtbaren sozialrevolutionären Utopismus aus der Arbeiterbewegung gekommen? Nicht im geringsten! Von Jahr zu Jahr steigerte sich vielmehr die Intransigenz des demokratischen Sozialismus, der heute schon offen verkün­ det, daß er bei der ersten besten Gelegenheit aus der unablässig und mit Auf­ bietung aller überhaupt verfügbaren demagogischen Kniffe und Pfiffe betrie­ benen Aufwiegelung der breiten Massen in Gestalt zwangsweiser Durchset­ zung seiner politischen Endziele die praktischen Konsequenzen ziehen wird. Auf die stattliche Zahl von vier Millionen ergebener Anhänger glaubt er zwecks dessen bereits jetzt mit Sicherheit rechnen zu dürfen. Wer aber hat ihm in erster Linie geholfen, diese gewaltige Rekrutenschar anzuwerben? Gerade die Gewerkschaftlerei, die ihren Mitgliedern grundsätzlich die sozialistische Weltanschauung einzuimpfen bestrebt war und immer wieder betonte, daß sie sich völlig eins fühle mit den Bestrebungen der Partei. So deckte denn die Gewerkschaftsbewegung in Wahrheit nur den politischen Vormarsch der Sozialdemokratie, nicht aber machte sie ihr im Sinne der Sombartschen Hoff­ nungen Konkurrenz. Das prägt sich u.a. mit wünschenswertester Deutlichkeit in der Art aus, wie neuerdings die Arbeitskämpfe geführt werden: Man betrachtet diese Kämpfe als Vorübung für die kommende Generalentschei­ dung, schwelgt in der Vorstellung, mit Hilfe der dauernd zunehmenden eige­ nen Machtmittel binnen absehbarer Zeit den Unternehmer zum blinden Gehorsam gegenüber der die Betriebsleitung in die Hand nehmenden Beleg­ schaft zwingen zu können, und erklärt die Vergewaltigung der anders denken­ den und nichtorganisierten Erwerbskollegen für die sinngemäße Betätigung des Grundsatzes vom Recht der Stärkeren. Gewiß, den Arbeitskonstitutiona­ lismus proklamiert man auch heute noch als einen der Hauptpunkte des gewerkschaftlichen Programmes. Aber dessen geschieht nicht das geringste Hehl mehr, daß seine Durchführung nur als die erste wichtige Etappe zu gel­ ten hat auf dem Wege zur vollständigen Niederringung des privatkapitalisti­ schen Unternehmertums und zur Einführung der kollektivistischen Produk­ tionsmethode. Was ja schließlich auch gar nicht anders sein kann, nachdem es sich immer mehr herausstellt, daß die geschichtliche Entwicklung selbst von einer "inneren Umbildung des kapitalitischen Wirtschaftssystems" nichts wis­ sen will. Also auch nach dieser Richtung hin hat der Kathedersozialismus das 1911 August 27 395

Spiel verloren und muß es sich gefallen lassen, daß man ihn bedenklichster Voreiligkeit und Oberflächlichkeitdes Urteils zeiht. Nun stellt es sich, um allem die Krone aufzusetzen, heraus, daß in England, dessen arbeitspolitische Verhältnisse dem deutschen Unternehmertum bekanntermaßen von jeher als vorbildlich angepriesen wurden, die Dinge womöglich noch weitaus bedenklicher stehen wie bei uns. Der angeblich poli­ tisch so harmlose und hinsichtlich seiner Berücksichtigung der Grenzen des auf sozialem Gebiet überhaupt Erreichbaren über den grünen Klee gelobte Trade-Unionismus entpuppt sich als ein wilder Empörer, der ohne die gering­ ste Rücksicht auf die empfindlichste wirtschaftliche Schädigung der Nation zum Zweck restloser Durchsetzung seiner Absichten gerade zu solchen Gewaltmitteln greift, über die seine deutschen Lobredner ihn hoch erhaben erwähnten! Noch damals, als die Mißhandlungen arbeitswilliger Transport­ arbeiter durch ausständige Gewerkschaftlerin Berlin-Moabit den Anlaß gaben zu fast wochenlangen Straßenkrawallen, trieften die Spalten der unseren Sozialideologen zur Verfügungstehenden Presse von wehmütigen Vergleichen zwischen der sozialpolitischen Rückständigkeit Deutschlands und der vor­ nehmen Art, wie man in England sowohl seitens der Arbeitgeber wie der Arbeiter über solche Schwierigkeiten hinwegzukommen pflege. Und siehe da: während es bei uns immerhin noch einem Aufgebot von Schutzleuten gelang, die öffentliche Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, mußten in England Brigaden und Divisionen zu dem gleichen Zweck mobilisiert werden! Fazit: die glorifizierte Idee von der wundervollerziehlichen Wirkung der englischen Gewerkschaftlerei entpuppt sich als ein völliges Hirngespinst, und man steht fassungslos der Erkenntnis gegenüber, daß die als politisches Allheilmittel gepriesene Zusammenballung großer Massen zum Zweck möglichst nachträg­ licher Vertretung spezieller Klasseninteressen auch dort höchst demoralisie­ rend gewirkt hat. Darin freilich wird man den Sombart und Genossen kaum Unrecht gegen können, daß sie die Opferwilligkeit der gewerkschaftlich organisierten Arbei­ ter als einen Beweis für die außerordentliche Zugkraft der gewerkschaftlichen Idee hinstellen. Selbst ganz abgesehen davon, daß in den weitaus meisten Fäl­ len diese Opferwilligkeit nur als mangelnde Widerstandsfähigkeit der einzel­ nen gegenüber dem auf sie ausgeübten Zwang anzusprechen sein dürfte, ist die Tatsache überaus bemerkenswert, daß es der gewerkschaftlichen Kommando­ gewalt gelingt, ihre Klientel von Jahr zu Jahr höher zu besteuern und derart schließlich über Finanzmittel zu verfügen, die den gewerkschaftlichen Kämp­ fen eine immer gefährlichere Stoßkraft verleihen. Aber gerade diese Anhäu­ fung von Mobilmachungsgeldem dient in ihren Wirkungen abermals zur Widerlegung der kathedersozialistischen Doktrin. Sombart hat behauptet: "Es gibt in der Welt keine bessere Sicherung fürdie Unternehmer gegen unsinnige 396 Nr.114 und mutwillige Streiks, als eine wohlgefüllte Gewerkschaftskasse." In Wahr­ heit zeigt es sich jedoch,daß die Neigung der Gewerkschaften,umjeden Preis einen Streit vom Zaune zu brechen, gerade mit dem Pegelstand der Gewerk­ schaftskassen zunimmt und abnimmt; wie ja denn auch in jeder Versammlung, in der über Arbeitsniederlegungen größeren Stils verhandelt wird, seitens der Streikschürer als wichtigstes Argument der Hinweis darauf ausgespielt wird, daß man reich genug sei, um sich die Sache wochen- und monatelang ruhig anzusehen. So haben sich auch die Führer der englischen Eisenbahner mit wohlgefälliger Miene auf die Taschen geklopft und behauptet, daß die wirt­ schaftliche Lage der Union diese in den Stand setze, mit Hilfe der Stillegung des Verkehrs die Eisenbahngesellschaften so lange in Schach zu halten, bis die Rücksicht auf den allgemeinen Notstand sie zum Nachgeben zwingen werde. Von der Voraussetzung, daß die Gewerkschaftsmittel sozusagen als Vereins­ vermögen zum Zweck der Unterstützung kranker oder arbeitsloser Mitglieder behandelt werden würden, hat sich dagegen herzlich wenig erfüllt. Wenn auch ein Teil der Gewerkschaftseinkünfte zur Erfüllung derartiger genossenschaft­ licher Aufgaben aufgewendetwird, so dient das im wesentlichen nur zur Deko­ ration; in der Hauptsache scheffelt man vom Augenblick der Beendigung des einen Kampfes ab immer nur das Geld zusammen, welches zur Durchführung des nächsten Kampfes erforderlich ist, und beweist damit, daß der eigentliche Zweck der ganzen Organisation eben kein anderer ist, als die etappenweise Niederzwingung derer, denen Professor Sombart und seine Freunde gleiche wohlwollende Einschätzung der Gewerkschaftlerei anempfehlen, wie sie sich vorgeblich in England so glorreich bewährt hat. Der deutsche Kathedersozialismus hat, soviel steht nach Maßgabe der geschichtlichen Entwicklung nunmehr unzweifelhaft fest, sein Jena erlebt. Haben seine Vertreter sich herausgenommen, unter verwegenem Verzicht auf die für die exakte Wirtschaftsforschung maßgebenden Grundsätze sachlicher Beschränkung auf das wirklich Greifbare in ideologischer Verstiegenheit den Propheten zu spielen, so haben sie dafür ihre Strafe weg. Ganz anders, als sie es sich ausmalten, gestaltet sich die Zukunft: nicht zum Frieden wenden sich unter dem Zeichender Gewerkschaftsidee die Zeiten,sondern zu immer rück­ sichtsloserer Austragung des Interessenstreits zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Es ist dermaßen keineswegs ausgeschlossen, daß die Arbeits­ kämpfe über kurz oder lang wirklich einmal in ein kritisches Stadium geraten. Aber selbst ein zeitweises Unterliegen des Unternehmertums wird an dem Fortbestand der geltenden Produktionsmethode nichts ändern, wird es nicht verhindern können, daß zum letzten Ende die Vernunft über den Unsinn triumphiert, indem an die Stelle der zeitwillig Besiegten eine neue und dann wahrscheinlich weit besser gerüstete Nachfolgerschaft tritt. Wünschenswerter allerdings wäre es, daß sich die Vertreter der geltenden Rechts- und Wirt- 1911 August 27

schaftsordnung überhaupt nicht erst aus dem Sattel heben lassen, sondern rechtzeitig auf die entsprechende Begegnung der unstreitig mit durch die Irr­ tümer des Kathedersozialismus heraufbeschworenen Gefahren Bedacht neh­ men!

Nr.115

1911 August 29

Rundschreiben des Verbandes Berliner Metall-lndustrieller1 an die Ver­ bandsmitglieder Ausfertigung

[Verhängung einer Sperre über diejenigen Techniker, die zum 1. Oktober ihre Kündigung eingereicht haben]

Wir teilen Ihnen ergebenst mit, daß bei den nachstehend aufgeführten Fir­ men2 der größte Teil der technischen Beamten gemeinsam zum 1. Oktober gekündigt hat. Zugleich hat der Bund der technisch-industriellen Beamten über die betreffenden Firmen die Sperre verhängt. Aus diesem Grunde sehen wir uns zur Abwehr gezwungen über die techni­ schen Beamten aller angeführten Firmen, soweit sie zum 1. Oktober gekündigt haben, unsererseits die Sperre zu verhängen. Wir bitten Sie, sich in jedem einzelnen Falle, wo es sich um die etwa beab­ sichtigte Anstellung von technischen Beamten der namhaft gemachten Firmen handelt, zwecks Rückfrage mit unserer Geschäftsführung in Verbindung zu setzen.

1 Wernerv. Siemens-Institut, 2236M 61/le113 (1911-1913). 2 Aufgeführtwurden die Finnen: Fa. Breest & Co., Fa. Bretschneider & Krüger, Maschinenfabrik "Cydop"; Fa. G.E. Dellschau; Deutscher Eisenhandel AG.; Fa. H. Gossen; Hein, Lehmann& Co. AG.; Fa. D. Hirsch; Fa. de la Sauc.e & Kloss; Vereinigte Kammerich & Heiter & Schneevogl'sche Werke AG.; AG. Lauch­ hammer; Fa. Wolf Netter & Jacobi; Fa. Roessemann & Kühnemann; Steffens & Nölle AG.; Fa. Fr. Gebauer.