Mitteilungen DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHES UND INTERNATIONALES PARTEIENRECHT UND PARTEIENFORSCHUNG

Aus dem Inhalt

Dipl.-Pol. Thomas Bathge/Caroline Friedhoff, M.A. Soz./Prof. Dr. Lars Holtkamp Innerfraktionelle Geschlossenheit in bundesdeutschen Kommunalparlamenten

Sven Jürgensen Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten

Dr. Johannes Risse Die Entscheidungen des Bundeswahlausschusses zur Bundestagswahl 2013 und zur Europawahl 2014 Sara Y. Ceyhan, M.A. Eine Frage der politischen Ebene? − Parlamentskandidaten mit Migrations- hintergrund auf Bundes- und Landesebene

Simon Bogumil Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa. Eine Ursachenanalyse

Julien Neubert, M.A. Treibender oder getriebener Akteur? Der programmatische Wandel Labours und der SPD in der Opposition

Deniz Anan National, liberal, konservativ, populistisch? Die Programmatik der AfD

Michael Angenendt, M.A. Kooperation oder Konflikt? Vorzeitige Regierungsbeendigungen und elektorale Performanz in Westeuropa

Dipl. Pol. Tobias Fuhrmann, M.A. Kommunale Konkordanzdemokratie in Sachsen. Eine Untersuchung der MIP 2015 Parteipolitisierung der sächsischen Kommunalpolitik 21. Jahrgang Michael Dürr, M.A. ISSN 2192-3833 Same same but different? – Ein Vergleich langjähriger und neueingetretener Parteimitglieder von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg

Dr. Andrea De Petris Herausgegeben vom Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand und neue Entwicklungen der Parteien- Institut für Deutsches finanzierung in Italien und Internationales Parteienrecht und Johannes Schmitt Computersimulationen als Werkzeug in der Politikwissenschaft: Chancen und Parteienforschung Nutzen agentenbasierter Modellbildung

Herausgeber

Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF)

Prof. Dr. Martin Morlok Prof. Dr. Thomas Poguntke

Das Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung ist eine zentrale interdisziplinäre wissenschaftliche Einrichtung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gem. § 29 Abs. 1 S. 1 HG NW.

Zitierweise: MIP 2015, S.

Erscheint jährlich.

Der Bezug ist kostenfrei. Sie können das PRuF als Herausgeber des MIP mit einer Spende unterstützen: Konto: 161 0211 bei der Helaba BLZ: 300 500 00 Empfänger: Heinrich-Heine-Universität Verwendungszweck: MIP 17 00 00 00 00

Redaktion Dr. Alexandra Bäcker

Layout Dr. Alexandra Bäcker

Postanschrift Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung Universitätsstraße 1 Geb. 23.31 Raum 01.35 D – 40225 Düsseldorf Tel.: 0211/81-15722 Fax: 0211/81-15723 E-Mail: [email protected] Internet: www.pruf.de MIP 2015 21. Jhrg. Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Nachruf – Zum Gedenken an Dimitris Stefanou ...... 4

Aufsätze

Innerfraktionelle Geschlossenheit in bundesdeutschen Kommunalparlamenten ...... 5 Dipl.-Pol. Thomas Bathge/Caroline Friedhoff, M.A. Soz./Prof. Dr. Lars Holtkamp

Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten ...... 13 Sven Jürgensen

Die Entscheidungen des Bundeswahlausschusses zur Bundestagswahl 2013 und zur Europawahl 2014 ...... 25 Dr. Johannes Risse

Eine Frage der politischen Ebene? − Parlamentskandidaten mit Migrationshintergrund auf Bundes- und Landesebene ...... 31 Sara Y. Ceyhan, M.A.

Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa. Eine Ursachenanalyse ...... 40 Simon Bogumil

Treibender oder getriebener Akteur? Der programmatische Wandel Labours und der SPD in der Opposition ...... 51 Julien Neubert, M.A.

National, liberal, konservativ, populistisch? Die Programmatik der AfD ...... 61 Deniz Anan

Kooperation oder Konflikt? Vorzeitige Regierungsbeendigungen und elektorale Performanz in Westeuropa ...... 72 Michael Angenendt, M.A.

1 Inhaltsverzeichnis MIP 2015 21. Jhrg.

Kommunale Konkordanzdemokratie in Sachsen. Eine Untersuchung der Partei- politisierung der sächsischen Kommunalpolitik ...... 83 Dipl. Pol. Tobias Fuhrmann, M.A.

Same same but different? – Ein Vergleich langjähriger und neueingetretener Partei- mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg ...... 92 Michael Dürr, M.A.

Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand und neue Entwicklungen der Parteien- finanzierung in Italien ...... 101 Dr. Andrea De Petris

Computersimulationen als Werkzeug in der Politikwissenschaft: Chancen und Nutzen agentenbasierter Modellbildung ...... 110 Johannes Schmitt

Gesteuerte Stratarchie: Innerparteiliches Kampagnenmanagement im Bundestagswahlkampf 2013 ...... 121 Dr. Sebastian Bukow

Wer demonstriert in Dresden für Pegida? Ergebnisse empirischer Studien, methodische Grundlagen und offene Fragen ...... 133 Prof. Dr. Karl-Heinz Reuband

„Aufgespießt“

Was uns die Eurpäische Wertestudie über PEGIDA verraten kann ...... 144 Dr. Simon Tobias Franzmann

Drei Finger der eigenen Hand ...... 148 Philipp Krieg

Ein Lehrstück bundespräsidialer Sachlichkeit – Zu den Grenzen der Redefreiheit des Bundespräsidenten ...... 151 Dr. Alexandra Bäcker

2 MIP 2015 21. Jhrg. Inhaltsverzeichnis

Rechtsprechung und Literatur

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung ...... 154 1. Grundlagen zum Parteienrecht ...... 154 Dr. Alexandra Bäcker 2. Chancengleichheit ...... 160 Sven Jürgensen 3. Parteienfinanzierung ...... 163 Dr. Heike Merten 4. Parteien und Parlamentsrecht ...... 165 Jasper Prigge 5. Wahlrecht ...... 170 Sven Jürgensen Rezensionen ...... 175 Rechtsprechungsübersicht ...... 202 Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung ...... 206

PRuF intern

Vortragstätigkeiten und Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter...... www.pruf.de

3 Nachruf MIP 2015 21. Jhrg.

Nachruf Die zahlreichen betroffenen Trauerbekundungen vie- ler Amts- und Würdenträger Griechenlands und das große Medienecho auf die traurige Nachricht belegen Zum Gedenken an Dimitris Stefanou eindrucksvoll das von allen Seiten – über die politi- schen Lager hinweg – hochgeschätzte und aufopfe- rungsvolle Wirken von Dimitris Stefanou zum Wohle Griechenlands. Das Verbindende, die beeindruckende Gabe, auf Menschen zuzugehen und auf sie einzugehen, zeich- nete Dimitris Stefanou in allen Lebensbereichen aus. Die ihm eigene, wertvolle Dialog- und Kompromiss- fähigkeit färbte unweigerlich auf seine Umgebung ab. Dabei war dies mehr als nur diplomatisches Ge- schick, vielmehr Folge seines stets spürbaren ehrli- chen Interesses an und aufrichtigen Respekts für sei- ne Mitmenschen. Diese bemerkenswerten Charaktereigenschaften präg- ten auch sein wissenschaftliches Arbeiten hier am In- stitut. Er vermochte mit echter Schaffensfreude offen Wir nehmen Abschied von Dimitris Stefanou, dem und leidenschaftlich zu diskutieren, ohne darauf be- ehemaligen Geschäftsführer des PRuF, einem lie- dacht zu sein, Recht zu behalten – wenngleich die benswerten Kollegen und außergewöhnlichen Men- Leichtigkeit, mit der er neue Gedanken verfolgte und schen. Er starb am 28. Juli 2014 in Athen viel zu sogleich die richtigen Folgerungen aus ihnen zog, früh im jungen Alter von 46 Jahren. ihn üblicherweise Recht behalten ließ. Die überaus große Wertschätzung, die Dimitris Stefanou entgegen- Dimitris Stefanou wurde 1968 in Athen geboren. Er gebracht wurde, galt aber nicht nur seinem juristi- studierte Rechtswissenschaften an der Aristoteles schen Ausnahmetalent, sondern vor allem dem auf- Universität Thessaloniki und an der Johann Wolfgang rechten, freundlichen, humorvollen und inspirieren- Goethe-Universität Frankfurt am Main. Es folgten den Menschen. die Staatsexamina 1989 in Thessaloniki und 1991 in Athen. Im Anschluss verstärkte er seit Institutsgrün- Dimitris Stefanous Lebenswerk zeigt seine zweifa- dung im Jahre 1991 das wissenschaftliche Mitarbeiter- che Verwurzelung in Wissenschaft und praktischer team des PRuF unter der damaligen Leitung von Politik. Er hat in seinem kurzen Leben viel erreicht Prof. Dr. Dimitris Th. Tsatsos† und übernahm in den und bewegt. Ein Leben mit Folgen, für seine Mit- Jahren 1994 bis 1996 die Geschäftsleitung des Insti- menschen und sein Heimatland, das noch lange tuts. Danach zog es ihn zurück in die Heimat, und er nachwirken wird. stellte seine unschätzbaren, vielfältigen Talente wie- Viel zu früh aus dem Leben gerissen, hinterlässt Dimitris der unmittelbar in den Dienst Griechenlands. Zu- Stefanou im Leben derer, die das Glück hatten, ihm nächst arbeitete er dort als wissenschaftlicher Mitar- zu begegnen, viele Spuren. Wir werden ihn in dank- beiter im Büro des Rechtsberaters des damaligen barer Erinnerung behalten. Premierministers Konstantinos Simitis und wechsel- te dann in den Stab des damaligen Außenministers Diese Ausgabe der Mitteilungen des Instituts für Giorgos Papandreou. Er engagierte sich stark in der Deutsches und Internationales Parteienrecht und Par- Zypern-Frage und unterstützte die Inselrepublik bei teienforschung ist ihm gewidmet. den Beitrittsverhandlungen zur EU. Bis zum Jahr Unser tief empfundenes Mitgefühl gilt seinen Ange- 2009 leitete er das Sekretariat des Politischen Rates hörigen und allen, die ihm nahestanden. der PASOK und wurde dann Generalsekretär des Ministeriums des Inneren (2009-2011), anschließend des Ministeriums für Medien (2011-2012) und Düsseldorf, im März 2015 schließlich des Ministeriums für Verwaltungsreform und E-Government (2012-2014). Institutsleitung, Kolleginnen und Kollegen

4 MIP 2015 21. Jhrg. Bathge/Friedhoff/Holtkamp – Innerfraktionelle Geschlossenheit in bundesdeutschen Kommunalparlamenten Aufsätze

Innerfraktionelle Geschlossenheit in bundes- positiv auswirken, dass die abhängige Variable „in- deutschen Kommunalparlamenten nerfraktionelle Geschlossenheit“ in den Kommunen deutlich stärker variiert als auf Landes- und Bundes- ebene. In einer Voruntersuchung konnten wir zeigen, Dipl.-Pol. Thomas Bathge1/ dass diese Geschlossenheit sich sehr stark zwischen Caroline Friedhoff, M.A. Soz.2/ baden-württembergischen und nordrhein-westfäli- Prof. Dr. Lars Holtkamp3 schen Kommunen unterscheidet (Holtkamp 2008), während beispielsweise in allen deutschen Landtagen Lange Zeit galt die kommunale Selbstverwaltung in der starke Fraktionszusammenhalt der Normalfall ist der Rechtswissenschaft als unpolitisch und den Ge- und möglicherweise auch deshalb Regressionsmo- meinderäten wird heute noch häufiger der Charakter delle eine geringe Erklärungskraft für die individuel- von Parlamenten in formalrechtlichen Betrachtungen len Ausnahmefälle haben (Stecker 2011: 441). Die abgesprochen (vgl. hierzu kritisch Bogumil/Holtkamp Fraktionsdisziplin ist in den Landtagen sogar noch 2013). Die Fraktionsdisziplin in den Kommunalpar- ausgeprägter als im deutschen (Können lamenten wird zudem normativ kritisiert: 2009: 157f.), der wiederum im internationalen Ver- gleich eine starke innerfraktionelle Geschlossenheit „Freilich sollen auf kommunaler Ebene aufweist. Deshalb werden auch in der Politikwissen- einstimmige Entscheidungen […] quer schaft die wenigen gegen die Fraktion stimmenden durch die Parteien in Geschmacks- und Abgeordneten als „Rebellen“ (Können 2009) be- Ermessensfragen guter Brauch sein; ein zeichnet, während abweichendes Abstimmungsver- stetiges Pochen auf Parteidisziplin und halten in baden-württembergischen Kommunen Fraktionstreue würde in der Tat dem nichts Spektakuläres hat und gerade in kleineren Sachelement im kommunalen Entschei- Städten eher der Normalfall ist. dungsprozess auf die Dauer Gewalt an- tun.“ (Püttner 2007: 386) Schwierig ist es allerdings das Abstimmungsverhal- ten auf kommunaler Ebene direkt zu erfassen, weil In der Politikwissenschaft wurde demgegenüber Ratsprotokolle häufig die Stimmergebnisse nicht schon seit den 1990er Jahren argumentiert, dass nach Fraktionen ausweisen und eine Erhebung aller durch einen Prozess der inhaltlichen und prozedura- Abstimmungsergebnisse in vielen Kommunen vom len Parteipolitisierung die Gemeinderäte sich zuneh- Forschungsaufwand nicht leistbar ist. Deshalb stüt- mend in ihrer Arbeitsweise am Bundestag als Parla- zen wir uns auf eine Befragung unter 4.500 Ratsmit- ment orientieren (Holtmann 1998, 2013) und dies gliedern in vier Bundesländern, in der wir versucht auch normativ zu begrüßen sei. Die Fraktionen und haben, die Einschätzungen der Ratsmitglieder zur in- die innerfraktionelle Geschlossenheit spielen danach nerfraktionellen Geschlossenheit differenziert zu er- eine zentrale Rolle im Entscheidungsprozess, auch fassen. In einem ersten Schritt wollen wir in diesem wenn bekanntlich mit der Direktwahl des Bürger- Beitrag die Hypothesen zu Ursachen von geschlosse- meisters in allen Bundesländern kommunal ein quasi- nem Abstimmungsverhalten anhand des Forschungs- präsidentielles System eingeführt wurde. Damit kann stands entwickeln. In einem zweiten Schritt erfolgt innerfraktionelle Geschlossenheit auch für die kom- die deskriptive Darstellung von Unterschieden zwi- munale Ebene untersucht werden und dies bietet ge- schen Kommunen im Bundesländervergleich. In ei- genüber internationalen Vergleichen drei Vorteile. nem dritten Schritt wird schließlich eine multiple Erstens variieren die Kontextfaktoren nicht so stark Regressionsanalyse zur Bestimmung des Einflusses und zweitens können deutlich mehr Fälle in die Be- der unabhängigen Variablen auf das von den Rats- trachtung einbezogen werden, so dass sinnvoll multi- mitgliedern berichtete Abstimmungsverhalten durch- ple Regressionsanalysen und Signifikanztests ange- geführt, um abschließend die Ergebnisse der Analyse wendet werden können. Drittens dürfte sich hierauf unter besonderer Berücksichtigung institutioneller 1 Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FernUni- Reformschläge zu diskutieren. versität Hagen, Institut für Politikwissenschaft (Lehrgebiet Politik und Verwaltung). I. Forschungsstand und Hypothesen 2 Die Autorin ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FernUni- versität in Hagen, Institut für Politikwissenschaft (Lehrgebiet In der Politikwissenschaft wird zunehmend zwischen Politik und Verwaltung). Fraktionskohäsion und Fraktionsdisziplin unterschie- 3 Der Autor ist Professor für Politik und Verwaltung, Institut den, die auf unterschiedliche Erklärungen für das Ab- für Politikwissenschaft (Politikwissenschaft IV) an der Fern- Universität Hagen. stimmungsverhalten verweisen. Kohäsion wird dabei

5 Aufsätze Bathge/Friedhoff/Holtkamp – Innerfraktionelle Geschlossenheit in bundesdeutschen Kommunalparlamenten MIP 2015 21. Jhrg. eher soziologisch in Bezug auf die Sozialisation der einzelnen Kandidaten vergeben werden, um damit Parlamentarier als gemeinsame Präferenzen und Nor- im Wahlergebnis auch die Reihenfolge der Kandida- men gedeutet, während die Fraktionsdisziplin eher turen auf der Parteiliste zu verändern. Weiterhin ist als rationale Wahl der Abgeordneten unter Berück- die Wählerschaft durch die Möglichkeit zu pana- sichtigung der Anreize durch rechtliche Rahmenbe- schieren nicht auf die Kandidat(innen) einer Partei- dingungen und Sanktionen der Fraktionsführung er- liste beschränkt, sondern es können auch einzelne klärt wird (Fritzsche 2009: 663ff.). Somit können so- Kandidat(innen) anderer Parteien gewählt werden. wohl die Sozialisation in Parlament und Parteien als Mit diesem Wahlrecht bestehen also die größten per- auch die rationalen Präferenzen der Parlamentarier im sonellen Entscheidungskompetenzen der Wähler- Zusammenspiel mit den Institutionen Erklärungen für schaft, während die Fraktions- und Parteiführung nur innerfraktionelle Geschlossenheit liefern. So wird in begrenzte Steuerungsmöglichkeiten haben, um z. B. der Literatur davon ausgegangen, dass mit zuneh- Verstöße gegen die Fraktionsdisziplin mit Abwahl mender Dauer der Parlamentszugehörigkeit, mit zu- sanktionieren zu können. Der Austausch dieser Kan- nehmenden Fraktionsämtern und mit langer parla- didaten ist zudem schwer, weil sie häufig als örtliche mentarischer Tradition die Parlamentarier weniger Honoratioren (z. B. Bäcker, Ärzte) von der Wähler- zu von der Fraktion abweichendem Abstimmungs- schaft favorisiert werden und die Fraktionen von die- verhalten neigen (Delius et al. 2013: 552; Können sen guten Stimmergebnissen profitieren (Wehling 2009: 162f.). Gerade für die lokale Ebene wird für 1999a). Oder wie es Renate Mayntz bereits in ihren Ostdeutschland davon ausgegangen, dass sich hier frühen Gemeindestudien ausdrückte: die Fraktionsdisziplin und parlamentarische Arbeits- „Die Partei kann deshalb auch nicht teilung nach der Wende noch nicht richtig durchset- einfach gehorsame Funktionäre zur zen konnten (Pollach et al. 2000; Jaeck et al. 2013). Wahl stellen, sondern muß [sic] sich Mit Bezug auf den Rational-Choice-Institutionalis- ausdrücklich um die Gewinnung ‚zug- mus wird insbesondere die Rolle des Wahlrechts kräftiger’ Kandidaten und damit oft der hervorgehoben (Owens 2003: 22), wobei für besten Kräfte der Gemeinden bemühen“ Deutschland bei personalisierter Verhältniswahl eher (Mayntz 1958: 267; vgl. ähnlich Lehm- geringe Anreize für die Abgeordneten gesehen wer- bruch 1975). den, sich individuell beim Wähler auf Kosten der Deshalb wurde in der für die Lokale Politikfor- Fraktionsgeschlossenheit zu profilieren (Saalfeld schung zentralen Kommunalverfassungsdebatte aus 2005: 52; Stecker 2011: 441). Die Abgeordneten normativer Perspektive von Gerhard Banner immer sind hier viel stärker darauf angewiesen einen guten wieder gefordert, nicht nur die Direktwahl der Bür- Platz auf den starren Listen zu erhalten als beim Ver- germeister nach baden-württembergischen Vorbild, hältniswahlrecht mit offenen Listen, bei dem die sondern auch zugleich Kumulieren und Panaschieren Wählerschaft die Reihenfolge der Kandidaten verän- einzuführen, weil eine weniger ausgeprägte Frakti- dern kann. Hierbei sind allerdings einige kommunale onsdisziplin dann besser zu den eingeführten präsi- Spezifika zu berücksichtigen. Auf kommunaler Ebe- dentiellen Systemen passen würde (Banner 1989; ne dominiert das Verhältniswahlrecht mit offenen Banner 2006), worauf im Schlusskapitel nach der Listen, wobei allerdings in nordrhein-westfälischen empirischen Analyse nochmal einzugehen sein wird. Kommunen immer noch das personalisierte Verhält- niswahlrecht gilt. Der Wähler in Nordrhein-Westfa- Bei stark personenorientiertem Wahlrecht treten loka- len (NRW) gibt nur eine einzige Stimme ab, die aber le Honoratioren darüber hinaus insbesondere mit sin- gleichzeitig für den Direktkandidaten in seinem kender Gemeindegröße (Köser/Caspers-Merk 1987) Einerwahlkreis und für die starre Liste der Partei sei- und gerade bei den Wählergemeinschaften auf, um ner Wahl gezählt wird. In Baden-Württemberg hin- noch auf zwei weitere kommunale Spezifika hinzu- gegen bei freien Listen („Kumulieren und Panaschie- weisen (Holtkamp 2008). Gerade Wählergemeinschaf- ren“) kann in einer Großstadt mit 48 Ratsmitgliedern ten lehnen Fraktionsdisziplin in ihrer Organisations- jede Wählerin und jeder Wähler 48 Stimmen verge- identität häufig ab (Krappidel et al. 2013: 400f.). ben. Hier kann der Stimmzettel für eine Partei unver- Insgesamt gehen wir damit von folgenden für Kom- ändert abgegeben werden und damit erhält jede Kan- munalparlamente zu prüfenden Hypothesen aus: didatur auf der Parteiliste eine Stimme. Darüber hin- aus besteht durch Kumulieren auch die Möglichkeit, 1. Abstimmungsverhalten im Einklang mit der die Stimmen zu „häufeln“. Dabei können bis zu drei Fraktion ist bei Ratsmitgliedern mit längerer Stimmen für eine einzelne Kandidatin oder einen Ratszugehörigkeit und mehr Fraktionsämtern

6 MIP 2015 21. Jhrg. Bathge/Friedhoff/Holtkamp – Innerfraktionelle Geschlossenheit in bundesdeutschen Kommunalparlamenten Aufsätze

eher zu erwarten als bei Neueinsteigern ohne Den Ratsmitgliedern wurden drei Fragen zur Erfas- wichtige Fraktionsämter. sung der innerfraktionellen Geschlossenheit vorge- legt. Zur Erfassung des individuellen Abstimmungs- 2. Innerfraktionelle Geschlossenheit ist bei Par- verhaltens sollten die Ratsmitglieder die folgende teien ausgeprägter als bei den kommunalen Aussage bewerten: „Ich stimme immer mit der Frak- Wählergemeinschaften. tion, weil es meiner persönlichen Überzeugung ent- 3. Innerfraktionelle Geschlossenheit ist in west- spricht“. Um den Fraktionszusammenhalt als Norm deutschen Kommunalparlamenten ausgepräg- zu erheben wurde das folgende Item vorgegeben: ter als in Ostdeutschland. „Von den Mitgliedern meiner Fraktion wird erwar- tet, bei Abstimmungen der Fraktionsmeinung zu fol- 4. Innerfraktionelle Geschlossenheit ist in NRW gen“. Und schließlich wurde das Abstimmungsver- aufgrund des personalisierten Verhältniswahl- rechts bedeutender als bei Kumulieren und halten der Fraktion durch die folgende Aussage er- fasst: „Die Ratsmitglieder meiner Fraktion stimmen Panaschieren in den anderen betrachteten Un- im Rat fast immer geschlossen ab“5. Wenn wir die tersuchungsländern. Ergebnisse im Bundesländervergleich betrachten, 5. Innerfraktionelle Geschlossenheit ist in kleine- dann ragt insbesondere das Antwortverhalten der ren Kommunen weniger als in größeren Kom- Ratsmitglieder in NRW hervor. Sie geben deutlich munen anzutreffen. häufiger an, aus persönlicher Überzeugung mit ihrer Fraktion zu stimmen und meinen, dass die Norm der II. Innerfraktionelle Geschlossenheit im Bundes- Fraktionsdisziplin stärker ausgeprägt ist als in den ländervergleich anderen drei Bundesländern, die sich nicht wesent- lich hinsichtlich des Antwortverhaltens voneinander Im Rahmen des DFG-Projekts „Ursachen kommuna- unterscheiden. Die Norm der Fraktionsdisziplin wird ler Haushaltsdefizite“4 wurden die kommunalen Ent- fast von der Mehrheit der Ratsmitglieder in diesen scheidungsträger in zwei ostdeutschen und zwei Bundesländern nicht gesehen. Hier wäre es zukünftig westdeutschen Bundesländern untersucht. In West- sicher interessant, diese Items in Befragungen auch deutschland wurde das klassische Pärchen NRW und den Landtags- und Bundestagsabgeordneten vorzule- Baden-Württemberg ausgewählt, während in Ost- gen, die wahrscheinlich deutlich stärker diese Norm deutschland Sachsen und Brandenburg selektiert für ihre Parlamente bestätigen würden, möglicher- wurden. Die Befragung der Ratsmitglieder in diesen weise sogar stärker als die NRW-Ratsmitglieder. Bundesländern konzentriert sich auf Kommunen mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern. Von den 320 Kom- munen in dieser Gemeindegrößenklasse wurden ins- Abbildung 1: „Ich stimme immer mit der Fraktion, gesamt 120 Gemeinden durch eine einfache Stich- weil es meiner persönlichen Überzeugung entspricht.“ probenziehung zufällig ausgewählt. In den beiden bevölkerungsreichen westdeutschen Bundesländern wurde eine Stichprobe von jeweils 40 Gemeinden gezogen. Bei den weniger dicht besiedelten und ur- banisierten ostdeutschen Ländern wurde mit der zu- fälligen Auswahl von 20 Gemeinden annähernd eine Vollerhebung ausgeführt, da beide Bundesländer in dieser Gemeindegrößenklasse nur wenig mehr Ge- meinden haben. In diesen Städten wurden alle knapp 4.500 Ratsmitglieder befragt. Nach Abschluss der Erhebung im Oktober 2013 ergab sich insgesamt eine Rücklaufquote von 41,2 Prozent. Im Vergleich zu ähnlichen vorangegangenen Untersuchungen (Egner et al. 2013) ist dies ein überdurchschnittlicher Wert. Quelle: Eigene Darstellung

4 Das Projekt ist ein Gemeinschaftsantrag von Jörg Bogumil (Ruhr-Universität Bochum), Lars Holtkamp (FernUniversität Hagen), Martin Junkernheinrich (Universität Kaiserslautern) 5 Alle drei genannten Items hatten die folgenden Antwortkate- und Uwe Wagschal (Universität Freiburg). Wir danken dem gorien zur Auswahl: trifft nicht zu, trifft eher nicht zu, trifft Forschungsteam für die Bereitstellung diverser Daten. eher zu und trifft zu.

7 Aufsätze Bathge/Friedhoff/Holtkamp – Innerfraktionelle Geschlossenheit in bundesdeutschen Kommunalparlamenten MIP 2015 21. Jhrg.

Abbildung 2: „Von den Mitgliedern meiner Fraktion standardisierte Regressionskoeffizient Beta den wird erwartet, bei Abstimmungen der Fraktionsmei- Grenzwert von 0,20 überschreitet. Von einer signifi- nung zu folgen.“ kanten Beziehung wird bei einem Signifikanzniveau von p<0,05 gesprochen, das dann mit einem Stern- chen gekennzeichnet ist. Eine hoch signifikante Be- ziehung liegt vor bei einer Signifikanz von p<0,01 (=**) bis hin zu p<0,001 (=***). Das persönliche Abstimmungsverhalten im Verhält- nis zur Fraktionsmeinung hängt in der multiplen Re- gressionsanalyse am stärksten vom Wahlrecht ab; der Einfluss weist die erwartete Richtung auf. Auf hoch signifikantem Niveau nimmt auch mit der Dau- er der Ratsmitgliedschaft, mit der Lage in Ost- deutschland und mit dem Engagement in Parteien anstelle in Wählergemeinschaften das fraktionskon- Quelle: Eigene Darstellung forme Abstimmungsverhalten zu. Zudem bestätigt sich in signifikantem Maße, dass herausgehobene Fraktionsämter dieses konforme Verhalten unterstüt- Als nahezu logische Konsequenz berichten fast 90 zen. Demgegenüber konnte kein Einfluss der Ge- Prozent der Ratsmitglieder in NRW, dass ihre Frak- meindegröße festgestellt werden, was möglicherwei- tionen meist geschlossen abstimmen, während dies se auch darauf zurückzuführen ist, dass „nur“ die nur für die Hälfte der Ratsmitglieder in den anderen Kommunen zwischen 20.000 und 100.000 Einwoh- Bundesländern gilt. Die Varianz der innerfraktionel- nern untersucht wurden. len Geschlossenheit ist insgesamt also, wie erwartet, beträchtlich und für die Unterschiede im Bundeslän- Bei dem Fraktionszusammenhalt als Norm haben dervergleich könnte insbesondere das abweichende insbesondere das Wahlrecht und die Zugehörigkeit Kommunalwahlrecht in NRW verantwortlich sein. zu einer Partei bzw. Wählergemeinschaft einen star- ken und hoch signifikanten Einfluss auf die abhängi- ge Variable. Hoch signifikante Einflüsse können zu- Abbildung 3: „Die Ratsmitglieder meiner Fraktion dem noch für die Gemeindegröße und die Dauer der stimmen im Rat fast immer geschlossen ab.“ Ratsmitgliedschaft festgestellt werden. Bei langer Sozialisation im Kommunalparlament wird die Norm der Fraktionsdisziplin offensichtlich stärker wahrge- nommen. Die Erklärungskraft der unabhängigen Va- riablen ist bei einem R-Quadrat von 0,25 schon be- achtlich. Immerhin kann durch diese Variablen schon 25 Prozent der Varianz der abhängigen Varia- ble erklärt werden, was deutlich über den Werten vergleichbarer Untersuchungen für die Landesparla- mente liegt (vgl. Stecker 2011), aber dennoch als Modell auf eine eher mittlere Erklärungskraft ver- weist. Das schließlich von den Ratsmitgliedern angegebene Quelle: Eigene Darstellung Abstimmungsverhalten ihrer Fraktion hängt in au- ßerordentlich starkem Maße vom Wahlrecht in der III. Multivariate Analyse erwarteten Weise ab, während zumindest für das En- gagement in Parteien bzw. Wählergemeinschaften In der folgenden multivariaten Analyse werden nicht noch ein hoch signifikanter Zusammenhang zu kon- nur das Wahlrecht, sondern alle in den Hypothesen statieren ist. Allein das Wahlrecht erklärt 20 Prozent angegebenen unabhängigen Variablen berücksich- der Varianz des berichteten Fraktionsabstimmungs- tigt. Angelehnt an andere Regressionsanalysen in der verhaltens, während die anderen Variablen, bis auf Lokalen Politikforschung (Kunz 2000) ist dann von die Wählergemeinschaftsvariable, für die Erklärung einem starken Zusammenhang die Rede, wenn der bedeutungslos sind.

8 MIP 2015 21. Jhrg. Bathge/Friedhoff/Holtkamp – Innerfraktionelle Geschlossenheit in bundesdeutschen Kommunalparlamenten Aufsätze

Abbildung 4: Multiple Regressionen für innerfraktionelle Geschlossenheit Ich stimme immer mit der Fraktion, weil es meiner persönlichen Überzeugung ent- spricht. (1 trifft nicht zu, 2 trifft eher nicht zu, 3 trifft eher zu, 4 trifft zu) Dauer der Ratsmitgliedschaft ,12*** Ämter in Fraktion (nein=0/ja=1) ,08* WG (=0) oder Partei (=1) ,18*** Gemeindegröße 0,06 Wahlrecht (NRW=0 /andere=1) -,26*** Ost- oder Westdeutschland (Ostdeutschland=0/ Westdeutschland=1) -,13** N 853 Adj. R2 0,12 Von den Mitgliedern meiner Fraktion wird erwartet, bei Abstimmungen der Fraktions- meinung zu folgen. (1 trifft nicht zu, 2 trifft eher nicht zu, 3 trifft eher zu, 4 trifft zu) Dauer der Ratsmitgliedschaft ,10** Ämter in Fraktion (nein=0/ja=1) -0,03 WG (=0) oder Partei (=1) ,25*** Gemeindegröße ,16*** Wahlrecht (NRW=0 /andere=1) -,37*** Ost- oder Westdeutschland (Ostdeutschland=0/ Westdeutschland=1) -,08* N 861 R2 0,25 Die Ratsmitglieder meiner Fraktion stim- men im Rat fast immer geschlossen ab. (1 trifft nicht zu, 2 trifft eher nicht zu, 3 trifft eher zu, 4 trifft zu) Dauer der Ratsmitgliedschaft 0,01 Ämter in Fraktion (nein=0/ja=1) 0,01 WG (=0) oder Partei (=1) ,16*** Gemeindegröße 0,05 Wahlrecht (NRW=0 /andere=1) -,43*** Ost- oder Westdeutschland (Ostdeutschland=0/ Westdeutschland=1) -0,07 N 850 R2 0,21

IV. Fazit und Konsequenzen für die Kommunal- onskonforme Abstimmungsverhalten. Weitaus wich- verfassungsdebatte tiger für die Erklärung des Fraktionszusammenhalts ist aber insgesamt das Kommunalwahlrecht. In NRW Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass viele ist die innerfraktionelle Geschlossenheit bei persona- Erklärungsvariablen, die für parlamentarische bzw. lisiertem Wahlrecht deutlich ausgeprägter als in den parteipolitische Sozialisation stehen, signifikante Be- Kommunen der anderen untersuchten Bundesländer. ziehungen zur innerfraktionellen Geschlossenheit aufweisen. Je länger die Ratsmitglieder ihr Amt aus- So ganz überraschend ist dieser Befund nicht, weil üben, desto stärker wird die innerfraktionelle Ge- schon in den 1980er Jahren in der Kommunalverfas- schlossenheit unterstützt. Ratsmitglieder, die in Par- sungsdebatte immer wieder darauf hingewiesen wur- teien anstelle von Wählergemeinschaften sozialisiert de, dass Kumulieren und Panaschieren zu einer deut- wurden, weisen eine höhere Affinität zur innerfrak- lich niedrigeren Fraktionsdisziplin der Ratsmitglie- tionellen Geschlossenheit auf. Bedingt spielt auch der in Baden-Württemberg im Vergleich zu NRW die Zugehörigkeit zu Ostdeutschland und das Aus- führe (Banner 1989). Insbesondere die Direktwahl üben von Fraktionsämtern eine Rolle für das frakti- des Bürgermeisters wäre nicht kompatibel mit einer

9 Aufsätze Bathge/Friedhoff/Holtkamp – Innerfraktionelle Geschlossenheit in bundesdeutschen Kommunalparlamenten MIP 2015 21. Jhrg. starken Fraktionsdisziplin und konkurrenzdemokrati- blick über die Debatte Holtkamp 2012). In unserem schen Einstellungen, die durch das personalisierte DFG-Projekt zu den „Ursachen kommunaler Haus- Verhältniswahlrecht forciert werden. Bei Kohabitati- haltsdefizite“ konnten wir in den quantitativen Ana- onskonstellationen (bzw. bei „divided government“, lysen und in den 16 kommunalen Fallstudien nun also unterschiedlicher parteipolitischer Färbung von nachweisen, dass die empirischen Beschreibungen von Bürgermeistern und Ratsmehrheiten) könnte dies dann Banner weitgehend zutreffen. „Institution matters“ gilt zu einer gegenseitigen Blockierung von Bürgermeister damit auch für die lokale Haushaltspolitik. Bei starken und Rat führen, wie man es für Nordrhein-Westfalen Kompetenzen des direktgewählten Bürgermeisters befürchten müsse (Wehling 1999b). Dies deckt sich und einem personenorientierten Ratswahlrecht in weitgehend mit den Befunden der Verhandlungsde- Baden-Württemberg werden auch unter Kontrolle mokratieforschung auf nationaler Ebene, die direkt- von Drittvariablen bessere Haushaltsergebnisse erzielt gewählte Präsidenten als institutionelle Vetoposition als in NRW. In den NRW-Fallstudien zeigte sich, dass einordnet und das Zusammenspiel von institutionel- es bei Kohabitation immer wieder zu Blockaden len Vetopositionen und konkurrenzdemokratischen kommt und häufiger Probleme bestehen, überhaupt Mustern aufgrund der angesprochenen Blockadege- einen Haushaltsplan ohne Eingriffe der Haushalts- fahren zumindest als normativ problematisch in Be- aufsicht zu verabschieden. Demgegenüber gelingt es zug auf die Output-Legitimation einordnet (vgl. all- Bürgermeistern und Kämmerern in Baden-Württem- gemein Lehmbruch 1998; Scharpf 2000: 318; Czada berg in allen betrachteten Fällen, die überwiegende 2000; vgl. in Bezug auf präsidentielle Systeme Sund- Anzahl der Ratsmitglieder und Fraktionen von gemein- quist 1988: 629; Bolleyer 2001: 1528). samen Sparpaketen zu überzeugen (Bogumil/Holt- kamp/Junkernheinrich/Wagschal 2014). Aus Sicht der Diese Probleme ließen sich auf kommunaler Ebene Output-Legitimation kann man damit wohl Gerhard aber aus Sicht von Gerhard Banner und Hans-Georg Banner Recht geben und empfehlen, auch in NRW Wehling weitgehend beheben, wenn die anderen Bun- Kumulieren und Panaschieren einzuführen, um die desländer vollständig das baden-württembergische für die kommunale Konkurrenzdemokratie konstitu- Institutionenarrangement übernehmen würden. Damit tive Fraktionsdisziplin etwas zu lockern. Dadurch fungierten alle baden-württembergischen Regelungen könnte, wie in Baden-Württemberg, der Eindruck bei zur Kommunalverfassung und zum Wahlrecht aus den Ratsmitgliedern forciert werden, dass sie als Per- Sicht dieser Autoren als Vorbild für die anderen son und nicht Vertreter einer Partei gewählt werden, Bundesländer. Durch Kumulieren und Panaschieren und damit die Anreize für fraktionsabweichendes gelänge es, die politischen Mehrheiten „flüssiger“ zu Verhalten zur öffentlichen Profilierung zu erhöhen, gestalten, womit der Bürgermeister dann keine Pro- während zugleich das Sanktionspotential des Frakti- bleme mehr habe, über Fraktionsgrenzen hinweg in onsvorsitzenden gegen „Abweichler“ geschwächt Verhandlungen seine politischen Mehrheiten zu su- wird, weil die häufig von Partei und Fraktion ge- chen (Wehling 1989: 88) bzw. einzelne Ratsmitglie- meinsam ausgehandelte Reihenfolge auf der Kandi- der aus anderen Fraktionen von einer Mehrheitsbil- datenliste keine so starke Bedeutung für die Wieder- dung zu überzeugen. Das kommunale Wahlverhalten wahl hat. Zudem kann selbst der Fraktionsvorsitzende orientiert sich nach dieser Auffassung stark an den von den Bürgern abgewählt werden, wenn er zu sehr Kandidaten und nicht an der Parteizugehörigkeit, was auf Disziplin und Parteipolitisierung setzt (Löffler/ zu einer geringer ausgeprägten Fraktionsdisziplin füh- Rogg 1985), was das Sanktionspotential weiter re (Wehling 2003: 32). Insbesondere Gerhard Banner schmälern dürfte. spitzte das Argument dahingehend zu, dass ein star- ker direktgewählter Bürgermeister bei schwacher Diese Politikempfehlung anknüpfend an Banner ist Fraktionsdisziplin und geringer Parteipolitisierung aber nur überzeugend, wenn man den Annahmen des (verursacht durch die süddeutsche Ratsverfassung) Rational-Choice-Institutionalismus folgt. Wenn man eher dazu führe, dass in Baden-Württemberg der diese Vorschläge hingegen aus der Perspektive des Kommunalhaushalt auf Gleichgewichtskurs gehalten historischen Institutionalismus beleuchtet, ist zumin- werde und so die süddeutsche Ratsverfassung eine dest Vorsicht angebracht. Danach ist Fraktionsdiszi- deutlich höhere Output-Legitimation habe als die da- plin teil eines pfadabhängigen, konkurrenzdemokra- malige und auch die neue präsidentielle Kommunal- tischen Akteursmusters bzw. Bestandteil einer spezi- verfassung in NRW (Banner 1989; Banner 2006). fischen regionalen politischen Kultur (Lehmbruch Diese Thesen von Gerhard Banner wurden vom 1987, 2012; Wehling 1991), die sich eingeschliffen politikwissenschaftlichen Mainstream entschieden haben könnte und die sich dann auch nach institutio- empirisch und normativ abgelehnt (vgl. zum Über- nellen Reformen fortsetzt, selbst wenn sie sich für das

10 MIP 2015 21. Jhrg. Bathge/Friedhoff/Holtkamp – Innerfraktionelle Geschlossenheit in bundesdeutschen Kommunalparlamenten Aufsätze

Ratsmitglied und die Partei im Wettbewerb oder für Czada, Roland 2000: Konkordanz, Korporatismus die Kommune im Haushalt als ineffizient erweisen und Politikverflechtung: Dimensionen der Verhand- sollte. Wie stark veränderbar die innerfraktionelle lungsdemokratie, in: Holtmann, Everhard/Voelzkow, Geschlossenheit durch die Einführung eines stärker Helmut (Hg.): Zwischen Wettbewerbs- und Ver- personenorientierten Wahlrechts ist, wurde bisher handlungsdemokratie, Opladen: 23-49. aber noch nicht empirisch für bundesdeutsche Kom- Egner, Björn/Krapp, Max-Christopher/Heinelt, Hubert munalparlamente untersucht. Die wenigen Untersu- 2013: Das deutsche Gemeinderatsmitglied, Wiesbaden. chungen der Nominierungsphase nach der Einfüh- rung von Kumulieren und Panaschieren in Hessen le- Fritzsche, Erik 2009: Innerfraktionelle Geschlossen- gen nahe, dass Parteien und Kandidaten hoch unter- heit im Spiegel der Politikwissenschaft; in: ZParl schiedlich auf die neuen institutionellen Anreize rea- 3/09: 661-682. gieren. Die Reaktionen reichten von Ignoranz bis hin Gremmels, Timon 2003: Kumulieren und Panaschieren zu neuen Anwerbeversuchen für Honoratioren und – Das hessische Kommunalwahlrecht in Theorie und politische Seiteneinsteiger, von denen man eher eine Praxis, unveröffentlichte Diplomarbeit, Marburg. gewisse Distanz zur Fraktionsdisziplin erwarten Holtkamp, Lars 2012: Der Stellenwert der Kommu- könnte (Gremmels 2003; Kersting 2004; für Nieder- nalverfassung und der bundesländervergleichenden sachsen vgl. bereits Rudzio 1981: 276f.; Suckow Kommunalforschung, in: Veith, Sylvia/Bull, Hans 1989: 162). Damit ist zugleich eine wichtige For- Peter (Hg.): Bürokratie im Irrgarten der Politik – Ge- schungslücke umrissen, die man durch intensive Do- dächtnisband für Hans-Ulrich Derlien, Baden-Baden: kumentenanalysen in nach der Datenverfügbarkeit 267-285. ausgewählten Fallstudien zum Abstimmungsverhal- ten von Fraktionen im Zeitvergleich schließen könn- Holtkamp, Lars 2008: Kommunale Konkordanz- und te. Weiterer Forschungsbedarf besteht zudem, wie Konkurrenzdemokratie – Parteien und Bürgermeister bereits angedeutet, zur innerfraktionellen Geschlos- in der repräsentativen Demokratie, Habil-Schrift., senheit im Ebenenvergleich zwischen Kommunen, Reihe: Gesellschaftspolitik und Staatstätigkeit, Bund und Ländern. Wiesbaden. Holtmann, Everhard 1998: Parteien in der lokalen Politik, in: Wollmann, Hellmut/Roth, Roland (Hg.): Literatur Kommunalpolitik – Politisches Handeln in der Ge- Banner, Gerhard 1989: Kommunalverfassungen und meinde, zweite erweiterte Auflage, Opladen: 208-226. Selbstverwaltungsleistungen, in: Schimanke, Dieter Holtmann, Everhard 2013: Parteien auf der kommu- (Hg.): Stadtdirektor oder Bürgermeister, Basel: 37-61. nalen Ebene, in: Niedermayer, Oskar (Hg.): Hand- Banner, Gerhard 2006: Führung und Leistung der buch Parteienforschung, Wiesbaden: 791-815. Kommune, in: Deutsche Zeitschrift für Kommunal- Jaeck, Tobias/Harm, Katrin/Aderhold, Jens 2013: wissenschaften 2/06: 57-69. Einheit der Eliten? In: Berliner Journal für Soziolo- Bogumil, Jörg/Holtkamp, Lars 2013: Kommunal- gie 1/13: 229-256. politik und Kommunalverwaltung – Eine praxisori- Kersting, Norbert 2004: Die Zukunft der lokalen De- entierte Einführung, bpb Bundeszentrale für politi- mokratie – Modernisierungs- und Reformmodelle, sche Bildung, Bonn. Frankfurt. Bogumil, Jörg/Holtkamp, Lars/Junkernheinrich, Mar- Können, Susanne 2009: Wo sind die Rebellen hin? tin/Wagschal, Uwe 2014: Ursachen kommunaler Wiesbaden. Haushaltsdefizite, in: PVS 4/14, i.E. Köser, Helmut/Caspers-Merk, Marion 1987: Der Ge- Bolleyer, Nicole 2001: Minderheitsparlamentaris- meinderat – Sozialprofil, Karrieremuster und Selbst- mus – eine akteursorientierte Erweiterung der Parla- bild von kommunalen Mandatsträgern in Baden- mentarismus-Präsidentialismus-Typologie, in: Zeit- Württemberg, Abschlussbericht für die Deutsche schrift für Politikwissenschaft 4/01: 1519-1546. Forschungsgemeinschaft, unveröffentlichtes Ms., Delius, Martin/Koß, Michael/Stecker, Christian 2013: Freiburg. „Ich erkenne als Fraktionsdisziplin auch an...“ Inner- Krappidel, Adrienne/Plassa, Rebecca/Runberger, Maik fraktioneller Dissens in der SPD-Fraktion der 2013: Organisationsidentitäten von kommunalen Großen Koalition 2005 bis 2009, in: ZParl 3/13: Wählergemeinschaften und Ortsparteien, in: Harm, 546-566.

11 Aufsätze Bathge/Friedhoff/Holtkamp – Innerfraktionelle Geschlossenheit in bundesdeutschen Kommunalparlamenten MIP 2015 21. Jhrg.

Karin/Aderhold, Jens (Hg.): Die Subjektive Seite der Scharpf, Fritz W. 2000: Interaktionsformen – Ak- Stadt, Wiesbaden: 377-407. teurszentrierter Institutionalismus in der Politikfor- Kunz, Volker 2000: Parteien und kommunale Haus- schung, Opladen. haltspolitik im Städtevergleich, Opladen. Stecker, Christian 2011: Bedingungsfaktoren der Lehmbruch, Gerhard 1975: Der Januskopf der Orts- Fraktionsgeschlossenheit – Eine vergleichende Ana- parteien. Kommunalpolitik und das lokale Parteien- lyse der deutschen Landesparlamente, in: PVS 3/11: system, in: Der Bürger im Staat 1/75: 3-8. 424-447. Lehmbruch, Gerhard 1987: Proporzdemokratie nach Suckow, Achim 1989: Lokale Parteiorganisationen – zwanzig Jahren: Überlegungen zur Theoriebildung angesiedelt zwischen Bundespartei und lokaler Ge- in der komparatistischen Forschung über politische sellschaft, Oldenburg. Strategien in der Schweiz und in Österreich, unver- Sundquist, James 1988: Needed: A political theory öffentlichtes MS. for the new era of in the Uni- Lehmbruch, Gerhard 1998: Parteienwettbewerb im ted States, in: Political Science Quarterly 103: 613- Bundesstaat, zweite überarbeitete Auflage, Opladen. 635. Lehmbruch, Gerhard 2012: Die Entwicklung der ver- Wehling, Hans-Georg 1989: Auswirkungen der gleichenden Politikforschung und die Entdeckung der Kommunalverfassung auf das lokale politisch-admi- Konkordanzdemokratie, in: Köppl, Stefan/Kranen- nistrative Handeln, in: Schimanke, Dieter (Hg.): pohl, Uwe 2012: Konkordanzdemokratie – Ein Demo- Stadtdirektor oder Bürgermeister, Basel: 84-96. kratietyp der Vergangenheit? Baden-Baden: 33-54. Wehling, Hans-Georg 1991: ‚Parteipolitisierung‘ Löffler, Berthold/Rogg, Walter 1985: Determinanten von lokaler Politik und Verwaltung? Zur Rolle der kommunalen Wahlverhaltens in Baden-Württem- Parteien in der Kommunalpolitik, in: Heinelt, Hubert/ berg, dargestellt am Beispiel der Stadt Ravensburg, Wollmann, Hellmut (Hg.): Brennpunkt Stadt, Basel: Tübingen. 149-166. Mayntz, Renate 1958: Soziale Schichtung und sozia- Wehling, Hans-Georg 1999a: Wer wird gewählt? ler Wandel in einer Industriegemeinde – Eine sozio- Das Auswahlverhalten von Wählerinnen und Wäh- logische Untersuchung der Stadt Euskirchen, Stutt- lern bei Kommunalwahlen in Baden-Württemberg, gart. in: Der Bürger im Staat 3/99: 180-183. Owens, John 2003: Explaining party cohesion and Wehling, Hans-Georg 1999b: Kommunale Direktwahl discipline in democratic legislatures, in: Journal of zwischen Persönlichkeitswahl und Parteienentschei- Legislative Studies 4/03: 12-40. dung, Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt-Augustin. Pollach, Günter/Wischermann, Jörg/Zeuner, Bodo Wehling, Hans-Georg 2003: Kommunalpolitik in 2000: Ein nachhaltig anderes Parteiensystem – Profi- Baden-Württemberg, in: Kost, Andreas/Wehling, le und Beziehungen von Parteien in ostdeutschen Hans-Georg (Hg.): Kommunalpolitik in deutschen Kommunen, Opladen. Ländern – Eine Einführung, Opladen: 23-40. Püttner, Günter 2007: Zum Verhältnis von Demokra- tie und Selbstverwaltung, in: Mann, Thomas/Püttner, Günter (Hg.): Handbuch der kommunalen Wissen- schaft und Praxis, Bd. 1, dritte, völlig neu bearbeite- te Auflage, Berlin: 381-390. Rudzio, Wolfgang 1981: Wahlverhalten und kom- munalpolitisches Personal in ausgewählten Olden- burger Gemeinden, in: Günther, Wolfgang (Hg.): Sozialer und politischer Wandel in Oldenburg, Ol- denburg: 253-297. Saalfeld, Thomas 2005: Determinanten der Frakti- onsdisziplin – Deutschland im internationalen Ver- gleich; in: Ganghof, Steffen/Manow, Philip (Hg.) Mechanismen der Politik: strategische Interaktion im deutschen Regierungssystem, Frankfurt: 35-71.

12 MIP 2015 21. Jhrg. Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten Aufsätze

Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschluss- Die vorliegende Arbeit setzt sich anhand des Urteils entscheidungen in Verfahren vor staatlichen zum Fall Bülent Ciftlik mit den Rechtsfragen zum Gerichten Parteiausschluss auseinander. Dabei soll das Ver- hältnis zwischen richterlichem Kontrollauftrag und – Anmerkung zum Urteil des KG Berlin parteiinterner Ausschlussentscheidung den Schwer- vom 10. September 2013 - 7 U 131/12 – punkt der Auseinandersetzung bilden. In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Richter Sven Jürgensen1 mit dem vorliegenden Urteil, ihnen obliegt die Be- wertung eines politischen Sachverhalts, bei dem sie den Balanceakt zwischen berechtigter Kontrolle der A. Einleitung Partei und Berücksichtigung autonomer Entschei- Der Parteiausschluss stellt einen wahrhaft facetten- dungsräume zu wahren haben. Diese Untersuchung reichen Vorgang dar. Seine Bedeutung verdankt er soll zeigen, dass ihnen dies nicht gelang. dem parteipolitischen Streit, seine Prominenz der großen medialen Aufmerksamkeit. Erreicht ein Streit B. Das Urteil das Kammergerichts Berlin zwischen einer Partei und einem Parteimitglied einen bestimmten Level, so wird stets auch der Begriff des In dem Verfahren hatte sich das Kammergericht Ber- Parteiausschlusses fallen. Dies geschah in den Fällen lin in zweiter Instanz mit dem Parteiausschluss des Jürgen Möllemann2 und Martin Hohmann3 und zu- SPD-Politikers und Abgeordneten der Hamburger 6 letzt im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen- Bürgerschaft Bülent Ciftlik auseinanderzusetzen. über . Dieser stritt mit seiner Partei über den von der Kreis- schiedskommission erlassenen und von der Landes- Er ist ein Instrument, bei dem Recht und Politik, be- und Bundesschiedskommission der SPD bestätigten reits von Carl Schmitt als „Antithesen“4 bezeichnet, Ausschluss. Vorangegangen waren Streitigkeiten zwi- tief verwoben sind. Er ist Mittel im politischen schen dem Kläger und dem Vorstand der Hamburger Kampf zwischen Parteifreunden, die zunächst ge- SPD über dessen Verhalten im Rahmen eines Ermitt- meinsam um die politische Macht stritten. Doch „der lungsverfahrens gegen ihn. Gegen die Entscheidun- Machtkampf kennt seine eigenen Imperative“.5 So gen der Schiedskommissionen erhob Ciftlik Klage sind zuweilen Hintergründe und Motivationen des vor dem Landgericht Berlin, das dieser allerdings Ausschlussverfahrens schwer zu durchschauen, der nicht stattgab.7 Er legte daraufhin Berufung ein. Parteiausschluss kann zur „politischen Hygiene“ ge- nutzt werden, der Ausgeschlossene auch nur ein I. Entscheidungsgründe „Bauernopfer“ darstellen. Das KG Berlin gab der Berufung des Klägers statt Der Parteiausschluss ist zugleich von rechtlichem In- und erklärte den Parteiausschluss für unwirksam. Es teresse. Er tangiert Rechte sowohl der Partei als auch hielt diesen für unverhältnismäßig, die Entscheidung des Parteimitglieds in empfindlicher Weise. Die Ge- der Bundesschiedskommission sei insofern ermes- richte haben die Aufgabe, diese Rechte zu wahren, sensfehlerhaft gewesen. Dabei legte es unter Ver- ihnen obliegt es zu trennen, das Rechtliche von dem weis auf die ständige Rechtsprechung des BGH eine Politischen. Die richterliche Kontrolle von Parteiaus- eingeschränkte Kontrolldichte fest und beschäftigte schlussentscheidungen erweist sich dabei als kom- sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung plexes Rechtsproblem, was seinen Grund in der mit den Vorwürfen gegenüber Ciftlik. politisch-subjektiven Natur dieser Beschlüsse hat. Das Gericht begründete die Unverhältnismäßigkeit des Parteiausschlusses damit, dass die Vorwürfe nicht schwerwiegend genug gewesen seien und dieser in 1 Der Autor ist studentische Hilfskraft am PRuF. Anbetracht von Vergleichsfällen, in denen kein Aus- 2 Vgl. E. Quambusch, VR 2003, S. 303 ff. schluss erfolgte, nicht nachvollziehbar gewesen sei. 3 KG Berlin, Urt. v. 27.10.2006 – 3 U 47/05. Bevor die Begründung des Urteils kritisch zu be- 4 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, Nachdruck leuchten ist, soll es in die bisherige Rechtsprechung 1979, S. 20. 5 M. Morlok, Rechtsvergleichung auf dem Gebiet der politi- 6 schen Parteien, in: Tsatsos, Dimitris Th./Schefold, Dian/ KG Berlin, Urt. v. 10.09.2013 – 7 U 131/12, in: DVBl. 2014, Schneider, Hans-Peter (Hrsg.), Parteienrecht im europäischen S. 259 ff. Vergleich, 1990, S. 717. 7 LG Berlin, Urt. v. 03.08.2012 – 36 O 178/11.

13 Aufsätze Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten MIP 2015 21. Jhrg. eingeordnet werden, um judizielle Kontinuitäten und bene Verfahren beachtet, sonst keine Gesetzes- oder Neuerungen zu erfassen. Satzungsverstöße vorgekommen sind und ob die Maß- nahme nicht grob unbillig oder willkürlich ist“.13 II. Einordnung in die Rechtsprechung Diese Grundsätze haben die Gerichte auch für den Das KG befindet sich mit seinem Urteil im Wesentli- Parteiausschluss fruchtbar gemacht.14 Bezüglich der chen in einer Linie mit der bisherigen Rechtsprechung Kontrolldichte wird in ständiger Rechtsprechung auf zu Parteiausschlussentscheidungen. Diese ist maßgeb- die dargestellten Grundsätze im Vereinsrecht ver- lich von der vereinsrechtlichen Judikatur geprägt und wiesen und als Grund die Vereinsautonomie der Par- unter Berücksichtigung dieser zu betrachten. teien angeführt.15 1. Parteien und Vereinsrecht Auch die Prüfung des Ausschlussermessens hat ihren Ursprung im Vereinsrecht16 und ist in der Form einer Obgleich die politischen Parteien durch Art. 21 GG Verhältnismäßigkeitsprüfung regelmäßiger Bestand- einen verfassungsrechtlichen Status genießen, sind sie teil der parteienrechtlichen Judikatur17. Dies gilt der gesellschaftlichen, nicht der staatlichen Sphäre zu- 8 ebenso für die Methode, bei einem Ausschluss Ver- zuordnen. Als Vereine organisiert, beruht das Ver- gleichsfälle zu berücksichtigen. Sie findet sich zu- hältnis zwischen Partei und Mitglied nicht auf öf- nächst in der vereinsrechtlichen Rechtsprechung18 fentlicher Gewalt, sondern auf einem privatrechtli- und wurde dann für den Parteiausschluss adaptiert.19 chen Verhältnis.9 Innerparteiliche Streitigkeiten stel- len somit einen Sonderfall vereinsrechtlicher Strei- 3. Kontinuitäten und Neuheiten im Urteil des tigkeiten dar, für die nach § 13 GVG der ordentliche Kammergerichts Berlin Rechtsweg einschlägig ist.10 Die Einordnung als Ver- ein hat die Anwendung der vereinsrechtlichen Recht- In seinem Urteil verweist das KG Berlin für die Kon- sprechung, insbesondere in Bezug auf den gerichtli- trolldichte auf hergebrachte Grundsätze und führt chen Kontrollumfang, zur Folge. eine Ermessensprüfung durch, die in dieser Form auch in bisherigen Urteilen üblich war. 2. Die Rechtsprechung zum Parteiausschluss Es finden sich jedoch auch bemerkenswerte Neue- Der grundlegende Beschluss, eine beschränkte Kon- rungen. In der Historie der gerichtlichen Kontrolle trolle in Bezug auf den Parteiausschluss auszuüben, von Parteiausschlüssen bildet das Urteil dahingehend geht auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum ein Novum, dass es, soweit ersichtlich, als Erstes Vereinsausschluss zurück.11 Der BGH nahm diese einen letztinstanzlich bestätigten Parteiausschluss für Rechtsprechung auf und entwickelte unter Verweis unwirksam erklärt und damit einer Partei ein ausge- auf die Vereinsautonomie einen eingeschränkten schlossenes Mitglied aufzwingt.20 Maßstab, an welchem vereinsrechtliche Ausschlüsse 12 Dies mag angesichts der Geltungsdauer des PartG zu messen seien. Demnach überprüfen die Gerichte, zunächst verwundern.21 Der Umstand erklärt sich je- neben der korrekten Ermittlung der Tatsachen, „ob doch aus der vergleichsweise geringen Anzahl an ge- die verhängte Maßnahme eine Stütze im Gesetz oder richtlichen Verfahren22, was seine Ursache wohl in in der Satzung hat, ob das satzungsmäßig vorgeschrie- den tatsächlichen Umständen eines Parteiausschluss- verfahrens hat.23 Die mit einem Parteiausschluss ein- 8 Zur Dichotomie Staat – Gesellschaft s. M. Stolleis, VVDStRL hergehenden Streitigkeiten zwischen Mitglied und 44 (1986), S. 11; H. Schiedermair, AöR 104 (1979), S. 204; anders H.-Y. Kay, Die innere Ordnung der politischen Partei- 13 BGHZ 87, 337 (343 f.) m. w. N. en, 1970, S. 163 ff. 14 BGHZ 75, 158 (159). 9 S. Ossege, Das Parteienrechtsverhältnis, 2012, S. 69 ff.; A. 15 BGH, NJW 1994, 2610 (2611) m. w. N. Schindler, Die Partei als Unternehmer, 2006, S. 175; R. 16 Wolfrum, Die innerparteiliche demokratische Ordnung nach BGHZ 47, 381 (386). dem Parteiengesetz, 1974, S. 135. 17 BGH, NJW 1994, 2610 (2613); KG Berlin, Urt. v. 27.10.2006 10 N. Heimann, Die Schiedsgerichtsbarkeit der politischen Parteien – 3 U 47/05, juris Rn. 34. in der Bundesrepublik Deutschland, 1977, S. 275; J. Risse, Der 18 BGHZ 47, 381 (386) m. w. N. Parteiausschluß, 1985, S. 221 ff.; zur Stellung der Partei im Zi- 19 LG Berlin, JurionRS 2005, 37860, Rn. 100. vilprozess s. C. Cassebaum, Die prozessuale Stellung der politi- 20 schen Parteien und ihrer Gebietsverbände, 1988, S. 75 ff. So auch H.-P. Bull, DVBl. 2014, S. 262 f. 21 11 RGZ, 49, 150 (155); J. Jansen, Rechtsschutz gegen vereins- Das PartG ist am 28.07.1967 in Kraft getreten. und verbandsrechtliche Sanktionen, 2004, S. 110 f. 22 S. Ossege (Fn. 9), S. 310. 12 F. Grawert, Parteiausschluß und innerparteiliche Demokratie, 23 Zu einer empirischen Untersuchung s. K.-H. Hasenritter, Par- 1987, S. 159. teiordnungsverfahren, 1981, S. 82 ff.

14 MIP 2015 21. Jhrg. Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten Aufsätze

Partei dürften in aller Regel dafür sorgen, dass der ist, um die Wertungen der Parteigremien nachvoll- Verbleib in der Partei auch für das ausgeschlossene ziehen zu können. Die exakte Auslegung der Tatbe- Mitglied nicht von Interesse ist und so eine Klage standsnormen und die entsprechende Subsumtion ausbleibt. Rechtlich ist eine Erklärung in der Zurück- sind Gebote juristischer Methodik.26 haltung der Gerichte gegenüber den Entscheidungen Die einzelnen Tatbestandselemente sind also zu er- der Parteischiedsgerichte zu suchen. In diesem Punkt läutern und in Bezug zu den Annahmen der Bundes- des Urteils könnte also ein Abweichen von der bis- schiedskommission zu setzen. herigen Rechtsprechung liegen. Er bedarf somit ei- ner vertieften Untersuchung. 1. Die Satzung der Partei Obgleich zudem die Vornahme von Vergleichen mit Der Begriff der Satzung ist formell zu verstehen und anderen Fällen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit umfasst die rechtlich gefasste Grundordnung der Anwendung in der bisher ergangenen Rechtspre- Partei.27 Ein Verstoß gegen die Satzung muss vor- chung zu Parteiausschlüssen fand, ist Umfang und sätzlich geschehen.28 Gewicht in vorliegendem Urteil als erstmalig aufzu- fassen. Das KG nimmt auf zwei Fälle Bezug und 2. Die Grundsätze der Partei führt die Ungleichbehandlung mit diesen als ein ent- Schwierig zu erfassen ist der Begriff der Grundsätze scheidendes Argument ins Feld. der Partei. Er soll die „Programmatik der Partei“29 Im Rahmen einer kritischen Analyse der Entschei- beinhalten, ihre „programmatische Identität“30. Der dungsgründe ist dieses Vorgehen zu hinterfragen und Verstoß gegen die Grundsätze muss anders als beim festzustellen, ob der Urteilsspruchs einer Korrektur Satzungsverstoß nicht vorsätzlich geschehen, wie bedarf. beim Verstoß gegen die Ordnung allerdings erheb- lich sein.31 C. Analyse und Kritik des Urteils 3. Die Ordnung der Partei Das Urteil ist im Folgenden hinsichtlich der tatbe- Die Ordnung der Partei meint deren innere Organisa- standlichen Differenzierung (I.), der Verhältnismä- tionsstruktur und umfasst alle geschriebenen und un- ßigkeitsprüfung (II.), der Kontrolldichte (III.) und geschriebenen Verhaltensregeln, die für ein geordne- schließlich der Verwendung von Vergleichsfällen tes Parteileben notwendig sind.32 In Abgrenzung zu (IV.) zu untersuchen und zu bewerten. den Grundsätzen der Partei betrifft die Ordnung eher das Verhalten von Personen, weniger ihre Einstel- I. Tatbestandliche Differenzierung lung.33 Ordnung kann als ein „Pflichtenbündel“ ver- Das Kammergericht extrahiert den von Seiten der standen werden, welches wesentliche Aspekte der Beziehung eines Parteimitglieds zur Partei und zu Partei gegenüber dem Kläger Ciftlik erhobenen Vor- 34 wurf, unterlässt es aber zu differenzieren, in welcher anderen Parteimitgliedern regelt. Hinsicht der Tatbestand des § 10 Abs. 4 PartG erfüllt ist.24 § 10 Abs. 4 PartG normiert die zentralen Vorausset- 26 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage zungen für einen Parteiausschluss. Demnach ist für 1991, S. 271 ff. die Erfüllung des Tatbestands ein vorsätzlicher Ver- 27 H. Wißmann, in: Kersten/Rixen PartG, 2009, § 10 Rn. 32; J. stoß gegen die Satzung oder ein erheblicher Verstoß Risse (Fn. 10), S. 72 f. 28 gegen die Grundsätze oder die Ordnung der Partei M. Morlok, PartG, 2. Auflage 2013, § 10 Rn. 12; M. Löwisch, Der Ausschluss aus politischen Parteien, in: Christlich-Demo- sowie ein schwerer Schaden für diese zu fordern. kratische Union Deutschlands (Hrsg.), 25 Jahre Bundespartei- Das Gericht sieht den Tatbestand offenbar als ver- gericht der CDU, 1985, S. 21. wirklicht an. In den Augen des Gerichts führt erst die 29 J. Risse (Fn. 10), S. 76. fehlerhafte Ermessensausübung der Schiedsgerichte 30 M. Morlok, PartG, 2. Auflage 2013, § 10 Rn. 12. zu der Unwirksamkeit des Parteiausschlusses, nicht 31 E. Lengers, Rechtsprobleme bei Parteiausschlüssen, 1973, S. 43; das Fehlen von Tatbestandsvoraussetzungen.25 So H. Trautmann, Innerparteiliche Demokratie im Parteienstaat, 1975, S. 209. unterbleibt eine differenzierte Auseinandersetzung 32 N. Heimann (Fn. 10), S. 82; M. Morlok, PartG, 2. Auflage mit der Tatbestandsebene, welche aber notwendig 2013, § 10 Rn. 12. 24 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 260 f. 33 J. Risse (Fn. 10), S. 72. 25 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 260. 34 S. Roßner, MIP 2007, S. 47; ders., ZG 2008, 351 f.

15 Aufsätze Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten MIP 2015 21. Jhrg.

4. Erheblichkeit und schwerer Schaden i.S.d. § 10 Abs. 4 PartG, sondern vielmehr als eine an die Parteimitglieder gerichtete Verhaltensanforde- Die Erheblichkeit des Verstoßes gegen Ordnung und rung zu verstehen.42 Ciftliks Verhalten ist dement- Grundsätze stellt ein Qualifikationserfordernis dar. Er sprechend als ein Ordnungsverstoß zu klassifizieren. muss schwerwiegend und von erheblichem Gewicht 35 sein. Der schwere Schaden bezeichnet die Beein- 6. Kritik trächtigung von legitimen Parteiinteressen, es handelt sich somit um einen „politischen Schadensbegriff“.36 Das Gericht unterlässt es, sich mit dem Tatbestand des § 10 Abs. 4 PartG auseinanderzusetzen und das 5. Einordnung des fraglichen Verhaltens Vorgehen der Bundesschiedskommission einer kriti- schen Würdigung zu unterziehen, obwohl eine offen- Die einzuordnenden Handlungen des Klägers Ciftlik sichtliche Ungenauigkeit bei der tatbestandlichen betreffen sein Verhalten im Rahmen der Ermittlun- Einordnung bestand. gen und des Strafverfahrens gegen ihn. Der Grund hierfür kann nicht in der vom Kammerge- So legte Ciftlik in einem Gespräch mit dem damaligen richt vorausgesetzten eingeschränkten Kontrolldichte Vorsitzenden der SPD und der Geschäfts- liegen. Eingeschränkt bedeutet bereits nach Aussage führerin einen Aktenvermerk vor, aus dem hervor- des KG selbst nicht, dass gar keine Kontrolle vorge- ging, dass die Ermittlungen gegen ihn auf einer An- nommen werden soll, sondern eben in gewissen zeige von zwei Hamburger Abgeordneten und SPD- Grenzen.43 Vielmehr offenbart sich im Rahmen der Mitgliedern beruhten. Dieser Vermerk erwies sich Verhältnismäßigkeitsprüfung eine fehlende Tren- später als gefälscht. Er war ihm über sein Abgeord- nung zwischen Tatbestands- und Rechtsfolgenebene, neten-Postfach zugegangen, was er in dem Gespräch die im Folgenden untersucht werden soll. nicht erwähnte.37 Dass Ciftlik den Vermerk gefälscht haben soll, ist explizit nicht Bestandteil der Vorwür- II. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung des Gerichts fe ihm gegenüber. Vorgeworfen wird ihm vielmehr, dass er nicht über die Herkunft des Vermerks auf- Nach Auffassung des Kammergerichts überschritten klärte und sein fehlendes Bemühen sowohl im Rah- die Parteigerichte das ihnen durch § 10 Abs. 4 PartG men der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen als zugewiesene Ermessen in Bezug auf die Ausschluss- auch dabei, die Folgen für die Partei abzumildern.38 entscheidung, weil der Grundsatz der Verhältnismä- ßigkeit nicht gewahrt worden sei.44 Die Frage des Er- Die Kreisschiedskommission der SPD sieht mit die- messens und damit der Verhältnismäßigkeit ist strikt sem Verhalten den Grundsatz der innerparteilichen 39 von der nach dem Tatbestand des Parteiausschlusses Solidarität verletzt. Die Bundesschiedskommission zu trennen. Sie ist eine Frage der Rechtsfolge.45 kommt daraufhin zu der Annahme, Ciftlik habe sich „in erheblicher Weise eines Verstoßes gegen die 1. Pflichtverletzungen und Verschulden des Klägers Grundsätze und die Ordnung der Partei schuldig ge- macht [...], durch den schwerer Schaden in ihm zure- Die Richter befassen sich mit dem unterlassenen chenbarer Weise zumindest mit verursacht wurde“.40 Hinweis auf die Herkunft des Aktenvermerks und mit den Umständen des Strafverfahrens gegen den Die Verstöße des Klägers erweisen sich bei näherer Kläger. Bei beiden Fragen handelt es sich der Sache Betrachtung indes als rein verhaltensbezogen. Der nach um solche nach Auskunfts- und Informations- Streit betrifft in keiner Weise politisch-programmati- pflichten eines Parteimitglieds, sie sind dementspre- sche Inhalte, sondern allein Anforderungen, die von chend im Zusammenhang zu betrachten. Seiten der Partei an Mitglieder bzw. Funktionäre ge- stellt werden. Solidarität stellt zweifelsohne einen So wird festgestellt, der Kläger „hätte sinnvoller Wei- 41 se über die Herkunft des Vermerks aufklären sollen“, tragenden Grundsatz der SPD dar , die proklamierte 46 innerparteiliche Solidarität ist aber nicht als Grundsatz zwingend geboten sei dies aber nicht gewesen. Da- mit negiert das Berliner Kammergericht eine Rechts- pflicht des SPD-Politikers zur Aufklärung, welche 35 J. Ipsen, in: ders. PartG, 2008, § 10 Rn. 24. 36 S.-C. Lenski, PartG, 2011, § 10 Rn. 64. 42 Vgl. BGH, NJW 1994, 2610 (2612); G.P. Strunk, JZ 1978, S. 88. 37 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 261. 43 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 260. 38 BSK SPD, 01/2011/P, S. 7. 44 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 260; zur Eigenschaft des § 10 Abs. 4 39 BSK SPD, 01/2011/P, S. 3. PartG als Ermessensnorm s. J. Risse (Fn. 10), S. 160 ff. 40 BSK SPD, 01/2011/P, S. 6. 45 H. Trautmann (Fn. 31), S. 214 f.; S. Roßner, ZG 2008, S. 352 f. 41 Hamburger Grundsatzprogramm der SPD, 2007, S. 16. 46 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 261.

16 MIP 2015 21. Jhrg. Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten Aufsätze noch die Bundesschiedskommission annahm.47 Auch Trotzdem setzt sich das Gericht mit diesen Punkten, in Bezug auf die staatsanwaltlichen Ermittlungen wie auch mit der tatbestandlichen Frage der Kausali- konnte es keine Pflichtverletzung und damit keinen tät für den Schaden, im Rahmen der Ermessensprü- Verstoß gegen Grundsätze oder Ordnung feststellen.48 fung auseinander. Weiter müsse man mit den Parteigerichten davon b. Inhaltliche Kritik ausgehen, dass Ciftlik den Vermerk nicht selbst ge- fälscht habe. Der Verstoß stelle sich nur als fahrläs- Was den Maßstab zur Bestimmung der Fahrlässig- sig, nicht aber als vorsätzlich dar.49 Ein verschärfter keit angeht, wird im Urteil verkannt, dass für den Sorgfaltsmaßstab, der nach Ansicht der Parteigerich- Parteiausschluss ein subjektiver Fahrlässigkeitsbe- te aus seiner Eigenschaft als Funktions- und Man- griff gilt, es kommt also auf die individuellen Um- datsträger, sowie als Pressesprecher der Partei resul- stände sowie persönlichen Fähigkeiten und Kennt- 53 tierte, wurde verneint.50 nisse des Parteimitglieds an. Diese Handhabung findet sich sowohl in Entscheidungen von Partei- 2. Erforderlichkeit der Maßnahme und Verant- schiedsgerichten54, wie auch bei vorangegangen Ur- wortlichkeit für den Schadenseintritt teilen zu Parteiausschlüssen55. In Bezug auf die Erforderlichkeit bringen die Richter Auch die inhaltlichen Bewertungen halten einer vor, soweit es nur um Ciftliks Position als Presse- kritischen Würdigung nicht stand. Das geschilderte sprecher ginge, hätte eine Enthebung aus diesem Verhalten stellt einen Vorgang dar, welcher nach Amt genügt. Darüber hinaus sei der Kläger für den strafrechtlicher Terminologie56 als Leichtfertigkeit57 der Partei entstandenen Schaden nicht verantwort- zu klassifizieren wäre. Bereits der Fund des Papiers lich, weil der Vorgang nicht durch ihn an die Presse in seinem Abgeordneten-Postfach musste Ciftlik be- gelangte, wodurch der Schaden für die Partei erst merkenswert vorgekommen sein. Dies gilt auch für entstanden sei.51 die Brisanz des Vermerks. Einem erfahrenen Partei- mitglied in herausgehobener Stellung musste diese 3. Kritik bewusst gewesen sein, wurden durch den Vermerk Das Vorgehen des Gerichts ist in systematischer und immerhin zwei Parteigenossen und Abgeordnete be- in inhaltlicher Sicht zu kritisieren. lastet. Nicht umsonst schätzt die Kreisschiedskom- mission dessen Vorzeigen als ein „dem Denunzianten- a. Systematische Kritik tum Vorschub leistendes Verhalten“ ein.58 Insofern ist Das Gericht hätte angesichts seiner Ergebnisse kon- eine Aufklärungspflicht in Bezug auf den Aktenver- sequenterweise die Tatbestandsmäßigkeit von Cift- merk und ihre Verletzung definitiv zu bejahen. liks Handlungen verneinen müssen, nicht erst einen Die dargestellten Anforderungen sind ebenfalls in Ermessensfehler der Schiedsgerichte. Wenn aus Bezug auf die gegen ihn laufenden Ermittlungen an- Sicht des Gerichts bereits keine Pflicht zur Offenle- zulegen. Für diesen und den vorangegangen Kom- gung bestand und Ciftlik seiner Aufklärungspflicht plex ist zudem die Figur der „schadensgeneigten Tä- im Ermittlungsverfahren nachkam, konnte es nicht tigkeit“ zu bemühen. Demnach sind im Rahmen von gleichzeitig dem Befund der Parteigerichte folgen, in Aktivitäten, die leicht zu einem Schaden für die Par- diesen sei ein erheblicher Verstoß gegen die Ord- tei führen können, besondere Sorgfaltspflichten für nung und Grundsätze der Partei zu sehen. das Parteimitglied anzunehmen, es ist also in erhöh- 59 Auch die Frage des Verschuldens ist eine des Tatbe- tem Maße verpflichtet. standes. § 10 Abs. 4 PartG fordert für den Satzungs- verstoß die Verschuldensform des Vorsatzes, der er- 53 So J. Risse (Fn. 10), S. 104; S. Roßner, ZG 2008, S. 351. hebliche Verstoß gegen die Ordnung oder die Grund- 54 SK SPD Bochum, 01/08, online verfügbar unter http://www.- sätze der Partei kann auch fahrlässig geschehen.52 sueddeutsche.de/politik/dokumentation-zum-fall-clement-ent- scheidung-der-spd-schiedskommission-1.194324 (letzter Zu- griff am 04.12.2014). 55 KG Berlin, Urt. v. 27.10.2006 – 3 U 47/05, juris Rn. 25 ff. 47 BSK SPD, 01/2011/P, S. 6 f. 56 Für den Zusammenhang mit dem strafrechtlichen Fahrlässig- 48 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 261. keitsbegriff s. J. Risse (Fn. 10), S. 103 f. 49 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 261. 57 Vgl. H. Frister, Strafrecht AT, 6. Auflage 2013, 12. Kap. 50 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 261; BSK SPD, 01/2011/P, S. 6 f. Rn. 20 f. 51 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 261. 58 Vgl. BSK SPD, 01/2011/P, S. 3. 52 J. Risse (Fn. 10), S. 100 ff.; H. Trautmann (Fn. 31), S. 209 f. 59 J. Risse (Fn. 10), S. 94.

17 Aufsätze Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten MIP 2015 21. Jhrg.

Das Echo eines gegen ihn geführten Ermittlungsver- führungen zu der vom Gericht vorgenommenen Ver- fahrens und die Verknüpfung mit der Gesamtpartei hältnismäßigkeitsprüfung zeigen indes, dass es sich müssen dem Kläger als Pressesprecher bewusst ge- kritisch und eingehend mit den Annahmen der Par- wesen sein. Eine Aufklärungspflicht bestand zumin- teischiedsgerichte auseinandergesetzt hat und diese dest hinsichtlich des zeitlichen Moments, um als Par- letztlich verwirft. Dass die Kontrolldichte in diesem tei entsprechend reagieren zu können. Diese Forde- Verfahren eine empfindliche Problematik darstellt, rung ist, entgegen der Auffassung des Kammerge- bemerken auch die Richter selbst, indem sie nach richts60, durchaus der Entscheidung der Bundes- Feststellung der Ermessensfehlerhaftigkeit nochmals schiedskommission der SPD zu entnehmen61. die Einhaltung des selbst auferlegten Prüfungsmaß- stabs beteuern.63 Bezüglich der Erforderlichkeit ist festzuhalten, dass der Antrag Weitergehendes als die Amtsenthebung In der Literatur ist der Umfang der gerichtlichen begehrte und der Parteiausschluss das Ziel des Ver- Kontrolldichte stark umstritten und der Meinungs- fahrens war. Insofern ist dieser Einwurf unbeachtlich. stand kaum zu überblicken.64 Auch das angeführte Argument der Verantwortlich- Im Folgenden soll dieses Problem daher von den keit für den Schaden kann nicht durchgreifen. Die rechtlichen Ausgangspunkten her betrachtet und die Kausalität des Verstoßes für den Schaden ist im Sinne rechtlichen Gründe für die von den Gerichten pro- der Äquivalenztheorie zu verstehen. Demnach ist jede klamierte eingeschränkte Kontrolldichte herausgear- Handlung kausal, die nicht hinweggedacht werden beitet werden, um so zu einer Bewertung der Hand- kann, ohne dass der Erfolg entfiele.62 Mit seinem habung des KG im vorliegenden Fall kommen zu Verhalten hat Ciftlik die unmittelbare Ursache für den können. politischen Schaden der SPD Hamburg gesetzt, unab- hängig davon, dass er die Streitigkeit wohl nicht selbst 1. Die gerichtliche Kontrolle parteiinterner Prozesse an die Presse brachte. Hätte er kein Fehlverhalten be- Der Staat beansprucht gegenüber den Bürgern das gangen, wäre dieses auch nie bekannt geworden. Gewaltmonopol, woraus sich seine Verpflichtung er- gibt, zur Lösung von Rechtskonflikten seine Justiz 4. Zusammenfassung zur Verfügung zu stellen.65 Dieser allgemeine Justiz- Das Kammergericht vermischt in seiner Prüfung Fra- gewährungsanspruch folgt aus dem Rechtsstaatsprin- gen des Tatbestandes und des Ermessens, was zu zip i.V.m. den Grundrechten66 und verlangt im schwer nachvollziehbaren Wertungen im Rahmen Grundsatz eine umfassende Kontrolle der Streitigkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung führt. So wird nicht in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht67. herausgearbeitet, welche Anforderungen an einen Die gerichtliche Überprüfung parteiinterner Entschei- Verstoß zu stellen sind und dann unsystematisch dungen und Strukturen besteht in verschiedenen Kon- Kritik an den schiedsgerichtlichen Wertungen geübt. stellationen, z.B. hinsichtlich der wahlrechtlichen Dieser Kritik ist nicht zu folgen, vielmehr ist der Kandidatenaufstellung68, innerparteilichen Wahlen69, Bundesschiedskommission zuzustimmen und ein er- schiedsgerichtlichen Verfahren70 oder der Aufnahme heblicher Verstoß anzunehmen. Dieser stellt sich in- in die politischen Parteien71. des als ein Ordnungs- nicht Grundsatzverstoß dar. Aus der Betrachtung dieser Urteile ergibt sich der In diesem Zusammenhang ist die Frage nach der ge- Befund, dass eine richterliche Zurückhaltung bei al- richtlichen Kontrolldichte aufzuwerfen. Zu klären ist, len eingangs genannten Entscheidungen zur Bewer- inwiefern die Annahmen des Schiedsgerichts über- haupt zur richterlichen Disposition standen und ob die Richter mit ihren Wertungen Grenzen überschritten. 63 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 260. 64 S. dazu F. Grawert (Fn. 12), S. 145 ff. III. Die gerichtliche Kontrolldichte des Parteiaus- 65 L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2013, Rn. 890; schlusses D. Kressel, Parteischiedsgerichtsbarkeit und Staatsgerichts- barkeit, 1998, S. 24. Das Urteil des Kammergerichts steht zumindest for- 66 mal in der Linie der jurisdiktionellen Selbstrestriktion L. Michael/M. Morlok (Fn. 65), Rn. 890. 67 gegenüber parteiinternen Entscheidungen. Die Aus- BVerfGE 85, 337 (345). 68 BVerfGE 89, 243. 60 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 261. 69 BGH, NJW 1974, 183. 61 BSK SPD, 01/2011/P, S. 6. 70 LG Bonn, Urt. v. 22. 2. 1990 - 15 O 345/89. 62 J. Risse (Fn. 10), S. 112. 71 BGHZ 101, 193.

18 MIP 2015 21. Jhrg. Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten Aufsätze tung innerparteilicher Vorgänge stattfindet.72 Unter rantierten Verbandsautonomie, die durch Art. 21 GG Verweis auf ihre Autonomie werden den Parteien weitere Gehalte erfährt.81 Art. 21 GG stellt zwar kein Entscheidungsräume zugewiesen, die keiner vollen Grundrecht, wohl aber ein verfassungsmäßiges sub- gerichtlichen Überprüfung unterstehen.73 jektives Recht dar.82 Träger dieses Rechts sind so- wohl die einzelnen Mitglieder der Partei als auch die Problematisch ist, dass sich deren Inhalt nicht ohne Partei als Organisation selbst.83 Weiteres ergibt. Der bloße Verweis auf Freiheit oder Autonomie stellt keine ausreichende Begründung der Ausgangspunkt des Gehalts der Parteienfreiheit ist die gerichtlichen Selbstrestriktion dar.74 Um das richtige Gründungsfreiheit, nach der die Parteigründung ohne Maß der richterlichen Prüfungsbefugnis bestimmen staatlichen Mitwirkungsakt möglich ist.84 Sie wirkt in zu können, ist also der Gewährleistungsgehalt der der Betätigungs- und Organisationsfreiheit fort, durch Parteienfreiheit zu bestimmen. welche die Parteien das Recht haben, sich in den Grenzen des Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG derart zu organi- 2. Die Parteienfreiheit sieren, dass sie die von ihnen autonom festgelegten Art. 21 Abs. 1 GG weist den Parteien die Aufgabe Ziele erreichen können.85 In diesem Zusammenhang zu, an der politischen Willensbildung des Volkes ist auch ihre Tendenzfreiheit zu sehen, die den Partei- mitzuwirken. Mit ihm haben sie eine verfassungs- en die Möglichkeit gibt, alle internen Vorgänge und rechtliche Institutionalisierung erfahren.75 Strukturen auf die Tendenz der Partei zu verpflichten. Aus ihr folgt das Recht, die programmatischen Grund- Konrad hat die verfassungsrechtliche Stellung sätze der Partei zur Grundlage aller innerparteilichen der Parteien als dreifaltigen Status aufgefasst: einen Kommunikation zu machen, die Tendenzreinheit.86 Status der Freiheit, der Gleichheit und der Öffent- lichkeit.76 Ihre Gleichheit betrifft das Verhältnis der Die Parteienfreiheit ist gegen den Staat gerichtet, um Parteien untereinander – im Sinne einer strengen, die lenkungsfreie Willensbildung des Volkes zu den formalen Chancengleichheit77, die Öffentlichkeit ihre Staatsorganen zu gewährleisten.87 Die Autonomie Funktion als Mittler zwischen den Bürgern und den der Parteien stellt angesichts dessen ein Organisati- zur Entscheidungsfindung berufenen Organen des onsprinzip dar, welches für deren Funktionserfüllung Staates78. unerlässlich ist.88 Die Parteien können ihrer verfas- sungsgegebenen Aufgabe nur nachkommen, wenn Der Bestand der Parteien sichert grundlegend das 79 sie sich frei von staatlicher Intervention organisieren verfassungsrechtliche Prinzip der Volksouveränität , können. weil sie die ständige Einflussnahme des Volkes auf die in den Staatsorganen getroffenen Entscheidungen Die Notwendigkeit der autonomen, tendenzreinen ermöglichen.80 Als Zusammenschluss von Bürgern Organisation erfährt ihre Bedeutung zudem in dem wurzelt ihre Freiheit in der aus Art. 9 Abs. 1 GG ga- Umstand, dass die Parteien an ihrer Bestandserhal- tung interessiert sein müssen. Dies gilt in Bezug auf 72 BVerfGE 89, 243 (259); BGHZ 101, 193 (206); BGH, NJW ihre Mitglieder, ihre Wähler und ihr Umfeld.89 Das 1974, 183 (184); M. Morlok, NJW 1991, S. 1162. Grundgesetz konzipiert eine parteigetragene Wettbe- 73 BVerfGE, 89, 243 (251, 259); BGHZ 101, 193 (200, 206); 81 BGH, NJW 1974, 183 (184). M. Morlok, in: Dreier GG, 2. Auflage 2012, Art. 21 Rn. 48 f.; 74 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig GG, 71. Ergl. 2014, Art. 21 So S. Roßner, MIP 2007, S. 52. Rn. 256 ff.; R. Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, 75 G. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 6. Auflage 2010, Art. 21 Rn. 99. 1985, S. 71 ff. 82 F. Shirvani (Fn. 79), S. 161; Pieroth, in: Jarass/Pieroth GG, 76 K. Hesse, VVDStRL 17 (1959), S. 27 ff. Art. 21 Rn. 15; D. Th. Tsatsos/M. Morlok (Fn. 80), S. 79; U. 77 Std. Rspr. des BVerfG, s. BVerfGE 20, 56 (116); 129, 300 Volkmann, BerlK GG, 2013, Art. 21 Rn. 45. (313); A. Kißlinger, Das Recht auf politische Chancengleich- 83 M. Morlok, in: Dreier GG, 2. Auflage 2012, Art. 21 Rn. 51 f. heit, 1998, S. 31. 84 M. Morlok, in: Dreier GG, 2. Auflage 2012, Art. 21 Rn. 57 ff. 78 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig GG, 71. Ergl. 2014, Art. 21 85 F. Shirvani (Fn. 79), S. 161 f., D. Grimm, HbdVerfR, 2. Auf- Rn. 251; M. Morlok, in: Dreier GG, 2. Auflage 2012, Art. 21 lage 1994, § 14 Rn. 31 f; J. Risse (Fn. 10), S. 238 Rn. 46 ff. 86 M. Morlok, NJW 1991, S. 1162. 79 M. Morlok, Innere Struktur und innerparteiliche Demokratie, 87 in: Tsatsos, Dimitris Th. (Hrsg.), Auf dem Weg zu einem ge- BVerfGE, 20, 56 (101); H. Schiedermair, AöR 104 (1979), samtdeutschen Parteienrecht, 1991, S. 91 f.; F. Shirvani, Das S. 205; M. Morlok, NJW 1991, S. 1162. Parteienrecht und der Strukturwandel im Parteiensystem, 88 H. Schiedermair, AöR 104 (1979), S. 205 f. 2010, S. 158, S. Roßner, ZG 2008, S. 337. 89 Vgl. M. Morlok, Parteienrecht ist Organisationsrecht, in: Bäuerle, 80 D. Th. Tsatsos/M. Morlok, Parteienrecht, 1982, S. 19; F. Michael/Dann, Philipp/Wallrabenstein, Astrid (Hrsg.), Fest- Shirvani (Fn. 79), S. 158. schrift für Brun-Otto Bryde, 2013, S. 237.

19 Aufsätze Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten MIP 2015 21. Jhrg. werbsdemokratie.90 Die Parteien sind somit darauf Konkretisierung und der Ausgestaltung.98 Dies ob- angewiesen, in diesem kompetitiven System hand- liegt den Parteien im Rahmen ihrer Organisations- lungsfähig zu bleiben, um bestehen zu können.91 Da- freiheit.99 Der BGH nimmt diesbezüglich an: „Es für ist ein autonomer Entscheidungskorridor notwen- kann aber nicht Sache der Gerichte sein, sich für ei- dig, um politische Entscheidungen in struktureller, nes von mehreren demokratischen Idealen, deren in- aber auch personeller Hinsicht treffen zu können. nerparteiliche Ausformung unter der Herrschaft des Grundgesetzes denkbar ist, zu entscheiden“.100 Dieser Befund deckt sich auch mit den Erkenntnis- sen der Organisationssoziologie. Demnach befindet Einen „Mindestgehalt“101 innerparteilicher Demokratie sich die innere Struktur der Parteien in Bewegung stellt jedenfalls ein gewisser Bestand an Mitglieder- und muss sich ständig veränderten Umständen an- rechten dar.102 Diese resultieren mangels Grund- passen.92 Die Parteien erweisen sich auch in dem rechtsbindung der Parteien nicht unmittelbar aus den durch das PartG geregelten Bereich als „ideenreich“, Grundrechten des GG selbst.103 Richtigerweise sind um „Vorgaben des Parteienrechts situativ auszulegen sie aus dem Gebot der innerparteilichen Demokratie oder sogar zu umgehen“.93 Die organisationale Frei- zu entwickeln.104 Die Parteimitgliedschaft wird als heit erweist sich gerade angesichts der sich verän- „status activus processualis“105, ihre innere Struktur dernden Parteistruktur hinsichtlich einer stärkeren als „grundrechtsförderndes Innenrecht“106 verstan- Professionalisierung als notwendig, um institutionel- den.107 Der Bürger erhält mit Art. 21 Abs. 1 GG ein le Erwartungen erfüllen zu können.94 verfassungsmäßiges Recht auf (partei)politische Be- tätigung, dessen Gewährleistung Aufgabe der inner- Die Parteienfreiheit stellt eine Funktionsgrundlage parteilichen Demokratie ist.108 Gesetzgeber und Ge- für die Parteien dar. Sie erfasst, von der Gründungs- richte sind dem Schutze dieses Rechts verpflichtet.109 freiheit ausgehend, das Recht der Parteien zur (ten- denz)freien Organisation auf mitgliedschaftlicher und 4. Praktische Konkordanz und die Beschränkung struktureller Ebene. der gerichtlichen Kontrolldichte 3. Innerparteiliche Demokratie und Rechte des Im Falle des Parteiausschlusses besteht eine verfas- Parteimitglieds sungsrechtliche Konfliktlage zwischen den gleich- rangigen Rechten der Parteienfreiheit und der politi- Die Parteienfreiheit findet ihre Schranke in dem Ge- schen Betätigungsfreiheit des Parteimitglieds.110 bot der innerparteilichen Demokratie aus Art. 21 Zwischen diesen ist praktische Konkordanz herzu- Abs. 1 S. 3 GG.95 stellen, die Rechte also in einen sie optimierenden Zweck des verfassungsrechtlichen Postulats einer in- Ausgleich zu bringen.111 neren demokratischen Ordnung ist es, die Partizipati- Der Ausschluss eines Mitglieds dient der Möglich- onsmöglichkeiten der Bürger zu sichern.96 Sie dient keit zur Funktionserfüllung der Partei. Ihre Wettbe- der „gleichen Freiheit der Bürger zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung“, deren Ermöglichun- 98 S. Roßner, ZG 2008, S. 340; vgl. R. Alexy, Theorie der 97 gen Funktion der Parteien ist. Grundrechte, 1986, S. 71 ff. 99 Die in Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG geforderten demokra- M. Morlok (Fn. 79), S. 93. tischen Grundsätze, rechtstheoretisch als Prinzip zu 100 BGH, NJW 1974, 183 (184). verstehen, bedürfen als Optimierungsgebote der 101 J. Ipsen, in: Sachs GG, 6. Auflage 2011, Art. 21 Rn. 54. 102 S. Ossege (Fn. 9), S. 85; J. Risse (Fn. 10), S. 240. 103 So aber R. Wolfrum (Fn. 9), S. 134 ff.; s. dazu G. König, Die 90 M. Morlok, Parteienrecht ist Wettbewerbsrecht, in: Häberle, Verfassungsbindung der politischen Parteien, 1993, S. 119 ff. Peter/ders./Skouris, Vassilios (Hrsg.), Festschrift für Dimitris 104 M. Morlok, in: Dreier GG, 2. Auflage 2012, Art. 21 Rn. 131. Th. Tsatsos, 2003, S. 410 ff.; J. Köhler, Parteien im Wettbe- 105 P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 86 ff. werb, 2006, S. 63 ff. 106 G. P. Strunk, JZ 1978, S. 87. 91 M. Morlok (Fn. 90), S. 69 f. 107 M. Morlok, in: Dreier GG, 2. Auflage 2012, Art. 21 Rn. 131. 92 S. Bukow, Die professionalisierte Mitgliederpartei, 2013, 108 S. 283 ff. H. Trautmann (Fn. 31), S. 172, 182 ff. 109 93 S. Bukow (Fn. 92), S. 284. M. Morlok, in: Dreier GG, 2. Auflage 2012, Art. 21 Rn. 131. 110 94 S. Bukow (Fn. 92), S. 283, 286 ff. F. Grawert (Fn. 12), S. 158. 111 95 D. Grimm, HbdVerfR, 2. Auflage 1994, § 14 Rn. 36. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepu- blik Deutschland, 20. Auflage 1999, Rn. 72; vgl. C. Schmitz, 96 S. Ossege (Fn. 9), S. 76 f.; H. Trautmann (Fn. 31), S. 91. Grundrechtskollisionen zwischen politischen Parteien und 97 U. Volkmann, BerlK GG, 2013, Art. 21 Rn. 65. Bürgern, 1995, S. 180 f.

20 MIP 2015 21. Jhrg. Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten Aufsätze werbssituation und ihr Interesse am Bestand können Das Verfahren der innerparteilichen Schiedsgerichte ihn notwendig machen.112 Einer Partei muss, „um trifft Vorkehrungen, die eine willkürliche Behandlung sich eine gewisse Schlagkraft zu erhalten“, die Mög- grundsätzlich ausschließen.118 Die Mitglieder der Par- lichkeit zum Parteiausschluss gewährt werden.113 teischiedsgerichte werden gem. § 14 Abs. 2 PartG ge- wählt, sie genießen Unabhängigkeit und müssen eine Auf der anderen Seite wirkt sich der Parteiausschluss gewisse Qualifikation aufweisen.119 Prozessual muss in besonderem Maße auf die politische Betätigungs- das Schiedsverfahren nach § 14 Abs. 4 PartG gewis- möglichkeit des Bürgers aus. Diese ist im hohen se Rechte abdecken, insgesamt ein gerechtes Verfah- Maße an die Parteimitgliedschaft gekoppelt, denn ren darstellen. Auf diese Weise wird sichergestellt, politische Teilhabe ist, allein angesichts des Primats dass der subjektiv geprägte Beschluss des Parteiaus- der Kandidatenaufstellung, vor allem in und durch schlusses auf Grundlage eines Verfahrens geschieht, Parteien möglich.114 Hinzu kommt, dass das bisherige das rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht.120 Ent- Engagement in einer Partei, vor allem in herausgeho- scheidend ist mithin die angemessene Handhabung bener Stellung, immer eine Abgrenzung zu anderen der Gerichte bei der Überprüfung der auf diesem bestehenden Parteien mit sich bringt. Ein Wechsel zu Wege getroffenen Beschlüsse. einer konkurrierenden Partei kommt für ehemalige Parteifunktionäre oft allein deshalb nicht in Betracht, a. Die eingeschränkte Kontrolldichte der Gerichte weil sie sich regelmäßig in der Situation befinden, deren Programmatik öffentlich bekämpfen zu müs- Das Rechtsstaatsprinzip gebietet trotz vorgeschalte- sen. Das Parteiausschlussverfahren wirkt darüber ter Entscheidung der Parteischiedsgerichte eine ge- 121 hinaus stigmatisierend. Der Vorgang stößt in der Öf- richtliche Kontrolle. Die ständige Rechtsprechung fentlichkeit zumeist auf reges Interesse und führt zu der Gerichte zu Parteiausschlüssen erweist sich, ent- einer zweifelhaften Bekanntheit des fraglichen Mit- sprechend angewandt, als taugliches Mittel ebendies glieds. Es ist kaum anzunehmen, dass das Mitglied zu berücksichtigen. bei anderen Parteien offene Türen erwarten kann, Die Reichweite der Kontrolle, also der Raum für ei- wenn zuvor öffentlichkeitswirksam sein parteischä- gene Auffassungen, der dem Kontrollierten vor dem digendes Verhalten seziert wurde. Die verfassungs- Kontrolleur verbleibt, muss sich dem Gegenstand rechtliche Stellung des Bürgers mit seinem Recht auf der Kontrolle anpassen.122 Für diese Varianz in der politische Betätigung gebietet es, entsprechende Kontrolldichte müssen allerdings rechtliche Gründe Vorkehrungen gegen einen vorschnellen und unge- angeführt werden, wobei der Anspruch des Mitglieds rechtfertigten Verstoß aus einer Partei zu treffen, der auf gerichtlichen Schutz seiner Rechte und die Auto- das „politische Aus“ für einen engagierten Bürger nomie der Parteien in ihren Entscheidungen berück- bedeuten kann. Pointiert gesagt geht es darum, den sichtigt werden müssen. „einzelnen Parteibürger vor der Parteiführung“ zu schützen.115 Das Augenmerk ist dafür zunächst auf die Natur der Entscheidung zu legen. Der Parteiausschluss ist eine Der Gesetzgeber hat auf diese Konfliktlage mit dem Ermessensentscheidung und eine solche, die auf dem § 10 Abs. 4 PartG reagiert, der vor der willkürlichen Selbstverständnis der Partei gründet, was zwingend Beendigung der Parteimitgliedschaft schützt und die Berücksichtigung erfahren muss. Entscheidungsfreiheit der Parteien begrenzt.116 Zu- dem wurde die Ausschlussentscheidung nicht etwa aa. Der Parteiausschluss als Ermessensentscheidung dem Parteivorstand, sondern nach § 10 Abs. 5 PartG den Parteischiedsgerichten übertragen, sie wurde Der Parteiausschluss ist als Ermessensentscheidung prozeduralisiert.117 ausgestaltet. Haben die Schiedsgerichte die Verwirk- lichung des Tatbestandes bejaht, liegt es in ihrem Er- messen, ob eine und welche Maßnahme zu verhän- 112 M. Morlok (Fn. 89), S. 255 f. gen ist.123 113 M. Morlok (Fn. 5), S. 717. 114 F. Knöpfle, Der Staat 9 (1970), S. 328 f.; zum „Listenprivi- 118 S. Roßner, ZG 2008, S. 354. leg“ s. J. Prommer, MIP 2014, S. 19 f. 119 T. G. Kerssenbrock (Fn. 117), S. 151. 115 N. Heimann (Fn. 10), S. 300. 120 S. Roßner, ZG 2008, S. 354; H.-P. Bull, DVBl. 2014, S. 262. 116 S. Roßner, MIP 2007, S. 53 f. 121 117 T. G. Kerssenbrock (Fn. 117), S.21; C. Lenz/C. Sasse, JZ S. Roßner, ZG 2008, S. 353; zu Zweck und Funktion des Par- 1962, S. 241. teischiedsgerichtsverfahren s. T. G. Kerssenbrock, Der Rechts- 122 schutz des Parteimitgliedes vor Parteischiedsgerichten, 1985, F. Grawert (Fn. 12), S. 163. S. 26. 123 N. Heimann (Fn. 10), S. 299; S. Roßner, ZG 2008, S. 352.

21 Aufsätze Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten MIP 2015 21. Jhrg.

Ermessensentscheidungen sind grundsätzlich einer So ist Selbstverständnis eines Rechtsträgers nur nur eingeschränkten Überprüfung zugänglich. Die im schwer zu überprüfen, denn „das fremde Bewusst- Verwaltungsrecht entwickelte Ermessensfehlerlehre sein und fremder gemeinter Sinn bleiben grundsätz- ist auch im Zivilprozess anzuwenden und so eine lich unzugänglich“.131 Die Natur der Entscheidung Kontrolle auf das Einhalten der Grenzen des Ermes- zwingt zu einer Auseinandersetzung mit der Perspek- sens einzuschränken.124 Es handelt sich bei Partei- tive der Kontrolle. Die Bewertung einer Handlung ausschlussentscheidungen letztlich um Prognoseent- kann nur authentisch vorgenommen werden, wenn scheidungen, in denen viele komplexe politische Er- sie aus der Sicht des Handelnden zum Zeitpunkt der wägungen eine Rolle spielen. Für diese haben die Handlung erfolgt.132 Schiedsgerichte eine Primärkompetenz.125 Die Ermessensentscheidung hinsichtlich eines Par- bb. Parteiausschluss und Selbstverständnis teiausschlusses stellt eine Entscheidung dar, bei der das Selbstverständnis eine erhebliche Rolle spielt. Es Bei der Ermittlung eines Grundsatzes oder eines ist also unabdingbar, dass die subjektiven Wahrneh- Ordnungssatzes geht es im Wesentlichen um Fragen mungen der Partei, nicht diejenigen des Gerichts, für des Selbstverständnisses einer Partei.126 Betrachtet die Entscheidung zugrunde gelegt werden.133 Die man die Voraussetzungen des § 10 Abs. 4 PartG nä- Kontrollperspektive hängt damit unmittelbar mit der her, so ist festzustellen, dass es sich um rein subjek- Frage der Kontrollintensität zusammen.134 Um es mit tive Kategorien handelt. Die Parteien müssen sich im Ernst Forsthoff auf den Punkt zu bringen: „Im Zwei- Rahmen des Parteiausschlussverfahrens essentielle fel hat der Handelnde vor dem Kontrollierenden Fragen stellen: Was ist die Programmatik unserer Recht, und das hat seinen guten Sinn“.135 Partei? Noch deutlicher: Was ist unsere programma- Durch die Prozeduralisierung der Entscheidungsfin- tische Identität? Dies gilt auch für die innerparteili- dung in Form von Schiedsgerichtsentscheidungen ist che Ordnung, vor allem bei ungeschriebenen Ord- ein akzeptabler Modus zur Ermittlung des Selbstver- nungssätzen.127 Welche Pflichten sollen für Mitglie- ständnisses der Partei gefunden. Deren Beschlüsse der unserer Partei statuiert werden? Wann hat sich haben gegenüber der staatlichen Gerichtsbarkeit die ein Mitglied illoyal gegenüber uns verhalten? Vermutung „funktioneller Richtigkeit“ für sich.136 Parteien haben als Zusammenschluss von Menschen Die Natur der Entscheidung gebietet eine Zurückhal- ein kollektiv geteiltes Selbstverständnis.128 Dieses tung bei der Überprüfung des auf das Selbstverständ- soll verstanden werden als „das Ensemble von Orga- nis der Partei gegründeten Ausschlusses. nisationsmustern, Verfahrensbestimmungen, Infor- mationslage und gegebenenfalls durch Wahlen ein- cc. Die Reichweite richterlicher Kontrolle gespeiste normative Präferenzen“.129 Es geht um die Auf Grundlage dieser Erkenntnisse ist die Einschrän- Summe an gewissen Erfahrungssätzen einer Identi- kung der Kontrolldichte zu bestimmen. tät. Das Selbstverständnis der Partei spielt sowohl bei der Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit des Anerkannt ist, dass hinsichtlich der der schiedsge- § 10 Abs. 4 PartG als auch auf Ebene der Verhältnis- richtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Tatsa- mäßigkeit eine Rolle.130 Die Gewichtung der tatbe- chen eine volle Kontrolle durch die staatlichen Ge- standlichen Handlung des auszuschließenden Mit- richte stattfinden muss.137 Dies gilt auch für die von glieds hängt maßgeblich von der individuellen Situa- den Parteien aufgestellten Verfahrensnormen der tion, von der subjektiven Empfindung und Einschät- Schiedsgerichtsordnungen.138 Die Parteienfreiheit er- zung der Partei ab, was berücksichtigt werden muss. fasst nicht das Recht, sich bei Entscheidungen auf

131 124 W. Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, M. Morlok (Fn. 126), S. 366. 1970, S. 213 f. 132 M. Morlok (Fn. 126), S. 370, 372. 125 F. Grawert (Fn. 12), S. 161 ff. 133 Vgl. M. Morlok (Fn. 126), S. 374. 126 S. zum Selbstverständnis von Parteien M. Morlok, Selbstver- 134 M. Morlok (Fn. 126), S. 371. ständnis das Rechtskriterium, 1993, S. 218; M. H. Müller, 135 E. Forsthoff, Über Maßnahme-Gesetze, in: Bachof, Otto/Drath, MIP 1997, S. 96. Martin/Gönnenwein, Otto/u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für 127 J. Risse (Fn. 10), S. 243. Walter Jellinek, 1955, S. 232. 128 M. Morlok (Fn. 126), S. 217. 136 F. Grawert (Fn. 12), S. 168. 129 M. Morlok (Fn. 126), S. 374. 137 J. Risse (Fn. 10), S. 238, 243. 130 J. Risse (Fn. 10), S. 162. 138 J. Risse (Fn. 10), S. 242.

22 MIP 2015 21. Jhrg. Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten Aufsätze falsche Tatsachen zu berufen.139 Die Tatsachener- dagegen auf einer unsystematischen Betrachtung und mittlung und die Verfahrensvorschriften enthalten einer fehlgehenden rechtlichen Würdigung. keine subjektiven und prognostischen Elemente, sind In dem Urteil offenbart sich mithin eine Diskrepanz also ohne weiteres kontrollierbar. zwischen angelegtem und anzulegendem Kontroll- Die Kontrollintensität ist aber bezüglich der Ent- maßstab. Den Richtern des KG ist es nicht gelungen, scheidung, ob ein bestimmtes Verhalten im Sinne ihre subjektive Sicht bei der Auseinandersetzung mit des § 10 Abs. 4 PartG tatbestandsmäßig ist, und hin- dem Fall Ciftlik außen vor zu lassen. Dieser Befund sichtlich des Parteiausschlussermessens einzuschrän- verdeutlicht sich bei vorgenommenem Vergleich mit ken. Dies sind politisch-subjektive Entscheidungen, anderen Fällen. Die dortige Argumentation verdient bezüglich derer lediglich eine Evidenzkontrolle statt- eine gesonderte Betrachtung. finden darf, um die Parteiautonomie zu wahren.140 IV. Die Abwägung anhand von Vergleichsfällen Die Obliegenheit der Parteischiedsgerichte ist es, plausibel zu machen, ob ein Verhalten die Voraus- Das Gericht nimmt einen situativen Vergleich des setzungen des § 10 Abs. 4 PartG verwirklicht141, und vorliegenden Falls mit anderen prominenten Partei- ihr Ermessen ordnungsgemäß auszuüben. Die Ge- ordnungsverfahren vor und sieht in Bezug auf Ciftlik richte dürfen diese Entscheidung dann allein darauf einen Verstoß „gegen das verfassungsrechtlich ga- überprüfen, ob sie „offenbar unbillig“ oder „willkür- rantierte Prinzip der Gleichbehandlung“ gegeben.145 lich“ ist.142 1. Das Recht auf Gleichbehandlung im Parteiaus- Anhaltspunkte, wann dies der Fall ist, liefert bereits schlussverfahren das erstinstanzliche Urteil zum Fall Ciftlik. Dem- nach ist eine Entscheidung willkürlich, „wenn sie Das Bestehen mitgliedschaftlicher Rechte innerhalb der Partei wurde bereits als notwendiger Bestandteil unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar 146 ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf einer demokratischen Ordnung festgestellt. Dazu sachfremden Erwägungen beruht.“ Grob unbillig gehört zweifelsfrei auch das Recht auf Gleichheit, stellt es doch für ein demokratisches System ein sub- kann eine Entscheidung sein, wenn etwa das Gebot 147 der Gleichbehandlung verletzt ist.143 stantielles dar. Wie auch im allgemeinen Vereins- recht148, besteht für das Parteimitglied im Aus- b. Die Ausübung der Kontrolle im Urteil des schlussverfahren das Recht auf Gleichbehandlung.149 Kammergerichts Berlin Fraglich ist, welche Anforderungen an eine Verlet- zung dieses Rechts zu stellen sind. Das KG Berlin hält die Entscheidung der Parteige- richte für „grob unbillig“, 144 es verbleibt also termi- 2. Anforderungen an eine Verletzung des Gleich- nologisch im Rahmen der Evidenzkontrolle. behandlungsgrundsatzes Dem Gericht kommt der Ausschluss von Bülent Ciftlik Bereits anhand der bisherigen Rechtsprechung lassen aus der SPD ungerecht vor, es vermag aber nicht dar- sich grundlegende Anforderungen für die Annahme zulegen, dass die Erwägungen „offenbar“, „eindeutig“ eines Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot unzutreffend waren. Die unsachgemäße Rechtsanwen- ermessen. So muss zwischen dem vorliegenden und dung muss sich geradezu aufdrängen, es darf keine dem Vergleichsfall eine grundlegende Vergleichbar- nachträgliche Abwägung erforderlich sein, weil die keit bestehen.150 Dies stellt bereits eine Denknotwen- Fehlerhaftigkeit derart offensichtlich ist. Davon kann digkeit dar, denn ein Gleichheitssatz enthält immer indes nicht die Rede sein. Die bisherige Untersu- einen Vergleich von Unterschiedlichkeiten in Bezug chung hat vielmehr gezeigt, dass die Bundesschieds- auf ein Drittes (tertium comparationis).151 kommission durchaus folgerichtig und gut vertretbar entschieden hat. Die Annahmen der Richter ruhen 145 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 261. 146 S. oben C. III. 3. 139 E. Lengers (Fn. 31), S. 220. 147 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, 2. Auflage 2012, Art. 20 140 F. Grawert (Fn. 12), S. 163 ff. (Demokratie) Rn. 67. 141 S. Roßner, MIP 2007, S. 53. 148 S. Ossege (Fn. 9), S. 73. 142 So auch A. Ortmann, Verfassungsrechtliche Probleme von 149 M. Löwisch (Fn. 28), S. 70 f.; H. Wißmann, in: Kersten/Rixen Parteizugang und Parteiausschluß, 2001, S. 74; F. Grawert PartG, 2009, § 10 Rn. 27. (Fn. 12), S. 168 f. 150 LG Berlin, JurionRS 2005, 37860, Rn. 100. 143 LG Berlin, Urt. v. 03.08.2012 – 36 O 178/11, Umdruck S. 9. 151 G. Dürig/R. Scholz, in: Maunz/Dürig GG, 71. Ergl. 2014, Art. 3 144 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 260. Abs. 1 Rn. 1.

23 Aufsätze Jürgensen – Die Nachprüfbarkeit von Parteiausschlussentscheidungen in Verfahren vor staatlichen Gerichten MIP 2015 21. Jhrg.

Die vom BVerfG entwickelte Formel, nach welcher Die Annahme des Gerichts, Ciftlik sei in seinem der Gleichheitssatz verbietet, „wesentlich Gleiches Recht auf Gleichbehandlung verletzt, ist mithin ent- willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches will- schieden zurückzuweisen. kürlich gleich zu behandeln“152, ist mithin auch für den Parteiausschluss anzuwenden, indem sie einen D. Fazit logischen Grundgedanken beschreibt. Dieses Will- kürverbot entspricht auch der Ratio des § 10 Abs. 4 Die Richter des Kammergerichts Berlin hätten Bülent PartG. Ciftlik nicht aus der SPD ausgeschlossen. Daran las- sen sie keinen Zweifel. 3. Die Anwendung im Urteil des Kammergerichts Das Gericht verkennt indes, dass diese Entscheidung Die Richter des Berliner Kammergerichts verglei- ihnen nicht oblag. Das PartG sieht mit gutem Grund chen den von ihnen zu entscheidenden Fall mit den vor, dass die Parteischiedsgerichte über den Partei- Parteiordnungsverfahren gegen Wolfgang Clement 153 ausschluss entscheiden. Dies bildet nicht allein einen und Thilo Sarrazin. Ersterer hatte in einem Zei- einfachrechtlichen Umstand. Es ist keiner, der sich tungsartikel von der Wahl der hessischen SPD abge- gesetzlich ohne weiteres ändern ließe. Dieser Um- raten, Sarrazin sorgte mit seinen Thesen für enormes stand ist vielmehr verfassungsrechtlich angelegt. Die Aufsehen und entfachte eine Diskussion über Migra- Parteifreiheit ermöglicht den Parteien Entscheidun- tions- und Integrationspolitik. gen wie die vorliegende. Diese Möglichkeit ist für Das Kammergericht beurteilt diese Fälle als sehr viel sie konstitutiv. schwerwiegender und nimmt an, dass mit „zweierlei Die Rechtsprechung begegnet der bestehenden Situa- Maß gemessen“ wurde, „ohne dass hierfür objektive 154 tion grundsätzlich mit der nötigen Zurückhaltung. Gründe erkennbar“ seien. Sie hat einen angemessenen Maßstab entwickelt, um Der objektive Grund ergibt sich aber aus einer ge- sowohl die Rechte des Mitglieds zu schützen, als auch naueren Betrachtung der verglichenen Sachverhalte. die Parteiautonomie zu achten. Das KG Berlin ist dem Diese haben keine Gemeinsamkeiten, bis auf die nicht gefolgt, weswegen es die einmalige Entschei- Tatsache, dass es sich bei den fraglichen Personen dung getroffen hat, eine Entscheidung eines Bundes- um Mitglieder der SPD handelt. Während das Ver- schiedsgerichts für unwirksam zu erklären. Es wähn- fahren gegen Ciftlik auf Auskunfts- und Informati- te, die politisch geprägten Voraussetzungen des Par- onspflichten zurückging, betraf der Fall Clement teiausschlusses besser bemessen zu können als die Fragen der innerparteilichen Opposition.155 Der Fall Schiedsgerichte der SPD. Die Richter meinten fest- Sarrazin beruhte dagegen auf dessen zweifelhaften stellen zu können, dass das Verhalten von Ciftlik die inhaltlichen Äußerungen. Ordnung der SPD „gar nicht so sehr“ verletzte. Das Gericht trifft bereits den richtigen Befund, in- Ihrem Judiz ist allerdings nicht zu folgen und das Ur- dem es ausführt, die Fälle ließen sich „nicht einmal teil zu korrigieren. Der vorliegende Fall zeigt, dass ansatzweise vergleichen“.156 Dies stellt indes eine nicht allein die Mitglieder vor der Willkür ihrer Par- qualitative Aussage dar und keine richtigerweise auf teien, sondern auch die Parteien vor der Willkür der die fehlenden Parallelen der Fälle bezogene. Anstatt Richter geschützt werden müssen. Die SPD sei bei sich substantiiert mit einer Gegenüberstellung der ihrem „Gang nach Karlsruhe“ jedenfalls ermutigt. Verhaltensweisen zu beschäftigen, tätigt das Gericht Ihrer bereits anhängigen, auf Art. 9 Abs. 1 i.V.m. pauschale Aussagen zur Bewertung der Fälle Cle- Art. 21 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde ment und Sarrazin. So entgeht dem KG, dass man- kann durchaus Erfolg beschieden sein. gels Vergleichbarkeit schon die Grundvoraussetzung eines Gleichheitsverstoßes fehlt.157

152 BVerfGE 49, 148 (165). 153 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 261 f. 154 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 262. 155 Vgl. zu dieser Fallgruppe H.-P. Bull, ZRP 1971, S. 196 ff. 156 KG Berlin, DVBl. 2014, S. 262. 157 So auch H.-P. Bull, DVBl. 2014, S. 264.

24 MIP 2015 21. Jhrg. Risse – Die Entscheidungen des Bundeswahlausschusses zur Bundestagswahl 2013 und zur Europawahl 2014 Aufsätze

Die Entscheidungen des Bundeswahlaus- Abs. 4a Satz 1 BWahlG). Bislang konnte gegen eine schusses zur Bundestagswahl 2013 und ablehnende Entscheidung des Bundeswahlausschus- zur Europawahl 2014 ses erst im Wahlprüfungsverfahren, also nach der Wahl, vorgegangen werden. Dr. Johannes Risse1 II. Änderungen gibt es auch für die Wahlen zum Eu- ropäischen Parlament6. 1. Der Bundeswahlausschuss hat hier ebenfalls die Ich hatte in früheren Jahren über Entscheidungen des erweiterte Zusammensetzung (§ 4 EuWahlG i.V.m. Bundeswahlausschusses berichtet2. Dies will ich § 9 Abs. 2 Satz BWahlG). nicht in bisheriger Ausführlichkeit fortsetzen. Einen Schwerpunkt sollen diesmal die in den Jahren 2012 2. Das Bundesverfassungsgericht kann angerufen und 2013 vorgenommenen Änderungen des Wahl- werden, wenn der Bundeswahlausschuss einen Wahl- rechts bilden, so wie sie sich in der Arbeit des Bun- vorschlag wegen fehlenden Wahlvorschlagsrechts deswahlausschusses auswirken3. nach § 8 Abs. 1 EuWahlG zurückweist (§ 14 Abs. 4a Satz 1 EuWahlG), wenn also der Bundeswahlaus- A. Die Rechtsänderungen schuss bei seiner Prüfung zum Ergebnis kommt, die vorschlagende Organisation sei weder eine Partei I. Das Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschutzes noch eine „sonstige mitgliedschaftlich organisierte, in Wahlsachen4 brachte für die Wahlen zum Deut- auf Teilnahme an der politischen Willensbildung schen Bundestag einige Änderungen, von denen na- und Mitwirkung in Volksvertretungen ausgerichtete mentlich folgende hier von Bedeutung sind: Vereinigung mit Sitz, Geschäftsleitung, Tätigkeit und Mitgliederbestand in den Gebieten der Mit- 1. Dem Bundeswahlausschuss gehören nunmehr gliedsstaaten der Europäischen Union“. auch zwei Richter des Bundesverwaltungsgerichts an (§ 9 Abs. 2 Satz 1 BWahlG). Er ist damit auf elf Mit- 3. Früher hatte der Bundeswahlausschuss nur über glieder gewachsen; wie bisher gehören ihm der Bun- die Zulassung von Wahlvorschlagslisten für alle deswahlleiter – im Hauptamt Präsident des Statisti- Bundesländer zu entscheiden, also etwa nicht über schen Bundesamts – und acht Beisitzer an, die von die Kandidatenliste der CSU (Landesliste für Bay- den im Bundestag vertretenen Parteien vorge- ern) und die Listen der CDU für die übrigen 15 Län- schlagen werden5. der. Nun ist der Bundeswahlausschuss auch für die Listen für einzelne Länder zuständig (§ 14 Abs. 1 2. Für die Vereinigungen, die die Feststellung ihrer Satz 1 EuWahlG). Parteieigenschaft begehren, bestimmt § 18 Abs. 2 Satz 5 BWahlG nun: „Der Anzeige sollen Nachweise 4. Nach altem Recht konnte gegen Entscheidungen über die Parteieigenschaft nach § 2 Absatz 1 Satz 1 der Landeswahlausschüsse (über die Zulassung ein- des Parteiengesetzes beigefügt werden.“ zelner Landeslisten) Beschwerde beim Bundeswahl- ausschuss erhoben werden. Nunmehr kann gegen die 3. Wenn der Bundeswahlausschuss eine Vereinigung Entscheidung des Bundeswahlausschusses Be- nicht als Partei anerkennt, kann diese nun Beschwer- schwerde bei diesem selbst eingelegt werden (§ 14 de beim Bundesverfassungsgericht erheben (§ 18 Abs. 4 EuWahlG). 1 Der Autor ist von der SPD benanntes Mitglied des Bundes- wahlausschusses, von Beruf Ministerialrat im Wissenschafts- B. Die Bundestagswahl 2013 ministerium des Landes Nordrhein-Westfalen. 2 Zur Europawahl und zur Bundestagswahl 2009 in MIP 2010, Das Büro des Bundeswahlleiters hat sich ja seit Jahr- 40-50; zur Bundestagswahl 2005 in MIP 2006, 60-66; zur zehnten zu einer Servicestelle für die kleinen Partei- Bundestagswahl 2002 in MIP 2003, 57-59. en entwickelt. So wurden denn am selben Tag, an 3 Auf die Sitzungsniederschriften habe ich in großem Umfang zurückgegriffen, ohne dies im Detail kenntlich zu machen. dem das Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschut- Der Bundeswahlleiter hat die Niederschriften im Übrigen zes in Wahlsachen verkündet wurde, „alle Parteien – neben anderen Dokumenten – ins Internet gestellt: www. und politischen Vereinigungen, die gemäß § 6 Abs. 3 bundeswahlleiter.de/de/aktuelle_mitteilungen/ . Parteiengesetz beim Bundeswahlleiter Unterlagen 4 Vom 12. Juli 2012, BGBl. I, S. 1501; vgl. auch den Gesetz- entwurf: Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des 6 Fünftes Gesetz zur Änderung des Europawahlgesetzes, BGBl. Rechtsschutzes in Wahlsachen, BT-Drucksache 17/9391. I 2013, S. 3749; vgl. auch den Gesetzentwurf: Entwurf eines 5 Es waren diesmal je zwei Beisitzer aus CDU und SPD und je Fünften Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes, BT- einer aus CSU, FDP, GRÜNE und LINKE. Drucksache 17/13705.

25 Aufsätze Risse – Die Entscheidungen des Bundeswahlausschusses zur Bundestagswahl 2013 und zur Europawahl 2014 MIP 2015 21. Jhrg. hinterlegt haben“, in einem sehr ausführlichen tung in Landtagen zuzusprechen war, in einem wei- Rundschreiben7 über die neue Rechtslage informiert. teren Fall, weil die Vereinigung ihre zwischenzeitli- che Auflösung mitgeteilt hatte. Übrig blieben acht I. Erste Sitzung am 4. und 5. Juli 2013 nicht einstimmige Entscheidungen, davon vier Aner- Die neu eingeführte Beschwerde an das Bundesver- kennungen und vier Ablehnungen. fassungsgericht verlängert den Terminplan. Früher In einigen Fällen wurde die Regelung in § 18 Abs. 4 mussten die Beteiligungsanzeigen der Vereinigun- Satz 1 Nr. 2, 2. Hs. BWahlG relevant. Danach ist für gen, die als Parteien an der Wahl teilnehmen woll- die Ablehnung der Anerkennung als Partei „eine ten, bis zum 90. Tag vor der Wahl eingegangen sein, Zweidrittelmehrheit erforderlich“, eine einfache nunmehr bis zum 97. Tag8. Mehrheit reicht nicht. In zwei Fällen gab es für den Die Möglichkeit der Beschwerde an das Bundesver- Vorschlag des Bundeswahlleiters, die Anerkennung fassungsgericht verlangt, dass ablehnende Entschei- als Partei abzulehnen, ein 7:3:1-Ergebnis, also sieben dungen unverzüglich mit einer schriftlichen Darle- Jastimmen, drei Neinstimmen und eine Enthaltung. gung der tragenden Gründe zu übermitteln sind. Die Bezieht man das Erfordernis einer Zweidrittelmehr- Niederschrift muss also noch am Sitzungstag ausfor- heit auf die gesetzliche Mitgliederzahl von elf, dann muliert und unterschrieben werden9. Es genügt nicht sind für eine ablehnende Entscheidung acht Stimmen mehr, die Niederschrift einige Tage später zu erstel- nötig. Zählt man nur die Ja-und-Nein-Stimmen – in len und im Umlaufverfahren zu genehmigen. diesem Fall zehn – ist mit sieben Stimmen das Erfor- dernis einer Zweidrittelmehrheit erreicht. Auf demselben Hintergrund wurde auch die Tenorie- rung der einzelnen Entscheidungen neu bedacht und Vertretbar begründen lässt sich beides. Jedenfalls differenzierter vorgenommen. (Hier richteten sich die enthält die Niederschrift zu zwei Entscheidungen Augen der anderen schnell auf die beiden Bundesver- folgenden Hinweis: „Der Ausschuss ist mehrheitlich waltungsrichter, denen man am ehesten eine Einschät- der Auffassung, dass bei der Ermittlung der gemäß zung darüber zutraute, „wie die in Karlsruhe ticken“.) § 18 Abs. 4 Nr. 2 Bundeswahlgesetz erforderlichen Zweidrittelmehrheit nur die abgegebenen Ja/Nein- So tat der Bundeswahlleiter gut daran, für die erste Stimmen zu zählen sind (vgl. Schreiber, Bundes- Sitzung gleich zwei Sitzungstage anzuberaumen. wahlgesetz, 8. Auflage, § 10, Rn. 4).“ 62 Organisationen hatten sich gemeldet. Über deren Anzeige war in der Sitzung am 4./5. Juli 2013 – die II. Beschwerden an das Bundesverfassungsgericht nun nicht am 72., sondern am 79. Tag vor der Wahl Gegen zwölf der ablehnenden Entscheidungen wurde beendet sein musste10 – zu befinden. Nichtanerkennungsbeschwerde eingelegt, davon war Wie immer, waren die meisten Abstimmungsergeb- eine erfolgreich. Letztere betraf eine Entscheidung, nisse einstimmig. In 26 Fällen wurde die Feststel- die im Bundeswahlausschuss mit 7:3:1 Stimmen ge- lung der Parteieigenschaft einstimmig bejaht, in 25 fallen war, und auch im Bundesverfassungsgericht Fällen einstimmig verneint. Und die übrigen elf? In war man sich nicht ganz einig, sondern entschied mit zwei Fällen (Piraten und Freie Wähler) erübrigte sich 6:1 Stimmen, dass die beschwerdeführende Partei eine Entscheidung, weil die betreffenden Organisa- „Deutsche Nationalversammlung“ anerkannt werde. tionen nur vorsorglich eine Beteiligungsanzeige ge- Der Bundeswahlausschuss habe an die Beteiligungs- anzeige überzogene Anforderungen gestellt und habe schickt hatten, ihnen richtigerweise aber bereits nach 11 § 18 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 BWahlG die Eigenschaft ei- zu Unrecht die Parteieigenschaft verneint . ner politischen Partei wegen hinreichender Vertre- III. Zweite Sitzung am 1. August 2013

7 7 Seiten Text; 7 Seiten Synopse des alten und des neuen Gegenstand der zweiten Sitzung waren die Be- Rechts; 1 Seite „Terminkalender für die Wahl zum 18. Deut- schwerden gegen die Nichtzulassung bzw. Teilnicht- schen Bundestag“. Die mit § 18 Abs. 2 Satz 5 BWahlG nor- zulassung von Landeslisten durch die Landeswahl- mierte Obliegenheit, Nachweise über die Parteieigenschaft ausschüsse. Von zwei zulässigen Beschwerden wur- beizufügen, hatte der Bundeswahlleiter in dem Rundschreiben ausführlich konkretisiert. Entsprechend üppiger waren die de einer stattgegeben: Der Landeswahlausschuss Unterlagen, die die Parteien übersandten – gefühlt die doppel- Nordrhein-Westfalen hatte zu Unrecht einen Kandi- te Menge Papier gegenüber früher. daten aus der Landesliste der „Partei der Vernunft“ 8 § 18 Abs. 1 Satz 1 BWahlG. 9 Siehe § 33 Abs. 4 Bundeswahlordnung. 11 Beschluss vom 23. Juli 2013, Az. 2 BvC 3/13, www.bundesver- 10 § 18 Abs. 4 Satz 1 BWahlG. fassungsgericht.de/entscheidungen/cs20130723_2bvc0003 13.html.

26 MIP 2015 21. Jhrg. Risse – Die Entscheidungen des Bundeswahlausschusses zur Bundestagswahl 2013 und zur Europawahl 2014 Aufsätze gestrichen. Aufgrund eines Büroversehens beim Lan- stützungsunterschriften (§ 9 Abs. 5 Satz 2 EuWahlG) deswahlleiter war der Landeswahlausschuss davon beigebracht hatten und/oder verspätet eingegangen ausgegangen, die Nachweise über die Wählbarkeit waren (§ 11 Abs. 1 EuWahlG) und/oder Schriftform- des Kandidaten und über seine Parteimitgliedschaft12 erfordernisse nicht erfüllt waren (§ 4 EuWahlG i.V.m. lägen nicht vor. Sie waren aber doch da. Die andere § 54 Abs. 2 BWahlG). Beschwerde galt den Widrigkeiten bei der Beibrin- 2. Auch die dem Grunde nach zugelassenen Listen gung der nach § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG nötigen kamen im Weiteren oft nicht ungeschoren davon. Bei 2.000 Unterstützungsunterschriften. insgesamt 45 Bewerbern bzw. Ersatzbewerbern fehl- ten die Zustimmungserklärung nach Anlage 15 zur IV. Dritte Sitzung am 9. Oktober 2013 EuWahlO und/oder die Wählbarkeitsbescheinigung Die Feststellung des amtlichen Endergebnisses der nach Anlage 16 zur EuWahlO. Die Streichung Einzel- Bundestagswahl ist zugleich eine Feststellung der ner führt dazu, dass, falls vorhanden, der Ersatzbewer- rechnerischen Differenzen zu dem in der Wahlnacht ber an seine Stelle tritt, sonst der Nächstplatzierte. bekanntgegebenen vorläufigen Wahlergebnis – und damit eine Zusammenfassung der Fehler, die eben II. Beschwerden an das Bundesverfassungsgericht immer wieder vorkommen. Bekanntlich hatte ja die Gegen die Entscheidungen des Bundeswahlaus- SPD in Hessen einen Listenplatz mehr zu erhalten schusses waren nun zwei Beschwerden möglich, die als zunächst ermittelt worden war. an das Bundesverfassungsgericht nach § 14 Abs. 4a Bedenklich ist allerdings, dass die „Macken und Satz 1 EuWahlG und die an den Bundeswahlaus- Pannen“ offenbar zugenommen haben. So hält die schuss selbst.14 Sitzungsniederschrift fest: „Nach dem Bundeswahl- Es gab drei Beschwerden nach § 14 Abs. 4a Satz 1 leiter vorliegenden Informationen wurde aufgrund EuWahlG. Das Bundesverfassungsgericht verwarf von Unstimmigkeiten bei den Ergebnissen in 28 sie als unzulässig15. Der Bundeswahlausschuss habe Wahlkreisen in 372 Wahlbezirken neu ausgezählt. nicht die Eigenschaft als Partei oder sonstige politi- Durch die jeweils erfolgte Neuauszählung wurden sche Vereinigung verneint, sondern die Zulassung bis dahin ungeklärte Unstimmigkeiten in den Nie- wegen fehlender Unterstützungsunterschriften16 bzw. derschriften bzw. zwischen Schnellmeldung und Nie- weil es sich wohl gar nicht um einen Wahlvorschlag derschrift behoben. Er stellte fest, dass die Zahl der handele17, verweigert. Neuauszählungen deutlich über der Zahl derer bei der letzten Wahl liegt. 2009 waren es lediglich 254 In diesem Zusammenhang von Interesse: Ein Organ- Wahlbezirke, die neu ausgezählt werden mussten.“ streitverfahren einer Vereinigung hatte den Deut- schen Bundestag als Antragsgegner, betraf aber Auffällig ist, dass die Stadtstaaten besonders viele praktisch auch den Bundeswahlausschuss. Es richte- Neuauszählungsbezirke hatten. Im Übrigen will ich te sich gegen das Erfordernis der 4.000 Unterstüt- mich mit Einschätzungen dazu zurückhalten. zungsunterschriften und gegen die verglichen mit dem alten Recht früher endenden Fristen. Der Antrag C. Die Europawahl 2014 wurde als „jedenfalls offensichtlich unbegründet“ zurückgewiesen18. I. Erste Sitzung am 14. März 2014 1. Wie oben erwähnt13, ist nun der Bundeswahlaus- III. Zweite Sitzung am 3. April 2014 schuss Zulassungsorgan für sämtliche Landeslisten Beschwerde gegen eine Entscheidung des Bundes- und für sämtliche bundesweiten Listen. Eingereicht wahlausschusses, dieser Rechtsbehelf war neu. waren 42 Listen mit Wahlvorschlägen für alle Län- Zwölf Beschwerden waren eingegangen und wurden der und 18 Listen mit Vorschlägen für einzelne Län- in der Reihenfolge ihres Eingangs behandelt. Erfolg- der (darunter 15 Landeslisten der CDU). Von den reich war keine: Vorschlägen für Landeslisten waren zwei wegen ver- späteten Eingangs zurückzuweisen; die Landeslisten 14 von CDU und CSU wurden zugelassen. Von den bun- Dazu unten III. desweiten Wahlvorschlägen waren 18 abzulehnen, weil 15 Beschlüsse vom 1. April 2014 – 2 BvC 1/14; 2 BvC 2/14; sie entweder nicht die nötige Anzahl von 4.000 Unter- 2 BvC 3/14. 16 Verfahren 2 BvC 1/14 und 2 BvC 3/14. 12 Anlagen 16 und 22 zur Bundeswahlordnung. 17 Verfahren 2 BvC 2/14. 13 A. II. 3. 18 Beschluss vom 12. März 2014 – 2 BvE 1/14.

27 Aufsätze Risse – Die Entscheidungen des Bundeswahlausschusses zur Bundestagswahl 2013 und zur Europawahl 2014 MIP 2015 21. Jhrg.

1. Im ersten Fall korrigierte der Bundeswahlausschuss standes, der mit umfangreichem Schriftverkehr und zwar den Bundeswahlleiter, wies die Beschwerde ge- zeitintensiver Sachverhaltsaufklärung verbunden war. gen die Nichtzulassung aber dennoch zurück. Der An beide Wahlvorschlagsträger wurden Formblätter Bundeswahlleiter habe die Eingaben der nun be- für Unterstützungsunterschriften ausgegeben. Da zum schwerdeführenden (aber nicht erschienenen) Einzel- Zeitpunkt der Sitzung des Bundeswahlausschusses zur person zu Unrecht gar nicht als Wahlvorschlag ange- Zulassung der Wahlvorschläge am 14.03.2014 die sehen (und deshalb in der ersten Sitzung auch nicht Voraussetzungen für eine Zulassung jedoch weder dem Bundeswahlausschuss zur Entscheidung vorge- für den einen noch den anderen Wahlvorschlag vor- legt). Aber diesem Wahlvorschlag fehlten sämtliche lagen, kam es auf die streitige Frage des rechtmäßi- gesetzlichen Anforderungen. Dieses festzustellen, war gen Bundesvorstandes nicht mehr an. richtigerweise dem Bundeswahlausschuss vorbehalten. Den Wahlvorschlag der Beschwerdeführerin hat der Bundeswahlausschuss in seiner Sitzung vom 14.03.2014 2. Die Beschwerde war unzulässig, weil sie nicht aufgrund der fehlenden 4000 Unterstützungsunter- von der Vertrauensperson des Wahlvorschlags erho- schriften (§ 9 Absatz 5 EuWG) zurückgewiesen. Die ben war (§ 14 Abs. 4 Satz 2 EuWahlG). Beschwerdeführerin wendet sich gegen die erfolgte 3. Die Beschwerde war unbegründet, denn an dem Nichtzulassung und führt zur Begründung insbeson- Mangel namentlich der fehlenden Unterstützungsun- dere an, dass die getrennte Behandlung der beiden terschriften war nichts zu machen. Daneben hatte der Wahlvorschläge sowie die Aushändigung von Form- Beschwerdeführer – wie schon in der ersten Sitzung blättern an beide Wahlvorschlagsträger zu einer des Bundeswahlausschusses – umfangreich seine Beden- Spaltung der R-Partei geführt habe und das Sammeln ken gegen die geltenden Rechtsvorschriften bekundet, von Unterstützungsunterschriften nahezu unmöglich sogar das Inkrafttreten des Grundgesetzes bezweifelt. gemacht habe. Die Aushändigung der Formblätter an Dem ging der Bundeswahlausschuss nicht nach. den weiteren Wahlvorschlagsträger sei zu Unrecht er- 4. Wie bei Nr. 2.: Die Beschwerde war unzulässig, folgt, da zu diesem Zeitpunkt bereits anhand der weil sie nicht von der Vertrauensperson des Wahl- durch die Beschwerdeführerin vorgelegten Unter- vorschlags erhoben war. Mit der Beschwerde sollte lagen eindeutig erkennbar gewesen wäre, dass es sich die Beschwerde zu Nr. 3. unterstützt werden. nicht um den rechtmäßigen Bundesvorstand gehan- delt habe. Darüber hinaus ist die Beschwerdeführe- 5. Die beschwerdeführende Vereinigung nahm für rin der Auffassung, dass das Erfordernis zur Bei- sich in Anspruch, Partei einer nationalen Minderheit bringung von Unterstützungsunterschriften für die zu sein; sie müsse deshalb von dem Erfordernis der R-Partei nicht gelte. Denn hätte die durch das Bun- Unterstützungsunterschriften befreit werden. Das hat desverfassungsgericht für verfassungswidrig erklär- der Gesetzgeber für Bundestagswahlen bestimmt (s. te Sperrklausel bereits zur Europawahl 2009 keine § 27 Abs. 1 Satz 4 BWahlG), nicht aber für Wahlen Anwendung gefunden, so wäre die R-Partei mit ei- zum Europäischen Parlament. nem Sitz im Europäischen Parlament vertreten und 6. Der Einlassung, das Fehlen von 1.511 Unterstüt- somit vom Unterschriftenquorum befreit gewesen.“ zungsunterschriften (bei 4.000 nötigen) sei nicht von Ich will nicht auch noch die Begründung des Bun- der Partei zu vertreten, sondern beruhe auf der deswahlausschusses abschreiben. Es hatte keinen schleppenden Bearbeitung der Wahlrechtsbescheini- Wahlvorschlag gegeben, der die gesetzlichen Vor- gungen durch die Gemeinden und ähnlichen Widrig- aussetzungen erfüllte. Parteispaltungen führen eben keiten, konnte nicht gefolgt werden. regelmäßig auch zur Spaltung der Anhängerschaft. 7. Recht kompliziert war es bei einer Partei, für die Das Wahlrecht hat das ohne Wertung hinzunehmen. sich mehrere Vorstände beim Bundeswahlleiter gemel- Auch wenn Spaltungen u.U. auf illegale Weise zu- det hatten. Ich zitiere aus der Sitzungsniederschrift: stande kommen, sind Bundeswahlleiter und Bundes- wahlausschuss in der Regel keine Stellen, die das „Am 11.11.2013 ging ein durch Herrn L., Herrn G. verhindern oder „ausbügeln“ können. und Herrn K. als Bundesvorstand der R-Partei un- terzeichneter Wahlvorschlag im Büro des Bundes- 8. Es war geltend gemacht worden, die Streichung wahlleiters ein. Am 13.12.2013 ging zudem ein wei- einer Kandidatin aus dem bundesweiten Wahlvor- terer Wahlvorschlag ein, der von Herrn H., Herrn P. schlag sei zu Unrecht erfolgt. Entgegen den Angaben und Herrn B. wiederum als Bundesvorstand der R- der Beschwerdeführerin war die Wahlrechtsbeschei- Partei unterzeichnet war. Im Folgenden entbrannte nigung der Kandidatin nicht einmal verspätet einge- ein Streit bezüglich des rechtmäßigen Bundesvor- gangen, sondern gar nicht.

28 MIP 2015 21. Jhrg. Risse – Die Entscheidungen des Bundeswahlausschusses zur Bundestagswahl 2013 und zur Europawahl 2014 Aufsätze

9. Wie bei Nr. 6.: Es fehlten mindestens 1.765 Unter- Daraufhin hat der Bezirk Charlottenburg-Wilmers- stützungsunterschriften. dorf die 192 Wahlbriefe ausgezählt. Sowohl der Be- zirkswahlausschuss als auch der Landeswahlaus- 10. Hier waren überhaupt keine Unterstützungsunter- schuss haben erneut getagt und haben das jeweilige schriften eingereicht worden; die Formblätter dazu Ergebnis entsprechend korrigiert. waren „erst bei Einreichung des Wahlvorschlages Als Konsequenz aus dem Fall hat der Landeswahl- am Tag des Fristablaufs am 3. 3. 2014 um 16:35 ausschuss den Bezirkswahlämtern empfohlen, bei Uhr angefordert“ und ausgestellt worden. Gleich- der Besetzung der Wahlausschüsse künftig auf Hete- wohl wurde beklagt, dass die Wählbarkeit der Kan- rogenität zu achten und nicht mehr als drei Perso- didaten und der Unterstützer durch die Gemeinden nen aus einer Familie als Mitglieder in einem Wahl- nicht ordnungsgemäß und zügig bescheinigt worden vorstand einzusetzen.“ seien. Schuld sind eben immer andere. Hinter dem letzten Satz steckt auch ein Problem, das 11. Ich zitiere auch hier: „Am 26.03.2014 sind zwei E- vielerorts zu beobachten ist: es ist für die örtlichen Mails beim Bundeswahlleiter eingegangen, in denen Wahlämter oft sehr schwierig, Personen für die ehren- zum einen auf eine Kandidatenliste im Anhang Bezug amtliche Tätigkeit eines Wahlhelfers zu gewinnen. genommen wurde, die nicht angehängt war, und zum anderen unter dem Betreff „Beschwerde“ um Teil- Und es gab eine Stadt, in der sämtliche 52.000 Wahl- nahme an der Wahl gebeten wurde.“ Das war alles … benachrichtigungen bei der Postzustellung verloren- gegangen waren, und eine, in der die Druckerei 12. Ein Landesvorstand beschwerte sich über die Zulas- 6.577 Wahlbenachrichtigungen gar nicht erst ge- sung der bundesweiten Liste seiner Partei. Er war nicht druckt hatte. nach § 14 Abs. 4 Satz 2 EuWahlG beschwerdeberechtigt.

IV. Dritte Sitzung am 20. Juni 2014 D. Bewertung der Rechtsänderungen Auch bei der Europawahl ist die Feststellung des end- I. Zusammensetzung des Bundeswahlausschusses; gültigen Wahlergebnisses eine Korrektur des vorläufi- Erweiterung um Richter aus dem Bundesverwal- gen Ergebnisses aus der Wahlnacht und zugleich eine tungsgericht Sicht der Unregelmäßigkeiten. Die Korrekturen hatten keine Auswirkungen auf die Sitzverteilung. Aber auch 1. Eine Änderung der Zusammensetzung eines Gre- hier vermerkt die Sitzungsniederschrift: „Gleichwohl miums berührt immer auch die Frage nach der Re- ist festzustellen, dass bei dieser Wahl wie auch bei der krutierung des Gremiums. In der Öffentlichkeit ist Bundestagswahl 2013 die Zahl der Abweichungen we- gelegentlich problematisiert worden, dass die Beisitzer sentlich höher ist als bei früheren Wahlen. Gemein- des Bundeswahlausschusses aus den „etablierten“ sam mit den Landeswahlleitungen muss hier nach ei- Parteien kommen. Es gibt wohl die Kritik, dass sozu- ner Lösung gesucht werden, wie die Zahl der Abwei- sagen die Großen über die Kleinen zu Gericht sitzen, chungen wieder gesenkt werden kann.“ wenn es um die Anerkennung als politische Partei geht. Und dann, wenn Parteienvertreter Ämter beset- Folgender Vorfall sei besonders hervorgehoben – ich zen, kommt unterschwellig die Sorge auf, diese wür- zitiere aus der Niederschrift: den auf undurchsichtige Weise aus dunklen Zentra- „In Berlin war im Briefwahlbezirk Charlottenburg- len ferngesteuert. Eine Diskussion darüber, wie Wilmersdorf eine unbekannte Zahl von Wahlbriefen Wahlvorbereitungsgremien optimal zusammenge- vom Wahlvorstand entwendet und in der Wahlnacht setzt sein könnten, will ich nicht führen. Ich will nur verbrannt worden. Der Landeswahlausschuss konnte am eigenen Beispiel beschreiben, wie wenig drama- in die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnis- tisch die Realität oft ist. ses davon nur 33 von der Polizei sichergestellte Brie- Seit der Vorbereitung der Bundestagswahlen 2002 fe einbeziehen. Kurz nach der Sitzung teilten die Er- habe ich an allen Sitzungen teilgenommen, zunächst mittlungsbehörden der Landeswahlleitung mit, dass als Vertreter des Beisitzers Diether Posser. Vorge- im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen 192 weite- schlagen wurde ich, weil man mich in der Rechtsstelle re Wahlbriefe sichergestellt worden seien. Ein Be- der SPD-Zentrale seit meiner parteienrechtlichen Dis- schuldigter des betroffenen Briefwahlvorstandes hatte sertation kannte19. Es hat in allen den Jahren keinerlei die Briefe der Polizei übergeben. Nach Kontrolle des Versuche gegeben, mir vor Sitzungen zu bedeuten, Wahlscheinrücklaufes und auch nach Rücksprache mit wie ich abstimmen möge, keinerlei nachträgliche Hin- der Staatsanwaltschaft gab es keine Hinweise, dass weitere Wahlbriefe fehlen und auftauchen könnten. 19 Der Parteiausschluss, Berlin 1985.

29 Aufsätze Risse – Die Entscheidungen des Bundeswahlausschusses zur Bundestagswahl 2013 und zur Europawahl 2014 MIP 2015 21. Jhrg. weise, ich hätte doch anders abstimmen mögen – we- Womöglich ist den diesen Gesetzentwurf einbringen- der aus der SPD noch von sonstwo. Die wenigen Kon- den Fraktionen nicht bekannt gewesen, dass die Par- takte, die es überhaupt gab, sind schnell aufgezählt. teien üblicherweise Juristen oder Politikwissenschaft- ler vorschlagen, oft solche, die auch Ämter in den Par- Vor der allerersten Sitzung habe ich Diether Posser teischiedsgerichten nach § 14 Parteiengesetz haben. um Rat gefragt, wie ich mich am besten vorbereiten Fazit: Die personelle Erweiterung ist eine Bereiche- könne. Vor einer Europawahl hat die Justitiarin aus rung; die amtliche Begründung dafür ist dürftig. dem Willy-Brandt-Haus mich angerufen und gebe- ten, ihr nach der Sitzung telefonisch mitzuteilen, ob II. Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht und ggf. mit welchen Streichungen der bundesweite Wahlvorschlag der SPD zugelassen worden sei. Ein- Keine Frage: Dass Vereinigungen, deren Eigenschaft mal hat ein anderer Beisitzer mich vor der Sitzung als politische Partei bzw. – bei Europawahlen – als angerufen: Für eine Partei hatten sich zwei unter- sonstige wahlvorschlagsberechtigte Vereinigung der schiedliche Bundesvorstände gemeldet, und die Ak- Bundeswahlausschuss verneint hat, das Bundesver- tenlage war nach Inhalt und Volumen ausgesprochen fassungsgericht anrufen können, ist gut so. Und des- unübersichtlich. Ein anderes Mal hatte ein Journalist sen Entscheidungen sind wichtige Rückmeldungen versucht, mich nach einer Sitzung in der Dienststelle für den Bundeswahlausschuss. zu erreichen; das schlug fehl, weil ich verreist war. III. Beschwerde an den Bundeswahlausschuss Zugeben muss ich allerdings, dass ich diesmal vor der Sitzung am 4./5. Juli 201320 mit allen Mitglie- Die im Europawahlrecht gegebene Möglichkeit, dern des Bundeswahlausschusses Kontakt aufge- beim Bundeswahlausschuss Beschwerde einzulegen 22 nommen habe, um am Abend des ersten Sitzungsta- gegen dessen Ablehnung von Wahlvorschlägen , ges ein gemeinsames Pizzaessen zu organisieren. überzeugt nicht wirklich. Wenn jemandem angeson- nen wird, seine eigene, durchaus mit guten Gründen 2. Die nun vorgenommene Erweiterung des Bundes- getroffene Entscheidung abzuändern, ist das immer wahlausschusses um zwei Richter mag das Gremium misslich. Vor allem wird der Beschwerdeführer be- einem gerichtlichen Spruchkörper annähern – wenn fürchten, er habe keine faire Chance. Die zweite Sit- denn nur gegen einen Teil seiner Entscheidungen di- zung befasste sich weitgehend damit, dass die Be- rekt ein Gericht angerufen werden kann. Vielleicht schwerdeführer ihr Vorbringen aus der ersten Sit- wollte man auch die von den Parteien vorgeschlage- zung intensivierten, soweit sie erschienen waren. Da nen Beisitzer ein bisschen kontrollieren. Die Begrün- kam im Grunde nichts Neues. Aber wie sollte man es dung im Gesetzentwurf ist merkwürdig dünn: sonst regeln? Einen „Oberbundeswahlausschuss“ als „Besondere Voraussetzungen für die Berufung in die zweite Instanz? Auch nicht wirklich gut. An diesem Wahlorgane bestehen nicht, außer dass nach § 4 Ab- Punkt wird noch zu überlegen sein. satz 2 der Bundeswahlordnung (BWO) bei der Aus- wahl der Beisitzer in der Regel die Parteien in der IV. Aufwand an Ressourcen Reihenfolge der bei der letzten Bundestagswahl in Die beschriebenen Änderungen bedeuten erhöhten dem jeweiligen Gebiet errungenen Zahlen der Zweit- Aufwand: Vergrößerung des Bundeswahlausschus- stimmen angemessen berücksichtigt und die von ih- ses, zweitägige erste Sitzung vor der Bundestags- nen rechtzeitig vorgeschlagenen Wahlberechtigten wahl, Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverfas- berufen werden. sungsgericht, Beschwerdesitzung vor der Europa- Der Entwurf ergänzt diese Regelung dadurch, dass wahl. Allerdings ist die Zulassung der Landeslisten zusätzlich zu den Beisitzern in den Bundeswahlaus- für die Europawahl durch die Landeswahlausschüsse schuss und in die Landeswahlausschüsse durch den und damit auch der dortige Aufwand weggefallen. Bundes- beziehungsweise Landeswahlleiter je zwei Insgesamt wurde ein Mehr an Rechtsstaatlichkeit ge- Berufsrichter berufen werden, und zwar im Fall des schaffen. Und das gibt es nicht zum Nulltarif. Bundeswahlausschusses aus dem Bundesverwal- tungsgericht und bei den Landeswahlausschüssen aus dem jeweiligen Oberverwaltungsgericht des Landes, jeweils auf Vorschlag der Präsidentin oder des Präsidenten des Gerichts.“21

20 Siehe oben B. I. 21 BT-Drucksache 17/9391, S. 6. 22 Dazu oben C. III.

30 MIP 2015 21. Jhrg. Ceyhan – Eine Frage der politischen Ebene? [...] Aufsätze

Eine Frage der politischen Ebene? − Par- 1995). Im politischen Rekrutierungsprozess bilden lamentskandidaten mit Migrationshinter- Kandidatennominierungen eine zentrale Selektions- grund auf Bundes- und Landesebene stufe. Erst wenn Parteien ausreichend viele Parla- mentskandidaten mit Migrationshintergrund zur

1 Wahl aufstellen und diese auch aussichtsreich nomi- Sara Y. Ceyhan, M.A. nieren, können Minderheiten angemessen in den deutschen Parlamenten repräsentiert sein. Die An- nahme, dass die Kandidatenauswahl eine wichtige 1. Einleitung Rolle für die politische Repräsentation von Minder- In Folge von Migrationsprozessen ist die deutsche heiten spielt, ist vor diesem Hintergrund mittlerweile Gesellschaft zunehmend von einer ethnischen Viel- etabliert (z.B. Claro da Fonseca, 2011). falt geprägt. Im Jahr 2012 besaß laut Mikrozensus Um von einer Partei als Parlamentskandidat aufge- bereits ein Fünftel der deutschen Bevölkerung einen stellt zu werden, muss man in der Regel eine partei- Migrationshintergrund (Destatis, 2013). Angesichts politische Karriere vorweisen (Herzog, 1975; Patzelt, dieser sozio-demographischen Entwicklung wird 1999; Schüttemeyer & Sturm, 2005). Geht man von häufig gefordert, dass sich die gesellschaftliche Viel- einem hierarchischen Modell des politischen Karriere- falt auch in den Parlamenten dieses Landes wider- weges aus, dienen Landesparlamente dabei häufig spiegeln sollte. Danach ist nicht nur wichtig, welche nur als ein Karrieresprungbrett, um ein Abgeordne- Interessen im Parlament vertreten werden, sondern tenmandat auf Bundesebene zu erhalten. Dieses hier- auch, wer diese Interessen vertritt. In der deskriptiven archische Karrieremodell legt die Annahme nahe, Repräsentationsforschung wird in diesem Zusammen- dass Landesparlamente Bewerbern mit Migrations- hang argumentiert, dass die parlamentarische Reprä- hintergrund bessere Repräsentationschancen bieten sentation von ethnischen Minderheiten durch Abge- sollten als der Deutsche Bundestag, da ein Abgeord- ordnete mit Migrationshintergrund eine wichtige netenmandat auf Bundesebene eine größere politi- symbolisch-integrative Funktion erfülle. Abgeordne- sche Ämtererfahrungen voraussetzt. Allerdings wird te mit Migrationshintergrund signalisierten der Be- dieses hierarchische Karrieremodell aufgrund einer völkerung mit Migrationshintergrund, im politischen Professionalisierung der Landesparlamente in jünge- System akzeptiert zu sein. Dies könne ihre politische rer Zeit zunehmend in Frage gestellt. Stattdessen ha- Involvierung durch ein wachsendes Vertrauen in das ben sich Landesparlamente als eigene Karriereare- Repräsentativsystem, seine Regeln, Prozesse und nen etabliert und es findet ein flexibler Wechsel zwi- Werte fördern (Mansbridge, 1999, 2000; Phillips, schen den politischen Ebenen statt. Nach diesem 1995). Trotz dieser Argumente sind Personen mit nicht-hierarchischen Karrieremodell ist zu erwarten, Migrationshintergrund in den meisten Parlamenten dass für Parlamentskandidaten mit Migrationshinter- noch immer deutlich unterrepräsentiert (z.B. Bird, grund keine Unterschiede zwischen den Repräsenta- 2005; Bird, Saalfeld, & Wüst, 2011; Donovan, tionschancen auf der Bundes- und Landesebene be- 2007). Dem aktuellen Deutschen Bundestag gehören stehen. beispielsweise nur 37 Abgeordnete mit Migrations- hintergrund an, was einem Anteil von rund 6 Prozent Ob auf Landesebene mehr Parlamentskandidaten mit aller Bundestagsabgeordneten entspricht.2 In der vor- Migrationshintergrund zur Wahl antreten als auf angegangenen Legislaturperiode saßen sogar nur 21 Bundesebene oder nicht, soll im vorliegenden Bei- Abgeordnete mit Migrationshintergrund im Deut- trag näher untersucht werden. Hierzu werden Daten schen Bundestag (3,4 Prozent). Ein ähnliches Bild der Deutschen Landtagskandidatenstudie 2013/14 zu ergibt sich auch für die deutschen Landesparlamente den Hessischen und Bayerischen Landtagswahlen im (Schönwälder, 2013). Jahr 2013 sowie Daten der Deutschen Kandidaten- studie zur Bundestagswahl 2013 verwendet. Um Erklärungsfaktoren für dieses Phänomen zu fin- den, kann es aufschlussreich sein, sich eingehender mit dem politischen Rekrutierungsprozess auseinander- 2. Macht deskriptive Repräsentation einen Unter- zusetzen (Norris, 1996, 1997; Norris & Lovenduski, schied?

1 Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktoran- Obwohl der Begriff der politischen Repräsentation din am Institut für Politikwissenschaft der Goethe-Universität sowohl in der öffentlichen als auch in der wissen- Frankfurt. schaftlichen Debatte mit einer großen Selbstver- 2 http://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Abgeord ständlichkeit verwendet wird, ist der Begriff weniger nete_Bundestag_Ergebnisse.pdf [Zugriff am 23.10.2014].

31 Aufsätze Ceyhan – Eine Frage der politischen Ebene? [...] MIP 2015 21. Jhrg. klar, als es zunächst scheint. Noch immer findet eine und können diese im politischen Entscheidungspro- lebhafte Diskussion darüber statt, was genau unter zess überzeugender vertreten. Einige empirische Un- politischer Repräsentation zu verstehen ist und was tersuchungen liefern zumindest Anhaltspunkte dafür, als gelungene Repräsentation gelten soll. Maßgeblich dass Abgeordnete mit Migrationshintergrund häufi- zu einer Strukturierung dieser Debatte beigetragen hat ger in Ausschüssen mit Migrationsbezug vertreten die Unterteilung des Repräsentationsbegriffs in ein sind und auch häufiger parlamentarische Anfragen formales, symbolisches, deskriptives und substantielles mit Migrationsbezug stellen (Saalfeld & Bischof, Repräsentationsverständnis (Pitkin, 1967). Im Fokus 2013; Wüst, 2014; Wüst & Saalfeld, 2011).3 dieses Beitrags steht das Konzept der deskriptiven Die zweite wichtige Funktion einer deskriptiven Repräsentation – genauer die deskriptive Repräsen- Repräsentation wird in ihrer symbolisch-integrativen tation von ethnischen Minderheiten. In diesem Ver- Wirkung gesehen: „Representatives and voters who ständnis gilt ein Parlament als umso repräsentativer, share membership in a subordinate group can also je besser es die sozio-demographische Zusammenset- forge bonds of trust based specifically on the shared zung einer Gesellschaft widerspiegelt (Mansbridge, experience of subordination” (Mansbridge, 1999, 1999, S. 629; Pitkin, 1967, S. 60-62). Je genauer die S. 641). Erhalten Personen mit Migrationshinter- Anzahl von Abgeordneten mit Migrationshinter- grund ein Abgeordnetenamt, ist dies ein Signal an grund dem gesellschaftlichen Anteil von Personen die Bevölkerung mit Migrationshintergrund, im mit Migrationshintergrund entspricht, desto besser politischen System akzeptiert zu sein. Dies kann ihre sind ethnische Minderheiten deskriptiv repräsentiert: weitere politische Involvierung durch ein wachsen- „representatives are in their own persons and lives in des Vertrauen in das Repräsentativsystem, seine Re- some sense typical of the larger class of persons geln, Prozesse und Werte fördern. Einige empirische whom they represent“ (Mansbridge, 1999, S. 629). Studien können zeigen, dass eine deskriptive Reprä- In diesem Repräsentationsverständnis geht es also sentation einen positiven Effekt auf das politische weniger um die Handlungen und Aktivitäten von Ab- Vertrauen und die politische Zufriedenheit von Min- geordneten als vielmehr um die Frage, wer die Abge- derheit haben kann (z.B. Abney & Hutcheson, 1981; ordneten sind und welche Merkmale sie besitzen. Banducci, Donovan, & Karp, 2004; Tate, 2001).4 Die Frage, ob es für eine funktionierende Repräsen- tation überhaupt wichtig ist, wer im Parlament sitzt, 3. Der Zusammenhang zwischen der politischen ist in der Repräsentationsforschung noch immer Ebene und der politischen Repräsentation von stark umstritten. Häufig wird eingewendet, dass es Personen mit Migrationshintergrund weniger wichtig sei, wer die Repräsentanten sind, sondern vielmehr, ob die Repräsentanten im Interes- Trotz der im vorangehenden Abschnitt erläuterten se der Repräsentierten handeln und entscheiden. Die- Argumente für die Relevanz einer deskriptiven Re- sem Einwand können allerdings zwei Argumente präsentation sind Personen mit Migrationshinter- entgegengehalten werden, warum eine deskriptive grund in den deutschen Parlamenten noch immer un- Repräsentation von Personen mit Migrationshinter- terrepräsentiert – sowohl auf Landesebene als auch grund dennoch wichtig ist. Erstens ist die Trennung auf Bundesebene (siehe z.B. Schönwälder, 2013; zwischen einer deskriptiven und einer substantiellen Wüst & Saalfeld, 2011). Um zu klären, warum dies Repräsentation weniger klar, als es begrifflich zu- der Fall ist, kann es aufschlussreich sein, sich einge- nächst scheint. Eine deskriptive Repräsentation kann hender mit den einzelnen Stufen des parlamentari- unter bestimmten Umständen förderlich für die sub- schen Rekrutierungsprozesses auseinanderzusetzen. stantielle Repräsentation von Minderheiten sein. So Der parlamentarische Rekrutierungsprozess wird kann angenommen werden, dass ein Migrationshin- häufig auch als „multi-step ladder“ (Norris & Loven- tergrund bei bestimmten Themen zu gemeinsamen duski, 1993, S. 376) umschrieben. Die unterste Stufe Interessen führen kann, auch wenn die Gruppe an- sonsten sehr heterogen zusammengesetzt ist. Diese 3 Allerdings kann nicht differenziert werden, ob Abgeordnete mit Migrationshintergrund häufiger in Ausschüssen mit Mi- gemeinsamen Interessen können zum Beispiel durch grationsbezug sitzen oder parlamentarische Anfragen mit Mi- geteilte Diskriminierungserfahrungen entstehen oder grationsbezug stellen, weil sie selbst einen Migrationshinter- aufgrund von gemeinsamen migrationsspezifischen grund besitzen oder weil Parteien Abgeordnete mit Migrati- Interessen – etwa im Hinblick auf Themen wie die onshintergrund häufiger in eine solche Position drängen. doppelte Staatsbürgerschaft. Abgeordnete mit Migra- 4 Allerdings existieren auch Studien, die keinen Effekt einer de- tionshintergrund sind gegenüber solchen migrati- skriptiven Repräsentation auf das Vertrauen und die politische Partizipation von ethnischen Minderheiten finden können (siehe onsspezifischen Themen möglicherweise sensibler Gay, 2001; Gay, 2002).

32 MIP 2015 21. Jhrg. Ceyhan – Eine Frage der politischen Ebene? [...] Aufsätze dieser Leiter bilden Bewerber für Parlamentskandi- sche Erfahrungen auf der lokalen und auf der Lan- daturen; darauf folgt die Gruppe der für die Wahl desebene gesammelt haben und sich dabei bewährt nominierten Kandidaten; die schließlich gewählten haben (Borchert, 2011, S. 123). Die dahinter stehende Abgeordneten bilden die höchste Stufe dieser Leiter. Annahme ist, dass in der Hierarchie höher eingestufte Im Fokus dieses Beitrags steht vor allem die mittlere Ämter solche sind, die auf einer höheren politischen Stufe der nominierten Kandidaten. Die Kandidaten- Ebene – hier auf der Bundesebene – angesiedelt sind auswahl bildet eine entscheidende Stufe im parla- und eine numerisch größere Wählerschaft haben mentarischen Rekrutierungsprozess. Erst wenn Par- (Francis & Kenny, 2000). Begründet wird das Streben teien ausreichend viele Parlamentsbewerber mit Mi- nach einem Amt auf einer höheren Hierarchiestufe da- grationshintergrund zur Wahl aufstellen und diese mit, dass solche Ämter als einflussreicher, prestige- auch aussichtsreich – auf vorderen Listenplätzen reicher, lukrativer und deshalb begehrenswerter an- oder in gewinnbaren Wahlkreisen – nominieren, gesehen werden (Copeland & Opheim, 2011, S. 145). können Minderheiten angemessen in Parlamenten re- Nach diesem hierarchischen Karrieremodell verläuft präsentiert werden. Vor diesem Hintergrund wird an- der Weg zu einer Kandidatur für ein Abgeordneten- genommen, dass die Nominierung selbst und die Art mandat im Bundestag über mehr Selektionsstufen als der Nominierung einen maßgeblichen Einfluss auf dies bei Landesparlamenten der Fall ist, da ein Ab- die politische Repräsentation von Minderheiten hat geordnetenmandat auf Bundesebene eine größere (Claro da Fonseca, 2011; Kittilson & Tate, 2005). politische Ämtererfahrung voraussetzt. Aufgrund dieser hierarchischen Sequenz kann vermutet wer- Um von einer Partei als Parlamentskandidat nomi- den, dass die Landesebene marginalisierten Gruppen niert zu werden, muss man in der Regel eine partei- wie ethnischen Minderheiten bessere Repräsentations- politische Karriere vorweisen (Herzog, 1975; Pat- chancen bietet als die Bundesebene. zelt, 1999; Schüttemeyer & Sturm, 2005). Dabei er- folgen Karrierewege nicht völlig zufällig, sondern es Allerdings wird dieses hierarchische Modell auf- lassen sich bestimmte Muster beobachten: „Political grund einer steigenden Professionalisierung von careers do not proceed chaotically. There are pat- Landesparlamenten seit den 1970er Jahren zuneh- terns of movement from office to office; as the office mend in Frage gestellt (Borchert, 2011; Borchert & becomes more conspicuous, the patterns become Stolz, 2011a; Pilet et al., 2014; Stolz, 2003). Die clearer” (Schlesinger, 1966, S. 118). Hierbei können deutschen Landesparlamente zählen zu den Parla- zwei grundsätzliche Modelle von politischen Karrie- menten, die sich im Hinblick auf Einkommen, Zeit- rewegen unterschieden werden: ein hierarchisches aufwand, Mitarbeiter und infrastrukturelle Ausstat- Modell und ein nicht-hierarchisches Modell. Geht tung am stärksten professionalisiert haben: „In many man von einem hierarchischen unidirektionalen Mo- federal countries a state (or regional) mandate has dell des politischen Karriereweges (Schlesinger, thus become a full-time, long-term, fully paid politi- 1966) aus, dienen Landesparlamente häufig als ein cal job similar to that of national deputies at the fe- Karrieresprungbrett für eine Karriere auf der Bun- deral level” (Borchert & Stolz, 2011b, S. 107). Da- desebene. Danach verläuft der politische Karri- nach sind Landesparlamente als eigene Karriereare- ereweg in eine bestimmte hierarchische Richtung: nen zu verstehen, die keineswegs mehr nur als „The scholars involved in such a discussion have, for Sprungbrett für eine Karriere auf der Bundesebene a long time, identified what is often called the ‚polit- dienen, sondern selbst als Karriereoption zunehmend ical ladder‘, a ladder that most politicians start attraktiv geworden sind. Politische Karrieren folgen climbing at the local level to move up, step by step, nicht mehr ausschließlich einer hierarchischen Se- to the sub-national level and then to the national lev- quenz, bei der man sich von der lokalen Ebene bis el“ (Pilet, Tronconi, Onate, & Verzichelli, 2014, S. zur nationalen Ebene hocharbeitet. Stattdessen kann 211). Danach beginnt die Mehrheit der Parlaments- je nach den sich bietenden Zugangsmöglichkeiten kandidaten ihre politische Karriere zunächst auf der ein flexibler Wechsel von der Landesebene zur Bun- lokalen Ebene. Die nächsthöhere Stufe, die erreicht desebene und wieder zurück stattfinden, wobei die werden kann, ist die Nominierung als Parlaments- politischen Ebenen als ein integriertes Karrierefeld kandidat für einen Landtag. Personen, die bereits Er- („integriertes Karrieremodell“) verstanden werden, fahrungen auf der Landesebene gesammelt haben, oder Abgeordnete spezialisieren sich durch die zu- dienen Parteien dann häufig als Rekrutierungsfeld nehmende Professionalisierung von Landesparla- für ein Mandat im Bundestag. Zugang zu einem Ab- menten dauerhaft auf der Landesebene („alternatives geordnetenamt auf der Bundesebene haben danach Karrieremodell“) und streben nicht nach einem Man- nur solche Kandidaten, die bereits langjährige politi- dat auf der Bundesebene (Borchert, 2011, S. 131).

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Folgt man diesem nicht-hierarchischen Karrieremo- Als Datengrundlage für die Bundesebene dient die dell, sollten für Kandidaten mit Migrationshinter- Deutsche Kandidatenstudie 2013, die im Rahmen grund keine großen Unterschiede in den Repräsenta- der German Longitudinal Election Study (GLES) tionschancen zwischen der Bundes- und Landesebe- durchgeführt wurde. Die Deutsche Kandidatenstudie ne bestehen. Zugang zu einem Abgeordnetenamt auf ist ebenfalls eine Nachwahlbefragung und wurde Bundesebene haben nicht nur Kandidaten, die bereits parallel postalisch und online durchgeführt. Befragt langjährige politische Erfahrungen auf der Landes- wurden dabei Kandidaten von SPD, CDU, CSU, ebene gesammelt haben, sondern politische Karriere- Bündnis90/Die Grünen, FDP, Die Linke, Piraten und wege haben sich stärker flexibilisiert. Danach sollten AfD. Die Auswahlgesamtheit belief sich auf insge- Parteien Parlamentskandidaten auf Bundes- und Lan- samt 2.776 Kandidaten. Von diesen haben sich 1.137 desebene aus ähnlich strukturierten Bewerberpools an der Befragung beteiligt, was einer Ausschöp- rekrutieren, sodass Bundes- und Landesebene Kandi- fungsquote von 41 Prozent entspricht. daten mit Migrationshintergrund ähnliche Zugangs- Als Personen mit Migrationshintergrund werden in möglichkeiten bieten: „The recruitment pool for fe- der folgenden Analyse nach Definition des Mikro- deral and state legislators is largely the same as is zensus (Destatis, 2013) erstens alle Personen erfasst, their social background” (Borchert & Stolz, 2011a, die selbst im Ausland mit einer ausländischen Staats- S. 219). Die Frage, ob auf Landesebene mehr Parla- bürgerschaft geboren wurden. Hierbei gelten jene mentskandidaten mit Migrationshintergrund zur Gebiete als Ausland, die nicht zum Staatsgebiet des Wahl antreten als auf Bundesebene oder nicht, soll heutigen Deutschlands gehören. Gebiete, die histo- im Folgenden empirisch überprüft werden. risch deutsches Staatsgebiet waren, heute jedoch nicht mehr zu Deutschland gehören und die von den 4. Datengrundlage und Operationalisierung Befragten explizit mit deutschem Namen benannt wurden, wurden nicht als Ausland kodiert. Deutsche Als Datengrundlage für die Landesebene wird auf Vertriebe werden durch das Kriterium einer auslän- Daten der Deutschen Landtagskandidatenstudie 5 dischen Staatsbürgerschaft bei der Geburt weitge- 2013/14 zurückgegriffen. Die Deutsche Landtags- hend ausgeschlossen. Auch Kinder von deutschen kandidatenstudie ist eine Mehrländer-Befragung und Staatsbürgern, die im Ausland geboren wurden – untersucht den sozio-demographischen Hintergrund, etwa aufgrund eines beruflichen Auslandsaufenthal- die politischen Karrierewege, das Wahlkampfverhal- tes der Eltern –, werden durch dieses Kriterium aus- ten und die politischen Positionen von Parlaments- geschlossen. Zweitens werden jene Befragten als kandidaten auf der Ebene der deutschen Bundeslän- Personen mit Migrationshintergrund erfasst, die be- der. Befragt wurden dabei Kandidaten, die zur Wahl reits in Deutschland geboren wurden, aber mindes- des Hessischen und des Bayerischen Landtags im tens ein Elternteil besitzen, das im Ausland mit einer Jahr 2013 angetreten sind. Die Erhebung der Daten ausländischen Staatsbürgerschaft geboren wurde. erfolgte im Rahmen einer postalischen Nachwahlbe- Als Personen ohne Migrationshintergrund gelten alle fragung. Außerdem wurde ein inhaltlich identischer Personen, die angaben, in Deutschland geboren wor- Online-Fragebogen zur Verfügung gestellt. Dabei den zu sein, seit ihrer Geburt die deutsche Staatsbür- wurden Kandidaten, die für SPD, CDU, CSU, Freie gerschaft besessen zu haben und deren beide Eltern- Wähler, FDP, Bündnis90/Die Grünen, Die Linke, Pi- teile bereits auf dem Gebiet des heutigen Deutsch- raten, AfD, ÖDP, NPD und Republikaner angetreten lands geboren wurden. sind, befragt. Von den insgesamt 597 Kandidaten in Hessen und den 1.494 Kandidaten in Bayern haben sich 297 in Hessen (Rücklaufquote: 50 Prozent) und 5. Parlamentskandidaten mit Migrationshinter- 599 in Bayern (Rücklaufquote: 40 Prozent) an der grund auf der Bundes- und Landesebene – Empi- Befragung beteiligt. Um eine vergleichbare Daten- rische Befunde analyse für die Landes- und Bundesebene durchfüh- Im ersten Schritt soll geprüft werden, ob sich im Hin- ren zu können, wurden Kandidaten der Freien Wäh- blick auf die Anzahl von Parlamentskandidaten mit ler, ÖDP, NPD, und Republikaner aus der Analyse Migrationshintergrund Unterschiede zwischen der ausgeschlossen, da diese in der Deutschen Kandida- Bundes- und Landesebene feststellen lassen. Hier- tenstudie auf Bundesebene nicht befragt wurden. durch können Hinweise darauf gewonnen werden, in- wieweit sich die Repräsentationschancen zwischen 5 Die Deutsche Landtagskandidatenstudie 2013/14 wurde an den beiden politischen Ebenen unterscheiden. der Professur für Vergleichende Politikwissenschaft der Goethe- Universität Frankfurt (Prof. Dr. Thomas Zittel) durchgeführt.

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Tabelle 1: Anteil von Parlamentskandidaten mit Mi- auf der Bundesebene als auch in den beiden unter- grationshintergrund auf der Bundes- und Landesebene suchten Landtagswahlen in ähnlichem Ausmaß unter- mit MH ohne MH repräsentiert. Diese Feststellung wird zusätzlich da- durch gestützt, dass sich keine signifikanten Unter- Bundesebene 6,7 93,3 schiede zwischen der Anzahl von Kandidaten mit (74) (1033) Migrationshintergrund auf Bundes- und Landesebene Landesebene 7,9 92,1 feststellen lassen. (50) (585) Die Nominierung alleine sagt allerdings noch nichts Hessen 9,1 90,9 darüber aus, ob die antretenden Kandidaten auch (23) (229) echte Zugangsmöglichkeiten zu Parlamenten haben. Parteien können Parlamentskandidaten mit Migrati- Bayern 7,1 92,9 onshintergrund nominieren, um ihr Kandidatentableau (27) (356) zu diversifizieren und möglichst viele Wählergrup- Anmerkung: MH=Migrationshintergrund, Signifikanz der pen anzusprechen, ohne diesen Kandidaten jedoch Differenz zwischen Bundes- und Landesebene für Parla- realistische Chancen auf einen Parlamentssitz zu ge- mentskandidaten mit Migrationshintergrund * p ≤ 0.05, ** ben. Um dies zu prüfen, soll im nächsten Schritt un- p ≤ 0.01, *** p ≤ 0.001, NBundesebene=1.107, NLandesebene=635, tersucht werden, wie viele der erfolgreichen Kandi- NHessen=252, NBayern=383. daten einen Migrationshintergrund besitzen. Wie Tabelle 1 zeigt, hatten unter den befragten Kan- Tabelle 2: Anteil der erfolgreichen Kandidaten mit Mi- didaten, die bei der Deutschen Bundestagswahl 2013 grationshintergrund auf der Bundes- und Landesebene angetreten sind, rund 7 Prozent einen Migrationshin- tergrund. Im Vergleich zu ihrem Anteil in der Bevöl- mit MH ohne MH kerung, der bei 20 Prozent liegt, sind Personen mit Bundesebene 7,9* 92,1 Migrationshintergrund unter den angetretenen Kan- (18) (209) didaten somit unterrepräsentiert. Vergleicht man die Landesebene 4,6 95,4 Bundesebene mit der Landesebene, zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Hier hatten rund 8 Prozent der an- (5) (104) getretenen Kandidaten einen Migrationshintergrund, Hessen 7,1 92,9 wobei sich leichte Unterschiede zwischen den bei- (4) (52) den untersuchten Bundesländern feststellen lassen. Bayern 1,9 98,1 Zur Wahl des Hessischen Landtags traten rund 9 Prozent Kandidaten mit Migrationshintergrund an, (1) (52) was zwar mit einer Differenz von mehr als zwei Pro- Anmerkung: MH=Migrationshintergrund, Signifikanz der zentpunkten über dem Anteil auf der Bundesebene Differenz zwischen Bundes- und Landesebene für Parla- liegt, aber dennoch deutlich unter dem Anteil von mentskandidaten mit Migrationshintergrund * p ≤ 0.05, ** Personen mit Migrationshintergrund in der hessi- p ≤ 0.01, *** p ≤ 0.001, NBundesebene=227, NLandesebene=109, NHessen=56, NBayern=53. schen Bevölkerung, der bei 26 Prozent liegt. Zur Wahl des Bayerischen Landtags zeichnet sich eine Betrachtet man den Anteil von Personen mit Migrati- ähnliche Tendenz wie auf Bundesebene ab. Nur rund onshintergrund unter den erfolgreichen Kandidaten 7 Prozent der angetretenen Kandidaten besaßen hier auf Bundesebene, zeigt sich, dass ihr relativer Anteil einen Migrationshintergrund. im Vergleich zu den reinen Kandidaturen leicht ge- stiegen ist von 6,7 auf 7,9 Prozent. Dies deutet dar- Vergleicht man die Bundes- und Landesebene mit- auf hin, dass die Zugangsmöglichkeiten zu einem einander, lässt sich zwischen den beiden politischen parlamentarischen Mandat auf Bundesebene, nach- Ebenen kein Unterschied in den Repräsentations- dem man den Nominierungsprozess erfolgreich durch- chancen für Kandidaten mit Migrationshintergrund laufen ist und zur Wahl aufgestellt wurde, etwas bes- feststellen. Die Annahme, dass aufgrund von unter- ser zu sein scheinen als die zu einer Kandidatur. Hier- schiedlichen Zugangsmöglichkeiten systematische für können zwei mögliche Erklärungen angeführt wer- Unterschiede in der Anzahl von Kandidaten mit Mi- den: Möglicherweise diskriminieren Wähler Kandida- grationshintergrund zwischen der Bundes- und Lan- ten mit Migrationshintergrund erstens in geringerem desebene bestehen, kann anhand der zur Verfügung Maße bei ihren Wahlentscheidungen, als häufig ange- stehenden Daten nicht betätigt werden. Stattdessen nommen wird. Zweitens kann dies aber auch ein Hin- waren Kandidaten mit Migrationshintergrund sowohl weis darauf sein, dass Parteien Kandidaten mit Migra-

35 Aufsätze Ceyhan – Eine Frage der politischen Ebene? [...] MIP 2015 21. Jhrg. tionshintergrund, wenn sie den Rekrutierungsprozess nem hierarchischen oder einem nicht-hierarchischen und die informellen Selektionsprozesse vor der Nomi- Karrieremodell entspricht. nierungskonferenz (Reiser, 2011) erfolgreich durch- Wie Abbildung 1 zeigt, ähneln sich die politischen laufen haben, aussichtsreich zur Wahl aufstellen. Karrierewege von Parlamentskandidaten mit und Auf Landesebene findet man einen gegenteiligen Be- ohne Migrationshintergrund. Die Mehrheit der Kan- fund. Betrachtet man hier den Anteil von Personen didaten – unabhängig von einem Migrationshinter- mit Migrationshin- tergrund unter den erfolgreichen Kan- didaten, zeigt sich, dass ihr relativer Anteil im Vergleich zu den reinen Kan- didaturen geringer ist – die Differenz beträgt rund 3 Pro- zentpunkte. Dies deutet darauf hin, dass die Zugangs- möglichkeiten für Kandidaten mit Mi- grationshintergrund zu einem parlamen- tarischen Mandat auf Landesebene, anders als ange- nommen, schlechter sind als auf Bundes- ebene. Auch im Hinblick auf die Gruppe der erfolgreichen Kandidaten bestätigt sich grund – hat bereits zuvor durch ein lokales Parteiamt somit nicht, dass die Landesebene Personen mit Mi- oder als Mitglied in einer lokalen Vertretung politi- grationshintergrund bessere Repräsentationschancen sche Erfahrungen auf lokaler Ebene gesammelt. Die bietet als die Bundesebene. Allerdings zeigt ein ge- lokale Ebene scheint das zentrale Einstiegsfeld in ein nauerer Blick auf die beiden untersuchten Bundes- politisches Amt zu sein. Dies gilt sowohl für Kandi- länder Hessen und Bayern, dass zwischen den Bun- daten auf der Landes- als auch auf der Bundesebene. desländern deutliche Unterschiede bestehen. Unter Dieser Befund deutet in Richtung eines hierarchi- den befragten Kandidaten, die erfolgreich in den schen Karrieremodells. Danach beginnt die Mehrheit Hessischen Landtag eingezogen sind, besaßen rund 7 der Parlamentskandidaten ihre politische Karriere Prozent einen Migrationshintergrund, in Bayern hat- zunächst auf der lokalen Ebene, bevor sie für einen te nur ein einziger erfolgreicher Kandidat einen Mi- Landtag oder für den Bundestag kandidieren. Dar- grationshintergrund. über hinaus hat sich die Mehrheit der Kandidaten als unbezahlte Kampagnenhelfer im Wahlkampf enga- Nachdem anhand der hessischen und bayerischen giert. Das unentgeltliche Engagement im Wahlkampf Landtagswahlen nicht bestätigt werden konnte, dass ist offensichtlich eine wichtige Aktivität, um als Parla- Kandidaten mit Migrationshintergrund auf Landes- mentskandidat nominiert zu werden. ebene besser repräsentiert sind als auf Bundesebene, soll im nächsten Schritt untersucht werden, welche Ein Vergleich zwischen Kandidaten mit und ohne politischen Karrierewege die Kandidaten aufweisen, Migrationshintergrund zeigt, dass Kandidaten mit bevor sie für den Bundestag oder einen der beiden Migrationshintergrund sowohl auf der Bundes- als untersuchten Landtage kandidiert haben. Die Analy- auch auf der Landesebene in etwas geringerem Maße se der politischen Karrierewege soll weitere Hinwei- Mitglied in einer lokalen Vertretung waren oder ein se darauf geben, ob der Rekrutierungsweg stärker ei- lokales Parteiamt innehatten. Für Kandidaten ohne

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Migrationshintergrund scheint die lokale Ebene et- identifiziert. Um als Parlamentskandidat nominiert was zugänglicher zu sein als für Kandidaten mit Mi- zu werden, muss man in der Regel eine langjährige grationshintergrund. Dagegen engagierten sich auf parteipolitische Karriere vorweisen. Geht man dabei Landesebene mehr Kandidaten mit Migrationshinter- von einem hierarchischen Modell des politischen grund als unbezahlte Kampagnenhelfer, als dies auf Karriereweges aus, dienen Landesparlamente häufig Kandidaten ohne Migrationshintergrund zutrifft. nur als Karrieresprungbrett für ein Mandat auf der Bundesebene. Danach ist anzunehmen, dass die Lan- Vergleicht man die politischen Karrierewege zwi- desebene Bewerbern mit Migrationshintergrund bes- schen Kandidaten mit Migrationshintergrund auf der sere Zugangsmöglichkeiten zu Parlamentskandidatu- Bundes- und Landesebene miteinander, lassen sich ren bietet als die Bundesebene, da ein Abgeordneten- kaum signifikante Unterschiede feststellen. Der ein- mandat auf Bundesebene mehr politische Ämterer- zige signifikante Unterschied zeigt sich im Hinblick fahrung voraussetzt. Allerdings wird dieses Modell auf das Engagement als unbezahlter Kampagnenhel- aufgrund einer zunehmenden Professionalisierung von fer. Während sich 92 Prozent der Kandidaten mit Landesparlamenten in jüngerer Zeit in Frage gestellt. Migrationshintergrund auf Landesebene schon ein- Danach sind Landesparlamente als eigene Karrierea- mal als unbezahlte Kampagnenhelfer engagiert ha- renen zu verstehen, die keineswegs nur als Sprung- ben, trifft dies nur auf rund 72 Prozent der Kandida- brett für eine Karriere auf der Bundesebene dienen. ten mit Migrationshintergrund auf Bundesebene zu. Folgt man diesem nicht-hierarchischen Modell, soll- Dass Parlamentskandidaten mit Migrationshinter- ten keine Unterschiede in den Repräsentationschancen grund auf der Bundesebene in ähnlichem Maße zwischen der Bundes- und Landesebene bestehen. politische Erfahrungen auf lokaler Ebene vorweisen können wie Parlamentskandidaten auf Landesebene, Wie die deskriptive Analyse gezeigt hat, lassen sich kann in Richtung eines hierarchischen Karrieremo- auf Grundlage der verfügbaren Daten keine systema- dells interpretiert werden. Alle Parlamentskandida- tischen Unterschiede zwischen den Repräsentations- ten beginnen ihre politische Karriere zunächst auf chancen auf der Bundes- und Landesebene feststel- der lokalen Ebene, bevor sie für einen Landtag oder len. Die politische Ebene selbst scheint keine Rolle für den Bundestag kandidieren. Entgegen der Annah- für die politische Repräsentation von Minderheiten me des hierarchischen Karrieremodells zeigt sich zu spielen. Die Varianz zwischen Hessen und Bay- aber auch, dass ein vergleichsweiser kleiner Anteil ern deutet außerdem darauf hin, dass nicht die politi- von nur 5,4 Prozent der Kandidaten mit Migrations- sche Ebene selbst, sondern dahinter stehende Kon- hintergrund, die auf Bundesebene zur Wahl antreten textfaktoren ausschlaggebend sind. Dies können bei- sind, zuvor ein Abgeordnetenmandat auf Landesebe- spielsweise Varianzen im Wahlsystem oder in der ne innehatten und nur 1,4 Prozent waren Mitglied ei- Größe und Zusammensetzung der Bevölkerung mit ner Landesregierung. Umgekehrt hatten 8 Prozent Migrationshintergrund sein (Schönwälder, 2013). In der Kandidaten, die zur hessischen oder bayerischen einem weiteren Schritt gilt es folglich, mehr Land- Landtagswahl angetreten sind, zuvor bereits ein natio- tagswahlen einzubeziehen, um diese Kontextfaktoren nales Parteiamt inne. Auch ein genauerer Blick auf die systematisch kontrollieren zu können. Außerdem politischen Karrierewege bestätigt somit nicht die An- konnte die Analyse zeigen, dass die Mehrheit der nahme einer hierarchischen Karrieresequenz. Politi- Kandidaten mit Migrationshintergrund bereits Ämte- sche Karrierewege haben sich offensichtlich stärker rerfahrungen auf der lokalen Ebene gesammelt hat. flexibilisiert. Daher lassen sich zwischen der Bun- Vor diesem Hintergrund könnte es aufschlussreich des- und Landesebene – zumindest im Hinblick auf sein, zusätzlich Daten auf kommunaler Ebene in die die beiden untersuchten Landtagswahlen – auch ähn- Analyse einzubeziehen. liche Repräsentationschancen für Personen mit Migra- tionshintergrund feststellen. Literatur Abney, Glenn F., & Hutcheson, John D. (1981). 6. Fazit Race, Representation, and Trust: Changes in Atti- tudes After the Election of a Black Mayor. Public Dieser Beitrag sollte einen ersten Einblick in die Opinion Quarterly, 45, 91-101. Frage geben, ob für Personen mit Migrationshinter- grund Unterschiede zwischen den Repräsentations- Banducci, Susan A., Donovan, Todd, & Karp, Jeffrey chancen auf Bundes- und Landesebene bestehen. Da- A. (2004). Minority Representation, Empowerment, bei wurde zunächst die Kandidatenauswahl als eine and Participation. The Journal of Politics, 66(2), zentrale Stufe im politischen Rekrutierungsprozess 534-556.

37 Aufsätze Ceyhan – Eine Frage der politischen Ebene? [...] MIP 2015 21. Jhrg.

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38 MIP 2015 21. Jhrg. Ceyhan – Eine Frage der politischen Ebene? [...] Aufsätze

Saalfeld, Thomas, & Bischof, Daniel. (2013). Mi- nority-Ethnic MPs and the Substantive Representa- tion of Minority Interests in the House of Commons, 2005-2011. Parliamentary Affairs, 66(2), 305-328. Schlesinger, Joseph A. (1966). Ambition and Poli- tics: Political Careers in the United States. Chicago: Rand Mc. Nally & Company. Schönwälder, Karen. (2013). Immigrant Representa- tion in Germany’s Regional States: The Puzzle of Uneven Dynamics. West European Politics, 36(3), 634-651. Schüttemeyer, Suzanne S., & Sturm, Roland. (2005). Der Kandidat - das (fast) unbekannte Wesen: Befun- de und Überlegungen zur Aufstellung der Bewerber zum Deutschen Bundestag. Zeitschrift für Parla- mentsfragen, 36(3), 539-553. Stolz, Klaus. (2003). Moving Up, Moving Down: Political Careers Across Territorial Levels. Euro- pean Journal of Political Research, 42(2), 223-248. Tate, Katherine. (2001). The Political Representa- tion of Blacks in Congress: Does Race Matter? Leg- islative Studies Quarterly, 26(4), 623-638. Wüst, Andreas M. (2014). A Lasting Impact? On the Legislative Activities of Immigrant-origin Parlia- mentarians in Germany. The Journal of Legislative Studies, 20(4), 495-515. Wüst, Andreas M., & Saalfeld, Thomas. (2011). Ab- geordnete mit Migrationshintergrund im Vereinigten Königreich, Frankreich, Deutschland und Schweden: Opportunitäten und Politikschwerpunkte. In M. Edinger & W. J. Patzelt (Eds.), Politik als Beruf (S. 312-333). Wiesbaden: VS Verlag.

39 Aufsätze Bogumil – Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa [...] MIP 2015 21. Jhrg.

Erfolg und Misserfolg der populistischen ter Parteien in den einen und das Ausbleiben eines radikalen Rechten in Deutschland und solchen Erfolgs in den anderen Ländern. Welches Europa. Eine Ursachenanalyse sind die Gründe für Erfolg bzw. Misserfolg der po- pulistischen radikalen Rechten? Simon Bogumil1 Dazu soll zunächst das Konzept der populistischen radikalen Rechten vorgestellt werden um die Vertre- ter dieser Parteifamilie sinnvoll von anderen Parteien 1. Einleitung abzugrenzen. Anschließend werden die verschiede- nen Erklärungsansätze zur Varianz radikal-rechten Seit den Europawahlen im Mai 2014 ist vom einem Wahlerfolgs vorgestellt. Nachfrageorientierte Ansät- „Rechtsruck in Europa“ die Rede (Bayerischer Rund- ze versuchen, Aufstieg und Erfolg der populistischen funk, 25.05.2014). In Frankreich erreichte der als radikalen Rechten durch strukturelle Veränderungen rechtsextrem bezeichnete Front National (FN) von in der Gesellschaft zu erklären, die in der Bevölke- Marine Le Pen ein Rekordergebnis von knapp 25 Pro- rung einen Bedarf nach autoritären und fremden- zent und überflügelte damit die regierenden Sozialis- feindlichen Wertvorstellungen und Programmen er- ten sowie die oppositionelle UMP. Auch in Großbri- zeugen. Angebotsorientierte Ansätze hingegen be- tannien und Dänemark erlangten sog. rechtspopulisti- leuchten die politische Gelegenheitsstruktur und die sche Parteien wie die UK Independence Party (UKIP) Parteien der populistischen radikalen Rechten selbst und die Dänische Volkspartei (DF) die meisten Stim- und setzen ihr Verhalten in einen kausalen Zusam- men und lösten damit ein politisches Erdbeben aus. menhang mit ihrem Wahlerfolg. Da nachfrageseitige Die effektheischenden Schlagzeilen vernachlässigen Ansätze zwar das generelle Emporkommen der po- jedoch, dass Parteien des rechten Randes nicht überall pulistischen radikalen Rechten seit den 80er Jahren in Europa dazugewonnen haben. In den Niederlanden, erklären können, aber nicht die Varianz des radikal- Italien und Belgien verloren Geert Wilders PVV, Um- rechten Wahlerfolgs im Ländervergleich und im berto Bossis Lega Nord (LN) und Gerolf Annemans Zeitverlauf, soll sich dieser Beitrag allein auf ange- Vlaams Belang (VB) zwischen drei und sechs Pro- botsorientierte Ansätze fokussieren. zent. Im krisengeschüttelten Spanien konnten gar kei- Im abschließenden Teil des Beitrags soll die Frage ne rechten Parteien irgendeinen Stimmenzuwachs er- beantwortet werden, warum sich die populistische zielen, während in Griechenland nicht die rechtsex- radikale Rechte trotz gelegentlicher Wahlerfolge treme Goldene Morgenröte, sondern die linksradika- nicht dauerhaft in der Bundesrepublik etablieren le Syriza die meisten Stimmen auf sich vereinigte. In konnte. Anhand der deutschen Republikaner und der Deutschland erlangte die euroskeptische Alternative Schill-Partei, die beide nach einem oder mehreren für Deutschland (AfD) aus dem Stand 7,0 Prozent. Aufsehen erregenden Wahlerfolgen in der politi- Ihre ideologische Einordnung ist jedoch umstritten. schen Bedeutungslosigkeit verschwanden, sollen die Die Erfolgsbilanz der Parteien des rechten Randes fällt Ergebnisse der vorangegangen Analyse überprüft somit durchaus unterschiedlich aus. Zudem sollten die werden. Es wird dabei die Frage erörtert, ob die po- neuen Rekordergebnisse für den Front National oder pulistische radikale Rechte in Deutschland aus den- die Dänische Volkspartei nicht darüber hinwegtäu- selben Gründen scheiterte wie ihre erfolglosen Pen- schen, dass sich diese Parteien schon vor mehreren dants in anderen Ländern oder ob bestimmte Jahrzehnten in ihren jeweiligen Parteiensystemen als deutschlandspezifische Gründe bei ihrem Nieder- dauerhafte politische Kraft etabliert haben und nicht gang eine Rolle spielten. erst seit der Euro-Krise zweistellige Ergebnisse ein- fahren können. Andererseits gibt es immer noch Län- 2. Die Parteien des rechten Randes – eine konzep- der wie Spanien, Irland oder Portugal, in denen seit tionelle Einordnung Einführung der Demokratie noch nie eine Partei des rechten Randes politische Relevanz erlangt hat. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich eine schier endlose Fülle von Begriffen zur Charakterisie- Dieser Beitrag soll eine Erklärung liefern für die rung derjenigen Parteienfamilie, die sich in den letz- Diskrepanz zwischen dem Wahlerfolg radikal-rech- ten Jahrzehnten in vielen Ländern West- und Osteu- 1 Der Autor ist Master-Student an der London School of Eco- ropas rechts der konservativen und christdemokrati- nomics and Political Science. Der Beitrag basiert auf dem schen Parteien etabliert hat. Die Bandbreite der Be- gleichnamigen Buch, das 2014 im AV Akademikerverlag ver- zeichnungen rangiert hierbei von rechts-extrem, neo- öffentlicht wurde (siehe Literaturhinweise).

40 MIP 2015 21. Jhrg. Bogumil – Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa [...] Aufsätze faschistisch, national- oder rechtspopulistisch zu nur Arbeitslosigkeit oder sozialem Wandel behandelt, im englischen Sprachraum vorhandenen Begriffen geht es auf der Angebotsseite um den Führungsstil wie nativist, anti-immigrant oder anti-partyist. In und das Programm aufstrebender und etablierter Par- diesem Beitrag soll auf das Konzept der populisti- teien, den Wettbewerb zwischen den Parteien sowie schen radikalen Rechten des niederländischen Poli- um die Medien (Eatwell 2003, S. 48). In Bogumil tologen Cas Mudde zurückgegriffen werden. Mudde (2014) ist ausführlich dargelegt, warum nachfrage- definiert die Parteien des rechten Randes anhand seitige Ansätze zwar das generelle Emporkommen dreier Ideologiemerkmale: Nativismus, Autoritaris- der populistischen radikalen Rechten seit den 80er mus und Populismus. Jahren erklären können, aber nicht die unterschiedli- chen Erfolge und Misserfolge einzelner Parteien in Nativismus sei eine Kombination aus Nationalismus verschiedenen europäischen Ländern. Daher sollen und Xenophobie. Während der Nationalismus die in diesem Beitrag allein angebotsseitige Ansätze be- Einheit von Staat und Nation proklamiere und forde- handelt werden. re, dass Staaten ausschließlich oder primär von An- gehörigen des eigenen Volkes bewohnt werden soll- In Anlehnung an Cas Mudde lässt sich zwischen der ten, definiere sich Xenophobie als die grundlegende externen und der internen Angebotsseite unterschei- Ablehnung fremder, nicht-nativer Personen oder Ide- den: während sich erstere auf die politische Gelegen- en. Das eigene Volk bzw. das Fremde könne dabei heitsstruktur bezieht, d.h. auf solche Faktoren, auf aufgrund einer Vielzahl kultureller Merkmale wie die einzelne Parteien keinen unmittelbaren Einfluss ethnischer, rassischer oder religiöser Zugehörigkeit nehmen können (institutionelles Umfeld, Medien- definiert werden. Autoritarismus sei der Glaube an landschaft, kulturelle Traditionen und ideologische die Notwendigkeit einer hierarchischen und streng Positionen anderer Parteien), weist letztere ins Inne- geordneten Gesellschaft, in denen moralische wie re der untersuchten Parteien (eigene Ideologie, Orga- gesetzliche Verstöße gegen die anerkannte Autorität nisation, politische Führer). Insbesondere die interne hart zu bestrafen seien (Mudde 2007, S. 18ff). Angebotsseite wird für die Analyse von Erfolg und Misserfolg der deutschen radikalen Rechten relevant Populismus begreift Mudde als eine „dünne“ Ideolo- sein (Mudde 2007). gie, die vom Antagonismus zwischen dem „reinen“ Volk und der „korrupten“ Elite ausgehe und fordere, dass jegliche Politik Ausdruck des allgemeinen Wil- 3.1 Die externe Angebotsseite lens („volonté générale“) des Volkes sein solle. In der populistischen Demokratieauffassung kenne das Der Begriff der politischen Gelegenheitsstruktur be- Mehrheitsprinzip keine Grenzen, auch nicht in Form zeichnet das formelle wie informelle Umfeld einer von Menschen- oder Bürgerrechten. Daraus ergeben Partei, das ihre Chancen und Hindernisse im politi- sich nach Mudde zwei Konsequenzen: die populisti- schen Wettbewerb bestimmt. Zu nennen wäre hier in sche radikale Rechte stehe in einem Spannungsver- allererster Linie der Parteienwettbewerb, bei dem hältnis zur liberalen, konstitutionellen Demokratie, empirische Studien zu unterschiedlichen, teils wider- aber sei zugleich unvereinbar mit der Demokratie- sprüchlichen Ergebnissen kommen: so findet sich ein feindlichkeit und der Ablehnung des Mehrheitsprin- signifikanter positiver Effekt moderater Positionen zips durch die extreme Rechte. Populismus und Ex- der gemäßigten Rechten und der ideologischen Kon- tremismus seien zwei einander ausschließende Kate- vergenz der etablierten linken und rechten Parteien gorien (ebd., S. 23ff). auf das Wahlergebnis der radikalen Rechten bei Carter, allerdings nur, wenn diese Faktoren bivariat getestet werden. In einer multivariaten Analyse mit anderen 3. Angebotsseitige Erklärungsansätze für den Er- angebotsseitigen Faktoren bleibt nur der Einfluss der folg und Misserfolg der populistischen radikalen Konvergenz zwischen den etablierten Parteien statis- Rechten in Europa tisch signifikant (Carter 2005). Andere Untersuchun- Roger Eatwell unterscheidet in seinem berühmt ge- gen kommen ebenfalls zu widersprüchlichen Ergeb- wordenen Aufsatz „Ten Theories of the Extreme nissen: während Van der Brug et al. einen statistisch Right“ zwischen nachfrage- („demand side“) und an- signifikanten Effekt der ideologischen Positionie- gebotsseitigen („supply side“) Erklärungsansätzen für rung der gemäßigten Rechten auf das Wahlergebnis den Erfolg und Misserfolg der populistischen radika- der radikalen Rechten ausmachen können, findet len Rechten. Während die Nachfrageseite sozioökono- Norris keine solche Korrelation (Van der Brug et al. mische Entwicklungen in Form von Einwanderung, 2005, S. 560; Norris 2005, S. 192ff).

41 Aufsätze Bogumil – Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa [...] MIP 2015 21. Jhrg.

In einer vergleichenden Studie über Frankreich und ganisation mit erheblichen persönlichen und sozialen Deutschland ist es primär das Verhalten der gemä- Risiken verbunden sei. Zweitens würden selbst „mo- ßigten Linken, das Erfolg und Misserfolg der popu- derate“ Vertreter der radikalen Rechten schnell von listischen radikalen Rechten wesentlich beeinflusst: rechtsextremen Aktivisten unterwandert werden, die während die französischen Sozialisten auf das Auf- sich durch den Eintritt in eine erfolgreiche radikal- kommen des FN mit einer breiten Gegenkampagne rechte Partei erhofften, ihr kulturelles Stigma abschüt- reagierten, die einen positiven Bezug zu Multikultu- teln zu können (Mudde 2007, S. 245ff)2. ralismus und Einwanderung setzte, versuchten die Ebenfalls zum kulturellen Kontext eines Landes ge- deutschen Sozialdemokraten, kulturell aufgeladene hören die Medien. In welcher Beziehung sie zum Er- Themen zu vermeiden. In der Konsequenz führte die folg oder Misserfolg der populistischen radikalen polarisierende Strategie der französischen Sozialis- Rechten stehen, ist in der Literatur stark umstritten. ten dazu, dass die kulturelle Konfliktachse zwischen So stelle sich die Frage, ob eine stärkere Medienre- „libertär-universalistischen“ und „traditionalistisch- zeption in Ländern mit erfolgreichen radikal-rechten kommunitaristischen“ Werten den Parteienwettbe- Parteien den Aufstieg der radikalen Rechten mit ver- werb in Frankreich dominieren konnte. Die konser- ursacht habe oder vielmehr eine Folge ihres Wahler- vativen Gaullisten seien somit von den Sozialisten folges sei. Auch negative Berichterstattung könne zu- und dem FN, welche die gegensätzlichen Pole der dem eine positive Wirkung auf das Wahlergebnis der kulturellen Konfliktachse besetzten, in der Mitte radikalen Rechten ausüben, wenn man bedenke, dass „eingequetscht“ worden und habe dadurch ihre ihre Wähler ohnehin gegenüber der herrschenden Kompetenz („issue ownership“) über das Einwande- Politik- und Medienlandschaft feindlich gesinnt seien. rungsthema in den Augen vieler rechter Wähler ver- Es sei schlussendlich jedoch anzunehmen, dass der loren (Bornschier 2012, S. 138). Einfluss der Medien – ob positiv oder negativ – vor Dabei gelte jedoch, dass sich die Wirkungen des Par- dem elektoralen Durchbruch der radikalen Rechten teienwettbewerbs vorrangig auf die Aufbauphase der am stärksten sei. Nach ihrer politischen Etablierung radikalen Rechten beschränke: habe die gemäßigte könne die radikale Rechte ihr mediales Bild deutlich Rechte nämlich einmal ihre Kompetenz („owner- stärker selbst bestimmen (Mudde 2007, S. 248ff). ship“) über das Einwanderungsthema verloren, hät- ten die ideologischen Umschwünge der gemäßigten 3.2 Die interne Angebotsseite Rechten keinen Einfluss mehr auf das Wahlergebnis Die externe Angebotsseite umfasst die Grenzen und der radikalen Rechten. So sei der Wahlerfolg des FN Möglichkeiten der populistischen radikalen Rechten seit seiner Etablierung im Durchschnitt linear ange- im elektoralen Wettbewerb. Nicht jede radikal-rechte stiegen und zwar unabhängig von der ideologischen Partei, die auf eine günstige politische Gelegenheits- Positionierung ihrer gaullistischen Konkurrenz (vgl. struktur trifft, hat jedoch tatsächlich Wahlerfolge vor- Bornschier 2012). zuweisen oder kann sich im Parteiensystem eines Lan- Zum Begriff der politischen Gelegenheitsstruktur und des dauerhaft etablieren. Es liegt letztendlich an den somit zur externen Angebotsseite gehört auch der Parteien selbst, die sich ihnen bietenden Chancen zu kulturelle Kontext eines Landes (Mudde 2007, S. 243ff). erkennen und zu nutzen. Daher soll im Folgenden die So hätten einige Länder in Europa eine starke nati- interne Angebotsseite betrachtet werden, die sich auf vistische Subkultur, die als Brücke zwischen der ra- Faktoren bezieht, welche den Parteien inhärent sind dikalen Rechten und dem politischen Mainstream und von ihnen beeinflusst werden können: ihre Führer fungieren könne (z.B. Österreich, Belgien, Frank- und ihre Organisation (Mudde 2007, S. 256f). reich, Rumänien und die Slowakei). In diesen Län- Welchen Effekt politische Führer der populistischen dern erhielten nativistische Themen eine größere öf- radikalen Rechten auf den Wahlerfolg ihrer Parteien fentliche Aufmerksamkeit und die radikale Rechte sei haben können, zeigt eine Studie von Bos und Van einer geringeren Stigmatisierung ausgesetzt. In Län- der Brugh (2010). Sie argumentieren, dass eine radi- dern hingegen, in denen die radikale Rechte einer ho- kal-rechte Partei nur dann Erfolg haben könne, wenn hen kulturellen Stigmatisierung ausgesetzt sei (Mudde sie von einer ausreichend großen Zahl an Wählern nennt hier Deutschland und die Niederlande), hätten nach denselben inhaltlichen Kriterien bewertet wer- selbst geringfügig erfolgreiche Parteien der radikalen Rechten mit zwei zentralen Problemen zu kämpfen: 2 Was Mudde damals noch nicht erahnen konnte, war der Auf- erstens würden sie von kompetenten potentiellen stieg und die dauerhafte Etablierung von Geert Wilders PVV Politikern gemieden, da der Eintritt in eine solche Or- in den Niederlanden. Für den Fall Deutschland bleiben seine Argumente jedoch relevant.

42 MIP 2015 21. Jhrg. Bogumil – Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa [...] Aufsätze de wie eine „normale“ etablierte Partei. Empirisch Parteiorganisation möglich seien: so habe die russi- erkenne man eine normale Partei daran, dass eine sche LDPR bei den Wahlen 1993 knapp 23 Prozent ideologische Nähe zwischen einem Wähler und der der Stimmen erhalten, ohne bei ihrer Gründung ein Partei auf der Links-Rechts-Skala die Stimmabgabe halbes Jahr vorher auf deutlich mehr als 50 Mitglieder für diese Partei signifikant erhöhe. Stehe die Partei zurückgreifen zu können. In vielen Parteien der popu- hingegen unter Extremismus-Verdacht, so werde sie listischen radikalen Rechten führe jedoch gerade der selbst von einem Großteil derjenigen Wähler nicht erste Wahlsieg zu heftigsten internen Streitereien, gewählt, die ihr in programmatischer und inhaltli- welche die Gefahr der Abspaltung in sich bergen, cher Hinsicht nahe stehen. Ob eine Partei der radika- wenn nicht ein fähiger interner Führer diese Konflikte len Rechten allerdings als „normal“ in diesem Sinne beruhige, kompetentes Personal um sich schare und bewertet wird, hängt nach Bos und Van der Brugh eine funktionierende Parteiorganisation aufbaue. Für entscheidend davon ab, inwiefern ihre politischen diese zweite Phase der Parteiinstitutionalisierung be- Führer als „legitim“ und „effektiv“ angesehen wer- nötige die Partei daher zusätzlich zum medienaffinen den (Bos und Van der Brugh 2010). externen Führer einen praktisch veranlagten internen Führer. In der abschließenden dritten Phase, der Sta- Grundlage ihrer Studie sind Befragungen im Kontext bilisierungsphase, seien erfolgreiche externe und in- der niederländischen Wahlen im Jahre 2006. Bos terne Führer gleichermaßen wichtig (ebd., S. 263ff). und Van der Brugh vergleichen dabei die Bewertun- gen von zwei Führern radikal-rechter Parteien – Geert Welche organisatorischen Merkmale eine Partei der Wilders von der PVV und Marco Pastors von der radikalen Rechten im Detail aufweisen muss, um EeNL (Eine Niederlande) – und vier Führern eta- ihre ersten Wahlsiege zu erhalten und auszubauen, ist blierter Parteien bezüglich ihrer öffentlich wahrge- nach Mudde schwierig zu beantworten: im Falle des nommenen Legitimität und Effektivität. Die multiva- Front Nationals (FN) könne dieser auf eine breite Zahl riate Analyse mit Kontrollvariablen zeigt, dass hohe an parteinahen Vereinen und Interessengruppen zu- Bewertungen von Legitimität und Effektivität des rückgreifen, die tief in der französischen Gesellschaft politischen Führers die Präferenz für seine Partei so- verwurzelt seien und deren Einfluss weit über die Ak- wohl bei den Parteien der radikalen Rechten als auch tivisten des FN hinausgingen. Fast alle dauerhaft er- bei den etablierten Parteien signifikant erhöht. Es folgreichen Parteien der radikalen Rechten verfügten findet sich jedoch im Vergleich von radikal-rechten zudem über mitgliederstarke Jugendorganisationen und etablierten Parteien ein unterschiedlicher Inter- wie den Front National de la Jeunesse (FNJ) oder den aktionseffekt von Legitimität und Effektivität mit der österreichischen Ring Freiheitlicher Jugend (RFJ), de- Variable „ideologische Distanz auf der Links-Rechts- nen die Funktion zukomme, für einen Nachwuchs in Achse“: so hat die ideologische Nähe des Befragten zu der Mutterpartei zu sorgen und junge Aktivisten in einer Partei der radikalen Rechten nur dann einen die Bewegung einzubinden und entsprechend zu so- statistisch signifikanten Einfluss auf die Präferenz zu zialisieren. Ein letztes wichtiges Merkmal dauerhaft dieser Partei, wenn ihrem politischen Führer ein hohes erfolgreicher Parteien seien regionale Hochburgen, Maß an Legitimität und Effektivität zugesprochen auf deren Unterstützung sich die Partei auch in elek- wird. Bei den Befragten, welche den Führern der radi- toral schlechten Zeiten verlassen könne: Beispiele kalen Rechten niedrigere oder mittlere Bewertungen hierfür seien die Stadt Antwerpen für den VB oder im Hinblick auf Legitimität und Effektivität geben, das Bundesland Kärnten für die FPÖ (ebd., S. 268f). zeigt sich hingegen, dass ihre ideologische Position auf der Links-Rechts-Achse keinen Einfluss auf ihre 3.3 Zusammenfassung Präferenz zur radikal-rechten Partei hat (ebd.). Für den abschließenden Teil dieses Beitrags wird es Mudde unterscheidet zwischen drei Phasen der Par- von Nutzen sein, zwischen denjenigen angebotsseiti- teiinstitutionalisierung, die eine nachhaltig erfolgrei- gen Faktoren zu unterscheiden, die in der Aufbau- che Partei durchlaufen müsse und in denen unter- phase einer Partei der populistischen radikalen Rech- schiedliche Formen politischer Führung vonnöten ten und vor ihrem elektoralen Durchbruch eine Rolle seien. In der Aufbauphase der Partei werde vor allem spielen, und solchen, die entscheiden, ob sich eine ein starker externer Führer gebraucht, der es verstehe, Partei nach ihren ersten Wahlsiegen dauerhaft im die Botschaft der Partei medienwirksam zu verkau- Parteiensystem etablieren kann. Wie wir gesehen ha- fen und neue Wähler an die Partei zu binden. Empi- ben, ist die externe Angebotsseite vor allem für die rische Beispiele zeigten, dass erdrutschartige Wahl- Aufbauphase einer Partei bedeutsam: das kulturelle siege auch ohne das Vorhandensein einer relevanten Umfeld, sowie der Parteienwettbewerb und das Ver-

43 Aufsätze Bogumil – Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa [...] MIP 2015 21. Jhrg. halten der etablierten Parteien auf der rechten und durch auszeichnen, dass sie zwar einen elektoralen linken Seite des politischen Spektrums entscheiden, Durchbruch erreichten, aber an der dauerhaften Eta- welcher Raum der populistischen radikalen Rechten blierung im Parteiensystem scheiterten: die Republi- für ihre Kampagnen zur Verfügung steht. Ist die ra- kaner und die Schill-Partei. Für die beiden Parteien dikale Rechte jedoch einmal etabliert, hat das Ver- werden drei zentrale Fragen beantwortet: halten der etablierten Parteien keinen messbaren Ein- Wie kam es zum elektoralen Durchbruch? fluss mehr auf ihren Wahlerfolg. Welche Faktoren verhinderten die dauerhafte Eta- Die interne Angebotsseite spielt sowohl für die Auf- blierung im Parteiensystem? bau- als auch für die Etablierungsphase der populis- tischen radikalen Rechten eine entscheidende Rolle. Bestätigen die beiden Einzelfalluntersuchungen die Vor dem elektoralen Durchbruch bedarf es eines Ergebnisse der vorangegangen Analyse zum Erfolg medienaffinen externen Führers, der es versteht, seine und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten Partei als einen legitimen und effektiven politischen in Europa? Oder gibt es Besonderheiten in der Bundes- Akteur zu verkaufen und dadurch neue Wählergrup- republik, die auf andere Länder nicht übertragbar sind? pen an sich zu binden. In der Aufbauphase können or- ganisatorische Mängel der Partei zudem durch einen 4.1 Die Republikaner starken externen Führer kompensiert werden. Nach Die Republikaner wurden 1983 durch die beiden ent- dem elektoralen Durchbruch jedoch muss sich der täuschten CSU-Mitglieder Ekkehard Voigt und externe Führer auch zu einem praktisch veranlagten Franz Handlos sowie den bekannten bayerischen internen Führer weiterentwickeln oder einen entspre- Fernsehmoderator Franz Schönhuber als rechtskon- chenden Organisator in einer anderen Person finden. servative, nicht-extremistische Alternative zur CSU gegründet (Kailitz 2013, S. 375). Nach der Entmach- 4. Populistische radikale Rechte in Deutschland tung des moderaten Parteivorsitzenden Handlos und der Wahl Schönhubers zum neuen Vorsitzenden im Nicht erst seit den Pegida-Demonstrationen oder den März 1985 entwickelten sich die Republikaner je- ersten Wahlerfolgen der Alternative für Deutschland doch zu einer Partei der populistischen radikalen (AfD) ist klar, dass an einer entsprechenden Nachfra- Rechten und standen seit Dezember 1992 sogar auf- ge nach Parteien der populistischen radikalen Rechten grund des Extremismus-Verdachts unter Beobach- in der Bundesrepublik kein Mangel besteht. Bereits tung des Bundesamtes für Verfassungsschutz3 (ebd.; beim Eurobarometer 2003 gaben 36 Prozent der Be- Thomczyk 2001, S. 61). fragten in Ost- und 33 Prozent in Westdeutschland an, dass sie die multikulturelle Gesellschaft ablehnten. Nativistische Kernelemente finden sich seit 1985 in Damit war die Ablehnung in Deutschland höher als in allen offiziellen Programmen der Republikaner. So einer Vielzahl derjenigen Länder, in denen sich Partei- fordern die Republikaner die „umgehende Rückfüh- en der radikalen Rechten etabliert hatten: Österreich rung auf eigene Kosten aller nicht-assimilierungswilli- (27 Prozent), Italien (24 Prozent), Dänemark und gen Zuwanderer in ihre Heimatländer“ und die Rück- Frankreich (beide 22 Prozent) (Stöss 2006, S. 534). besinnung auf eine ethnisch homogene Gemeinschaft: Die Erklärung für das Ausbleiben einer dauerhaften „In einem Sammelsurium von Menschen Etablierung der radikalen Rechten muss daher ange- unterschiedlichster Herkunft (multikultu- botsseitig erklärt werden. relle Gesellschaft) wird es weder ein Zu- Zwei Faktoren der externen Angebotsseite könnte sammengehörigkeitsgefühl geben noch die hierbei eine hohe Erklärungskraft zukommen: zu Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe und nennen wäre hier erstens die kulturelle Stigmatisie- Rücksichtnahme (Grundsatzprogramm rung, der jede nativistische Partei in Deutschland 2002 zitiert nach Kailitz 2009, S. 120). aufgrund des nationalsozialistischen Erbes notwendi- In sicherheitspolitischen Fragen beklagen die Repu- gerweise ausgesetzt sein wird, und zweitens der Par- blikaner den Verfall der Werteordnung und fordern teienwettbewerb in Form des Verhaltens der beiden ein Ende des liberalen Strafvollzugs (Thomczyk etablierten Volksparteien. Im Folgenden möchte ich 2001, S. 92). Neben der laxen Strafverfolgung und diese beiden Faktoren zusammen mit der internen der elite- und mediengeförderten Erosion von Moral- Angebotsseite anhand zweier Parteien prüfen, die den Verdacht erfüllen, Teil der populistischen radi- 3 Für ein Verbot der Republikaner gab es nach einhelliger Ex- kalen Rechten (gewesen) zu sein und die sich da- pertenmeinung – im Gegensatz zur rechtsextremen NPD – je- doch nie eine rechtliche Grundlage (vgl. Thomczyk 2001).

44 MIP 2015 21. Jhrg. Bogumil – Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa [...] Aufsätze vorstellungen seien Zuwanderung, Politikerversagen elektoralen Durchbruch einer Partei der populisti- und eine defizitäre materielle und politische Unter- schen radikalen Rechten. Mit dem Einzug ins Abge- stützung der Polizei die Ursachen für eine drama- ordnetenhaus und ins Europaparlament war die Auf- tisch angestiegene Kriminalität (Guggemos 2000, S. bauphase der Republikaner jedoch noch nicht been- 152f). Die Republikaner erfüllen somit auch das det und ihre Etablierung im Parteiensystem noch lan- zweite Kriterium zur Inklusion in die radikal-rechte ge nicht erreicht. Im Jahr 1990 hingegen verpassten Parteifamilie, den Autoritarismus. Ihren Populismus die Republikaner den Einzug in alle Landtage und demonstrieren die Republikaner schließlich durch scheiterten bei den ersten gesamtdeutschen Bundes- ihre Polemik gegen das vermeintliche Elitekartell tagswahlen mit 2,1 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde aus Altparteien, Kirchen, Gewerkschaften, dem Zen- (Thomczyk 2001, S. 48). tralrat der Juden, weite Teile der Künstler- und Lite- Im April 1992 zeigte sich ein kleiner Hoffnungs- ratenszene, Alt-68er und Antifaschisten sowie Medi- schimmer: inmitten der bundesweit geführten Asyl- en und Wissenschaft (ebd., S. 170ff). debatte, auf die sich der Wahlkampf der CDU im Ihren ersten Aufsehen erregenden Wahlerfolg erziel- Südwesten konzentriert hatte, zogen die Republika- ten die Republikaner bei den Wahlen zum Berliner ner mit 10,9 Prozent in den baden-württembergi- Abgeordnetenhaus im Januar 1989, in denen sie 7,5 schen Landtag ein. Zwar konnte das Ergebnis vier Prozent der Stimmen erringen konnten. Den bundes- Jahre später mit 9,1 Prozent annähernd gehalten wer- weiten Durchbruch erzielten sie bei der im Juni des- den. Außerhalb von Baden-Württemberg sollte den selben Jahres stattfindenden Europawahl: sie kamen Republikanern jedoch nie wieder der Einzug in ein auf 7,1 Prozent der Stimmen – mit Schwerpunkten in Landesparlament gelingen (ebd., S. 49ff). Nachdem Bayern (14,6 Prozent) und Baden-Württemberg (8,7 die Republikaner zudem 1994 aus dem Europaparla- Prozent) – und zogen mit sieben Kandidaten ins Eu- ment (3,9 Prozent) und schließlich 2001 auch aus ih- ropaparlament ein (Thomczyk 2001, S. 44f). rer letzten parlamentarischen Bastion – dem baden- württembergischen Landtag (4,4 Prozent) – geflogen Wie kam es zu diesen Wahlerfolgen? Wie bereits er- waren (Kailitz 2013, S. 377), haben sie heute die wähnt war die von angekündigte „geis- Größe einer unbedeutenden Splitterpartei: bei den tig-moralische Wende“ bei der Regierungsübernahme Bundestagswahlen 2013 erhielten sie 0,2 Prozent 1982 ausgeblieben. In der Koalition mit der FDP und bei den Europawahlen 2014 0,4 Prozent (www.- mussten CDU und CSU ihre Positionen moderieren bundeswahlleiter.de). und haben die in Oppositionszeiten verteufelte Ost- politik in vielerlei Hinsicht weitergeführt. Ein weite- Wieso konnten sich die Republikaner nach ihrem rer oft genannter Grund liegt im „Kandidateneffekt elektoralen Durchbruch nicht dauerhaft im bundes- Schönhuber“ (Guggemos 2000, S. 186ff). Der dama- deutschen Parteiensystem etablieren? Nach ihrem lige Vorsitzende der Republikaner war einer breiten Wahlerfolg bei den Europawahlen 1989 nahm die Öffentlichkeit bereits vor seinem Eintritt in die deutsche Wiedervereinigung den Republikanern nach Politik als Moderator der beliebten Fernsehsendung einhelliger Meinung fast aller Autoren „den Wind aus „Jetzt red i“ bekannt, in der er es nach Guggemos den Segeln“ (Kailitz 2009, S. 116) und stärkte die Re- verstanden habe, Anliegen gewöhnlicher Menschen gierungsparteien aus Union und FDP (Thomczyk „ans Ohr der Mächtigen“ zu bringen. Guggemos zu- 2001, S. 48). Der Asylkompromiss zwischen den eta- folge besaß Schönhuber zudem eine ausgeprägte rhe- blierten Parteien im Jahr 1993 sorgte zudem dafür, torische Brillanz und galt als „begnadeter Bierzelt- dass den Republikanern eines ihrer wichtigsten Mobi- redner“, der seinen Zuhörern das Gefühl geben lisierungsthemen abhandenkam (Kailitz 2013, S. 378). konnte, er vertrete ihre Meinung. Sein öffentliches Das abgestimmte Verhalten der beiden Volkspartei- Auftreten blieb nicht ohne Wirkung: Ende 1989 be- en führte hier dazu, dass sich die kulturelle Konflikt- saß Schönhuber einen Bekanntheitswert von 90 Pro- achse im Parteienwettbewerb der Bundesrepublik zent. Jede achte Person gab zudem an, dass sie nicht polarisieren konnte und Themen rund um Asyl Schönhuber die Lösung des „Ausländerproblems“ und Einwanderung die politische Debatte in zutraue (ebd.). Deutschland nicht dauerhaft dominierten (vgl. Ab- schnitt 3.1). Der Aufstieg der Republikaner verdeutlicht somit die Bedeutung eines öffentlichkeitswirksamen externen Der wichtigste Grund für das Scheitern der Republi- Führers, der zumindest bei einem Teil der Wähler- kaner scheint jedoch bei der internen Angebotsseite schaft ein Bild von Legitimität und Effektivität ver- und somit der Partei selbst zu liegen. David Art zu- mitteln kann, sowie des Parteienwettbewerbs für den folge begann der Niedergang der Republikaner be-

45 Aufsätze Bogumil – Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa [...] MIP 2015 21. Jhrg. reits wenige Tage nach ihren ersten Wahlerfolgen publikaner in Baden-Württemberg gab an, mindes- durch einen gewaltigen Zustrom an Aktivisten und tens ein Drittel seines Bekanntenkreises verloren zu Mitgliedern ohne politische Erfahrung oder mit tur- haben, nachdem seine Mitgliedschaft in der Partei bulenten Karrieren in anderen Parteien, die einen bekannt geworden sei (Art 2011, S. 202f). ausgeprägten Hang zu internen Streitigkeiten und Im Gegensatz zu anderen Ländern war die radikale Querelen mitbrachten, der schließlich auch die Par- Rechte in Deutschland auch Sanktionen von Seiten teiführung selbst erfasste. Dies führte dazu, dass die des Staates ausgesetzt: seit dem Beginn der Beob- Republikaner nach Schönhubers Absetzung und Ent- achtung durch den Verfassungsschutz war es Arbeit- machtung im Dezember 1994 Rolf Schlierer zum gebern gestattet, gegenwärtige und zukünftige Ange- neuen Vorsitzenden wählten, der die Republikaner stellte nach ihrer Zugehörigkeit zu den Republika- zwar dauerhaft in ruhigeres Fahrwasser führte, aber nern zu befragen – eine Praxis, die Unternehmen an die Öffentlichkeitswirksamkeit und das rhetori- häufig bei leitenden und höheren Angestellten an- sche Talent seines Vorgängers nicht heranreichte wandten. In Folge dessen verminderte sich der be- (ebd., S. 50ff). reits niedrige Anteil an Hochschulabsolventen inner- Franz Schönhuber ist hingegen ein Paradebeispiel halb der Republikaner noch weiter und begrenzte für einen starken externen, aber schwachen internen den Zustrom kompetenten politischen Personals. Der Führer. Er schätzte Machtverhältnisse vor Ort falsch Landesvorsitzende der bayerischen Republikaner ein, duldete keine vom Bundesvorstand abweichende gab später zu Protokoll, dass er höheren Angestellten Meinung und verhinderte die Herausbildung unab- in seiner Partei den Parteiaustritt empfohlen hatte, hängiger Arbeitskreise sowie die Etablierung einer damit diese ihre beruflichen Karrieren nicht gefähr- Jugendorganisation und eines Republikanischen Hoch- deten (ebd.). schulverbandes (Grätz 1993, S. 73ff). Der französi- sche Front National (FN), den Schönhuber nach ei- 4.2 Die Schill-Partei genem Bekunden kopieren wollte, zeichnet sich je- Die Partei Rechtsstaatlicher Offensive wurde im Juli doch gerade dadurch aus, dass er verschiedene Sub- 2000 vom ehemaligen Strafrichter Ronald B. Schill organisationen wie den neurechten Think-Tank „Club und 59 politisch weitgehend unerfahrenen Mitgliedern de l’Horloge“ oder den erzkatholischen Verein in Hamburg gegründet und firmierte auf dem Wahl- Chrétienté-Solidarité unterhält, die für eine breite zettel und in der Öffentlichkeit unter dem Kürzel Vertretung des rechtsradikalen bzw. Rechtsaußenmi- „Schill“ bzw. „Schill-Partei“ (Hartleb 2004, S. 173; lieus in der Partei sorgen (Mudde 2007, S. 268). Hartleb 2013, S. 381). Die Schill-Partei beschränkte Eine Integration unterschiedlichster Strömungen sich in ihrer politischen Arbeit zunächst auf den konnte Schönhuber aufgrund seines wenig responsi- Stadtstaat Hamburg. Ihr alle anderen Bereiche domi- ven Führungsstils aber nicht bewerkstelligen. nierendes Thema waren die innere Sicherheit und die Die Untersuchung der Republikaner bestätigt somit Kriminalitätsbekämpfung (Hartleb 2004, S. 205). Im die Ergebnisse der allgemeinen Analyse bzgl. der Rahmen einer „Null Toleranz“-Politik forderte sie ri- Bedeutung des Parteienwettbewerbs und der internen gide Maßnahmen gegen Jugend-, Drogen- und Aus- Angebotsseite für Erfolg und Misserfolg der populis- länderkriminalität in Form einer Absenkung des tischen radikalen Rechten. In einem Punkt unter- Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre, des Einsatzes scheidet sich die Bundesrepublik jedoch meiner Mei- von Brechmitteln gegen tatverdächtige Drogendealer nung nach von den meisten ihrer europäischen Nach- sowie eine generelle Ausweitung der Videoüberwa- barn – nämlich im Grad der kulturellen Stigmatisie- chung auf öffentlichen Plätzen und die Speicherung rung der radikalen Rechten. des genetischen Fingerabdrucks bei allen zu Haft- strafen Verurteilten. Gesellschaftliche Entstehungs- Die Ausgrenzung der Republikaner spielte sich David ursachen von Kriminalität thematisierte die Schill- Art zufolge auf politischer, staatlicher und rechtli- Partei dabei nicht und setzte stattdessen auf die cher Ebene ab: wie in anderen Ländern auch bildeten sichtbare Beseitigung von Tätern durch Wegschlie- die etablierten Parteien ein „cordon sanitaire“ um die ßen, Vertreiben und Abschieben (ebd., S. 212ff). In- Republikaner und verweigerten jede Form der Ko- sofern erfüllt die Schill-Partei zur Genüge das Krite- operation. Auf gesellschaftlicher Ebene mussten rium des Autoritarismus. Mitglieder der Republikaner fürchten, von Antifa- schisten physisch bedroht und von Führungsposten Auch bei der Anwendung des Kriteriums „Populis- in Vereinen und öffentlichen Verbänden ausge- mus“ bietet die Schill-Partei wenig Zweifel. Das po- schlossen zu werden. Der Landesvorsitzende der Re- pulistische „heartland“ der Partei sind die gesetzes-

46 MIP 2015 21. Jhrg. Bogumil – Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa [...] Aufsätze treuen und anständigen Bürger, die mit der etablier- render Bürgermeister und – wenig überraschend – ten Elite aus Politikern, Altparteien, Europäischer Innensenator. Mit 25 Bürgerschaftsabgeordneten Union und Massenmedien kontrastiert werden. Die stellte sie zudem die drittgrößte Fraktion hinter SPD Elite ist nach Auffassung der Schill-Partei mit den und CDU (Blumenthal 2004, S. 274). Erben der 68er-Generation durchsetzt, die ein antiau- Wie kam es zu diesem für eine neu entstandene Par- toritäres gesellschaftliches Klima geschaffen hätten, tei in der Bundesrepublik bisher unerreichten Wahl- das von Sozialhilfebetrügern, Drogendealern und Zu- ergebnis? Faas und Wüst betonen, dass der rot-grüne wanderern ausgenützt werde und das für die grassie- Senat der Stadt Hamburg im Kampf gegen Arbeitslo- rende Kriminalität in Hamburg verantwortlich sei sigkeit seit der letzten Wahl 1997 recht erfolgreich (ebd., S. 200f). gewesen sei. In Folge dessen spielten sozioökonomi- Auch wenn die Schill-Partei daher autoritaristisch sche Fragen bei der Wahl 2001 eine recht untergeord- und populistisch ist, bleibt als notwendiges Kriteri- nete Rolle. Das bereits 1997 zweitwichtigste Thema um zur Inklusion in die populistische radikale Rechte des Wahlkampfes – die Kriminalitätsbekämpfung – sei der Nativismus. Im Grundsatzprogramm der Schill- jedoch von Rot-Grün sträflich vernachlässigt wor- Partei finden sich dazu durchaus Anknüpfungspunk- den, sodass es 2001 zum alle anderen Bereiche do- te: so ist die Partei ein erklärter Gegner der multikul- minierenden Thema aufstieg (Faas/Wüst 2002, S. 7). turellen Gesellschaft, „deren Befürworter Zuwande- Laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen rern keinerlei Anpassungsleistungen abverlangen“. wurde der Schill-Partei dabei mit 28 Prozent eine In Verbindung mit dem dominanten Thema der inne- größere Kompetenz zur Lösung des Kriminalitäts- ren Sicherheit fordert die Schill-Partei die zwingen- problems zugesprochen als der CDU (24 Prozent) de Ausweisung von Ausländern, die zu Freiheits- und der SPD (19 Prozent) (Faas/Wüst 2002, S. 8). oder Jugendstrafen von mehr als einem Jahr ohne Das Vertrauen, das der Schill-Partei im Bereich der Bewährung verurteilt werden, sowie die Ausweisung Kriminalitätsbekämpfung entgegen gebracht wurde, von Ausländern bei dauerhaftem Sozialhilfebezug ist vom Vertrauen in ihren Parteivorsitzenden Ronald und bei Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz Schill nicht zu trennen. In einer Umfrage betrug der (ebd., S. 206ff). Auch wenn die Schill-Partei somit statistische Zusammenhang zwischen den Bewertun- latent fremdenfeindliche Elemente in ihrem Pro- gen der Schill-Partei und ihres Vorsitzenden ganze gramm beherbergte, fehlt ihr zur Inklusion in die na- 94 Prozent, bei den etablierten Parteien hingegen tivistische Parteienfamilie ein grundlegender Natio- zwischen 66 und 75 Prozent (ebd., S. 17). Ganz ähn- nalismus. Von geschichtsrevisionistischen Auffassun- lich wie der Vorsitzende der Republikaner Schönhuber gen oder „Deutschtümelei“ wie bei den Republika- war Schill der Hamburger Öffentlichkeit bereits Jah- nern hat die Partei immer klaren Abstand genommen. re vor seinem Eintritt in die Politik durch seine har- Ihr früh gefasster und konsequent durchgehaltener ten wie umstrittenen Urteile als Strafrichter bekannt, Abgrenzungsbeschluss gegenüber Rechtsextremisten die ihm in der Boulevardpresse den Titel „Richter verbot ehemaligen Mitgliedern von NPD, DVU und Gnadenlos“ einbrachten (Hartleb 2004, S. 187, Republikanern die Mitgliedschaft in der Partei. Auf- 193ff). Der selbsternannte „Politiker wider Willen“ grund des Fehlens einer nationalistischen Ideologie hatte somit von Anfang an einen Glaubwürdigkeits- soll die Schill-Partei daher ähnlich der britischen bonus in seinem Kerngebiet „Innere Sicherheit“, da UKIP als ein Grenzfall zwischen einer rechtskonser- er seine Politik der „Null Toleranz“ bereits als Amts- vativen und einer radikal-rechten Partei eingeordnet richter vorgezeichnet und praktiziert hatte. Mediale werden. Unterstützung erhielt er von sämtlichen Zeitungen Ihren ersten und einzigen Wahlerfolg errang die des Springer-Konzerns, die den Hamburger Zei- Schill-Partei nur 14 Monate nach ihrer Gründung bei tungsmarkt dominierten: die Welt, die Welt am den Hamburger Bürgerschaftswahlen 2001 mit ei- Sonntag, das Hamburger Abendblatt und die Bild be- nem bahnbrechenden Ergebnis von 19,4 Prozent. Mit richteten auf ihren Titelseiten und im Lokalteil fast CDU und FDP bildete sie daraufhin eine Regie- ausschließlich positiv über Schill. Lediglich manche rungskoalition – den sog. Bürgerblock – der die seit überregionale Tageszeitungen wie die Süddeutsche 44 Jahren in Hamburg regierende SPD ablöste. Die Zeitung äußerten sich kritisch (ebd., S. 188). Schill-Partei erhielt drei Senatoren-Posten: Mario Auch wenn der Schill-Partei somit der elektorale Mettbach wurde Senator für Bauen und Verkehr, Peter Durchbruch im Stadtstaat Hamburg gelang, so kann Rehaag besetzte die Ressorts Umwelt und Gesund- davon auf Bundesebene keine Rede sein. Dafür hätte heit und selbst wurde Zweiter Regie- es eines weiteren Erfolges auf Landesebene bedurft

47 Aufsätze Bogumil – Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa [...] MIP 2015 21. Jhrg. oder eines Einzuges in den deutschen Bundestag. innerhalb der Partei zunächst nicht gefährdete und Bereits bei der nächsten Landtagswahl in Sachsen- mit einem Austritt der Kritiker endete (Blumenthal Anhalt im April 2002 scheiterte sie jedoch mit 4,5 2004, S. 273). Weder Schill noch seine Partei schaff- Prozent knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Von ei- ten es zudem, auf einem Gebiet neben der Kriminali- nem weiteren Achtungserfolg im Stadtstaat Bremen tätsbekämpfung Kompetenz und Vertrauen zu gewin- mit 4,4 Prozent abgesehen, sollte die Schill-Partei nen. Die programmatische Erweiterung der Schill- bei einer Landtagswahl jedoch nie wieder über 1 Partei wäre jedoch für eine Ausdehnung über Ham- Prozent kommen. Bei der Bundestagswahl im Jahre burg hinaus unerlässlich gewesen, da mit dem The- 2002 scheiterte sie deutlich mit 0,8 Prozent. Ihr end- ma der Verbrechensbekämpfung allein außerhalb ei- gültiger Niedergang kam jedoch mit den vorgezoge- ner Großstadt kaum Stimmen zu gewinnen waren. nen Hamburger Bürgerschaftswahlen im Jahre 2004, Für diese Erweiterung fehlte es jedoch nach Decker bei denen sie 95 Prozent ihrer Wähler verlor und und Hartleb der Partei an einem „ideologischen Fun- nicht mehr als 0,4 Prozent der Stimmen auf sich ver- dus“ und der Person Schill selbst an „intellektuellem einigte (Hartleb 2013, S. 385). Format“ (Decker/Hartleb 2006, S. 199). Warum konnte sich die Schill-Partei nicht dauerhaft Am sichtbarsten wurden Schills persönliche Defizite in Hamburg etablieren und warum misslang der elek- in der Regierungsarbeit. Während ein Großteil seiner torale Durchbruch auf Bundesebene? Trotz der ver- Fraktion und zum Teil auch seine beiden Senatskol- lorenen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und legen erstaunlich konstruktive Sacharbeit leisteten Mecklenburg-Vorpommern entschied sich der Bun- – was von der Öffentlichkeit jedoch kaum honoriert desparteitag entgegen den Rats Ronald Schills für wurde – beschränkte sich Schill auf symbolische eine Teilnahme an den Bundestagswahlen 2002. Der Maßnahmen wie die Einführung blauer Polizeiuni- Parteivorsitzende machte daraufhin eine 180-Grad- formen und auf Provokationen und Tabubrüche. Hin- Wandlung, verteidigte die Wahlteilnahme und sagte zu kamen Regelverletzungen wie der Versuch Schills, der Partei trotz schlechter Umfragewerte ein Ergeb- seine Lebensgefährtin und Abgeordnete Katrin Freund nis von 8 Prozent sowie die anschließende Regie- zur Staatsrätin zu ernennen, welche die im Wahl- rungsbeteiligung voraus. Als das Debakel am Wahla- kampf geäußerte Kritik am „roten Filz“ zunehmend bend sichtbar wurde, zog sich Schill auf die Landes- unglaubwürdig machten (Blumenthal 2004, S. 275ff). politik und seine Aufgabe als Innensenator zurück Auch die ihm zuvor so wohlgesonnenen Medien des und überließ die Organisation der Bundespartei sei- Springer-Verlags richteten sich gegen ihn: es kur- nem Hamburger Stellvertreter Mario Mettbach. Die- sierten Gerüchte über Kontakte ins „halbseidene Mi- ser war jedoch als früheres Führungsmitglied der lieu“, Kokainkonsum und fehlenden Arbeitselan, der Statt-Partei schon einmal an der gescheiterten Bun- mit inhaltlichen Schwächen in Verbindung gebracht desausdehnung einer Partei beteiligt gewesen und für wurde. Schills endgültige Entzauberung kam mit sei- diese Aufgabe daher denkbar ungeeignet (Decker/ nem realen oder vermeintlichen Erpressungsversuch Hartleb 2006, S. 197f). Trotz einiger Überläufer von gegen , der darin bestand, ein angebli- Union und FDP war die Mehrheit der Funktionäre ches Intimverhältnis von Beusts mit seinem Justizse- und Mandatsträger in der Schill-Partei politisch un- nator Roger Kusch öffentlich zu machen, sofern erfahren. Schon wenige Wochen nach der Wahl spal- Schill seinen bisherigen in Skandale verwickelten tete sich die Schill-Fraktion in der Bezirksversamm- Staatsrat nicht behalten durfte. Von Beust reagierte lung von Hamburg-Harburg. Ronald Schill attestierte mit der Bekanntmachung des Erpressungsversuchs seiner Partei öffentlich ein „Querulantenproblem“. und der Entlassung Schills als Innensenator (Hartleb Wie die Republikaner entwickelte die Schill-Partei 2004, S. 190ff, S. 195f). Die Bild-Zeitung betitelte eine hohe Anziehungskraft auf enttäuschte und frus- dies daraufhin als die „dreckige Homo-Erpressung“ trierte Bürger, die schwierig in eine auf Zusammen- ihres einstigen Hoffnungsträgers (Bild, 20.08.2003). halt und Kooperation basierende Parteiorganisation Vor den Neuwahlen im Februar 2004 wurde Schill einzubinden waren (Decker 2002, S. 29). aus seiner Partei ausgeschlossen und kandidierte dar- Der wichtigste Erklärungsfaktor für das Scheitern aufhin für die Initiative Pro Deutsche Mitte. Die Partei der Schill-Partei ist jedoch Ronald Schill selbst. Rechtsstaatlicher Offensive erhielt 0,4 Prozent und Ähnlich wie Schönhuber war er ein starker externer Pro Deutsche Mitte mit Schill 3,1 Prozent. Großer aber ein schwacher interner Führer. Schon früh be- Wahlsieger war die CDU unter Ole von Beust, die klagten Parteimitglieder seinen „autoritären“ Füh- mit einem Stimmenzuwachs von 21 Prozent auf 47,2 rungsstil, was jedoch seine unangefochtene Position Prozent kam und eine absolute Mehrheit der Sitze in

48 MIP 2015 21. Jhrg. Bogumil – Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa [...] Aufsätze der Bürgerschaft errang. Die politische Karriere Ro- starken kulturellen Stigmatisierung ausgesetzt ist, die nald Schills sowie die Geschichte der Schill-Partei ihre Etablierungschancen erheblich begrenzt. Die als eines relevanten Akteurs in der deutschen Politik Frage, ob die 2013 gegründete Alternative für war damit beendet (Hartleb 2013, S. 382). Deutschland (AfD) das Potential aufweist, dieses Di- lemma zu überwinden – insbesondere nachdem die Personelle und strategische Fehlentscheidungen, orga- Union seit 2005 deutlich in die politische Mitte ge- nisatorische Defizite, eine mangelnde programmati- rückt ist – bleibt abzuwarten und kann im Rahmen sche Breite und die Person Ronald Schill selbst, die dieses Beitrags nicht behandelt werden. den Anforderungen interner Parteiführung und sach- orientierter Regierungsarbeit nicht gewachsen war, Literaturhinweise verhinderten somit die Ausdehnung der Partei auf Art, David (2011), The Development of Anti-Immi- Bundesebene und die dauerhafte Etablierung in Ham- grant Parties in Western Europe, New York. burg. Ähnlich wie bei der Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich und der Liste Pim Fortuyn in den Blumenthal, Julia von (2004), Die Schill-Partei und Niederlanden war es die gemäßigte Rechte, die von ihr Einfluss auf das Regieren in Hamburg, in: Zeit- der Regierungsbeteiligung einer populistischen, im schrift für Parlamentsfragen 35 (2), S. 271-287. rechten Spektrum angesiedelten Partei am meisten Bogumil, Simon (2014), Erfolg und Misserfolg der profitierte (Hartleb/Decker 2006, S. 200). populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa. Eine Ursachenanalyse, Saarbrücken. 5. Fazit Bornschier, Simon (2012), Why a right-wing pop- ulist party emerged in France but not in Germany: Das Ziel dieses Beitrags lag in der Analyse der Ursa- cleavages and actors in the formation of a new cul- chen für Erfolg und Misserfolg der populistischen ra- tural divide, in: European Political Science Review dikalen Rechten in Europa und Erklärungen für ihren (4), S. 121-145. ausbleibenden Erfolg in der Bundesrepublik Deutsch- land. Die Einzelfalluntersuchungen von Republikaner Bos, Linda/Van der Brugh, Wouter (2010), Public und Schill-Partei bestätigen hierbei die Ergebnisse der Images of leaders of anti-immigration parties: Per- allgemeinen Analyse: auf der externen Angebotsseite ceptions of legitimacy and effectiveness, in: Party beförderten der Parteienwettbewerb in Form des Ver- Politics 16:777. haltens der etablierten Parteien (insbesondere ihre Carter, Elisabeth (2005), The extreme right in West- Vernachlässigung der Asyl- und Kriminalitätsproble- ern Europe: Success or failure?, Manchester. matik) und im Falle der Schill-Partei eine positive Decker, Frank (2002), Perspektiven des Rechtspopu- Medienberichterstattung den elektoralen Durchbruch lismus in Deutschland am Beispiel der „Schill-Partei“, der radikalen Rechten. Auf der internen Angebots- in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21, S. 22-31. seite profitierten Republikaner und Schill-Partei von öffentlichkeitswirksamen und glaubwürdigen Füh- Decker, Frank/Hartleb, Florian (2006), Populismus rungspersönlichkeiten. Nach dem elektoralen Durch- auf schwierigem Terrain. Die rechten und linken bruch fehlte den Parteien hingegen ein praktisch ver- Herausfordererparteien in der Bundesrepublik, in: anlagter interner Führer, der den Zustrom an politisch Decker, Frank (Hrsg.), Populismus, Wiesbaden. unerfahrenen bzw. konfliktunfähigen Mitgliedern ka- Faas, Thorsten/Wüst, Andreas (2002), The Schill nalisiert, interne Streitigkeiten beruhigt und im Falle Factor in the Hamburg State Election 2001, in: Ger- der Schill-Partei an der organisatorischen Ausbreitung man Politics 11 (2), S. 1-20. auf das Bundesgebiet aktiv mitgewirkt hätte. Eatwell, Roger (2003), Ten Theories of the Extreme Darüber hinaus wurde in Deutschland ein unge- Right, in: Merkl, Peter H./Weinberg, Leonard, wöhnlich hohes Maß an gesellschaftlicher und staat- Right-Wing Extremism in the Twenty-First Century, licher Stigmatisierung der radikalen Rechten beob- London. achtet, die insbesondere beim Niedergang der Repu- Grätz, Udo (1993), Das Innenleben der Republika- blikaner eine entscheidende Rolle spielte. Zusammen ner. Organisation, Programm und Führungskämpfe mit der Dominanz der Unionsparteien im rechten einer rechtsextremen Partei 1989-1993, Bochum. politischen Spektrum ergibt sich somit für rechte New- comer-Parteien das prinzipielle Dilemma, dass für Guggemos, Peter (2000), Politische Einstellungen eine rechtskonservative Partei neben der Union kein von Republikaner-WählerInnen. Angebot und Nach- Bedarf besteht und eine nativistische Partei einer frage am rechten Rand, Würzburg.

49 Aufsätze Bogumil – Erfolg und Misserfolg der populistischen radikalen Rechten in Deutschland und Europa [...] MIP 2015 21. Jhrg.

Hartleb, Florian (2004), Rechts- und Linkspopulis- mus. Eine Fallstudie anhand von Schill-Partei und PDS, Wiesbaden. Hartleb, Florian (2013), Schill-Partei (Partei Rechts- staatlicher Offensive), in: Decker, Frank/Neu, Viola, Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden. Kailitz, Steffen (2009), Die Deutsche Volksunion und die Republikaner: Vergleichende Betrachtungen zur Entwicklung und zum ideologischen Profil, in: Braun, Stephan/Geisler, Alexander/Gerster, Martin (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten, Wiesbaden. Kailitz, Steffen (2013), Die Republikaner, in: Decker, Frank/Neu, Viola, Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden. Mudde, Cas (2007), Populist Radical Right Parties in Europe, New York. Norris, Pippa (2005), Radical Right – Voters and Parties in the Electoral Market, Cambridge. Stöss, Richard (2006), Rechsextreme Parteien in Westeuropa, in: Niedermayer et al. (Hrsg.), Die Par- teiensysteme Westeuropas, Wiesbaden. Thomczyk, Stephan (2001), Der dritte politische Etablierungsversuch der Republikaner, Konstanz. Van der Brug, Wouter/Fennema, Meindert/Tillie, Jean (2005), Why Some Anti-Immigrant Partie Fail and Others Succeed: A Two-Step Model of Aggre- gate Electoral Support, in: Comparative Political Studies 38:537.

50 MIP 2015 21. Jhrg. Neubert – Treibender oder getriebener Akteur? Der programmatische Wandel Labours und der SPD [...] Aufsätze

Treibender oder getriebener Akteur? Der das Zusammenspiel von zwischen- und innerparteili- programmatische Wandel Labours und chem Wettbewerb die Programmerarbeitung prägte. der SPD in der Opposition Letztlich sollen die in einer vergleichenden Perspek- tive zusammengetragenen Forschungsergebnisse die Debatte um methodische Desiderata in der Parteien- Julien Neubert, M.A.1 forschung sowie um die Gültigkeit der im Rahmen des Kartellparteienkonzepts (Katz/Mair 1995) for- Einleitung mulierten Entwicklung von innerparteilichen Wil- lensbildungsprozessen anregen. Die Prognose, dass sozialdemokratische Parteien in der Opposition programmatisch nach links abrücken, erfreut sich im wissenschaftlichen und nicht-wissen- Programmatischer Wandel zwischen Disziplin und schaftlichen Diskurs noch immer großer Beliebtheit, Anarchie hält dem empirischen Test jedoch nicht Stand. Die wohl prominentesten Gegenbeispiele für die Gültig- Eine Vielzahl der Erklärungsansätze für den pro- keit der These sind die britische Labour Party und grammatischen Wandel von Parteien unterstreicht die deutsche SPD, die gemeinsam mit dem 1999 er- immer wieder die besondere Rolle des zwischenpar- schienenen Schröder-Blair-Papier der europäischen teilichen Wettbewerbs. Zu den bekanntesten Vertre- Sozialdemokratie einen neuen, einen Dritten Weg tern dieses Ansatzes zählt sicherlich Anthony Downs jenseits der traditionellen, staatsgläubigen Sozialde- mit seinem Medianwählertheorem, wonach Parteien mokratie und des marktförmigen Neoliberalismus sich bei der Programmerarbeitung an der Position aufzeigen wollten (Nachtwey 2009: 10). Betrachtet des Medianwählers im ideologischen Raum orientie- man etwa anhand von Manifesto-Daten (WZB ren sollten (Downs 1968). Da in Demokratien politi- 2014), welche programmatische Entwicklung die schem Handeln aber ganz unterschiedliche institutio- beiden Parteien in dieser Zeit durchmachten, stellt nelle Schranken gesetzt sind, ist der Parteienwettbe- sich heute, mehr als 15 Jahre nach den Wahlerfolgen werb von Land zu Land nicht immer von den glei- Ende der 1990er Jahre und nach bitteren Wahlnie- chen policy-Dimensionen geprägt und im gleichen derlagen zum Ende der 2000er die Frage, was die Maße polarisiert (Lijphart 1999). Vielmehr können beiden Parteien in der gegenwärtigen Programment- sich aus politisch-institutionellen Kontextbedingun- wicklung vorantreibt, nachdem sie einige Erfahrun- gen völlig verschiedene Wettbewerbssituationen und gen mit der strategischen Orientierung am Median- damit eine Bandbreite von Anreizen herausbilden, wähler und an der politischen Mitte sammeln konn- auf den Median zuzugehen oder sich von diesem zu ten. Ist es die Entwicklung des zwischenparteilichen entfernen. In Analogie zu Herbert Kitschelts Partei- Wettbewerbs oder ist es der durch die historischen enwettbewerbstypologie wäre für die britische La- Wahlniederlagen 2009 und 2010 (NSD 2014) befeu- bour Party eine Positionierung rechts der politischen erte innerparteiliche Wettbewerb, welcher den Pro- Mitte aufgrund der fehlenden Konkurrenz im linken grammprozess vorantreibt? Lager etwa leichter als für die deutschen Sozialde- mokraten, wenn die Position des Medians tatsächlich Um diese Fragen zu beantworten, werden zunächst ein Abwandern nach rechts erforderlich machen theoretische Erwartungen formuliert, die nicht nur würde (Kitschelt 2001: 283-288). den zwischenparteilichen Wettbewerb berücksichti- gen, sondern auch dem innerparteilichen Wettbe- Der rational choice-Perspektive bleiben auch James werb Rechnung tragen. Wie zu zeigen sein wird, F. Adams, Samuel Merrill und Bernard Grofman sollten die historischen Erfahrungen des Dritten (2005) mit ihrem Unified Discounting Model treu. Weges dem innerparteilichen Wettbewerb bei der Da Wähler wüssten, dass Kandidaten oder Parteien Suche nach einem programmatischen Kurs ein nicht nicht eins zu eins die Politiken umsetzen können, zu unterschätzendes Gewicht zukommen lassen. Dar- welche sie versprechen, werde das Wahlverhalten an anknüpfend wird anhand von programmatischen durch strategisches Diskontieren beeinflusst. Je nach Wandlungsprozessen der Labour Party und der SPD Größe des Diskontierungsfaktors könnten sich theo- und auf Grundlage von qualitativen Experten- und retisch für linke Parteien dadurch Anreize ergeben, Eliteninterviews nachzuvollziehen sein, inwieweit sich extremer bzw. noch weiter links zu positionie- ren, selbst wenn die Position des Medians dies prima vista nicht nahelegen würde (Adams/Merrill/Grofman 1 Der Autor ist Doktorand am Fachbereich für Politik- und Ver- 2005: 38-40). waltungswissenschaft an der Universität Konstanz, gefördert durch die Friedrich-Ebert-Stiftung.

51 Aufsätze Neubert – Treibender oder getriebener Akteur? Der programmatische Wandel Labours und der SPD [...] MIP 2015 21. Jhrg.

Um der Frage nachzugehen, wie der zwischenpartei- liche programmatische Wandlungsprozesse zu er- liche Wettbewerb die Programmentwicklung von La- warten. Da sich das Gravitationszentrum in Großbri- bour und der SPD beeinflusst, kann zunächst der tannien weiter nach rechts verschoben hat, wäre ein Blick auf die Entwicklung des politischen Gravitati- programmatischer Kurs der Labour Party, welcher onszentrums in Großbritannien und Deutschland ge- dieser Entwicklung folgt, zu erwarten. In Deutsch- richtet werden. Aus Abbildung 1 und 2 geht hervor, land würde sich hingegen eine Orientierung am dass sich das politische Gravitationszentrum in Medianwähler bzw. am politischen Gravitationszen- Großbritannien seit Ende der 1990er Jahre im positi- trum in einem Programm links der politischen Mitte ven Bereich, also rechts der politischen Mitte bewegt niederschlagen, wobei es in der Tendenz nach rechts und bis 2010 sogar noch weiter nach rechts aus- vom Programm des Jahres 2009 abweichen müsste. schlägt, während es in Deutschland zu Beginn der Abbildung 1 und 2 zeigen, wie sich Labour und die 2000er Jahre von links nach rechts wanderte, um SPD seit den 1990er Jahren programmatisch entwi- sich 2009 wieder links der politischen Mitte einzu- ckelten. 1997 konnte Labour die Wahl mit einem Pro- finden. gramm für sich entscheiden, was nah am politischen Abbildung 1: Politisches Gravitationszentrum und Posi- Gravitationszentrum lag. In den folgenden Wahljah- tionierung von Labour ren wird diese Tendenz fortgesetzt, wobei sich die Partei ab 2005 links der politischen Mitte bewegt. In 20 Deutschland errang die SPD 1998 Regierungsmacht mit einem Programm, das wieder näher an der politi- 10 schen Mitte und links des politischen Gravitations- 0 zentrums lag. Bis 2002 bewegte sich die SPD weiter 1992 1997 2001 2005 2010 nach rechts. Nach 2002 ist die SPD wieder links der -10 politischen Mitte zu verorten, wobei sie sich mit ih- -20 rem RILE-Wert 2009 am weitesten vom Median ent- fernt. Labour gelang es mit diesem Kurs, drei aufein- -30 ander folgende Wahlen zu gewinnen, bevor sie 2010 -40 eine historische Niederlage erlebte (NSD 2014), wo- hingegen die SPD seit 1998 sukzessive Wählerstim- Labour Gravitationszentrum GB men und 2009 die Regierungsmacht verlor. Ein alleiniger Blick auf den zwischenparteilichen Quelle: eigene Darstellung auf Basis von WZB 2014. Wettbewerb reicht aber nicht aus, um zu ergründen, wie die beiden Parteien mit diesen Erfahrungen um- Abbildung 2: Politisches Gravitationszentrum und Posi- gehen. Sowohl aus dem Medianwählertheorem als tionierung der SPD auch aus der Parteienwettbewerbstypologie nach Kitschelt lassen sich keine Schlüsse ziehen, wie 15 politische Parteien reagieren, wenn die durch die An- sätze vorausgesagten Strategien nicht zum erwünsch- 10 ten Erfolg führten. Einzig die Variierbarkeit des Dis- 5 kontierungsfaktors im Unified Discounting Model ist 0 offen für diese historische Dimension, wobei eine -5 1994 1998 2002 2005 2009 exakte Abschätzung des Diskontierungsfaktors sei- tens politischer Parteien über die Signale des zwi- -10 schenparteilichen Wettbewerbs schwierig erscheint. -15 Aus diesem Grund gilt es zu untersuchen, welche in- -20 nerparteilichen Prozesse vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Politik des Dritten Weges theo- SPD Gravitationszentrum D retisch zu erwarten sind. In Abbildung 3 werden in Anlehnung und leichter Abänderung an Wolfgang Quelle: eigene Darstellung auf Basis von WZB 2014. Merkels (1993) Konzeptualisierung sozialdemokrati- Sollten die Labour Party und die SPD sich an der scher Machtressourcen die Entwicklung der Entwicklung am politischen Gravitationszentrum ori- Machtressourcen der Labour Party und der SPD seit entieren, so sind für die beiden Parteien unterschied- Ende der 1990er Jahre wiedergegeben.

52 MIP 2015 21. Jhrg. Neubert – Treibender oder getriebener Akteur? Der programmatische Wandel Labours und der SPD [...] Aufsätze

konflikten entladen und die Abbildung 3: Erosion der Machtressourcen von Labour und der SPD bis 2010 Teamperformanz parteilicher Labour SPD Spitzengremien einschrän- ken können (Bendersky/ Mitglieder 1997: 405.000 1998: 775.036 Hays 2012), legen auch Er- 2010: 193.000 2009: 512.520 gebnisse aus der Teamfor- schung nahe. Zudem ist das Wahlergebnisse 1997: 43,2% (418 Sitze) 1998: 40,9% (298 Sitze) Ringen um ein Programm 2010: 29,0% (258 Sitze) 2009: 23,0% (146 Sitze) Arbeiter Arbeiter: nicht bloß durch unter- 1997: 50% 1998: 49% schiedliche Zielvorstellun- 2010: 29% 2009: 24% gen (Aufgabenkonflikte), sondern auch immer wieder Regierungsbeteiligung Seit 2010 Opposition Seit 2009 Opposition durch Konflikte darüber, wie diese Ziele zu erreichen sind Quelle: Infratest Dimap 1998, 2009, Ipsos Mori 2010, NSD 2014. (Prozesskonflikte) sowie durch persönliche Spannun- Bei allen drei Machtressourcen haben Labour und gen (Beziehungskonflikte) gekennzeichnet (Kerwin/ die SPD erhebliche Einbußen erlitten. Deshalb ist Doherty/Harman 2011). Der programmatische Wan- davon auszugehen, dass unmittelbar nach der Ab- del kann folglich als Lösung all dieser Konflikte be- wahl der innerparteiliche Wettbewerb über den ein- trachtet werden, wobei dem Parteivorsitzenden als zuschlagenden programmatischen Kurs den Prozess Teamleiter eine ganz besondere Rolle beim Konflikt- der innerparteilichen Willensbildung dominieren austrag zukommt (Avolio/Walumbwa/Weber 2009). wird. Um neue Mitglieder2 und Regierungsämter zu besetzen, müssen Parteien Wahlen gewinnen. Damit Zusammenfassend kann folglich davon ausgegangen Parteien Wahlen gewinnen können, müssen sie als werden, dass vor allem unmittelbar nach den Wahl- geschlossen wahrgenommen werden (Raschke/Tils niederlagen von 2009 und 2010 der innerparteiliche 2013: 172-173) und diese Geschlossenheit hängt Wettbewerb die Positionierung beider Parteien im maßgeblich davon ab, inwieweit es einer Partei ge- zwischenparteilichen Wettbewerb bestimmen wird. lingt, ein Programm zu formulieren, hinter das sich Aufgrund der gesammelten Erfahrungen des Dritten die gesamte Partei versammeln lässt. Aufgrund des- Weges ist davon auszugehen, dass sich in den Spit- sen erscheint ein genaueres Beleuchten des innerpar- zengremien der Parteien eher parteilinke Positionen teilichen Wettbewerbs notwendig, um zu verstehen, durchsetzen werden, da diese als Gegenstück zur Re- wieso die Labour Party und die SPD sich von dem ab gierungsprogrammatik und –praxis und somit als 2009 bzw. 2010 eingeschlagenen Kurs genau diese Überwindung der Erosion der genannten Machtres- Geschlossenheit versprachen. sourcen innerhalb und außerhalb der Partei wahrge- nommen werden. In welchem Maße parteilinke Posi- Erkenntnisse aus der Gruppenpsychologie und der tionen die Programmatik prägen werden, hängt nicht Teamforschung können beim Beleuchten des Innen- zuletzt davon ab, inwieweit es dem Parteivorsitzen- lebens von Parteien insofern hilfreich sein, als sie auf den gelingt, möglicherweise auftretende Konflikte Konfliktpotenziale verweisen, welche es in den Spit- zwischen Kritikern und Bewahrern des Dritten zengremien als zentrale Orte der Programmproduktion Weges zu lösen. In den folgenden Abschnitten soll einer Partei zu umschiffen gilt. So lehrt die Gruppen- vermittelt werden, wie im britischen und im deut- forschung, dass lange Diskussionsprozesse zu einer schen Kontext die Programmerarbeitung als Kon- Gruppenpolarisierung führen (Isenberg 1986) und fliktlösung verstanden werden kann. das Zusammenkommen von Gruppen in der Parteifüh- rung bzw. von Anhängern unterschiedlicher Parteiflü- Der programmatische Wandel der Labour Party gel dem disconuity effect (Wildschut/Insko 2007) zu- seit 2010 folge, ein kooperatives Verhalten und somit eine Ei- nigung erschweren können. Dass eine Partei als Bereits unmittelbar nach seiner überraschenden Wahl „multiple self“ (Wiesenthal 1990: 50) oder unter- zum Parteivorsitzenden im September 20103 machte schiedliche Gruppenzugehörigkeiten sich in Status- 3 Dass Ed Miliband sich nur knapp gegen seinen Bruder David, 2 Uwe Jun weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die der dem Blair-Lager (Blairites) sehr nahe steht, durchsetzen Motive eines Parteieintritts vermehrt durch die Aussicht auf die konnte, hatte er den Gewerkschaftsstimmen zu verdanken Besetzung politischer Ämter geprägt wird (Jun 2009: 247). (Guardian 2010).

53 Aufsätze Neubert – Treibender oder getriebener Akteur? Der programmatische Wandel Labours und der SPD [...] MIP 2015 21. Jhrg.

Ed Miliband deutlich, welcher programmatische Kurs sowie die Abschaffung von Stigmatisierungen bei in den nächsten Jahren von der Labour Party zu er- staatlichen Transferleistungen werden immer wieder warten ist, indem er New Labour für tot erklärte. mit der Vision einer One Nation begründet (Labour Zwei Jahre nach dieser ambitionierten Erklärung at- 2013a, 2013b) und können als Pfadabweichung von testierte die Presse der Labour Party noch immer, New Labour verstanden werden. nicht mehr zu sein als „New Labour plus higher ta- Aus Abbildung 4 geht hervor, welchen programmati- xes for the rich“ (Guardian 2012). In dieser Betrach- schen Wandel Labour in verschiedenen Politikfel- tung bleibt jedoch unberücksichtigt, dass es Ed Mili- dern seit 2010 vollzogen hat. Jedoch ist nicht in allen band seit 2010 gelang, den Programmprozess mit ei- Politikfeldern ein programmatischer Wandel zu er- nem neuen philosophischen Überbau zu prägen, der kennen und in der Einwanderungspolitik sogar ein sich deutlich von dem in der New Labour-Philoso- restriktiverer Kurs im Vergleich zur liberalen Ar- phie dominierenden Rawls’schen Differenzprinzip beitsmigrationspolitik New Labours. Dieses pro- (Shaw 2007: 48-57) abgrenzen lässt. Ausdruck findet grammatische Profil lässt sich durch eine Reihe von die neue Philosophie Labours in den Konzepten ei- Gründen erklären. Zunächst dominierte nach der nes verantwortlichen Kapitalismus und der Prädistri- Wahl zum Parteivorsitzenden der innerparteiliche bution. Während es im verantwortlichen Kapitalis- Wettbewerb. Von Beginn an wurde Ed Miliband als mus die Aufgabe des Unternehmers sei, die Gesamt- schwache Führungspersönlichkeit innerhalb und au- wohlfahrt der Gesellschaft und nicht nur den eigenen ßerhalb der Partei wahrgenommen. Der Programm- Profit zu verfolgen, müsse der Staat gleichzeitig prä- prozess war deshalb stets von Zugeständnissen an distributiv durch Steuern und Abgaben für soziale Personen und Gruppen innerhalb der Partei geprägt. Gerechtigkeit sorgen und somit redistributive Korrek- Ed Miliband sei laut Hopkins in seinem Schattenka- turen ungerechter outcomes des Marktes vorwegneh- binett umgeben von „[…] poisonous people“ (Inter- men (politics.co.uk 2012). Eingebettet werden diese view Hopkins 2013) und weil er fürchten müsse, sei- Konzepte in die übergeordnete Idee einer One Nation, nen Parteivorsitz an eines der Mitglieder seines die keineswegs neu ist. Bereits in der Mitte des 19. Schattenkabinetts zu verlieren, sei er auf Zugeständ- Jahrhunderts kritisierte der konservative Premiermi- nisse programmatischer und personeller Art ange- nister Benjamin Disraeli die Verantwortungslosig- wiesen. Trotzdem sich Miliband erkämpfte, sein keit der Oberklasse gegenüber der Arbeiterklasse Schattenkabinett, was den programmatischen Wan- und forderte eine Überwindung dieser Two Nations del in den einzelnen Politikfeldern vorantreibt, selbst durch eine One Nation, in welcher Menschen fürein- zu bestimmten und sich bereits prominenter Mitglie- ander Verantwortung übernehmen. Anknüpfend an der des rechten Blair-Lagers entledigte (Hatwal diese Tradition und an die noch scheinbar aktuelle 2013), kann der eher Parteilinke Miliband auf einige Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse, kennzeichnet Personen und Parteiflügel dennoch nicht verzichten, der Anspruch, eine in arm und reich auseinander wenn er die nächsten Unterhauswahlen gewinnen driftende Gesellschaft wieder zu einer One Nation zu will (Interview Beech 2013). Die in der Partei um- einen, den Diskurs und Programmprozess Labours strittene Obergrenze für wohlfahrtsstaatliche Ausga- seit 2010 (Labour 2013a, 2013b). ben (Labour 2013a), aber auch die Besetzung von Wenngleich der ehemalige Berater des New Labour- Schattenministerposten durch Blairites und die damit Architekten Peter Mandelson, Patrick Diamond, in einhergehende Pfadtreue in der Renten- und Bil- dem programmatischen Kurs seiner Partei vor allem dungspolitik können als Beispiele für diese Zuge- einen rhetorischen Linksruck erkennt (Interview Dia- ständnisse betrachtet werden. mond 2013), sprechen sowohl ein ehemaliger, dem rechten Parteiflügel zuzuordnender Schattenminister als auch der Parteilinke Kelvin Hopkins von einer programmatischen Kurskorrektur nach links (Inter- view anonym, Hopkins 2013). Tatsächlich schlägt sich die Idee einer One Nation in einigen Politikfel- dern in ganz konkreten Politikempfehlungen und in einem Linkskurs nieder. Die Stärkung des genossen- schaftlichen Bankwesens, die Stärkung lokaler Ge- meinschaften, die Erweiterung des National Health Service (NHS), finanziert durch Steuererhöhungen, ein höherer Spitzensteuersatz, eine Vermögenssteuer

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Abbildung 4: Vergleich von New Labour mit Labour seit 2010

New Labour Labour seit 2010 Übergeordnete Dritter Weg, common advantage, welfare to One Nation, Prädistribution, verantwortlicher Ka- Philosophie work, employability, soziale Inklusion pitalismus Fiskalpolitik Konsolidierung, niedrigere Besteuerung von Konsolidierung, höhere Spitzensteuersatz, niedri- Einkommen und Unternehmen gerer Eingangssteuersatz, Villensteuer, höhere Körperschaftssteuer für große Konzerne Banken und Deregulierung Regulierung, Trennung von Geschäfts- und Invest- Finanzmärkte mentbanken Arbeitsmarkt- angebotsseitige Reformen, Bekämpfung von Living wage (über dem Niveau des Mindestlohns), politik Jugendarbeitslosigkeit, Flexibilisierung, Mini- race to the top bei Sozialstandards malstandards, Mindestlohn, Niedriglohnsektor Bildungs- Vermarktlichung durch mehr Wettbewerb, Mehr staatliche Kontrolle bei free schools, Ausbil- politik mehr Mitsprache durch Eltern (free schools) dung nach deutschem Vorbild Sozialpolitik Förderung von Familien, Bedürftigkeitsprü- Abbau von Stigmatisierungen, etwa bei umstrittener allgemein fung bedroom tax (Reduzierung staatlicher Transferleis- tungen durch Bewohnen zu großen Wohnraums) Gesundheits- Vermarktlichung durch mehr Wettbewerb Marktexperiment beenden, Erweiterung des Natio- politik nal Health Service durch National Care Service Rentenpolitik Vermarktlichung durch Umkehrung des Siche- Transparente, private Altersvorsorge für alle Ein- rungsniveaus Staat:Markt von 60:40 zu 40:60 kommensgruppen Einwande- Restriktionen im Asylrecht, liberale Arbeits- Mehr Restriktionen bei jeder Form von Migration rungspolitik migrationspolitik Umweltpolitik Dekarbonisierung der Wirtschaft bis 2030 Dekarbonisierung der Wirtschaft bis 2030, Ener- giewende nach deutschem Vorbild, Auflösung des Oligopols im Energiesektor Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Shaw 2007, Johnson/Leicester/Levell 2010, Consterdine/Hampshire 2013, Labour 2013a, 2013b.

Dass die Labour Party seit 2010 trotz all dieser Zuge- des ethischen Sozialismus beruft (Interview Shaw ständnisse programmatisch von New Labour und vom 2013), deutlich an Einfluss innerhalb der Partei. In Dritten Weg nach links abrückt, ist schließlich im den programmatischen Schriften kann dieser Einfluss Kontext der letzten Regierungsjahre zu sehen. Der beispielsweise an der Kritik an zentralstaatlichen In- faustische Pakt mit der Finanzindustrie und die Markt- stitutionen oder an der Betonung des Stellenwertes lo- gläubigkeit New Labours erwiesen sich laut Gordon kaler Gemeinschaften festgemacht werden. Aber auch Brown als „big mistake“ (Shaw 2012: 235) und mach- die Ideen eines verantwortlichen Kapitalismus und ten einen innerparteilichen Lernprozess notwendig. So von Prädistribution können auf Blue Labour zurück- setzte Labour in den letzten Regierungsjahren auf eine geführt werden. Jon Cruddas, verantwortlich für den staatlich induzierte Stimulierung der Wirtschaft und Programmprozess, Marc Stears, der Erste Reden- eine Regulierung des Bankensektors, an welche Mili- schreiber Milibands, Maurice Glasman und Steward band nun anknüpft. Ferner sei auch die Position der Wood sind allesamt Anhänger Blue Labours und im Blairites innerhalb der Partei schwächer geworden, engsten Umfeld Milibands zu verorten (Interview weil einerseits einige bedeutsame Blairites bei der Beech 2013, 2014; Interview Shaw 2013). letzten Wahl aus dem Parlament ausgeschieden seien Nachdem in der ersten Zeit nach der Wahl des Par- (Interview Beech 2013, Interview Hopkins 2013) und teivorsitzenden der innerparteiliche Wettbewerb do- weil andererseits dem Blair-Lager bisher eine Füh- minierte, formte mit fortschreitender Zeit auch der rungspersönlichkeit fehle (Interview Beech 2014). zwischenparteiliche Wettbewerb immer mehr den Überdies gewann Blue Labour, eine innerparteiliche Programmprozess. Da Premier David Cameron in Strömung, die sich auf die alten Labour-Traditionen

55 Aufsätze Neubert – Treibender oder getriebener Akteur? Der programmatische Wandel Labours und der SPD [...] MIP 2015 21. Jhrg. weiten Teilen den New Labour-Diskurs übernahm Der programmatische Wandel der SPD seit 2009 (Beech 2008: 11-13) und zugleich einen noch ambi- tionierteren Spar- und Privatisierungskurs verfolgte In seiner Bewerbungsrede zur Wahl des Parteivorsit- als Margaret Thatcher (Interview Beech 2013), blieb zenden auf dem SPD-Parteitag im November 2009 Labour einer Parteienwettbewerbslogik folgend betonte , dass der Grund für die histo- nichts anderes übrig, als sich von diesem Diskurs rische Wahlniederlage der Partei bei den Bundes- und dieser Programmatik zu distanzieren. Im Ange- tagswahlen in der fehlenden Sichtbarkeit ihres Pro- sicht der konservativen Sparpolitik und eines sinken- fils liege. Es sei das große Missverständnis der Partei den Lebensstandards in Großbritannien sowie getra- gewesen, dass man über Jahre hinweg die politische gen von positiven Umfragewerten (New Statesman Mitte als festen Ort verstanden habe, an dem sich die 2013), ist es deshalb wohl kaum verwunderlich, dass Partei orientieren müsse. Dieser Erklärung folgend die Bewahrung des Lebensstandards durch Prädistri- sieht Gabriel als neuer Parteivorsitzender seit 2009 bution und durch einen verantwortlichen Kapitalis- seine Aufgabe darin, die Deutungshoheit bei den ent- mus einen ganz besonderen Stellenwert in der Pro- scheidenden Themen zu gewinnen, um so die politi- grammarbeit Labours einnimmt. Die Kontinuität in sche Mitte selbst zu definieren (SPD 2009: 170-171). der Umweltpolitik Labours sei indessen der Tatsache Weniger als vier Jahre nach dieser Bewerbungsrede geschuldet, dass Umweltpolitik keine wichtige Rolle präsentierte Sigmar Gabriel der Öffentlichkeit ein im Parteienwettbewerb spiele (Interview anonym), Wahlprogramm, was „unterstützt durch die öffentli- wohingegen die von der UK Independence Party che Kommunikation und durch die eigene Wahl- (UKIP) angestoßene Debatte um Arbeitsmigration kampfführung“ (Interview Rabanus 2014) als eine letztlich die restriktivere Positionierung Labours zu programmatische Wanderung nach links wahrge- erklären vermag (Interview Beech 2014). nommen werden kann.

Abbildung 5: Vergleich der SPD-Programmatik vor 2009 und danach SPD als Regierungspartei SPD 2013 Übergeordnete Neue Mitte, Dritter Weg, vorsorgender Sozialstaat, „Das wir entscheidet“, soziale Marktwirtschaft, vor- Philosophie soziale Marktwirtschaft, „mehr Ungleichheit wagen“, sorgender Sozialstaat Chancengerechtigkeit Fiskalpolitik Konsolidierung, Steuerentlastungen für Unterneh- Konsolidierung, Schuldenbremse, höhere Belastung men, niedrigerer Eingangs- und Spitzensteuersatz für höhere Einkommen, Vermögensteuer, höhere Ka- pitalertragssteuer Finanzmarkt- und Deregulierung, Auflösung der Deutschland-AG, Ni- International abgestimmte Regulierung, Finanzmärkte Bankenregulie- schen-Dasein bis zur Finanzkrise als Dienstleister für Realwirtschaft, Trennung von Ge- rungspolitik schäfts- und Investmentbanken Arbeitsmarkt- und Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit, Aktivierung, Mindestlohn, Deregulierungen als Fehler, Entgelt- Beschäftigungs- Flexibilisierung durch Niedriglohnsektor ohne Min- gleichheitsgesetz, mehr Rechte für Leiharbeiter, neues politik destlohn (erst Forderung nach Mindestlohn nach Ein- Arbeitsschutzrecht, Weiterbildungsförderung, „Arbeit führung Leiharbeit), Deregulierung (Kündigungs- nicht um jeden Preis“, mehr betriebliche Mitbestim- schutzschwellen, Krankengeld), mehr Mitbestim- mung mung von Betriebsräten Bildungspolitik Gebührenfreies Erststudium, Ausbau der Ganztagsbe- Gebührenfreie Ausbildung, Ausbau der Ganztagsbe- treuung treuung Sozialpolitik Verteidigung des Sozialstaates durch Reformen, Beitragsstabilität, Armutsbekämpfung durch Mindest- (allgemein) Strukturreformen Agenda 2010 lohn, Mietpreisbremse Gesundheitspolitik Deckelung des Arbeitgeberbeitrags, Ablehnung einer Wiederherstellung der Parität, Bürgerversicherung Bürgerversicherung Rentenpolitik Herabsenkung des Rentenniveaus, Kapitaldeckung, Beibehaltung des aktuellen Rentenniveaus bis 2020 „Rente mit 67“ (>46%), Stärkung BAV, Solidarrente, „Rente mit 63“ Fiskalpolitik Konsolidierung, Steuerentlastungen für Unterneh- Konsolidierung, Schuldenbremse, höhere Belastung men, niedrigerer Eingangs- und Spitzensteuersatz für höhere Einkommen, Vermögensteuer, höhere Ka- pitalertragssteuer Umweltpolitik Treibhausgasreduzierung bis 2020 um 30%, 25% we- Dekarbonisierung bis 2050 um 95%, Treibhausgasre- niger Kohlenstoffdioxidemissionen bis 2005 duzierung bis 2020 um 30% Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Nachtwey 2009, SPD 2013, Spiegel 2009.

56 MIP 2015 21. Jhrg. Neubert – Treibender oder getriebener Akteur? Der programmatische Wandel Labours und der SPD [...] Aufsätze

Allerdings manifestiert sich dieser programmatische inhaltlich wieder auf die Gewerkschaften zugehen, Wandel nicht in einem neuen philosophischen Funda- wie etwa in der Rentenpolitik (Interview U. Schmidt ment, auf dessen Grundlage ein neues Programm erar- 2014, Interview Wiesehügel 2014), aber auch pro- beitet wurde, sondern vielmehr in einer ganzen Reihe grammatische Korrekturen am Kurs der Regierungs- von Neujustierungen oder „notwendige[n] Korrektu- jahre vornehmen musste. Beeinflusst wurde die inner- ren in den Bereichen sozialer Gerechtigkeit und Ar- parteiliche Diskussion um diese Korrekturen von Ge- beit“ (Interview Schäfer-Gümbel 2014). Die „ordoli- werkschaften und vom öffentlichen Diskurs um ar- berale Kodifizierung der Marktsozialdemokratie“ beitsmarkt- und sozialpolitische Themen, die einem (Nachtwey 2009: 232), die mit der Erarbeitung des Mitglied des Wahlkampfteams Peer Steinbrücks, oh- Hamburger Programms eingeleitet wurde, ist auch nehin auf der Straße lagen (Interview anonym 2014), mit dem Programmprozess bis 2013 nicht überwun- und somit die Richtung der Programmdebatte vorga- den. Ordnungspolitische Begrifflichkeiten, wie der ben. Darüber hinaus dominierte in der Parteiführung vorsorgende Sozialstaat oder die soziale Marktwirt- der Eindruck, dass vor allem parteilinke Positionen schaft als ideelle Bezugsgrößen, prägen an vielen Stel- sich als mehrheitsfähig im zwischenparteilichen len das Programm (SPD 2013) und das Denken in der Wettbewerb erweisen können (Interview Rabanus Partei (Interview Rabanus), weshalb sich im Fall der 2014). Während Nietan bemerkt, dass parteilinke Po- SPD kein neues übergeordnetes Konzept, wie das ei- sitionen in der Programmdebatte durchsetzungsfähi- ner One Nation bei Labour, herausarbeiten lässt. ger waren (Interview Nietan 2014), erkennt insgesamt eine stärkere Parteilinke in der , Mitglied der Parlamentarischen zurückliegenden Programmerarbeitung (Interview Linken und des Parteivorstands, klärt in diesem Zu- Mattheis 2014). Berücksichtigt man die programma- sammenhang auf, dass aufgrund der Unsicherheiten in tische Entwicklung der anderen, in der Konkurrenz der Umwelt politischer Parteien die Zeit für große zur SPD stehenden Parteien, so mag die Dominanz Schlagworte noch nicht gekommen sei. Ferner hätte von nach links weisenden Positionen nicht verwun- ihrer Auffassung nach ein linkes Regierungspro- dern, denn nicht nur die Grünen oder die Linken gramm sicherlich anders ausgesehen (Interview D. rückten mit ihren Wahlprogrammen nach links Schmidt 2014). Keineswegs soll dies aber darüber (WZB 2014), sondern auch die Unionsparteien, der hinwegtäuschen, dass die Korrekturen in der Arbeits- sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei eine markt- und Sozialpolitik, aber auch die beabsichtigte Sozialdemokratisierung attestiert wird (Jung/Schroth/ Umverteilung durch Anhebung des Spitzensteuersat- Wolf 2010: 36, Interview Veit 2014). zes und die Einführung einer Vermögenssteuer (SPD 2013) nicht nur rhetorisch zentrale Pfadabweichungen Dass die Parteiführung wiederum Signale aus dem von der Regierungspolitik nach links darstellen. In zwischenparteilichen Wettbewerb in ein beabsichtig- den Manifesto-Daten schlägt sich diese programmati- tes mehrheitsfähiges und vom Kurs aus Regierungs- sche Kurskorrektur in einer Veränderung des RILE- jahren abrückendes Programm umsetzen konnte, lag Wertes von -18,3 auf -23,6 Punkten nieder (WZB). nicht zuletzt auch am Fehlen von inhaltlichen Kon- flikten in der Parteiführung. Aus den Interviews mit Dass die SPD vor allem in den Bereichen der Ar- den Sprechern des Seeheimer Kreises und des Netz- beitsmarkt- und Sozialpolitik, aber auch in der Steu- werkes Berlin sowie mit der Vorsitzenden des Forums erpolitik einen programmatischen Wandel nach links Demokratische Linke 21 geht hervor, dass jede der in- vollzog, lässt sich insbesondere durch zwei Faktoren nerparteilichen Strömungen sich in dem Programm erklären: Wahlniederlagen auf Bundes- und Landes- wiederfinden konnte (Interview Ernstberger, Mattheis, ebene sowie ein hohes Maß an innerparteilicher Ge- Rabanus 2014). Auch Rolf Kleine, einst Sprecher Peer schlossenheit, was einhergeht mit einer Verwischung Steinbrücks, erkennt eine hohe inhaltliche Geschlos- ideologischer Unterschiede zwischen den Parteiflü- senheit in der SPD, die ihm in diesem Maße bis dato geln (Interview anonym 2014). unbekannt war (Interview Kleine 2014). In einer Vielzahl von Eliteninterviews wird immer Gewiss übten die Wahlniederlagen der letzten Jahre wieder eine Verbindung zwischen zurückliegenden einen disziplinierenden Effekt auf die Partei auf, die Wahlniederlagen und der Identität der Partei herge- starke und unbestrittene Rolle des Parteivorsitzenden stellt. Deshalb spricht der Schatzmeister der SPD, Sigmar Gabriels ist jedoch auch ein entscheidender , auch von einer Resozialdemokrati- Erklärungsfaktor für die inhaltliche Geschlossenheit sierung der Partei, die mit dem Programmprozess bis der SPD. Durch das Versprechen, den Programmpro- 2013 vollzogen wurde (Interview Nietan 2014). Zu zess möglichst offen zu gestalten, was in vielen Inter- dieser Resozialdemokratisierung gehört, dass die SPD

57 Aufsätze Neubert – Treibender oder getriebener Akteur? Der programmatische Wandel Labours und der SPD [...] MIP 2015 21. Jhrg. views sowohl mit Parteilinken als auch mit Parteirech- dass es Sigmar Gabriel gelang, ideologische Konflik- ten begrüßt wird (Interview Veit, Barthel, Nietan, Ra- te aus der Parteispitze herauszuhalten, um möglichst banus 2014), wurden Gefahrenherde eines Flügelkamp- geschlossen in die Bundestagswahl 2013 zu ziehen, fes in der Parteispitze weitgehend minimiert, was wie- kann aufgrund der bitteren Wahlniederlage von 2009 derum andere als ein Fehlen der Debatte im Vorstand und aufgrund der Position des politischen Gravitati- monieren (Interview Barthel, D. Schmidt 2014)4. onszentrums in Deutschland der zwischenparteiliche Wettbewerb die Stoßrichtung und das Agenda Set- Fazit ting der SPD in den letzten Jahren erklären. Schließlich lassen sich in den Programmprozessen Wie kann nun die Frage beantwortet werden, was der Labour Party und der SPD keine Hinweise dafür den programmatischen Wandel sozialdemokratischer finden, dass, wie es Katz und Mair (1995) mit ihrer Parteien vorantreibt? Sind es die Parteien selbst oder Kartellparteienthese nahelegen, die Parteispitze bei treibt der zwischenparteiliche Wettbewerb die Par- (programmatischen) Entscheidungen autonomer von teien an? Sowohl anhand der britischen Labour Party lokalen Untergliederungen werde. Zwar findet die als auch anhand der SPD lässt sich zeigen, wie der Beobachtung von Katz und Mair, dass einfache oder zwischenparteiliche Wettbewerb das Agenda Setting Nicht-Mitglieder in Willensbildungsprozesse einbe- beider Parteien beeinflusst. Zugleich zeigt sich aber zogen werden, in beiden Fällen Bestätigung, jedoch auch, wie der innerparteiliche Wettbewerb die Verar- lässt sich eine zunehmende Autonomie der Partei- beitung der Signale des zwischenparteilichen Wettbe- führung im Programmprozess nicht bestätigen. Zwar werbs beeinflusst. Besonders in Großbritannien beein- ist die Labour-Führung unabhängiger von der Parla- trächtigten Flügelkämpfe und die Führungsschwäche mentsfraktion geworden, gewerkschaftliche Unter- des Parteivorsitzenden über lange Strecken den Pro- gliederungen oder die innerparteilichen factions, grammprozess, deren Lösungen sich an einigen Stel- sind allerdings stärker geworden. Ebenso wird an len als inhaltliche Zugeständnisse finden lassen. vielen Stellen im Programmprozess der SPD immer Mittlerweile gilt mit Heranrücken des Wahltermins wieder die Möglichkeit von Untergliederungen und Labour als inhaltlich geschlossen, was keineswegs Landesverbänden betont, noch auf Parteitagen die bedeuten muss, dass die Programmatik trotz einiger programmatische Linie beeinflussen zu können (In- Zugeständnisse als Minimalkonsens zu verstehen ist. terview Barthel, Nietan 2014). Vielmehr trägt der Programmprozess in weiten Tei- len nämlich die Handschrift einer innerparteilichen Letztlich kann die Frage, was den programmatischen Strömung und zwar die von Blue Labour. Während Wandel von Parteien vorantreibt, nur durch das Öff- in Großbritannien in den ersten Jahren nach der nen der black box Partei und durch eine kausale Re- Wahlniederlage 2010 der innerparteiliche Wettbe- konstruktion innerparteilicher Prozesse beantwortet werb den Programmprozess überlagerte, war über werden. Für dieses Unterfangen ist eine breite Da- die ganzen letzten Jahre hinweg der zwischenpartei- tenbasis unverzichtbar. Für die weitere Entwicklung liche Wettbewerb für die Themenfindung der Partei der Parteienforschung wäre es deshalb wünschens- und vor allem mit dem Näherrücken der Unterhaus- wert, wenn genau solche Daten, aus denen sich in- wahlen auch für die ideologische Stoßrichtung des nerparteiliche Prozesse nachvollziehen lassen, wie Programms verantwortlich (Interview Beech 2014). etwa Eliteninterviews, der parteienforschenden Ge- meinschaft öffentlich zugänglich gemacht werden, Wenngleich sich im Wahlprogramm der SPD viele um Parteienwandel nicht nur von außen, sondern parteilinke Forderungen wiederfinden lassen, war auch von innen erklären zu können. der Programmprozess keineswegs geprägt von Flü- gelkämpfen, an deren Ende sich nur eine oder weni- ge innerparteiliche Strömungen durch das Wahlpro- Literatur gramm repräsentiert fühlen. Inhaltliche Zugeständ- Adams, James F./Merrill, Samuel III/Grofman, Ber- nisse an die Gewerkschaften, aber auch Korrekturen nard (2005): A Unified Theory of Party Competiti- an dem in der Partei schon immer umstrittenen Re- on, Cambridge: Cambridge University Press. formkurs der Regierungsjahre wurden von allen Par- teiflügeln getragen und entluden sich auch nicht in Avolio, Bruce J./Walumbwa, Fred O./Weber, Todd Auseinandersetzungen in der Parteispitze. Dadurch J. (2009): Leadership: Current theories, research and future directions, in: The Annual Review of Psycho- 4 In der Partei sieht man diesbezüglich die Gefahr, die notwen- logy 60: 421-449. dige Debatte um den Preis der Geschlossenheit zu verlernen (Interview Nietan 2014).

58 MIP 2015 21. Jhrg. Neubert – Treibender oder getriebener Akteur? Der programmatische Wandel Labours und der SPD [...] Aufsätze

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59 Aufsätze Neubert – Treibender oder getriebener Akteur? Der programmatische Wandel Labours und der SPD [...] MIP 2015 21. Jhrg.

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60 MIP 2015 21. Jhrg. Anan – National, liberal, konservativ, populistisch? Die Programmatik der AfD Aufsätze

National, liberal, konservativ, populistisch? kritik und die den Parteienbegriff vermeidende Die Programmatik der AfD Selbstbezeichnung belegten populistische Züge. Plehwe erkennt hingegen eine „Verknüpfung von na- tionalistisch-konservativem mit neoliberalem wirt- Deniz Anan1 schaftspolitischen Denken“ (Plehwe 2014: 69) nach dem Vorbild der US-amerikanischen Rechten, frei- 1. National, liberal, konservativ, populistisch? lich bei fließenden Grenzen zum Rechtspopulismus Die Programmatik der AfD und -radikalismus. Mit Blick auf die als Vorläufer einzustufenden Organisationen BfB, Allianz für den 1.1. Die AfD als neuer Akteur im deutschen Partei- Rechtsstaat, Zivile Koalition und Bürgerkonvent und ensystem die Querverbindungen zu den den britischen Konser- vativen und der Europartei AECR nahestehenden Die ideologische Einordnung neuer Parteien fällt na- Denkfabriken Open Europe und New Direction turgemäß schwer. Dies gilt insbesondere für die er- Foundation wird die AfD hier als „radikal neoliberale folgreichste Neugründung der letzten Jahre, der Al- Kraft mit national-konservativem Anstrich“ (Plehwe ternative für Deutschland (AfD), die 2013 nur ein 2014: 72) gesehen. Die AfD-Programmatik unter- halbes Jahr nach ihrer Gründung mit 4,7 % der Stim- scheide sich vor allem in ihrem Ruf nach partieller men fast in den Bundestag eingezogen wäre und der politischer Desintegration der EU (unter Beibehal- die verschiedensten Etiketten angehängt wurden. tung der ökonomischen Integration, v.a. der Liberali- Eine qualitative Inhaltsanalyse der AfD-Parteipro- sierung) von rechtsliberalen und konservativen Ge- gramme soll die Fragen beantworten helfen, welche danken. Diese programmatische Ambivalenz sei im ideologischen Topoi in der Programmatik der AfD Kontext möglicher Spannungen zwischen einem ge- nachzuweisen sind und ob die Partei populistische mäßigten, neoliberal-konservativen, und einem radi- Züge aufweist. Hierbei soll die Positionierung der kalen, national-konservativen bis rechtspopulisti- Partei auf zentralen, ausgewählten Politikfeldern re- schen, Flügel zu sehen. Die programmatische Verbrei- konstruiert werden. terung anlässlich der Europawahl führe nur zu einer partiellen Anschlussfähigkeit nach links (Plehwe/ 1.2. Forschungsstand Schlögl 2014). Der bisherige Forschungsstand zur AfD-Programmatik Häusler stützt seine Einschätzung der AfD als „so- berücksichtigt meist das Bundestags- und Europa- wohl neoliberalen wie auch national-konservativen wahlprogramm, aber noch nicht die Landtagswahl- Einflüssen“ ausgesetzte Partei (Häusler 2013: 93) eher programme 2014. Die AfD wird nahezu übereinstim- auf strukturelle denn programmatische Analysen, be- mend, aber in unterschiedlicher Zusammensetzung mit tont aber die Nähe zu wohlstandschauvinistischem den Attributen (rechts-) konservativ, (neo-) liberal, und nationalistischem Gedankengut. Auch Lange/ national (-konservativ/-liberal) und (rechts-) populis- Saetzler streichen heraus, die AfD müsse sich ange- tisch versehen. Insbesondere in der publizistischen sichts der paternalistisch-überheblichen Züge ihrer Pro- Darstellung werden darüber hinaus die Attribute EU-, grammatik „Populismus-Vorwürfe gefallen lassen“ euro- und europaskeptisch, -kritisch und -feindlich, (Lange/Saetzler 2013: 11). Kemper (2013) bewertet nicht immer trennscharf unterschieden, verwendet. die Positionen der AfD als deutsche Tea Party bzw. als Nationalliberalismus 2.0, unterscheidet aber zwi- Lucke stuft die AfD als „Sammelbecken für ent- schen konservativen, (national-) liberalen, libertären täuschte Konservative und Neoliberale“, kurz als und rechtspopulistisch-islamophoben Gruppen. Die „jene Partei rechts von der Union (…), die schon Alternativkonzepte zur parlamentarischen Demokra- Franz Josef Strauß immer gefürchtet hatte“ (Lucke tie, die familienzentrierte konservative Gesellschafts- 2013: 5, 6) ein. Auch Decker bescheinigt der Partei politik und der Marktliberalismus samt Gold-Stan- „eher ein liberal-bürgerliches als ein populistisches dard seien die dominanten Ideologiefragmente. Neu Profil“ (Decker 2013: 2), mit hoher Anziehungskraft (2014) stuft die AfD als gleichermaßen marktradikale, für vom CDU-Modernisierungskurs Enttäuschte. konservative, teilweise rechtspopulistische, aber kei- Koschmieder (2013) unterscheidet einen neolibera- nesfalls rechtsextreme Single-Issue-Party ein. len, einen national-konservativen und einen rechts- populistischen Flügel; insbesondere die Parteien- Franzmann sieht in der AfD sowohl eine Entwicklung zu einer bürgerlichen, konservativ-national-liberalen 1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet als auch zu einer rechtspopulistischen Partei ange- Politikwissenschaft der Technischen Universität München.

61 Aufsätze Anan – National, liberal, konservativ, populistisch? Die Programmatik der AfD MIP 2015 21. Jhrg. legt (Franzmann 2014a). In der Unzufriedenheit über emotional-chauvinistisch aufgeladen und um pau- die nachlassende Vertretung konservativer bzw. schale Kritik an der etablierten Politik ergänzt. Das marktliberaler Positionen durch die Union bzw. die Paradoxe sei die Inszenierung einer technokratischen FDP sei der eigentliche Hintergrund für Gründung und den Wettbewerb intensivierenden Programmatik und Erfolg der AfD zu sehen. Die AfD-Programma- als bürgernah und als Antwort auf Existenzängste. tik weise ökonomisch marktliberale und gesellschaft- lich ausgeprägt konservative Züge auf und positio- 1.3. Parteiprogramme als Quelle politikwissen- niere sich so spiegelbildlich zur links-progressiven schaftlicher Forschung Linkspartei. Franzmann (2014b) belegt zudem einen Parteiprogramme stellen eine ausgezeichnete Quelle Rückgang der populistischen Züge (thematische Ver- für die ideologische Zuordnung und die programma- engung, Anti-Eliten-Rhetorik) der Partei im Verlaufe tische Entwicklung von Parteien dar. Zwar sind Par- des Jahres 2014, was als Mäßigungsstrategie zur Eta- teiprogramme oft strategisch verfasst, und stellen in- blierung und Wählbarkeit interpretiert werden kann. neren Dissens und problematische Positionen im Niedermayer (2015a/b) bescheinigt der AfD marktli- Zweifel zurück (Däubler 2012, Pappi 2013). Sie sind berale bis „marktfundamentalistische“ (Niedermayer aber offizielle, eindeutig der Partei zuordenbare Do- 2015b: 188) Positionen im ökonomischen Bereich: kumente, und geben Aufschluss über die Ziele, die Da die Partei gesellschaftspolitisch rechts von der umworbenen Wählergruppen und die innerparteili- Union stehe, aber nicht zu den rechtsextremen Par- chen Kräfteverhältnisse (Stammen u.a. 1996, Volkens teien zu zählen sei, nationale Angelegenheiten beto- 1996, Klingemann/Volkens 2002). Zu unterscheiden ne, aber Andere nicht abwerte, sei sie insgesamt als sind die beiden Typen Grundsatz- und Wahlpro- „national-konservative“ Partei zu werten (Nieder- gramm, wobei den Grundsatzprogrammen überwie- mayer 2015b: 196). Ganz ähnlich stuft auch Stöß die gend Binnenfunktionen (Integration, Identifikation, AfD als „rechts- bzw. nationalkonservative Partei Legitimation) und den Wahlprogrammen Außen- mit starken neoliberalen Tendenzen“ (Stöß 2014) funktionen (Werbung, Agitation, Operation, Ideolo- ein, die von einem doppelten internen Konflikt (Na- gieübersetzung) zugeordnet werden (Kaack 1971, tionale vs. Wertkonservative, Rechtskonservative vs. Kremendahl 1979, Merz/Regel 2013). extrem Rechte) geprägt sei. 1.4. Methodisches Vorgehen Gebhardt (2013) bezeichnet die Partei angesichts der eher linken Bankenkritik und des Fehlens klassischer Wahlprogramme werden ganz überwiegend quantita- rechtspopulistischer Themen als „partiell rechtspo- tiv analysiert, insbesondere im Rahmen des Manifesto pulistisch“ und als Zuflucht für von der Eurorettung Project (Budge/Klingemann 2001). Dieses Projekt hat enttäuschte Liberale und Konservative – analog zur große Verdienste, hat angesichts des konstanten Ko- Linkspartei für von der Agenda 2010 Enttäuschte dierschemas aber Probleme, neue Phänomene wie (Gebhardt 2013: 90). Veränderungen im Zuge der Eurokrise, zu erfassen. Diese Studie arbeitet daher qualitativ. In einer Inhalts- Laut Schmitt-Becks Wähleranalyse verdankt die AfD analyse werden die programmatischen Positionen der den Erfolg bei der Bundestagswahl vor allem spät ent- AfD hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit zentralen schlossenen Wählern mit einer prinzipiell negativen Topoi der (Proto-) Ideologien Liberalismus, Konser- Einstellung gegenüber multikultureller Einwanderung. vativismus, Nationalismus und Populismus überprüft. Diese Wähler wählten dann aber entgegen der für Zu- wanderung aus anderen Kulturen offenen AfD-Pro- Die Analyse konzentriert sich auf diejenigen Aussa- grammatik. Der Autor konzediert daher: „Die Pro- gen, die einer der folgenden vier Untersuchungskate- grammatik der AfD rechtfertigt zum gegenwärtigen gorien Europapolitik (Strukturen der Entscheidungs- Zeitpunkt keine Kategorisierung als rechtspopulisti- findung im EU-System, Binnenmarkt, Personenfrei- sche Partei.“ (Schmitt-Beck 2014: 112). Oppenhäuser zügigkeit), Steuerpolitik , Sozialpolitik (Renten- und (2013) betont, im Kontext einer Analyse über die zu- Krankenversicherung, Grundsicherung, Sozialleistun- nehmende Unterstützung von direkter Demokratie gen) und Gesellschaftspolitik (Minderheitenrechte, bei Neoliberalen und National-Konservativen, den moralisch-ethische Fragen, gesellschaftspolitische rechtspopulistischen Charakter der AfD. Aspekte der Bildungs-, Familien- und Rechtspolitik) zugeordnet werden können. Diese Auswahl erlaubt Bebnowski/Förster (2014) bezeichnen die AfD-Pro- eine heuristische Analyse und stellt gleichzeitig sicher, grammatik spezifischer als „wettbewerbspopulistisch“: dass sowohl die Europapolitik (als Themenschwer- Die Logik des wirtschaftlichen Wettbewerbs werde punkt der AfD) als auch zentrale Dimensionen des

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Sozialstaatskonflikts (Steuerpolitik, Sozialpolitik) und 2.1.1. Europapolitik des kulturellen Konflikts (Gesellschaftspolitik) be- Das Programm bringt eine ambivalente Haltung zur rücksichtigt werden. Für alle hier untersuchten derzeitigen EU zum Ausdruck. Die Partei kritisiert Politikfelder schreiben die eigenen Anhänger der AfD namentlich die „Brüsseler Bürokratie“, bei deren zudem mehrheitlich Kompetenzen zu (Köcher 2014). Kontrolle das Europaparlament „versagt“ hätte. Ge- Die Ideologie des Liberalismus wird hier als Kombi- fordert wird eine Rückverlagerung von Rechtset- nation marktliberaler Positionen in der ökonomischen zungskompetenzen an die Nationalstaaten; explizit Konfliktdimension (niedrige Steuer- und Abgabenlast, abgelehnt werden eine „Transferunion“ und ein Haushaltskonsolidierung, Freihandel, Deregulierung, „zentralisierte[r] Europastaat“. Hingegen finden sich Eigenverantwortung und private Vorsorge) mit pro- als positive Bezüge das „Europa souveräner Natio- gressiven Haltungen in der Gesellschaftspolitik defi- nalstaaten mit einem gemeinsamen Binnenmarkt“, niert. Konservative Ideologie wird mit der Bejahung „Freundschaft und gut[e] Nachbarschaft“, das „un- traditioneller und autoritärer Vorstellungen in der ge- eingeschränkt[e] Budgetrecht der nationalen Parla- sellschaftlichen Konfliktdimension gleichgesetzt (Ak- mente“ und die „Positionen David Camerons, die EU zeptanz von Ungleichheit, positives Bild von Religion durch mehr Wettbewerb und Eigenverantwortung zu und den christlichen Kirchen, restriktive Haltung in verschlanken“ (AfD 2013a: 1). Ein besonderes Au- der Sexualmoral und Familienpolitik, Vorrang von Si- genmerk erhält die Währungspolitik mit der zentra- cherheitserwägungen gegenüber Bürgerrechten). Der len Forderung nach „geordnete[r] Auflösung des Eu- Nationalismus wird hier mit der Betonung national- ro-Währungsgebietes“ zugunsten der „Wiedereinfüh- staatlicher Souveränität und der Skepsis gegen einer rung nationaler Währungen oder d[er] Schaffung weiteren Vertiefung der EU-Integration, insbesonde- kleinerer und stabilerer Währungsverbünde“ bis hin re gegenüber der Schaffung supranationaler Struktu- zur „Wiedereinführung der DM“ (AfD 2013a: 1). ren, gleichgesetzt. Programmatische Aussagen wer- Zudem solle ein Euro-Austritt ohne EU-Austritt den dann als populistisch gewertet, wenn sie von möglich sein. Die AfD will die Kosten von Euro- Vorstellungen von der größtmöglichen Einheit von und Bankenrettung auf die Profiteure (Banken, Hed- Regierenden und Regierten geprägt sind und die gefonds) umlegen, Schuldenstaaten durch einen Konstruktion eines Bildes der Entfremdung der (ne- Schuldenschnitt entschulden und den Anleihenan- gativ dargestellten) Eliten von den Interessen des kauf durch die EZB untersagen. (idealisiert dargestellten) Volks aufweisen (Taggart Die Forderungen zu Zuwanderung und Integration 2000, Decker 2000/ 2004, Heinisch 2004, Mudde (Zuwanderung von Qualifizierten im kanadischen 2004, Rensmann 2006, Spier 2010). Sinne, Verhinderung einer ungehinderten Zuwande- Die vier Gedankengebäude besitzen einen unter- rung in die Sozialsysteme, Asyl- und Arbeitsrecht für schiedlichen Status: Liberalismus und Konservativis- ernsthaft politische Verfolgte) werden aus rein natio- mus sind etablierte (Groß-) Ideologien. Der Nationa- naler Perspektive, also nicht im Kontext der EU-Per- lismus wird meist als unvollständige, „dünne Ideolo- sonenfreizügigkeit, erhoben. gie“ betrachtet, mit der Tendenz zur Verbindung mit anderen Ideologien. Der Populismus hingegen stellt 2.1.2. Steuerpolitik sowohl eine (dünne) Ideologie dar als auch einen Trotz Haushaltskonsolidierung und Schuldenabbau politischen Stil bzw. eine politische Strategie (Beyme fordert die AfD eine „drastische Vereinfachung des 1982, Lucardie 2007). Steuerrechts“ (AfD 2013a: 2), im Sinne des von Paul Kirchhof entwickelten Steuermodells mit einem Ein- 2. Die AfD-Programme im Vergleich heitssteuersatz von 25 %.

2.1. Bundestagswahlprogramm 2013 (14.04.2013) 2.1.3. Sozialpolitik Das auf dem AfD-Gründungsparteitag verabschiedete Über die Forderung nach einer besseren Berücksich- Programm unterscheidet sich von den üblichen tigung der Kindererziehung hinaus wird die Sozial- Wahlprogrammen. So gelten Wahlprogramme ideal- politik kaum erwähnt. Allerdings warnt die AfD da- typisch als Aktualisierung und Konkretisierung der vor, Eurokrise, Staatsschulden und Niedrigzinsen ge- Grundsatzprogramme. Sie umfassen bis zu 300 Sei- fährdeten die Altersvorsorge und führten zu einer ten. Die AfD verfügte zum Beschlusszeitpunkt nicht „Rente nach Kassenlage“ (AfD 2013: 2), ohne dies über ein Grundsatzprogramm. Ihr Wahlprogramm näher zu erläutern. besteht aus nur zwei A4-Seiten mit Stichpunkten.

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2.1.4. Gesellschaftspolitik struktur (Kitas) organisiert werden soll, völlig. Die AfD lässt auch offen, ob Geldleistungen auch Gut- Die gesellschaftspolitischen Aussagen beschränken verdiener oder gezielt Einkommensschwache anvi- sich auf Familie und Bildung. Konzeptionell werden sieren. Dennoch stellt der Ausbau der Familienförde- die Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“, Bil- rung eine Ausweitung staatlicher Intervention und dung und Erziehung in erster Linie als Aufgaben der Umverteilung dar. Eltern (bei einer nur unterstützenden Rolle des Staa- tes) bezeichnet. Die AfD mahnt eine „solidarische Ein (allerdings begrenzter) populistischer Zug ist in Förderung der Familien“ (AfD 2013a: 2) an, um die der Befürwortung direktdemokratischer Elemente Geburtenzahlen zu steigern. (insbesondere im Kontext von Kompetenzverlage- rung an die EU) und an der Parteienkritik zu erken- 2.1.5. Fazit nen: Parteien „beherrsch[t]en“ das politische System Die AfD besetzt in der Europapolitik Positionen weit anstelle daran mitzuwirken; es solle „das Volk den außerhalb des deutschen politischen Mainstreams. Willen der Parteien bestimmen, nicht umgekehrt.“ Hinter den Forderungen verbirgt sich eine zunächst an (AfD 2013a: 1). de Gaulles Vision vom „Europa der Vaterländer“ erin- nernde Konzeption, die allerdings den freien Wettbe- 2.2. Politische Leitlinien werb auf dem europäischen Binnenmarkt explizit be- Das Parteiengesetz schreibt ein Grundsatzprogramm jaht. Insofern strebt die AfD eine Orientierung an der zwingend vor. Die AfD ist dieser Verpflichtung im Europapolitik traditionell integrationsskeptischer Rahmen eines mehrstufigen Verfahrens (Vorstands- Staaten wie Großbritannien, Tschechien, Dänemark entwurf, Versand an Mitglieder mit der Bitte um oder Schweden an. Letztlich geht es um ein Anhalten Kommentierung, Abänderung des Entwurfs, Be- und teilweise um eine Rücknahme der vertieften Inte- schluss per Mitgliederentscheid) nachgekommen. Die gration, einen Ausbau der differenzierten Integration „politischen Leitlinien“ sind mit 14 Seiten viel kürzer (im Währungsbereich) und einen Abbau der suprana- als die Grundsatzprogramme anderer Parteien, aber tionalen Integration bis hin zur Beschränkung auf eine sehr viel länger als das Bundestagswahlprogramm. (um den Binnenmarkt ergänzte) intergouvernementale Die Leitlinien enthalten, nahezu idealtypisch, ein Integration. Diese Konzeption einer EU als „Freihan- Vorwort, in dem verschiedenste Grundprinzipien delszone plus“ mag aus der deutschen Perspektive als dargelegt werden, eine (kritische) Zeitanalyse und EU-kritisch oder sogar -feindlich erscheinen. Aus der einen Forderungskatalog. Die AfD argumentiert, gesamteuropäischen Perspektive hingegen sollte die- mehrere Grundprinzipien (Demokratie, Subsidiarität) se Haltung aber sinnvollerweise als integrationsskep- seien durch Eurokrise und Rettungspolitik verletzt tisch bewertet werden, da nur Teile der (politischen) bzw. gefährdet; sie fokussiert ihre Perspektive auf Integration kritisiert werden, die (wirtschaftliche) In- Politikinhalte, also sehr stark auf den Euro. tegration bis hin zu einer (in ihrer geografischen Reichweite verkleinerten) Gemeinschaftswährung 2.2.1. Europapolitik hingegen ausdrücklich bejaht wird: Die AfD fordert Die AfD kritisiert das Demokratiedefizit in der EU, weder deutschen Austritt aus der EU noch eine Auf- ohne aber über die bloße Renationalisierung hinaus- lösung von EU und EWU. gehende positive Reformvorschläge einzubringen. Die Steuerpolitik ist angesichts des Rekurses auf das Das Subsidiaritätsprinzip wird nicht nur gegenüber Kirchhof-Modell äußerst nahe am marktliberalen Pol der EU und deren Versuche „in das tägliche Leben des Sozialstaatskonflikts angesiedelt. der Bürger regulierend einzugreifen“, angemahnt, sondern auch gegenüber der Bundesebene in Während die knappen Thesen zur Steuerpolitik als Deutschland (AfD 2013b: 8). marktliberal bis marktfundamentalistisch zu werten sind, schwingt in den Thesen zur Sozialpolitik (Mütter- Die AfD fordert (außerhalb des EU-Kontexts) die rente) der Ruf nach (begrenzter) Ausweitung sozial- Zuwanderung Qualifizierter. Neben dem kanadischen staatlicher Intervention mit. Vorbild, das auch in links-liberalen Kreisen auf Zu- spruch trifft, wird nun auch auf die, international In der Gesellschaftspolitik bemüht die AfD ganz ein- heftig kritisierte, Einwanderungspolitik Australiens deutig konservative Topoi. Der Ruf nach finanzieller Bezug genommen. Förderung von Familien ignoriert die dominante De- batte der letzten Jahre, ob Familienförderung primär Die AfD betont außerdem die Bedeutung von Nato in Form von Geldleistungen oder in Form von Infra- und Westbindung und zeigt sich, die Aufgabe der

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Landesverteidigung hervorhebend, implizit kritisch sich als Erweiterung des Familienbegriffs sehen, zu- gegenüber den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. mal die Ehe zwischen Mann und Frau nur noch als „wünschenswert“, aber nicht mehr als „Keimzelle“ 2.2.2. Steuerpolitik bezeichnet wird. Neu ist auch die aus demografi- Die ökonomischen Programmteile mahnen durchge- schen Gründen erhobene Forderung nach „Zuwande- hend zur zurückhaltenden Staatsaktivität. Die Interes- rung integrationswilliger und integrationsfähiger sen des Steuerzahlers werden mehrfach leitmotivisch Einwanderer“ (AfD 2013b: 10). Die Forderungen in in den Vordergrund gestellt. So heißt es etwa im Kon- der Bildungspolitik tragen nun immer deutlicher text der Wettbewerbspolitik, man solle „unnötige Las- marktliberal-konservative Züge (dreigliedriges ten für den Steuerzahler […] vermeiden“, und im Schulsystem, weitgehende Hochschulautonomie). Kontext der Bankenrettung, es sei „unsozial, wenn 2.2.5. Fazit […] Sparer oder Steuerzahler für die […] Risiken ge- radestehen müssen“ (AfD 2013b: 8, 9). Erneut fun- Die AfD erweitert ihre Programmatik in den Leitlini- giert das Kirchhof-Modell als Referenz. Neu sind hin- en, sagt zu manchen Politikfeldern, etwa zur Europa- gegen die Begründung, wonach Steuersenkungen der politik, aber weniger aus als im Wahlprogramm. Die Steuerhinterziehung entgegenwirkten, und die ergän- Betonung alternativer politischer Zusammenschlüsse zende Kritik an der Verschwendung von Steuergeldern, zur EU (Westbindung, Nato) ist ein typischer inte- die laut AfD mit Gefängnis bestraft werden solle. grationsskeptischer Topos. 2.2.3. Sozialpolitik Die Steuerpolitik orientiert sich, bis hin zur Wort- wahl, an den radikalen CDU/CSU- und FDP-Re- Ohne dies näher auszuführen werden das Renten-, formplänen des vergangenen Jahrzehnts. Die dünnen Sozial-, Arbeits-, und Krankenversicherungsrecht als Aussagen zur Sozialpolitik erlauben kaum eine sinn- „unüberschaubar“ und als „überbürokratische Bevor- volle Einordnung. Trotz durchschimmernder Kritik mundung der Bürger“ bezeichnet (AfD 2013b: 6). In am Status quo wird weder mehr noch weniger Um- sehr allgemeiner Form leitet die Partei aus dem verteilung explizit gefordert. Die erweiterten Aussa- Grundsatz der Solidarität ein Bekenntnis zur Hilfe gen zur Gesellschaftspolitik ergeben ein ambivalen- von „Menschen in Not“ ab, die sich allerdings ihrer- tes Bild: Progressive Ansätze stehen neben eindeutig seits aktiv um Beendigung der Hilfsbedürftigkeit be- konservativen Positionen. Teils sind bereits einzelne mühen sollten. Aussagen überaus ambivalent: So lässt sich ohne 2.2.4. Gesellschaftspolitik weiteren Kontext nicht sagen, ob das Bekenntnis zur Legitimität von Religionskritik liberal-pluralisti- Die AfD bekennt sich nun ausdrücklich zum Minder- schen Erwägungen geschuldet ist oder eher rechts- heitenschutz, zur Gleichberechtigung von Mann und konservative Islamkritik legitimieren soll. Frau und zur Notwendigkeit des Abbaus realer Be- nachteiligung. Dieses progressive anmutende Be- Ein dem eigenen Außenseiterstatus geschuldetes kenntnis wird aber durch die Ablehnung jeglicher Spezifikum ist der Ruf nach Aufgreifen von Minder- Quoten und von „Ergebnisgleichheit“ anstelle von heitspositionen durch die Medien. In dieser Selbststi- „Chancengleichheit“ (AfD 2013b: 6) stark relati- lisierung sind ebenso ansatzweise populistische Züge viert. Ebenso ambivalent sind die Forderungen nach zu erkennen wie im Bekenntnis zur direkten Demo- informationeller Selbstbestimmung, Schutz vor Aus- kratie im EU-Kontext und in weiteren Reformvor- spähung und dem „Recht auf unüberwachte Freiheit“ schlägen (wie die der parlamentarischen Demokratie (AfD 2013b: 6) einerseits und dem Ruf nach strikter wesensfremde Inkompatibilität von Exekutive und Verbrechensbekämpfung andererseits. Wohl mit Legislative) und der Betonung von Subsidiarität und Blick auf sich selbst (und auf die Islamkritik) postu- Konnexität, aus der impliziert ein generelles Miss- liert die Partei Meinungsfreiheit, offene Diskussions- trauen gegen (zentralisierte) staatliche Gewalt zum kultur (einschließlich Religionskritik) und die ange- Ausdruck kommt. messene Berücksichtigung minoritärer Meinungen in den Medien. 2.3. Europawahlprogramm Das auf dem Erfurter Parteitag im März 2014 verab- Wie bereits im Wahlprogramm wird eine natalisti- schiedete Programm ist mit 25 Seiten das bis dato sche Familienpolitik proklamiert. Neu ist die Forde- umfangreichste. Es bezieht sich überwiegend auf die rung, Familien „unabhängig von ihrem Lebensent- EU-Ebene. Zeitanalyse und Forderungen fließen in- wurf“ fördern zu wollen (AfD 2013b: 10). Dies lässt einander.

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2.3.1. Europapolitik glieder herrscht. Integrationsschritte wie eine ge- meinsame europäische Armee werden aber, unter Bereits die Präambel wiederholt die Integrations- Verweis auf die Priorität der Nato, klar abgelehnt. kritik des Wahlprogramms nahezu wortgleich. Er- gänzt wird diese Grundsatzkritik aber durch ein klares Die AfD bekennt sich klar zur Arbeitnehmerfreizü- Bekenntnis zur EU an sich, der ein Beitrag zur Völ- gigkeit in der EU, allerdings nicht zulasten des deut- kerverständigung und zur Wiedervereinigung zuge- schen Sozialsystems: Sozialleistungen sollten nur schrieben wird. Dem stünden aber „Auswüchse“ wie „Zuwanderer erhalten, die [oder deren Eltern] in er- „Zentralismus, Bürokratie und Dirigismus“ gegen- heblichem Umfang Steuern bzw. Sozialversiche- über, sowie die Gefahren durch die Zwietracht säende rungsbeiträge in Deutschland gezahlt haben“. Verur- „Einheitswährung“ und die einen auf „Vertrags- und teilte Straftäter aus dem EU-Ausland seien „konse- Rechtsbrüche“ basierenden „bürgerferne[n] Kunststaat“ quent abzuschieben“ (AfD 2014: 15). Die AfD be- befördernde Rettungspolitik (AfD 2014a: 2). Insbe- tont erneut die Bedeutung des Asylrechts, und for- sondere die Vergemeinschaftung von Schulden in je- dert sogar einheitliche Mindeststandards des Arbeits- der Form wird vehement abgelehnt. rechts und, damit „den peripheren Staaten der EU (…) nicht die Hauptlast“ zukommt, die „Folgen (…) Die AfD befürwortet hingegen erneut ausdrücklich unter den Ländern der EU fair zu verteilen.“ (AfD den Binnenmarkt einschließlich des freien Personen- 2014: 16). Die Partei plädiert also für einen (wie verkehrs, plädiert aber für eine differenzierte Inte- auch immer gearteten) Ausgleich anstelle des bishe- gration. Vereinzelt plädiert die AfD sogar für eine rigen Erstaufnahmelandprinzips. verstärkte wirtschaftliche Integration (transeuropäi- sche Infrastruktur, Kartellaufsicht). Das Abkommen Insgesamt ziehen sich die Betonung „deutscher Inter- TTIP wird nicht grundsätzlich, aber wegen seiner In- essen“ und der Ruf nach einem stärkeren Gewichts transparenz und der drohenden Absenkung von Deutschlands in der EU wie ein roter Faden durch Schutzstandards, abgelehnt. das Programm. Neue konkrete Forderungen sind die Stimmgewich- 2.3.2. Steuerpolitik tung in der EZB entsprechend dem Kapitalschlüssel, eine Rückführung der deutschen Goldreserven nach Die AfD konstatiert, die Euro-Stabilisierung führe Frankfurt und die Stärkung von Deutsch als EU- zur schleichenden Enteignung der Sparer und zur Sprache. Die Forderung, nicht nur ethisch-morali- übermäßigen Belastung der Steuerzahler in den pro- sche Fragen völlig aus der EU-Kompetenz auszu- sperierenden Staaten. Die Partei fordert eine Vermö- klammern, sondern EU-Recht bei Veto eines natio- gensabgabe in den Euro-Krisenländern. nalen Parlaments in dem betroffenen Land nicht an- 2.3.3. Sozialpolitik zuwenden, würde den Charakter der EU grundlegend ändern. Die EU wäre dann ihrer supranationalen Ele- Die AfD will Wirtschafts- und Sozialpolitik im rein mente völlig beraubt und ein reiner Staatenbund. nationalen Rahmen verfolgen. Trotz der überwie- Auch eine bestimmte Anzahl von Bürgern und die gend marktliberalen Ausrichtung betont die AfD, Regierungen der Nettozahler sollten EU-Rechtsakte Wirtschaft sei kein Selbstzweck, sondern müsse per Veto stoppen können. Die AfD will die integrati- „den Menschen dienen“, und ruft nach einer “ver- onsbefördernde Rolle des EuGH relativieren (u.a. lässliche[n] soziale[n] Absicherung für Geringver- durch einen neuen Susidiaritäts-Gerichtshof), den diener“ zur Gewährleistung eines „menschenwürdi- Rechnungshof aber stärken und die Ausgaben durch ge[n] Leben[s] und ein[es] Mindestmaß[es] an sozia- die Verringerung der Zahl der Kommissare und die ler Teilhabe“ (AfD 2014a: 14). Flächendeckende ge- Halbierung der Beamtenstellen binnen sieben Jahren setzliche Mindestlöhne gefährdeten jedoch Ar- massiv senken. beitsplätze, weshalb der Staat stattdessen Einkom- mensbeihilfen leisten solle. Der Missbrauch von Die Erweiterungspolitik soll durch die Bindung an Leiharbeit und Werkverträgen solle lediglich durch Volksabstimmungen und durch den Vorrang der verstärkte Kontrollen bekämpft werden. Konsolidierung auf absehbare Zeit gestoppt werden. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seien an- Die einzige aus AfD-Sicht sinnvolle Maßnahme ei- gesichts der „geografische[n], kulturelle[n] und his- ner Gesundheitspolitik auf EU-Ebene ist ein Preisre- torische[n] Grenzen“ sofort zu beenden (AfD 2014a: ferenzsystem zur Kostensenkung. 11). Die AfD befürwortet die GASP zwar im Grund- satz, aber nur dort, wo Interessenidentität aller Mit-

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2.3.4. Gesellschaftspolitik gement). Die vielfältigen Forderungen adressieren teils auch die Bundesebene. Die AfD betont die Bedeutung von Datenschutz, Post- und Fernmeldegeheimnis und wendet sich ge- 2.4.1. Europapolitik gen die anlasslose Datenspeicherung und das SWIFT- und Fluggastdatenabkommen. Außer in der Herleitung in der Präambel wird die Europapolitik nicht thematisiert. Migration wird, wie Die Partei lehnt das Gender Mainstreaming ab. Bei in den vorhergehenden Programmen, differenziert Stellenbesetzungen sollten Behinderte und pflegende thematisiert, wobei die Forderungen nach „Mitspra- Angehörige bei gleicher Qualifikation bevorzugt cherechte[n] von Bürgern und Kommunen bei der lo- werden; nicht jedoch Frauen. kalen Unterbringung von Asylbewerbern“ und zügi- Die AfD sieht die „Erhöhung der Akademikerquote“ ger Abschiebung abgelehnter Asylbewerber hinzu- mit der Folge einer „noch größere[n] Massenuniver- kommen (AfD 2014b: 9). sität“ kritisch (AfD 2014a: 17). Stattdessen sei das 2.4.2. Steuerpolitik System der dualen beruflichen Ausbildung europa- weit auszubauen. Die AfD trifft keine Aussagen zur Steuerpolitik, for- dert aber eine Konsolidierung des Landeshaushalts, 2.3.5. Fazit der nur zu ca. 60 % aus eigenen Steuereinnahmen fi- Das bis dahin umfangreichste AfD-Programm ändert nanziert wird und dessen Ausgaben zu 90 % gebun- wenig an der bisherigen ideologischen Einschätzung den sind, durch Einnahmenerhöhung und Ausga- der Partei. Die Sicht auf die EU ist ambivalent. Die bensenkung, wobei nur Letzteres konkretisiert wird. Bejahung des Binnenmarktes einschließlich der Per- 2.4.3. Sozialpolitik sonenfreizügigkeit geht weit über das Maß an Ak- zeptanz durch (konservativ-liberale) EU-Kritiker Die AfD ruft nach einer flächendeckenden hochwer- hinaus. Die auf einen Umbau der EU zum Staaten- tigen medizinisch-pflegerischen Versorgung, auch in bund abzielenden Reformvorschläge und der gefor- den von Fortzug und Alterung betroffenen ländli- derte deutlich erschwerte Zugang von Zuwanderern chen Räumen. Besonders betont werden ein breites zu Sozialleistungen relativieren dies aber. Angebot und Wettbewerb verschiedener Anbieter/ Träger. Die Notfallversorgung solle ausgebaut werden. Die sozial-und steuerpolitischen Positionen sind sehr dünn. Das Bild einer eher marktliberalen Perspektive 2.4.4. Gesellschaftspolitik bei gleichzeitig ausgeprägter Status-quo-Orientierung bleibt bestehen. Die Familie wird nun wieder klar im konservativen Sinn „als Keimzelle der menschlichen Gesellschaft“, Die Gesellschaftspolitik bleibt ebenso ambivalent „auf die Weitergabe von Leben ausgerichtet“ und wie die Europapolitik: Klassisch liberale Positionen der Natur des Menschen gerecht“ werdend konzi- (Bürgerrechte) stehen neben konservativ-kulturpessi- piert (AfD 2014b: 10). Hiervon abgeleitet werden mistischen Topoi (Kritik an Gender Mainstreaming die Forderung nach Kita-Gebührenfreiheit, der Er- und Bildungsexpansion). weiterung des Ehegattensplittings zum Familiensplit- Begrenzte populistische Züge können allenfalls in ting (also der Steuersenkung für Eltern), die Einfüh- dem Ruf nach persönlicher Haftung in der Finanz- rung von Kinderfreibeträgen in der Sozialversiche- wirtschaft und dem evozierten Bild, hier finde eine rung und zur besseren Vereinbarung von Familie und ungerechtfertigte Bereicherung Einzelner auf Kosten Beruf bzw. Studium. der Sparer und Steuerzahler statt, erkannt werden. In der Bildungspolitik fordert die AfD unter Rekurs auf Humboldt ein breites, über wirtschaftsrelevante- 2.4. Landtagswahlprogramm Brandenburg 2014 funktionale Bildung hinausgehendes Bildungsideal. Das im Mai 2014 vom Landesparteitag beschlossene Die Familie wird aber als primärer Ort für Bildung Wahlprogramm ist mit 42 Doppelseiten das umfang- angesehen; die Forderungen in der schulischen Bil- reichste aller AfD-Programme. Die Präambel enthält dung entsprechen klassischen konservativen Vorstel- eine kritische Zeitanalyse, die zwar zunächst von lungen (gegliedertes Schulsystem, Wiederholung EU- und Eurorettung ausgeht, dann aber auf Bran- von Jahrgangsstufen, früher Übertritt, Förderschulen denburg heruntergebrochen wird (demografische statt Inklusion, Warnung vor „Akademisierungswahn“; Entwicklung, Auslaufen des Solidarpakts, Missmana- allerdings auch Abitur nach 13 Schuljahren).

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Die Brandenburger rücken die Kriminalitätsbekämp- Populistische Züge sind allenfalls in einigen Thesen fung in den Mittelpunkt (flächendeckende Polizeiprä- zur inneren Sicherheit erkennbar, in denen der Ein- senz, Einschränkung von Geschwindigkeitskontrollen, druck erweckt wird, die bisherige Politik vernachläs- leichtere Abschöpfung krimineller Gewinne, Ein- sige das Sicherheitsbedürfnis der Bürger. schränkung strafmildernder Umstände). Besonders au- genfällig sind die ausführliche Thematisierung der als 2.5. Resümee „besorgniserregend“ bezeichneten „Ausländerkrimi- Zur besseren Übersicht werden die wesentlichen Er- nalität“ (AfD 2014b: 26) – gefordert werden u.a. eine kenntnisse in der folgenden Tabelle zusammengefasst: Ausweitung der zwingenden und der präventiven Abschiebung und eine erleichterte Abschiebung Jugendli- Programm Bundestag Politische EP 2014 Landtag Bran- cher – und der Ruf nach Mindest- 2013 Leitlinien denburg 2014 strafen bei Angriffen auf Polizei- Europa- integrations- integrations- integrations- --- beamte. politik skeptisch skeptisch skeptisch 2.4.5. Fazit Steuer- marktliberal marktliberal (marktliberal) --- politik Der größte Kontrast zu den vorheri- Sozial- begrenzt sozi- (Status-quo- (Status-quo- begrenzt sozi- gen Programmen ist die weitgehen- politik alstaats-inter- orientiert) orientiert alstaats-inter- de Abwesenheit europapolitischer ventionistisch ventionistisch Themen. Die AfD versucht nicht, Gesell- konservativ z.T. progres- z.T. progres- überwiegend Bezüge zur EU-Ebene zu konstruie- schafts- siv, z.T. kon- siv, z.T. kon- konservativ ren, also z.B. die Haushaltslage mit politik servativ servativ der Eurorettung zu erklären. Dies populisti- begrenzt begrenzt begrenzt begrenzt kann als programmatische Verbrei- sche Züge terungsstrategie interpretiert werden. Abb.1: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse. Zuordnungen auf Der von den Medien teils transpor- der Basis nur weniger programmatischer Aussagen in (). tierte Blick eines „Rechtsrucks“ im Vorfeld der Landtagswahlen lässt Die ideologische Einordnung der AfD fällt auch sich anhand der untersuchten Politikfelder nur teil- nach der Programmanalyse nicht leicht. Die Befunde weise bestätigen: In der Tat sind die Positionen zu eines Mäßigungstrends (Franzmann 2014b) bzw. ei- Zuwanderung, Asyl und Kriminalitätsbekämpfung nes „Rechtsrucks“ konnten in dieser Eindeutigkeit (und auch in der Bildungspolitik) deutlich konserva- nicht bestätigt werden. tiver und autoritärer, wobei auch hier zu beachten ist, dass die AfD Deutschland klar als Zuwande- Die Programme werden im Zeitverlauf länger, aus- rungsland bezeichnet und die Zuwanderung im führlicher und differenzierter, was im Kontext der Grundsatz begrüßt. Die Forderungen sind zwar teil- Gründung und Konsolidierung der Partei zu sehen ist. weise identisch mit den Postulaten rechtsextremer In der Europapolitik wird die Partei 2014 in der Tat Parteien wie der NPD, sind aber in der Gesamtschau radikaler. Die Forderungen zum institutionellen Um- nicht weiter „rechts“ als die traditionellen Positionen bau sind weitgehend und würden im Ergebnis die von CDU und v.a. CSU, die ja jüngst ihr diesbezügli- EU auf den Status einer rein intergouvernementalen ches Profil mit dem Slogan „wer betrügt, der fliegt“ Internationalen Organisation reduzieren, deren zu schärfen versuchte. Politik-Ausstoß angesichts der Vetomöglichkeiten Trotz konservativer Topoi auf konzeptioneller Ebene auf den kleinsten gemeinsamen Nenner begrenzt sind die konkreten Forderungen in der Familien- bliebe. Unklar erscheint, wie dies mit der klaren Be- politik (Ausbau und Gebührenfreiheit der Kinderbe- fürwortung von Binnenmarkt, Personenfreizügigkeit treuung) eher progressiv, gerade im Vergleich zur und Wettbewerbspolitik vereinbar wäre. Die Beto- CSU (Betreuungsgeld). nung der Nato als alternativer Kooperationsarena zur EU ist ein typischer Topos der Integrationsskeptiker. In den untersuchten Politikfeldern wird die ansons- ten marktliberale Prägung der Partei nicht deutlich. Gleiches gilt für die Zuwanderungspolitik, bei der Die (spärlichen) Aussagen zur Sozialpolitik beinhal- die Partei, insbesondere im brandenburgischen Wahl- ten eher eine (moderate) Ausweitung sozialstaatli- programm deutlich konservativ-autoritärer auftritt als cher Intervention. in den bisherigen Programmen. Die hier vertretenen

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Positionen (Abschiebung Minderjähriger, Ausschluss men aber auch etablierte Parteien vor (z.B. die FDP von Sozialleistungen) sind durchaus eine Wende in bezüglich ökonomischer Reformen). Eine Populis- der migrationspolitischen Programmatik. Die Be- mus-Diagnose allein auf die Kritik an Eliten und zeichnung Deutschlands als Zuwanderungsland, die „Altparteien“ zu stützen (Neu 2014), greift insofern Befürwortung eines Arbeitsrechtes für Asylbewer- zu kurz, als fast alle neuen Parteien derartige Aussa- ber, das Bekenntnis zur Steuerung der Zuwanderung, gen treffen, und auch die frühen Grünen oder die Pi- die positive Bewertung von Zuwanderung als Berei- raten so etikettiert werden müssten. cherung und der Ruf nach einer Zuwanderung aus In der Steuerpolitik vertritt die AfD, soweit das auf- demografischen Gründen stellen dennoch einen grund der wenigen Aussagen konstatiert werden Bruch mit klassisch-konservativen Positionen dar. kann, im Wesentlichen die Positionen derjenigen Insgesamt erinnert die AfD auf diesem Politikfeld an CDU/CSU- und FDP-Anhänger, die die jüngste steu- liberal-konservative integrationsskeptische Parteien erpolitische Wende nicht mitgemacht haben. Aus- wie die britischen Konservativen, die Schweizer gangspunkt ist das Kirchhof-Konzept, das einen Ein- FDP oder die tschechische ODS, wobei die teils em- heitssteuersatz, die Streichung nahezu sämtlicher pathische Befürwortung der Integration, und insbe- Ausnahmetatbestände, und eine deutliche Absen- sondere der wirtschaftspolitischen Integration, an kung der Tarife vorsieht. Obwohl das Konzept posi- sich, Kontrapunkte darstellen. tive Folgen für die Allgemeinheit angibt (Einfach- heit, Gerechtigkeit, Wirtschaftswachstum) würde im Die pauschale Ablehnung eines EU-Beitritts der Tür- Ergebnis eine überproportionale Besserstellung von kei passt hingegen nicht in dieses Bild, da bürgerli- Gut- und Spitzenverdienern erzielt. Die AfD reflek- che EU-Skeptiker diesen üblicherweise befürworten, tiert weder Zielkonflikt zwischen einfach und ge- gerade um die supranationale Integration zu begren- recht (da ein pauschalisiertes Steuerrecht individuel- zen, und den Charakter der EU auf den einer Frei- le Umstände nicht berücksichtigt), noch die Gründe handelszone plus Binnenmarkt, ohne allgemein- dafür, warum Union und FDP inzwischen der Haus- politischen Überbau, festzulegen. haltskonsolidierung den Vorrang vor großflächigen Da die Partei weder die EU-Integration an sich noch Steuersenkungen einräumen, obwohl ein Zusammen- die deutsche EU-Mitgliedschaft an sich in Frage hang zur (von der AfD ja heftig kritisierten) Euroret- stellt, sollte man die AfD nicht als europa- oder EU- tungspolitik offenkundig ist. Die Unternehmensbe- kritisch (oder gar -feindlich) bezeichnen. Sinnvoller steuerung wird kaum thematisiert. wäre die Bezeichnung integrationsskeptisch, weil Die durchgehende Betonung „deutscher Interessen“ die Position zur EU insgesamt mit tiefer Skepsis ge- und die Forderungen nach einer Ausweitung des deut- genüber vertiefter (politischer) Integration bezeich- schen Gewichtes in der EU (bis hin zum Ruf nach net werden kann. Als nationalistisch im engeren dem unilateralen Veto gegen den ESM) weisen auf Sinn kann man die AfD auf der Grundlage ihrer Pro- eine Nähe zum neorealistischen Denken hin und be- grammatik nicht bezeichnen: Die AfD spricht sich so stätigen auch die Einstufung der AfD als national- klar für internationale Kooperation und die Nato aus, konservative Partei durch Niedermayer und Stöß. dass Welten zwischen ihr und etwa dem völkisch- neutralistischen Nationalismus der NPD liegen. Weniger eindeutig trifft dies jedoch auf die Charak- terisierung als marktradikal bzw. neoliberal zu: Wäh- Populistische Elemente weist die AfD durchaus auf, rend die Steuerpolitik ganz eindeutig marktliberal aber nur in begrenztem Maße: Die etablierten Partei- geprägt ist, weisen sowohl die sozial- als auch die en werden über einen Kamm geschoren, die apoka- gesellschaftspolitischen Aussagen große Ambivalen- lyptische Kritik an der Eurorettungspolitik wirkt zen auf. Zur Sozialpolitik wird sehr wenig gesagt. überzogen. In der Lobpreisung direktdemokratischer Die Partei verfolgt keinerlei größere Umbaupläne Elemente, die erkennbar auf die Rückabwicklung der und befürwortet in Brandenburg sogar eher eine mo- EU-Integration abzielt, und in der sehr holzschnittar- derate Sozialstaatsexpansion. Dies kann als rein tak- tigen Kritik an den südeuropäischen Krisenstaaten tische Anpassung an die Nachfrage in einem struk- wird, wie für Populisten üblich, das Bild eines „wir“ turschwachen, alternden Flächenland gesehen wer- gegen die „Anderen“ gezeichnet. Die Eurorettung den. Dennoch bleibt festzuhalten, dass hier keine ra- wird zwar unzulässig überhöht – die Programme ru- dikalen neoliberalen Reformen postuliert werden. fen den Eindruck hervor, ohne Eurorettungspolitik Die Aussagen zur Gesellschaftspolitik sind unein- würden alle anderen Probleme wie von Zauberhand heitlich und widersprüchlich. Die hier vorgestellten gelöst. Solche programmatische Zuspitzungen neh-

69 Aufsätze Anan – National, liberal, konservativ, populistisch? Die Programmatik der AfD MIP 2015 21. Jhrg.

Thesen sind insgesamt eher konservativ, teils aber erlaubt Rückschlüsse auf die innerparteilichen Kräf- erstaunlich progressiv. teverhältnisse, insbesondere neuer Parteien wie der AfD, deren Entwicklung sozusagen wie unter Labor- Die AfD als „deutsche Tea Party“ (Kemper 2013) zu bedingungen begleitet werden kann. Die Programme bezeichnen, greift daher zu kurz, wie überhaupt die erfüllen zudem, in den Worten Kaacks, Legitimati- Einschätzung als eindeutig marktliberale Kraft die ons- und Herrschaftsfunktionen: Interne Kritiker sozial- und familienpolitischen Kontrapunkte zu können sich auf das Programm berufen. Und, im Fal- übersehen scheint. Die hier vorgenommene Analyse le der AfD, die angesichts ihrer Attraktivität für das legt auch andere Schlüsse nahe: So kann die AfD rechtsextreme Umfeld zu Disziplinierungsmaßnah- ebenso gut als deutsche Entsprechung liberal-konser- men und Aufnahmestopps gegriffen hat, noch wich- vativer Parteien in integrationsskeptischen Staaten tiger: Die Parteiführung kan im Falle von Ordnungs- gesehen werden. Auch in der deutschen Parteienge- maßnahmen das Programm als Herrschaftsinstru- schichte gibt es gleich mehrere Traditionen, in der ment nutzen. Die Konkretisierung der Programme, eine solche Partei stehen könnte: Neben den natio- wie sie die AfD derzeit vornimmt – der Parteitag im nalliberalen Parteien, vom Kaiserreich bis zur FDP Januar 2015 soll Weichenstellungen in der Sozial- der 1950er-Jahre, bieten sich hier auch, auch wegen und Steuerpolitik vornehmen – birgt für neue Partei- der Verbindung von elitärer Führung und angestreb- en aber auch Risiken in der Form der Abwendung ter Breitenwirkung, die Linksabspaltungen der kon- enttäuschter Anhänger. Nicht ohne Grund vermied servativen Parteien (Freikonservative Partei 1867, Die Linke ganze vier Jahre lang die Verabschiedung Volkskonservative Reichsvereinigung 1929) an. eines ordentlichen Grundsatzprogramms. Bekundeten anlässlich der Gründung der WASG de- Bei der AfD ist die weitere Entwicklung abzuwarten. ren Anhänger teils, man sehne sich schlicht nach der So stellte die jüngste islamkritische Wende der AfD SPD der 1980er-Jahre, so lässt sich mit Blick auf die in Form der Unterstützung der Pegida-Proteste (Bi- AfD sagen, dass die AfD-Programmatik diejenigen elicki/Schneider 2014), so sie sich auch auf program- Unions- und FDP-Anhänger anspricht, die die jüngs- matischer Ebene manifestieren würde, einen klaren ten steuer-, sozial- und gesellschaftspolitische Wen- Bruch mit der bisherigen Linie dar. de nicht mitgemacht haben. Die Positionierung zwi- schen der modernisierten Merkel-CDU und der steu- Literatur und Quellen erpolitisch entkernten Post-Westerwelle-FDP einer- Quellen: seits und den stigmatisierten Rechtsparteien anderer- seits ist ein sehr wahrscheinlicher Entwicklungspfad. AfD, Wahlprogramm zur Bundestagswahl, Berlin Die Modernisierung der Union und der Abstieg der 2013a. FDP sind daher zwei wichtige Hintergründe für den AfD, Mut zur Wahrheit, Politische Leitlinien der AfD-Erfolg. Die Partei zeigt sich aber flexibel für AfD, Berlin 2013b. Priming-Strategien wie der Neupositionierung zu Migration und Sicherheit in den ostdeutschen Land- AfD, Mut zu Deutschland, Für ein Europa der Viel- tagswahlkämpfen. falt, Programm für die Wahl zum Europäischen Par- lament, Erfurt 2014a. Um derartige Einschätzungen auf eine breitere Basis AfD, Bodenständig und frei leben, Das Programm zu stellen müssten natürlich sehr viel gründlichere der AfD für die Landtagswahl 2014, Potsdam 2014b. programmatische Untersuchungen durchgeführt wer- den. Neben weiteren Politikfeldern wäre nach dem Muster Franzmanns (2014b) die Programmatik im Literatur: weiteren Sinne (Reden, parlamentarische Anträge, Twitter/Facebook) zu analysieren. Gerade bei der Bebnowski, David/Förster, Lisa, Wettbewerbspopu- AfD stehen Statements und Programm teils im offe- lismus, Frankfurt (Main) 2014. nen Widerspruch. Beyme, Klaus von, Parteien in westlichen Demokra- tien, München 1982. Programmanalysen können, trotz Kenntnis der strate- gischen Dimension von Programmen, kryptopro- Bielicki, Jan/Schneider, Jens, AfD-Spitze unterstützt grammatische Verschleierungsstrategien nicht ent- Pegida, SZ, 10.12.2014. tarnen. Sie sind dennoch sehr wertvoll: Denn die of- Budge, Ian/Klingemann, Hans-Dieter Mapping fizielle Parteiprogrammatik, die ja vom Parteitag Policy Preferences, Estimates for Parties, Electors, bzw. vom Vorstand demokratisch beschlossen wird, and Governments 1945-1998, Oxford 2001.

70 MIP 2015 21. Jhrg. Anan – National, liberal, konservativ, populistisch? Die Programmatik der AfD Aufsätze

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71 Aufsätze Angenendt – Kooperation oder Konflikt? Vorzeitige Regierungsbeendigungen und elektorale Performanz in Westeuropa MIP 2015 21. Jhrg.

Kooperation oder Konflikt? Vorzeitige die elektorale Performanz der Regierungspartei(en) Regierungsbeendigungen und elektorale auswirken. Kabinettsbeendigungen rücken so vom Performanz in Westeuropa zu erklärenden zum erklärenden Phänomen. Es wird dafür plädiert, konzeptionell nicht ausschließlich

1, 2 zwischen dem Erreichen des regulären Endes der Le- Michael Angenendt, M.A. gislaturperiode und vorzeitigen Kabinettsbeendigun- gen zu unterscheiden (vgl. Smith 1996, 2003, 2004; Lupia/Strøm 1995; Bergmann 2008), sondern vorzei- 1. Einleitung tige Kabinettsbeendigungen weiter zwischen konflikt- Konflikte zwischen Regierung und Opposition können reichen und kooperativen Formen zu differenzieren. den politischen Wettbewerb bereichern, aber auch zu In den beiden folgenden Kapiteln werden die theore- unerwünschtem Stillstand in politischen Arenen und tischen Argumentationsstränge – aufbauend auf dem zu Regierungsinstabilität führen, wenn der Wille der Ansatz rationaler Wahl – vorgestellt und diskutiert. politisch Verantwortlichen zur Einigung fehlt. In der Die abgeleiteten Hypothesen werden anschließend vergleichenden Koalitions- und Regierungsforschung operationalisiert und statistisch überprüft; abschlie- widmete man sich jedoch erst spät der Frage, warum ßend wird ein kurzes Fazit gezogen. einige Kabinette trotz inner- oder zwischenparteili- cher Konflikte das reguläre Ende der Legislaturperi- ode erreichen, andere hingegen nicht (Daamgard 2. Vorzeitige Kabinettsbeendigungen als rationale 2008: 324; Kropp 1999; Laver 2003). In der empi- Strategie nutzenmaximierender Parteien? risch ausgerichteten Forschung steht dabei die Suche Attestiert man Parteien konsequent egoistische Ver- nach Mechanismen zur Überwindung von Konflikten haltensweisen und den ausschließlichen Wunsch, ih- im Vordergrund, wie beispielsweise nach der Wirk- ren situativen Nutzen zu maximieren, befindet man samkeit von Koalitionsverträgen als Mittel der sich mitten in der Modellwelt des homo oeconomi- Selbstbindung politischer Parteien (vgl. Müller/Strøm cus. Mit Blick auf die Ziele nutzenmaximierender 2008; Elster 1984: 43; Kropp/Sturm 1998; Kropp Parteien formulierte Anthony Downs in seinem zum 2001) sowie Auswirkungen exogener Schocks, wie Klassiker avancierten Werk „Die Ökonomische wirtschaftliche Krisen, auf die Kabinettsstabilität Theorie der Demokratie“: „[..] [Party] members are (siehe u.a. Easton/Warwick 1992; Saalfeld 2008, motivated by their personal desire for the income, 2013). prestige, and power which come from holding office. In der Rational Choice orientierten Theorietradition […] Since none of the appurtenances of office can wird sich dabei häufig mittels spieltheoretischer Mo- be obtained without being elected, the main goal of delle der Analyse von Regierungsbeendigungen ge- every party is the winning of elections. Thus, all its widmet (Lupia/Strøm 1995; Strøm/Swindle 2002). actions are aimed at maximizing votes […]” (1957: Jüngere Forschungsansätze rücken dabei stärker den 34f.). In den darauf folgenden Jahren setzte sich je- dynamischen Charakter (parlamentarischer) Regie- doch die Erkenntnis durch, dass Parteien als kollekti- rungen in den Vordergrund, um ein besseres Ver- ve Akteure neben dem Ziel der Stimmenmaximie- ständnis zu erlangen, „[…] how the bargaining [wi- rung weitere Interessen verfolgen können, die mit- thin or between parties, Anm. des Verf.] that takes einander in Konkurrenz stehen. Im Gegensatz zur place today is conditioned by the events of yesterday ausschließlichen Konzentration von Parteien auf die as well as by what we expect from tomorrow“ Maximierung von Wählerstimmen wurden in der Re- (Strøm 2008: 538; siehe auch Martin/Vanberg 2008; gierungs- und Koalitionsforschung zunehmend Mo- Bergman et al. 2008: 10f.). delle entwickelt, die die „‘policy-blind‘ axioms“ (Strøm 1990: 567) der ersten Generation ökonomi- Anknüpfend an die Forderung, Kabinette in ihrem scher Politikforschung zu überwinden suchten (siehe „life cycle“ zu betrachten (Strøm 2008: 537f.; vgl. z.B. Axelrod 1970). Kaare Strøm plädiert dabei für auch Müller et al. 2008: 10), verschiebt der vorlie- die Unterscheidung zwischen den drei Zielen des gende Beitrag die Perspektive und konzentriert sich „vote-seeking“, „office-seeking“ und „policy-seeking“ auf die Beantwortung der Frage, ob und wie sich un- (Strøm 1990; Müller/Strøm 1999); Stimmenmaxi- terschiedliche Typen von Kabinettsbeendigungen auf mierung sei dabei idealtypisch in Zweiparteiensyste- men zu erwarten, während die vorrangige Orientie- 1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRuF. rung an Ämtern und der Durchsetzung von politi- 2 Für wertvolle Kommentare möchte ich mich bei Johannes Schmitt, Stefan Walfort und Jasmin Schmitt bedanken. schen Inhalten in Mehrparteiensystemen an Bedeu-

72 MIP 2015 21. Jhrg. Angenendt – Kooperation oder Konflikt? Vorzeitige Regierungsbeendigungen und elektorale Performanz in Westeuropa Aufsätze tung gewinne (Strøm 1990: 592ff.). Die Wahl der je- der Regierungsperformanz interpretieren und dies in weiligen Handlungsstrategie einer Partei im politi- der Entscheidungsfindung berücksichtigen, wodurch schen Wettbewerb richtet sich demnach, in Abhän- der Anreiz zur vorzeitigen Kabinettsauflösung obsolet gigkeit vom institutionellen Kontext, daran aus, wie wird: „Since upon seeing an early election voters as- sie die jeweiligen Ziele gewichtet (vgl. ebd.). sume that future outcomes are ‚bad‘, the government has no incentive to call an early election. If govern- Prima facie ließe sich somit vermuten, dass Parteien ments know future outcomes then all elections occur besonders an der vorzeitigen Beendigung des Kabi- at the last moment” (ebd.). Demzufolge profitierten netts interessiert sind, wenn sie – z.B. aufgrund guter Regierungsparteien letztlich an der Wahlurne nicht Umfragewerte – zu der Überzeugung gelangen, ihre von vorzeitigen Kabinettsbeendigungen, wenn sie Wiederwahlchancen dadurch im Vergleich zum Zeit- sich nichtsdestotrotz dafür aussprächen. punkt des regulären Ablaufs der Legislaturperiode zu erhöhen, um entweder mehr Wählerstimmen oder Empirische Befunde stützen die These für die unter- Regierungsämter zu erlangen bzw. ihre politischen suchten Einparteienregierungen in Großbritannien Ziele besser verwirklichen zu können (siehe u.a. (Smith 2003). Die vergleichende Analyse westeuro- Bernhard/Leblang 2008; Grofman/van Roozendaal päischer Staaten deutet jedoch auf einen gegenteili- 1994). Begünstigt wird die Entscheidung zur vorzei- gen Zusammenhang hin. Daher wird der Rückschluss tigen Regierungsbeendigung durch das Überra- gezogen, „that dissolution is most likely when parties schungsmoment gegenüber der Opposition, der bei expect large benefits from an election“ (Narud/Valen unerwartet einberufenen Wahlen weniger Zeit zur 2008: 378). Bei retrospektiver Beurteilung durch den Vorbereitung des Wahlkampfes zur Verfügung steht Wähler erscheinen vorzeitige Kabinettsbeendigun- (Smith 2004: 54ff.; kritisch dazu Strøm 2008). gen somit rational, wenn die Bewertung der vergan- genen Regierungstätigkeit positiv ausfällt, in der Bei näherer Betrachtung relativiert sich jedoch der Wahlentscheidung des Elektorats berücksichtigt und Nutzen vorzeitiger Wahlen: Zum einen ist die Einbe- das Signal vorzeitiger Kabinettsbeendigungen igno- rufung meist mit Kosten für die Regierungspartei(en) riert wird. Bei prospektiver Beurteilung durch den verbunden (Strøm/Swindle 2002: 579ff.). Erneute Wähler erscheinen vorzeitige Kabinettsbeendigun- Verhandlungen über die Verteilung von Ministerien gen hingegen irrational, da eine künftig abnehmende sind ebenso möglich, da gute Umfragewerte quasi als Regierungsperformanz antizipiert wird. Die Ent- ‚Verhandlungsbonus‘ genutzt werden können (Lupia/ scheidung zur vorzeitigen Kabinettsbeendigung wird Strøm 1995: 649). Zum anderen verschwindet das in beiden Varianten rationalen Handelns durch das Überraschungsmoment bei vollständiger Information Kabinett oder die Partei getroffen. Zwischen- bzw. der Akteure, da Oppositionsparteien frühzeitig die innerparteiliche Konflikte rücken daher aufgrund des Anreize der Regierungsparteien zur vorzeitigen Ka- Abstraktionsgrads in den Hintergrund, wodurch je- binettsbeendigung antizipierten und sich auf vorzei- doch mögliche Effekte konfliktreicher Regierungsbe- tige Wahlen einstellten. endigungen auf die elektorale Performanz ausgeblen- Des Weiteren fehlt in der Betrachtung ein zentraler det und theoretisch nicht spezifiziert werden. Akteur – der Wähler: Regierungen können exklusive Informationen über künftige politische, gesellschaft- 3. Kooperation in (Koalitions-)Regierungen als liche oder ökonomische Entwicklungen besitzen und kollektives Gut somit einen Informationsvorsprung gegenüber ihren potenziellen Wählern besitzen. Veranlasst dies die Die Betrachtung einer Partei als handelnder Akteur Regierung zu der Überzeugung, künftig produzierte setzt implizit homogene Präferenzen der entschei- Ergebnisse werden vom Elektorat weniger präferiert dungsrelevanten Individuen innerhalb der Regie- als gegenwärtige, so wächst der Anreiz zur vorzeiti- rungspartei(en) voraus, sodass innerparteiliche Kon- gen Regierungsbeendigung, um bei Neuwahlen von flikte bei der Analyse ignoriert werden. Zugespitzt der aktuellen Stimmungslage zu profitieren. Über- formuliert wird Parteien unterstellt, als kollektive wiegt die Überzeugung, künftige Ergebnisse werden Akteure ihre Handlungen rational an den zu erwar- vom Wähler stärker präferiert als gegenwärtige, so tenden Konsequenzen auszurichten, während ihre wird die Regierung ceteris paribus bis zum regulären Mitglieder sich bedingungslos für das Wohl ihrer Ablauf der Legislaturperiode im Amt bleiben (Smith Partei einsetzen. In der vergleichenden Regierungs- 1996: 97). Unter Annahme, dass Wähler Parteien ein und Koalitionsforschung wurde in den vergangenen strategisches Kalkül unterstellen, wird das Elektorat Jahren jedoch zunehmend darauf verwiesen, dass vorzeitige Wahlen jedoch als Signal künftig sinken- dieser Abstraktionsgrad voraussetzungsvoll und als

73 Aufsätze Angenendt – Kooperation oder Konflikt? Vorzeitige Regierungsbeendigungen und elektorale Performanz in Westeuropa MIP 2015 21. Jhrg. analytischer Rahmen nicht immer sinnvoll ist (u.a. Fraktions- und Regierungsmitglieder an der Bereit- Saalfeld 2005; Müller 2005, außerhalb der Koaliti- stellung des Kollektivguts „Regierungsstabilität“ onsforschung auch Bukow 2013). scheitern, läuft Gefahr, bei der nächsten Wahl auf- grund des „politischen Reputationsverlustes“ Stim- Aufgrund der Funktionslogik parlamentarischer De- menverluste zu erleiden (Müller 2005: 81). Vermit- mokratien lässt sich beispielsweise zwar oft, jedoch telt eine Partei in der Öffentlichkeit das Bild, ihre nicht ausnahmslos, ein geschlossenes Abstimmungs- Mitglieder strebten nach nichts anderem als der Er- verhalten der Abgeordneten einer Fraktion beobach- langung von Parlamentssitzen oder Regierungsäm- ten (Saalfeld 2005: 37). Auch zerbrachen zwischen tern, „then that party will be seen to be whoring after 1945 und 1999 knapp ein Sechstel der Koalitionsre- votes. A voter cannot plausibly use party positions to gierungen aufgrund innerparteilicher Differenzen express where she stands if the party itself ‚stands (Saalfeld 2005: 37f.; Müller/Strøm 2000: 586). Inso- for nothing‘ or is seen to stand for nothing” (Bren- fern stellt das einheitliche Erscheinungsbild einer nan/Hamlin 2000: 147f.). Es ergibt sich die paradoxe Partei selbst ein erklärungsbedürftiges Kollektivgut Situation, dass die bewusste Verfolgung der eigenen dar, weil einzelne Abgeordnete und/oder Minister ideologischen oder karrierebezogenen Ziele der Er- einen Anreiz besitzen, ihre individuellen ideologi- reichung der eigenen Ziele im Wege steht: „The dis- schen oder karrierebezogenen Ziele auch auf Kosten position of rational egoism [...] tells you to take the der Partei durchzusetzen (ebd.: 39). Dies ist der Fall, action which […] makes your life go best for you wenn Parlamentarier „cross pressures“ ausgesetzt […]. But the disposition of rational egoism is not sind, z.B. wenn die Interessen der Bürger im Wahl- necessarily the disposition that will make your life kreis mit den Interessen der eigenen Partei kollidieren. go best for you (ebd: 35f.). Es stellt sich die zunächst Im Gegensatz dazu ist ein „[…] einheitliches Erschei- theoretisch zu beantwortende Frage, ob das Elektorat nungsbild der Fraktionen [...] im Wettbewerb der Par- durch Stimmenentzug das konfliktreiche Scheitern teien an den Wahlurnen und im Parlament ein Kollek- von (Koalitions-)Regierungen negativ sanktioniert, tivgut, das von den Mitgliedern einer Fraktion nur ge- da das Kollektivgut „Regierungsstabilität“ nicht be- meinsam erzeugt werden kann“ (Saalfeld 2005: 38). reitgestellt werden konnte. Folgt man der These, dass die Verhandlungssituation sowohl innerhalb einer Regierungspartei als auch 4. Auswirkungen vorzeitiger Kabinettsbeendi- zwischen zwei oder mehreren Koalitionspartnern gungen auf das Elektorat „[…] durch eine Gemengelage kooperativer und konfliktiver Motive gekennzeichnet ist“ und Parteien Als rationale Akteure entscheiden sich Parteien zu das Interesse besitzen, „eine wählerwirksame Repu- einer vorzeitigen Kabinettsbeendigung. Dem Elekto- tation erfolgreicher politischer Führung aufzubauen rat ist insofern bekannt, dass die amtierende Regie- und zu bewahren“ (Saalfeld 2005: 40; siehe auch rung eine Handlungsalternative zur vorzeitigen Kabi- Franzmann 2011), dann dient eine vorzeitige Kabi- nettsbeendigung gehabt hätte. Je nachdem welche nettsbeendigung aufgrund inner- oder zwischenpar- Handlung gewählt wird, lässt sich zwischen koopera- teilicher Konflikte dem Wähler als Signal, dass kon- tivem und kompetitivem Verhalten der Regierungs- fliktorientiertes Verhalten gegenüber kooperativen partei(en) unterscheiden: Es werden nur so lange ko- Strategien überwog. „Koalitionsuntreue“ (Müller operative Verhaltensweisen vorherrschen, wie dies 2005: 75; 101) wird demnach für die an der Regie- der Beibehaltung oder Verbesserung des Status Quo rung beteiligten Parteien langfristig zu Nachteilen im der jeweiligen Partei(en) dient. Eine vorzeitige Re- politischen Wettbewerb führen, „etwa wenn sie [die gierungsbeendigung würde vom Wähler als Zeichen Politiker; Anm. des Verf.] mit einer bestimmten Ko- einer kompetitiven Strategie der Parteien interpretiert alition assoziiert werden, die durch ‚Untreue‘ diskre- (Narud 2008: 377f.; vgl. auch Narud/Irwin 1994). Au- ditiert ist“ (ebd.: 76). In diesem Sinne dienen etwa ßer Acht gelassen wird dabei die Möglichkeit vorzei- Koalitionsverträge als Versuch, „Ansprüche zu fixie- tiger Koalitionsbeendigungen aufgrund gemeinsa- ren und Meßlatten zu etablieren, die willkürliche men Beschlusses aller Koalitionsparteien. Dies äu- Machtausübung eines Koalitionspartners mit Kosten, ßert sich beispielsweise im Wahlkampf durch das insbesondere mit politischem Reputationsverlust, Werben um Zustimmung für die Fortführung der bis- [zu] belegen“ (ebd.: 81ff.). herigen Koalition in der nächsten Legislaturperiode. Saalfeld (2005) und Müller (2005) machen damit auf Es lassen sich somit analytisch zwei mögliche For- die langfristigen, negativen Konsequenzen für (Re- men der vorzeitigen, strategischen Kabinettsbeendi- gierungs-)Parteien aufmerksam: Eine Partei, deren gung voneinander differenzieren: Eine konfliktreiche

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Variante, in der kompetitive Strategien vorherrschen, als dysfunktional beschriebene Konflikte innerhalb sowie eine kooperative Variante, die auf dem Kon- der Regierung: „[..] weakness or decay has always sens der relevanten Akteure zur Veränderung des been the dominant interpretation when such conflic- Status Quo beruht. Empirisch zeigt sich dies in Koali- ting ambitions have influenced the internal life of ca- tionsregierungen an der „Koalitionsuntreue“ (Müller binets in parliamentary systems“ (Bergman et al. 2005) mindestens einer Koalitionspartei, in Einpar- 2013: 35). Aufgrund der vorangegangenen Argumen- teienregierungen an einem Konflikt zwischen den tation wird folgende Hypothese geprüft: Faktionen innerhalb der Partei, zwischen einzelnen Hypothese 2: Wenn Koalitionskabinette Kabinettsmitgliedern oder zwischen Kabinett und aufgrund inner- oder zwischenparteilicher Regierungsfraktion. Konflikte vorzeitig beendet werden, In Koalitionsregierungen können die Einschätzungen werden die Kabinettsparteien bei den über die erwarteten Gewinne und Verluste vorzeiti- folgenden Wahlen ein durchschnittlich ger Wahlen nicht nur innerhalb sondern auch zwi- geringeres Wahlergebnis erreichen als schen den Parteien variieren, da mit zunehmender bei einer kooperativen vorzeitigen Ka- Zahl der an der Regierung beteiligten Parteien die binettsbeendigung. Chance sinkt, dass alle gleichermaßen profitieren In der folgenden Analyse werden daher nur vorzeiti- (Strøm 2008: 541). Die Wahrscheinlichkeit einer ge Kabinettsbeendigungen untersucht und empirisch einvernehmlichen Veränderung des Status Quo sollte überprüft, ob, je nach Beendigungsform, ein Unter- demnach sinken, je mehr Vetospieler vorhanden sind schied im durchschnittlichen Wahlergebnis vorzufin- (ebd.; siehe auch Tsebelis 2002). Dissens kann es den ist. Wie Fisher und Hobolt empirisch zeigen, auch am Kabinettstisch einer Einparteienregierung wird vor allem die Partei des Regierungschefs für die geben, ebenso zwischen der regierenden Partei und Leistung oder Fehlschläge der Koalition verantwort- ihrer Parlamentsfraktion. Koalitionsregierungen las- lich gemacht: „[…]in an increasingly personality-fo- sen dies nur wahrscheinlicher werden. Folgende cused media environment, the government perfor- These wird daher aufgestellt: mance may also be closely associated with the prime These 1: Konfliktreiche Regierungsbeen- minister`s performance“ (2010: 361). Wenn die Par- digungen treten häufiger in Koalitions- tei des Regierungschefs aufgrund ihrer zentralen Po- regierungen als in Einparteienregierun- sition im Kabinett in der Öffentlichkeit für das gen auf. Scheitern der Koalition als verantwortlich betrachtet wird, sollte sie ein durchschnittlich geringeres Wahl- Wenn ein wesentliches Merkmal der Führungsfunk- ergebnis erreichen als bei einvernehmlicher Be- tion einer Regierung ihr „ziel- und problemorientier- schlusslage zur vorzeitigen Kabinettsauflösung. So- te[s] Entscheiden“ ist (Böhret 1991: 146) und koope- mit lässt sich folgende Hypothese formulieren: rative Handlungsstrategien Ausdruck dieses Merk- mals sind (Kropp 2001: 265), dann sollte sich dies Hypothese 3: Wenn Koalitionskabinette im Vergleich zur konfliktreichen Kabinettsbeendi- aufgrund inner- oder zwischenparteilicher gung empirisch in einer positiveren elektoralen Per- Konflikte vorzeitig beendet werden, formanz manifestieren. Kiss spricht in diesem Zu- dann wird die Partei des Regierungs- sammenhang von einem „diskreten Team Bonus“ chefs bei den folgenden Wahlen ein (2009: 414; eigene Übersetzung), wenn es die Koali- durchschnittlich geringeres Wahlergeb- tionspartner schaffen, aufkommende inner- und zwi- nis erreichen als bei einer kooperativen schenparteiliche Differenzen zu überwinden und die vorzeitigen Kabinettsbeendigung. permanente Gefahr aufziehender Konflikte abgewen- Die theoretische Analyse und empirische Überprü- det wurde (siehe auch Kropp 1999: 61). In der Öf- fung von Kabinettsbeendigungen fokussiert sich zu- fentlichkeit spiegelt sich die gelungene Koordination meist auf die Beendigung von Koalitionsregierun- der Kabinettsmitglieder u.a. an der einheitlichen Äu- gen, die Annahme eines möglichen Reputationsver- ßerung zu zentralen politischen Themen wider lustes bei konfliktreichen Regierungsbeendigungen (Machnig 2009). Konflikt ist also nicht gleich Kon- beschränkt sich jedoch nicht ausschließlich auf Ko- flikt: Einerseits existieren demokratietheoretisch alitionen: Auch in einer Einparteienregierung kann wünschenswerte Konflikte zwischen Regierung und es zwischen den Kabinettsmitgliedern sowie zwischen Opposition, die als Zeichen eines funktionierenden dem Kabinett und der Regierungsfraktion zu Kon- politischen Wettbewerbs gedeutet werden (Schneider flikten kommen. In Koalitionsregierungen können 1974: 128ff.; Oppermann 2008: 124ff.), andererseits

75 Aufsätze Angenendt – Kooperation oder Konflikt? Vorzeitige Regierungsbeendigungen und elektorale Performanz in Westeuropa MIP 2015 21. Jhrg. zudem veränderte Rahmenbedingungen – die wirt- gen Beendigung führten, ebenso wie Konflikte zwi- schaftliche Situation oder äußere Bedrohungen – die schen der Regierungsfraktion und dem Kabinett oder Strategien der amtierenden Koalitionsparteien aus dem Regierungschef und seinen Ministern. Proble- dem Gleichgewicht bringen, wodurch die gemeinsa- matisch an der Operationalisierung eines Konfliktes me Schnittmenge für künftig getragene Gesetzesvor- ist, dass eine parlamentarische Niederlage nicht not- schläge schwindet. In solchen Situationen kann der wendigerweise auf einen Konflikt innerhalb der Re- Wunsch des Wählers nach einer einseitigen Koaliti- gierung schließen lässt, z.B. wenn es sich um eine onsbeendigung durch die von ihm präferierte Partei Minderheitsregierung handelt. Ein solcher Fall deu- wachsen; versammelt „seine“ Partei jedoch die tet eher auf eine geeinigte Opposition hin. Der pro- Mehrheit der Abgeordneten im Parlament hinter beweise Ausschluss der Kabinette zeigte jedoch kei- sich, so ist die Verantwortungszuschreibung bei ei- ne Veränderung in den Ergebnissen der Datenanaly- ner vorzeitigen Kabinettsbeendigung eindeutiger. se. Da dies zudem nur auf wenige Kabinette zutrifft, Wenn in einer Koalitionsregierung insbesondere die wurden sie in der Ergebnisdarstellung berücksichtigt. Partei des Regierungschefs für das vorzeitige Schei- Die genannten Konfliktpotenziale müssen des Weite- tern der Regierung zur Verantwortung gezogen und ren nicht immer zu einer unmittelbaren Neuwahl an der Wahlurne durch Stimmentzug sanktioniert führen. Da Kabinette nach gängiger Definition in der wird, sollte dies demnach ebenso für den Regie- Literatur nicht nur nach jeder Wahl als beendet gel- rungschef einer Einparteienregierung gelten. ten, sondern auch bei jeder Veränderung der an ihr Hypothese 4: Wird eine Einparteienre- beteiligten Parteien, kann auch nach dem Ausschei- gierung aufgrund innerparteilicher Kon- den eines oder mehrerer Koalitionspartner eine Min- flikte vorzeitig beendet, so wird die am- derheitsregierung noch einige Zeit weiter amtieren5. tierende Partei bei den folgenden Wahlen Die abhängige Variable erfasst im Folgenden die ein durchschnittlich geringeres Wahler- Veränderung der Prozentpunkte des gesamten Kabi- gebnis erreichen als bei einer kooperati- netts bzw. der Partei des Regierungschefs im Ver- ven vorzeitigen Kabinettsbeendigung. hältnis zu ihrem letzten Wahlergebnis. Die elektorale Performanz von Koalitionen setzt sich demnach aus 5. Westeuropäische Regierungen im empirischen den summierten Anteilsverlusten oder Gewinnen der Vergleich Regierungsparteien zusammen. Für die Untersuchung der Hypothesen stehen die Daten Vorzeitige Kabinettsbeendigungen sind empirisch des „Comparative Parliamentary Data Archive“ zur keine Seltenheit in Westeuropa, wie die Betrachtung Verfügung, die alle demokratisch verfassten Kabi- der relativen Häufigkeiten zeigt. Der Befund bestä- nette des politischen Westeuropas in der Zeit von tigt damit frühere Befunde (u.a. von Beyme/Eileen 1945 bis Ende der 1990er Jahre umfassen3. Die für 1985): Weniger als die Hälfte der Ein- und Mehrpar- die vorliegende Untersuchung relevante Grundge- teienregierungen erreichten den regulären Ablauf der samtheit besteht aus allen Regierungen, die vor dem Legislaturperiode. Ablauf der regulären Legislaturperiode aufgrund des Tab. 1: Typen von Kabinettsbeendigungen in Westeu- strategischen Handelns der Regierungspartei bzw. ropa (1945-1999) den Koalitionsparteien beendet wurden. Nicht-strate- gische Beendigungen, z.B. durch den Tod des Regie- Beendigungsgrund Koalitions- Einparteien- rungschefs, werden von der Analyse ausgeschlossen4. regierungen regierung Vorzeitige Kabinettsbeendigungen werden als Dummy- Ablauf der Legislaturperiode 38% 45% Konfliktreiche vorzeitige Variable erfasst. Die Ausprägung für konfliktreiche 51% 24% Beendigungen umfasst Kabinette, die aufgrund einer Beendigung parlamentarischen Niederlage, Uneinigkeit über poli- Einvernehmliche vorzeitige 11% 31% tische Zielsetzungen oder persönliche Konflikte zwi- Beendigung schen den Regierungsmitgliedern zu einer vorzeiti- Gesamt 100% 100% N 242 132 3 Für detaillierte Informationen zum Datensatz siehe Bergmann et al. 2008: 89ff. 5 Die Definition stammt vom Projekt für vergleichende parla- 4 Zumindest wird unterstellt, dass dies nicht strategisch geplant mentarische Demokratieforschung und liegt auch der Kodie- wird, um seiner Partei bei der nächsten Wahl ein besseres rung eines Kabinetts im Datensatz zur Grunde (vgl. Müller/ Wahlergebnis zu verschaffen. Strøm 2000; Strøm et al. 2008).

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Fast zwei Drittel aller Koalitionsregierungen erreich- gen, im Gegensatz zum gesamten Kabinett, durch- ten nicht das reguläre Ende der Legislaturperiode schnittlich von einer vorgezogenen Wahl und erlangt (62%). Erwartungsgemäß endeten nur wenige Koali- ein höheres Wahlergebnis als bei vorherigen Kon- tionen einvernehmlich (11%). Hingegen kam es in flikten; gleiches gilt für Einparteienregierungen. Die- etwas mehr als der Hälfte der Fälle (51%) aufgrund se Befunde deuten auf eine Bestätigung der dritten von Konflikten zwischen den Regierungsparteien zu und vierten Hypothese hin. Allerdings wurden noch einem vorzeitigen Koalitionsbruch, während nur keine potenziellen Drittvariableneffekte berücksich- knapp ein Viertel aller Einparteienregierungen inner- tigt. Bei allen Angaben ist zudem die sehr hohe Stan- parteilichen Konflikten erlagen. Eine auf Konsens dardabweichung zu berücksichtigen, die somit auf beruhende vorzeitige Kabinettsbeendigung tritt hin- eine große Varianz im Wahlerfolg der Parteien zwi- gegen bei Einparteienregierungen knapp dreimal schen den Ländern oder über die Zeit hinweg hin- häufiger auf als bei Koalitionsregierungen. These 1 deutet. Auffällig sind die besonders starken Einbu- lässt sich daher (vorläufig) verifizieren. Die Folge- ßen von Einparteienregierungen in ihrer elektoralen rung liegt nah, dass sich die Präferenzen der Akteure Performanz, wenn die Regierung vorzeitig aufgrund innerhalb einer Partei stärker ähneln als zwischen eines Konflikts beendet wurde. Bei einvernehmli- den Parteien und somit ein Konsens für Einparteien- chen Regierungsbeendigungen wird hingegen eine regierungen leichter zu erreichen ist. Die Befunde leicht positive Veränderung im Wahlergebnis er- weisen damit auf eine Relativierung der theoreti- reicht. schen Annahme hin, „that even cabinet members Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass Kabinet- with strong incentives to pursue a personal agenda te nicht pauschal statistisch von konfliktfreien vor- may opt to toe the party line and unite behind what zeitigen Regierungsbeendigungen profitieren: Wäh- they consider a deficient party leadership in order to rend die an der Koalition beteiligten Parteien im Ag- maintain a united front against the opposition“ gregat schlechter abschneiden als nach dem regulä- (Bergman et al. 2013: 37). ren Ablauf der Legislaturperiode, kann die Partei des Tab. 2: Durchschnittliche elektorale Performanz west- Regierungschefs sowohl in einer Koalition als auch europäischer Regierungen (1945-1999/Standardabwei- in einer Einparteienregierung von einer nicht kon- 6 chung in Klammern) fliktreichen vorzeitigen Regierungsbeendigung profi- Beendigungs- Koalitions- Partei des Re- Einparteien- tieren. grund regierungen gierungschefs regierungen Um festzustellen, inwieweit die Befunde in Tabelle in Koalitions- 2 auf die Umstände einer vorzeitigen Beendigung zu- regierungen rückzuführen sind, werden in der folgenden multiva- Regulärer Ab- -3,10 (7,6) -1,47 (4,6) -3,40 (5,2) riaten Analyse mögliche intervenierende Einflüsse lauf der Legis- auf das Wahlergebnis berücksichtigt. Als wichtig laturperiode wird dabei in der Literatur der Status der Regierung Konfliktreiche -2,47 (6,0) -1,14 (5,1) -4,35 (8,3) als Minderheitskoalition (Andeweg/Timmermans vorzeitige Be- 2008: 279; Narud/Valen 2008: 371), die programma- endigung tische Nähe der Kabinettsparteien (Narud/Valen Einvernehmli- -3,14 (7,8) 0,35 (3,5) 0,30 (5,5) 2008: 378; De Swaan 1973), die Polarisierung im che vorzeitige Parlament (Sartori 1966: 158; Narud/Valen 2008: Beendigung 372), die relative Kabinettsdauer (Lupia/Strøm 1995: N 238 228 132 656) sowie die Veränderung der Arbeitslosigkeit seit Regierungsbeginn (Kellermann/Rattinger 2007) er- achtet. Bei konfliktreichen Koalitionsbeendigungen erleidet Da die Analyse sowohl mehrere Länder als auch ver- das gesamte Kabinett durchschnittlich die geringsten schiedene Zeiträume umfasst, soll die Gefahr gemin- Verluste im Verhältnis zu den beiden übrigen Vari- dert werden, weitere empirisch relevante Einfluss- anten der Regierungsbeendigung. Der Befund deutet faktoren unberücksichtigt zu lassen. Deshalb werden zunächst auf die Ablehnung der zweiten Hypothese zusätzlich Dummy-Variablen zur Kontrolle spezifi- hin. Die Partei des Regierungschefs profitiert hinge- scher Länder- und Zeiteffekte aufgenommen, die der 6 Kabinette mit parteilosem Regierungschef wurden nicht bei Übersichtlichkeit halber jedoch nicht in Tabelle 3 der Darstellung der elektoralen Performanz der Regierungs- und 4 ausgewiesen werden (vgl. dazu Grofman/van partei berücksichtigt. Daher liegt in zehn Fällen nur das Er- gebnis für das gesamte Kabinett vor. Roozendaal 1997: 450).

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Tab. 3: Elektorale Performanz westeuropäischer Koalitionsregierungen (1945-1999; Standardfehler jeweils in Klammern) Koalition Partei des Regierungschefs

Variablen Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Konfliktreiche vorzeitige Kabinettsbeendigung 0,72 (1,50) -1,66 (1,10) -1,21 (1,11) (Referenz: einvernehmliche vorzeitige Beendigung) Minderheitsregierung 1,73 (1,14) 1,52 (1,16)

Programmatische Nähe der Kabinettsparteien -0,04 (0,02) -0,03 (0,02)

Relative Kabinettsdauer (%) -0,55 (1,51) -0,88 (1,54)

Polarisierung im Parlament 0,17** (0,06) 0,16** (0,06)

Veränderung der Arbeitslosenquote -0,31 (0,18) -0,31 (0,18) Länder- und Zeiteffekte … …

R-Quadrat 0,00 0,02 0,40 0,41 Korrigiertes R-Quadrat 0,00 0,01 0,27 0,27 N 129 125 125 125 5% - Niveau = * 1% - Niveau = ** 0,1% - Niveau = ***

Der unstandardisierte Regressionskoeffizient B im übt somit auch auf die elektorale Performanz der ersten Modell zeigt, dass Koalitionsparteien bei ei- Partei des Regierungschefs keinen statistisch bedeut- ner konfliktreichen, im Gegensatz zu einer einver- samen Einfluss aus. Der empirische Befund wird zu- nehmlichen, vorzeitigen Beendigung bei den folgen- sätzlich durch den Standardfehler erhärtet, der in den Wahlen im Durchschnitt wider Erwarten ihr etwa die Größe des Koeffizienten B aufweist. Die Wahlergebnis um 0,72 Prozentpunkte steigern kön- spezifischen Gründe vorzeitiger Regierungsbeendi- nen7. Da der Effekt jedoch insignifikant ist und der gungen scheinen für den Wähler daher von größerer Anteil erklärter Varianz bei null Prozent liegt, gilt Bedeutung zu sein als das Nichterreichen des regulä- Hypothese 2 als falsifiziert. Die Notwendigkeit einer ren Endes der Legislaturperiode. Folglich wird Hy- statistischen Kontrolle weiterer Einflussfaktoren er- pothese 3 ebenfalls falsifiziert. übrigt sich damit. Abschließend wird analysiert, ob sich Unterschiede Im Gegensatz zum gesamten Kabinett verschlechtert zwischen Koalitionsregierungen und Einparteienregie- sich das Wahlergebnis der Partei des Regierungs- rungen hinsichtlich des Effekts vorzeitiger Regie- chefs in einer Koalition bei vorherigem Konflikt um rungsbeendigungen ergeben. Tabelle 3 zeigte bereits durchschnittlich ca. 1,7 Prozentpunkte und entspricht eine Übereinstimmung der theoretisch vermuteten und der erwarteten Wirkungsrichtung. Die Erklärungs- empirisch zu beobachtenden Effektrichtung vorzeiti- kraft der interessierenden unabhängigen Variable er- ger Regierungsbeendigungen auf die elektorale Per- weist sich jedoch erneut als sehr gering und beträgt formanz der Partei des Regierungschefs. Zeigt sich ein unter Berücksichtigung der Drittvariablen im vierten ähnlicher Effekt bei Einparteienregierungen, gewinnt Modell ein Prozent. Das Ergebnis ist zudem insigni- die These an Plausibilität, dass Wähler, um ihre Infor- fikant. Der Typ vorzeitiger Koalitionsbeendigungen mationskosten hinsichtlich der Wahlentscheidung zu reduzieren, vorrangig die Partei des Regierungschefs 7 In der Tabelle ist jeweils der unstandardisierte Regressionsko- effizient B angegeben, um eine Interpretation in Beziehung aufgrund hoher zugeschriebener Verantwortlichkeit zur Skala der abhängigen Variable zu ermöglichen. Die Werte für das vorzeitige Scheitern der Regierung an der beziehen sich daher auf die Prozentpunktveränderung des Wahlurne abstrafen (vgl. McAllister 2007). Wahlergebnisses im Vergleich zur vorherigen Wahl, die sich durch Anstieg der unabhängigen Variable um eine Einheit er- gibt. Da die Werte nicht standardisiert sind, ist auf die Maß- einheit der jeweiligen unabhängigen Variable zu achten.

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Tab. 4: Elektorale Performanz westeuropäischer Einparteienregierungen (1945-1999)

Variablen Modell 1 Modell 2 Modell 3 Konfliktreiche vorzeitige Kabinettsbeendigung -5,00** (1,67) -8,16*** (2,16) (Referenz: einvernehmliche vorzeitige Beendigung) Minderheitsregierung 5,11 (5,00) 2,15 (4,47)

Relative Kabinettsdauer (%) -5,34 (4,14) -6,10 (3,64)

Polarisierung im Parlament -0,37 (0,28) -0,18 (0,25)

Veränderung der Arbeitslosenquote -0,39 (0,56) -0,45 (0,50)

Länder- und Zeiteffekte … …

R-Quadrat 0,12 0,34 0,50 Korrigiertes R-Quadrat 0,10 0,00 0,23 N696969 5% - Niveau = * 1% - Niveau = ** 0,1% - Niveau = ***

Tabelle 4 verweist auf einen deutlichen Unterschied Koalitionsregierungen aufgrund einer größeren Ver- in der Relevanz vorzeitiger Regierungsbeendigungen antwortungsdiffusion innerhalb der Koalition, wo- zur Erklärung des Wahlerfolgs zwischen Koalitions- durch die Informationskosten für den Wähler steigen und Einparteienregierungen: Führen innerparteiliche (Powell 2000: 52). Konflikte zu einem Scheitern der Regierung, so ver- liert die amtierende Partei bei der folgenden Wahl 6. Fazit durchschnittlich fünf Prozentpunkte gegenüber ih- rem vorherigen Wahlergebnis, unter Berücksichti- Der vorliegende Beitrag widmete sich der Frage, ob gung der Kontrollvariablen um über acht Prozent- und inwieweit vorzeitige Regierungsbeendigungen punkte. Der Effekt ist sowohl in Modell 1 und 3 einen Effekt auf die elektorale Performanz der Kabi- hoch signifikant, auch die Höhe des R-Quadrats un- nettspartei(en) ausüben. In der Literatur finden sich terscheidet sich deutlich von den Ergebnissen für bislang sowohl in der theoretischen Argumentation Koalitionsregierungen: Zwölf Prozent der Varianz in als auch in der empirischen Analyse widersprüchli- den Wahlerfolgen westeuropäischer Einparteienre- che Annahmen und Ergebnisse. Theoretiker argu- gierungen bei vorzeitiger Beendigung der Legislatur- mentieren einerseits, unter Berücksichtigung voll- periode lässt sich durch vorheriges Auftreten eines ständiger Information verschwänden die möglichen innerparteilichen Dissenses erklären. Durch das Hin- Gewinne der amtierenden Regierungspartei(en) bei zufügen der interessierenden unabhängigen Variable vorzeitigen Wahlen, da das Elektorat die Strategie steigt das R-Quadrat zwischen dem zweiten und drit- der Regierung antizipieren und darauf reagieren wer- ten Modell von 34 auf 50 Prozent. Demzufolge sind de (Smith 1996, 2003). Andererseits wird vermutet, 16 Prozent der aufgeklärten Varianz auf den Typ der Parteien profitieren aufgrund privater Informationen vorzeitigen Kabinettsbeendigung zurückzuführen8. über zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen von Insofern liegt die These nahe, dass aufkommende vorzeitigen Wahlen, wenn zum gegenwärtigen Zeit- Konflikte in der Regierung vom Elektorat negativ an punkt die Rahmenbedingungen für eine Wiederwahl der Wahlurne sanktioniert werden, wenn die Verant- günstig erschienen (Kayser 2005: 26). Empirische wortung für den Konflikt eindeutig einer Partei zuge- Ergebnisse für das Vereinigte Königreich weisen auf schrieben werden kann (vgl. Vowles 2010). Dies er- negative Effekte bezüglich des Wahlerfolgs hin schwert sich für den Wähler bei der Beurteilung von (Smith 2004), während vergleichende Studien zu ge- genteiligen Befunden gelangen (Narud/Valen 2008). 8 Bei der Interpretation der Ergebnisse ist allerdings zu beach- Der Autor dieses Beitrags plädiert daher für eine ten, dass aufgrund des Zusammenspiels von geringer Fallzahl Differenzierung vorzeitiger Regierungsbeendigun- und einer notwendigerweise hohen Zahl von Variablen, be- gen: Resultieren sie aus vorangegangenen Konflikten dingt durch die Kontrolle spezifischer Länder- und Zeiteffek- zwischen den Koalitionsparteien oder Konflikten in- te, im zweiten und dritten Modell eine Diskrepanz zwischen dem unkorrigierten und korrigierten R-Quadrat entsteht. nerhalb einer Regierungspartei, dient dies dem Wäh-

79 Aufsätze Angenendt – Kooperation oder Konflikt? Vorzeitige Regierungsbeendigungen und elektorale Performanz in Westeuropa MIP 2015 21. Jhrg. ler als Signal der Handlungsunfähigkeit der Regie- Bergman, Torbjörn; Gerber, Elisabeth R.; Kastner, rung und dem Misslingen wechselseitiger Kooperati- Scott; Nyblade, Benjamin (2008): The Empirical on (Bergman et al. 2013: 34f.). Demgegenüber steht Study of Cabinet Governance. In: Bergman, Torb- der Entschluss zur einvernehmlichen Regierungsbe- jörn; Müller, Wolfgang C.; Strøm, Kaare (Hg.): Cab- endigung zwischen den Koalitionsparteien bzw. rele- inets and Coalition Bargaining: The Democratic Life vanten Akteuren innerhalb einer Partei. Empirisch Cycle in Western Europe. New York: Oxford Uni- bestätigte sich die These, der zufolge Koalitionsre- versity Press, S. 85–122. gierungen im Vergleich zu Einparteienregierungen Beyme, Klaus von; Martin, Eileen (1985): Political häufiger aufgrund von Konflikten beendet werden. Parties in Western Democracies. Aldershot: Gower. Die Varianz in den Wahlergebnissen der Regie- rungsparteien lässt sich jedoch nur bei Einparteienre- Böhret, Carl (1991): Entscheidungsorientierte Regie- gierungen ursächlich auf den Typ der vorzeitigen rungslehre. In: Hartwich, Hans-Hermann; Wewer, Kabinettsbeendigung zurückführen: Ein der Neu- Göttrik (Hg.): Regieren in der Bundesrepublik 2. wahl vorausgegangener Konflikt innerhalb der Re- Formale und informale Komponenten des Regierens. gierungspartei führt hier zu einer signifikanten Ver- Opladen: Leske und Budrich, S. 143-154. ringerung der Stimmenanteile um durchschnittlich Brennan, Geoffrey; Hamlin, Alan P. (2000): Demo- ca. 8 Prozentpunkte. cratic Devices and Desires. Cambridge: Cambridge University Press. Als Anregung für weitergehende Untersuchungen sei abschließend auf eine mögliche Verknüpfung der Bukow, Sebastian (2013): Die professionalisierte hier präsentierten Befunde mit Individualdaten ver- Mitgliederpartei. Politische Parteien zwischen insti- wiesen. Denkbar ist, dass Wähler mit einer starken tutionellen Erwartungen und organisationaler Wirk- Bindung an die Regierungspartei dieser gegenüber lichkeit. Wiesbaden: Springer VS loyaler eingestellt sind und die Sanktionsneigung ab- Damgaard, Erik (2008): Cabinet Termination. In: nimmt. Aus theoretischer Perspektive ist von Interes- Bergman, Torbjörn; Müller, Wolfgang C.; Strøm, se, den vorgestellten Sanktionsmechanismus einge- Kaare (Hg.): Cabinets and Coalition Bargaining: The hender zu spezifizieren und ggf. einer formalen Mo- Democratic Life Cycle in Western Europe. New dellierung zu unterziehen (dazu sei auf Schmitt 2015 York: Oxford University Press, S. 301–326. in diesem Band verwiesen). Fallstudien könnten zu- dem stärker Länderspezifika beleuchten und untersu- De Swaan, Abram (1973): Coalition Theories and chen, wann welchen Akteuren in der Öffentlichkeit Cabinet Formations: A Study of Formal Theories of die Verantwortung für politische Konflikte zuge- Coalition Formation Applied to Nine European Par- schrieben wird. liaments after 1918. Amsterdam: Elsevier. Downs, Anthony (1957): An Economic Theory of Literaturverzeichnis Democracy. New York: Harper and Row. Andeweg, Rudy B.; Timmermans, Arco (2008): Easton, Stephen; Warwick, Paul V. (1992): The Ca- Conflict Management in Coalition Government. In: binet Stability Controversy: New Perspectives on a Bergman, Torbjörn; Müller, Wolfgang C.; Strøm, Classic Problem. In: American Journal of Political Kaare (Hg.): Cabinets and Coalition Bargaining: The Science, H. 36, S. 122-146. Democratic Life Cycle in Western Europe. New York: Oxford University Press, S. 269-300. Elster, Jon (1984): Ulysses and the Sirens. Studies in Rationality and Irrationality. Cambridge: Cambridge Axelrod, Robert M. (1970): Conflict of Interest. A University Press. Theory of Divergent Goals with Applications to Politics. Chicago: Markham. Fisher, Stephen D.; Hobolt, Sara B. (2010): Coaliti- on Government and Electoral Accountability. In: Bernhard, William; Leblang, David (2008): Cabinet Electoral Studies, H. 29, S. 358-369. Collapses and Currency Crashes. In: Political Re- search Quarterly, H.61, S. 517-531. Franzmann, Simon T. (2011): Competition, Contest and Cooperation: The Analytic Framework of the Is- Bergman, Torbjörn; Ecker, Alejandro; Müller, Wolf- sue Market. In: Journal of Theoretical Politics, H. gang C. (2013): How Parties Govern: Political Par- 23. S. 317-343. ties and the Internal Organization of Government. In: Müller, Wolfgang C.; Narud, Hanne Marthe: Par- Grofman, Bernard; van Roozendaal, Peter (1994): ty Governance and Party Democracy. Wiesbaden: Toward a Theoretical Explanation of Premature Springer VS, S. 33-50. Cabinet Termination: With Application to Post-war

80 MIP 2015 21. Jhrg. Angenendt – Kooperation oder Konflikt? Vorzeitige Regierungsbeendigungen und elektorale Performanz in Westeuropa Aufsätze

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81 Aufsätze Angenendt – Kooperation oder Konflikt? Vorzeitige Regierungsbeendigungen und elektorale Performanz in Westeuropa MIP 2015 21. Jhrg.

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82 MIP 2015 21. Jhrg. Fuhrmann – Kommunale Konkordanzdemokratie in Sachsen. Eine Untersuchung der Parteipolitisierung [...] Aufsätze

Kommunale Konkordanzdemokratie in kalen Regierens durch die begrenzte Handlungsauto- Sachsen. Eine Untersuchung der Partei- nomie der Kommunen nicht zum Tragen kommen, politisierung der sächsischen Kommunal- gelingt es den Parteien in konkurrenzdemokratisch geprägten Kommunen, die personelle und prozedura- politik le Dimension der Kommunalpolitik weitgehend zu monopolisieren. Bisher wurde lediglich die Partei- Dipl. Pol. Tobias Fuhrmann, M.A.1 politisierung der Kommunalpolitik in Nord- rhein-Westfalen und Baden-Württemberg empirisch umfassend untersucht (vgl. Bogumil 2001; Gehne/ Einleitung Holtkamp 2005; Bogumil/Holtkamp/Schwarz 2003). In normativer Hinsicht ist der Einfluss von Parteien Demgegenüber ist die kommunale Parteipolitisierung in der Kommunalpolitik traditionell stark umstritten in anderen Bundesländern bisher vor allem im Rah- (vgl. Holtkamp 2008: 50ff., Naßmacher/Naßmacher men von Fallstudien untersucht worden und insge- 2007: 25ff.). Empirisch lassen sich in vergleichender samt weniger gut erforscht (vgl. Holtkamp 2008: Perspektive große Unterschiede im Hinblick auf die 329ff.). Der vorliegende Beitrag will diese For- Ausgestaltung und Parteipolitisierung von Kommu- schungslücke etwas verkleinern und präsentiert die nalpolitik feststellen (vgl. Bogumil/ Holtkamp 2013: Ergebnisse einer schriftlichen Befragung der 148ff.). Zur empirischen Untersuchung der kommu- (Ober-)Bürgermeister und der Fraktionsvorsitzenden nalen Entscheidungsprozesse und der Parteipolitisie- der jeweils vier größten Ratsfraktionen in allen säch- rung der Kommunalpolitik kann typologisch zwi- sischen Städten und Gemeinden mit über 5.000 Ein- 2 schen den Extremtypen der kommunalen Konkur- wohnern (N=700). Die Befragung diente unter an- renz- und Konkordanzdemokratie unterschieden wer- derem dem Ziel, die Parteipolitisierung der sächsi- den (vgl. Holtkamp 2008). Die kommunale Konkur- schen Kommunalpolitik empirisch zu untersuchen renzdemokratie ist durch eine starke Parteipolitisie- und den in Sachsen vorherrschenden kommunalen rung gekennzeichnet. Wohingegen die Parteipoliti- Demokratietyp zu erfassen. Im folgenden Kapitel sierung in der kommunalen Konkordanzdemokratie wird zunächst der theoretische Rahmen der Untersu- gering ausgeprägt ist. Das Ausmaß der Parteipoliti- chung dargestellt und die Ausgangslage in Sachsen sierung der Kommunalpolitik hängt davon ab, wie skizziert. Auf dieser Grundlage wird eine Hypothese sehr „es den lokalen politischen Parteien gelingt, die über die Ausprägung des Demokratietyps und das Kommunalpolitik personell, inhaltlich und prozedu- Ausmaß der Parteipolitisierung in den sächsischen ral zu monopolisieren“ (Wehling 1991: 150). Die Kommunen formuliert. Anschließend werden die personelle Dimension der Parteipolitisierung bezieht Daten und das methodische Vorgehen der empiri- sich auf das Ausmaß der Parteibindung von Ratsmit- schen Untersuchung vorgestellt. Darauf folgt die gliedern und Bürgermeistern sowie auf die Parteimit- Präsentation und Diskussion der zentralen Ergebnis- gliedschaft von Angehörigen der Kommunalverwal- se der schriftlichen Befragung. Im Fazit werden die tung. Mit der inhaltlichen Parteipolitisierung wird Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst. der Einfluss der Parteiprogramme auf die Kommu- nalpolitik beschrieben. Unter der prozeduralen Par- Kommunale Konkurrenz- und Konkordanzde- teipolitisierung kann das Ausmaß konkurrenzdemo- mokratie kratischen Verhaltens verstanden werden, z. B. der Grad der Geschlossenheit des Abstimmungsverhal- Unter konkurrenzdemokratischen Bedingungen wird tens der Fraktionen und der Trennung des Rates in der kommunalpolitische Entscheidungsprozess vom Oppositions- und Mehrheitsfraktionen. Die prozedu- geschlossenen Auftreten der Ratsfraktionen und so- rale Parteipolitisierung ergibt sich aus der Bedeutung mit von einer klaren Trennung des Rates in Mehr- der Fraktionsdisziplin im Rat und aus dem Grad der heits- und Oppositionsfraktionen bestimmt. Demge- Trennung des Rates in Oppositions- und Mehrheits- genüber werden in der kommunalen Konkordanzde- fraktionen. Während die inhaltliche Parteipolitisie- mokratie (einfache) Mehrheitsregeln durch die Ma- rung der Kommunalpolitik zumeist eher gering aus- 2 Das Forschungsprojekt war Teil eines von der Akademie für lo- fällt, da sich insbesondere die programmatischen kale Demokratie e.V. im Jahr 2014 durchgeführten Projekts, das Schwerpunkte der größeren Parteien häufig nicht durch das sächsische Landesprogramm „Weltoffenes Sachsen voneinander unterscheiden oder Parteieneffekte lo- für Demokratie und Toleranz“ gefördert wurde. Da die Städte und Gemeinden im Erzgebirgskreis bereits im Vorjahr Gegen- 1 Der Autor ist Projektmitarbeiter der Akademie für lokale De- stand einer Untersuchung der Akademie für lokale Demokratie mokratie e.V. in Leipzig. waren, wurden sie nicht erneut befragt (vgl. Fuhrmann 2014).

83 Aufsätze Fuhrmann – Kommunale Konkordanzdemokratie in Sachsen. Eine Untersuchung der Parteipolitisierung [...] MIP 2015 21. Jhrg. xime des „gütlichen Einvernehmens“ und die Ein- stärker parteipolitisch verankerten Beigeordneten stimmigkeitsregel ersetzt. Wie in der von Lehmbruch schwerer durchsetzen. (1991; 1967) beschriebenen nationalen Konkordanz- Als ursächlich für die Parteipolitisierung der Kom- demokratie3 werden politische Konflikte durch Ver- munalpolitik und somit für den kommunalen Demo- handlungen und Kompromisse gelöst. Ziel ist es, kratietyp gelten insbesondere die Größe der Gebiets- eine möglichst breite Übereinstimmung und einen körperschaft, die Regelungen der Kommunalverfas- umfassenden Interessenausgleich zu erzielen. Anders sungen und der kommunale Organisationsgrad der als auf der nationalen Ebene dienen konkordante In- Parteien. Je kleiner eine Gemeinde, desto geringer ist teraktionsmuster auf kommunaler Ebene jedoch nicht tendenziell die Parteipolitisierung der Kommunal- der Umgehung ethnischer, religiöser und ideologi- politik und desto wahrscheinlicher sind konkordanz- scher Konflikte in der Gesellschaft, sondern vor al- demokratische Strukturen. In kleineren Gemeinden lem der „Vermeidung von persönlichen Konflikten“ hat sich die Kommunalpolitik weniger als eigenstän- (Holtkamp 2008: 84) und der „Rücksichtnahme auf dige Handlungssphäre ausdifferenziert und vom üb- die persönlichen Beziehungen, die man mit jedermann rigen gesellschaftlichen Leben abgekoppelt. Die Ori- unterhält, und die oft genug verwandtschaftlicher Na- entierungsfunktion der Parteien ist für die Bürger tur sind“ (Lehmbruch 1975: 5). Dementsprechend ist weniger relevant, da die kommunalen Verhältnisse die Konkordanzdemokratie auf der kommunalen Ebe- als sachlich und personell überschaubarer einge- ne, im Gegensatz zu ihrem Pendant auf nationaler schätzt werden. Mit der Gemeindegröße steigt auch Ebene, ein Ausdruck der Schwäche der Parteien. Eine das lokale Konfliktniveau. Kommunale Angelegen- starke Parteipolitisierung der Kommunalpolitik könn- heiten werden stärker politisiert und weniger als te sich schließlich belastend auf die sozialen Bezie- politisch neutrale Sachangelegenheiten behandelt. hungen in der Gemeinde auswirken und zu persönli- Die politische Orientierungsfunktion von Parteien chen Konflikten führen. Die Schwäche der politi- gewinnt daher mit zunehmender Gemeindegröße an schen Parteien geht mit einem hohen Anteil lokaler Bedeutung (vgl. Bogumil/Holtkamp 2013: 149). Ne- Honoratioren in der kommunalen Vertretungskörper- ben der Gemeindegröße begünstigen die Regelungen schaft, der Popularität von Wählervereinigungen und in den Kommunalverfassungen der Bundesländer die der politischen Dominanz des hauptamtlichen Ver- Parteipolitisierung der Kommunalpolitik oder be- waltungschefs einher. In der kommunalen Konkur- grenzen den Einfluss der Parteien durch die Stärkung renzdemokratie treten die einzelnen Personen dage- des Bürgermeisters bzw. des einzelnen Ratsmit- gen hinter einer starken Parteiorganisation und Frak- glieds. So wird z. B. der Einfluss der Wähler durch tionsdisziplin zurück. Unter konkurrenzdemokratischen die Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens Bedingungen hat der Bürgermeister4 durch seine par- im kommunalen Wahlrecht gestärkt und die Gate- teipolitische Einbindung eine weniger starke Macht- keeper-Funktion der Parteien gegenüber einem position (vgl. Holtkamp 2008). Insbesondere bei Vor- Wahlsystem mit starren Listen geschwächt. Darüber liegen einer absoluten Ratsmehrheit einer Fraktion hinaus wirken sich die Regelungen der Kommunal- kann die kommunale Konkurrenzdemokratie zu einer verfassung v. a. auf die Machtstellung des Bürger- regelrechten Fraktionsherrschaft führen. Das kom- meisters aus. Die Position des Bürgermeisters wird munale Machtzentrum liegt dann beim Fraktionsvor- z. B. durch eine längere Amtszeit, die Nichtabwähl- sitzenden der Mehrheitsfraktion im Rat (vgl. Winkler- barkeit während der Amtszeit, die Entkopplung der Haupt 1988: 40). Die Position des Bürgermeisters Wahltermine von Bürgermeister und Kommunalver- wird auch durch die typischen Rekrutierungsmuster tretung sowie durch mehr Kompetenzen in der Ver- in der kommunalen Konkurrenzdemokratie im Ver- waltungsführung gestärkt (vgl. Bogumil/Holtkamp waltungsvorstand und gegenüber der Fachverwal- 2013: 39). Außerdem wird der kommunale Demo- tung eher geschwächt. Da die Bürgermeister häufiger kratietyp von der gesellschaftlichen Verankerung der aus der ehrenamtlichen Kommunalpolitik rekrutiert Parteien beeinflusst, die üblicherweise über deren werden und somit seltener über Erfahrung als Füh- Organisationsgrad erfasst wird. Darüber hinaus wirkt rungskraft in der Kommunalverwaltung verfügen, sich auch die pfadabhängige regionale politische können sie sich insbesondere gegenüber den ohnehin Kultur auf die Parteipolitisierung der Kommunal- 3 Als empirische Beispiele für nationale Konkordanzdemokratien politik aus (vgl. Bogumil/Holtkamp 2013: 166). gelten bzw. galten bis in die 1990er Jahre v. a. die Schweiz, Ös- terreich und die Niederlande (vgl. Lehmbruch 2012). 4 Die Begriffe Bürgermeister und Oberbürgermeister werden im Folgenden synonym verwandt. Gemeint ist immer der Haupt- verwaltungsbeamte.

84 MIP 2015 21. Jhrg. Fuhrmann – Kommunale Konkordanzdemokratie in Sachsen. Eine Untersuchung der Parteipolitisierung [...] Aufsätze

Die Ausgangslage der kommunalen Demokratie Verwaltung, ohne ein Rückholrecht des Rates. Zu- in Sachsen dem wird der Einfluss der Parteien durch das sächsi- sche Kommunalwahlrecht geschwächt, das den Wäh- Betrachtet man die Ausprägung der zuvor erläuterten lern das Kumulieren und Panaschieren und nicht le- Variablen, lässt sich aufgrund der Ausgangslage in diglich die Wahl einer starren Liste ermöglicht. Im Sachsen eine eher geringe kommunale Parteipoliti- Bundesländervergleich wird die kommunale Konkor- sierung erwarten. Die konkordanzdemokratische danzdemokratie lediglich in Baden-Württemberg Ausprägung der sächsischen Kommunalpolitik ließe stärker durch die institutionelle Ausgestaltung der sich als das Ergebnis der relativ geringen durch- Kommunalverfassung begünstigt als in Sachsen (vgl. schnittlichen Gemeindegröße, der die Konkordanz- Bogumil/Holtkamp 2013: 38). Die schwache gesell- demokratie begünstigenden institutionellen Ausge- schaftliche Verankerung der Parteien dürfte eben- staltung der Kommunalverfassung und des niedrigen falls eine konkordanzdemokratische Ausprägung der Organisationsgrades der Parteien in Sachsen verste- kommunalen Demokratie in Sachsen begünstigen hen. Zudem dürfte die regionale politische Kultur (vgl. Demuth/Lempp 2006; Jesse/Schubert/Thieme eher eine geringe kommunale Parteipolitisierung be- 2014). Wie in den anderen ostdeutschen Bundeslän- günstigen. Die durchschnittliche Einwohnerzahl der dern sind die Parteien auch in Sachsen generell sächsischen Gemeinden beträgt 8.921 Einwohner schwächer organisiert als in den westdeutschen Bun- und liegt damit im Bundesländervergleich im Mittel- desländern. Der Organisationsgrad der Parteien6 in 5 feld . Verglichen damit liegt die durchschnittliche Sachsen beträgt lediglich 0,83%. Selbst in den kon- Einwohnerzahl der Kommunen in Nordrhein-West- kordanzdemokratischen Kommunen Baden-Würt- falen, die im Allgemeinen als ausgeprägt konkur- tembergs sind die Parteien stärker organisiert und ge- renzdemokratisch gelten, insbesondere aufgrund von sellschaftlich verankert (Organisationsgrad 1,34%). einschneidenden Territorialreformen vor einigen In Nordrhein-Westfalen haben die Parteien einen Or- Jahrzehnten, mit über 44.000 Einwohnern weit über ganisationsgrad von fast 2% (vgl. Niedermayer dem sächsischen Durchschnittswert. Die Städte und 2014: 423). Gemeinden Baden-Württembergs, das als Stamm- land der kommunalen Konkordanzdemokratie in Neben diesen Erklärungsfaktoren dürfte auch die re- Deutschland gilt, sind mit durchschnittlich 10.559 gionale politische Kultur die konkordanzdemokrati- Einwohnern zumindest etwas größer, als die durch- sche Strukturierung der sächsischen Kommunal- schnittliche sächsische Kommune. Die im Bundes- politik begünstigen. Die regionale politische Kultur, ländervergleich mittlere, aber noch unter dem baden- die die politischen Einstellungen und Handlungsstra- württembergischen Durchschnitt liegende Größe der tegien der Akteure kennzeichnet, ist pfadabhängiger sächsischen Städte und Gemeinden dürfte eine kon- Ausdruck und Ergebnis einer historisch bedingten kordanzdemokratische Ausprägung der kommunalen regionalen Sonderentwicklung (vgl. Wehling 1987: Demokratie in Sachsen begünstigen. Gleiches gilt für 261). Im Gegensatz zu den westdeutschen Bundes- die institutionelle Ausgestaltung der sächsischen ländern wurde die regionale politische Kultur in Kommunalverfassung, die damit im Mainstream der Sachsen, wie in den übrigen ostdeutschen Bundes- Kommunalverfassungen der deutschen Flächenlän- ländern, von den Erfahrungen in der DDR beein- der liegt, die mit der Ausnahme des Saarlandes, flusst. Das zu DDR-Zeiten nach außen grundsätzlich Nordrhein-Westfalens und Hessens überwiegend geschlossene Auftreten von Verwaltung und Vertre- eher konkordanzdemokratische institutionelle Struk- tungskörperschaft, aber auch die gemeinsamen Er- turen vorgeben. So wird beispielsweise die Position fahrungen an den „Runden Tischen“ in der Spätpha- des Bürgermeisters in Sachsen gegenüber dem Rat se der DDR und das aus den historischen Erfahrun- durch eine siebenjährige Wahlperiode und durch die gen resultierende äußerst geringe Vertrauen der Bür- Entkopplung der Wahltermine von Bürgermeister ger in die politischen Parteien gelten als politisch- und Kommunalvertretung ebenso gestärkt wie durch kulturelle Einflüsse, die eine geringe kommunal- das im Bundesländervergleich höchste Quorum für politische Parteipolitisierung und stark ausgeprägte eine Amtsenthebung durch einen Bürgerentscheid konkordanzdemokratische Strukturen auf der kom- (50% der Wahlberechtigten). Außerdem ist der Bür- munalen Ebene begünstigen (vgl. Bogumil/Holtkamp germeister in Sachsen stimmberechtigter Vorsitzen- 2013: 166f.; Pollach/Wischermann/Zeuner 2000). der des Rates und führt die laufenden Geschäfte der Trotz der vergleichsweise geringen politischen und

5 Gemeinden nach Bundesländern und Einwohnergrößenklas- 6 Parteimitglieder von CDU, SPD, Linke, Grüne, FDP in Pro- sen am 31.12.2012 auf der Grundlage des Zensus 2011. Daten zent der Parteibeitrittsberechtigten im jeweiligen Bundesland des Statistischen Bundesamtes. (Ende 2012).

85 Aufsätze Fuhrmann – Kommunale Konkordanzdemokratie in Sachsen. Eine Untersuchung der Parteipolitisierung [...] MIP 2015 21. Jhrg. administrativen Bedeutung der Kommunen waren teipolitisierung der sächsischen Kommunalpolitik ist die Parteien in der DDR auf der kommunalen Ebene gering. Die Konkordanzdemokratie ist der in Sach- sehr präsent. Aufgrund des Antipluralismus des sen vorherrschende kommunale Demokratietyp. DDR-Sozialismus wurden zwischen den Parteien je- doch keine gesellschaftlichen und politischen Kon- Daten und methodisches Vorgehen flikte ausgetragen. Die SED-Parteiführung richtete, gestützt auf das Verfassungsprivileg der SED, „die Zur Untersuchung der Parteipolitisierung der sächsi- gesamte Gesellschaft als ihre eigene Organisation schen Kommunalpolitik und des in Sachsen vorherr- ein“ (Neckel 1992: 255). An die Stelle von horizon- schenden kommunalen Demokratietyps wurden im taler und vertikaler Gewaltenteilung trat das Prinzip Rahmen einer schriftlichen Befragung die Bürger- der „Einheit aller Staatsorgane“. Dementsprechend meister und die Fraktionsvorsitzenden der jeweils traten auf der kommunalen Ebene Verwaltung und vier größten Ratsfraktionen in 140 sächsischen Ge- Vertretungskörperschaft stets geschlossen nach au- meinden befragt (N=700). Berücksichtigt wurden ßen auf. In der Spätphase der DDR bildeten sich un- alle 59 sächsischen Kommunen mit mehr als 10.000 ter starker Beteiligung der Bürgerbewegung in sehr Einwohnern und alle 81 sächsischen Städte und Ge- vielen Kommunen „Runde Tische“, die zu einem meinden zwischen 5.000 und 9.999 Einwohnern, mit Wegbereiter der politischen Umgestaltung in der Ausnahme der 24 Städte und Gemeinden im Erzge- DDR wurden und die Demokratisierung der DDR birgskreis in dieser Größenklasse, die bereits im Jahr „von unten“ auf kommunaler Ebene vorantrieben. 2013 befragt wurden (vgl. Fuhrmann 2014). Ziel der An den Runden Tischen diskutierten und verhandel- Befragung war die Erhebung der Wahrnehmung der ten Vertreter der staatstragenden Parteien, neu ge- kommunalpolitischen Interaktions- und Entschei- gründeter oppositioneller Gruppen sowie weiterer dungsstrukturen durch wichtige kommunalpolitische Organisationen, wie etwa Kirchen und Gewerk- Entscheidungsträger. Zudem zielte die Befragung schaftsbund. Außerdem waren zumeist auch die Bür- darauf ab, übergeordnete politische Einstellungen germeister und Ratsvorsitzenden an den lokalen sächsischer Kommunalpolitiker zu erheben. Die Runden Tischen vertreten. Die lokalen Runden Ti- Vorbereitungen zur Befragung begannen Anfang des sche dienten als Plattform für Gespräche zwischen Jahres 2014 mit der Konzeption des Fragebogens. den etablierten und den neuen politischen Kräften in Daraufhin wurden im März 2014, anstatt einer Stich- den DDR-Kommunen. Ziel der Runden Tische war probenziehung, alle sächsischen Kommunen mit es, das in der Spätphase der DDR entstandene mehr als 5.000 Einwohnern ermittelt, um eine Voll- Machtvakuum zu überbrücken und den politischen erhebung durchzuführen. Im April 2014 wurden die Umbruch in der DDR friedlich mitzugestalten. An Fragebögen an die Bürgermeister mit der Bitte ver- den lokalen Runden Tischen standen Debatten über schickt, die im Umschlag enthaltenen Schreiben und die Lösung von Problemen vor Ort im Vordergrund. Fragebögen an die Fraktionsvorsitzenden weiterzu- Der Dualismus von Regierung und Opposition trat reichen. Auf diese Weise konnte die Befragung an den Runden Tischen derweil in den Hintergrund durchgeführt werden, ohne die Namen der Fraktions- (vgl. Weil 2014). Die Parteiidentifikation der Bürger vorsitzenden in den einzelnen Gemeinden aufwändig ist in Ostdeutschland schwächer und weniger stabil. zu recherchieren. Eine solche Recherche wäre auf- Das Vertrauen zu den politischen Parteien lag in Ost- grund von finanziellen und personellen Restriktionen deutschland fast stetig, wenn auch zumeist nur ge- nicht möglich gewesen, zumal eine Internetrecherche ringfügig, unter dem ebenfalls niedrigen Niveau in insbesondere in vielen kleineren Gemeinden für die Westdeutschland (vgl. Gabriel 2013). Es ist zu er- Datenerhebung nicht ausreichend gewesen wäre. warten, dass die historischen (kommunal-)politi- Aufgrund der gewählten Form des Fragebogenver- schen Erfahrungen, die besonders großen persönli- sandes und aus pragmatischen und finanziellen chen Risiken beim offenen Austrag von Konflikten Gründen wurde auf eine typische Erinnerung zur in der DDR, die demokratische, politische Sozialisa- Teilnahme an der Befragung verzichtet. Von den 700 tion an den Runden Tischen und die ausgeprägte verschickten Fragebögen wurden 237 Fragebogen Parteienskepsis vieler Bürger in Sachsen als ausgefüllt zurückgeschickt. Die Rücklaufquote be- politisch-kulturelle Einflussfaktoren eine konkor- läuft sich somit auf 33,9%. Deutliche Unterschiede danzdemokratische Ausprägung der Kommunal- zeigen sich beim Vergleich des Rücklaufs zwischen politik in Sachsen begünstigen. Fasst man die Aus- Bürgermeistern und Fraktionsvorsitzenden. Die prägung der unterschiedlichen Variablen zusammen, Rücklaufquote der Bürgermeister liegt bei bemer- lässt sich folgende Hypothese formulieren: Die Par- kenswert hohen 47,1% und deutlich über der Rück-

86 MIP 2015 21. Jhrg. Fuhrmann – Kommunale Konkordanzdemokratie in Sachsen. Eine Untersuchung der Parteipolitisierung [...] Aufsätze laufquote der Fraktionsvorsitzenden, die sich auf Ergebnisse und Diskussion 30,5% beläuft. Außerdem liegt die Rücklaufquote in den Städten und Gemeinden mit über 10.000 Ein- Charakteristisch für die kommunale Konkordanzde- wohnern über der aus den kleineren Kommunen. mokratie ist eine geringe personelle, inhaltliche und prozedurale Parteipolitisierung der Kommunal- Tab. 1: Rücklauf der Befragung politik. Um die Parteipolitisierung der sächsischen Grund- Rückläufer Rücklauf- Kommunalpolitik zu erfassen, wurden zum einen die gesamtheit quote Einstellungen der Bürgermeister und Fraktionsvor- Gesamt 700 237 33,9% sitzenden gegenüber Parteien in der Kommunal- politik untersucht. Zum anderen wurde nach dem Bürgermeister 140 66 47,1% Ablauf der kommunalpolitischen Entscheidungspro- Fraktionsvorsitzende 560 171 30,5% zesse gefragt, um die Parteipolitisierung und somit Befragte aus Ge- 405 125 30,9% den in Sachsen vorherrschenden kommunalen Demo- meinden mit weni- kratietyp herauszuarbeiten. ger als 10.000 Ein- wohnern Die befragten Bürgermeister und Fraktionsvorsitzen- Befragte aus Ge- 295 112 38,0% de äußern stark konkordanzdemokratische Einstel- meinden mit über lungen. Eine hohe Parteipolitsierung stößt bei den 10.000 Einwohnern befragten Kommunalpolitikern auf große Ableh- nung. Jeweils über 70% der Befragten wünschen sich in der Kommunalpolitik „Einigkeit zwischen al- Der Anteil der Befragten aus Städten und Gemein- len Kräften“ und äußern eine starke Präferenz für den mit weniger als 10.000 Einwohnern liegt, bezo- Honoratioren in der Kommunalpolitik. 98% der Be- gen auf die Grundgesamtheit, bei 57,1%. Dement- fragten sind der Ansicht, dass Sacharbeit Vorrang sprechend wurden trotz der niedrigeren Rücklauf- vor der Parteipolitik haben sollte. Eine Bewährung in quote in dieser Gemeindegrößenklasse die meisten der alltäglichen Parteiarbeit befürworten nur 11% Fragebögen aus Kommunen mit weniger als 10.000 der Befragten als Voraussetzung einer Ratstätigkeit. Einwohnern zurückgesandt. Über die Zusammenset- Von einer knappen Mehrheit der Befragten wird den zung der Grundgesamtheit nach Geschlecht, Alter Parteien immerhin eine grundlegende kommunal- und Parteizugehörigkeit liegen keine verlässlichen politische Orientierungsfunktion zugeschrieben. 53% Daten vor. Hinsichtlich dieser Merkmale setzt sich der Befragten stimmen der Aussage „Ohne Parteien die Gruppe der Befragten, deren Daten in die Analy- gerät Kommunalpolitik leicht zur Kirchturmpolitik se eingingen, folgendermaßen zusammen: 84,3% der ohne Gesamtkonzept“ (eher) zu. Fast die Hälfte der Befragten sind männlichen und 15,7% weiblichen insgesamt zu ca. 70% parteigebundenen Befragten Geschlechts7. Ein Drittel der Befragten ist zwischen ist jedoch nicht der Ansicht, dass Parteien in der 50 und 59 Jahre alt (33,3%). 41,9% der Befragten Kommunalpolitik Kirchturmpolitik verhindern bzw. sind 60 Jahre und älter. Ungefähr ein Viertel der Be- dass ohne Parteien auf kommunaler Ebene Kirch- fragten ist zwischen 30 und 49 Jahre alt (24,4%). Le- turmpolitik betrieben würde. diglich ein Befragter ist jünger als 30 Jahre. Von den parteipolitisch gebundenen Kommunalpolitikern ge- hören mit 28,3% die mit großem Abstand meisten der Befragten der CDU an. Es folgen Kommunal- politiker der Linken (15,6%) und der SPD (14,8%). Der Anteil der Parteilosen und der Angehörigen von Wählervereinigungen liegt bei fast dreißig Prozent (29,9%).

7 In einer Studie von Ernst & Young (2013: 51) wurden folgen- de Frauenanteile in der Kommunalpolitik sächsischer Städte und Gemeinden unter 50.000 Einwohner ermittelt: Bürger- meisterinnen: 14,8%, Fraktionsvorsitzende: 11,7%, Ratsmit- glieder: 18,7%.

87 Aufsätze Fuhrmann – Kommunale Konkordanzdemokratie in Sachsen. Eine Untersuchung der Parteipolitisierung [...] MIP 2015 21. Jhrg.

Abb. 1: Einstellungen gegenüber der Parteipolitisie- ziplin begünstigt zudem die klare Trennung von Op- rung der Kommunalpolitik (Angaben in Prozent) positions- und Mehrheitsfraktionen im Rat. Die Be- fragungsergebnisse zeigen eine insgesamt geringe prozedurale Parteipolitisierung der Kommunalpolitik in Sachsen. Die Bedeutung der Fraktionen als (Vor-)Entscheidungsgremien ist gering. Harte Aus- einandersetzungen zwischen den Fraktionen, wie sie für eine kommunale Konkurrenzdemokratie typisch wären, sind in Sachsen weniger verbreitet. Zugleich sind einstimmige Beschlüsse, auch zentraler kommu- nalpolitischer Entscheidungen wie z. B. des Haus- halts, in vielen sächsischen Kommunen nicht unüb- lich. An die Stelle einfacher Mehrheiten und des Dualismus von Ratsmehrheit und Opposition tritt vielerorts das Streben nach möglichst großen Mehr- heiten und Einstimmigkeit. Abb. 2: Prozedurale und inhaltliche Parteipolitisie- rung der sächsischen Kommunalpolitik (Angaben in Prozent)

Zur Untersuchung der Parteipolitisierung der Kom- munalpolitik reicht es allerdings nicht aus, die Ein- stellungen von Kommunalpolitikern gegenüber Par- teien zu erfassen. Jenseits der Einstellungsebene stellt sich insbesondere die Frage nach dem tatsächli- chen Ablauf der kommunalpolitischen Entschei- dungsprozesse und der prozeduralen Parteipolitisie- rung8. Das Ausmaß der prozeduralen Parteipolitisie- rung ergibt sich insbesondere aus dem Grad der Ge- schlossenheit des Abstimmungsverhaltens der Frak- tionen (Fraktionsdisziplin). Eine große Fraktionsdis-

8 Die personelle Parteipolitisierung der sächsischen Kommu- nalpolitik liegt im Bundesländervergleich auf einem mittleren Niveau, wenn man die Stimmenanteile der Parteien bei den Gemeinderatswahlen zugrunde legt. Bei den Gemeinderats- wahlen 2014 wurden die Wählervereinigungen mit 23,8% er- neut zweitstärkste Kraft hinter der CDU (33,3%) und vor der Linken (16,5%). Insbesondere in vielen der zahlreichen klei- neren sächsischen Gemeinden amtiert ein parteiloser Bürger- meister. Die Parteien sind somit in Sachsen weit davon ent- fernt, die Kommunalpolitik personell zu monopolisieren.

88 MIP 2015 21. Jhrg. Fuhrmann – Kommunale Konkordanzdemokratie in Sachsen. Eine Untersuchung der Parteipolitisierung [...] Aufsätze

Die Fraktionsdisziplin ist in vielen sächsischen Rä- zentriert sich die Macht unter konkurrenzdemokrati- ten gering. Wenn keine einstimmigen Beschlüsse zu- schen Bedingungen beim Vorsitzenden der Mehr- stande kommen, ist vielerorts ein heterogenes Ab- heitsfraktion. Vor allem die Leitungspositionen in stimmungsverhalten innerhalb der Fraktionen üblich. der Verwaltung werden in der kommunalen Konkur- Die Fraktionszugehörigkeit hat somit nur einen be- renzdemokratie mit loyalen Parteimitgliedern be- grenzten Einfluss auf das Abstimmungsverhalten. setzt, wobei die Parteipatronage häufig wesentlich Obwohl übergroße Mehrheiten und einstimmige Be- über die Besetzung einiger strategischer Schlüssel- schlüsse weit verbreitet sind, gibt lediglich etwas positionen hinausgeht. In der kommunalen Konkor- mehr als die Hälfte der Befragten (53%) an, dass danzdemokratie spielen dagegen parteipolitische ihre Fraktion im Rat fast immer geschlossen ab- Aspekte bei der Stellenbesetzung in der Verwaltung stimmt. eine untergeordnete Rolle. Der Bürgermeister hat die zentrale kommunale Machtposition und führt eine 47% der Befragten erklären, dass sich ihre Fraktion nur wenig parteipolitisch beeinflusste Verwaltung. bei ihrer Argumentation und ihrem Abstimmungs- Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass der Bür- verhalten auch an übergeordneten weltanschaulichen germeister in den sächsischen Kommunen der ein- Gesichtspunkten orientiert. Lediglich unter den flussreichste und stärkste Akteur in Kommunal- CDU-Mitgliedern stimmt eine Mehrheit dieser Aus- politik und -verwaltung ist und belegen auch in die- sage (eher) zu (55%), wohingegen die übrigen Be- ser Hinsicht die konkordanzdemokratische Struktu- fragten diese Aussage überwiegend nicht bestätigen. rierung der sächsischen Kommunalpolitik. 77% der Da parteilose Bürgermeister und Fraktionsvorsitzen- Befragten geben an, dass der Bürgermeister die be- de von Wählervereinigungen der Aussage sogar et- stimmende Person in Politik und Verwaltung ist. was häufiger zustimmen als parteigebundene Kom- Eine noch größere Mehrheit der Befragten (81%) er- munalpolitiker, lässt sich die Orientierung an über- klärt, dass es dem Bürgermeister fast immer gelingt, geordneten weltanschaulichen Gesichtspunkten zu- die nötigen Ratsmehrheiten zu finden, wenn er von dem eher nicht als Ausdruck einer inhaltlichen Par- einer Entscheidung überzeugt ist. Eine knappe Mehr- teipolitisierung deuten. Eine nennenswerte inhaltli- heit der Befragten (55%) gibt überdies an, dass der che Parteipolitisierung der Kommunalpolitik setzt Bürgermeister wichtige kommunalpolitische Ent- zudem zumindest ein Mindestmaß an prozeduraler scheidungen, wie z. B. den Haushaltsplan, von der Parteipolitisierung voraus, das in vielen sächsischen Verwaltung beschlussfertig ausarbeiten lässt und die Gemeinden nicht erreicht wird. Politik und Verwal- Ausschüsse und der Rat in der Regel keine inhaltli- tung sind auf der kommunalen Ebene besonders eng chen Änderungen mehr vornehmen. Die Bürgermeis- verflochten. Die Dominanz der hauptamtlichen Ver- ter stimmen dieser Aussage etwas häufiger zu, als waltung gegenüber den ehrenamtlichen Kommunal- die Fraktionsvorsitzenden. Größere Unterschiede als politikern ist ein weiteres allgemeines Merkmal im Antwortverhalten von Bürgermeistern und Frakti- kommunaler Entscheidungsprozesse und resultiert onsvorsitzenden zeigen sich jedoch beim Vergleich vor allem aus einem Informationsvorsprung der Ver- des Antwortverhaltens anhand der Gemeindegröße. waltung. Aufgrund dieses administrativen Informati- Von den Befragten aus Städten mit über 50.000 Ein- onsvorsprungs reagieren die gewählten Ratsmitglie- wohnern stimmen nur 20% der Aussage (eher) zu, der häufig lediglich auf die Schilderungen der Ver- dass die Ausschüsse und der Rat in der Regel keine waltung und stimmen den meisten Beschlussvor- Änderungen mehr an den Verwaltungsvorlagen zu lagen zu. Die Verwaltungsdominanz gegenüber dem wichtigen kommunalpolitischen Entscheidungen Rat kommt auch in den Befragungsergebnissen zum vornehmen. In den größeren Mittelstädten und in den Ausdruck. Der Aussage „Die Verwaltung hat durch wenigen sächsischen Großstädten (Leipzig, Dresden, ihren Informationsvorsprung große Macht über den Chemnitz) sind inhaltliche Änderungen an den Be- Gemeinderat“ stimmt etwas mehr als die Hälfte der schlussvorlagen der Verwaltung durch die Räte of- Befragten (53%) (eher) zu. 39% stimmen eher nicht fensichtlich üblicher als in den kleineren Städten und zu. Lediglich 8% stimmen nicht zu. Aufgrund der Gemeinden. Damit bestätigt sich die theoretische Er- Verwaltungsdominanz im kommunalen Entschei- wartung, dass die Gemeindegröße den kommunalen dungsprozess hängt die inhaltliche Parteipolitisie- Entscheidungsprozess und die Interaktion von Bür- rung insbesondere davon ab, inwieweit es den Partei- germeister und Rat beeinflusst. en gelingt, die Verwaltung zu steuern. In der Kon- kurrenzdemokratie bilden die Ratsfraktionen die kommunalen Machtzentren. Insbesondere bei Vorlie- gen einer absoluten Ratsmehrheit einer Fraktion kon-

89 Aufsätze Fuhrmann – Kommunale Konkordanzdemokratie in Sachsen. Eine Untersuchung der Parteipolitisierung [...] MIP 2015 21. Jhrg.

Die Bürgermeister sind insgesamt, nicht nur gestützt kratie gilt. Vergleicht man die Ergebnisse der vorlie- auf die Dominanz der Verwaltung gegenüber dem genden Untersuchung der sächsischen Kommunal- Rat, in starkem Maße in der Lage, kommunale Ent- politik mit den Ergebnissen einer Befragung der Frak- scheidungen durchzusetzen. Sie üben auch in und tionsvorsitzenden in baden-württembergischen Städ- gegenüber der Verwaltung effektive politische Füh- ten mit über 50.000 Einwohnern, zeigt sich, dass in rung aus und treffen dabei insgesamt auf wenige Ge- den sächsischen Kommunen der gleichen Größenklasse genkräfte. Lediglich 22% der Befragten halten es für die prozedurale Parteipolitisierung geringer ist als in (eher) zutreffend, dass der Bürgermeister bei seiner Baden-Württemberg. In den sächsischen Kommunen Verwaltungsführung auf beträchtlichen Widerstand sind vor allem die Bedeutung von Vorentscheidungen stößt. Das Kontrollpotenzial des Rates gegenüber in den Fraktionen, die Häufigkeit von harten Ausein- der Verwaltung und dem Bürgermeister wird von andersetzungen zwischen den Fraktionen und die den Befragten zugleich überwiegend als sehr hoch Fraktionsdisziplin geringer (vgl. Holtkamp 2012: 199). eingeschätzt. 63% der Befragten vertreten (eher) die Auffassung, dass sich der Gemeinderat gegenüber Fazit der Verwaltung immer durchsetzen kann, wenn er Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, die Partei- seine Kontrollmöglichkeiten ausschöpft. Unter kon- politisierung der sächsischen Kommunalpolitik zu un- kordanzdemokratischen Bedingungen ist es jedoch tersuchen und den in Sachsen vorherrschenden kom- eher unwahrscheinlich, dass der Rat seine Kontroll- munalen Demokratietyp empirisch herauszuarbeiten. möglichkeiten tatsächlich ausschöpft. Ausgehend von der Ausprägung der in der theoreti- Wie stark die konkordanzdemokratische Prägung der schen Diskussion identifizierten, erklärenden Variable sächsischen Kommunalpolitik ist, zeigt sich auch wurde als Hypothese formuliert, dass die Parteipoliti- beim Vergleich mit den Ergebnissen empirischer Un- sierung der sächsischen Kommunalpolitik gering ist tersuchungen der kommunalen Parteipolitisierung in und in Sachsen die kommunale Konkordanzdemokratie Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg (vgl. dominiert. Zur empirischen Überprüfung dieser Hypo- Holtkamp 2012: 199). Die prozedurale Parteipolitisie- these wurde eine schriftliche Befragung der Bürger- rung der sächsischen Kommunalpolitik ist tendenziell meister und Fraktionsvorsitzenden in den sächsischen noch geringer als die Parteipolitisierung in den Kom- Städten und Gemeinden mit über 5.000 Einwohnern munen Baden-Württembergs, das in der Literatur als durchgeführt. Die Ergebnisse der Untersuchung bestä- exemplarisch für die kommunale Konkordanzdemo- tigen die Hypothese. Die befragten Kommunalpolitiker

90 MIP 2015 21. Jhrg. Fuhrmann – Kommunale Konkordanzdemokratie in Sachsen. Eine Untersuchung der Parteipolitisierung [...] Aufsätze haben stark konkordanzdemokratisch geprägte Einstel- Holtkamp, Lars (2012): Verwaltungsreformen. Pro- lungen und Präferenzen und stehen einer starken Partei- blemorientierte Einführung in die Verwaltungswis- politisierung mit großer Mehrheit ablehnend gegen- senschaft, Wiesbaden. über. Die Ablehnung bezieht sich auf die personelle, Holtkamp, Lars (2008): Kommunale Konkordanz- und prozedurale und inhaltliche Parteipolitisierung der Konkurrenzdemokratie. Parteien und Bürgermeister Kommunalpolitik. Nicht nur die Einstellungen der be- in der repräsentativen Demokratie, Wiesbaden. fragten Kommunalpolitiker, sondern auch die Praxis der sächsischen Kommunalpolitik sind stark konkor- Jesse, Eckard/Schubert, Thomas/Thieme, Tom (Hrsg.) danzdemokratisch geprägt. Die Ratsfraktionen haben (2014): Politik in Sachsen, Wiesbaden. als politische Vorentscheidungsgremien eine geringe Lehmbruch, Gerhard (2012): Die Entwicklung der Bedeutung. Harte Auseinandersetzungen zwischen den vergleichenden Politikforschung und die Entdeckung Fraktionen sind selten. Es ist nicht unüblich, dass so- der Konkordanzdemokratie. Eine historisch-institu- gar zentrale kommunalpolitische Weichenstellungen tionelle Perspektive, in: Köppl, Stefan/Kranenpohl, und Entscheidungen einstimmig oder mit sehr großen Uwe (Hrsg.): Konkordanzdemokratie. Ein Demokra- Mehrheiten beschlossen werden. Die Fraktionsdisziplin tietyp der Vergangenheit?, Baden-Baden, 33-50. ist häufig gering. Außerdem verdeutlichen die Befra- Lehmbruch, Gerhard (1991): Das konkordanzdemo- gungsergebnisse die dominierende Stellung des Bürger- kratische Modell in der vergleichenden Analyse meisters in der sächsischen Kommunalpolitik und bele- politischer Systeme, in: Michalsky, Helga (Hrsg.): gen auch damit die konkordanzdemokratische Struk- Politischer Wandel in konkordanzdemokratischen turierung der kommunalen Demokratie in Sachsen. Systemen, Vaduz: 13-24. Literatur Lehmbruch, Gerhard (1975): Der Januskopf der Bogumil, Jörg (2001): Modernisierung lokaler Politik. Ortsparteien. Kommunalpolitik und das lokale Par- Kommunale Entscheidungsprozesse im Spannungs- teiensystem, in: Der Bürger im Staat 1/1975: 3-8. feld zwischen Parteienwettbewerb, Verhandlungs- Lehmbruch, Gerhard (1967): Proporzdemokratie. zwängen und Ökonomisierung, Baden-Baden. Politisches System und politische Kultur in der Bogumil, Jörg/Holtkamp, Lars (2013): Kommunal- Schweiz und in Österreich, Tübingen. politik und Kommunalverwaltung. Eine praxisorien- Naßmacher, Hiltrud/Naßmacher, Karl-Heinz (2007): tierte Einführung, Bonn. Kommunalpolitik in Deutschland, 2. Aufl., Wiesbaden. Bogumil, Jörg/Holtkamp, Lars/Schwarz, Gudrun Neckel, Sighard (1992): Das lokale Staatsorgan. (2003): Das Reformmodell Bürgerkommune. Leis- Kommunale Herrschaft im Staatssozialismus der tungen – Grenzen – Perspektiven, Berlin. DDR, in: Zeitschrift für Soziologie, 21 (4), 252-268. Demuth, Christian/Lempp, Jakob (Hrsg.) (2006): Niedermayer, Oskar (2014): Parteimitgliedschaften Parteien in Sachsen, Berlin. im Jahre 2013, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen Ernst & Young (2013): Abschlussbericht For- 45 (2), 416-439. schungsprojekt. Frauen in der Kommunalpolitik der Pollach, Günter/Wischermann, Jörg/Zeuner, Bodo neuen Länder, Berlin. (2000): Ein nachhaltig anderes Parteiensystem. Pro- Gabriel, Oscar (2013): Einstellungen der Bürger zu den file und Beziehungen von Parteien in ostdeutschen politischen Parteien, in: Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Kommunen, Opladen. Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden, 319-348. Weil, Francesca (2014): Die Runden Tische in der Gehne, David/Holtkamp, Lars (2005): Fraktionsvorsit- DDR 1989/90, Erfurt. zende und Bürgermeister in NRW und Baden-Württem- Wehling, Hans-Georg (1991): „Parteipolitisierung“ berg, in Bogumil, Jörg/Heinelt, Hubert (Hrsg.): Bürger- von lokaler Politik und Verwaltung? Zur Rolle der meister in Deutschland. Politikwissenschaftliche Studien Parteien in der Kommunalpolitik, in: Heinelt, Hubert/ zu direkt gewählten Bürgermeistern, Wiesbaden: 87-141. Wollmann, Helmut (Hrsg.): Brennpunkt Stadt: Stadt- Fuhrmann, Tobias (2014): Bericht zur Befragung der politik und lokale Politikforschung in den 80er und (Ober-)Bürgermeister und Fraktionsvorsitzenden der 90er Jahren, Basel u.a., 149-166. Kommunen im Erzgebirgskreis, Leipzig, online: Winkler-Haupt, Uwe (1988): Gemeindeordnung und www.lokale-demokratie.de/wp-content/uploads/2014 Politikfolgen. Eine vergleichende Untersuchung in /08/Ergebnisbericht-Wiss.-Befragung-lokale-Demok vier Mittelstädten, München. ratie-Erzgebirge-2013.pdf (15.1.2015)

91 Aufsätze Dürr – Same same but different? – Ein Vergleich langjähriger und neueingetretener Parteimitglieder [...] MIP 2015 21. Jhrg.

Same same but different? – Ein Vergleich ben kann. Der letztgenannte Aspekt wird im Fokus langjähriger und neueingetretener Partei- dieses Artikels stehen, da hierzu bislang wenige em- mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen pirische Erkenntnisse existieren. Baden-Württemberg Bislang haben sich lediglich Delwit und van Haute (2008) einer vergleichbaren Fragestellung gewidmet. Michael Dürr, M.A.1 In ihrer Studie untersuchen sie am Beispiel der fran- zösisch-sprachigen belgischen Grünen (Ecolo) näher, ob sich langjährige und neueingetretene Parteimit- 1. Einleitung und Fragestellungen glieder unterscheiden. Die Partei war von 1999 bis 2003 an der nationalen Regierung beteiligt und ver- In Zeiten kontinuierlich sinkender bzw. stagnieren- zeichnete infolgedessen einen starken Mitgliederzu- der Parteimitgliederzahlen2 stellt ein Zuwachs um wachs. Die Untersuchung konnte zwar keinen we- mehrere Hundert neue Mitglieder eine bemerkens- sentlichen Unterschied im Sozialprofil, jedoch Un- werte Ausnahme dar. In den vergangenen Jahren terschiede bei den Einstellungen der Alt- und Neu- konnte von den im Bundestag vertretenen Parteien mitglieder feststellen (vgl. Delwit & Van Haute lediglich Bündnis 90/Die Grünen (im Folgenden: 2008: 111-117). Grüne) Zuwächse in dieser Hinsicht verzeichnen (vgl. Niedermayer 2014: 2). Vor allem in Baden- Am Beispiel der baden-württembergischen Grünen Württemberg, wo es 2011 zu einem Machtwechsel wird im Folgenden untersucht, inwiefern sich neu- gekommen ist und die Partei seitdem erstmals in ei- eingetretene Mitglieder von langjährigen Parteiange- nem deutschen Bundesland die Regierung anführt, hörigen unterscheiden. Nicht nur die veränderte lan- lässt sich dieser Trend feststellen. despolitische Rolle der Grünen rechtfertigt diese Fal- lauswahl, sondern auch der Umstand, dass sie als In westlichen Demokratien und insbesondere in der einzige im baden-württembergischen Landtag vertre- Bundesrepublik spielen die Mitglieder in Parteien tene Partei in den vergangenen Jahren einen deutli- eine bedeutsame Rolle – sei es im Rahmen der inner- chen Mitgliederzuwachs verzeichnen konnten. Kon- parteilichen Willensbildung, als Multiplikatoren und kret werden folgende Fragestellungen beantwortet: freiwillige Wahlkampfhelfer3 oder als Finanziers ih- rer Partei.4 Wer die Mitglieder einer Partei sind und Haben die grünen Parteimitglieder, die zum Zeit- welche Einstellungen sie haben, ist aber nicht nur für punkt der Regierungsübernahme in Baden-Württem- die Parteieliten von Interesse. Um ihrer Funktion als berg eingetreten sind, ein abgrenzbares Profil, das Bindeglied zwischen Gesellschaft und politisch-ad- sie von den langjährigen Mitgliedern unterscheidet? ministrativem System nachkommen zu können, brau- Hierbei werden sowohl sozio-ökonomische und chen Parteien Mitglieder, die in der Bürgerschaft ideologische Merkmale als auch die Mitgliedschafts- verwurzelt sind und so eine Anbindung an die Bür- motive der Mitglieder analysiert. ger herstellen (vgl. Klein et al. 2011: 20-21). Und: Haben die grünen Parteimitglieder, die zum Übernimmt eine grün-alternative Partei zum ersten Zeitpunkt der Regierungsübernahme in Baden-Würt- Mal Regierungsverantwortung, kann dies laut Rüdig temberg eingetreten sind, andere Ansichten über und Rihoux (vgl. 2006: 17-21) entsprechend der ihre Partei in der Regierung als die Altmitglieder? Theorie des Parteiwandels von Harmel und Janda Hierbei werden die Parteizielvorstellungen der lang- jährigen und neueingetretenen grünen Mitglieder (1994) als ein positiver externer Schock wirken, der 5 Auswirkungen auf die Organisationsstruktur der Par- miteinander verglichen. tei, auf ihre inhaltlich-programmatische Ausrichtung oder die Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaft ha-

1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozi- alwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 5 2 Einen guten Überblick zu der Entwicklung der Parteimitglied- Wie eingangs erwähnt wurde, ist der Mitgliederzuwachs bei schaften in Europa in den vergangenen Jahrzehnten liefern den Grünen kein Phänomen, das sich ausschließlich auf Ba- Van Biezen et al. (2011). den-Württemberg beschränkt. Interessant wäre es deshalb, zu untersuchen, ob sich die in anderen Landesverbänden einge- 3 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag tretenen neuen Mitglieder stärker von den dortigen Altmit- bei personenbezogenen Aussagen, sofern es sich nicht ausdrück- gliedern unterscheiden oder ob die Unterschiede geringer lich um Frauen handelt, stets die männliche Form verwendet. sind. Aufgrund mangelnder aktueller Daten kann diese Frage 4 Näheres hierzu siehe Detterbeck (2009). jedoch derzeit leider nicht beantwortet werden.

92 MIP 2015 21. Jhrg. Dürr – Same same but different? – Ein Vergleich langjähriger und neueingetretener Parteimitglieder [...] Aufsätze

2. Hintergründe: Regierungsübernahme und dass knapp ein Viertel aller Mitglieder (2200 Perso- massiver Mitgliederzuwachs nen) nach 2010 beigetreten sind.7 In Baden-Württemberg schien es jahrzehntelang so, Bemerkenswert ist zudem, dass die Grünen als einzige als könne keine andere Partei als die CDU die Landes- im baden-württembergischen Landtag vertretene Partei regierung anführen und den Ministerpräsidenten stel- einen Mitgliederzuwachs verzeichnen konnten, wäh- len. Beinahe 60 Jahre regierten die Christdemokraten rend CDU, SPD und FDP im Südwesten seit 2010 den Südwesten; alleine, mit der FDP oder der SPD als Mitglieder verloren (vgl. Niedermayer 2014: 6-12). Juniorpartner. Die Grünen waren dagegen seit ihrer Abbildung 1: Mitgliederentwicklung der Grünen in Gründung drei Jahrzehnte lang Oppositionspartei. Baden-Württemberg seit 1990 Dies änderte sich mit der Landtagswahl 2011, die aus einer Vielzahl von Gründen außergewöhnlich war. Ei- nerseits hatten landespolitische Ereignisse, vor allem die Auseinandersetzung um „Stuttgart 21“, die Kompetenz der damals amtierenden Landesregierung infrage gestellt und zugleich die Grünen als wirkliche Alternative erkennbar werden lassen. Andererseits waren Einflüsse außerhalb des Bundeslandes relevant, wie etwa die Tatsache, dass die damals unpopuläre Bundesregierung ebenfalls wie die Landesregierung von Union und FPD gestellt wurde. Vor allem ist je- doch die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushi- ma zu nennen. Vor diesem Hintergrund waren Ener- gie- und Verkehrspolitik bedeutsame Politikfelder für viele Wähler. Schließlich konnte der grüne Spitzen- kandidat Winfried Kretschmann im Vergleich mit sei- Eigene Darstellung. Quelle: Niedermayer (2014). nen Mitbewerbern, dem amtierenden Ministerpräsi- denten Stefan Mappus und dem SPD-Kandidaten 3. Theoretische Überlegungen und zu prüfende , am ehesten die Wähler von sich über- Thesen zeugen (vgl. Roth 2013: 23-26).6 Vor diesem Hinter- grund ist das Ergebnis vom 27. März 2011 zu verste- Laut Kitschelt (vgl. 1989: 57) werden grün-alternati- hen, bei dem die Grünen 24,2 % der Stimmen erhiel- ve Parteien für einen breiteren Personenkreis attrak- ten (mehr als doppelt so viele wie bei der Wahl da- tiv, sobald sie im Parteienwettbewerb eine relevante- vor) und somit zur zweitstärksten Kraft im ba- re Rolle spielen. Erstmals zu regieren stellt neben ei- den-württembergischen Landtag wurden. Zusammen nem solchen Bedeutungszugewinn für eine Partei mit der SPD, die knapp einen Prozentpunkt weniger eine deutliche Veränderung dar. Sie hat mehr Gestal- erhielt, bildeten sie die erste grün-rote Koalition in tungsmöglichkeiten als in der Opposition, zugleich einem deutschen Bundesland. aber auch mehr Verantwortung. Im vorliegenden Fall dürften die Veränderungen noch gravierender sein, Die Mitgliederzahlen der Grünen im Südwesten le- da die Grünen in Baden-Württemberg bislang keine gen nahe, dass sie als führende Regierungspartei in Regierungserfahrung hatten und von einem Tag auf den folgenden Jahren eine zunehmende Attraktivität den anderen in der ungewohnten Situation waren, die für neue Mitglieder entwickelten. Der Trend, der be- Regierung anzuführen und den Ministerpräsidenten reits 2010 begonnen hatte, setzte sich 2011 und in zu stellen. Es ist zu prüfen, ob sich andere Personen- den Jahren danach fort (siehe Abbildung 1). Wäh- kreise als bislang von den Grünen als führende Re- rend die Partei Ende 2010 ca. 7750 Mitglieder zähl- gierungspartei angesprochen fühlten und beigetreten te, waren es Ende 2013 etwa 9000 Personen. Dies sind. Wäre dies der Fall, würden sich diese Personen entspricht einer Steigerung von 16 %. Hierbei sind von den bisherigen Parteimitgliedern sowohl in Hin- Austritte und Sterbefälle mit eingerechnet. Betrach- blick auf ihr Sozialprofil als auch auf ihre politi- tet man hingegen nur die Neueintritte, so zeigt sich, schen Einstellungen sowie in Hinblick auf ihre Par- teizielvorstellungen unterscheiden. 6 Aufgrund der Kürze des Beitrags wird nicht ausführlicher auf die Umstände des Wahlsiegs eingegangen. Gute Analysen hierzu finden sich im Sammelband von Wagschal et al. (2013) 7 Laut Auskunft der Landesgeschäftsstelle der Grünen Baden- sowie bei Keil und Gabriel (2012). Württemberg.

93 Aufsätze Dürr – Same same but different? – Ein Vergleich langjähriger und neueingetretener Parteimitglieder [...] MIP 2015 21. Jhrg.

Für die weitere Untersuchung ist es zunächst hilfreich, T3: Langjährige Parteimitglieder der baden- den Blick darauf zu richten, was über die grüne Mit- württembergischen Grünen verorten sich gliedschaft bekannt ist. Anhand der Ergebnisse der selbst weiter links als die neueingetretenen bundesweit durchgeführten Parteimitgliederstudie Mitglieder. PAMIS8 wird deutlich, dass die Grünen die Partei mit Laut Rüdig und Rihoux (vgl. 2006: 19) können grün- dem höchsten Frauenanteil (38 %) sind. Verglichen alternative Parteien als Regierungsparteien stärker als mit anderen Parteien sind ihre Mitglieder tendenziell potentieller Ort für Elitenrekrutierung wahrgenommen höher gebildet (85 % mit (Fach)Hochschulreife); die werden. Das heißt, dass möglicherweise vermehrt Per- größte Gruppe der Erwerbstätigen stellen Beamte bzw. sonen der Partei beitreten, denen es darum geht, per- Angestellte im öffentlichen Dienst (45 %) dar. Zudem sönliche Karriereziele zu verwirklichen. Diese Mit- verorten sich Parteiangehörige der Grünen im politi- glieder könnten sich etwa ein Parteiamt, ein Mandat schen Spektrum relativ weit links (nur die Mitglieder bzw. öffentliches Amt oder sonstige berufliche Vor- der Linkspartei stufen sich selbst im Durchschnitt lin- teile als Folge ihrer Mitgliedschaft erhoffen. Zur ker ein) (vgl. Klein 2011: 43-50; Spier 2011: 129). Überprüfung dieser Annahme ist es sinnvoll, eine Im Folgenden werden Unterschiede und Gemeinsam- differenzierte Betrachtung von Mitgliedschaftsmoti- keiten zwischen langjährigen und neueingetretenen ven vorzunehmen. Besonders geeignet hierfür ist das Mitgliedern der Grünen in Baden-Württemberg ge- General Incentives Model, das auf Seyd und Whiteley prüft. Überträgt man die existierenden Kenntnisse zurückgeht (1992) und von Klein (2006) auf Deutsch- über grüne Parteimitglieder in Deutschland, so wür- land übertragen wurde. Darin werden sieben verschie- de ein anderes Sozialprofil bedeuten, dass der Anteil dene Motivarten bzw. Anreize unterschieden, die für gering gebildeter Personen höher und der Anteil der den Beitritt in eine Partei bzw. für die anhaltende Mit- Beschäftigten im öffentlichen Dienst unter den Neu- gliedschaft relevant sein können: 1) Selektive, ergeb- mitgliedern niedriger ist.9 Darüber hinaus können nisbezogene Anreize (persönliche Vorteile, die aus Differenzen bei der ideologischen Selbstverortung der Mitgliedschaft entstehen); 2) Selektive, prozessbe- bestehen, in dem Sinne, dass sich die Neumitglieder zogene Anreize (persönliche Vorteile, die durch die im politischen Spektrum eher in der Mitte und die Mitarbeit in der Partei entstehen); 3) Kollektive, Altmitglieder links davon verorten. politische Anreize (der Wunsch, sich für die politi- schen Ziele der Partei einzusetzen); 4) Normative An- Da es sich bei diesen Überlegungen um keine aus ei- reize (das Anliegen, die Erwartungen des persönlichen ner Theorie abgeleiteten Aussagen über Wirkungszu- Umfeldes zu erfüllen); 5) Altruistische Anreize (die sammenhänge handelt, sondern vielmehr um empi- eigene demokratische Bürgerpflicht erfüllen); 6) Ideo- risch plausible Vermutungen, wird im Folgenden logische Anreize (der Wunsch, den Kurs der Partei zu nicht von Hypothesen, sondern von Thesen gespro- beeinflussen oder eine innerparteiliche Strömung zu chen. Diese werden folgendermaßen formuliert: unterstützen) und 7) Expressive Anreize (der Wunsch, T1: Der Anteil der Hochgebildeten ist bei die Partei oder Politiker zu unterstützen) (vgl. Laux den langjährigen Parteimitgliedern der baden- 2011: 62-64).10 württembergischen Grünen höher als bei Die entsprechende These hierzu lautet: den neueingetretenen Mitgliedern. T4: Die neueingetretenen Parteimitglieder T2: Der Anteil der Beschäftigten im öffent- der baden-württembergischen Grünen er- lichen Dienst ist bei den neueingetretenen achten selektive, ergebnisbezogene Anreize Parteimitgliedern der baden-württembergi- für ihre Mitgliedschaft wichtiger als die schen Grünen geringer als bei den langjäh- langjährigen Parteimitglieder. rigen Mitgliedern. Darüber hinaus lassen sich weitere Unterschiede bei 8 Bei der Deutschen Parteimitgliederstudie 2009 (PAMIS) han- delt es sich um ein Gemeinschaftsprojekt von Wissenschaft- den Einstellungen der Alt- und Neumitglieder anneh- lern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der Leib- men. Parteien verfolgen verschiedene, teilweise sogar niz Universität Hannover. Darin wurden in einer repräsentati- konkurrierende Ziele. Harmel und Janda (vgl. 1994: ven postalischen Umfrage die Mitglieder aller damals im Bun- destag vertretener Parteien befragt. 10 In dem Modell wird neben diesen positiven Anreizen, auch 9 Dagegen erscheint es nicht plausibel, dass sich das Ge- von negativen Anreizen (Zeitaufwand, finanzielle Kosten) ge- schlechtsverhältnis zwischen neuen und alten Mitgliedern un- sprochen (vgl. Klein 2006: 40). Diese sind jedoch für den terscheidet. Ebenso kann keine klare Prognose bzgl. des Al- vorliegenden Artikel nicht weiter von Bedeutung. Im Folgen- ters der neueingetretenen Mitglieder gemacht werden. Hierzu den sind daher stets die positiven Anreize gemeint, wenn von werden deshalb keine Thesen aufgestellt. Anreizen die Rede ist.

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269, 273) unterscheiden in Anlehnung an die grund- baden-württembergischen Grünen aufgefasst werden, legende Konzeption von Strøm (1990) vier verschie- wie ein Vergleich anhand zentraler Merkmale nahe- dene Parteiziele: 1) vote maximization (bei Wahlen legt.12 So ist das Geschlechterverhältnis beinahe gleich möglichst viele Stimmen gewinnen); 2) office maxi- (in der Grundgesamtheit befinden sich ca. 62 % mization (an der Regierung beteiligt sein bzw. mög- männliche Mitglieder und in der Stichprobe ca. 64 %). lichst viele Regierungsämter besetzen); 3) policy ad- Auch die Altersverteilung unterscheidet sich nicht we- vocacy (möglichst viele inhaltliche Politikziele um- sentlich innerhalb der Grundgesamtheit und in der setzen und damit die Erwartungen bestimmter Klien- Stichprobe (das Durchschnittsalter beträgt 49 bzw. 50 tele erfüllen) und 4) intraparty democracy maximiza- Jahre). Gleiches gilt für die Dauer der Mitgliedschaft tion (möglichst umfassend den Willen der eigenen (in der Grundgesamtheit durchschnittlich 11 Jahre und Parteimitglieder umsetzen). in der Stichprobe im Schnitt 13 Jahre). Die Grünen verstanden sich zu Beginn ihrer Ge- Der nächste Abschnitt widmet sich dem Vergleich schichte als Anti-Parteien-Partei, die ihre basisdemo- zwischen langjährigen und neueingetretenen Partei- kratischen Organisationsideale sowie vor allem ihre mitgliedern (im Folgenden auch: Alt- bzw. Neumit- programmatischen Ziele verwirklichen wollte. In Par- glieder). Die Gruppenzuteilung erfolgt entsprechend lamente einzuziehen oder gar zu regieren nahm einen des Zeitpunkts des Parteibeitritts, je nachdem ob er geringeren Stellenwert ein (vgl. Probst 2013: 521, vor oder nach der Regierungsübernahme durch die 526-528). Auch wenn sich diese Zielsetzung verändert baden-württembergischen Grünen im Jahr 2011 er- hat und die Grünen nicht mehr eine reine Oppositions- folgte. Langjährige Parteimitglieder werden daher in partei sind, so erscheint es doch plausibel, dass das diesem Artikel als Personen definiert, die vor 2011 Ziel policy advocacy bei langjährigen Parteimitglie- eingetreten und somit zwischen 3 Jahre und 34 Jahren dern einen höheren Stellenwert einnimmt als bei neu- Parteimitglied sind; neueingetretene Mitglieder wer- eingetretenen Personen, die nicht über mehrere Jahre den als Personen definiert, die weniger als 3 Jahre in der Partei sozialisiert wurden. Hingegen könnte es den Grünen angehören.13 In der vorliegenden Stich- für Neumitglieder der Grünen in Baden-Württemberg probe befinden sich 362 Personen (20 % der Befrag- bedeutsamer sein, die Rolle als (führende) Regie- ten), die im Jahr 2011 oder danach eingetreten sind. rungspartei auch nach der nächsten Wahl beizubehal- Dieser Wert ist etwas geringer als der Anteil der neu- ten; während die Altmitglieder unter Umständen lie- eingetretenen Personen in der Grundgesamtheit. Laut ber in die Opposition zurückkehren würden als Zuge- Auskunft der grünen Landesgeschäftsstelle waren ständnisse in zentralen Politikbereichen zu machen. 24,6 % der Mitglieder Ende 2013 weniger als 3 Jahre Deshalb wird folgende These aufgestellt: Mitglied der Partei. T5: Das Parteiziel policy advocacy nimmt Zur Prüfung der oben aufgestellten Thesen werden für die neueingetretenen Parteimitglieder im Folgenden die unterschiedlichen Merkmalsvertei- der baden-württembergischen Grünen einen lungen bei den langjährigen und neueingetretenen geringeren Stellenwert ein als für die lang- Parteimitgliedern aufgeführt. Je nach Skalierung der jährigen Mitglieder. betrachteten Variablen werden Übereinstimmungen bzw. Differenzen entweder als Kreuztabellen oder in 4. Datengrundlage und methodisches Vorgehen Form von Mittelwertvergleichen dargestellt und an- hand von Chi²- bzw. t-Tests überprüft. Als Kriterium Die Datengrundlage dieses Artikels stammt aus einer für die Annahme oder Ablehnung der Thesen wird Online-Befragung der Mitglieder der baden-württem- ein Signifikanzniveau von 5 % gewählt. bergischen Grünen durch den Autor dieses Beitrags.11 Innerhalb eines Zeitraums von zwei Monaten (Mitte 5. Ergebnisse November 2013 bis Mitte Januar 2014) beantworteten mehr als 1800 Personen den standardisierten Frage- Bevor die Thesen überprüft werden, soll noch kurz bogen vollständig – ca. 20 % aller grünen Parteimit- auf die Gründe eingegangen werden, warum so viele glieder in Baden-Württemberg. Somit ist eine ange- Personen seit 2011 bei den Grünen in Baden-Würt- messene Stichprobengröße gegeben, die die verglei- temberg eingetreten sind. Möglicherweise hat die ver- chende Untersuchung zwischen Alt- und Neumitglie- änderte Rolle der Partei in der baden-württembergi- dern erlaubt. Darüber hinaus können die erhobenen Daten als repräsentativ für die Grundgesamtheit der 12 Die Informationen hierzu stammen von der Landesgeschäfts- stelle der Grünen Baden-Württemberg. 11 Die Daten werden im Dissertationsprojekt des Autors verwendet. 13 Referenzpunkt für diese Berechnung ist der 31.12.2013.

95 Aufsätze Dürr – Same same but different? – Ein Vergleich langjähriger und neueingetretener Parteimitglieder [...] MIP 2015 21. Jhrg. schen Landespolitik zu dem oben beschriebenen Mit- Von den Befragten, die 2011 oder danach eingetre- gliederzuwachs entscheidend beigetragen. Um diese ten sind, gaben lediglich 11 % an, vorher einer ande- Vermutung prüfen zu können, werden die Eintritts- ren Partei angehört zu haben.16 Das heißt, der Groß- gründe der Neumitglieder im Folgenden vorgestellt. teil der neueingetretenen Personen konnte sich erst- Tabelle 1 zeigt die Beitrittsstimuli, die für die neuen mals für eine Parteimitgliedschaft begeistern. Parteimitglieder eine Rolle gespielt haben.14 Dabei Als Nächstes werden die sozialstrukturellen Merk- wird deutlich, dass weniger als ein Drittel der neuein- male der Mitglieder verglichen: Das Geschlecht der getretenen Mitglieder den Wahlsieg 2011 als wichtig Befragten, ihr Alter, ihr Bildungsgrad sowie ihre für ihre Beitrittsentscheidung auffassen; mehr als die Stellung im Beruf.17 Beim Geschlechterverhältnis Hälfte der Befragten erachtet ihn sogar als unwichtig. finden sich keine signifikanten Unterschiede zwi- Stattdessen spielten für die Mehrheit der Neumitglie- schen Alt- und Neumitgliedern (nicht gesondert aus- der der Konflikt um „Stuttgart 21“ sowie eine anste- gewiesen). Mit ca. 64 % der Altmitglieder bzw. ca. hende Wahl15 und der dazugehörige Wahlkampf eine 63 % der Neumitglieder überwiegt jeweils der Män- wichtige oder zumindest teilweise wichtige Rolle. Deut- neranteil innerhalb der beiden Gruppen. Dagegen un- lich wird darüber hinaus, dass der Mitgliederzuwachs terscheiden sich Alt- und Neumitglieder signifikant der Grünen im Südwesten im Wesentlichen auf eine hinsichtlich der Altersverteilung (vgl. Tabelle 2): Er- Selbstrekrutierung zurückzuführen ist. Mitgliederwer- kennbar ist, dass die neueingetretenen Mitglieder beaktionen oder eine Rekrutierung aus dem Freundes- jünger sind. Die Gruppe der unter 34-Jährigen ist kreis sind die Stimuli mit der geringsten Bedeutung. dort deutlich stärker vertreten als unter den langjäh- Tabelle 1: Beitrittsanlässe der Neumitglieder (Angaben in rigen Mitgliedern; nichtsdestotrotz haben sich nicht Prozent) nur junge Menschen nach 2010 für den Parteieintritt Anlass Wichtig Teils- Unwichtig entschieden. Im Durchschnitt sind die Neumitglieder Teils 46 Jahre alt, während die langjährigen Mitglieder im Die Auseinandersetzung um Schnitt 51 Jahre alt sind. 43,8 12,6 43,5 "Stuttgart 21" Tabelle 2: Altersverteilung nach Mitgliedschaftsdauer Eine bevorstehende Wahl (Angaben in Prozent) und der damit verbundene 41,5 11,6 46,9 Wahlkampf Gesamt Alt-M. Neu-M. Die Nuklearkatastrophe von Bis 34 Jahre 15,8 13,5 24,9 36,4 13,4 50,1 Fukushima 35 bis 49 Jahre 27,0 26,4 29,4 Persönlicher Kontakte mit 50 bis 64 Jahre 44,8 47,5 34,1 34,4 15,4 50,3 grünen Parteimitgliedern 65 Jahre und älter 12,4 12,6 11,6 Der Wahlsieg der Grünen N 1809 1448 361 bei der baden-württembergi- 29,9 14,4 55,6 Chi² = 36,94; df = 3; p < 0,001; Cramers V = 0,143. Eigene schen Landtagswahl 2011 Berechnung. Quelle: Eigene Erhebung. Die Sympathie für eine(n) 27,2 17,1 55,6 Politiker(in) Ansprache aus dem Freun- 17,0 8,0 75,0 Beim Bildungsgrad der Befragten ist erkennbar, dass deskreis die Neumitglieder in etwas geringerem Umfang als Eine Mitgliederwerbeaktion 5,6 3,9 9 die Altmitglieder der Gruppe der Hochgebildeten zu- der Grünen zuordnen sind. These 1 kann somit angenommen N variiert je nach Aussage zwischen 352 und 358. Eigene werden. Nichtsdestotrotz stellen auch bei den neu- Darstellung. Quelle: Eigene Erhebung. eingetretenen Personen diejenigen mit (Fach)Hoch- schulreife die mit Abstand größte Gruppe dar (vgl. 14 Die hierzu gehörende Frage lautete: „Häufig gibt es einen konkreten Anlass, der zu einem Parteieintritt führt. Wie wich- Tabelle 3). tig waren folgende Anlässe für Ihren Eintritt bei Bündnis 90/ Die Grünen?“. Die Antwortmöglichkeiten waren in Form ei- ner fünfstufigen Likert-Skala vorgegeben und folgendermaßen abgestuft: „überhaupt nicht wichtig“ (1), „weniger wichtig“ (2), „teils-teils“ (3), „wichtig“ (4), „sehr wichtig“ (5). Zur 16 Die meisten dieser Befragten waren zuvor Mitglied bei der besseren Übersicht sind die ersten beiden und die letzten bei- SPD (ca. 39 %) oder der CDU (ca. 32 %). den Kategorien in Tabelle 1 zusammengefasst. 17 Da es sich hierbei um in der Umfrageforschung übliche Fra- 15 Neben der Landtagswahl 2011 kann hierfür die Bundestags- gen handelt, die etwa auch bei PAMIS gestellt wurden, wird wahl 2013 relevant gewesen sein. im Folgenden auf die Wiedergabe ihres Wortlauts verzichtet.

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Tabelle 3: Bildungsgrad nach Mitgliedschaftsdauer (An- tungen für die Alt- und Neumitglieder in der Stich- gaben in Prozent) probe ab. Es wird deutlich, dass sich beide Gruppen Gesamt Alt-M. Neu-M. mit einem durchschnittlichen Skalenwert von 4 deut- Höchstens Mittlere Reife 12,5 11,7 15,7 lich links der Mitte positionieren. Zwar verorten sich die langjährigen Mitglieder der Grünen in Ba- (Fach)Hochschulreife 87,5 88,3 84,3 den-Württemberg etwas linker als die Neumitglieder, N 1812 1450 362 hierbei handelt es jedoch um keinen signifikanten Chi² = 4,44; df = 1; p < 0,05; Cramers V = 0,050. Eigene Be- Unterschied. Daher wird These 3 abgelehnt. rechnung. Quelle: Eigene Erhebung. Tabelle 5: Ideologische Selbsteinschätzung nach Mitglied- Von den Altmitgliedern sind ungefähr 75 % in Voll- schaftsdauer (Mittelwerte) oder Teilzeit erwerbstätig. Innerhalb der Gruppe der Gesamt Alt-M. Neu-M. Neumitglieder in der Stichprobe trifft dies für ca. 68 % zu (nicht gesondert ausgewiesen). Dafür ist der Links-Rechts-Selbsteinstufung 4,21 4,18 4,35 Anteil, der sich noch in Ausbildung befindlichen N 1791 1431 360 Personen (sei es schulisch, betrieblich oder universi- Signifikanzniveaus: * = p < 0,05; ** = p < 0,01; *** = p < 0,001. tär) mit ca. 12 % doppelt so hoch bei den Neumit- Eigene Berechnung. Quelle: Eigene Erhebung. gliedern, was darauf zurückzuführen ist, dass der Im Folgenden werden alle sieben Mitgliedschaftsan- Anteil junger Menschen in dieser Gruppe höher ist. reizarten des General Incentives Models ausgewie- In der vorliegenden Stichprobe stellen die Beamten sen, um auch die Motivkomplexe vergleichen zu bzw. Angestellten im öffentlichen Dienst sowohl bei können zu denen keine Thesen aufgestellt wurden. den langjährigen als auch bei den neueingetretenen Dazu wurden additive Indizes aus mehreren Items Mitgliedern die größte Berufsgruppe dar (vgl. Tabel- 21,22 18 gebildet. Diese Indizes wurden so codiert, dass sie le 4). Jedoch ist der Anteil unter den Neumitglie- einen Wertebereich von 0 (überhaupt nicht wichtig) dern niedriger (unter 40 %) als bei den Altmitglie- bis 10 (sehr wichtig) abdecken. Bei diesem Vorge- dern. Da das Signifikanzniveau nur sehr knapp über- hen sowie bei der Operationalisierung der einzelnen schritten wird (p= 0,056) wird These 2 angenommen. Motive wurde die PAMIS Studie zum Vorbild ge- Tabelle 4: Anteil Beschäftigter im öffentlichen Dienst nommen (vgl. Laux 2011: 64). Tabelle 6 veranschau- nach Mitgliedschaftsdauer (Angaben in Prozent)19 licht, dass zwischen den langjährigen und den neu- eingetretenen Parteimitgliedern teilweise deutliche Gesamt Alt-M. Neu-M. Unterschiede hinsichtlich der Mitgliedschaftsanreize Öffentlicher Dienst 43,9 45,1 38,5 bestehen. Dies gilt für die selektiven, ergebnisbezo- Andere Berufsgruppen 56,1 54,9 61,5 genen Anreize (weswegen These 4 angenommen N 1339 1092 247 Chi² = 3,66; df = 1; p < 0,1; Cramers V = 0,052. Eigene Be- 21 Die dazugehörende Frage lautete „Warum sind Sie Mitglied rechnung. Quelle: Eigene Erhebung. von Bündnis 90/Die Grünen? Bitte geben Sie für jeden der im Folgenden aufgeführten Gründe an, wie wichtig dieser für Sie Als Nächstes werden Unterschiede und Gemeinsam- gegenwärtig ist.“ Die Antwortkategorien waren dieselben wie keiten bei den Einstellungen der Mitglieder betrach- bei Tabelle 1. tet. Für die ideologische Selbstverortung der Befrag- 22 Folgende Einzelitems wurden verwendet (in den Klammern ten wurde eine 11-stufige Skala verwendet, die eine wird das Reliabilitätsmaß Cronbachs Alpha angegeben, wenn differenzierte Positionierung auf der Links- mehr als ein Item verwendet wurde): Selektive, ergebnisbezo- 20 gene Anreize: Um berufliche Vorteile zu erlangen; Aus Inter- Rechts-Achse erlaubt. Tabelle 5 bildet die Veror- esse an einem Parteiamt; Aus Interesse an einem öffentlichen 18 Die anderen Berufsgruppen (Angestellte in der Wirtschaft, Mandat (α = 0,7) / Selektive, prozessbezogene Anreize: Aus Selbstständige, Freiberufler, Landwirte, Arbeiter und mithelfen- Spaß an der politischen Arbeit; Um mich besser über Politik de Familienangehörige) wurden in einer Kategorie zusammenge- zu informieren; Um mit netten Leuten zusammenzukommen fasst, da aufgrund der teilweise zu geringen Fallzahlen in man- (α = 0,6) / Kollektive, politische Anreize: Um mich für die cher dieser Gruppen eine sinnvolle Interpretation der Anteile Ziele der Partei einzusetzen; Um den Einfluss der Partei zu bzw. des Signifikanztests sonst nicht möglich gewesen wäre. stärken; Um mich für eine ökologisch orientierte Politik ein- zusetzen (α = 0,5) / Normative Anreize: Wegen des Einflusses 19 Bezieht sich nur auf die Erwerbstätigen. von Familie und Freunden / Altruistische Anreize: Um meiner 20 Die hierzu gestellte Frage lautet „In der Politik reden die Leu- Verantwortung als Bürger(in) nachzukommen / Ideologische te häufig von "links" und "rechts". Wenn Sie eine Skala von 1 Anreize: Um einen bestimmten Flügel in der Partei zu stär- bis 11 benutzen, wo würden Sie die Bundesparteien einord- ken; Um den politischen Kurs der Partei zu beeinflussen (α = nen, wenn 1 "links" und 11 "rechts" ist?“ Im Anschluss daran 0,5) / Expressive Anreize: Um meine Sympathie für die Partei wurde gefragt: „Und wo würden Sie sich selbst auf dieser zu zeigen; Wegen beeindruckender Persönlichkeiten an der Skala einordnen?“. Parteispitze (α = 0,3).

97 Aufsätze Dürr – Same same but different? – Ein Vergleich langjähriger und neueingetretener Parteimitglieder [...] MIP 2015 21. Jhrg. wird), aber auch für die selektiven, prozessbezoge- Reihenfolge anordnen. Von beiden Gruppen wird nen Anreize sowie für die expressiven Anreize bei policy advocacy als das mit Abstand wichtigste Ziel denen der mittlere Indexwert der Neumitglieder je- eingeschätzt. Jedoch unterscheidet sich der Anteil weils signifikant höher ist als bei den Altmitgliedern. derjenigen Personen, die diesem Ziel den höchsten Das bedeutet, dass individuelle Vorteile (für die ei- Stellenwert einräumt. 62 % der Altmitglieder messen gene politische Karriere) für die Mitgliedschaft der der Verwirklichung möglichst vieler grüner Politik- neueingetretenen Grünen eine größere Rolle spielen ziele in der Landespolitik die höchste Bedeutung zu, als für die Altmitglieder. Darüber hinaus sind für die während nur 54 % der Neumitglieder dies als wich- neueingetretenen Mitglieder Faktoren, wie z.B. Spaß tigstes Ziel erachten. Somit kann These 5 angenom- an der politischen Arbeit, der Wunsch nette Leute zu men werden. In beiden Gruppen werden office maxi- treffen sowie das Anliegen, Sympathie für die Grünen mation als zweitwichtigstes, vote maximation als oder grüne Politiker auszudrücken relevanter. Aller- drittwichtigstes und schließlich intraparty democracy dings sind für beide Gruppen andere Anreize deutlich maximation als viertwichtigstes Ziel eingeordnet. wichtiger. Hierzu zählen insbesondere die Anliegen, Für die neueingetreten Mitglieder ist jedoch das Ziel, die politischen Ziele der Partei zu unterstützen (kollek- auch nach der nächsten Wahl die Regierung anzu- tive, politische Anreize) sowie der eigenen demokra- führen und den Ministerpräsidenten zu stellen rele- tischen Bürgerpflicht durch die Mitgliedschaft bei vanter (5 % Differenz zu den Altmitgliedern). den Grünen nachzukommen (altruistische Anreize). Tabelle 7: Wichtigstes Parteiziel nach Mitgliedschafts- Tabelle 6: Mitgliedschaftsanreize nach Mitgliedschafts- dauer (Angaben in Prozent) dauer (Mittelwerte) Gesamt Alt-M. Neu-M. Anreize Gesamt Alt-M. Neu-M. vote maximization 12,2 11,9 13,4 Selektive, ergebnisbezogene 1,59*** 1,49 1,98 office maximization 20,3 19,2 24,4 Selektive, prozessbezogene 4,83*** 4,74 5,18 policy advocacy 60,7 62,4 54,0 Kollektive, politische 7,95 7,92 8,05 interparty democracy 6,8 6,5 8,2 Normative 1,14 1,13 1,18 maximization Altruistische 7,33 7,32 7,37 N 1761 1409 352 Ideologische 4,84 4,83 4,89 Chi² = 8,81; df = 3; p < 0,05; Cramers V = 0,07. Eigene Be- Expressive 4,96*** 4,84 5,43 rechnung. Quelle: Eigene Erhebung. Signifikanzniveaus: * = p < 0,05; ** = p < 0,01; *** = p < 0,001. N variiert zwischen 1804 und 1809 für alle Mitglieder bzw. 6. Zusammenfassung und Fazit zwischen 1443 und 1447 für die Altmitglieder und zwischen 361 und 362 für die Neumitglieder. Eigene Berechnung. Vor dem Hintergrund eines massiven Mitgliederzu- Quelle: Eigene Erhebung. wachses in den vergangenen Jahren wurde in diesem Artikel ein Vergleich zwischen langjährigen und Abschließend werden die Parteizielpräferenzen der neueingetretenen Parteimitgliedern der baden-würt- Alt- und Neumitglieder miteinander verglichen. Die tembergischen Grünen vorgenommen. Es wurde ge- zugrundeliegende Frage lautete: „Wie wichtig sollten zeigt, dass die Partei zwar viele neue Personen als folgende Ziele für Bündnis 90/Die Grünen in Baden- Mitglieder gewinnen konnte, jedoch konnte festge- Württemberg sein?“. Die Befragten wurden darauf- stellt werden, dass diese sich in sozial-struktureller hin gebeten, folgende vier Aussagen in eine Rangfol- Hinsicht nicht wesentlich von den bisherigen Mit- ge entsprechend ihrer eigenen Präferenz zu bringen: gliedern unterscheiden. Sowohl die Alt- als auch die 1) „In den kommenden Wahlen möglichst viele Neumitglieder sind in ihrem Profil eher männlich, Stimmen erhalten“ (vote maximation); 2) „Auch mittleren Alters und gut gebildet. Sie sind größten- nach der nächsten Landtagswahl den Ministerpräsi- teils erwerbstätig und die größte Gruppe von ihnen denten stellen“ (office maximation); 3) „Möglichst ist beruflich im öffentlichen Dienst zu verorten. Bei viel der grünen Programmatik in der Landespolitik der Bildung und der Stellung im Beruf ließen sich umsetzen“ (policy advocacy) und 4) „Die grünen zwar Unterschiede zwischen den untersuchten Grup- Mitglieder stärker bei der innerparteilichen Willens- pen feststellen; es kann jedoch insgesamt nicht von bildung einbeziehen“ (intraparty democracy maximi- einem klar abgrenzbaren Profil gesprochen werden. zation). In Tabelle 7 ist ersichtlich, dass sowohl die Vielmehr scheint es, als konnte der bisherige Rekru- langjährigen als auch die neueingetretenen Mitglie- tierungspool der Partei in den letzten Jahren weiter der die zur Auswahl stehenden Ziele in der gleichen ausgeschöpft werden anstatt dass komplett neue Ge-

98 MIP 2015 21. Jhrg. Dürr – Same same but different? – Ein Vergleich langjähriger und neueingetretener Parteimitglieder [...] Aufsätze sellschaftssegmente (z.B. Arbeitslose, prekär Be- der Lage sind, die große Menge an neueingetretenen schäftigte oder gering Gebildete) für eine Mitglied- Mitgliedern zu integrieren und wie dies die Partei schaft gewonnen werden konnten. Allerdings dürften langfristig verändern wird. die Grünen in Baden-Württemberg hierauf auch we- Literatur nig direkten Einfluss haben, da fast alle Neumitglie- der Selbstrekrutierer sind, die nicht aufgrund einer Delwit, P.; Van Haute, E. (2008): Greens in a rain- Mitgliederwerbekampagne oder der Ansprache aus bow - The impact of participation in government of dem Freundes- oder Bekanntenkreis eingetreten sind. the Green parties in Belgium. In: K. Deschouwer Interessanterweise spielte für die Mehrheit der Be- (Hg.): New parties in government. In power for the fragten Neumitglieder zudem die Regierungsüber- first time. London, New York: Routledge, S. 104-120. nahme in Baden-Württemberg keine wichtige Rolle Detterbeck, K. (2009): Die Relevanz der Mitglieder: für ihren Eintritt. Bedeutender waren hingegen ande- Das Dilemma effektiver Partizipation. In: U. Jun, O. re politische Ereignisse, wie die Auseinandersetzung Niedermayer und E. Wiesendahl (Hg.): Die Zukunft um „Stuttgart 21“ oder eine anstehende Wahl und der Mitgliederpartei. Opladen: Budrich, S. 71-88. der damit verbundene Wahlkampf. Harmel, R.; Janda, K. (1994): An Integrated Theory Darüber hinaus wurde in diesem Artikel gefragt, ob of Party Goals and Party Change. In: Journal of The- Unterschiede hinsichtlich der Einstellungen der grü- oretical Politics 6 (3), S. 259-287. nen Alt- und Neumitglieder bestehen. Für die ideolo- Keil, S.; Gabriel, O. (2012): The Baden-Württem- gische Ausrichtung der Mitglieder lässt sich dies berg State Election of 2011: A Political Landslide. nicht feststellen. Beide betrachteten Gruppen veror- In: German Politics 21 (2), S. 239-246. ten sich eindeutig links der Mitte. Dagegen sind Un- terschiede bei den Mitgliedschaftsanreizen erkenn- Kitschelt, H. (1989): The logics of party formation. bar: Für die Neumitglieder spielen mögliche persön- Ecological politics in Belgium and . liche Vorteile eine größere Rolle, sie motiviert zu- Ithaca: Cornell University Press. dem stärker der Spaß an der politischen Arbeit bzw. Klein, M. (2006): Partizipation in politischen Partei- die Möglichkeit mit netten Leuten zusammenzukom- en. Eine empirische Analyse des Mobilisierungspo- men und sie wollen in stärkerem Maße als die Alt- tenzials politischer Parteien sowie der Struktur in- mitglieder durch ihre Mitgliedschaft Sympathie für nerparteilicher Partizipation in Deutschland. In: die Partei bzw. für grüne Politiker zum Ausdruck Politische Vierteljahresschrift 47 (1), S. 35-61. bringen. Jedoch sind andere Gründe (z.B. die Ziele Klein, M.; Alemann, U. von; Spier, T. (2011): der Grünen zu unterstützen oder der eigenen demo- Warum brauchen Parteien Mitglieder? In: T. Spier, kratischen Bürgerpflicht nachzukommen) für beide M. Klein, U. von Alemann, H. Hoffmann, A. Laux, Gruppen deutlich relevanter. A. Nonnenmacher und K. Rohrbach (Hg.): Partei- Bei den Parteizielvorstellungen schließlich lässt sich mitglieder in Deutschland. Wiesbaden: Verlag für festhalten, dass das Ziel policy advocacy bei den Sozialwissenschaften, S. 19-29. meisten grünen Mitgliedern den höchsten Stellenwert Klein, M. (2011): Wie sind die Parteien gesellschaftlich einnimmt. Allerdings ist der Anteil derjenigen Perso- verwurzelt? In: T. Spier, M. Klein, U. von Alemann, nen, die dieses Ziel als das Wichtigste für die Grünen H. Hoffmann, A. Laux, A. Nonnenmacher und K. im Südwesten erachtet deutlich höher unter den lang- Rohrbach (Hg.): Parteimitglieder in Deutschland. jährigen Parteimitgliedern. Das Ziel, auch weiterhin Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 39-59. die Regierung anzuführen wird hingegen von den Neumitgliedern in größerem Maße als wichtig erachtet. Laux, A. (2011): Was motiviert Parteimitglieder zum Beitritt? In: T. Spier, M. Klein, U. von Alemann, H. Die im Rahmen dieses Artikels gewonnenen Er- Hoffmann, A. Laux, A. Nonnenmacher und K. Rohr- kenntnisse verdeutlichen, dass die baden-württem- bach (Hg.): Parteimitglieder in Deutschland. Wies- bergischen Grünen auch in Zukunft ein spannender baden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 61-78. Forschungsgegenstand sein werden. Insbesondere die Bedeutung, die die grünen Parteimitglieder dem Niedermayer, O. (2014): Parteimitglieder in Ziel beimessen, auch nach der nächsten Landtags- Deutschland: Version 2014. Arbeitshefte aus dem wahl führende Regierungspartei zu sein, dürfte für Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 21. Online verfügbar den anstehenden Wahlkampf und die Zeit danach äu- unter www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/sy ßerst relevant sein. Darüber hinaus wird sich zeigen, steme/empsoz/schriften/Arbeitshefte/AHOSZ21.doc inwiefern die Grünen in Baden-Württemberg dazu in x?1406544119, zuletzt geprüft am 21.08.2014.

99 Aufsätze Dürr – Same same but different? – Ein Vergleich langjähriger und neueingetretener Parteimitglieder [...] MIP 2015 21. Jhrg.

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100 MIP 2015 21. Jhrg. De Petris – Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand und neue Entwicklungen der Parteienfinanzierung in Italien Aufsätze

Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand Disziplin die politischen Parteien in autoritäre Kör- und neue Entwicklungen der Parteien- perschaften verwandeln könnte, die frei von rechtli- finanzierung in Italien chen Auflagen sind, schlug der christdemokratische Staatsrechtslehrer Costantino Mortati den Erlass ei-

1 nes ad hoc Gesetzes über die politischen Parteien Dr. Andrea De Petris vor. Mortatis Vorschlag basierte auf zwei einfachen Positionen: Einerseits sollte der Staat die entschei- dende Rolle der politischen Parteien bei der Verbin- Einführung dung zwischen Bürgern und Institutionen erkennen In Italien war die Regelung der politischen Parteien und damit ihren öffentlich-rechtlichen Charakter schon immer sehr eingeschränkt. Sie sah zwar im feststellen und schützen. Andererseits sollten die Laufe der Jahre die Einführung verschiedener Formen politischen Parteien aufgrund ihrer tatsächlich vorge- der öffentlichen Finanzierung vor, vermied jedoch gebenen öffentlichen Rolle gesetzlich geregelt wer- jeglichen Hinweis auf die interne Demokratie der den, um ihren demokratischen Charakter in allen ih- Parteien. Der rechtliche Rahmen des Parteienwettbe- ren Aktivitäten zu garantieren, nicht nur für ihre werbs muss sich daher in Italien auf die Fi- Wahlkampfaktivitäten, sondern auch in ihrer inter- nanzierung der Aktivitäten der politischen Parteien nen Organisation, in der Auswahl ihrer Kandidaten, konzentrieren, denn diese sind die einzigen existie- usw. (Predieri 1950). renden Bestimmungen, die bisher den Wettbewerb Mortatis Vorschlag realisierte sich jedoch nicht. unter den politischen Kräften beeinflusst haben. Auch die Verfassungsregulierung der politischen Dieser Beitrag wird zunächst die Grundzüge der ita- Parteien war sehr begrenzt. Eigentlich enthält Art. 49 lienischen Verfassungsdebatte über die politischen nur grundlegende Hinweise auf die Parteien: „Alle Parteien darstellen, die u.a. erklärt, warum es der ita- Staatsbürger haben das Recht, sich frei in Parteien lienische Gesetzgeber vermieden hat, deren interne zusammenzuschließen, um in demokratischer Form Struktur zu regeln. Zweitens wird er die verschiede- an der Ausrichtung der Staatspolitik mitzuwirken.“ nen Gesetzesregeln der Parteienfinanzierung zusam- Deshalb unterlagen die Befürworter einer klareren menfassen, die in Italien in den letzten Jahrzehnten und strengeren Disziplin. Die italienische Verfas- erlassen worden sind. Schließlich wird der Beitrag sung von 1947 hat die sog. „demokratische Metho- die neue Regelung der Parteienfinanzierung vorstel- de“ nur auf das externe Verhalten der Parteien ange- len, die vor kurzem vom italienischen Parlament ver- wandt2, statt diese Methode als allgemeinen Grund- abschiedet wurde. Diese letzte Bestimmung zeigt satz in Bezug auf ihre gesamten Aktivitäten vorzuse- einen innovativen Ansatz: Erstmals wird in Italien hen, wie es in den meisten europäischen Ländern ein teilweise öffentliches, teilweise privates Fi- bisher der Fall ist (van Biezen 2011). Die Befürch- nanzierungssystem errichtet, dass den Finanzierungs- tung, dass eine solche Disziplin die Autonomie der anspruch der politischen Parteien von der Einhaltung politischen Parteien zu stark beschränken könnte, einiger strenger Bedingungen der internen Demokra- war am Ende stärker als der Wunsch, ihnen eine ge- tie abhängig macht, die die Parteien nun unvermeid- naue Form der Organisation vorzuschreiben (Merlini lich gewährleisten müssen. Der Beitrag schließt mit 2008). Somit endete der italienische „Parteienarti- einem kurzen Ausblick auf die Folgen des neuen Ge- kel“ lediglich in einer Regulierung der von den Par- setzes für den Wettbewerb der politischen Parteien, teien durchgeführten „externen“ Tätigkeiten. und auf den möglichen Einfluss der Regelungen auf Sind sich die Experten auch heute einig, dass die die künftigen Erfolgschancen politischer Parteien. Entscheidung der italienischen Verfassunggebenden Versammlung eine „Legalisierung“ der politischen I. Die politischen Parteien in der Italienischen Parteien bedeutet hat, indem diese als notwendiges Verfassung

2 In den Jahren 1947-1948 konzentrierte sich die ita- Die italienische Verfassung erwähnt die politischen Parteien nur bei zwei anderen Gelegenheiten: in Art. 98, der lautet: lienische Verfassungsgebende Versammlung auf das „Durch Gesetz können Beschränkungen des Rechts auf Ein- Thema der internen Demokratie der politischen Par- schreibung in politische Parteien für Richter, Berufssoldaten teien (Ridola 2008). Aus Sorge, dass ein Mangel an im aktiven Dienst, Polizeibeamte und für diplomatische und konsularische Vertreter im Ausland festgesetzt werden.“, und 1 Der Autor ist Assistant Professor für Vergleichendes Öffentli- in der XII. Übergangs- und Schlussbestimmung, die das abso- ches Recht an der juristischen Fakultät der Universität LUISS – lute Verbot der Reorganisation der faschistischen Partei „in G. Carli Rom. jedweder Form“ vorsieht.

101 Aufsätze De Petris – Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand und neue Entwicklungen der Parteienfinanzierung in Italien MIP 2015 21. Jhrg.

Bindeglied zwischen Zivilgesellschaft und öffentli- 1997). Nach den schwerwiegenden politischen Kor- chen Institutionen anerkannt wurden (Ridola 1982), ruptionsfällen versuchte Italien einem anderen An- konnte sich dennoch eine strenge wörtliche Ausle- satz zu folgen, der sich an ausländischen Regelungen gung von Art. 49 durchsetzen. Wiederholte Empfeh- der politischen Parteien orientierte (Pinelli 1984). lungen von italienischen Rechtswissenschaftlern für Das erste Gesetz über die Parteienfinanzierung (L. den Erlass einer starken Regulierung der politischen 195/1974) führte zwei Formen der politischen Fi- Parteien wurde von den Institutionen trotzdem igno- nanzierung ein: Finanzierung der nationalen Wahl- riert (Cheli 1985; Zolo 1986; Teodori 1999; Pinelli kampagnen und direkte finanzielle Unterstützung für 2000; Frosini 2003; Ruggeri 2010). die ordentlichen Aktivitäten der im Parlament vertre- Da keine offizielle Regelung ihrer Rechtspersönlich- tenen politischen Kräfte. Nach der Abschaffung der keit stattgefunden hat, werden politische Parteien als direkten Parteifinanzierung durch Volksabstimmung private Vereinigungen betrachtet und auf sie diejeni- im Jahr 1993 blieb die einzige Quelle von öffentli- gen Artikel des italienischen Zivilgesetzbuches ange- chen Finanzmitteln für politische Parteien die Erstat- wandt, die sich auf „Vereinigungen ohne Rechtsper- tung der Wahlkampfkosten. Deshalb, um den Mangel sönlichkeit“ beziehen (Art. 36 bis 38) und deren Or- an Geld auszugleichen, wurde die Rückerstattung der ganisation und Verwaltung von unabhängigen, inter- Wahlkampfkosten, die ursprünglich nur für nationale nen Vereinbarungen unter ihren Mitgliedern be- Wahlkampagnen vorgesehen war, auch auf Kommu- stimmt werden. Auch in einer zivilrechtlichen Per- nal- und Europawahlen erweitert (L. 422/1980). Je- spektive bleiben deshalb die italienischen Parteien doch wurde die Summe des für die Parteien zur Ver- frei von einer wirksamen Regulierung: ohne klare fügung gestellten Geldes seit den 1990er Jahren im- Vorschriften für ihren rechtlichen Status befinden mer wieder erhöht, was zu einer De-facto-Wieder- sie sich in einer Art „juristischem Vakuum“, (Grasso herstellung der Parteienfinanzierung führte. 2010, 655). Diese Entscheidung beeinflusst offen- sichtlich alle weiteren Ansätze für die Regulierung III. Die öffentliche Parteifinanzierung bis 2013 der politischen Parteien in Italien und lässt das Pro- blem einer mangelnden Verpflichtung auf interne Die aktuelle Regelung der öffentlichen Parteifi- Demokratie offen (Bonfiglio 2013). nanzierung ist in L. nr. 96 vom 6. Juli 2012 enthal- ten. Die Höhe der Beiträge wurde reduziert und das II. Die politischen Parteien im italienischen Se- öffentliche Finanzierungssystem wurde reformiert: kundärrecht 70% des Geldes wird jetzt an die politischen Partei- en nicht nur als Rückerstattung für die Wahlkampf- Im Jahr 1985 konnte der erste Parlamentarische Aus- kosten, sondern auch als Beitrag zur Finanzierung schuss für Verfassungsreformen keine konkrete Lö- ihrer institutionellen Tätigkeiten ausgezahlt. Die sung für das Problem finden (Lanchester 1988). Eine Auszahlung der restlichen 30% wird von den Fähig- Zeit schwerer politischer Korruptionsskandale, die keiten der Parteien abhängig gemacht, sich selbst zu gemeinhin als „Tangentopoli“ bezeichnet wurde, finanzieren, und den Parteien proportional zu den verursachte drastische Veränderungen in der politi- privaten Spenden bezahlt. schen Klasse und im italienischen Parteiensystem Das aktuelle öffentliche und private Finanzierungs- und selbst die nachfolgenden Volksentscheide, die system der politischen Parteien wird im Detail wie das Wahlrecht reformieren (1991-1993) oder die öf- folgt reguliert: fentliche Parteienfinanzierung aufheben (1993) woll- ten, konnten in diesem Zusammenhang keine neuen 1.) Öffentliche Finanzierung Regeln einführen (Bianco 2001). Das Gesetz sieht die Erstattung der Wahlkampfkos- Mit dem Aufstieg der so genannten „Zweiten Repu- ten von politischen Parteien und Bewegungen für die blik“ nach 1994 (Grilli di Cortona 2007) wurde die Wahl der folgenden repräsentativen Gremien vor: Debatte über die Regulierung der politischen Partei- en und ihre interne Demokratie abrupt gestoppt, ob- • Abgeordnetenkammer; wohl es klar war, dass eine der wahrscheinlichsten • Senat; Ursachen der weit verbreiteten politischen Korrupti- • Europäisches Parlament; on die Gewährleistung öffentlicher Gelder an politi- • Regionalräte. sche Parteien ohne Rücksicht auf das schwierige Erstattungen erhalten die berechtigten Parteien aus Thema ihrer internen Demokratie war (Rhodes vier verschiedenen Fonds, die den vier gewählten

102 MIP 2015 21. Jhrg. De Petris – Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand und neue Entwicklungen der Parteienfinanzierung in Italien Aufsätze

Gremien entsprechen: Abgeordnetenkammer, Senat, Bei Regionalwahlen wird der Fonds unter den Re- Europäisches Parlament und Regionalräte3. Jeder gionen im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung vergeben Fonds beläuft sich derzeit auf € 15.925.000 für jedes und dann proportional zu den gültigen Stimmen un- Jahr der Legislaturperiode und für jedes der vier ge- ter den Listen verteilt, von denen zumindest ein Kan- nannten Organe4. Die Höhe der einzelnen Fonds didat in den Regionalrat gewählt wurde8. wurde ursprünglich jährlich neu berechnet mit je € 1 für jeden registrierten Wähler zur Wahl der Abge- 3.) Erstattungsverfahren ordnetenkammer. Dies hatte eine deutliche Erhöhung Die Rückerstattung erfolgt per Dekret des Präsiden- der Finanzmittel verursacht. Um die Kosten einzu- ten der Abgeordnetenkammer oder des Präsidenten dämmen, wurde von L. 96/2012 ein fester Höchstbe- des Senats, je nach ihren jeweiligen Kompetenzen. trag für alle vier Fonds eingeführt. Um die Summe Der Präsident der Kammer regelt auch die Erstattung der öffentlichen Mittel zu reduzieren, kürzte L. der Kosten für die europäischen und die regionalen 96/2012 den Gesamtbetrag um etwa 50% und setzte 5 Wahlkämpfe. Politische Parteien und Bewegungen, ihn auf € 91 Mio. pro Jahr fest . die nach den Erstattungen streben, sind verpflichtet, sich innerhalb von 30 Tagen nach der Wahl an den 2.) Verteilung der Fonds Präsidenten der zuständigen Parlamentskammer zu Art. 6 von L. 96/2012 setzt ein gemeinsames grund- wenden9. Die jährlichen Beträge werden am 31. Juli legendes Kriterium für alle Wahlen fest, um die Sub- ausgezahlt. Sollte es eine vorzeitige Auflösung des jekte mit Anspruch auf Erstattung zu bestimmen: Sie nationalen Parlaments geben, so werden damit die müssen mindestens einen gewählten Kandidaten in jährlichen Zahlungen eingestellt10. Das Recht auf der Wahl haben, dessen Wahlkampfkosten zurücker- Wahlkostenerstattung setzt voraus, dass die politi- stattet werden sollen. Außerdem müssen die Parteien schen Parteien ihre gesetzlichen Verpflichtungen ge- eine offizielle Finanzierungsregelung und eine Par- nau erfüllen11. teisatzung verabschieden. Sollten sie diese Bedin- gungen nicht erfüllen, riskieren sie, ihre öffentlichen 4.) Mitfinanzierung 6 Gelder zu verlieren . L. 96/2012 hat eine neue Form von Beiträgen für die Die Mittel für die Wahlkampagne der Abgeordneten- Aktivitäten der politischen Parteien und Bewegun- kammer werden proportional zu den gewonnen Stim- gen eingeführt12. Dabei handelt es sich nicht um eine men der konkurrierenden Parteilisten unter allen Be- zusätzliche Geldquelle, sondern sie sind Bestandteil wegungen verteilt, die zumindest einen gewählten des Gesamtbetrages der öffentlichen Mittel für Kandidaten haben. politische Organisationen. Dieses System sieht zwei verschiedene Verfahren für die Zahlungen vor, deren Die Erstattungen für den Wahlkampf des Senats er- Gesamtbetrag seit 2012 auf € 91 Mio. begrenzt ist: folgen auf regionaler Ebene: Der Fonds wird in ers- 70% werden nach wie vor als Beitrag zu den Wahl- ter Linie unter den italienischen Regionen im Ver- kampfkosten sowie für die ordentlichen Aktivitäten hältnis zu ihrer Bevölkerung aufgeteilt. Der regiona- der Parteien ausgekehrt. Die restlichen 30% werden le Anteil wird unter den Regionallisten im Verhältnis im Verhältnis zu der Eigenfinanzierungskraft der zu den erhaltenen gültigen Stimmen verteilt. Um an einzelnen politischen Bewegungen verteilt. In der der Verteilung des Fonds beteiligt zu sein, muss zu- Praxis erhalten die Parteien für jeden Euro eingewor- mindest ein Kandidaten der Liste in der Region ge- bener privater Spenden, einschließlich Mitgliedsbei- wählt worden sein. träge, eine öffentliche Mitfinanzierung von 50 Cent Der Fonds für die Wahlkostenerstattung für Wahlen – bis zu einem Maximum von € 10.000 pro Jahr für zum Europäischen Parlament wird im Verhältnis zu jeden einzelnen Spender. den durch die Parteien auf nationaler Ebene erhalte- Parteien, die berechtigt sind, an dem System der Mit- nen Stimmen unter allen politischen Parteien und finanzierung teilzunehmen, müssen entweder min- Bewegungen verteilt, die zumindest einen gewählten destens einen gewählten Kandidaten in dem entspre- Kandidaten haben7.

3 Art. 1, par. 1 und 3 L. 157/1999. 8 Art. 6, par. 2, L. 43/1995. 4 Art. 1, par. 1, 3 und 5 L. 157 /1999. 9 Art. 3, L. 96/2012. 5 Art. 1, L. 96/2012. 10 Art. 1, par. 6, L. 157/1999. 6 Art. 5, L. 96/2012. 11 Art. 6 bis, L. 157/1999. 7 Art. 16, L. 515/1993. 12 Art. 2, L. 96/2012.

103 Aufsätze De Petris – Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand und neue Entwicklungen der Parteienfinanzierung in Italien MIP 2015 21. Jhrg. chenden Wahlkampf aufweisen oder mindestens 2% private Spenden erhalten, um ihre Kampagne zu fi- der gültigen Stimmen in der letzten Wahl für die Ab- nanzieren, aber diese Beiträge können nur von einem geordnetenkammer erhalten haben. Daher ist die An- bestimmten Vertreter gesammelt werden15, dessen zahl der Parteien, die auf das Mitfinanzierungssys- Name dem zuständigen Regionalen Gewährleis- tem zugreifen dürfen, höher als die Zahl derjenigen, tungskollegium (ein spezielles Gremium, das in je- die an der Wahlkampfkostenerstattung teilnehmen: dem regionalen Berufungsgericht anwesend ist) ge- Auch politische Bewegungen ohne gewählten Kandi- meldet werden muss. daten, die mindestens 2% der gültigen Stimmen auf nationaler Ebene erringen konnten, haben in der Tat 7.) Berichtspflicht für politische Parteien Anspruch auf die öffentliche Mitfinanzierung. Der Spenden an Parteien von über € 5.000 im Jahr müs- Festbetrag (30% von € 91 Mio.) stellt den maxima- sen von dem Spender und dem Empfänger innerhalb len Betrag dar. von drei Monaten (oder bis März des Jahres) nach- dem das Geld gespendet wurde in einer gemeinsa- 5.) Private Finanzierung men Erklärung an den Präsidenten der Deputierten- Das Gesetz ermöglicht zwei verschiedene Formen pri- kammer bekannt gegeben werden. Spenden aus dem vater Finanzierung der politischen Tätigkeiten: Allge- Ausland müssen nur von dem Empfänger mitgeteilt meine Spenden und spezifische Spenden an einzelne werden. Kandidaten für den Wahlkampf. L. 195/1974 führte Kandidaten von politischen Parteien, Bewegungen, eine Grenze für Spenden zugunsten der Parteien ein Wählergruppen und unabhängigen Listen für die und sah besondere Bestimmungen für die Transpa- Parlamentswahlen müssen ebenfalls alle erhaltenen renz über die Herkunft der Beiträge vor. Nicht alle Beiträge in einem Bericht ausweisen, der alle Ausga- privaten Subjekte dürfen den politische Parteien Bei- ben für den Wahlkampf und die Finanzquellen zu- träge spenden: Nur Privatpersonen (natürliche Perso- sammenfasst. Der Bericht muss dem Präsidenten der nen) und juristische Personen (Unternehmen, Ver- Kammer, für welche die Kandidaten angetreten sind, bände, Unternehmen, etc.) dürfen politischen Bewe- innerhalb von 45 Tagen nach der ersten Sitzung der gungen, ihren internen Organen oder deren Fraktio- neuen Kammer vorgelegt werden. Eine spezielle Ab- nen Geld spenden. Juristische Personen dürfen au- teilung des italienischen Rechnungshofes (Corte dei ßerdem Beiträge nur dann spenden, wenn Conti), die alle notwendigen Informationen von den • das Unternehmen eine öffentliche Beteili- Präsidenten der beiden Kammern bekommt, über- gung von 20% nicht überschreitet; prüft die Übereinstimmung zwischen den Berichter- • das Unternehmen nicht von einem Unterneh- stattungen und den tatsächlichen Wahlausgaben16. men mit öffentlicher Beteiligung kontrolliert wird; 8.) Berichtspflicht für Einzelkandidaten • die Spende durch die zuständigen internen Innerhalb von drei Monaten nach der Wahl müssen Organe genehmigt ist; die Abgeordneten dem Präsidenten ihrer Kammer • Spenden regelmäßig im Haushalt des Unter- und dem Wahlausschuss (Collegio di Garanzia Elet- 13 nehmens ausgewiesen werden . torale)17 Bericht über alle Kosten und Schulden für Verstöße gegen diese Bestimmungen werden mit ei- ihre Wahlkampagne erstatten oder eine Erklärung ner Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 4 Jahren abgeben, mit der sie bestätigen, dass sie ausschließ- und einer Geldstrafe von bis zur dreifachen Höhe der lich Mittel verwendet haben, die durch ihre interne gezahlten oder erhaltenen Spende bestraft14. Parteiorganisation bereitgestellt wurden18. Auch nicht gewählte Kandidaten sind verpflichtet, gegen- 6.) Private Finanzierung der Kandidaten über dem Wahlausschuss eine entsprechende Erklä- rung abzugeben19. Spenden für Wahlkämpfe, die von einzelnen Kandi- daten gesammelt werden, sind speziell geregelt. Die 15 Art. 7, par. 3, L. 515/1993. oben beschriebenen allgemeinen Bestimmungen über 16 Art. 12, L. 515/1993. Parteienfinanzierung (Transparenz, Spendenverbot 17 Art. 13, L. 515/1993 verlangte die Einrichtung eines Wahl- von öffentlichen Unternehmen, usw.), wenden sich ausschusses bei dem Berufungsgericht in jeder italienischen auch an einzelne Kandidaten. Kandidaten können Region. Aufgabe des Ausschusses ist, die Regelmäßigkeit der Wahlen in jedem Aspekt zu gewährleisten. 13 Art. 7, par. 2, L. 195/1974. 18 Art. 2, par. 1, L. 441/1982; Art. 7, par. 6, L. 515/1993. 14 Art. 7, par. 3, L. 195/1974. 19 Art. 7, par. 7, L. 515/1993.

104 MIP 2015 21. Jhrg. De Petris – Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand und neue Entwicklungen der Parteienfinanzierung in Italien Aufsätze

Die Übereinstimmung zwischen der Berichterstat- besonders hoch: die Daten der Parlamentswahlen tung und den Belegen der Ausgaben wird vom zu- 2001 liefern dafür einen deutlichen Beweis. Auf der ständigen regionalen Wahlausschuss kontrolliert20. anderen Seite zeigt die Tabelle auch, wie selbst we- Im schlimmsten Fall kann ein gewählter Kandidat, niger kostenintensive Wahlen (i.e. Regionalwahlen) der gegen diese Bestimmungen verstoßen hat, sogar regelmäßig sehr hohe öffentliche Beiträge zur Folge mit dem Verlust seines Sitzes im Parlament bestraft haben. Insgesamt erhielten die italienischen Parteien werden21. zwischen 1994 und 2008 über € 2,2 Milliarden öf- fentlicher Finanzhilfen, die 389,22% über den Kos- 9.) Besteuerung von privaten Beiträgen ten liegen, die sie tatsächlich in derselben Zeit für L. 2/1997 reguliert die Besteuerung der Spenden an die eigenen Wahlkampagnen aufgebracht hatten. politische Parteien von natürlichen und juristischen Eine weitere negative Folge dieses Systems war ein Personen. Das Gesetz ermöglicht den Steuerabzug Zuwachs an anspruchsberechtigten Parteien: Die für die Beiträge zugunsten derjenigen Parteien, die fragmentierte Verteilung von öffentlichen Geldern in für nationale oder europäische Wahlen antreten oder mehreren Wahlkämpfen wurde in der Tat von den zumindest einen gewählten Kandidaten in einer Re- politischen Bewegungen als Ermutigung zur Teil- gionalversammlung haben. Weitere Bestimmungen nahme an europäischen, nationalen, regionalen und zu diesem Thema wurden von L. 96/2012 eingeführt. lokalen Wahlen empfunden (Pacini 2009). Auf solche Daten reagierte das italienische Parla- 10.) Zusammenfassung ment mit der Einführung einer strengen Reduzierung Trotz mehrerer Versuche ist es den Reformen nicht der öffentlichen Beiträge an politische Parteien. Spä- gelungen, den Gesamtbetrag der öffentlichen Parteien- ter wurden mit Gesetz Nr. 244/2007 (Finanzgesetz finanzierung zu reduzieren. Tabelle 1 fasst die Höhe 2008) die Wahlkostenerstattungen um € 20 Mio. ge- 22 der Wahlkostenerstattungen an die politischen Par- kürzt . Mit Wirkung ab der Legislaturperiode 2013- 23 teien zwischen 1994 und 2008 zusammen. Der Trend 2018 reduzierte außerdem das Gesetz nr. 78/2010 ansteigender Ausgaben – und das konsequente den Betrag, der mit der Zahl der registrierten Wähler Wachstum der öffentlichen Beiträge – ist offensicht- der Abgeordnetenkammer multipliziert werden soll, lich. Auf der einen Seite sind nicht nur die Ausgaben um die Höhe des Erstattungsfonds festzustellen, von 24 der Parteien für die Parlamentswahlen, sondern vor € 1 auf € 0,9 . Zugleich wurde auch das im Jahr 2006 allem auch die entsprechenden öffentlichen Beiträge eingeführte Gesetz zur Änderung des Gesetzes n. 157/

Tabelle 1: Wahlkosten und öffentliche Finanzierung 1994 – 2008 (€) €ABCD Wahlen Erklärte Ausgaben Öffentliche Beiträge Unterschied B-A % B/A Nationalparlament 27-28.3.1994 36.264.124,32 46.917.449,32 10.653.324,98 129,38 Europäisches Parlament 12.6.1994 15.595.788,66 23.458.724,66 7.862.936.00 150,42 Regionalräte 23.4.1995 7.073.555,52 29.722.776,08 22.649.220,56 420,20 Nationalparlament 21.4.1996 19.812.285,84 46.917.449,32 27.105.163,48 236,81 Europäisches Parlament 13.6.1999 39.745.844,39 86.520.102,57 46.774.258,18 217,68 Regionalräte 16.4.2000 28.673.945,87 85.884.344,63 57.210.398,76 299,52 Nationalparlament 13.5.2001 49.659.354,92 476.445.235,88 426.785.880,96 959,43 Europäisches Parlament 12-13.6.2004 87.243.219,52 246.625.344,75 159.382.125,23 282,69 Regionalräte 3.-4. und 17.-18.4.2006 61.933.854,85 208.380.680,00 146.446.825,15 336,46 Nationalparlament 9.-10.4.2006 122,874,652,73 499.645.745,68 376.771.092,95 406,63 Nationalparlament 13.-14.4.2008 110.127.757,19 503.094.380,09 392.966.623,71 456,83 Total 579.004.383,83 2.253.612.233,79 1.674.607.849,96 389,22 Quelle: Senato della Repubblica, Servizio studi, Dossier nr. 83/2013

22 Art. 2, par. 275 L. 244/2007. 20 Art. 14, L. 515/1993. 23 Art. 5, par. 4, Gesetzeskonversion mit L. n. 122/2010. 21 Art. 15, par. 7, L. 515/1993. 24 Wie beschlossen mit L. n. 157/1999, später geändert.

105 Aufsätze De Petris – Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand und neue Entwicklungen der Parteienfinanzierung in Italien MIP 2015 21. Jhrg.

1999 aufgehoben, das die Bezahlung aller jährlichen (jetzt frei zu entscheiden, ob und in welcher Form Beiträge auch im Fall einer vorzeitigen Auflösung sie Parteien finanziell unterstützen wollen) und Par- des Parlaments erlaubte. Die Gesetzesverordnung n. teien (frei zu wählen, welche Form von finanzieller 98/2011 reduzierte diesen Betrag um weitere 10 Pro- Unterstützung sie bevorzugen) basiert. Die jeweili- zent seit den Parlamentswahlen 2013 und ordnete die gen 0,002 Prozent der Einkommensteuer, die nicht sofortige Aufhebung der Auszahlungen für den Fall an politische Parteien vergeben sind, verbleiben im einer vorzeitigen Beendigung der Legislaturperiode Staatshaushalt und werden für andere öffentliche an. Damit wurden die Kostenerstattungen wieder für Zwecke verwendet. Die neue Regelung setzt eine die Laufzeit der Legislaturperiode gezahlt, wie es in Höchstgrenze für die Zuweisung der 0,002 Prozent erster Linie durch L. 157/199 vorgesehen war. Als der Einkommensteuer von Privatpersonen fest: sie Endeffekt all dieser Senkungen wurde eine Kürzung beträgt im Jahr 2014 € 7,75 Mio. und wird im Jahr von 30 Prozent der Wahlkostenerstattungen erreicht. 2015 auf € 9,6 Mio., im Jahr 2016 auf € 27,7 Mio. und im Jahr 2017 auf € 45,1 Mio. steigen. IV. Die neue Parteienfinanzierung Die Kosten für den öffentlichen Haushalt, die die pri- vaten Spenden durch die entsprechenden Steuerabzü- Die neue, seit dem 22. Februar 2014 amtierende Re- ge verursachen, werden auf € 27,4 Mio. im Jahr 2015 gierung führte eine Reform ein, die die öffentliche und auf € 15,65 Mio. ab dem Jahr 2016 geschätzt Kostenerstattung reduzierte und sie durch ein neues (Grignetti 2013). Sie sollen jedenfalls durch einen ent- System der Parteienfinanzierung durch private Spen- sprechenden schrittweisen Abbau der öffentlichen Er- den und Zuordnung einer Quote der Einkommen- stattungen für Wahlkämpfe ausgeglichen werden. steuer ersetzte25. Diese neue Bestimmung trat am 27. Februar 2014 in Kraft. Das neue Gesetz sieht strenge Sanktionen für jene politischen Parteien vor, die falsche oder unvollstän- Nach der neuen Regelung können politische Parteien dige Angaben über ihren rechtlichen und finanziellen ab 2017 nur mit der Zuweisung eines Teils der Ein- Status abgeben. Der Ausschuss für Transparenz und kommensteuer sowie mit privaten Spenden rechnen. Kontrolle der Rechenschaftsberichte von politischen Damit können Privatpersonen entscheiden, a) entwe- Parteien und Bewegungen (Commissione per la tras- der 0,002 Prozent ihrer Einkommensteuer den Partei- parenza e il controllo dei rendiconti dei partiti e dei en zu spenden, b) diese mit eigenen Spenden zu för- movimenti politici)26 ist berechtigt, alle Berichte und dern oder c) sie mit beiden Mitteln zu unterstützen. Dokumente zu überprüfen, die die politischen Partei- Das neue Gesetz erlaubt einen Steuerabzug von 26% en einreichen, um an dem neuen Finanzierungssys- für private Spenden von € 30 bis € 30.000 sowohl tem zu partizipieren. Der Ausschuss kann sowohl von Privat- als auch von juristischen Personen. In je- politische Parteien wie auch private Spender mit dem Fall dürfen Einzelspenden von Privatpersonen Geldsanktionen bestrafen, die in der Summe das nicht die Höchstgrenze von € 300.000 pro Jahr über- zweifache der unregelmäßigen Spende betragen kön- schreiten. Die Grenze reduziert sich auf € 200.000 nen, die der Ausschuss im Rahmen seiner Kontrollen pro Jahr für juristische Personen. Um den politischen ermitteln konnte. Lehnt eine politische Partei die Parteien uneingeschränkte Freiheit bei der Auswahl Zahlung der verhängten Sanktion ab, verliert sie ihr ihrer Finanzquellen zu gewähren, erlaubt ihnen das Recht auf Steuerzuweisungen von privaten Bürgern neue Gesetz, sich für die Zuweisung von Einkom- für die nächsten drei Jahre. Auf diese Weise sollen mensteuern, für private Spenden oder für beide Fi- die politischen Parteien angehalten werden, ihren fi- nanzierungsarten zu entscheiden. Mit dem neuen nanziellen Status „sauber“ zu halten, wenn sie regel- System hängt es nun aber vor allem von privaten mäßig private Wirtschaftsförderungen erhalten wollen. Bürgern und Unternehmen ab, ob und wie viel diese für die Unterstützung der politischen Bewegungen Die Abschaffung der direkten öffentlichen Fi- ausgeben möchten. nanzierung politischer Parteien bedeutet jedenfalls keine abrupte Unterbrechung ihrer Unterstützung Ziel der neuen Regelung ist, die historische Abhän- durch öffentliche Mittel. Eine dreijährige Über- gigkeit der italienischen politischen Parteien von öf- gangszeit sichert eine schrittweise Reduzierung in fentlichen Geldern zu beenden sowie ein neues Sys- Höhe von 75%, 50% und 25% der für das Jahr 2013 tem einzuführen, das auf der Flexibilität von Bürgern zugewiesenen Mittel. Wie Tabelle 2 zeigt, werden 25 L. 21.2.2014, nr. 13, wodurch das von der Regierung im De- die öffentlichen Erstattungen damit schrittweise von zember 2014 erlassene Gesetzesdekret konvertiert wurde, ver- € 91 Mio. im Jahr 2013 auf etwa € 68 Mio. im Jahr fügbar unter: www.normattiva.it/uri-res/N2Ls?urn:nir:stato:le gge:2014;13 [22.1.2015]. 26 Eingeführt mit Art. 9, L. 96/2012.

106 MIP 2015 21. Jhrg. De Petris – Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand und neue Entwicklungen der Parteienfinanzierung in Italien Aufsätze

2014, € 45,5 Mio. im Jahr 2015 und € 22,75 Mio. im schließlich bis 2017 verschwinden sollen. Dann soll Jahr 2016 sinken. Von 2017 an sollen Wahlkampa- die finanzielle Unterstützung der politischen Parteien gnen von Kandidaten und Listen ausschließlich von nur in der Zuweisung von Einkommensteuern beste- Privatpersonen finanziert werden, gefördert durch hen. Außerdem sollen private Spenden – ohne Steuer- sehr relevante steuerliche Abzüge, ohne zusätzliche abzüge – die finanziellen Mittel der politischen Par- Kosten für den öffentlichen Haushalt. teien ergänzen. Diese Tabelle spiegelt jedoch ledig- Tabelle 2 – Übergang von öffentlichen Beiträgen zu lich die Erwartungen der italienischen Institutionen privaten Spenden (Mio. €) in Bezug auf die Entwicklung des Systems in den nächsten Jahren. Dass die italienischen Steuerzahler 2014 2015 2016 ab 2017 aber in den nächsten Jahren ihre Einkommensteuer Öffentliche Beiträge in erwarteter Höhe tatsächlich den politischen Partei- 91 91 91 91 (L. 96/2012) en zufließen lassen, ist ebenso wie die unterstellte Spendenbereitschaft eine reine Hypothese oder viel- Abzüge, die durch -22,75 -45,5 -68,25 -91 private Spenden leicht eine naive Hoffnung. Es scheint daher keines- (-25%) (-50%) (-75%) (-100%) ausgeglichen sind wegs sicher zu sein, dass sich die zukünftige Partei- enfinanzierung erwartungsgemäß entwickeln wird. Unterschied 68,25 45,5 22,75 0,00

Quelle: Italienisches Parlament V. Parteifinanzierung und interne Demokratie Es werden aber auch Bedenken gegen das neue Fi- nanzierungssystem geäußert. Ein jüngst erschienener Die wichtigste Änderung des neuen Gesetzes ist aller- Artikel beziffert die auf privaten Spenden basierende dings Folgende: Um die Vorteile dieser neuen Form finanzielle Belastung des Staatshaushaltes in vier finanzieller Unterstützung zu genießen, müssen die Jahren mit € 270 Mio. – wegen entgangener Steuer- politischen Parteien von nun an eine Reihe von äu- einnahmen, zum einen infolge der Zuweisung der ßerst strengen Voraussetzungen erfüllen, die ein Einkommensteuerbeträge durch die italienischen Mindestmaß interner Demokratie gewährleisten sol- Staatsbürger an die politischen Parteien, zum ande- len. So müssen sie in einem förmlichen Verfahren ren wegen der für direkte Spenden an politische Par- eine Satzung erlassen, die das Symbol der Partei, die teien vorgesehenen Steuerabzüge (Romeo 2013). Adresse ihrer Bundesgeschäftsstelle, die Anzahl und Dazu kämen bis zum Jahr 2016 weitere € 34 Mio. für Zusammensetzung ihrer inneren Organe sowie das Lohnbeiträge und die Aktivierung von Solidaritäts- Verfahren ihrer Wahl festlegt. Die Satzung muss zu- verträgen für die Parteiangestellten, deren Arbeits- dem Regelungen für die Durchführung von Partei- stelle aufgrund der finanziellen Instabilität der politi- versammlungen enthalten sowie Verfahrensfragen schen Bewegungen nach der Abschaffung der öffent- für den Erlass von für die Partei verbindlichen lichen Kostenerstattungen gefährdet sind. Rechtsakten normieren. Die Satzung muss außerdem das Verfahren für die Aufstellung von Kandidaten Tabelle 3: Ausblick auf die Parteienfinanzierung 2014- und die Kriterien für die Gewährleistung von Min- 2017 (Mio. €) derheitsrechten in den Parteiorganen ohne Entschei- Finanzquelle 2014 2015 2016 2017 dungskompetenzen regeln. Sobald sie sich eine Sat- zung gegeben haben, müssen die Parteien sie an den Direkte öffentliche 54,6 45,5 36,4 0 bereits erwähnten Ausschuss für Transparenz und Beiträge Kontrolle der Rechenschaftsberichte von politischen 0,002 Prozent der 21,4 9,6 27,7 45,1 Parteien und Bewegungen weiterleiten. Dieser ist be- Einkommensteuer rechtigt, die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben Steuerabzüge 0 20,9 11,9 0 in der Satzung zu prüfen, um entweder die Überein- stimmung mit den neuen Normen über die interne Quelle: Wired.it Demokratie zu bestätigen oder auch Anpassungen Der Artikel prognostiziert eine tiefgreifende Verän- der Satzung zu verlangen, falls interne Demokratie derung für das neue System der Parteifinanzierung in nicht ausreichend gewährleistet ist. den nächsten Jahren. Wie Tabelle 3 zeigt, sollen die Darüber hinaus müssen sich politische Parteien, falls direkten öffentlichen Beiträge nach und nach durch ihre Satzung die genannten Kontrollen besteht, in ei- die Zuweisung von 0,002 Prozent der Einkommen- nem spezifischen „nationalen Register der politi- steuer ersetzt werden, während die Steuerabzüge für schen Parteien“ eintragen lassen, in das nur solche private Spenden proportional reduziert werden und politischen Bewegungen aufgenommen werden, die

107 Aufsätze De Petris – Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand und neue Entwicklungen der Parteienfinanzierung in Italien MIP 2015 21. Jhrg. die organisatorischen Regeln des neuen Gesetzes be- schaften der italienischen politischen Struktur führ- rücksichtigen. Sollte die Partei etwaige geforderte ten dazu, dass das italienische Parlament von jedwe- Anpassungen der Satzung verweigern, verbietet der der Forderung nach interner Demokratie der Parteien Ausschuss für Transparenz und Kontrolle der Re- Abstand nahm, obwohl die erwähnten dramatischen chenschaftsberichte von politischen Parteien und Be- politischen Krisen eine eiserne Disziplin empfohlen wegungen die Aufnahme der Partei in das nationale hätten (Biondi 2012: 160). Register. Gegen eine Ablehnung können Parteien Die neue Regelung scheint eine deutliche Trendwende Berufung beim Verwaltungsgericht einlegen. Das na- zu sein: Erstmals in der Geschichte Italiens müssen tionale Register ist in zwei Teile gegliedert: In dem die politischen Parteien, wollen sie finanzielle Unter- ersten Teil sind diejenigen Parteien aufgeführt, die stützung erhalten, einige grundlegende Elemente in- private Spenden erhalten dürfen, die mit speziellen terner Demokratie gewährleisten. Zudem müssen sie Steuervergünstigungen gefördert werden. Der zweite die Transparenz ihres Haushaltes, ihrer Spenden und Teil enthält die politischen Bewegungen, die berech- Spender herstellen. Verletzen die Parteien solche Re- tigt sind, 0,002 Prozent der Einkommensteuer von geln, riskieren sie schwere Geldsanktionen. Privatpersonen zu erhalten. Die neue Disziplin existiert derzeit noch nur auf dem Um größtmögliche Transparenz des neuen Verfah- Papier und ihre praktischen Auswirkungen können rens zu sichern, gewährleistet das Gesetz den freien erst nach ihrer Umsetzung evaluiert werden. Ernst- Zugang zu den gesamten im Register enthaltenen haftigkeit und Effektivität der neuen Regeln werden Daten: Dafür werden sie auf einer speziellen Web- sich erst anhand der tatsächlichen Anwendung in seite des italienischen Parlaments veröffentlicht. Zu- Fällen gesetzwidrigen Verhaltens der Parteien beur- dem müssen die Parteien selbst Transparenz hin- teilen lassen. Vor allem bleibt Abzuwarten, ob und sichtlich ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse herstel- wie die Sanktionen im Fall der Verletzung der Vor- len. Dazu müssen sie nach der neuen Regelung eine schriften über die interne Demokratie und die Orga- eigene Internetseite unterhalten, deren Inhalt voll- nisationsstrukturen der Parteien praktisch werden. ständig und richtig sein muss und die einfach zu be- Offensichtlich zielt das neue Gesetz aber darauf, dienen und leicht zu verstehen ist. Die Parteien müs- dass politischen Parteien die oben genannten Regeln sen klare Informationen über Höhe und Herkunft ih- respektieren müssen, um die finanzielle Unterstüt- rer privaten Spenden bereitstellen. Alle Spender, die zung der Steuerzahler zu erhalten. Leider hat der ita- mehr als € 5.000 pro Jahr spenden, müssen in einem lienische Gesetzgeber eine denkbare Eventualität speziellen Register aufgeführt sein, das alle drei Mo- nicht berücksichtigt: Dass eine politische Bewegung nate bei der Abgeordnetenkammer mit den erforder- absichtlich nicht an dem neuen Finanzierungssystem lichen Buchführungsunterlagen eingereicht werden partizipiert – was sie von der Verpflichtung, die muss. Falsche oder unvollständige Berichte können strengen Regeln über interne Demokratie zu respek- mit einer Strafe in Höhe des zwei- bis sechsfachen tieren, befreien würde – und trotzdem am Wahl- des unrechtmäßig erlangten Betrages und mit einem kampf teilnehmen dürfte. vorübergehenden Ausschluss von öffentlichen Äm- tern der für die Buchführung zuständigen Person Dies ist zumindest eine latente Schwachstelle des sanktioniert werden. Die komplette Liste der Spender neuen Gesetzes mit einer Kombination aus privater jeder Partei muss sowohl auf der Internetseite der Par- Finanzierung und öffentlicher Kontrolle. Sollte sich tei als auch des Parlaments veröffentlicht werden. eine politische Bewegung für alternative Formen fi- nanzieller Unterstützung entscheiden, würde sie sich Um überhaupt private Spenden oder 0,002 Prozent frei von den oben genannten finanziellen Sanktionen der Einkommensteuer von Privatpersonen erhalten machen. Da sog. Anti-Parteien bzw. populistische zu können, müssen die Parteien bei der letzten Parla- Parteien oft eher alternative Finanzierungsquellen ments-, Europa- oder Regionalwahl a) mindestens und Organisationsmodelle befürworten, wäre es einen gewählten Kandidaten von der eigenen Liste nicht verwunderlich, wenn gerade sie sich der Erfül- vorweisen, oder b) Kandidaten in mindestens drei lung der neuen Pflichten entziehen. Das Gesetz ver- Wahlkreisen aufgestellt haben. fehlt seine Zielrichtung, strenge Regelungen für alle politischen Parteien zu verhängen, wenn Newcomer VI. Fazit: Hat die Reform ihr Ziel verfehlt? wie die Beppe Grillo's Fünf-Sterne-Bewegung – die ihre Wahlstrategie u.a. auf die Ablehnung jeglicher Die streng formale Interpretation des Art. 49 der ita- Form öffentlicher finanzieller Unterstützung sowie lienischen Verfassung sowie die besonderen Eigen- auf die Abschaffung der öffentlichen Parteienfi-

108 MIP 2015 21. Jhrg. De Petris – Wieder am Ziel vorbei? Aktueller Stand und neue Entwicklungen der Parteienfinanzierung in Italien Aufsätze nanzierung (Biorcio/Natale 2013: 49) gründet – der Grilli di Cortona Pietro (2007): Il cambiamento politi- neuen Regelung leicht entgehen und trotzdem zu co in Italia: dalla prima alla seconda repubblica, Rom. Wahlen antreten können. Das gleiche gilt für popu- Lanchester Fulco (1988): Il problema del partito listische Parteien, die nur auf private Spenden setzen politico: regolare gli sregolati. In: Quaderni Costitu- und auf die Quote der Einkommensteuer verzichten zionali 3/1988: 487-510. würden – was für Bewegungen mit einer guten Ver- bindung zu relevanten privaten finanzkräftigen Krei- Merlini Stefano (2008): I partiti politici e il metodo sen nicht allzu schwierig sein sollte. democratico, vorl. Entwurf. In: www.astrid-online.it/-- il-siste/Studi--ric/MERLINI_AIC2008.pdf (25.1.2015). Vor diesem Hintergrund scheint der italienische Ge- Morlok Martin (2009): Parteienfinanzierung im de- setzgeber auch in diesem Fall eine sehr wichtige Ge- mokratischen Rechtsstaat. Reformmöglichkeiten der legenheit verpasst zu haben: Die verbindliche Ver- Gewährung staatlicher Leistungen an politische Par- pflichtung auf demokratische Bedingungen in der in- teien, Berlin. ternen Organisation politischer Parteien, wie es z.B. dem Deutschen Bundestag im Jahr 1967 gelungen ist Pacini Maria Chiara (2009): Public Funding of Politi- (Morlok 2009). Doch solange die interne Demokratie cal Parties in Italy. In: Modern Italy 2/2009: 183-202. nicht als zwingendes Erfordernis für die Erlangung Pinelli Cesare (1984): Discipline e controlli sulla des Rechtsstatus als politische Partei betrachtet wird, ‘democrazia interna’ dei partiti, Padua. unabhängig von der Form wirtschaftlicher Unterstüt- zung, die jede politische Bewegungen für sich wählt, Pinelli Cesare (2000): Il punto su disciplina e finanzia- wird das vordergründig angestrebte Ziel der neuen mento dei partiti. In: Diritto Pubblico 1/2000: 153-167. Regelung nicht erreicht. Wenn es dem Gesetzgeber Predieri Alberto (1950): I partiti politici. In: P. Cala- letztlich um einen freien, fairen und korrekten Wett- mandrei and A. Levi (Hrsg.) Commentario sistemati- bewerb unter politischen Parteien geht, verdient die- co della Costituzione italiana, Florenz:171 ff. ser Aspekt auch zukünftig eine stärkere Berücksich- Ridola Paolo (1982): “Partiti Politici”. In: AA.VV. tigung von Seiten der italienischen Institutionen. (Hrsg.), Enciclopedia del Diritto, Vol. XXXII, Mai- Literatur land: 66-127. Bianco Alessandro (2001): Il finanziamento della Ridola Paolo (2000): Finanziamento della politica ed politica in Italia, Mailand. eguaglianza delle chances. In: F. Lanchester (Hrsg,), Finanziamento della politica e corruzione, Mailand: Biondi Francesca (2012): Il finanziamento pubblico 23-44. dei partiti politici. Profili costituzionali, Mailand. Romeo Guido (2013): Abolizione del finanziamento Biorcio Roberto/Natale Paolo (2013): Politica a 5 Stelle. ai partiti: nei prossimi quattro anni ci costerà 270 Idee, storia e strategie del movimento di Grillo, Mailand. milioni di Euro”, 15/10/2013. In: http://blog.wired.it/ Bonfiglio Salvatore (2013): I partiti e la democrazia. data/2013/10/15/abolizione-del-finanziamento-dei-p Per una rilettura dell’art. 49 della Costituzione, Bologna. artiti-nei-prossimi-quattro-anni-ci-costa-270-milioni- Cheli Enzo (1985): Spunti per una nuova disciplina in di-euro.html (21.1.2015). tema di finanze dei partiti. In: AA. VV. (Hrsg.), Scritti Ruggeri Antonio (2010): Note minime in tema di de- in onore di Vezio Crisafulli, Vol. II., Padua: 137-147. mocrazia interna dei partiti politici. In: Rivista AIC Frosini Tommaso Edoardo (2003): E’ giunta l’ora di 1/2010, file:///C:/Users/Utente/Downloads/RUGGE una legge sui partiti politici?. In: Quaderni costitu- RI%20per%20Segovia%20pdf.pdf (25.1.2015). zionali 1/2003: 159-161. Teodori Massimo (1999): Soldi e partiti: quanto Grasso Giorgio (2010): Democrazia interna e partiti costa la democrazia in Italia? Con una proposta di politici a livello europeo: qualche termine di raffronto buongoverno per il finanziamento volontario della per l’Italia? In: Politica del diritto 4/2010: 609-668. politica, Mailand. Grignetti Francesco (2013): Parte il sistema del 2 per Van Biezen Ingrid (2011): Constitutionalizing Party mille sulla dichiarazione dei redditi. In: La Stampa.it, Democracy: The Constitutive Codification of Politi- 14.12.2013, www.lastampa.it/2013/12/14/italia/polit cal Parties in Post-war Europe. In: British Journal of ica/parte-il-sistema-del-per-mille-sulla-dichiarazione Political Science 42/2011: 187-202. -dei-redditi-YBovknHfU40HgKhJW6lJxN/pagina.html Zolo Danilo (1986): Una legge per i partiti politici. (25.1.2015). In: Micromega 1/1986: 39-49.

109 Aufsätze Schmitt – Computersimulationen als Werkzeug in der Politikwissenschaft [...] MIP 2015 21. Jhrg.

Computersimulationen als Werkzeug in der ersten Abschnitt zunächst der Stellenwert der theore- Politikwissenschaft: Chancen und Nutzen tischen Modellbildung in der Politikwissenschaft agentenbasierter Modellbildung dargestellt, um aufbauend die möglichen Vorteile durch die Formalisierung alltagssprachlicher Modelle3

1, 2 zu erörtern. Modellbildung erfüllt, unabhängig von Johannes Schmitt der verwendeten Sprache, zunächst eine Generalisie- rungsfunktion und wird im Forschungsprozess i.d.R. zur Strukturierung der empirischen Analyse genutzt. Die agentenbasierte Modellbildung (kurz: ABM) als Aufbauend kann die Formalisierung von Modellen sozialwissenschaftliche Methode hält seit den 1990er zur Präzisierung und Prüfung der logischen Konsis- Jahren zunehmend Einzug in die Forschung (Squazzoni tenz genutzt werden, womit die Erwartungen an die 2010, de Marchi/Scott 2014) und findet sich inzwi- empirische Analyse präziser formuliert werden kön- schen auch in zahlreichen politikwissenschaftlichen nen. Weiterführend werden die Unterschiede von Publikationen wieder, z.B. in Studien zum Parteien- ABM zu anderen formalen Modellierungsansätzen wettbewerb (z.B. Laver/Sergenti 2012, Kollman et al. erörtert. Diese werden dabei auf drei Kernaspekte re- 1992) oder zur Koalitionsbildung (z.B. Häge 2013). duziert: (1) Es wird eine Computersprache anstelle der Dabei wird vielfach auf die neuen Möglichkeiten zum Mathematik als Symbolsystem verwendet. (2) Mithil- Verständnis komplexer, dynamischer Systeme und fe eines Simulationsansatzes werden numerische statt zur Herstellung einer Aggregationslogik hingewiesen analytische Lösungen abgeleitet. (3) Die Verwendung (Laver/Sergenti 2012: 5ff., Flache/Macy 2006, Axelrod/ von autonomen Softwareobjekten, welche als Akteure Tesfatsion 2006). Für die formale Modellbildung ist interpretiert werden, ermöglicht eine Mehrebenen- ABM besonders interessant, da hier vielfach kriti- struktur im Modell. Anschließend werden diese sierte Restriktionen mathematisch analytischer An- Aspekte anhand eines Beispiels veranschaulicht. sätze (Flache/Macy 2006: 540f.) nicht vorhanden sind. So werden spieltheoretische Beiträge in der Tradition der ökonomischen Theorie von Downs (1957) häufig Theoretische Modellbildung in der Politikwissen- aufgrund ihrer inhärenten Abstraktion kritisiert, wie schaft z.B., dass Parteien ausschließlich nach dem Prinzip der Stimmenmaximierung unter der Bedingung voll- Im Folgenden wird zunächst der generelle Nutzen ständiger Informationen handeln (Caramani 2008: (formaler) theoretischer Modellbildung diskutiert. Be- 344) oder nur zwei Parteien Teil des Modells sind trachtet man die zahlreichen politikwissenschaftlichen (Martin 2009: 47ff.). Allerdings sind diese Vereinfa- Beiträge hierzu (z.B. Morton 1999, Clarke/Primo chungen bei formalen Modellen häufig zwangsläufig 2007, Lane 1997) ist die Bezeichnung als „Standard- notwendig, da erst über (Nash-)Gleichgewichte und instrument“ (Martin 2009: 37) wohl angebracht. analytische Lösungen ein Ergebnis abgeleitet werden Weiterführend zeigen sich aber auch Unterschiede in kann (Diekmann 2008: 67f., Flache/Macy 2006: 540). der methodologischen Perspektive auf die Modellbil- Dagegen können theoretisch ungewollte Abstraktio- dung (Clarke/Primo 2007: 742f.). Für die folgende nen bei ABM aufgrund des Simulationsansatzes fal- Diskussion wird sich einer weiten Auffassung des lengelassen werden und somit auch komplexe An- Modellbegriffs angeschlossen, wonach z.B. die ver- nahmen über Akteure integriert werden, wie hetero- wendete Sprache kein definitorischer Bestandteil ist. gene Zielsetzungen, Lernverhalten oder Interaktions- Demnach besteht ein theoretisches Modell aus Axio- fähigkeiten (de Marchi/Page 2008: 78-88, Gilbert men sowie Annahmen, welche aufgrund von Kon- 2008: 21f.). zepten definiert werden und aus denen Ableitungen deduziert werden können (Fiorina 1975: 134, Pappi In diesem Beitrag soll der potentielle Mehrwert des 2003: 79, Morton 2009: 28). Darauf aufbauend kann agentenbasierten Ansatzes für die politikwissen- ein Modell als linguistische Entität, dessen Aussagen schaftliche Forschung diskutiert werden. Die Frage wahr oder falsch sind, oder als Objekt, welches wie- nach dem originären Nutzen der Methode ist dabei derum mit anderen Objekten (z.B. der Realität) parti- untrennbar mit der Diskussion um theoretische Mo- ell vergleichbar ist, interpretiert werden (Clarke/Primo dellbildung im Allgemeinen und um formale Modell- 2007: 742f.). Nach dieser allgemeinen Auffassung bildung im Speziellen verbunden. Deshalb wird im 3 Im Folgenden werden die Begriffe verbal oder alltagssprach- lich als synonyme Adjektive für die Beschreibung theoreti- 1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRuF. scher Modelle, welche nicht in einer formalen Sprache formu- 2 Für die vielen hilfreichen Anmerkungen und Ratschläge danke liert sind, verwendet (vgl. zu unterschiedlichen Symbolsyste- ich Dr. Simon T. Franzmann und Michael Angenendt. men in Modellen: Ostrom 1988).

110 MIP 2015 21. Jhrg. Schmitt – Computersimulationen als Werkzeug in der Politikwissenschaft [...] Aufsätze ist prinzipiell (fast) jede Theorie als Modell (bzw. 1990: 118). Sind bisher Teilaspekte der theoreti- als Sammlung von Modellen) aufzufassen, womit schen Argumentation nur implizit vorhanden, müs- sich bei der Theoriebildung nicht die Frage stellt, ob sen diese bei der Formalisierung explizit formalisiert ein Modell formuliert wird: „The choice, then, is not werden. Durch die Eindeutigkeit der formulierten whether to build models; it's whether to build expli- Annahmen steigt auch die intersubjektive Nachvoll- cit ones” (Epstein 2008: 1.5; Hervorh. im Original). ziehbarkeit des Modells, da der Interpretationsspiel- Auch gibt es aus dieser Perspektive keinen Gegen- raum verringert wird (Boero/Squazzoni 2010: 249). satz zwischen verbalen und formalen Modellen, wes- Die Aufdeckung bisheriger Ungenauigkeit oder zir- halb die Übersetzung eines alltagssprachlich formu- kulärer Definition kann als Stärke der Formalisie- lierten Modells in eine formale Syntax prinzipiell rung gesehen werden. möglich sein sollte (Pappi 2003: 82). (2) Prüfung logischer Konsistenz und Reichweite der Die Zielsetzung theoretischer Modelle im Forschungs- Ableitungen: In formalen Modellen kann mithilfe prozess betrifft i.d.R. die Strukturierung empirischer numerischer oder analytischer Lösungen aus den Daten (Morton 2009: 27f., Martin 2009: 41). Dem- theoretischen Annahmen eine Schlussfolgerung ab- nach können aus dem theoretischen Modell Vermu- geleitet werden. Die Ableitungen können dabei mit- tungen über relevante Zusammenhänge zur Erklärung hilfe einer formalen Logik deduziert werden und eines Phänomens abgleitet werden, wodurch weiter- sind damit in Bezug auf das theoretische Modell führend auf Grundlage der konkreten Erwartungen wahr bzw. bewiesen (Martin 2009: 42, Morton 2009: das empirische Modell aufgestellt und analysiert wird. 28), wogegen in verbalen Modellen in der Regel nur Der Grad der Strukturierung kann in Abhängigkeit intuitiv plausible Ableitungen aus getroffenen An- vom Abstraktionslevel variieren, wobei im einfachsten nahmen möglich sind. Die Formalisierung des verba- Fall eine Hypothese überprüft wird und mit steigen- len Modells kann somit zur Überprüfung der intuitiv der Komplexität sowie Wissen Vorhersagen getestet hergestellten Zusammenhänge in der verbalen Argu- werden können (Heath et al. 2009: 2.16, Clarke/Primo mentation genutzt werden, womit getestet wird, ob 2007: 743). Die theoretische Vorerwartung ist dabei das Modell logisch konsistent ist (Fiorina 1975: notwendig, um Problemen der rein explorativen Da- 136ff., Martin 2009: 42). Ist das Modell wenig kom- tenanalyse begegnen zu können, wie z.B. dem Induk- plex, z.B. weil kein dynamischer Prozess abgebildet tionsproblem oder der Frage nach der Kausalität wird oder nur wenige Akteure Teil der Überlegungen (u.a. Manheim et al. 2008: 16f., Diekmann 2007: sind, mag die Konklusion aus den Annahmen noch 67f., 173ff.). Eine Verbindung zwischen Theorie und trivial sein, aber in Analysen von komplexen und dy- Empirie kann somit Aussagen über Einzelfälle hin- namischen Systemen zeigt sich, dass häufig die intui- aus ermöglichen und soll helfen (kausale) Erklärun- tiven ‚Deduktionen‘ aus verbalen Modellen nicht gen zu identifizieren. Aus dieser Perspektive erfüllt (oder nur teilweise) zutreffen (z.B. in Bezug auf Se- die Modellbildung letztlich eine Generalisierungs- gregationsmodelle Flache/Macy 2006: 538ff.). Dies funktion (Johnson/Reynolds 2008: 35f., Webster Jr. betrifft vor allem Ableitungen, welche eine Verbin- et al. 2008: 4f.), womit aber auch das Ziel und die dung zwischen verschiedenen analytischen Ebenen Möglichkeit hierzu notwendige Vorbedingungen für herstellen (ebd.: 536ff., allg. zum Problem der Ag- eine sinnvolle Anwendung theoretischer Modellbil- gregationslogik Esser 1993: 97): Welcher Systemzu- dung darstellen. So formulieren Laver und Sergenti stand folgt aus den individuellen Handlungen (Mi- (2012: 3) vorab als Axiom: „Politics is not random.“ kro-Makro-Link)? Steigt aber die Fehleranfälligkeit intuitiver Ableitungen, sinkt der Nutzen des theoreti- Wird nun (zunächst) ein verbales theoretisches Mo- schen Modells zur Strukturierung der empirischen dell zur Strukturierung der empirischen Analyse auf- Analyse. Wird eine Hypothese aus dem verbalen gestellt, verbleibt die Frage nach dem möglichen Modell abgeleitet, bei dem die Deduktion aus den Nutzen einer Formalisierung. Der Mehrwert kann Annahmen unklar bleibt, sind Rückschlüsse auf die dabei zusammenfassend auf zwei wesentliche Punkte theoretischen Annahmen nach dem Hypothesentest reduziert werden (Fiorina 1975: 136ff., Pappi 2003: kaum möglich. Dagegen können deduzierte Hypothe- 81ff., Martin 2009: 42f., Morton 1999: 33ff.): sen aus einem formalen Modell nicht nur zweifels- (1) Präzision und Klarheit: Die Übersetzung eines frei auf die zugrunde liegenden Annahmen zurückge- alltagssprachlichen Modells in ein Symbolsystem, führt werden, es sind auch alle Randbedingungen für wie die Mathematik oder eine Programmiersprache, die Ableitung explizit sichtbar. Hierdurch können verlangt zwangsläufig Eindeutigkeit und Vollstän- die Erwartungen an die Empirie präziser formuliert digkeit der Annahmen (Fiorina 1975: 136f., Schnell werden (Webster Jr. et al. 2008: 16).

111 Aufsätze Schmitt – Computersimulationen als Werkzeug in der Politikwissenschaft [...] MIP 2015 21. Jhrg.

Ist es also das Ziel der Formalisierung, das theoreti- Programme (z.B. NetLogo) verwendet und auf der sche Modell hinsichtlich seiner logischen Konsistenz anderen Seite allgemeine Programmiersprachen ge- zu testen, lässt sich der Mehrwert der Methode zur nutzt (z.B. C++), welche kaum begrenzt sind. Die formalen Modellbildung anhand der Fähigkeit hierzu Formalisierung von diffusen oder zirkulär definier- messen. Im Folgenden wird die agentenbasierte Mo- ten Annahmen ist hingegen, wie bei jedem formalen dellierung im Vergleich zu anderen formalen Ansät- Ansatz, problematisch. zen dargestellt und die Besonderheiten von ABM in (2) Weiterführend wird bei ABM, wie bei den meisten der theoretischen Modellbildung für politikwissen- Computermodellierungsansätzen (Gilbert/Troitzsch schaftliche Fragestellungen diskutiert. 2005), ein Simulationsansatz zur Ableitung von Er- gebnissen aus dem Modell verwendet. Anstelle einer Agentenbasierte Modellbildung analytischen Lösung, wie bei vielen mathematischen Modelle deduziert, wird bei ABM also eine numeri- Auf den Kern reduziert bestehen agentenbasierte sche Lösung abgeleitet (Troitzsch 2006: 37ff., Laver/ Modelle aus autonomen Akteuren in einem Kontext, Sergenti 2012: 6ff.). Hierbei wird für jeden Modell- die regelbasiert Handlungen in einem zeitlichen Pro- parameter ein Wert aus dem definierten Spektrum zess durchführen. Dabei ist die Ausgestaltung der eingesetzt und das Ergebnis aufgrund der formali- einzelnen Aspekte, bspw. Zahl oder Arten von Ak- sierten Funktionen berechnet. Im Gegensatz dazu teuren oder die Beschaffenheit des Kontextes, nicht werden die Modellparameter bei der analytischen beschränkt oder vorgegeben. Auch die Interpretation Ableitung in eine allgemeine Beziehung zueinander einzelner Aspekte, z.B. was ein Akteur ist (Individu- gesetzt. Beim Simulationsansatz sind die deduzierten en oder Organisationen) und auf welcher Ebene die- Ergebnisse damit prinzipiell in ihrer Aussagekraft se agieren (Meso- oder Mikroebene), ist letztlich auf die zugrunde liegende Konstellation der Parame- dem Anwender überlassen (einführend Gilbert 2008, ter beschränkt und keineswegs, wie bei der analyti- Railsback/Grimm 2012, vgl. für Beispiele Axelrod/ schen Lösung, auf das gesamte Modell übertragbar Tesfatsion 2006: 1651ff.). (Laver/Sergenti 2012: 5-9). Bezieht man einzelne Im Vergleich zu anderen Modellierungsansätzen Beobachtungen von n Simulationsdurchläufen auf das werden bei ABM vor allem die Rolle der Akteure, allgemeine Modell, besteht ein Induktionsproblem, da die Verbindung zwischen Makro- und Mikroebene es meistens nicht möglich ist, alle theoretisch mögli- sowie die Möglichkeit komplexer Ergebnisse als chen Konstellationen zu berechnen. Aufgrund dieser Herausstellungsmerkmale diskutiert (de Marchi/Page eingeschränkten Reichweite der Modellergebnisse ist 2014, Laver/Sergenti 2012: 5ff., Squazzoni 2010: im Zweifelsfall auch ein analytischer Ansatz gegen- 198ff.). Diese Besonderheiten ergeben sich aus einer über einer Simulation zu bevorzugen (ebd.: vi-xii). Kombination von Merkmalen des Ansatzes: Allerdings verhindern die notwendigen Einschrän- kungen für eine analytische Lösung häufig die Mo- (1) Zunächst gehört ABM innerhalb der formalen dellierung theoretisch interessierender Annahmen Ansätze zu den Computermodellen, welche sich von (ebd.: 4f.). So ist bereits die Integration von mehr als den mathematischen Modellen abgrenzen lassen (de zwei Parteien in einem Wettbewerbsmodell für die Marchi/Page 2008: 78). Im Grunde basieren zwar Entdeckung von Gleichgewichten problematisch auch Computermodelle auf einem mathematischen (Hermsen/Verbeek 1992). Dagegen ist die Formali- Fundament (Epstein 2006: 1602), aber im Gegensatz sierung theoretischer Annahmen bei ABM aufgrund zu den gleichungsbasierten mathematischen Model- des Simulationsansatzes nicht beschränkt durch die- len werden diese mithilfe einer Syntax auf Basis ei- se Notwendigkeit (de Marchi/Page 2014: 11). Damit ner Programmiersprache realisiert. Solch eine Syntax stellt die Wahl zwischen einem analytischen, mathe- umfasst im einfachsten Fall „Wenn-Dann“-Aussa- matischen Ansatz und ABM eine Abwägung zwi- gen, kann aber auch komplexe Schleifen oder Funk- schen Einfachheit und Komplexität dar, wobei ABM tionen beinhalten (Railsback/Grimm 2012, Schnell vor allem einen Mehrwert bietet, wenn mathemati- 1990: 117). Innerhalb einer solchen Sprache ist im sche Modelle zu restriktiv für die Integration der ver- Grunde jede hinreichend präzise Annahme realisier- balen Annahmen in das formale Modell sind. Wei- bar (de Marchi/Page 2008: 79). Die Möglichkeiten terhin gibt es für die Problematik der mangelnden werden zudem durch die Bandbreite an vorhandenen Generalisierbarkeit Lösungsstrategien, z.B. mithilfe Entwicklungsumgebungen für Computermodelle ver- von teststatistischen Schätzungen (Izquierdo et al. stärkt (Gilbert 2008: 46ff., Railsback et al. 2006). So 2009) oder der Interpretation der Simulationsdurchläufe werden auf der einen Seite auf ABM spezialisierte als Markov-Prozess (Laver/Sergenti 2012: 62ff.).

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(3) In Abgrenzung zu anderen Simulationsansätzen auf Basis eines eindimensionalen, ideologischen bilden bei ABM kontextual eingebettete Akteure das Raumes und einem Zweiparteiensystem (Martin 2009: Fundament des Modells (de Marchi/Page 2008: 78ff.). 47ff.). Der Kritikpunkt, dass Annahmen formaler Mo- Im Gegensatz dazu reduzieren sich bspw. System delle unrealistisch sind oder eine zu restriktive Ab- Dynamics Modelle auf die Systemebene oder Mikro- straktion darstellen (ebd.: 40ff.), kann mithilfe von simulationen auf einzelne Akteure, welche nicht in ABM entschärft werden. Hier kann der Komplexitäts- Beziehung zueinander gesetzt werden (Gilbert/ grad gesteigert und Annahmen können realistischer Troitzsch 2005: 28ff.). Der hierarchische Aufbau bei modelliert werden (de Marchi/Page 2008: 78f.). So ABM ist dabei vergleichbar mit der Logik des ob- begründen auch Laver und Sergenti (2012: 3ff.) die jektorientierten Paradigmas, wobei Akteure als auto- Verwendung des agentenbasierten Ansatzes mit den nome (Software-)Objekte einem Kontext untergeord- Axiomen, dass dem Parteienwettbewerb ein komple- net sind. Autonomie bedeutet hierbei, dass jeder Ak- xer und dynamischer Prozess zugrunde liegt. Aller- teur eigene Zustände (Variablenausprägungen) besitzt dings ergibt sich aus der technischen Freiheit zur und Handlungen (Funktionen) ausführen kann. Wei- Formalisierung eines sehr komplexen Modells die terführend können verschiedene Klassen von Akteu- offene Frage nach dem zielführenden Maß an Ab- ren Teil des Modells sein, wobei die Klassenzugehö- straktion. Die zwei entgegengesetzten Positionen rigkeit die grundlegenden Eigenschaften des Akteurs werden in der Literatur unter den Label KISS („keep (Arten der Variablen, Handlungsmöglichkeiten) fest- it simple, stupid“; Axelrod 1997: 5) und KIDS („keep legt (einführend Railsback/Grimm 2012, Gilbert 2008, it descriptive, stupid“; Edmonds/Moss 2005) disku- de Marchi/Page 2008). Diese ausdifferenzierte Imple- tiert. Während der erste Ansatz ein möglichst gerin- mentation einzelner Akteure bei ABM stellt aus ges Maß an Komplexität fordert, um die Verständ- technischer Perspektive einen Wendepunkt in der lichkeit gewährleisten zu können, plädiert die andere Computermodellierung von sozialem Verhalten und Seite dagegen für eine komplexe, beschreibende Mo- künstlicher Intelligenz dar (Squazzoni 2010: 199). dellbildung. Vorher wurden Akteure häufig nur „[…] als einfache Weiterführend kann die Flexibilität des Ansatzes bei stochastische oder – im Falle der zellularen Automa- der Modellierung von Verhaltensannahmen auch da- ten oft – deterministische Automaten [...] [modelliert], bei helfen, theoretische Ansätze aus der Politikwissen- die nur über wenige verschiedene Zustände verfügen“ schaft einer Mikrofundierung zugänglich zu machen, (Troitzsch 2006: 38). Dagegen ermöglicht die agen- bei denen aufgrund des Widerspruchs zwischen den tenorientierte Logik die Integration komplexer An- aufgestellten verbalen Annahmen und den Restrik- nahmen über Akteure (Gilbert 2008: 15f., de Marchi/ tionen mathematischer Modelle eine handlungstheo- Page 2008: 78ff.). Weiterführend ist es eine Besonder- retische Fundierung mithilfe einer formalen Logik heit des Ansatzes, dass Homogenitätsannahmen über bisher nicht oder nur begrenzt möglich war. So ist Akteure fallengelassen werden können. So können bspw. bei Sartoris Typologie (1976: 119ff.) die be- im Modell Akteure unterschiedliche Ziele verfolgen, schriebene Verbindung zwischen Parteiensystem- verschiedene Informationen zur Verfügung haben merkmalen (z.B. Polarisierung) nur unsystematisch oder variierende Heuristiken einsetzen. Auch kann an Verhaltensannahmen über Parteien und Wähler zwischen proaktivem und reaktivem Verhalten diffe- gebunden, sodass letztlich eine Black Box in der renziert werden (Gilbert 2008: 21f., Flache/Macy Theorie verbleibt (Schmitt 2014). Die getroffenen 2006: 537). Annahmen über endogene Präferenzbildung bei Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist diese Mög- Wählern durch Parteien (Sartori 1976: 28f.) oder lichkeit zur Mikrofundierung komplexer Systeme be- Kooperation zwischen Parteien (ebd.: 134f., 348; sonders interessant mit Blick auf die Restriktionen aufbauend Schmitt 2014: 7) sind dabei mit analyti- der bisher verwendeten analytischen Ansätze, wel- schen Modellen kaum umzusetzen, während ABM che sich häufig auf Gleichgewichtsanalysen konzen- eine Formalisierung dieser Annahmen problemlos trieren (vgl. hierzu Brunner 2012: 127f., Pappi 2000: ermöglicht. So können evtl. auch die Gräben zwi- 94ff.). Dabei sind die zugrundeliegenden Annahmen, schen den unterschiedlichen Ansätzen der Institutio- welche notwendig zur Auffindung von Gleichge- nenanalyse (vgl. hierzu Kaiser 2007: 132f.) weiter wichten sind, häufig Gegenstand kritischer Diskurse, geschlossen werden, da ABM ein formales Funda- wie z.B. die Annahme perfekter Informationen oder ment bietet, welches sowohl für die Realisierung von Nutzenmaximierungsfunktionen als Handlungskalküle Annahmen des Rational-Choice-Institutionalismus (z.B. Caramani 2008: 344). Ein bekanntes Beispiel als auch für theoretische Konzepte anderer Ansätze hierfür ist die Ableitung des Medianwählertheorems der Institutionenanalyse offen ist.

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Beispiel eines agentenbasierten Parteienwettbe- moderaten Parteien‘ und der Polarisierung im Partei- werbmodells ensystem abgeleitet, welcher als empirische Hypo- these überprüft werden könnte, um das theoretische, Im folgenden Abschnitt wird ein agentenbasiertes verbale Modell zu testen. Allerdings ist das bisherige Modell zur Auswirkung von Parteiidentifikation auf Modell sehr restriktiv in seinen Annahmen und in die Polarisierung des Parteiensystems dargestellt. Teilen diffus. So wird bisher z.B. eine mögliche Dy- Das Modell soll beispielhaft den Aufbau eines sol- namik des Parteienwettbewerbs nicht beachtet und chen Modells und den dargestellten Nutzen des An- das Wahlverhalten ist nur partiell definiert. Unbe- satzes aufzeigen. Die Ausgestaltung der theoreti- rücksichtigt bleibt auch, dass sich das Positionie- schen Konzepte von Parteiidentifikation und Polari- rungsverhalten der Parteien aufgrund des veränder- sierung stehen dabei nicht im Fokus. Es sollen ledig- ten Abstimmungsverhaltens verändern könnte. Wird lich kurz die zugrunde liegenden Annahmen erörtert aber angenommen, dass zumindest teilweise das werden. Zunächst wird angenommen, dass Partei- Verhalten der Parteien auf den Anreiz der Stimmen- identifikation ein Merkmal von Wählern darstellt, gewinnung zurückzuführen ist (Strøm 1990, Downs dass konstant über die Zeit beim Merkmalsträger 1957), müsste sich die Wechselwirkung zwischen vorhanden ist und, je nach Stärke der Identifikation, den Ebenen komplexer gestalten. In Anlehnung an die Wahrscheinlichkeit der Wahl einer bestimmten Colemans (1990: 1ff.) Makro-Mikro-Makro-Modell, Partei erhöht (Sartori 1976: 328ff.). Beim Konzept lässt sich diese wie folgt darstellen: der Polarisierung wird hingegen auf den Index von Dalton (2008) zurückgegriffen, welcher die Stimmen- Verteilung Parteien‐ anteile sowie ideologischen Positionen der Parteien der Polarisierung system in Beziehung zueinander setzt.4 Identifikation Die zugrunde liegende Untersuchungsfrage lautet da- Stimmen‐ bei: Wie wirkt sich eine Parteiidentifikation in der Parteien Positionierung anteil Wählerschaft zugunsten moderater Parteien auf die Polarisierung des Parteiensystems aus? Vereinfa- chend wird das Modell auf ein Vierparteiensystem Wahl‐ Wähler Identifikation reduziert. Sind also vier Parteien entlang einer ideo- verhalten logischen Dimension angeordnet (Parteien: A-B-C- D), stellt sich nun die theoretischen Frage, welchen Darstellung 1: Verbindung zwischen den analytischen Ebenen Einfluss die (ausschließliche) Identifikation der Wähler mit Partei B und C auf die Polarisierung des Ob nun der negative Zusammenhang zwischen Ver- Systems hat. Aus den bisherigen (nicht formalen) teilung der Identifikation und Polarisierung trotz Annahmen lässt folgendes schlussfolgern: eventueller Auswirkungen auf das Positionierungs- verhalten erhalten bleibt, ist aus dem verbalen Mo- Annahme I: Identifikation erhöht die Wahrscheinlich- dell nur noch schwerlich abzuleiten, da die Komple- keit eine bestimmte Partei zu wählen. xität der Situation deutlich gestiegen ist und Teile Annahme II: Wähler identifizieren sich mit den mode- der Annahmen für eine präzise Ableitung zu unge- raten Parteien in Fall (1). nau definiert wurden. Mithilfe eines ABMs soll im Annahme III: In Fall (2) identifizieren sich die Wähler Folgenden geklärt werden, wie der Zusammenhang mit keiner Partei. zwischen der Verteilung der Identifikation und Pola- Ableitung I: Moderate Parteien haben einen höheren risierung im theoretischen Modell ist. Stimmenanteil in Fall (1). Folgende Aspekte müssen hierfür umgesetzt werden: Ableitung II: Aufgrund des geringeren Stimmenanteils (1) Makroebene, (2) Akteure, (3) Sequenz sowie (4) der moderaten Parteien in Fall (2), ist die Polarisierung in Fall (1) niedriger. Analysedesign. Für die Formalisierung der bisheri- gen Annahmen ist allerdings auch noch die Präzisie- Demnach wird aus den bisherigen Annahmen ein ne- rung der Argumente aus dem verbalen Modell nötig. gativer Zusammenhang zwischen ‚Identifikation mit Um das Beispiel einfach und anschaulich zu halten, wird auf die grundlegenden Annahmen von Downs 2 (1957) zurückgegriffen, um die bisherigen Argumen- pi−̄p 4 Daltons Index: P= v ∗( ) ; 5 ∑ i r∗0,5 tationslücken zu schließen. P = Polarisierung, v √= Wählerstimmenanteil, p = ideologische Position, r = Spannweite des ideologischen Raumes (Dalton 5 Für die Formalisierung wird NetLogo verwendet (Railsback/ 2008; aufbauend Franzmann 2008: 10f.). Grimm 2012).

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(1) Eine ideologische Dimension bildet den politi- (3) Sequenz: Die zeitliche Dimension wird in agen- schen Kontext des Wettbewerbes, welche auf einer tenbasierten Modellen in der Regel durch einen ite- 11er-Skala von null bis zehn reicht und auf der sich rativen Prozess dargestellt, welcher einen definierten Wähler verorten sowie Parteien positionieren können. Ablauf, der sich bis zu einem festgelegten Endpunkt Die Reduktion auf einen eindimensionalen, ideologi- immer wiederholt, beinhaltet. In Parteienwettbewerbs- schen Wettbewerb ist eine geläufige Abstraktion in modellen ist häufig eine simple Abfolge formalisiert Parteienwettbewerbsmodellen (Laver/Sergenti 2012: (z.B. Laver/Sergenti 2012: 107ff.): Zunächst entschei- 15f.). Die Polarisierung wird mithilfe von Daltons In- den sich die Parteien für eine ideologische Position. dex berechnet und als Kontextvariable gespeichert. Anschließend entscheiden sich die Wähler für die von ihnen präferierte Partei. Eine solche Iteration (2) Akteure: Es werden im Modell zunächst zwei kann dabei z.B. als Wahlkampfrunden oder Wahl in- Akteursklassen implementiert: Parteien und Wähler. terpretiert werden. In der technischen Umsetzung ist Für die Klasse der Wähler werden drei Variablen noch die Entscheidung für einen (pseudo-)synchro- bzw. Eigenschaften definiert, die jeder Wähler im nen oder asynchronen Ablauf notwendig (Gilbert Modell besitzt: Ideologische Position, Identifikation 2008: 28ff.). In dem Beispielmodell entscheiden sich und gewählte Partei, wobei Identifikation einen Vek- die Parteien nacheinander, also asynchron, für eine tor mit vier Ausprägungen darstellt, d.h. jeder Wäh- ideologische Position. Diese Umsetzung impliziert ler besitzt einen Identifikationswert für jede Partei. theoretisch eine strategische Interaktionssituation, in Die Größe des Vektors ist in jedem Durchlauf ent- der Parteien im Wahlkampf aufeinander reagieren. sprechend der Anzahl der Parteien konstant vier. Parteien weisen dagegen die Eigenschaften ‚Stimmen- (4) Analysedesign: Um Zusammenhänge im Modell anteil‘ und ‚ideologische Position‘ auf. Zudem kön- analysieren zu können, werden Simulationsdurchläufe nen Wähler die Funktion ‚Wählen‘ und die Parteien (Repetitionen) unter unterschiedlichen Bedingungen die Funktion ‚Positionieren‘ ausführen. Wähler ent- berechnet. Damit entspricht ABM im Prinzip einem scheiden sich dabei in Anlehnung an Downs (1957) Gedankenexperiment (Gilbert 2008: 3), welchem ein aufgrund einer Nutzenfunktion für die von ihnen prä- kontrafaktisches Kausalmodell zugrunde liegt (Mar- ferierte Partei. Zunächst wird der Nutzen (Ui) anhand chionni/Ylikoski 2013: 327). In diesem Modell wird der eigenen ideologischen Position (x) sowie der Po- zunächst mithilfe eines Parameters die Verteilung der sition der Parteien (pi) bestimmt: Ui = |x – pi|. Dabei Identifikation variiert (0: keine Identifikation; 1: Gleich- wird der größte Nutzen durch die Wahl der Parteien verteilung der Identifikation; 2: Identifikation nur mit mit der geringsten Distanz zur eigenen Position er- den moderaten Parteien). Außerdem können noch zielt. Die Nutzenfunktion wird allerdings erweitert weitere Parameter im Modell variieren, um zu analy- mit der Integration der Identifikationsvariable ii in sieren, ob der untersuchte Zusammenhang auch unter die Gleichung: Ui = |x – pi| – ii. Die Identifikation ge- unterschiedlichen Bedingungen vorhanden ist. Hier- wichtet damit die (wahrgenommene) Distanz zu ei- mit soll die Robustheit eines aufgefunden Zusam- ner Partei herunter und erhöht dadurch den Anreiz menhanges untersucht werden (Marchionni/Ylikoski des Wählers zur Wahl eben dieser Partei.6 Durch die 2013: 327f.). In dem Modell sollen beispielhaft die Identifikation mit einer Partei steigt also die Wahr- Dynamik (vorhanden oder abwesend)7, die Anzahl scheinlichkeit, sich für diese Handlungsalternative der Iterationen (50 bis 250), die Stärke der Identifi- zu entscheiden. Umso höher die Identifikation ist, kation (0,1 bis 1,99), die Anzahl der Wähler (500 bis desto höher ist auch diese Wahrscheinlichkeit. Eine 1500), die Verteilung der Wähler (gleich- oder nor- Partei entscheidet sich dagegen durch die Hand- malverteilt) und die anfängliche ideologische Spann- lungsfunktion ‚Positionierung‘ für die ideologische weite der Parteien (2 bis 10) variiert werden. Position, welche den höchsten Stimmenanteil unter den Weiterführend nehmen die Auswahl der berechneten gegenwärtigen Bedingungen bietet. Dabei besitzen Konfigurationen sowie die Anzahl der Durchläufe in Parteien vollständige Informationen über die Konse- der Analyse des Simulationsmodells eine wichtige quenzen jeder möglichen neuen Positionierung. Rolle ein, da bei einer numerischen anstelle einer 6 Es gibt auch den Ansatz, die Identifikation als multiplikative Ge- analytischen Auflösung das Ergebnis eines Durch- wichtung zu formalisieren (Martin und Plümper 2004: 12f.). laufs prinzipiell nur auf die zugrunde liegende Para- Dieser Lösung wird allerdings nicht gefolgt, da ansonsten der meterkonstellation bezogen werden kann. Zusammen- absolute Identifikationsbonus mit einem höheren ideologi- schen Abstand zwischen Wähler und Partei steigt, womit eine 7 Ist ein Simulationsdurchlauf nicht dynamisch, positionieren negative Beziehung zwischen Präferenz und Identifikation an- sich Parteien in den einzelnen Iterationen nicht. Diese Repeti- genommen wird: Umso niedriger der Nutzen durch die Präfe- tionen werden im Folgenden auch als statische Durchläufe be- renz ist, desto höher ist der Nutzen durch die Identifikation. zeichnet.

115 Aufsätze Schmitt – Computersimulationen als Werkzeug in der Politikwissenschaft [...] MIP 2015 21. Jhrg. gefasst lassen sich für dieses Problem zwei Strategi- ter dem Konstanthalten der statistischen Effekte aller en differenzieren: eine systematische und eine zufäl- Variablen folgende Zusammenhänge: lige Variation der Parameter. Beim ‚Grid Sweeping‘ Tabelle 1: OLS-Regression zur Erklärung der Polari- werden alle theoretisch möglichen Parameterkonstel- sierung* lationen berechnet, womit das Ergebnis vollständig r (semi- ist und Aussagen über das gesamte Modell getroffen Koeff. B. S.E. werden können (Laver/Sergenti 2012: 56ff.). Aller- partiell) dings ist bereits bei einer geringen Anzahl von Para- (Konstante) 0,405*** 0,002 metern dieses Vorgehen kaum noch möglich, da die Anzahl der Iterationen 0,000 0,000 -0,003 Anzahl benötigter Berechnungen zu groß wird. Alter- Anzahl der Wähler 0,000 0,000 0,000 nativ wird eine zufällige Auswahl an möglichen Kon- Startdistanz der Parteien 0,000 0,000 0,003 Wählerverteilung (1: stellationen berechnet (Izquierdo et al. 2009: 4.1-4.6) -0,134*** 0,000 -0,655 und damit im Grunde eine Stichprobe aus allen theo- gleichverteilt) retischen Möglichkeiten gezogen. Weiterführend kön- Referenz: Keine Identifikation nen mithilfe teststatistischer Schätzungen Wahr- Gleichverteilung -0,009*** 0,001 -0,036 scheinlichkeitsaussagen über das generelle Modell Verzerrte Verteilung 0,024*** 0,001 0,095 getroffen werden. Im Folgenden wird eine zufällige Stärke der Identifikation 0,021*** 0,001 0,061 Parametervariation innerhalb des beschrieben Spek- Korrigiertes R² 0,452 trums berechnet. n 125851 *Signifikanz: *** 0,1-Prozentniveau; es sind nur dynamische Bei der Analyse der Ergebnisse zeigen sich folgende Simulationsdurchläufe berücksichtigt. Muster: Betrachtet man nur die statischen Simulati- onsdurchläufe ergibt sich der erwartete Zusammen- Zunächst zeigt sich im Regressionsmodell, dass die hang aus dem verbalen Modell zwischen Identifikati- theoretisch uninteressanten Parameter (Anzahl der on und Polarisierung (P): Ist keine Parteiidentifikati- Iterationen, Anzahl der Wähler und Startdistanz der on (P =,345) oder eine Gleichverteilung (P =,342) in Parteien) keinen signifikanten Effekt auf die Polari- der Wählerschaft vorhanden, ist die Polarisierung sierung haben. Weiterhin wird durch die semi-parti- durchschnittlich geringer im Vergleich zu den Fällen elle Korrelation die geringe Relevanz dieser Varia- mit einer verzerrten Verteilung zugunsten moderater blen als statistische Erklärungsfaktoren deutlich. Tes- Parteien (P =,320). Zudem unterscheiden sich die Si- tet man weiterführend mögliche Interaktionseffekte, mulationsdurchläufe mit einer verzerrten Verteilung um zu überprüfen, ob diese Variablen den Einfluss in einer einfaktoriellen ANOVA signifikant von den der Identifikationsverteilung auf die Polarisierung beiden anderen Gruppen (p<,001; n=126276). Aller- moderieren, zeigt sich kein Anstieg der Erklärung dings ist die Differenz gemessen an der Skala relativ beim korrigierten R² und nur partiell (schwach) si- klein und erklärt statistisch nur einen sehr geringen gnifikante Koeffizienten. Die drei Variablen sind Teil der Polarisierung (Eta²=,008). Unter der Annah- also für die Erklärung der Polarisierung oder zur me eines statischen Wettbewerbes ist also die ur- Moderierung des Zusammenhangs zwischen Identifi- sprüngliche Ableitung aus dem verbalen Modell zu- kation und Polarisierung uninteressant. treffend: Die Identifikation mit moderaten Parteien Der Effekt der verzerrten Verteilung in Referenz führt zu einer geringeren Polarisierung. Die geringe zum Fehlen einer Identifikation auf die Polarisierung Differenz und die niedrige statistische Erklärungs- ist hingegen signifikant positiv. In Bezug zum un- kraft legen aber nahe, dass es sich bereits im abstrak- standardisierten Koeffizienten zeigt sich aber auch, ten Modell um einen wenig relevanten Faktor zur Er- dass der statistische Effekt auf die Polarisierung klärung der Polarisierung handelt. nicht besonders groß ist. Im Vergleich zum Fehlen Mit Hinzunahme der Dynamik in das Simulations- einer Identifikation steigt die Polarisierung lediglich modell ändert sich jedoch der Befund: Im Vergleich um 0,024 bei einer verzerrten Verteilung an. Obwohl zu den beiden anderen Gruppen weist nun die ver- nur zwei Wählerverteilungen im Modell vorhanden zerrte Verteilung den höchsten Mittelwert in Bezug sind (Normal- und Gleichverteilung), ist diese Varia- zur Polarisierung auf (P =,383; keine Identifikation ble, gemessen an der semi-partiellen Korrelation, die P =,359, gleichverteilte Identifikation P =,349). Der mit Abstand wichtigste Variable zur Erklärung der nun umgedrehte Effekt auf die Polarisierung weist Polarisierung im Modell. Dennoch verbleibt die Fra- auch ein höheres Eta² (,02) auf als in den statischen ge, warum eine stärkere Identifikation mit moderaten Durchläufen. Im Regressionsmodell zeigen sich un- Parteien unter der Annahme einer Dynamik zu einer höheren Polarisierung führt.

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Zwar gibt es den erwarteten Effekt der verzerrten eine Erwartung an die Stärke des Zusammenhanges Identifikation auf die Stimmenanteile moderater Par- formuliert werden: So zeigt sich zwar im theoreti- teien (r=,599; p<,001) auch unter der Annahme der schen Modell eine Wirkung der Identifikationsvertei- Dynamik, allerdings ist zusätzlich ein Effekt auf das lung auf die Polarisierung, aber auch unter den sehr Positionierungsverhalten der Parteien vorhanden, abstrahierenden Annahmen und den wenigen Mo- welcher ebenfalls das Polarisierungsniveau beein- dellparametern ist diese nicht besonders erklärungs- flusst. So lässt sich ein positiver Zusammenhang der kräftig. Mit Blick auf die deutlich komplexer struk- verzerrten Identifikation auf die extreme Positionie- turierte Realität ist demnach durchaus zu vermuten, rung der nicht moderaten Parteien (Abstand zum dass gar kein Zusammenhang im empirischen Mo- Skalenmittelwert) feststellen (r=,305; p<,001), d.h. dell aufzufinden ist. Das ABM hat also in diesem diese Parteien verlieren zwar Stimmen, wodurch die Beispiel geholfen, die logische Inkonsistenz des ur- Polarisierung sinkt, allerdings positionieren sich diese sprünglichen Modells aufzudecken, eine Aggregati- Parteien wiederum extremer auf der ideologischen onslogik zwischen den Ebenen herzustellen und die Dimension, wodurch die Polarisierung steigt. Dabei Erwartungen an die Empirie zu präzisieren. setzt sich der zweite Effekt im Mittel durch. Der theoretische Mechanismus, dass sich Parteien mit ei- Diskussion nem Handicap durch einen präferenzunabhängigen Faktor, wie den der Identifikation, extremer positio- Eine häufige Kritik an der formalen Modellbildung nieren, lässt sich wie folgt erklären: Der Nachteil, dass in der Politikwissenschaft ist die zu geringe Komple- die wahrgenommene Distanz des Wählers zu anderen xität und damit zu hohe Abstraktion, um empirisch Parteien durch den Identifikationsbonus geringer ein- relevante Zusammenhänge abbilden zu können (Martin geschätzt wird, kann nur durch eine objektiv geringere 2009: 40). Mit Computermodellen und Simulations- ideologische Distanz kompensiert werden. Eine gene- ansätzen lässt sich diesem Kritikpunkt begegnen und relle Chance diesen Nachteil auszugleichen haben die die Komplexität in den Modellen erhöhen (de Marchi/ benachteiligten Parteien aber nur bei Wählermilieus, Page 2008). Aufgrund der agentenbasierten Logik ent- die nicht bereits durch die moderaten Parteien be- faltet ABM dabei seine Stärken in der Modellierung setzt sind. Da sich diese aber problemlos in der Nähe komplexer, dynamischer Systeme, denen Handlungen der attraktiven Wählermilieus positionieren können, von Akteuren zugrunde liegen (ebd.: 78ff.). Diese entscheiden sie sich für ideologische Positionen in Eigenschaften machen ABM speziell für politikwissen- der Nähe des Medianwählers und gewinnen durch schaftliche Fragestellungen interessant, welche zum den Identifikationsbonus zusätzlich den moderaten einen häufig Makrophänomene erklären wollen (z.B. Flügel. Die benachteiligten Parteien wählen im Mo- Polarisierung) und zum anderen oftmals institutio- dell damit die verbleibende Möglichkeit, wenigstens nell eingebettete Akteure in die theoretischen Über- noch die extremen Flügel gewinnen zu können. Hät- legungen miteinbeziehen. Wird weiterhin angenom- ten diese Parteien nicht den Nachteil durch die Iden- men, dass politische Prozesse dynamisch sind und tifikationsverteilung im Elektorat, würden sie um die Komplexität an die Stelle (dauerhafter) Gleichge- attraktiveren, moderaten Milieus konkurrieren. Die- wichtszustände tritt (Laver/Sergenti 2012: 3f.), ist ser Effekt wurde bereits in der Simulationsstudie von die Deduktion von Aggregationslogiken und die Mo- Martin und Plümper (2004) entdeckt. dellierung von Makro-Zusammenhänge auf Basis von Nach der Analyse des formalisierten Modells ändert Handlungen umso komplexer. Solche Theorien einer sich die Beurteilung der Anfangs aufgestellten Hypo- Mikrofundierung zugänglich zu machen, ist mit analy- these. So wurde ursprünglich abgleitet, dass eine ver- tischen Ansätzen nur eingeschränkt möglich (Flache/ zerrte Verteilung zugunsten moderater Parteien einen Macy 2006: 540f.). Aus dieser Perspektive bietet negativen Einfluss auf die Polarisierung hat. Diese ABM einen relevanten Mehrwert für die politikwissen- Annahme ist zwar unter dem Axiom, dass Parteien schaftliche Forschung und kann den bisherigen me- nicht auf das Verhalten der Wähler reagieren, aufrecht thodischen Werkzeugkasten erweitern. zu erhalten. Allerdings ist dieser Zusammenhang nicht Mit dem dargestellten Beispiel sollte zudem ein Argu- robust hinsichtlich dynamischer Aspekte im Modell. ment verdeutlicht werden, dass sich häufig auch in Die formale Ableitung präzisiert weiterhin die theo- den Ergebnissen von Computermodellen zeigt: Mit ei- retischen Erwartungen an die Empirie. Konnte in der ner steigenden Komplexität in der Theorie steigt auch ursprünglichen verbalen Argumentation nur die grobe die Notwendigkeit einer Formalisierung. Bereits bei Richtung des Zusammenhanges als Erwartung formu- einfachen und abstrakten Verhaltensannahmen sind liert werden, kann nach der Analyse des ABMs auch intuitive Ableitungen über Konsequenzen auf Makro-

117 Aufsätze Schmitt – Computersimulationen als Werkzeug in der Politikwissenschaft [...] MIP 2015 21. Jhrg. ebene häufig schlicht unzutreffend. Ist aber der Zu- de Marchi, Scott und Scott E. Page. 2008. Agent- sammenhang zwischen getroffenen theoretischen An- based Modeling. In The Oxford Handbook of Politi- nahmen und daraus abgeleiteten Implikationen für die cal Methodology, Hrsg. Janet M. Box-Steffensmeier, empirische Analyse bereits in der Theorie unklar, so ist Henry E. Brady und David Collier, 71-94. Oxford: die Interpretation des Hypothesentests und Rückschlüs- Oxford University Press. se auf die Gültigkeit (bzw. Vergleichbarkeit) der theo- de Marchi, Scott und Scott E. Page. 2014. Agent- retischen Annahmen kaum möglich. Die ungeklärte Based Models. In Annual Review of Political Sci- logische Konsistenz des Modells konterkariert damit ence 17: 1-20. den eigentlichen Zweck der Theorie, die empirische Analyse zu strukturieren und generalisierte Aussagen Diekmann, Andreas. 2007. Empirische Sozialfor- zu ermöglichen. Ein Plädoyer für eine höhere Kom- schung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. plexität in der Theorie, weil die Realität nicht mit ab- Reinbek: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag. strakten Annahmen zu beschreiben ist, müsste also Diekmann, Andreas. 2008. Spieltheorie. Einführung, auch ein Plädoyer für eine komplexe, formale Modell- Beispiele, Experimente. Reinbek: Rowohlt. bildung sein. Für eine solche Modellbildung ist ABM Downs, Anthony. 1957. An economic theory of ein interessanter Ansatz für die Politikwissenschaft. democracy. New York: Harper & Row. Literatur Edmonds, Bruce und Scott Moss. 2005. From KISS Axelrod, Robert. 1997. The Complexity of Coopera- to KIDS. An ‘Anti-simplistic’ Modelling Approach. tion. Agent-Based Models of Competition and Col- In Multi-Agent and Multi-Agent-Based Simulation. laboration. Princeton: Princeton University Press. Revised selected papers, Hrsg. Paul Davidsson, Brian Logan und Keiki Takadama, 130-144. Berlin [u.a.]: Axelrod, Robert und Leigh Tesfatsion. 2006. A Springer. Guide for Newcomers to Agent-Based Modeling in the Social Sciences. In Agent-based computational Epstein, Joshua M. 2006. Remarks on the Foundations economics, Hrsg. Leigh Tesfatsion und Kenneth L. of Agent-Based Generative Social Science. In Agent- Judd, 1647-1659. Amsterdam [u.a.]: Elsevier. based computational economics, Hrsg. Leigh Tesfatsion und Kenneth L. Judd, 1585-1604. Amsterdam [u.a.]: Brunner, Martin. 2012. Der Einfluss strategischen Wahl- Elsevier. verhaltens auf den Parteienwettbewerb in Mehrparteien- systemen mit Koalitionsregierungen. Eine Computersi- Epstein, Joshua M. 2008. Why Model? In Journal of mulation. In Jahrbuch für Handlungs- und Entschei- Artificial Societies and Social Simulation 11: 1-12. dungstheorie. Experiment und Simulation, Hrsg. Thomas Esser, Hartmut. 1993. Soziologie. Allgemeine Bräuninger, André Bächtiger und Susumu Shikano, 125- Grundlagen. Frankfurt/Main [u.a.]: Campus. 163. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Fiorina, Morris P. 1975. Formal Models in Political Boero, Riccardo und Flaminio Squazzoni. 2010. Science. In American Journal of Political Science Agentenbasierte Modelle in der Soziologie. In Die 19: 133-159. Analytische Soziologie in der Diskussion, Hrsg. Flache, Andreas und Michael W. Macy. 2006. "Bottom- Thomas Grund und Thomas Kron, 243-264. Wiesba- up" Modelle sozialer Dynamiken. Agentenbasierte den: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Computermodellierung und methodologischer Indivi- Caramani, Daniele. 2008. Party Systems. In Compa- dualismus. In Methoden der Sozialforschung. Kölner rative Politics, Hrsg. Daniele Caramani, 318-347. Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Oxford [u.a.]: Oxford University Press. Sonderhefte, Hrsg. Andreas Diekmann, 536-559. Clarke, Kevin A. und David M. Primo. 2007. Moder- Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. nizing Political Science. A Model-Based Approach. Franzmann, Simon T. 2008. Programmatische Hetero- In Perspectives on Politics 5: 741-753. genität und ideologische Polarisierung in den europäi- Coleman, James S. 1990. Foundations of social theory. schen Parteiensystemen. Beitrag zur 3-Länder-Tagung. Cambridge [u.a.]: Belknap Press of Harvard Univer- Gilbert, Nigel. 2008. Agent-based models. Los An- sity Press. geles: Sage Publications. Dalton, Russell J. 2008. The Quantity and the Quali- Gilbert, Nigel und Klaus G. Troitzsch. 2005. Simu- ty of Party Systems. Party System Polarization, Its lation for the social scientist. Maidenhead [u.a.]: Measurement, and Its Consequences. In Compara- Open University Press. tive Political Studies 41: 899-920.

118 MIP 2015 21. Jhrg. Schmitt – Computersimulationen als Werkzeug in der Politikwissenschaft [...] Aufsätze

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119 Aufsätze Schmitt – Computersimulationen als Werkzeug in der Politikwissenschaft [...] MIP 2015 21. Jhrg.

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120 MIP 2015 21. Jhrg. Bukow – Gesteuerte Stratarchie: Innerparteiliches Kampagnenmanagement im Bundestagswahlkampf 2013 Aufsätze

Gesteuerte Stratarchie: Innerparteiliches Kampagnenkontext – herausgearbeitet. Anschlie- Kampagnenmanagement im Bundestags- ßend erfolgt eine empirische Überprüfung am Bei- wahlkampf 2013 spiel des innerparteilichen Kampagnenmanagements im Bundestagswahlkampf 2013. Dr. Sebastian Bukow1, 2 Kampagnenorganisation im Wandel

Der Diskurs über die Organisationsqualität von Par- Wahlkämpfe sind eine parteilich, medial und gesell- teien wird seit Beginn der modernen Parteienfor- schaftlich gut eingeübte „rituelle Inszenierung“ schung geführt. Bis heute divergiert die Einschät- (Dörner 2002) und eine Phase verdichteter parteili- zung, wo Parteien zwischen Hierarchie, Stratarchie cher Kommunikation (Reichard 2013). Dabei sind in und Föderation zu verorten sind (u.a. Michels 1989; der letzten Zeit wesentliche Veränderungen erkennbar Eldersveld 1964; Carty 2004; Schmid/Zolleis 2005a; (zur politik- und kommunikationswissenschaftlichen Bolleyer 2012). Mit Blick auf die etablierten Parteien Forschung u.a. Norris 1997; Berg 2002; Dörner/ in Deutschland wird mehrheitlich dem Stratarchie- Vogt 2002; Plasser/Plasser 2002; Kamps 2007; zur modell gefolgt, die parteiliche Steuerungsfähigkeit als Praxis u.a. Althaus 2001; Althaus 2003). Dieser eher gering eingeschätzt. Allerdings darf die Organi- Wandel betrifft sowohl die inhaltlich-strategische sations- und Steuerungsfähigkeit von Parteien nicht un- (u.a. verstärkte Wählerorientierung, tlw. Überzeugungs- terschätzt werden. So weist die Wahlkampfforschung statt Mobilisierungsstrategie, Entideologisierung, Personalisierung; u.a. Smith 2009) als auch die orga- darauf hin, dass postmoderne Wahlkampagnen pro- 3 fessionell geplant und (mehr oder weniger) parteiweit nisatorische (insb. Professionalisierung ) Seite von kohärent umgesetzt werden (u.a. Norris 2000, Gibson/ Wahlkämpfen. Römmele 2009). Diese kohärente Kampagnendurch- Entscheidend ist nachfolgend die Angebotsseite von führung wird einerseits medial und wählerseitig er- Wahlkampagnen, konkret die Veränderung der Kam- wartet (und ist daher geboten), andererseits ist sie für pagnenorganisation und die damit verbundenen in- die auf Freiwilligkeit basierende Mitgliederpartei nerparteilichen Folgen (zum Zusammenhang u.a. keineswegs selbstverständlich. Die Sicherstellung Niedermayer 2000; Farrell/Webb 2002; Geisler/Sar- parteilich-kommunikativer Geschlossenheit und Ein- cinelli 2002). Norris (1997; 2000) unterscheidet heitlichkeit im Wahlkampf ist eine bemerkenswerte diesbezüglich (idealtypisch zu verstehend) vormo- Organisationsleistung von Parteien als zumindest derne, moderne und postmoderne Wahlkämpfe (zur partiell stratarchischen Organisationen. Kritik u.a. Tenscher 2011). Die typischen Kennzei- Diese Organisationsleistung steht im Zentrum des chen vormoderner Wahlkämpfe sind eine kurzfristi- nachfolgenden Beitrags, der untersucht, wie Parteien ge, dezentrale Wahlkampforganisation, geprägt von die ‚Steuerungsaufgabe Wahlkampf‘ bewältigen. Theo- lokalen Parteiführern und lokalen, direktkommunika- retisch wird dabei auf Befunde der Parteiorganisati- tiven Werbetechniken. Im Zuge der gesellschaftlichen ons- und Wahlkampfforschung zurückgegriffen. Der Modernisierung entwickeln sich moderne Wahlkämp- Wahlkampfforschung ist die Annahme entlehnt, dass fe, geprägt durch eine zentrale Kampagnenkoordinati- es für die etablierten Parteien in Deutschland keine on, die auf der Grundlage einer langen Vorbereitungs- Alternative zu zentral gesteuerten Wahlkampagnen phase durch eine parteiliche Wahlkampfzentrale und gibt. Die Parteienforschung weist darauf hin, dass spezialisierte Funktionäre ausgeführt wird. Respon- bei eben diesen Kampagnen parteigenealogisch be- sivität soll durch moderne Techniken (bspw. Umfra- dingte Unterschiede im Modus der innerparteilichen geforschung) sichergestellt werden. Werblich sind Steuerung zu erwarten sind. In der Zusammenfüh- die Massenmedien zentral: Sie sind das entscheiden- rung beider Forschungsstränge wird das skizzierte de Kommunikationsmittel und erlauben den Partei- Spannungsfeld – Geschlossenheit vs. Stratarchie im zentralen eine direkte Kontrolle über die Kampa- gnendurchführung. Zugleich erhöhen sie aber durch 1 Der Autor ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Sozial- die zunehmende, kostenpflichtig gebuchte Werbung wissenschaften, Vergleichende Politikwissenschaft, Heinrich- die Kampagnenkosten. Wahlkämpfe werden durch Heine-Universität Düsseldorf. 2 Die Datenerhebung erfolgte im Projekt „Kampagnenmanage- 3 Der Begriff „Professionalisierung“ wird in der Wahlkampf- und ment. Parteien im Bundestagswahlkampf 2013“ und wurde Kampagnenforschung bzw. in der Parteienforschung in aller Re- durch den Lehrförderfonds der Heinrich-Heine-Universität gel als Catch-All-Begriff verwendet (dazu u.a. Kamps 2010), Düsseldorf finanziell unterstützt. Dieser Beitrag ist eine stark eine präzise Operationalisierung findet sich selten (siehe jedoch gekürzte und veränderte Version von Bukow (2015). Gibson/Römmele 2009; Strömbäck 2009; Tenscher et al. 2012).

121 Aufsätze Bukow – Gesteuerte Stratarchie: Innerparteiliches Kampagnenmanagement im Bundestagswahlkampf 2013 MIP 2015 21. Jhrg. ihre Modernisierung also zentralistischer, professio- worden (Panebianco 1988). Stark sind sie nur noch neller und teurer. Im Zuge einer fortschreitenden dann, wenn es ihnen gelingt, geschlossen aufzutreten Professionalisierung entwickeln sich postmoderne (Katz/Mair 1993). Dabei stehen der Geschlossenheit Wahlkämpfe, in denen Parteien auf externe Expertise zahlreiche Hindernisse im Weg, etwa die parteilich- setzen und versuchen, gezielt ihre Klientel anzuspre- organisationale Komplexität (Katz/Mair 1993) und die chen. Postmoderne Wahlkämpfe sind ebenfalls zentral innerparteiliche Tendenz zur Stratarchie (Eldersveld koordiniert, setzen aber im Gegensatz zur modernen 1964; Schmid/Zolleis 2005b). Verstärkt wird die Kampagnenorganisation verstärkt auf eine dezentrale Problemlage durch wahlsystemische Anreize: Selbst Ausführung. Dafür sind institutionelle Faktoren wenn alle Parteimitglieder und -aktivisten das gene- ebenso ursächlich wie die hohen Wahlkampfkosten. relle Ziel „Stimmenmaximierung“ verfolgen (Strøm Die Finanzen der Parteien sind limitiert, so dass eine 1990), dann kann eine Schwerpunktsetzung zu Guns- zentral gesteuerte und ausschließlich ebenenüber- ten von Kandidatenstimmen einen Anreiz zur Ab- greifend berufsprofessionell durchgeführte Gesamt- weichung von der einheitlichen Parteikampagne dar- kampagne nicht realisierbar ist (Tenscher 2011; stellen (Zittel/Gschwend 2007; 2008; vgl. Fn. 4). Niedermayer 2000; Wiesendahl 2006). Diese organi- Schließlich ist Geschlossenheit kaum noch automa- sationale Veränderung – zentrale Kampagne, lokale tisch durch gemeinsame Werte und Überzeugungen Durchführung – ist von grundlegender innerparteili- gegeben (Bowler et al. 1999; Sieberer 2006), son- cher Bedeutung. Die Kampagnenzentrale muss zur dern vielmehr Ergebnis parteilicher Bemühungen um Sicherstellung einer dezentralen Durchführung der Parteidisziplin (Zittel/Gschwend 2007). Parteidiszi- parteiweit geplanten Kampagne die lokale, oft ehren- plin setzt ein Mindestmaß an parteilicher Strategie- amtlich-freiwillig tätige Parteibasis mobilisieren. Dar- und Steuerungsfähigkeit voraus (Tils/Raschke 2013). über hinaus gilt es, die berufsprofessionellen Man- Die zentrale Herausforderung für die parteiliche Or- datsträger, vor allem die Wahlkreisabgeordneten, in ganisations- und Handlungsfähigkeit besteht also die Kampagnenarbeit zu integrieren.4 Beides ist für darin, dass Parteien im Kern ein Zusammenschluss den Erfolg der Kampagne und für den Wahlerfolg individueller Akteure sind. Sie sind ein Verbund von insgesamt von grundlegender Bedeutung: „Federal Individuen, die in verschiedenen regional und funk- party success relies upon a broad national base of tional ausdifferenzierten Subgruppen zusammenge- support secured through local campaigning by the schlossen sind. Für die regionale Differenzierung der sub-national party.“ (Thorlakson 2011: 714). Aus deutschen Parteien ist das bundesdeutsche föderale diesem Grund stehen Parteien unter der Bedingung System prägend, an dem sich alle etablierten Partei- einer postmodernen Kampagnenorganisation vor ei- en weitgehend orientieren und die dementsprechend ner fundamentalen Steuerungsherausforderung, die vertikal ausdifferenziert sind. Dies erschwert eine es zu bewältigen gilt. kohärente Organisationstätigkeit (Fabre 2011). Aller- dings sind die deutschen Parteien nicht in anar- Kampagnenmanagement zwischen Stratarchie chisch-entkoppelte Subeinheiten unterteilt, sondern und Steuerung durchaus integrativ organisiert, so dass im Ergebnis die Autonomie der deutschen subnationalen Parteien Aus einer Vielzahl von Gründen (insb. Modernisie- im internationalen Vergleich eher gering und der rung, Professionalisierung und Wählerorientierung) Einfluss der nationalen Parteien auf die unteren Ebe- sind Parteien zu eher schwachen Institutionen ge- nen moderat bis hoch ist (Thorlakson 2009). Neben der regionalen Differenzierung ist für die Fra- 4 Bundesdeutsche Wahlkämpfe sind ein Wettbewerb, in dem Parteien und Parteikandidaten um Stimmen und Mandate kon- ge der Steuerungsfähigkeit die Akteursperspektive kurrieren. Jedoch wurde zuletzt eine Individualisierung von von Bedeutung, gehen damit doch rollenbedingt dif- Wahlkämpfen diskutiert (Zittel/Gschwend 2007; 2008) und ar- ferente Interessen einher. Für die Akteursdifferenzie- gumentiert, dass „Kandidaten im Wahlkreis zunehmend als rung bietet sich in diesem Kontext ein Rückgriff auf unabhängige Akteure im Wahlkampf in Erscheinung treten und dass die Rolle von Parteien an Bedeutung verliert“ (Zittel/ die gängige Three-Faces-Perspektive an (Party in Pu- Gschwend 2007: 295). Diese Überlegung darf aber nicht zu blic Office, Party Central Office und Party on the dem Schluss verleiten, dass (Kandidaten-) Wahlkämpfe von Ground; Katz/Mair 1993). Die Bedeutung der Party den Parteiorganisationen entkoppelt wären. Vielmehr ist an- on the Ground, also der lokalen Parteibasis vor Ort, zunehmen, dass Parteien weiterhin die zentralen Wahlkampf- organisatoren in Deutschland sind und unter dem Mantel na- hat sich bei Wahlkämpfen verändert, die Mitglieder tionaler Rahmenkampagnen allenfalls eine moderate Modifi- wurden im Zuge der Professionalisierung durch kation von Wahlkreiskampagnen im Sine einer Lokalisierung Kampagnenspezialisten an der Organisationsspitze erfolgt (Karlsen/Skogerbo 2013; Bukow et al. 2015).

122 MIP 2015 21. Jhrg. Bukow – Gesteuerte Stratarchie: Innerparteiliches Kampagnenmanagement im Bundestagswahlkampf 2013 Aufsätze ersetzt und haben für die Wahlkampfkommunikation greifen, der Stratarchie und Steuerungsfähigkeit ver- an Relevanz verloren (Niedermayer 2000; Detterbeck bindet, nämlich die Konzeptualisierung von Parteien 2009). Sie bleiben jedoch als Wahlkampfressource als „franchise system“ (Carty 2004: 10). Franchise- relevant, sei es als Kandidatenpool oder als aktive Systeme, wie sie in der Wirtschaft vielfach etabliert (und kostenfreie) Wahlkämpfer (Scarrow 1993; sind, verbinden eine zentrale Planung bzw. Steue- Wiesendahl 2006). Ihre Bedeutung für die lokale rung mit einer lokalen, eigenverantwortlichen Um- Wahlkampfdurchführung wird wieder stärker disku- setzung. Das Lokalisierungspotential ist begrenzt, tiert (Wiesendahl 2009; Reichard 2013). Im parteili- gleichwohl wird die lokale Initiative und Ortskennt- chen Alltag hat die Party in Public Office eine domi- nis im Organisationsinteresse genutzt. Im Kern heißt nante Rolle. Sie verfügt über relevante Ressourcen dies: Die zentrale Organisation stellt übergreifende und ist direkt in den Gesetzgebungsprozess einge- Merkmale und Infrastrukturelemente bereit, bspw. bunden. Die ressourcenstarke Party in Public Office die Marke bzw. das Markenbild, setzt Standards und darf de jure jedoch nicht in das parteiorganisationale bietet eine entsprechend passende Produktlinie an Wahlkampfgeschehen eingreifen. Dies betrifft je- (Carty 2004: 11). Dabei gibt es keine direkte Hierar- doch nur die Fraktion als Organisationseinheit, es ist chie, sondern eine variable Autonomie bei wechsel- selbstverständlich, dass die Mandatsträger – und da- seitiger Abhängigkeit, die eine moderate Anpassung mit die größte Gruppe der parteilichen Berufspoli- an lokale Bedürfnisse ermöglicht. Übertragen auf tiker – aktiv in den Wahlkampf involviert sind, vor al- Parteien heißt dies: Die Parteispitze ist für die Partei- lem im jeweiligen Wahlkreis (Bukow et al. 2015). Die leitung, das Programm, die nationale Kampagne und Kampagnenführung obliegt der vereinsartigen Mit- eine Standardisierung in den Bereichen Manage- gliederorganisation, an deren Spitze die Parteileitung ment, Training und Finanzen verantwortlich. Die lo- und die Parteigeschäftsstellen stehen (Katz/Mair kale Basis verantwortet die lokale Produkterstellung 1993; Kolodny/Webb 2006; Haas et al. 2008; Bukow und -vermarktung, also Kandidatenauswahl und 2013). Der Parteiapparat, vor allem die Bundespar- Kampagnendurchführung (Carty 2004: 11-12). Da- tei- bzw. Wahlkampfzentrale, wird so zum Nukleus mit liegt dem Franchise-Modell das Stratarchiekon- der parteiorganisationalen Steuerung einer einheitli- zept zu Grunde, das es aber mit der Möglichkeit chen Kampagne und hat die Aufgabe, Kampagnen zu hierarchischer Elemente verbindet. Die konkrete entwickeln (ggf. unter Zuhilfenahme organisations- Ausformung des Franchise-Modells variiert zwi- externer Berater, Gibson/Römmele 2009) und inner- schen Zentralisierung, Dezentralisierung und Födera- parteilich zu implementieren (Jun 2009; Negrine tion (Bolleyer 2012). Daher bietet sich ein Rückgriff 2007). Das Party Central Office ist von der Basis zur auf dieses Parteienverständnis bei der Analyse des Kampagnenführung legitimiert (bzw. beauftragt) und innerparteilichen Managements an. erhält dazu im Rahmen der parteilichen Haushaltsbe- In der Literatur wird für die vergleichsweise formali- ratungen ein Budget. Die Herausforderung für die sierten deutschen Parteiorganisationen meist von ei- Organisationsspitze besteht nun darin, aus diesem ner eingeschränkten Organisations- und Strategiefä- abstrakten Auftrag tatsächlich Gefolgschaft zu gene- higkeit ausgegangen (Schmid/Zolleis 2005b). Aller- rieren, während die im Parteialltag dominierende dings haben sich die Parteiorganisationen in den Party in Public Office im Wahlkampf nur in Form der letzten Jahren der Medienlogik angepasst und ihr Mandatsträger offiziell und durch die Mitarbeiterstäbe Kommunikationsmanagement professionalisiert (Jun inoffiziell involviert ist, wobei nicht übersehen wer- 2004; Beyme 2002; Gibson/Römmele 2009). Damit den darf, dass diese analytische Trennung in der Pra- verbunden ist eine organisationale Zentralisierung, xis durch Überschneidungen gekennzeichnet ist. wobei die Parteizentralen im parteilichen Alltagsbe- Die Binnenorganisation von Parteien, insbesondere trieb versuchen, als steuerungswillige Leitagenturen die innerparteiliche Machtverteilung und damit ver- zu agieren und die Partei vor allem über Angebote zu bunden die Frage der parteilichen Steuerungsfähig- steuern (Bukow 2013). In der Literatur finden sich in keit, wird in der Parteitypologie-Debatte diskutiert. diesem Zusammenhang auch Hinweise auf eine Parteien können typologisch zwischen Hierarchie wechselseitige Anpassung von Parteien in organisa- bzw. Oligarchie (d.h. Top-down-Steuerung; Michels tionaler Hinsicht (u.a. Wiesendahl 2006, Bukow 1989), Stratarchie (d.h. Machtverteilung/-balance; 2013). Allerdings ist anzunehmen, dass trotz organi- Eldersveld 1964; Bardi et al. 2014) und Föderation sationaler Angleichung die Entstehungsgeschichte (d.h. Machttrennung, fehlende Steuerungsoption) einer Partei diese langfristig organisationskulturell verortet werden. Ohne auf die Typologie-Diskussion prägt (Duverger 1954; Panebianco 1988; Lucardie im Detail einzugehen ist hier ein Vorschlag aufzu- 2007; Jun 2013), so dass feine Unterschiede verbleiben,

123 Aufsätze Bukow – Gesteuerte Stratarchie: Innerparteiliches Kampagnenmanagement im Bundestagswahlkampf 2013 MIP 2015 21. Jhrg. selbst wenn diese oft vor allem symbolischer – weil Dazu kommen Steuerungsversuche, die direkt oder identitätsstiftender – Natur sind (Bukow 2009). indirekt (über die Landesebene) wesentliche Rah- menbedingungen der lokalen Wahlkampfebene zu Zwei Steuerungsmodi: zentralistisch-hierarchisch beeinflussen versuchen. Im Detail bedeutet dies, dass vs. zentralistisch-responsiv beispielsweise konkretere Vorgaben in der Ressour- censteuerung (Budget, Material etc.) gesetzt oder Damit ist festzuhalten, dass sich Parteien notwendi- spezifische Kommunikationsstrukturen zur direkten ger Weise der Herausforderung einer zentral geplan- Kommunikation mit der Partei vor Ort entwickelt ten, aber zumindest partiell dezentral umgesetzten werden. Die zentralistisch-responsive Steuerung Kampagne stellen müssen. Eine zentrale Kampagne setzt im Ergebnis gleichermaßen auf eine zentrali- wird medial und wählerseitig erwartet und ist letzt- sierte Kampagnensteuerung, bedarf aber für die in- lich unverzichtbar, eine rein zentralistische Kampagne nerparteiliche Akzeptanz eines stärkeren Maßes an modernen Typs dahingegen ist finanziell nicht leist- Responsivität oder Beteiligung. Diese kann durch bar. Es bleibt damit nur eine Kampagnenorganisati- formale oder informale Verfahren erreicht werden. on, die Elemente einer postmodernen Kampagne auf- Formale Verfahren können etwa Abstimmungspro- weist, also dem Franchise-Modell folgend eine zen- zesse über wesentliche Aspekte des Wahlkampfs trale Planung mit einer lokalen Umsetzung verbindet. sein, informale dagegen ein intensives Bemühen um informelle Rückkopplung in der Kampagnenorgani- Mit Blick auf die innerparteiliche Kampagnenplanung sation bzw. -entwicklung. ist dabei stets von einer zentralistischen Komponente auszugehen. Nur so kann die erwartete und notwen- Welcher Steuerungsmodus zur Anwendung kommt, dige Einheitlichkeit erreicht werden. Innerparteilich hängt von der organisationskulturellen Prägung der kommt dabei dem Party Central Office, d.h. der Par- Partei ab. Steuerungsmodus und Parteikultur müssen tei- und Wahlkampfleitung, die Schlüsselrolle zu. zueinander passen, da in jedem Fall die lokale Be- Primäre Aufgabe des Central Office ist es, unter Be- reitschaft zur Gefolgschaft auf Freiwilligkeit beruht. teiligung externer Experten die Gesamtkampagne zu Das heißt, die angenommene Entscheidungsfreiheit planen. Zudem gilt es, die Partei vor Ort und die zwischen den beiden Steuerungsmodi ist auf Partei- Mandatsträger in die Kampagne zu integrieren und ebene nur bedingt gegeben. Soll Gefolgschaft und Individualisierungstendenzen entgegenzuwirken. Da- damit eine erfolgreiche Kampagnenumsetzung er- bei ist eine einfache Top-down-Steuerung stratarchie- reicht werden, dann ist entscheidend, welcher Steue- bedingt nicht zu erwarten. Andere Steuerungsmodi rungsmodus innerparteilich akzeptiert wird. Dabei sind wahrscheinlicher, wobei Unterschiede zwischen spielen langanhaltende kulturelle Prägungen eine den Parteien anzunehmen sind: Im Kontext der in- wichtige Rolle. Zentralistisch-hierarchische Konzep- nerparteilichen Steuerung können vielmehr eher te können nur dann zur Anwendung kommen, wenn hierarchische oder responsive Elemente genutzt wer- die Partei im Kern ein (moderat) hierarchisches den. Letztere tragen dem Stratarchie-Gedanken und Durchsteuern akzeptiert. Eine hierarchische Struktu- der wechselseitigen Abhängigkeit stärker Rechnung, rierung wird traditionell mit dem Modell der Mas- d.h. es wird der Überlegung gefolgt, dass eine be- senintegrationspartei in Verbindung gebracht. Somit dingt freiwillige Gefolgschaft vor Ort dann erwartet sind Parteien, die typologisch bzw. genealogisch auf werden kann, wenn die lokalen Interessen und Ideen das Modell der Massenintegrationspartei zurückzu- bereits bei der zentralen Planung umfassend berück- führen sind (in Deutschland insb. sozialistische/sozi- sichtigt wurden. aldemokratische Parteien), ein wahrscheinlicher Fall für die Anwendung dieser Steuerungsform. Nicht Im Ergebnis sind idealtypisch in den etablierten alle Parteien akzeptieren jedoch eine direkte Top- deutschen Parteien zwei Steuerungsmodi zu erwar- down-Steuerung. In solchen Fällen ist für die Partei- ten, die nachfolgend als ‚zentralistisch-hierarchisch‘ leitung ein zentralistisch-responsives Konzept von und ‚zentralistisch-responsiv‘ benannt werden. Der Vorteil. Damit ist ein solches Konzept in den Partei- Unterschied liegt darin, in welcher Weise die unte- en zu vermuten, die aus Honoratiorenparteien oder ren Parteiebenen in die Kampagne einbezogen wer- außerparlamentarischen Bewegungen hervorgegan- den. Die zentralistisch-hierarchische Steuerung fo- gen sind und damit eher dezentral-föderal geprägt kussiert auf Zentralisierung, in der Planung wie auch sind (insb. bürgerliche, liberale und grüne Parteien). in der Kampagnenumsetzung. Die unteren Parteiebe- nen werden von der verantwortlichen oberen Parteie- Führt man diese theoretischen Überlegungen zusam- bene primär als ausführende Einheiten verstanden. men, so ist anzunehmen, dass zur Auflösung des

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Konfliktes zwischen Steuerung und Stratarchie par- Damit besteht bei Bundestagswahlen die größtmögli- teiadäquate Handlungsstrategien vorzufinden sind, che Komplexität der innerparteilichen Steuerung. wobei die parteiliche Passgenauigkeit in Zusammen- Innerparteiliche Steuerungsmodelle lassen sich nur hang mit der spezifischen Organisationskultur steht. bedingt von außen erheben, zumal in diesem Beitrag Dabei dürften Parteien, die ursprünglich dem Modell die Steuerungsbemühungen (Steuerungsinput), nicht der Massenintegrationspartei nahestanden, in Folge jedoch der Steuerungserfolg (Steuerungsoutput; dazu ihrer organisationskulturellen Grundprägung ein Lö- Bukow et al. 2015) im Vordergrund stehen. Um den sungskonzept wählen, das zur Durchsetzung einer Blick hinein in die Parteiorganisation zu erlangen, zentralisierten Kampagne stärker auf hierarchische sind leitfadengestützte Interviews mit zentralen Par- Elemente setzt. Parteien, die ursprünglich aus einer teiakteuren sinnvoll. So können objektives Fakten- dezentralen Organisationslogik entstanden sind, und Organisationswissen sowie subjektive Einschät- wählen ihrer Grundprägung entsprechend eher ein zungen valide erhoben werden. Die Analyse fokus- Lösungskonzept, das eine zentralistische Kampagne siert auf die Bundesebene als zentrale Steuerungsin- unter Zuhilfenahme responsivitätsgenerierender Ele- stanz, wobei vereinzelt Informationen der Landes- mente durchzusetzen versucht. ebene mit einbezogen werden. Auf Bundes- und Landesebene wurden leitende Mitarbeiter in den Par- Untersuchungsdesign, Daten, Methodik und Ope- teigeschäftsstellen interviewt, die im Partei- bzw. rationalisierung Kampagnenmanagement eine verantwortliche Rolle einnehmen (Haas/Jun/Niedermayer 2008; Kolodny/ Für die Überprüfung dieser Annahme sind Parteien Webb 2006).5 Die Face-to-Face-Interviews wurden zu untersuchen, die parteiengeschichtlich entweder zwischen Oktober und Dezember 2013 durchgeführt, als Massenintegrationspartei oder als Partei mit de- zur Sicherung der Reliabilität vollständig transkri- zentraler Grundprägung eingeordnet werden können. biert, anhand eines theoriegeleitet neu entwickelten Der ersten Gruppe sind in Deutschland sozialistische Codierhandbuchs computergestützt manuell codiert bzw. sozialdemokratische Parteien zuzurechnen, der (12 Haupt-, 77 Subkategorien) und auf Reliabilität zweiten Gruppen ehemalige Honoratiorenparteien, getestet. Zur Messung der innerparteilichen Steue- föderale Parteien oder Bewegungsparteien (Decker rungsmodi werden verschiedene Aspekte kombiniert. 2013). Um die Rahmenbedingungen des parteilichen Neben den verfügbaren Ressourcen werden wichtige Handelns vergleichbar zu halten, werden dabei nur Einzelaspekte betrachtet, insb. im Bereich Kampa- Parteien berücksichtigt, die über eine bundesweite gnenstrategie und -durchführung (bspw. Strukturent- Parteiorganisation verfügen und zum Zeitpunkt der scheidungen, Entscheidung und Verteilung von Ma- Wahl im Bundestag vertreten sind. Die Vertretung terialien u.ä.). im Bundestag geht mit der Verfügbarkeit von finan- ziellen Ressourcen einher (staatliche Parteienfinanzie- rung; Mandatsträgersonderabgaben), die für eine zen- Partei-/Wahlkampfzentralen: Einbindung und trale Kampagnenplanung notwendig sind (Tenscher Rolle im innerparteilichen Organisationsgefüge 2011). Trotz der Unterschiede im Budget und in der Wie erwartet nimmt die Bundesebene die innerpar- Personalausstattung in den Party Central Offices teiliche Führungsrolle bei der Wahlkampfplanung (Bukow 2013) haben diese Parteien somit alle die ein. Dabei ist zwischen Party Central Office und Par- Möglichkeit, auf medial-gesellschaftliche Erwartun- ty in Public Office zu differenzieren, denn die Party gen durch zentrale Kampagnenbüros zu reagieren. in Public Office ist nicht direkt in die Wahlkampfar- Untersucht werden damit SPD und Linke (erste beit involviert. Dies ist Aufgabe des Party Central Gruppe) sowie CDU, FDP und Grüne (zweite Gruppe). Office. Die rechtlich gebotene Trennung zwischen Gegenstand der Analyse ist die bundesparteiliche parteilichen Spitzenämtern (insb. Parteivorsitz, Spit- Wahlkampforganisation im Bundestagswahlkampf zenkandidat) und Fraktions-/Regierungsämtern (insb. 2013. Bundestagswahlen sind Wahlen erster Ord- Kanzlerin, Fraktionsvorsitz) wird vielfach herausge- nung, werden medial besonders intensiv beobachtet und verbinden alle drei Parteiebenen (Bund, Land, 5 Auf Landesebene wurden die Interviews in Nordrhein-West- Wahlkreis). Die Bundesebene sollte die Konzeption falen geführt (zu Parteien in NRW Marschall 2013). Ergän- und Planung der Gesamtkampagne übernehmen, die zend wurden, hier nicht berücksichtigt, Interviews auf Wahl- Landesebene als Mittler und über die Landeslisten kreisebene in NRW geführt. Insgesamt wurden 45 Interviews sowie die lokale Ebene als ausführende Ebene und realisiert (Dauer 45-90 Minuten; Land: 5; WK: 33; Bund insg. 7, davon CDU: 1 (2 Gesprächspartner), SPD: 1; FDP: 2; durch die Wahlkreiskandidaturen eingebunden sein. Linke: 2; Grüne: 1.

125 Aufsätze Bukow – Gesteuerte Stratarchie: Innerparteiliches Kampagnenmanagement im Bundestagswahlkampf 2013 MIP 2015 21. Jhrg. stellt,6 der rechtliche Rahmen prägt das formale par- schaften), der Parteiapparat eine in seiner Autonomie teiliche Handeln. Es handelt sich dabei aber, auch und Relevanz kaum zu unterschätzende Rolle hat. Im das wird deutlich, um eine weitgehend formale Tren- Kern ist in allen Parteien das Verhältnis zwischen nung, da die Spitzenakteure meist sowohl Spitzenpo- Parteileitung und Parteiapparat (bzw. dessen Lei- sitionen in der Party in Public Office und in der Par- tung) als Delegationsverhältnis zu deuten, bei dem teiorganisation innehaben, so dass sich die beiden die politische Leitung die konzeptionell-operative Party Faces in Personalunion vereinen (oder, falls Planung weitgehend in die Hände der Parteiorganisa- dies nicht der Fall ist, zumindest bei wichtigen Ent- tionsspitze legt: „Der Vorstand beschließt, du bist scheidungen Gehör finden, bspw. Grüne). Eine echte verantwortlich, […] und dann kann man da auch re- Trennung wäre auch der Wählerschaft gegenüber lativ frei arbeiten“, so eine typische Aussage. Vor al- kaum vermittelbar.7 Die Einbindung der Spitzenak- lem die Leitungsebene des Parteiapparats bean- teure bedeutet aber nicht, dass die Party in Public sprucht und nutzt diese Autonomie sowohl im Ver- Office insgesamt in die Wahlkampfplanung invol- hältnis zu anderen Parteibereichen wie auch im Ver- viert ist. Der Party in Public Office als Kollektivak- hältnis zu den anderen Parteiebenen. Für das Binnen- teur kommt, so wird in den Interviews berichtet, eine verhältnis zwischen Parteileitung und Parteiapparat nachgeordnete Stellung zu (abweichend dazu kann ist dabei kennzeichnend, dass Struktur- und Strate- den Fraktionen bei der (Wahl-)Programmarbeit eine gieentscheidungen erst erfolgen, wenn politische wichtige Rolle zukommen). Die einzelnen Mitglieder Führungsfragen entschieden sind. der Party in Public Office, insbesondere die Man- Bemerkenswert ist mit Blick auf die Kampagnenor- datsträger selbst, sind jedoch im Wahlkampf von ganisation, dass Wahlkampfzentralen nicht ausge- großer Bedeutung und müssen als Landeslisten- lagert werden (Ausnahme: Bei den Grünen wurde in und/oder Wahlkreiskandidaten in die Kampagnenor- Folge knapper Räumlichkeiten eine Auslagerung als ganisation eingebunden werden. „Notlösung“ gewählt). Tatsächlich wird in Wahl- Fokussiert man nun auf die Kampagnenarbeit, die im kampfzeiten die Parteizentrale zur Wahlkampfzen- Party Central Office geleistet wird, dann sind inner- trale umfunktioniert, wobei in unterschiedlichem halb des Party Central Office zwei Bereiche zu un- Umfang Personal aufgestockt und Strukturen reorga- terscheiden, zum einen strategische Grundsatzent- nisiert werden. Dies ist vor allem dann der Fall, scheidungen und zum anderen sich daraus ableitende wenn – wie bei der SPD – der Spitzenkandidat nicht Organisationsentscheidungen. Strategische Grund- in die etablierten Strukturen eingebunden ist. In allen satzentscheidungen obliegen der politischen Partei- Fällen wurden die Wahlkampfzentralen von externen leitung, operative Entscheidungen liegen eher beim Agenturen und Dienstleistern unterstützt. Parteiapparat (im Detail siehe Bukow 2015). Ty- Die Wahlkampfsteuerung ist also im Ergebnis Auf- pisch ist weiterhin, dass die politische Grundsatzver- gabe der Parteizentrale, die im Wahlkampf zur Kam- antwortung der politischen, d.h. gewählten Parteilei- pagnenzentrale wird. Zu diesem Zweck wird der tung in Verbindung mit den Spitzenkandidaten zu- Bundespartei – dem Party Central Office – im Rah- kommt, wobei die gewählten Parteigremien eine men der parteilichen Finanzentscheidungen ein ent- nachgeordnete Rolle spielen. Die eigentliche Kam- sprechendes Budget bewilligt, so dass hier formal pagnenleitung liegt bei der politisch-administrativen ein Organisationsauftrag der Party on the Ground an Parteileitung (d.h. Generalsekretär/Bundesgeschäfts- das Party Central Office gedeutet werden kann. Das führer), wobei insbesondere im operativen Geschäft, Wahlkampfbudget wird überwiegend aus der staatli- das sehr weit in grundlegende Entscheidungen hin- chen Parteienfinanzierung bestritten. einreicht (bspw. Corporate Design, zentrale Bot-

6 Aus Gründen der Lesbarkeit und der Anonymität wird auf eine dezidierte Nennung der Fundstellen verzichtet. Die Ana- lyse erfolgt auf Grundlage der codierten Interviews (Bundes- ebene). Soweit Befunde nur für einzelne Parteien nachgewie- sen können, wird dies im Text deutlich gemacht. 7 Dies gilt insbesondere für Amtsinhaber. So steht bspw. 2013 mit die amtierende Bundeskanzlerin in ihrer Funktion als Spitzen-, also Kanzlerkandidatin, zur (Wieder-) Wahl und wird dabei als Parteivorsitzende und Spitzenkandi- datin in die Wahlkampfplanung eingebunden, wobei ihre Wahlkampftermine auch mit ihren Terminverpflichtungen als Bundeskanzlerin abgestimmt werden müssen.

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Wahlkampfetat der Bundesparteien 2013 CDU CSU SPD FDP Linke Grüne Budget (in Mio. Euro) 20,0 9,5* 23,0 3,8 4,5 / 6,0** 5,5 Mitglieder 476.347 147.965 477.037 58.675 63.761 59.653 Budget : Mitglieder 42,0 64,2 48,2 64,8 70,6 92,2 Wähler 14.921.877 3.243.569 11.252.215 2.083.533 3.755.699 3.694.057 Budget : Wähler 1,3 2,9 2,0 1,8 1,2 1,5 * Schätzung; ** 4,5 Mio. Kampagne, zusätzlich 1,5 Mio. für Logistik, Schulungen etc.; Wähler: Zweitstimmen BTW 2013; Mitglieder: 31.12.2012. Quelle: Parteiangaben; Bundeswahlleiter; Niedermayer (2013).

Die verfügbaren Mittel der Bundesparteien variieren liert. In allen Parteien wird von der Kampagnenzen- zunächst einmal deutlich. In absoluten Zahlen hat die trale das Ziel zum Ausdruck gebracht, ihre einheitli- SPD auf Bundesebene den größten Wahlkampfetat, che Kampagne durchzusetzen und lokale Abwei- nimmt man aber die arbeitsteilig antretenden Uni- chungen möglichst zu verhindern. Wahlkampf wird onsparteien zusammen, so liegen diese vorn. Deut- im Kern als Top-down-Prozess verstanden, wie stell- lich geringer ist das Budget der kleinen Parteien. Die vertretend dieses Statement verdeutlicht: „Das ist abstrakte Summe ignoriert jedoch die unterschiedli- jetzt nicht ein Prozess, der […] sehr basisdemokra- che Wettbewerbsposition der Parteien. Setzt man da- tisch entschieden wird, aber der natürlich auch mit her die Aufwendungen in Relation zur Organisati- Rückkopplungen funktioniert.“ Diese teilweise for- onsstärke bzw. zum Wahlerfolg (Ausgaben Bundes- mal organisierten, häufig aber auch auf informellen partei pro Mitglied / erzielter Zweitstimme), so rela- Netzwerken basierenden „Rückkopplungen“ sind für tiviert sich das Bild. Vor allem im Vergleich zur Or- die Durchsetzung von entscheidender Bedeutung, da ganisationsstärke, also der Mitgliederzahl, sind hier eine direkte Durchsetzungsmacht fehlt. Dem Willen die kleinen Parteien finanziell besser aufgestellt. zur Führung steht die Stratarchie entgegen. Eine zen- Problematisch an den dargestellten Werten ist, dass trale Kampagnenlinie kann nicht im Sinne einer bü- sie nicht das tatsächliche, gesamtparteiliche Wahl- rokratischen Befehlskette weitergegeben, sie kann kampfbudget, sondern nur das Budget der Bundes- nur zur Umsetzung ‚empfohlen‘ werden. Darüber parteien abbilden und zudem darin teilweise inner- hinaus können Maßnahmen ergriffen werden, die parteiliche Zahlungen enthalten sind. Die Landespar- eine Gefolgschaft wahrscheinlicher werden lassen. teien und die nachgeordneten Gliederungen auf loka- Und genau hier zeigen sich im Detail wie theoretisch ler Ebene verfügen in jedem Fall über relevante erwartet unterschiedliche Strategien. Wahlkampfetats, die gerade mit Blick auf die Wahl- Eine erste Strategie ist die gezielte Zentralisierung kampfsteuerung von Bedeutung sind: Eigene Res- spezifischer Bereiche. Neben der Bündelung von sourcen ermöglichen es den subnationalen Parteiein- Kompetenzen und organisatorischen Aspekten findet heiten, eigene Kampagnenmittel zu erstellen und so diese Strategie ihren sichtbarsten Ausdruck in den gegebenenfalls von der Gesamtlinie der Partei abzu- im Wahlkampf omnipräsenten Großflächenplakaten. weichen. Mit Blick auf die Controlling-Fähigkeiten Diese sind ein zentrales Kampagnenelement und er- der Wahlkampfzentralen ist bemerkenswert, dass freuen sich sogar steigender Beliebtheit. In allen Par- diese während des Wahlkampfs nicht wissen, in wel- teien stellen die traditionellen Großflächenplakate cher Höhe die unteren Ebenen (zusätzliche) Gelder im Bundeswahlkampfetat einen zentralen Ausgabe- für den Wahlkampf einsetzen. Dies führt dazu, dass posten dar. Dabei finden sich unterschiedliche Kon- die zentrale Steuerung zumindest im Controlling zepte, wie diese Plakate in die Fläche gebracht wer- eher auf Informalität/Responsivität und nicht auf den. Soweit die Bundespartei die Großflächen direkt harten Daten basiert. finanziert,8 entscheidet bei SPD und Grünen die Bundesebene auch über die Plakatierung. Bei der Selbstverständnis und Steuerungsmodelle der Linken entscheidet ebenfalls der Bund, spricht dies Wahlkampfzentralen aber mit den Landesparteien ab. Bei der FDP ent- Die Wahlkampfzentralen verfügen über die struktu- 8 Ergänzend sind weitere Modelle etabliert, um zusätzliche rellen und finanziellen Voraussetzungen, im Wahl- Großflächen zu ermöglichen: von der Mischfinanzierung über eine Vollfinanzierung durch die nachgeordneten Ebenen bis kampf eine Steuerungsrolle einzunehmen. Dieser hin zu onlinegestützten Plakatspende-Tools, die Standort und Führungsanspruch wird auch durchaus klar artiku- Motiv (in vorgegebenem Umfang) zur Wahl stellen.

127 Aufsätze Bukow – Gesteuerte Stratarchie: Innerparteiliches Kampagnenmanagement im Bundestagswahlkampf 2013 MIP 2015 21. Jhrg. scheidet die Landesebene in groben Zügen über die modell: Den Wahlkreisen wird ein von der lokalen Standorte, bei der CDU die lokale Ebene. Hier wird Finanzkraft unabhängiges Grundbudget zugeteilt. ein innerparteilich unterschiedliches Steuerungsmo- Dieses wird aber nicht ausgezahlt, sondern parteiin- dell erkennbar, von einer stärker zentralen Planung tern bei Materialbestellungen verrechnet. Damit ha- bis hin zur dezidierten Beteiligung der lokalen Ebene. ben die Untergliederungen einen entsprechenden Handlungsspielraum, der aber nur in Bezug auf die Zentrale werbliche Elemente wie eben diese Plakate parteieigenen Materialien genutzt werden kann. Zen- sind aber stets nur ein Teilelement von Wahlkampa- tralistischer ist das Steuerungsmodell der Linken. gnen. Kampagnen setzen auch auf lokale Veranstal- Hier werden die Materialien (nach vorheriger Ab- tungen und Aktivitäten. Diese dienen zum einen der sprache) zentral über rund 130 Anlaufstellen distri- Mitgliedermobilisierung, zum anderen der Herstel- buiert und komplett vom Bund finanziert. Im Gegen- lung von direkten Kontakten zur potentiellen Wäh- zug zeichnet sich die Bundeswahlkampfplanung der lerschaft. Bei dieser lokalen Wahlkampfarbeit muss Linken durch eine stärkere formale Einbindung der eine hierarchisch-zentralistische parteiliche Steuerung Landeswahlkampfleiter aus. Hier zeigen sich also beziehungsweise Kontrolle notwendiger Weise ver- durchaus zwischenparteiliche Unterschiede, hin zu sagen – die Kapazitäten und Strukturen der zentralen einer eher marktförmigen oder aber eher distributi- Parteiorganisation sind nicht darauf ausgerichtet, ven Variante der innerparteilichen Material- und einen Überblick über die tatsächlichen Aktivitäten Ressourcenverteilung. vor Ort sicherzustellen. Um dieses Controlling-Defizit auszugleichen, setzen die Wahlkampfzentralen zwei- Theoretisch haben die Kampagnenzentralen wenige tens auf eine Mobilisierungs- und Einbindungsstrate- Möglichkeiten, ihre zentral geplante Kampagne gie, die sich als angebotsbasierte Steuerung beschrei- parteiweit durchzusetzen. Dennoch ist die Kampa- ben lässt. Dahinter liegt das Selbstverständnis, so- gnenspitze mit dem Steuerungsergebnis weitgehend wohl Dienstleister für die Partei vor Ort als auch zufrieden, Steuerung scheint also durchaus möglich zentral steuernde Kampagnenzentrale mit einer Ver- zu sein. Dafür ist eine (zunehmende) Akzeptanz der antwortung für die gesamtparteiliche Kohärenz zu zentral bereitgestellten, teilweise anpassbaren Inhalte sein. In diesem Sinne basiert der Steuerungsversuch und Materialien maßgeblich, die auf der Erkenntnis auf der Verbindung von zentralen Entscheidungen, beruht, dass eine einheitliche Kampagne und die Er- die möglichst responsiv getroffen werden, mit einem kennbarkeit der Partei als Marke durchaus werblich- zentral bereitgestellten Angebot an Materialien und elektorale Vorteile hat. Dieser Lern- beziehungswei- Unterstützungsleistungen, die die werblich-strategi- se Gewöhnungseffekt ist für die Durchsetzbarkeit ei- sche Linie durchsetzen, dabei aber zugleich eine parti- ner einheitlichen Linie entscheidend und zeigt, dass elle Personalisierung bzw. Individualisierung ermögli- die medial-gesellschaftliche Erwartung einer einheit- chen. Kernelemente dieser Strategie finden sich in al- lichen Kampagne bei der Partei vor Ort antizipiert len Parteien, etwa Services zur Erstellung von Perso- wird. Dies geht sogar so weit, dass zentrale Angebot nenplakaten und Wahlkampfmaterialien oder zur nicht nur akzeptiert, sondern sogar eingefordert wer- Unterstützung der Online-Präsenz. So versuchen die den, selbst bei den traditionell dezentral orientierten Parteien, durch möglichst einfach zu nutzende und Grünen. doch ausreichend angepasste Werbemittel alle Ak- Die zentralen Angebote sind dennoch kein Selbstläufer. teure zur Einhaltung der zentral vorgegebenen Wer- Innerparteiliche Akzeptanz bzw. Gefolgschaft muss belinie zu bringen – ganz im Sinne der Franchise- stets erneut hergestellt werden. Dazu dienen bspw. Idee kann so Steuerung ausgeübt werden, ohne dass innerparteiliche Informationskampagnen (Regional- eine echte Hierarchie von Nöten ist. konferenzen, Kampagnenpräsentationen u.ä.), in de- Dabei zeigen sich Unterschiede in der Bereitstellung nen die Strategie und die werbliche Linie vorgestellt zentraler Materialien und der Kostenverteilung, was und erklärt werde. Dazu kommen Corporate Design- auf die theoretisch skizzierten unterschiedlichen und Wahlkampfhandbücher sowie (teilweise) Quali- Steuerungsmodelle hinweist. Üblich ist eine kosten- fikationsangebote, so dass festzustellen ist: Kommu- pflichtige Bereitstellung der Materialien, d.h. es fin- nikation ist elementar im postmodernen Wahlkampf, det eine innerparteiliche Verrechnung statt. Im De- sowohl nach außen zum Wähler, vor allem aber auch tail zeigt sich aber, dass bspw. CDU, SPD und FDP intern zwischen Party Central Office und Party on ergänzend spezifische Materialien zur Verfügung the Ground. Dabei geht es, dies gilt es zu betonen, stellen. Bei der SPD (zumindest bei der hier unter- jedoch um „Information, nicht Mitentscheidung“, suchten NRW SPD) greift ein weiteres Steuerungs- denn, so ein anderer Interviewter, „die Kampagne,

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Themenentwicklung, Plakatmotive und so weiter, men die Parteizentrale. Diese nimmt dabei als einer- das wird hier [also zentral] geplant, gemacht, ent- seits steuernde und gestaltende Wahlkampfzentrale schieden.“ und andererseits als Dienstleister für die Party on the Ground und die Kandidaten eine Doppelrolle ein. Innerparteiliche Kommunikation ist dabei nicht nur Diese Doppelrolle, die Gleichzeitigkeit von steuern- zur internen Vermittlung der Planungen wichtig, der Kampagnenleitung und nachfrageabhängigem sondern dient auch der Herstellung von Responsivi- Dienstleister, legt ein an das Franchise-Modell an- tät. Nur wenn die Kampagne „trägt“, also innerpar- knüpfendes Modell der innerparteilichen Steuerung teilich akzeptiert wird, lässt sie sich top-down imple- nahe, zumal ein rein hierarchisch-bürokratisches mentieren – sie „trägt“ aber nur, wenn der Planungs- Durchsteuern nicht möglich ist. Aus diesem Grund stab die Wünsche der anderen Parteibereiche zumin- finden sich in allen Parteien Elemente einer ange- dest partiell berücksichtigt. Die dazu erforderliche botsbasierten Steuerung. Responsivität wird unterschiedlich generiert. Ein wichtiger Ansprechpartner für die Wahlkampfleitung Wie skizziert finden sich dabei durchaus Unterschie- ist der hauptamtliche Apparat, insbesondere die Be- de im Detail, die auf die beiden theoretisch entwi- zirks-/Landesgeschäftsführer und -wahlkampfleiter ckelten Grundvarianten (zentralistisch-hierarchische (alle Parteien) sowie die Kreisgeschäftsführer und vs. zentralistisch-responsive Steuerung) hindeuten. -vorsitzenden (insb. CDU, Grüne). Dazu kommen ver- Allerdings ist eine eindeutige Zuordnung im Rahmen schiedene Versuche, auch die Mitglieder vor Ort di- dieser Analyse nicht möglich. Deutlich wurde je- rekt zu erreichen, sei es postalisch, telefonisch, online- doch, dass alle Parteien im werblichen, aber auch im gestützt oder über die Schaffung neuer Ansprechpart- kommunikativen Bereich auf eine starke Zentralisie- ner („Campaigner“, SPD). Bemerkenswert ist in die- rung setzen. Das Beispiel ‚Großflächenplakate’ weist sem Zusammenhang der bei Linken und Grünen – bei aller Vorsicht der Datendeutung – auf verschie- durchgeführte Versuch, die Mitglieder zu Beginn des dene Steuerungsmodelle hin, mit einer einerseits Wahlkampfs telefonisch zu erreichen und darüber eher zentralisierten (SPD, Grüne, Linke) und ande- Spenden zu generieren sowie eine Datenbank für et- rerseits eher dezentralen (FDP, Linke) Ausprägung. waige Wahlkampfaktivitäten aufzubauen. Diese Maß- Unterschiede, die als differente Steuerungsansätze nahme erfolgte bei der Linken in Zusammenarbeit verstanden werden können, konnten auch im Bereich mit den unteren Ebenen, bei den Grünen hingegen ‚Materialverteilung‘ aufgezeigt werden. Hier findet autonom von der Bundesebene – was zu innerpartei- sich meist eine marktförmige, franchise-artige Aus- lichen Unmut führte, da in der einstmals dezentralen gestaltung (zentrale Bereitstellung bei lokaler Aus- Partei nunmehr die Bundesebene eine direkte Kom- wahl und Bezahlung), nur die Linke setzt stärker auf munikation mit der Partei vor Ort bzw. den Mitglie- eine zentralisierte Form (zentrale, moderat responsi- dern aufbaut. Neben dem Parteiapparat und den Mit- ve Bereitstellung und Auswahl, zentral finanziert). In gliedern stellen in aller Regel die Kandidaten selbst allen Parteien sind dabei angebotsbasierte Steue- eine dritte Zielgruppe der direkten Kommunikation rungselemente erkennbar. Neben standardisierten dar (insb. in der FDP wird dies als besonders wichtig Werbemitteln sollen vor allem leicht individualisier- erachtet), wobei auch auf die Verantwortung der Lan- bare Materialien dazu beitragen, eine (passgenaue) desebene für diese Einbindungsleistung verwiesen Einbindung der lokalen Kampagnen in die gesamt- wird (bspw. SPD). Darüber hinaus finden sich ver- parteiliche Kampagnenlinie zu erreichen. Hier kom- schiedenste, strukturierte und unstrukturierte Wege, men Dienstleister- und Steuerungsrolle zusammen, um Responsivität herzustellen, so dass deutlich wird: hier ergibt sich eine geeignete Form der sanften Parteiliche Steuerung ist nur mit der Partei vor Ort Durchsteuerung. und den Kandidaten möglich, nicht gegen diese. Kommunikationsorientierte Zentralisierungstenden- zen zeigen sich in den Versuchen der Wahlkampf- Fazit: Kampagnenmanagement mittels Zentralisie- zentralen, über verschiedene Wege direkt an die Mit- rung und angebotsbasierter Steuerung glieder, aber auch an die Kandidaten selbst heranzu- In allen Parteien wird die Notwendigkeit einer treten und diese verstärkt einzubinden, um so eine parteiweit kohärenten Kampagne gesehen, basierend kohärente Kampagne sicherzustellen. Unterschiede auf zentraler Planung und (teilweise) dezentraler zeigen sich darüber hinaus in der Frage, in welchem Durchführung. Entscheidender Akteur bei der Pla- Umfang die Bundesebene den subnationalen haupt- nung und Steuerung dieser Kampagnen ist die Bun- amtlichen Apparat und die Landesparteien insgesamt despartei (Party Central Office), d.h. genau genom- in die Kampagnenarbeit einbindet. Responsivität und

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Kommunikation, nicht Partizipation dominieren da- ments, in: Bowler, Shaun/Farrell, David M./Katz, bei die innerparteiliche Kampagnenvermittlung. In Richard S. (Hrsg.): Party Discipline and Parliamen- weiteren Analysen wird vor allem auf der lokalen tary Government, Columbus, S. 283-478. Ebene zu prüfen sein, unter welchen Bedingungen die Bukow, Sebastian (2009): Parteiorganisationsrefor- Einbindung der lokalen Kampagnen gelingt – dass men zwischen funktionaler Notwendigkeit und insti- auf lokaler Ebene diesbezüglich Unterschiede beste- tutionellen Erwartungen, in: Jun, Uwe/Niedermayer, hen, ist evident (Bukow et al. 2015). Oskar/Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Die Zukunft der Im Ergebnis finden sich auf der hier analysierten Mitgliederpartei, Opladen, S. 211-228. Bundesebene vielfach ähnliche Steuerungsansätze. Bukow, Sebastian (2013): Die professionalisierte Trotz der unterschiedlichen Ressourcenausstattung Mitgliederpartei. Politische Parteien zwischen insti- bieten die Parteien teilweise vergleichbare Angebo- tutionellen Erwartungen und organisationaler Wirk- te. In den Details der innerparteilichen Steuerung lichkeit, Wiesbaden. zeigen sich jedoch Unterschiede, die die theoretisch Bukow, Sebastian (2014): Mit Primaries und verstärk- entwickelten Annahmen teilweise bestätigen. Die Un- ter Basisbeteiligung auf dem Weg zur „modernsten terscheidung zwischen einem zentralistisch-hierarchi- Partei Europas“? Die SPD-Parteiorganisationsreform schen und einem zentralistisch-responsiven Steue- 2009-2011, in: Münch, Ursula/Kranenpohl, Uwe/ rungsmodell ist analytisch hilfreich. Die Nutzung Gast, Henrik (Hrsg.): Parteien und Demokratie. des einen oder anderen Steuerungsansatzes ist dabei Innerparteiliche Demokratie im Wandel, Baden- erkennbar parteigenealogisch bedingt, aber auch bei Baden: S. 133-150. eher hierarchischen Steuerungsvarianten sind re- sponsive Elemente implementiert. So ist letztlich we- Bukow, Sebastian (2015): Das innerparteiliche der eine einfache Hierarchie noch eine ungesteuerte Kampagnenmanagement im Bundestagswahlkampf Stratarchie gegeben. In Anlehnung an das Franchise- 2013: Angebotsbasierte Steuerung als Antwort auf Modell ist zu konstatieren, dass in Ermangelung parteiliche Stratarchie, in: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): rechtlicher und faktischer Druckmittel die Steue- Die Bundestagswahl 2013. Analysen der Wahl-, rungspotentiale der Bundesparteien zwar begrenzt Parteien-, Kommunikations- und Regierungsfor- sind, dies aber nicht bedeutet, dass eine Steuerung schung, Wiesbaden: S. 243-267. nicht versucht wird. Entscheidend ist die Herstellung Bukow, Sebastian/Barth, Katrin/Berbuir, Nicole/ einer freiwilligen Gefolgschaft. Dazu bieten die In- Schulze, Vera (Hrsg.) (2015): Kampagnenmanage- strumente einer angebotsbasierten Steuerung in Ver- ment zwischen Steuerung und Stratarchie. Partei- bindung mit einer partiellen Zentralisierung einen organisationen im Bundestagswahlkampf 2013, für die Kampagnensteuerung geeigneten Ansatz. Wiesbaden (i.V.). Literatur Bündnis 90/Die Grünen (2014): Beschluss des Bun- Althaus, Marco (Hrsg.) (2001): Kampagne! Neue desvorstands von Bündnis 90/Die Grünen zur Ein- Marschrouten politischer Strategie für Wahlkampf, setzung einer Strukturkommission, Berlin. PR und Lobbying, Münster. Carty, R. Kenneth (2004): Parties as Franchise Sys- Althaus, Marco (Hrsg.) (2003): Kampagne! 2. Neue tems: The Stratarchical Organizational Imperative, Strategien für Wahlkampf, PR und Lobbying, Münster. in: Party Politics, 10 (1), S. 5-24. Bardi, Luciano/Bartolini, Stefano/Trechsel, Alexander Decker, Frank (Hrsg.) (2013): Handbuch der deut- (2014): Party Adaptation and Change and the Crisis schen Parteien, Wiesbaden. of Democracy, in: Party Politics, 20 (2), S. 151-159. Detterbeck, Klaus (2009): Mitglieder in professiona- Berg, Thomas (2002): Moderner Wahlkampf, Opladen. lisierten Parteien. Wozu brauchen Parteien noch Mitglieder?, in: Schalt, Fabian/Kreitz, Micha/Magerl, Beyme, Klaus von (2002): Parteien im Wandel. Von Fabian/Schirrmacher, Katrin/Melchert, Florian (Hrsg.): den Volksparteien zu den professionalisierten Wäh- Neuanfang statt Niedergang. Die Zukunft der Mit- lerparteien, Wiesbaden. gliederparteien, Münster, S. 289-304. Bolleyer, Nicole (2012): New Party Organization in Dörner, Andreas (2002): Wahlkämpfe – eine rituelle Western Europe: Of Party Hierarchies, Stratarchies Inszenierung des „demokratischen Mythos“, in: Dörner, and Federations, in: Party Politics, 18 (3), S. 315-336. Andreas/Vogt, Ludgera (Hrsg.): Wahl-Kämpfe. Be- Bowler, Shaun/Farrell, David M./Katz, Richard S. trachtung über ein demokratisches Ritual, Frankfurt/ (1999): Party Cohesion, Party Discipline, and Parlia- Main, S. 16-42.

130 MIP 2015 21. Jhrg. Bukow – Gesteuerte Stratarchie: Innerparteiliches Kampagnenmanagement im Bundestagswahlkampf 2013 Aufsätze

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131 Aufsätze Bukow – Gesteuerte Stratarchie: Innerparteiliches Kampagnenmanagement im Bundestagswahlkampf 2013 MIP 2015 21. Jhrg.

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132 MIP 2015 21. Jhrg. Reuband – Wer demonstriert in Dresden für Pegida? [...] Aufsätze

Wer demonstriert in Dresden für Pegida? sie jeweils etwas andere Akzente setzen und in ihrem Ergebnisse empirischer Studien, methodi- methodischen Vorgehen nur partiell vergleichbar sche Grundlagen und offene Fragen sind, kann man sie dennoch als ergänzend und kom- plementär begreifen. Durchgeführt wurden die Erhe-

1 bungen von einem Team von Hans Vorländer (TU Prof. Dr. Karl-Heinz Reuband Dresden), Dieter Rucht (WZB/Verein für Protest- und Bewegungsforschung), Franz Walter (Institut für Demokratieforschung, Universität Göttingen), Werner 1. Einleitung J. Patzelt (TU Dresden) und Wolfgang Donsbach Es gibt keine andere Protestbewegung in den letzten (TU Dresden).5 Jahren, die in ihrer Dynamik so sehr überrascht hat, Im Folgenden sollen die fünf Studien in ihrem me- 2 wie die „Pegida“. Waren es zu Beginn am 20. Okto- thodischen Vorgehen und in ihren grundlegenden Er- ber letzten Jahres gerade mal 350 Personen, die sich kenntnissen dargestellt werden. Dabei beziehen wir in Dresden eingefunden hatten, um gegen eine „Isla- uns im Wesentlichen auf die derzeit verfügbaren Er- misierung des Abendlandes“ und die deutsche Mi- gebnisse (bislang meist nur auf den jeweiligen Home- grations- und Asylpolitik zu demonstrieren, waren es pages veröffentlicht), partiell ergänzt durch Ergeb- gegen Ende des Jahres mehr als 17.000 und zu Be- nisse eigener Befragungen in der Dresdner Bevölke- ginn des neuen Jahres am 12.01.2015 – Polizeischät- rung. Es geht darum, Unterschiede und Gemeinsam- 3 zungen zufolge – sogar 25.000. Von Woche zu Wo- keiten der unterschiedlichen Studien herauszuarbei- che war die Zahl der Teilnehmer gewachsen und dies ten und deutlich zu machen, wo offene Fragen beste- in geradezu explosionsartiger Weise. hen und alternative Deutungen möglich sind. Spekulationen über die soziale Rekrutierung der In einem ersten Teil soll zunächst das methodische Teilnehmer und die Motive machten in den Medien Vorgehen der Studien dargestellt werden und in die- und der Politik schnell die Runde. Und ebenso Ver- sem Kontext speziell auch der Frage nach der Teil- mutungen, warum die Bewegung gerade in Dresden so sehr Menschenmassen zu mobilisieren vermochte. 5 Zur Vorländer-Untersuchung siehe H. Vorländer, M. Herold Mögliche Gründe, die vorgebracht wurden, reichten und S. Schäller: Wer geht zu PEGIDA und warum? Eine em- von historischen Traditionen, „sächsischen Mentali- pirische Umfrage unter PEGIDA-Demonstranten in Dresden. täten“ über bürgerliche Abgrenzungstendenzen bis Dresden 2015 (http://tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaete n/philosophische_fakultaet/ifpw/poltheo/news/studie_vorlaen hin zum Rekurs auf Dresden als „Tal der Ahnungslo- der_herold_schaeller). Die zuerst auf einer Pressekonferenz sen“ (damit anspielend auf die Zeit der DDR, als vorgestellte Präsentation findet sich unter https://tu-dresden. man dort kein Westfernsehen empfangen konnte).4 de/aktuelles/news/Downloads/praespeg. Zur Untersuchung von Dresden geriet in den Augen mancher Betrachter zu Dieter Rucht und Ko-Autoren siehe „Protestforschung am Limit. einem Hort der Rückständigkeit, der Fremdenfeind- Eine soziologische Annäherung an Pegida“, Berlin 2015 (im Folgenden als Rucht-Studie zitiert) (www.wzb.eu/de/presse lichkeit und des Rassismus. mitteilung/untersuchung-zur-dresdner-pegida-demonstration; zur Untersuchung von Franz Walter (im Folgenden als Walter-Stu- Inzwischen sind erste Ergebnisse empirischer Studien die zitiert) siehe F. Walter: „Studie zu Demos in Dresden: Psy- zu den Pegida-Demonstrationen der Öffentlichkeit chogramm der Pegida-Anhänger“ in Spiegel-Online sowie er- vorgelegt worden: es handelt sich um Studien, die un- gänzenden Erläuterungen auf seiner Homepage (www.spie abhängig voneinander entstanden sind. Auch wenn gel.de/politik/de utschland/pegida-franz-walter-legt-studie-zu- demonstranten-in-dresden-vor-a-1013688.html, www.demokr atie-goettingen.de/blog/studie-zu-pegida). Des Weiteren siehe 1 Der Autor ist Professor für Soziologie, Institut für Sozialwis- dazu die jüngst erschienene Monographie: L.Geiges, S. Marg senschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. und F. Walter: PEGIDA. Die schmutzige Seite der Zivilgesell- 2 Pegida = „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des schaft? Bielefeld 2015. Zur Donsbach-Studie siehe „Welche Abendlandes“, als Verein unter der Bezeichnung „Pegida – Einstellungen führen zu Pegida? Neue Umfrage der Dresdner Patriotische Europäer. Gemeinsam sind wir stark.“ Kommunikationswissenschaft“. Pressemitteilung (http://dons bach.net/aktuell-unsere-studie-zu-was-erkl%C3%A4rt-sympa 3 Andere Schätzungen, wie die von Dieter Rucht, gehen von thie-f%C3%B Cr-pegida/), W. Donsbach: Projekt ZIGEDD: niedrigeren Werten aus. Am Tatbestand eines geradezu explo- Pegida. Erste Ergebnisse. PP-Präsentation, 29.01.2015; zur sionsartigen Anstiegs der Teilnehmerzahlen ändert sich da- Patzelt-Studie siehe W. Patzelt (in Zusammenarbeit mit P. durch freilich nichts. Buchallik, S. Scharf und C. Paul): Was und wie denken PE- 4 Vgl. u.a.: www.berliner-zeitung.de/meinung/kolumne-zur-fremd GIDA Demonstranten? Analyse der PEGIDA-Demonstranten enangst-in-dresden-pegida-eine-alte-dresdner-eigenheit,10808 am 25. Januar 2015, Dresden. Ein Forschungsbericht. Dres- 020,29338774.html; www.focus.de/politik/deutschland/tal-de den 2015 (http://tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten r-ahnungslosen-historiker-fehlendes-westfernsehen-grund-fue /philosophisc he_fa kultaet/ifpw/polsys/for/pegida) [letzter r-pegida-zulauf_id_4412465.html (letzter Zugriff 23.03.2015). Zugriff jeweils am 23.03.2015].

133 Aufsätze Reuband – Wer demonstriert in Dresden für Pegida? [...] MIP 2015 21. Jhrg. nahme an der Befragung nachgegangen werden: Wie vorgenommen und eine Auswahl segmentspezifisch sehr gilt, dass man – wie einige Kritiker meinen – nach Quotenplan betrieben (was durch die stationäre über die typische Zusammensetzung der Teilnehmer Demonstration bei Tageslicht ermöglicht wurde). Bei eigentlich gar nichts sagen kann, allenfalls dass sie Rucht hatten die Teams die Instruktion, „an welchen sich nicht befragen lassen? Wie sehr ist Nichtkoope- Stellen sie von beiden Seiten des Demonstrationszugs ration ein Problem, und welche Aussagekraft haben aus Handzettel ausgeben sollten“. Dabei sollte darauf die Befragungen? geachtet werden, nicht bevorzugt das eigene Ge- schlecht oder die eine Altersgruppe auszuwählen, son- 2. Methodische Anlage der Untersuchungen und dern dies entsprechend der „wahrgenommenen Vertei- ihre Probleme lung des Demonstrationszugs“ zu tun. Bei Walter ver- teilten die Teams vor und während der Demonstratio- 2.1 Erhebungsverfahren und Stichprobenziehung nen so lange Einladungsschreiben zur Teilnahme bis – so schreiben sie – eine „große Sättigung erreicht Die fünf der genannten Studien machen – in jeweils war“, gemessen an der Reaktion der Kontaktierten, unterschiedlichem Umfang – von verschiedenen Er- man habe einen Handzettel bereits erhalten.6 hebungsverfahren Gebrauch. Dazu zählt u.a. die Auswertung von Webseiten, die Nutzung von Sekun- Während bei Vorländer und Patzelt eine mündliche därquellen, Beobachtungen und Gruppendiskussio- Kurzbefragung am Ort der Demonstration gewählt nen. Alle verwenden zugleich jedoch auch standardi- wurde, entschieden sich Rucht und Walter für eine sierte Befragungen mit dem Anspruch auf Generali- Online-Befragung: Die befragungsbereiten Demons- sierbarkeit. Entsprechend ist nicht die Selbstrekrutie- tranten erhielten ein Blatt mit einem QR-Code, mit rung interessierter Befragter das Auswahlprinzip, dessen Hilfe sie sich zu Hause im Internet in den sondern eine vom Interviewer nach festen Regeln Fragebogen einloggen und ihn beantworten konnten. durchgeführte Auswahl. Dies bedeutet – mit Ausnah- Bei der Kontaktaufnahme wurden allenfalls einige me der Untersuchung von Patzelt – die Wahl einer wenige Merkmale erhoben. Bei Walter waren dies Zufallsstichprobe. Bei Patzelt handelt es sich um Geschlecht, Wohnort, Alter, Erwerbsverhältnis und eine Quotenstichprobe, bei der die Altersverteilung Teilnahmehäufigkeit an den Pegida-Demonstrationen, der Vorländer- und der Rucht-Untersuchung dem bei Rucht Geschlecht und Teilnahmehäufigkeit an Quotenplan zugrunde gelegt wurde. den Demonstrationen. Bei Vorländer fanden sich 36 % der angesprochenen Personen zu einem Inter- Mit Ausnahme der Donsbach-Studie, die sich auf ein view bereit. Bei Patzelt, der sich auf eine bessere Access-Panel Dresdner Bürger stützt, wurden die Be- Ausgangsbasis, eine stationäre Demonstration tags- fragten am Ort des Demonstrationsgeschehens kon- über, stützen konnte, waren es sogar 49 %. Bei Rucht taktiert. Die Demonstration am 12.01.2015 (sie war nahmen 37 % den Handzettel mit dem QR-Code für bislang die größte und reiht sich ein in die abendli- die Online-Befragung entgegen. Wie viele es bei chen Montags-Demonstrationen mit Marsch durch Walter waren, ist unbekannt (entsprechende Informa- Dresden) repräsentiert dabei diejenige, an der die tionen sind in den Publikationen nicht aufgeführt). meisten Forschungsteams aktiv waren: Unabhängig voneinander rekrutierten an diesem Abend Vorländer, Das zweistufige Verfahren, das von Rucht und Walter Rucht und Walter ihre Befragten. Zuvor hatte Vor- gewählt wurde, hat – so sehr es auch manche Vorteile länder bereits zwei kleinere Befragungen als Pilot- (wie längerer Fragebogen, Anonymität etc.) bietet – Studien durchgeführt (am 22.12.2014 und 05.01.2015). einen gravierenden Nachteil: die Ausschöpfungsquote Sie sind Bestandteil seiner Gesamterhebung, auf die von Online-Befragungen ist normalerweise recht ge- er sich in seiner Analyse stützt. Bei Patzelt fand die ring. Und es werden bevorzugt die internetaffinen Befragung am 25.01.2015 statt. Die Demonstration Personen angesprochen (was eine bevorzugte Teil- an diesem Tag unterschied sich von den vorherge- nahme von Jüngeren und besser Gebildeten bedingt). henden dadurch, dass sie an einem Sonntagnachmit- Bei Rucht nahmen so denn auch nur 18 % derer, die tag und bei Tageslicht an einem stationären Ort, dem Theaterplatz, abgehalten wurde. 6 Angesichts einer Beteiligung von rund 25.000 Demonstranten (nach Rucht waren es 17.000), fällt es schwer, sich eine Kon- In der Praxis der Stichprobenziehung differieren die stellation der „Sättigung“ vorzustellen. Denkbar ist dies nur, Studien leicht. Bei Vorländer wurden die Teilnehmer wenn sich Interviewer innerhalb eines kleinen Segments von an den Zugangswegen vor Beginn der Veranstaltung Demonstranten bewegen. Alles in allem dürfte die Vorländer- Studie methodisch gesehen, von der Stichprobenziehung her die kontaktiert. Bei Patzelt wurde eine flächenmäßige beste darstellen. Zum Vorgehen vgl. Vorländer, a.a.O., S. 14ff.; Aufteilung am Ort des Demonstrationsgeschehens Rucht, a.a.O. (Anm. 7); Patzelt, a.a.O., S. 4; Walter, Kap. 3.

134 MIP 2015 21. Jhrg. Reuband – Wer demonstriert in Dresden für Pegida? [...] Aufsätze einen Handzettel erhielten, an der Online-Befragung Die Kritik führt in die Irre. In der methodischen An- teil. Bei Walter waren es sogar nur 14 %. Umgerech- lage der Stichprobenziehung und Durchführung der net auf die Ausgangsbasis – die Personen, die kon- Befragung ist die Vorländer-Studie in vielerlei Hin- taktiert wurden –, liegt die Ausschöpfungsquote bei sicht geradezu vorbildlich, und in ihrer Ausschöp- Rucht nicht höher als 7 %. Wäre man nicht der Fas- fung ist sie sogar höchst erfolgreich. Selbst hochpro- zination einer Online-Befragung erlegen und hätte fessionelle wissenschaftlich ausgerichtete Bevölke- die Methode einer schriftlich-postalischen Erhebung rungsumfragen, die mündlich face-to-face zu nicht gewählt, hätte man wahrscheinlich weitaus höhere sensiblen Themen durchgeführt werden (wie ALLBUS Werte, von 50 % und mehr, erzielen können.7 oder SOEP), erreichen heutzutage in Deutschland nur unter großem Aufwand eine derartige Teilnahme- 2.2 Kooperation und Nichtkooperation in den Be- rate. Bei Telefonbefragungen liegt der Wert noch fragungen: welchen Stellenwert hat die Ausschöp- weitaus niedriger. fungsquote? Dass eine Beteiligung von lediglich einem Drittel Er- Dass niedrige Ausschöpfungsquoten die Aussagekraft gebnisse in nennenswertem Maße verzerrt, ist – an- der Ergebnisse beeinträchtigen, sie gar in Frage stellen, ders als oft unterstellt9 – ohnehin nicht zwingend. ist vor allem im Zusammenhang mit der Vorländer- Höhe der Ausfallquote und Ausmaß der Verzerrung Studie zu einem Thema der Diskussion geworden. gehen nicht notwendigerweise parallel. Entscheidend Dass es diese Studie traf, ist kein Zufall: sie war die ist, ob der Ausfall in systematischer Weise mit dem erste, die veröffentlicht wurde. Und sie erbrachte in Untersuchungsthema korreliert.10 Zwar ist anzuneh- der Frage der sozialen Zusammensetzung und der men, dass sich der harte Kern der Extremisten und Protestmotivation Ergebnisse, die weithin verbreite- Ausländerfeinde einer Befragung eher entzieht.11 ten Annahmen widersprachen: Nicht nur dass vom Doch hält sich dieses Problem angesichts der Grö- Sozialprofil her die Demonstranten als „Normalbür- ßenverhältnisse in Grenzen. Die Gruppe stellt ledig- ger“ erschienen, auch die Zentralität der Islamfeind- lich eine Minderheit unter den Demonstranten dar. lichkeit als primäres Protestmotiv wurde in der Stu- die in Frage gestellt. Dass Patzelt nahezu 50 % der angesprochenen Perso- nen befragen konnte, spricht für eine relativ große Der entscheidende Mangel – so die Kritik – sei, dass Aufgeschlossenheit der Pegida Teilnehmer.12 Und sich nicht eine Mehrheit, sondern nur eine Minder- heit an der Befragung beteiligt hätte. Unter diesen 8 Die Kritik an der Vorländer-Studie entwickelte sich z.T. zu- Umständen seien die Ergebnisse nahezu wertlos. Die erst in der Blogger-Szene und schwappte dann in die Medien- xenophoben und rechtsradikalen Teilnehmer wären berichterstattung über (wobei manche der Blogger fälschli- cherweise als Wissenschaftler bezeichnet und deren Kritik sicherlich nicht repräsentiert. Und auch das Bild weit- dann als Äußerungen aus der Wissenschaft deklariert wurde). gehender Normalität im soziodemographischen Auf- Siehe z.B. entsprechende Verweise in Beiträgen der Wirt- bau wäre wohl eher eine Folge selektiver Teilnahme. schaftswoche, der Leipziger Volkszeitung, dem MDR, der Eine angemessene Stichprobe könne man bei Massen- WELT: www.wiwo.de/politik/deutschland/...vorlaender...pegi veranstaltungen ohnehin kaum ziehen. Angesichts da.../11240084.html; www.lvz-online.de/.../pegida/...an-pegi da.../r-pegida-a-270965.html; www.mdr.de/fakt/fakt_pegida_ dessen sei es unmöglich, von irgendeiner Art von studie_kritik100.html; www.welt.de/politik/deutschland/artic 8 Repräsentativität der Ergebnisse zu sprechen. le136426537/Wie-fremdenfeindlich-sind-Pegida-Anhaenger- wirklich.html (letzter Zugriff 23.03.2015). 9 Lange Zeit wurde in der Sozialforschung der Anspruch vertre- 7 Dass man bei Wahl einer schriftlich-postalischen Befragung ten, man müsse mindestens eine Ausschöpfungsquote von bei Demonstrationen durchaus erfolgreich sein kann, hat nicht 70 % erreichen, später waren es dann 50 %. Inzwischen weiß zuletzt Dieter Rucht selbst in früheren Arbeiten gezeigt: so man aus Studien u.a. des ALLBUS, dass auch bei einer Quote sandten auf der Friedensdemonstration im Jahr 2003 in Ber- von einem Drittel das Ausmaß der Verzerrung in der Sozio- lin, den Protesten gegen Harz IV im Jahr 2004 und gegen demographie nicht steigen muss. Stuttgart 21 im Jahr 2010 rund 50 % und mehr der angespro- 10 Dazu vgl. auch A. Diekmann: Empirische Sozialforschung. chenen Personen den Fragebogen ausgefüllt zurück. Siehe D. Reinbek 2007, S. 425. Rucht, B. Baumgarten, S.Teune und W. Stuppert: Befragung 11 von Demonstranten gegen Stuttgart 21 am 18.10.2010, Pres- So berichtet z.B. Patzelt, dass den Interviewern die Vorgabe sekonferenz am 27.10.2010 (www.wzb.eu/de/pressemitteilung gemacht wurde, auch die Problemgruppe der jüngeren Män- /fuer-mehr-transparenz-und-direkte-demokratie; letzter Zugriff ner mit Aussehen von Rechtsextremisten und Hooligans anzu- 23.03.2015). Zu den Möglichkeiten und Strategien schriftlich- sprechen, und von ihnen hätte der größte Teil das Interview postalischer Befragungen siehe K.H. Reuband: Schriftlich-po- verweigert. Siehe Patzelt, a.a.O. S. 4, Anm. 4. stalische Befragungen, in: N. Baur und J. Blasius, Hrsg., 12 Hier mag auch eine Rolle gespielt haben, dass es sich – anders Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wies- als bei den anderen Befragungen – um eine stationäre De- baden 2014, S. 643-660. monstration am Theaterplatz handelte, bei Tageslicht. Die

135 Aufsätze Reuband – Wer demonstriert in Dresden für Pegida? [...] MIP 2015 21. Jhrg. dafür spricht auch, dass die Ablehnung der Inter- breiter Kreis von Personen auch aus dem Umland viewanfragen in den verschiedenen Untersuchungen eingefunden haben. mehrheitlich nicht aggressiv erfolgte. „Bei allen Darüber hinaus ist es eine offene Frage, wie sehr Schwierigkeiten, auf die Journalisten offenbar im sich in der lokalen Verbreitung der Proteste die Ver- Zuge ihrer Vor-Ort-Arbeit bei Pegida gestoßen sind“, breitung ausländerfeindlicher Einstellungen wider- resümiert z.B. Walter, „hat uns die Bereitschaft der spiegelt. Zum einen müssen sich Einstellungen nicht Teilnehmer, sich auf unsere wissenschaftliche Erhe- notwendigerweise in Form von Protesten nieder- bung einzulassen, überrascht“. Viele hätten die Be- schlagen – dies hängt auch von der Gelegenheits- fragung begrüßt („Endlich hört uns jemand zu“).13 struktur des Protestes ab. Was bedeutet: an manchen Dass die Höhe der Ausschöpfungsquote nicht not- anderen Orten kann das gleiche Potential des Pro- wendigerweise etwas über das Ausmaß der Verzer- tests vorhanden sein, aber es muss sich bislang nicht rung der Ergebnisse aussagt, gilt theoretisch natür- in entsprechendes Handeln umgesetzt haben. Zum lich ebenso für die Online-Befragungen von Rucht anderen geht es, wie es Vorländer in seiner Untersu- und Walter. Nur ist die Quote mit Werten weit unter chung gezeigt hat, den Dresdner Pegida-Teilnehmern 10 % derart niedrig, dass man hier schon eher mit nicht nur um Asylbewerber, Migration oder Islam. In Verzerrungen rechnen muss, verstärkt durch die maßgeblicher Weise drückt sich in den Protesten Wahl einer Online-Befragung. Gleichwohl ist dies auch ein Protest gegen das politische Establishment kein Grund, die Ergebnisse von vornherein – ohne und mangelnde Einflussmöglichkeiten der Bürger weitere Prüfung – als wertlos zu betrachten und aus auf die Politik aus. Und schließlich ist zu bedenken, der Diskussion auszuklammern. Man muss die Be- dass sich im Vorkommen von Protest – unabhängig funde nur mit der gebotenen Vorsicht, unter Berück- von den jeweiligen Issues – auch eine generelle Be- sichtigung ihrer jeweiligen methodischen Eigenhei- reitschaft zu unkonventionellen Formen politischer ten, in die Analyse einbeziehen. Und man muss mehr Partizipation widerspiegeln kann. Die Bereitschaft als in den anderen Studien bemüht sein, sie mit ande- dazu könnte lokalspezifisch variieren. ren Befunden in Beziehung zu setzen, um das Aus- Nach den vorliegenden Befunden bilden die Dresd- maß an Konsistenz in den Befunden zu bestimmen. ner tatsächlich nicht die Mehrzahl der Teilnehmer. Ihr Anteil liegt der Vorländer-Untersuchung zufolge 3. Soziodemographisches Profil und politische bei ca. 40 %. Die anderen Untersuchungen erbringen Orientierungen der Pegida-Teilnehmer nahezu die gleichen Größenverhältnisse.14 Es sind vor allem Personen aus dem Umland, die das Gros 3.1 Pegida – ein Dresden typisches Phänomen? Die der Teilnehmer stellen. Deren Orientierungen müs- regionale Herkunft der Teilnehmer sen nicht mit denen der Dresdner identisch sein. So Die Tatsache, dass Pegida in Dresden so viele Men- weist die Sächsische Schweiz z.B. seit längeren schen in kurzer Zeit zu mobilisieren vermochte, hat einen überproportional hohen Stimmenanteil für 15 für viele Beobachter die Frage aufgeworfen, was die rechtsextreme Parteien auf. Auch mag es sein, dass Dresdner von den Bewohnern anderer ost- und west- die Unterbringung von Asylbewerbern dort größere deutscher Städte unterscheidet und sie für derartige Irritationen hervorruft als in Dresden. Die Tatsache, Proteste anfällig macht. Dabei wird üblicherweise dass es sich um Orte mit geringer Einwohnerzahl unterstellt, dass die Mehrheit der Teilnehmer aus handelt, mag ebenso Einfluss genommen haben wie Dresden stammt. Doch der Ort einer Demonstration die Tatsache, dass viele Orte einen sozialen Nieder- sagt nicht notwendigerweise etwas über die Herkunft gang erfahren haben, einhergehend mit Deindustria- der Demonstranten aus. Dresden könnte u.a. auch lisierung, Arbeitslosigkeit und Einwohnerschwund. deswegen ein bevorzugter Ort der Demonstration Umfragen in der Bevölkerung legen nahe, dass die sein, weil sich der Protest dort als erstes entwickelte Dresdner in der Tat in Sachsen eine unterdurch- und etablierte und Dresden der Sitz der Landesregie- schnittlich ausländerkritische Position einnehmen. In rung ist. Entsprechend könnte sich zum Protest ein 14 In der Vorländer-Untersuchung stammen 40 % aus Dresden, 41 % aus anderen Orten Sachsens, 9 % aus anderen ostdeut- Quote hätte sogar noch höher sein können, berichten die Au- schen Orten und 6 % aus Westdeutschland (Vorländer et al., toren, wäre nicht von etlichen Angesprochenen die plausible a.a.O., S. 56), in der Rucht-Untersuchung stammen 44 % aus Begründung gegeben worden, man wolle den Rednern zuhö- Dresden, in der Walter-Untersuchung 38 %. ren (Patzelt, a.a.O., S. 4). 15 Die Kommunalwahl in Sachsen im Jahr 2014 erbrachte z.B. 13 Vgl. dazu Vorländer et al. a.a.O., S.32, Patzelt et al., a.a.O., S. 3 für die NPD in der Sächsischen Schweiz einen Stimmenanteil (Anm. 4); Geiges et al., a.a.O., 2015, Kap. 3. von 6,5 %, in Dresden von 2,8 %.

136 MIP 2015 21. Jhrg. Reuband – Wer demonstriert in Dresden für Pegida? [...] Aufsätze keinem der Dresdner Ortsamtsbezirke wird ein Wert Fragt man nach der Sympathie für unterschiedliche erreicht, der für Sachsen typisch ist.16 Entsprechend ethnische Gruppen/Völker, so nehmen in der glei- könnte man vermuten, dass die Pegida-Teilnehmer, chen Umfrage Muslime – hier repräsentiert durch die die von außerhalb Dresdens kommen, häufiger aus- Gruppe der Türken – in Dresden zwar eine im Ver- länderkritische Ansichten vertreten als die Dresdner gleich zu anderen einbezogenen Gruppen eher mar- selbst. Man könnte dies auch erwarten, weil der Weg ginale Stellung ein. Doch ist diese Tendenz nicht nach Dresden aus dem Umland mit einem größeren stärker ausgeprägt als in Düsseldorf. Von einer Ver- Aufwand verbunden ist und es einer besonders star- schlechterung der Beurteilung ethnischer Gruppen ken Motivation bedarf, um diesen Aufwand auf sich ist im Langzeitvergleich seit 1998 (als die Fragen zu nehmen. Die Identifikation mit den Zielen des erstmals gestellt wurden) überdies nichts zu erken- Pegida Protests dürfte deshalb stärker ausgeprägt sein. nen. Von einer steigenden Ausländerfeindlichkeit kann, auch gemessen an anderen Indikatoren, nicht 3.2 Wie fremdenfeindlich sind die Dresdner? die Rede sein. Im Gegenteil: die Vorbehalte gegen- Und wie verhält es sich mit den Dresdnern selbst? über Ausländern sind in Dresden wie in Düsseldorf (wie ganz allgemein in der Bundesrepublik) länger- Wie stellt sich bei ihnen die Fremdenfeindlichkeit 19 dar im Vergleich zu den Verhältnissen in westdeut- fristig gesunken. schen Städten? Zu vergleichbaren Entwicklungen Dass sich die Dresdner nicht von den Bürgern west- des Protests mit einer derart hohen Zahl an Demons- deutscher Städte durch eine größere Ausländerfeind- tranten wie in Dresden kam es nirgends. Als Ende lichkeit unterscheiden, mag angesichts der wieder- 2014 in Dresden 10.000 auf die Straße gingen und holten Umfragebefunde über die Ost-West Unter- z.B. in Düsseldorf ähnliche Proteste angekündigt schiede erstaunen. Freilich gilt gewöhnlich auch, wurden, ging die Polizei von 2.000 Personen aus, dass die Ausländerfeindlichkeit mit zunehmender aber nur 400 kamen.17 Inzwischen ist die Zahl in Ortsgröße abnimmt. Die Unterschiede zwischen den Düsseldorf sogar auf 50 Personen geschrumpft. Be- alten und den neuen Bundesländern könnten auf der deutet dies – wie oftmals angenommen –, dass die Großstadtebene daher geringer sein. Des Weiteren Ausländerfeindlichkeit in Dresden weiter verbreitet ist nicht auszuschließen, dass soziale Erwünscht- ist als in westdeutschen Städten? heitseffekte das Antwortverhalten der Westdeut-

Aus neueren repräsentativen Bevölkerungsumfragen 18 Es handelt sich um postalische Befragungen der Bevölkerung der wahlberechtigten Bevölkerung spricht wenig da- in Dresden und Düsseldorf ab 18 Jahren mit deutscher Staats- für, dass dies der Fall ist. Dass es zu viele Ausländer bürgerschaft. Die Ausschöpfungsquote lag jeweils etwas über in Deutschland gäbe, meinten im Sommer 2014 in 50 %. Ergänzend ziehen wir eine eigene postalische Befragung aus Hamburg heran. Dass es zu viele Ausländer in Deutschland repräsentativen Bevölkerungsumfragen des Verfas- gebe („stimme voll und ganz zu/stimme eher zu“ auf einer vier- sers in Dresden fast genauso viele wie in Düsseldorf. stufigen Skala), meinten 2014 in Dresden 45 %, in Düsseldorf Gleiches gilt für die Aussage, dass Kriminalität sel- 46 % (in Hamburg im Jahr 2011 52 %). Dass es weniger Kri- tener wäre, wenn es weniger Ausländer gäbe. Selbst minalität gäbe, wenn es weniger Ausländer gäbe, meinten in Dresden 48 %, in Düsseldorf 43 % (in Hamburg 2011 52 %). in der Wahrnehmung von Asylmissbrauch erwiesen Dass die meisten Asylbewerber das deutsche Asylrecht miss- sich die Unterschiede als vernachlässigenswert. Allen- brauchen, meinten in Dresden 43 %, in Düsseldorf 39 % (in falls in der Bejahung der Aussage, man wohne gern Hamburg 2011 46 %). Dass man selbst gern in einer Stadt in einer Stadt, in der Menschen aus verschiedenen wohnt, in der Menschen aus verschiedenen Ländern leben, Ländern leben, zeichneten sich die Dresdner durch äußerten 2014 in Dresden 69 %, in Düsseldorf 83 % (in Ham- 18 burg 2011 74 %). Bundesweite Befragungen, die sich auf Tele- eine etwas geringere Aufgeschlossenheit aus. fon- oder face-to-face-Befragungen stützen, haben methoden- bedingt (soziale Erwünschtheit) bei vergleichbaren Fragen z.T. etwas geringere Werte erbracht. Von einer überproportio- 16 Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung: nal hohen Ausländerfeindlichkeit in den drei Städten ist nicht Rechtsextreme Strukturen, Gruppenbezogene Menschenfeind- auszugehen. Zu früheren Dresdner Befunden und Vergleichen lichkeit und bürgerschaftliches Engagement gegen Rechtsex- siehe K.H. Reuband: Attitudes towards Foreigners in Germany, tremismus in der Landeshauptstadt Dresden, Bielefeld 2010, in: T. Kutsune, Y. Nishijima und H. Adachi (Hrsg.): Socio- S. 109. Die Vergleichsdaten stammen allerdings nicht aus den Cultural Transformation in the 21th Century? Kanazawa gleichen Jahren (Dresden: 2010, Sachsen: 2006-2010), so dass 2007, S. 123 (www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/soz-reuband/ eine sinkende Ausländerfeindlichkeit für Dresden womöglich forschung/leben-in-duesse ldorf/ (letzter Zugriff 23.03.2015). den Eindruck einer stärkeren Abweichung hat entstehen las- 19 Eine entsprechende Publikation zu Dresden und Düsseldorf sen als realiter vorhanden. ist in Vorbereitung. Der langfristige Trend abnehmender Aus- 17 Spiegel Online 10.12.2014 (www.spiegel.de/politik/deutsch länderfeindlichkeit auf der Bundesebene ist u.a. dokumentiert land/pegida-wer-bei-den-aufmaerschen-mitmacht-und-wer- bei O. Decker, J. Kiess und E. Brähler: Die stabilisierte Mitte, profitiert-a-1007470.html (letzter Zugriff 23.03.2015). Leipzig 2014, S. 44.

137 Aufsätze Reuband – Wer demonstriert in Dresden für Pegida? [...] MIP 2015 21. Jhrg. schen stärker prägen als der Ostdeutschen.20 Bei ebenfalls 3 % der Dresdner, an Pegida Demonstratio- Wahl postalischer Befragungen – wie in unserem nen teilgenommen zu haben. Weitere 10 % gaben an, Fall – sind solche Effekte minimiert. die Pegida-Ziele uneingeschränkt zu teilen. Sie könnte man als potentielle Teilnehmer des Protests werten.22 Dass das Ausländerbild längerfristig positiver ge- worden ist, muss gegenläufige Trends in der Bewer- Zusammengenommen summiert sich der Anteil de- tung spezifischen Gruppen nicht ausschließen. Was rer, die zur Teilnahme an Pegida Protesten bereit wä- sich in Dresden ebenso wie in der Bundesrepublik ren, in Dresden auf Werte zwischen 11 % und 13 %. als Ganzes verändert haben dürfte, ist das Bild des Die bundesdeutschen Zahlen sehen nicht viel anders islamistischen Terrorismus. Insbesondere das Vor- aus: In einer forsa-Umfrage vom Dezember 2014 ga- dringen des Islamischen Staates in Syrien und ande- ben 13 % der Bundesbürger an, sie würden sich ge- ren Ländern und die öffentliche Beschwörung der gebenenfalls an Protestmärschen gegen die Islami- Gefahren, die von heimkehrenden Terroristen ausge- sierung Deutschlands beteiligen, wenn sie in der hen, dürfte nicht ohne größere Wirkung geblieben Nähe ihres Wohnorts stattfänden. In einer EMNID sein. Gemessen an der Medienberichterstattung zeigt Umfrage vom Dezember 2014 gaben 9 % an, sie sich im Verlauf des Jahres 2014 eine steigende The- würden bei Pegida-Protesten teilnehmen, wenn sie matisierung des Islam und des Islamismus, und diese bei ihnen in der Nähe stattfänden. 85 % verneinten Thematisierung ist negativ gefärbt. Desgleichen be- dies. Der Rest – rund 6 % – gab sich in dieser Frage legen bundesweite Umfragen, dass die Gefahr, die in unentschieden oder unsicher. In einer weiteren EM- Deutschland vom radikalen Islam ausgeht, in der NID Umfrage (mit leicht differierender Frageformu- Wahrnehmung der Bevölkerung – nach einer einst lierung), ebenfalls von Dezember 2014, gaben 15 % rückläufigen Entwicklung – wieder gestiegen ist.21 an, sie würden erwägen, bei einem Marsch der Pegi- Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch der da mitzulaufen. Und in einer (Online-)Befragung des Zustrom von Asylbewerbern und deren Unterbrin- Trend-Research Instituts äußerten 13 % der Hambur- gung das Gefühl der Betroffenheit verändert hat, in ger, sie würden zu Pegida Demonstrationen gehen, Dresden wie anderswo. wenn es sie bei ihnen gäbe.23 So wenig wie man den Einstellungen zu Ausländern 3.3 Die soziale Zusammensetzung des Pegida-Pro- eine Prädisposition der Dresdner für die Pegida-Pro- tests und des Pegida-Protestpotentials teste entnehmen kann, so wenig kann man für Dresden eine Sonderstellung aus der Bereitschaft zu Pegida- Als eines der Hauptergebnisse der Vorländer-Studie Protesten ableiten. So gaben in einer forsa-Telefon- gilt, dass die Teilnehmer der Demonstrationen in ih- umfrage der Dresdner Bevölkerung im Januar 2015 rer Soziodemographie einem Querschnitt der Bevöl- 3 % der Befragten an, sie hätten sich schon mal an ei- kerung ziemlich nahe kommen. Zwar bildeten die ner Demonstration der Pegida beteiligt. Weitere 8 % Männer mit drei Vierteln die Mehrheit, bezüglich der konnten sich vorstellen, möglicherweise bei Pegida Altersstruktur jedoch waren keine besonderen Auf- zu demonstrieren. In der (Online-)Befragung von fälligkeiten bemerkbar. Die meisten Teilnehmer wa- Donsbach, basierend auf einem Access-Panel (mit ren berufstätig und relativ gut ausgebildet. Von einer leichter Überrepräsentation Jüngerer und leichter Überrepräsentation der Unterschicht oder sozial Ent- Verschiebung politisch nach „links“), bekundeten wurzelter – wie gelegentlich vermutet – war nichts zu erkennen. In ihrer Bildung und ihren Einkommens- 20 So bekunden z.B. die Westdeutschen in Umfragen des Insti- tuts für Demoskopie häufiger als die Ostdeutschen, dass Fra- gen zu Ausländern „heikle Fragen“ seien, bei denen man sich 22 Zur forsa-Umfrage siehe: www.stern.de/politik/deutschland/ den „Mund verbrennen kann“. Im Fall der Aussage „Es gibt stern-interview-mit-forsa-chef-guellner-89-prozent-der-dresd zu viele Moslems in Deutschland“ meinten dies im Jahr 2011 ner-lehnen-pegida-ab-2172564.html; Donsbach, a.a.O. 71 % im Westen und 56 % im Osten, 2013 waren es 68 % im 23 Die forsa-Umfragen wurden für die Zeitschrift Stern durchge- Westen und 62 % im Osten (Quelle: Institut für Demoskopie, führt, die Hamburg Umfrage für Radio Hamburg, die EMNID persönliche Mitteilung). Umfragen für Focus und n-tv. (www.stern.de/politik/deutsch 21 Zur Medienberichterstattung siehe Mediatenor: IS schädigt land/fuer-pegida-auf-die-strasse-13-prozent-der-deutschen-wu Islambild in den Medien – Franziskus strahlt positiv, Media- erden-mitmarschieren-2163092.html; www.focus.de/politik/d tenor vom 22.12.2014; siehe ebenfalls U.M. Krüger: InfoMo- eutschland/protest-gegen-angebliche-islamisierung-umfrage-s nitor 2014: Internationale Themen dominieren die aktuelle o-viele-deutsche-wuerden-mit-pegida-demonstrieren_id_4360 Berichterstattung, in: Media Perspektiven 2, 2015, S. 91. Zur 367.html; www.n24.de/n24/Nachrichten/Politik/d/5884650/ Wahrnehmung des radikalen Islams als Gefahr im Zeitver- 15-prozent-der-deutschen-wuerden-mitlaufen.html; www.ham gleich in der Bevölkerung siehe u.a. R. Köcher: Die Bürger burg-zwei.de/Hamburg/Nachrichten/2015/Januar/Steigende-K nicht verachten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, riminalitaet-durch-Zuwanderer-in-Hamburg-Pegida-Umfrage; 17.12.2014, S. 8. letzter Zugriff 23.03.2015).

138 MIP 2015 21. Jhrg. Reuband – Wer demonstriert in Dresden für Pegida? [...] Aufsätze verhältnissen erwiesen sich die Befragten sogar als Dass sich die Pegida-Teilnehmer durch eine höhere überdurchschnittlich privilegiert. Bildung auszeichnen und nicht überproportional aus Älteren bestehen, steht in einem gewissen Wider- Dass die Männer eine Mehrheit der Pegida-Teilneh- spruch zu den üblichen Befunden zur Ausländer- mer bilden, ist nicht nur ein Ergebnis der Vorländer feindlichkeit und Islamfurcht. Danach würde man er- Untersuchung. Es zeigt sich auch in den anderen Un- warten, dass niedrige Bildung und höheres Alter ne- tersuchungen. Und die Beobachtungen der Demons- gative Bewertungen von Ausländern begünstigen.27 tranten, wie sie Rucht angestellt hat, legen nahe, dass Bedeutet dies, dass in Dresden andere Verhältnisse dieses Ergebnis nicht Folge einer selektiven Teilnah- vorherrschen? Wir können der Frage auf der Grund- me an den Befragungen ist, sondern die Realität wi- lage der von uns im Sommer 2014 durchgeführten derspiegelt.24 Bezüglich des Alters stimmen die an- Umfrage der Dresdner Bevölkerung nachgehen. Legt deren Pegida-Untersuchungen ebenfalls weitgehend man hier als Indikator die Sorge zugrunde, dass im- mit der Vorländer-Studie überein: bei Vorländer mer mehr Asylanten nach Dresden kommen, oder die liegt der Durchschnitt bei 48 Jahren, bei Patzelt bei Aussage, es leben zu viele Ausländer in Deutsch- 46 Jahren, bei Walters (Online-)Befragung bei 44 land, so zeigt sich: diejenigen, die sich besorgt oder Jahren. Lediglich die Befragten in der Online-Befra- tendenziell ausländerfeindlich erweisen, sind tat- gung von Rucht erweisen sich als etwas jünger. Da- sächlich – in Übereinstimmung mit der Literatur – ten aus Beobachtungen liegen im Fall des Alters be- überdurchschnittlich Ältere und schlechter Gebildete. dauerlicherweise nicht vor.25 Männer und Frauen unterscheiden sich nicht.28 Dass die besser Gebildeten unter den Teilnehmern Würde man nicht die Einstellung zu Ausländern zum überrepräsentiert sind, wird durch die Untersuchun- Maßstab machen, sondern das Gefühl des Zu- gen von Rucht und Walter bestätigt – die höher Ge- kunftspessimismus und der Deklassiertheit, würde bildeten sind (nicht zuletzt aufgrund der Online-Be- sich an diesen Befunden nichts ändern. Neben den fragung) hier sogar noch stärker präsent: Bei Vorlän- schlechter Gebildeten sind auch hier die Älteren eher der wiesen 28 % einen Hochschulabschluss auf, bei als die Jüngeren pessimistisch. Desgleichen nehmen Rucht sind es 35 %, bei Walter 40 % (Patzelt stellte sie eher eine westdeutsche Zurückweisung wahr („Für bedauerlicherweise keine Frage zur Bildung). Auch die meisten Westdeutschen sind die Ostdeutschen wenn generell gilt, dass sich besser Gebildete über- Bürger zweiter Klasse“). Offensichtlich gilt, dass proportional an Umfragen beteiligen: dass diese Ten- sich innerhalb des Kreises der potentiellen Pegida- denz unter den Pegida Teilnehmern so stark ist, um Teilnehmer die Männer, die besser Gebildeten und die Relationen in ihr Gegenteil zu verkehren, halten die Jüngeren überproportional zum aktiven Protest wir für unwahrscheinlich.26 bereitfinden und dies in derart starkem Maße, dass sie 24 Womöglich sind sogar die Frauen etwas kooperationsbereiter – wie den Pegida-Umfragen zu entnehmen ist – das als die Männer. 80 % der Demonstranten waren nach den Be- obachtungen von Rucht Männer. Unter denen, die von Vor- man im Fall dieser Bildungsgruppe den Anteil in der Befra- länder befragt wurden, waren es 75 % und bei Patzelt 72 %. gung um rund 22 % reduzieren, um auf den „wahren“ Wert 25 Man hätte für jeden Kontaktierten das Alter schätzen können. des Mikrozensus zu gelangen. Zum ALLBUS siehe M. Was- Eine Alternative wäre es, (Presse-)Fotos zugrundezulegen. Je- mer, M. Blohm, J. Walter, E. Scholz und R. Jutz: Konzeption doch sind die meisten Überblickfotos auf die Personen ausge- und Durchführung der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage richtet, die an der Spitze des Zuges marschieren. Und diese der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) 2012. GESIS Technical dürften für die Mehrheit der Teilnehmer nicht repräsentativ Reports. Mannheim 2014, S. 68. sein. Rucht zufolge verhielten sie sich eher konfrontativ (S. 8). 27 Vgl. z.B. Decker et al. a.a.O., S. 38 ff. Deren Durchschnittsalter liegt, eigenen Schätzungen zufolge 28 Die verwendeten Indikatoren lauten: „ich mache mir Sorgen, (auf der Basis eines Foto-Ratings von N=353 Personen), bei dass … immer mehr Asylanten nach Dresden kommen“, „In ca. 36 Jahren. Selbst wenn es eine disproportionale Beteiligung Deutschland leben zu viele Ausländer“ – „Wenn es weniger mancher Altersgruppen an der Befragung gegeben haben soll- Ausländer gäbe, würde es weniger Kriminalität geben“ – „Die te – wie einige der Autoren meinen – , dass sich daraus größe- meisten Asylbewerber missbrauchen das deutsche Asylrecht“ re Auswirkungen auf die inhaltlichen Befragungsergebnisse – „Ich lebe gern in einer Stadt, in der Menschen aus verschie- ergeben, ist unwahrscheinlich: wie man der Patzelt-Untersu- denen Ländern leben“. Berechnet man die Einstellung zu chung entnehmen kann, sind die Korrelationen zwischen Alter Ausländern auf der Basis einer Skala (in welche die genann- und den jeweiligen Einstellungen relativ schwach (sie liegen ten Variablen eingehen) im Rahmen einer multivariaten Ana- meist unter r=.30). Vgl. Patzelt, a.a.O., S. 17ff. lyse, so ergibt sich als standardisierter Regressionskoeffizient 26 Eine Möglichkeit der Schätzung ergibt sich über den ALLBUS für Bildung ein Wert von beta= -.36 (p<0,001), Alter .12 über den Anteil der Personen mit Abitur, Fachhochschule (p<0,01) und Geschlecht -.03 (n.s.) (R²=.17). Das sozialstruk- oder Hochschulabschluss: Im Mikrozensus 2011 belief er sich turelle Muster, das auch aus anderen Untersuchungen zu den in Ostdeutschland auf einen Wert von 21,6 %, unter den Be- Determinanten der Fremdenfeindlichkeit bekannt ist, wird fragten des ALLBUS von 2012 von 27,6 %. Danach müsste auch hier reproduziert.

139 Aufsätze Reuband – Wer demonstriert in Dresden für Pegida? [...] MIP 2015 21. Jhrg.

Bild des Protests bestimmen. Die überproportionale terschiede zwischen den Ost- und Westdeutschen. Neigung der besser Gebildeten, sich an den Demons- Darin spiegelt sich nicht zuletzt die Tatsache wieder, trationen zu beteiligen, dürfte ihrer hohen – von den dass die Westdeutschen – im Gegensatz zu den Ost- jeweiligen Issues unabhängigen – allgemeinen Be- deutschen – über eine längere Zeit hinweg eine Partei- reitschaft zur politischen Partizipation entsprechen.29 bindung an das westdeutsche Parteiensystem aufge- baut und in den Wahlen wiederholt bekräftigt haben.31 Für die Analyse des Pegida-Protests bedeutet der Be- fund: Man kann aus der Zusammensetzung der Teil- Dass die Pegida-Befragten der etablierten Politik in nehmer nicht zwangsläufig auf den Kreis derer hohem Maße distanziert gegenüber stehen, zeigt schließen, die durch Asylantenzuzug oder den radi- nicht nur die Vorländer-Untersuchung. Auch die an- kalen Islam beunruhigt sind. Es muss zwischen der deren Erhebungen belegen dies und verweisen auf Erklärung der Unzufriedenheit und der Erklärung der ein hohes Maß an Misstrauen gegenüber den politi- Bereitschaft zum Protest unterschieden werden. Den schen Institutionen und den Massenmedien. Umso Pegida Protest als Aufstand der Mittelschicht zu bemerkenswerter ist es, dass sich weniger als ein werten und die Ursachen in Spezifika der Mittel- Fünftel der Befragten in der Untersuchung von schichtbedingungen zu verorten, wie mitunter ge- Rucht bei der letzten Landtags- und Bundestagswahl schehen, wäre eine zu einfache Erklärung. der Stimme enthielten. Dies ist ein Wert, der sogar unter dem Nichtwähleranteil der letzten sächsischen 3.4 Politische Orientierungen und Wahlverhalten Landtagswahl liegt. Die Zusammensetzung der Stich- Kennzeichnend für die Befragten der Vorländer-Un- probe könnte für dieses Ergebnis mitverantwortlich tersuchung war, dass sie gegenüber der etablierten sein: schließlich handelt es sich um eine Online-Be- Politik eine große Distanz äußerten. Die Mehrheit fragung, und in dieser sind die besser Gebildeten in fühlt sich, wie die Antworten auf eine entsprechende hohem Maße überrepräsentiert. Es kann aber ebenfalls Frage ergaben, keiner Partei verbunden. Dies kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Pegida-Teil- man – wie es die Autoren tun – als Zeichen einer nehmer tatsächlich politisch nicht derart desinteres- Entfremdung von den etablierten Parteien und als siert und desillusioniert sind, als dass sie sich der Wahlen enthalten. Befunde der Walter-Untersuchun- Ausdruck von Politikverdrossenheit werten. Ob es 32 sich um ein spezifisches Charakteristikum der Pegida gen deuten in diese Richtung. Teilnehmer handelt, ist u.E. freilich eine andere Fra- Möglicherweise bot für viele Pegida-Teilnehmer ge: zieht man bundesweite Daten für Ostdeutschland auch die Wahl der AfD eine Möglichkeit, ihre Präfe- heran, erweisen sich die Unterschiede zur Bevölke- renzen in das Parteiensystem einzubringen: Es ist die rung als relativ gering.30 Weitaus größer sind die Un- AfD, die von ihnen bei den letzten Wahlen bevor- zugt wurde, und es ist die AfD, der sie auch in der 29 Siehe zur Handlungsbereitschaft u.a. C. Lüdemann: Politische Zukunft am ehesten die Stimme geben würden. So Partizipation, Anreize und Ressourcen. Ein Test verschiede- bekundeten in der Patzelt-Untersuchung 57 % der ner Handlungsmodelle und Anschlusstheorien am ALLBUS Befragten, dass sie sich für die AfD entscheiden 1998, in: A. Koch, M. Wasmer und P. Schmidt, Hrsg., Politische Partizipation in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen würden, wenn Bundestagswahl wäre. Hinweise für 2001, S. 55; S.H. Barnes, M. Kaase et al: Political Action. rechtsradikale Wahltraditionen können den Befra- Mass Participation in Five Western Democracies. Beverly gungen nicht entnommen werden. Lediglich 4-5 % Hills/London 1979, S. 167ff., 375. der Befragten stimmten bei den letzten Wahlen für 30 Die Autoren stellen keinen Vergleich mit Bevölkerungsumfra- gen an. Man kann jedoch in etwa vergleichbare Fragen aus durch unsere Parteien und Politiker vertreten.“ 75 % stimmten dem SOEP oder ALLBUS heranziehen. Danach gaben im der Aussage auf der fünfstufigen Skala „gar nicht“ zu. SOEP im Jahr 2012 69 % der Ostdeutschen an, keiner Partei 31 zuzuneigen, 2011 waren es mit 72 % sogar noch mehr Perso- Zur Frage der Entwicklung der Parteibindung siehe J.W. Fal- nen. Im ALLBUS wurde die Frage zuletzt 2008 gestellt. Hier ter, H. Schoen und C. Caballero: Dreißig Jahre danach: Zur waren es 61 %, die sich in gleicher Weise äußerten. In West- Validierung des Konzepts „Parteiidentifikation“ in der Bun- deutschland waren es im gleichen Jahr lediglich 38 % (eigene desrepublik, in: M. Klein, W. Jagodzinski, E. Mochmann und Berechnungen). Die Frageformulierung im SOEP und im D. Ohr, Hrsg., 50 Jahre Empirische Wahlforschung in ALLBUS lautet: „Viele Leute in der Bundesrepublik neigen Deutschland. Wiesbaden 2000, S. 233-271. längere Zeit einer bestimmten Partei zu, obwohl sie auch ab 32 Walter kommt auf der Basis von Gruppendiskussionen zu und zu eine andere Partei wählen. Wie ist es bei Ihnen: Nei- dem Befund, dass Nichtwähler oder politisch Desinteressierte gen Sie einer bestimmten Partei in Deutschland zu?“. In der sich unter den Befragten selten finden. Allerdings sind auch Vorländer-Untersuchung lautet die Frage „Fühlen Sie sich einer hier methodisch bedingte Selektionseffekte nicht ausgeschlos- politischen Partei verbunden?“ 62 % gaben daraufhin keine sen (politisch Interessierte könnten sich in bevorzugter Weise Parteiverbundenheit an. In der Patzelt-Untersuchung wurde an- zu entsprechenden Gruppendiskussions-Veranstaltungen be- ders gefragt, vorgegeben war das Statement „Ich fühle mich reitgefunden haben).

140 MIP 2015 21. Jhrg. Reuband – Wer demonstriert in Dresden für Pegida? [...] Aufsätze die NPD.33 Wie es sich mit dem früheren Wahlver- rechts.35 Die Zuschreibung einer Mittel-Position er- halten der AfD Wähler und der Wähler anderer Par- laubt es Personen, die sich selbst in der Mitte (oder teien verhält, wie sehr unter ihnen konservative und gar links) sehen, den Demonstrationen anzuschließen. rechte Parteien Popularität genossen, muss offen Sie müssen sich unter diesen Umständen nicht bleiben. Entsprechende Fragen wurden nicht gestellt. zwangsläufig als Unterstützer einer „rechten“ Bewe- gung verstehen (und dürften umso distanzierter der- In der Selbstpositionierung auf dem Links-Rechts- artigen Etikettierungsprozessen in der Öffentlichkeit Kontinuum stufte sich ein breiter Teil – rund die gegenüberstehen). Hälfte der Befragten in der (Online-)Untersuchung von Rucht – in der „Mitte“ und nicht „Rechts“ ein. Dass die Pegida-Teilnehmer im Vergleich zur Bevöl- Auch in der Untersuchung von Patzelt ordnete sich kerung in der Selbsteinstufung eher rechts angesie- rund die Hälfte (52 %) der Befragten in der „Mitte“ delt sind, kann gleichwohl nicht bezweifelt werden: ein, politisch eher oder ganz rechts stufte sich eine In der Untersuchung von Patzelt stuften sie sich auf Minderheit (von 38 %) ein. Selbst wenn man ein- einer fünfstufigen Skala durchschnittlich rechts von räumt, dass sich der harte Kern der „Rechten“ vermut- der Mitte ein (3.2). Demgegenüber stufen sich die lich nicht an der Befragung beteiligte – dass er derart Ostdeutschen, nimmt man den ALLBUS 2014 zum groß ist, um das Bild der Pegida Teilnehmer grundle- Maßstab und rechnet die dort verwendete 10er Skala gend zu verändern, ist unwahrscheinlich. Gewiss ist um, eher links von der Mitte ein (2.3).36 Mögen die nicht ausgeschlossen, dass sozial erwünschte Ant- Pegida-Teilnehmer auch in ihrem soziodemographi- worttendenzen das Bild trüben und rechte Positionen schen Profil den „Normalbürgern“ entsprechen, in im Interview nicht eingestanden wurden – aber das ihrer politischen Selbsteinstufung sind sie es nicht. Sie wäre eher in der Patzelt-Untersuchung zu erwarten, sind, gemessen an ihren Wahlpräferenzen und ihrer nicht in der anonymen schriftlichen Online-Befra- politischen Selbsteinstufung, konservativ bis rechts, gung von Rucht. aber nicht rechtsradikal. Wir halten es für wahrscheinlich, dass sich in der 3.5 Motive des Pegida-Protests und Einstellungen Selbsteinstufung reale Selbstzuschreibungen wider- zu Ausländern und dem Islam spiegeln. Zum einen, weil „rechte“ Einstellungen in Fragen des Umgangs mit Ausländern eine Selbstein- Als einer der bedeutendsten Befunde der Vorländer- stufung als „links“ oder „Mitte“ nicht ausschließen Untersuchung gilt, dass generalisierte, diffuse Islam- müssen: Es reicht, dass bei anderen Themen – wie feindlichkeit nicht als Hauptgrund für die Teilnahme der Beurteilung von Kapitalismus und Sozialismus – an der Demonstration genannt wurde. Die Begrün- „linke“ Positionen eingenommen werden und diesen dungen, die auf die offene Frage hin gegeben wur- das höhere Gewicht eingeräumt wird.34 Zum ande- den, waren vielmehr in erster Linie auf die vorherr- ren, weil die Pegida von vielen Ostdeutschen (häufi- schende Politikpraxis ausgerichtet und reichten von ger als im Westen) politisch in der Mitte verortet der Kritik an der Integrationspolitik bis zur Kritik an wird: 36 % vertraten diese Ansicht in einer bundes- der Außen- und Sicherheitspolitik. Am häufigsten weiten (Online-)Befragung, 41 % sahen sie eher wurde eine allgemeine empfundene Distanz zwi- schen Volk und Politikern thematisiert, gefolgt von einer Kritik an der Asylpolitik. 33 Neuberechnungen unter Ausklammerung der Nichtwähler. Basis: Rucht-Untersuchung, a.a.O., S. 21. Dass bloße Islamfeindlichkeit unter den Antworten eine untergeordnete Rolle einnahm, hat in der öffent- 34 In einer unserer Dresdner Befragungen (aus dem Jahr 1998) übte in der linearen Regressionsanalyse das Item „Der Sozia- lichen Rezeption der Studie Erstaunen hervorgerufen lismus ist eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde“ (und war Anlass für Zweifel an der Methodik der einen Effekt auf die Links-Rechts-Einstufung von beta= -.35 Untersuchung). Schließlich hätte man bei einer Be- aus, das Item „In Deutschland leben zu viele Ausländer“ wegung, die sich gegen die „Islamisierung“ wendet, beta= .27, die Befürwortung der Todesstrafe (als Indikator für Law-and-Order Orientierungen) beta= .09 (alle Werte statisch islam- und ausländerbezogene Argumente primär als signifikant, jeweils unter Kontrolle von Geschlecht, Alter und Grund der Teilnahme erwartet. Dennoch wäre es Bildung). Vermutlich würde das Muster im Wesentlichen verfehlt zu meinen, Einstellungen zum Islam, Aus- auch dann bestehen bleiben, wenn man weitere Variablen zur 35 Einstellungsmessung heranziehen würde. Zur Frage der politi- Vgl. die Ergebnisse einer bundesweiten (Online) Befragung schen Überzeugungen und der Links-Rechts Einstufung siehe von YouGov vom Dezember 2014: http://yougov.de/news/ auch H. Best (und Koautoren): Politische Kultur im Freistaat 2014/12/19/umfrage-pegida-stosst-im-westen-auf-ahnliche-sy Thüringen, Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2012. Jena mpa/ (letzter Zugriff 23.03.2015). 2012, S. 88. (www.thueringen.de/imperia/.../th__ringen-monit 36 Patzelt, a.a.O., S. 7; ALLBUS 2014, Gesis Nr. 5240 (Pre-Re- or_2012_mit_anhang.p. (letzter Zugriff 23.03.2015). lease); eigene Berechnungen.

141 Aufsätze Reuband – Wer demonstriert in Dresden für Pegida? [...] MIP 2015 21. Jhrg. ländern und Asylanten, hätten in der Vorländer-Un- wären, hätte man sich bei den gleichen Fragen an- tersuchung keine Bedeutung für die Teilnahme. stelle einer Online-Befragung anderer Form der Be- fragung bedient, muss ungeklärt bleiben. So kann man der Untersuchung entnehmen, dass es auf Seiten der Befragten nicht an Vorbehalten ge- Angesichts der Vergleichsdefizite verbleibt als Opti- genüber der Migrations- und Asylpolitik fehlt. Nur on im Wesentlichen nur die Analyse der Antworten wurden diese in das Gewand der Kritik der politi- auf entsprechende Fragen und deren Konfiguratio- schen Verhältnisse gekleidet (und in den publizierten nen. Sie ergibt ein gemischtes Bild. Danach kann Tabellen entsprechend klassifiziert). Gewiss hätte von einer generalisierten Ausländerfeindlichkeit und man mit weiteren Fragen die Orientierungen gegen- von Rassismus bei der Mehrheit der Befragten nicht über Politik, Migration und Asylanten noch genauer die Rede sein. So spricht sich in der Untersuchung eingrenzen können. Dies aber hätte eines erweiterten von Rucht z.B. nur eine Minderheit dafür aus, dass Fragebogens bedurft, und dieser hätte sich bei einer die Zuwanderung von Muslimen nach Deutschland Kurzbefragung am Ort der Demonstration kaum als untersagt werden sollte. Auch meinen nur wenige, praktikabel erwiesen. Entscheidend an dieser Stelle sich durch die Muslime manchmal wie Fremde im ist: die Vorländer-Untersuchung belegt eine weitver- eigenen Land zu fühlen. Andererseits meinen fast breitete Distanz zur etablierten Politik. Sie ist mit ein alle, man solle den Bau öffentlich sichtbarer Mo- Grund für die Dynamik des Protests. Islamfeindlich- scheen in Deutschland einschränken.39 keit allein ist nicht der Motor, der die Pegida-De- Ein ähnliches Bild gemischter Orientierungen zeigt monstrationen vorantreibt. sich in der Patzelt-Untersuchung: so wird der Zuzug Wie es sich mit den Einstellungen zum Islam, zu Mi- von Ausländern und Asylbewerbern nicht per se als granten und der Asylpolitik im Einzelnen verhält, unzulässig negiert, man ist jedoch der Meinung, dass kann man den anderen Untersuchungen entnehmen. deren Zahl zu hoch ist. 73 % der Befragten stimmten Sie haben allerdings das Problem, nur wenig Ver- dem Statement („sehr“ oder „eher“) zu, dass Deutsch- gleiche mit den Einstellungen in der Gesamtbevölke- land weiterhin politisch verfolgte Asylbewerber und rung zu erlauben. Einzig Rucht bietet dies durch Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen solle. In Bezug Übernahme einzelner Fragen aus der „Mitte-Studie“ auf Asylbewerber als Gesamtheit jedoch vertrat eine des Leipziger Teams um Oliver Decker, Johannes Mehrheit die Ansicht, dass Deutschland zu viele auf- Kiess und Elmar Brähler. Doch die Ergebnisse in nehme. Alles in allem schätzt Patzelt auf der Grund- dem vorliegenden Bericht sind wenig geeignet, das lage seiner Umfrage nicht mehr als ein Drittel als spezifische Einstellungsprofil der Pegida Teilnehmer rechtsnational-xenophob ein.40 genauer zu beschreiben. Zum einen wird der unglei- chen sozialen Zusammensetzung der beiden Popula- 4. Schlussbemerkungen tionen – insbesondere in Fragen der Bildung – in der Analyse nicht Rechnung getragen.37 Zum anderen Gemessen an der Zahl der Demonstranten erreichte wird ein Vergleich mit Gesamtdeutschland angestellt. Pegida ihren Höhepunkt zu Beginn des neuen Jahres. Würde man den Vergleich mit Ostdeutschland unter- Mit dem Rücktritt des Pegida-Mitbegründers Lutz nehmen, wären einige der Unterschiede reduziert oder Bachmann und dem Auseinanderfallen in zwei Grup- gar aufgehoben. Die Pegida-Befragten wären in Fra- pen mit unterschiedlichen thematischen Schwer- gen der Fremdenfeindlichkeit weniger abweichend als punkten – Kampf gegen Islamisierung einerseits, di- zunächst beschrieben. Dies mag bei anderen Themen rekte Demokratie andererseits – schien das Ende der anders sein.38 Wie stark die Unterschiede ausgefallen Pegida besiegelt. Doch das vorhergesagte Ende ist nicht eingetreten. Nachdem der Mitbegründer Bach- 37 In der Rucht Untersuchung haben 35 % ein abgeschlossenes mann wieder in das Pegida-Leitungsteam eingetreten Studium, in der Vergleichsuntersuchung in der Bevölkerung sind es 10 % (Decker et al., a.a.O., S. 30). Wenn höhere Bil- und die Furcht vor Anschlägen wieder verblasst ist dung mit einem positiven Ausländerbild einhergeht, könnte (zwischenzeitlich war eine Demonstration aus Furcht sich der Unterschied zur Bevölkerung bei entsprechender Ge- davor verboten worden), hat sich die Zahl der De- wichtung verstärken. monstranten wieder erhöht. Waren es zunächst nur 38 Die größten Unterschiede bei Rucht ergeben sich bei dem 2.000 Teilnehmer, stieg die Zahl in den folgenden Satz, man solle endlich wieder Mut zu einem starken Natio- Wochen auf 4.800, 6.500 und am 16.03.2015 gar auf nalgefühl haben. Ein hoher Stellenwert nationaler Orientie- rungen findet sich auch bei Donsbach. Es bleibt freilich eine 7.700. Die zwanzigste Demonstration am 23.03.2015 offene Frage, wie sehr dies eine rein nationalistische Orientie- 39 rung bedeutet oder im Kontext der Zuwanderung und der Euro- Rucht, a.a.O., S. 29f. Krise als Betonung nationaler Interessen zu sehen ist. 40 Patzelt, a.a.O., S. 19, 27.

142 MIP 2015 21. Jhrg. Reuband – Wer demonstriert in Dresden für Pegida? [...] Aufsätze erbrachte zwar wieder einen Rückgang auf 5.500 Personen.41 Doch ob damit eine neue Entwicklung eingeschlagen ist, ist eine offene Frage. Welche Entwicklung die Pegida in der Zukunft auch nehmen wird – eines ist sicher: das Unbehagen, das viele Menschen dazu brachte, sich den Demonstra- tionen anzuschließen, wird in der einen oder anderen Form weiter bestehen bleiben und eine Herausforde- rung für Gesellschaft und Politik bedeuten. Der stei- gende Zustrom von Asylbewerbern wird vermehrt Zündstoff liefern: Neuere Schätzungen gehen von bis zu 550.000 Asylbewerbern für das Jahr 2015 aus42, Probleme der Unterbringungen vervielfachen sich. Kommt es unter dem Druck von Handlungszwängen zu kurzfristigen Maßnahmen der Unterbringung ohne Berücksichtigung lokaler Besonderheiten – wie teil- weise geschehen –, sind Konflikte mit der Bevölke- rung vorprogrammiert.43 Ob von dieser Entwicklung vor allem Ostdeutschland betroffen sein wird oder auch Westdeutschland, ist eine offene Frage und ebenso, ob sich aus dem issue-spezifischen Thema der Migration eine steigende, generalisierende Politikverdrossenheit entwickeln könnte.44

41 Vgl. Spiegel-Online (www.spiegel.de/politik/deutschland/peg ida-schafft-sich-ab-a-1015510.html; http://www.spiegel.de/po litik/deutschland/pegida-mehr-teilnehmer-und-ein-termin-in-b erlin-a-1022668.html); MDR- Online (www.mdr.de/nachrich ten/pegida-dresden230_zc-e9a9d57e_zs-6c4417e7.html; letz- ter Zugriff 23.03.2015). 42 Die Welt Online 22.03.2015 (www.welt.de/politik/deutsch land/article138655241/Laender-rechnen-mit-bis-zu-500-000- Asylbewerbern.html; letzter Zugriff 23.03.2015) 43 Dazu zählen u.a. die Nichtberücksichtigung der Relation von Asylbewerberzahlen und Einwohnerzahlen, Falschinformatio- nen über die zukünftige Unterbringung und die Herkunft der Asylbewerber etc. Vgl. u.a. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.2015, S. 4; Dresdner Neue Nachrichten (www.dnn-online. de/pirna/web/pirna-nachrichten/detail/-/specific/80-Asylbewerbe r-ziehen-in-Ex-Forstschule-1816156786); Geiges et al., a.a.O. 44 Das derzeitige politische Klima ist in dieser Frage im Vergleich zu früher zumindest nicht schlechter, im Gegenteil: das globale Institutionenvertrauen ist in den letzten Jahren – auch gegenüber der Politik – gestiegen. Vgl. T. Petersen: Anfang vom Ende der Politikverdrossenheit? Dokumentation zum Beitrag in der FAZ vom 19.03.2014 (www.ifd-allensbach.de/.../FAZ_Ma__rz _2014_Politikverdrossenheit.pdf., letzter Zugriff 23.03.2015). Institut für Demoskopie: Roland Rechtsreport 2015. Allens- bach 2015, S. 18 (www.roland-konzern.de/presse/publikation en/rolandrechtsreport/rolandrechtsreport.jsp); siehe zur Frage des Wandels und den soziokulturellen Determinanten und Er- scheinungsformen auch K.H. Reuband: Vertrauen in die Poli- zei und politische Institutionen, 1984-2011, in: Soziale Pro- bleme, 23, 2012, S. 5-39 (www.soziale-probleme.de/).

143 „Aufgespießt“ Franzmann – Was uns die Europäische Wertestudie über PEGIDA verraten kann MIP 2015 21. Jhrg.

„Aufgespießt“ und das Wissenschaftszentrum Berlin6, um mehr zu erfahren. Leider ließen sich viele der PEGIDA-Teil- Was uns die Europäische Wertestudie nehmer nicht auf die kurzfristig organisierten Befra- über PEGIDA verraten kann gungen ein. Dabei hätte man schon so viel wissen können – dass es zu solchen Demonstrationen Dr. Simon Tobias Franzmann1 kommt, dass es in weiten Teilen der deutschen Be- völkerung eine islamophobe Stimmung gibt, dass es insbesondere in Ostdeutschland immer noch keine Im Herbst 2014 überraschte ein in Dresden sich Etablierung einer intrinsischen Befürwortung der montags regelmäßig wiederholender „Abendspazier- Demokratie gibt. Wir haben seriöse, international gang“ die deutsche Öffentlichkeit. Unter der Abkür- vergleichende Umfragedaten, die in Deutschland nur zung PEGIDA für „Patriotische Europäer gegen die nicht hinreichend zur Kenntnis genommen wurden. Islamisierung des Abendlandes“ fanden sich Tausen- Diese Ignoranz, diese konsequente Nicht-Reflektion de zusammen.2 Vergleichsweise friedlich gaben die- des Zustandes der deutschen Demokratie und die se Demonstranten ihrem Unbehagen gegenüber Mi- Unterschiede in West und Ost mögen auch ein granten, der Politik und dem Islam an sich Ausdruck. Grund für das Auftreten dieser regelmäßigen De- In Köln kam es hingegen bei „Hooligans gegen Sala- monstrationen sein. Ein Blick in die Europäische fisten“ (HoGeSa) zu gewaltsamen Ausschreitungen. Wertestudie – European Values Study (EVS) – offen- Eine regelmäßige Veranstaltung konnte sich hieraus bart, dass PEGIDA weder ein überraschendes noch nicht entwickeln. Jenseits von Dresden formierten ein schwierig zu erklärendes Phänomen ist. Die Euro- sich ähnliche Abendspaziergänge, wie z.B. in Leip- päische Wertestudie erhebt im Abstand von ca. zehn zig (LEGIDA) sowie in Düsseldorf (DÜGIDA). Jahren grundsätzliche moralische und gesellschaftli- Doch das Zentrum von PEGIDA ist und bleibt Dres- che Einstellungen, angefangen von Religiosität bis hin den. Besonders irritiert reagierte die Öffentlichkeit zum allgemeinen Demokratieverständnis. Anders als auf abschließende „Wir sind das Volk“-Rufe und so- von kurzatmigen wöchentlichen Erhebungen der mit die Kaperung einer Losung der DDR-Wendezeit politischen Stimmung erfahren wir hier vieles zu den 1989. Neben der allgemeinen öffentlichen Irritation langfristigen Faktoren, die spätere gesellschaftliche waren schnell Schuldige für diese Demonstrationen Entwicklungen prägen. Ronald Inglehart und Christian ausgemacht: der ehemalige Innenminister Friedrich Welzel7 integrieren zum Beispiel diese Daten in die identifizierte Merkels „Mitte-Kurs“ und mangelnden World Value Survey. Sie belegen damit ihre Theorie Konservatismus als Ursache3 und von den Teilneh- der Humanentwicklung, wonach einer Demokratisie- mern an den Märschen wurden „die Parteien“ und rung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene hohe indivi- ihre Entfremdung vom „Volk“ benannt. Schnell er- duelle Freiheitspräferenzen auf individueller Ebene folgten diverse Untersuchungen zu den PEGIDA- vorausgehen – und umgekehrt. Die letzte Erhebungs- Teilnehmern durch die TU Dresden4, Allensbach5 welle des EVS war im Jahr 2008 – und auf Basis dieser nun schon sieben Jahre alten Daten erscheint das Aufkommen von PEGIDA kaum erstaunlich.8 1 Der Autor ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Sozial- wissenschaften, Vergleichende Politikwissenschaft, Heinrich- Der internationale Vergleich erzählt viel über die Heine-Universität Düsseldorf. 5 2 Laut Zählungen von Sozialwissenschaftlern am WZB gab es im Thomas Petersen (2015): PEGIDA ist nicht das Volk. Institut Januar 2015 ca. 18000 Teilnehmer in Dresden und ca. 2000 in für Demoskopie Allensbach. Beitrag für die FAZ, 28. Januar Leipzig (www.faz.net/aktuell/politik/inland/forscher-bezweife 2015, www.faz.net/aktuell/politik/inland/deutsche-fragen-und ln-teilnehmerzahlen-der-pegida-demos-13378876.html, zuletzt -antworten-ein-volk-kommt-zur-ruhe-13393752.html, zuletzt abgerufen am 10.03.2015). Am 09.03.2015 sollen nach Poli- abgerufen am 9. März 2015. zeiangaben ca. 6500 Menschen am PEGIDA-Abendspazier- 6 Priska Daphi, Piotr Kocyba, Jochen Roose, Dieter Rucht, Sa- gang in Dresden teilgenommen haben (www.spiegel.de/polit brina Zajak u.a.: Protestforschung am Limit. Eine soziologi- ik/deutschland/pegida-mehr-teilnehmer-und-ein-termin-in-ber sche Annäherung an Pegida. Handout zur Pressekonferenz am lin-a-1022668.html, zuletzt abgerufen am 10.3.2015). 19.1.2015 im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. 3 Vgl. ZEIT ONLINE: Friedrich macht Merkel für PEGIA mitver- 7 Christian Welzel und Ronald Inglehart (2005): Demokratisierung antwortlich, www.zeit.de/politik/deutschland/2014-12/pegida- und Freiheitsstreben: Die Perspektive der Humanentwicklung, friedrich-kritik-merkel, zuletzt abgerufen am 9. März 2015. Politische Vierteljahresschrift 46. Jg. (2005), Heft 1, S. 62-85; 4 Hans Vorländer (2015): Wer geht zu PEGIDA-Demonstrationen? Christian Welzel (2013): Freedom Rising. Human Empowerment Präsentation der ersten empirischen Umfrage unter PEGIDA- and the Quest for Emancipation. Cambridge University Press. Teilnehmern, TU Dresden – Zentrum für Verfassungs- und 8 Die Daten werden vom Datenarchiv für Sozialforschung Köln Demokratieforschung, http://tu-dresden.de/aktuelles/news/Do online zur Verfügung gestellt. Die Berechnungen wurden mit wnloads/praespeg, zuletzt abgerufen am 9. März 2015. den Daten ZA4800_v3 durchgeführt.

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Deutschen und ihre politischen Werte. PEGIDA ver- rer inhärenten Freiheitswerte lieben, oder einfach der eint zwei unterschiedliche Dimensionen – die Kritik Staatsform aus historischer Erfahrung positive Werte an der Demokratie und die Furcht vor „dem Islam“. beimessen. Und tatsächlich: wird gezielt danach ge- Mit der EVS lassen sich beide Dimensionen vertieft fragt, ob Freiheit oder Sicherheit vorgezogen wird, analysieren. Erster Befund: Die Deutschen favorisie- weist Ostdeutschland den mit Abstand geringsten ren durchaus die Demokratie als Staatsform, aber Wert für Freiheit innerhalb der EU auf. Polen steht eher aus instrumentellen denn intrinsischen Grün- auch hier wieder vor Westdeutschland. Auffallend den. Zweiter Befund: In Ostdeutschland ist im Jahre niedrige Werte weist in allen Kategorien Frankreich 2008 die Demokratiezufriedenheit ähnlich gering auf, während es in Großbritannien eine hohe Zustim- ausgeprägt gewesen wie in Ungarn – und Ungarn mung zu Freiheitsrechten gibt, aber eine bedenklich entwickelte sich seitdem offen zu einer illiberalen hohe Unzufriedenheit mit der Demokratie als Staats- Demokratie. Dritter Befund: kaum sonst wo sind form. Vielleicht ist uns in Deutschland der nicht spezifische Vorbehalte gegen den Islam so stark aus- übergroß ausgeprägte Rückhalt für Freiheitsrechte geprägt wie in Österreich und Ostdeutschland, aber und Demokratie deswegen nicht aufgefallen, weil zu Teilen auch in Westdeutschland. Vierter Befund: unsere üblichen Referenzländer Westeuropas sich in kaum anderswo hängen Islamophobie und Demokra- einem noch bedenklicheren Zustand befinden. Zu tieskepsis so eng zusammen wie in Ostdeutschland. denken geben sollte uns in Deutschland aber schon, dass die polnische Bevölkerung im Mittel, trotz Pro- Auf den ersten Blick scheint heute die Zustimmung blemen mit rechtsextremen Hooligans und kommu- der Deutschen zur Demokratie äußerst hoch. West- nistischer Vergangenheit, den intrinsischen Wert von deutschland weist nach Dänemark im europäischen Demokratie und Freiheit höher schätzt als wir in Vergleich den zweithöchsten Zustimmungswert zur Deutschland. Und wir sollten uns bewusst sein, dass Demokratie auf. Ostdeutschland, das in der EVS 2008 nirgendwo sonst in Europa Sicherheit anstelle von weiterhin gesondert erhoben wurde, schneidet zwar Freiheit ein solch hoher Stellenwert zugesprochen deutlich schlechter ab. Innerhalb der postkommunisti- wird wie in Ostdeutschland. Dies macht vielleicht schen Ländergruppe liegt Ostdeutschland aber zusam- verständlicher, warum sich PEGIDA gerade in Ost- men mit Estland an der Spitze und vor den etablierten deutschland etablieren konnte. westeuropäischen Demokratien Belgien, Frankreich, Irland und Großbritannien. Ist Deutschland also Hort Damit ist aber noch nicht angesprochen, warum gera- der Demokratie im Europa des 21. Jahrhunderts? Der de dort gegen die Islamisierung des Abendlandes de- Befund ist ein wenig ambivalent, denn die hohen monstriert wird. Verwundert und erstaunt stellen viele Mittelwerte verdecken, warum die Deutschen so zu- Kommentatoren fest, dass die Islamisierung besonders frieden mit der Demokratie sind. Sie sind 2008 hoch dort gefürchtet wird, wo praktisch keine Moslems zufrieden mit ihrer Regierung, damals die große Ko- wohnen. Allerdings gibt es in den deutschsprachigen alition. Ein Großteil der Zustimmung zur Demokra- Ländern eine durchaus islamophobe Grundeinstellung. tie hängt immer von der Zufriedenheit mit der aktu- Die Europäische Wertestudie beinhaltet auch Fragen ellen Regierung ab – und in Deutschland war die zur Akzeptanz von Migranten und konkreter, wen mittlere Zufriedenheit mit der damaligen, ersten man als Nachbarn akzeptieren würde, z.B. einen Mos- großen Koalition unter Angela Merkel in Ost und lem, einen Homosexuellen, einen Christen, einen Ju- West schlicht sehr hoch. Hierfür sowie für die Le- den, allgemein einen Migranten. Diese Fragen können benszufriedenheit korrigiert, fällt Ostdeutschland auf in Kombination gut dafür genutzt werden, um zu er- einen Wert kaum besser als Tschechien und Ungarn. mitteln, ob grundsätzlich eine unspezifische Fremden- Westdeutschland bleibt in der oberen Gruppe, wird feindlichkeit vorliegt oder besondere Ressentiments aber von Polen überholt – von Polen! Unser Nachbar gegen spezielle Gruppen gepflegt werden. Wenig er- im Osten weist, abgesehen von der damaligen Unzu- staunlich zeigt sich für alle europäischen Staaten ein friedenheit mit der Regierung, eine höhere Demokra- hoher Zusammenhang zwischen der Ablehnung von tiezufriedenheit auf als Westdeutschland. Die Deut- Moslems in der Nachbarschaft und diffuser Migran- schen lieben ihre Demokratie durchaus mehr als vie- tenfeindlichkeit. Allerdings zeigt sich gerade für Ös- le ihrer Nachbarn – aber weil sie mit Demokratie terreich und Deutschland ein zusätzlicher, spezifi- eine prosperierende Ökonomie und ein wohl geord- scher Effekt bei der Ablehnung von Moslems. Inner- netes Staatswesen assoziieren. In unseren Nachbar- halb der EU weist die höchste Ablehnungsrate von staaten dominiert dieses instrumentelle Bild weniger. Moslems als Nachbarn Litauen auf. Ostdeutschland Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, ob folgt knapp dahinter, selbst vor Nord-Zypern. Dann die Deutschen wirklich die Demokratie aufgrund ih- folgen Westdeutschland und Österreich.

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Nirgendwo sonst sind im Jahr 2008 Demokratieun- Staaten war. Die erstmalig in den Federalist Papers zufriedenheit und Islamophobie statistisch so eng formulierte Idee der liberal-pluralen Demokratie, miteinander verknüpft wie in Ostdeutschland. Wenn dass erst eine besonders große Gesellschaft als Ge- irgendwo in Europa sich eine Bewegung wie PEGI- samtheit vieler Minderheiten wirkliche Demokratie DA etablieren konnte, so war Ostdeutschland nach ist, da keine Gruppe von Natur aus die andere be- diesen Daten der wahrscheinlichste Ort. Auffallend herrschen kann, fehlt in diesem Weltbild. Ironischer- ist ferner, dass die Islamophobie darüber hinaus bis weise ist Deutschland, gerade Deutschland, nie et- weit in die Mitte der Gesellschaft reicht. Es gibt sta- was anderes gewesen als bunt und vielschichtig. Das tistisch kaum nennenswerte Unterschiede zwischen Befremdliche an Bewegungen wie PEGIDA ist, dass Personen, die sich selbst auf der Links-Rechts-Skala sie sich auf einen historischen Kern berufen, den es als extrem einstufen und solchen, die sich selbst in so nie gab. Bedenklich ist, dass sich trotzdem dieses der Mitte verorten. Die eilig erhobenen Daten der Zerrbild, sowohl von der Staatsform Demokratie als TU Dresden erscheinen trotz ihrer Nicht-Repräsenta- auch von Deutschland, bis heute halten konnte. Ger- tivität als stimmig: Vorbehalte gegen den Islam gibt ne heißt es dann, es sei die Schuld der Parteien. Sie es in Deutschland nicht nur bei denen, die ohnehin müssten ihre Politik, überhaupt die Politik besser er- Migranten fürchten und ausländerfeindlich sind, son- klären und die Belange „des Volkes“ besser berück- dern auch bei denen, die bei den übrigen Werten sichtigen. Doch welche Schuld trifft die Parteien eher unauffällig sind. Anders als in anderen Ländern wirklich? Vom demokratischen Parteienwettbewerb unterscheiden sich auch diejenigen, die Freiheit hö- frustriert sind vor allem diejenigen, deren Ideal des her schätzen als Sicherheit, nicht von denjenigen, die Parteienwettbewerbs dasjenige ist, in dem es eben die Sicherheit favorisieren. PEGIDA wird verständ- keinen Parteienwettbewerb gibt. Die Akteure in den lich als ein zweidimensionales Phänomen. Ihr Beste- Parteien tragen so viel Schuld wie alle gesellschaftli- hen und ihr Erfolg werden begünstigt von einem ost- chen und öffentlichen Akteure: dass es nämlich in deutschen Umfeld, das einerseits dem Namen nach der deutschen Öffentlichkeit kaum eine eigene kriti- eine demokratische Staatsform befürwortet, diese sche Reflexion gibt. Mit Erstaunen vernimmt der aber nicht primär als liberal-pluralistische Demokra- Autor die immer noch häufig anzutreffende Kritik an tie versteht. Und PEGIDA wird gestützt von spezifi- vermeintlich Links- und Rechtsintellektuellen – ge- schen Vorbehalten gegenüber Moslems, die auch in paart mit der Feststellung, dass es kein Rechts und Österreich und Deutschland in der Gesellschaft weit Links mehr in der Politik gäbe und diese vermeintli- verbreitet sind. Zusammengenommen erzeugen beide chen Intellektuellen dies nicht erkannt hätten. Nach Faktoren eine Stimmung, welche die „Wir sind das Beobachtung des Autors verhält es sich vielmehr Volk“-Rufe von den PEGIDA-Teilnehmern nicht umgekehrt: Wir haben noch links und rechts, aber mehr so vollkommen unverständlich erscheinen las- wir haben keine Intellektuellen mehr. Tatsächlich sen. Sie sind letztlich nur Ausdruck des auf die Ho- sind nämlich die deutschen Wähler sehr gut in der mogenität des Volkes ausgerichteten Demokratiever- Lage, sich selbst sowie die Parteien – von Die LIN- ständnisses in Verbindung mit der Gewissheit, bei KE über Grüne, FDP, SPD, CDU, CSU bis hin zu einem Großteil der Bevölkerung Rückhalt für ihre AfD und NPD – im Links-Rechts-Spektrum zu ver- „Kritik am Islam“ zu finden. „Wir sind das Volk“ ist orten. Es fehlt aber in der digital-fragmentierten aber auch verräterisch und typisch zugleich. Der Medienwelt an durchdringenden Stimmen, die den Spruch spiegelt Hybris, Missverständnis und Propa- Nutzen von Originalität und Individualität für eine ganda in einem wider. Korrekter wäre es angesichts Gesellschaft hervorheben, die kritisch kollektive Ge- der gesellschaftlichen deutschen Realität „Wir sind wohnheiten infrage stellen und uns Deutschen den die Bevölkerung“ zu rufen. Und das scheint genau Spiegel vorhalten. Den etablierten Parteien kann das zu sein, was die Demonstranten in Dresden und man immerhin zugutehalten, dass sie einen der weni- anderswo auf die Straßen treibt: Die eigene Erfah- gen öffentlichen Streiter für Freiheitsrechte aus lau- rung, eben kein einheitliches Volk zu sein, sondern ter Begeisterung direkt zum Bundespräsidenten ge- ein Teil unter vielen einer insgesamt bunten und wählt haben. vielschichtigen Bevölkerung. Die gesellschaftliche Was gibt es nun zu tun? Wir müssen uns selbst(-)be- Realität des pluralistischen Deutschlands verträgt wusster werden, wer wir Deutsche sind. Dazu gehört sich schlecht mit der Idee eines homogenen Volkes. das Bewusstsein der Vielschichtigkeit. Ostdeutsche PEGIDA ist somit auch Ausdruck und Echo eines sind anders, Westdeutsche auch, und dann gibt es Demokratieverständnisses, wie es typisch für die ge- auch noch Nord und Süd, und im Süden gibt es Fran- schlossenen Gesellschaften der realsozialistischen ken, Bayern und Schwaben, das ist mehr als lustige

146 MIP 2015 21. Jhrg. Franzmann – Was uns die Europäische Wertestudie über PEGIDA verraten kann „Aufgespießt“

Folklore und doch nur ein Bruchteil des deutschen schaftlichen sowie individuell-moralischen Vorausset- gesellschaftlichen Pluralismus. Wie die Nachfahren zungen für eine Marktwirtschaft aus dem Blick. Der der Hugenotten, die nach Ende des 17. Jahrhunderts Vorteil einer Wertestudie wie der EVS ist, dass sie uns nach Deutschland kamen, wie die Nachfahren der über mehr als nur sozio-ökonomische Befindlichkeiten polnischen Katholiken, die ab Ende des 19. Jahrhun- informiert, so auch über stabile Werteorientierungen. derts ins Ruhrgebiet kamen, so gehören selbstver- Diese Werteorientierungen sind wiederum das Funda- ständlich die Gastarbeiter und ihre Nachfahren (und ment für das Funktionieren einer Gesellschaft. Die nicht nur die), die seit den 1960er Jahren nach West- spontane Ratlosigkeit über das Auftreten von PEGIDA deutschland kamen, heute zu Deutschland. Einige ist fast so bemerkenswert wie das Auftreten von PEGI- von denen waren und sind Muslime – und selbstver- DA selbst. Die sozialwissenschaftlichen Daten und In- ständlich gehören diese Menschen zu Deutschland. formationen lagen lange und öffentlich vor. Sie wurden Dazu gehört auch, pauschale Vorbehalte gegenüber aber einfach nicht breit debattiert. Das instrumentelle Migranten und insbesondere Muslimen in Deutsch- Demokratieverständnis von uns Deutschen zeigt sich land abzubauen. Das oben beschriebene instrumen- auch hierin, dass wir angesichts der EURO-Krise öko- telle Verständnis der Deutschen von Demokratie nomische Kennziffern debattieren, aber die ethisch-mo- mag hier künftig sogar nützlich sein, wenn vermittelt ralischen Grundlagen des Wirtschaftens und des gesell- wird, wie wichtig zur Aufrechterhaltung des west- schaftlichen Zusammenlebens allgemein aus dem Blick deutschen Wohlstandsmodells die Zuwanderung der verloren haben. Gastarbeiter seit den 1960er Jahren war und ist. Die Daten der EVS legen nahe, dass Deutschland auf- grund mangelnder Akzeptanz der Mehrheitsgesell- schaft ansonsten in absehbarer Zeit ein größeres In- tegrationsproblem haben wird als derzeit unser Nachbarland Frankreich. Das gilt für ganz Deutsch- land und ist kein spezifisch ostdeutsches Problem. Weiterhin sollten wir den intrinsischen Wert der Freiheit wieder öffentlich deutlicher betonen. Demo- kratie ausschließlich mit einem homogenen Volk zu verbinden, ist auch ein Hinweis auf mangelnde politische Bildung. Da haben die Spaziergänge von PEGIDA glücklicherweise eine fast schon autodi- daktische Wirkung: sie sind durchaus positiv zu se- hen in der Hinsicht, als dass hier Menschen ihren Er- wartungen an Gesellschaft und Politik Ausdruck ver- leihen. Und sie machen diesen Teilnehmern in Aus- einandersetzung mit anderen Gruppen bewusst, dass sie eben doch nicht identisch sind mit „dem Volk“. Die derzeit vergleichsweise gute ökonomische Situa- tion verschafft uns in Deutschland ein wenig Zeit, die Werte, den Nutzen und auch Grenzen der libera- len Demokratie zu erlernen und zu verbreiten. Was in Ostdeutschland derzeit fehlt sind nicht Investitio- nen in Autobahnkilometer, sondern Investitionen in Sozialarbeiter und zum Aufbau gesellschaftlichen Vertrauens. Die Gelder aus dem Solidarpakt sind in den letzten Jahren, in denen sie noch fließen, dort besser angelegt. Schließlich gilt es gerade gegenüber ihren Minderschät- zern zu verdeutlichen, dass Freiheit nicht in erster Linie wirtschaftliche Freiheit heißt. Freiheit im Sinne der li- beralen Demokratie heißt an allererster Stelle Mei- nungsfreiheit und dann Handlungsfreiheit. Die Fokus- sierung auf rein ökonomische Fragen verliert die gesell-

147 „Aufgespießt“ Krieg – Drei Finger der eigenen Hand MIP 2015 21. Jhrg.

Drei Finger der eigenen Hand Gesellschaft seitens der mit ihnen verbündeten Ver- einigten Staaten im Jahr 2013 scheinen jegliche For- Philipp Krieg1 men und Instrumente, die den Hauch von Geheim- haltung verspüren lassen, aktuell nicht mehr hin- nehmbar. Aus diesem Grund müssen die Verhand- Das Mitentscheidungsverfahren ist das am häufigsten lungsführer nun stets mit dem Vorwurf eines Man- gebrauchte Verfahren der Europäischen Gesetzge- gels an Transparenz kämpfen. bung. Die aktuelle Transparenzinitiative der EU- Kommission zu TTIP macht seine Mängel einmal Nun "mehr" Transparenz bei TTIP mehr deutlich. Daher verwundert es nicht, dass die neugewählte EU- Seit der Aufnahme der Verhandlungen der Europäi- Kommission unter ihrem Präsidenten Jean-Claude schen Union mit den USA über ein Freihandelsab- Juncker im Dezember 2014 eine Transparenzinitiative kommen (kurz TTIP) im Juli 2013 verfolgen die eu- gestartet hat. Diese zielt darauf ab, das Vertrauen der ropäische und vor allem die deutsche Bevölkerung EU-Bürger in die Verhandlungsführer der EU und in 4 diese sehr interessiert. Es ist verblüffend, aber nicht die Verhandlungen selbst zurückzugewinnen . Deren unerklärlich, dass zum ersten Mal in der deutschen Maßnahmen umfassen: Geschichte das Für und Wider eines Freihandelsab- • die Veröffentlichung von mehr Verhandlungs- kommens in Verbänden, Vereinen, Gewerkschaften, texten, die die Kommission den Mitgliedstaaten Parteien, öffentlichen Institutionen und anderen Gre- und dem Parlament bereits zugänglich macht; mien breit diskutiert wird2. Nicht nur befeuert durch den Europawahlkampf 2014, sondern auch durch • Zugang zu TTIP-Texten für alle Abgeordneten jede Meldung über jeden Schritt der Verhandlung, des Europäischen Parlaments, nicht nur für eini- finden negativ kritische und werbende Stimmen in ge wenige, durch Öffnung eines „Lesesaals“ für den Medien großen Widerhall. Die Verhandlungs- diejenigen Abgeordneten, die bisher keinen Zu- führer diesseits des Atlantiks und die späteren Ent- gang zu vertraulichen Dokumenten hatten; scheidungsträger bemühen sich hinsichtlich des Wie • die Einstufung von weniger TTIP-Verhandlungs- und des Ob eines solches Abkommens um Aufklä- dokumenten als „EU restricted“; damit werden rung. Mangels eines noch nicht fertig ausverhandel- sie für Abgeordnete auch außerhalb des Lese- ten und von allen einsehbaren Vertragstextes für die saals leichter zugänglich; Schaffung eines solchen Abkommens zielt die Kritik im Wesentlichen auf zwei Punkte: auf die mögliche • regelmäßige Veröffentlichung und Aktualisie- Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien über rung einer öffentlich zugänglichen Liste der die Nutzung von internationalen Streitbeilegungsme- TTIP-Dokumente gemeinsam mit dem Europäi- chanismen (kurz: ISDS) und die mangelnde Transpa- schen Parlament und dem Rat. renz der Verhandlungen selbst3. Transparenzinitiative weiterschreiben für Mitent- Stetiger Hauch von Geheimhaltung scheidungsverfahren Da zahlreiche der bereits bestehenden 186 interna- Ob damit der Vorwurf eines Mangels an Transpa- tionalen Abkommen der Bundesrepublik Vereinba- renz ausgeräumt werden kann, bleibt abzuwarten. rungen über ISDS beinhalten, die in der Vergangen- Manch einer würde sich aber bereits jetzt ein Fort- heit keine öffentliche Beachtung fanden, erstaunt zu- schreiben einer solchen Initiative für andere Ver- nächst die Kritik an diesem Instrument. Doch im handlungen und Verfahren wünschen, da mit sol- Hinblick auf die Enthüllungen des ehemaligen Ge- chem Makel behaftete Abläufe der Europäischen Ge- heimdienstmitarbeiters Edward Snowden über die setzgebung nicht fremd sind. Denn so sehr nun eine breite und große Ausspionierung der europäischen „Transparenzinitiative“ bei einem internationalen Abkommen zu begrüßen ist, so bleibt damit weiter- 1 Der Autor ist Rechtsanwalt und zurzeit als parlamentarischer hin ein Verfahren, das zu konkreter und bereits eta- Referent im Europäischen Parlament tätig. blierter europäischer Gesetzgebung führt, von der 2 , MdB, TTIP und CETA – Der beste Weg, die Zu- Öffentlichkeit vollkommen unbeachtet und gilt nur kunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten, Beitrag vom in Teilen der akademischen Kreise als intransparent 23.02.2015 auf http://www.ipg-journal.de/. 3 Hecking/Schiessl/Schmitz, EU-Freihandelsabkommen mit 4 Europäische Kommission – Pressemitteilung Straßburg, 25. USA – Angst vor dem Zorn der Bürger, Artikel vom November 2014, Mehr Einblick: Kommission verpflichtet 21.01.2014 auf SPIEGEL Online. sich zu größerer Transparenz, IP/14/2131.

148 MIP 2015 21. Jhrg. Krieg – Drei Finger der eigenen Hand „Aufgespießt“ und sogar undemokratisch5. Zugleich ist dieses Ver- Rahmen einer loyalen Zusammenarbeit sah schon fahren aber mittlerweile der „Standard“ des europäi- der Vertrag von Nizza vor. Und auch das Instrument schen Gesetzgebungsverfahrens: Die so genannte der IIV ist kein Neues, sondern war bereits im Ver- „Einigung in erster Lesung“ findet aktuell bei rund trag von Nizza genannt; durch die nunmehr explizite 70% der Europäischen Gesetzgebung Anwendung6. Nennung in Artikel 295 AEUV erhebt diese primär- rechtliche Ermächtigungsnorm die IIV selbst in den Triloge führen zu schneller EU-Gesetzgebung Rang des Primärrechts10. Gewöhnlich wird die Einigung in erster Lesung mit dem Begriff Trilog gleichgesetzt. Als logische Triloge sind mit Intransparenz behaftet Weiterschreibung des Wortes Dialog findet der Be- Der bereits erwähnte Mangel an Transparenz kann griff Trilog Anwendung auf ein Dreiergespräch zwi- vor allem an drei Ausprägungen des Trilogs festge- schen den drei gesetzgebenden Institutionen der Eu- macht werden11: ropäischen Union – Europäisches Parlament, EU- a) Kein klares Mandat. Nachdem der zuständige Ministerrat, EU-Kommission. Ziel dieses Gesprächs Ausschuss – Alternativ das Plenum – des Parla- ist es, in kleiner Runde eine Einigung zwischen den ments über die in einem Bericht zusammengefass- divergierenden Positionen von Rat, Parlament und ten Änderungsanträge zu dem Kommissionsvor- Kommission über einen gemeinsamen Gesetzestext schlag abgestimmt hat, folgt eine weitere Abstim- zu erreichen. Aufgrund des „settings“ – nur kleine mung über die Erteilung eines Mandats zur Auf- Delegationen mit den Fachpolitikern bzw. den fach- nahme von Verhandlungen für den Berichterstat- lich zuständigen Beamten, Gespräch unter Ausschluss ter des Ausschusses mit Rat und Kommission12. der Öffentlichkeit – können Einigungen, im Vergleich Anders als die die Verhandlung führende jeweili- mit dem primärrechtlich in Artikel 294 AEUV be- ge Präsidentschaft des Rates ist der Berichterstat- schriebenen Mitentscheidungsverfahren, deutlich ter des Parlaments aber nicht inhaltlich an den ver- schneller erreicht werden7. abschiedeten Ausschussbericht gebunden13. Rechtliche Grundlage des Trilogs nur im Gewand b) Hinter verschlossenen Türen14. Die Delegationen der IIV von Parlament, Rat und Kommission tagen unter Bei einem Blick in die Bestimmungen über das Mit- Ausschluss der Öffentlichkeit und der anderen entscheidungsverfahren nach Artikel 294 AEUV sucht sie delegierenden Institutionen. Die Verhand- man aber „Einigung in erster Lesung“ oder auch den lungsdokumente werden vertraulich behandelt. Begriff „Trilog“ vergebens – ebenso wenig wird man c) Vor vollendete Tatsachen15. Die anderen Parla- im übrigen Text des Lissabonner Vertrages oder in mentarier haben während der Verhandlungen, die den Protokollen fündig. Die rechtlichen Grundlagen von einem halben bis zu zwei Jahren andauern fußen vielmehr auf einer sogenannten gemeinsamen können, keine Gelegenheit, direkt zu überprüfen, Erklärung von Rat, Kommission und Parlament, die ob sich der Berichterstatter auch an die Par- zum ersten Mal 1999 beschlossen und fortwährend lamentsposition in den Verhandlungen hält oder durch neuere Fassungen ersetzt wurde8 – zuletzt im nicht. Auch können sie Entwicklungen in den Jahr 20079. Die Möglichkeit zum Abschluss einer Verhandlungen nicht kritisch begleiten. Der Be- solchen Erklärung eröffnet der Lissabonner Vertrag 10 selbst: Artikel 295 AEUV gestattet es den Institutio- Schoo/Görlitz, in: Schwarz, EU-Kommentar, 3. Auflage 2012, Artikel 295 AEUV Rdnr. 5, 7. nen, interinstitutionelle Vereinbarungen (kurz: IIV) 11 Schoo, in: Schwarz, EU-Kommentar, 3. Auflage 2012, Artikel zu schließen. Diese Möglichkeit der Erweiterung des 294 AEUV Rdnr. 26. Vertrages um weitere prozessuale Bestimmungen im 12 Zum besseren Verständnis siehe: Leitfaden für das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, Amt für Veröffentlichungen der Euro- 5 Chalmers/Davies/Monti, European Union Law: cases and ma- päischen Union, Luxembourg 2010, S. 7 f.; MITENTSCHEI- terials, Cambridge 2010, S. 108; Corbett/Jacobs/Shackleton, DUNG UND VERMITTLUNGSVERFAHREN – Ein Leitfa- The European Parliament, London 2011, S. 241. den zur Arbeit des Parlaments als Mitgesetzgeber nach dem 6 Chalmers/Davies/Monti, aaO , S. 108. Vertrag von Lissabon, Europäisches Parlament, Januar 2012. 7 Zur üblichen Verfahrenslänge: www.europarl.europa.eu/code/ 13 Obholzer/Reh, in: CEPS Policy Briefing No. 270, May 2012, about/statistics_en.htm. How to Negotiate under Co-decision in the EU – Reforming 8 Amtsblatt Nr. C 148 vom 28.05.1999, S. 1; Anmerkung: erst- Trilogues and First-Reading Agreements, S. 6. mals tauchten Triloge 1995 im Rahmen von Vorarbeiten für 14 Corbett/Jacobs/Shackleton, The European Parliament, Lon- einen Vermittlungsausschuss auf. don 2011, S. 243 f. 9 Amtsblatt Nr. C 145 vom 30.06.2007, S.2. 15 So auch Schoo, aaO.

149 „Aufgespießt“ Krieg – Drei Finger der eigenen Hand MIP 2015 21. Jhrg.

richterstatter des Parlaments sowie auch die ihn tigkeit dieser Behauptung spricht zum einen, dass die begleitenden Schattenberichterstatter der anderen Kandidatinnen und Kandidaten für das 8. Europäische Fraktionen sind nicht gehalten, den anderen Par- Parlament sich erst durch einen an diese persönlich lamentariern Informationen über den Verlauf der gerichteten Aufruf von Transparency International Verhandlungen zu geben. Erst nachdem die Ver- im Mai 2014 zu einem integren Verhalten durch öf- handlungen abgeschlossen sind, bekommen die an fentlich nachvollziehbare Entscheidungsfindungen den Verhandlungen nicht beteiligten Parlamenta- verpflichteten17 und daran anknüpfend im November rier Gelegenheit, die ursprüngliche Parlaments- 2014 eine überfraktionelle parlamentarische Arbeits- position mit dem Ausgehandelten zu vergleichen. gruppe zu dem Thema Transparenz und Integrität gründeten (Intergroup on Integrity). In den Grün- In der Literatur wird dieser Mangel dadurch als ge- dungsdokumenten heißt es auch „[...] the European heilt angesehen, dass die Parlamentarier und die Öf- Parliament itself should be seen as a leading exam- fentlichkeit ja nach den Verhandlungen ausreichend ple in issues relating to transparency, accountability Zeit bekommen, die Dokumente durchzusehen und zu and integrity.“18 überprüfen16. Auch bekämen sie ja die Gelegenheit, abschließend mit Ja oder Nein über die Annahme des Parlament muss Schuld bei sich selbst suchen Verhandlungsergebnisses abzustimmen. Mit Aktivitäten ist diese Intergroup aber bis zum Heilung der Intransparenz sehr fraglich Zeitpunkt der Verfassung dieses Artikels bisher nicht in Erscheinung getreten und es ist unwahr- Übertrüge man letzteren Einwand auf die Verhand- scheinlich, dass sich diese Intergroup den oben skiz- lungen zu TTIP, käme man vermutlich auch zu dem zierten Problemen des Trilogs widmen wird. Denn Ergebnis, dass der Transparenz durch die ausrei- aus der Gründungsakte geht auch hervor, dass der chende Zeit zum Studium der Verhandlungsdoku- Kommissionsbericht zur Korruption in der EU die mente nach Abschluss der Verhandlung Genüge ge- Themen Transparenz und Integrität völlig außer Acht tan würde. Wie die oben dargelegte Reaktion der Eu- lässt, was bedeutet, dass zuvorderst die Kommission ropäischen Öffentlichkeit auf TTIP, auf die Parla- als am Trilog beteiligte Institution in den Augen des ment und Kommission reagieren, zeigt, verfängt die- Parlaments in ihren Entscheidungsfindungen öffent- ses Argument jedoch nicht: Denn auch bei TTIP ver- licher werden muss. Doch gilt nicht der alte Satz, handeln nur kleine Delegationen (im Fall der EU- wer mit dem Zeigefinger seiner Hand auf einen an- Kommission) über ein wesentliche Politikbereiche deren zeigt, sollte bedenken, dass in der Hand mit betreffendes Vorhaben; die Verhandlungen werden dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der anderen Finger auf ihn selbst zurückweisen?19 beteiligten Organe der EU geführt. Die zustimmungs- fähigen EU-Institutionen Parlament und Rat werden Ich meine, dass neben den beiden Möglichkeiten, vor vollendete Tatsachen gestellt. Zwar erhalten sie entweder das „normale“ Gesetzgebungsverfahren Gelegenheit, den fertig ausgehandelten Vertragstext aus Artikel 294 AEUV weiter zu betreiben oder die von TTIP einzusehen und sich eine Meinung zu bil- „Einigung in erster Lesung“ nicht wahrzunehmen, den, Veränderungen an dem Vorhaben durch sie sind auch eine dritte, nachhaltigere vorstellbar ist. Diese aber nicht mehr möglich – sie können dieses nur An- könnte darin bestehen, dass das Parlament die IIV nehmen oder Ablehnen. Allein dieser Umstand hat über die „Eignung in erster Lesung“ aufkündigt und in die Kritik an TTIP schon zum jetzigen Zeitpunkt ge- einer Neufassung öffentlicher gestaltet. Dafür könnte nährt. Der nun vorgelegte Maßnahmenkatalog der es die aktuellen Maßnahmen der Transparenzinitiative Kommission zu TTIP ließe sich daher leicht auch auf einfach übernehmen – öffentlich wirksam oder auch den Trilog übertragen. ganz still und heimlich ...

Öffentlicher Druck fehlt Solange hier aber für die Entscheidungsträger in den Institutionen kein der Kritik am Freihandelsabkom- 17 http://anticorrutionpledge.eu. men vergleichbarer öffentlicher Druck für ein Mehr 18 Aus dem Antrag zur Gründung der Intergroup Annex II vom an Transparenz entsteht, werden messbare Schritte in 14. Oktober 2014 – nicht-öffentliches Dokument, das dem diese Richtung bei dem üblichen Europäischen Ge- Verfasser vorliegt. setzgebungsverfahren nicht erfolgen. Für die Rich- 19 Bundesjustizminister Gustav Heinemann am 14.04.1968 nach den gewalttätigen Ausschreitungen gegen den Springer-Verlag, 16 Schoo, aaO. die dem Mordversuch an Rudi Dutschke folgten.

150 MIP 2015 21. Jhrg. Bäcker – Ein Lehrstück bundespräsidialer Sachlichkeit [...] „Aufgespießt“

Ein Lehrstück bundespräsidialer Sach- sungsschutzberichten6 entwickelt worden seien. Viel- lichkeit – Zu den Grenzen der Redefrei- mehr seien die Grenzen der Äußerungsbefugnisse des heit des Bundespräsidenten Bundespräsidenten gesondert zu bestimmen, weil seine Stellung eben nicht derjenigen der Bundesre- – zugleich eine Anmerkung zum Urteil des gierung entspricht. Das ist sicherlich richtig. Das BVerfG vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13 – BVerfG hat Recht, wenn es darauf hinweist, dass der Bundespräsident weder mit den politischen Parteien Dr. Alexandra Bäcker1 in direktem Wettbewerb um die Gewinnung politi- schen Einflusses steht, noch in vergleichbarer Weise wie etwa die Bundesregierung über Mittel verfügt, Das Urteil des BVerfG2 zu den (danach weit zu zie- die es ihm ermöglichten, durch eine ausgreifende In- henden) Grenzen der Zulässigkeit öffentlicher nega- formationspolitik auf die Meinungs- und Willensbil- tiver Äußerungen des Bundespräsidenten über politi- dung des Volkes einzuwirken, und es zählt auch sche Parteien hat nicht nur Zustimmung gefunden3. nicht zu seinen Befugnissen, die Öffentlichkeit re- Das BVerfG urteilte, dass der Bundespräsident zum gelmäßig über radikale Bestrebungen zu informieren Protest gegen „Spinner“, die gegen Asylbewerber- oder über einen Antrag auf Feststellung der Verfas- heime protestieren, aufrufen durfte, weil er mit diesem sungswidrigkeit einer Partei (Art. 21 Abs. 2 GG) zu „Sammelbegriff“ nicht nur NPD-Anhänger gemeint befinden7. All dies unterscheidet ihn in der Tat von habe, sondern alle „Menschen, die die Geschichte den staatlichen Akteuren, für die das BVerfG bereits nicht verstanden haben und, unbeeindruckt von den Kriterien zur Abgrenzung erlaubter öffentlicher Stel- verheerenden Folgen des Nationalsozialismus, rechts- lungnahmen von unzulässigen Einflussnahmen ent- radikale – nationalistische und antidemokratische – wickelt hat. Die danach gebotene, originäre Grenz- Überzeugungen vertreten“4. Durch die Äußerungen ziehung für öffentliche Äußerungen des Bundesprä- sei die NPD vor der Bundestagswahl nicht in ihrer sidenten wird auch zu berücksichtigen haben, dass, Chancengleichheit verletzt worden, denn Äußerun- wie es auf der Internetseite des Bundespräsidenten gen des Bundespräsidenten seien nicht denselben zutreffend beschrieben ist, das „gesprochene und ge- Kriterien zu unterwerfen, wie sie zur Abgrenzung schriebene Wort [...] eines der stärksten politischen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung Mittel [ist], über die der Bundespräsident verfügt“8. von einem (unzulässigen) parteiergreifenden Einwir- Folgerungen lassen sich daraus in zweierlei Hinsicht ken auf den Wahlkampf5 oder für die verfassungs- rechtlichen Grenzen negativer Werturteile in Verfas- ziehen: Erstens stattet das Grundgesetz den Bundes- präsidenten nur mit wenigen Befugnissen aus, wes- halb es die zentrale Funktion des Bundespräsidenten, 1 Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am PRuF und durch Reden und Gespräche zu wirken, zu stärken Rechtsanwältin in der Anwaltskanzlei Steffen & Dr. Bäcker in 9 Hattingen. und nicht auf tönerne Füße zu stellen gilt . Zweitens 2 haben aber gerade Äußerungen des Bundespräsiden- BVerfG, Urteil vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13, in: NVwZ 2014, 10 S. 1156 ff.; zum vorausgegangenen Eilrechtsschutz in der Sache ten kraft seiner Stellung besonderes Gewicht , er (BVerfG, Beschluss vom 19.09.2013 – 2 BvE 4/13 = BVerfGE „verschafft dem Gemeinwesen Gesicht und Würde. 134, 202 f., und Beschluss vom 17.09.2013 – 2 BvE 4/13 = Mit treffenden Worten kann er zuweilen mehr bewir- BVerfGE 134, 138 ff.) s. bereits Bäcker, Spiegel der Recht- ken als der Gesetzgeber mit einem Gesetz“11. Ein sprechung – Grundlagen, in: MIP 2014, S. 184 (185). 3 Kritisch etwa Tanneberger/Nemeczek, Anmerkung zu BVerfG, 6 So das BVerfG unter Hinweis auf BVerfGE 40, 287 (291 ff.). Urteil vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, in: NVwZ 2015, S. 215 f.; 7 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13, in: NVwZ Hillgruber, Zur Äußerungsbefugnis des Bundespräsidenten in 2014, S. 1156 (1158). Bezug auf politische Parteien, in: JA 2014, S. 796 (798); van 8 Ooyen, Kompetenzüberschreitung des Bundespräsidenten?, www.bundespraesident.de/DE/Amt-und-Aufgaben/Wirken-im- in: Recht u Politik 2014, S. 127 ff.; leise anklingende Kritik Inland/Reden-und-Ansprachen/reden-und-ansprachen-node.html auch bei Sachs, Staatsorganisationsrecht: Redefreiheit des (abgerufen am 18.03.2015). Bundespräsidenten, in: JuS 2014, S. 956 ff.; zustimmend da- 9 In diesem Sinne auch die Stellungsnahme des Bundespräsiden- gegen Badenhausen/Löbel, Anmerkung zu BVerfG, Urteil ten Gauck bei der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG, vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, in: VR 2014, 357 ff.; wohl zitiert nach www.welt.de/print/welt_kompakt/article1289313 auch Roßner, BVerfG zu Äußerungen des Bundespräsidenten: 46/Joachim-Gauck-vor-dem-Verfassungsgericht-Ich-will-den- An der langen Leine, in: Legal Tribune Online, 10.06.2014, kritischen-Diskurs-foerdern.html (abgerufen am 18.03.2015). www.lto.de/persistent/a_id/12218/ (abgerufen am 16.03.2015). 10 Worauf auch das BVerfG hinweist, s. BVerfG, Urteil vom 4 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13, in: NVwZ 10.06.2014 – 2 BvE 4/13, in: NVwZ 2014, S. 1156 (1158 f.). 2014, S. 1156 (1159). 11 So der Bevollmächtigte Wieland des Bundespräsidenten im Ver- 5 So das BVerfG unter Hinweis auf BVerfGE 44, 125 (148 ff.). fahren vor dem BVerfG, zitiert nach www.welt.de/politik/deu

151 „Aufgespießt“ Bäcker – Ein Lehrstück bundespräsidialer Sachlichkeit [...] MIP 2015 21. Jhrg.

– auch kontrollierbarer – verantwortungsvoller Um- geregt, Perspektiven eröffnet und Missstände aufge- gang mit diesem wirkmächtigen Mittel ist daher von- zeigt werden und dabei Werte und Positionen, deren nöten. Grundlagen in unserer Verfassung liegen, offen for- muliert und verteidigt werden können16. Dies anzuer- Vordergründig erkennt dies auch das BVerfG an, kennen, heißt zugleich, dem Bundespräsidenten bei wenn es den Bundespräsidenten – wie alle Staatsge- der Ausübung seines Amtes einen Spielraum ein- walt – gemäß Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG an zuräumen. Und ja, das Willkürverbot gibt diesem die Grundrechte sowie an Gesetz und Recht und damit Spielraum einen justiziablen Rahmen, ohne dass es auch an das Recht politischer Parteien auf Chancen- schon mit einem „praktischen Kontrollausfall“17 gleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG gebunden sieht. gleichzusetzen wäre, vorausgesetzt, es wird auch zur „Justiziable Vorgaben für die Amtsausübung“ des Anwendung gebracht. Bundespräsidenten lässt es daraus aber nur in einem geringst denkbaren Umfang folgen: „Inwieweit er sich Das BVerfG legt die Hürde aber noch einmal niedri- [...] am Leitbild eines 'neutralen Bundespräsidenten' ger. Es entlässt den Bundespräsidenten vollständig, orientiert, unterliegt weder generell noch im Einzelfall selbst in Wahlkampfzeiten, aus der für die Staatsge- gerichtlicher Überprüfung. Andererseits widerspräche walt im Allgemeinen geltenden Neutralitätspflicht18, es rechtsstaatlichen Grundsätzen, wären politische Par- die bei dem angelegten Prüfungsmaßstab ohnehin teien, deren Recht auf Chancengleichheit ein wesent- nur noch durch das Sachlichkeitsgebot eingefangen licher Bestandteil der demokratischen Grundordnung würde. Nach Ansicht des BVerfG kann der Bundes- ist, im Verhältnis zum Bundespräsidenten rechts- präsident nämlich „weitgehend frei darüber entschei- schutzlos gestellt. Vor diesem Hintergrund erscheint den, bei welcher Gelegenheit und in welcher Form er es geboten, aber auch ausreichend, negative Äußerun- sich äußert und in welcher Weise er auf die jeweilige gen des Bundespräsidenten über eine Partei gericht- Kommunikationssituation eingeht. Er ist insbesonde- lich daraufhin zu überprüfen, ob er mit ihnen unter re nicht gehindert, sein Anliegen auch in zugespitzter evidenter Vernachlässigung seiner Integrationsfunk- Wortwahl vorzubringen, wenn er dies für angezeigt tion und damit willkürlich Partei ergriffen hat“12. hält. Mit der Repräsentations- und Integrationsaufga- be des Bundespräsidenten nicht mehr im Einklang Auf den ersten Blick scheint das BVerfG damit den stehen Äußerungen, die keinen Beitrag zur sachli- bereits für Verfassungsschutzberichte statuierten Prü- chen Auseinandersetzung liefern, sondern ausgren- fungsmaßstab anzulegen: Willkür wäre danach anzu- zend wirken, wie dies grundsätzlich bei beleidigen- nehmen, wenn eine Äußerung „bei verständiger Wür- den, insbesondere solchen Äußerungen der Fall sein digung der das GG beherrschenden Gedanken nicht wird, die in anderen Zusammenhängen als 'Schmäh- mehr verständig wäre und sich daher der Schluß auf- kritik' […] qualifiziert werden“19. drängte, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruh- te“13, wobei das alle Staatsorgane bindende Willkür- Selbst diese eher geringen Anforderungen an das verbot insbesondere dazu verpflichtet, „mitgeteilte Sachlichkeitsgebot reduziert das BVerfG erneut, Tatsachen korrekt wiederzugeben und deren Beurtei- wenn es bei der rechtlichen Würdigung der Äußerun- lung in sachlicher Form vorzutragen“14. gen des Bundespräsidenten uneingeschränkt auf die Grundsätze zurückgreift, die es zur Abgrenzung der Ein solches Willkürverbot als alleiniger Prüfungs- durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Äußerun- maßstab für staatliches Handeln räumt zwar sehr gen von solchen, derentwegen eine strafrechtliche weitgehende Handlungsspielräume ein. Dafür lassen Verurteilung wegen Beleidigung gerechtfertigt ist, sich aber auch durchaus gute Gründe anführen. Rolle und Stellung des Bundespräsidenten im Staatsgefüge 15 unterscheiden sich von der der anderen Staatsorgane. BVerfG, Urteil vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13, in: NVwZ 2014, S. 1156 (1158). Mit seinem Amt ist in der Tat „nicht die Vorstellung 16 So auch das Amtsverständnis des Bundespräsidenten Gauck, eines politisch indifferenten Amtswalters verbun- zitiert nach www.welt.de/print/welt_kompakt/article128931 den“15. Das Amt lebt vielmehr davon, dass durch An- 346/Joachim-Gauck-vor-dem-Verfassungsgericht-Ich-will-den sprachen und öffentliche Diskussionen Debatten an- -kritischen-Diskurs-foerdern.html (abgerufen am 18.03.2015). 17 So aber Hillgruber, Zur Äußerungsbefugnis des Bundespräsiden- tschland/article125189515/Bundespraesident-darf-nicht-mein ten in Bezug auf politische Parteien, in: JA 2014, 796 (798). ungsschwach-sein.html (abgerufen am 19.03.2015). 18 Zuletzt noch einmal betont in BVerfG, Urteil vom 12 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13, in: NVwZ 16.12.2014– 2 BvE 2/14, online veröffentlicht bei juris, LS 2. 2014, S. 1156 (1159). 19 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13, in: NVwZ 13 BVerfGE 40, 287 (293). 2014, S. 1156 (1158 f.), unter Hinweis auf das „Soldaten sind 14 S. schon BVerfGE 57, 1 (8). Mörder“-Urteil, BVerfGE 93, 266 (294, 313).

152 MIP 2015 21. Jhrg. Bäcker – Ein Lehrstück bundespräsidialer Sachlichkeit [...] „Aufgespießt“ entwickelt hat20. Danach müssen sich die Gerichte demokratische – Überzeugungen vertreten“24. Gesagt bei mehrdeutigen Äußerungen mit allen Deutungs- hat er dies so zwar nicht. Der Sinn einer Äußerung möglichkeiten auseinandersetzen und dürfen nur wird neben dem Wortlaut aber auch von dem „sprach- dann zu einer Verurteilung kommen, wenn alle lichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung straflosen Deutungen mit nachvollziehbaren Grün- steht, und den Begleitumständen, unter denen sie den ausgeschlossen werden können21. fällt, bestimmt, soweit diese für den Rezipienten er- kennbar waren“25. Auch unter Berücksichtigung des- Bei Zugrundelegen dieser Maßstäbe geht es aber sen ist die gefundene Auslegung wegen des recht nicht mehr um die Gewährleistung einer dem Sach- konkreten Zusammenhangs der Diskussion mit der lichkeitsgebot entsprechenden Beteiligung der (aber Plakatierung durch die NPD bzw. dem Verbot der den Grundrechten und dem Chancengleichheitsgrund- NPD aber nicht unbedingt die nächstliegende. Zu- satz verpflichteten) Staatsgewalt am öffentlichen Dis- dem steht hier doch nicht zur Beurteilung an, ob in kurs, sondern um eine Unterschreitung der aus die- dubio pro reo zugunsten eines Trägers der Mei- sem Gebot folgenden (Minimal)Anforderungen an nungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG eine straf- willkürfreies Staatshandeln durch Anwendung des rechtliche Verurteilung wegen Beleidigung auszu- Grundsatzes in dubio pro reo zugunsten des Staatsor- schließen ist, sondern, ob der Bundespräsident als gans Bundespräsident. Dieser ist damit nicht mehr Staatsorgan das Recht einer (nicht verbotenen) einer im Kern sachlich informativen Amtsführung politischen Partei auf freie und gleiche Mitwirkung verpflichtet, die eine sachwidrige Beeinflussung des bei der politischen Willensbildung des Volkes ge- Parteienwettbewerbs, geschweige denn sogar einen mäß Art. 21 GG hinreichend beachtet hat. Der Bun- entsprechenden Anschein zu vermeiden hätte. Des- despräsident ist nach Ansicht des BVerfG durch das halb darf der Bundespräsident (jetzt) auch, befragt Sachlichkeitsgebot nicht gehindert, in der öffentli- nach seiner Haltung zum Abreißen von NPD-Plaka- chen Diskussion Bezeichnungen zu verwenden, die ten und nach einem NPD-Verbot, dazu aufrufen, den dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen und in „Spinnern“ in Auseinandersetzung mit politischen diesem Sinne von den Adressaten der jeweiligen Äu- Ansichten durch Teilnahme am politischen Mei- ßerung – hier den Teilnehmern der Schulveranstal- nungskampf ihre Grenzen aufzuzeigen. Obwohl, wie tung – auch verstanden werden. Als Diffamierung auch das BVerfG selbst feststellt, der diffamierende geeignete, herabsetzende Bezeichnungen stehen im Charakter des Wortes „Spinner“ offen zu Tage tritt22. Zweifel aber gerade nicht mit der gebotenen Sach- Das BVerfG bringt aber offenbar wiederum Grund- lichkeit im Einklang. sätze des „Soldaten sind Mörder“-Urteils zur An- wendung, ohne dies jedoch namhaft zu machen, wo- Selbst wenn aus der Bezugnahme des BVerfG bei nach „herabsetzende Äußerungen über unüberschau- seiner Auslegung der Äußerung des Bundespräsiden- bar große Gruppen (wie alle Katholiken oder Protes- ten auf den Wunsiedel-Beschluss26 darauf geschlos- tanten, alle Gewerkschaftsmitglieder, alle Frauen) sen werden kann, hier sei nur ein Freibrief erteilt nicht auf die persönliche Ehre jedes einzelnen Ange- worden für diffamierende Äußerungen gegenüber Par- hörigen der Gruppe durchschlagen“, weil dann die teien, die „in der Kontinuität der nationalsozialisti- für notwendig gehaltene Eingrenzung des Straftatbe- schen Willkürherrschaft agieren oder doch will- standes Beleidigung wieder preisgegeben würde23. kürfrei so bewertet werden können“, muss dies Ja, den Ausführungen des Bundespräsidenten kann kritisch gesehen werden27. Die Befürchtung, dass mit (bei wohlwollender Betrachtung) auch die vom diesem Freibrief eine schleichende Aushöhlung der BVerfG präferierte Bedeutung entnommen werden, Fundamente eines dem Chancengleichheitsgrundsatz wonach mit „Spinnern“ – neben „Ideologen“ und gerecht werdenden politischen Wettbewerbs seinen „Fanatikern“ – alle Menschen gemeint sind, die „die Anfang genommen hat, lässt dieses Urteil des Geschichte nicht verstanden haben und, unbeein- BVerfG mit einer gewissen Besorgnis betrachten. druckt von den verheerenden Folgen des Nationalso- zialismus, rechtsradikale – nationalistische und anti- 24 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13, in: NVwZ 2014, S. 1156 (1159). 25 BVerfGE 93, 266 (295). 20 BVerfGE 93, 266 (289 ff.). 26 BVerfGE 124, 300 (327 ff.). 21 BVerfGE 93, 266 (295 f.). 27 Sachs, Staatsorganisationsrecht: Redefreiheit des Bundesprä- 22 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13, in: NVwZ sidenten, in: JuS 2014, S. 956 (957); ähnlich auch Hillgruber, 2014, S. 1156 (1159). Zur Äußerungsbefugnis des Bundespräsidenten in Bezug auf 23 BVerfGE 93, 266 (301). politische Parteien, in: JA 2014, S. 796 (798).

153 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2015 21. Jhrg.

Parteienrecht im Spiegel der Rechtspre- minierung Anderer wendenden schulischen Projekt. chung Es handele sich folglich nicht um eine der politischen Partei geltende Schmähung, sondern um eine scharfe und einprägsame Stellungnahme zu einer Debatte, die 1. Grundlagen zum Parteienrecht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Zu allem Überfluss schloss die Urteilsbegründung Das BVerfG1 sah keine evidente Vernachlässigung mit einer nach rechtsstaatlichen Maßstäben bedenkli- der Integrationsaufgabe und somit auch keine will- chen Rechtfertigung: „Nicht zuletzt gilt: Gerade auch kürliche Parteinahme seitens des Bundespräsidenten die Antragstellerin betreibt den politischen Wettbe- darin, NPD-Anhänger als „Spinner“ zu bezeichnen. werb in Auseinandersetzung nicht nur mit konkurrie- Es steht zu befürchten, dass damit eine schleichende renden politischen Parteien sondern auch mit staatli- Aushöhlung der Fundamente eines dem Chancen- chen Organen nicht in der Art eines moderaten, sach- gleichheitsgrundsatz gerecht werdenden politischen bezogenen Diskurses, sondern mit einer Vielzahl von Wettbewerbs seinen Anfang genommen hat2. Herabsetzungen und Abwertungen von staatlichen Wie wenig fernliegend diese Befürchtung ist, zeigt Organen, wie sich aus der belegten Darstellung der sehr deutlich ein Urteil des VerfGH Saarland3, das Aktivitäten ihrer früheren und gegenwärtigen Reprä- auch für öffentliche Äußerungen von Regierungsmit- sentanten im allgemein zugänglichen Antrag des gliedern jegliche Zurückhaltung bei negativen Wert- Deutschen Bundesrates an das Bundesverfassungsge- urteilen über die NPD aufgibt und sich zu einer alt- richt (www.bundesrat.de/DE/plenum/themen/npd-ver testamentarischen „Wie du mir, so ich dir“-Gesinnung bot-node.html, Seiten 60 bis 67) eindrucksvoll ergibt. versteigt. Saarlands Bildungsminister hatte im März Gerade auch die Antragstellerin fällt, wie sich den 2014 bei einer Veranstaltung zum bundesweiten Pro- dort referierten gerichtlichen Entscheidungen entneh- jekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ men lässt, öffentlich immer wieder durch Äußerungen von NPD-Anhängern als „braune Brut“, als „Mob, der auf, die Menschen anderer Nationalität oder Herkunft aus den Köpfen kriecht“ und als „Nazis von heute“ verunglimpfen. Es kann nicht sein, dass sie sich als gesprochen. Der VerfGH Saarland hielt im Ergebnis politische Partei das – vermeintliche – Recht nehmen die vom BVerfG für wertende Äußerungen des Bun- dürfte, zugespitzt und diskreditierend in der öffentli- despräsidenten entwickelten Grundsätze – wenn auch chen Debatte staatliche Organe und die Rechtsord- „nicht ohne weiteres“, jedenfalls aber ohne dogmatisch nung der Bundesrepublik Deutschland anzugreifen, nachvollziehbare Konstruktion – auf Äußerungen ei- zugleich jedoch ein Recht einfordern dürfte, dass nes Mitglieds der Regierung eines Bundeslandes für staatliche Organe, die diese Rechtsordnung zu vertei- übertragbar. Zwar trügen die verwendeten Bezeich- digen haben, sie selbst und ihre Anhänger allenfalls nungen durchaus den Charakter diskreditierender Her- mit den Worten einer akademischen, zurückhaltend- absetzungen. Zu diesen sei der saarländische Bil- distanzierten Formensprache beschreiben.“ Damit dungsminister indes berechtigt, weil „die gesellschaft- legt der VerfGH Saarland in diesem Urteil für politi- liche Entwicklung, vor allem die Überflutung mit sche Parteien und Regierungen denselben Maßstab medialen Reizen, dazu geführt hat, dass Gehör nur an und ignoriert die Grundlagen des Staatsorganisa- das Gesagte findet, das 'lautstark' ist, mit bildhaften tionsrechts und die daraus resultierenden Bindungen Vergleichen und Schärfungen vorgebracht wird und der Staatsgewalt. – isoliert betrachtet – als unsachlich und ausgrenzend Immerhin hat das BVerfG4 in einer späteren Ent- empfunden werden kann“. Ihrem Kontext nach stün- scheidung noch einmal ausdrücklich betont, dass es den die Äußerungen aber in einem sachlichen Zusam- für die Beteiligung von Inhabern eines Regierungs- menhang mit einem sich gegen Rassismus und Diskri- amtes am politischen Meinungskampf an den bereits gefundenen Grundsätzen nach wie vor festhält und 1 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13, in: NVwZ 2014, die Maßstäbe, die für Äußerungen des Bundespräsi- S. 1156 ff.; zum vorausgegangenen Eilrechtsschutz in der Sache (BVerfG, Beschluss vom 19.09.2013 – 2 BvE 4/13 = BVerfGE denten in Bezug auf politische Parteien gelten, nicht 134, 202 f., und Beschluss vom 17.09.2013 – 2 BvE 4/13 = übertragbar sind. In der Sache ging es um eine Äuße- BVerfGE 134, 138 ff.) s. bereits Bäcker, Spiegel der Recht- rung der Bundesministerin für Familie, Senioren, sprechung – Grundlagen, in: MIP 2014, S. 184 (185). Frauen und Jugend, die am 23.06.2014 in Weimar an 2 Ausführlich dazu Bäcker, Ein Lehrstück bundespräsidialer der Verleihung des Thüringer Demokratiepreises Sachlichkeit – Zu den Grenzen der Redefreiheit des Bundes- präsidenten, in diesem Heft, S. 151-153. 4 BVerfG, Urteil vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, online veröf- 3 VerfGH Saarland, Urteil vom 08.07.2014 – Lv 5/14, online fentlicht bei juris; vorhergehend BVerfG, Beschluss vom veröffentlicht in BeckRS 2014, 53505. 15.07.2014 – 2 BvE 2/14, in: BayVBl 2014, S. 754.

154 MIP 2015 21. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung teilnahm und daneben an diesem Tag ein Zeitungsin- BVerfG eine strikte Bindung an ein streng verstande- terview gab, in dem sie auf die Frage, wie im Falle nes Neutralitätsgebot an. Anderes gelte, wenn ein Re- eines Einzugs der NPD in den Landtag mit deren gierungsmitglied im parteipolitischen Kontext agiert, Anträgen im Parlament oder auf Kommunalebene also Äußerungen auf Parteitagen oder vergleichbaren umzugehen sei, antwortete: „Aber ich werde im Thü- Parteiveranstaltungen fallen. Bei „Veranstaltungen ringer Wahlkampf mithelfen, alles dafür zu tun, dass des allgemeinen politischen Diskurses (Talkrunden, es erst gar nicht so weit kommt bei der Wahl im Sep- Diskussionsforen, Interviews)“ sei eine differenzierte tember. Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD Betrachtung erforderlich. „Der Inhaber eines Regie- nicht in den Landtag kommt.“ Im Ergebnis war diese rungsamtes kann hier sowohl als Regierungsmitglied Äußerung nicht zu beanstanden, weil die Bundesmi- als auch als Parteipolitiker oder Privatperson ange- nisterin nicht als Inhaberin eines Regierungsamtes sprochen sein. Häufig dienen derartige Veranstaltun- die Autorität des Amtes oder die damit verbundenen gen – insbesondere bei der Beteiligung einer Mehr- Ressourcen in spezifischer Weise in Anspruch ge- zahl von Personen – dem themenbezogenen Aus- nommen hatte. Das BVerfG präzisierte in der Urteils- tausch politischer Argumente und Positionen und begründung die Kriterien, anhand derer zwischen sind daher vorrangig dem politischen Meinungskampf dem Handeln des Amtsinhabers, des Parteipolitikers [Hervorh. d. Verf.] zuzuordnen. Dass dabei die Amts- und der politisch handelnden Privatperson unter- bezeichnung verwendet wird, ist noch kein Indiz für schieden werden könne, wenngleich „beim Handeln die Inanspruchnahme von Amtsautorität, weil staatli- des Inhabers eines Ministeramtes eine strikte Tren- che Funktionsträger ihre Amtsbezeichnung auch in nung der Sphären […] nicht möglich ist“5. Aller- außerdienstlichen Zusammenhängen führen dürfen dings listet das BVerfG eine Reihe von Fallkonstel- [...]. Auch insoweit kommt es letztlich für die Gel- lationen auf, in denen es die Grenze zu einem spezi- tung des Neutralitätsgebots entscheidend darauf an, fischen Rückgriff auf die mit einem Regierungsamt ob der Inhaber eines Regierungsamtes seine Aussa- verbundene Autorität als gegeben ansieht6: so, wenn gen in spezifischer Weise mit der Autorität des Re- „ein Bundesminister bei einer Äußerung ausdrück- gierungsamtes unterlegt. Dies kann im Rahmen der- lich auf sein Ministeramt Bezug nimmt oder die Äu- selben Veranstaltung bei einer Mehrzahl von Aussa- ßerung ausschließlich Maßnahmen oder Vorhaben gen in unterschiedlicher Weise der Fall sein“8. Für des von ihm geführten Ministeriums zum Gegen- die konkrete zu beurteilende Äußerung der Bundes- stand hat. Amtsautorität wird ferner in Anspruch ge- ministerin ließ das BVerfG dann den bloßen örtli- nommen, wenn der Amtsinhaber sich durch amtliche chen und zeitlichen Zusammenhang der Teilnahme Verlautbarungen etwa in Form offizieller Publikatio- an der Veranstaltung des Freistaats Thüringen in nen, Pressemitteilungen oder auf offiziellen Inter- amtlicher Funktion mit dem am Rande der Veran- netseiten seines Geschäftsbereichs […] erklärt. Auch staltung geführten Interview nicht ausreichen, um aus äußeren Umständen, wie der Verwendung von von einer Bindung an das Neutralitätsgebot auszuge- Staatssymbolen und Hoheitszeichen oder der Nut- hen. Auch die übrigen äußeren Umstände sprachen zung der Amtsräume, kann sich ein spezifischer nach Ansicht des BVerfG nicht dafür, dass insbeson- Amtsbezug ergeben. Gleiches gilt für den äußerungs- dere die beanstandeten Interviewaussagen in amtli- bezogenen Einsatz sonstiger Sach- oder Finanzmit- cher Eigenschaft getätigt wurden. tel, die einem Regierungsmitglied aufgrund seines Um die Abgrenzung privater und amtlicher Äußerun- Amtes zur Verfügung stehen [...]. Schließlich findet gen – hier der Ministerpräsidentin des Landes Rhein- eine Inanspruchnahme der Autorität des Amtes statt, land-Pfalz – ging es auch in einem Beschluss des wenn ein Bundesminister sich im Rahmen einer Ver- VerfGH Rheinland-Pfalz9. Im Vorfeld der Europa- anstaltung äußert, die von der Bundesregierung aus- und Kommunalwahlen wurde die Ministerpräsiden- schließlich oder teilweise verantwortet wird, oder tin in einem Zeitungsbericht über eine örtliche Par- wenn die Teilnahme eines Bundesministers an einer teiveranstaltung, an der sie teilgenommen hatte, mit Veranstaltung ausschließlich aufgrund seines Regie- der Äußerung zitiert, es müsse alles daran gesetzt rungsamtes erfolgt“7. In diesen Fällen nimmt das werden, um den Wiedereinzug der rechtsextremen NPD im Stadtrat zu verhindern. Dagegen wandte 5 BVerfG, Urteil vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, online veröf- sich die NPD erfolglos. Die Ministerpräsidentin äu- fentlicht bei juris, Rn. 54. 6 Kritisch dazu Tanneberger/Nemeczek, Anmerkung zu BVerfG, 8 BVerfG, Urteil vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, online veröf- Urteil vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, in: NVwZ 2015, S. 215 (216). fentlicht bei juris, Rn. 59. 7 BVerfG, Urteil vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, online veröf- 9 VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.05.2014 – VGH fentlicht bei juris, Rn. 57. A 39/14, in: NVwZ-RR 2014, S. 665 ff.

155 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2015 21. Jhrg.

ßerte sich in ihrer Eigenschaft als – wenn auch promi- wiesen, so dass er dem vorgeworfenen Fehlverhalten nentes – Parteimitglied im Rahmen einer Wahlkampf- vor allem deshalb erhebliches Gewicht beimaß. veranstaltung ihrer Partei. Dabei unterliegt sie nicht Demgegenüber hat sich die Stadt Saarbrücken bei ei- den strengen Bindungen des Neutralitätsgebots, son- ner auf ihrer Homepage veröffentlichten Presseerklä- dern steht in ihrer privaten Eigenschaft als Mitglied rung, in der die Forderung nach einem NPD-Verbot der SPD und als politisch engagierte Bürgerin unter aufgestellt wurde, in den Grenzen des Neutralitätsge- dem Schutz des Grundrechts der Meinungsfreiheit. bots gehalten. So entschied das OVG des Saarlandes13 Demgegenüber gab der VerfGH Thüringen10 einer und wies damit eine Beschwerde der NPD ab, mit Organklage der NPD gegen die Thüringer Ministerin der sie ihren erstinstanzlich vom VG des Saarlandes14 für Soziales, Familie und Gesundheit statt, weil diese abgelehnten Antrag weiterverfolgte. Die Presseerklä- durch ihren Aufruf, sich an Protesten gegen den am rung enthielt sich jeglicher diffamierender oder her- 15.03.2014 stattfindenden Landesparteitag der NPD absetzender Wortwahl und nahm anlass- und sachbe- in Kirchheim zu beteiligen, gegen ihre Pflicht zur zogen Stellung zu einer juristischen Auseinanderset- parteipolitischen Neutralität verstoßen und dadurch zung mit der NPD um die Überlassung der Festhalle zu Lasten der NPD in den laufenden Landtags- und Schafbrücke im Januar 2014 zum Zwecke der Durch- Kommunalwahlkampf eingegriffen hat. Zu dem Pro- führung eines Bundesparteitages. Sie entstand als test hatte sie nicht als Privatperson oder als Partei- Reaktion auf Proteste etlicher Gruppierungen gegen mitglied aufgerufen, sondern unter Inanspruchnahme die Zulassung der NPD zur Nutzung der Festhalle. ihrer Amtsautorität. Der Protestaufruf fand sich auf Die im Rahmen der Darstellung der kommunalen den offiziellen Internetseiten ihres Geschäftsbereichs Konfliktlage erhobene „Forderung“ nach einem Par- und hatte nach Inhalt und Gestaltung den Charakter teiverbot der NPD verstößt im Kontext mit dem wei- einer amtlichen Verlautbarung. teren Inhalt der Erklärung nicht gegen die Neutrali- tätspflicht. Die Presseerklärung ist inhaltlich viel- Auch der VerwGH Hessen11 erkannte auf einen mehr um Information und Deeskalation bemüht. Der Verstoß gegen die den Staats- und Kommunalorga- Anspruch der NPD als nicht verbotene Partei auf nen im Vorfeld von Wahlen obliegende Neutralitäts- Chancengleichheit wird deutlich zum Ausdruck ge- pflicht und verpflichtete die Stadt Hanau dazu, eine bracht, weder wurden die NPD selbst noch wurden Passage aus einer Anti-NPD-Rede ihres Oberbürger- Mitglieder dieser Partei bewertet, ihr insbesondere meisters von ihrer Homepage zu entfernen. Zuvor keine Verfassungswidrigkeit vorgeworfen und es hatte noch das VG Frankfurt12 entschieden, dass wurde nicht einmal die Tatsache erwähnt, dass ein Hanaus Oberbürgermeister NPD-Mitglieder „Nazis“ Parteiverbotsverfahren beim Bundesverfassungsge- nennen darf. Dabei hatte das VG offenbar – wie der richt anhängig gemacht wurde. Da auch keinerlei Be- Urteilsbegründung des VerwGH Hessen zu entneh- zug zu Wahlen hergestellt wurde, muss sich die NPD men ist – mit einer dem Bundespräsidenten ver- der öffentlichen Auseinandersetzung um ein Verbot gleichbaren Ausnahmestellung des Oberbürgermeis- auch in Wahlzeiten stellen. ters im Staatsgefüge argumentiert. Dieser abwegigen Rechtsauffassung erteilte der VerwGH Hessen dann Dass eine von der NPD für den 27.01.2012 – dem eine sehr deutliche Absage. Der Rede vorangegangen Holocaust-Gedenktag – angemeldete Versammlung war der vergebliche Versuch der Stadt Hanau, vertre- unter dem Motto „Von der Finanz- zur Eurokrise – ten durch den Oberbürgermeister als Versammlungs- zurück zur D-Mark heißt unsere Devise!“ zu Unrecht behörde, eine Kundgebung der NPD verbieten zu las- von der Stadt Trier verboten und auf den 28.01.2012 sen. In diesem Verfahren hatte der VerwGH Hessen verlegt wurde, hat in dritter Instanz das BVerwG15 die Stadt zuvor eindringlich auf die Rechtslage hinge- entschieden. Zuvor hatten das VG Trier16 und das OVG Rheinland-Pfalz17 die Klage der NPD auf Fest- 10 VerfGH Thüringen, Urteil vom 03.12.2014 - 2/14, online ver- 13 OVG des Saarlandes, Beschluss vom 21.02.2014 – 2 B 24/14, öffentlicht bei juris; s. vorhergehend VerfGH Thüringen, Be- in: KommJur 2014, S. 173 ff. schluss vom 14.03.2014 – 3/14, in: ThürVBl 2014, S. 191 f.: im 14 Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wurde der Erlass VG des Saarlandes, Beschluss vom 27.01.2014 – 3 L 40/14, einer einstweiligen Anordnung noch abgelehnt, wiewohl der in: LKRZ 2014, S. 164 f. VerfGH den Erfolg in der Hauptsache für überwiegend wahr- 15 BVerwG, Urteil vom 26.02.2014 – 6 C 1/13, in: NVwZ 2014, scheinlich hielt. S. 883 ff. 11 VerwGH Hessen, Beschluss vom 24.11.2014 – 8 A 1605/14, 16 VG Trier, Urteil vom 31.07.2012 – 1 K 180/12.TR, nicht ver- online veröffentlicht bei juris. öffentlicht. 12 VG Frankfurt, Beschluss vom 02.07.2014 – 7 K 4006/13.F, 17 OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 06.12.2012 – 7 A nicht veröffentlicht. 10821/12, in: DVBl 2013, S. 390 ff.

156 MIP 2015 21. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung stellung der Rechtswidrigkeit dieser versammlungs- hinreichend durch Tatsachen belegt, insbesondere rechtlichen Verfügung abgewiesen. Die beiden Vorin- auch deshalb nicht, weil der „Nationale Widerstand stanzen urteilten, dass von der geplanten Versamm- Dortmund“ schon in den Jahren vor 2013 in Dort- lung eine das sittliche Empfinden der Bürger erheb- mund zum 1. Mai gerade nicht präsent war und an lich beeinträchtigende Provokationswirkung ausgehe diesem Tag keine besondere Veranstaltungsform tra- und somit die öffentliche Ordnung unmittelbar gefähr- ditionsbildend etabliert hat, deren Fortführung für det sei. Zur Begründung verwiesen beide Gerichte einen unbefangenen Betrachter mit der erforderli- auf die (unterstellte) Absicht der NPD, lediglich am chen Eindeutigkeit an die frühere Vereinstätigkeit Holocaust-Gedenktag Präsenz zeigen und gegen das anknüpfen würde. Eine Strafbarkeit nach § 20 Abs. 1 Gedenken agitieren zu wollen. Jedoch stützten die VereinsG und damit eine Gefahr für die öffentliche Gerichte diese Annahme auf bloße Vermutungen, Sicherheit scheidet daher aus. Soweit die Verbots- ohne dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte verfügung darüber hinaus mit befürchteten Gefahren dafür erkennbar waren. Das BVerwG stellte klar, für die öffentliche Ordnung, insbesondere einem von dass das „durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Selbst- dem bedrohlichen Auftreten der Versammlungsteil- bestimmungsrecht über den Inhalt der Versammlung nehmer ausgehenden Einschüchterungseffekt auf die […] – vorgelagert – den Anspruch ein[schließt], dass Bevölkerung, begründet wurde, hätte dem hinrei- der Staat das vom Grundrechtsträger proklamierte chend wirksam durch Auflagen entgegengewirkt Artikulationsanliegen grundsätzlich als tatsächlich werden können. gegeben hinnimmt [...]. Ein Durchgriff auf eine ver- Im Rahmen einer gaststättenrechtlichen Erlaubnis meintlich bestehende innere Motivlage zur Rechtfer- für den Festbetrieb einer politischen Partei wurde an- tigung einer Versammlungsbeschränkung darf nur geordnet, dass an der Veranstaltung keine Kinder im ausnahmsweise und mit besonderer Zurückhaltung Alter von über 3 Jahren bis 14 Jahren teilnehmen erfolgen [...]. Hierfür müssen konkrete und nachvoll- dürfen und Kinder und Jugendliche ab 14 Jahren nur ziehbare tatsächliche Anhaltspunkte und nicht nur in Begleitung einer erziehungsberechtigten oder er- bloße Vermutungen und Verdachtsmomente vorlie- ziehungsbeauftragten Person teilnehmen dürfen. Be- gen“. Die Beweislast dafür, dass die tatsächliche gründet wurde diese Einschränkung mit einer Gefähr- Sachlage der Vermutung entspricht, liegt bei der dung der Kinder und Jugendlichen durch die zu erwar- Versammlungsbehörde und es obliegt nicht dem tende Konfrontation mit ideologisch-propagandisti- Grundrechtsträger, sich insoweit zu entlasten. schen Texten und entsprechender Musik. Das VG Erneut hat das VG Gelsenkirchen18, wie bereits im Bayreuth20 sah im Jugendschutzgesetz indes weder Vorjahr, einem Eilantrag des Landesverbandes NRW eine Grundlage für ein Begleitungserfordernis für Ju- der Partei „Die Rechte“ stattgegeben, die sich gegen gendliche ab 16 Jahren, noch für das Teilnahmever- das Verbot einer für den 1. Mai 2014 in Dortmund bot für Kinder im Alter über 3 und unter 14 Jahren. angemeldeten Versammlung mit dem Thema „Her- Richtig weist das VG Bayreuth darauf hin, dass der aus zum 1. Mai“ wandte. Das Polizeipräsidium Gesetzgeber ab einem Alter von 16 Jahren den Dortmund begründete das Versammlungsverbot auch Schutzgedanken zugunsten der Selbstbestimmung in diesem Jahr damit, dass die Versammlung in der der Jugendlichen deutlich zurücknimmt und es vor Tradition der in den vergangenen Jahren von der ver- diesem Hintergrund nicht überzeugt, wenn der be- botenen Vereinigung „Nationaler Widerstand Dort- fürchteten Gefährdung durch die obligatorische Be- mund“ am 1. Mai durchgeführten Versammlungen gleitung einer personensorgeberechtigten bzw. erzie- stehe. Daher solle das Ereignis nach außen erkennbar hungsbeauftragten Person begegnet werden soll. So einen identitätsstiftenden organisatorischen Zusam- werde „die Begleitung durch Eltern, die dem Gedan- menhalt dieser verbotenen Vereinbarung fortführen kengut des Veranstalters nahestehen, wohl kaum zu und einen Einschüchterungseffekt auf die Bevölke- einer kritischen Auseinandersetzung mit dem dort rung erzeugen. Das VG Gelsenkirchen hat unter Be- verbreiteten Gedankengut führen, wie umgekehrt ein zugnahme auf seine Entscheidung aus dem Vorjahr kritisch denkender Jugendlicher sich für seine Ein- und den bestätigenden Beschluss des OVG Münster19 drücke und Fragestellungen ohne weiteres selbst ge- ausgeführt, die dem Versammlungsverbot zu Grunde eignete Gesprächspartner suchen wird“. Für den liegenden Annahmen seien – nach wie vor – nicht Schutz von Kindern sei demgegenüber die Beglei-

18 tung (regelmäßig) durch die personensorgeberechtig- VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 24.04.2014 – 14 L 641/14, ten Eltern als geboten und ausreichend anzusehen, online veröffentlicht bei juris. 19 Ausführlich dazu bereits Bäcker, Parteienrecht im Spiegel der 20 VG Bayreuth, Beschluss vom 11.07.2014 – B 3 S 14.443, on- Rechtsprechung – Grundlagen, in: MIP 2014, S. 184 (188 f.). line veröffentlicht bei juris.

157 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2015 21. Jhrg. wenngleich sich „das Gericht [...] dabei durchaus be- der namensrechtliche Schutz des § 4 PartG seinem wusst [ist], dass ein etwa notwendiger Schutz von Wortlaut nach nur für eine Partei im Verhältnis zu Kindern vor dem Gedankengut ihrer Eltern (auch) anderen politischen Parteien. Darin zeigt sich die ob- auf der Grundlage des § 7 JuSchG kaum zu bewerk- jektivrechtliche Zweckrichtung des § 4 PartG, der stelligen sein wird“. mit Blick auf den Wähler auf die Gewährleistung ei- ner irrtumsfreien Unterscheidbarkeit der Parteien Dass der ehemalige Vorsitzende des NPD-Kreisverban- zielt24. In dem politischen Wettbewerb – jedenfalls des Bremen als unzuverlässig im Sinne des Waffen- auf kommunaler Ebene – tummeln sich neben den rechts einzustufen ist, entschied das VG Bremen21 politischen Parteien aber auch andere relevante Ak- und wies dessen Klage gegen den Widerruf der Waf- teure, nämlich die Wählervereinigungen. Die Gefahr fenerlaubnis ab. Die erforderliche Zuverlässigkeit einer Zuordnungsverwirrung beim Wähler in dem für eine waffenrechtliche Erlaubnis besitzt unter an- Sinne, dass er Parteien und Wählervereinigungen derem nicht, wer einzeln oder als Mitglied einer Ver- nicht mehr zuverlässig voneinander unterscheiden einigung Bestrebungen verfolgt oder unterstützt, die kann, liegt auf der Hand. Zu Recht fragt sich das gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet sind, OLG Karlsruhe deshalb, „ob nicht hinsichtlich des § 5 Abs. 2 Ziff. 3 lit. a) WaffG. Die danach zum Wi- Namensschutzes einer Partei gegenüber einer Wähler- derruf einer waffenrechtlichen Erlaubnis berechti- vereinigung oder Gruppierung von Mandatsträgern genden Bestrebungen sind bei politisch bestimmten, […] eine Regelungslücke und ein Bedürfnis für eine ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem analoge Anwendung des § 4 Abs. 1 PartG besteht“. oder für einen Personenzusammenschluss gegeben, Es konnte die Frage der analogen Anwendung aller- der darauf gerichtet ist, die freiheitliche demokrati- dings unentschieden lassen. Ob eine Verwechselungs- sche Grundordnung zu beseitigen oder außer Geltung gefahr vorliegt, ist einzelfallabhängig zu ermitteln zu setzen. Dazu bedarf es lediglich eines aktiven, und eine solche war nach überzeugender Ansicht des nicht jedoch notwendig eines kämpferisch-aggressi- OLG Karlsruhe vorliegend ausgeschlossen. Auch ven Vorgehens, wobei die Verhaltensweisen über Wählergemeinschaften muss rechtlich die Möglich- politische Meinungen und Kritik an Verfassungswer- keit gewährt werden, die politisch „grüne“ Grundhal- ten und -grundsätzen hinausgehen müssen und auch tung zum Ausdruck zu bringen25. Soweit bei Gleich- die bloße Übereinstimmung oder Sympathie mit den namigkeit oder Namensähnlichkeit ein sogenannter Zielen einer verfassungsfeindlichen Organisation Interessenausgleich zu fordern ist, hat die Wählerge- nicht ausreichen. Das Gericht hatte, gestützt auf ent- meinschaft dem durch den Zusatz „Alternative“ sprechende Verfassungsschutzberichte, keine Zweifel mehr als hinreichend Rechnung getragen. Von einer daran, dass die Aktivitäten der NPD sich gegen die Verwechslungsgefahr mit der Partei „Bündnis 90/ verfassungsmäßige Ordnung richten und dass der Die Grünen“ kann hier nicht mehr ausgegangen wer- Kreisverbandsvorsitzende, schon nach seinem eigenen den, vielmehr wird sogar deutlich die Unterschei- Bekunden, die NPD aktiv unterstützt. Damit sah es dung zwischen den Gruppierungen hervorgehoben den Tatbestand der Regelunzuverlässigkeit nach § 5 und betont: „Der Name 'Grüne Alternative Freiburg' Abs. 2 Ziff. 3 lit. a) WaffG als erfüllt an. deutet nach allgemeinem Wortverständnis nicht auf Der Name „Grüne Alternative Freiburg“ einer kom- eine Zugehörigkeit oder organisatorische Verbun- munalen Wählervereinigung unterscheidet sich hin- denheit [...], sondern […] gerade auf einen Gegen- reichend von dem Namen der Partei „Bündnis 90/ entwurf, eine 'Alternative' […] im Freiburger Raum Die Grünen“ und darf daher geführt werden. Das hat hin“. das OLG Karlsruhe22 entschieden und damit das In mehrfacher Hinsicht spannend hätte ein Urteil des erstinstanzliche Urteil des LG Freiburg (Breisgau)23 AG Königswinter26 werden können, wenn es sich bestätigt. Rechtliche Regelungen zum Umgang mit denn mit den inhaltlich zur Entscheidung gestellten der prekären Situation einer verwechselungsträchti- Fragen hätte befassen müssen. Es ging um eine inner- gen Namensähnlichkeit im politischen Wettbewerb parteiliche Wahl der Reserveliste zu den Kommunal- finden sich in § 4 PartG und § 12 BGB. Jedoch gilt wahlen in Königswinter 2014, bei der 33 Personen

21 VG Bremen, Urteil vom 08.08.2014 – 2 K 1002/13, online 24 S. schon BGHZ 79, 265 (272). veröffentlicht bei juris. 25 Insbes. zum Freihaltebedürfnis an dem Begriff „Grün“ s. 22 OLG Karlsruhe, Urteil vom 18.12.2013 – 13 U 162/12, in: Schmitt-Gaedke/Arz, Anmerkung zu OLG Karlsruhe, Urteil NJW 2014, S. 706 ff. vom 18.12.2013 – 13 U 162/12, in: NJW 2014, 707 (708). 23 LG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 11.07.2012 – 1 O 250/11, 26 AG Königswinter, Urteil vom 04.04.2014 – 3 C 40/14, online nicht veröffentlicht. veröffentlicht bei juris.

158 MIP 2015 21. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung die Teilnahme an der Wahl mit der Begründung ver- verband Königswinter habe ihre Mitgliedschaft ver- weigert wurde, sie seien keine Parteimitglieder. Wel- neint, so dass sie auch nicht auf eine Antragstellung che Anforderungen an eine formell ordnungsgemäße beim Schiedsgericht als Mitglied verwiesen werden Aufnahme in die Partei zu stellen sind, zu welchem dürfte. Wie das AG Königswinter zutreffend fest- Zeitpunkt dann eine stimmberechtigte Mitwirkung stellt, „berühmt sich [die Antragstellerin] für die Be- an Kandidatenaufstellungsversammlungen anzuneh- teiligung an den Wahlen zur Reserveliste ja gerade men ist, unter welchen Voraussetzungen eine Mit- mitgliedschaftlicher Rechte. Entsprechend ist sie auch gliedschaft von einem Ortsverband an einen anderen gehalten, wie ein Mitglied die verbandsinterne Kon- übertragen werden kann und wann eine Übernahme fliktlösung zu suchen“. Der Antrag in der Hauptsa- rechtswirksam erfolgt ist – Fragen, deren Klärung che konnte deshalb mangels Rechtschutzbedürfnis auf der Grundlage des entsprechenden Satzungs- nur als unzulässig abgewiesen werden. rechts der Partei durch ein staatliches Gericht durch- Das BVerfG29 hat die Ausgestaltung der ZDF-Auf- aus zu begrüßen gewesen wäre, gerade auch ange- sichtsgremien mit Vorgaben der Rundfunkfreiheit sichts andernorts unerfreulicher Begegnungen mit teilweise für unvereinbar erklärt und Anforderungen sogenannten „Wahlnomaden“27. Dazu kam es indes an Vielfaltsicherung, Staatsferne und Transparenz- nicht. Zwar ist für die Überprüfung parteiinterner aufgestellt. Wenn die Gremienzusammensetzung in Wahlen der ordentliche Rechtsweg eröffnet, auch dem Urteil auch weit darüber hinaus in den Blick ge- wenn Gegenstand der Wahlen Wahlvorschläge für öf- nommen wird, sollen hier – entsprechend des themati- fentliche Ämter sind28. Das AG Königswinter war schen Schwerpunkts „Parteienrecht im Spiegel der aber an einer Entscheidung in der Sache gehindert, da Rechtsprechung“ – nur die Vorgaben zur Sicherstel- regelmäßig vor Anrufung des staatlichen Richters, lung einer hinreichenden Staatsferne dargestellt wer- auch im Eilrechtsschutz, der innerparteiliche Rechts- den. Laut BVerfG ist der Einfluss der staatlichen und weg erschöpft sein muss. Das war in diesem Fall staatsnahen Mitglieder in den Aufsichtsgremien kon- – jedenfalls seitens der Antragstellerin – noch nicht sequent auf höchstens ein Drittel der Gremienmitglie- geschehen. Allerdings kann das staatliche Gericht der zu begrenzen. Damit diese Drittelquote nicht um- vorzeitig angerufen werden, wenn dargetan wird, gangen werden kann, ist der Gesetzgeber aufgefor- dass andernfalls wirksamer Rechtsschutz nicht mehr dert, Inkompatibilitätsregelungen für entsprechende erreicht werden kann. Bejaht wird dies, wenn partei- Amts- und Mandatsträger vorzusehen, um zu verhin- interner Eilrechtschutz nicht vorgesehen ist oder ef- dern, dass diese – etwa als Vertreter gesellschaftli- fektiver Rechtschutz aus anderen Gründen nicht zu cher Gruppen – in die Gremien gelangen. Staatsnähe erwarten ist. Jedoch sieht die Landesschiedsgerichts- wird dabei allen Personen zugeschrieben, die politi- ordnung der Partei in § 9 die Möglichkeit des Erlas- sche Verantwortung tragen. Ausdrücklich erwähnt ses einstweiliger Anordnungen vor. Zudem hatte das das BVerfG Regierungsmitglieder, Abgeordnete, Landesschiedsgericht in der Sache über den von ei- politische Beamte und Wahlbeamte in Leitungsfunk- nem anderen Parteimitglied eingereichten Antrag in- tion wie Bürgermeister oder Landräte. Die nötige nerhalb von 10 Tagen – und damit deutlich vor Frist- Staatsferne fehlt aber nicht nur bei Amtsträgern, son- ablauf für die Einreichung der Reserveliste bei dem dern auch bei Personen mit herausgehobener Funkti- Wahlleiter entschieden. Mit dem AG Königswinter ist on für eine politische Partei. Das BVerfG überlässt davon auszugehen, dass „auch über den Antrag der es der näheren Ausgestaltung durch den Gesetzge- Antragstellerin bei dem Schiedsgericht so schnell ber, wann von einer herausgehobenen Verantwor- entschieden worden wäre, wie über den Antrag, wel- tung in einer politischen Partei zu sprechen sei, hält cher dem Schiedsgericht tatsächlich vorlag“. Ohne- aber ein Abstellen auf Ämter oberhalb der Kreis- hin wartete die Antragstellerin diesen Entscheid des oder Bezirksebene für denkbar. Erfasst werden da- Schiedsgerichts ab, bevor sie Rechtsschutz vor den nach wohl nicht nur ehemalige Regierungsmitglie- staatlichen Gerichten suchte, so dass auch aus diesem der, Staatssekretäre und aktuelle Kandidaten für Grund die vorherige Anrufung der Parteischiedsge- Landtags-, Bundestags- oder Europawahlen, sondern richtsbarkeit nicht entbehrlich war. Die Antragstelle- auch Ehrenvorsitzende einer Partei30. rin konnte sich auch nicht darauf berufen, der Stadt- Dr. Alexandra Bäcker 27 S. nur Blazejewski, CDU Duisburg ändert wegen Wahlnoma- den ihre Satzung, in: WAZ vom 16.09.2014, www.derweste n.de/staedte/duisburg/wahlnomaden-cdu-aendert-satzung-aim 29 BVerfG, Urteil vom 25.03.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, in: p-id9828788.html (letzter Zugriff 27.03.2015). JZ 2014, S. 560 ff. 28 Dazu auch Hahlen, in Schreiber, BwahlG, 9. Aufl. 2013, § 21 30 Hesse/Schneider, Anmerkung zu VerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 Rn. 3. BvF 1/11, 1 BvF 4/11, in: NVwZ 2014, 867 (881 f.).

159 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2015 21. Jhrg.

2. Chancengleichheit Der NPD-Kreisverband Sächsische Schweiz/Osterz- gebirge wehrte sich vor dem Sächsischen OVG34 ge- 31 Das BVerfG wies den Antrag auf Erlass einer gen die Kündigung ihres Kontos durch die örtliche einstweiligen Anordnung eines Kreisverbandes der Sparkasse – wie in der Vorinstanz vor dem VG NPD ab, welcher sich erfolglos um die Eröffnung ei- Dresden35 – allerdings ohne Erfolg. Zwar bestehe nes Girokontos bei der Sparkasse Berlin bemüht hat- grundsätzlich ein Anspruch auf Führung eines Giro- te. Dem vorangegangen war eine Entscheidung des kontos aus § 5 Abs. 1 S. 1 PartG, da die Sparkasse 32 OVG Berlin-Brandenburg . Dieses hatte eine Be- als Trägerin öffentlicher Gewalt zur Gleichbehand- schwerde der NPD als unbegründet abgewiesen, wel- lung der Parteien verpflichtet sei und tatsächlich che sich dagegen richtete, dass sie – mangels Anord- zwei andere Parteien Konten bei ihr unterhielten. 33 nungsgrunds – vor dem VG Berlin mit ihrem Ver- Aus den Umständen des Einzelfalls ergebe sich in- such erfolglos blieb, im Wege der einstweiligen An- des die Zulässigkeit der Kündigung. Zwar genüge ordnung eine Kontoeröffnung zu erzwingen. Das ein „sachlicher Grund“ allein nicht zur Rechtferti- OVG bestätigte das erstinstanzliche Gericht in seinen gung einer Ungleichbehandlung im Bereich des § 5 Entscheidungsgründen, das zunächst feststellte, dass Abs. 1 PartG und Einschränkungen dürften nur unter die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr engen Voraussetzungen erfolgen, eine Grenze bilde grundsätzlich keine bloße Annehmlichkeit, sondern jedoch die Zumutbarkeit. So bestand zugunsten der eine wesentliche Voraussetzung für die – nicht nur Sparkasse seit mehreren Jahren eine offene Forde- im Wahlkampf – werbende Tätigkeit einer politischen rung in nicht geringem Ausmaß gegenüber der NPD, Partei sei, was sich insbesondere aus Erfordernissen die von ihr zunächst sorgfaltswidrig und später sogar der §§ 19 Abs. 1 S. 2, 25 Abs. 1 S. 2 PartG ergebe, vorsätzlich nicht beglichen worden sei. Wegen der welche für die Parteienfinanzierung und Spenden über Gleichgültigkeit gegenüber dieser Forderung fehle 1.000 Euro die rechtliche Notwendigkeit von Giro- es an der erforderlichen Vertrauensbasis, die Fort- konten begründen. Dieser in Bezug auf den Landes- führung der Geschäftsbeziehung sei unzumutbar. verband einer Partei entwickelte Ansatz gelte jedoch Nicht zu berücksichtigen sei, welche Konsequenzen nur eingeschränkt für einen Kreisverband, der im die Nichteinrichtung des Girokontos für den Kreis- Gegensatz zum Bundesverband bzw. der Landesver- verband hätte. Es seien keine Anhaltspunkte ersicht- bände nicht Empfänger der staatlichen Parteienfi- lich, dass ohne ein solches die politische Arbeit ver- nanzierung sei. Im konkreten Fall mangele es weiter hindert oder wesentlich erschwert würde. Mit Ver- an der Glaubhaftmachung, dass Spenden in dieser weis auf die oben besprochene Entscheidung des Höhe erwartet würden. Insgesamt könne der NPD- BVerfG führt das Gericht aus, dass eine Mitbenut- Kreisverband nicht darlegen, dass ihn in der bevor- zung des Kontos des Landesverbandes oder eines stehenden Zeit nur unbar erfüllbare Zahlungsver- Mitglieds oder Unterstützers ausreiche. Das OVG pflichtungen träfen, weswegen es an den Gründen verkennt dabei indes, dass es sich bei dieser Ent- fehle mit der Entscheidung die Hauptsache vorweg- scheidung um eine solche im Eilverfahren handelt. zunehmen. Dem folgte auch das BVerfG: Zwar sei die Dagegen ist für Hauptsacheverfahren nach Beschwerde der Partei in der Hauptsache weder unzu- höchstrichterlicher Rechtsprechung geklärt, dass sich lässig noch offensichtlich unbegründet, vielmehr ver- eine Untergliederung einer politischen Partei nicht weist das Gericht auf zahlreiche Entscheidungen, die auf die Benutzung eines anderweitig eingerichteten den Anspruch auf Führung eines Girokontos bejahen, Kontos zu verweisen lassen hat.36 Das Gericht stellt allerdings fehle es an der substantiierten Glaubhaftma- bei der Frage zu der Folgenabschätzung also unzu- chung, eine Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG lässige Erwägungen an, die einer erneuten Überprü- sei zur Abwendung schwerer Nachteile geboten. Es fung bedürften. sei nicht ersichtlich, warum die Partei ohne Einrich- tung des Kontos nicht in der Lage sei ihren Wahl- Eine ähnliche Problematik beschäftigte das OVG kampf zu führen: Mittel könnten von Mitgliedern oder Berlin-Brandenburg37, welches über einen Antrag Unterstützern ausgelegt und bis zur nahenden Europa- 34 wahl ein privates Girokonto verwendet werden. Sächsisches OVG, Urteil vom 19.08.2014 – 4 A 810/13, onli- ne veröffentlicht bei juris. 31 BVerfG, Beschluss vom 15.05.2014 – 2 BvR 1006/14, in: 35 VG Dresden, Urteil vom 29.01.2013 – 7 K 142/11, nicht ver- WM 2014, S. 1172-1173. öffentlicht. 32 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.05.2014 – OVG 36 A. Bäcker, Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung, MIP 3 S 25.14, online veröffentlicht bei juris. 2014, S. 193. 33 VG Berlin, Beschluss vom 17.04.2014 – 2 L 49.14, online 37 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.02.2014 – OVG veröffentlicht bei juris. 3 N 109.12, online veröffentlicht bei juris.

160 MIP 2015 21. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung auf Zulassung der Berufung zu entscheiden hatte. ne, unabhängig davon ob sich aus der Satzung der Antragstellerin war die Betreiberin der Berliner Partei eine rechtliche Notwendigkeit ergebe. Aller- Sparkasse, welche in einem Verfahren vor dem VG dings fehle es an der Glaubhaftmachung eines An- Berlin38 dazu verurteilt worden war, für die Partei ordnungsanspruchs: Die Stadthalle sei tatsächlich Pro Deutschland ein Girokonto einzurichten.39 Dabei unter Beachtung des Prioritätsprinzip bereits verge- stellte sich die Sparkasse auf den rechtlichen Stand- ben worden und es bestünden keine Zweifel an der punkt, dass im Rahmen von § 5 PartG als einfach- Rechtmäßigkeit der Vergabe. rechtlicher Ausprägung des allgemeinen Gleichheits- Im Rahmen der Prüfung eines ablehnenden Prozess- satzes des Art. 3 Abs. 1 GG eine Differenzierung zu- kostenhilfebeschlusses hatte das OVG Saarlouis42 lässig sei, wenn das mit der Unterscheidung verfolg- darüber zu befinden, ob ein Bürger gegenüber einer te Ziel nicht willkürlich erscheine und ein sachlicher Behörde einen Anspruch auf die Entfernung von als Grund erkennbar sei. Dieser Annahme erteilte das volksverhetzend erachteten Wahlplakaten hat. Der OVG zu Recht eine Absage: Die Sparkassen als Trä- Antragssteller fühlte sich als Angehöriger des jüdi- ger öffentlicher Gewalt unterlägen wegen des durch schen Glaubens durch Plakate mit der Aufschrift Art. 21 Abs. 1 GG gewährleisteten Mitwirkungs- „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“ in sei- rechts politischer Parteien einem strikten Gleichbe- nen Gefühlen verletzt. Das Gericht verneinte indes handlungsgebot. Eine Verweigerung der Kontoeröff- eine Antragsbefugnis gem. § 42 Abs. 2 VwGO ana- nung komme unter gleichheitsrechtlichen Gesichts- log, denn es könne kein für den Antragssteller ehr- punkten nur im Ausnahmefall in Betracht, welcher verletzender Inhalt festgestellt werden: Weder werde nach der zutreffenden Einschätzung des VG Berlin er persönlich noch als Angehöriger seines Glaubens nicht einschlägig sei. Die gerichtliche Bewertung, angesprochen. Eine eigene Rechtsposition ergebe die Entscheidung sei für die Sparkasse im konkreten sich auch nicht daraus, dass die angesprochene Min- Fall nicht unzumutbar, unterliege keinen ernstlichen derheit ebenso wie Angehörige jüdischen Glaubens Richtigkeitszweifeln. Mit der an sich richtigen Ent- durch die Nationalsozialisten verfolgt wurde. scheidung verbleibt indes die rechtliche Unsicher- heit, wann denn nun aus parteienrechtlicher Sicht Vor dem OLG Frankfurt43 stritt der Eigentümer ei- eine Kontoeröffnung versagt bzw. ein vorhandenes nes Hotels mit einer Partei über die Zurverfügung- Konto wieder gekündigt werden kann. Das OVG hat stellung von Räumlichkeiten, die sie zwecks Durch- mehrere in diesem Zusammenhang bestehende Fra- führung ihres Bundesparteitags angemietet hatte. Der gen – mangels Entscheidungserheblichkeit im kon- Vermieter berief sich darauf, den Vertrag wirksam kreten Fall – offengelassen. wegen arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1 BGB) angefochten zu haben, weil bei Vertragsschluss ver- Vor dem VerwGH Baden-Württemberg40 stritt die schleiert worden sei, dass es sich bei der geplanten NPD darum, die Stadthalle in Weinheim für ihren Veranstaltung um den Bundesparteitag der Partei Bundesparteitag zur Verfügung gestellt zu bekom- handele. Tatsächlich war dies aber Inhalt einer E- men. Dies wurde der Partei mit der Begründung ver- Mail, welche einer Mitarbeiterin des Vermieters zu- sagt, die Halle sei zu den angefragten Terminen be- 41 ging. Das OLG urteilt entsprechend, dass als Wis- reits belegt, was durch das VG Karlsruhe auch ge- sensvertreterin gem. § 166 Abs. 1 BGB ihre Kennt- richtlich bestätigt wurde. Gegen diese Entscheidung nis bzw. ihr Kennenmüssen der Umstände maßgeb- erhob die Partei gem. § 146 Abs. 1 VwGO Be- lich war, der Vermieter müsse sich dies zurechnen schwerde. Der VerwGH widersprach der Annahme lassen, womit es sowohl an den objektiven als auch der Vorinstanz, es bestehe unter Umständen mangels an subjektiven Voraussetzen einer arglistigen Täu- Eilbedürftigkeit kein Anordnungsgrund. Bei einem schung fehle. Ebenfalls unberechtigt sei ein Rücktritt Parteitag handele es sich um eine termingebundene nach den AGB des Vermieters. Der drohende Anse- Veranstaltung, deren Festlegung eine Partei im Rah- hensverlust des Hotels begründe kein derartiges men ihres Selbstorganisationsrechts vornehmen kön- Recht, denn die diesbezüglich drohende Gefahr war 38 VG Berlin, Urteil vom 30.03.2012 – 2 K 118.11, online ver- seit der Mitteilung und damit vor Vertragsschluss öffentlicht bei juris. bekannt. Darüber hinaus bestünden keine konkret 39 Dazu A. Bäcker, Parteienrecht im Spiegel der Rechtspre- feststellbaren Gefahren für die Mitarbeiter und das chung, MIP 2013, S. 152 f. 40 VerwGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.10.2014 – 1 42 OVG des Saarlandes, Beschluss vom 14.05.2014 – 1 D S 1855/14, online veröffentlicht bei juris. 272/14, in: NVwZ-RR 2014, S. 671-672. 41 VG Karlsruhe, Beschluss vom 10.09.2014 – 6 K 1670/14, on- 43 OLG Frankfurt, Beschluss vom 24.10.2014 – 14 W 52/14, on- line veröffentlicht bei juris. line veröffentlicht bei juris.

161 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2015 21. Jhrg.

Hotel selbst, die von der Versammlung ausgingen. Bei zieren, die den Staat, seine Verfassungsorgane und Störaktionen Dritter bestehe vielmehr ein Anspruch die geltende Verfassung angreifen, bekämpfen oder des Mieters gegenüber dem Vermieter ihn vor Stö- diffamieren. Dagegen werde mit der Betätigung in rungen des vertragsgemäßen Gebrauchs zu schützen. einer politischen Partei, die mit der freiheitlich de- mokratischen Grundordnung unvereinbare Ziele ver- Das VG München44 verpflichtete im Rahmen einer folgt, verstoßen. Wann dies für eine Organisation einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO der Fall ist, sei vom Gericht innerhalb des Diszipli- eine Stadt zur Erteilung einer Ausnahmegenehmi- narverfahrens zu prüfen; Art. 21 Abs. 2 GG stehe gung für das Aufstellung von Plakaten, mit der ein dem nicht entgegen. Das VG kommt zu dem Ergeb- Bündnis aus politischen Parteien und verschiedenen nis, dass es sich bei der Partei Pro NRW um eine sol- Organisationen für eine Demonstration werben woll- che Organisation handelt, die verfassungsfeindliche ten. Das durch die Plakatverordnung der Stadt einge- Ziele verfolge. Dies ergebe sich aus ihren Verlautba- räumte Ermessen der Behörde bei der Entscheidung rungen, Aktivitäten und Publikationen bzw. den ihrer über eine Ausnahme sei angesichts der geschützten Funktionäre und Mitglieder, insbesondere aus einem Grundrechtspositionen der Antragstellerin aus Artt. 8, Film, den die Partei beworben und zu deren Verbrei- 21 Abs. 1 S. 1 und 5 Abs. 1 S. 1 GG auf null reduziert. tung sie aufgerufen habe. Dabei macht sich das Ge- Es handele sich dabei um „politische“ Werbung für richt die rechtliche Bewertung des Films zu eigen, eine „politisch motivierte Demonstration“, die an- die im Rahmen eines Verfahrens im Jahr 2013, eben- ders zu bewerten sei als Werbung für gewerbliche falls vor dem VG Düsseldorf46, gewonnen wurde. oder kulturelle Veranstaltungen. Kein Versagungs- Diese beinhaltet, dass die Partei „Minderheiten, na- grund liege zum einen in der Befürchtung, dass eine mentlich Muslime und nichteuropäische Migranten Ausnahmegenehmigung erhebliche Bezugsfallwir- in menschenrechtswidriger Weise“ herabsetze und kung entfalte, da nicht mit einer Vielzahl gleicharti- ausgrenze. Sie verfolge „das politische Ziel, gesell- ger Fälle zu rechnen und das Ortsbild durch Begren- schaftliche Verhältnisse herbeizuführen in denen die zung der Plakatzahl sowie deren Verweildauer zu Menschenwürde dieser Personengruppen nicht ge- „retten“ sei. Zum anderen stelle es keine sachgerechte achtet“ werde. Auf dieser Grundlage sei, so das VG Argumentation dar, auf die Tatsache zu verweisen, Düsseldorf, Pro NRW als eine gegen die freiheitlich dass die Demonstration in einer anderen Stadt statt- demokratische Grundordnung gerichtete Partei anzu- fände und in der Öffentlichkeit lediglich auf geringes sehen, die der beklagte Beamte aktiv unterstützt und Interesse stoße. Die Unterscheidung nach dem Ort so seine Distanzierungspflicht verletzt habe. Daran der beworbenen Veranstaltung sei kein taugliches ändere auch sein Bekenntnis nichts, er persönlich Differenzierungskriterium, der Grundrechtsschutz stehe auf dem Boden der Verfassung, denn er müsse unabhängig von dem Interesse, welches dem politi- sich die Verfassungsfeindlichkeit der Partei zurech- schen Thema entgegengebracht werde. nen lassen. Er habe sich durch sein Verhalten mit de- Gegen eine Disziplinarklage des Landes Nordrhein- ren Verfassungsfeindlichkeit identifiziert: „Wer sich Westfalens mit dem Ziel der Entfernung aus dem Be- in so herausragenden Funktionen […] für eine Partei amtenverhältnis wehrte sich ein Polizist vor dem VG mit verfassungsfeindlicher Zielsetzung einsetzt, Düsseldorf45. Diese beruhte darauf, dass er als Mit- muss sich selbst als Verfassungsfeind behandeln las- glied, Kreisvorsitzender und stellvertretender Lan- sen“. Keine Pflichtwidrigkeit sei darin zu sehen, dass desvorsitzender der Partei Pro NRW gegen seine be- der Landesvorsitzende von Pro NRW in einer Erklä- amtenrechtliche Treuepflicht aus § 33 Abs. 1 S. 3 rung den Innenminister, und somit den Vorgesetzten BeamtStG verstoßen haben soll. Tatsächlich sahen des klagenden Beamten, harsch kritisierte. So habe auch die Düsseldorfer Richter in der politischen Be- sich der Beamte diese Kritik nicht zu eigen gemacht, tätigung des Beamten ein schweres Dienstvergehen sich gar distanziert; eine Zurechnung scheitere zu- i.S.d. § 47 Abs. 1 BeamStG. Die Treuepflicht eines dem daran, dass das Disziplinarrecht nur das eigene Beamten gebiete eine Bejahung der geltenden Ver- Verhalten als mögliche Dienstpflichtverletzung aner- fassungsordnung und damit auch die Pflicht, sich kenne. Insgesamt stelle allerdings das Verhalten des eindeutig von Gruppen und Bestrebungen zu distan- Polizisten ein solches von besonderem Gewicht dar. Er habe beharrlich seine politische Treuepflicht ver- 44 VG München, Beschluss vom 22.07.2014 – M 22 E 14.3151, letzt und sich insoweit als unbelehrbar erwiesen; er online veröffentlicht bei juris. sei insoweit für den Staat, der sich auf die Verfas- 45 VG Düsseldorf, Urteil vom 26.05.2014 – 35 K (Leistungs- sungstreue seiner Beamten verlassen muss, untrag- verfügung auf Zurverfügungstellung von angemieteten Räum- lichkeiten für die Durchführung eines politischen Parteitages). 46 VG Düsseldorf, Urteil vom 28.05.2013 – 22 K 2532/11.

162 MIP 2015 21. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung bar. Die sich in diesem Urteil stellende Problematik, im Müll leben und per se Straftäter“ seien. Auch un- beschäftigte in ähnlicher Form das BVerfG im Fall ter Beachtung der verfassungsgerichtlichen Recht- Ramelow bezüglich der Zulässigkeit der Beobach- sprechung zur Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 tung eines Abgeordneten durch den Verfassungs- GG und den daraus folgenden Direktiven zur Ausle- schutz47: Die Zurechnung von Programmatik und gungen von Äußerungen, dränge sich diese verdeck- Aktivität der Gesamtpartei zu einem Funktionär. Das te Aussage dem Publikum auf; eine andere als diese Verfassungsgericht hatte dort den unmittelbaren Deutung des Werbefilms sei nicht möglich. Dieser Schluss von der vermeintlichen Verfassungsfeind- Angriff auf die Menschenwürde der betroffenen lichkeit der Partei auf den Abgeordneten selbst für Ausländer erfolge aus ausländerfeindlichen und da- unzulässig erklärt. Zwar könne sie einen Anfangs- mit verwerflichen Motiven: Es werde den angegrif- verdacht, jedoch keine dauerhafte Beobachtung be- fenen Personen ihr Lebensrecht als gleichwertige gründen. Gegenüber dieser Entscheidung ergibt sich Persönlichkeiten in der staatlichen Gemeinschaft ab- allerdings die Besonderheit aus der Beamtenstellung gesprochen und sie als unterwertiges Wesen behan- des beklagten Polizisten. So liegt das als Pflichtver- delt. Dieser Film sei zuletzt auch geeignet, die – all- letzung qualifizierte Verhalten nicht erst in der partei- gemein bekannte – latente Gewaltbereitschaft gegen- politischen Tätigkeit selbst, welche als verfassungs- über Ausländern bei rechtsradikal gesinnten Teilen feindlich eingestuft werden könnte, sondern bereits der Bevölkerung zu stärken. in der mangelnden Distanzierung zu der Partei Pro Die Partei Die Republikaner konnten vor dem VG NRW. Dies rechtfertigt sich, trotz des durch Art. 21 Würzburg 49erfolgreich die Überlassung der Stadt- Abs. 1 GG gewährleisteten verfassungsmäßigen Rechts halle in der bayerischen Stadt Schweinfurt erstreiten. jedes Bürgers auf parteipolitische Tätigkeit, durch Der Zugangsanspruch der Partei ergebe sich, so das die in Art. 33 Abs. 5 GG wurzelnde Treuepflicht des VG, aus Art. 21 GemO Bayern i.V.m. § 5 Abs.1 S. 1 Beamten. Es ist somit fraglich, ob das VG überhaupt PartG i.V.m. Artt. 3 und 21 GG. Die Stadthalle sei des fragwürdigen Vorgehens der „politischen Zurech- für die Nutzung durch Parteiveranstaltungen gewid- nung“ bedurfte und so unter Umständen ein Konflikt met, die Praxis rechts- und linksextreme Organisatio- zu den vom BVerfG elaborierten Grundsätzen beste- nen auszuschließen ersichtlich ein Verstoß gegen das hen könnte. Wenn richtigerweise bereits die man- Verbot der Ungleichbehandlung von Parteien. Auch gelnde Distanzierung von einer verfassungsfeindli- nach ständiger Rechtsprechung nicht tragfähig sei chen Partei eine Entfernung aus dem Beamtenver- der Einwand, es seien massive Proteste der Bevölke- hältnis rechtfertigen kann, stellt sich die Titulierung rung zu erwarten. Die mit dem Parteitag einherge- des Beamten als „Verfassungsfeind“ ohne substanti- henden Risiken seien in einer auf Demokratie und ierten individuellen Nachweis als unnötig heraus. Meinungsfreiheit basierenden Rechtsordnung als Be- Auch das VG Berlin48 hatte sich mit der Partei Pro gleiterscheinungen der politischen Auseinanderset- NRW auseinanderzusetzen. Diese wollte vor dem zungen hinzunehmen. VG Berlin den für die Koordination der Wahlwerbe- Sven Jürgensen spots zuständigen Sender RBB mittels einer einst- weiligen Anordnung dazu verpflichten, ihren Wahl- werbespot zur Europawahl in der ARD senden zu 3. Parteienfinanzierung lassen. Diesem Begehren gab das Gericht indes nicht Das BVerfG50 hatte über den Erlass einer einstweili- statt, weil der Werbefilm evident gegen § 130 Abs. 1 gen Anordnung im Parteiverbotsverfahren der NPD Nr. 2 StGB verstoße. Die Partei greife durch ihren zu entscheiden. Die NPD als Antragsgegnerin im seit Film die Menschenwürde der in Deutschland leben- dem 1. Dezember 2013 beim BVerfG anhängigen den Ausländer an, insbesondere Asylbewerber, Mus- Parteiverbotsverfahren begehrte im Wege der einst- lime und Roma, indem sie böswillig verächtlich ge- weiligen Anordnung die Auszahlung von Abschlags- macht worden seien. Der Spot enthalte vom maßgeb- zahlungen aus der staatlichen Parteienfinanzierung lichen Standpunkt eines unvoreingenommenen und ohne Verrechnung mit einem Gegenanspruch, hilfs- verständigen Durchschnittspublikums die „objektive weise die Aussetzung des Parteiverbotsverfahrens Aussage, dass Ausländer der genannten Teilgruppen um die Finanzierung eines Prozessbevollmächtigten 47 BVerfGE 134, 141-202; dazu M. Morlok/E. Sokolov, Beob- für das Parteiverbotsverfahren sichern zu können. achtung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz, DÖV 2014, S. 405-413. 49 VG Würzburg, Beschluss vom 26.05.2014 – W 2 E 14.398, 48 VG Berlin, Beschluss vom 28.04.2014 – 2 L 59.14, online online veröffentlicht bei juris. veröffentlicht bei juris. 50 BVerfG, Beschluss vom 28.01.2014 – 2 BvB 1/13.

163 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2015 21. Jhrg.

Dem Antrag auf einstweilige Anordnung liegt ein Niedersachsen ist der Kreis der Zuwendungsempfän- jahrelanger Rechtsstreit51 zwischen der Bundestags- ger für politische Bildungsmaßnahmen auf Jugendor- verwaltung und der NPD über Unrichtigkeiten im ganisationen und Jugendverbände beschränkt, die den Rechenschaftsbericht für das Jahr 2007 in Höhe von im Landtag vertretenen Parteien nahestehen. Rechts- ca. 1,25 Mio € zugrunde. Der Präsident des deut- grundlage für die Bereitstellung der Mittel war das schen Bundestages verpflichtete die NPD nach § 31 b Haushaltsgesetz i.V.m. dem Haushaltsplan. Die kon- PartG zu Strafzahlungen in Höhe des Zweifachen krete Förderentscheidung richtete sich nach der Ver- des den unrichtigen Angaben entsprechenden Betra- waltungspraxis. Einen Förderanspruch gewährt aber ges. Das BVerwG reduzierte letztinstanzlich die weder das Haushaltsgesetz noch der Haushaltsplan. Zahlungsverpflichtung, hielt sie im Grundsatz aber Auch die angewendete Verwaltungspraxis hat ledig- aufrecht52. Über die hiergegen erhobene Verfassungs- lich interne Wirkung. Eine anspruchsbegründende beschwerde ist noch nicht entschieden. Die NPD hatte Außenwirkung wird nur durch den Gleichheitssatz ferner wegen der verwaltungsgerichtlich letztinstanz- aus Art. 3 GG und das im Rechtsstaatsprinzip veran- lich festgestellten Strafzahlungsverpflichtung im Mai kerte Gebot des Vertrauensschutzes vermittelt. Dies und im November 2013 jeweils Eilverfahren zur aber nur bei rechtmäßiger Verwaltungspraxis. Ein Stundung der auferlegten Zahlungen eingereicht53. unmittelbar aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG Während dem Antrag der NPD im Mai 2013 wegen abgeleiteter Anspruch auf Neubescheidung ist dann der bevorstehenden Bundestagswahl noch entspro- nicht gegeben, wenn die Mittelvergabe, an der der chen wurde, wurde im November die Wiederholung klagende außerparlamentarische Jugendverband par- der einstweiligen Anordnung abgelehnt. tizipieren will, insgesamt unstatthaft ist. Die NPD begründete den Erlass der einstweiligen Das VG Hannover hat sich daher folgerichtig inten- Anordnung im Parteiverbotsverfahren damit, dass siv mit der tatsächlichen Vergabepraxis auseinander- eine sachgerechte Rechtsverteidigung ohne Auszah- setzen müssen. Das Gericht stellt fest, dass die För- lung der Abschlagszahlungen aus der staatlichen Par- derung von Jugendorganisationen und Jugendverbän- teienfinanzierung nicht möglich sei. Die Partei sei den, deren „Mutterparteien“ im Landtag vertreten nicht in der Lage, die Mittel zur Finanzierung eines sind, Einfluss auf die politische Willensbildung neh- Prozessbevollmächtigten aufzubringen. Der Grund- me. Bei einer solchen Förderung seien dem Staat satz des fairen Verfahrens sei dadurch verletzt. enge Grenzen gesetzt, die sich aus dem Neutralitäts- Das BVerfG lehnt den Antrag auf Erlass einer einst- gebot und der Chancengleichheit ergeben würden55. weiligen Anordnung ab. In seiner kurzen Beschluss- Unter Rückgriff auf das im selben Sachzusammen- begründung stellt das Gericht fest, dass zwischen der hang ergangene Urteil des OVG Berlin-Branden- Verrechnung der Strafzahlungsverpflichtung und burg56 und die vom BVerfG zu den parteinahen Stif- dem Parteiverbotsverfahren kein Zusammenhang be- tungen formulierten Gedanken57, wird der Bereich stehe. Soweit sich die NPD aufgrund der Verrech- des politischen Wettbewerbs über die Ebene der nung zu einer sachgerechten Rechtsverteidigung au- politischen Parteien hinaus auf die sog. Umfeldorga- ßerstande sehe, wird auf den Weg der Prozesskosten- nisationen ausgeweitet. Die Gefahr einer unzulässi- hilfe oder auch die entsprechende Anwendung der gen Verzerrung des politischen Wettbewerbs bestehe §§ 140 ff. StPO verwiesen. Ein entsprechender An- auch dann, wenn der Staat auf die Jugendorganisa- trag könne beim Senat gestellt werden. Auch für eine tionen der Parteien einwirke. Wenn einer – auch Aussetzung des Verfahrens bestehe daher kein Anlass. nicht parteigebundenen – politischen Jugendorgani- sation Fördermittel vorenthalten würden, die die Ju- Das VG Hannover54 hatte über die Förderpraxis für gendorganisationen anderer politischer Parteien er- politische Bildungsmaßnahmen zu entscheiden. In halten, beeinflusse der Staat diesen Wettbewerb in 51 VG Berlin, Urteil vom 15.05.2009 – 2 K 39/09; siehe dazu erheblichem Maße. An einer wirksamen Rechts- auch H. Merten, in MIP 2010, S. 125 f.; OVG Berlin-Bran- grundlage für die staatlichen Zuwendungen zur För- denburg, Urteil vom 23.05.2011 – 3a B 1/11; siehe dazu auch derung der politischen Jugendarbeit fehle es daher. H. Merten, in MIP 2012, S. 148 f.; BVerwGE 145, 194 ff.; siehe dazu auch H. Merten, in MIP 2014, S. 200 f. Die Förderung sei deshalb zu Unrecht erfolgt. 52 BVerwGE 145, 194 ff.; siehe dazu auch H. Merten, in MIP 55 VG Hannover, Urteil vom 19.03.2014 – 11 A 3631/10, in: 2014, S. 200 f. NdsVBl. 2014, 229 (231). 53 BVerfG, Beschluss vom 11.11.2013 und vom 15.05.2013 – 2 56 OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.03.2012 – 6 B BvR 547/13; NVwZ-RR 2013, 625; siehe zu beiden Be- 19/11, in NVwZ 2012, 1265 ff. Siehe dazu ausführlich H. schlüssen auch H. Merten, in MIP 2014, S. 198 ff. Merten, Die Finanzierung politischer Jugendorganisationen 54 VG Hannover, Urteil vom 19.03.2014 – 11 A 3631/10 (nicht gerät unter Gesetzgebungsdruck, NVwZ 2012, 1228 ff. rechtskräftig NdsOVG – 8 LA 59/14), NdsVBl. 2014, 229 ff. 57 BVerfGE 73, 1 ff.

164 MIP 2015 21. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Im Ergebnis kann der klagende außerparlamentarische um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in Jugendverband allerdings aus der rechtswidrigen Be- dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sach- günstigung der parlamentarischen Jugendorganisatio- nächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseiti- nen und -verbände keine Entscheidung zu seinen gen. Dies habe Edathy versäumt. Gunsten herleiten. Denn Art. 3 Abs. 1 GG begründet Soweit die Verfassungsbeschwerde sich im Übrigen keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht. gegen die Verletzung des Grundrechts auf Unverletz- lichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG, des Fernmel- Dr. Heike Merten degeheimnisses aus Art. 10 Abs. 1 GG und des Rechts auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG 4. Parteien und Parlamentsrecht richte, sei sie zwar zulässig, aber unbegründet. Das BVerfG geht auf die jeweiligen Grundrechte im Ein- Die Affäre um den ehemaligen Bundestagsabgeord- zelnen ein und legt dar, warum die Entscheidungen neten Edathy hat medial hohe Wellen geschlagen des Amts- und Landgerichts von den gesetzlichen und beschäftigte auch das BVerfG58. Mit seinem Be- Eingriffsnormen gedeckt gewesen seien. Eine schluss vom 15.08.2014 nahm es die Verfassungsbe- Grundrechtsverletzung liege insgesamt nicht vor. schwerde Edathys, mit der sich dieser gegen die Durchsuchung seiner Wohnung und seines Abgeord- Ein Organstreitverfahren kann es nur geben, wenn netenbüros sowie gegen die Beschlagnahme von E- sich zwei Verfassungsorgane miteinander streiten. Mails und weiteren Daten wendete, nicht zur Ent- Auf diese Kurzformel lässt sich ein Beschluss des scheidung an. BVerfG59 reduzieren.Zahlreiche Haushalte hatten im Das Amtsgericht Hannover hatte auf Antrag der Jahr 2012 in zeitlicher Nähe zu den Landtagswahlen Staatsanwaltschaft entsprechende Durchsuchungs- in NRW und Schleswig-Holstein einen Brief vom und Beschlagnahmebeschlüsse erlassen, dabei je- damaligen Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfrakti- doch übersehen, dass Edathy zum Zeitpunkt ihres Er- on erhalten, in dem er über den Abbau der Staatsver- lasses noch nicht aus dem Deutschen Bundestag aus- schuldung und andere wirtschaftspolitische Themen geschieden war. Zwar hatte er bereits einige Tage schrieb. Zu diesen Zeiten schaltete die Fraktion zu- zuvor auf das Abgeordnetenmandat verzichtet, der dem mehrere Kinospots, in denen sie von ihr vertre- Bundestagspräsident hatte den Verzicht aber erst an tene politische Positionen darstellte. Finanziert wur- dem Tag bestätigt, an dem das Amtsgericht die ange- de das Ganze aus Mitteln der Fraktion. Eine politi- griffenen Beschlüsse erlassen hatte. Damit war Eda- sche Partei hielt das für unzulässige Wahlwerbung thy, weil der Mandatsverzicht nach den Vorschriften zugunsten der FDP und rief Karlsruhe an. Bei der des Bundeswahlgesetzes erst mit der Entscheidung Bundestagswahl 2014 scheiterte die FDP an der Fünf- des Bundestagspräsidenten wirksam wird, durch sei- Prozent-KIausel und war fortan nicht mehr im Deut- ne Abgeordnetenimmunität aus Art. 46 Abs. 2 GG schen Bundestag vertreten. vor strafrechtlichen Ermittlungen geschützt. Das BVerfG lehnte den Antrag als unzulässig ab. Dies stellt das BVerfG in seinem Beschluss auch Der Organstreit sei ein kontradiktorisches Verfahren fest, es hob die angegriffenen Entscheidungen zur gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von gleichwohl nicht auf. Denn die Verfassungsbe- Verfassungsorganen oder ihren Teilen in einem Ver- schwerde sei, soweit sie die Verletzung der Abge- fassungsrechtsverhältnis. Dadurch, dass die FDP ordnetenimmunität aus Art. 46 Abs. 2 GG geltend nicht mehr im Bundestag vertreten und damit gem. mache, bereits unzulässig. Edathy habe sich weder § 54 Abs. 1 Nr. 3 AbgG erloschen sei, könne das vor dem Amtsgericht noch im Beschwerdeverfahren Verfahren seine ihm zugedachte Funktion, eine „dis- vor dem Landgericht auf die Immunität berufen und kursive Auseinandersetzung der Verfassungsorgane dort auch keine Tatsachen vorgetragen, aus denen um ihre Kompetenzen“ zu führen, nicht mehr erfül- sich die Verletzung von Art. 46 Abs. 2 GG ergebe. len. Für eine Klärung der aufgeworfenen Rechtsfra- Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde stehe ge müsse ein über ein Rehabilitationsinteresse hin- daher der Grundsatz der Subsidiarität entgegen. ausgehendes rechtliches Interesse vorliegen, das hier Hiernach muss ein Beschwerdeführer das ihm Mög- mangels Wiederholungsgefahr nicht gegeben sei. liche tun, damit eine Grundrechtsverletzung im fach- Keinen Erfolg hatte ein Organstreitverfahren, mit dem gerichtlichen Instanzenzug unterbleibt oder beseitigt eine politische Partei vor dem VerfG Hamburg60 die wird. Er muss insbesondere alle nach Lage der Sache Feststellung begehrte, dass § 17 Abs. 2 des Bezirks- zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreifen, 59 BVerfG, Beschluss vom 06.05.2014 – 2 BvE 3/12, in: NVwZ 58 BVerfG, in: NJW 2014, 3085. 2014, S. 1159 f.

165 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2015 21. Jhrg. verwaltungsgesetzes (BezVG) gegen Art. 6 Abs. 2 Ebenfalls als unzulässig verwarf der VerfGH Thü- der Hamburger Landesverfassung verstößt. Die Par- ringen61 die Verfassungsbeschwerde einer Abgeord- tei störte sich daran, dass ihr fraktionsloses Mitglied neten des Thüringer Landtags. Die Abgeordnete in der Bezirksversammlung Altona dann, wenn dem wendete sich gegen gerichtliche Entscheidungen, die Hauptausschuss gem. § 15 Abs. 2 BezVG durch in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren er- Rechtsvorschrift, die Geschäftsordnung oder durch gangen waren. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen Beschluss der Bezirksversammlung Aufgaben über- einen Polizeibeamten wegen des Verdachts der Ver- tragen werden, nach dem Grundsatz, dass in den letzung des Dienstgeheimnisses und einer besonde- Ausschüssen nur Fraktionsmitglieder stimmberech- ren Geheimhaltungspflicht gem. § 353b StGB ermit- tigt sind, nicht mitstimmen durfte. Dies widerspreche telt. Bei der durch das Amtsgericht Meinigen ange- der verfassungsrechtlich garantierten Chancengleich- ordneten Durchsuchung der Wohnung des Beschul- heit der Parteien, denn die Mitglieder der Partei, die digten, seiner Person und der ihm gehörenden Sa- der Bezirksversammlung angehörten, könnten in die- chen wurde auf seinem Mobiltelefon eine Textnach- sen Fällen an der Willensbildung der Bezirksver- richt aufgefunden, die ihm die Beschwerdeführerin sammlung nicht teilnehmen, obwohl die Partei bei gesendet hatte. Daraufhin ordnete das Amtsgericht in den Wahlen zur Bezirksversammlung so viele Stim- einem weiteren Beschluss an, die Verkehrs- und men erhalten habe, dass sie mit zwei Sitzen dort ver- Geodaten für verschiedene Mobilfunkanschlüsse des treten sei. Beschuldigten zu erheben. Amtsgericht und Landge- Das HVerfG hat den Antrag als offensichtlich unzu- richt wiesen den Antrag der Beschwerdeführerin, lässig verworfen. Die Partei sei nicht antragsbefugt, festzustellen, dass „sowohl die Maßnahme der Erhe- es fehle bereits an einer möglichen Verletzung in ei- bung der Telekommunikationsdaten als auch die genen Rechten. Die Antragstellerin habe nicht Vollziehung der Maßnahme rechtswidrig erfolgt schlüssig dargelegt, in einem eigenen, ihr als politi- sind“, zurück, weil sie durch die Maßnahmen nicht scher Partei aus den Grundsätzen der Allgemeinheit beschwert und auch nicht Betroffene im Sinne des und Gleichheit der Wahl bzw. der Chancengleichheit § 98 Abs. 2 S. 2 StPO sei. Ein Antrag auf Löschung der Parteien zustehendem Recht verletzt zu sein. Das der sie betreffenden Daten sei bei der zuständigen fehlende Stimmrecht der fraktionslosen Mitglieder Staatsanwaltschaft zu stellen. einer Bezirksversammlung im Hauptausschuss be- Vor dem VerfGH machte die Beschwerdeführerin treffe allein deren Rechte, nicht jedoch eigene Rech- geltend, die Gerichte hätten wesentliche Teile ihres te der Antragstellerin. Sachvortrags außer Acht gelassen und ihr Rechts- Darüber hinaus sei nicht ersichtlich, dass die Antrag- schutzziel verkannt. Denn nicht die Löschung der stellerin an einem verfassungsrechtlichen Rechtsver- Daten, sondern die Feststellung der Rechtswidrigkeit hältnis beteiligt sei. Die Bezirksversammlung als der Maßnahme sei erforderlich, um die Ermittlungs- Antragsgegnerin sei aber kein Verfassungsorgan behörden zu disziplinieren. Dem folgte der VerfGH oder anderer Beteiligter. Verfassungsorgan sei sie nicht: die Beschwerdeführerin habe in ihrer Antrags- bereits nicht, weil sie nicht in der Hamburger Lan- schrift die Möglichkeit eines Verfassungsverstoßes desverfassung konstituiert sei. Auch kämen nach der nicht hinreichend dargelegt. Es sei nicht ersichtlich, Rechtsprechung des BVerfG für eine Beteiligung an dass die Gerichte dem Gebot effektiven Rechtsschut- einem Organstreitverfahren als andere Beteiligte nur zes aus Art. 42 Abs. 5 ThürVerf nicht entsprochen solche Inhaber von Staatsgewalt in Betracht, die hätten. Die Gerichte hätten sich ausführlich mit dem nach Rang und Funktion den Verfassungsorganen Antrag der Beschwerdeführerin auseinandergesetzt. gleichstünden und daher dem inneren Verfassungs- Darüber hinaus sei nicht ersichtlich, dass der Kern- rechtskreis zuzuordnen seien. Die Bezirke hätten je- bereich persönlicher Lebensgestaltung betroffen doch keinen ihnen verfassungsrechtlich zugewiese- oder wegen der Eigenart des Beweisthemas der Ein- nen Aufgabenbereich. Die Bezirksversammlungen griff in die grundrechtlich geschützte Position unver- seien unselbständiger Teil der Behörde Bezirksamt hältnismäßig wäre. und besäßen insoweit den rechtlichen Status von Straftaten in Steuersachen waren Anlass eines Ver- Verwaltungsausschüssen, durch die in den Bezirken fahrens vor dem Bayerischen VerfGH62. Die An- wohnende, wahlberechtigte Einwohner an der Ver- tragsteller, ein Abgeordneter der Fraktion Bündnis waltung mitwirken können. Ebenso wie die Gemein- den nach Art. 28 Abs. 2 GG stünden die Bezirksver- 61 Thüringer VerfGH, Beschluss vom 09. Juli 2014 – 17/13, on- sammlungen daher nicht den Verfassungsorganen line veröffentlicht bei juris. gleich. 62 BayVerfGH, Entscheidung vom 11.09.2014 – Vf. 67-IVa-13, online veröffentlicht bei juris.

166 MIP 2015 21. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

90/Die Grünen und die Fraktion selbst, sahen sich das Steuergeheimnis nicht per se den Informationsan- durch die Ablehnung der Beantwortung kleiner An- spruch. Die Anhaltspunkte dafür, dass die Strafverfol- fragen durch die Staatsregierung in ihren Rechten gung trotz der Kenntnis der Behörden zunächst un- verletzt. Die Anfragen betrafen die Geldanlagen des terblieben oder zögerlich durchgeführt worden sei, damaligen Funktionärs des FC Bayern München Uli was grundsätzlich ein öffentliches Interesse begrün- Hoeneß in der Schweiz, die dieser nicht korrekt ver- den könne, seien zu vage, als dass sie das Persönlich- steuert hatte und wegen derer ihn das Landgericht keitsrecht des Betroffenen überwiegen könnten. München II später zu einer Freiheitsstrafe von drei- Dass man dies auch anders sehen kann, haben zwei einhalb Jahren verurteilte. Die Antragsteller wollten Richter des VerfGH in einem Sondervotum nieder- von der Staatsregierung wissen, welcher Vertreter gelegt.63 Hiernach sollen der Beantwortung der Klei- welcher bayerischen Behörde auf welchem Weg zum nen Anfrage weder das Steuergeheimnis, noch das ersten Mal Kenntnis von Geldanlagen von Uli Hoeneß allgemeine Persönlichkeitsrecht entgegenstehen. Das in der Schweiz erhielt (Frage 1) und welcher von die- Steuergeheimnis, so wird ausgeführt, schütze nicht sen diese Kenntnis bereits vor Eingang von Hoeneß` jegliches Verwaltungshandeln in Steuersachen vor Selbstanzeige bei den Behörden erlangte (Frage 2). Einblicken Dritter. Vielmehr gehe es darum zu verhin- Die Zulässigkeit des Antrags scheiterte nicht daran, dern, dass aus dem Bekanntwerden der steuerlichen dass der Landtag zwischen Antragstellung und Ent- Erfassung einer Person allgemeine Rückschlüsse auf scheidung neu gewählt worden war und der antrag- deren wirtschaftliche oder persönliche Verhältnisse stellende Abgeordnete mit der Neuwahl aus dem gezogen werden können. Bestehe diese Gefahr aus- Landtag ausschied. Wie der VerfGH in den Grün- nahmsweise nicht (mehr), etwa weil wie im vorlie- den ausführt, sei für die Beurteilung der Beteiligten- genden Fall die personenbezogenen Daten bereits öf- fähigkeit der Status zum Zeitpunkt der Antragstel- fentlich sind, komme § 30 AO nicht zur Anwendung. lung maßgeblich. Das Gericht lehnte den Antrag je- In einem anderen Verfahren entschied der Bayeri- doch als unbegründet ab. Zwar hätten Abgeordnete sche VerfGH64, dass die Staatsregierung parlamen- das Recht, sich mit Fragen an die Regierung zu wen- tarische Anfragen von SPD-Abgeordneten, die sich den; diese sei grundsätzlich zur Antwort verpflichtet. mit der Anstellung von Familienangehörigen als Mit- Die Antwortpflicht finde jedoch ihre Grenze in den arbeiter durch Regierungsmitglieder in der soge- Grundrechten Dritter. Da sich die Fragen der Abge- nannten „Verwandtenaffäre“ befassten, hätte beant- ordneten auf Geldanlagen eines deutschen Bürgers in worten müssen. Die Staatsregierung war der Mei- der Schweiz bezögen, sei der Schutzbereich des all- nung, zur Beantwortung nicht verpflichtet zu sein, gemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 100, 101 weil die Regierungsmitglieder ihre Verwandten in der Bayerischen Landesverfassung betroffen. Dieses ihrer Eigenschaft als Landtagsabgeordnete beschäf- schutzwürdige private Interesse sei mit dem Informa- tigt hätten. Es sei damit das Binnenrecht des Parla- tionsinteresse der Abgeordneten unter Berücksichti- ments betroffen, sodass nicht die Staatsregierung, gung der Bedeutung der Pflicht zur erschöpfenden sondern das Landtagsamt zuständig sei. Beantwortung parlamentarischer Anfragen für die Diese Auffassung teilte das Gericht nicht. Die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems Pflicht zur Beantwortung erstrecke sich grundsätz- gegeneinander abzuwägen. Dabei sei zu bedenken, lich auf alle Informationen, über die die Staatsregie- dass einem Geheimhaltungsinteresse auch durch Be- rung verfüge oder die sie mit zumutbarem Aufwand antwortung der Anfrage gegenüber den Fragestellern in Erfahrung bringen könne. Eine Beschränkung der ohne Veröffentlichung als Landtagsdrucksache Antwortpflicht könne sich aus der Funktion des Fra- Rechnung getragen werden könne. gerechts selbst, aber auch aus dem allgemeinen Per- Nach Auffassung des VerfGH steht das Steuerge- sönlichkeitsrecht der Betroffenen aus Art. 100, 101 heimnis einer Beantwortung der Fragen entgegen. Zu der bayerischen Landesverfassung ergeben. Werde den geheimhaltungsbedürftigen Verhältnissen zähle eine Beantwortung aus tatsächlichen oder rechtli- gem. § 30 Abs. 2 AO auch das Verwaltungsverfahren chen Gründen verweigert, müsse die Staatsregierung in Steuersachen selbst und damit erst recht für De- die Gründe für die Nichtbeantwortung nennen. tails, die für die Einleitung eines solchen maßgeblich Die Staatsregierung sei zwar nicht für Anstellungs- seien. Erfasst sei beispielsweise auch der Umstand, verhältnisse der Landtagsabgeordneten zuständig, ob und wann ein Steuerpflichtiger eine Steuererklä- gleichwohl habe die Staatsregierung die Beantwor- rung abgebe. Nichts anderes könne daher gelten, wenn Behörden auf einem anderen Weg Kenntnis von steu- 63 BayVerfGH, Entscheidung vom 11.09.2014 – Vf. 67-IVa-13, erpflichtigen Vorgängen erlangten. Zwar überwiege online veröffentlicht bei juris, Rn. 62 ff. 64 BayVerfGH, NVwZ-RR 2014, 785.

167 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2015 21. Jhrg. tung der Anfragen nicht aus diesem Grunde verwei- sätzlich auch im Hinblick auf Fragen zur Tätigkeit gern können. Die Mitglieder der Staatsregierung ge- des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz hörten regelmäßig auch dem Landtag an. Im parla- bestehe, wenn nicht berechtigte öffentliche Geheim- mentarischen Regierungssystem sei diese Personal- haltungsinteressen entgegenstünden. Verweigere die verflechtung zwischen Legislative und Exekutive üb- Staatsregierung die erbetenen Auskünfte ganz oder lich und schon wegen dieser Verknüpfung wäre teilweise, müsse sie dies bezogen auf den Einzelfall nicht nachvollziehbar, wenn zwischen Verhaltens- plausibel begründen. Im Verlauf des Organstreitver- weisen, je nachdem, ob sie in erster Linie dem Man- fahrens sei ein Nachschieben solcher Gründe nicht dat oder dem Amt zuzuordnen seien, strikt unter- möglich. Eine Ausnahme von der Begründungs- schieden würde. Hinzu komme, dass aus dem Ver- pflicht komme nur dann in Betracht, wenn die der halten im Zusammenhang mit den Regeln zur Be- Verweigerung einer Antwort zugrunde liegenden schäftigung von Familienangehörigen auch Rück- Gesichtspunkte evident seien. Auch in diesem Ver- schlüsse auf die persönliche Einstellung zum Um- fahren weist das Gericht darauf hin, dass eine Beant- gang mit öffentlichen Mitteln gezogen werden kön- wortung ohne Veröffentlichung als Landtagsdruck- nen, was wiederum Auswirkungen auf die Eignung sache in Betracht gezogen werden müsse. für ein Regierungsamt haben könne. Auch das allge- Von der Antwortpflicht der Staatsregierung umfasst meine Persönlichkeitsrecht stehe nicht entgegen. Die sind grundsätzlich auch von ihr vorgenommene Ein- Mitglieder der Staatsregierung seien in ihrer berufli- schätzungen und vertretene Meinungen. Dies gilt al- chen Sphäre berührt, insoweit müssten die betroffe- lerdings nur so weit, wie sie tatsächlich vorhanden nen Kabinettsmitglieder aber damit rechnen, die sind. Dies hat der Sächsische VerfGH66 entschie- Aufmerksamkeit des die Landesregierung kontrollie- den. Das Gericht hat den Antrag eines Landtagsab- renden Parlaments zu finden. Die betroffenen Fami- geordneten, der nach der gegenwärtigen Sicht der lienangehörigen hätten unter den gegebenen Umstän- Staatsregierung zur politischen Einschätzung be- den durch das Eingehen eines Beschäftigungsver- stimmter im Verfassungsschutzbericht 2011 nament- hältnisses ihre private Sphäre verlassen und befän- lich aufgeführter Personen gefragt hatte und sich mit den sich daher ihrerseits in einem der öffentlichen dem Antrag gegen die unterbliebene Beantwortung Kontrolle zugänglichen Bereich. richtete, als unzulässig verworfen. Der Abgeordnete Ein Mitglied des VerfGH kritisiert die Entscheidung habe eine mögliche Verletzung des Fragerechts aus in einem Sondervotum und plädiert für eine stärkere Art. 51 Abs. 1 S. 1 der sächsischen Landesverfas- Beachtung der Zuständigkeit der Staatsregierung. Es sung nicht dargetan. Aus dem Fragerecht der Abge- sei vorliegend ohne Weiteres möglich, eine Trennung ordneten folge keine Verpflichtung der Staatsregie- zwischen der Tätigkeit als Regierungsmitglied und rung, eine bislang nicht bestehende Einschätzung der als Abgeordneter vorzunehmen. Außerdem kön- vorzunehmen oder sich eine Meinung zu bilden. Sei ne es auf das mit der Frage verfolgte Ziel, etwa die das Begehren einer Anfrage hierauf gerichtet, könne persönliche Geeignetheit eines Mitglieds der Staats- die Regierung die Beantwortung ablehnen. regierung infrage zu stellen, nicht ankommen. An- dernfalls könnten Fragesteller eine Antwortpflicht Eine Gruppe des Kreistags wie auch ein Kreistagsab- der Staatsregierung weit über ihren Zuständigkeits- geordneter einer niedersächsischen Kommune kön- bereich hinaus konstruieren. nen nicht mit Erfolg im Eilverfahren gegen Kreis- tagsbeschlüsse vorgehen, mit denen in der Absicht, Überwiegend verletzt hat die Staatsregierung ihre über einen Zusammenschluss mit einer Nachbarkom- Antwortpflicht in einem dritten Verfahren vor dem mune zu verhandeln, gem. § 80 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 des Bayerischen VerfGH65. Zwei Abgeordnete und ihre niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes a. F. Fraktion stellten verschiedene parlamentarische An- (NKomVG) auf die Durchführung der Landratswahl fragen zur Tätigkeit des bayerischen Verfassungs- vorläufig verzichtet und gem. § 80 Abs. 5 S. 7 schutzes, insbesondere in Bezug auf die extrem rech- NKomVG a. F. die Amtszeit des bisherigen Landrats te Szene. Das bayerische Staatsministerium des In- verlängert wird. Das OVG Niedersachsen67 hat fest- nern verweigerte die Beantwortung mit dem Hinweis gestellt, dass es den Antragstellern an der entspre- auf die Geheimhaltungsbedürftigkeit, ein Bericht chend § 42 Abs. 2 VwGO erforderlichen Antragsbe- könne ausschließlich im Parlamentarischen Kontroll- fugnis fehlt. Bei der als verletzt gerügten Rechtsposi- gremium (PKGr) erfolgen. Der VerfGH legt dar, dass die Antwortpflicht der Staatsregierung grund- 66 Sächsischer VerfGH, Beschluss vom 22. Mai 2014 – Vf. 58-I- 13, online veröffentlicht bei juris. 65 BayVerfGH, BayVBl 2014, 464. 67 OVG Niedersachsen, NdsVBl 2014, 285.

168 MIP 2015 21. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung tion müsse es sich um ein durch das Innenrecht ein- S. 1 StVollzG nicht an die Adresse der Fraktion, geräumtes, dem antragstellenden Organ oder Organ- sondern die der Parteigeschäftsstelle gerichtet. teil zur eigenständigen Wahrnehmung zugewiesenes Wendet sich der einzige Mandatsträger einer Partei im wehrfähiges subjektives Organrecht handeln. Gehe es Gemeinderat einer anderen Fraktion zu, führt dies um die Verletzung organschaftlicher Mitwirkungs- zum Verlust der Privilegierung für die Einreichung rechte, setze die Antragsbefugnis voraus, dass ein sub- von Wahlvorschlägen nach dem bayerischen Gemeinde- jektives Organrecht des antragstellenden Organs oder und Landkreiswahlgesetz. Das VG Regensburg70 Organteils unmittelbar nachteilig betroffen werde. hat die Klage einer Partei, mit der sich diese gegen Eine Gruppe im Kreistag sei jedoch bereits nicht be- die Zurückweisung ihrer Wahlanfechtung durch den rechtigt, an Abstimmungen teilzunehmen, sodass es Wahlausschuss wendete, abgewiesen. Die Klägerin an einem möglicherweise verletzten subjektiven Recht sei entgegen Art. 24 Abs. 1 S. 4 GLKrWG seit der fehle. Auch der einzelne Kreistagsabgeordnete sei letzten Wahl nicht aufgrund eines eigenen Wahlvor- nicht möglicherweise in eigenen Rechten verletzt. Das schlags ununterbrochen bis zum 90. Tag vor dem OVG lässt offen, ob das Abstimmungsrecht auch den Wahltag vertreten gewesen und daher als neuer Wahl- Erfolgswert seiner Stimme einschließt. Denn auch vorschlagsträger anzusehen. Deshalb habe die Kläge- wenn dem so sei, wäre nach der von dem Antragstel- rin die gem. Art. 27 Abs. 1 GLKrWG notwendigen ler verfolgten Neuwahl ein Landrat an Stelle des bis- Unterstützungsunterschriften sammeln müssen, um herigen Amtsinhabers Mitglied des Kreistages, sodass zur Wahl antreten zu können, die notwendige Anzahl das Gewicht der Stimme des einzelnen Kreistagsab- aber nicht erreicht. Das Verwaltungsgericht hat auf- geordneten gleich bleibe. Ohnehin sei nicht der Land- grund der äußeren Umstände des Übertritts angenom- rat richtiger Antragsgegner im Organstreitverfahren, men, dass die Klägerin nicht durchgehend im Gemein- weil die Verantwortung für die Beschlüsse der Kreis- derat vertreten war. Maßgeblich für das Merkmal des tag trage, nicht hingegen der Antragsgegner. Vertretenseins sei, ob, gemessen an den nach außen Die Korrespondenz eines Strafgefangenen mit einer erkennbaren objektiven Umständen, der Fraktions- Parlamentsfraktion unterliegt nach Auffassung des übertritt Ausdruck eines geänderten politischen Ver- OLG Dresden68 dem Kontrollverbot des § 29 Abs. 2 haltens und nicht nur zum Schein erfolgt sei, was im StVollzG. Anders als das OLG Hamburg,69 das Frak- Allgemeinen eine Abkehr von bisherigen Positionen tionen als nicht vom Begriff der Volksvertretung und Wählerschaften verbunden mit einer Hinwendung umfasst ansah, weil es sich bei einer Fraktion um ein zu der neuen Gruppierung notwendig mache. Nicht Organ einer Volksvertretung handele. Dem ist das ausschlaggebend sei, ob der Mandatsträger förmlich OLG Dresden mit dem Argument entgegengetreten, seine Mitgliedschaft bei der (ursprünglichen) Partei bei den Fraktionen handele es sich gerade nicht um beendet habe oder der Übertritt nach den Statuten Organe des Parlaments, sondern um freiwillige Zu- der Parteien rechtlich zulässig gewesen sei. sammenschlüsse von Abgeordneten zum Zweck der Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) kann gegenseitigen Unterstützung bei der Erfüllung der sich gegenüber Auskunftsersuchen gem. § 15 Abs. 1 sich aus dem Mandat ergebenden Aufgaben, die BVerfSchG nicht darauf berufen, dass personenbe- grundsätzlich der gleichen Partei angehören und mit zogene Daten nur in einer „Sachakte“ enthalten sind, dem Zusammenschluss den Zweck verfolgen. Da eine individuelle „Personenakte“ zu dem Betroffe- Bundestagsfraktionen ihre Rechtsstellung aus dem nen aber nicht geführt wird. Geklagt hatte die Bun- freien Mandat nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ableiten, destagsabgeordnete der Partei Die Linke und Vize- sei eine Korrespondenz mit ihnen dem Überwachungs- präsidentin des Deutschen Bundestages, . und Kontrollverbot des § 29 Abs. 2 StVollzG zu un- Das VG Köln71 hat das BfV dazu verpflichtet, der terwerfen. Das Gericht war jedoch trotz der von der Klägerin Auskunft aus einer beim BfV geführten Rechtsprechung des OLG Hamburg abweichenden Sachakte und den daraus fortgeführten themenbezo- Entscheidung nicht gem. § 121 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. genen Sachakten zu erteilen. Die Behörde hatte da- Abs. 1 Nr. 3 GVG zur Vorlage der Sache zum BGH nach unterschieden, ob sich die gespeicherten Daten verpflichtet, weil die Rechtsfrage aus tatsächlichen gem. § 15 Abs. 1 BVerfSchG auf „zur Person“ des Gründen nicht entscheidungserheblich war. Der Be- Betroffenen in einer Personenakte gespeicherte Da- troffene hatte seine Post nämlich entgegen § 29 Abs. 2

68 OLG Dresden, Rpfleger 2014, 335; vorgehend LG Dresden, 70 VG Regensburg, Urteil vom 24. September 2014 – RO 3 K Beschluss vom 16.01.2014 – 6 II StVK 528/13. 14.1010, online veröffentlicht bei juris. 69 OLG Hamburg, Beschluss vom 03. März 2004 – 3 Vollz(Ws) 71 VG Köln, Urteil vom 27. März 2014 – 20 K 6717/12, online 9/04, online veröffentlicht bei juris. veröffentlicht bei juris.

169 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2015 21. Jhrg. ten beziehe oder ob es sich um Daten „über die Per- gegen das Vorgehen des Bundeswahlausschusses, der son“ des Betroffenen handele, die in Personenakten die eingereichten Unterlagen nicht als Wahlvorschlag Dritter oder in Sachakten gespeichert seien. Das VG verstand. In den Augen des BVerfG tat der Bundes- hat seine frühere Rechtsprechung, in der es die wahlausschuss dies in vertretbarer Weise, Rechts- Rechtsansicht des BfV teilte, aufgegeben und vertritt schutz sei insoweit nur über § 14 Abs. 4 EuWG bzw. nunmehr gemeinsam mit dem BVerwG72 die Auffas- im Wahlprüfungsverfahren (§ 26 EuWG) zu erreichen. sung, dass es nicht darauf ankommen könne, wie die Auch eine dritte Nichtanerkennungsbeschwerde wies Behörde ihre Akten führt. Der Gesetzgeber verwen- das BVerfG76 zurück. Der Bundeswahlausschuss de die Begriffe „zur Person“ und „über die Person“ hatte den Wahlvorschlag der „Rentner Partei synonym. Da die Behörde angekündigt hat, ihre Be- Deutschland“ wegen fehlender Unterstützerunter- obachtungspraxis gegenüber der Partei und den ihr schriften zurückgewiesen, wogegen sie Beschwerde angehörenden Abgeordneten zu ändern, würden die zum BVerfG einlegte. Erneut fehlte es für die Zuläs- Personenakten der Klägerin und anderer Abgeordne- sigkeit der Beschwerde daran, dass nicht eine Ent- ter in absehbarer Zeit gelöscht. Die Klägerin – und scheidung über das Wahlvorschlagsrecht gerügt wur- andere Abgeordnete – könnten somit zukünftig an- de. Überdies wurde auch die viertägige Beschwerde- fallende Informationen über die Speicherung ihrer frist des § 14 Abs. 4a S. 1 EuWG versäumt. personenbezogenen Daten nur noch über einen Aus- kunftsanspruch bezogen auf Sachakten erlangen. Die Europawahl 2014 war ebenfalls Anlass für ein Würde ein solcher Anspruch bezogen auf Sachakten Organstreitverfahren vor dem BVerfG77, welches prinzipiell verneint, liefe aber der Auskunftsan- von der „Allianz Graue Panther Deutschland“ (AGP) spruch faktisch ins Leere. initiiert wurde. Diese sah die Grundsätze der Wahl- rechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Partei- Jasper Prigge en aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG zum einen durch das Erfordernis der Beibringung von 5. Wahlrecht 4.000 Unterstützerunterschriften nach § 9 Abs. 5 EuWG, zum anderen durch die Fristen zur Einrei- In drei Entscheidungen hatte sich das BVerfG mit der chung der Wahlvorschläge nach § 11 Abs. 1 EuWG 2013 eingeführten „Nichtanerkennungsbeschwerde“ bzw. den Zeitpunkt für die Entscheidung über die nach § 14 Abs. 4a EuWG zu beschäftigen, der Ent- Zulassung der Wahlvorschläge verletzt. Dem folgte sprechung des bereits im Rahmen der Bundestags- das BVerfG nicht. Die Rüge des Unterschriften- wahl 2013 „erprobten“ § 18 Abs. 4a BWahlG73 für die quorums sei zumindest gem. § 64 Abs. 3 BVerfGG Wahl zum Europäischen Parlament. Beschwerde ein- verfristet, da § 9 Abs. 5 EuWG in dieser Fassung be- gereicht hatten zunächst die „Parteifreien Wähler“ reits seit 1978 bestünde. Auch sei es ständige Recht- (DPFW). Deren Wahlvorschlag wurde vom Bundes- sprechung, dass wahlrechtliche Unterschriftenquoren wahlausschuss zurückgewiesen, weil die nach § 9 sachlich gerechtfertigt sind, wenn und soweit sie den Abs. 5 S. 2 EuWG erforderlichen 4.000 Unterstützer- Wahlakt auf ernsthafte Bewerber beschränken wollen unterschriften nicht eingereicht wurden. Das und dadurch das Stimmgewicht des Wählers sichern. BVerfG74 erklärt diese Beschwerde für unzulässig. Das Verfahren nach § 14 Abs. 4a S. 1 EuWG sei nur In einem vielbeachteten und -diskutierten Urteil ver- eröffnet, soweit ein Wahlvorschlag wegen fehlender warf das BVerfG78 erneut § 2 Abs. 7 EuWG, der für Eigenschaft als Partei oder sonstige politische Verei- die Wahl zum Europäischen Parlament eine 3 %- nigung (Wahlvorschlagsrecht) abgelehnt wurde, was Hürde vorsah. Die gesetzgeberische Entscheidung eben nicht Inhalt der Beschwerde der DPFW war. für diese Sperrklausel war nötig geworden, nachdem das Gericht im Jahre 2011 die bis dahin geltende Auch die Beschwerde der „Kreusel-Partei Hude- 5 %-Hürde für verfassungswidrig erklärte.79 Das Wüsting“ (Kreusel) wurde in diesem Sinne vom BVerfG bekräftigt den dort angelegten Prüfungs- BVerfG75 für unzulässig erachtet. Diese wendete sich 76 BVerfG, Beschluss vom 01.04.2014 – 2 BvC 3/14, online 72 BVerwG, DVBl 2010, 1307. veröffentlicht bei juris. 73 S. dazu E. Sokolov, Parteienrecht im Spiegel der Rechtspre- 77 BVerfG, Beschluss vom 12.03.2014 – 2 BvE 1/14, online ver- chung, MIP 2014, S. 205. öffentlicht bei juris. 74 BVerfG, Beschluss vom 01.04.2014 – 2 BvC 1/14, online 78 BVerfG, Urteil vom 26.02.2014 – 2 BvE 2/13, 2 BvE 5/13, 2 veröffentlicht bei juris. BvE 6/13, 2 BvE 7/13, 2 BvE 8/13, in: NVwZ 2014, S. 439-450. 75 BVerfG, Beschluss vom 01.04.2014 – 2 BvC 2/14, online 79 S. dazu H. Kühr, Parteienrecht im Spiegel der Rechtspre- veröffentlicht bei juris. chung, MIP 2012, S. 155 f.

170 MIP 2015 21. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung maßstab, insoweit hätten sich die tatsächlichen und Verweis auf die nationalen Parlamente scheint den rechtlichen Verhältnisse nicht entscheidend geändert. europäischen Umständen und Besonderheiten kaum Nach diesem stellen wahlrechtliche Sperrklauseln gerecht zu werden. Zum anderen muss sich das Ver- Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit aus Art. 38 fassungsgericht fragen, wie dienlich es dem Parla- Abs. 1 GG und die Chancengleichheit der Parteien ment bei der Erfüllung dieser zumindest diskutablen dar, für deren Rechtfertigung „verfassungsrechtlich Anforderungen ist, wenn es aufgrund dieser Recht- zwingende Gründe“ erforderlich seien. Diese könn- sprechung Funktionsbeeinträchtigungen zu erfahren ten vor allem in den mit der Wahl verfolgten Zielen, hat, die daraus entstehen, dass die Bundesrepublik wie der Sicherung des Charakters der Wahl als Inte- eine Schar Splitterparteien in den parlamentarischen grationsvorgang, sowie der Sicherung der Funktions- Betrieb entsendet. Die Frage scheint für das Europäi- fähigkeit der zu wählenden Volksvertretung liegen. sche Parlament geklärt, dem Gesetzgeber die Hände In den Augen des Gerichts sei eine solche Funktions- nicht nur gebunden, sondern gekettet zu sein. Ein beeinträchtigung des Europäischen Parlaments durch Zustand, der, obgleich ein genaues Hinsehen bei Ent- den Wegfall der Sperrklausel nicht zu erwarten. Dar- scheidungen des Wahlrechts als solche mit struktu- an ändere auch der Umstand nichts, dass die europäi- rellem Kontrolldefizit80 durchaus notwendig ist, un- schen Parteien im Wahlkampf erstmalig Spitzenkan- befriedigend erscheint. Spannend bleibt hingegen die didaten für die Wahl zum Amt des Kommissionsprä- Frage, inwiefern dieses Urteil eine Ausstrahlungs- sidenten aufstellten, was zwar tatsächlich zu einer wirkung auf die Sperrklauseln der hiesigen Parla- stärkeren antagonistischen Profilierung von Regie- mente haben wird. Zwar blieben dahingehende Ar- rung und Opposition innerhalb der EU führe. Dies gumentationsversuche bei landesrechtlichen Verfah- rechtfertige indes erst dann eine Sperrklausel, wenn ren bislang erfolglos (dazu sogleich), es ist indes auf europäischer Ebene die gleiche Notwendigkeit kaum zu erwarten, dass die Bemühungen abnehmen für stabile Mehrheiten bestünde, wie dies auf natio- werden, aus diesem Urteil im Namen der Chancen- naler Ebene für die Funktionsfähigkeit einer Regie- gleichheit grundsätzliche verfassungsrechtliche Di- rung der Fall sei. Diese Beurteilung kritisiert Richter rektiven zu elaborieren. des Bundesverfassungsgerichts Müller im Rahmen Die Antragssteller einer Wahlprüfungsbeschwerde eines Sondervotums. Trotz der notwendigen strikten rügten vor dem Bayerischen VerfGH81, nach 2008 Kontrolle des Gesetzgebers im Bereich des Wahl- bereits zum zweiten Mal, das Verfahren der Sitzver- rechts, komme dem Gesetzgeber ein Gestaltungs- teilung in Hinblick auf die Parteien, die an der 5 %- spielraum zu. Mit seiner die Erforderlichkeit der Klausel des Art. 14 Abs. 4 BV gescheitert waren. Sperrklausel betreffenden Prognose als Instrument Das bestehende Prozedere nach Art. 42 Abs. 4 S. 2 zur Funktionssicherung des Parlaments bewege sich LWG sieht vor, dass die gescheiterten Wahlvorschlä- dieser innerhalb seines Spielraums und habe seine ge bei der Sitzverteilung unberücksichtigt bleiben. Entscheidung auf hinreichend plausible tatsächliche Der VerfGH kann darin indes keinen Verstoß gegen Umstände gestützt. Das Urteil des BVerfG ist, trotz die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancen- dieses Protests, tatsächlich konsequent und insofern gleichheit der Parteien sehen. Zwar seien alternative auch wenig überraschend, was sich allein darin zeigt, Verfahren denkbar, die den genannten Prinzipien dass sich das Gericht am Rande mit der Frage be- noch weitgehender Rechnung tragen würden als die schäftigen musste, ob in der Einführung der 3 %- derzeit geltende Regelung (die Antragssteller schlugen Sperrklausel nicht eine verbotene Normwiederholung eine Zuteilung von Parlamentssitzen mit nur beraten- oder ein Verstoß gegen den Grundsatz der Organ- der Stimme vor), allerdings obliege die Ausgestal- treue liegen könnte. Dies führt dazu, dass auch die tung des Wahlrechts in seinen Details dem einfachen vielfach geäußerte Kritik am Urteil von 2011 Be- Gesetzgeber, welcher vorliegend von seinem Gestal- stand hat. So vermag es durchaus problematisch er- tungsspielraum in verfassungsrechtlich nicht zu be- scheinen, dass sich das BVerfG herausnimmt, über anstandender Weise Gebrauch gemacht habe. Grund- Stellung und Funktion des Europäischen Parlaments legende Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßig- im institutionellen Gefüge der Europäischen Union keit der geltenden Sperrklausel nach Art. 14 Abs. 4 zu befinden und ihm wegen dieser Betrachtung die BV insgesamt ergäben sich auch nicht aus dem Ur- legitimatorische Kraft für eine Sperrklausel abzu- teil des BVerfG zur 3 %-Hürde bei den Wahlen zum sprechen. Dies bleibt aus zwei Gründen fragwürdig: Zum einen bleibt offen, welchem Maßstab das Euro- päische Parlament genügen muss, damit es auch in 80 S. dazu T. Streit, Entscheidungen in eigener Sache, 2006. den Augen des BVerfG ein Parlament sein darf. Der 81 Bayerischer VerfGH, Beschluss vom 10.10.2014 – Vf. 25-III- 14, online veröffentlicht bei juris.

171 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2015 21. Jhrg.

Europäischen Parlament, welches der besonderen Si- Parteimitglieder) aber nicht ersichtlich. Einer Beur- tuation auf europäischer Ebene geschuldet sei. teilung bedurfte insbesondere auch die Verwendung von elektronischen Abstimmgeräten. Zwar existiere In einem Organstreitverfahren vor dem VerfGH des keine gesetzliche Regelung bezüglich solcher Wahl- Saarlandes82 wollte der dortige Landesverband der mechanismen, allerdings habe das BVerfG84 im Zu- NPD feststellen lassen, dass der Landtag mit seiner sammenhang mit der Bundestagswahl hohe Anforde- Ablehnung eines Gesetzentwurfs, der die Einführung rungen an die Verwendung ebensolcher gestellt. Ob eines Sitzzuteilungsverfahrens nach Sainte-Laguë/ und inwieweit diese Grundsätze auf die parteiorgani- Schepers im Landtags- und Kommunalwahlrecht vor- sierte Kandidatenaufstellung zu übertragen sind, schlug, die Partei in ihren Rechten aus Art. 21 Abs. 1 wurde allerdings nicht geklärt. So wurden im Ver- GG verletzte. Hilfsweise sollte die Feststellung erge- fahren der „Grünen“ die abschließenden Entschei- hen, dass der Gesetzgeber seiner „Normbeobach- dungen per Stimmzettel getroffen, während bezüg- tungspflicht“ nicht in ausreichendem Maße nachkam lich der getroffenen „Vorentscheidungen“ dem Ge- und darin eine Rechtsverletzung lag. Den – verfah- richt keine Anhaltspunkte für Verstöße durch die rensrechtlich zumindest bemerkenswerten – Anträ- Verwendung ersichtlich seien. In diesem Zusammen- gen kam das Gericht allerdings nicht nach. Soweit hang, wie auch in der Frage der Geheimheit der Ab- die NPD die Sitzzuteilung im Landtag rüge, sei sie stimmungen im Verfahren der Kandidatenaufstel- mangels Vertretung im Landtag schon nicht antrags- lung, ergeben sich indes erörterungswürdige Frage- befugt. Ebenfalls unzulässig sei der Hauptantrag in stellungen hinsichtlich den Anforderungen, die an Bezug auf das Kommunalwahlrecht: Es bestehe kein das Verfahren zu stellen sind. So verweist der VerfGH verfassungsmäßiges, organschaftliches Recht einer auf seine bisherige Rechtsprechung, nach welcher es politischen Partei auf Verabschiedung eines Gesetz- für den Abstimmungsakt auf den Vertreterversamm- entwurfs. Jedenfalls offensichtlich unbegründet sei lungen keiner besonderen Schutzvorrichtungen zur hingegen der Hilfsantrag in Bezug auf das Verfahren Wahrung der Geheimhaltung bedürfe. Letztlich geht der Sitzzuteilung in kommunalen Vertretungskörper- das Gericht damit von geringeren Ansprüchen an die schaften. Der Landtag prüfe bereits ohne erkennbare Abstimmungsmodalitäten bei der innerparteilichen Verzögerung die Erforderlichkeit einer Änderung Kandidatenaufstellung aus, was vor allem in Bezug der betreffenden wahlrechtlichen Regelungen, die auf alternative Abstimmverfahren für die Parteien Rüge entbehre somit einer tatsächlichen Grundlage. Möglichkeiten eröffnet. Im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens hatte der Der VerfGH Rheinland-Pfalz85 hatte sich aufgrund Bayerische VerfGH83 wiederum über die Gültigkeit einer einstweiligen Anordnung und entsprechend in der Landtagswahl 2013 zu befinden, wobei der Be- der Hauptsache mit der Verfassungsmäßigkeit der schwerdeführer insbesondere das Verfahren der Neugestaltung von amtlichen Stimmzetteln für die Kandidatenaufstellung innerhalb der Partei „Die Kommunalwahlen in Rheinland-Pfalz auseinander- Grünen“ im Vorfeld der Wahl rügte. Das Gericht zusetzen. Diese sollten als Maßnahme zur Gleich- prüft infolgedessen, ob dieses demokratischen Grun- stellung von Frauen und Männern mit dem Aufdruck danforderungen entsprach. Zwar liege die Ausgestal- „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, der An- tung der Kandidatenaufstellung in den Händen der gabe des gegenwärtigen Geschlechteranteils in der Parteien, wegen ihrer Bedeutung für die Wahl müsse Vertretungskörperschaft, des Geschlechts der Be- das Verfahren aber diesem Maßstab genügen. Gerügt werber und des Geschlechteranteils der Wahlvor- wurde zunächst die Delegiertenzahl bei einer Vertre- schläge versehen werden. Der VerfGH sah durch terversammlung. Die Anzahl der Vertreter spiele an- diese Regelung den Grundsatz der Freiheit der Wahl gesichts des Demokratieprinzips dann eine Rolle, aus Art. 50 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 76 Abs. 1 RhPfVerf wenn eine funktionsgerechte Kandidatenauswahl verletzt, welcher die freie Willensbildung des Wäh- aufgrund der zu geringen Anzahl nicht mehr möglich lers ohne Zwang und Beeinflussung durch den Staat sei, mithin, wenn die in der Partei bestehenden Strö- gewährleiste. Zwar verfolge sie das legitime Ziel der mungen und Auffassungen nicht hinreichend reprä- Verwirklichung des Verfassungsauftrags aus Art. 17 sentiert seien. Dies sei im vorliegenden Fall bei einer Abs. 3 S. 2 RhPfVerf und Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG, Anzahl von 150 Delegierten (4 % der vertretenen 84 S. dazu M. Eßer, MIP 2010, S. 69 ff. 82 VerfGH Saarland, Beschluss vom 07.04.2014 – Lv 19/13, in: 85 VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 13.06.2014 – VGH LKRZ 2014, S. 255. N 14/14, VGH B 16/14 und VerfGH Rheinland-Pfalz, Einst- 83 Bayerischer VerfGH, Entscheidung vom 23.10.2014 – Vf. 20- weilige Anordnung vom 04.04.2014 – VGH A 15/14, VGH A II-14, online veröffentlicht bei juris. 17/14, online veröffentlicht bei juris.

172 MIP 2015 21. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung welches ein hohes Gut darstelle und grundsätzlich der Volkssouveränität. Das in Art. 28 Abs. 1 GG ver- eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen ankerte Homogenitätsgebot, dem die Landesverfas- zugunsten letzterer rechtfertigen könne. Allerdings sung unterworfen sei, gebiete eine Auslegung des entfalte die Gestaltung des Stimmzettels im vorliegen- Begriffs „Volk“ in Art. 66 Abs. 1 BremVerf, zumin- den Fall einen appellativen Charakter, der unzulässi- dest in der Frage wer das „Wahlvolk“ ist, die mit der gerweise auf die unbedingt zu schützende Willensbe- des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG identisch ist. Dessen Volks- tätigung des Bürgers zum Zeitpunkt des Wahlakts begriff beschränke sich nach der insoweit verbindli- einwirke. Man kann die politische Entscheidung des chen Rechtsprechung des BVerfG auf „Deutsche“ rheinland-pfälzischen Gesetzgebers durchaus als pro- i.S.d. Art. 116 Abs. 1 GG, weswegen die Erweite- gressiv goutieren. Als verfassungsrechtlicher Auftrag rung verfassungswidrig sei. Weder die Einfügung bedarf die Förderung der Gleichberechtigung von des Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG noch die stärkere Öff- Männern und Frauen der aktiven Verfolgung und tat- nung Deutschlands zur Europäischen Union begrün- sächlich wurden bei der Landtagswahl 2009 nur deten ein abweichendes Verständnis, einer erwei- 16,8 % der kommunalen Mandate von Frauen errun- ternden Verfassungsinterpretation stehe der eindeuti- gen. Ein Handlungsbedarf besteht somit ohne Zwei- ge Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers fel. Ob allerdings die Stimmzettelgestaltung die rich- entgegen. Die Erstreckung des Kommunalwahlrechts tige Maßnahme ist, um diesen Missstand zu bekämp- auf Unionsbürger zeichne allein das nach, was we- fen, ist mit dem VerfGH ernsthaft zu bezweifeln. So gen des Vorrangs des Unionrechts ohnehin gelte und müssen die notwendigen Förderungsbemühungen sei darauf beschränkt: Von einer Öffnung dieses ihre Grenzen in dem unbedingt zu schützenden Mo- Rechts für alle ausländischen Staatsangehörigen, wie ment der Stimmabgabe finden. Die Stimmabgabe als auch auf eine Erstreckung auf das Wahlrecht zu den „Grundakt demokratischer Legitimation“ bedarf der Landesparlamenten, sei gerade abgesehen worden. In Freiheit von staatlicher Beeinflussung um seine legi- einer abweichenden Meinung kritisiert Richterin timierende Wirkung auch entfalten zu können. Dabei Sackofsky diese Auslegung. Mit der Einfügung des sollte eine strenge, formale Betrachtung erfolgen: Die Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG seien die Grundlagen der Ent- Motive und Art der Beeinflussung können diese nicht scheidung des BVerfG zum Ausländerwahlrecht von rechtfertigen. Eine solche Handhabe engt den Hand- 1990 ausgehebelt worden. Es bestünden mithin keine lungsspielraum der Legislative auch nicht zu sehr ein, grundgesetzlichen Vorgaben, die den Bremischen sind doch abseits dieses empfindlichsten Bereichs des Gesetzgeber daran hinderten, das Wahlrecht in der gesamten Wahlprozesses zahlreiche Möglichkeiten vorgeschlagenen Form auszuweiten. Der Richter- denkbar, für eine stärkere Frauenbeteiligung in Kom- mehrheit ist in dieser verfassungsrechtliche Funda- munalparlamenten zu werben. Dies, so betont es mente tangierenden Frage87 allerdings zuzustimmen, auch der VerfGH Rheinland-Pfalz, ist unter Berück- ihnen gelingt in der essentiellen Frage, wer in der sichtigung der allgemeinen Grundsätze der Öffent- modernen (Zuwanderungs-)Gesellschaft „das Volk“ lichkeitsarbeit von Regierung und gesetzgebenden im Rechtssinne ist, eine dogmatisch überzeugende Lö- Körperschaften durchaus möglich und zulässig. sung. So bemühen die Richter alle erdenklichen Be- gründungsansätze für die Zulässigkeit eines Auslän- Der StGH Bremen86 hatte sich im Rahmen einer prä- derwahlrechts um schließlich, richtigerweise, an der ventiven prinzipalen Normenkontrolle nach Art. 140 Staatsangehörigkeit als rechtlichem Ausgangspunkt Abs. 1 BremVerf mit der Verfassungsmäßigkeit ei- festzuhalten, welche von ihnen als rein formales Kri- nes Gesetzentwurfs auseinanderzusetzen, der eine terium verstanden wird. Die Auffassung des Sonder- Ausweitung des Wahlrechts vorsah. Unionsbürger votums, welche mit der Einfügung des Art. 28 Abs. 1 sollten fortan das Recht haben, die Bremische Bür- S. 3 GG diesbezüglich eine Art verfassungsrechtli- gerschaft zu wählen, das Wahlrecht zu den Beiräte- che „Tabula rasa“ entstanden sieht, kann nicht über- wahlen in der Stadtgemeinde Bremen sollte gar auf zeugen, scheint sie doch Entstehungsgeschichte und Einwohner erstreckt werden, die weder die deutsche Telos der Norm in zu übergreifender Weise auszule- Staatsangehörigkeit, noch die eines Mitgliedsstaates gen. Die Brisanz der Idee des Ausländerwahlrechts der Europäischen Union besitzen. Die vorgeschlage- verbleibt, birgt sie doch einen verfassungspolitischen nen Änderungen verstoßen nach Auffassung des Ge- Reiz, der sich auch aus gewichtigen demokratietheo- richts allerdings gegen Art. 66 Abs. 1 BremVerf, der retischen Überzeugengen nährt, welche heute aktuel- inhaltlich dem Art. 20 Abs. 2 GG entsprechenden lan- ler erscheinen denn je. Gerade deswegen ist aber bei desverfassungsrechtlichen Normierung des Prinzips

86 StGH Bremen, Urteil vom 31.01.2014 – St 1/13, in: NV- 87 S. dazu M. Morlok/T. Poguntke/S. Bukow (Hrsg.): Parteien, wZ-RR 2014, S. 497-504. Demokratie und Staatsbürgerschaft, 2014.

173 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2015 21. Jhrg. der verfassungsrechtlichen Bewertung diese richter- am Wahlkampf beteiligten politischen Parteien oder liche Zurückhaltung geboten, die dem Urteil inne- Bewerbern verbiete. In seiner Funktion stelle er be- wohnt: Das Homogenitätsgebot verlangt, dass die reits nach einfachem Landesrecht eine „mit der Wahl substantielle Entscheidung über das Wahlvolk im betraute Behörde“ i.S.v. Art. 20 Abs. 3 GLKrWG Grundgesetz zu erfolgen hat, den Bundesländern dar, der eine Beeinflussung des Inhalts der Stimm- kann diesbezüglich kein Alleingang gewährt werden. rechtsausübung untersagt sei. Die Stellungnahme in Dem Diskurs über eine mögliche Verfassungsände- dem fraglichen Schreiben sei keine private Mei- rung sollte nicht mit einer verfassungsgerichtlichen nungsäußerung sondern eine solche in amtlicher Ei- Entscheidung zuvorgekommen werden, zumal mit genschaft, was sich zwar nicht aus der Funktionsbe- den PEGIDA-Demonstrationen gesellschaftliche Kon- zeichnung als Bürgermeister, aber aus den gewählten troversen über die Frage, wer denn nun „das Volk Formulierungen ergebe; ihr Inhalt sei als parteier- ist“, in diesen Tagen offener zutage treten denn je. greifende Einflussnahme zu qualifizieren. Ein Rück- griff auf die Grundsätze der zulässigen Öffentlich- Das VG Ansbach88 gab in einem bemerkenswerten keitsarbeit sei in diesem Fall ebenfalls verwehrt, da Urteil dem Antrag eines Klägers im Rahmen einer es am, in dieser „heißen Phase“ des Wahlkampfes Wahlanfechtung statt und verpflichtete das Land notwendigen, rein informierenden und wettbewerbs- Bayern zur Wiederholung der Gemeinderatswahl im neutralen Informationsgehalt der Äußerung fehle. In Markt Uehlfeld. Der Klage ging ein Streit zwischen den Augen des VG führte diese unzulässige Wahlbe- Mitgliedern der örtlichen SPD und dem Bürgermeis- einflussung zu der Möglichkeit, dass es zu einem un- ter der Gemeinde bezüglich eines geplanten Bürger- richtigen Wahlergebnis gekommen sein könnte. Da begehrens voraus. Das klagende Parteimitglied war der Kläger bei der Gemeinderatswahl zum zweiten einer der Initiatoren dieses auf ein Wasserschutzge- Listennachfolger einer SPD-Bewerberin gewählt wur- biet bezogenen Begehrens. Die Auseinandersetzung de, könne zwar keine unrichtige Sitzverteilung, wohl begann mit einem Flugblatt, durch das der Kläger aber eine unrichtige Listennachfolge zustande gekom- gemeinsam mit einem weiteren SPD-Mitglied für die men sein, was aber für eine Ungültigkeitserklärung Initiative warb und das im Briefkopf mit dem Zug nach Art. 50 Abs. 3 GLKrWG ausreiche. Es gelte „SPD Uehlfeld“ versehen war. Dies veranlasste den keine Wahrscheinlichkeitserwägungen anzustellen, ob Bürgermeister in einer von der „Eigentumsschutzge- ein Verstoß gegen Wahlvorschriften zu einer Ver- meinschaft (ESG) Uehlfeld“ verteilten „Bürgerinfor- dunkelung des Wahlergebnisses führe. Vielmehr ge- mation“ die Inhalte des SPD-Flugblatts als „Unsinn“ nüge das Bestehen der Möglichkeit einer anderen zu bezeichnen und in Hinblick auf die Gemeinderats- Reihenfolge der Listennachfolger, was bei einer un- wahl von der Wahl der dahinterstehenden Mitglieder zulässigen Wahlbeeinflussung grundsätzlich ange- abzuraten. Die Verbreitung verunglimpfe die gesam- nommen werden müsse, weswegen die Wahl für un- te SPD, was diese und ihre Kandidaten nicht ver- gültig zu erklären sei. Dieses Ergebnis vermag ange- dient hätten. Sodann verwies der CSU-Politiker dar- sichts der Geringfügigkeit der möglichen Auswir- auf, dass es „auch viele vernünftige SPD Kandida- kungen überzogen erscheinen. Allerdings ist der ge- ten“ gebe, die es verdient hätten, die Interessen ihrer richtlichen Wertung bei der Qualifikation der Aussa- Mitglieder und der Bürger zu vertreten. Der Kläger gen des Bürgermeisters zuzustimmen. Dafür bedarf legte daraufhin eine Wahlanfechtung beim Landrats- es auch keiner vertieften Auswertung der im vergan- amt ein, welches diese aber mit der Begründung zu- genen Jahr so zahlreichen Judikatur zu Fragen der rückwies, es liege keine Beeinflussung der Stimm- politischen Neutralität von Amtsträgern. Der unzu- rechtsausübung vor. Der Bürgermeister habe sich in lässige Eingriff in die Chancengleichheit und das dieser Position an die Bürger gewandt, nicht als Ge- passive Wahlrecht des Klägers erweist sich in die- meindewahlleiter; seine Äußerung stelle eine im sem Fall angesichts der Wortwahl und des Inhalts politischen Meinungskampf zulässige dar. Das VG der Äußerung als evident. Insofern wenden die Rich- folgte dieser Argumentation richtigerweise nicht und ter die zitierten Vorschriften des bayerischen Kom- erkannte in dem Ausfall des Amtsträgers eine Verlet- munalwahlrechts nur konsequent an, die keine hohe zung von Wahlvorschriften. Der Bürgermeister sei Schwelle für die Ungültigkeitserklärung aufweisen. Adressat des verfassungsrechtlichen Neutralitätsge- bots, welches eine auf Wahlbeeinflussung gerichtete, Sven Jürgensen parteiergreifende Einwirkung von Staatsorgangen als solchen zugunsten oder zu Lasten einzelner oder aller

88 VG Ansbach, Urteil vom 11.11.2014 – AN 4 K 14.01333, on- line veröffentlicht bei juris.

174 MIP 2015 21. Jhrg. Rezensionen

Rezensionen Kontroversen und argumentative Widersprüche des finalen Berichts nicht detailliert diskutiert werden Arnim, Hans Herbert von (Hrsg.): Die Bezahlung (obwohl bspw. die beiden Herausgeber in der Frage und Versorgung von Politikern und Managern, der steuerfreien Pauschale unterschiedlich votierten, Duncker & Humblot, Berlin 2014, 119 S., ISBN BT-Drs. 17/12500: 32, Fn. 124). Dabei wären gerade 978-3428144341, 35,90 €. diese Aspekte und die damit verbundenen Argumen- Schüttemeyer, Suzanne S./Schmidt-Jortzig, Edzard: te besonders relevant. In Anschluss an den Kommis- Der Wert der parlamentarischen Repräsentation sionsbericht skizziert Philipp Austermann die „Ent- – Entwicklungslinien und Perspektiven der Abgeord- wicklung der Abgeordnetenvergütung seit der Antike netenentschädigung, Nomos, Baden-Baden 2014, bis zur aktuellen Situation im Wesentlichen“. Er legt 210 S., ISBN 978-3848708857, 39 €. einen Schwerpunkt auf die Entwicklung in Deutsch- land nach 1815, vertieft so zentrale Aspekte und dis- Eine Folge der Verberuflichung von Politik sind re- kutiert bspw. die Wirkung eines Diätenverbots. Im gelmäßige Debatten über die Ausgestaltung der Ent- Ergebnis stellt der Beitrag die Notwendigkeit einer lohnung von Berufspolitikern. Zuletzt 2011 hatte der Bezahlung von Abgeordneten heraus und bilanziert, Ältestenrat des Bundestages die Einsetzung einer dass eine Abgeordnetenvergütung „nicht Ausdruck Unabhängigen Kommission beschlossen (BT-Drs. einer Selbstbedienung, sondern eine unverzichtbare 17/6291; 17/6496), die „Empfehlungen für ein Ver- Voraussetzung wirklicher Demokratie“ sei (S. 145). fahren für die künftige Anpassung der Abgeordne- Dies ist allerdings unstreitig. In der medialen und tenentschädigung und für die zukünftige Regelung wissenschaftlichen Kritik steht ja nicht das Prinzip der Altersversorgung von Abgeordneten nach Art. 48 der Abgeordnetenentschädigung insgesamt, sondern Abs. 3 GG“ (BT-Drs. 17/12500: 4) erarbeiten sollte. spezifische Teilelemente und -regelungen. Und doch Diese Empfehlungen legte die Kommission im März scheint der Selbstbedienungsvorwurf eine starke ar- 2013 vor; in diesem Zusammenhang sind die beiden gumentative Kraft zu entfalten, weshalb, so Harro Publikationen zu sehen. Semmler in seinem Beitrag, „die Abgeordneten in Der von Schüttemeyer und Schmidt-Jortzig – beide den vergangenen Jahrzehnten immer wieder versucht Mitglied der Unabhängigen Kommission – editierte haben, solche Entscheidungen auf andere Gremien Band dokumentiert den Kommissionsbericht, nicht […] zu verlagern“ (S. 148). Diese Gremien und jedoch die darauf basierende Gesetzgebung (BT-Drs. Kommissionen in der Bundesrepublik sowie deren 18/477 und 18/2500). Die Kommissionsempfehlung Vorschläge werden umfassend dargestellt. Die Tätig- (BT-Drs. 17/25000) wird im typischen Layout des keit der jüngsten Kommission – immerhin Aus- Buches abgedruckt. Dies stört zunächst nicht, führt gangspunkt des Buches – kommt allerdings zu kurz. aber dazu, dass die originalen Seitenangaben fehlen Hilfreich wäre bspw. eine pointierte Darstellung der – was die wissenschaftliche Nutzbarkeit des Ab- zentralen Kommissionsempfehlungen (und der parla- drucks erheblich reduziert. Dennoch bietet das Buch mentarischen Umsetzung). Suzanne S. Schüttemeyer durch die ergänzenden Beiträge einen Mehrwert, den und Johannes Haas knüpfen in ihrem Beitrag an die es zu betrachten gilt. Noch vor dem Kommissionsbe- Überlegung an, dass die finanzielle Ausstattung von richt steht eine Einordnung und Rechtfertigung der Mandatsträgern als Indikator für die „Wertschätzung Kommissionsarbeit durch Edzard Schmidt-Jortzig, […], die der parlamentarischen Repräsentation in ei- Vorsitzender der Unabhängigen Kommission und zu- nem Land zuteil wird“ (S. 173), verstanden werden gleich Mitherausgeber des Buches. Dieser Beitrag kann. Ihr internationaler Vergleich zeigt bspw., dass betont das Anliegen der Kommission, ein normatives die Besoldung im öffentlichen Dienst ein weit ver- Leitbild des Abgeordneten zu entwickeln. So wird breiteter Referenzrahmen für die Abgeordnetenent- die Einführung – wie auch der Kommissionsbericht lohnung ist (S. 184). Entscheidend für die Akzeptanz selbst – phasenweise zum Plädoyer für eine ange- der Abgeordnetenentlohnung sei jedoch letztlich messene Entlohnung von Abgeordneten. Im Kern mehr Transparenz und Selbstbewusstsein seitens der steht die im Buch mehrfach vertretene These, dass Parlamentarier. Daher fordern sie eine „öffentliche gerade die Abgeordnetentätigkeit nicht mit anderen und offensive Auseinandersetzung der Parlamente Berufen vergleichbar sei (zur Kritik am entwickelten mit ihrer Stellung und dem Wert parlamentarischer Leitbild von Arnim s.u.), wobei Bezüge etwa zur Repräsentation“ (S. 196). Tatsächlich deutet jedoch Professionssoziologie oder zur politikwissenschaftli- der im ersten Teil des Buches dokumentierte Vor- chen Forschung nicht hergestellt werden. Auffällig schlag der Unabhängigen Kommission, die Diäten- ist, dass im gesamten Buch kommissionsinterne steigerung nur alle vier Jahre (zu Beginn der Legisla-

175 Rezensionen MIP 2015 21. Jhrg. tur) zu beschließen und zudem die Erhöhung an heranziehen, das die Wirklichkeit „ignoriert“ (S. 49). einen Index zu binden, eher auf das Gegenteil. Eine Die tatsächliche Bedeutung des einzelnen Abgeord- ergebnisoffene, regelmäßige und öffentliche Debatte neten sei weitaus geringer als es das oft zitierte wird so durch eine technisch begründete, quasi-de- Idealbild des „freien Abgeordneten“ annehmen lasse. terministische Indexlösung ersetzt. Die Debatte um So sei jedoch letztlich „den Vorschlägen der […] die Abgeordnetenentlohnung wird so künftig ver- Kommission und dem […] jüngsten Diätengesetz mutlich vermieden. […] die theoretisch-argumentative Grundlage entzo- gen“ (S. 50). Allerdings steht Schmidt-Jortzig mit Deutlich kontroverser sind die Beiträge in dem von seinem Plädoyer nicht allein. Auch Jörn Ipsen kon- Hans Herbert von Arnim editierten Buch, das die statiert in seinem Beitrag, dass „bei den Abgeordne- Vorträge der 15. Speyerer Demokratietagung 2013 tenbezügen und den Amtsbezügen von Ministern und dokumentiert.1 Analog zu Schüttemeyer/Schmidt- Bundeskanzler […] keine Übertreibungen zu entde- Jortzig eröffnet auch hier ein (partiell ähnlicher) Bei- cken“ (S. 64) seien. Allerdings konzentriert sich Ipsen trag von Schmidt-Jortzig den Diskurs, wobei unter auf einen Vergleich der direkten Diäten mit den – aus Bezugnahme auf den Kommissionsbericht sowohl seiner Sicht ein massives „Gerechtigkeitsproblem“ eine Begründung der Abgeordnetenentschädigung ins- (S. 64) darstellenden – Bezügen von Spitzenmana- gesamt als auch die wesentlichen Regelungsvorschlä- gern. Dass nicht nur die Situation von Bundestagsab- ge dargestellt werden. Doch erneut bleiben argumen- geordneten im wissenschaftlichen wie öffentlichen tative Brüche der Kommissionsempfehlungen (S. 13) Interesse steht, zeigt insbesondere der Beitrag Heinrich ebenso unberücksichtigt wie in der Kommission Oberreuters, der sich mit dem finanziellen Status der streitige Punkte (S. 14). Ein vertiefender Blick in die bayerischen Landtagsabgeordneten befasst. Aus- „Black Box“ Expertenkommission, bzw. in die in- gangspunkt ist der „Sommer des Missvergnügens“ haltlichen Diskurse selbiger, bleibt aus. Von Arnim (S. 19), also die Debatte um die Beschäftigung von untersucht in seinem Beitrag, in welchem Verhältnis Familienangehörigen im Sommer 2013. Diese Pro- die Bezahlung bzw. Versorgung von Politikern zur blematik ist – neben einer systematischen Darstel- Besoldung des öffentlichen Dienstes steht und wo lung des Berufsbildes sowie der Abgeordnetenaus- Missstände zu beklagen sind. Zugleich geht er mit stattung in Bayern insgesamt – von wesentlicher Be- dem Kommissionsbericht und dem letztlich vom Par- deutung im Beitrag, wobei Oberreuter darauf hin- lament beschlossenen „Diätencoup“ (S. 33) erwar- weist, dass alle Probleme bereits 1999/2000 dem tungsgemäß hart ins Gericht. Dabei spricht er sich Parlamentspräsidium bekannt waren, aber erst 2013 keineswegs gegen eine angemessene Entlohnung der gelöst wurden. Ursächlich dafür ist nach seiner Ein- Abgeordneten generell aus. Er kritisiert vielmehr schätzung die machtvolle, aber informelle interfrak- einzelne Argumente und Aspekte des Berichts bzw. tionelle Arbeitsgruppe zu Fragen des Abgeordneten- der parlamentarischen Beschlussfassung. Exempla- rechts, die offenbar anderen Problemen eine größere risch zu nennen ist etwa die kurzzeitige Kopplung der Aufmerksamkeit gewidmet hat (S. 29). Im Ergebnis Diäten an die Richterbesoldung, um diese dann so- nehme Bayern damit erneut eine Sonderrolle ein: Die gleich wieder aufzuheben (bei der seiner Einschät- „Peripherie der Finanzausstattung [ist nun] weiterge- zung nach verfassungswidrigen Index-basierten Erhö- hend und restriktiver – im Bereich der Verwandtenbe- hung, S. 33).2 Positiv fällt dabei auf, dass von Arnim schäftigung übertrieben – geregelt als je zuvor“ (S. 20), auch Befunde der Parteienforschung berücksichtigt. wenngleich von Arnim in seinem Beitrag in Bayern Er arbeitet heraus, dass Schmidt-Jortzig (S. 14-18) und im Bund weiterhin eine erhebliche Überversor- und die Kommission ein Idealbild des Abgeordneten gung (bei den Altersbezügen) kritisiert (S. 39).

1 Nachfolgend werden nur ausgewählte, v.a. auf die Abgeord- Beide Bände dokumentieren – in unterschiedlicher netenentlohnung fokussierte Beiträge betrachtet. Weise – die aktuelle Debatte im Zuge der jüngsten 2 Im Bericht wird argumentiert: „Die Kommission hält aber den Expertenkommission. Sie plädieren klar für eine an- Abgeordneten in Status, Tätigkeit und Verantwortung am ehe- gemessene Bezahlung von Abgeordneten. Dieses sten mit einem Richter an einem obersten Gerichtshof des Plädoyer ist verständlich, wenn man den in den Bei- Bundes (Besoldungsgruppe R 6 samt Zulagen) für vergleich- trägen erkennbaren Verweisen auf eine vermeintlich bar“. (BT-Drs. 17/12500: 17). Zugleich wird für die künftige Entwicklung ausgeführt: „Die Abgeordnetenentschädigung zu populistische Diätendebatte folgt. Ganz offen- sollte […] der Entwicklung der Bruttomonatsverdienste der sichtlich bestand in der Debatte, insbesondere in der abhängig Beschäftigten im Bundesgebiet folgen“ (BT-Drs. Unabhängigen Kommission, der Wunsch, die grund- 17/12500: 18). Sie soll damit künftig gerade nicht der zuvor sätzliche Notwendigkeit einer angemessenen Entloh- noch als angemessene Bezugsgröße herangezogenen Richter- besoldung folgen. nung der Abgeordneten herauszustellen. Diese Not-

176 MIP 2015 21. Jhrg. Rezensionen wendigkeit steht (politik-)wissenschaftlich jedoch ten, umfangreichen Einleitung stellt Ingrid van Bie- außer Frage, dies zeigt die bereits breite Forschungs- zen das Forschungsverständnis Mairs heraus und be- literatur zur Verberuflichung von Politik in etablier- tont: „Much of his empirical work ultimately served ten Demokratien. Viel entscheidender, und hier wäre to address the big and intrinsic questions that have ein noch stärkerer Diskurs wünschenswert, sind je- an obvious normative importance for scholars of po- doch die oftmals komplexen Detailfragen jenseits litical parties and democracy, thus setting it apart der eigentlichen Diäten. Vor allem diese, dies zeigt from much of the more narrowly focused and in- insbesondere von Arnims Beitrag, stehen aus guten creasingly specialized literature that characterises Gründen weiterhin im Zentrum der Kritik. Denn die- the discipline of comparative politics today.” (S. 1) se Sonderregelungen sind dazu geeignet – viel mehr Darüber hinaus ordnet van Biezen das Werk Mairs in als die Höhe der direkten Diäten –, das Ansehen der die vergleichende Politikwissenschaft ein, stellt we- Berufspolitik zu beschädigen, wiegt doch gerade bei sentliche Argumente heraus und diskutiert die wis- diesen Sonderregelungen das Problem der – notwen- senschaftliche Kritik. So wird der Diskurs, den Mair digen – Entscheidung in eigener Sache und der man- durch seine Arbeiten vorangetrieben hat, erkennbar. gelnden Transparenz besonders schwer. Die aktuel- Lesenswert ist auch das Intellectual Portrait, das len, parlamentarisch nun beschlossenen Reglungen Stefano Bartolini und Hans Daalder ausarbeiten. Ih- zeigen dabei, dass grundlegende Veränderungen nur nen gelingt es, biografische Details mit Mairs wis- bedingt möglich bzw. gewünscht sind. Die von senschaftlicher Entwicklung zu verbinden. So bieten Schüttemeyer und Haas geforderte Transparenz wird sich spannende Einblicke in Mairs Themen und An- nicht erreicht, evidente Ungereimtheiten im Rege- liegen, in seine intellektuell-wissenschaftliche Ent- lungsgeflecht bestehen weiter und die Beschlusslage wicklung und seinen style of research. zur künftigen Diätendynamik ist eher debattenver- Der eigentliche Textteil des Buches ist in sechs un- hindernd als -anregend. Die finanzielle Ausstattung terschiedlich umfangreiche Abschnitte unterteilt. von Berufspolitikern aber wird auch künftig auf der Das Buch folgt dabei sinnvollerweise keiner chrono- wissenschaftlichen Agenda stehen müssen. Die bei- logischen, sondern einer thematischen Auswahl und den Bücher dokumentieren dabei den (fast) aktuellen bringt so Arbeiten zu Comparative Politics, Natio- Zwischenstand des Diskurses überwiegend wohlwol- nal Politics, Party Systems, Political Parties, Euro- lend und praxisnah. pean Union und (The Future of) Party Democracy Dr. Sebastian Bukow zusammen. Die insgesamt 25 Beiträge können dabei notwendigerweise nur einen Einblick in Mairs weitaus umfangreicheres Werk bieten. (Selbsterklärtes) Ziel Biezen, Ingrid van (Hrsg.): On Parties, Party Sys- der Herausgeberin ist es, neben einigen vielzitierten tems and Democracy: Selected Writings of Peter Texten auch eher selten referenzierte Werke vorzu- Mair (Englisch), ECPR Press, 2014, 666 S., ISBN stellen, um so über das Schrifttum einen Einblick in 978-1907301780, 89,95 €. Mairs Denken und Arbeiten zu bieten. Dieses Ziel wird erreicht, die thematische Breite Peter Mairs, sei- Der im August 2011 überraschend verstorbene Peter ne Relevanz für die Politikwissenschaft und sein Mair ist „undoubtedly one of the most influential Wissenschaftsverständnis sind gut erkennbar. figures in the comparative study of parties and party systems in the past quarter century“ (David Farrell). Die Entscheidung, die Breite des Werkes darzustel- In der Textsammlung „On Parties, Party Systems len, geht naturgemäß zu Lasten der Tiefe – nicht alle and Democracy” werden nun ausgewählte Arbeiten Beiträge Mairs zu einem Thema können aufgegrif- Peter Mairs erstmals in gebündelter Form publiziert. fen, nicht jeder sich daraus ergebende Diskurs in al- Das Buch ist damit nicht nur eine leserfreundliche ler Tiefe nachgezeichnet werden. Dies ist bezogen Textsammlung, sondern zugleich auch ein wissen- auf die Intention des Buches durchaus akzeptabel, schaftlicher Nachruf, der vor allem durch die Werke für die Nutzung der Beiträge für die eigene For- selbst wirkt. schung aber von Nachteil. Beispielhaft sei der – die Parteienforschung bis heute prägende – Beitrag zur Das Buch ist vor allem eine Sammlung bereits publi- Emergenz von Kartellparteien (mit Richard S. Katz zierter Arbeiten. Zudem bietet es aber auch einen in Party Politics 1995). Zwar findet sich im Buch mit Orientierungsrahmen für Peter Mairs Werk. Dies ist dem Text Party Organizations: From Civil Society Aufgabe der beiden, den eigentlichen Artikeln vor- to the State (veröffentlicht 1994 in Katz/Mair (eds.): angestellten Beiträge von Ingrid van Biezen sowie How Parties Organize: Change and Adaption in Stefano Bartolini und Hans Daalder. In der fundier-

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Party Organizations in Western Democracies, Lon- innerparteilicher Demokratie (S. 17-31), einen Haupt- don: Sage) eine frühere Arbeit zur Thematik, der le- teil, in dem das Gebot innerparteilicher Demokratie senswerte, die Kartellparteiendebatte initiierende aus dem Blickwinkel der ökonomischen Theorie der Diskurs mit Ruud Koole (Koole bzw. Katz/Mair in Politik betrachtet wird (S. 32-108), und einem Er- Party Politics 1996) fehlt jedoch (siehe aber die Ein- gebnisteil „Folgerungen“ (S. 109-148). ordnung in van Biezens Einleitung). Dies ist konzep- Die Vorstellung der rechtlichen Vorgaben für die in- tionell bedingt und Folge der sinnvollen Buchkon- nerparteiliche Demokratie in Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG zeption, weshalb dies zwar bedauerlich, aber kaum und dem PartG wird sehr knapp gehalten. Im Weite- vermeidbar ist. Ärgerlich ist jedoch, dass die Beiträ- ren wird detailliert auf Fragen der Personalauswahl in ge neu editiert wurden und dass dabei auf die Anga- den Parteien eingegangen, auch unter Heranziehung be der Seiten/-umbrüche der jeweiligen Originalver- von Gerichtsentscheidungen. Das Behandelte wirkt öffentlichungen verzichtet wurde (bzw. vermutlich dabei etwas zufällig ausgewählt. Die inhaltliche Di- verzichtet werden musste). Um die Texte in der eige- mension der Politikformierung wird ganz randstän- nen Forschungsarbeit zitieren bzw. präzise referen- dig behandelt, hier findet sich lediglich die Feststel- zieren zu können, sollten bzw. müssen auch weiter- lung, der Grundsatz der Willensbildung „von unten hin die Originalquellen herangezogen werden. Die nach oben“ sei inhaltsleer – ob dem wirklich so ist, Originalveröffentlichungen können jedoch durch die hätte man gern an Explikationen dieser Formulie- vollständigen und präzisen Quellenangaben schnell rung demonstriert gesehen. Einleuchtend ist aber der gefunden werden. Hinweis auf die realen Bedingungen demokratischer In der Summe bietet das Buch eine gelungene Zusam- Willensbildung. Wenn abschließend zu diesem ers- menstellung relevanter Werke Peter Mairs. Dass dabei ten Teil formuliert wird, das Gebot innerparteilicher einzelne, je nach Forschungsinteresse als wichtig zu Demokratie sei durch geringere Anforderungen ge- erachtende Beiträge fehlen, ist unvermeidlich – dafür kennzeichnet als das allgemeine (staatliche) Demo- ist das Werk Mairs zu umfangreich (vgl. die Biblio- kratiegebot, so scheint dies etwas vorschnell zu sein. graphie im Buch). Der Band stellt einen gelungenen Zum einen hat die innerparteiliche Demokratie ande- wissenschaftlichen Nachruf dar und bietet als Text- re Funktionserfordernisse zu beachten als die Demo- bzw. Lektüresammlung einen handlichen Einstieg in kratie im staatlichen Bereich, sie mag deswegen an- die Forschungsarbeit Peter Mairs. ders, aber nicht weniger intensiv vom Recht gefor- dert sein. Zum anderen haben staatliche Regulierun- Dr. Sebastian Bukow gen und Kontrollen die Freiheit der Parteien zu ach- ten. Diese erlaubt es den Parteien, sich zwischen un- Brettschneider, Jörg: Nutzen der ökonomischen terschiedlichen Demokratiemodellen zu entscheiden, Theorie der Politik für eine Konkretisierung des etwa stärker repräsentativ oder stärker direktdemo- Gebotes innerparteilicher Demokratie. Beschrei- kratisch. Eine solche Vielfalt mag der Demokratie ins- bung innerparteilicher Entscheidungsprozesse als gesamt durchaus zuträglich sein. Diese Freiheit der Wettbewerb eigennütziger Akteure und daraus Gestaltung bedeutet aber notwendigerweise einen folgende Regulierungsanforderungen, Beiträge Mangel an einheitlichen staatlichen Maßstäben. zur Politischen Wissenschaft Band 181, Duncker Der eigentliche Anspruch des Buches gilt der Berei- & Humblot, Berlin 2014, 171 S., ISBN 978- cherung des rechtswissenschaftlichen Diskurses um 3428144181, 74,90 €. die Beiträge der ökonomischen Theorie der Politik. Über innerparteiliche Demokratie ist viel nachge- Zentral für die Abhandlung ist das Verständnis von dacht und geschrieben worden, gerade auch in der Politik als Wettbewerb. Die Aufnahme dieses Kon- rechtswissenschaftlichen Literatur. Die Arbeit von zeptes in Wissenschaft und Rechtsprechung wird Brettschneider verspricht eine Erweiterung des übli- breit und nachweisreich nachgezeichnet. Dabei wird chen Diskussionsrahmens durch die Heranziehung zu Recht die Bedeutung einer fairen Wettbewerbs- der ökonomischen Theorie der Politik, einer Theo- ordnung für die innerparteiliche Demokratie heraus- rierichtung, welche der Demokratietheorie im Allge- gearbeitet. Die Freiheit zur Konkurrenz und die gesi- meinen wichtige Anregungen zu geben in der Lage cherte Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen wer- ist. Entsprechend gespannt ist man auf den Ertrag für den als wesentlich herausgestellt. Aus der ökonomi- das Themenfeld der innerparteilichen Demokratie. schen Theorie werden Einsichten in die Funktionen Die Arbeit gliedert sich in drei Abschnitte: eine Dar- des Wettbewerbs übernommen und im Einzelnen stellung der rechtlichen Anforderungen an das Gebot dargestellt. Besondere Bedeutung wird der Wettbe-

178 MIP 2015 21. Jhrg. Rezensionen werbsfunktion der Entdeckung von Wissen und der Auch wenn die durch den Titel der Publikation ge- Generierung von Innovationen beigemessen. weckten großen Erwartungen an einen Erkenntnisge- winn aus der ökonomischen Theorie der Politik für die Im Schlussteil soll der Ertrag der Betrachtung fixiert innerparteiliche demokratische Willensbildung nicht werden. Hier konzentriert sich die Arbeit zum einen in dieser Breite erfüllt werden, so ist es doch ein Ver- auf eine Wiederholung dessen, was anfänglich als dienst Brettschneiders, den Blick über den Tellerrand Inhalt der Forderungen des Gebots innerparteilicher hinaus gewagt und wertvolle Denkanstöße sowie Demokratie dargestellt wurde, weitgehend beschränkt nützliche Anregungen für eine weitere vertiefte Ausein- auf Fragen der Blockwahl. Darüber hinaus bleibt es andersetzung mit der Thematik beigesteuert zu haben. leider bei sehr allgemein gehaltenen Postulaten. Die dogmatische Ausbeute bleibt damit leider begrenzt. Prof. Dr. Martin Morlok Das Buch ist aus einem im Rahmen des Promotions- verfahrens gehaltenen Vortrag an der Bucerius Law School hervorgegangen. Es wird seinem Anspruch Dittberner, Jürgen: Die FDP: von der Regierung gerecht, auf die Bedeutung der ökonomischen Theo- in die außerparlamentarische Opposition – und rie der Politik auch für die rechtliche Demokratie- zurück?, Logos-Verlag, Berlin 2014, 135 S., ISBN theorie hinzuweisen, insbesondere auf die Zentralität 978-3832536466, 19,80 €. des Wettbewerbskonzepts auch für die innerparteili- Wuchtvoller Nachruf auf die FDP. che Demokratie. Richtigerweise wird klar die Unter- schiedlichkeit des ökonomischen und des politischen Jürgen Dittberner ist ein intimer Kenner der deutschen Wettbewerbs betont. Allerdings bleibt auch vieles an FDP. Nicht nur als Politikwissenschaftler, sondern der Oberfläche. Die Vielzahl der aufgeführten Wett- selbst als Berliner FDP-Politiker beschäftigt er sich bewerbsfunktionen ist nicht trennscharf voneinander in seinem Leben mit ihrem Wohl und Wehe. Von abgehoben, Einzelfragen der innerparteilichen De- ihm stammt unter anderem das Standwerk zur FDP3 mokratie werden überwiegend nicht behandelt. Der sowie aus dem Jahre 2008 „Sozialer Liberalismus. Vorschlag, bei parteiinternen Wahlen ein geheimes Ein Plädoyer“. Letzteres ist bemerkenswert, weil es Wahlvorschlagsrecht einzuführen, überzeugt wenig. zu Zeiten Guido Westerwelles eine programmatisch Anlass für diesen Vorschlag ist die Vermutung, Ge- breitere und andere Verankerung der FDP einforderte. genkandidaturen zu Vorschlägen der Parteiführung Umso gespannter war der Rezensent, was Dittberner könnten zu einem Reputationsverlust führen oder gar an Analyse und Zukunftsoptionen für die FDP zu zur Abstempelung als Querulant. Wenn dem so ist, präsentieren hat. Immerhin hat Oskar Niedermayer so birgt ein anonymes Wahlvorschlagsrecht aber die (2015: 131) konstatiert, dass 27% der Deutschen Gefahr, dass man missliebige innerparteiliche Kon- sich eine liberale Partei im deutschen Parteiensystem kurrenten durch einen anonymen Vorschlag in eben wünschen – nur würde sie diese Rolle nicht von der diese Gefahr bringt. Auch wird ein Wahlvorschlags- FDP verkörpert sehen.4 Jürgen Dittberner wäre also recht nicht funktionieren ohne die Bereitschaft der jemand, der intellektuell in der Lage wäre, den Weg Nominierten, tatsächlich zu kandidieren. Schließlich der FDP zurück zur Verkörperung dieser notwendigen muss ein anonymes Wahlvorschlagsverfahren immer liberalen Partei im deutschen Parteiensystem aufzu- dann scheitern, wenn eine Kandidatur von einer zeigen. Vorgelegt hat Jürgen Dittberner hingegen Mindestzahl von Unterstützern abhängig gemacht einen wuchtvollen Nachruf, eine dichte Beschrei- wird, was ja (trotz der Regelung im Bundeswahlge- bung des jahrelangen ideologischen und programma- setz für die Kandidatenaufstellung bei staatlichen tischen Niederganges der FDP. Der Bucheinband Wahlen) ein vernünftiges Instrument der Rationali- verkörpert symbolisch die Kernthese Dittberners, in- sierung des innerparteilichen demokratischen Pro- dem dort die Zahl 18% mit dem Wahlergebnis 4,8% zesses sein kann. Überhaupt ist der Arbeit eine ge- bei der Bundestagswahl 2013 in einem Zahlenwirr- wisse Wirklichkeitsferne zu konstatieren. Dies gilt warr zusammengeführt wird. Das Projekt 18% von vor allem für die Klage darüber, dass innerparteili- Möllemann und Westerwelle ist es dann auch, das che Wahlen durch Absprachen beeinflusst seien Dittberner als den Sargnagel der programmatischen (S. 61 ff.). Dies verkennt, dass Mehrheiten herge- 3 Jürgen Dittberner 2010: Die FDP. Geschichte, Organisation, stellt werden müssen, nicht zuletzt durch Kompro- Perspektiven. Eine Einführung. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer misse. Die Perhorreszierung von „Tauschgeschäften“ VS Verlag. wirkt merkwürdig unpolitisch für eine ökonomische 4 Siehe auch die Besprechung in diesen MIP von: Oskar Nie- Theorie der Politik. dermayer 2015: Die Parteien zur Bundestagswahl 2013. Wies- baden: Springer VS Verlag.

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Fundierung der FDP sieht, die zur realweltlichen mentationsfiguren schlicht dem klassischen Libera- 4,8% geführt habe (S. 73-79). Er sieht den Liberalis- lismus und haben wenig mit dem gemein, was inter- mus als Gegenideologie zum Populismus, das Pro- national unter dem Label „Sozialer Liberalismus“, jekt 18 aber als Populismus. Gewünscht hätte sich wie z.B. bei der D66 in den Niederlanden oder Radi- Dittberner vielmehr eine „Verankerung des kriti- kale Venstre in Dänemark, firmiert.7 Diese Zentrie- schen Rationalismus als Ausgangspunkt“ der FDP- rung auf die rein deutsche Auseinandersetzung in- Politik in den vergangenen Jahren (S. 33) – also eine nerhalb des politisch organisierten Liberalismus in- Fundierung der FDP-Programmatik im Sinne der spiriert auch die folgenden Kapitel. Ein zunächst Philosophie Poppers5 und seiner Befürwortung der nicht weiter erklärter Bruch in der Argumentation er- offenen Gesellschaft. Dittberner interpretiert diesen folgt mit dem zweiten Kapitel. Hier fasst Dittberner Ansatz weiter, indem er die Fokussierung auf nüch- die historischen Wurzeln der politischen Bewegung tern-emotionslose Sachpolitik als Kern liberaler Pro- des Liberalismus in Deutschland zusammen. Das grammatik verortet. Bei Letzterem ist der Rezensent dritte Kapitel setzt diese historische Betrachtung skeptisch, war und ist Politik doch immer schon fort. Hier identifiziert er die zentralen Wegmarken „Markt der Interessen und Forum der Leidenschaf- der FDP-Gründung und ihrer Bedeutung in der Bun- ten“6 gewesen. Popper selbst hat seine Philosophie desrepublik. Die Wurzel des Niedergangs der FDP leidenschaftlich bis hin zum Radikalismus verteidigt, verortet er in der sozial-liberalen Koalitionskrise und Dittberners neues kleines Büchlein lebt offen- Ende der 1970er Jahre. Im Grunde habe die sozial- kundig auch von der Emotion. Der Beginn seines liberale Koalition schon vor der Wahl 1980 kein ge- ersten Kapitels zu „2009 und 2013: Triumph und meinsames Programm gehabt. Der damalige Wahl- Niederlage“ ist in atemlosen Spiegelstrichen ver- kampf sei ein rein strategischer Stimmenwahlkampf fasst. Dittberners Empörung und das ehrliche Entset- gewesen. Entsprechend geschwächt sei die FDP in zen über das Ausscheiden der FDP aus dem Bundes- die christlich-liberale Koalition unter Kohl gestol- tag kann der Leser geradezu spüren. Ebenso spürbar pert und zur Partei der „zweiten Wahl“ – nämlich für ist Dittberners Abneigung gegen die Amtsführung Koalitionswähler ohne liberale Grundüberzeugung – des ehemaligen Vorsitzenden Guido Westerwelle, verkommen (S. 65-67). Das Schlusskapitel analysiert der die FDP zur reinen „Steuersenkungspartei“ ge- dann die Stellung der FDP im aktuellen Parteiensys- formt habe (S. 8). Diese Emotion macht durchaus tem und stellt die Frage, ob die FDP zurückkomme. den literarischen Reiz dieses Werkes aus. Dittberner Dittberners eigene Antwort lautet: „Aus politikwis- beschreibt kurz Absturz und die unglückliche Regie- senschaftlicher Sicht ist Skepsis geboten: Die These rungszeit, um schließlich noch im ersten Kapitel auf lautet, die FDP schafft es nicht…“ (S. 93). Wie knapp acht Seiten die „Chancen der Freiheit“ zu dis- schlimm muss es wirklich um die FDP stehen, wenn kutieren. Dittberner sieht den philosophischen Libe- sogar ein Jürgen Dittberner nicht mehr die Überzeu- ralismus immer noch als geeignete Grundlage für die gung und Kraft aufbringt, der FDP eine Zukunft im FDP-Programmatik und fordert eine Anpassung der deutschen Parteiensystem zu bescheinigen? Viel- alten Ideen an die neuen Herausforderungen. An die- leicht ist es aber auch einfach nur ein literarischer ser Stelle verharrt die Argumentation. Dittberner gibt Kunstgriff Dittberners. Jeder Satz des Büchleins at- hier selbst und auch später im Buch keinen Ausblick met den Wunsch Dittberners nach einem Fortbestand darauf, wie diese Anpassung aussehen könnte. Er zi- der FDP aus. Das Buch schließt mit einer Frage nach tiert noch nicht einmal sich selbst, wo er doch mit einer Antithese zu seiner These – und mit der Hoff- seinem Werk „Sozialer Liberalismus. Ein Plädoyer“ nung auf eine Synthese (S. 93). Und so gibt auch der hellsichtig die globale Auseinandersetzung mit dem Bruch zwischen den Kapiteln eins und zwei im aufkommenden Fundamentalismus als Kernaufgabe Nachhinein einen Sinn: Dittberner zeigt hier die un- des Liberalismus identifiziert hat. Unglücklicherweise terschiedlichen Strömungen des in Deutschland verkauft Dittberner gemäß der innerparteilichen Aus- politisch organisierten Liberalismus auf – und, dass einandersetzungen seine Programmatik als „Sozialen der Liberalismus dann Erfolg hatte, wenn Wirt- Liberalismus“ – dabei entspringen viele seiner Argu- schaftsliberale und gesellschaftlich liberale Kräfte

5 Karl Popper 1992: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 7 Fleck, Hans Georg: In Search of a Liberal Identity: Transition Band 1: Der Zauber Platons. 7. Auflage. Tübingen: UTB. J. C. to Democracy, Liberal Heritage, and Liberal Parties in Eastern B. Mohr. Europe, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung (18) 2006, 6 Guy Kirsch und Klaus Machscheidt 1998: Staatsmann, Demago- S. 203-238, und Simon Tobias Franzmann: Die liberale Par- ge, Amtsinhaber. Eine psychologische Ergänzung der ökono- teifamilie, in: Uwe Jun (Hrsg.) 2012: Parteienfamilien – Iden- mischen Theorie der Politik. 2. Auflage. Göttingen: Vanden- titätsbestimmend oder nur noch Etikett? Opladen: Verlag Bar- hoeck & Ruprecht. bara Budrich, S. 155-184.

180 MIP 2015 21. Jhrg. Rezensionen vereint waren. Dittberner vermengt den politisch or- Spenden als eine bedeutende Einnahmequelle politi- ganisierten Liberalismus als Bewegung mit dem scher Parteien sind hinlänglich bekannt und rücken klassischen Liberalismus als normative politische als Parteispendenskandale regelmäßig in den Fokus Philosophie. Dies ist zugleich Schwäche und Stärke der Öffentlichkeit. Der medialen Aufmerksamkeit des kleinen Büchleins. Eine Schwäche insofern, als eher entzogen und daher in der Öffentlichkeit meist dass somit das Werk den Pulverdampf vergangener unbekannt sind die Direktspenden an Politiker. Das innerparteilicher Schlachten verbreitet. Es fehlt eine Recht der politischen Spenden intensiv zu beleuch- internationale Einordnung, ein Zurücktreten vom Ta- ten und aus seinem Schattendasein heraus zu führen, gesgeschäft, eine tiefere und detaillierte Begrün- ist Ziel der Dissertation von Sebastian Helmes. dung, warum die programmatische Verengung den Die Arbeit gliedert sich folgerichtig in zwei Teile. endgültigen Untergang der FDP bedeuten könnte. Im Der erste Teil widmet sich dem Recht der Parteis- Grunde beklagt Dittberner etwas, was schon Giovanni penden und der zweite Teil dem Recht der Abgeord- Sartori als Liberismus verspottete und keine typisch netenspenden. Im ersten Teil legt der Autor zunächst deutsche Entwicklung ist: Die Verengung liberaler die verfassungsrechtliche Grundlage für die rechtli- Parteiprogrammatik auf Wirtschaftsliberalismus, die che Beurteilung der Parteispenden. Bestimmend sei- durch die Verengung im Kern ein Programm des Anti- en drei grundrechtliche Aspekte. Im Gegensatz zur Liberalismus sei.8 Das Problem des deutschen staatlichen Parteienfinanzierung, die einer absoluten politisch organisierten Liberalismus stellt sich aus Obergrenze unterliegt, seien Spenden an politische internationaler Perspektive dann so dar, dass in den Parteien in unbegrenzter Höhe möglich. Helmes innerparteilichen Auseinandersetzungen der FDP der spricht daher von einer Spendenannahmefreiheit als Kern liberaler politischer Grundüberzeugung für Äu- erstem Aspekt. Die Spendenannahmefreiheit sei inte- ßerungen eines Minderheitenflügels gehalten wird. graler Bestandteil der Parteienfinanzierungsfreiheit, Somit wurden intellektuelle Anregungen aus inner- die sich aus der verfassungsrechtlichen Position der parteilichen Erwägungen in der Vergangenheit abge- Staatsferne ergebe (S. 117). Als zwingenden Gegen- blockt. Die große Stärke des Buchs ist hingegen die pol zur Spendenannahmefreiheit identifiziert die Ar- stellenweise brillante, gelegentlich normativ gefärbte, beit das Transparenzgebot nach Art. 21 Abs. 1 S. 4 präzise Einordnung der historischen Entwicklung der GG. Die einfachgesetzliche Umsetzung des Transpa- FDP und ihrer Vorgänger. Das Buch enthält unge- renzgebotes im Parteiengesetz genügt nach der Un- wöhnlicherweise ein Glossar zu wichtigen Personen tersuchung von Helmes den verfassungsrechtlichen und Kernbegriffen der FDP-Geschichte. Ferner fin- Vorgaben. So seien Spenden, von denen die Gefahr det sich hier eine vollständige Auflistung der Bundes- einer Einflussnahme ausgehe, offenzulegen. Verstöße parteitage, der Mitgliederentwicklung und der Partei- gegen die Offenlegungspflicht oder sonstige Falsch- vorsitzenden wie Generalsekretäre. Zusammen mit angaben im Zusammenhang mit Spenden in Rechen- dem leicht zugänglichen Sprachstil ist das Büchlein schaftsberichten werden mit Strafzahlungspflichten für ein breites Publikum geeignet, informativ und zu Lasten der Parteien sowie mit der Strafbarkeit der spannend zu lesen. Dieses Buch sei jedem Freund für die Partei handelnden Personen geahndet. Die und Gegner der FDP als Lektüre empfohlen. Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige die- Dr. Simon Tobias Franzmann ne letztlich ebenfalls dem Transparenzgebot. Als dritten Aspekt führt Helmes verfassungsrechtliche Inkompatibilitäten an. Hierunter versteht er die Ein- Helmes, Sebastian: Spenden an politische Parteien schränkungen, die bei der Annahme von Spenden ver- und an Abgeordnete des Deutschen Bundestages, fassungsrechtlich zu berücksichtigen seien (Spenden- Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1265, annahmeverbote). Die Spendenannahmefreiheit finde Duncker & Humblot, Berlin 2014, 374 S., ISBN ihre Grenze mithin in den Spendenannahmeverboten, 978-3428142408, 79,90 €. die in der Praxis jedoch teilweise schwierig anzu- Mit dem Buch von Sebastian Helmes liegt nunmehr wenden und abzugrenzen seien. Bei der Auslegung eine umfangreiche rechtswissenschaftliche Disserta- der Spendenannahmeverbote sei zu prüfen, welcher tion zum Problemkreis der politischen Spenden vor9. entgegenstehende verfassungsrechtliche Belang das Verbot rechtfertigt. Ein schonender Ausgleich sei 8 Insbesondere Kapitel 13 aus: Giovanni Sartori 2006: Demo- zwischen der Parteienfinanzierungsfreiheit und den kratietheorie. 3. Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buch- entgegenstehenden Verfassungspositionen herzustel- gesellschaft. len (S. 160 f.). Im Folgenden untersucht Helmes die 9 S. auch die Rezension von F. Decker, Wo beginnt der Eigen- nutz? Die Spenden in der Politik, in FAZ vom 24.02.2015, S. 6. Spendenannahmeverbote des § 25 Abs. 2 PartG aus-

181 Rezensionen MIP 2015 21. Jhrg. führlich. Dabei fehlt es allerdings an der Darstellung und Nebentätigkeiten der Abgeordneten inzwischen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Die mit weitreichende Offenlegungspflichten bestünden, gel- der Spendenannahmefreiheit konkret kollidierenden te das nicht im gleichen Maße für die Abgeordneten- Verfassungsrechte bleiben im Dunkeln. spenden, deren Herkunft erst ab einer Höhe von 5000 € pro Spender angezeigt werden müssen. Zu- Im anschließenden zweiten Teil der Arbeit wendet dem bemängelt Helmes die fehlende Verwendungs- sich Helmes dem Recht der Abgeordnetenspenden zu. kontrolle. Da durch Direktspenden an Abgeordnete Auch hier erfolgt zunächst eine verfassungsrechtliche im Zweifel mehr Einfluss auf politische Entschei- Grundlegung anhand der Rechte und Pflichten der dungen genommen werden kann als durch Spenden Abgeordneten. Sie bilden den Rahmen, innerhalb an Parteien, mache diese Ungleichbehandlung kei- dessen die Annahme von und der Umgang mit direk- nen Sinn. Nur kurz angerissen wird das Thema der ten Zuwendungen an Abgeordnete geregelt werden Abgeordnetenbestechung; deren Strafbarkeit weise kann. Abgeordnete sind nach einfachgesetzlicher Aus- in der Bundesrepublik Deutschland nach verbreiteter gestaltung grundsätzlich berechtigt Spenden anzuneh- rechtswissenschaftlicher und politischer Auffassung men. Auch wenn dies nicht ausdrücklich gesetzlich einen zu engen Anwendungsbereich auf. Hier schlägt geregelt sei, so werde es aus § 44 b Nr. 3 AbgG deut- Helmes vor, die im Strafgesetzbuch bisher äußerst lich, wonach Verhaltensregeln, die der Bundestag eng gefassten Tatbestandsmerkmale an die Vorgaben sich zu geben hat, Bestimmungen zu Spenden enthal- der UN-Konvention gegen Korruption anzupassen. ten müssen. Damit gehe das Abgeordnetengesetz er- sichtlich von der Zulässigkeit von Abgeordneten- Im Hinblick auf die Parteispenden kommt Helmes zu spenden aus (S. 269 f.). Wie aber stehen nun diese dem Schluss, dass das Parteiengesetz die verfassungs- Abgeordnetenspenden zur Regelung der Nebenein- rechtlichen Vorgaben überwiegend kohärent umsetzt. künfte von Abgeordneten? Der Verfasser hält als Zum einen sei der Spendenbegriff des Parteiengeset- Grundregelung fest, dass nur gesetzlich vorgesehene zes so weit gefasst, dass neben den finanziellen Zu- Zuwendungen zulässig sind. Die Zulässigkeit von wendungen auch andere geldwerte Leistungen dar- Spenden an Abgeordnete bezeichnet Helmes als unter fallen. Zum anderen handele es sich bei Zu- Rückausnahme von der grundsätzlich nach § 44 wendungen, die eine Gegenleistung der Partei vor- Abs. 2 AbgG vorgesehenen Unzulässigkeit von Zu- aussetzen, ausdrücklich nicht um Spenden. Dies gilt wendungen (S. 290 ff.). Spenden bleiben danach von etwa für die Sponsoringmaßnahmen der politischen dem Verbot, Zuwendungen für die Mandatsaus- Parteien. Diese werden in der heutigen Praxis des übung anzunehmen, unberührt. Dass ein Abgeordne- Parteiengesetzes als Einnahmen aus Veranstaltungen ter Spenden annehmen darf, befreie ihn aber nicht behandelt und damit den strengen Vorschriften des von der Beachtung bestimmter Pflichten im Umgang Parteispendenrechtes entzogen. Weil sie eine ver- mit den Spenden. Hier gelte auch das verfassungs- steckte Form der Parteienfinanzierung darstellen, mit rechtliche Transparenzgebot. denen der Sponsor genauso eigennützige Interessen verfolgen kann wie ein Parteispender, hält Helmes Danach wendet sich Helmes dem Verhältnis von Partei- eine Angleichung der Veröffentlichungspflichten und Abgeordnetenspenden zu (S. 309 ff.). Der Ver- und Annahmeverbote für dringend erforderlich. fasser stellt hierzu zwei konträre Meinungen gegen- über: eine Abgeordnetenspende unterliegt als „mittel- Auf verfassungsrechtliche Bedenken stoßen dagegen bare Parteispende“ dem Parteienrecht oder eine Ab- die ebenfalls regelmäßig wiederkehrenden Vorschläge, geordnetenspende ist gänzlich eigenständig. Im Er- Spendenobergrenzen einzuführen und Spenden juris- gebnis spricht Helmes sich gegen die Erstreckung tischer Personen generell zu verbieten. Dies würde des Parteispendenrechts auf die Abgeordnetenspende gerade die Parteien ungerechtfertigt benachteiligen, aus. Die Abgrenzung der Abgeordneten- von der die von solchen Spenden stark abhängen. Keine Parteispende richte sich ausschließlich nach dem grundsätzlichen Einwände hat Helmes im Zusam- Spenderwillen, im Zweifelsfall sei der konkludente menhang mit der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Spenderwille zu ermitteln (S. 327). Spenden. Dies begründet er damit, dass Großspenden und Spenden juristischer Personen von der steuerli- Die Untersuchung von Helmes mündet in einer Reihe chen Abzugsfähigkeit von vorneherein ausgenommen von Verbesserungsvorschlägen. Dabei macht der Ver- seien. Die Obergrenze von 3300 € für einkommens- fasser bei den Abgeordnetenspenden einen größeren steuerlich berücksichtigungsfähige Parteispenden Handlungsbedarf aus als bei den Parteispenden, weil stellt allerdings aus Sicht von Helmes eine nicht zu die Transparenzvorschriften hier nur unzureichend rechtfertigende Benachteiligung der einkommens- ausgestaltet seien. Während für die Nebeneinkünfte

182 MIP 2015 21. Jhrg. Rezensionen schwächeren Bürger dar, die die Chancengleichheit einer rechtlichen Grauzone befinden. Ihre daraus re- sowohl der Parteien als auch der Bürger beeinträchtige. sultierende große Entscheidungsfreiheit wollen sie Helmes fordert, diese durch eine progressionsunab- auf der einen Seite dazu nutzen, möglichst hohe Bei- hängige steuerrechtliche Begünstigung zu ersetzen. träge zu erzielen (2011 waren es immerhin 58 Mio. Euro), andererseits dürfen sie keine unzulässigen Wer sich im Bereich der Partei- und Abgeordneten- Forderungen an die Mandatsträger stellen (S. 15 f.). spenden einen Überblick verschaffen will, wird mit der Arbeit von Sebastian Helmes gut bedient. Die Das erste Kapitel ist den rechtlichen und satzungs- mit 374 Seiten sehr umfangreiche Arbeit gibt eine mäßigen Grundlagen der Mandatsträgerbeiträge ge- umfassende Darstellung der Materie mit umfangrei- widmet (S. 19-70). Es ist vor allem verdienstvoll, dass chen und vertiefenden Hinweisen. An der einen oder die wenig transparente Gestaltung der Mandatsträger- anderen Stelle hätte man sich als informierter Leser beiträge durch die Parteien aufbereitet wird (S. 48- eine kritische Stellungnahme gewünscht. Auch sind 70). Meines Erachtens etwas verfrüht wird bereits die von Helmes gezogenen Schlussfolgerungen nicht auf die Bewertung der Beiträge durch Wissenschaft immer widerspruchsfrei. So spricht er sich unter dem und Rechtsprechung eingegangen (S. 36-48). Nicht verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt des Transpa- ganz widerspruchsfrei schreibt Kühr, in der Recht- renzgebotes für eine Absenkung der Parteispenden- sprechung hätten „Mandatsträgerbeiträge originär kei- publizitätspflicht auf 1000 bzw. 3300 € aus, hat aber ne Beachtung gefunden“ (S. 43); drei Seiten später zugleich festgestellt, dass dem Transparenzgebot heißt es aber, das Bundesverfassungsgericht habe mit eine Informationsflut nicht zuträglich ist. Gerade im klaren Ausführungen das Verständnis von Mandats- Parteispendenteil arbeitet Helmes gut begründet trägerbeiträgen als verfassungsrechtlich zulässige Ein- kritische Punkte heraus, stellt diese in seinem Fazit nahmeart der Parteien geprägt. Das zweite Kapitel ist aber leider nicht mehr dar, sondern vermittelt den der Legitimität der Mandatsträgerbeiträge gewidmet Eindruck, die derzeitige Regelung sei in allen Punk- (S. 71-104). Kühr arbeitet heraus, dass sich Parteien ten geglückt. Das man an der einen oder anderen aus ökonomischen Gründen um Mandatsträgerbeiträ- Stelle durchaus auch anderer Meinung sein kann, be- ge bemühen müssen. Sie seien daher legitim (S. 104). fördert und bereichert im Ergebnis nur die parteien- Das trifft zu. rechtliche Diskussion. Insgesamt ein Buch, das dem Es folgt das dritte Kapitel: Die Legalität der Man- Bereich der Partei- und Abgeordnetenspenden neue datsträgerbeiträge, also der Kern der Arbeit, findet Aufmerksamkeit verleihen wird. sich auf den Seiten 105-262. Im Anschluss an einen Dr. Heike Merten knappen Überblick über die verfassungsrechtliche Bedeutung der Mandatsträgerbeiträge (S. 105-114) geht Kühr ausführlich auf die Beiträge von Abgeord- Kühr, Hana: Legalität und Legitimität von Man- neten ein (S. 114-164). Nicht sehr ergiebig erscheint datsträgerbeiträgen, Nomos, Baden-Baden 2014, die Beschäftigung mit Mandatstheorien (S. 120-133); 318 S., ISBN 978-3848712052, 64 €. beispielsweise findet sich zum „basisimperativen Die Politikfinanzierung ist noch in keiner Studie um- Mandat“ keine Fundstelle (S. 122). Es wird sodann fassend analysiert worden. Es gibt aber eine Fülle von dargelegt, dass die selbstbestimmte Zahlung von Untersuchungen zu Einzelproblemen. Dazu gehört die Beiträgen verfassungsrechtlich unproblematisch sei, Dissertation von Kühr. Sie beschäftigt sich mit der in der Praxis die Mandatsträger jedoch zur Zahlung Legalität und Legitimität der Beiträge aller Mandats- verpflichtet seien (S. 133-144). Trotzdem steht Art. 38 träger. Überschneidungen gibt es mit der Arbeit von Abs. 1 S. 2 GG der Zahlung nicht entgegen, wie Kühr Lontzek, der in seiner 2012 erschienenen Dissertation zutreffend herausarbeitet (S. 144). Das Hinderungs- die Sonderbeiträge ausschließlich von Abgeordneten verbot aus Art. 48 Abs. 2 GG sieht Kühr nicht als an Partei und Fraktion behandelt (S. 36). Das nach verletzt an, weil die Parteien nicht die Mandatsträger wie vor in der Rechts- und Politikwissenschaft um- behindern, sondern sich selbst finanzieren wollen, strittene Thema lässt genug Raum für eine weitere gut wenn sie Beiträge einfordern (S. 144-146). Der zen- lesbare und sorgfältig redigierte Arbeit. Darum han- trale verfassungsrechtliche Maßstab, um die Beiträge delt es sich bei dem Werk von Kühr. zu bewerten, ist das Gebot der angemessenen Abge- ordnetenentschädigung gemäß Art. 48 Abs. 3 S. 1 GG. Die Einleitung macht Appetit auf die weitere Lektüre. Kühr stellt klar, dass er nicht verletzt ist (S. 147- Zutreffend wird dort ausgeführt, dass sich die Parteien 164). Art. 48 Abs. 3 S. 1 GG ist nur an den Staat mit ihrer Einnahmequelle „Mandatsträgerbeiträge“ in adressiert. Wenn der Staat den Mandatsträgern eine

183 Rezensionen MIP 2015 21. Jhrg. angemessene Entschädigung bezahlt hat, können sie Kumpf, Tobias: Die Kontrolle der Nachrichten- darüber verfügen, auch indem sie Beiträge an Parteien dienste des Bundes. Zur Reform der Kontrolle der zahlen. Die folgende Untersuchung der Beiträge der Nachrichtendienste und zur Kontrolle der nach- übrigen Mandatsträger hätte noch um einige Beleg- richtendienstlichen Beobachtung von Abgeordne- stellen angereichert werden können (S. 164-187). ten des Bundestages, Verlag Dr. Kovač, Hamburg Kühr ordnet sodann die Mandatsträgerbeiträge in das 2014, 380 S., ISBN 978-3830078739, 99,80 €. System der staatlichen Parteienfinanzierung ein (S. 188-220). Leitgedanke dabei ist, dass die Beiträge Als sich am 4. November 2011 zwei Männer in ei- private Leistungen seien, keine staatlichen (S. 190). nem Wohnmobil in Eisenach das Leben nahmen, lös- Der letzte große Punkt dieses Kapitels ist den Man- ten sie ein gesellschaftliches Erdbeben aus. Die Ent- datsträgerbeiträgen und dem Gebot der innerparteili- deckung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ chen Demokratie gewidmet (S. 220-262). Kühr be- (NSU) führte der bundesdeutschen Öffentlichkeit tont, dass die Mandatsträgerbeiträge dem Gebot der drastisch vor Augen, was sie zu lange nicht sehen innerparteilichen Demokratie aus Art. 21 Abs. 1 S. 3 wollte und teilweise aktiv verleugnete. Neonazis ver- GG gerecht werden müssten. Daraus folge zum Bei- übten Morde und Sprengstoffanschläge, weitgehend spiel, dass sie nicht individuell festgelegt werden dür- unbehelligt von den Strafverfolgungsbehörden und fen. Außerdem ergebe sich aus Art. 21 Abs. 1 S. 3 unterstützt von der rechten Szene, während die Er- GG das Gebot der Mitgliedergleichbehandlung. Die mittlungen nach den Tätern sich auf die Angehöri- Pflicht, Beiträge zu zahlen, dürfe daher nicht will- gen der Opfer und ihr Umfeld konzentrierten. kürlich ausgestaltet sein. Kühr führt zu Recht an, Auch wenn viele Zusammenhänge noch ungeklärt Mandatsträger und einfache Parteimitglieder würden sind und auch die parlamentarischen Untersuchungs- durch die Zahlungsverpflichtung zwar ungleich be- ausschüsse des Bundestages und verschiedener handelt; dies sei aber dadurch zu rechtfertigen, dass Landtage den Nebel nur teilweise haben lichten kön- Mandatsträger regelmäßig einen Vorteil aus der Par- nen, stellt sich angesichts der Verwicklungen der teimitgliedschaft gezogen hätten. deutschen Geheimdienste in die Geschehnisse um Im letzten Kapitel plädiert Kühr für eine gesetzliche den NSU die dringende Frage, welche rechtlichen Regelung der Beiträge (S. 263-300). Sie hält diese Konsequenzen hieraus zu ziehen sind. Tobias Kumpf sogar für wesentlich im Sinn der Wesentlichkeits- leistet mit dem von ihm vorgelegten Werk einen Bei- theorie des Bundesverfassungsgerichts und sieht da- trag zur Diskussion um die Reform der Kontrolle der durch den Gesetzgebungsauftrag des Art. 21 Abs. 3 Nachrichtendienste des Bundes. Dabei geht er auch GG verstärkt (S. 275). Damit wird meines Erachtens auf die Kontrolle der Beobachtung von Abgeordne- ein Detail der Politikfinanzierung zu stark gewichtet. ten des Bundestages ein. Es ist wenig überraschend, dass sich Kühr gegen ein Der Autor arbeitet zunächst in der gebotenen Kürze Verbot der Mandatsträgerbeiträge ausspricht (S. 293- die Aufgaben und Befugnisse der drei Nachrichten- 294). Vorschläge, die Beiträge zu regeln, bilden fol- dienste des Bundes – Bundesamt für Verfassungs- gerichtig den Schluss der Arbeit (S. 295-300). Sie schutz (BfV), Bundesnachrichtendienst (BND) und bleiben abstrakt; die Arbeit hätte an dieser Stelle Militärischer Abschirmdienst (MAD) – heraus, wobei durch konkrete Formulierungen oder gar durch einen er auch Bezug nimmt auf die historischen Lehren aus Gesetzentwurf an Bedeutung für die Praxis noch mehr der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus gewinnen können. für die geheimdienstliche Tätigkeit in einer freiheit- Kühr schließt mit einem prägnanten Fazit (S. 301- lichen und gleichwohl wehrhaften Demokratie. Er 306). Das Fazit der Rezension lautet: Die Arbeit hat kommt zu der Auffassung, das Trennungsgebot von einen hohen Informationswert und wird deshalb in Polizei und Nachrichtendiensten bilde das Gegenge- der weiteren Diskussion der Politikfinanzierung eine wicht zu Defiziten des Rechtsschutzes. Es folge aus gewichtige Rolle spielen. dem Rechtsstaatsprinzip und dem Schutz der Grund- rechte und genieße daher Verfassungsrang. Der Au- Prof. Dr. Sven Hölscheidt tor lehnt eine Abschaffung der Nachrichtendienste ab. Eine solche sei zwar verfassungsrechtlich zuläs- sig, es sei allerdings zweifelhaft, ob die Mittel des Straf- und Strafprozessrechts ausreichten, um Bedro- hungslagen, insbesondere im terroristischen Bereich, wirksam zu begegnen. Sodann stellt er den Begriff der Kontrolle und seine Voraussetzungen dar.

184 MIP 2015 21. Jhrg. Rezensionen

Im zweiten Teil der Arbeit geht der Autor auf die be- sentwurf abschließt. Unter anderem schlägt er vor, stehenden Kontrollinstrumente ein. Er beschäftigt die Selbstinformationsrechte nach § 5 PKGrG, die sich ausführlich mit dem Parlamentarischen Kon- bisher dem Gremium als Ganzem zukommen, als trollgremium (PKGr), das er als im „Zentrum der Rechte der jeweiligen Mitglieder auszugestalten. Er Kontrolle“ stehend, aber reformbedürftig bezeichnet. plädiert dafür, der Opposition die Möglichkeit zu ge- Die durch das Vertrauensgremium nach § 10a BHO ben, bei Streitigkeiten zwischen dem PKGr und der und des Bundesrechnungshofs ausgeübte Finanzkon- Regierung eine gerichtliche Entscheidung durch trolle, die die Kontrolle PKGr um haushälterisches einen Antrag vor dem BVerfG herbeizuführen. Hier- Spezialwissen ergänzen, bewertet er als „kontrollver- für soll das Beschlussquorum des § 14 PKGrG, das stärkenden Faktor“. Es folgt eine Darstellung der bisher bei zwei Dritteln der Mitglieder des PKGr parlamentarischen Kontrolle durch den Deutschen liegt, auf ein Drittel gesenkt werden. Gleichsam soll Bundestag, wobei sowohl die Fragerechte der Abge- auch das Quorum für die Aufhebung der nach § 10 ordneten als auch die Befugnisse parlamentarischer PKGrG geltenden Geheimhaltungspflicht abgesenkt Gremien wie des Petitionsausschusses und der Parla- werden, um der Opposition den Zugang zu einer öf- mentarischen Untersuchungsausschüsse und der fentlichen Bewertung bestimmter Vorgänge zu er- G10-Kommission näher beleuchtet werden. Intensiv leichtern. Zur Verbesserung der „Whistleblower-Re- setzt sich der Autor mit der Kontrolle der Geheim- gelung“ des § 8 PKGrG schlägt er unter anderem dienste durch die Bürger und die Medien auseinan- vor, Mitarbeitern der Nachrichtendienste künftig der. Er stellt heraus, dass der einzelne Bürger zu- auch anonyme Eingaben an das Gremium zu ermög- meist nichts über ihn betreffende Maßnahmen erfah- lichen. Den Forderungen, dem PKGr ein Recht zur re, weil sie sich verdeckt abspielten und in der Praxis Umwandlung in einen Untersuchungsausschuss zu nur selten eine Mitteilung erfolge. In der Konse- gewähren und einen Beauftragten für die Nachrich- quenz sei der Bürger, so das Fazit, von einer Kon- tendienste nach dem Vorbild des Wehrbeauftragten trolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit weitgehend einzuführen, steht der Autor ablehnend gegenüber ausgeschlossen. Der besondere Schutz der Medien und begründet dies mit der Notwendigkeit einer Stär- gegenüber nachrichtendienstlichen Maßnahmen sei kung des Parlaments als Kontrollinstanz. Für eine für die Erfüllung ihrer Kontrollfunktion konstitutiv, Delegation des Untersuchungsausschussrechts auf so dass ihm eine überragende Bedeutung zukomme. das PKGr bestehe kein Bedürfnis. Abschließend gibt der Autor einen Überblick über Ein besonderes Augenmerk legt der Autor auf die die Kontrolle durch die Exekutive und die Judikati- Kontrolle der Nachrichtendienste bei der Beobach- ve, wobei letztere nur eine geringe Kontrollwirkung tung von Abgeordneten. Er legt dar, dass bereits die entfalte, weil die fehlende Kenntnis des Bürgers von Gefahr faktischer Nachteile für die Abgeordnetentä- nachrichtendienstlichen Maßnahmen Rechtsschutz tigkeit das freie Mandat beeinträchtigt. Eine Beob- faktisch verhindere. Wo kein Kläger, da kein Richter. achtung von Abgeordneten mit nachrichtendienstli- Ausgehend von diesem Befund, identifiziert der Au- chen Mitteln stelle eine solche Gefahr dar, wobei tor verschiedene institutionelle Kontrolldefizite und eine solche Maßnahme nach Auffassung des Autors entwickelt für diese Reformvorschläge. Dabei führt er nicht per se unzulässig sein soll. Erforderlich sei aber, aus, das PKGr sei letztlich nur ein „blinder Wächter“, die Abgeordnetentätigkeit einem besonderen gesetzli- weil es im Wesentlichen auf Informationen der Re- chen Schutz zu unterstellen. Hierzu zählt er die unver- gierung angewiesen sei und es an einer Kompetenz zügliche Unterrichtung des PKGr bei Maßnahmen ge- des Gremiums zur Feststellung des Ist-Zustands feh- gen Abgeordnete und eine nachträgliche Mitteilung an le, zumal die Regierung ihrer Unterrichtungspflicht den Betroffenen bei ihrer Beendigung. Gegenüber in der Vergangenheit oftmals nur unzureichend Mitgliedern des PKGr soll der Einsatz nachrichten- nachgekommen sei. Die Kontrollwirksamkeit werde dienstlicher Mittel in jedem Fall unzulässig sein. zudem durch die zu geringen personellen Ressourcen Kumpf gibt mit seinem Werk einen umfassenden des Gremiums vermindert. Dadurch, dass die Aus- Überblick über die rechtlichen Grundlagen der übung der Kontrollbefugnisse des PKGr beinahe im- Nachrichtendienste des Bundes, bestehende Kon- mer den Mehrheitsbeschluss seiner Mitglieder vor- trollmechanismen und deren Defizite. Seine Vor- aussetze, sei die Opposition zugunsten der Funkti- schläge zur Reform des Rechts der Nachrichten- onsfähigkeit der Geheimdienste faktisch kaltgestellt. dienste sind lesens- und bedenkenswert. Der Autor Sodann erarbeitet der Autor unterschiedliche Re- begreift die Nachrichtendienste als für die wehrhafte formvorschläge, die er mit einem konkreten Gesetze- Demokratie notwendige Institutionen, auch wenn

185 Rezensionen MIP 2015 21. Jhrg. seiner Auffassung nach ihre Einrichtung verfas- Dem Buch liegt eine von Horst Dreier in Würzburg sungsrechtlich nicht geboten ist. Die juristische Be- betreute Dissertation zugrunde. Es entfaltet sich in wertung der Kontrolldefizite ist gut nachvollziehbar sechs Teilen: Nach einer Darstellung von Grund- und legt besonderen Wert auf eine Balance zwischen lagen der Mehrheitsentscheidung und begrifflichen der Effektivität der Geheimdienste und dem Schutz Erklärungen geht es im zweiten Teil breit um die Er- der freiheitlichen Demokratie. Jedem, der sich scheinungsformen der Mehrheitsentscheidung im grundsätzlich mit den juristischen Aspekten der Ge- Grundgesetz. Entsprechendes, etwas knapper, wird heimdienstkontrolle befassen will, dem sei dieses geleistet für die Landesverfassungen (Teil 3). Der auch sprachlich gelungene Buch empfohlen. vierte Teil stellt die Mehrheitsentscheidungen in Bund und Ländern einander vergleichend gegenüber. Für den besonders interessierten Leser wäre im histo- Ergebnisse werden in den beiden letzten Teilen fest- rischen Teil ein Hinweis auf die Nähe der Nachrich- gehalten, zum einen in einer Darstellung der Variati- tendienste zum Nationalsozialismus in ihrer Grün- onsbreite, die es für Entscheidungen unter dem Prin- dungszeit hilfreich gewesen, nicht zuletzt weil der zip „Mehrheit entscheidet“ geben kann, und zum an- Autor selbst in der Einleitung die Vorgänge im Zu- dern in einem „zusammenfassenden Überblick“, in sammenhang mit dem NSU anspricht. Auch wäre dem abgehoben wird auf unterschiedliche Mehr- eine vertiefende Bewertung der aktuellen Debatte heitserfordernisse, auf das Problem der maßgebli- über die grundlegende rechtspolitische Bewertung chen Bezugsgröße, auf Herabstufung von Mehrheits- der Geheimdienste in diesem Zusammenhang nutz- erfordernissen in Folgewahlgängen und Ähnliches. bringend gewesen. Denn ob die Geheimdienste zum Schutz der freiheitlichen Demokratie tatsächlich not- Den Schwerpunkt bildet die Nachzeichnung der wendig sind, ist angesichts der Geschehnisse um den Mehrheitsentscheidungen, die das Grundgesetz und NSU fraglich. Die nur knapp dargelegte Auffassung die weiteren einschlägigen Normen der Verfassungs- des Autors, die Forderung nach einer Abschaffung organe des Bundes kennen, also Geschäftsordnun- der Geheimdienste sei abzulehnen, erscheint jeden- gen, oder einschlägige Gesetze wie das Gesetz über falls aus heutiger Perspektive diskussionswürdiger die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse oder denn je. das Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Das Buch ver- folgt entsprechend seiner Zielsetzung die Mehrheits- Jasper Prigge entscheidungen in aller Breite. So behandelt es vom Gesetzesbeschluss des Bundestages über die Wahl des Bundeskanzlers und die Einsetzung eines Unter- Magsaam, Niels: Mehrheit entscheidet – Ausge- suchungsausschusses bis zu Entscheidungen wie die staltung und Anwendung des Majoritätsprinzips Anrufung des Vermittlungsausschusses, die Wahl im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, und die Abwahl des Bundestagspräsidenten bis hin Duncker & Humblot, Berlin 2014, 638 S., ISBN zur Einsetzung von Ermittlungsbeauftragten in einem 978-3428142071, 99,90 €. Untersuchungsausschuss und der Beschlussfassung Über das Mehrheitsprinzip ist viel und gründlich im gemeinsamen Ausschuss. Entsprechend werden nachgedacht worden. Dabei stehen insbesondere minutiös die Entscheidungsvorschriften für Bundes- Funktionen und Voraussetzungen dieser Entschei- rat, Bundesverfassungsgericht, Bundesversammlung dungspraxis im Vordergrund. Das vorliegende Werk und Bundesregierung nachgezeichnet. Auch die Mi- verzichtet ausdrücklich darauf, Grundlagen und nisterpräsidentenkonferenz fehlt nicht, bei der aller- Leistungen des Mehrheitsprinzips in den Blick zu dings überrascht, dass sie auf der Ebene des Bundes nehmen, angesichts der bestehenden Vorarbeiten und nicht derjenigen der Länder behandelt wird. Im eine sinnvolle Einschränkung. Stattdessen interes- den Ländern gewidmeten Teil dienen die Vorschrif- siert sich Magsaam für die Wirklichkeit der Mehr- ten Bayerns als Referenzpunkt, auf welchen dann die heitsentscheidung im Verfassungsrecht Deutsch- Vorschriften in den anderen Ländern bezogen wer- lands, mit „Wirklichkeit“ ist hier gemeint die rechtli- den. Nach der Darstellung der Entscheidungsregeln chen Ausformungen, die die Mehrheitsentscheidung wird jeweils die dazu geführte Diskussion dargestellt in den Verfassungen von Bund und Ländern und den und mit einer eigenen Stellungnahme abgeschlossen. daran anschließenden Ausführungsgesetzen und Ge- Das Buch gewinnt damit beinahe enzyklopädischen schäftsordnungen der Verfassungsorgane gefunden Charakter, man mag es fast als Handbuch der Mehr- hat. Diese Art von Rechtsempirie bringt eine nützli- heitsentscheidung in der Bundesrepublik Deutsch- che Grundlage für alle Auseinandersetzungen mit land bezeichnen. Das in ihm verfolgte Streben nach Mehrheitsentscheidungen. Vollständigkeit führt zu einer gewissen Breite, die

186 MIP 2015 21. Jhrg. Rezensionen bei ähnlichen Punkten nicht immer frei von Wieder- Mehrheitsverhältnisse gegenüber dem Plenum umzu- holungen ist. Auch finden sich schöne Zitate zur kehren, wirklich sinnvoll ist. Legitimatorische Fra- Mehrheitsentscheidung wiederholt. Unter dem Ziel gen einmal ausgeklammert, übersieht dieser Vor- der möglichsten Vollständigkeit wurden auch die di- schlag die Möglichkeit der Mehrheitsenquete, also rektdemokratischen Verfahren nach Grundgesetz und den Fall, dass eine parlamentarische Mehrheit einen den Landesverfassungen einbezogen, auch jeweils in Untersuchungsausschuss einsetzt, der darauf zielt, allen Einzelheiten, bis hin zu den einzelnen Gestal- einen vermuteten Missstand aufzuklären, für den die tungsmöglichkeiten nach Art. 29 GG und Art. 118 Opposition oder Teile der Opposition politisch ver- und 118a GG. Selbst die Entscheidungsfindung über antwortlich sind. Die hinreichende Ausstattung der eine das Grundgesetz ablösende Verfassung nach Minderheit mit wirksamen Aufklärungsrechten, eben Art. 146 GG wird in den Blick genommen, muss an- auch als Minderheitsrechte, dürfte vorzugswürdig gesichts dafür bestehender Normen allerdings eher sein. Solche kleineren Einwände bleiben aber durch- allgemein und spekulativ bleiben. aus randständig. Magsaam hat eine Arbeit vorgelegt, zu der man immer dann gerne greifen wird, wenn Der Ertrag dieser aufwendigen Beschäftigung mit man mit einem Problem einer bestimmten Art von dem Mehrheitsprinzip wird in den Teilen 4, 5 und 6 Mehrheitsentscheidung konfrontiert ist. festgehalten. Zunächst werden die das gleiche Pro- blem regelnden Vorschriften in Bund und Ländern Prof. Dr. Martin Morlok einander gegenübergestellt. Das führt zu einem Blick auf die praktizierten (und damit auch die möglichen) Gestaltungsmöglichkeiten, etwa bei der Verfassungs- Niedermayer, Oskar (Hrsg): Die Parteien nach der änderung. Hier ist besonders interessant, wie Verfas- Bundestagswahl 2013, Springer Fachmedien, Wies- sungsänderungen auf dem Wege der Volksgesetzge- baden 2015, 258 S., ISBN 978-3658028510, 34,99 €. bung modelliert sein können. Im Blick auf dafür not- wendige Mindestbeteiligungsquoren teilt Magsaam Analyse und Einordnung der Bundestagswahl. nicht eine hierzu bestehende Skepsis gegenüber zu Zu jeder Bundestagswahl erscheint mittlerweile eine niedrigen Quoten. Bei Wahlen durch Verfassungsor- Fülle von Sammelbänden, so auch zur letzten Bun- gane ist besonders hervorzuheben die fast durchgän- destagswahl 2013: im Auftrag der Deutschen Gesell- gige Existenz von Ersatzverfahren, wenn ein Amt schaft für Wahlforschung erstellte Analysen des Wäh- mit der ursprünglich vorgesehenen – regelmäßig ab- lerverhaltens10; einen umfangreichen und bis hin zur soluten – Mehrheit nicht besetzt werden kann. Ein Politikfeldanalyse thematisch sehr breiten Band un- allgemeines Ergebnis der Untersuchung liegt in der ter Herausgeberschaft von Eckhard Jesse und Roland Erkenntnis der Ausgestaltungsfähigkeit, Ausgestal- Sturm11; einen von Karl-Rudolf Korte herausgegebe- tungsbedürftigkeit und bei beiden der Variationsbrei- nen Band, der neben Wahl- und Parteienforschung te, welche es für Entscheidungsregelungen gibt, die auch Aspekte der Kommunikations- und Regierungs- dem Mehrheitsprinzip verpflichtet sind. Welche ge- forschung berücksichtigt12; ein Special Issue der Zeit- naue Regelung angezeigt ist, hänge von verschiede- schrift German Politics mit starkem Fokus auf spezi- nen Kontextfaktoren wie auch Zielen, die mit der fischen Politikfeldern13; sowie für das nicht deutsch- Entscheidung verfolgt werden, ab. Als maßgebliche sprachige Publikum unter der Herausgeberschaft von Instrumente werden die für das Zustandekommen ei- Gabriele d’Ottavio und Thomas Saalfeld14. Je nach nes Beschlusses oder für eine erfolgreiche Wahl er- forderlichen Mehrheitsquoren und die gewählte Be- 10 Rüder Schmitt-Beck, Hans Rattinger, Sigrid Roßteutscher, zugsgröße identifiziert. Als eine Art Gesamtergebnis Bernhard Weßels,Christof Wolf (Hrsg.) 2014: Zwischen Frag- mentierung und Konzentration: Die Bundestagswahl 2013. wird festgehalten, dass es bei der rechtlichen Rege- Baden-Baden: Nomos. lung von Mehrheitsentscheidungen ein diskretio- 11 Eckhard Jesse und Roland Sturm (Hrsg.) 2014: Bilanz der näres Element von erheblichem Gewicht gebe, auch Bundestagswahl 2013: Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen. wenn man die für eine solche Regelung maßgebli- Baden-Baden: Nomos. chen Gesichtspunkte in den Blick nehme. 12 Karl-Rudolf Korte (Hrsg.) 2015: Die Bundestagswahl 2013: Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regie- Die Studie von Magsaam bringt Vieles, bisweilen rungsforschung. Wiesbaden: Springer VS Verlag. fragt sich der Leser, ob nicht allzu Vieles. Über die 13 Special Issue der Zeitschrift German Politics Vol 23 (4) 2014: eine oder andere Wertung kann (selbstverständlich) The Merkel Government and the German Election of 2013. gestritten werden. So ist zu bezweifeln, ob der Vor- 14 Gabriele D’Ottavio und Thomas Saalfeld (Hrsg.) 2015: Ger- schlag, in einem Untersuchungsausschuss seien die many After the 2013 Elections. Breaking the Mould of Post- Unification Politics? Farnhem and Burlington: Ashgate.

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Interessenschwerpunkt wird der Leser den einen Merkel perfekt. Der Kern der christdemokratischen oder anderen Band bevorzugen. Wer aber an Partei- Werte sei dabei keinesfalls angetastet worden und enforschung und allgemein an der Entwicklung deut- entsprechend könne auch nicht von einer Sozialde- scher Parteien interessiert ist, der wird an dem von mokratisierung gesprochen werden (S. 38-39). Pro- Oskar Niedermayer herausgegebenen Band „Die Par- blematischer sei aber, dass die Union zunehmend teien nach der Bundestagswahl 2013“ nicht vorbei- ihre klassischen Verbindungen zu Verbänden und kommen. Für die Qualität steht der Herausgeber gesellschaftlichen Akteuren und somit ihre traditio- selbst. Als langjähriger Sprecher des Arbeitskreises nellen Seismographen verlöre, die nicht vollständig Parteienforschung und Herausgeber des Handbuchs durch Mittel der zentral durchgeführten Demoskopie zur Parteienforschung15 ist Oskar Niedermayer die zu ersetzen seien (S. 33f). Das anschließende Kapitel Autorität auf dem Gebiet der Parteienforschung in von Spier und von Alemann zur SPD ist weniger auf Deutschland. Der Herausgeber selbst ordnet zu Be- die organisatorischen Veränderungen und Rahmen- ginn die Entwicklung des deutschen Parteiensystems bedingungen hin orientiert. Auf Basis von Umfrage- ein. Niedermayer konstatiert angesichts des elektora- daten vor allem der Forschungsgruppe Wahlen ana- len Erstarkens von Union und SPD sowie der Schwä- lysieren sie Kandidateneffekte und Wahlkampf. Der che von Grünen, LINKE und FDP eine Rückkehr zur Mitgliederentscheid zum Koalitionsvertrag wird lei- Zweiparteiendominanz (S. 12). Das Ende der selbigen der nur kurz angerissen und nicht ausführlich disku- hatte Niedermayer selbst noch nach der Wahl 2009 tiert. Das Kapitel zur CSU von Michael Weigl wid- ausgerufen. Niedermayer scheut somit die kritische met sich wiederum sehr stark der innerparteilichen Auseinandersetzung mit sich selbst nicht. Grundsätz- Re-Organisation der CSU unter . Es liche Strukturveränderungen sieht Niedermayer aber gibt einen fast vollständigen Überblick zu der bayri- bei inhaltlichen Verschiebungen im Sozialstaatskon- schen Befindlichkeit, verliert dabei aber gelegentlich flikt (S. 17) sowie bei der Aufweichung der beste- den Bezug zur Bundesebene aus dem Auge. Als Fall- henden Segmentierung und Koalitionsblockbildung studie zur Erneuerung einer Partei ist das Kapitel (S. 21). In den weiteren Kapiteln werden alle Partei- aber auch für Nicht-Bayern lesenswert. Eine kriti- en mit einem Wähleranteil von über 2% sowie in ei- sche Analyse der Partei „Die LINKE“ haben Gero nem Zusatzkapitel von Eckhard Jesse die kleinen Neugebauer und Richard Stöss erstellt. Sie vertreten Parteien einzeln abgehandelt. So ergibt sich ein voll- die Auffassung, dass die LINKE ihren Zenit aus ständiges Bild der Entwicklung der deutschen Partei- mehreren Gründen überschritten habe. Zum einen enlandschaft von der Union bis hin zu den Piraten treten weniger junge Menschen ein als Alte sterben, und Kleinstparteien. Ein bemerkenswert sachkundig was dazu führt, dass die organisatorische Abdeckung und analytisch präzises Kapitel zur CDU haben Udo der Fläche in Ostdeutschland künftig nicht mehr Zolleis und Josef Schmid vorgelegt. Sie beschreiben möglich sei. Die LINKE werde also in absehbarer die Zentralisierung der Macht innerhalb der CDU Zeit ihrer größten Stärke beraubt (S. 165). Zum ande- unter Merkel zu einem Kanzlerwahlverein. Dessen ren blieben programmatische und kulturelle Differen- Macht sei aber wiederum dadurch eingeschränkt, zen zwischen verschiedenen Flügeln sowie Ost und dass die Landesverbände ebenfalls eine ähnliche West weiterhin bestehen (S. 167-169). Schließlich Funktion ausüben und zentral für die Rekrutierung sei die programmatische Lücke auf der Sozialstaats- der politischen Nachwuchseliten seien (S. 31). Eine dimension durch die Mindestlohnkampagne der SPD Kanzlerwahlvereinsvorsitzende müsse daher vor al- nicht mehr so groß wie noch unter Schröder (S. 170). lem eines können: Moderieren. Entsprechend füge Das Kapitel zu den Grünen von Lothar Probst lässt sich Merkels Handhabung des Vorsitzendenamtes in den Rezensenten etwas ratlos zurück. Eine kritische die Tradition und Notwendigkeiten der Union seit Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Grünen Adenauer und Kohl (S. 32). Ferner sei vieles von Partei jenseits der Konstatierung, dass es eine Ab- dem, was häufig als vermeintliche „Sozialdemokrati- wärtsbewegung gab, findet nicht statt. Bestehende sierung“ diskutiert werde, keine Abkehr von, sondern Flügelstreitigkeiten finden überhaupt keine Erwäh- eine Fortsetzung klassischer christdemokratischer nung. Als gelungen können aber wiederum die unter Politik seit Kohl. Für die Union sei immer Themen- Beteiligung von Oskar Niedermayer entstandenen management und Agenda-Setting entscheidender ge- Detailkapitel zu einzelnen Parteien angesehen wer- wesen als programmatische Erneuerung. Genau die- den. Niedermayer analysiert den Niedergang der se strategisch-taktischen Erwägungen beherrsche FDP ebenso scharfsinnig wie den Aufstieg der AfD. Zur FDP trägt er eine analytisch dichte Beschreibung 15 Oskar Niedermayer (Hrsg.) 2013: Handbuch Parteienforschung. ihres Niedergangs bei. Mehrere zentrale Ursachen Wiesbaden: VS Verlag.

188 MIP 2015 21. Jhrg. Rezensionen identifiziert Niedermayer. Zum ersten seien Union gefunden hat. Jesse schlägt die Einführung einer Ne- und FDP programmatisch nicht mehr die Traumpart- benstimme vor bei Beibehaltung der 5%-Hürde, aber ner, die sie 2009 dachten zu sein (S. 108). Die christ- Abschaffung der Grundmandatsklausel. Er kritisiert lich-liberale Koalition sei eine verspätete gewesen: Hans-Herbert von Arnim, der einerseits die Prozent- 2005 hätte sie eine klar an „marktfreiheitlichen Prin- hürde abschaffen wolle, zugleich aber de-facto höhe- zipien“ orientierte Agenda gehabt, die es aber 2009 re Hürden mit einem relativen Mehrheitswahlsystem nicht mehr gab. Durch die Mövenpickspende sowie schaffen wolle (S. 254-255). Mit der Nebenstimme später durch eine Abkehr von der radikalen Ableh- könnten die Wähler ihren Erstpräferierten ihre erste nung des Mindestlohns hatte die FDP ferner ihre Hauptstimme geben. Falls diese Partei nicht ins Par- Kompetenzwerte in den Bereichen der Wirtschafts- lament einzöge, würde die Nebenstimme gewertet und Steuerpolitik eingebüßt (S. 109). Die Querelen werden. Auch wenn der Rezensent in seinen Details um die wechselnden Parteivorsitzenden sowie Guido nicht von diesem Vorschlag vollkommen überzeugt Westerwelles Entscheidung, statt des Finanzressorts ist, zeigt auch dieses Kapitel eine besondere Stärke das Außenministerium zu übernehmen, hätte ihr üb- dieses Bandes zur Bundestagswahl: Er bietet einen riges getan. Ein Hoffnungsschimmer für die FDP be- vollständigen Überblick zur Entwicklung der deut- stünde derzeit vor allem darin, dass 27% der deut- schen Parteien und er ordnet diese Befunde in größe- schen Bevölkerung davon überzeugt seien, dass re Entwicklungszusammenhänge und Debatten ein. Deutschland eine liberale Partei brauche. Nur zwei- Auf Grund der guten Lesbarkeit vieler Kapitel sowie felten die meisten Befragten daran, dass die FDP der Reduzierung umfangreicher Wahlstatistiken auf diese liberale Partei sei (S. 131). Im Kapitel zur AfD das allernotwendigste ist dieser Band sicherlich für macht sich bezahlt, dass Niedermayer über eine eige- ein größeres Publikum als dem engen Kreis der Par- ne und vollständige Theorie zu den Erfolgschancen teienforschung interessant. neuer Parteien verfügt. So geht dieses Kapitel weit über die Deskription des „erfolgreichen Scheiterns“ Dr. Simon Tobias Franzmann (S. 181) der AfD hinaus. Als Faktoren sieht er unter anderem die vergleichsweise gute Ressourcenaus- stattung, die im Vergleich mit anderen neuen Partei- Piechaczek, Oliver: Lobbyismus im Deutschen en relative Prominenz und Erfahrung des Spitzenper- Bundestag – Lobbytätigkeiten von Bundestagsab- sonals, das nach außen hin geschlossene Auftreten geordneten (Built-in-Lobbyismus) im Lichte des sowie das programmatische Alleinstellungsmerkmal Verfassungs- und des Abgeordnetenrechts, Mohr der Eurorettungspolitik (S. 181-192). Niedermayer Siebeck, Tübingen 2014, 279 S., ISBN 978- sieht auf Grund der definitorischen Unschärfe davon 3161526114, 64 €. ab, die AfD derzeit als rechtspopulistisch zu charak- In seiner Dissertation befasst sich Oliver Piechaczek terisieren (S. 200). Der künftige Erfolg der AfD hänge mit einem ebenso brisanten wie demokratierelevanten davon ab, ob es ihr gelinge, sich als national-konser- Thema, nämlich den Nebentätigkeiten von Bundes- vative und marktliberale Partei jenseits des Rechtspo- tagsabgeordneten. Wie der Titel bereits verrät, scheut pulismus zu positionieren (S. 206). Unter Federfüh- der Autor nicht die Auseinandersetzung mit dem Be- rung seines Mitarbeiters Carsten Kochschmieders griff „Lobbyismus“, sondern nimmt gerade dieses, trägt Niedermayer schließlich auch noch zum lesens- sich in rechtlicher Grauzone befindliche und auch werten Kapitel über den Aufstieg und Fall der Pira- sonst schwer fassbare Phänomen in Angriff. Bereits tenpartei bei. Nicht zuletzt innerparteiliche Quere- für die Themenauswahl gebührt dem Autor Respekt, len, die schwache und extrem dezentrale Parteiorga- da sie die Auseinandersetzung mit komplexen Zu- nisation und Wahlkampfführung, der Mangel an ak- sammenhängen nicht nur verfassungsrechtlicher, son- zeptiertem Spitzenpersonal sowie das mangelnde In- dern auch verfassungspolitischer Art erfordert. teresse der deutschen Bevölkerung an Fragen wie der NSA-Affäre – ein potentielles Profilierungsthema Die rechtliche Problemstellung ist recht zügig erklärt: für die Piraten – hätten ihren Aufstieg gestoppt und Built-in-Lobbyismus beschreibt die Doppelfunktion den Niedergang beschleunigt. Der Band schließt mit von Abgeordnetenmandatsträgern, die Nebentätig- einer Erörterung Eckhard Jesses zum Abschneiden keiten ausüben und damit eventuell die Interessen der Kleinstparteien. Er nutzt dieses Kapitel zu einer „ihrer“ Interessengruppen vertreten und nicht die des Generaldebatte über die 5%-Hürde, in deren Folge ganzen Volkes. Wie der Autor ausführt, liegt die bei der Bundestagswahl ein nie gesehener hoher Wertung dieses Umstands zwischen unspektakulä- Stimmenanteil keine parlamentarische Repräsentation

189 Rezensionen MIP 2015 21. Jhrg. rem Phänomen pluralistischer Demokratie und regu- prozesses als Argument für Lobbyismus an (S. 22), lierungsbedürftigem Rechtsproblem. geht aber auch der These nach, Built-in-Lobbyismus führe zu einer asymmetrischen Interessenvertretung, Piechaczek führt in einer gelungen, griffigen Einlei- was eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit tung in die Problemfelder ein: Der Abgeordnete sei der Interessengruppen zur Folge habe. „Vertreter des ganzen Volkes“, nicht etwa einzelner Gruppen. Darin liege zugleich der Unterschied zwi- Piechaczek spricht die von von Arnim16 gewählte schen Mandat und schlichtem „Dienstnehmer“ (S. 5). Formulierung der „Vermarktung“ des Mandats als Wenn ohnehin starke Interessengruppen zudem noch Gefahr für das Amt des Abgeordneten aber auch de- über eine Lobby im Parlament – einen Lobbyabge- mokratische Werte an. Der Einsatz des Abgeordne- ordneten – verfügen, entstehe ein Gefälle. Weiterhin ten für eine bestimmte Interessengruppe neben seiner stehe, so Piechaczek, die Unabhängigkeit des Abge- Mandatsausübung könne erfolgen, um unmittelbar ordneten unter einem Fragezeichen, wenn dieser ei- entgeltliche Vorteile aus der Nebentätigkeit zu ner Nebentätigkeit, etwa in einem Unternehmen, schöpfen oder erst den sogenannten Drehtüreffekt nachgeht. Schließlich bedinge dieser Umstand den (S. 24) zu nutzen, um nahtlos nach Beendigung der sogenannten „bösen Schein“, die Abgeordneten Abgeordnetentätigkeit in die Privatwirtschaft wech- machten ihre Mandatsausübung von Vorteilsgewäh- seln zu können. Dies berge das Risiko, dass nicht rungen abhängig, was die Gefahr der Unglaubwür- mehr Gemeinwohl im Vordergrund der Abgeordne- digkeit der Politik mit sich bringt. Der Autor stellt tentätigkeit stünde, sondern Partikularwohl. Der sich die Frage, wie den Risiken rechtlich zu begeg- Grad der Durchsetzungsfähigkeit allgemeiner Inter- nen ist, nachdem er bereits erfolgte Reformen kurz essen, so Piechaczek, steht hinter demjenigen spezi- anreißt. Ins Feld geführt wird etwa eine Offenle- eller Interessen und insbesondere wirtschaftlicher In- gungspflicht sämtlicher Nebeneinkünfte bis hin zu teressen zurück (S. 27). Ein Kräftegleichgewicht einem Verbot. Die Einleitung schließt ab mit dem durch automatische Etablierung von Interessengrup- Ausblick auf die schlüssige Strukturierung der Arbeit. pen ließe sich also nicht beobachten. Nach einer kurzen Einführung in die entsprechende Besondere Aufmerksamkeit verdient die mit Bezug Literatur führt der Autor erneut in die Debatte ein auf eine wirtschaftswissenschaftliche Studie geäu- und zeigt den bekannten Zwiespalt des Lobbyismus ßerte Anmerkung des Autors, dass Unternehmen, auf. Auf der einen Seite notwendiger Informations- welche etwa durch Nebentätigkeiten der Abgeordne- gewinn (Informationsvermittlung, Politikberatung) ten Verbindungen zur Politik haben, auf der Börse für die Politik (Abgeordnete und Ministerien), auf besser bewertet würden, als solche, die ähnliche der anderen Seite gemeinwohlabträgliche Methode Kontakte nicht pflegen (S. 27). Insgesamt falle es der Interessenvermittlung durch eine sich bereits ent- größeren Interessengruppen schwerer, sich wirksam wickelte „fünfte Gewalt“ (S. 13). zu organisieren, zu artikulieren und Interessen durch- zusetzen. Zumeist fehlt solchen Gruppen auch die Im zweiten Kapitel widmet sich der Autor dem Ter- Möglichkeit wirtschaftlich relevanter Drohungen minus „Lobbyismus“ und definiert diesen unter Be- oder, anders betrachtet, die Möglichkeit des Inaus- zug auf namhafte Literatur als „systematische und sichtstellens wirtschaftlicher Vorteile. Der Autor re- kontinuierliche Einwirkung auf staatliche Repräsen- sümiert, Built-in-Lobbyismus bewege sich in einer tanten durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und Grauzone zwischen Interessenkollision und Man- soziale Interessengruppen mit dem Ziel, staatliche datsmissbrauch des Abgeordneten. Ausgehend von Entscheidungsprozesse im eigenen partikularen In- der Prämisse, das Ansehen des Parlaments hinge von teresse zu beeinflussen“ (S. 15). Dem Autor ist dem Ansehen seiner Mitglieder ab (S. 33), stelle dies durchaus klar, dass diese weite Definition für seine ein verfassungsrechtliches Problem dar. Bestrebungen zu unspezifisch ist, sodass er eine de- tailliertere Betrachtung unternimmt. Hierzu werden Im dritten Kapitel nimmt Piechaczek eine historische Akteure, Adressaten und Techniken von Lobbyismus Betrachtung des Lobbyismus im deutschen Staats- untersucht. Wünschenswert wäre in diesem Zusam- recht vor. Im ersten Abschnitt widmet er sich der menhang ein umfangreicherer Blick in andere Länder. Zeit der Weimarer Republik, um anschließend in der notwendigen Ausführlichkeit den Zeitraum von 1950- Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels wird der an- 2002 zu behandeln. Die wichtigsten Affären und De- fangs aufgezeigte Zwiespalt aufgegriffen. Der Autor batten werden mit den wichtigsten Autoren und Wer- erkennt die Steigerung der Legitimität und Qualität ken der Zeit aufgearbeitet. Anschließend wird kurz des politischen Willensbildungs- und Entscheidungs- 16 DÖV 2007, S. 898 (906).

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– mit der Hunzinger-Affäre als Aufhänger – auf die die Auslegung der Verfassungsvorschrift vorzuneh- Reform des Abgeordnetenrechts in 2002 eingegan- men. Um dem Unabhängigkeitspostulat des Art. 48 gen, die aber laut Autor in ihrem Umfang hinter dem Abs. 3 GG seine Bedeutung zu entnehmen, versucht zurückblieb, was die sie anstrebenden Parteien vor- sich der Autor im nächsten Schritt an einem Ver- geschlagen hatten. Erst die Reformen von 2005 gleich der Begriffe „Unabhängigkeit“ und „Unbefan- brachten mit dem 26. Gesetz zur Änderung des Ab- genheit“. Hierzu erfolgt eine Betrachtung verschie- geordnetenrechts eine, so der Autor, umfangreiche dener Befangenheitsvorschriften, so etwa prozess- Erweiterung der Anzeige- und Veröffentlichungs- rechtlicher oder verwaltungs- und kommunalrechtli- pflichten. Hierzu stellt der Autor die Hintergründe cher. Am Ende steht die Erkenntnis, dass sich kein dar und analysiert sodann den § 44a AbgG in seiner Argument für die These gewinnen lässt, der Unbe- Fassung von 2005 mit den erfolgten Änderungen so- fangenheitsgrundsatz sei ein allgemeines Rechtsprin- wie die Neuregelungen zu den Anzeigepflichten in zip und der Ausschluss persönlicher Interessen damit den Verhaltensregeln der Abgeordneten. Dabei wird Funktionsvoraussetzung „gelungener“ Repräsentati- etwa die Neuerung gewürdigt, dass eine Unterschei- on (S. 142, Hervorhebung im Original). dung zwischen Beruf und Nebentätigkeit nicht mehr In der Gesamtschau der verschiedenen Ausprägun- getroffen wird, was zu einer erweiterten Anzeige- gen des Built-in-Lobbyismus und der verfassungs- pflicht führe. Besonders zu erwähnen ist aber auch rechtlichen Einordnung ergibt sich, dass lediglich die Pflicht zur Angabe der exakten Höhe der anzei- Konstellationen, die mit dem Begriff „unechte Bera- gepflichtigen Einkünfte aus § 1 Abs. 3 VR. Zuletzt terverträge“ beschrieben werden, eine Verletzung wird das „Herzstück“ (S. 79) der Neuerungen, näm- der Gemeinwohlverpflichtung darstellen. Es geht lich die Erweiterung der Veröffentlichungspflichten, also um Vereinbarungen, die auf konkrete parlamen- diskutiert. tarische Handlungen wie Stimmabgaben oder Reden Abschließend wird der Straftatbestand der Abgeord- im Parlament abzielen. „Einem derart gebundenen netenbestechung nach § 108e StGB recht ausführ- Abgeordneten fehlt von vorneherein die für die par- lich, im Stile eines Rechtskommentars, dargestellt. lamentarische Arbeit notwendige Kompromissbereit- Der Autor arbeitet dabei hervorragend heraus, dass schaft“ (S. 152). Die übrigen Konstellationen schei- die „offene Interessenvertretung eines Abgeordneten tern zumeist an der mangelnden Beweiszugänglich- zugunsten einer bestimmten gesellschaftlichen Grup- keit oder schlichtweg daran, dass nicht mehr als ein pe nicht allein deswegen als strafwürdig angesehen Generalverdacht konstatiert werden kann. werden kann, weil der betreffende Abgeordnete der Der Autor fragt weiter danach, ob sich der Verfas- jeweiligen Interessengruppe durch eine Nebentätig- sung eine Offenlegungspflicht der Abgeordneten ent- keit verbunden ist“ (S. 88). Voraussetzung des nehmen lässt und kommt entgegen wichtiger Stim- § 108e StGB sei eine Kommerzialisierung der Abge- men in der Literatur zu dem Schluss, dass sich nur ordnetenstimme im Einzelfall verbunden mit einer punktuelle Verpflichtungen zur Öffentlichkeit fin- entsprechenden Zuwendung. Daran fehlt es regelmä- den. Ein allgemeines Gebot enthalte die Verfassung ßig bei dauerhaft angelegten Beziehungen. Zudem nicht. Auf der Suche nach anderen Begründungsan- stimme das persönliche Eigeninteresse des Abgeord- sätzen für eine verfassungsrechtliche Verpflichtung neten mit der politischen Überzeugung überein. Wo- des Gesetzgebers, Transparenzregeln zu schaffen, von der Abgeordnete sich hat leiten lassen, ist dem widmet sich das Werk der Untersuchung des verfas- Beweis kaum zugänglich. Ein weiteres Problem sei sungsrechtlichen Kontrollgrundsatzes, dem Charak- die Tatsache, dass nur der Verkauf der Stimme, nicht ter der parlamentarischen Entscheidung über die Re- aber sonstigen Verhaltens erfasst sei. gelungsinstrumente als „Entscheidung in eigener Sa- Im vierten Kapitel widmet sich der Autor der Analy- che“ sowie der Bedeutung des sogenannten „bösen se des Lobbyismus im Lichte der Verfassung. Hier- Scheins“. Aus Sicht von Piechaczek fruchten schluss- bei untersucht er zunächst insbesondere den Wort- endlich der Kontrollgrundsatz und das Prinzip zur laut des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Die Spannung zwi- Vermeidung des „bösen Scheins“. Die sich daraus schen der Freiheit des Mandats und der Verpflich- ergebenden Verpflichtungen beschränkten sich aber tung auf die Vertretung des ganzen Volkes sowie die auf einen Kernbereich, in dem der Gesetzgeber tätig Gemeinwohlverpflichtung bilden dabei den Rahmen. werden muss. Darüber hinaus gelte die Einschätzungs- Systematisch gelingt es dem Autor, unter Berück- prärogative des Gesetzgebers. sichtigung der Entstehungsgeschichte sowie der Her- Im vorletzten Kapitel erfolgt dann eine verfassungs- anziehung grundlegender Werke aus der Literatur, rechtliche Bewertung der bestehenden Regelungsin-

191 Rezensionen MIP 2015 21. Jhrg. strumente. Hier wird insbesondere die Norm des Mit diesem Werk hat Piechaczek, nach der Disserta- § 44a AbgG aufgegriffen und auf ihre Konformität tion von Anne Käßner17, einen wichtigen Beitrag ge- mit der Verfassung überprüft und im Ergebnis hin- leistet und hoffentlich Anreize für Nachahmer ge- sichtlich des § 44a Abs. 1 S. 1 relativ zügig attestiert. setzt. Mit der peniblen Herangehensweise an einzel- Tiefgreifender untersucht der Autor die Regelungen ne Normen sowie die wichtigsten verfassungsrechtli- der §§ 44a Abs. 4, 44b AbgG und §§ 1 ff VR. Nach chen Zusammenhänge, aber auch die nicht zu ver- kurzer Diskussion, ob Offenlegungspflichten die nachlässigenden verfassungspolitischen Aspekte, Freiheit des Mandats einschränken, gelangt der Au- sind einige Fragen beantwortet, mindestens aber tor zu dem Schluss, dass es sich eher um faktische ebenso viele aufgeworfen worden. Insbesondere den Beeinträchtigungen handeln wird, die abhängig von Ausblick Piechaczeks dürften sich andere Autoren der Person des Abgeordneten Wirkungen für die zum Anlass nehmen, dem Phänomen des Lobbyis- Mandatsausübung entfalten. Eine rechtliche Wir- mus – mit ähnlicher Schärfe und mit nicht mehr als kung der Offenlegungspflichten wird im Endeffekt notwendiger Ehrfurcht vor dem Bundesverfassungs- verneint. Auch eine Verletzung des Behinderungs- gericht – einen rechtlichen Rahmen beizumessen. verbots aus Art. 48 Abs. 2 GG wird verneint. Glei- Auch, dass Piechaczek nicht nur in Theorie verharrt, ches gilt für die Repräsentationsfähigkeit des Deut- sondern stets Bezüge zur Praxis herstellt, sei positiv schen Bundestages sowie das passive Wahlrecht. In erwähnt. Eine rechtsvergleichende Analyse konnte in einem letzten Schritt wird die Verletzung von diesem Werk nicht in gebotenem Maße vorgenom- Grundrechten der Abgeordneten untersucht, nament- men werden. Auch dieses Feld sollte in Angriff ge- lich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, der Be- nommen werden. Allein auf europäischer Ebene, rufsfreiheit und der Eigentumsfreiheit. Der Autor aber auch weit darüber hinaus, finden sich ganz ver- sieht in den Offenlegungspflichten gegenüber dem schiedene, interessante Lösungsansätze. Bundestagspräsidenten und teilweise der Öffentlich- Ewgenij Sokolov keit wohl richtigerweise eine Beschränkung des All- gemeinen Persönlichkeitsrechts in seiner Ausprä- gung als Recht auf informationelle Selbstbestim- mung, welches vom Bundesverfassungsgericht im Plehwe, Dieter/Mathhias, Schlögl: Europäische und Volkszählungsurteil (BVerfGE 65, 1 ff.) eingeführt zivilgesellschaftliche Hintergründe der euro(pa)- wurde. Er stellt weiter eine faktische Beeinträchti- skeptischen Partei Alternative für Deutschland gung der Berufsfreiheit fest, soweit es um die Veröf- (AfD), Discussion Paper SP III 2014-501, Wissen- fentlichungspflicht für Einkünfte geht. Insbesondere schaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Berlin Mandatsträger, die eine selbständige Nebentätigkeit 2014, http://bibliothek.wzb.eu/pdf/2014/iii14-501r.pdf. ausübten, seien davon betroffen. Eine Beeinträchti- Ergänzende Hintergründe zur AfD gung der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 GG wird ab- gelehnt. Im darauf folgenden Abschnitt wird die Wenn ungewöhnlicherweise ein Diskussionspapier Rechtfertigung der festgestellten Grundrechtseingriffe rezensiert wird, so muss es hierfür einen besonderen vorgenommen – mit dem Ergebnis, dass Offenle- Anlass geben. Einer der Anlässe ist die Aktualität gungspflichten im Einklang mit den Grundrechten des Themas, nämlich Analysen zu Aufstieg und Hin- der Abgeordneten stehen. tergrund der Alternative für Deutschland (AfD). Ein anderer Anlass ist, das Plehwe und Schlögl einen Im letzten Kapitel erörtert Piechaczek in einem Aus- Teilaspekt der zivilgesellschaftlichen Akteure hinter blick alternative Regelungsinstrumente aus verfas- der AfD-Gründung aufdecken. Das Diskussionspapier sungsrechtlicher und -politischer Perspektive. Es wer- liefert somit vertiefende und ergänzende Einblicke den Vorschläge für Reformen des Straftatbestandes zur bisher in der Parteien- und Wählerforschung ge- der Abgeordnetenbestechung sowie zur Verbesserung führten Debatte zur AfD, die zumindest eine kurze des Kontrollniveaus durch Änderung der Verhaltens- Notiz wert sind. Einen besonderen Fokus legt das regeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages un- Diskussionspapier auf die Gründung der europäischen terbreitet. Hierbei geht der Autor auf verschiedene Partei AECR sowie der Europaparlamentsfraktion Lösungsansätze ein, so etwa die Einführung von ECR (European Conservatives and Reformists). Bei- Gremien, die Schaffung zusätzlicher Inkompatibilitä- de wurden unter Beteiligung der britischen Tories ten, Mitwirkungsverbote wegen Befangenheit und ins Leben gerufen. Die AfD ist mittlerweile Mitglied den Parlamentsausschluss. In etwas größerem Um- fang wird eine Reform des § 108e StGB diskutiert. 17 Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte der Mitglieder des Deutschen Bundestages, Berlin 2010.

192 MIP 2015 21. Jhrg. Rezensionen der ECR-Fraktion. Im Prager Manifest, im Wesentli- der Unterscheidung von hartem und softem Eurosekp- chen von britischen Tories und der tschechischen tizismus analysiert werden kann (S. 7-8). ODS gestaltet, entwirft die AECR einen Programmatik- Dr. Simon Tobias Franzmann mix aus Marktwirtschaft, individueller Freiheit, Fami- lienwerten und Bürokratieabbau, für den Europa als „negative Referenzfolie“ (S. 7) diene. Begleitet wer- Prommer, Jennifer: Novellierungsbedarf im Partei- den die AECR und die ECR durch eine europäische enrecht. Eine Analyse unter besonderer Berück- politische Stiftung, der Foundation for European sichtigung der Privilegien politischer Parteien an- Reform, die bis zu ihrem Tode Margaret Thatcher als hand ausgewählter Problemstellungen, Nomos, Schirmherrin hatte und eine entsprechende Politik Baden-Baden 2014, 485 S., ISBN 978-3848714643, proklamiert (S. 8-9). Die Verbindung zur AfD sehen 119 €. die Autoren nun in der Person des Ökonomieprofes- sors Charles Blankart. Blankart sei Vorstandsmit- Jennifer Prommer untersucht, ob die den Parteien glied des Instituts für Unternehmerische Freiheit in zustehenden rechtlichen Privilegien angesichts der Berlin und zugleich an der Gründungsplattform der Herausforderungen vor denen sie stehen noch zeitge- AfD beteiligt gewesen (S. 9-10). Das ist allerdings in mäß sind. Ob nicht ein Novellierungsbedarf im Par- den Augen des Rezensenten eine sehr lose Verbin- teienrecht dergestalt besteht, dass neue Privilegien dung. Interessant sind die Netzwerkanalysen der bei- geschaffen oder bestehende abgeschafft oder modifi- den Autoren, die in das Wirken einer europäischen ziert werden müssten. Dieser Forschungsfrage geht Parteistiftung Einblick geben. Auch wird anhand der sie in einer vierteiligen Untersuchung nach, um im dargestellten stark ökonomisch geprägten Ausrich- Anschluss Novellierungsvorschläge zu machen. Ihre tung der ACER und ECR verständlich, warum die Arbeit soll dazu dienen, einen Beitrag zur Weiterent- AfD mit ihren Ökonomieprofessoren Lucke und wicklung des Parteienrechts zu leisten. Starbatty relativ problemlos an die ECR andocken Im ersten Teil der Arbeit untersucht Prommer zu- konnten. Ebenfalls finden die Autoren relativ viele nächst durch wen eventuelle Novellierungen im Par- personelle Überschneidungen zwischen der AfD und teienrecht vorgenommen werden müssten. Wegen der von Friedrich August von Hayek gegründeten der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Mont-Pèlerin-Gesellschaft. Natürlich kann an ein Dis- Bundes gemäß Artikel 21 Absatz 2 Grundgesetz kussionspapier nicht der Qualitätsmaßstab einer ferti- (GG) sei für die inhaltliche Arbeit im Gesetzge- gen wissenschaftlichen Publikation angelegt werden. bungsverfahren auf Bundesebene der Bundestag zu- Und tatsächlich weist insbesondere der Schlussteil zur ständig. Interessanterweise führe dies laut Prommer Entwicklung der AfD bis zum Frühjahr 2014 einige zu dem Problem, dass die politischen Parteien, denen Lücken auf. Zudem geht das Diskussionspapier eher die Abgeordneten im Parlament angehören, im unzureichend auf parallele gesellschaftliche Ent- Rechtsetzungsverfahren in eigener Sache für die No- wicklung sowie Konstellationen im deutschen Par- vellierung des Parteienrechts zuständig seien. Die teiensystem ein, die das Erstarken der AfD erklären ex-post Kontrolle eines solchen Gesetzgebungsvor- können. Schließlich versäumen die Autoren eine habens durch Richter des Bundesverfassungsgerichts strikte Trennung von Analyse und normativen Urtei- sei ebenfalls nicht frei von parteipolitischen Moti- len. Zudem erscheint bei der Aufzählung zahlreicher ven, da die Wahl der Verfassungsrichter ebenfalls Personen, die in den entsprechenden Think Tanks parteipolitisch geprägt sei. Der Leser findet sich in mal aufgetreten sind, der eigentliche Bezug zur er- diesem Teil sodann unerwarteter Weise in einer folgreichen AfD-Gründung und späteren Etablierung grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Diskussion als Teil der ECR Fraktion aus dem Blick zu geraten. über eine Reformierung des Verfahrens über die Ihren besonderen Wert haben die Recherchen von Wahl der Richter zum Bundesverfassungsgericht und Plehwe und Schlögl für das Verständnis, warum und die Einführung von Elementen der direkten Demo- wie die AfD von wem gegründet wurde, warum die kratie im Gesetzgebungsverfahren wieder. Beides AfD in der ECR-Fraktion des Europäischen Parla- soll dazu dienen, den Entscheidungen der Parteien in mentes landen konnte und wie grundsätzlich interna- eigener Sache durch Beteiligung der Öffentlichkeit tional vernetzte Think Tanks zunehmend Einfluss Grenzen zu ziehen. auf die Entwicklung der europäischen Parteiendemo- kratie nehmen können. Die Autoren werfen die inter- In einem weiteren Schritt untersucht Prommer mög- essante These auf, dass die Programmatik der lichen Novellierungsbedarf im Parteienrecht anhand AECR, der ECR und somit der AfD nicht mehr mit von konkreten parteirechtlichen Normen. Hierbei

193 Rezensionen MIP 2015 21. Jhrg. geht sie zunächst auf den Novellierungsbedarf des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungs- Parteienbegriffs ein. Sie vertritt die Auffassung, dass widrigkeit der 5 % Sperrklausel bei den Europawah- der Parteibegriff nach § 2 Parteiengesetz auch kom- len und die Herabstufung der Sperrklausel auf 3 %. munale Wählervereinigungen umfassen müsse. Die Die Darstellung und Erörterung ist aber weniger gut bisherige Ungleichbehandlung sei ungerechtfertigt. gelungen. Unklar bleibt insbesondere, welches Er- Auch Parteien, die ausschließlich an Europawahlen gebnis Prommer selbst hinsichtlich der Verhältnis- teilnehmen, müssten vom Parteibegriff umfasst sein, mäßigkeit der Sperrklausel bei Europawahlen zieht. denn auf europäischer Ebene finde eine politische Überholt sind auch die Ausführungen Prommers zu Willensbildung statt, die über Artikel 23 GG eine dem Parteiverbotsverfahren gegen die NPD. Prommer Willensbildung des deutschen Volkes im Sinne von schreibt, der Bundesrat habe beschlossen, ein Ver- Artikel 20 Absatz 2, Artikel 21 GG darstelle. Der botsverfahren gegen die Partei einzuleiten, während Parteibegriff müsse wegen des Diskriminierungsver- die übrigen Verfassungsorgane noch unentschlossen botes nach Artikel 18 AEUV auch politische Verei- seien. Laut Einleitung hat das Buch einen Bearbei- nigungen erfassen, die mehrheitlich oder ausschließ- tungsstand von Juni 2013. Zu diesem Zeitpunkt lich aus „EU-Ausländern“ bestehen oder ihren Sitz stand jedoch bereits fest, dass sich weder der Bun- im EU-Ausland haben. Ein interessanter Ansatz in destag noch die Bundesregierung an dem Verbots- diesem Kapitel ist, dass Prommer politische Stiftun- verfahren beteiligen werden. gen aufgrund ihrer engen Verflechtung mit der ihr nahe stehenden Partei unter Artikel 21 GG fassen Leider sind auch die Erörterungen der Auswirkungen und dem Parteienrecht unterwerfen will. Die enge der Entscheidungen des EGMR auf nationale Partei- Verflechtung komme z.B. bei den Globalzuschüssen verbote nicht erkenntnisreich. Sie sind zum Teil zum Tragen, die die Stiftungen vorwiegend an die oberflächlich, wenn z.B. bei den legitimen Zielen für entsprechende Partei weiterleiten würden. Eine rein ein Parteiverbot nach Artikel 11 Absatz 2 EMRK die formale Betrachtungsweise sei hier verfehlt. Damit Rechte anderer keine Erwähnung finden und nur ei- treffen die Stiftungen ähnliche rechtliche Pflichten nige wenige, ältere, Urteile des EGMR zu nationalen wie die Mutterparteien, insbesondere Rechenschafts- Parteiverboten zitiert werden. Gerade hier hat sich in pflichten über Einkünfte. Eine Novellierung des Par- den vergangenen 17 Jahren eine gefestigte Recht- teiengesetzes sei laut Prommer hier nicht angezeigt, sprechung des EGMR herausgebildet.18 Diese wird sie plädiert vielmehr für ein Parteistiftungsgesetz. von Prommer unberücksichtigt gelassen. Dies gilt umso mehr, da ihr Fazit in diesem Abschnitt lautet, Interessant sind auch Prommers Überlegungen zur die Entscheidungen des EGMR seien „überwiegend Einführung eines Parteienregisters, das beim Bun- zu Parteien in der Türkei ergangen, wo kein ver- desverwaltungsgericht geführt werden soll. Die frei- gleichbar parteischützendes Verbotsverfahren wie in willige, lediglich deklaratorisch wirkende Eintra- Deutschland etabliert sei“. Daher seien seitens des gung ins Parteienregister sei als eine erweiterte EGMR dort „strengere Voraussetzungen aufgestellt Gründungsanzeige zu konzipieren. Durch die Eintra- worden.“ Dieses Ergebnis ergeht unter völliger Ver- gung werde eine widerlegbare Vermutung zugunsten kennung dessen, dass sich der EGMR im Laufe der der Parteieigenschaft aufgestellt. Die Feststellung Jahre auch zu Parteiverboten in osteuropäischen der Parteieigenschaft soll erleichtert werden, ohne Staaten wie der Republik Moldau oder in Russland dass damit eine inhaltliche Prüfung z.B. der Partei- und – weitaus bemerkenswerter – bereits dreimal zu ziele verbunden sei. Für die Prüfung der Verfas- Parteiverboten in EU-Mitgliedstaaten wie Bulgarien sungswidrigkeit soll weiterhin das Bundesverfas- oder Spanien geäußert hat. Hinzukommt, dass die tür- sungsgericht zuständig sein. kische Verfassung genauso wie das deutsche Grund- Novellierungsbedürftig sei auch das Sponsoring von gesetz ein spezielles Parteiverbotsverfahren vor dem Parteien durch Private. Wegen der Schwierigkeiten Verfassungsgericht vorsieht und die Normierungen im bei der Einordnung des Sponsorings in bestehende Parteienrecht weitgehend dem deutschen Recht ent- Einnahmekategorien sei es sinnvoll, eine neue Ein- sprechen. Hier hätte die Autorin zumindest darlegen nahmekategorie mit entsprechenden Begrenzungen müssen, was sie mit fehlendem vergleichbaren partei- im Parteiengesetz zu schaffen. schützenden Verbotsverfahren meint, wenn ihr Fazit nicht als Pauschalurteil ergehen soll. Auch Prommers Ein deutlicher Schwachpunkt in diesem Teil des Bu- Argument, der Parteistatus in Deutschland sei mit ches sind Prommers Ausführungen zum Prinzip der Chancengleichheit der Parteien bei Europawahlen. 18 Vgl. Emek/Meier, Über die Zukunft des Parteiverbots, RuP Sie erwähnt zwar die neueste Rechtsprechung des 2/2013, S. 74 ff.

194 MIP 2015 21. Jhrg. Rezensionen der staatlichen Pflicht zur Finanzierung verbunden reits 2006 durch die Entscheidung der großen Kam- und der Staat wäre beim Abwarten des Vorliegens mer in „Ždanoka gegen Lettland“23 relativiert worden. einer konkreten Gefahr gezwungen, verfassungswid- Insgesamt lässt sich daher resümieren, dass das Buch rige Parteien zu finanzieren bis sie kurz vor ihrem einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Ziel stehen, überzeugt nicht. Denn auch im türki- deutschsprachigen Diskussion im Parteienrecht bietet. schen Recht ist die staatliche Parteienfinanzierung Die wenigen behandelten europarechtlichen Aspekte vorgesehen. Die türkische Verfassung regelt seit sind dagegen von deutlichen Schwächen geprägt. 2001, dass nach der verfassungsgerichtlichen Fest- stellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei statt Dr. Şeyda Emek, eines Parteiverbots als mildere Maßnahme die teil- Oberregierungsrätin im weise oder vollständige Kürzung der staatlichen Fi- Bundesministerium des Innern24 nanzierung erfolgen kann.19 Dabei ist die Erörterung von neuen, sich am Verhält- Roßner, Sebastian: Parteiausschluss, Parteiord- nismäßigkeitsgrundsatz orientierenden abgestuften nungsmaßnahmen und innerparteiliche Demo- Rechtsfolgen der Feststellung der Verfassungswid- kratie, Nomos, Baden-Baden 2014, 224 S., ISBN rigkeit einer Partei statt eines Totalverbots eigentlich 978-3848705269, 39 €. ein Verdienst von Prommers Buch an anderer Stelle (S. 257 ff.). Dieses Modell, das auch in anderen Staa- Über lange Jahre hinweg war das Parteienrecht eines ten wie z.B. in Spanien oder Bulgarien in Form von der wenigen Rechtsgebiete, das nur unter außerordent- zeitlichen Betätigungsverboten bzw. des Ausschlusses lich geringem Aktualitätsdruck stand. Sowohl auf der von Wahlen (Suspension) oder der Kürzung von staatli- normativen als auch auf der empirischen Ebene wa- cher Finanzierung nach verfassungsgerichtlicher Fest- ren die Bedingungen so stabil, dass die entsprechen- stellung der Verfassungswidrigkeit existiert, wird in den parteienrechtlichen Forschungsergebnisse zwar Deutschland kaum diskutiert.20 Dabei wird es sowohl nicht ganz zeitlos, aber doch von einer gewissen Be- von der „Venedig-Kommission“ des Europarates als ständigkeit geprägt waren. Umso ärgerlicher muss es auch der OECD als weniger einschneidende Maßnah- daher sein, wenn in den Zeitraum zwischen Fertig- me zum Demokratieschutz empfohlen.21 Prommer stellung und Veröffentlichung einer Qualifikations- weist zurecht darauf hin, dass mit dem Modell der schrift nicht unerhebliche Veränderungen der tat- abgestuften Rechtsfolge nach Feststellung der Verfas- sächlichen Parteienlandschaft in Deutschland fallen, sungswidrigkeit durch das Verfassungsgericht das ver- wie dies bei der Dissertation von Sebastian Roßner fassungsrechtliche Parteienprivileg gewahrt wird. Die der Fall ist. Die aktuellen politischen Veränderungen Kürzung oder vollständige Verweigerung der Partei- durch Gründung und Wahlerfolge von Piratenpartei enfinanzierung erfolgt nicht durch den Parlaments- und AfD hat die im Jahr 2010 fertiggestellte, aber erst präsidenten oder sonst durch die Exekutive, sondern 2014 veröffentlichte Arbeit daher verständlicherweise durch das Verfassungsgericht und stellt eine mildere nicht berücksichtigen können. Auch wenn es span- Maßnahme zum Totalverbot dar. nend gewesen wäre, diese neuen Entwicklungen unter dem Aspekt der Parteiordnungsmaßnahmen reflektiert Ein weiteres, ernsthaftes Problem des Buches ist, zu sehen, tut dies insgesamt der Qualität der Grundle- dass es bezüglich der Rechtsfolge des automatischen gungen durch diese Arbeit doch keinen Abbruch. Mandatsverlustes nach Parteiverboten die Kammer- entscheidung des EGMR in der Rechtssache „Selima Die Arbeit gliedert sich in vier Abschnitte. Im ersten Sadak u.a. gegen die Türkei“22 erörtert. Diese ist be- Teil legt der Autor die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die rechtliche Beurteilung von Par- teiordnungsmaßnahmen dar und arbeitet dabei das Spannungsfeld zwischen der Freiheit des Einzelnen 19 Vgl. Emek, Parteiverbote und Europäische Menschenrechts- auf politische Teilhabe durch Mitwirkung in einer konvention, München 2007, S. 301 ff. Partei und der Freiheit der Partei als Organisation 20 Vgl. z.B. Epping, Eine Alternative zum Parteiverbot. Der Ausschluss von der staatlichen Parteienfinanzierung, Baden- heraus. Hervorhebenswert ist, dass der Verfasser be- Baden 2013; Morlok, Parteienfinanzierung im demokrati- reits an dieser Stelle der Arbeit – ganz in der Tradition schen Rechtsstaat – Reformmöglichkeiten der Gewährung 22 staatlicher Leistungen an politische Parteien, Berlin 2009. EGMR, Selim Sadak u.a. ./. Türkei, Urteil v. 11. Juni 2002, RJD 2002-IV, S. 304, §§ 37 ff. 21 OSCE/ODIHR/Venice Commission, Guidelines on Political 23 Party Regulation, CDL-AD (2010)024, S. 45 (Punkt VII 5), EGMR, Ždanoka ./. Lettland, Urteil der Großen Kammer vgl. www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD vom 16. März 2006, Beschwerde 58278/00. (2010)024-e. 24 Der Text gibt die Auffassung der Verfasserin wieder.

195 Rezensionen MIP 2015 21. Jhrg. des Institutes, an dem das Werk entstanden ist – im- Legitimationserfordernisse bei der Konkretisierung mer wieder die empirische Seite des Parteienlebens der Grundsätze überzeugend und intensiv erörtert. in den Blick nimmt und sauber von der normativen Die exemplarische Arbeit mit dem Fallmaterial der Ebene trennt. Nach dieser – in juristischen Arbeiten Parteischiedsgerichte macht die Ausführungen nicht keinesfalls selbstverständlichen – Trennung gelingt nur aussagekräftig und anschaulich, sondern lässt es dem Verfasser aber nicht immer, beide Ebenen auch die Praxistauglichkeit der rechtlichen Einord- auch wieder zusammenzuführen und die Wechselbe- nung erkennen. Allerdings fällt auf, dass sich die an- ziehungen zwischen normativer und empirischer geführten Beispiele ausschließlich auf negative in- Ebene voll zu entfalten. Ebenso beachtlich ist die haltliche Positionen beziehen, d.h. auf die Abgren- sorgfältige und kenntnisreiche Aufarbeitung der ju- zung insbesondere zu anderen Gruppierungen. Inwie- ristischen, vor allem aber auch der politikwissen- fern solche Abgrenzungen tatsächlich als negative schaftlichen Literatur zu den Grundbedingungen der Handlungsanforderungen auch aktive Verhaltens- modernen Parteiendemokratie. Mitunter hätte hier pflichten auslösen können, hätte noch intensiver dis- eine stärkere Fokussierung auf die für die Parteiord- kutiert werden können. nungsmaßnahmen relevanten Aspekte der pointierten Im dritten Teil untersucht Sebastian Roßner in An- Darstellung jedoch gut getan. Inhaltlich legt der Ver- knüpfung an diese Grundlegungen den Parteiaus- fasser einen Schwerpunkt auf die besondere Kon- schluss als schärfste Parteiordnungsmaßnahme, die fliktlage, die durch das verfassungsrechtliche Gebot durch das Parteiengesetz zugelassen wird, und wen- der „innerparteilichen Demokratie“ einerseits und det sich damit dem zentralen, auch für die Praxis äu- der Notwendigkeit programmatischer Homogenität ßerst wichtigen Feld zu. Die wesentlichen Fragen der andererseits entsteht. Diese besondere Homogenität, tatbestandlichen Voraussetzungen eines solchen die er mit dem Begriff der „Tendenzfreiheit“ im Sinne Ausschlusses nach dem Parteiengesetz werden hier einer „Tendenzreinheit“ beschreibt, stellt tatsächlich umfassend und gewinnbringend erläutert. Zu Recht einen maßgeblichen Schlüssel für Analyse und Ver- betont der Verfasser dabei auch die besondere Be- ständnis von Parteiordnungsmaßnahmen dar. Der deutung, die der Meinungsäußerung von Mitgliedern Verfasser legt hier somit einen wesentlichen, dem als Ausschlussgrund vor allem auch in der Praxis zu- Binnenrecht der Parteien grundsätzlich zugrunde lie- kommt. Etwas knapp ist daher der schlichte Verweis genden verfassungsrechtlichen Problembereich frei auf die „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung des und macht ihn zutreffend und überzeugend zur Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994, der Grundlage seiner weiteren Ausführungen. Die Asso- eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage, ob ziation zu der im Betriebsverfassungsrecht entwi- diese für das grundrechtliche Staat-Bürger-Verhältnis ckelten – und auch für Parteien geltenden – Figur entwickelten Maßstäbe auf das innerparteiliche Ver- des Tendenzbetriebs wirft allerdings die Frage auf, hältnis vollständig übertragbar sind, vermissen lässt. wie die durch eine gewisse Rigidität gekennzeichnete Zudem überrascht es, dass in die Betrachtung die aus inhaltliche „Tendenz“ ohne ein gewisses Maß autori- dem Jahr 2005 stammende, die Rechtsprechung des tärer Strukturen (die etwa das Arbeitsrecht kenn- Bundesverfassungsgerichts deutlich modifizierende zeichnen) konstruiert werden kann. Auch aus diesem „Stolpe-Entscheidung“ (BVerfGE 114, 339) zur Ausle- Grund wäre es erhellend gewesen, gerade mit der gung mehrdeutiger Äußerungen keine Berücksichti- auch empirischen Perspektive der Arbeit die tatsäch- gung in der Arbeit gefunden hat. Hier hätten sich liche Rolle der Parteiführungsgremien näher zu be- auch für die Praxis wesentliche Fragen nach der leuchten. Übertragbarkeit der dort formulierten Rechtsgedan- Im anschließenden zweiten Teil legt der Verfasser ken gestellt. Auch das Problem, inwiefern privates, eine Art allgemeinen Teil der Parteiordnungsmaß- nicht parteibezogenes Verhalten eines Mitglieds zu- nahmen vor, in dem er Funktion und grundlegende lässigerweise Anknüpfungspunkt für einen Partei- Begriffe klärt. Für das Verständnis von Parteiord- ausschluss sein kann, wird nur kurz angesprochen, nungsmaßnahmen besonders erhellend sind dabei die jedoch nicht tiefgehender erörtert. Gerade aktuell Annäherungen an den überaus schwierigen Begriff zeigt sich jedoch am Beispiel des Parteiausschluss- der „Grundsätze“ der Partei. Der Verfasser konstru- verfahrens gegen Sebastian Edathy, welche schwieri- iert diese als Handlungspflichten der Mitglieder, die gen Rechtsfragen sich in diesen Konstellationen stel- aus allgemeinen Programmsätzen im Wege der Aus- len können. Ausführlich und sehr interessant sind legung abzuleiten sind, und erläutert dies anhand von wiederum die Ausführungen zum schwierigen Pro- Beispielen aus der parteischiedsgerichtlichen Praxis. blem der tatsächlichen Ermittlung eines für die Par- Dabei werden insbesondere die Schwierigkeiten der tei entstandenen immateriellen Schadens. Hier ent-

196 MIP 2015 21. Jhrg. Rezensionen wickelt die Arbeit mit Innovationskraft eine eigene, Schweitzer, Tobias: Die europäischen Parteien überzeugende Ansicht, die gerade für die Praxis gut und ihre Finanzierung durch die Europäische handhabbar ist und damit einen echten praktischen Union, Schriften zum Europäischen Recht Band Mehrwert generiert. Die darüber hinaus in Hinblick 166, Duncker & Humblot 2014, 348 S., ISBN 978- auf die innerparteiliche prozessrechtliche Seite ver- 3-428-14439-6, 69,90 €. tretene Ansicht, den Parteischiedsgerichten stehe bei Das Recht der europäischen politischen Parteien ent- der Entscheidung über den Parteiausschluss ein Er- wickelt sich seit Jahrzehnten relativ schwerfällig und messen zu, erscheint hingegen in dieser Form als je- steht daher i.d.R. auch nicht unter großem Aktualitäts- denfalls näher begründungsbedürftig, da sie den druck. Die entsprechenden parteienrechtlichen For- Schiedsgerichten einen erheblichen auch politischen schungsergebnisse sind somit von einer gewissen Entscheidungsspielraum zubilligt. Auch hier ver- Beständigkeit geprägt. Auffallend ist allerdings, dass misst man insofern eine Erörterung der Rolle der kurz vor oder nach Abschluss von Qualifikations- Parteiführungsgremien gerade in Hinblick auf politi- schriften das europäische Parteienrecht erheblich an sche Opportunitätserwägungen. Wenn zur Begrün- Dynamik gewinnt. Nahezu zeitgleich mit der Veröf- dung eines gerichtlichen Ermessens zum Teil auf die fentlichung der Arbeit von Stefanie Armbrecht25 trat Möglichkeit der Verhängung milderer Parteiord- Ende 2007 eine umfangreiche Änderung der Verord- nungsmaßnahmen unterhalb des Ausschlusses durch nung des Europäischen Parlamentes und des Rates das Gericht verwiesen wird, so sind die diesbezügli- über die Regelungen für die politischen Parteien auf chen Argumente überlegenswert, wären aber dogma- europäischer Ebene und ihre Finanzierung in Kraft. tisch vielleicht besser bei der Frage nach der eigen- Ein ähnliches Schicksal teilt nunmehr das Werk von ständigen Verhängung von Minusmaßnahmen gegen- Tobias Schweitzer. Kurz nach Veröffentlichung seiner über dem Ausschluss aufgehängt gewesen als bei ei- Qualifikationsschrift ist am 22. Oktober 2014 eine nem gerichtlichen Ermessen, das auch das „Ob“ der grundlegend überarbeitete Verordnung über das Sta- Parteiordnungsmaßnahme erfassen soll. tut und die Finanzierung europäischer politischer Im vierten Teil werden schließlich Aspekte des Pro- Parteien und europäischer politischer Stiftungen ver- zessrechts behandelt und damit insbesondere durch öffentlicht worden.26 Damit haben sich auch im Falle die Ausführungen zu den Kontrollmöglichkeiten der Dissertation von Tobias Schweitzer nach der Fer- staatlicher Gerichte wesentliche praxisrelevante Fra- tigstellung und Veröffentlichung der Arbeit nicht un- gestellungen kenntnisreich und mit eigenem juristi- erhebliche Veränderungen im europäischen Parteien- schem Lösungsansatz erörtert. Auch hier finden sich recht ergeben. Das mag ärgerlich sein, führt aber kei- für die Praxis wichtige Erläuterungen und Grundle- nesfalls dazu, dass die gefundenen Forschungsergeb- gungen. nisse hinfällig wären. Grundlegende Prinzipien des europäischen Parteienrechts verändern sich nicht Wer sich über den genauso praxisrelevanten wie durch neuerliche Konkretisierungen im Sekundär- schwierigen Bereich der Parteiausschlussverfahren recht. einen Überblick verschaffen will, ist bei der Arbeit von Sebastian Roßner gut aufgehoben und wird ins- Die Arbeit gliedert sich in sechs Abschnitte. Im ers- besondere auch in die rechts- wie politikwissen- ten eher darstellenden Teil (§ 2) zeigt Schweitzer schaftlichen Grundlagen eingeführt, die diesem kon- auf, wie sich die europäischen politischen Parteien fliktgeladenen Bereich zugrunde liegen. Dass man an und das europäische Parteiensystem bis zum heuti- der einen oder anderen Stelle auch anderer Auffas- gen Tage entwickelt haben. Dargestellt werden die sung sein kann, ändert insofern nichts an der Qualität historische Entwicklung der europäischen Parteien, der aufschlussreichen Darstellung. Insgesamt ein ihre Organisationsstruktur und ihre Einnahmen so- Werk, das die parteienrechtliche Diskussion nur be- wie die Entwicklung der Parteienfinanzierung auf reichern und beleben kann. europäischer Ebene. Eine notwendige Grundlegung für die folgende Untersuchung. Prof. Dr. Sophie Lenski

25 S. Armbrecht, politische Parteien im europäischen Verfassungs- verbund – neue Impulse durch die VO (EG) Nr. 2004/2003, Baden-Baden 2008. 26 Verordnung Nummer 1141/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2014 über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen, ABl. L 317/1 vom 4. November 2014.

197 Rezensionen MIP 2015 21. Jhrg.

Im Anschluss daran (§ 3) wendet sich die Arbeit den menhierarchie Vorrang gegenüber dem Sekundär- Grundproblemen einer öffentlichen Finanzierung recht und sei Maßstab für dessen Rechtmäßigkeit. politischer Parteien auf europäischer Ebene zu. Zu- Bei der Definition der politischen Parteien auf euro- nächst betrachtet Schweitzer die Parteifunktionen auf päischer Ebene innerhalb der Verordnung handele es europäischer Ebene und gleicht diese mit den „klas- sich in Wirklichkeit nur um die Voraussetzungen ih- sischen“ Parteifunktionen ab. Nachdem er einen rer Subventionierung. In der Arbeit wird klar unter- Mangel bei der Ausfüllung der Parteifunktionen dia- schieden zwischen einem sekundärrechtlichen und gnostiziert hat, wendet er sich dem Kernproblem zu, einem primärrechtlichen Parteibegriff. nämlich der Frage nach der Zulässigkeit öffentlicher Im fünften (§ 6) und sechsten (§ 7) inhaltlichen Teil Finanzhilfen an europäische Parteien. Weder verbie- der Arbeit setzt sich Schweitzer vertieft mit den Vor- te das Unionsrecht eine öffentliche Finanzierung eu- schriften der Verordnung aus dem Jahre 2007 aus- ropäischer Parteien, noch gebiete es, eine solche zu einander. Zunächst werden die Grenzen der Fi- schaffen bzw. aufrechtzuerhalten. Der europäische nanzierung und die Verteilungskriterien für die öf- Gesetzgeber könne frei darüber entscheiden, ob er fentlichen Mittel dargestellt und kritisch beleuchtet. eine öffentliche Finanzierung vorsehe. Im Anschluss daran setzt er sich mit dem Verfahren Der dritte inhaltliche Teil der Arbeit (§ 4) widmet zur Festsetzung der öffentlichen Mittel vertieft aus- sich den parteienrechtlichen Grundprinzipien im Eu- einander. Auch die Kontrolle und Rechnungsprüfung roparecht. Hier setzt sich Schweitzer sehr intensiv erhält hier gebührenden Raum, bevor die Arbeit mit mit dem Grundsatz der Parteienfreiheit, dem Prinzip einer Zusammenfassung schließt. der Chancengleichheit, dem Recht der Bürger auf Wer sich über den Bereich des europäischen Partei- gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung enrechts einen Überblick verschaffen will, ist bei der sowie dem Grundsatz der Öffentlichkeit auseinander. Arbeit von Tobias Schweitzer, trotz des ärgerlichen Dabei untersucht er zunächst immer die Bedeutung Aktualitätsverlustes, gut aufgehoben. Man wird sehr der Grundsätze in der Bundesrepublik Deutschland, gut in die rechtswissenschaftlichen Grundlagen ein- danach in den anderen Mitgliedstaaten der Europäi- geführt, die dem europäischen Parteienrecht zugrun- schen Union und abschließend auf europäischer Ebe- de liegen. Da die deutsche Parteienrechtsentwick- ne. Insbesondere in diesem Abschnitt ist beachtlich, lung auch eine prägende Rolle auf der europäischen wie sorgfältig und kenntnisreich die Aufarbeitung Ebene spielt, ist die Lektüre dieses Buches ebenso der insbesondere deutschen juristischen parteien- im Hinblick auf die Entwicklungen im deutschen rechtlichen Literatur gelungen ist. Die Darstellung Parteienrecht zu empfehlen. Insgesamt ein Werk, der parteienrechtlichen Prinzipien ist klar struktu- dass die parteienrechtliche Diskussion nicht nur im riert, sehr zielführend und bereitet die bestehenden Hinblick auf die europäischen politischen Parteien unterschiedlichen juristischen Ansichten sehr gut bereichert. auf. Allerdings unterscheidet Schweitzer in diesem Teil der Arbeit nicht zwischen der Begrifflichkeit Dr. Heike Merten „Prinzip“ und „Grundsatz“. So überschreibt er den Abschnitt § 4 B mit „Prinzip der Chancengleichheit“ und spricht zugleich im ersten Absatz vom Grund- Treibel, Jan: Die FDP: Prozesse innerparteilicher satz der Chancengleichheit. Damit lässt er den Leser Führung 2000-2012, Nomos, Baden-Baden 2014, im Unklaren darüber, ob er mit der Wahl der Ab- 283 S., ISBN 978-3832953867, 22,90 €. schnittsüberschrift bei der Chancengleichheit, im Forschungslücke FDP Unterschied zu den übrigen untersuchten Grundsät- zen, eine andere und damit besondere Wertigkeit Zur FDP, aber auch zu liberalen Parteien insgesamt, sieht. liegen derzeit nur wenige Studien vor. Im deutsch- sprachigen Raum haben sich vor allem Hans Vorländer Den vierten inhaltlichen Teil der Arbeit (§ 5) widmet und Jürgen Dittberner mit Einzelfallstudien zur FDP Schweitzer dem europarechtlichen Parteibegriff. Er verdient gemacht27. Übergreifende Einordnungen in kommt zu dem Ergebnis, dass die in der Verordnung den deutschen Parteienwettbewerb stammen von Franz zu findende Definition der europäischen politischen Parteien keine Legaldefinition darstellen kann. Eine 27 Siehe auch die Besprechung von Jürgen Dittberner: Die FDP. Von der Regierung in die außerparlamentarische Opposition. sekundärrechtliche Definition könne von vornherein Und zurück? Berlin: Logos Verlag, 135 Seiten, 2014, in die- nicht das primärrechtliche Verständnis eines Begriffes sen MIP; Hans Vorländer 2013: Freie Demokratische Partei konstituieren. Das Primärrecht genieße in der Nor- (FDP), in: Frank Decker und Viola Neu (Hrsg.) Handbuch der deutschen Parteien, 2. Auflage, Wiesbaden, S. 270-281.

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Walter und insbesondere Oskar Niedermayer28. Auf rentscheid zum ESM und der Ausarbeitung des neu- internationaler Ebene sieht es bei aktuellen Untersu- en Grundsatzprogramms war die Parteibasis bei den chungen liberaler Parteien eher noch knapper aus. wichtigen Entscheidungen nicht direkt beteiligt (S. Ein zuletzt bemerkenswerter Band zu liberalen Partei- 234). Allerdings hat z.B. der Wechsel an der Partei- en ist ein englischsprachiger Herausgeberband von spitze durchaus einen nicht unerheblichen Einfluss Emil Kirchner aus dem Jahr 1988. Insofern ist Jan insbesondere auf die Entwicklung des Grundsatzpro- Treibels Studie zu den innerparteilichen Entschei- gramms gehabt. So kam der Begriff „Wachstum“ in dungsprozessen der FDP auf jeden Fall eine Erwäh- dem ursprünglichen, vom damaligen Generalsekretär nung wert. Die Arbeit entstand als Dissertation an Lindner entwickelten Programmentwurf nur ganz am der Universität Duisburg-Essen unter Erstbetreuung Rande vor. Der neue Vorsitzende Philip Rösler woll- von Karl-Rudolf Korte. Korte kommt der Verdienst te aber „Wachstum“ als neuen Leitbegriff. Entspre- zu, beim Nomos-Verlag eine Schriftenreihe zu den chend wurde das Programm umgeschrieben (S. politischen Parteien in Deutschland platziert zu ha- 190f). Die zentrale Rolle des Parteivorsitzenden wird ben. Diese Reihe bedient zugleich das öffentliche auch beim einstimmigen Beschluss der Kabinettslis- wie wissenschaftliche Interesse an den deutschen te 2009 unter Guido Westerwelle deutlich. Wester- Parteien. Treibels Arbeit basiert auf 27 Interviews welle schaffte es durch geschicktes Einbinden seiner mit FDP-Entscheidungsträgern sowie zehn Beobach- Gegner sowie Belohnung seiner langjährigen Unter- tungsprotokollen bei Parteitagen, Delegiertenkonfe- stützer mögliche Kampfkandidaturen zu verhindern renzen und weiteren Versammlungen innerparteili- und seine eigene Position vordergründig zu festigen cher Organisationen im Zeitraum von 2009 bis 2012 (S. 178). Auch bei der später berühmt gewordenen (S. 251f). Stärken hat die Dissertation überall dort, wo Mehrwertsteuersatzreduzierung für Hoteliers wird auf dieses eigenständig erhobene Untersuchungsma- der Einfluss des Parteivorsitzenden Westerwelle terial zurückgegriffen wird. Dies ist vor allem bei deutlich. Mit der Praktik der innerparteilichen Wei- den zwölf Einzelfallstudien zu wichtigen Entschei- sung sorgte er gegen innerparteiliche Bedenken für dungsprozessen innerhalb der FDP der Fall. Theore- die Beibehaltung dieses Punktes im Wahlprogramm. tisch wird ein „mikropolitischer“ Zugang (S. 30ff) Auch innerhalb der Koalitionsrunde setzt er sie gewählt, der Praktiken des Führens und Folgens im durch (S. 218). Treibel kommt zu dem Schluss, dass Sinne von Rüb29 in den Vordergrund stellt. Die dich- die langjährige Oppositionsrolle die starke Fokussie- ten Einzelfallbeschreibungen nehmen Bezug zu diesen rung auf den Parteivorsitzenden unterstützte, wäh- Praktiken. Zentraler Befund der Studie ist, dass die rend unter den Rahmenbedingungen des Regierens Parteiführung sich der Praktiken Drohung, Beloh- eine solche individuelle Parteiführung erschwert nung, Weisung, Delegation exklusiv bedient, während werde (S. 244-247). Westerwelle agierte aber auch die Praktiken Konfrontation und Abstimmung von als Moderator, wie Treibel anhand der Debatte zum den Führungsadressaten verwendet werden (S. 232). Steuerkonzept zeigt. Hier gab es trotz geringer in- Gemeinsam sind beiden Verhandlung, Moderation, haltlicher Differenzen eine stark personalisierte Aus- Vereinbarung und Information. Drei Entscheidungs- einandersetzung zwischen dem NRW-Landesver- modi dominierten im Untersuchungszeitraum bei der band mit dem Pinkwartkonzept und dem Vorschlag FDP: (1) hierarchisch-führungszentrierte Entschei- von Solms. Solms hatte von der Parteiführung den dungen u.a. auf der Ebene des Parteipräsidiums, die Auftrag erhalten, das Steuerkonzept zu entwickeln. meist informell erfolgen; (2) dialogische Konsens- Das Solms-Papier fand die Zustimmung der Dele- entscheidungen, die in der Programmkommission gierten (S. 212-214). An dieser Stelle geht Treibel ebenfalls meist informell erfolgen; (3) konfliktorien- nicht darauf ein, dass Solms prominent das Papier tierte Mehrheitsentscheidungen, die auf Parteitagen ausarbeitete, dann aber nicht ins Kabinett einzog. ausgefochten werden und institutionell formellen Hier zeigt sich eine Unzulänglichkeit der Analyse: Regeln folgen (S. 233f). Außer bei dem Mitgliede- Die Fallstudien bleiben unverbunden nebeneinander stehen. Beziehungen zwischen den verschiedenen weg- 28 Siehe auch die Besprechung von Oskar Niedermayer: Die weisenden Entscheidungen werden nicht hergestellt. Parteien zur Bundestagswahl 2013. Springer VS Verlag, Die Fallauswahl für die Einzelfallstudien wurde „in- Wiesbaden. 2015, 258 Seiten, in diesen MIP; Franz Walter duktiv“ über „exemplarische Schlüsselentscheidun- 2010: Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besser- verdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld: transcript Verlag. gen“ getroffen, welche wiederum von den interview- 29 Zitiert nach Jan Treibel: Friedbert W. Rüb (2009): Über das ten Experten aus der FDP genannt wurden (S. 42). Organisieren der Regierungsorganisation und über Regie- Leider fehlt es an Hinweisen, wie diese Experten für rungsstile. Eine praxeologische Perspektive, in: Österreichi- die Interviews identifiziert und ausgewählt wurden. sche Zeitschrift für Politikwissenschaft 38 (1), S. 43-60.

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Auch bleibt im Dunkeln, wie Interviews und Beob- unterschiedlichster Methoden und Perspektiven, mit achtungsbögen ausgewertet wurden. Hier wäre ein denen die verschiedenen Ebenen, Akteure, Formen, Muster eines Beobachtungsbogens und eines Inter- Einflussfaktoren und Auswirkungen politischer Teil- viewleitfadens hilfreich gewesen. Was Treibel selbst habe analysiert werden. Charakteristisch für diesen kritisch diskutiert, ist, dass er aufgrund seines Mate- Sammelband ist das ihm zugrundeliegende weite rials nur die subjektive Binnenperspektive einiger Partizipationskonzept. Wissenschaftliche Aufsätze FDP-Akteure aufnimmt (S. 44). Eine kritische Ein- wechseln sich ab mit Fallstudien und Beiträgen von ordnung oder Reflexion der FDP-Entscheidungspro- Praktikern, etwa aus Parteien und der Wirtschaft. zesse bleibt so fast vorsätzlich im weiteren Verlauf Der sehr strukturierte Band umfasst etwas mehr als der Arbeit aus. Die Arbeit liefert eine knappe histori- 350 Seiten und insgesamt 19 Beiträge, wobei er sich sche Einführung zur Programmatik der Liberalen in vier Abschnitte gliedert. Auf einen einleitenden und insbesondere einen spannend zu lesenden Ab- Teil folgen drei Kapitel, in denen der Schwerpunkt schnitt zur Entwicklung der FDP in der Bundesrepu- der Betrachtung von der Gesellschaft über die Partei- blik Deutschland. Der innerparteiliche Aufbau der en zum Staat hin wandert. Diese drei Kapitel unter- FDP wird ausführlich geschildert. Somit bietet diese teilen sich jeweils in Einführung, Praxisbeispiele und Dissertation neben den Fallstudien zum Führungsstil wissenschaftliche Untersuchungen bzw. Fallstudien. der FDP in den Jahren 2000 bis 2012 umfangreiche Die Übersichtlichkeit des Bandes erleichtert vor al- Informationen zum selten erforschten Phänomen FDP. lem dem interessierten Laien den Einstieg in die Ma- Das Buch ist hervorragend von Niko Switek redigiert terie, wie es auch der mit rund 70 Seiten sehr um- und lässt sich sprachlich flüssig lesen. Der vollstän- fangreiche einleitende Teil verdeutlicht. Hier stellt dige Verzicht auf den internationalen Vergleich er- die Herausgeberin zunächst ausführlich Zielsetzung schwert allerdings eine kritische Einordnung des Ge- und Aufbau vor, anschließend folgen zwei übergrei- schehens. Der Epilog zu den strategischen Chancen fende Einführungen in die Thematik. Zuerst beleuch- der FDP nach der Bundestagswahl 2013 fällt ent- tet Gerhard Vowe die Zusammenhänge aus kommu- sprechend knapp aus. Nichtsdestoweniger hat Treibel nikationswissenschaftlicher Sicht, danach schildert ein informatives und lesenswertes aktuelles Werk Norbert Kersting die Perspektiven der Politik. In bei- zur FDP vorgelegt. den Beiträgen finden sich zahlreiche Begriffsbestim- Dr. Simon Tobias Franzmann mungen und es werden akribisch die bisherigen Ent- wicklungen unter Bezugnahme auf aktuelle Studien und Erhebungen dargestellt. Voss, Kathrin (Hrsg.): Internet und Partizipation. Das erste der drei weiterführenden Kapitel bietet Bottom-up oder Top-down? Politische Beteiligungs- einen Überblick über zivilgesellschaftliche Partizipa- möglichkeiten im Internet, Springer VS, Wiesba- tion im Netz. Es beginnt mit dem Beitrag von Sigrid den 2014, 348 S., ISBN 978-3658010287, 49,99 €. Baringhorst, die den Strukturwandel in der Arbeit Es besteht ein gesellschaftliches Bedürfnis nach ei- von NGOs und von politisch aktiven Menschen un- nem Mehr an politischer Beteiligung. Große Hoff- tersucht. Danach beschreibt Dieter Rucht die Poten- nungen werden dabei in elektronische Kommunikati- tiale des Internet für Offline-Proteste. Als Schwach- onsmittel und die interaktiven Beteiligungsmöglich- stellen benennt er unter anderem den wachsenden keiten gesetzt, die das Internet bietet. Zu dieser Wettbewerb um Aufmerksamkeit, die Inflation fri- jüngst wieder aufgelebten Diskussion fand im De- scher Informationen und die häufig fehlende Risiko- zember 2012 die Tagung „Internet & Partizipation – bereitschaft der User. Kathrin Voss betont in ihrem Bottom-up oder Top-down?“ statt, gefördert von der Aufsatz zu Grassrootkampagnen, dass politische Ide- Akademie der Wissenschaften Hamburg. Frucht die- en innerhalb des richtigen Zeitfensters platziert wer- ser Tagung ist der nun von Kathrin Voss herausgege- den müssen. Alle Beiträge relativieren den Stellenwert bene, gleichnamige Sammelband. Der – nicht immer des Internet für Protestaktionen, der in der klassi- unberechtigten – Kritik an Tagungsbänden wollte die schen westlichen Berichterstattung – beispielsweise Verfasserin wohl entgegenwirken, indem sie im Vor- nach den Ereignissen in Ägypten 2011 – häufig über- wort betont, es handele sich hierbei explizit nicht um zeichnet werde. Übereinstimmend wird festgestellt, einen solchen. Gleichwohl ist zu beachten, dass eine dass für eine wirkungsvolle gesellschaftliche Mobili- sinnvoll und klug zusammengestellte Tagung auch sierung die Nutzung von Online-Instrumenten alleine zu profunden Veröffentlichungen führen kann; dies meist nicht ausreicht. Diese Einschätzung wird durch ist hier der Fall. Hervorzuheben ist die Bandbreite die Fallstudien am Ende des Kapitels gestützt.

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Das zweite Kapitel beleuchtet E-Partizipationsange- Thorben Mämecke und Josef Wehner, die E-Partizi- bote innerhalb von Parteien und in der Kommunika- pation als statistisches Ereignis begreifen und die tion mit den Bürgern, besonders im Wahlkampf. Wechselwirkungen von Erfassung/Darstellung der Christoph Bieber, der stichhaltig und umfassend in Ergebnisse mit dem eigentlichen Meinungsbildungs-/ das Kapitel einleitet, unterscheidet zutreffend zwi- Beteiligungsprozess herausarbeiten. schen digitaler „Parteienkommunikation“ und „Partei- Zusammenfassend: Dieser Sammelband stellt ein in- organisation“. Ein weiterer Beitrag ist den Erfahrun- formatives und abwechslungsreiches Grundlagen- gen der Piratenpartei gewidmet, die hier als Vorrei- buch zum aktuellen Stand der Diskussion dar. Dass ter fungiert und sich selbst als „Partei des Informati- die Bundestagswahlen 2013 nicht Teil der Analysen onszeitalters“ versteht. Die Autorin Anne Alter, akti- sind, schmälert dies nicht. Es wird ein fundierter ves Spitzenmitglied der Piraten Hamburg, scheut je- Überblick über theoretische Konzepte, neue Ent- doch nicht davor zurück, auch die Herausforderun- wicklungen, bestehende Organisationen und Initiati- gen zu schildern, denen die junge Partei gegenüber- ven geboten. Zwar vermittelt der Band keine revolu- steht. So erschwere das rasche Wachstum die Durch- tionären Erkenntnisse, diesen Anspruch will er aber führung von Präsenzveranstaltungen, Parteitage wür- auch nicht erfüllen. Vielmehr eignet er sich beson- den zu groß, zu teuer und nur von wenigen Mitglie- ders gut für den disziplinübergreifenden Querein- dern der Parteibasis besucht. Naheliegend seien da- stieg und ermöglicht dem Leser einen differenzierten her virtuelle Parteigliederungen, deren Durchführung Einblick in das weite Feld der Online-Partizipation. jedoch durch technische und rechtliche Unsicherhei- ten erschwert werde. Hinzu komme die nachlassende Theresa Witt Akzeptanz der zunehmend unübersichtlichen Infra- strukturen, insbesondere der Plattform Liquid Feed- back, innerhalb der Partei. Diskutiert würden des- halb virtuelle ständige Mitgliederversammlungen, auf denen – ggf. verbindliche – Entscheidungen außer- halb von Parteitagen getroffen werden könnten. Die Befunde der Fallstudie zum Verfahren „online- antrag.spd.de“, die der Beitrag von Katharina Hanel und Stefan Marschall präsentiert, zeigt für die etablier- ten Parteien dagegen eher eine „symbolische Öffnung“. Als maßgebliche Hemmfaktoren einer stärkeren In- klusion der Parteibasis identifizieren die Verfasser mangelnde Habitualisierung und fehlende Rechtsver- bindlichkeit sowie machtgesteuerte Kalküle der Par- teieliten und die Robustheit der althergebrachten Strukturen. Für den Wahlkampf führen Robert Hein- rich und Malte Spitz Praxisbeispiele der Partei die Grünen an, anhand derer sie Erfolgsfaktoren für On- line-Kampagnen erläutern. Das dritte Kapitel schließlich widmet sich staatlich organisierter Partizipation. Hier stehen Konzepte wie Liquid Democracy und Open Gouvernement im Mit- telpunkt. In dem einleitenden Beitrag von Herbert Kubicek sind vor allem seine Ausführungen zur Eva- luation von webbasierten Bürgerbeteiligungsangebo- ten herauszuheben. Er stellt die These auf, Konsultati- onsprojekte müssten umso aufwendiger gestaltet und betreut werden, je größer der Bedarf ist, Konsens oder Kompromisse zu erreichen. In diese Richtung geht auch der Schlussbeitrag von Matthias Trénel und Katja Fitschen, in dem Bewertungsmaßstäbe und Bewertungsunsicherheiten thematisiert werden. Außerordentlich ist außerdem die Perspektive von

201 Rechtsprechungsübersicht MIP 2015 21. Jhrg.

Rechtsprechungsübersicht

1. Grundlagen zum Parteienrecht BVerfG, Urteil vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13, in: NVwZ 2014, S. 1156-1159 (Chancengleichheit politischer Parteien im Wahlkampf und Äußerungsbefugnis des Bundespräsidenten). BVerfG, Urteil vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, online veröffentlicht bei juris (Zur Äußerungsbefugnis von Mitgliedern der Bundesregierung im Hinblick auf die Gewährleistung der Chancengleichheit politischer Par- teien). BVerfG, Beschluss vom 15.07.2014 – 2 BvE 2/14, in: BayVBl 2014, S. 754 (Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren: Chancengleichheit der politischen Parteien und Äuße- rungsbefugnis von Regierungsmitgliedern). BVerfG, Urteil vom 25.03.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, in: JZ 2014, S. 560-572 (Ausgestaltung der ZDF- Aufsichtsgremien mit Vorgaben der Rundfunkfreiheit teilweise unvereinbar – Anforderungen an Vielfaltsi- cherung, Staatsferne und Transparenz; abweichende Meinung: weitergehende Entstaatlichung bzw. Staats- freiheit des ZDF geboten). VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.05.2014 – VGH A 39/14, in: NVwZ-RR 2014, S. 665-668 (Amtlichen Äußerungen eines Amtsträgers und Gebot parteipolitischer Neutralität). VerfGH Saarland, Urteil vom 08.07.2014 – Lv 5/14, online veröffentlicht in BeckRS 2014, 53505 ( Bezeich- nung von NPD-Anhängern als „braune Brut“, als „Mob, der aus den Köpfen kriecht“ und als „Nazis von heute“ durch Bildungsminister erlaubt). VerfGH Thüringen, Beschluss vom 14.03.2014 – 3/14, in: ThürVBl 2014, S. 191-192 (Ablehnung des Erlass einer einstweiligen Anordnung: Politische Partei sieht den Grundsatz der Neutralität von Amtsträgern durch Äußerungen einer Ministerin verletzt). VerfGH Thüringen, Urteil vom 03.12.2014 - 2/14, online veröffentlicht bei juris (Grundsatz der Neutralität von Amtsträgern durch Aufruf einer Ministerin zum Protest gegen Landesparteitag der NPD verletzt). BVerwG, Urteil vom 26.02.2014 – 6 C 1/13, in: NVwZ 2014, S. 883-886 (Untersagung einer NPD-Ver- sammlung in Trier am Holocaust-Gedenktag 2012). VerwGH Hessen, Beschluss vom 24.11.2014 – 8 A 1605/14, online veröffentlicht bei juris (Politische Partei wehrt sich gegen die Verbreitung einer Rede eines Oberbürgermeisters). OVG des Saarlandes, Beschluss vom 21.02.2014 – 2 B 24/14, in: KommJur 2014, S. 173-175 (Öffentliche Forderung eines Parteiverbots durch Kommune). OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 06.12.2012 – 7 A 10821/12, in: DVBl 2013, S. 390-394 (Untersagung ei- ner NPD-Versammlung in Trier am Holocaust-Gedenktag 2012). OLG Karlsruhe, Urteil vom 18.12.2013 – 13 U 162/12, in: NJW 2014, S. 706-708 (Zulässige Verwendung des Wortes „grün“ im Namen einer Wählervereinigung) LG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 11.07.2012 – 1 O 250/11, nicht veröffentlicht (Zulässige Verwendung des Wortes „grün“ im Namen einer Wählervereinigung). VG Bremen, Urteil vom 08.08.2014 – 2 K 1002/13, online veröffentlicht bei juris (NPD-Mitgliedschaft führt zu Widerruf der Waffenbesitzkarte, Waffenverbot und Sicherstellung und Einziehung von Waffen und Mu- nition). VG Bayreuth, Beschluss vom 11.07.2014 – B 3 S 14.443, online veröffentlicht bei juris (Altersgrenzen bei Teilnahmeverboten und Begleitungserfordernissen für einen gaststättenrechtlich erlaubten Festbetrieb einer politischen Partei).

202 MIP 2015 21. Jhrg. Rechtsprechungsübersicht

VG Frankfurt, Beschluss vom 02.07.2014 – 7 K 4006/13.F, nicht veröffentlicht (Politische Partei wehrt sich gegen die Verbreitung einer Rede eines Oberbürgermeisters). VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 24.04.2014 – 14 L 641/14, online veröffentlicht bei juris (Einstweiliger Rechtsschutz gegen Versammlungsverbot – unzulässige Fortführung oder Förderung einer verbotenen Verei- nigung durch eine Versammlung). AG Königswinter, Urteil vom 04.04.2014 – 3 C 40/14, online veröffentlicht bei juris (Überprüfung parteiin- terner Wahlen und Vorrang der Parteischiedsgerichtsbarkeit). VG des Saarlandes, Beschluss vom 27.01.2014 – 3 L 40/14, in: LKRZ 2014, S. 164-165 (Öffentlich geäu- ßerte Forderung einer Oberbürgermeisterin nach einem NPD-Verbot). VG Trier, Urteil vom 31.07.2012 – 1 K 180/12.TR, nicht veröffentlicht (Untersagung einer NPD-Versamm- lung in Trier am Holocaust-Gedenktag 2012).

2. Chancengleichheit BVerfG, Beschluss vom 15.05.2014 – 2 BvR 1006/14, in: WM 2014, S. 1172-1173 (Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung: Anspruch einer politischen Partei bzw ihrer Untergliederungen auf Führung eines Girokontos - hier: unzureichende Darlegung eines schweren Nachteils für Kreisverband einer Partei durch Versagung der Einrichtung eines Girokontos). VerwGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.10.2014 – 1 S 1855/14, online veröffentlicht bei juris (Politische Partei begehrt Zugang zu einer Stadthalle zur Durchführung eines Bundesparteitages). Sächsisches OVG, Urteil vom 19.08.2014 – 4 A 810/13, online veröffentlicht bei juris (Kreisverband einer politischen Partei begehrt Eröffnung eines Girokontos bei der Sparkasse). OVG des Saarlandes, Beschluss vom 14.05.2014 – 1 D 272/14, in: NVwZ-RR 2014, S. 671-672 (Zur Ver- pflichtung zum ordnungsbehördlichen Einschreiten gegen Wahlplakate). OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.05.2014 – OVG 3 S 25.14, online veröffentlicht bei juris (Ge- schäftsgirokonto bei der Sparkasse für Kreisverband der NPD). OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.02.2014 – OVG 3 N 109.12, online veröffentlicht bei juris (Girokonto für Landesverband einer politischen Partei). OLG Frankfurt, Beschluss vom 24.10.2014 – 14 W 52/14, online veröffentlicht bei juris (Leistungsverfü- gung auf Zurverfügungstellung von angemieteten Räumlichkeiten für die Durchführung eines Parteitages). LG Dresden, Beschluss vom 22.08.2014 – 3 O 2040/14 EV, nicht veröffentlicht (Ablehnung einer einstwei- ligen Verfügung gegenüber einer politischen Partei wegen fehlender Wiederholungsgefahr: Eigenmächtiges Abhängen von Plakaten einer anderen Partei). LG Fulda, Beschluss vom 25.06.2014 – 4 O 474/14, nicht veröffentlicht (Leistungsverfügung auf Zurverfü- gungstellung von angemieteten Räumlichkeiten für die Durchführung eines politischen Parteitages). VG Karlsruhe, Beschluss vom 10.09.2014 – 6 K 1670/14, online veröffentlicht bei juris (Politische Partei begehrt Zugang zu einer Stadthalle zur Durchführung eines Bundesparteitages). VG München, Beschluss vom 22.07.2014 – M 22 E 14.3151, online veröffentlicht bei juris (Veranstaltung „StopWatchingUs – Demonstration - NSA Abhöraffäre“; Veranstaltungsort in benachbarter Stadt; Bündnis aus politischen Parteien und verschiedenen Organisationen als Veranstalter; Versagung einer Ausnahmege- nehmigung für das Aufstellen von 20 Plakaten im Bereich der Stadt). VG Düsseldorf, Urteil vom 26.05.2014 – 35 K (Leistungsverfügung auf Zurverfügungstellung von ange- mieteten Räumlichkeiten für die Durchführung eines politischen Parteitages). VG Würzburg, Beschluss vom 26.05.2014 – W 2 E 14.398, online veröffentlicht bei juris (Zulassung einer politischen Partei zu einer Stadthalle).

203 Rechtsprechungsübersicht MIP 2015 21. Jhrg.

VG des Saarlandes, Beschluss vom 08.05.2014 – 6 L 753/14, nicht veröffentlicht (Zur Verpflichtung zum ordnungsbehördlichen Einschreiten gegen Wahlplakate). VG Berlin, Beschluss vom 28.04.2014 – 2 L 59.14, online veröffentlicht bei juris (Sendung von eingereich- ten Wahlwerbespots für die Europawahl 2014). VG Berlin, Beschluss vom 17.04.2014 – 2 L 49.14, online veröffentlicht bei juris (Geschäftsgirokonto bei der Sparkasse für Kreisverband der NPD). VG Dresden, Urteil vom 29.01.2013 – 7 K 142/11, nicht veröffentlicht (Kreisverband einer politischen Par- tei begehrt Eröffnung eines Girokontos bei der Sparkasse). VG Berlin, Urteil vom 30.03.2012 – 2 K 118.11, online veröffentlicht bei juris (Girokonto für Landesver- band einer politischen Partei).

3. Parteienfinanzierung BVerfG, Beschluss vom 28.01.2014 – 2 BvB 1/13, online veröffentlicht bei juris (Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung im Parteiverbotsverfahren sowie Ablehnung der Verfahrensaussetzung – Verrechnung von Abschlagszahlungen gem. § 20 PartG mit Rückforderungsanspruch gem. § 31b PartG be- darf vorrangig fachgerichtlicher Klärung). VG Hannover, Urteil vom 19.03.2014 – 11 A 3631/10, in: NdsVBl 2014, S. 229-232 (Politischer Jugendver- band begehrt Zustimmung zum vorzeitigen Maßnahmebeginn für die Durchführung von politischen Bil- dungsmaßnahmen und eine vorläufige Zahlung von Fördermitteln für das Jahr 2010).

4. Parteien und Parlamentsrecht BVerfG, Beschluss vom 06.05.2014 – 2 BvE 3/12, in: NVwZ 2014, S. 1159-1160 (Mangels Rechtsschutzbe- dürfnis unzulässiges Organstreitverfahren gegen die zwischenzeitlich aus dem Bundestag ausgeschiedene FDP-Bundestagsfraktion wegen deren Öffentlichkeitsarbeit in Wahlkampfzeiten). BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15.08.2014 – 2 BvR 969/14, in: NJW 2014, S. 3085-3089 (Durchsu- chung bei ehemaligem Bundestagsabgeordneten sowie Beschlagnahme von E-Mails und weiteren Daten ver- fassungsrechtlich nicht zu beanstanden). Hamburgisches VerfG, Beschluss vom 11.12.2014 – HVerfG 3/14, online veröffentlicht bei juris (Keine Verletzung der Rechte politischer Parteien bei fehlendem Stimmrecht für fraktionslose Mitglieder der Be- zirksversammlung im Hauptausschuss). Bayerischer VerfGH, Entscheidung vom 11.09.2014 – Vf. 67-IVa-13, online veröffentlicht bei juris (Beant- wortung parlamentarischer Anfragen durch die Staatsregierung). Thüringer VerfGH, Beschluss vom 09.07.2014 – 17/13, online veröffentlicht bei juris (Verfassungsbe- schwerde einer Abgeordneten gegen gerichtliche Entscheidungen, die in einem strafrechtlichen Ermittlungs- verfahren ergangen sind). Bayerischer VerfGH, Entscheidung vom 22.05.2014 – Vf. 53-IVa-13, online veröffentlicht bei juris (Beant- wortung parlamentarischer Anfragen durch die Staatsregierung). VerfGH Sachsen, Beschluss vom 22.05.2014 – Vf. 58-I-13, online veröffentlicht bei juris (Abgeordneter wendet sich gegen Beantwortung einer von ihm gestellten Kleinen Anfrage). Bayerischer VerfGH, Entscheidung vom 20.03.2014 – Vf. 72-Iva-12, in: BayVBl 2014, S. 464-468 (Verfas- sungsstreitigkeit: Umfang und Grenzen der Antwortpflicht auf parlamentarische Anfragen). OVG Niedersachsen, Beschluss vom 03.07.2014 – 10 ME 38/14, in: NdsVBl 2014, S. 285-286 (Anfechtung der Amtszeitverlängerung eines Landrates durch Minderheitsfraktion/-gruppe oder Kreistagsmitglied). OLG Dresden, Beschluss vom 14.03.2014 – 2 Ws 81/14, in: Rpfleger 2014, S. 335-336 (Strafvollzug in Sachsen: Kontrolle des Schriftwechsels eines Strafgefangenen mit einer parlamentarischen Fraktion).

204 MIP 2015 21. Jhrg. Rechtsprechungsübersicht

LG Dresden, Beschluss vom 16.01.2014 – 6 II StVK 528/13, nicht veröffentlicht (Strafvollzug in Sachsen: Kontrolle des Schriftwechsels eines Strafgefangenen mit einer parlamentarischen Fraktion). VG Regensburg, Urteil vom 24.09.2014 – 3 K 14.1010, online verfügbar bei juris (Verlust der Privilegie- rung eines „alten“ Wahlvorschlagsträgers, wenn sich deren einziges Gemeinderatsmitglied von der ur- sprünglichen Partei abwendet und einer anderen Fraktion hinwendet) VG Köln, Urteil vom 27.03.2014 – 20 K 6717/12, online veröffentlicht bei juris (Informationsrecht einer Abgeordneten gegenüber dem Bundesamt für Verfassungsschutz).

5. Wahlrecht BVerfG, Beschluss vom 01.04.2014 – 2 BvC 1/14, online veröffentlicht bei juris (Nichtanerkennungsbe- schwerde „Die Parteifreien Wähler (DPFW)“ anlässlich der Europawahl 2014 – Unzulässigkeit der Be- schwerde bei Zurückweisung eines Wahlvorschlags wegen fehlender Unterstützungsunterschriften). BVerfG, Beschluss vom 01.04.2014 – 2 BvC 2/14, online veröffentlicht bei juris (Nichtanerkennungsbe- schwerde „Kreusel-Partei Hude-Wüsting (Kreusel)“ anlässlich der Europawahl 2014 – Unzulässigkeit der Beschwerde: Rechtsschutz lediglich eröffnet, wenn Wahlvorschlag nicht nach § 8 Abs. 1 EuWG zurückge- wiesen wird). BVerfG, Beschluss vom 01.04.2014 – 2 BvC 3/14, online veröffentlicht bei juris (Nichtanerkennungsbe- schwerde „Rentner Partei Deutschland“ anlässlich der Europawahl 2014 – Unzulässigkeit der Beschwerde gegen Zurückweisung eines Wahlvorschlags wegen fehlender Unterstützungsunterschriften – zudem Versäu- mung der Beschwerdefrist). BVerfG, Beschluss vom 12.03.2014 – 2 BvE 1/14, online veröffentlicht bei juris (Zurückweisung eines An- trags im Organstreitverfahren: Fristen für Einreichung von Wahlvorschlägen für die Europawahl sowie Zeit- punkt für Entscheidung über Zulässigkeit der Wahlvorschläge verfassungsrechtlich unbedenklich – keine Verletzung der Chancengleichheit). BVerfG, Urteil vom 26.02.2014 – 2 BvE 2/13, 2 BvE 5/13, 2 BvE 6/13, 2 BvE 7/13, 2 BvE 8/13, in: NVwZ 2014, S. 439-450 (Drei-Prozent-Sperrklausel für Wahl zum Europäischen Parlament gegenwärtig verfas- sungswidrig und nichtig. Abweichende Meinung: Sperrklausel sowohl geeignet als auch erforderlich). Bayerischer VerfGH, Entscheidung vom 23.10.2014 – Vf. 20-II-14, online veröffentlicht bei juris (Kandida- tenaufstellung für Landtagswahl). Bayerischer VerfGH, Beschluss vom 10.10.2014 – Vf. 25-III-14, online veröffentlicht bei juris (Nichtbe- rücksichtigung von Stimmen für an der Fünfprozenthürde gescheiterte Parteien bei der Sitzverteilung). VerfGH Saarland, Beschluss vom 07.04.2014 – Lv 19/13, in: LKRZ 2014, S. 255 (Verfassungsmäßigkeit des Sitzzuteilungsverfahrens im saarländischen Landes- und Kommunalrecht). VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 04.04.2014 – VGH A 15/14, VGH A 17/14, in: NVwZ 2014, S. 1089-1097 (Verfassungswidrigkeit der Neugestaltung von amtlichen Stimmzetteln als Maßnahme zur Gleichstellung von Frauen und Männern). VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 13.06.2014 – VGH N 14/14, VGH B 16/14, online veröffentlicht bei juris (Verfassungswidrigkeit der Neugestaltung von amtlichen Stimmzetteln als Maßnahme zur Gleich- stellung von Frauen und Männern). StGH Bremen, Urteil vom 31.01.2014 – St 1/13, in: NVwZ-RR 2014, S. 497-504 (Verfahren zur verfas- sungsrechtlichen Prüfung des Gesetzentwurfs zur Ausweitung des Wahlrechts). VG Ansbach, Urteil vom 11.11.2014 – AN 4 K 14.01333, online veröffentlicht bei juris (Gemeindewahl- recht, Neutralitätsgebot für öffentliche Organe; Anfechtung einer Gemeinderatswahl; Äußerungen des Bür- germeisters der Mitgliedsgemeinde einer Verwaltungsgemeinschaft in der Woche vor Gemeinderatswahl zu Lasten namentlich genannter Bewerber).

205 Literaturübersicht MIP 2015 21. Jhrg.

Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung Dieser Literaturüberblick schließt an die in Heft 20 der „Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Interna- tionales Parteienrecht und Parteienforschung“, S. 223 ff., aufgeführte Übersicht an. Auch hier handelt es sich um eine Auswahlbibliographie, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben will. Im Wesentlichen wurden Publikationen des Jahres 2014 berücksichtigt. Entsprechend der Konzeption kann und soll im Rahmen der reinen Übersicht keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Publikationen geleistet werden. Altenburg, Jens: Der „dritte Anlauf“ – zur Vereinbarkeit des Bundeswahlgesetzes 2013 mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Teil 1), in: UBWV 2014, S. 97-105. Altenburg, Jens: Der „dritte Anlauf“ – zur Vereinbarkeit des Bundeswahlgesetzes 2013 mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Teil 2), in: UBWV 2014, S. 135-143. Altenburg, Jens: Der „dritte Anlauf“ – zur Vereinbarkeit des Bundeswahlgesetzes 2013 mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Teil 3), in: UBWV 2014, S. 176-187. Alvarez, R. Michael/Levin, Ines/Mair, Peter/Trechsel, Alexander: The impact of voting advice applications, in: Party Politics, Vol. 20 (2014), Issue 2, pp. 227-236. Andersen, Asger Lau/Jensen, Thomas: Exit polls and voter turnout, in: Journal of Theoretical Politics, Vol. 26 (2014), Issue 1, pp. 117-134. Andrews, Josephine T./Bairett Jr., Richard L.: Institutions and the stabilization of party systems in the new democracies of Central and Eastern Europe, in: Electoral Studies, Vol. 33 (2014), Issue 1, pp. 307-321. Arnim, Hans Herbert von (Hrsg.): Die Bezahlung und Versorgung von Politikern und Managern, Duncker & Humblot, Berlin 2014. Arnim, Hans Herbert von (Hrsg.): Volkssouveränität, Wahlrecht und direkte Demokratie: Beiträge auf der 14. Speyerer Demokratietagung vom 6. bis 7. Dezember 2012 an der Deutschen Universität für Verwal- tungswissenschaften Speyer, Duncker & Humblot, Berlin 2014. Arnim, Hans Herbert von: Abgeordnetengesetz ohne Kontrolle: Zur Diätennovelle der großen Koalition, in: DVBl. 2014, S. 605-615. Arnim, Hans Herbert von: Die Bezahlung von Politikern: Art, Höhe und Verfahren, in: RuP 2014, S. 138-152. Arnim, Hans Herbert von: Die EU-Politikfinanzierung ignoriert europarechtliche Grundsätze, in: NJW 2014, S. 2250-2256. Arnim, Hans-Herbert von: Kritisches zur Kritik der Sperrklausel-Rechtsprechung des BVerfG, in: DVBl 2014, S. 1489-1500. Austermann, Philipp: Die Entwicklung der Entschädigung und der reisebezogenen Ansprüche im deutschen Abgeordnetenrecht, in: ZParl 2014, S. 270-282. Badenhausen, Elisabeth/Löbel, Janek: Anmerkung zu BVerfG, U. v. 10.06.2014 – 2 BvE 4/13 (Zur Äuße- rungsbefugnis des Bundespräsidenten in Bezug auf politische Parteien), in: VR 2014, S. 357-359. Bamberger, Matthias: Nachamtliche Tätigkeitsbeschränkungen für politische Amtsträger, Duncker & Humblot, Berlin 2014. Bardi, Luciano/Bartolini, Stefano/Trechsel, Alexander: Party adaption and change and the crisis of democracy, in: Party Politics, Vol. 20 (2014), Issue 2, pp. 151-159. Bardi, Luciano/Bartolini, Stefano/Trechsel, Alexander H.: Responsive and Responsible? The Role of Parties in the Twenty-First Century Politics, in: West European Politics, Vol. 37 (2014), Issue 2, pp. 235-252. Bauer, Hartmut: Partizipation durch Petition. Zu Renaissance und Aufstieg des Petitionsrechts in Deutsch- land und Europa, in: DÖV 2014, S. 453-464.

206 MIP 2015 21. Jhrg. Literaturübersicht

Beckermann, Benedikt/Weidemann, Daniel: Unkontrollierbare Regierung – Rechte der Opposition, in: ZRP 2014, S. 90. Behl, Wilfried: Sächsisches Wahlgesetz und Landeswahlordnung: Handbuch für Landtagswahlen in Sachsen mit Kommentar zum Wahlgesetz, SV Saxiona, Dresden 2014. Behnke, Joachim: Das neue Wahlgesetz im Test der Bundestagswahl 2014, in: ZParl 2014, S. 17-37. Behnke, Joachim: The New Electoral Law – or: Good Things Don't Always Come to Those Who Wait, in: German Politics, Vol. 23 (2014), Issue 4, pp. 268-283. Beischl, Martin: Die Europapolitik kroatischer Parteien: Leitbilder, Prioritäten, Entwicklungsperspektiven, Harrassowitz, Wiesbaden 2014. Bértoa, Fernando Casal: Party systems and cleavage structures revisited: A sociological explanation of par- ty system institutionalization in East Central Europe, in: Party Politics, Vol. 20 (2014), Issue 1, pp. 16-36. Biezen, Ingrid van (Hrsg.): On Parties, Party Systems and Democracy: Selected Writings of Peter Mair, Ecpr Press, 2014. Biezen, Ingrid van/Poguntke, Thomas: The decline of membership-based politics, in: Party Politics, Vol. 20 (2014), Issue 2, pp. 205-216. Biezen, Ingrid van/Rashkova, Ekaterina R.: Deterring new party entry? The impact of state regulation on the permeability of party systems, in: Party Politics, Vol. 20 (2014), Issue 6, pp. 890-903. Blumenberg, Manuela Susanne: Ausgabestrukturen demokratischer Parteien im internationalen Vergleich, Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2013. Bolleyer, Nicole/Bytzek, Evelyn: Beyond Duverger: party ideology, party-state relations and informal finance strategies in advanced democracies, in: European Political Science Review, Vol. 6 (2014), Issue 4, pp. 503-524. Bolleyer, Nicole/Trumm, Siim: From parliamentary pay to party funding: The acceptability of informal insti- tutions in advanced democracies, in: European Journal of Political Research, Vol. 53 (2014), Issue 4, pp. 784-802. Brandt, Peter/Lehnert, Detlef: Ferdinand Lassalle und das Staatsverständnis der Sozialdemokratie, Nomos, Baden-Baden 2014. Braun Binder, Nadja/Heußner, Hermann K./Schiller, Theo: Offenlegungsbestimmungen, Spenden- und Ausga- benbegrenzungen in der Direkten Demokratie: Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2014. Brettschneider, Jörg: Nutzen der ökonomischen Theorie der Politik für eine Konkretisierung des Gebotes in- nerparteilicher Demokratie: Beschreibung innerparteilicher Entscheidungsprozesse als Wettbewerb eigen- nütziger Akteure und daraus folgende Regulierungsanforderungen, Duncker & Humblot, Berlin 2014. Bröchler, Stephan/Grunden, Timo (Hrsg.): Informelle Politik. Konzepte, Akteure und Prozesse, Springer VS, Wiesbaden 2014. Brocker, Lars: Die „Splitterenquete“: Rechte der nicht qualifizierten („einfachen“) Minderheit im parlamen- tarischen Untersuchungsverfahren, in: DÖV 2014, S. 475-479. Brosig, Bernhard: Wahlautomaten, Internetwahl etc. aus Sicht der Praxis! Das Für und Wider der elektroni- schen Wahl in Deutschland, in: KommP Wahlen 2014, S. 14-15. Brück, Peter: Wahlwerbung im Radio, Springer VS, Wiesbaden 2014. Bull, Hans Peter: Anmerkung zu KG, U. v. 10.09.2013 – 7 U 131/12 (Ausschluss aus einer politischen Par- tei wegen Verstoßes gegen die Grundsätze und die Ordnung der Partei), in: DVBl. 2014, S. 262-264. Bull, Hans Peter: Erfolgswertgleichheit: eine Fehlkonstruktion im Deutschen Wahlrecht, in: DVBl. 2014, S. 1213-1217. Buus, Marcel: Frauenförderung auf dem Stimmzettel?, in: LKRZ 2014, S. 102-106.

207 Literaturübersicht MIP 2015 21. Jhrg.

Cancik, Pascale: Wirkungsmöglichkeiten parlamentarischer Opposition im Falle einer qualifizierten Großen Koalition. Anforderungen des Grundgesetzes, in: NVwZ 2014, S. 18-24. Ceffinato, Tobias: Das Institut der Wahlfeststellung und seine verfassungsmäßige Zulässigkeit, in: Jura 2014, S. 655-665. Ceron, Andrea: Gamson rule not for all: Patterns of portfolio allocation among Italian party factions, in: Eu- ropean Journal of Political Research, Vol. 53 (2014), Issue 1, pp. 180-199. Clark, Michael: Does Public Opinion Respond to Shifts in Party Valence? A Cross-National Analysis of Western Europe, 1976-2002, in: West European Politics, Vol. 37 (2014), Issue 1, pp. 91-112. Clark, Michael: Understanding Parties’ Policy Shifts in Western Europe: The Role of Valence, 1976-2003, in: British Journal of Political Science, Vol. 44 (2014), Issue 2, pp. 261-286. Clark, Michael/Leiter, Debra: Does the Ideological Dispersion of Parties Mediate the Electoral Impact of Valence? A Cross-National Study of Party Support in Nine Western European Democracies, in: Compara- tive Political Studies, Vol. 47 (2014), Issue 2, pp. 171-202. Cooper, Alice: Difficult Decisions: The GAL and „Schwarz-Grün“ in Hamburg, in: German Politics and So- ciety, Vol. 32 (2014), Issue 4, pp. 1-20. Cowell-Meyers, Kimberly B.: The Social Movement as Political Party: The Northern Ireland Women’s Coalition and the Campaign for Inclusion, in: Perspectives on Politics, Vol. 12 (2014), Issue 1, pp. 45-60. Cutts, David/Goodwin, Matthew J.: Getting out the right-wing extremist vote: extreme right party support and campaign effects at a recent British general election, in: European Political Science Review, Vol. 6 (2014), Issue 1, pp. 93-114. Danz, Stefan: Zulässigkeit von Online-Wahlen im Hochschulbereich (Anmerkung zu OVG Thüringen, U. v. 30.05.2013 – 1 N 240/12), in: JM 2014, S. 385-387. Danzer, Stephan: Aufstellung und Führung des Wählerverzeichnisses, in: KommP Wahlen 2014, S. 16-21. De Neve, Jan-Emmanuel: Ideological change and the economics of voting behavior in the US, 1920-2008, in: Electoral Studies, Vol. 34 (2014), pp. 27-38. Decker, Frank: Follow-up to the Grand Coalition: The German Party System Before and after the 2013 Fed- eral Election, in: German Politics and Society, Vol. 31 (2014), Issue 2, pp. 19-40. Demker, Marie: Sailing Along New Cleavages: Understanding the Electoral Success of the Swedish Pirate Party in the European Parliament Election 2009, in: Gorvernment and Opposition, Vol. 49 (2014), Issue 2, pp. 188-206. Di Fabio, Udo: Entwicklungsperspektiven für das Europäische Parlament, in: ZSE 2014, S. 9-17. Ding, Hui: Die Demokratisierung der Parteiführerauswahl: Parteien in Deutschland und Großbritannien im Vergleich, Springer, Wiesbaden 2014. Dittberner, Jürgen: Die FDP: von der Regierung in die außerparlamentarische Opposition – und zurück?, Logos-Verlag, Berlin 2014. Dolezal, Martin/Ennser-Jedenastik, Laurenz/Müller, Wolfgang C./Winkler, Anna Katharina: How parties compete for votes: A test of saliency theory, in: European Journal of Political Research, Vol. 53 (2014), Issue 1, pp. 57-76. Drescher, Sebastian: Instrumente politischer Partizipation: Über den Stellenwert von Bürgerbefragungen, in: Die Verwaltung 2014, S. 263-270. Edinger, Florian: Verfassungsmäßigkeit der Befreiung des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) von der Fünf-Prozent-Klausel. Anmerkung zu LVerfG Schleswig Holstein, U. v. 13.09.2013 – LVerfG 9/12, in: ZParl 2014, S. 460-464.

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209 Literaturübersicht MIP 2015 21. Jhrg.

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218 MIP 2014 20. Jhrg. Vortragstätigkeiten und Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter

Vortragstätigkeiten und Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter Angaben zu den wissenschaftlichen Publikationen sowie den Vorträgen der Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ter des PRuF auf den Gebieten des Parteienrechts und der Parteienforschung finden sich auf den Internetsei- ten des PRuF (www.pruf.de).

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