Unterwegs RUND UM DIE Fotos: Bernd Ritschel Fotos:

Über 250 Dreitausender bilden zwischen Reschenpass Die Nordwand der Wildspitze (3770 m) bietet eine der begehrtesten Touren der und Timmelsjoch den Alpenhauptkamm: die Ötztaler Ötztaler Alpen und ist dementsprechend häufig besucht. Alpen. Die größte Massenerhebung der Ostalpen bietet neben Skizirkus und Modetouren immer noch eine Viel- zahl stiller Gipfelziele. Das klassische Tourengebiet stellt

NICHOLAS MAILÄNDER vor. Berühmt, umschwärmt... und dennoch einsam

18 DAV Panorama Nr. 1/2001 Nr. 1/2001 Unterwegs RUND UM DIE WILDSPITZE

Im Winter offenbaren sich die Ötztaler Gipfel als weiße Wildnis, in der Skiberg- steiger abseits vom großen Rummel die Ursprünglichkeit der Berge erleben können. Links die Hintere Schwärze (3628 m) und Similaun (3606 m) rechts.

Schafe am Rofenberg im obersten Ötztal zu weiden. Noch heute machen sich in jedem Juni die Schafe aus dem mittleren Vinschgau und dem Schnalstal auf den langen Marsch nach Norden. Am dritten Tag geht es über die Gletscher am Hoch- oder Niederjoch und hinunter auf die Weiden im Rofen- und Niedertal.Rund 3000 Tiere sind heute noch an der Gletscherkarawane beteiligt. Sie ist ein Relikt aus jener Zeit, als das Oberötztal von Süden her wesentlich leichter erreicht Hoch über dem tief eingeschnittenen werden konnte als von Norden. Ein Blick Rofental thront einsam die Fineilspitze auf die Karte zeigt, warum: Die beiden (3516 m) mit ihrem markanten Nordgrat. Quelltäler der Ötztaler Ache sind durch brei- te,relativ einfach zu überschreitende Jöcher mit dem Vinschgau verbunden; um von Gletscherwelt, hatte sich von seinen ersten Norden ins Innerötztal vorzudringen, muss- Amtsjahren an intensiv um die Ausbildung ten dagegen auf einem gefährlichen Saum- der örtlichen Bergführer gekümmert. Und pfad schroffe Klammen überwunden wer- nicht zuletzt dem hervorragenden Ruf der den. Kein Wunder, dass die Hochtäler von Führer von Vent war es zu verdanken, dass Süden her besiedelt wurden, und dass sich der Ort bald international als Bergsteiger- seine Bewohner über Jahrhunderte hin dem dorf bekannt wurde. Der einsetzende öko- Etschtal zugehörig fühlten! nomische Aufschwung änderte jedoch we- echt haben sie gehabt, doch gefallen,der wenige Schritte entfernt aus ei- dass der Mann aus der Jungsteinzeit, der nig an der katastrophalen finanziellen Situ- nicht ins Tal abzusteigen! Denn ner mit Wasser und Schneematsch gefüllten später unter dem Namen „Ötzi“ Weltbe- Ein Bauernbub ation des jungen Kuraten, dem der neue der labilen Luftdrucklage zum Vertiefung ragt: „Schau mal, was da liegt, rühmtheit erlangen sollte, höchstwahr- „startet“ den DAV Wohlstand zu verdanken war.Hilfe suchend Trotz spannt sich ein strahlend- Erika!“ Auf den ersten Blick sieht das merk- scheinlich aus dem Schnalstal in Richtung An dieser Südorientierung der Menschen in wandte der sich an den 1862 in Wien ge- Rblauer Himmel über den Ötztalern.Ein wah- würdige Objekt aus wie eine Puppe. Doch Ötztal unterwegs gewesen war. Fachleute den Tälern, die im Kessel von Vent zusam- gründeten Österreichischen Alpenverein. res Kaiserwetter! Früh um neun Uhr sind dann stellen die Simons mit Schaudern fest, vermuten seinen Lebensraum drunten im menlaufen, änderte sich erst etwas, als im Die Herren im Vorstand lobten zwar mit

Erika und Helmut Simon, beide Mitglieder dass es ein menschlicher Oberkörper ist,der damals schon dichtbesiedelten Vinschgau, Jahr 1860 ein junger Theologe in der kleinen Franz Senn (1831 – 1884) der Ewald Weiß Archiv Foto: wohlgesetzten Worten Senns Initiative,seine der DAV-Sektion Nürnberg, von der Simi- ihnen zu Füßen aus dem Eis ragt.Der von ei- in einer kleinen Dorfgemeinschaft, die sich Gemeinde die frei gewordene Kuratenstelle „Gletscherpfarrer“, zählte zu den maßgeb- wiederholten Anträge auf Bezuschussung launhütte aufgebrochen und haben gegen ner pergamentartigen Haut überzogene durch Ackerbau und Viehwirtschaft ernähr- übernahm.Franz Senn,1831 in der Ortschaft lichen Erschließern der Ötztaler Alpen. des Wegebaus lehnten sie jedoch „als ein in Mittag den Gipfel der Fineilspitze erreicht. Kopf liegt mit dem Gesicht nach unten im te. Allerdings gibt es keinen Beleg für die Längenfeld im mittleren Ötztal geboren,war 1869 wirkte er bei der Gründung des DAV seinen Wirkungen schließlich zweifelhaftes, Es ist der 19. September 1991. Unmittelbar Gletscherwasser. Schnell macht Helmut ein kühne Annahme, bereits der Ötzi habe im beseelt von dem Gedanken, der bitteren entscheidend mit. kostspieligen Einflüssen ausgesetztes Unter- vor den Füßen des Ehepaars bricht die fels- paar Aufnahmen. Dann eilen die Simons da- Sommer Schaf- und Ziegenherden über die Armut in dem abgeschnittenen Erdenwinkel nehmen“ ab. Dem Gletscherpfarrer wurde durchsetzte Nordwand der Fineilspitze ab von, um den Fund in der nahegelegenen hohen Jöcher des Hauptkammes getrieben, an der Zweitausendergrenze ein Ende zu Kurat hatte weitergehende Pläne.Denn was immer klarer,dass die Wiener Alpenvereins- auf den Hochjochferner.Dahinter eine Glet- Similaunhütte zu melden. Nie hätten sie da- um sie auf den Hochweiden des oberen Ötz- setzen.Wenn es gelänge, die zwar schönen, nützte die schönste Unterkunft, wenn sie honoratioren sich für das Hochgebirge vor scherlandschaft von arktisch anmutenden mals geahnt, dass der von ihnen entdeckte tals zu hüten:Die Profis im Bundeskriminal- jedoch von wirtschaftlicher Not geplagten nur mühsam und gefährlich über armselige allem in theoretischer Hinsicht interessier- Dimensionen,aus der breite,wuchtige Berg- Mann im Gletscher sehr bald die Aufmerk- amt in Wiesbaden fanden weder an der Gebirgstäler den zwar betuchten, aber der Ziegenpfade zu erreichen war? Voll Gottver- ten.Kein Wunder,dass in Senn der Gedanke gestalten aufragen. Im Osten zum Greifen samkeit der Weltöffentlichkeit auf die Eisre- Mumie noch an der Ausrüstung irgendwel- Natur entfremdeten Städtern zugänglich zu trauen steckte Senn sein letztes Geld in den von der Gründung eines Alpinverbandes zu nahe der Gipfel des Similaun. Erst gestern gion im Herzen der Ötztaler Berge lenken che Spuren von Schafhaaren. Doch immer- machen, könnte beiden Seiten geholfen Bau einer Straße durch die Schluchten, die keimen begann, der dem praktischen Berg- sind sie dort drüben am Gipfelkreuz gestan- würde. hin bestätigt der Fund,dass sich Jäger,Hirten werden. seinen Kirchenflecken bislang vom unteren steigen gleichermaßen verpflichtet sein soll- den, konnten die herrliche Aussicht wegen und Händler schon vor Urzeiten an verglet- Voll Tatendrang machte sich der junge Ötztal abgeschnitten hatten und schreckte te wie den sozialen Belangen der Bevölke- des starken Nordwindes aber nicht so recht Nach Norden abgeschnitten scherte Übergänge im Alpenhauptkamm he- Kurat daran, im hinteren Ötztal eine geeig- auch nicht davor zurück, Schulden aufzu- rung im Hochgebirge. Ein Zufall kam dem genießen. Heute lassen die Simons sich da- Die Abteilung für Forensische Medizin der ranwagten. Und zwar auf Steigen, die heute nete Infrastruktur für den Fremdenverkehr nehmen.Er wurde sie bis zu seinem Lebens- Pfarrer zu Hilfe.Im August 1867 hielten sich für Zeit und dehnen die Gipfelrast aus, bis Universität Innsbruck, wo der Körper am noch begangen werden! aufzubauen. Als am 7. August 1862 in Vent ende nicht mehr los.Insgesamt 8000 Gulden die Münchner Buchhändler Trautwein und sich die Augen satt gesehen haben. Dann 23. September 1991 unter die Lupe genom- Wenn er auch zu Zeiten des Ötzi noch das neue Widum – das Pfarrhaus – einge- mussten aufgebracht werden, bis der Weg Waitzenbauer im Venter Widum auf,um von steigen sie vorsichtig über den exponierten men wurde,stellte zweifelsfrei fest,dass das nicht üblich war,so dürfte der spektakuläre weiht wurde, waren dort auch Räumlich- 1866 fertiggestellt war. hier aus Hochtouren zu unternehmen.Beide Nordostgrat hinunter in Richtung Haus- Ehepaar Simon auf einen prähistorischen Almauftrieb vom Vinschgau in die Venter keiten für 18 Fremdenbetten entstanden. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich war- zeigten für Senns Anliegen viel Verständnis. labjoch. Kurz vor dem Sattel zwingt ein Fund gestoßen war.Die anschließenden Un- Hochtäler doch weit älter sein als die Ur- Allerdings hatte die Baumaßnahme einen ten:Von nah und fern kamen die Hochtou- Als dann im Folgejahr der renommierte Schmelzwassersee das Ehepaar zu einem tersuchungen ergaben,dass der mumifizier- kunden, die ihn belegen. Zum Beispiel jene großen Teil von Franz Senns Privatvermögen risten nach Vent und brachten Wohlstand Bergsteiger Johann Stüdl von der Wildspitze Linksschlenker. Plötzlich bleibt Helmut te Leichnam rund 5000 Jahre im Gletscher vom 13. Januar 1357, die den Einwohnern verschlungen – den Erlös aus dem Verkauf ins Tal. Senn, selbst begeisterter Bergsteiger zurückkehrend das Pfarrhaus in Vent auf-

Simon stehen. Ein Gegenstand ist ihm auf- gelegen hatte. Wissenschaftler nehmen an, des Schnalstals das Recht bestätigt, ihre (2) Bernd Ritschel Fotos: des elterlichen Hofes.Doch der idealistische und ein exzellenter Kenner der Ötztaler suchte, setzte Senn alles daran, den Prager

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gung des höchsten Gipfels der Ötztaler Alpen machten dann die Einheimischen un- ter sich aus:Es ist anzunehmen,dass Leander Klotz, der bedeutendste Vertreter der Berg- führerdynastie der „Klötz von Rofen“ be- reits 1848 auf dem Südgipfel stand; dass er 1861 den 3770 Meter hohen Hauptgipfel er- reichte,steht auf jeden Fall fest. Just zu jener Zeit griff auch Kurat Senn ins alpine Er- schließungsgeschehen ein.Im Jahr 1862 ge- lang ihm zusammen mit vier Gefährten die Erstbesteigung des Vorderen Brochkogels (3565 m). Zwei Jahre später stand er als Alleingänger auf dem Ramolkogel (3550 m), gemeinsam mit seinem hochgeschätzten Bergkameraden Cyprian Granbichler folg- ten die Erstbesteigungen von Fineilspitze (3516 m), (3539 m) und Kaufmann von der Notwendigkeit der Grün- Vom Hochjochhospiz aus steigen diese Kreuzspitze (3457 m). Ein Jahr nach der In der Nähe des Brandenburger Hauses rer geschaffen worden, fanden sich die dung eines allgemeinen deutschen Alpen- Bergsteiger über den Kesselwandferner zum Gründung des DAV trug sich auch der berg- eröffnet sich der Panoramablick auf Freunde des weißen Sports erst ab Mitte der verbandes zu überzeugen. Doch die Beden- Brandenburger Haus (3272 m) auf, einer der begeisterte Präsident der Sektion Frankfurt, Weißkugel und Weißseespitze (3532 m) zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts be- ken des „Glocknerherrn“ überwogen. Senn höchst gelegenen Hütten des Gebiets. Dr. Theodor Petersen, in die Erschließer- rechts. reit, die damals unausweichlichen, elend ließ nicht locker. In einem Brief an den chronik der Ötztaler Alpen ein: Bereits am langen Talhatscher auf sich zu nehmen. Äl- „hochverehrten Freund“,verfasst am 2.April lichkeit im gesamten deutschsprachigen zweiten Tag seines fast dreiwöchigen Auf- auch nach dem Zusammenschluss von tere Kameraden meiner Sektion Stuttgart 1869,fand er deutliche Worte:„Welche prak- Raum bekannt. Die alpinistische Erschlie- enthalts im Hauptkamm schaffte der Frank- OeAV und DAV eine wichtige Rolle spielte. berichteten noch, wie sie mit ihren verbo- tische Thätigkeit kann denn ein ausschließ- ßung des Gebiets, zu der Senn selbst wich- furter Geologe gemeinsam mit den Führern Der „Centralausschuss“ des neuen Deut- ten schweren Norwegerrucksäcken beim lich in Wien ansässiger Alpenvereins-Aus- tige Beiträge geleistet hatte, war bis dato Raffeiner und Santer die erste Besteigung schen und Oesterreichischen Alpenvereins Marsch durch das Ötztal Kartoffeln hams- schuß für die entfernten Alpen entfalten...? noch nicht systematisch aufgearbeitet wor- der Karlespitze (3465 m). 1871 und 1873 beschloss 1873,Karten von den wichtigsten terten, um droben auf der Braunschweiger ... Als Beleg meiner Gedanken über einen den. Der Gipfel des Similaun, 3606 Meter durchstreifte Petersen wieder kreuz und Gruppen der „deutschen“ Alpen herstellen Hütte die Energieversorgung der Muskelfa- Allgemeinen Deutschen Alpenverein dient hoch und einer der schönsten Aussichts- quer die Ötztaler.Seine detaillierten geogra- zu lassen und mit der „centralen Oetzthaler- sern sicherzustellen. Wenn sie dann aber die Tatsache, dass sich bereits in mehreren punkte in den gesamten Alpen, wurde be- fischen Beschreibungen täuschen nicht dar- gruppe“ zu beginnen.Bereits im Jahr darauf vom Eisgrat auf die Wildspitze erzählten und größeren Städten Deutschlands Alpenklubs reits 1834 von Josef Raffeiner und dem über hinweg, dass er auch ein äußerst ehr- erscheinen in einer Auflage von 5000 von der zischenden Firnabfahrt über den gebildet haben, die sich um den Wiener Schnalser Pfarrer Theodor Kaserer betreten; geiziger Bergsteiger war – immer darauf aus, Exemplaren die Blätter „Wildspitze“ und sonnendurchfluteten Mittelbergferner,dann Alpenklub nicht kümmern.Gerade über die- allerdings kann ihm sein Salzburger Amts- weitere Erstbesteigungen einzuheimsen, so „Similaun“ im Maßstab 1:50 000,und schon leuchteten ihre Augen, als hätten sie ins se Angelegenheit möchte ich gerne so bald bruder Peter Carl Thurwieser bereits im Jahr die Texelspitze (3318 m) südlich des Haupt- 1876 liegen die übrigen vier Teilkarten vor. Paradies geschaut. als möglich mit Ihnen persönlich sprechen zuvor die Erstbesteigung weggeschnappt kammes und den Hinteren Brunnenkogel Mit Höhenlinien in 100-Meter-Sprüngen, ih- Zu jener Zeit wurden auch die klassi- – ich hoffe in München...“ Dass der haben.1847 versuchten sich die berühmten (3440 m) im Weißkamm. rer Reliefdarstellung mit SO-Beleuchtung schen Skidurchquerungen des Ötztals aus- Deutsche Alpenverein dann am 8. Mai 1869 Gebrüder Schlagintweit an der Wildspitze, Dem glühenden Ötztalfan Petersen ist es und einer farbigen Kennzeichnung der be- getüftelt,die heute wenig von ihrer Faszina- im Münchner Gasthof zur „Blauen Traube“ mussten jedoch auf einer Höhe von 3500 nicht unwesentlich zu verdanken, dass das wachsenen, der felsigen und der vom Eis tion eingebüßt haben.Die „benutzerfreund-

gegründet wurde, ist allgemein bekannt. Meter den Rückzug antreten.Die Erstbestei- Gebiet in den Aktivitäten des Alpenvereins Bernd Ritschel Fotos: bedeckten Bereiche beinhaltete das Karten- lichste“ Ötztal-Haute-Route startet in Söl- Dass es aber ein kleiner Geistlicher war,der werk revolutionäre Neuerungen. Eine Rie- den-Hochsölden und führt mit Zwischen- den hierzu notwendigen Funken ganz hin- senleistung in dieser kurzen Zeit! stopp auf der Braunschweiger Hütte (2759 ten im Ötztal zündete, ist weitgehend in Der sprunghafte Anstieg der Besucher- m) zur Wildspitze.Über das Brochkogeljoch Vergessenheit geraten. zahlen in den Hochlagen machte den Bau geht es weiter zur Vernagthütte (2766 m). geeigneter Bergsteigerhütten notwendig. Von hier aus wird der Fluchtkogel (3500 m) Voll im Focus des Vereins Die Sektion Frankfurt übernahm die Vorrei- und/oder die Kesselwandspitze (3414 m) Dabei verstand sich Franz Senn ausgezeich- terrolle und übergab am 21. Juli 1873 das bestiegen,ehe man über das Winterjöchl das net auf das,was man heute Public Relations Gepatschhaus dem Verkehr;noch im selben Brandenburger Haus (3272 m) erreicht.Am nennt. Allerdings nur, wenn es um seine Jahr wurde auch der Bau der Taschachütte andern Tag steigt man über den Gepatsch- Sache ging und nicht seine Person! Zwei en- im obersten Pitztal vollendet.Heute machen ferner – Grönland lässt grüßen! – hinauf zur gagiert geschriebene Beiträge,veröffentlicht die traditionsreichen Unterkunftshäuser des Weißseespitze (3526 m), von wo es nur in den ersten beiden Bänden der „Zeitschrift Alpenvereins – wie das hochgelegene Bran- noch bergab geht – 1700 Höhenmeter weit des Deutschen Alpenvereins“, machten das denburger Haus,die Braunschweiger Hütte, zum Gepatschhaus (1928 m) im Kaunertal. hochtouristische Potenzial der Ötztaler die Martin-Busch-Hütte, das Hochjochhos- Auf dieser Drei- bis Viertagestour bleibt das Alpen der bergsportbegeisterten Öffent- pitz und die Vernagthütte – die Ötztaler im Gewicht des Rucksacks unter der Leidens- Sommer wie im Winter zugänglich. grenze, der Tourengeher erlebt intensiv die Die Weißkugel (3739 m), einer der ein- Weiten der Ötztaler Gletscher – und nimmt drucksvollsten Berge der Ötztaler Alpen, Firnschnee last but not least noch drei Superabfahrten bricht mit mächtigen Steilflanken nach für jeden Geschmack mit. Norden ab und bietet für Alpinisten jegli- Obwohl man glauben könnte,die Gipfel der Wer seine Touren lieber von einem cher Couleur ein anspruchsvolles Ziel. zentralen Ötztaler seien speziell für Skifah- Standquartier aus unternimmt, ist mit den

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Auf dem Kulminationspunkt Nordtirols, dem Gipfel der Wildspitze (3770 m), treffen sich fast zu jeder Jahreszeit die Bergbegeisterten. Der Hintere Brochkogel (3635 m) links bietet hoch über den Eisbrüchen des Taschach- Begünstigt durch eine dichte Infrastruktur von Alpenvereinshütten ist der höchste Berg der Ötztaler Alpen für erfahrene Hochtouristen ferners ein lohnendes Ziel für ausdauernde Bergsteiger, die von seinem Gipfel aus schnell relativ leicht erreichbar. noch die Wildspitze „mitnehmen“ wollen. drei von Vent aus erreichbaren Hütten gut len Genießer in der winterlichen Vernagt- ben Tag abgehakt werden kann, mag jeder Skitouren rund um die Wildspitze beraten.Von der Martin-Busch-Hütte (2501 m) hütte haben sicher nichts dagegen, weiter- für sich selbst entscheiden. Mancher dürfte aus ist natürlich der Similaun der absolute hin unter ihresgleichen zu bleiben. aber doch ziemlich alarmiert sein, wenn er Von der Martin-Busch-Hütte Wildspitze (3770 m), (3272 m). Am nächsten Tag Renner. Dass man droben an der Mutmal- Nur ein paar Kilometer nordöstlich und von den Plänen vernimmt,auch das einsame (2501 m) bieten sich Hochvernagtspitze über den Gepatschferner auf spitze (3528 m), an der Hinteren Schwärze zwei Jöcher weiter geht es da schon deut- Rofenkarjoch in den Pitztaler Zirkus einzu- folgende Touren an: die (3539 m), Schwarzwand- die Weißseespitze (3526 m) (3628 m) und an den Marzellspitzen in al- lich turbulenter zu! Denn die „Pitz-Express“ beziehen, mit Abfahrtsmöglichkeit nach Kreuzspitze (3457 m) spitze (3467 m) oder und in einer 1700-Meter- ler Ruhe seine Bögen in den Schnee zeich- genannte unterirdische Standseilbahn bag- Vent und Verbindung zum Ötztaler Skige- sowie die anderen Gipfel des Fluchtkogel (3500 m). Abfahrt zum Gepatschhaus nen kann, dafür sorgt schon der mit gutem gert im Viertelstundentakt Ski- und Snow- biet.Der Deutsche und der Österreichische Kreuzkamms; über den Letzterer ist auch vom (1928 m) im Kaunertal. Grund berüchtigte Gletscherbruch des Mar- boardfans hinauf in die Arena des Mittel- Alpenverein beobachten die Entwicklung spaltenreichen Marzellferner Brandenburger Haus (3272 m) zellferners. An einer Besteigung der Weiß- bergferners. Viele Berge,die einst zu schöns- genau und sind bereit, das Ödland in Ötztal geht es auf Mutmalspitze anzusteuern, ebenso wie die Ötztal-Rundtour-Variante: kugel (3739 m) vom Hochjochhospiz (2423 ten Zielen von der Braunschweiger Hütte mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. (3528 m), Marzellspitzen Gipfel der Hintereisspitzen 1. Tag: von Vent auf die m) aus werden vor allem Skitourengeher aus zählten, sind durch diese Erschließung (3530 m) und Hintere (3486 m) Martin-Busch-Hütte (2501 m), Freude haben, die den langen Horizontal- für das Skibergsteigen verloren gegangen. Eisschule mit Ernstfalltouch Schwärze (3628 m); über Gipfelmöglichkeit strecken über den Hintereisgletscher etwas Ob es ein Fortschritt ist,dass die Wildspitze Eine der Ecken, die bislang von der Er- den Niederjochferner ist der Drei-/Viertagestouren: Kreuzspitze (3457 m); Positives abgewinnen können.Auch die stil- mit Hilfe der Gletscherbahn in einem hal- schließung verschont blieb, ist das obers- Similaun (3606 m) zu „Ötztal-Haute-Route“: 2. Tag: über den Niederjoch- te Pitztal. Als Ausgangspunkt für die an- erreichen. Von Sölden/Hochsölden über ferner (alternativ über den spruchsvollen Touren hier bietet sich das die Braunschweiger Hütte Marzellferner/ Mittlere Taschachhaus (2433 m) an, einer der wich- Das Hochjochhospiz (2759 m) und den Mittel- Marzellspitze) auf den tigsten Ausbildungsstützpunkte des Deut- (2423 m) dient als Ausgangs- bergferner zur Wildpitze Similaun (3606 m) und zur schen Alpenvereins.Dass er gut gewählt ist, punkt für den langen (3770 m), über das Broch- Similaunhütte (3019 m); wird jeder bestätigen, der sich, qualifiziert Marsch über den endlosen kogeljoch zur Vernagthütte 3. Tag: über das Hauslabjoch angeleitet durch Mitglieder des DAV-Lehr- Hintereisgletscher auf die (2766 m). Von hier auf den Abfahrt zum Hochjochhospiz teams, im Gletscherbruch des Taschachfer- Weißkugel (3739 m), Fluchtkogel (3500 m) und/ (2423 m), Aufstieg zu den ners mit Spaltenbergung und Steileisklet- während die Vernagthütte oder die Kesselwandspitze Guslarspitzen (3073 m) tern vertraut gemacht hat. Prüfungstour für (2766 m) eine ganze Reihe (3414 m) und via Winterjöchl und Abfahrt zur Vernagthütte viele Kurse ist eine Durchsteigung der Ta- lohnender Ziele bietet: auf das Brandenburger Haus (2766 m); schacheiswand, die mit 600 Höhenmetern 4. Tag: Aufstieg über den fast schon westalpine Dimensionen auf- Die Vernagthütte Vernagtferner zum Broch- weist. Auf dem 3365 Meter hohen Gipfel ist während der kogeljoch (3423 m) und zur der Taschachwand hat man die erste Etappe Tourensaison von Wildspitze (3770 m), Anfang März bis Abstieg/Abfahrt über Mitte Mai für Mitterkarjoch (3468 m), Skibergsteiger Mitterkarferner und Breslauer Auf dem Weg zur Wildspitze gleiten geöffnet. Hütte (2840 m) nach Vent. diese Skitouristen über noch unberührte Schneehänge.

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Hinterer Brochkogel und Wildspitze im letzten Leuchten der Wintersonne.

Bernd wieder ganz der alte:Total begeistert von Ernsts Vorschlag, unser antizyklisches Verhalten mit einer Begehung der Similaun- Nordwand in der Wintersonnwendnacht auf die Spitze zu treiben. Im letzten Büchsen- licht bohren wir über den Niederjochferner. Fasziniert beobachte ich ein Düsenflugzeug, das mit leuchtend rotem Kondensstreifen über uns seine Bahn zieht,als sich unter mir eine Falltür öffnet. Ich werfe mich nach vorn, die Füße strampeln im Leeren. Leise fluchend arbeite ich mich aus dem Loch her- aus, ignoriere das Kichern hinter mir und spure weiter in Richtung Similaun-Nord- westgrat. Wie wir von einer markanten Gratschulter aus schräg zum Einstieg der Nordwand absteigen,ist es bereits stockfins- ter. Hier und da haben sich labile Locker- des berühmten „Eis-Express“ hinter sich,ei- sichert robbe ich zu dem Loch, durch das schneedepots gebildet,so dass wir sorgfältig nem klassischen Ensemble von vier winzi- Bergfreund Bernd in die Unterwelt abge- sichern, um nicht mit einer Lahn drunten gen bis mittelgroßen Eiswänden zu einem taucht ist.Der hängt rund zwanzig Meter tie- auf dem Marzellferner zu landen. In der veritablen Marathonunternehmen.Die nächs- fer in einer riesigen A-Spalte, die sich unter Wand dann ein ähnliches Bild: Sprödes ten beiden Etappen des Eis-Expresses – die ihm im bläulichen Dunkel verliert.Jetzt erst Blankeis mit Pulverauflage, was uns dazu Nordwand der (3484 m) und stellen wir fest,dass wir der Länge nach über zwingt, äußerst vorsichtig Seillänge um die Nordwestwand des Hinteren Brochko- eine zugeschneite Spalte marschiert sind! Seillänge höher zu steigen. Inzwischen ist gels (3635 m) – werden von den meisten Der Schreck und die mühsame Werkelei mit der Mond aufgegangen und taucht das Aspiranten noch bewältigt. In der Wildspit- den Prusikschlingen fordern ihren Tribut. Gebirge um uns in geheimnisvolles, silber- ze-Nordwand sind dann nur noch die Kon- Als Bernd endlich der kühlen Kluft entstie- nes Licht.Es scheint,als seien nur wir in der ditionsstarken und die Verbissenen mit von gen ist,verzichtet er auf die Fortsetzung der Nordwand zu einem Schattendasein ver- der Partie.Wer die gesamte Schinderei mit Tour.Er zieht es vor,an Ort und Stelle auf uns dammt. Irgendwann erreicht Ernst die Gip- ihren 1300 Höhenmetern im Aufstieg hinter zu warten.Ernst und ich überlassen ihm un- felwächte, schlägt sich eine Ausstiegskerbe sich gebracht hat, dem wird das Lächeln sere Daunenjacken und spuren, was die und entschwindet. Bald straffen sich die über die „kleinen Eiswände“ im Ötztal Lungen hergeben,zum Bergschrund hinauf, Seile. Im Fünfmeterabstand überwinden gründlich vergangen sein! der den Einstieg in die Nordwand der Hin- auch Bernd und ich das letzte Hindernis und Die Anforderungen und Gefahren, aber teren Schwärze markiert. Im griffigen Firn treten hinaus ins Licht des fast vollen auch die Schönheit der Eistouren in der der Eisflanke binden wir uns vom Seil los Mondes, der über dem schlafenden Vinsch- Hochregion des Ötztals werden gar zu häu- und steigen in ruhigem Rhythmus neben- gau steht. fig unterschätzt. Und nicht jeder hat soviel einander weiter. Schade, dass Bernd nicht Glück wie wir damals kurz vor Weihnachten dabei ist! Vom Gipfel aus erkennen wir ihn auf dem Marzellferner. In der Morgendäm- als kleinen verlorenen Punkt auf dem Nicholas Mailänder, ehemaliger Mitarbeiter merung waren wir zu dritt von der Martin- Gletscher. der Bundesgeschäftsstelle des DAV, ist seit Busch-Hütte aufgebrochen und strebten Als wir am frühen Abend des nächsten 1964 im Hochgebirge unterwegs und u.a. ein dem Einstieg der Hinteren Schwärze-Nord- Tages die Hüttentür hinter uns schließen,ist guter Ötztalkenner. wand entgegen.Ernst und ich hatten uns an- geseilt, Bernd lehnte es vehement ab, sich „auf dem fast aperen Gletscher“ an den Strick zu binden. Um mir im Falle eines Falles keine Vorwürfe machen zu müssen, versuchte ich es mit einem Dringlichkeits- antrag. Brummend bindet er sich ein. Keine 100 Meter weiter reißt ein scharfer Ruck Am Südostgrat des Ernst und mich rückwärts aus dem Stand. Hinteren Brochkogels folgt Reflexartig dreschen wir die Pickelhauen dieser Bergsteiger den ins Blankeis und fixieren dann das Seil an Spuren des einstigen zwei Eisschrauben.Über uns spannt sich der Erstbegehers Franz Senn, blaue Himmel, wir sind meilenweit die ein- der diese Route mit seinem zigen Menschen – und fühlen uns gar nicht Führer Cyprian Granbichler

so unwohl dabei.An der Prusikschlinge ge- 1868 entdeckt hatte. Bernd Ritschel Fotos:

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