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Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne castrum peregrini Neue Folge, Band 7 Herausgegeben von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann und Ernst Osterkamp Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne Herausgegeben von Jürgen Brokoff, Joachim Jacob und Marcel Lepper Inhalt Jürgen Brokoff, Joachim Jacob und Marcel Lepper Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne. Zur Einführung . 9 Hellingrath – Hölderlin – George. Bernhard Böschenstein im Gespräch mit Ulrich Raulff und Jürgen Brokoff . 15 I. Ästhetik, Kunsttheorie und Poetologie Aage A. Hansen-Löve Ein zu Hellingrath hinzugedachtes Russland der Dichter . 33 Jürgen Brokoff Norbert von Hellingraths Ästhetik der harten Wortfügung und die Kunsttheorie der europäischen Avantgarde . 51 Rainer Nägele Norbert von Hellingrath und Walter Benjamin. Zu einer kritischen Konstellation . 71 II. Dichterische Konstellationen Joachim Jacob Norbert von Hellingrath im Horizont zeitgenössischer Sprachästhetik: Hugo von Hofmannsthal, Theodor Lipps und Wilhelm Dilthey . 87 Gunilla Eschenbach Wie dichtet der ›Urgeist‹? Hellingraths Konzept der harten Fügung . 107 Kurt Wölfel Norbert von Hellingrath und Hölderlins dichterische Verkündung. Ein Vortrag. 119 6 inhalt Eugen Dönt Pindars Siebente Olympische Ode, Hölderlins Feiertagshymne und Celans Tübingen: Hellingraths Begriff vom ›Dichterischen‹ 135 Ute Oelmann Hellingrath und der George-Kreis . 147 Birgit Wägenbaur Norbert von Hellingrath und Karl Wolfskehl. Eine biographische Skizze . 161 Jörg Schuster Norbert von Hellingraths Hölderlin, Rainer Maria Rilke und der Erste Weltkrieg. Zur Geschichte einer Koinzidenz . 191 III. Philosophie und Wissenschaft Gerhard Kurz Wortkunst. Zum ästhetischen und poetologischen Horizont von Hellingraths Hölderlin-Ausgabe . 209 Jutta Müller-Tamm »Die Zweipoligkeit aller Kunst«. Stildualismen um 1900 . 231 Francesco Rossi ›Vom Wort ergriffen‹. Weltanschauliche Verflechtungen der frühen Hölderlin-Philologie. Norbert von Hellingrath im Dialog mit Ludwig Klages und Henri Bergson . 245 Yvonne Wübben Wissenstransfer zwischen Philologie und Pathographie: Norbert von Hellingrath liest Wilhelm Lange-Eichbaums Hölderlin-Studie . 267 inhalt 7 IV. Dokumentation und Edition Klaus E. Bohnenkamp Norbert von Hellingrath und Hugo von Hofmannsthal. Eine Dokumentation . 293 Maik Bozza Norbert von Hellingraths Über Verlaineübertragungen von Stefan George. Einleitung und Edition . 361 Anhang Personenregister . 395 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . 403 Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne Zur Einführung Als Norbert von Hellingrath im Sommer 1911 seine soeben als Buch erschienene Dissertation Pindarübertragungen von Höl- derlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe an den in Heidelberg lehrenden Germanisten Friedrich Gundolf schickt, liest dieser die Arbeit unverzüglich und antwortet dem jungen Hölderlin-For- scher postwendend. Er, Gundolf, habe die sofortige Lektüre nicht bereut, denn die Arbeit sei ein »reines und gutes Paradigma«: Hellingrath habe es vermocht, im »grammatisch Konkreten, in den satzgefügen, im greifbarst philologisch sachlichen […] das Werk- und Wesenkonstituierende eines Menschen, einer Dicht- kunst, einer geistigen Gesamtepoche zu packen.«1 Aufgehoben sei damit die »unselige Trennung zwischen ästhetischer und phi- lologischer, zwischen sinnlicher und geistiger Betrachtung«, und dass Hellingrath dies am Beispiel von Hölderlins Werk vor- geführt habe, freut Gundolf besonders. In der Tat leitet Hellingrath, der 1888 in München als Sohn eines Offiziers und der Angehörigen eines alten Fürsten- geschlechts geboren wird und seit 1906 in der bayerischen Haupt- stadt Philologie und Philosophie studiert, mit seinen Arbeiten zu Hölderlin die umfassende Wiederentdeckung eines Autors ein, der im 19. Jahrhundert mit dem Stigma der Geisteskrankheit be- haftet war und heutzutage aus dem Kernbestand der deutschspra- chigen Literatur nicht mehr wegzudenken ist.2 Zu diesen Arbei- ten zählen neben der von erheblichen akademischen Widerstän- den begleiteten Dissertation die Veröffentlichung von Hölderlins Pindarübersetzung im Umfeld des George-Kreises und die seit 1 »Briefe aus Norbert von Hellingraths Nachlaß. Mitgeteilt von Ludwig von Pigenot«, in: Hölderlin-Jahrbuch 13 (1963/64), S. 104-146, hier S. 116. 2 Die beste Einführung in Hellingraths Leben und Werk bietet: Heinrich Kaulen, »Der unbestechliche Philologe. Zum Gedächtnis Norbert von Hellingraths (1888-1916)«, in: Hölderlin-Jahrbuch 27 (1990/91), S. 182- 209, dazu auch ders., »Norbert von Hellingrath«, in: Internationales Germanistenlexikon, hg. und eingeleitet v. Christoph König, bearb. v. Birgit Wägenbaur zusammen mit Andrea Frindt u. a., Bd. 2, Berlin 2003, S. 712 f. 10 zur einführung 1913 veröffentlichten ersten Bände einer historisch-kritischen Hölder- lin-Ausgabe, die das Gesamtwerk des Dichters der Öffentlichkeit zu- gänglich machen und bis zum Erscheinen der von Friedrich Beißner besorgten Stuttgarter Ausgabe auch in editorischer Hinsicht Maßstäbe setzen. Die Konsequenzen, die aus der Leistung Hellingraths gezogen wer- den müssen, sind nach Gundolfs Ansicht weitreichend. Sie gehen über die Beschäftigung mit Hölderlin hinaus. Im gleichen Brief an Hel- lingrath schreibt er: Die Philologen sollen sich nicht mehr mit der bloßen Zusammen- stellung und Deskription von isolierten Grammatikalien und Rea- lien begnügen dürfen; die Ästhetiker nimmer mit der Abtastung von Formen, die Philosophen nimmer mit einer Ausdeutung des Ideengehalts einer Dichtung.3 Folgen Philologen, Ästhetiker und Philosophen nicht mehr länger den eingefahrenen Bahnen ihrer jeweiligen Disziplin, sind »gegenseitige Competenzkonflikte[…]«,4 von denen Gundolf in seinem Brief eben- falls spricht, vorprogrammiert. Werk und Wirkung Hellingraths bie- ten hierfür lehrreiches Anschauungsmaterial. Mit seiner unkonven- tionellen Dissertation, die Hölderlins Übersetzungen und die späten Gedichte rehabilitiert, provoziert Hellingrath die etablierte Wissen- schaft, die, wie Hellingraths Lehrer Friedrich von der Leyen berichtet, kein Interesse daran zeigt, sich mit den »Dichtungen eines Verrückten«5 abzugeben. Auch in editionsphilologischer Hinsicht schlägt Hel- lingrath heftiger Widerstand entgegen. Der Germanist Franz Zinker- nagel, der zeitgleich mit und in Konkurrenz zu Hellingraths histo- risch-kritischer Ausgabe Hölderlins Werke im Insel Verlag ediert, wirft Hellingrath nicht nur in pathologisierender Absicht eine bizarre Empfänglichkeit für den »Reiz aller geisteskranken Dichtung«6 vor, sondern kritisiert auch, dass dieser der schwärmerische Anhänger einer ästhetischen »Doktrin«7 sei, die mit dem Werk und der Person Stefan Georges verbunden ist.8 In die gleiche Richtung zielt einige Jahre 3 Briefe aus Hellingraths Nachlaß (Anm. 1), S. 116. 4 Ebd. 5 Friedrich von der Leyen, »Norbert von Hellingrath und Hölderlins Wieder- kehr«, in: Hölderlin-Jahrbuch 11 (1958/60), S. 1-16, hier S. 4. 6 Franz Zinkernagel, »Rez. [Hölderlin, Sämtliche Werke, Band 5]« in: Euphorion 21 (1914), S. 356-363, hier S. 359. 7 Ebd., S. 358. 8 Vgl. dazu Jürgen Brokoff, »D er ›Hunneneinbruch in die civilisirte literarhisto- rie‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. April 2010, S. N4. zur einführung 11 später Georges Antipode Rudolf Borchardt, der in einem Brief an Max Rychner Hellingrath als »schlecht beraten und gewissenlos verführt«9 bezeichnet, weil dieser unter dem Einfluss der Schule Georges aus dem »Schnitzelhaufen der Hölderlin-Nachlässe jene Karikatur einer voll- ständigen Ausgabe machte, der jedes Kriterium und jede Unterschei- dung künstlerischen Willens von irrer Federübung bis zur Aussichts- losigkeit gebricht.«10 Diesem heftigen Widerstand korrespondiert auf der anderen Seite die empathische Zustimmung für das Wirken Hellingraths. Anzufüh- ren ist zum einen der produktive Einfluss, den der Hölderlinforscher auf literarische Autoren wie Stefan George und Rainer Maria Rilke ausübt.11 Zum anderen stößt Hellingraths Arbeit auf großes Interesse bei so unterschiedlichen Philosophen wie Walter Benjamin und Mar- tin Heidegger. Benjamin wollte Hellingrath nicht nur seinen Aufsatz über Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin zu lesen geben, ein Plan, der durch Hellingraths frühzeitigen Tod 1916 in der Schlacht vor Ver- dun zunichte gemacht wurde; auch die Kunst- und Übersetzungstheo- rie von Benjamin verdankt Hellingrath wichtige Einsichten. Heidegger schließlich würdigt auf seine Weise Hellingrath, indem er seine 1936 entstandene Rede Hölderlin und das Wesen der Dichtung dem Ge- dächtnis des Gefallenen widmet und diesen nach dem Zweiten Welt- krieg einen »Zeigenden«12 nennt, der vor Augen geführt habe, »wohin man sehen soll.«13 Vor diesem Hintergrund haben es sich die Beiträge des vorliegenden Bandes zur Aufgabe gemacht, Hellingraths Werk und Wirkung um- 9 Zitiert nach Bruno Pieger, »Edition und Weltentwurf. Dokumente zur histo- risch-kritischen Ausgabe Norbert von Hellingraths«, in: Werner Volke u. a., Hölderlin entdecken. Lesarten 1826-1933, Tübingen 1993, S. 57-114, hier S. 87. 10 Ebd. 11 Vgl. dazu Paul Hoffmann, »Hellingraths ›dichterische‹ Rezeption Hölderlins«, in: Gerhard Kurz, Valérie Lawitschka und Jürgen Wertheimer (Hg.), Hölder- lin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995, S. 74-104, hier bes. S. 88; Klaus E. Bohnenkamp (Hg.), Rainer Maria Rilke – Norbert von Hellingrath. Briefe und Dokumente, Göttingen 2008. 12 Martin Heidegger, »Hölderlins Erde und Himmel«, in: ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt