2 Äu s s e r e Be r ü h r u n g s p u n k t e : Ge g e n s ei t i g e Ei n s c h ä t z u n g u n d Ke n n t n i s n a h m e 6

Rilke (geb. 4. 12. 1875 in Prag) und Klee (geb. 18. 12. 1879 in Bern) kamen 1915 während des Krieges in München in näheren Kontakt miteinander, vermutlich im Kreis um den Dichter und Philosophen sowie -Anhänger Karl Wolfs- kehl.7

6 spannend wäre auch ein Vergleich ihrer Biographien, für die hier nicht genügend Raum ist. Ihrer beider Leben weist Ähnlichkeiten auf, die über das übliche Maß von Zeitgenos- senschaft und ähnlicher Profession hinausgehen: Beide sind im Dezember geboren, beide wählen, aus dem Ausland stammend (Österreich/Tschechien bzw. Schweiz), München als Ausgangspunkt für ihre künstlerische Entwicklung, Rilke kommt 1896 in die Stadt, Klee zwei Jahre darauf, 1898. Rilke heiratet 1901, Klee verlobt sich im Jahr darauf, beide haben ein Kind (in der Einstellung zur Familie unterscheiden sie sich jedoch krass: Während Rilke sich schon nach einem Jahr von seiner Familie wieder trennt, benutzt Klee die Bürgerlich- keit der Ehe als Schutzschild, betreut die ersten Jahre als malender Hausmann den Sohn, während seine Frau mit Klavierstunden Geld verdient). Beide sind von der Kunst Cezan- nes sehr beeindruckt, Rilke 1907, Klee 1909. Beide reisen nach Kairuan, wieder ist Rilke der frühere (1910/11, Klee 1914). Beide lesen mit großer Zustimmung Worringers Buch ‚Abstraktion und Einfühlung‘ (1908 erschienen), sie bewegen sich in München in densel- ben geistigen Kreisen, haben gemeinsame Bekannte (z.B. Hausenstein, Wolfskehl). Beide schließlich sterben in der Schweiz, die sie als Exil und Heimat wählen an einer seltenen Autoimmunkrankheit (Rilke 1926 mit 51 Jahren an Blutkrebs, Klee 1940 mit 60 Jahren an Sklerodermie, wobei die Art der Krankheit ein Spiegel ihrer jeweiligen Lebensführung ist: die Exaltiertheit des Gefühls bei Rilke, die Zurücknahme und Verschlossenheit des Gefühls bei Klee). 7 klee lernt Wolfskehl 1912 kennen (siehe Tagebuchnotiz Nr. 914: „Wolfskehl bei Münter kennengelernt“), der 1914 eines der Tunis-Aquarelle Klees erwirbt (vgl. Klee: Tgb. 926m, Fußnote 9). Wann genau Rilke Wolfskehl kennenlernt, ist nicht nachweislich datierbar, auch wenn Storck schreibt „Rilkes erste Begegnung mit Karl Wolfskehl verdankt sich einem Anlaß, der ihn auch zum erstenmal mit Stefan George zusammenbrachte. Er war dies die mehrfach geschilderte und später legendär verklärte erste öffentliche Lesung Georges im Haus des Berliner Maler-Ehepaares Reinhold und Sabine Lepsius am 14. November 1897.“ (Storck, Joachim W.: „Rilke – Wolfskehl – Gundolf“, in: Blätter der Rilke-Gesellschaft 14 (1987), S. 119-140; 122), die beiden waren jedoch während der Kriegszeit in München freundschaftlich verbunden (vgl. Schnack, Ingeborg: . Chronik seines Lebens und seines Werkes. Zweite, neu durchgesehene und ergänzte Auflage, Frankfurt/M.: Insel, 1996, S. 643). Es steht zu vermuten, daß Rilke und Klee sich schon vor 1915 be- gegnet sind, dafür gibt es aber keine Belege. Tagebuchstellen Klees: . Tagebücher 1898-1918. Textkritische Neuedition, bearbeitet von Wolfgang Kersten, hrsg. v. d. Paul-Klee- Stiftung Kunstmuseum Bern, Stuttgart: Hatje, 1988 (im folgenden zitiert als ‚Klee: Tgb.‘ mit Angabe der Nummer des Eintrags.

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Lou Albert-Lasard, damalige Wegbegleiterin Rilkes und selbst Malerin, erzählt, daß Klee „sanft, still und innerlich [...] öfters Violine auf unserer Terrasse im Mond- schein spielte“ und sie zusammen auch manchmal zu Konzerten bei Klee eingeladen waren.8 Vom 8. Mai 1918 bis zum 11. Juni 1919 sind Klee und Rilke dann sogar Wohnungsnachbarn im Künstlerviertel , in der Ainmillerstraße (Klee wohnt in Nr. 32, Rilke in Nr. 34).9 Wesentlicher aber dürfte die künstlerische Be- gegnung gewesen sein, die im Frühjahr 191510 stattfand: Auf Vermittlung des Kunstsammlers Hermann Probst hatte Klee Rilke „eine kleine Kollektion“11 seiner Arbeiten, Rilke spricht im Rückblick einmal von „etwa vierzig seiner Blätter“12, ein- mal von „sechzig seiner Blätter – farbige“13, zukommen lassen, welche Rilke „mona- telang“ behielt und dann persönlich wieder zurückbrachte. Rilke schreibt, daß ihn diese Blätter „vielfältig angezogen und beschäftigt“ hätten, „zumal soweit Kairouan, das ich kenne, darin noch zu gewahren“14 gewesen sei. Es ist also davon auszugehen, daß es sich vor allem um Aquarelle der Tunisreise Klees gehandelt hat, wobei auch graphische Arbeiten dabeigewesen zu sein scheinen, da Klee als Kommentar in sein Tagebuch schreibt: „Die Graphik, wo ich am weitesten bin, beachtete er / auch we- niger als die farbige Gegend, die noch im Heranwachsen / begriffen ist.“15 Lou Al- bert-Lasard schreibt dazu:

Vielleicht ist es dem langen Kontakt mit seinen [Klees, pr] Werken zu danken, daß Rilke begann, die heutige Kunst zu fühlen, wenngleich ich nicht sicher bin, ob es nicht die damals noch sehr lyrische und romantisch betonte Seite Klees war, die Rilke ebenso fesselte wie seine subtile Musikalität, welche gleich gegenwärtig in seiner Ma- lerei wie in seinem Spiel war.16

8 Albert-Lasard, Lou: Wege mit Rilke, Frankfurt/M.: Fischer, 1952, S. 95 ff. 9 Vgl. auch Hausenstein, Wilhelm: Kairuan oder die Geschichte vom Maler Klee, München: Kurt Wolff Verlag, 1921, S. 21: „Linkerhand läßt ein Tor zur Wohnung des Dichters Ril- ke ein. Zur Rechten führt der Weg […] zur Wohnung des Malers Klee.“ Klee und Rilke scheinen zwischen 1915 und 1919 auch in schriftlichem Austausch gestanden zu haben, im Klee-Archiv finden sich zwei Briefe Rilkes an Klee, dem späteren ist zu entnehmen, daß auch Klee an Rilke geschrieben haben muß. 10 Daß es in der frühen ersten Hälfte des Jahres 1915 gewesen sein muß, geht aus den Tage- buchaufzeichnungen Klees hervor: Klee verbringt den Sommer 1915 in Bern, die Aufzeich- nung 959, welche die Begegnung mit Rilke schildert, liegt davor. In Bern vermisst er seinen Münchner Freundeskreis, unter den Bekannten, die er namentlich nennt findet sich neben Däubler, Wolfskehl und Kandinsky auch Rilke: „Der feine Rilke muss uns etwas aus Tunis erzählen.“ (Klee: Tgb. 963). 11 klee: Tgb. 959 (München 1915). 12 Brief an Wilhelm Hausenstein vom 23. Februar 1921. Abgedruckt in: Herman Meyer: „Die Verwandlung des Sichtbaren“, a.a.O., S. 335 - 336; 336. 13 Brief an Baladine Klossowska (Merline) vom 28. Februar 1921. In: Rilke, Rainer Maria: Briefe in zwei Bänden, hrsg. v. Horst Nalewski, Frankfurt/M.: Insel, 1991. Bd. 2, S. 128- 130; 129. 14 ebd. 15 klee: Tgb. 959. 16 Albert-Lasard a.a.O., S. 95.

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