Plenarprotokoll 13/74

Deutscher

Stenographischer Bericht

74. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tages Zusatztagesordnungspunkt 3: ordnung 6425 A, 6536 B Antrag der Gruppe der PDS: Kein Ein- Absetzung von Tagesordnungspunkten . 6425 C satz der Bundeswehr im früheren Jugo- slawien (Drucksache 13/3127) . . . . 6426 A Nachträgliche Ausschußüberweisungen 6425 D Dr. , Bundesminister AA . 6426 C Günter Verheugen SPD 6431 C Tagesordnungspunkt 3: CDU/CSU 6435 B Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6437 D a) Erklärung der Bundesregierung zur Dr. F.D.P. 6439 D Friedensvereinbarung für Bosnien . . 6426 A Andrea Lederer PDS 6442 B b) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Volker Rühe, Bundesminister BMVg 6444 B, 6450 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE Die Lage der Menschen in den Staaten GRÜNEN 6447 A, 6456 A, 6462 D des ehemaligen Jugoslawien und die Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . 6448 A, 6457 C Bedingungen für die rasche Hilfe beim Wiederaufbau nach einem Friedens-- Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ schluß (Drucksache 13/2978 [neu]) . . 6426 A NEN 6449 C Dr. Christian Schwarz-Schilling CDU/CSU 6450 B c) Antrag der Abgeordneten Andrea Le- Ludger Volmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ derer, Heinrich Graf von Einsiedel, wei- NEN 6453 B terer Abgeordneter und der Gruppe Dr. F.D.P. . . . . 6455 A der PDS: Frieden und Wiederaufbau im früheren Jugoslawien (Drucksache PDS ...... 6456 D 13/3078) 6426 B Dr. Karl-Heinz Hornhues CDU/CSU . . 6458 A SPD ...... 6459 C in Verbindung mit Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . 6461 B Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU 6462 C Zusatztagesordnungspunkt 2: SPD 6463 C Antrag der Bundesregierung: Deutsche Thomas Kossendey CDU/CSU 6465 B Beteiligung an den militärischen Maß- Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ nahmen zur Absicherung des Friedens- DIE GRÜNEN (Erklärung nach § 31 GO) 6466 D vertrages für Bosnien-Herzegowina (Drucksache 13/3122) 6426 A Namentliche Abstimmung 6467 A in Verbindung mit Ergebnis 6469 D II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Tagesordnungspunkt 4: Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6476 D Weitere Beratungen mit Aussprache Ulrich Heinrich F.D.P. 6478 C Dr. Heidi Knake-Werner PDS 6480 D a) Zweite und dritte Beratung des von Leyla Onur SPD 6482 C der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes über Namentliche Abstimmung 6485 A zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistun- Ergebnis 6485 C gen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz) (Drucksachen 13/2414, 13/2839, 13/ Tagesordnungspunkt 19: 3155) 6467 B Überweisungen im vereinfachten Ver- Zweite und dritte Beratung des von fahren den Abgeordneten , Hans Büttner (Ingolstadt), weiteren a) Erste Beratung des vom Bundesrat Abgeordneten und der Fraktion der eingebrachten Entwurfs eines Geset- SPD eingebrachten Entwurfs eines zes zur Änderung des Einführungs- Gesetzes zur Angleichung der Ar- gesetzes zur Abgabenordnung beitsbedingungen bei der Entsen- (Drucksache 13/2836) 6488 B dung von Arbeitnehmern (Entsen- degesetz) (Drucksachen 13/2418, 13/ b) Erste Beratung des von der Bundes- 3155) 6467 C regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom Zweite und dritte Beratung des vom 19. Mai 1995 zwischen der Bundes- Bundesrat eingebrachten Entwurfs republik Deutschland und der eines Gesetzes zur Angleichung der Tschechischen Republik über die ge- Arbeitsbedingungen bei der Ent- genseitige Unterstützung der Zoll- sendung von Arbeitnehmern (Ent- verwaltungen (Drucksache 13/2985) 6488 B sendegesetz) (Drucksachen 13/2834, 13/3155) 6467 C c) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs b) Beschlußempfehlung und Be richt eines Gesetzes zu dem Abkommen des Ausschusses für Arbeit und So- vom 4. Juli 1995 zur Änderung des zialordnung Vertrages vom 23. November 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- zu dem Antrag der Abgeordneten land und der Schweizerischen Eid- Hans Büttner (Ingolstadt), Leyla genossenschaft über die Einbezie- Onur, weiterer Abgeordneter und hung der Gemeinde Büsingen am der Fraktion der SPD: Geänderter Hochrhein in das schweizerische Vorschlag der Europäischen Kom- Zollgebiet (Drucksache 13/2986) . 6488 B mission für eine Richtlinie des Rates über die Entsendung von Arbeitneh- d) Erste Beratung des von der Bundes- mern im Rahmen der Erbringung- regierung eingebrachten Entwurfs von Dienstleistungen eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. März 1995 zwischen der zu dem Antrag der Abgeordneten Regierung der Bundesrepublik Annelie Buntenbach und der Frak- Deutschland und der Regierung der tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Republik Chile über die Seeschiff- Grundsätze für eine EU-Entsende- fahrt (Drucksache 13/2987) . . . . 6488 C richtlinie sowie eine nationale Re- gelung bis zu deren Realisierung e) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Mikrozensusgesetzes und ei- zu der Unterrichtung durch die Bun- nes Gesetzes zur Änderung des desregierung: Vorschlag für eine Bundesstatistikgesetzes (Drucksa Richtlinie des Rates über die Entsen- chen 13/3107, 13/3131) 6488 C dung von Arbeitnehmern im Rah- men der Erbringung von Dienst- f) Erste Beratung des von der Bundes- leistungen (Drucksachen 13/768, regierung eingebrachten Entwurfs 13/786, 13/725 Nr. 135, 13/3155) . . 6467 B eines Zweiten Gesetzes zur Ände- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 6467 D rung des Gesetzes über die Fest- legung eines vorläufigen Wohnortes Peter Dreßen SPD 6472 A für Spätaussiedler (Drucksache 13/ Julius Louven CDU/CSU 6475 A 3102) 6488 D Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 III

g) Erste Beratung des von der Bun- Tagesordnungspunkt 20: desregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Reform Abschließende Beratungen ohne Aus- des Rechts der Arbeitslosenhilfe sprache (Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz) (Drucksache 13/3109) . . . . . 6488 D a) Zweite Beratung und Schlußabstim- mung des von der Bundesregierung h) Antrag der Abgeordneten Albert eingebrachten Entwurfs eines Geset- Schmidt (Hitzhofen), Gila Altmann zes zu der Resolution vom 15. Januar (Aurich) und der Fraktion BÜNDNIS 1992 zur Änderung des Internatio- 90/DIE GRÜNEN: Ergänzende Krite- nalen Übereinkommens vom 7. März rien zu den Leitlinien über die 1966 zur Beseitigung jeder Form Transeuropäischen Verkehrsnetze von Rassendiskriminierung und zu (TEN) (Drucksache 13/1933) . . . 6488 D der Resolution vom 8. September 1992 zur Änderung des Überein- i) Antrag des Bundesministeriums der kommens vom 10. Dezember 1984 Finanzen: Einwilligung in die Ver- gegen Folter und andere grausame, äußerung eines Grundstücks in Ber- unmenschliche oder erniedrigende lin gemäß § 4 Abs. 2 der Bundeshaus- Behandlung oder Strafe (Drucksa- haltsordnung (Drucksache 13/3027) 6489 A chen 13/1883, 13/2962) 6489 C b) Zweite Beratung und Schlußabstim- Zusatztagesordnungspunkt 4: mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Weitere Überweisungen im vereinfach- zes zu dem Abkommen vom 10. Juni ten Verfahren 1993 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und a) Erste Beratung des von den Fraktio- der Regierung der Ukraine über den nen der CDU/CSU und F.D.P. einge- Luftverkehr (Drucksachen 13/1886, brachten Entwurfs eines Gesetzes 13/2976) 6489 D zur Aufhebung Grenzgebiet an der Werra des Gesetzes über den Abbau d) Bericht des Ausschusses für Wahl- von Salzen im Grenzgebiet an der prüfung, Immunität und Geschäfts- Werra (Drucksache 13/3138) . . . 6489 A ordnung zu den Verfahren nach § 44b Abgeordnetengesetz (Über- b) Antrag der Abgeordneten Dr. Ange- prüfung auf Tätigkeit oder politische lica Schwall-Düren, Susanne Kast- Verantwortung für das Ministerium ner, weiterer Abgeordneter und der für Staatssicherheit/Amt für Natio- Fraktion der SPD: Verhinderung nale Sicherheit der ehemaligen weiterer Gewässerverunreinigun- Deutschen Demokratischen Repu- gen durch das Totalherbizid blik) (Drucksache 13/2994) . . . . 6490 A DIURON (Drucksache 13/2518) . . 6489 A e)-g) Beschlußempfehlungen des Petiti- c) Antrag der Abgeordneten Susanne onsausschusses Sammelübersichten Kastner, Ulrike Mehl, weiterer Abge- 82, 83 und 84 zu Petitionen (Druck- ordneter und der Fraktion der SPD: sachen 13/3073, 13/3074, 13/3075) . 6490 A Notwendige Grundsätze der guten fachlichen Praxis beim Düngen in Tagesordnungspunkt 5: der Düngeverordnung (Drucksache 13/2524) 6489 B Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- d) Antrag der Abgeordneten Ulrike wurfs eines Gesetzes zur Änderung Höfken, und der Frak- des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Er- und anderer Gesetze (Drucksachen forderliche Maßnahmen zur Um- 13/2590, 13/3150) 6490 C setzung der EU-Nitratrichtlinie im Ulrike Mascher SPD 6490 D Rahmen der Düngeverordnung Birgit Schnieber-Jastram CDU/CSU . . 6492 B (Drucksache 13/3064) 6489B (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6493 A e) Antrag der Abgeordneten Andrea Fi- scher (Berlin) und der Fraktion Dr. F.D.P. 6494 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sozial Petra Bläss PDS 6495 A verträgliche Abschmelzung der Hans-Eberhard Urbaniak SPD 6495 D Auffüllbeträge und Rentenzuschlä- ge in Ostdeutschland (Drucksache Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 6496 B 13/3141) ...... 6489 C Hans-Eberhard Urbaniak SPD . . . . 6497 C IV Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Tagesordnungspunkt 6: -port von Kinderspielzeug aus chinesi- schen Arbeitslagern (Drucksache 13/ Zweite und dritte Beratung des von der 3054) 6528 C Fraktion der SPD eingebrachten Ent- Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜ wurfs eines Gesetzes zur Verlängerung NEN 6528 C des besonderen Kündigungsschutzes in den neuen Bundesländern (Drucksa- Erich G. Fritz CDU/CSU 6529 D chen 13/2444, 13/3145) 6498 A SPD 6531 A 6498 B Hans-Joachim Hacker SPD Ulrich Irmer F.D.P 6531 D Dr. Michael Luther CDU/CSU 6499 B Jürgen Türk F.D.P 6532 D, 6535 A Hans-Joachim Hacker SPD 6499 C Wolfgang Schmitt (Langenfeld) BÜNDNIS Achim Großmann SPD 6500 B 90/DIE GRÜNEN 6533 D Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6500 D Dr. Willibald Jacob PDS 6534 A Richard Schuhmann (Delitzsch) SPD 6501 D Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 6534 B Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 6503 A Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN 6503 C BMWi 6535 A Heinz Lanfermann F.D.P 6504 C Rudolf Bindig SPD 6535 C Klaus-Jürgen Warnick PDS 6506 A Tagesordnungspunkt 9: (Köln) SPD 6507 A Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun- a) Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel desministerin BMJ 6508 B Hartenstein, Michael Müller (Düs- seldorf), weiterer Abgeordneter und Arne Fuhrmann SPD 6509 B der Fraktion der SPD: Schutz der Wolfgang Ilte SPD (Erklärung nach § 31 stratosphärischen Ozonschicht und GO) ...... . 6509 D Bekämpfung des anthropogenen Dr. PDS (Erklärung Treibhauseffektes durch Beendi- nach § 31 G0) ...... 6510 B gung des Einsatzes von FCKW Klaus-Jürgen Warnick PDS (Erklärung (Drucksache 13/2498) ...... 6536 C nach § 31 GO) 6510 D b) Antrag der Abgeordneten Michaele Hustedt, Dr. Jürgen Rochlitz, weite- Namentliche Abstimmung 6511 B rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Maß- Ergebnis 6513 C nahmen zum Schutz der Ozon- schicht (Drucksache 13/3125) . . . 6536 C Tagesordnungspunkt 7: in Verbindung mit Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- Zusatztagesordnungspunkt 5: setzes zur Änderung des Gesetzes zur- sozialen Absicherung des Risikos der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versiche- und F.D.P.: Weiterentwicklung der na- rungsgesetz) (Drucksache 13/2393) . . 6511 C tionalen und internationalen Maßnah- Rudolf Dreßler SPD 6511 D, 6221 A men zum Schutz der Ozonschicht Karl-Josef Laumann CDU/CSU . 6516 A, 6525 A (Drucksache 13/3158) 6536 D Rudolf Dreßler SPD 6516 B Dr. Liesel Hartenstein SPD 6536 D Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ GRÜNEN ...... 6518 B NEN 6539 A, 6542 C Dr. Gisela Babel F.D.P 6519 C, 6521 D Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ Petra Bläss PDS ...... . . . 6522 A CSU ...... 6540 A, 6542 D SPD 6522 D, 6525 C Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA . 6525 D GRÜNEN ...... 6541 A, C, 6546 B Simon Wittmann (Tännesberg) CDU/CSU 6543 B Tagesordnungspunkt 8: Birgit Homburger F.D.P. 6543 C Antrag der Abgeordneten Rita Grieß- Eva Bulling-Schröter PDS 6544 C haber, Angelika Köster-Loßack, weite- Walter Hirche, Parl. Staatssekretär BMU 6545 B rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kein Im Wolfgang Behrendt SPD ...... 6545 D Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 V

Tagesordnungspunkt 10: Jörg van Essen F.D.P. 6559 B Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Erste Beratung des vom Bundesrat NEN 6560 A eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung zwangs- Dieter Wiefelspütz SPD ...... 6561 A vollstreckungsrechtlicher Vorschriften (2. Zwangsvollstreckungsnovelle) Tagesordnungspunkt 13: (Drucksache 13/341) 6547 A Alfred Hartenbach SPD ...... 6547 B Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU 6548 D Rössel, Dr. Barbara Höll, weiterer Abge- ordneter und der Gruppe der PDS: Voll- Heinz Lanfermann F.D.P. 6549 D ständige Übernahme der sogenannten Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 6551 A Altschulden auf gesellschaftlichen Ein- Ursula Männle, Staatsministerin (Bayern) 6551 D richtungen ostdeutscher Kommunen durch den Bund (Drucksache 13/2434) 6562 B , Parl. Staatssekretär BMJ . 6552 C Dr. Uwe-Jens Rössel PDS 6562 B Tagesordnungspunkt 11: CDU/CSU . . . 6563 C a) Zwischenbericht des Innenausschus- Rolf Kutzmutz PDS 6565 A ses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts- Dr. SPD 6565 D ordnung Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . 6568 A zu dem von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Geset- Tagesordnungspunkt 14: zes zur Änderung des Ausländerge- setzes und des Asylverfahrensgeset- Antrag der Abgeordneten , zes Volker Kröning, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Abrüstung zu dem vom Bundesrat eingebrach- konventioneller Streitkräfte in Europa: ten Entwurf eines Gesetzes zur Än- Sicherung und Fortentwicklung des derung des Ausländergesetzes KSE-Vertrages (Drucksache 13/3134) . 6569 B zu dem vom Bundesrat eingebrach- Tagesordnungspunkt 15: ten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgeset- zes (Drucksachen 13/809, 13/1188, Antrag der Abgeordneten Reinhard 13/1189, 13/3132) 6553 B Weis (Stendal), Dr. Uwe Küster, weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD so- b) Antrag der Abgeordneten Kerstin wie der Abgeordneten Elisabeth Alt- Müller (Köln) und der Fraktion mann (Pommelsbrunn), K ristin Heyne, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aufent- weiterer Abgeordneter und der Frakti- haltsrecht für Flüchtlinge mit lan- on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rück- gem Aufenthalt - Änderung von- nahme der Weisung für die Einlage- § 100 des Ausländergesetzes (Alt- rung mittelradioaktiver Abfälle im fallregelung) (Drucksache 13/2550 Endlager für radioaktive Abfälle Mors- [neu]) 6553 C leben (ERAM) (Drucksache 13/2365) 6569 C Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . 6553 C Reinhard Weis (Stendal) SPD 6569 D CDU/CSU 6555 B Kurt-Dieter Grill CDU/CSU . . . 6571 C, 6573 B Amke Dietert-Scheuer BÜNDNIS 90/DIE Ursula Schönberger BÜNDNIS GRÜNEN 6555 D 90/DIE GRÜNEN . . . . 6572 A, 6575 C, 6577 B Cornelia Schmalz-Jacobsen F.D.P. . . 6556 D Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/DIE PDS 6557 C GRÜNEN 6573 B Steffi Lemke BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6573 C Tagesordnungspunkt 12: Ursula Schönberger BÜNDNIS 90/DIE 1. Beschlußempfehlung und Be richt des GRÜNEN 6573 D Wahlprüfungsausschusses zu 28 gegen Dr. F.D.P. 6575 A die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deut- schen Bundestag eingegangenen Wahl- Rolf Köhne PDS 6576 B einsprüchen (Drucksache 13/2800) . 6558 A Walter Hirche, Parl. Staatssekretär BMU 6576 D Clemens Schwalbe CDU/CSU 6558 B Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . . 6559 A Nächste Sitzung 6578 C VI Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Anlage 1 kungsrechtlicher Vorschriften [2. Zwangs- vollstreckungsgesetz]) Liste der entschuldigten Abgeordneten . 6579 * A (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6581 * B Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordne- Anlage 6 ten Dr. Gisela Babel (F.D.P.) zur Abstim- mung über den Entwurf eines Gesetzes Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- über zwingende Arbeitsbedingungen bei nungspunkt 13 (Antrag: Vollständige grenzüberschreitenden Dienstleistungen Übernahme der sogenannten Altschulden (Arbeitnehmer-Entsendegesetz) . . . . 6579 * C auf gesellschaftliche Einrichtungen ost- deutscher Kommunen durch den Bund) (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Anlage 3 GRÜNEN 6582 * B Erklärung nach § 31 GO der Abgeordne- ten Michael Wonneberger, Rainer Eppel- Anlage 7 mann, , , Man- fred Koslowski und Michael Stübgen (alle Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- CDU/CSU) zur Abstimmung über den Ent- ordnungspunkt 14 (Antrag: Abrüstung wurf eines Gesetzes zur Verlängerung des konventioneller Streitkräfte in Europa: Si- besonderen Kündigungsschutzes in den cherung und Fortentwicklung des KSE- neuen Bundesländern (Tagesordnungs- Vertrages) punkt 6) 6580 * A Gernot Erler SPD 6583 * B Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU 6584 * C Anlage 4 BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 6585 * B Erklärung nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Ver- Dr. F.D.P. 6586 * B längerung des besonderen Kündigungs- Gerhard Zwerenz PDS ...... 6587 * A schutzes in den neuen Bundesländern Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . . 6587 * D (Tagesordnungspunkt 6) Gerhard Jüttemann PDS 6580 * C Anlage 8 Heidemarie Lüth PDS 6580 * D Veräußerung der Anteile der Deutschen Post AG an der Gemeinnützigen Deut- Anlage 5 schen Wohnungsbau Gesellschaft mbH Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord Mdl Anfr 1, 2 - Drucksache 13/3093 - nungspunkt 10 (Entwurf eines Zweiten Gabriele Iwersen SPD Gesetzes zur Änderung zwangsvollstrek SchrAntw PStS Dr. Paul Laufs BMPT . . 6588 * D

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74. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff- soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung net. und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewi- chen werden. Bevor wir zur Regierungserklärung kommen, habe ich noch einige amtliche Mitteilungen zu verlesen. Weiterhin ist vereinbart worden, die unter Tages- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die ordnungspunkt 18a bis e stehenden Sammelüber- verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die sichten zu Petitionen mit verbundenen Ausschuß- Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkt empfehlungen sowie den Tagesordnungspunkt 20 c liste aufgeführt. „Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungs- gesetz 1995" abzusetzen. 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu Vorschlägen, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu kürzen *) Ich mache darauf aufmerksam, daß die Beratungen 2. Beratung des Antrags der Bundesregierung: Deutsche ohne Aussprache heute nach der Beratung des Ent- Beteiligung an den militärischen Maßnahmen zur Absi- sendegesetzes gegen 15 Uhr aufgerufen werden. cherung des Friedensvertrages für Bosnien-Herzegowi- na - Drucksache 13/3122 - Außerdem weise ich auf nachträgliche Überwei- 3. Beratung des Antrags der Gruppe der PDS: Kein Einsatz sungen im Anhang zur Zusatzpunktliste hin: der Bundeswehr im früheren Jugoslawien - Drucksa- che 13/3127 - 1. Der in der 47. Sitzung des Deutschen Bundestages am 29. Juni 1995 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf 4. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren soll nachträglich dem Ausschuß für Wirtschaft überwie- (Ergänzung zu TOP 19) sen werden: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Gesetzentwurf des Bundesrates zur Ä CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Geset- nderung des Was- serhaushaltsgesetzes (WHG) - Drucksache 13/1207 - zes zur Aufhebung des Gesetzes über den Abbau von Salzen im Grenzgebiet an der Werra - Drucksa- Überweisung: che 13/3138 - - Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angelica heit (federführend) Schwall-Düren, Susanne Kastner, Heidi W right, wei- Ausschuß für Wirtschaft terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ver- Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hinderung weiterer Gewässerverunreinigungen durch das Totalherbizid DIURON - Drucksache 13/ 2. Der in der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages am 2518 - 25. Oktober 1995 überwiesene nachfolgende Antrag soll c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne nachträglich dem Ausschuß für Fremdenverkehr und Kastner, Ulrike Mehl, Michael Müller (Düsseldorf), Tourismus überwiesen werden: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Ver- Notwendige Grundsätze der guten fachlichen Praxis besserungen des Naturschutzes in Deutschland - belm Düngen in der Düngeverordnung - Drucksa- Drucksache 13/2743 - che 13/2524 - Überweisung: d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höf- ken, Steffi Lemke und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- DIE GRÜNEN: Erforderliche Maßnahmen zur Um- heit (federführend) setzung der EU-Nitratrichtlinie im Rahmen der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Düngeverordnung - Drucksache 13/3064 - Ausschuß für Gesundheit e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fi- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau scher (Berlin) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus GRÜNEN: Sozial verträgliche Abschmelzung der Auffüllbeträge und Rentenzuschläge in Ostdeutsch- Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - land - Drucksache 13/3141 - Das ist der Fall. Dann verfahren wir entsprechend.

*) In der 73. Sitzung am 29. November 1995 behandelt; siehe Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c sowie Seite 6397C die Zusatzpunkte 2 und 3 auf: 6426 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung rung zur Friedensvereinbarung für Bos- hat der Bundesminister des Auswärtigen Dr. Klaus nien Kinkel. ZP2 Beratung des Antrags der Bundesregierung Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Deutsche Beteiligung an den militärischen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Maßnahmen zur Absicherung des Friedens- Friedensabkommen von Dayton hat die Grundlage vertrages für Bosnien-Herzegowina geschaffen für die Beendigung des längsten und - Drucksache 13/3122 — grausamsten Konflikts in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach fast vier Jahren Krieg mit 250 000 Überweisungsvorschlag: Toten und über 2 Millionen Flüchtlingen hat der Auswärtiger Ausschuß (federführend) Rechtsausschuß Friede im ehemaligen Jugoslawien erstmals eine rea- Verteidigungsausschuß listische Chance. Endlich wieder normal leben und Haushaltsausschuß keine Angst mehr haben müssen, das ist der sehn- lichste Wunsch der Menschen do rt. Damit er sich ZP3 Beratung des Antrags der Gruppe der PDS erfüllt, bedarf es jedoch weiterer großer Anstrengun- Kein Einsatz der Bundeswehr im früheren Ju- gen der internationalen Staatengemeinschaft. Heute goslawien und am 6. Dezember debattieren wir in diesem Hause über den deutschen Beitrag hierzu. - Drucksache 13/3127 — Überweisungsvorschlag: Das Bundeskabinett hat am Dienstag entschieden: wird sich auch weiterhin an der Seite Auswärtiger Ausschuß (federführend) Deutschland Rechtsausschuß seiner EU- und NATO-Partner der Mitverantwor- Verteidigungsausschuß tung für das Schicksal dieser Region stellen, weil wir Haushaltsausschuß wissen: Frieden in Bosnien heißt auch Stabilität in b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ Europa. CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Lage der Menschen in den Staaten des Mein Appell an die Opposition: Unterstützen Sie ehemaligen Jugoslawien und die Bedin- die Entscheidung der Bundesregierung! Stehen Sie gungen für die rasche Hilfe beim Wieder- zur deutschen Mitverantwortung für Frieden und aufbau nach einem Friedensschluß Menschenrechte in Europa! Wir müssen und wollen - Drucksache 13/2978 (neu) — auch im Bereich der Friedenssicherung ein zuverläs- Überweisungsvorschlag: siger, vollwertiger europäischer und transatlantischer Partner sein. Auswärtiger Ausschuß (federführend) Innenausschuß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Verteidigungsausschuß Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung Die Europäische Union hat sich seit Beginn des Konflikts um eine politische Lösung bemüht und den c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedensplan der Kontaktgruppe maßgeblich mitge- Andrea Lederer, Heinrich Graf von Ein- staltet. Dieser Friedensplan ist der Ke rn des Abkom- siedel, Willibald Jacob, weiterer Abgeord- mens von Dayton. Dennoch besteht kein Zweifel: Es neter und der Gruppe der PDS war das politische und das militärische Engagement und Gewicht Amerikas, das für den jetzt end lich Frieden und Wiederaufbau im früheren Ju- erreichten Friedensschluß den Ausschlag gab. goslawien - Drucksache 13/3078 - Ich möchte an dieser Stelle der amerikanischen Regierung, ganz besonders aber Außenminister War- Überweisungsvorschlag: ren Christopher und seinem Team, für diesen Einsatz Auswärtiger Ausschuß (federführend) sehr, sehr herzlich danken. Innenausschuß Verteidigungsausschuß (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zur Regierungserklärung liegt je ein Entschlie- Präsident Clinton hat zu Recht gesagt: Der Friede ßungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/ in Europa ist auch ein vitales Interesse der USA. Den- Die Grünen vor. Über den Entschließungsantrag der noch dürfen wir Europäer das Engagement Amerikas SPD stimmen wir im Anschluß an die Aussprache für den Frieden in Bosnien nicht für etwas Selbstver- namentlich ab. ständliches halten. Es handelte sich und handelt sich um einen europäischen Konflikt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache im Anschluß an die Mit meinem Dank an die amerikanische Regierung Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgese- verbinde ich die Hoffnung, daß auch der amerikani- hen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir sche Kongreß zur Mitverantwortung der USA für die verfahren so. Verwirklichung des Friedensabkommens durch die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6427 Bundesminister Dr. Klaus Kinkel geplante Entsendung amerikanischer Soldaten nach Dayton angerufen und sich ausdrücklich für das Bosnien steht und zustimmen wird. deutsche Engagement bedankt. Präsident Clinton wird am Wochenende zusam- Unsere Vertreter haben in besonderer Weise beim men mit dem Bundeskanzler in Ramstein amerikani- Abschluß des Föderationsabkommens, bei der Ver- sche Soldaten besuchen, die in Bosnien zum Einsatz einbarung über die Rückkehr der Flüchtlinge, im kommen sollen. Er ist uns hier wie immer herzlich Bereich der Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie willkommen. nicht zuletzt bei der Formulierung der bosnischen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Verfassung mitgewirkt. In diesem Zusammenhang sowie bei Abgeordneten der SPD und des möchte ich auch dem früheren Verfassungsrichter Abg. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE Professor Steinberger sehr herzlich für sein Engage- GRÜNEN]) ment und seinen ganz wesentlichen Beitrag Dank und Anerkennung aussprechen. Europa und Amerika brauchen einander in vielfa- cher Beziehung auch in Zukunft. Die amerikanische Meine Damen und Herren, die Ergebnisse von Rolle bei der Erreichung des Friedensabkommens Dayton entsprechen der von Deutschland und Frank- wird nicht geschmälert, wenn ich sage, daß der reich entscheidend mitformulierten Position der Erfolg von Dayton vor allem durch die Vorarbeit der Europäischen Union: Kontaktgruppe mit maßgeblicher europäischer und Erstens. Bosnien-Herzegowina bleibt als Völker- auch russischer Beteiligung möglich wurde. Hier ist rechtssubjekt in seinen 1992 international anerkann- außerdem der große Beitrag Frankreichs, Großbritan- ten Grenzen erhalten. Im Verhältnis der Nachfolge- niens, aber auch kleinerer Partner wie Belgien, staaten des früheren Jugoslawiens zueinander gelten Dänemark, der Niederlande zu erwähnen, den diese die internationalen Standards der UN-Charta und durch die Entsendung ihrer Blauhelmsoldaten für der Helsinki-Schlußakte, das heißt: der Grundsatz den Frieden in Bosnien geleistet haben. Vergessen der Achtung souveräner Gleichheit, territorialer Inte- wir nicht: Allein Frankreich hat im ehemaligen Jugo- grität, der politischen Unabhängigkeit und der f ried- slawien über 50 tote Soldaten und über 300 Verletzte lichen Streitbeilegung. zu beklagen. Zweitens. Die Verfassung sieht eine Präsident- Von Anfang an, meine Damen und Herren, hat die schaft, einen Ministerrat, ein Parlament, eine Zen- Bundesregierung auf die Einbeziehung Rußlands in tralbank, e in Verfassungsgericht und eine Staats- den Friedensprozeß größten Wert gelegt. Die Bun- bürgerschaft des Gesamtstaates vor. Die Wahlen für desregierung sieht in der weiteren - auch militäri- die Präsidentschaft und das Parlament sollen wie die schen - Einbindung Moskaus, die jetzt gesichert zu Wahlen in der Föderation und auch in der serbischen sein scheint, eine wichtige Voraussetzung für den Republik innerhalb der nächsten neun Monate statt- Frieden in der Region. finden und von der OSZE überwacht werden. Diese Die vereinbarten regelmäßigen 16-plus-1-Konsul- Wahlen sind für den gesamten Friedensprozeß von tationen in Brüssel und der russische Beitrag zur ganz entscheidender Bedeutung und für die OSZE internationalen Friedenstruppe in Bosnien schaffen eine ganz wichtige Bewährungsprobe. eine neue Qualität der Beziehungen zwischen der Die kroatisch-bosniakische Föderation muß mit NATO und Rußland. Das kann, ja ich sage: es wird Leben erfüllt werden. Die in Dayton auf deutsche über Bosnien hinaus positive Auswirkungen auf die und amerikanische Initiative hin erzielte Vereinba- angestrebte Sicherheitspartnerschaft haben, auch rung zur Rückkehr von kroatischen und bosnischen im Kontext der geplanten NATO-Erweiterung. - Vertriebenen in ihre Heimatorte muß schnell umge Die Bundesregierung legt auch weiterhin großen setzt werden. Wert auf die Einbindung der islamischen Staaten Mostar ist das Symbol für das Ziel des f riedlichen welt in den Friedensprozeß. Bosnien ist ein islami- Zusammenlebens von Kroaten und Bosniaken. Ich sches Land. Wir brauchen diese Länder. Sie sind mit möchte heute hier zum wiederholten Male Hans ihren Soldaten im Einsatz gewesen, und wir brau- Koschnick für seinen Mut und seinen Einsatz sehr chen sie auch für die Wiederaufbauleistung und für herzlich danken. die Gesamtregelung in der Region. (Beifall im ganzen Hause) Meine Damen und Herren, mein Dank geht natür- lich ganz besonders auch an die deutsche Delega- Ihm ist in Dayton ein entscheidender Schritt zur Nor- tion, an meine Mitarbeiter und den Vertreter des malisierung in dieser Stadt gelungen. Die Bewe- Bundesministeriums der Verteidigung. Sie haben gungsfreiheit in Mostar soll ab 1. Dezember dieses unter größter Belastung gerade in den letzten drei Jahres für die gesamte nicht militärdienstfähige Wochen in Dayton im wahrsten Sinne Tag und Nacht Bevölkerung in der Stadt gelten - ein wesentlicher mitgearbeitet und bei einigen für uns besonders Fortschritt. wichtigen Fragen maßgeblich zum Erfolg beigetra- gen. Herzlichen Dank! Drittens. Sarajevo wird nicht zur geteilten Stadt. Wir Deutsche freuen uns darüber besonders, weil wir (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU wissen, was die unmenschliche Trennung Berlins für sowie bei Abgeordneten der SPD) uns bedeutet hat. Der amerikanische Außenminister hat mich am Tag Zu den Äußerungen aus Pale, wonach die bosni- nach der Paraphierung des Friedensabkommens in schen Serben diesen Teil des Friedensabkommens 6428 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel nicht respektieren würden, sage ich mit aller Deut- Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugo- lichkeit: Das Abkommen wurde von Präsident Milo- slawien einen herausragenden Beitrag geleistet. Die sevic als dem autorisierten Vertreter der bosnischen UNO-Hochkommissarin für Flüchtlingsfragen Ogata Serben paraphiert und bindet ganz eindeutig auch hat ein Konzept für die Rückführung vorgelegt. Wir Pale. Es forde rt von allen Seiten schmerzliche Zuge- werden mit ihr zusammenarbeiten, weil das gerade ständnisse, auch von den Bosniaken, den Moslems, für uns besonders wichtig ist. auch von den Kroaten. Leider Gottes ist die Eine schnelle Rückführung ist im Interesse der Geschichte der Friedensbemühungen der letzten vier Jahre auch eine Geschichte gebrochener Vereinba- Betroffenen, ist im Interesse unserer Bürger wie auch rungen. Deshalb muß das Friedensabkommen von im Interesse des Wiederaufbaus der Region. Aber Dayton unter allen Umständen eingehalten und natürlich werden wir niemanden vor die Tür setzen, respektiert werden. Nachverhandlungen kann und bevor die Verhältnisse vor Ort geklärt sind. wird es nicht geben! (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, der Abschluß des Frie- Viertens. Die Menschenrechte werden durch einen densabkommens von Dayton war das Ergebnis einer umfassenden Grundrechtekatalog entsprechend der großen gemeinsamen Anstrengung. Hierzu zählen Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert. nicht nur die politischen Bemühungen der Kontakt- Es wird eine Menschenrechtskommission eingerich- gruppe; hierzu zählt auch die Präsenz von 35 000 tet, die aus dem OSZE-Ombudsmann und einer Blauhelmen aus über 30 Ländern. Hierzu zählt vor Menschenrechtskammer besteht. Sie fällt für die Par- allem aber auch die enorme humanitäre Unterstüt- teien bindende Entscheidungen. Dies soll den Men- zung, die die internationale Staatengemeinschaft schen wieder Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit über vier Jahre geleistet hat. geben. Von der Aufnahme der über 400 000 Flüchtlinge Fünftens. In Art. IX des Rahmenabkommens wird abgesehen, hat Deutschland seit 1991 im ehemaligen die volle Zusammenarbeit der Parteien bei der Unter- Jugoslawien mit zirka 1 Milliarde DM geholfen. suchung und Verfolgung von Kriegsverbrechen Unzählige Bürger und freiwillige Helfer haben zugesagt. Diese Zusage - darauf müssen wir beson- genauso wie vor allem natürlich unsere Bundeswehr- ders drängen - muß eingehalten werden. soldaten und, nicht zu vergessen, auch Angehörige des Bundesgrenzschutzes außerordentlich viel für (Beifall des Abg. [Wies die Menschen in Bosnien geleistet. loch] [SPD]) (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und Der Deutsche Bundestag forde rt zu Recht in seiner der SPD) Entschließung die ungehinderte Aufklärung a ller Kriegsverbrechen durch inte rnationale Kommissio- Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich auch das nen, die Aufklärung des Schicksals von Vermißten Engagement vieler unserer Kollegen und Kollegin- und Verschwundenen und die Auslieferung von nen aus dem Deutschen Bundestag erwähnen. Oft ist Beschuldigten an den Internationalen Gerichtshof in es nach draußen gar nicht so bekanntgeworden. Ich Den Haag. Die schlimmen Verbrechen in Srebrenica nenne den Kollegen Schwarz-Schilling, den Kolle- und anderswo dürfen nicht unter den Teppich gen Duve, die Kollegin Beck sowie Frau Schwaetzer gekehrt werden! und andere aus meiner Fraktion. Ihnen allen sollten wir auch heute im Deutschen Bundestag Dank und (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU,- der Anerkennung zollen. Sie alle haben gezeigt, daß SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unser Land ein Herz hat, und die betroffenen Men- sowie bei Abgeordneten der PDS) schen danken uns das. Karadzic, Mladic und andere, die sich strafrechtlich (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der schuldig gemacht haben, gehören vor den Internatio- SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nalen Gerichtshof. Meine Damen und Herren, nach Dayton bedarf es (Beifall im ganzen Hause) jetzt einer erneuten großen internationalen Anstren- Über all das Furchtbare, das geschehen ist, darf gung, um den Frieden in Sarajevo, in Banja Luka, in eben nicht der Mantel des Vergessens gebreitet wer- Gorazde und anderswo auch Wirklichkeit werden zu den. Der katholische Bischof von Banja Luka hat lassen. Der Fahrplan sieht wie folgt aus: recht, wenn er sagt: „Der Friede muß mit Vergebung Erstens. Förmliche Unterzeichnung des Friedens- und Nächstenliebe verbunden sein, aber auch mit abkommens wohl am 14. Dezember in Paris. Ich Gerechtigkeit." Wirk liche Versöhnung kann es nicht schränke das ganz leicht ein. geben ohne Wahrheit und Gerechtigkeit für die Opfer von Mord, Folter, Vertreibung und Vergewalti- Zweitens. Darauf folgend ein neues Mandat des gung. UN-Sicherheitsrates für die militärische Absiche- rung des weiteren Friedensprozesses. Sechstens. Die Parteien sind verpflichtet, die Vor- aussetzungen für eine baldige und sichere Rückkehr Drittens. Die Londoner Implementierungskonfe- der Vertriebenen und Flüchtlinge zu schaffen. renz für die zivilen Aufgaben voraussichtlich am 8. Deutschland hat mit der Aufnahme von über 400 000 und 9. Dezember. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6429 Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Viertens. Danach der Auftakt für die Rüstungskon- NATO-Maßnahmen ihr großes Engagement und ihre trollverhandlungen zwischen den Parteien auf dem Verantwortung für Notleidende, Flüchtlinge und Petersberg in Bonn. Dieses Treffen soll möglichst Vertriebene bewiesen. Sie wird ihr weiteres Vorge- bald nach der Unterzeichnung des Friedensabkom- hen eng mit den Gebern, insbesondere mit der Welt- mens stattfinden. bank und dem IWF, abstimmen. Die militärische Absicherung des Friedensprozes- Die EU-Kommission wird gemeinsam mit der Welt- ses wird besonders zu Beginn des Prozesses eine bank zu einer Geberkonferenz Mitte Dezember nach ganz entscheidende Rolle spielen. Das wird gerade Brüssel einladen. auch von den Konfliktparteien so gesehen, und das ist wichtig. Für einen dauerhaften Frieden entschei- Ganz große Bedeutung, meine Damen und Herren, dend wird jedoch vor allem die politische und wi rt wird der wirksamen Koordinierung der zivilen Frie- -schaftliche Entwicklung sein, weil die Menschen densaufgaben zukommen. Mit dieser Aufgabe wird spüren, fühlen müssen, was ihnen persönlich der auf der Implementierungskonferenz in London ein Friede bringt. Von den Kriegsereignissen sind hoher Repräsentant beauftragt werden. Wahrschein- immerhin rund 3,5 Millionen Menschen betroffen. lich wird es der frühere schwedische Ministerpräsi- Hinter dieser Zahl steckt unendliches menschliches dent Carl Bildt sein. Er wird mich im übrigen heute Leid. Diese Zahl macht auch deutlich, daß der Wie- mittag besuchen. Die Bundesregierung wird ihm bei deraufbau der Region, die Wiedereingliederung der seiner schwierigen Aufgabe, wenn er es werden Flüchtlinge und die Schaffung demokratischer und sollte und selber gewillt ist, diese schwierige Auf- rechtsstaatlicher Strukturen nur als internationale gabe zu übernehmen, auch personell unterstützen. Gemeinschaftsleistung bewältigt werden können. Wir werden das, was an Koordinierungsmaßnahmen Das bedeutet eine angemessene Lastenverteilung innerhalb der Bundesrepublik notwendig ist, durch- zwischen allen potentiellen Gebern und Helfern, der führen, denn es fließen ja außenpolitische und sehr EU, den USA, Japan, den islamischen Staaten und viele innenpolitische Aufgaben, die da auf uns vor allem natürlich auch den internationalen Finanz- zukommen, ineinander über. institutionen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung Die Weltbank schätzt den Gesamtbedarf an Wie- hat sich von Anfang an für die Verknüpfung von deraufbauhilfe auf 3 bis 4,5 Milliarden US-Dollar Menschen- und Minderheitenrechten, der Flücht- über einen Dreijahreszeitraum. Die EU-Kommission lingsrückführung und der Inanspruchnahme von denkt an einen europäischen Gesamtbeitrag von Wiederaufbauleistungen eingesetzt. Ich glaube, daß einer Milliarde ECU für das nächste Jahr, den wir im das wichtig ist. Rat beschlossen haben. Dieser im Friedensabkommen festgelegte Zusam- Deutschland wird sich natürlich auch finanziell menhang wurde von den Außenministern der Euro- weiterhin seiner Verantwortung für den Frieden in päischen Union am 30. Oktober 1995 in Luxemburg der Region stellen. Allerdings war unser bisheriger bekräftigt: Beitrag bereits beachtlich. Die Bundesregierung hat Nothilfe und humanitäre Hilfe gehen an alle neben dem etwa 30prozentigen Anteil an den EU- Bedürftigen. Leistungen von 1993 bis 1995 erhebliche bilaterale technische Hilfe in Bosnien-Herzegowina geleistet. Wiederaufbauhilfe wird vorrangig an die kriegsge- Unter anderem wurden der Wiederaufbau von Eisen- schädigten Gebiete, das heißt an Bosnien-Herzego- bahnbrücken bei Mostar, Saatgutlieferungen, die wina und teilweise an ehemals serbisch besetzte Wiederaufnahme der Nahrungsmittelproduktion, die Gebiete Kroatiens gehen. Ausstattung des Kosevo-Hospitals in Sarajevo, der Wer jedoch Menschen- und Minderheitenrechte Bau von Wohnungen für Flüchtlinge und Vertriebene verletzt, wer Autonomie- und Minderheitenrechte und die Energieversorgung von Sarajevo finanziert. mißachtet und wer für Flüchtlinge keine Rückkehr- Diese Art projektbezogener Hilfe wollen wir fort- möglichkeiten schafft, soll und wird keine Wieder- setzen, und ich möchte hier auch einmal hervorhe- aufbauhilfe bekommen. ben, was unsere Landkreise und Kommunen in die- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sem Zusammenhang geleistet haben. Sie haben für sowie bei Abgeordneten der SPD und des die Flüchtlinge Leistungen in Milliardenhöhe er- bracht. Abg. Gerhard Zwerenz [PDS]) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Aggression kann und darf insoweit nicht belohnt sowie bei Abgeordneten der SPD) werden. Eine gerechte Lastenverteilung beim Wiederauf- Die Europäische Union strebt im Verhältnis zu den bau ist deshalb für uns von um so größerer Bedeu- Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens eine tung. baldige politische und wirtschaftliche Normalisie- rung an. Im Verhältnis zu Belgrad haben die EU- Es kann nicht so sein, daß Europa und in Europa Außenminister am 30. Oktober die Normalisierung Deutschland weiter sehr viel allein auf ihre Schultern an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft. Im laden sollen. Die Europäische Union hat durch Vordergrund stehen dabei die Respektierung und humanitäre Hilfe in Höhe von 1,6 Milliarden ECU, der Schutz von Menschen- und Minderheitenrech- ihr Engagement in Mostar, die Entsendung ihrer ten. Ich möchte betonen, daß eine Autonomierege- Beobachter und die Unterstützung der UNO- und lung im Kosovo und in der Vojvodina langfristig 6430 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel auch im wohlverstandenen Eigeninteresse Belgrads bündeten - nicht den bestmöglichen Schutz erhal- liegt. Das Schicksal der Menschen do rt darf nicht ten? vergessen oder verdrängt werden. Es ist in Dayton (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - aus Zeitgründen leider etwas zu kurz gekommen. Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gute Frage!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Wie wollen wir eine andere Entscheidung gegenüber sowie bei Abgeordneten der SPD) den Familien der Soldaten vertreten? Ich jedenfalls empfinde das als schwierig. Noch ein wichtiger Punkt: Deutschland war nie Partei gegen das serbische Volk, sondern wir stan- Es geht um den Schutz der Flugzeuge und Solda- den an der Seite der Opfer von Krieg, Vertreibung ten, die in der Luft und am Boden die Einhaltung des und Vergewaltigung. Wir wollen allerdings auch, Friedensschlusses überwachen. Es geht also nicht daß das serbische Volk wieder seinen Platz in Europa um Kriegsführung, sondern um Kriegsverhinderung, findet. Auch das gehört zu einem dauerhaften Frie- um den Schutz von Menschenleben. Auch hier wer- den in der Region. den unsere Kräfte gebraucht, genauso wie im Sani- täts- und Logistikbereich. Deshalb können und wer- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und den wir hier nicht „ohne uns" sagen. Mein Appell der SPD) geht an die SPD und Bündnis 90/Die Grünen: Über- denken Sie nochmals Ihre Haltung. Geben auch Sie Meine Damen und Herren, diesen Frieden kann es unseren Soldaten am 6. Dezember die politische nicht geben, wenn sich auch in Zukunft bis an die Unterstützung, die sie für ihren Einsatz brauchen Zähne bewaffnete Konfliktparteien gegenüberste- und auch verdient haben, und zwar uneingeschränkt hen. Deshalb war die Bundesregierung von Anfang und unzweideutig. an der Überzeugung, daß der Friedensprozeß eine (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rüstungskontrollpolitische Flankierung benötigt. Auf unser Drängen wurde das zum Vertragsbestand- Meine Damen und Herren, unsere Soldaten sollen teil. Zum Erfolg von Dayton gehören auch die weit- in Kroatien stationiert werden, aber - wenn nötig - reichenden Bestimmungen über militärische Vertrau- vorübergehend auch in Bosnien zum Einsatz kom- ensbildung, Abrüstung und Rüstungskontrolle, ins- men. Die Kontingente werden zu 70 Prozent aus besondere die Festlegung von Höchstgrenzen für Berufs- und Zeitsoldaten bestehen, und kein Wehr- schwere Waffen und die Verpflichtung zu ihrer Redu- pflichtiger wird gegen seinen Willen eingesetzt. zierung. Es ist jetzt ganz wichtig, daß ein Wiederaufflam- men der Auseinandersetzungen auf jeden Fall unter- Die Verhandlungen über vertrauens- und sicher- bunden wird. Deshalb ist es auch so wichtig, daß die heitsbildende Maßnahmen, Rüstungsbeschränkun- NATO-Verbände so schnell wie möglich in die gen und Abrüstungsschritte nach dem Muster des Region entsandt werden. Um dies möglich zu KSE-Vertrages und entsprechender OSZE-Vereinba- machen, soll ein Vorauskommando von rund 2 500 rungen sollen durch eine Konferenz auf dem Peters Soldaten noch vor der Unterzeichnung des Friedens- berg eingeleitet werden. Die Fortsetzung soll dann in abkommens in Paris nach Sarajevo und an andere Wien unter dem Dach der OSZE stattfinden. Wir Orte geschickt werden. Darunter sind 170 bis 180 müssen auf jeden Fall einen erneuten Rüstungswett- deutsche Offiziere und Soldaten in den integ rierten lauf verhindern. Ich begrüße die zentrale Rolle, die Stäben. Diese Soldaten wollen und werden wir nicht der OSZE dabei zukommt, und erhoffe mir dadurch ohne einen Beschluß des Deutschen Bundestages in eine weitere Stärkung dieser Organisation und damit - ihren Einsatz schicken, auch einen Impuls für die kooperative gesamteuro- päische Sicherheitsarchitektur, die wir anstreben. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) weil wir der Meinung sind, daß sie eine feste politi- Meine Damen und Herren, zum Kabinettsbeschluß sche, aber auch rechtliche Absicherung und Einbin- dieser Woche: Die Bundesregierung hat beschlossen, dung brauchen. zur Unterstützung der NATO-Friedenstruppe rund 4 000 Soldaten zu entsenden, in erster Linie Pionier-, Deshalb haben wir uns - auch nach Gesprächen Stabs- und Sanitätskräfte sowie Transpo rt- und Auf- mit der Opposition - entschieden, den Deutschen klärungsflugzeuge. Die Luftkomponente wird inte- Bundestag, Sie, bereits am 6. Dezember um Zustim- graler Bestandteil auch von IFOR sein. Unsere Part mung zu bitten. -ner erwarten von uns zu Recht, daß wir uns gerade Die Unterzeichnung des Daytoner Verhandlungs- auch mit dieser Komponente nicht ausklinken, son- ergebnisses wird wohl erst um den 13./14. Dezember dern uns mit den für Aufklärung und Begleitschutz möglich sein, aber die drei Konfliktparteien haben in besonders geeigneten beteiligen. Die Tor- Tornados Dayton - ich habe das gestern auch im Auswärtigen nados, die seit dem 21. Juli in Piacenza stationiert Ausschuß vorgetragen - vereinbart, daß das Abkom- sind, haben in zahlreichen Flügen zum Schutz von men bereits jetzt für sie völkerrechtlich verbindlich UNPROFOR und der Schnellen Eingreiftruppe bei- und bindend ist. getragen. Sie werden auch im Rahmen von IFOR ihren Beitrag leisten. Unmittelbar nach der Unterzeichnung in Pa ris wird der UN-Sicherheitsrat das Mandat beschließen; da Ich frage die Opposition: Sollen denn die Soldaten bin ich sicher. Entscheidend ist: Die Entsendung der Friedenstruppe - unsere eigenen wie die der Ver- unserer Soldaten bleibt eindeutig an die Unterzeich- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6431 Bundesminister Dr. Klaus Kinkel nung des Abkommens und an das Mandat des sondere aber im früheren Jugoslawien, ein f riedli Sicherheitsrats geknüpft. Deshalb ist dieses Vorge- -ches wird. hen auch verfassungsrechtlich und politisch abgesi- chert. (Anhaltender Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, der jetzt vorgesehene Einsatz unserer Soldaten markiert einen weiteren Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der historischen Einschnitt. Er wird der größte Auslands- Kollege Günter Verheugen. einsatz für unsere Bundeswehr in ihrer bisherigen Geschichte sein. Ich bin sicher, daß wir alle zutiefst hoffen, daß unseren Soldaten das Schicksal von zahl- Günter Verheugen (SPD): Frau Präsidentin! Meine reichen ihrer Kameraden aus anderen Ländern er- sehr verehrten Damen und Herren! Die sozialdemo- spart bleibt. Aber dieser Einsatz ist nicht gefahrlos, kratische Bundestagsfraktion begrüßt die Ergebnisse und er kann auch Opfer fordern. Das müssen wir der Friedensverhandlungen in Dayton. Das Abkom- unseren Bürgern und auch den Soldaten klar und men ist noch nicht der Frieden selbst, aber es sorgt deutlich sagen. dafür, daß die Waffen schweigen, und es eröffnet die Chance, einen Friedensprozeß in Gang zu setzen, an Die Bundesregierung geht an diesen Einsatz mit dessen Ende, wie wir alle wohl gemeinsam hoffen, Umsicht und mit Bedacht heran. Wir wissen um die ein dauerhaft gesichertes friedliches Zusammenle- Verantwortung, die wir für unsere Soldaten haben. ben der Völker im ehemaligen Jugoslawien stehen Natürlich werden und müssen wir a lles tun, um sie wird. bestens ausgerüstet in diesen Einsatz zu schicken. Es ist ein bewegender Moment, wenn man sagen Die Sorge der Eltern um ihre Söhne ist verständ- kann: Ein Krieg ist vorbei. Ich rate, sich bei den lich; wir teilen sie. Aber wir dürfen und wir können Debatten, die wir in diesem Zusammenhang zu füh- nicht beiseite stehen, wenn die Soldaten unserer ren haben, immer die Bilder der Menschen vor Partner und Freunde für die geschundenen Men- Augen zu halten, die in den letzten Jahren unter die- schen im ehemaligen Jugoslawien endlich den sem Krieg so schwer gelitten haben, wie alle diejeni- erhofften Frieden durchsetzen. gen ermessen können, die in unserem eigenen Land die Schrecken des Krieges noch erlebt haben. Bei Die USA werden wohl 20 000, Großbritannien zirka allen Gefahren und Risiken, die nicht verschwiegen 13 000, Frankreich zirka 11 000 Soldaten entsenden. werden dürfen, sollte dieses Ergebnis nicht für Wir Deutsche konnten uns in schwierigsten Zeiten selbstverständlich gehalten werden. der Teilung Deutschlands und Berlins auf unsere Partner und Freunde verlassen. Jetzt wollen und Als wir zuletzt am 30. Juni in einer sehr leiden- müssen wir auch Solidarität zeigen. schaftlichen, aufgewühlten Debatte den Krieg in Bos- nien und unsere deutsche Verantwortung diskutiert Bei dieser Entscheidung geht es aber nicht allein haben, war nicht vorauszusehen, daß wenige Monate um Dank und Solidarität, sondern es geht auch um später die Umsetzung eines Friedensvertrages hier ein vitales deutsches und europäisches Interesse, zur Debatte stehen könnte. Ich möchte deshalb im weil Europa in seinem eigenen Haus verhindern Namen meiner Fraktion allen danken, die den Frie- muß, daß Nachbarstaaten überfallen und Menschen- densschluß möglich gemacht haben. Dieser Dank rechte mit Füßen getreten werden. richtet sich an erster Stelle an den amerikanischen Präsidenten Clinton, der ein hohes politisches Risiko Wir alle sollten gemeinsam dafür sorgen, daß eingegangen ist. Deutschland seiner Verantwortung für den- Frieden und die Menschenrechte in Europa gerecht werden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne kann. Das ist die europäische Dimension und Verant- ten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ wortung der von diesem Haus am 6. Dezember zu DIE GRÜNEN und der F.D.P.) treffenden Entscheidung. Der Präsident hat sich seiner weltpolitischen Verant- Die Bundesregierung hat vor allem nach der Ent- wortung gestellt, und wir sollten nun das Unsere tun, scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Juli um ihm die Zustimmung des Kongresses zu erleich- 1994 die deutsche Außen-, Sicherheits- und Verteidi- tern. gungspolitik mit Augenmaß in Richtung regionaler (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Friedenssicherung weiterentwickelt. Damit haben ten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ wir die Bündnis- und Europafähigkeit unserer Politik DIE GRÜNEN und der F.D.P.) erhalten. Die breite Zustimmung in unserer Öffent- lichkeit zu dieser Politik und die wachsende Unter- Ich schließe in unseren Dank die Verhandlungsdele- stützung auch hier in diesem Hause unterstreichen, gationen der Kontaktgruppenstaaten ein und möchte daß wir auf dem richtigen Weg sind. auch die wichtige und positive Rolle der deutschen Delegation hervorheben. Das Abkommen von Day- Meine Damen und Herren, die Menschen im ehe- ton beruht in der Tat in wesentlichen Teilen auf Vor- maligen Jugoslawien haben jetzt erstmals seit vier arbeiten der Kontaktgruppe; Dayton war keine rein Jahren die Hoffnung auf ein friedliches Weihnachts- amerikanische Veranstaltung, auch wenn es in der fest. Ich glaube, wir alle sollten dazu beitragen und Präsentation so erscheinen mochte. Aber darüber mithelfen, daß diese Hoffnung in Erfüllung geht, muß man sich wohl nicht beklagen. Letztlich zählt damit dieses Fest für alle Menschen in Europa, insbe- nur das Ergebnis. 6432 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Günter Verheugen Meine Damen und Herren, es ist jetzt notwendig, Wir wollen, soweit es irgend geht, zivile Organisa- die richtige Beziehung zwischen den zivilen und den tionen und ihre freiwilligen Helfer ermutigen, am militärischen Aspekten der Vereinbarungen von Aufbau des Friedens mitzuwirken. Ich appelliere vor Dayton herzustellen. Die militärische Absicherung allem an die junge Generation unseres Landes, sich des Friedensprozesses ist eine notwendige Bedin- für einen konkreten Friedensdienst zur Verfügung zu gung; sie steht aber nicht im Zentrum. Sie hat eine stellen. Ich appelliere an die Städte und Gemeinden, dienende Funktion. mit Patenschaften und Pa rtnerschaften einen Beitrag zu leisten. Die Hilfe von Mensch zu Mensch wird (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne mindestens so wichtig sein wie das, was die Soldaten ten der CDU/CSU und der F.D.P.) tun müssen. Der Einsatz der Soldaten dient einem politischen Ich möchte ein Wort zu den Bürgerkriegsflüchtlin- Zweck. Im Kern geht es darum, in der Konfliktregion gen sagen. Wir wollen, daß sie in ihre Heimat zurück- der Demokratie und den Menschenrechten zum kehren können. Aber wir wollen nicht, daß sie jetzt Durchbruch zu verhelfen. Dafür steht nur ein Jahr in Angst und Schrecken versetzt werden und ihnen zur Verfügung. Das ist bitter wenig. Darum müssen mit Abschiebung gedroht wird. wir verlangen, daß die Umsetzung des zivilen Teiles der Vereinbarungen nicht hinter dem militärischen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne zurückbleibt. Ich sehe, daß die militärischen Vorkeh- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, rungen mit Tempo und mit Energie getroffen wer- der F.D.P. und der PDS) den. Auf der zivilen Seite vermisse ich ein solches Wir sehen in dieser Gruppe ein Potential von Men- entschlossenes Herangehen. schen, die wir schon hier darauf vorbereiten können, (Beifall bei der SPD) in ihrer Heimat verantwortungsvoll den Wiederauf- bau zu leisten. Es ist auch nach der Regierungserklärung des Bun- desaußenministers nicht klar geworden, zu welchen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Leistungen die Bundesregierung bereit sein wird. Entsprechende Ausbildungsförderprogramme müs- Vom Bundeskanzler habe ich nur gehört, daß er nicht sen schnell beginnen, wenn sie Wirkung entfalten der Zahlmeister sein will. sollen. Es reicht nicht aus, sich zu rühmen, daß wir (Bundeskanzler Dr. : Das habe mehr Flüchtlinge aufgenommen haben als alle übri- ich nicht gesagt!) gen EU-Staaten zusammen. Das war unsere Pflicht gegenüber bedrängten Mitmenschen. Da stellt sich allerdings die Frage, was denn der Mil- liardenaufwand für die internationale Friedens- Meine Damen und Herren, das Friedensabkom- truppe bringen soll, wenn die materiellen Vorausset- men von Dayton und seine Umsetzung enthalten zungen für den Frieden selber fehlen. einige Elemente, die über das aktuelle Ereignis hin- aus große Bedeutung haben. Da ist zunächst die Mit- (Beifall bei der SPD) wirkung Rußlands an einer von der NATO geführten Es darf kein Mißverhältnis entstehen zwischen der Operation. Das kann ein ganz neues, positives Ver- Bereitschaft, für das militärische Engagement zu zah- hältnis zwischen Rußland und der NATO schaffen len, und der Bereitschaft zum politischen Engage- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist ment. eines!) (Beifall bei der SPD) und den sicherheitspolitischen Dialog entspannen - Das sage ich auch im Interesse der Soldaten, die in und fruchtbar machen. das ehemalige Jugoslawien geschickt werden sollen. Ebenso positiv sehe ich die Rolle, die der OSZE Wir dürfen sie nicht in die UNPROFOR-Falle laufen zugewiesen wird. Ihr fällt die schwierige Aufgabe zu, lassen: hineinzugehen und dann nicht wieder heraus demokratische Wahlen zu ermöglichen und den zu können. Das militärische Engagement ist nur Rüstungskontrollprozeß zu organisieren. Für die gerechtfertigt, wenn der politische Zweck mit allem OSZE ist das eine Bewährungsprobe, die sie aber nur Nachdruck verfolgt wird. bestehen kann, wenn sie auch die nötige Ausstat- tung zur Erfüllung ihres Auftrages erhält. Wir wün- (Beifall bei der SPD) schen uns eine starke Rolle der OSZE bei der Kon- Wir können eine Menge gerade do rt tun, wo es fliktprävention und beim Konfliktmanagement. Sie nicht in erster Linie um materielle Hilfe geht. Den muß aus der Rolle eines vernachlässigten Waisenkin- Menschen in Bosnien zu helfen, wieder Vertrauen des heraus. Sie bietet schon jetzt große Möglichkei- zueinander zu gewinnen, der Aufbau demokrati- ten und würde noch größere bieten, wenn man ihre scher Strukturen und Förderung von Selbsthilfepro- rechtlichen Grundlagen stärken und ihre Handlungs- grammen, das alles muß nicht am Geld scheitern - fähigkeit auch materiell ausbauen würde. und darf es auch nicht. Was in Das dritte wichtige Element ist die Rolle der Euro- vollbringt, ist nicht in erster Linie dem Geld Mostar Wir wollen uns nichts vormachen: geschuldet, sondern dem Einsatz der Person. päischen Union. Die Europäische Union ist im Jugoslawien-Konflikt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne vor allem an sich selber gescheitert. Ihre gemein- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN same Außen- und Sicherheitspolitik könnte sich aber und der PDS) jetzt in einer anderen Weise bewähren. Die Stabilität Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6433

Günter Verheugen der gesamten Balkanregion wird ohne aktive Mitwir- Aber man muß zwei Dinge anerkennen: Ohne die kung der Europäischen Union nicht zu erreichen von den Vereinten Nationen verhängten Sanktionen sein. wäre die serbische Politik nicht auf Friedenskurs gegangen. Ich halte diesen Punkt für wichtig, da (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bundesregierung und Koalition immer davon reden, Hier stellt sich eine der großen, leider - Herr Kin- daß Sanktionen noch nie etwas bewirkt hätten. Hier kel hat darauf hingewiesen - noch offenen Fragen. haben sie sogar sehr viel bewirkt. Das sollte Anlaß Der Frieden in Bosnien ist wichtig, für die betroffe- genug zum Nachdenken darüber sein, ob die Tren- nen Menschen gewiß das Wichtigste; aber er ist noch nung von Politik und Handel in bestimmten Konflikt- nicht alles. Im ehemaligen Jugoslawien haben wir es situationen nicht doch nur eine bequeme Ausflucht mit weiterem, gefährlichem Konfliktpotential zu tun. ist. Ich nenne nur ein Beispiel: Vor allem Kosovo ist ein (Beifall bei der SPD) Sicherheitsrisiko ersten Ranges mit Auswirkungen weit über Kosovo hinaus. Wenn Konfliktprävention Das andere Element ist die Leistung von UNPRO- keine Phrase ist, dann muß das Kosovo-Problem im FOR. UNPROFOR hat hohe Verluste gehabt, beson- Dialog mit Belgrad und den Kosovo-Albanern jetzt ders beim französischen Kontingent. Wir würden entschlossen angepackt werden. unseren französischen Nachbarn und den anderen Truppenstellern nicht gerecht, wenn wir ihre Opfer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne als vergeblich betrachten würden. Ohne die Blau- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN helme wäre der Krieg noch viel mörderischer und und der PDS) schrecklicher gewesen, vor allem für die wehrlose Wir wollen, daß auch unsere Beziehungen zu Bel- Zivilbevölkerung. grad normalisiert werden. Wir wollen, daß Serbien (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne seinen Weg zurück in europäische und internationale ten der F.D.P.) Strukturen findet. Ich stimme dem Außenminister aber ausdrücklich darin zu, daß dann Bedingungen Die SPD-Bundestagsfraktion hält daran fest, daß erfüllt sein müssen. Das wird nur gelingen, wenn die Wahrung des Weltfriedens und der internationa- zum Beispiel die Autonomiefragen für Kosovo und len Sicherheit die Aufgabe des kollektiven Sicher- die Fragen in der Vojvodina gelöst sind. Diese Forde- heitssystems Vereinte Nationen ist. Nur ein voll ent- rung richtet sich nicht nur an die politische Führung wickeltes, handlungsfähiges, kollektives Sicherheits- in Belgrad, sondern auch an die Kosovo-Albaner, die system ist in der Lage, zuverlässig dafür zu sorgen, wissen müssen, daß Sezessionsbestrebungen in daß nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Europa keine Unterstützung finden werden. Stärke des Rechts die internationalen Beziehungen bestimmt. Ungelöst ist das ebenfalls konfliktträchtige Vojvo- dina-Problem. Auch das darf nicht liegengelassen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne werden. Prinzipiell gilt: Überall im ehemaligen Jugo- ten der F.D.P.) slawien müssen die Menschenrechte und der Schutz der Minderheiten gesichert sein. Über die Lehren aus der jugoslawischen Katastro- phe muß auch hier noch einmal in Ruhe und gründ- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lich gesprochen werden. Die für den Bosnien-Kon- flikt gefundene Lösung einer internationalen Frie- Das ist die Voraussetzung dafür, daß man den Nach- denstruppe unter Leitung der NATO wird als Modell folgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens den Weg für die Zukunft nicht taugen. in die europäische Integration öffnen kann.- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Bundesregierung setzt sich jetzt für ein ziviles Minimalprogramm ein, das nur die Kriegsgebiete Es würde - man muß das klar sehen - sowohl bei Bosniens erfaßt. Dieser Ansatz greift zu kurz. Dauer- außereuropäischen Konflikten als auch bei Konflik- hafter Friede auf dem Balkan wird nur möglich sein, ten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion wenn über einen Wiederaufbau der Kriegsgebiete nicht funktionieren. Deshalb muß eine stabile Frie- hinaus den Menschen in allen Nachfolgestaaten des denspolitik die vorhandenen Institutionen miteinan- ehemaligen Jugoslawiens die gleiche Chance eines der verbinden und sinnvoll aufeinander beziehen. Neubeginns gegeben wird. Dabei werden sowohl die Europäische Union als auch die NATO ihre Rolle haben. Aber es geht nicht Bei aller Erleichterung über den Erfolg von Dayton ohne eine UNO, die so handeln kann, wie es ihrem darf nicht übersehen werden, daß die nur noch for- Gründungszweck entspricht. male Rolle der Vereinten Nationen im Friedenspro- zeß und der Implementierung ein Rückschritt ist. Ich (Beifall bei der SPD) halte es nicht für richtig, zu sagen, die Vereinten Nationen hätten sich als unfähig erwiesen, das Pro- Wir sollten das nie vergessen: Die Vereinten Natio- blem zu lösen. In den entscheidenden Momenten nen sind entstanden, weil sich die Staatengemein- sind es die Mitglieder des Sicherheitsrates selbst schaft kollektiv vor Aggression und Völkermord gewesen, die die Handlungsfähigkeit der Vereinten schützen wollte. Die Welt ist jedenfalls heute noch so Nationen eingeschränkt haben. beschaffen, daß ein solcher Schutz auch nötig ist. Selbstverständlich muß unser Land den Vereinten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nationen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben helfen. 6434 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Günter Verheugen Wenn ich die Diskussion in den Reihen der Bünd- Es ist uns aufgegeben, die Risiken für unsere Sol- nisgrünen richtig wahrnehme, so geht es dort um die daten ganz sorgsam abzuwägen. Die internationale Frage, ob Friedenssicherung allein mit den Mitteln Friedenstruppe für Bosnien dient der Sicherung der Konfliktprävention und der f riedlichen Streitbei- eines Friedensvertrags. Sie basiert auf dem Ersuchen legung betrieben werden kann oder ob als letztes der Konfliktparteien. Mithin hat sie keinen Gegner, und äußerstes Mittel auch militärisch eingegriffen den es zu bekämpfen gilt, sondern sie übt Ordnungs- werden darf. funktionen aus.

Auch für uns sind die nichtmilitärischen Mittel die Meine Fraktion hält es für notwendig, daß unser wichtigeren. Aber wir können nicht leugnen, daß Land seinen Beitrag zur Sicherung des Friedens im diese Mittel versagen können und daß sie nicht ehemaligen Jugoslawien auch auf diese Weise lei- immer ausreichen. Es muß eine Instanz geben, die stet. Wir verstehen den Charakter der Mission als das Recht und die Fähigkeit hat, Gewalt zu einem strikt friedenserhaltend und friedenssichernd, und Ende zu bringen, nicht anders als in Rechtsstaaten wir sprechen uns deshalb für eine deutsche Beteili- die Polizei. gung aus. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dietrich Genscher) Kollege Fischer ist jetzt in seiner Partei mit einer Das liegt auf der Linie des bisherigen Verhaltens Form von Realitätsverweigerung konfrontiert, die ich der SPD-Bundestagsfraktion. Anders als von der gut kenne. Ich will mich über niemanden erheben, Koalition dargestellt, haben wir uns bisher notwendi- sondern es soll nur der Klarheit der Debatte dienen, ger deutscher Hilfe nicht verweigert. Wir haben den wenn ich anmerke, daß Herr Kollege Fischer seine Einsatz in Kambodscha gebilligt, wir haben nach Klä- Partei auf eine Position bringen will, die in der SPD rung der Rechtsfrage durch das Bundesverfassungs- schon seit vielen Jahren gilt. gericht dem AWACS-Einsatz und dem Adria-Einsatz zugestimmt. Wir haben den Somalia-Einsatz aus poli- (Lachen bei der CDU/CSU) tischen Gründen abgelehnt und damit recht behal- ten; denn der Einsatz wurde bekanntlich ergebnislos - Ich kann ja nicht dafür, wenn Sie die Texte nicht abgebrochen. lesen. Das läßt sich nachweisen. (Beifall bei der SPD) (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Ich weiß genau, was Sie vor vier Jahren im Wir haben den Bosnien-Einsatz seit dem 30. Juni Bundestag gesagt haben!) ebenfalls gebilligt und nur ein einziges Element Unsere Position ist seit Jahren: Hilfe bei der Friedens- abgelehnt: die Verwendung von ECR-Tornados. Das sicherung: ja, Kriegführen gegen irgendwen: nein. war auch berechtigt; denn die ECR-Tornados sind bekanntlich nicht gebraucht worden. (Beifall bei der SPD) (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das Ich würde es begrüßen, wenn hier ein Stück ist unmöglich! - Wolfgang Zöller [CDU/ Gemeinsamkeit entstünde, sowohl in der Anerken- CSU]: Das ist ungeheuerlich!) nung dessen, was die Vereinten Nationen tun sollen, als auch in der Zurückhaltung, was deutsche militäri- Wir halten auch jetzt die Beteiligung von ECR-Tor- sche Beteiligung angeht, aber keine prinzipielle Ver- nados für falsch und haben deshalb einen Antrag weigerung. - vorgelegt, der ihren Einsatz ausschließt. Wir werden allerdings niemandem den Gefallen tun, die Gesamt- Damit komme ich zum Beschluß der Bundesregie- würdigung der internationalen Friedenstruppe von rung, die internationale Bosnien-Friedenstruppe mit diesem einzigen technischen Detail abhängig zu Bundeswehreinheiten zu unterstützen. Ich stelle machen. In der Gesamtwürdigung überwiegen die zunächst fest, daß damit das vom Bundeskanzler auf Zustimmungsgründe, die außen- und sicherheitspoli- gestellte Dogma „Keine deutschen Soldaten auf tischen Notwendigkeiten, die internationale Solidari- jugoslawischem Boden" endgültig aufgegeben ist. Es tät, die moralische Verpflichtung zur H ilfe, kurz: die ist immer ein fragwürdiger Lehrsatz gewesen; denn Mitwirkung an einem Friedensprozeß. er bedeutete, daß früheres Unrecht heute zu unter- lassener Hilfeleistung führen könnte. Man sollte über (Unruhe bei der CDU/CSU) die Aufgabe dieses Grundsatzes nicht einfach hin- weggehen, weil die historische Belastung im Einzel- - Ihre Unruhe an dieser Stelle steht in einem merk- fall natürlich doch gegeben ist. würdigen Gegensatz zum Appell des Außenministers Ich sehe für das moralische Dilemma, das sich dar- an die Opposition mitzuwirken. Man gewinnt den aus ergibt, nur eine einzige handhabbare Lösung: Eindruck, daß es Ihnen nicht paßt, daß die sozial- Ein Bundeswehreinsatz im Rahmen einer Friedens- demokratische Bundestagsfraktion mitwirken will. mission in Gebieten, wo Hitlers Armeen waren, ist Wenn Sie uns auffordern mitzuwirken, dann hören nur möglich, wenn alle Beteiligten ihn ausdrücklich Sie uns auch in Ruhe zu, wenn ich begründe, warum wollen. wir das tun. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6435

Günter Verheugen Wir haben Ihrem Außenminister auch in Ruhe zuge- Kriegsterror mit Hunderttausenden von Toten und hört. Ich verbitte mir das. Vertriebenen. Bei mancher Skepsis, ob das Abkom- men auf Dauer trägt: Es bedeutet jedenfalls zunächst (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Er den Anfang vom Ende des grausamsten Konflikts in hat auch anständig geredet!) Europa seit 50 Jahren. Ich will ein Bedenken nicht verschweigen, das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) viele von uns haben: Der Bundestag soll seine Zustimmung geben, bevor das Mandat des Sicher- Jetzt wird die wichtigste Aufgabe der Staatenge- heitrates vorliegt. Die Bundesregierung führt dabei meinschaft darin bestehen, den Frieden dauerhaft außenpolitische Gründe an: den schnellen Beginn und sicher zu machen. der Implementierung, damit in der Zwischenzeit Unsere Erleichterung über das Erreichte und nicht erneut Gewalt ausbricht, das Signal an den unsere Hoffnung auf eine f riedliche Zukunft für die amerikanischen Kongreß, daß ein wichtiger europäi- Menschen im ehemaligen Jugoslawien ist vom Dank scher Verbündeter seinen Beitrag leisten will, das für diejenigen begleitet, die dieses Ergebnis möglich Signal an die Konfliktparteien. gemacht haben. Auch wir nennen allen voran die Der Kabinettsbeschluß ist an das Mandat des USA. Ohne ihre politische Führung auch gegen Sicherheitsrates unauflösbar gebunden. Wir wissen, Widerstände, ohne ihre Beharrlichkeit und ohne ihre wie das Mandat aussehen wird, und wir wissen, daß Entschlossenheit zum Einsatz der militärischen es kommt. So führt auch hier die Abwägung dazu, Potentiale der NATO hätte es diese historische die Zustimmung an dieser Frage nicht scheitern zu Chance zum Frieden nicht gegeben. lassen. Aber ich stelle es deshalb ausführlich dar, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) weil niemand dem Deutschen Bundestag vorwerfen können soll, daß er leichtfertig mit dem von uns er- Die Lehre, die wir ziehen müssen - das sage ich in strittenen Parlamentsvorbehalt bei Bundeswehrein- alle Fraktionen hinein -, ist zwingend: Wir werden sätzen umgeht. auch in Zukunft Frieden nur sichern können, wenn jeder Aggressor, der zur Durchsetzung seiner Ziele Maßgeblich ist nicht zuletzt aber auch, daß der Gewalt anwenden will, mit dem entschiedenen und um den es geht, der bisher Bundeswehreinsatz, überlegenen Widerstand der zivilisierten Welt rech- größte und risikoreichste ist und daß es im Interesse nen muß. der Soldaten liegt, daß ein breiter Rückhalt im Parla- ment gegeben wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir verschweigen die Risiken nicht. Der Einsatz ist Dazu brauchen wir - auch das wird uns in der gefährlich. Wir wissen, daß wir mit der Zustimmung Europa-Debatte der nächsten Woche noch beschäfti- auch die Mitverantwortung für die Unversehrtheit gen - ein handlungsfähiges Europa im engen Schul- und das Leben der eingesetzten Soldaten überneh- terschluß mit Amerika. men. Vor diesem Hintergrund erwarten wir, daß der Bundeskanzler heute oder in der nächsten Woche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) persönlich für die Politik der Bundesregierung ein- Wenn es je einen Zweifel über die künftige Rolle der steht und sich nicht wie am 30. Juni dieses Jahres in NATO gegeben hat: Bosnien hat uns auch gelehrt, Schweigen hüllt. Der Bundeskanzler kann sich nicht daß die NATO und damit eingeschlossen der ameri- auf Festansprachen beschränken, wenn es um die kanische Nuklearschutz unverzichtbare Grundlage Bundeswehr geht. Die Soldaten erwarten auch von auch europäischer Sicherheit bleiben. ihm ein klares Wort. - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Allerdings - das füge ich hinzu - werden wir das Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion spricht amerikanische Engagement in Europa nur sichern dieses klare Wort. können, wenn Europa künftig selbst einen größeren Im weiteren Verlauf der Debatte wird noch über Beitrag zur Bewältigung von Krisen und Konflikten viele Einzelfragen zu reden sein. Ich beschränke auf unserem eigenen Kontinent leistet. mich auf den Grundsatz, der unsere Entscheidung (Beifall bei der CDU/CSU) bestimmt: Es reicht nicht aus, Frieden zu fordern, man muß alles tun, was man kann, damit er möglich Es gibt zwei große Aufgaben: erstens die militäri- wird. sche Absicherung des Abkommens von Dayton durch die NATO-Friedenstruppen und zweitens die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Hilfe zum Wiederaufbau Bosniens und die Rückfüh- ten der PDS) rung der Flüchtlinge. Ich sagte schon - die letzten Tage und Stunden, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der auch die Drohungen und Forderungen der bosni- Kollege Rudolf Seiters. schen Serben zeigen es sehr deutlich -: Der Friede bleibt gefährdet. Wer die Chancen des Friedenspro- Rudolf Seiters (CDU/CSU): Frau Präsidentin! zesses in Bosnien realistisch und nüchtern einschätzt, Meine Damen und Herren! Hoffnung, Erleichterung der weiß, daß nach vier Jahren brutalem Krieg und und Dank kennzeichnen die Diskussion, die wir Völkermord größtes Mißtrauen zwischen den Volks- heute führen: Hoffnung auf Frieden nach vier Jahren gruppen und bei vielen auch Haß besteht. 6436 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Rudolf Seiters Es wird Menschen und Gruppen geben, die versu- sein. Notwendig ist die robuste Bewaffnung zum chen werden, diesen Friedensprozeß zu stören und Schutz der Friedenstruppen und notfalls auch zur aus ihrer Sicht noch offene Rechnungen zu beglei- Durchsetzung der Friedensvereinbarungen, wenn chen. Deswegen übernehmen die Friedenstruppen, das Mandat erfolgreich erfüllt werden soll. Prinzip die NATO-Streitkräfte, russische Soldaten, Truppen kann auch nicht die von Ihnen geforderte st rikte aus anderen europäischen und islamischen Staaten Neutralität gegenüber den Konfliktparteien sein, einen schwierigen und gefährlichen, für den Frieden sondern muß die st rikte Parteilichkeit für diejenigen, und die Sicherheit in Europa aber unverzichtbaren die die Friedensvereinbarungen einhalten, und Auftrag. Deshalb danken auch wir den Soldaten die- gegen diejenigen, die sie verletzen, sein. ser Friedenstruppen und insbesondere auch den Sol- daten der Bundeswehr für ihre Bereitschaft und ihren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Mut, diese nicht ungefährliche Friedensarbeit zu lei- Deswegen brauchen wir nicht nur den Einsatz von sten. Aufklärungsflugzeugen über Bosnien, sondern wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) brauchen auch deren Schutz durch ECR-Tornados. Wer nach Bosnien Aufklärungsflugzeuge und Trans- Ich möchte im Namen meiner Fraktion auch nach- portflugzeuge zu schicken bereit ist, zugleich aber drücklich begrüßen, daß es der NATO und Rußland diesen Schutz durch ECR-Tornados verweigert, der gelungen ist, eine Vereinbarung über ihre Zusam- nimmt bewußt ein Sicherheitsrisiko in Kauf. Das aber menarbeit im Rahmen der Friedensmission zu errei- wäre außen- und sicherheitspolitisch nicht vertretbar chen. Dieses konkreteste Beispiel einer russisch- und ist mit uns nicht zu machen. amerikanischen militärischen Zusammenarbeit seit Überwindung des kalten Krieges ist für den Frie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) densprozeß im ehemaligen Jugoslawien außeror- Sie müssen auch die Frage beantworten, was denn dentlich wichtig und notwendig. Dieses Beispiel ist geschehen würde, wenn Ihr Entschließungsantrag hoffentlich auch ein erfolgreicher Präzedenzfall für heute angenommen würde und die Bundesregierung den Aufbau der von uns angestrebten besonderen ihre Zusage für die ECR-Tornados zurückziehen Partnerschaft zwischen der NATO und Rußland. müßte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Günter Verheugen [SPD]: Gar nichts!) Die Friedenstruppen müssen nicht nur zu ihrer Sie können doch hier nicht einfach Anträge stellen in eigenen Verteidigung in der Lage sein. Sie müssen der Erwartung, daß diese Anträge abgelehnt werden, notfalls auch die Parteien zwingen, den im Friedens- ohne Rücksicht darauf, was dann hinterher die Wir- abkommen enthaltenen Verpflichtungen nachzu- kung einer solchen Annahme wäre. Das geht doch kommen. Das ist das sogenannte robuste Mandat, nicht! das die Friedenstruppen erhalten sollen und das auch notwendig ist. Wie anders soll Peace-keeping (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - gewährleistet, wie anders soll der Friede sonst gesi- Freimut Duve [SPD]: Sie können doch chert werden, wenn nicht durch die Entschlossen- zustimmen!) heit, Vertragsverletzungen gar nicht erst zuzulassen? Ich kann auch nicht verstehen, daß Sie vom (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 30. Juni 1995 gesprochen haben. Am 30. Juni haben Sie in der Tat im Deutschen Bundestag gegen den Wir begrüßen, daß die SPD-Bundestagsfraktion Einsatz der Tornados im Zusammenhang mit der dem Konzept der Bundesregierung zur Entsendung Schnellen Eingreiftruppe gestimmt. Später, am von deutschen Friedenstruppen zustimmen will. Es 6. September, als die Aktion erfolgreich gewesen ist, gibt in Wahrheit ja auch keine realistische Alterna- hat der Kollege Scharping in der Haushaltsdebatte tive zur Beteiligung der Bundeswehr an den von gesagt, die Antwort der Staatengemeinschaft mit UNO und NATO gemeinsam gewünschten und dem Einsatz der Schnellen Eingreiftruppe sei klar, geforderten und für notwendig erachteten Maßnah- eindeutig und richtig gewesen und habe uns den men. Frieden näher gebracht. An dieser Eingreiftruppe Aber es muß, Herr Kollege Verheugen, damit waren die Tornados beteiligt. keine Mißverständnisse entstehen, an dieser Stelle (Günter Verheugen [SPD]: Sie haben keine auch ein klares Wort gesagt werden zu Ihrem Ent- Rolle gespielt!) schließungsantrag und Ihren Parteitagsbeschlüssen von Wiesbaden und Mannheim, deren Verwirkli- Sie waren doch schon auf dem richtigen Weg. Was chung - das wissen viele von den Kollegen in Ihren dieser Entschließungsantrag in Wirklichkeit zum eigenen Reihen - uns letztendlich europaunfähig Hintergrund hat, ist der Spagat zwischen Lafontaine und bündnisunfähig machen. Das muß an dieser und Scharping; er ist das Produkt der innerparteili- Stelle klar gesagt werden. chen Auseinandersetzung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Man kann keine Trennlinie ziehen zwischen So, wie das Verfassungsgericht 1993 von einem Peace-keeping-Missionen und Maßnahmen zur großen außenpolitischen Schaden gesprochen hat, Durchsetzung von Friedensvereinbarungen. Das der entstehen würde, wenn Deutschland der SPD fol- Prinzip kann nicht - wie Sie es erneut in Mannheim gen und seinen Bündnisverpflichtungen hinsichtlich formuliert haben - die rein defensive Bewaffnung der Einsatzfähigkeit der NATO-AWACS-Flugzeuge Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6437 Rudolf Selters nicht nachkommen würde, würde auch jetzt großer Zu unserer Politik muß es auch gehören, Bürger- außenpolitischer Schaden im Bündnis entstehen. Wir kriegsflüchtlingen eine rasche und sichere Rückkehr müssen und werden Ihren Entschließungsantrag in ihre Heimat zu ermöglichen und uns gleichzeitig heute ablehnen, um Schaden abzuwenden von uns am Wiederaufbau zu beteiligen. Herr Kollege Ver- und vom Bündnis. heugen, das ist eine Perspektive: Rückkehr in die Heimat, an die niemand mit Angst und Schrecken (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) denken muß, und Hilfe beim Wiederaufbau. Deswe- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt, daß gen sollten wir darüber nicht so sprechen, wie Sie Europäische Union und Weltbank schon am 18. und das getan haben. 19. Dezember 1995 über eine Soforthilfe für Bos- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge nien-Herzegowina beraten wollen. Für uns ist selbst- ordneten der F.D.P. - Günter Verheugen verständlich, daß diese Hilfe nicht nur die kroati- n[SPD]: Das müssen Sie Herrn Beckstei schen und muslimischen Bevölkerungsteile Bosnien sagen, nicht mir!) Herzegowinas, sondern auch die serbischen Bevölke- rungsteile erreichen muß. Beteiligung am Wiederaufbau - dies kann aller- dings nicht nur eine deutsche Aufgabe sein. Kein Die deutsche Politik - das ist vom Außenminister Land der Erde wird derartig hohe Belastungen, wie schon völlig zu Recht gesagt worden - war nie anti- wir sie in Deutschland in den vergangenen Jahren serbisch. Wir haben aber mit gutem Recht unter- getragen haben, auf Dauer aushalten und überneh- schieden zwischen der Bevölkerung, den Politikern, men können. Notwendig ist eine faire und bessere die bereit waren und sind, konstruktive Beiträge für europäische Lastenteilung und die Hilfe der gesam- einen dauerhaften Frieden zu leisten, und serbischen ten internationalen Gemeinschaft. Politikern, die wegen ihrer Kriegsverbrechen und menschenverachtenden Politik vor den Internationa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge len Gerichtshof in Den Haag gehören. Darauf wer- ordneten der F.D.P.) den wir bestehen müssen; denn Kriegsverbrechen Wir hoffen alle darauf, daß sich die jugoslawische dürfen nicht ungesühnt bleiben. Tragödie auf dem europäischen Kontinent nicht wie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) derholt. Aber niemand kann sicher sein, daß diese Hoffnung aufgeht. Deshalb müssen wir alles tun, Hilfe für den Wiederaufbau Bosnien-Herzegowi- damit Europa im Fall eines Konflikts besser vorberei- nas und bestimmter Teile Kroatiens müssen wir aller- tet ist und der politischen Krisenbewältigung auch dings davon abhängig machen, daß das in der Frie- mit militärischen Mitteln Glaubwürdigkeit verleiht, densvereinbarung von Dayton garantierte Rückkehr- wenn es ohne den Einsatz militärischer Mittel nicht recht der Vertriebenen und Flüchtlinge in ihre frü- geht. here Heimat uneingeschränkt gewährt wird. Wir wissen: Die Entscheidung, die wir treffen, ist (Zustimmung bei der CDU/CSU - Freimut nicht einfach, und der Einsatz unserer Soldaten ist Duve [SPD]: Das muß auch für die Krajina nicht ohne Risiko und ohne Gefahr. Um so mehr müs- Serben gelten!) sen unser Dank und unsere volle Unterstützung - Richtig. Es wäre nicht akzeptabel, wenn rückkehr- heute und in den kommenden Wochen und Monaten willigen Krajina-Serben die Wiederansiedlung in unseren Soldaten gehören - für ihre persönliche Bereitschaft, einen wichtigen und unverzichtbaren ihrer früheren kroatischen Heimat erschwert oder sogar verwehrt würde. Gleiches gilt selbstverständ- Dienst für Humanität und für den Frieden in Europa zu leisten. lich für die aus Banja Luka von den Serben- vertriebe- nen Katholiken oder die Menschen aus anderen eth- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nisch gesäuberten Gebieten im ehemaligen Jugosla- wien. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt Es muß einen ausreichenden Schutz ethnischer der Kollege Gerd Poppe. Minderheiten geben. Dies gilt nicht nur für Bosnien und Kroatien, sondern auch für die Situation in Ser- Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau bien selbst. Deswegen fordern wir auch die serbische Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit vier Jah- Regierung auf, bef riedigende Regelungen für ihre ren debattieren wir nun über Aggressionskrieg und Minderheiten zu garantieren. Völkermord mitten in Europa. Mehr als eine Viertel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge million Menschen sind gefallen oder ermordet wor- ordneten der F.D.P.) den. Mehr als zwei Millionen Menschen sind geflo- hen oder vertrieben worden. Die Bundesrepublik Deutschland hat seit 1992 über 1 Million Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugosla- Mit dem Verhandlungsergebnis von Dayton wien aufgenommen, von denen heute noch etwa besteht nun zum erstenmal die Chance für einen 400 000 bei uns leben. Wir werden auch künftig Frieden in Bosnien-Herzegowina. Indes gibt es unsere Grenzen für Menschen, die vor einem Bürger- wenig Anlaß zur Beruhigung. Skepsis hinsichtlich krieg fliehen müssen, offenhalten. Dies kann aber der Umsetzung des Friedensplans ist mindestens immer nur eine Aufnahme auf Zeit sein. ebenso angebracht wie Hoffnung. Der Frieden wird brüchig, wird ständig in Gefahr sein. Wir sollten uns (Beifall bei der CDU/CSU) aber darin einig sein, daß es im Augenblick weniger 6438 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Gerd Poppe darauf ankommt, einzelne Positionen des paraphier- Dazu gehören auch die Angehörigen der Bundes- ten Verhandlungspaketes in Frage zu stellen. Wir wehr, die sich zur Zeit im ehemaligen Jugoslawien sollten es in seiner Gesamtheit vielmehr als Chance befinden. begreifen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und sowie des Abg. Karsten D. Voigt [Frankfu rt] der SPD) [SPD]) Ich möchte einige Menschen nennen - sie sind Diese Bemerkung sei aller Kritik vorangestellt. zum Teil schon genannt worden -: Hans Koschnick, aber auch Kolleginnen und Kollegen aus unserem Eine solche Chance ist vier Jahre lang nicht Hause, so zum Beispiel Frau Beck, Herr Duve und zustande gekommen. Dafür wurden immer wieder Herr Schwarz-Schilling. Ich möchte auch Ihren per- die Vereinten Nationen verantwortlich gemacht. sönlichen Einsatz, Herr Außenminister, würdigen Ihnen wurde vorgeworfen, versagt zu haben. Versagt und insbesondere die Leistung im Rahmen der Kon- aber haben eine Reihe ihrer wichtigen Mitgliedstaa- taktgruppe und der deutschen Verhandlungsdelega- ten. tion. Stellvertretend für andere seien hier Herr (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie voran!) Ischinger und Herr Steiner genannt. Deutschland kann von dieser Feststellung nicht aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genommen werden. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, Millionen von Men- Die größten europäischen Staaten haben zugelas- schen sind aus ihren Städten und Dörfern vertrieben sen, daß mitten in Europa Verbrechen begangen worden oder geflüchtet. Hunderttausende von ihnen wurden, wie es sie seit dem Ende des Nazi-Regimes kamen nach Deutschland. Viele Menschen in der in Europa nicht mehr gegeben hat. Diese Staaten Bundesrepublik, die Kommunen, die Länder, alle haben eine gemeinsame europäische Außen- und sind mit diesen Problemen konfrontiert. Auch das Sicherheitspolitik vertraglich vereinbart. Im ehemali- gehört zu den Folgen des Krieges, die den engen gen Jugoslawien aber haben sie ihre kurzsichtigen Rahmen nationaler Interessen sprengen und dement- nationalen Interessen verfolgt oder das, was sie sprechend behandelt werden müssen. dafür hielten. Sie haben sich nicht verhalten, als stünden sie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Wir haben in Sorge wegen einiger Äußerungen sondern so, als befänden sie sich noch im aus der jüngsten Zeit, auch von deutschen Politikern, 19. Jahrhundert. heute noch einen zusätzlichen Antrag eingebracht. Er soll die Bundesrepublik darauf verpflichten, den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorschlägen des UNHCR über die Prioritäten und sowie bei Abgeordneten der SPD) den Zeitablauf für die Rückkehr der Flüchtlinge und Sogar die Formulierung der sogenannten nationalen Vertriebenen zu folgen. Die meisten von ihnen wol- Interessen entsprach eher der des 19. Jahrhunderts. len schnell in ihre Heimat zurückkehren. Aber nie- mand in Deutschland sollte sie dazu nötigen oder In dieses anachronistische Denkmuster paßt es, zwingen, solange die elementaren Voraussetzungen daß es ein gemeinsames Interesse am Erhalt eines für die Rückkehr nicht gegeben sind. nicht ethnisch oder religiös definierten Staates Bos- nien-Herzegowina nicht gegeben hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - und bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Freimut Duve [SPD]: Sehr richtig!) der F.D.P.) Auch deswegen konnte dieser schreckliche Krieg so Der Frieden von Dayton ist nach den Worten des lange dauern. bosnischen Präsidenten Izetbegovic ungerecht, aber er ist besser als Krieg. Mit dieser Einschätzung ist das Wenn es nun doch zu dem Verhandlungsergebnis Problem hinreichend beschrieben. Es steht viel von Dayton gekommen ist, dann wohl weniger Gutes in den umfangreichen Papieren; ausdrücklich wegen einer erfolgreichen Politik der EU-Staaten, möchte ich den zivilen Teil, der viel zuwenig erwähnt sondern vor allem wegen des - wenn auch mit großer wird, hervorheben: eine demokratische Verfassung, Verspätung einsetzenden - Engagements der USA. das Rückkehrrecht der Flüchtlinge, ihre materielle Es gibt also Grund genug für äußerste Bescheiden- Entschädigung, die politische Isolierung von Kriegs- heit bei der Bewertung der Leistung Europas, auch verbrechern und der Anspruch auf ihre Auslieferung Deutschlands. Allerdings haben auch viele Deutsche an das Ge richt in Den Haag, ein differenzie rtes dazu beigetragen, daß die Menschen im früheren Wahlrecht samt Terminplan sowie vielfältige zivile Jugoslawien wieder auf Frieden hoffen können. Aufbauprogramme unter der Beteiligung internatio- Dazu gehören zum Beispiel diejenigen, die die naler Institutionen. humanitäre Hilfe organisierten, und vor allem dieje- Dennoch fußt die Chance der Umsetzung all des- nigen, die sie vor Ort leisteten. sen auf einem äußerst fragilen Fundament. Zwar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bleibt der Staat Bosnien-Herzegowina formal erhal- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der ten, wird aber in zwei Teile gespalten, die nach SPD und der F.D.P.) Nationalitäten definie rt sind. Jeder Teil behält seine Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6439

Gerd Poppe eigene Armee, die sich in das jeweilige Gebiet Die Liste von Defiziten ließe sich fortsetzen. Sie zurückziehen muß. Getrennt werden sollen beide sind nicht die Folge mangelnden Verhandlungsge- durch die Implementation Force unter Führung der schicks, sondern die Folge der jahrelang gemachten USA und der NATO, die in der Lage sein muß, sich Fehler und falscher Kriterien. effektiv zu verteidigen. Nationale Interessen können der heutigen Realität Ich betrachte das als eine friedenserhaltende Auf- nicht gerecht werden. Sie müssen als europäische, gabe. Ich möchte aber hinzufügen, daß wir einen als transatlantische, als globale Interessen formuliert über diese Aufgabe hinausgehenden Kampfauftrag werden. Dazu gehört die Einhaltung internationaler ablehnen, daß es einen solchen nicht geben darf. Die Normen des Zusammenlebens, und dazu gehört, Lage ist gefährlich; denn alle Kriegsparteien sind diese nicht nur zu fordern, sondern sie im Rahmen unzufrieden mit dem Ergebnis, allen voran die bosni- der UN mit Hilfe der OSZE auch durchzusetzen, und schen Serben. Sie sind nur unter dem Druck vieler vor allem rechtzeitig, damit letztlich auf die Anwen- Faktoren, darunter des Embargos, der Zerstörung dung militärischer Gewalt verzichtet werden kann. der Wirtschaft, des drohenden Winters und natürlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch des Bombardements zum Einlenken gezwun- sowie bei Abgeordneten der SPD) gen gewesen. Ausgerechnet in dieser Situation wird unverzüglich oder in wenigen Wochen das Waffen- Solange das Völkerrecht und die Menschenrechte embargo für alle Seiten aufgehoben. Ich finde, das nicht Vorrang erhalten vor kleinkarierten national- ist ein gefährlicher Schritt und ein falsches Signal, staatlichen Interessen, kann es immer wieder ein neues Bosnien geben und Aggressoren, die sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ermutigt fühlen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Mit Dayton ist der Friede noch lange nicht gesi- während wir auf der anderen Seite natürlich die chert. Es gibt keinen oder nur einen teilweisen Kon- Rüstungsobergrenzen und die vereinbarten Abrü- sens zwischen den Kriegsparteien. stungsverhandlungen sehr begrüßen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Bei Ihnen Die Verhandlungsdelegationen konnten nur vor auch!) einem von vornherein sehr problematischen Hinter- grund agieren. Das Ergebnis von Dayton unterschei- Es herrscht weniger der Wille der Kriegsparteien als det nicht zwischen Tätern und Opfern, und es wür- der Zwang zum Frieden. Aber es gibt keine Alterna- digt nicht die multiethnische und multikulturelle tive. Wenn dieser Frieden nicht hält, wenn er nicht Selbstdefinition des Staates Bosnien-Herzegowina. stabilisiert wird, wird es wieder Krieg geben. Um das Eine solche Trennung, wie sie mit Dayton sanktio- zu verhindern, muß jenseits der Bewe rtung des niert wird, hat es in Bosnien-Herzegowina nie gege- Ergebnisses von Dayton alles Erforderliche getan ben. Sie war eben deswegen nur mit brutaler Gewalt werden. durchsetzbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kinkel, Bosnien ist kein islamisches Land, wie sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie vorhin gesagt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt sowie bei Abgeordneten der SPD) der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt. Es ist immer noch kein islamisches Land. Wir sollten Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Frau Präsidentin! alles versuchen, daß dieser Rest von Multikultur Meine Damen und Herren! Wir wissen alle: Der Frie- auch wirklich erhalten bleibt. densschluß von Dayton war keine leichte Geburt und Der interfraktionelle Antrag, den wir heute verab- stand lange auf des Messers Schneide. Er ist auch schieden, war gewissermaßen als eine Aufgabenstel- noch nicht der Frieden selbst; er ist die Chance zu lung für Dayton gedacht. Trotzdem hat er sich nicht einem Frieden. Aber wir wollen nicht in Vergessen- erledigt. Vieles von dem, was alle Fraktionen dieses heit geraten lassen und heute nicht zulassen, daß Hauses in dem interfraktionellen Antrag fordern, ist darum herumgeredet wird: Die eigentliche kluge nicht erfüllt. Dort steht, daß die gewaltsame Erobe- politische Entscheidung und der deutsche Beitrag, rung von Territorien nicht anerkannt werden dürfe. die ihn überhaupt möglich gemacht haben, war die In Dayton wurde sie anerkannt. Dort steht, daß eth- Mehrheitsentscheidung dieses Hauses am 30. Juni nisch definierte Armeen nicht bestehenbleiben dür- dieses Jahres. fen. In Dayton wurden sie festgeschrieben. Die Rück- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) kehr vieler Flüchtlinge wird dadurch erheblich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Im Wir haben damals einige selbsternannte Wahrsager Antrag steht natürlich auch die Forderung nach in diesem Hause erlebt, die uns etwas ganz anderes Rückkehr der Krajina-Flüchtlinge. Auch diese ist bis- vorhergesagt haben als die Chance, über die wir her nicht geregelt worden. Es steht dort, daß ohne heute debattieren. eine Lösung für potentielle Krisenherde außerhalb (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Bosniens, wie beispielsweise das Kosovo, kein dauer- hafter Frieden in der Region möglich sein wird. In Das muß schon noch einmal in Erinnerung gerufen den von Milosevic unterzeichneten Dokumenten von werden. Denn damals gab es viele, die eigentlich nie- Dayton wird das Kosovo nicht erwähnt. mals an die Chance geglaubt haben, daß wir heute 6440 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Wolfgang Gerhardt darüber überhaupt sprechen können. Damals gab es Wir haben die Chance, mit unserer Hilfe und mit einige, die den Weg des Nicht-Resignierens, des der ganzen Palette von Entscheidungen, die wir tref- Drinbleibens, der UNPROFOR-Unterstützung für fen, ein vom Krieg zerstörtes Land wiederaufzu- falsch hielten, die ihn für politisch dem Abgrund ent- bauen, den Menschen die Angst und die Furcht vor gegengehend erklärt haben und niemals ein Fünk- Vertreibung, vor Hunger und Demütigung zu neh- chen Hoffnung unter die Menschen gebracht haben, men. Wir haben die einzigartige Chance, auch mit daß wir vielleicht auf die Chance eines Friedens deutschen Soldaten einem Land einen Funken Hoff- zugehen könnten. Es war die Mehrheit auf unserer nung zu geben, in dem früher einmal deutsche Sol- Seite des Hauses, die daran geglaubt und es politisch daten waren, die keine Hoffnung für dieses Land durchgesetzt hat, die es offen diskutiert und die waren. Auch dies ist im übrigen eine Chance für schwierige Frage entschieden hat. Das ist heute in unser Land, wenn wir sie klug anpacken und unsere die Erinnerung zurückzuholen. Anwesenheit dort offen vertreten. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Der damalige und der heutige Beitrag auch unse- rer Soldaten und vieler anderer hat niemals etwas Das ist auch deshalb wichtig, weil die Zusage der mit Interventionismus oder mit militärischer Aggres- Entsendung einer multinationalen Friedenstruppe sion zu tun gehabt. Damals wie heute erfüllen die die Voraussetzung für den Friedensschluß und für Soldaten eine zutiefst humanitäre Aufgabe. Sie das Zutrauen in den Friedensschluß selbst war. Die- schützen Menschenleben und helfen notleidenden ser Friedensschluß wäre nicht zustande gekommen Menschen. ohne die eindeutigen Signale: Jawohl, wir sind bereit, dort zu helfen - humanitär, beim Wiederauf- Wichtig ist, daß die internationale Gemeinschaft bau, aber auch bei der Sicherung gegen Aggression, und wir mit ihr damals nicht vor Aggression kapitu- gegen diejenigen, die den Frieden nicht akzeptieren liert haben, den Rückzug angetreten und den Kon- wollen. Das gehört zusammen und ist überhaupt fliktparteien das Feld überlassen haben. Das war die nicht zu trennen. große, wichtige und richtige politische Grundent- scheidung dieses Hauses. Der Bundesaußenminister hat den deutschen Bei- trag zur Absicherung des Friedensabkommens nach (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dem Beschluß der Bundesregierung für Bosnien-Her- Angesichts dieser Grundentscheidung möchte ich zegowina überzeugend dargelegt. Er baut konse- für mich selbst und für meine Fraktion Bundesaußen- quent auf den früher getroffenen Entscheidungen minister Klaus Kinkel für sein Engagement und für der Mehrheit dieses Hauses auf. Er basiert auf mate- das seiner Mitarbeiter und auch dem Bundesverteidi- rieller Unterstützung, auf Logistik, auf medizinischer gungsminister und den Soldatinnen und Soldaten Hilfe. Unser Unterstützungsangebot für den Frieden und im übrigen auch vielen Menschen in Deutsch- ist nicht gering; es ist teuer, aber es ist angemessen. land, die Flüchtlinge in ihren Wohnungen aufgenom- Ich erkläre hier für die gesamte F.D.P.-Fraktion: Wir men haben, danken. Das ist ein großartiger Beitrag unterstützen die Bundesregierung nachdrücklich auf gewesen, diesem politischen Weg. Er ist richtig. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sowie des Abg. [SPD]) Das Friedensabkommen beruht in vielfältiger Hin- der zeigt, daß wir schon das richtige Gewicht in der sicht auf Vorläufern. Ich erinnere an die Kinkel- Juppé-Initiative für einen fairen Ausgleich und an internationalen Verantwortung eingesetzt- haben, indem wir im Innern unseres Landes die Kraft der die Chancen, die jetzt im Hinblick auf eine demokra- Gesellschaft mobilisiert haben, Flüchtlinge aufzu- tische Regierung, ein gemeinsames Parlament, einen nehmen, und in der äußeren politischen Verantwor- direkt gewählten Präsidenten und eine gemeinsame tung maßvoll einen deutschen Friedensbeitrag mit Verfassung bestehen. Sarajevo muß eine offene Stadt anderen Demokratien zusammen geleistet haben. sein. Das ist für einen dauerhaften Frieden der ethni- Wir können, glaube ich, über diese richtige Entschei- schen Gruppen unerläßlich. dung dieses Hauses ganz glücklich sein. Wir wollen und werden diesen Prozeß des Friedens Der amerikanische Präsident hat in seiner Fernseh- nachhaltig unterstützen. Er ist mit einem Wiederauf- ansprache am Montag gesagt: bauprogramm verbunden. Wir wollen dazu rasche Entscheidungen, aber auch klare Kriterien im Hin- Nach vier Jahren Krieg mit über 250 000 Toten, blick auf die Verhaltensweise von Empfängern. Es Millionen von Flüchtlingen und Scheußlichkei- muß ganz deutlich werden, daß für unrechtmäßiges, ten, die die Menschen auf der ganzen Welt abge- für intolerantes und für aggressives Verhalten keine stoßen haben, hat das bosnische Volk endlich Dotation mit finanziellen Mitteln erfolgt. Wer do rt eine Chance, sich einem hoffnungsvollen Frieden den Frieden sichern will, wer sich an den Vertrag zuzuwenden ... Die Kriegsparteien in Bosnien hält, soll auf unsere Hilfe Anspruch haben. Wer ihn haben sich zum Frieden verpflichtet. Jetzt ist es zerstören will, wer ihn im Innern seiner Gesellschaft unsere Aufgabe, bei der Durchsetzung des Frie- nicht baut, wird von uns keine Hilfe erwarten kön- dens zu helfen. nen. Das muß überaus deutlich werden. Genau darum geht es, um nicht weniger und um (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne nicht mehr. ten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6441 Dr. Wolfgang Gerhardt Im übrigen halte ich fest, daß wir es für besonders ganz natürliche völkerrechtliche Verpflichtungen wichtig halten, daß Rußland gesagt wird: Es wird in einzugehen? Wir meinen: Ja, wir können es. der Zukunft für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht. Wir bitten dieses Land, an der Sicherung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - des Friedens in Europa konstruktiv mitzuwirken. Das Freimut Duve [SPD]: Die Kernfrage ist jetzt ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. der Frieden!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne - Sie konzentrieren es auf Tornados; aber im Kern ist ten der SPD) es die gleiche Frage wie beim Bündnis 90/Die Grü- nen. Herr Kollege Verheugen, unsere Fraktion unter- scheidet nicht von Ihrer, daß wir nicht auch wüßten, Herr Kollege Fischer, wir beide haben ja am daß Deutschland, wie Ihr neuer Vorsitzender gesagt 30. Juni - ich erinnere mich daran - ganz kontrovers hat, eine Friedensmacht sein müsse. Uns unterschei- über die Frage der Verpflichtungen diskutiert, die det, daß Friedensmacht auch Verantwortungsbereit- dieses Haus seinerzeit zu beschließen hatte. Sie schaft bedeuten muß - haben vier Wochen später in einem persönlichen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Brief Ihre Meinung geändert. Sie haben in dieser Woche aufwühlend an Ihre Partei geschrieben und nicht nur im humanitären Bereich, in der Aufnahme gefragt, ob die Grünen sich auf der Flucht vor der von über 400 000 Flüchtlingen, sondern auch dann, Wirklichkeit befänden. Ich habe Respekt vor Ihrem wenn es in der internationalen Verantwortung ernst Meinungswandel. Es kann hier kein persönlicher wird, Völkerrechtsbrechern entgegenzutreten und Schlagabtausch darüber stattfinden, daß Sie gesagt keine Filibusterdiskussion zu führen, ob Tornados haben, Sie hätten Ihre Meinung nach den dramati- dazu gebraucht würden oder nicht. schen Ereignissen und dem Morden in Srebrenica geändert. Es wäre auch zu kleines Karo, wenn ich (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wohl das so persönlich sähe. wahr!) Tornados sind keine generalstabsmäßig von Ihnen Aber eines erwarten wir doch: Wir erwarten von zu diskutierende diskriminierende Brücke zwischen einer Gruppierung programmatische Klarheit im der klaren Differenz von Herrn Lafontaine und der Kern. Mehrheit der Fraktion, die hier sitzt. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Dr. [F.D.P.]: Richtig!) DIE GRÜNEN]: Ausgerechnet die F.D.P.! - Unruhe und Lachen bei der SPD) Tornados sind dort von uns eingesetzt worden, um humanitäre Hilfe auf dem Boden abzusichern und Wir können uns nicht damit abfinden, daß Sie Briefe Menschenleben der UNPROFOR-Truppen bei dieser schreiben und daß ein Teil Ihrer Fraktion zustimmt. Hilfe zu sichern. Das war kein aggressiver Auftrag. Wir erwarten schon programmatische Klarheit, wie Das war die Notwendigkeit der Sicherung. Ihr Hin- Sie letztlich Menschen, die international in Not sind, weis, die Entscheidung sei falsch gewesen, weil sie helfen wollen, und ob Sie bereit sind, Rechtsbrechern nicht gebraucht worden seien, ist die absurdeste entgegenzutreten. Begründung, die ich je zu einem solchen Einsatz gehört habe. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Sie wissen genauso gut wie wir, daß wir inte rnational Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Lächer- keinen Frieden schaffen können, wenn wir nicht lich!) bereit sind, notfalls mit Soldaten Völkerrecht zu schützen, weil sich Völkerrecht selbst nicht durch- Sie wissen das im übrigen genauso gut wie ich. Sie setzt, wenn es niemanden gibt, der es in der Völker- stellen diesen Antrag, um nicht in direkte Konfronta- gemeinschaft realisie rt . tion mit Ihrem neuen Vorsitzenden zu kommen. Außenpolitik ist äußerst unbequem. Man kann Wenn eine Chance zum Frieden besteht, Herr Kol- nicht allem ausweichen, wenn man zu Kernfragen lege Fischer, dann ist sie auch durch Entscheidungen der internationalen Verantwortung gefragt wird. und Haltungen herbeigeführt worden, die hier bisher Dieser Kernfrage ist Konrad Adenauer damals in der bei Ihnen keinen Anklang fanden, weil Ihnen im Koalition mit uns nicht ausgewichen. Wir sind den Kern die ethische Dimension internationaler Verant- Kernfragen, wenn es unbequem wurde, nicht ausge- wortung und damit ein Stück Fähigkeit zur Grund- wichen, als wir mit Ihnen in der Koalition waren, und orientierung der deutschen Außenpolitik fehlt, die Sie können heute dieser unbequemen Frage auch dieses Land braucht. Dieses Land ist am dringend- nicht ausweichen. sten auf Bündnisfähigkeit angewiesen und hat über Jahrzehnte mit Hilfe dieser Bündnisfähigkeit seine (Beifall bei der F.D.P.) eigene Sicherheit stabilisiert.

Die Kernfrage lautet heute nämlich: Bleiben wir im (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Elfenbeinturm, entziehen wir uns internationalen Verpflichtungen, wenn es konkret wird, oder ist die- Es darf nicht dabei bleiben, daß, wenn es brenzlig ses Land erwachsen genug, um heute, 50 Jahre nach wird, die einzige Antwort der Grünen heißt, sie seien Kriegsende, zusammen mit anderen Demokratien mit Beschluß des Parteitages in der Lage, alle freiwil- 6442 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Wolfgang Gerhardt ligen Feuerwehren zusammenzurufen. Das reicht als slawien bedeuten kann. Skepsis gegenüber einzel- internationale Antwort nicht aus. nen Regelungen des Abkommens darf wirk lich nur davon geleitet sein, bessere Vorschläge, eine siche- (Freimut Duve [SPD]: Es geht hier nicht um rere Gewährleistung der Abwesenheit von Krieg zu den Lauschangriff!) ermöglichen als Voraussetzung für eine soziale, öko- Meine Damen und Herren, Europa hat lange nomische, kulturelle und politische Perspektive der gebraucht, um zu einer gemeinsamen Haltung zu Menschen in diesem kriegsgeschüttelten Land. kommen. Wir haben beobachtet, daß lange Schatten Zweifellos gibt es auch in diesem Abkommen der Vergangenheit die jeweils nationalen Bewe rtun- einige Punkte, die zu Sorge, zu Skepsis und auch zu gen des Zerfalls und der Konflikte im ehemaligen berechtigter Kritik Anlaß geben. Das betrifft nicht Jugoslawien geprägt und verdunkelt haben. Wir haben gesehen, daß längst totgeglaubte Ideologien nur die komplizierte Verfassungskonstitution für Bos- nien-Herzegowina, eine faktische Teilung eines for- wieder auferstanden sind, alte Landkarten wieder mal ungeteilten Staates. Es stellt sich auch hier die vorgelegt und ethnische Unve rträglichkeiten neu Frage: Wie kann gewährleistet werden, daß nach wie belebt worden sind. Alte Dämonen - das haben wir nicht wieder festgestellt - haben einen verdammt leichten Schlaf. vor vorhandenes Konfliktpotential gewalttätig gegeneinander losgeht? Es ist bedauer- Dieser Konflikt ist auch eine Lehre für uns. Es gibt lich, daß von einem wirklichen Zusammenleben der keine Alternative zu Europa. Es gibt keine nennens- Völker zunächst einmal, was die verfassungsrechtli- werte Alternative zu Toleranz. Es gibt keine lebens- che Konzeption anbelangt, so jedenfalls nicht die fähige Demokratie ohne Minderheitenschutz. Es darf , Rede sein kann. keine Lösung eines politischen Konflikts im europäi- schen Kulturkreis oder irgendwo anders auf der Welt Es gibt eine ganze Reihe anderer Punkte, an deren mit anderen als gewaltfreien Spielregeln geben. Wer Umsetzbarkeit Zweifel angebracht sind. Allerdings zu Europa gehören will, muß diese politisch gewach- bin ich der Meinung, daß es nun darauf ankommt, sene Verfassung Europas respektieren. Wir sollten die Menschen in Bosnien-Herzegowina so zu unter- darauf drängen, daß diese kulturell gewachsene Ver- stützen, daß sie in die Lage versetzt werden, ihren fassung überall in Europa und auf der Welt gesell- eigenen Weg zu gehen. Wir wünschen ihnen, daß sie schaftliche Wirklichkeit wird. Dafür darf uns keine Krieg propagierenden nationalistischen Führern den Mühe zuviel sein. Boden entziehen, ihnen keine Chance für politische Einflußnahme geben. Wir wünschen ihnen aber Herzlichen Dank. auch, daß sie sich frei machen können von äußeren (Lebhafter Beifall bei der F.D.P. und der Einflüssen, die nicht ausschließlich von der Unter- CDU/CSU) stützung des Friedensprozesses, sondern unter Umständen auch von der Verfolgung eigennütziger Nationalinteressen geleitet sind. Hier gab es in der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt die Vergangenheit eine Reihe negativer Beispiele. Kollegin Andrea Lederer. Ich will auf eine spezielle Regelung des Abkom- mens von Dayton eingehen, die mir die meisten Pro- (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol- Andrea Lederer bleme zu schaffen scheint. Sie wird als „Rüstungs- leginnen und Kollegen! Wir sind alle gespannt, Herr kontrolle" bezeichnet. Herr Außenminister Kinkel ist Kollege Gerhardt, auf die programmatische Klarheit hierauf eingegangen, und ich glaube, es ist einiger- der F.D.P.-Fraktion in Sachen Lauschangriff. maßen bezeichnend, daß die Regierungskoalition zu (Beifall bei Abgeordneten der PDS)- seinen diesbezüglichen Ausführungen nicht sonder- lich klatschen konnte. Ich finde, ehrlich gesagt, Ihre Ansicht absurd, die Einhaltung des Völkerrechts sei durch militärisches Wenn nämlich nun in Verhandlungen Obergren- Engagement zu gewährleisten. Da sollten Sie doch zen für schwere Waffen für die Armee in Bosnien einige Nachhilfestunden in Sachen Grundlagen des Herzegowina festgelegt werden sollen, ist doch klar, Völkerrechts nehmen. daß offenkundig die Waffenarsenale jetzt noch nicht erreicht sind, sondern daß man Grenzen festlegen Ich bedauere es sehr, daß heute hier nicht zunächst will, die neu aufgefüllt werden sollen. Das allerdings einmal eine Debatte ausschließlich zu den zivilen erscheint mir wirklich absurd. Was Bosnien-Herzego- Anforderungen im Friedensprozeß im ehemaligen wina braucht, sind nicht Waffen, sondern sind Frie- Jugoslawien stattfindet. den und ziviles Engagement. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS) Das haben wir der Bundesregierung zu verdanken, die heute einen Antrag mit in die Debatte einbringt, In diesem Kontext überrascht auch nicht die Auf- der sich wieder einmal mit dem Einsatz der Bundes- hebung des Waffenembargos. Aus unserer Sicht ist wehr im Rahmen der NATO-Truppen beschäftigt. Ich diese Aufhebung abzulehnen. komme zum Schluß darauf zurück und möchte Die problematischste Angelegenheit in diesem zunächst auf das Abkommen von Dayton eingehen. Punkt ist für mich aber, daß ausgerechnet die Bun- Auch wir begrüßen es, daß die Waffen schweigen desrepublik zum Ort der Konferenz über Rüstungs- und daß dieses Abkommen zumindest eine Chance kontrolle wird. Ein Land, das auf Platz 2 der Liste der für eine friedliche Entwicklung im ehemaligen Jugo- waffenexportierenden Staaten weltweit steht, ist mei- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6443

Andrea Lederer nes Erachtens denkbar ungeeignet, ausgerechnet Zweck des Ganzen ist, das Gewicht der NATO solche Regelungen zu treffen. gegenüber und zu Lasten der UNO zu verstärken, und ich komme gleich, Herr Irmer, auf die Beteili- (Beifall bei der PDS) gung Rußlands zu sprechen. Das nennt man den Bock zum Gärtner machen. Das ist die konsequente Fortsetzung einer Politik, Dringend erforderlich - hierauf ist auch schon ein- die bevorzugt auf einen Militärpakt setzt. gegangen worden - sind Regelungen, die die kroati- (Beifall bei Abgeordneten der PDS - Zuruf sche Regierung binden, denn auch den Flüchtlingen, von der CDU/CSU) die aus der Krajina und auch aus anderen Orten Kroatiens vertrieben wurden, muß die Rückkehr Die UN werden bewußt desavouiert, diskreditiert, ermöglicht, eine Entschädigung für verlorenes und ihnen werden die Mittel entzogen und vorent- Eigentum gewährleistet werden. Hier ist entspre- halten, um rein defensiv und durch zivile Aktivitäten chender Druck auf die kroatische Regierung mög- solche Aufgaben zu übernehmen. lich, der nicht deshalb geringer sein darf, weil man möglicherweise hier wirtschaftliche Beziehungen Wenn Sie nun auch noch die Verabredung mit Ruß- knüpfen will. Ich sage das bewußt in Anspielung auf land für die Ausdehnung der NATO gen Osten her- die Debatten zum Thema wi rtschaftliche Interessen anziehen wollen, um hier eine Perspektive aufzuma- und Menschenrechte in der vergangenen Woche. chen, dann stelle ich fest: Mit diesen Äußerungen brüskieren Sie Rußland erneut, und zwar genau in Darüber hinaus mißfallen mir, ehrlich gesagt, man- einer Art und Weise, bei der Sie - und das nicht etwa che Töne bei der Erörterung der Frage der Rückkehr nur von Vertretern der Kommunistischen Partei Ruß- von Flüchtlingen. Wenn hier wiederum betont wird, lands, sondern durch die Bank - immer wieder zu wie viel der Aufenthalt dieser Flüchtlinge in der Bun- hören bekommen, daß Rußland eine solche Interpre- desrepublik kostet, dann meine ich, daß solche Argu- tation als bedrohlich, eine solche Ausdehnung der mente in dieser Debatte nichts zu suchen haben. NATO gen Osten als bedrohlich empfindet. (Beifall bei der PDS) (Zuruf von der F.D.P.: Darum geht es doch überhaupt nicht!) Es kann wohl kaum darum gehen, wiederum aus kostenminimierenden Gründen möglichst bald eine Rußland kann wohl kaum in Fragen der europäi- Rückkehr, womöglich noch zwangsweise, ins Auge schen Sicherheitsarchitektur ein Stellvertreterplatz zu fassen; es muß wohl darum gehen, den Menschen angeboten werden. Rußland muß dann gleichberech- eine Perspektive, die ihr Leben do rt lebenswert tigt beteiligt werden. macht, zu eröffnen Die NATO ist ein Militärpakt, und ihren Truppen (Siegfried Hornung (CDU/CSU): Unsinn!) robustes Eingreifen zuzugestehen, soll vielleicht beruhigen, kann es aber nicht. Herr Kollege Seiters und sie dann zu fragen, ob sie freiwillig zurückkeh- hat hier dankenswert offen mitgeteilt: Es handelt sich ren wollen. um einen Kampfeinsatz, Kampfeinsätze sind einge- Ich komme nun zu der Überwachung des Frie- schlossen zur Durchsetzung des Abkommens, sie densabkommens und möchte zunächst auf die Tatsa- sind mit Bestandteil des Auftrages der Vorbereitung che eingehen, daß die Überwachung nicht den Ver- und des Selbstverständnisses dieser Truppen, und einten Nationen, sondern der NATO übertragen wir bezweifeln, ob das dem Frieden dienlich ist. wird. Nun zur Beteiligung der Bundeswehr. Wir lehnen (Freimut Duve [SPD]: Durch die Vereinten diese ab. Die Argumente, die auf die historische Ver- Nationen!) antwortung Deutschlands verweisen, sind nach wie vor gültig. Deutsche Soldaten haben auf dem Balkan - Herr Kollege Duve, das, was die UNO machen soll, nichts zu suchen. ist, im Sicherheitsrat einen Beschluß zu fassen, und dann hat sich das Ganze auch und ist eine NATO- (Beifall bei der PDS) Aktion. Darüber werden wir sicherlich auch morgen Die Bundeswehr hat bei Auslandseinsätzen nichts zu in den Ausschüssen noch diskutieren. suchen, egal unter welchen Helmen. Die NATO ist nicht etwa hilfreich humanitär ein- Ich möchte zum Schluß, weil leider die letzten gesprungen, wie zum Teil hier von der Regierungs- zweieinhalb Minuten unserer Redezeit noch einmal koalition suggeriert werden soll. Vielmehr war es von geteilt werden müssen, noch kurz auf das Vorgehen den NATO-Staaten und da insbesondere denjenigen, der SPD eingehen. die auch ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat sind, von Anfang an gewollt und beabsichtigt, die Ich halte die Unterscheidung zwischen To rnado- NATO vor die UNO zu schieben, die NATO also einsätzen und der sonstigen Bejahung von Bundes- eigentlich jetzt mit einer klassischen UN-Aufgabe, wehreinsätzen für ziemlich technizistisch, ehrlich nämlich der Überwachung eines Friedensabkom- gesagt. Ich halte da die Diskussion bei den Grünen mens im Einverständnis mit allen Konfliktparteien, für einigermaßen ehrlicher. unparteiisch und rein defensiv zu betrauen. Erklären Sie mir doch bitte eines: Heute wollen Sie (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Da war Rußland doch hier einen Entschließungsantrag beschließen, in dem auch dabei!) Sie Tornadoeinsätze und Kampfaufträge ablehnen, 6444 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 34. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Andrea Lederer und morgen im Ausschuß und nächste Woche im Ple- gen haben, weil wir nicht mehr bereit waren, all die- num wollen Sie mehrheitlich der Regierungsvorlage ses hinzunehmen. Dieses war nur durch den Einsatz zustimmen, die genau das einschließt. von Soldaten möglich. Das dürfen wir nie vergessen. Wenn also jetzt eine Wählerin unbedingt einen Es ist hier viel über die große Leistung der Verei- Bundeswehreinsatz mit Tornadoeinsatz will, dann nigten Staaten von Amerika gesagt worden. Das ist muß sie CDU wählen. Da kann sie ganz sicher sein, richtig. Aber ich möchte daran erinnern, daß im Mai daß sie das und noch viel mehr bekommt. dieses Jahres die UNO-Mission vor dem Scheitern stand. Die UNO-Soldaten waren angekettet an Brük- (Zuruf von der CDU/CSU: Da liegt sie ken, an militärische Objekte. Der französische Präsi- immer richtig!) dent Chirac stand vor der Entscheidung, alle Solda- Wenn sie das nicht unbedingt will, dann muß sie die ten abzuziehen. Viele haben ihm zu dieser Entschei- PDS wählen, weil sie dann sicher sein kann, daß sie dung geraten und gesagt: Mach das und heb das es nicht bekommt. Waffenembargo auf. Er hat dann entschieden: Unsere Soldaten bleiben, aber sie werden von der (Beifall bei der PDS) Schnellen Eingreiftruppe geschützt. Ich bin stolz dar- auf, daß wir am 30. Juni den Beschluß gefaßt haben, Was macht aber beispielsweise eine überzeugte Frankreich zu unterstützen. Das war der Beginn der Sozialdemokratin, die einen Bundeswehreinsatz Wende. nicht will? Und was macht eine überzeugte Sozialde- mokratin, die einen Bundeswehreinsatz will? Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kann zumindest die Partei, die sie eigentlich wählen will, nicht wählen, weil sie nicht weiß, was Sache ist. 50 französische Soldaten sind gestorben. In Wirk- lichkeit sind sie als europäische Soldaten gestorben, (Beifall bei Abgeordneten der PDS) auch für uns. Das dürfen wir nie vergessen. Entscheiden Sie sich doch bitte über Nacht, wenn es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. geht, oder bis nächste Woche für ein klares Nein zu sowie bei Abgeordneten der SPD und des Bundeswehreinsätzen auf dem Balkan. Sie haben zu BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Recht immer Argumente dafür angeführt. Sie wissen Die NATO hat sich danach aus den Fesseln wider- genau, daß das der falsche Weg, ein falsches Signal sprüchlicher UN-Mandate befreit, und schließlich ist. Überlegen Sie sich, wie Sie diese Wirrnisse auf- haben die Vereinigten Staaten ihr ganzes Gewicht in klären. die Waagschale geworfen. Es ist Warren Ch ristopher Ich danke für die Aufmerksamkeit. und Richard Holbrooke zu Recht gedankt worden. Ich möchte noch jemanden anderen nennen: Joseph (Beifall bei der PDS) Kruzel, den engsten Mitarbeiter meines Freundes, des amerikanischen Verteidigungsministers. Herr Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt Scharping und andere kennen ihn auch. Er ist mit der Bundesminister für Verteidigung, Volker Rühe. anderen amerikanischen Diplomaten und Soldaten im September dafür gestorben, als man begann, die Grundlagen für dieses Friedenswerk zu schaffen. Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Deswegen sollten wir gerade auch ihn in einer sol- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! chen Stunde nicht vergessen und ihm und allen dan- Es war ein weiter Weg von den unbestreitbaren ken, die ihr Leben für diesen Friedensprozeß gege- Grausamkeiten und Verbrechen im Krieg im ehema- ben haben. ligen Jugoslawien bis hin zum Friedensschluß von Dayton. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des Der Kollege Verheugen hat recht: Wir dürfen die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bilder der Menschen im Krieg nicht vergessen. Ich glaube, wir werden sie auch nicht vergessen, wenn Amerikanische Truppen sind unverzichtbar für den ich an die schrecklichen Massaker auf dem Markt- Erfolg. Ich bin dankbar, daß auf allen Seiten des Hau- platz von Sarajevo denke oder daran, daß an einem ses begriffen wurde, daß ein schneller Beschluß des Sommerabend 50 junge Menschen um die 20 Jahre Deutschen Bundestages diesmal sein Gewicht in in einem Straßencafe in Tuzla von einer Sekunde auf Washington haben wird. Wer hätte gedacht, daß der die andere ausgelöscht wurden. Sie wollten nur, wie Bundestag einmal ein Teil der Lösung wird und nicht die jungen Menschen in unseren Städten, eine freie ein Teil des Problems, was wir lange gewesen sind? Stunde haben. Zehnjährige Jungs in Sarajevo, die im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Winter wenigstens eine Stunde den Krieg vergessen und der F.D.P.) wollten und versuchten, von den Trümmerbergen Schlitten zu fahren, wurden von serbischen Hecken- Wichtig ist aber auch, daß sich Rußland beteiligt. schützen erschossen. Wir kennen auch noch die Mas- Vorgestern haben wir mit dem russischen Verteidi- saker von Srebrenica. Ich glaube, wir werden das gungsminister Gratschow eine praktikable Vereinba- nicht vergessen. Wir haben noch einen schwierigen rung erzielt. Sie ermöglicht, daß Rußland politisch Weg vor uns. Aber daß diese Bilder der Vergangen- und militärisch an der NATO-Operation zur Absiche- heit angehören, ist ein großer Erfolg. Die Wende war rung des Friedens beteiligt wird. Diese Vereinbarung nur möglich, weil wir die Logik des Schlachtfeldes schafft einen völlig neuen Konsultationsmechanis- durchbrochen haben, weil wir eine rote Linie gezo- mus. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6445

Bundesminister Volker Rühe Liebe Frau Lederer: Das einzige, was ich sagen Anschließend muß sich die Friedenstruppe darauf möchte: Wenn der Herr Gratschow und Rußland konzentrieren, ein stabiles und sicheres Umfeld für zufrieden sind, sollten auch Sie mit dieser Vereinba- die politischen Prozesse und die Normalisierung des rung zufrieden sein. Lebens zu schaffen. Das kann man gar nicht deutlich genug sagen - Kollege Gerhardt und andere haben (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU das gesagt -: Das ist zwar eine militärische Opera- und der F.D.P.) tion, aber doch nicht für militärische Ziele, sondern Die Bedeutung dieser Vereinbarung geht weit für zivile Ziele, für politische Ziele, damit der Wie- über die Absicherung des Friedens in Bosnien hin- deraufbau beginnen kann, damit do rt gewählt wer- aus. Sie gibt der Partnerschaft zwischen einer neuen den kann, damit die Flüchtlinge zurückkehren kön- nen. Wie kann man da von einer Militarisierung spre- NATO und Rußland praktischen Inhalt. Konkrete und erfolgreiche Zusammenarbeit entzieht altem chen? Es sind militärische Mittel, um zivile und politi- Denken in Moskau die Grundlage, das es ja noch sche Ziele zu erreichen, die wir alle anstreben. gibt. Für viele do rt ist die NATO noch ein Begriff aus (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Zeit des Kalten Krieges. Die politische Führung tut auch zuwenig, um zu erläutern, daß wir es längst Aber man muß auch sagen, daß die Anwesenheit die- mit einer neuen NATO zu tun haben. Aber darauf ser Truppen begrenzt werden muß. Am Anfang muß sind wir in der Zukunft nicht mehr angewiesen. Die der Frieden von außen kommen. Aber dann muß er Bürger in Rußland werden sehen, wie die Soldaten auch von innen kommen, und die politischen und der NATO und die russischen Soldaten zusammen- sonstigen Eliten dieser Länder müssen bereit sein, wirken, gemeinsam handeln. Gemeinsam müssen wieder zusammenzuleben. Darauf kommt es letztlich wir den Erfolg in Jugoslawien suchen, und das ist ein an. Das kann nicht auf Dauer durch fremde Soldaten riesiger Fortschritt, auch für die europäische Sicher- abgesichert werden. heitsstruktur. Deswegen darf die Mission der NATO nicht ausfa- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sern. Wir dürfen keine Aufgaben annehmen, die aus gutem Grund in den zivilen Strukturen angesiedelt Die Dynamik des Friedensprozesses muß jetzt auf- werden. Deswegen ist es wichtig, und ich denke, da rechterhalten werden. Für die Region ist rasch ein sind wir uns alle einig, daß mit der Londoner Konfe- Zeichen zu setzen, daß die Staatengemeinschaft renz jetzt auch mit Nachdruck der zivile Aufbau vor- bereit ist, den Frieden militärisch abzusichern. Des- angetrieben wird. halb verlegt die NATO Hauptquartiere und Füh- rungskräfte sehr rasch in die Region. Zugleich wer- Zugleich mit der Entsendung bewaffneter Kräfte den damit die Voraussetzungen geschaffen, daß die zur Absicherung des Friedens erfolgt das politische Friedenstruppe wenige Tage nach der Pariser Frie- Signal zur Abrüstung. Das ist ein Vorstoß des deut- denskonferenz verlegt werden kann. schen Außenministers, wofür er, glaube ich, alle Unterstützung verdient. Wir haben festgestellt, daß Für die Vorausverlegung von Kräften liegen die das am Anfang unter „ferner liefen" behandelt wesentlichen Bedingungen vor. Die Abkommen mit wurde. Ich darf sagen, daß das gestern bei der Sit- den betroffenen Ländern zur Stationierung und zum zung der Verteidigungsminister in Brüssel ganz oben Transit von Truppen zwischen der NATO und den auf der Tagesordnung stand, weil jeder gespürt hat, entsprechenden Staaten sind geschlossen. Wir bitten wie wichtig es für das Gelingen dieser Friedensmis- um die Zustimmung des Bundestages sowohl für die sion ist, daß wir diese Monate nutzen, um zu einer Vorausverlegung von Führungskräften und Haupt- Abrüstung zu gelangen. Wir wollen nicht, daß alle quartieren als auch für die Entsendung der Haupt- auf das serbische Niveau hochrüsten, sondern wir kräfte. Das sind wir, denke ich, den Soldaten, die in wollen, daß die Serben herunterrüsten auf das wenigen Tagen in den Einsatz gehen sollen, schul- Niveau der Muslime, damit es einen verläßlichen dig. Die Entsendung der Hauptkräfte erfolgt natür- Frieden gibt. lich erst nach Unterzeichnung des Friedensvertrages, Erteilung eines UN-Mandats und einem entspre- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. chenden Beschluß des NATO-Rats. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Dauer der Operation - das ist gestern noch einmal, nachdem ich auch sehr deutlich darauf hin- Im übrigen ist die effektive Rüstungskontrolle - gewirkt habe, in Brüssel von allen NATO-Verteidi- das wird noch vor Weihnachten in Bonn beginnen, gungsministern bekräftigt worden - ist auf ein Jahr sieben Tage nach der Pariser Konferenz - nicht nur begrenzt. So sieht es übrigens das Vertragswerk von wichtig für das Gelingen der gesamten Mission, son- Dayton auch vor. Das heißt, für das Bündnis gilt: Wir dern auch für die Sicherheit der eigenen Truppen, gehen gemeinsam hinein, wir handeln gemeinsam, die wir dort einsetzen. und wir gehen auch gemeinsam aus dieser Operation wieder heraus. Die Chancen für Frieden im früheren Jugoslawien sind günstig. Alle Konfliktparteien haben sich ver- In den ersten Monaten muß die Hauptaufgabe der pflichtet, auf jede feindselige Handlung zu verzich- militärischen Operation erledigt sein: die Entflech- ten, ihre Truppen zurückzuziehen, miteinander zu tung der Truppen, ihre Rückführung hinter die ver- arbeiten und die Friedenstruppe zu unterstützen. einbarten Linien und die Kasernierung der Ver- Aber natürlich kann und wird es Probleme geben. bände. Wir müssen festhalten: Es geht nicht darum, prinzi- 6446 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Bundesminister Dr. Volker Rühe piell einen Frieden gegen die Konfliktparteien durch- dort keine deutsche Armee hingeschickt, die alle zusetzen, sondern es geht darum, ihnen zu helfen, möglichen Kampfverbände enthält; vielmehr handelt den Frieden ins Werk zu setzen, den sie selbst in es sich um einen Spezialverband mit einer logisti- Dayton unterschrieben haben. Dabei muß jede Par- schen Rolle. Wenn wir insgesamt 60 000 deutsche teinahme unterlassen werden. Allen muß klar wer- Soldaten dort hätten, wäre dieser Verband genauso den, daß sich die Friedenstruppe st rikt darauf kon- als Logistikverband zugeschnitten. Er muß natürlich zentriert, die ehemaligen Konfliktparteien zu trennen im Zusammenhang mit den Kampfverbänden der und den Aufbau friedlicher Strukturen zu sichern. anderen gesehen werden. Das heißt: Wenn er zum Beispiel im Raum der englischen Division tätig wird, Deutschland muß sich nach seinen Möglichkeiten dann wirkt er ganz selbstverständlich mit den angemessen und solidarisch beteiligen. Aber deut- Kampfverbänden dieser Division zusammen und sche Soldaten sollen nicht zwischen den Konfliktpar- steht auch unter dem Schutz der Panzer. Deswegen teien eingesetzt werden; daraus ergeben sich Konse- kann ich die Diskussion nicht verstehen, in der ver- quenzen für die Stationierung und die A rt der Ver- sucht wird, uns einzureden, wir müßten diese Spe- bände. Unser Beitrag entspricht dem erklärten zialtruppe, diese Logistiktruppe, nun auch noch Bedarf der Allianz. Transporteinheiten, Pioniere und durch eigene deutsche Panzer schützen, so, als ob Sanitäter sind ein knappes Gut. Wir werden helfen, das organische Zusammenwirken mit den Kampfver- die Friedenstruppe zu unterstützen und zu versor- bänden, auch mit den Panzerverbänden der Alliier- gen. Diese Truppenteile werden in Kroatien statio- ten nicht ausreichen würde. Man muß das im Zusam- niert sein, aber auch zeitlich begrenzt in Bosnien menhang sehen. Ich hoffe, daß diese törichte Diskus- Herzegowina eingesetzt werden. Solange das Waf- sion bald beendet ist. fenembargo in Kraft bleibt, wird sich die Marine an der Überwachung beteiligen. Wir werden der NATO weiterhin unsere Aufklärungs- und ECR-Tornado- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Flugzeuge zur Verfügung stellen. Unsere Aufklä- der SPD) rungsflugzeuge überwachen die nach dem Friedens- vertrag vorgesehenen Truppenbewegungen und die Unser Kontingent wird eine Größenordnung von Truppenentflechtungen. Aber neben alldem, was rund 4 000 Soldaten haben. Etwa 70 Prozent werden hier sehr richtig gesagt worden ist, möchte ich fest- Berufs- und Zeitsoldaten sein. Wehrdienstleistende stellen: Wir müssen doch unsere eigenen Flugzeuge können nur teilnehmen, wenn sie sich freiwillig mel- schützen, übrigens auch unsere Soldaten auf dem den. Jeder Vater, jede Mutter eines Wehrpflichtigen Boden, notfalls durch den Einsatz der Luftwaffe, der kann sicher sein: Kein Wehrpflichtiger in Deutsch- NATO. Hier spielen die ECR-Tornados eine ganz land wird gegen seinen Willen im früheren Jugosla- wichtige Rolle. wien eingesetzt. Aber, Herr Scharping - in dem Falle sollte ich viel- leicht sogar sagen: Herr Lafontaine -: In dem Frie- Unser Beitrag hat Gewicht. Das bemißt sich nicht densvertrag von Dayton können Sie nachlesen, daß nur nach der Zahl, sondern auch nach der Qualität vereinbart ist, daß mit dem Friedensschluß alle Rake- der militärischen Fähigkeiten. Im Verhältnis zum tensysteme abgeschaltet werden, mit denen man amerikanischen, britischen und französischen Enga- Flugzeuge abschießen kann. Jetzt ist es eine ent- gement ist unser Beitrag maßvoll. Wir stehen wahr- scheidende Aufgabe der ECR-Tornados, dieses zu lich nicht in der Gefahr, mit dem deutschen Einsatz überwachen. Wenn auch nur ein Raketenabwehrsy- zu übertreiben. stem eingeschaltet wird, bedeutet das nicht nur einen kriegerischen Akt, sondern einen- Bruch des Wir können und müssen nicht alles machen; aber Friedensvertrages von Dayton, wir müssen tun, was wir können. Im Bündnis gibt es (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Ja!) keine Mehrforderungen. Im Gegenteil - das haben meine Gespräche auch gestern in Brüssel gezeigt -: für den schwere Sanktionen vorgesehen sind. Zu die- Unser Beitrag wird als angemessen und als sehr posi- sen Flugzeugen kann man noch sagen: Sie dienen tiv gewürdigt. dem Schutz unserer Soldaten, und sie dienen der Durchsetzung des Friedensvertrages von Dayton, Wer Frieden auf dem Balkan will, der muß auch damit die tödlichen Raketenabwehrsysteme der Ser- die Friedenstruppe wollen. Wer den Wiederaufbau ben nicht eingesetzt werden können. eines gequälten Landes will, der muß wollen, daß die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Friedenstruppe dafür Sicherheit schafft. Wenn Bos- nier, Serben und Kroaten, wenn Rußland, Europa Unsere Transporteinheiten, Pioniere und Sanitäter und Amerika, wenn UNO, NATO und die Europäi- werden bei ihrem Einsatz wirksam geschützt und sche Union sich zur militärischen Absicherung des gesichert. Deshalb werden Sicherungskräfte mitge- Friedens verpflichten, dann kann keiner abseits ste- schickt. Aber wir halten uns die Möglichkeit offen, hen. Das sollten sogar Sie von der großen Friedens- diese Sicherungskräfte angemessen zu verstärken, macht Bündnis 90/Die Grünen begreifen. Sie sind wenn es die Lage erfordert. Außerdem sind unsere nicht nur isoliert, sondern es gibt überhaupt nieman- Verbände in die internationale Streitmacht einge- den auf der ganzen Welt, der nicht zu der Friedens- bunden und stehen unter dem Schutz von NATO- truppe steht. Wer den Frieden will, wer verhindern Kampftruppen. Hier gibt es gelegentlich in Deutsch- will, daß die Bilder des Krieges, an die ich am Beginn land eine etwas merkwürdige Diskussion. Es wird meiner Rede noch einmal erinnert habe, wiederkeh- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6447

Bundesminister Dr. Volker Rühe ren, der muß ja sagen zur Friedenstruppe. Alles ernsthafter Konflikt; er ist historisch wichtig - gegen- andere wäre unmoralisch. seitig mit Respekt zur Kenntnis nimmt und das Ganze nicht mit dem Etikett „unmoralisch" belegt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. ) sowie bei Abgeordneten der SPD und der Wenn der Satz „Es kann sehr unmoralisch sein, PDS) sich dem Unrecht nicht entgegenzustellen durch den Einsatz von Soldaten" nach den Ereignissen in der Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: ersten Hälfte dieses Jahrhunderts - Auschwitz und Frau Kollegin, ich glaube, schon die Länge Ihrer anderes - jemals eine Bedeutung gehabt hat, dann Frage hat gezeigt, wie schwer Sie sich tun. Ich muß jetzt, wo es einen Friedensvertrag, eine Friedens- Ihnen sagen: Moral ist immer konkret. In dieser truppe und den geschlossenen internationalen Wil- Situation, wo es die Chance auf den Frieden gibt, len gibt, sich Menschenrechtsverletzungen und Ver- muß sich die ganze Welt beteiligen. Weil sie diese brechen entgegenzustellen. Da heißt es nicht nur, Chance sieht, wäre es unmoralisch, nicht zu helfen, dies politisch zu unterstützen. Alles andere wäre den Frieden auch mit deutschen Soldaten durchzu- unmoralisch. Es wäre schlicht unmoralisch, sich hier setzen. zu verweigern. Das muß man ganz deutlich sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abge- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten ordneten Volmer? Nickels? Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Ich Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: kann doch nicht die ganze Bandbreite der Grünen Bitte, ja. bedienen. Herr Kollege Fischer hat sich schon weiter zurückgesetzt, was leider dem Stellenwert seiner Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Positionen, die er vertritt, in seiner Partei entspricht. Danke, Herr Minister. Herr Minister, ich möchte Sie Den Frieden in Bosnien sichern heißt Ende eines fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen können, daß Sie blutigen Bürgerkriegs, Ende der Massaker an ais Verteidigungsminister in dieser Situation zwar unschuldigen Zivilisten, Ende der ethnischen Säube- sehr gut begründete Argumente haben, deutsche rungen, Ende von Terror und Vergewaltigung. So hat Soldaten mit einzubeziehen - das ist für uns als eine es Präsident Clinton den Amerikanern gesagt, der Partei, die aus der Friedensbewegung kommt, eine darum ringen muß, 20 000 amerikanische Soldaten schwierige Situation; das ist Ihnen klar, das haben einzusetzen. Deswegen habe ich gesagt, es sei eine Sie jetzt zum Ausdruck gebracht -, daß aber, histo- Frage der Moral, weil all dieses beendet werden risch gesehen, weder die Ultima ratio Militär noch kann. die Ultima ratio besteht zu sagen: Wir setzen auf Frie- denswillen, auf zivile Verteidigungsmacht und auch Es geht nicht um Worte, sondern es geht um Taten. auf Menschen, die mit Gewaltfreiheit, mit ihrem (Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] [Bündnis 90/ Leben für die Sache einstehen. Können Sie akzeptie- DIE GRÜNEN] setzt sich nach vorn) ren, daß beide Optionen nicht imstande sind, als Alternativen, die gegeneinanderstehen, -Frieden zu - Ich würde mir wünschen, daß der jetzige Sitzplatz, sichern? Herr Kollege Fischer, Ihrer Durchsetzungskraft bei den Grünen am Wochenende auf dem Parteitag ent- (Zurufe von der CDU/CSU: Frage!) sprechen wird. Hier ist soeben richtigerweise gesagt worden - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - auch Sie haben das gesagt -, daß der Frieden im ehe- Joseph Fischer [Frankfurt] [Bündnis 90/DIE maligen Jugoslawien letztendlich erst beginnen GRÜNEN]: Es kann auch einem Verteidi kann, wenn die zutiefst verfeindeten und verhaßten gungsminister einmal passieren, daß er bei Gruppen wieder anfangen, miteinander zu reden. so einer Debatte pinkeln gehen muß! - Dazu brauchen Sie Wehrdienstverweigerer, die vor Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist Ort diese Arbeit machen. Ihr Niveau!) (Zurufe von der CDU/CSU: Frage!) - Entschuldigung. Ich sagte, ich würde mich freuen, wenn Sie sich in der Weise durchsetzen können. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie müssen eine Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Frage stellen. Kollegen, ich bin mir der Größe der Aufgabe für unsere Soldaten bewußt. Sie kommen aus verschie- Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich denen Truppenteilen und Garnisonen. Sie müssen in möchte Sie bitten, das Wort „unmoralisch" zurückzu- kurzer Zeit zu einem Verband zusammenwachsen. nehmen, und ich möchte Sie fragen, ob Sie nicht Sie haben eine schwierige Mission zu erfüllen. Das akzeptieren können, daß man die widerstreitenden Umfeld birgt Risiken und Gefahren. Das Gelände ist Positionen in diesem Konflikt - dies ist ein wirklich schwierig und unbekannt. Die Witterungsverhält- 6448 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Bundesminister Dr. Volker Rühe nisse sind extrem. Ich habe daher auf die gründliche Team und nicht als unilaterale Einzelkämpfer erfolg- Ausbildung der Soldaten und Truppenteile, allen reich sein können. voran der militärischen Führer, besonderen Wert gelegt und mich auch davon überzeugt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Frauen und Männer, die in diesen Einsatz Meine Frage an die Europäer lautet jetzt: Werden gehen, wissen, wofür. Ich denke, die heutige Debatte die Europäer jetzt bei der Festigung des Friedens hat ihnen gezeigt, wofür. Ich bin auch dankbar dafür, erfolgreicher als bei der Verhinderung des Krieges daß in der Art und Weise der Debatte deutlich gewor- zusammenwirken? Wird Deutschland, unter dem im den ist, daß wir verstehen, was wir von unseren Sol- Zweiten Weltkrieg alle Völker Jugoslawiens leiden daten an Einsatz und Risikobereitschaft verlangen. mußten und das inzwischen von einigen Völkern des Sie wissen, wofür sie in diesen Einsatz gehen. Sie ehemaligen Jugoslawien als Partner und Freund wollen endlich Frieden sichern und so den notleiden akzeptiert wird, die Kraft besitzen, im Friedenspro- den Menschen helfen. Sie wollen solidarisch zu unse- zeß zum Partner und Freund aller Völker des ehema- ren Bündnispartnern stehen, die schon so oft so viele ligen Jugoslawien zu werden? Opfer, auch für uns, gebracht haben. Ich denke, Das ist vor allem eine Frage nach unserem Verhält- unsere Soldaten haben die Unterstützung des gan- nis zu den Serben. Hunderttausende von ihnen zen Deutschen Bundestages verdient. leben friedlich zusammen mit ihren deutschen Nach- Ich danke Ihnen. barn, wohlgelitten in unserem Land. Ich möchte, daß diese Serben, die hier unsere Nachbarn sind, zu Bot- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und schaftern einer guten Nachbarschaft zwischen der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutschland und Serbien werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN jetzt der Abgeordnete . und des Abg. Gerhard Zwerenz [PDS]) Über 1 Million Kroaten, Serben, Bosnier, Makedo- Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Meine sehr ver- nier und Albaner leben in Deutschland f riedlich ehrten Damen und Herren! Hinter uns liegen Krieg, nebeneinander. Sollten wir nicht mehr darüber nach- Vertreibung, Mord und Völkermord. Aber heute denken, wie Erfahrungen, die sie hier in unserer debattieren wir voller Hoffnung auf ein Ende der demokratischen Gesellschaft sammeln, nach Sara- Gewalt, voller Hoffnung auf die Chance der Versöh- jevo, Belgrad, Zagreb und Mostar vermittelt werden nung nach den Exzessen des Hasses, voller Hoffnung können? Ist das nicht viel wichtiger, als allein dar- auf Wiederaufbau nach den Jahren der Zerstörung. über nachzudenken, wie man die über 400 000 Aber noch herrscht kein Friede, sondern nur Waffen- Flüchtlinge so schnell wie möglich wieder abschiebt? stillstand. Noch stehen wir erst am Beginn eines gewaltfreien Gegeneinanders und noch lange nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne am Beginn eines friedlichen Miteinanders. Noch ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) brennen in einigen Teilen Bosniens Häuser, während Ich glaube, wir sollten durch die Art und Weise der in anderen Teile zurückkehrende Flüchtlinge ihre Behandlung dieser Flüchtlinge jetzt nicht wieder das Häuser bereits wieder bewohnen. Aber die Freude zerstören, was wir durch die Freundschaft zu ihnen der Rückkehrer auf ihre Heimat wird durch den Blick und die gastliche Aufnahme bei uns bewirkt haben. auf Massengräber in Tränen erstickt. - Sie müssen auch bei der Rückkehr merken, daß wir Europa hat lange Zeit in Bosnien zwar Menschen die Voraussetzungen für ihre Rückkehrmöglichkeit geholfen, aber es ist gegen Verbrechen und Verbre- mit zu schaffen versuchen. cher nicht eingeschritten. Dies erinnert uns an Wir Sozialdemokraten werden dem Einsatz der unsere Geschichte. Nicht nur wer handelt, sondern Bundeswehr trotz Bedenken gegen den ECR-Tor- auch wer wegschaut, kann Schuld auf sich laden. nado zustimmen, aber wir verlangen, daß mehr Geld (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne für den Wiederaufbau als für die Soldaten ausgege- ten der CDU/CSU und der F.D.P.) ben wird. (Beifall bei der SPD) Europa hat die Eskalation des Krieges über die Grenzen des ehemaligen Jugoslawien hinaus erfolg- Zur Absicherung des Friedensprozesses in Bos- reich verhindern können. Aber der Frieden ist erst nien-Herzegowina wird die Völkergemeinschaft durch das gemeinsame Engagement der Europäer 60 000 Soldaten in das ehemalige Jugoslawien ent- einschließlich der Russen zusammen mit den Ameri- senden. Diese Soldaten gehen ebenso wie Zivilisten kanern gesichert worden. Ich danke unserer Ver- ein hohes persönliches Risiko ein. Sie sind nicht Sol- handlungsdelegation in Dayton, insbesondere ihrem daten des Krieges, sondern sie sind Polizisten einer Verhandlungsleiter, Herrn Ischinger. Ich begrüße die internationalen Friedens- und Rechtsordnung. Sie Unterschriften aller Konfliktparteien. Ich würdige die sind nicht Mörder, sondern sie sollen vor Mord und bedeutsamen Beiträge aller Mitglieder der Kontakt- Völkermord schützen. gruppe. Mein Dank gilt aber vor allem dem amerika- nischen Engagement, wobei aber die Amerikaner (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der begreifen müssen, daß auch sie nur im multilateralen CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6449

Karsten D. Voigt (Frankfurt) Ihre Gewaltmittel sind Instrumente der Gegenge- was in Bosnien heißt: auch das Völkerrecht. Heute walt. Dieses Militär ist als potentielles Sanktionsmit- sage ich - das bleibt wahr -: Die Zustimmung zu die- tel leider unvermeidlich, damit die Völkergemein- sem Friedenseinsatz entspricht guten linken, guten schaft die Einhaltung der Bestimmungen des Frie- internationalistischen und guten sozialdemokrati- densvertrages nicht nur anmahnt, sondern notfalls schen Traditionen. auch gewährleisten kann. Diese Sanktionsmittel wer- den dann am erfolgreichsten gewesen sein, wenn sie (Beifall bei der SPD) ihre Wirkung erzielen, ohne jemals eingesetzt wor- den zu sein. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einer Kurzintervention erhält jetzt die Abgeordnete Nickels. In Bosnien brauchen wir keine Kommißköppe, son- dern politisch hochsensible Soldaten, denen bewußt ist, daß ihre Aufgabe nicht der Sieg im Krieg ist, son- Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dern der Sieg des Völkerrechts und der Menschen- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch rechte. Bei einer solch sensiblen Aufgabe muß und - einmal auf das eingehen, was Sie gesagt haben, Herr ich bin davon überzeugt - wird sich die Bundeswehr Rühe. Ich stelle fest, daß Sie mir in meiner Einlas- und insbesondere das Konzept des Soldaten als Bür- sung nicht widersprochen haben, daß eine dauer- gers in Uniform besser bewähren als jede sich an hafte Sicherung des Friedens im ehemaligen Jugo- autoritären Vorbildern vollziehende Ausbildung von slawien unabdingbar davon abhängt, daß die ver- Soldaten. feindeten und sich hassenden Menschen wieder mit- einander reden und wieder etwas miteinander tun (Beifall bei der SPD) können. Es erfordert unglaublich viel Mut, wenn Die Bundeswehr steht nicht nur vor dem größten, Menschen in einer solchen aufgehetzten Atmosphäre sondern auch vor dem risikoreichsten Einsatz ihrer nach soviel Blutvergießen und soviel Greuel die Kraft Geschichte. Das sind Risiken für Leib und Leben. haben, Brücken zu betreten und aufeinander zuzu- Aber es ist auch das politische Risiko von Fehlent- gehen. Das braucht Begleitung. Das braucht Men- scheidungen und Mißerfolg. Die großen Risiken vor schen, die das begleiten und initiieren. Es braucht Ort tragen die Soldaten, aber auch die zivilen Helfer. auch viel Geld, damit so etwas zustande kommt. Aber wir als Parlamentarier müssen mit unserem Abstimmungsverhalten letzten Endes auch bereit Ich weise entschieden zurück, wenn Sie das sein, diese Risiken politisch zu verantworten. Nie- Dilemma, in das wir geraten sind, mit dem Etikett mand soll das auf die leichte Schulter nehmen. „unmoralisch" versehen. Die Grünen als politische Kraft definieren die Erkenntnisse der Friedensbewe- Es ist nicht nur ein großes persönliches Risiko für gung, daß militärische Gewalt historisch in eine die in das ehemalige Jugoslawien entsandten Solda- Sackgasse geraten ist, ganz klar. Es ist bei allen ten und Zivilisten, sondern es ist auch ein hohes poli- Schwierigkeiten, die wir damit haben, unsere Auf- tisches Risiko für das Bild vom Deutschen und von gabe, das in die Politik einzupflanzen und in Real- Deutschland, wenn wir nun zur Unterstützung dieses politik umzusetzen. Sie haben Schwierigkeiten mit Auslandseinsatzes die Bundeswehr auf Grund eines der militärischen Verteidigung und damit, den militä- Mandats der Vereinten Nationen, aber unter Füh- rischen Einsatz zu zähmen und zu bändigen; das wis- rung der NATO in ein ehemals von Deutschen sen Sie ganz genau. Ich wehre mich ganz entschie- besetztes und zerstörtes Land entsenden. Die Ziele den dagegen, daß Sie uns mit dem Etikett „unmora- dieses Friedenseinsatzes sind eine Antithese zu den lisch" belegen und dies damit gleichsetzen, wir wür- Kriegszielen Hitlers. In der Berufung auf ein- Mandat den nichts tun. Die Friedensbewegung hat in diesem der Vereinten Nationen suchen wir die Synthese mit Konflikt unendlich viel getan. Die Evangelische den Friedens- und Völkerrechtsnormen, die nach Frauenhilfe hat den Frauen vor O rt, die vergewaltigt dem Zweiten Weltkrieg als Antwort auf die Hitler und geschändet worden sind, uneigennützig beige- Barbarei formuliert wurden. Ich persönlich bin davon standen. Es gab viele Spendengelder und wenig überzeugt, daß unsere Beteiligung an diesem Frie- öffentliche Mittel, mit denen das gefördert wurde. denseinsatz gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern in den Vereinten Nationen und in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NATO trotz aller nicht zu leugnenden Risiken die sowie bei Abgeordneten der SPD) richtige Antwort auf unsere Geschichte ist, Es waren Pax-Christi-Mitglieder, Leute von der (Beifall bei der SPD) „Aktion Sühnezeichen", Leute der internationalen Friedensdienste, junge und alte Menschen, die in die und zwar deshalb, weil sich Deutschland mit dieser Flüchtlingslager gegangen sind, ohne abgesichert zu Entscheidung, mit seinen ihm zur Verfügung stehen- sein, ohne einen Rentenanspruch zu haben, wenn den zivilen, aber auch militärischen Fähigkeiten ihnen etwas passiert wäre. Diese Leute haben die nicht primär national, sondern als unterstützender unabdingbar nötigen Mittlerdienste zwischen den Teil der Völkergemeinschaft definie rt. verfeindeten Menschen geleistet. Hier ist gefordert, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) daß Sie viel mehr finanzielle Mittel geben und etwas tun. Als Jungsozialist hätte ich früher mehr pathetisch, mehr martialisch und auch mehr ideologisch gesagt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht", sowie bei Abgeordneten der SPD) 6450 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Christa Nickels Hier ist auch die Bereitschaft aller politischen Par- fen gegen die Zivilbevölkerung - mit den Raketen, teien und auch der Bundesregierung gefragt, mit den Splitterbomben -, bei Massenmord, Völker- Ansätze, die es schon seit langem gibt, zum Beispiel mord, Vergewaltigung und Vertreibungen zumindest der Evangelischen Kirche Brandenburg, einen zivi- eine Pause gibt. len Friedensdienst einzurichten, zu fördern und sol- che Dienste außerhalb der Wehrdienstpflicht endlich Was Präsident Izetbegovic gesagt hat, ist richtig: zu etablieren und die Dienstleistenden finanziell mit Der Friede ist nicht gerecht, aber letztendlich gerech- den Wehrdienstleistenden gleichzustellen. Das wäre ter, als wenn der Krieg fortgesetzt worden wäre. Man ganz wichtig. Es wird hier viel getan. Sie können der fragt sich natürlich, warum dies erst so spät zustande Friedensbewegung nicht das Etikett „untätig", gekommen ist, so daß es 250 000 Tote gab, daß es zur „abseitsstehen" und „unmoralisch" aufkleben. Das Liquidierung Tausender von Gefangenen und Zivili- weise ich entschieden zurück. sten bei Massenerschießungen und in Todeslagern und kürzlich erst zu dem Abgrund von Srebrenica (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier in Europa kommen konnte. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS) Auch der große kulturelle Verlust wiegt schwer, der Verlust von einmaligen historischen Gebäuden, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zur Antwort Mi- von annähernd 1 000 Moscheen, auch vielen Prie- nister Rühe. stern, von christlichen Kirchen und Klöstern, die nicht etwa von Muslimen, sondern von sogenannten Christen, vor allen Dingen aber von Atheisten zer- Bundesminister der Verteidigung: Volker Rühe, stört wurden. Dieser Völkermord und diese Kultur- Frau Kollegin Nickels, die Arbeit, die do rt von einzel- barbarei auf europäischem Boden - wer hätte nen geleistet worden ist, übrigens unter der Gefahr gedacht, daß 50 Jahre nach der Besiegung der natio- des Krieges, wird von uns allen anerkannt. Aber wir nalsozialistischen Morddiktatur so etwas überhaupt möchten, daß diese Arbeit in Zukunft geleistet wird, möglich ist! So haben wir uns schon die Frage zu stel- ohne daß der Krieg im ehemaligen Jugoslawien tobt. len, wie so etwas überhaupt möglich war. Wir kön- (Zustimmung bei der CDU/CSU) nen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und sagen: Jetzt ist es ja vorbei, wir machen es künftig Es geht nicht darum, die Friedensbewegung ins- besser. gesamt als unmoralisch zu bezeichnen. Wie käme ich denn dazu? Ich habe gesagt, Moral sei immer kon- Der Westen und insbesondere die Europäer wur- kret. Es kann sehr unmoralisch sein, Soldaten einzu- den Gefangene ihrer eigenen Täuschungen. Es war setzen. Dafür gibt es weiß Gott genug Beispiele in nicht irgendein „Bürgerkrieg". Vielmehr gab es diesem Jahrhundert. Aber in dieser konkreten Situa- einen Aggressor mit einer fanatischen nationalisti- tion haben alle drei Konfliktparteien die NATO gebe- schen Ideologie, mit einem kommunistisch-militari- ten, eine solche Friedenstruppe zu stellen. Sie sagen: stischen Macht- und Militärapparat. Die Opfer waren Wir wollen zwar den Frieden, aber wir schaffen es die Bosnier mit ihrer Lebensweise, mit ihrem Vielvöl- nicht alleine, wir brauchen Hilfe. kerstaat. Im Grunde genommen waren wir alle In dieser konkreten Situation, in der die Friedens- Opfer; denn wir vertreten den Bürgerstaat, den Viel- truppe international legitimiert und von den drei völkerstaat. Konfliktparteien erbeten ist, damit der Frieden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU durchgesetzt wird, wäre es unmoralisch, sich zu ver- und der SPD) weigern. - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Das haben wir aber nicht zur rechten Zeit beg riffen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Vielmehr haben wir geglaubt: Da drüben ist ein Bür- gerkrieg, den man möglichst nicht beachtet.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Bosnien ist auch kein muslimischer Staat, Herr der Abgeordnete Dr. Ch ristian Schwarz-Schilling. Außenminister,

Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Frau (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ren! Die Friedensvereinbarung von Dayton ist NEN) sicherlich kein Anlaß zu überschwenglicher Freude. Dafür ist den Betroffenen zuviel Unrecht geschehen. sondern Bosnien ist ein Staat, in dem alle Völker- Dafür ist das Leid zu groß. Das, was geschehen ist, ist schaften und Religionen f riedlich miteinander gelebt noch lange nicht aufgearbeitet. haben und leben wollen. Aber sie ist auch nicht Anlaß, nun mit Verbitterung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, nur Negation zu betreiben. Bedenken wir allein die der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Tatsache, daß es der erste Waffenstillstand war, der DIE GRÜNEN) bis heute gehalten hat und zu konstruktiven Frie- densverhandlungen echt genutzt werden konnte, Die Menschen, Frau Nickels, haben nicht von sich daß das Blutvergießen zunächst einmal wirklich ein- aus diese fürchterlichen Aversionen gegeneinander, gestellt wurde und daß es bei den furchtbaren Kämp- sondern sie sind von oben, von den Politikern, von Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6451

Dr. Christian Schwarz-Schilling außen, von Aggressoren in diese Hölle hineinge- schen Blauhelme. Nicht sie sind schuld, sondern die zwungen worden. Politiker, die sie in eine Lage hineingebracht haben, die unvertretbar ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) DIE GRÜNEN) Insofern kann ich nur sagen: Gott sei Dank haben Wer dort war, der weiß, daß die Menschen friedlich wir für unsere Bundeswehr ein richtiges Mandat - miteinander gelebt haben, leben und leben wollen. entsprechend der Realität und mit der Klarheit, die der Verteidigungsminister hier ausgesprochen hat. Die zweite Täuschung war, daß wir in einem „Bürgerkrieg" keine Interventionen betreiben dürf- Dayton bedeutet dennoch eine gewaltige Zäsur. ten. Die Implementierung des Waffenembargos war Angesichts dessen, was sich noch vor einigen Mona- die größte Intervention, die sich der Westen, die Ver- ten abgespielt hat - 70 Prozent des Landes waren einten Nationen und insbesondere die Nationalstaa- von den Serben besetzt, die überwältigende Kraft ten Europas geleistet haben. Es gab keine größere war also auf dieser Seite -, ist es fast wie ein Wunder, Intervention. Wenn Sie auf der einen Seite dem daß sich das so schnell ändern konnte. Was waren Betroffenen, der ohne Waffen ist, die Möglichkeit die Voraussetzungen dafür? nehmen, sich selber zu verteidigen, und auf der Erstens - auch das muß man hier einmal sagen -: anderen Seite nicht bereit sind, für seine Sicherheit Die Kroaten und Bosnier haben sich selber geholfen, einzustehen, ist das eine untragbare Verletzung der indem sie in der Föderation bei der UN-Charta und des Völkerrechts, über die noch zu Befreiung von Bihac und bei der Rückeingliederung der Krajina reden sein wird. erstmals militärisch zusammen gekämpft haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Letzteres mag - auch ich sehe das so - mit sehr vielen bösen Dingen verbunden gewesen sein. Die Kriegs- Ich möchte dazu nur eines sagen. Herr Kinkel, ich verbrecher müssen auch hier in Kroatien genauso zur stimme in weiten Teilen mit Ihnen überein; wir Rechenschaft gezogen werden, wie das bei den haben darüber gesprochen. Aber zu sagen, die anderen der Fall ist. „Kriegsparteien" seien alle bis auf die Zähne bewaff- net, ist falsch. Die Bosnier sind nicht bis auf die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, Zähne bewaffnet. Sie würden heute ganz andere der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Möglichkeiten haben, wenn man ihnen dieses Waf- DIE GRÜNEN) fenembargo nicht aufoktroyiert hätte. Dann wäre es Es war diese Aktion, die Bihac vor dem Tod gerettet früher zu der militärischen Balance gekommen, und hat; denn Bihac hätte das gleiche Schicksal wie Sre- es hätte weniger Tote, Verwundete und Krüppel brenica gehabt, wenn sie nicht in die Offensive gegeben. Das muß man heute auch hier deutlich gegangen wären. Denn wir haben bei der Offensive sagen. gegen Bihac nicht eingegriffen, weder durch die (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ UNO oder NATO noch sonstwie. CSU) Zweitens. Die harte Gangart des französischen Prä- Auch hinsichtlich der Abrüstung bin ich vollkom- sidenten - der Verteidigungsminister hat schon dar- men Ihrer Meinung. Aber es gehört dazu, daß die auf hingewiesen - hat eine entscheidende Wende Aufhebung des Waffenembargos den bosnischen herbeigeführt. Durch die Verstärkung mit der schnel- Serben klarmacht, daß, wenn sie nicht abrüsten, auf len Eingreiftruppe hat auch in Europa endlich ein der anderen Seite aufgerüstet wird. Nur durch diesen Umdenken begonnen. Das Wichtigste aber war das Druck kann es überhaupt Aussicht auf eine Abrü- Erwachen der USA. Die Weltmacht mußte ihre Füh- stung geben. Insofern sind die Amerikaner auch in rungsrolle wieder wahrnehmen, auch gegenüber dieser Hinsicht wieder klüger; denn sie schließen Europa. Abrüstung und Waffenembargo nicht gegeneinander Wir dürfen eines nicht vergessen: Ch ristopher, der aus, sondern benutzen sie als eine sinnvolle Doppel- Außenminister der USA, hat im Mai 1993, als er strategie. durch Europa fuhr, gesagt: Aufhebung des Waffen- Ich wünsche mir sehr, daß wir diese richtige Über- embargos, damit wir recht schnell ein Gleichgewicht legung der Amerikaner gerade bei der Moderation bekommen! Militärschläge durch die Luftwaffe der Abrüstungsgespräche sehr beachten; denn wenn gegenüber den belage rten Städten! - Darauf haben die NATO in einem Jahr abzieht, müssen die Bosnier wir gesagt: Nein, nein, laßt das bloß bleiben! Wir in der Lage sein, ihren Staat allein verteidigen zu holen den Frieden um die Ecke ab. Lord Owen ist können. Wenn die Serben nicht abrüsten, ist das aber schon unterwegs! nur möglich, wenn den Bosniern rechtzeitig die Mög- Das war eine der schlimmsten Entscheidungen der lichkeiten der Verteidigung an die Hand gegeben Europäer. Sie hat Tausenden von Menschen das werden. Leben gekostet. Damit nämlich haben wir den Krieg Meine Damen und Herren, die dritte Täuschung nicht um zwei Jahre verkürzt, sondern um zwei Jahre war das falsche Mandat der UN. Von Europa wurde verlängert. Auch das muß hier einmal gesagt wer- vorwiegend vertreten, Frieden da zu bewahren, wo den. Insofern haben die Amerikaner schon ein Recht es keinen Frieden gab. Nie wieder sollten Politiker darauf, zu sagen: Jetzt nehmen wir die Sache in die Soldaten in eine solche Zwangssituation bringen. Hand. Sie haben sie so in die Hand genommen, wie Dabei denke ich insbesondere an die niederländi- man das als Führungsmacht tun muß. 6452 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Christian Schwarz-Schilling Sie betrieben eine kluge Mischung von diplomati- Flüchtlingsrückführung ist ein Prozeß mit sehr vie- scher Offensive und Einsetzung der Machtmittel, die len klugen Voraussetzungen. dem westlichen Bündnis zur Verfügung stehen. Es gibt eben nicht diesen unsäglichen Gegensatz, von (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dem wir immer reden: Wir sind für „die politische", BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der nicht für „die militärische Lösung". Es ist genau Abg. Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]) umgekehrt richtig: Gerade durch die dienende Funk- Ich bin froh, daß in dem Abkommen von Dayton tion - das haben Sie, Herr Verheugen, gesagt -, mili- viele Dinge, über die wir früher in der Föderation tärische Drohungen auch tatsächlich wirksam wer- verhandelt haben, wörtlich übernommen worden den zu lassen, konnten politische Lösungen erarbei- sind und damit entsprechende Möglichkeiten einer tet werden. Diese beiden Dinge als Gegensätze zu solchen Kommission mit internationaler Begleitung sehen ist die Crux europäischer Diplomatie. Die gegeben sind. Ich hoffe, daß wir das nutzen werden. Amerikaner haben dies endlich wieder richtigge- stellt. Lassen Sie mich noch etwas zu den Menschen- rechtsvereinbarungen sagen. Meine Damen und Meine Damen und Herren, wenn sich die Amerika- Herren, wir müssen verstehen, daß diese Vereinba- ner in Berlin so verhalten hätten, dann hätten wir rungen für viele noch nicht überschaubar sind. Letz- heute kein freies Berlin. Die Garantie, selbst mit ten Sonntag gab es ein europäisches Forum der einem Atomschlag einzutreten, wenn Berlin ange- Flüchtlinge in Frankfurt. Dort schrie ein Mann laut griffen wird - das wäre ein Angriff auf die Vereinig- auf und sagte: Ich soll nach Prijedor zurückkehren, ten Staaten gewesen -, hat dazu geführt, daß kein um dort zu wählen? Dort laufen noch 500 Kriegsver- Schuß gefallen ist und Berlin überlebt hat. Das ist brecher und Völkermörder frei herum, die unsere doch die Wirklichkeit. Einwohner systematisch umgebracht haben! Und ich (Beifall bei der CDU/CSU, bei Abgeordne soll dorthin gehen und angsterfüllt meinen Wahlzet- ten der F.D.P. sowie des Abg. Freimut Duve tel abgeben? Wie stellen Sie sich das vor? [SPD]) Es wird eine Nagelprobe für die westliche Staaten- Was Dayton gebracht hat, haben wir hier schon gemeinschaft sein, zu sehen, daß den Menschen besprochen. Ich möchte darauf nicht weiter einge- Gerechtigkeit widerfährt, und zu merken, daß Recht hen; der Außenminister hat das sehr deutlich gesagt. und Ordnung wieder auf der Seite der Menschen- Ich möchte nur auf zwei Punkte hinweisen. rechte und des internationalen Rechts stehen. Die Menschen müssen schneller wieder Vertrauen Erstens. Wir haben in einem Zeitraum von bis zu bekommen. Das ist die Voraussetzung. Aber wenn neun Monaten freie und geheime Wahlen. Es wird diese Ordnung nicht hergestellt wird, dann kann darauf ankommen, daß diese Wahlen nicht zur Legi- man kein Engagement für den Rechtsstaat verlan- timierung der Vertreibung werden. gen, denn die Menschen haben zu Schlimmes erlebt. Wer hätte sich denn in Srebrenica, nachdem die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, Menschen schon zweimal geflohen waren und es zu der SPD und der F.D.P.) einer UN-Schutzzone erklärt worden ist, je vorge- Das heißt, daß Hunderttausende von Vertriebenen stellt, wie sie dort unter Zuschauen der westlichen und Flüchtlingen an diesen Wahlen in ihren Kommu- Länder abgeschlachtet wurden! Sie wissen, daß die nen teilnehmen können. Anforderungen an die NATO-Luftschläge einfach abgelehnt worden sind. (Dr. [CDU/CSU]: Jawohl!) Meine Damen und Herren, die Wiederaufbauhilfe - Für die Bundesregierung bedeutet dies zweierlei: ist einer der wichtigsten Punkte. Ich stimme hier voll zum einen die Möglichkeit, die Wahl auch hier zu mit anderen überein. Ich glaube, es ist nicht nur eine gestatten, wobei es noch einige legale Schwierigkei- Frage des Geldes. Gehen wir bitte an die Sache ten gibt - das muß rechtzeitig veranlaßt werden -, heran mit weniger Bürokratie, mit mehr Phantasie zum anderen, daß diejenigen, die in ihre Heimatorte und mit mehr Menschlichkeit! gehen, auf diese Weise nicht die Duldung in Deutschland verwirken, so daß sie sozusagen gleich- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und zeitig abgeschoben werden. Das kann nicht der Sinn der SPD sowie bei Abgeordneten des freier und geheimer Wahlen durch diese Menschen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in ihrem leidgeprüften Land sein. Das ist das Allerwichtigste. Wenn wir das praktizie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, ren, dann werden wir auch den guten Klang, den der SPD, der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/ Deutschland in diesen Fragen hat, bewahren, auch DIE GRÜNEN) wenn sich dort jetzt von internationaler Seite her alles tummelt, wahrscheinlich weniger beim Fördern Hier muß eine Anpassung erfolgen. Wir können eine und Helfen als beim Geschäftemachen. Duldung nicht so praktizieren, wie es im Moment geschieht. Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wir sollten uns freuen, daß Präsident Clinton in seiner großen Rede Zweitens. Hinsichtlich der Flüchtlingsfragen wieder an die amerikanischen Tugenden der ameri- möchte ich mich voll dem anschließen, was Karsten kanischen Geschichte angeknüpft hat. Er wollte Voigt gesagt hat: Es kann nicht wahr sein, daß wir diese Werte wieder in den Mittelpunkt stellen. Er meinen, hier gehe es um ein Abschiebedatum. Die sagte allerdings, daß er die Werte natürlich auch für Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6453

Dr. Christian Schwarz-Schilling Mitteleuropa wiederhergestellt hat und daß das im spektiven, die in Dayton vorgezeichnet sind, umge- vitalen Interesse der Vereinigten Staaten ist. Keine wandelt werden in einen selbsttragenden Friedens- gute Note für Europa. prozeß, der die militärische Begleitrolle, die heute geplant ist, immer geringer ausfallen läßt. Deswegen kann ich nur sagen: Wir müssen den Konsens auch in der geistigen Übereinstimmung Wir möchten darauf hinweisen, daß Dayton einige unserer Werthaltung und unserer politischen Ziele Probleme beinhaltet, in deren Bearbeitung wir mit wiederfinden. Es geht nicht nur um materielle Inter- der Bundesregierung bestimmt keine generellen Dif- essen, um nationale Interessen, um europäische ferenzen haben werden, sondern vielleicht graduelle Interessen; es geht darum, daß wir wieder an unsere Unterschiede sehen. Das bet rifft die Bearbeitung der Tugenden und unsere Ideale anknüpfen, die uns die Probleme, wie denn die Staatsbürgerschaft definie rt 50 Jahre Frieden gemeinsam mit den Vereinigten werden kann, wie die Wahlen organisiert werden Staaten gebracht haben. können, wie die Flüchtlingsfrage sowie die Minder- heitenfrage geklärt werden und einiges andere An dieser Stelle möchte ich genau das wiederho- mehr. Darüber werden wir noch viel diskutieren, len, was der Außenminister und der Verteidigungs- aber uns nicht im Grundsatz streiten müssen. minister gesagt haben: Wir müssen die Ideen zu unserem Menschenbild wieder ernst nehmen, bis Es gibt jedoch ein Grundproblem im Vertrag von zum vollen Engagement. Jede Generation muß sich Dayton, das uns sehr, sehr skeptisch stimmt. Das ist darüber im klaren sein, daß sie, wenn sie nicht bereit der Grundwiderspruch zwischen der Aufrüstung in ist, Frieden und Freiheit zu verteidigen, diese Werte der Region, die auf der einen Seite zugelassen wird, verlieren wird, egal, wo diese nicht verteidigt wer- und auf der anderen Seite dem Willen, militärische den. Sie sind unteilbar. Kräfte dorthin zu schicken, die stark genug sind, um in jeder Phase der Aufrüstung noch stärker zu sein Aus diesem Grunde habe ich die Hoffnung, daß als die dort immer noch vorhandenen bewaffneten Dayton einen Weg zu einer besseren Zeit im Nationalstaaten. Das ist ein außerordentlich großes 21. Jahrhundert darstellt, nachdem das 20. Jahr- Problem, selbst wenn man sagt, daß es Rüstungskon- hundert nun auch an seinem Ende wieder in trollverhandlungen geben soll, die bestimmte Ober- Abgründe geführt hat. grenzen festlegen. Wir sehen bei den KSE-Verhand- Lassen Sie mich zum Schluß daran erinnern: Es lungen bei der Festlegung von Rüstungsobergren- gibt eine Inschrift am Eingang des Holocaust- zen für das heutige Europa, daß fast alle National- Museums, das im April 1993 in Washington eröffnet staaten mit ihrer Rüstung unterhalb dieser Obergren- wurde, gerade zu der Zeit, als die schlimmsten Dinge zen liegen; aber die beiden europäischen Staaten, in Bosnien passierten und der Präsident darauf auf- die im massiven politischen Konflikt miteinander ste- merksam gemacht wurde und deswegen Außenmi- hen, nämlich Griechenland und die Türkei, liegen nister Christopher nach Europa geschickt hat. Dort weit darüber. heißt es: Deswegen haben wir überhaupt keinen Optimis- Aus der Erfahrung des Holocaust heraus müssen mus, daß in dem Moment, in dem das Waffenem- wir mit allen zivilisierten Völkern einen heiligen bargo aufgehoben wird und Aufrüstung über den Eid schmieden, daß die Welt niemals wieder Waffenmarkt zugelassen wird, die Politik diesen fata- schweigend zuschaut, daß die Welt niemals wie- len Prozeß über Rüstungskontrollverhandlungen der versäumt, zur rechten Zeit zu handeln, um wieder einholen kann. das schreckliche Verbrechen des Völkermords zu (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS verhindern. - SES 90/DIE GRÜNEN) Am Ende dieses Jahrhunderts haben wir dieses Ver- Das ist ein Strukturdefekt in der gesamten Dayton sprechen nicht gehalten. Ich möchte hoffen, daß Day- Pragmatik. ton den Weg dazu ebnet, daß künftige Generationen diesem Wort klaren Auges entgegensehen können Sie werden gezwungen sein, die Waffen, die Sie und das 21. Jahrhundert dadurch geprägt wird. jetzt wieder liefern lassen, später mit Militär einzu- sammeln, weil völlig offen ist, ob der selbsttragende Ich danke Ihnen. Friedensprozeß, von dem wir alle hoffen, daß er statt- findet, überhaupt implementiert werden kann. Denn (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und vieles davon ist bis jetzt reine Absichtserklärung, der SPD sowie bei Abgeordneten des und weniges ist in Mechanismen eingegossen, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) denen man Funktionsfähigkeit unterstellen darf. Es gibt ein zweites gravierendes Problem: Was pas- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat siert denn eigentlich nach einem Jahr, wenn das jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer. IFOR-Mandat ausläuft und dieser selbsttragende Prozeß nicht in Gang gekommen ist und die US-Sol- Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau daten abziehen? Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle sind (Günter Verheugen [SPD]: Dann werden über den erleichtert. Er Friedensschluß von Dayton Waffen geliefert!) bietet die Chance, daß das grauenhafte Morden end- gültig beendet wird. Wir alle sollten uns so intensiv - In dem Moment werden Waffen geliefert, wie Sie, wie möglich dafür engagieren, daß die Friedensper- Herr Verheugen, gerade sagen. Die Gerüchte neh- 6454 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Ludger Volmer men doch zu, daß in diesem Moment das neue Euro schied bei der Frage, worüber eigentlich abgestimmt Corps an die Stelle der US-Truppen treten soll, ein wird. Euro-Corps, an dem die Bundesrepublik sehr stark beteiligt ist. Ich frage mich, mit welcher moralisieren- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Aber Ihr den Argumentation der Verteidigungsminister der Fraktionsvorsitzender macht doch mit! Wen Opposition dann die Pistole auf die Brust setzen wird, beschimpfen Sie hier eigentlich?) um einen über internationale Truppen weiter erhöh- ten deutschen Waffeneinsatz auf dem Balkan einzu- Der Bundestag wird nicht über den Dayton-Friedens- fordern. Auch dies stimmt uns mehr als skeptisch. vertrag abstimmen. Der Bundestag wird über die Kabinettsvorlage zur Gestaltung des deutschen Bei- Wir begrüßen im Prinzip, daß sich die Bundesrepu- trags abstimmen. Das sind zwei grundsätzlich unter- blik auch an der Wahrnehmung der Ordnungsfunk- schiedliche Fragestellungen. Man kann mit großer tionen beteiligt. Sie wissen, daß wir darüber eine Leidenschaft den Friedensvertrag verteidigen und intensive Debatte in unserer Partei führen. Aber für dennoch massive Skepsis gegenüber dem Beitrag viele von uns gibt es Grenzen. äußern, wie ihn das Bundeskabinett formuliert hat.

Wir stimmen zu, wenn Sie Sanitätshilfe geben; wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stimmen zu, wenn Sie Transporthilfe geben; wir stim- sowie bei Abgeordneten der PDS) men zu, wenn Sie die Infrastruktur aufbauen. Die Grenze ist für uns da gegeben, wo eindeutig ein mili- Diese Freiheit werden wir uns nehmen. Den glei- tärischer Kampfauftrag erteilt wird. Dieser ist abzuse- chen Respekt, den wir den Teilen der Opposition ent- hen; er ist nicht nur bei den Tornados abzusehen. gegenbringen, die meinen, sie müßten zustimmen, Denn die Einsatzbeschränkungen, die bei den ECR- erwarte ich auch denen gegenüber, die die skepti- Tornados in der UNPROFOR-Mission gegeben sche Haltung nicht nur verbal äußern, sondern even- waren, sollen jetzt völlig wegfallen. Die ECRs sollen tuell auch im Abstimmungsverhalten sichtbar die gesamte NATO-Strategie tragen können. machen. Ferner gibt es in der Kabinettsvorlage eine Klausel, nach der es möglich sein soll, beliebig viele und Deshalb noch ein letztes Wo rt zu Ihren Bemerkun- beliebig bewaffnete Truppen nachzuziehen, wenn es gen, Herr Rühe: Es ist nicht mehr die Zeit, sich die die Situation denn erfordert. Es ist eine kleine, gesamte Konfliktgenese anzuschauen. Aber man- unscheinbare Klausel; aber sie eröffnet der Bundes- ches muß man noch festhalten. Es waren doch insbe- regierung die Möglichkeit, so viele Truppen und so sondere die Kräfte der Friedensbewegung, die sehr stark bewaffnete Truppen, wie sie nur will, nachzu- frühzeitig gesagt haben: Schaut euch den Balkan an. ziehen. Das halte ich für außerordentlich problema- Da spitzt sich ein heißer Konflikt zu. - Sie haben tisch. Hier gibt es gar keine vorweggenommene Ein- nicht auf uns gehört. satzbegrenzung mehr, sondern Sie wollen quasi (Lachen bei der CDU/CSU) einen Vorratsbeschluß durch das Parlament, der jede beliebige Einsatzstärke im vorhinein legitimie rt. Dar- Es waren die Kräfte der Friedensbewegung, die über werden wir uns sehr kritisch unterhalten müs- gesagt haben: Es muß der politische europäische sen. Wille dasein, dort von Anfang an massiv politisch ein- Ein weiterer Punkt: Wer definie rt denn eigentlich zugreifen. - Sie haben nicht gehört. den deutschen Beitrag? Laut UNO-Charta kann jedes einzelne Mitgliedsland seinen Beitrag selbst Wir haben gefordert, daß konsequente Wirtschafts- definieren. Über den Mechanismus, der- in Dayton sanktionen eingesetzt werden. Sie haben nicht gefunden worden ist, wird allerdings die NATO als gehört. Nun, da das Kind in den Brunnen gefallen ist, Friedensgarantin eingesetzt, und der deutsche Bei- sollen wir auf Sie hören und Ihre Politik legitimieren. trag leitet sich aus der Strategieplanung der NATO Das ist etwas zuviel verlangt. ab. Ich frage mich in diesem Zusammenhang: Wel- che Möglichkeiten hat das Parlament dann eigent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich noch, Einfluß zu nehmen? Warum führen wir sowie bei Abgeordneten der PDS) diese Diskussion hier noch? Das Bundesverfassungs- Wir tun das ja. Wir machen uns Gedanken. Wir gericht verlangt dies. Aber wo sind in der Substanz machen uns Gedanken, wie eine Politik, die nicht die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Opposition? nach unserer Logik verlief, sondern nach Ihrer Logik, Die Regierung hätte gerne unsere Zustimmung; sie die Sie mit zu verantworten haben und die zu dem wird sicherlich auch Teile der Opposition auf ihre Desaster beigetragen hat, nun zu beenden ist. Seite ziehen. Aber es gibt sehr, sehr viel Skepsis. Wenn der Bundesregierung wirk lich daran gele- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wie ist gen ist, größere Teile der Opposition von der Richtig- es denn zu der Friedensregelung gekom keit ihrer Politik zu überzeugen, müßte sie sich auf men?) einen Diskussionsprozeß über einzelne Mechanis- men in ihrer Kabinettsvorlage einlassen, die man Herr Rühe, in einer Zeit, in der sich große Teile der durchaus anders beurteilen kann. Friedensbewegung leidenschaftlich darüber unter- halten, wie sie die Fehler, die Sie und Ihre Regierung Deshalb sage ich, Herr Rühe: Es gibt einen ganz in der Vergangenheit gemacht haben, in der jetzigen eindeutigen und nicht wegzudefinierenden Unter- Situation ausbügeln helfen können, wäre von Ihrer Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6455 Ludger Volmer Seite aus Demut angesagt und nicht Häme und Hohn ten würden, nur weil irgendein Dokument unter- gegen die Friedensbewegung. zeichnet worden ist. Es braucht eine solche Imple- mentierungstruppe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Voraussetzung für den Frieden ist allerdings Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat auch, daß in Bosnien-Herzegowina eine mulitethni- jetzt die Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer. sche und multireligiöse Gesellschaft entsteht, daß ein Staat entsteht, eine Demokratie entsteht, die auf die- Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Frau Präsidentin! sen Voraussetzungen und Strukturen aufgebaut ist. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dayton Eine funktionierende Demokratie respektiert Reli- war ein Kraftakt, aber die Zukunft wird ungleich gionen, respektiert Minderheiten, aber sie muß auch schwieriger sein, und zwar für alle Beteiligten, für Respekt verschaffen für die Minderheiten. Hier ist in diejenigen, die sich entschlossen haben, den Frieden der Tat in der Vorbereitung der Wahlen, in der Vor- miteinander zu versuchen, die sich entschlossen bereitung der endgültigen Verfassung noch eine re- haben, den Frieden miteinander zu gestalten, aber sige Aufgabe, für die selbstverständlich auch die auch für diejenigen, die aufgerufen sind und selbst- OSZE gefordert ist. verständlich an der Seite der ehemaligen Konflikt- parteien stehen müssen, um den Frieden zu gestal- Die Tradition der Region ist eben nicht, einen reli- ten. Das ist unsere Aufgabe. giösen Staat zu haben, sondern die Tradition der Region ist, einen laizistischen Staat zu haben, in dem Deswegen, Herr Volmer, habe ich für die Ausfüh- allerdings der Schutz der Religionen gewährleistet rungen, die Sie hier gemacht haben, weil sie in ist. Das müssen wir durchsetzen helfen. bezug auf das gesamte Spektrum dessen, was hier auf dem Spiele steht, so unangemessen sind, eigent- (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) lich nur die Erklärung, daß Sie schon einmal für den Parteitag geübt haben, wie Sie dort Ihrem Fraktions- Ein Thema, dem sich alle heute nur sehr verhalten vorsitzenden Paroli bieten wollen. und in allgemeinen Erklärungen genähert haben, ist das Thema der Kriegsverbrecher. Wir werden sehr (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) bald sehen, meine Damen und Herren, daß wir gefor- Ihnen ist wohl auch kein Argument zu schade, dert sind, hier konkretere Schritte zu unternehmen. selbst nicht das Argument des Mißtrauens gegen- Wie sollen wir den Angehörigen der Mordopfer von über diesem Parlament. Die Bundesregierung wird Srebrenica gegenübertreten, wie sollen wir den ver- keinen Soldaten ohne Zustimmung dieses Parla- gewaltigten Frauen gegenübertreten, wenn wir nicht ments irgendwo ins Ausland schicken, ohne daß das dafür sorgen können, daß Kriegsverbrecher tatsäch- gründlich diskutiert und erwogen und dann auch lich ihrer verdienten Strafe zugeführt werden? entschieden worden ist. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU (Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS NEN]: Das habe ich nicht behauptet!) SES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen verstehe ich Sie nicht. Ihnen ist offensicht- Hier gibt es eine Verpflichtung im Dayton-Abkom- lich kein Argument zu schade. men, aber es gibt noch keinerlei Ansatzpunkte dazu, wie diese Verpflichtung auch umgesetzt werden Worüber hier abgestimmt wird, ist ja wohl klar. kann. Hier bitte ich die Bundesregierung nachdrück- - Deswegen stimmt Herr Fischer auch zu, der schon lich, bei den Verantwortlichen der Friedensparteien frühzeitig Anschluß an die Realität gesucht und weiterhin auch dafür Sorge zu tragen, daß sie ihren gefunden hat. Einfluß wahrnehmen, damit Kriegsverbrecher tat- sächlich dem Haager Tribunal zugeführt werden. (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: „Früh Hier geht es um eine Nagelprobe auf die zeitig" ist etwas überzogen! - Dr. Michael Glaubwür- digkeit Luther [CDU/CSU]: Teilweise!) der internationalen Menschenrechtspolitik. Sollten wir diese Nagelprobe nicht bestehen, gibt es - Etwas später als ihr, das ist wahr, aber vielleicht wieder Anlässe für neue Konflikte. doch noch frühzeitig genug. (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Natürlich ist nach einem Jahr auch Bilanz zu zie- NEN) hen, meine Damen und Herren, aber dieses eine Jahr muß in der Tat dafür genutzt werden, daß die ehema- Es ist auch eine Frage der Menschlichkeit, eine ligen Konfliktparteien miteinander ins Gespräch sichere und schnelle Rückkehr der Flüchtlinge zu kommen - das ist richtig -, daß die Infrastruktur wie- garantieren. Ich sage hier den Grünen noch einmal: der aufgebaut wird, daß überhaupt erst Frieden mög- In Dayton ist das Prinzip der schnellen Rückkehr von lich ist. Frieden ist nur möglich, wenn Vorurteile allen gewünscht und festgeschrieben worden. Das ist überwunden, wenn Toleranz gezeigt wird. auch im Interesse derer, die in ihre Heimat zurück- kehren wollen. Aber es müssen die Voraussetzungen All dies geht und ginge nicht, wenn nicht eine dafür geschaffen werden, daß diese Rückkehr sicher starke Friedenstruppe vor Ort stationiert ist. Es ist gestaltet werden kann. Deswegen muß das Sekreta- doch eine Illusion, zu glauben, daß sich alle diejeni- riat schnellstens eingerichtet werden, das Informatio- gen, die den Friedensprozeß nicht wollen, zurückhal- nen über Vertriebene, Geflohene und Vermißte sam- 6456 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Irmgard Schwaetzer melt und an Interessie rte weitergibt, und deswegen Es muß ein multilaterales Hilfsprogramm, an dem muß die Bundesregierung sofort geeignete Rück- vor allen Dingen die Europäische Union, die USA, kehrprogramme vorbereiten und auflegen, damit Rußland und die islamischen Staaten beteiligt sind, diese sichere Rückkehr erfolgen kann. geben. Aber was mir bisher fehlt, ist die Diskussion und die Verpflichtung der Europäischen Union, Pa rt -nerschaft über das Kriegsgebiet hinaus zu üben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Abgeord- nete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wir haben im Frühsommer einen Antrag der Grü- Nickels? nen debattiert, ein Angebot auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union zur Beendigung des Krieges zu unterbreiten. Da haben wir alle gesagt, daß es das Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Ja, bitte. nicht sein könne; wer Krieg führen wolle, werde mit einem solchen Programm nicht Frieden machen. Jetzt, wo die Voraussetzungen gegeben sind, daß Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frieden geschaffen werden kann, ist es an der Zeit, Frau Schwaetzer, stimmen Sie mit mir überein, daß daß die Europäische Union Verträge mit allen Nach- das Wörtchen „schnell" nicht bedeuten darf, daß die folgestaaten mit der Perspektive eines Beitritts zur Menschen in Gebiete zurückgeschickt werden, in Europäischen Union abschließt, wie auch mit ande- denen es keine Infrastruktur mehr gibt, und daß ren Staaten dieser Region schon früher geschehen. umgekehrt es angezeigt wäre, für die Zeit, in der die Deswegen, meine Damen und Herren, ist das ein Flüchtlinge hoffentlich noch bei uns sein dürfen, hier Punkt, der über das eigentliche Kriegsgebiet hinaus im Rahmen der Aufbauhilfe für das dann f riedlich noch verwirklicht werden sollte. werdende Jugoslawien Ausbildungsmöglichkeiten für die Jugendlichen und andere Qualifizierungspro- Insgesamt gibt es eine Chance auf Frieden, aber es gramme für die Flüchtlinge aufzulegen? ist bisher eine Chance, die noch sehr, sehr viel Mut und Kraft von allen Beteiligten bis zu einem tatsäch- lichen Frieden in dieser Region erfordert, der für das Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Daß es eines Rück- Überleben unseres Kontinents, für Menschenrechte kehrpogrammes auch der Bundesregierung bedarf, und Demokratie auf unserem Kontinent entschei- ist doch überhaupt keine Frage. Natürlich, dazu dend ist. bekennt sich auch die Bundesregierung. Das wird Danke schön. auch geschehen, das muß geschehen. Aber es kann ja nicht sein, daß eine solche Rückkehr erst dann vor- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) bereitet und durchgeführt wird, wenn auch die letzte Infrastruktur wiederaufgebaut sein wird, was viele Es spricht jetzt Jahre in Anspruch nehmen wird. Überhastung darf Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: es nicht geben. der Abgeordnete Gerhard Zwerenz.

Richtig ist auch, was hier der Kollege Schwarz Gerhard Zwerenz (PDS): Frau Präsidentin! Meine Schilling angesprochen hat. Wir erwarten vom Damen und Herren! Da meine Kollegin Andrea Innenminister, daß er entsprechende Regelungen Lederer nicht 12 1/2 Minuten sprechen durfte, sondern vorbereitet, die es ermöglichen, daß diejenigen, die nur zehn Minuten, komme ich in den Genuß, die 2 1/2 hier bei uns leben, an den Wahlen, die in sechs bis Minuten noch nachliefern zu dürfen. Ich werde ver- neun Monaten stattfinden, sicher teilnehmen kön- suchen, mich in den Sätzen kurz zu fassen. nen, ohne ihren Aufenthaltsstatus in der- Bundesre- publik Deutschland zu verlieren. Das muß einfach Wenn man etwas älter ist und ein etwas ungemä- sein, und wir erwarten entsprechende Schritte des ßes Leben geführt hat, weiß man nicht mehr genau, Innenministers. wie viele Verteidigungsminister man durchlebt habt. Ich kann mich an die einzelnen Verteidigungsmi- Ich kann nicht nachvollziehen, was Sie, Herr Ver- nister meines Lebens jedenfalls nicht genügend heugen, eben in Ihrem Beitrag unterstellt haben, daß genau erinnern. Ich weiß nur eines: Jeder Verteidi- nämlich die Bundesregierung am zivilen Aufbau gungsminister hat sich nicht auf eine Verteidigung kein Interesse habe und auf diesem Gebiet nicht ent- innerhalb der Landesgrenzen eingerichtet, sondern schieden arbeite. Wer sich allein die Programme der es wurde stets außerhalb der Landesgrenzen vertei- Treffen der Außenminister, der Verteidigungsmi- digt. Das sind ja seltsame Verteidigungsminister- nister, der Finanzminister vor Weihnachten ansieht, sitten, die wir da haben! muß feststellen, daß hier in der Tat die notwendigen Dinge sofort in Angriff genommen werden. Die (Beifall bei Abgeordneten der PDS - Zurufe Geberkonferenz Mitte Dezember in Brüssel, die Lon- von der CDU/CSU und der F.D.P.) doner Konferenz, die Einsetzung eines hohen Reprä- - Es tut mir leid, ich kann auf Zwischenrufe nicht ein- sentanten, die Vorbereitung von Wahlen in sechs bis gehen, ich habe ja nur 2 1/2 Minuten. neun Monaten als Auftrag an die OSZE genauso wie die Vorbereitung einer internationalen Polizeitruppe, Der jetzige Verteidigungsminister Rühe ist davon die entscheidend dafür ist, den Frieden auch mit den ausgegangen, daß Verweigern unmoralisch sei. Ich Kräften vor Ort zu garantieren, all dies zeigt ja schon, bin erst ein Jahr in diesem Hause, aber ich weiß noch daß die notwendigen Dinge in Angriff genommen sehr genau, daß er die Devise ausgegeben hat, deut- worden sind. sche Soldaten in Jugoslawien wären nicht eine Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6457

Gerhard Zwerenz Lösung, sondern ein Teil des Problems. Welchem Gerhard Zwerenz (PDS): Das Massaker von Srebre- Verteidigungsminister soll ich nun glauben, dem von nica, auf das Herr Rühe - - vor einem halben Jahr oder dem von heute? Das ist schließlich auch eine Frage des Zutrauens. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) neter, Ihre Redezeit ist schon überzogen. - Es tut mir leid, auch Zurufe von den Grünen kann ich im Moment nicht akzeptieren; ich muß pausenlos Gerhard Zwerenz (PDS): Ich bin schon am Ende, durchsprechen, ich will mich hier artikulieren. wird mir gesagt. (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Unruhe) Es tut mir furchtbar leid, aber Sie können sicher sein: Es gibt von meinem Freund Karsten Voigt - - Sie hören in dieser Frage noch von mir. (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Für die PDS kann ich sagen: Wir sind der Mei- Oh!) nung, die der Verteidigungsminister vor einem hal- - Wir haben eine gute, große gemeinsame Vergan- ben Jahr gehabt hat: Ein deutscher Soldat - jeder genheit, und da waren die Fronten noch klarer, als deutsche Soldat - in Jugoslawien ist keine Lösung sie heute sind. Es gibt gewisse Annäherungen, die sondern ein Teil des Problems. Sie werden das noch bestimmte Leute wie ich jedenfalls nicht mitmachen. sehen und bereuen. (Beifall bei der PDS) Aber, mein lieber Karsten - er ist ja hier, sehe ich -, wenn es eine gute SPD-Tradition ist, gewissermaßen den Kriegskrediten zuzustimmen - du verstehst, was Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zur ich meine -, dann will ich damit in aller Kürze sagen: Kurzintervention erhält der Abgeordnete Voigt. Es gab stets zwei gute sozialdemokratische Traditio- nen, und eine Tradition hat zu etwas geführt, was wir (Zuruf von der CDU/CSU: Sein Freund am besten nicht mehr so genau und so laut sagen. Da spricht jetzt!) gab es nämlich in der Tat im Ersten Weltkrieg die Tradition der Zustimmung zu den Kriegskrediten, Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Drei kurze und dann gab es die Teilung: Liebknecht einerseits Bemerkungen. und Noske andererseits. Wir möchten, daß das auf alle Ewigkeit nicht wiederkehrt. Deswegen wird es Erstens. Es ist interessant, daß Gerhard Zwerenz, so schwierig, wenn wir uns hier miteinander unter- der sich selber als Antikommunist bezeichnet, die halten müssen. alte kommunistische These vom Verrat der Sozialde- mokraten im Ersten Weltkrieg wieder aufwärmt. Herr Kinkel, der Außenminister, will keinen Man- tel des Vergessens über das, was in Jugoslawien (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne geschehen ist, breiten. Einverstanden! Versöhnung ten der CDU/CSU) geht nicht ohne Wahrheit. Aber es soll hier vergessen Zweitens. Es ist prinzipiell ein Unterschied, ob man werden - das haben Ihre Reaktionen auf das, was die wie Wilhelm II. imperialistische Ziele verfolgt und Grünen gesagt haben, gezeigt -, daß in der Tat die wie Hitler einen Aggressionskrieg betreibt oder ob Friedensbewegung jahrelang ganz einsam, ganz man wie die Alliierten die KZs befreit, damit allein versucht hat, in Jugoslawien Frieden zu stabili- Deutschland befreit sein konnte, weil es sich nicht sieren. - selber befreien konnte. (Freimut Duve [SPD]: ,Was?!) Diesen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Einsatz bewaffneter Gewalt zur Herstellung von Eine einzige Friedensgruppe hat privat 1991/1992 Menschenrecht und Völkerrecht oder zur Unterdrük- 7 Millionen DM gesammelt, hat in Jugoslawien Frie- kung von Menschen kennen Leute, die aus der densmärsche organisiert, hat die Mütterbewegung Befreiungsbewegung kommen, sehr genau. geschaffen. Alles dies ging im Maße des Anwach- sens des Nationalismus zugrunde. Insbesondere Sie Drittens. Karl Kautsky hat 1937 im Prager Exil die von der rechten Seite, meine wenigen Damen und Alliierten aufgefordert, gegen Deutschland frühzeitig vielen Herren, müssen sich einmal überlegen, was zu intervenieren. Daß die internationale Völkerge- das für eine Gesellschaft ist, die Sie da schaffen wol- meinschaft das nicht gemacht hat, hat zig Millionen len, wenn der Übergang von einem Sozialismus, der Tote gekostet. Ich bitte die PDS, diesen Unterschied keiner war, ein Übergang zu einer Demokratie wird, zwischen Militarismus und Antimilitarismus zu die keine ist, weil Kriege dazwischengeschaltet wer- beachten. den. Weshalb entstehen denn diese Kriege? Das soll- ten Sie sich einmal überlegen. Wir, die Gruppen der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Friedensbewegung sind jedenfalls nicht daran betei- F.D.P.) ligt gewesen. Lassen Sie mich noch eines sagen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zur Antwort der Abgeordnete Zwerenz - Er verzichtet. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, Ihre Rede- zeit ist abgelaufen. (Zuruf von der CDU/CSU: Er ist erledigt!) 6458 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Dann erhält als nächster der Abgeordnete Karl bei der Gelegenheit der allmählichen Annäherung Heinz Hornhues das Wo rt. etwas ausgeräumt, und zwar Ihren Begriff der „Militarisierung der Außenpolitik" den Sie in diesen Zusammenhängen wiederholt als Kampfinstrument (CDU/CSU): Frau Präsi- Dr. Karl-Heinz Hornhues in die Debatte eingeführt haben. Dies ist keine dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Militarisierung der Außenpolitik", sondern das ver- Herr Kollege Voigt, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie zweifelte Bemühen, Frieden zu gewinnen und File- den elementaren Unterschied zwischen dem, was den zu sichern. heute ist, und dem, was einmal war, hier noch einmal deutlich gemacht haben. Das erspart es mir, dies zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tun. Lassen Sie mich noch ein Weiteres anfügen, Herr Herr Zwerenz, ich wollte eigentlich auf Sie über- Kollege Verheugen: Sie haben zwei Argumente haupt nicht reagieren, aber man muß hier wohl angeführt, warum Sie die ECR-Tornados als beson- einige Dinge klarstellen, damit sie sich nicht öffent- ders häßlich empfinden. Erstens haben Sie erklärt, lich festsetzen. Dazu gehört, daß der Verteidigungs- sie seien überflüssig. Ich glaube, der Verteidigungs- minister niemals gesagt hat, was Sie behauptet minister hat hinreichend deutlich gemacht, wie haben, sondern er hat gesagt: Deutsche Soldaten wenig überflüssig sie sind. Sollten Sie weiteren Infor- dürfen dort nicht Teil des Problems werden, sondern mationsbedarf haben, fragen Sie einige sachverstän- müssen Teil einer Lösung des Problems sein. Das ist dige Kollegen Ihrer eigenen Fraktion, die Ihnen dazu die logische Konsequenz, vor der wir im Juni gestan- etwas Genaueres sagen können. den haben und heute und in der nächsten Woche mit unserer Beschlußfassung erneut stehen werden. Zweitens haben Sie, Herr Kollege Verheugen, gesagt, daß die SPD bei ihrem Grundsatz bleibe: Da ich schon beim Klarstellen bin: Herr Kollege Frieden - ja, Kriegführen - nein. Sie haben in dem Volmer, Sie haben so nach dem Motto, daß es sich Zusammenhang weiter gesagt, der ECR-Tornado sei ganz gut macht und vielleicht mal wieder einer - so habe ich es verstanden - ein Teil von Kriegfüh- glaubt, ein bißchen Gift in die Gegend geträufelt und ren. die Behauptung aufgestellt: Dieser unglaubliche Verein hier beschäftigt sich zwar per Beschlußfas- (Günter Verheugen [SPD]: Davon habe ich sung mit Soldaten, mit so etwas Unanständigem, kein Wort gesagt!) aber zum Frieden von Dayton faßt er keinen Beschluß. Das war der Sinn Ihrer Ausführungen - Aber Sie haben es in diese Nähe gebracht; lassen eben. - Sie mich das mit Klarheit sagen. (Widerspruch des Abg. Ludger Volmer (Zuruf von der SPD: Unterstellen Sie nicht [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) immer etwas! - Weitere Zurufe von der Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, Herr Kol- SPD) lege Volmer, daß wir einen Antrag aller Fraktionen - Dann stimmen Sie doch mit Ja! Ziehen Sie Ihren dieses Hauses vorliegen haben, in dem wir das Antrag zurück! Dann sind alle Zweifel hinsichtlich Ergebnis von Dayton begrüßen. Unter diesem Antrag Ihrer Meinung beseitigt, dann ist das vom Tisch. steht, nebenbei bemerkt, auch die Unterschrift Ihres Aber ist denn das, was unsere Verbündeten tun, die Fraktionsvorsitzenden. Dies nur zur Erinnerung, sich zwischen die Fronten stellen müssen, für Sie bevor Sie hier weitere falsche Behauptungen in die Kriegführen und damit moralisch minderwertiger Welt setzen. - und verwerflicher als unser Beitrag? Was soll denn (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dann Ihr Antrag? Ich bitte um etwas mehr Klarheit! Meine sehr geehrten Damen und Herren, in den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gesamten Debatten über dieses Thema über viele Jahre haben viele von uns alles andere als ein gutes Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist Gefühl gehabt. Manchmal hat man sich der eigenen von vielen Seiten deutlich gemacht worden, wie jetzt Hilflosigkeit geschämt. Deswegen bin ich dem Kol- wichtig es ist, daß wir die Chance zum Frieden legen Christian Schwarz-Schilling ausgesprochen ergreifen. Ein entscheidender Beitrag dazu wird sein, dankbar für das, was er hier gesagt hat. Ich hoffe, daß wir ihn zunächst einmal militärisch absichern, daß sich alle, die ihm Beifall gezollt haben, der einen damit das, was wünschenswert ist, überhaupt erfolg- oder anderen Verzagtheit, des einen oder anderen reich gemacht werden kann. Notwendig wird sein - Besserwissens, was sich als falsch erwies, bewußt das ist von vielen angesprochen worden; ich will es waren; denn ich glaube, wir haben aus allem, was nicht wiederholen, sondern nur unterstreichen -, daß sich entwickelt hat, Entscheidendes zu lernen. wir an dem Kernproblem arbeiten. Das Kernproblem ist: Wie kann man nach so viel Blut, Not, Elend und Das Entscheidende für mich ist, daß man begreifen Tränen, nach so viel Gewalt und Aggression die muß - und auch wir haben es begreifen müssen -, Menschen wieder zusammenführen? Aber - das daß, auch wenn man es als unangenehm empfindet, unterstreiche ich für alle, die das gesagt haben - es auf Gewalt oft nur mit Gewalt reagie rt werden kann, darf nicht sein, daß Kriegsverbrechen ungesühnt wenn man Frieden wiedergewinnen wi ll. Dies ist bleiben. Wer den Frieden in dieser Region auf Dauer eine entscheidende Erkenntnis. Herr Kollege Ver- gewinnen will, muß der Gerechtigkeit eine Chance heugen, ich hätte mir heute gewünscht, Sie hätten geben. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6459

Dr. Karl-Heinz Hornhues Dies halte ich für die Voraussetzung dafür, daß 50 Jahren - nach einem Krieg, der den Verlust an Versöhnung unter den Menschen Platz greifen kann. Ehre, der Chaos zur Folge hatte - in einer schlimmen Sie müssen wieder miteinander leben. Ich glaube, Situation. Diejenigen, die mit Gewalt die Gefange- die meisten wollen das auch. Dabei müssen wir hel- nen aus den KZs befreit haben, die in deutschem fen. Wir können bei den Menschen, die in unserem Namen dort inhaftiert waren, haben nicht gezögert, Lande leben, anfangen. Da ich sicher bin, daß viele diesem Deutschland zu helfen. Helfen also jetzt auch von ihnen heute auch am Fernseher sitzen und zuhö- wir, so gut wir können. Ich bitte Sie herzlich darum. ren, möchte ich all den Kroaten, Bosniern und Ser- ben, die in Deutschland leben, ein herzliches Danke- Danke schön. schön dafür sagen, daß sie uns glücklicherweise (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. erspart haben, Ihre Konflikte auf unserem Boden aus- sowie bei Abgeordneten der SPD) zutragen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat und der SPD) jetzt der Abgeordnete Walter Kolbow. Ich appelliere an sie, sich in die vorderste Front derje- nigen einzureihen, die den Versöhnungsprozeß in Walter Kolbow (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr ihrer Heimat voranbringen. Denn eines ist klar: Der verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zur Absiche- Wiederaufbau in ihrer Heimat kann nur gelingen, rung des Friedensvertrages für das ehemalige Jugo- wenn alle Seiten daran mitwirken. slawien, für die Ausgestaltung des Ergebnisses von Wenn Frau Kollegin Schwaetzer eben gesagt hat, Dayton ist der Einsatz bewaffneter Streitkräfte not- wir sollten die Option für Europa anbieten, dann wendig. So hat es auch diese Aussprache vorwie- habe ich nichts dagegen. Aber man muß klar sagen: gend ergeben. Dieser Einsatz ist als vorbeugende Das setzt voraus, daß do rt die Zersplitterung in Natio- Maßnahme geradezu eine unerläßliche Vorausset- nalitäten, in Konfessionen, daß Haß und Gewalt zung für den Friedensprozeß. Nur eine starke Trup- beendet werden, bevor dieses Miteinander à la penmacht - nicht so ohnmächtig wie häufig UNPRO- longue möglich sein wird. FOR - kann den bisher nur auf dem Papier bestehen- den Frieden von Dayton zum Leben erwecken. So ist Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist viel es richtig, daß diese unter deutscher Beteiligung über die Menschen, über die Flüchtlinge, die in dorthin zu sendende IFOR-Truppe einen politischen Deutschland leben, gesprochen worden. Ich möchte Zweck hat, keinen Selbstzweck. Dieser politische die Gelegenheit ergreifen und den Kommunen dan- Zweck schafft die äußeren Bedingungen für die Wie- ken, die - zwar nicht immer mit Begeisterung, aber derherstellung der Zivilisation im ehemaligen Jugo- doch in dem Wissen darum, was zu tun notwendig slawien. ist - schwierigste Aufgaben bei der Unterbringung von Flüchtlingen übernommen haben. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Meine Fraktion hat es sich beim Ringen um die sowie des Abg. Freimut Duve [SPD]) richtige Lösung für die deutsche Beteiligung an die- sem Friedensprozeß wirklich nicht leichtgemacht. Ich möchte auch all denjenigen in unseren Städten Manche ringen noch, und manche werden im Ergeb- und Gemeinden danken - ob hauptamtlich, ob nis zum Vorschlag der Bundesregierung nein sagen. ehrenamtlich -, die geholfen haben, daß dies, so gut es denn machbar war, gemacht werden konnte. Sie, Herr Bundesminister der Verteidigung, haben in diesem Zusammenhang auch von Moral gespro- Für viele Flüchtlinge besteht jetzt bald - für andere chen. - Wir sollten auf niemanden hier den morali- vielleicht erst später - die Möglichkeit, in ihre Hei- schen Zeigefinger richten; mat zurückzukehren. Ich habe eine herzliche Bitte an alle, dabei zu helfen, daß diese Rückkehr in die Hei- (Zuruf von der CDU/CSU: Dann lassen Sie mat so schnell wie möglich erfolgen kann. Es ist viel Ihren weg!) darüber gesprochen worden, was an Voraussetzun- gen dafür geschaffen werden muß. Ich bitte unsere denn hier halte ich es mit Gustav Heinemann, der Mitbürger herzlich darum, nicht zu glauben, daß mit gesagt hat: Dabei zeigen immer drei Finger der eige- dem Friedensschluß von Dayton nun alle Probleme nen Hand auf einen selbst. - gelöst seien. Auch wir sollten bei der Lösung der Pro- (Zuruf von der F.D.P.: Auch beim Kollegen bleme dort weiter helfen. Kolbow!) Mich hat ein sehr seltsamer Anruf erreicht. In ihm Sie, Herr Verteidigungsminister, haben gesagt: hieß es: Erst machen die da alles kaputt, schlagen Moral ist sehr konkret. - Jawohl, Moral ist sehr kon- sich die Köpfe ein, brennen jetzt noch ihre Häuser kret. Sie findet auch an den Türen dieses Plenar- ab, und wir sollen dann bezahlen und wieder hellen. saales statt, als Kolleginnen und Kollegen hineinge- - Ich kann verstehen, wie angesichts dieser Situation hen wollten, um gegen den Besuch des iranischen auch bei uns manche Frage in diese Richtung auf- Außenministers Welajati zu protestieren. Sie wurden kommt, ich kann vieles in diesem Zusammenhang zum Teil daran gehindert. verstehen, aber ich möchte an alle unsere Mitbürge- rinnen und Mitbürger appellieren, bei allem eines (Zuruf von der CDU/CSU: Die anderen aber nicht zu vergessen: Auch unser Land war vor auch!) 6460 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Walter Kolbow Ich bin nicht gehindert worden, als ich am 30. Juni gewiesen worden -, daß wir anfänglich gemeinsam nicht mit meiner Fraktion, sondern für den Antrag die Auffassung hatten, keine deutschen Soldaten der Bundesregierung gestimmt habe. nach Jugoslawien zu senden. Der Bundeskanzler hat es uns häufig im Auswärtigen Ausschuß dargelegt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie Doch haben uns die schrecklichen Ereignisse über- des Abg. Rolf Köhne [PDS]) holt; Völkermord und ethnische Säuberungen verlan- Also, meine Damen und Herren, seien Sie hier red- gen andere Entscheidungen. Srebrenica zeugt dra- lich! matisch davon. Auch deshalb halten wir die vorgese- hene Unterstützung und den dafür vorgesehenen Wir gehen auf Grund der bisherigen Erfahrungen, Umfang unserer Streitkräfte grundsätzlich für geeig- der Ergebnisse von Dayton und der Wünsche und net und angemessen. Auch wir können nicht alles Verpflichtungen der Konfliktparteien davon aus, daß tun; aber was wir tun können, müssen wir tun. Deutschland jetzt einen angemessenen Beitrag zum Frieden im ehemaligen Jugoslawien leisten muß. Der Tornado, insbesondere der ECR-Tornado, wird Dazu gehört auch, daß sich die Bundeswehr an der hier immer wieder in den Mittelpunkt der Auseinan- Umsetzung des Friedens beteiligen soll. Auch wir dersetzungen gerückt. Ich glaube, daß der ECR-Tor- wollen, daß unser Land die militärische Sicherung nado im Vergleich zu seiner praktischen Bedeutung des Friedensabkommens durch Sanitäter, Pioniere, in der Situation nach dem Friedensvertrag politisch Logistiktruppen, Transport- und Aufklärungsflug- überbewertet ist, möglicherweise auch - ich sage zeuge unterstützt. Die zur Verfügung gestellten deut- bewußt: möglicherweise - in diesem Antrag als par- schen Einheiten erhalten keinen Kampfauftrag, son- teipolitischer Reflex auf einen Vorgang an einem dern haben den Auftrag, den Frieden zu sichern. So Freitag nachmittag gesehen werden muß, als wir ist der Unterstützungseinsatz unserer Soldaten im abgestimmt haben und Sie, meine Damen und Her- Rahmen von IFOR klar; er ist begrenzt, und er ist ren von der Koalition, in Schwierigkeiten gekommen auch konzentriert. Wir meinen, daß der Entschlie- sind. Denn die ECR-Tornados sind nicht unbedingt ßungsantrag meiner Fraktion ihn besser trifft als der für den Einsatz im ehemaligen Jugoslawien notwen- Antrag der Bundesregierung an das Parlament. Er ist dig. im übrigen auch, Herr Kollege Gerhardt, verantwor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tungsbereit, Im übrigen schützen sie auch nicht die Transall-Flug- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Inkonse zeuge in der vorgesehenen A rt und Weise. Sie lassen quent ist er!) sie ohne ECR-Tornado-Begleitung fliegen. Diese zumindest verantwortungsbereiter, als Sie versucht Inkonsequenz spricht für meine Einschätzung, die haben, hier glauben zu machen. ich soeben vorgetragen habe. Unser Land leistet - bei sicherlich überwiegender (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Unterstützung meiner Fraktion - mit dem Einsatz der Bundeswehr einen notwendigen Schritt, den die Wir dürfen unsere Außenpolitik - darüber müßte in betroffenen Menschen im ehemaligen Jugoslawien diesem Hause Einvernehmen herrschen - nicht auf genauso wollen, wie ihn unsere Verbündeten und einen Flugzeugtyp reduzieren. die Vereinten Nationen von uns erwarten. Dies ist - (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Wer macht das ist gesagt worden - mit zirka 4 000 Soldaten der das denn?) größte Einsatz unserer Streitkräfte seit ihrem Bestehen. Wir halten diese Größenordnung aus zwei Davon hängt auch nicht, Herr Kollege Gerhardt, unsere Bündnis- und Europafähigkeit ab. Im übri- Gründen für angemessen: Zum einen gibt- es genü- gend Staaten, die den Vereinten Nationen und auch gen, meine Damen und Herren, ist die Kernfrage, um der NATO Sicherungstruppen für die Friedenstruppe die es hier geht, der endgültige Frieden im ehemali- „Implementation Force" zur Verfügung stellen wol- gen Jugoslawien. Dafür sollten wir alle gemeinsam len. Diese werden aber, wie wir gehört haben, gar eintreten. nicht alle gebraucht. Wie die Bundesregierung auch (Beifall bei der SPD - Wolfgang Zöller auf unsere Fragen im Verteidigungsausschuß mitge- [CDU/CSU]: Wie wollt ihr denn das?) teilt hat, entspricht der deutsche Beitrag, die logisti- sche Unterstützung und die sanitätsdienstliche Ver- Von großer Wichtigkeit ist für meine Fraktion, ob sorgung der - voraussichtlich - französischen und Grundwehrdienstleistende an diesem Einsatz teil- britischen Truppen, genau dem Anforderungsprofil nehmen sollen oder nicht. Wir begrüßen die Zusiche- der NATO. Die zusätzlich zur Sicherung in Deutsch- rung der Bundesregierung, die bereits in der gestri- land vorgehaltenen Kräfte, Herr Kollege Volmer, sind gen Sitzung des Verteidigungsausschusses gegeben nicht beliebig, sondern sie sind lediglich bis zu einer und heute noch einmal unterstrichen worden ist, daß Größenordnung von 200 Soldaten flexibel, und das dies nicht der Fall sein wird, sondern daß an dem ist Vorsorge für den Schutz der in Jugoslawien Einsatz Zeit- und Berufssoldaten sowie freiwillige befindlichen Soldaten. Wehrpflichtige teilnehmen sollen, die einen freiwilli- gen Wehrdienst von 12 bis 23 Monaten Dauer leisten Zum anderen waren wir uns in diesem Hohen wollen. Haus auch darin einig, daß wir unsere Geschichte zu berücksichtigen haben, insbesondere was das Gebiet Von gleicher Bedeutung für die Sozialdemokratin- des ehemaligen Jugoslawien anbelangt. Sie erinnern nen und die Sozialdemokraten ist, daß unsere Solda- sich - es ist auch heute von unserer Seite darauf hin- ten für ihren Einsatz gründlich vorbereitet und aus- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6461

Walter Kolbow gebildet werden, daß sie die geeignete Ausrüstung Abwesenheit ihres Parteivorsitzenden unbedingt als und Bekleidung für den Einsatz im Winter erhalten Schaden für diese Debatte betrachten. und daß sie für ihre schwierige Aufgabe vor Ort den optimalen Schutz bekommen werden. Darauf haben Es ist eine politische Camouflage, wenn Sie, Herr unsere Soldaten Anspruch. Die militärische und die Verheugen, davon sprechen, es gehe um die techni- politische Führung, aber auch das Parlament müssen sche Frage der Tornados. In Wahrheit geht es darum, das in ihren Kräften Stehende tun, um diesem daß Sie als führender Verteidigungs- und Außenpoli- Anspruch gerecht zu werden. tiker der SPD dazu beitragen müßten, Klarheit in Ihren eigenen Reihen zu schaffen. Dazu hätten Sie Wir werden die morgige Sondersitzung des Vertei- auch auf Parteitagen die Möglichkeit. digungsausschusses dazu nutzen, im einzelnen die Schutzvoraussetzungen zu besprechen, auch in dem (Beifall bei der CDU/CSU) Wissen, daß dieser Einsatz nicht ohne Risiko sein Neben dem, was uns in der Debatte trennt, gibt es wird. Vor uns liegt eine schwierige Mission, die auch durchaus auch Verbindendes. Ich will ausdrücklich Opfer kosten kann. Wir wissen leider, daß bei den auf den Antrag zu sprechen kommen, der interfrak- typischen Blauhelmeinsätzen die meisten Opfer nicht tionell vorgelegt worden ist und der sich mit den Fra- durch Kampfhandlungen zu beklagen sind, sondern gen der materiellen Hilfe, der Wiederaufbauhilfe, der durch Unfälle. Deswegen ist hier besondere Ausbil- Unterstützung und eines Paketes befaßt, zu dem die dungsvorsorge zu treffen. Wir wissen durch Ihre internationale Gemeinschaft verpflichtet ist. Ich Berichte, auch von der verantwortlichen militäri- hoffe, daß alle diese Anforderungen, die wir aufgeli- schen Führung, daß das so in Vorbereitung ist und stet haben, die dankenswerterweise zum großen Teil geschehen wird. im Dayton-Vertrag bereits ihren Niederschlag gefun- Dies wird also alles andere als ein Manöver in Frie- den haben, noch nachgebessert werden können. Ins- denszeiten. Das gilt auch für den deutschen Einsatz. besondere dort, wo es um die Zukunft von Flüchtlin- Der Ernst der Lage verlangt geradezu, daß der Deut- gen, um die Wiedereinsetzung von Menschen in ihr sche Bundestag mit großer überparteilicher Mehr- Eigentum und in ihre Rechtsposition und um die heit für die Beteiligung unserer Soldaten an der Frie- Achtung der Minderheiten geht, müssen wir gut densmission stimmt. Auf diese überparteiliche Mehr- Obacht geben. heit haben unsere Soldaten einen Anspruch. Sie dür- Ich hoffe, daß wir mit dem gleichen Engagement, fen erwarten, daß ihr am Ende auch mit ganz persön- wie es Kollege Schwarz-Schilling und Kollege Duve lichem Risiko behafteter Einsatz für den Frieden eine - ich erwähne bei dieser Gelegenheit Stefan Schwarz breite Rückendeckung im Parlament und in der und andere, die in der letzten Legislaturpe riode noch Öffentlichkeit findet. in diesem Hause waren - gezeigt haben, an die Wir wünschen von ganzem Herzen, daß alle Sache herangehen. Das wollen wir auch zukünftig gesund in die Heimat zurückkehren. Möge dann der gemeinsam ernsthaft weiter tun. Frieden im ehemaligen Jugoslawien von innen her- In der Stunde der positiven Wende sollten wir vier aus entstehen. Erst dann ist die jetzt vorgenommene Lehren nicht vergessen, die wir aus dieser europäi- militärische Einhegung der Konfliktparteien erfolg- schen Katastrophe der 90er Jahre ziehen müssen. reich gewesen. Die erste Lehre ist, daß ethnisch bedingte Konflikte Ich danke für die Geduld. in Europa auch am Ende des 20. Jahrhunderts mög- (Beifall bei der SPD) lich, aber auch absehbar sind und daß Europa in Zukunft nie mehr so zögernd und zaudernd, so un- einig und so spät reagieren darf. Allen Mitgliedern Das Wort hat Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der Europäischen Union, allen, die im nächsten Jahr jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt, Fürth. in der Revisionskonferenz darangehen müssen, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Frau Präsi- Europa straffer, besser und effizienter zu machen, dentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle- muß dies im Gedächtnis sein. gen! Es fällt mir etwas schwer, auf die Ausführungen des Kollegen Kolbow in der Form zu antworten, in Vor einigen Tagen hat ein Kommentator im der es eigentlich geschehen müßte, weil ich weiß, „Figaro" dies völlig zutreffend so formuliert: daß er bei den entscheidenden Abstimmungen, wie Wie schade, daß Europa vor den USA in den Hin- er es schon am 30. Juni mit einigen Kollegen seiner tergrund rücken mußte. Hatte doch Chirac das Fraktion getan hat, zustimmen wird. Ich werde mich Signal für die neue Entschlossenheit gegeben, - um im militärischen Bild zu bleiben - eher den und Juppé war es, der gemeinsam mit dem Chef Nebelkerzen, die Herr Verheugen heute vormittag in der deutschen Diplomatie, Kinkel, den Lösungs- die Debatte geworfen hat, zuwenden. Ich bin aller- plan ersonnen hatte, der von den Unterhändlern dings nicht ganz sicher, ob sie Desorientierung oder in Dayton aufgegriffen wurde. Solange die 15 den Beginn eines taktischen Rückzugs verdecken EU-Staaten nicht den Willen zu einer gemeinsa- sollen. Ich würde es begrüßen, wenn es so wäre. men Sicherheit aufbringen, wird Washington Der Antrag der SPD ist wohl daraus entstanden, auch in Zukunft leider allein entscheiden. daß gewissen Anforderungen des Parteitags Rech- Dem ist nichts hinzuzufügen. nung getragen werden muß. Sicherlich werden nicht alle Mitglieder der SPD-Fraktion die notorische (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 6462 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Christian Schmidt (Fürth) Leider sind wir aus dieser Erkenntnis heraus in die ser für den Wiederaufbau in Bosnien und nicht hier gegenwärtige Situation gekommen. Leider ist noch für den Unterhalt der Flüchtlinge investiert sind. nicht absehbar, daß alle 15 Staaten der Europäischen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Union den Weg zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik konsequent genug gehen. Ich appelliere von dieser Stelle an alle - von Nord bis Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Süd, von Ost bis West -, sich daran zu beteiligen. gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Aber eines ist auch klar: Eine gemeinsame Außen- Rönsch? und Sicherheitspolitik wird es nicht geben, wenn sich Deutschland gemeinsamen, militärisch notwen- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Ja. digen Aktionen mehr oder minder versagt, sich zum Sonderling entwickelt, so wie es Herrn Volmer, Frau Wieczorek-Zeul und Herrn Gysi vorschwebt. Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr Kollege Schmidt, stimmen Sie mit mir überein, daß Zweite Lehre: Dieser Konflikt wird nur mit dem wir die Bürgerkriegsflüchtlinge bitten und auffordern Gestaltungswillen der USA in seiner jetzigen Phase müssen, sich sehr intensiv am Aufbau in ihrem eige- befriedet werden können. Deswegen brauchen wir nen Land zu beteiligen? Stimmen Sie mit mir über- die Amerikaner und ihre politischen, wi rtschaftlichen ein, daß diejenigen, die den Krieg dort überlebt und militärischen Möglichkeiten. Die Entscheidung haben, sehr oft die Kriegsversehrten, die Alten, die von Präsident Clinton, 20 000 Soldaten zu stellen, ist Behinderten, die Schwachen und die Elenden sind, richtig. Da der Kongreß der Vereinigten Staaten noch die diese Aufbauarbeit aus eigener Kraft nicht leisten zögert, möchte ich alle Kollegen in diesem Hause, können und die immer wieder diejenigen Familien- die über persönliche Kontakte zu unseren Kollegen mitglieder brauchen, die das Glück hatten, in im Repräsentantenhaus und im Senat der Vereinig- Deutschland den Kriegswirren zu entgehen? ten Staaten verfügen, auffordern, diese in den näch- sten Tagen anzurufen und sie dringend zu bitten, für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Truppenentsendung zu stimmen. (Fürth) (CDU/CSU): Frau Kolle- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christian Schmidt gin, ich stimme Ihnen deswegen zu, weil in der Tat in Dies ist für die NATO ein Testfall, der zwar nicht zu erster Linie denjenigen, die zwar auch nicht unter einer neuen Weltordnung führen wird, der aber die optimalen Umständen, aber doch unter nicht ver- Grundlage - im Guten wie im Schlechten - für ein gleichbar schlechten Umständen hier in Deutschland sicheres Europa und für eine stabile Weltordnung in in Sicherheit die Zeit abwarten konnten - das ist gut Zukunft legen kann. gewesen -, die Aufgabe erwächst, in ihrem Land denjenigen, die dort geblieben sind, zu helfen. Um noch einmal auf Herrn Zwerenz einzugehen: Die Friedensbewegung hat nichts zur Lösung der Ich hoffe nicht, daß wir über die Frage von Rück- Probleme beigetragen. Die Friedensbewegung hat kehrverpflichtungen diskutieren müssen. Eigentlich abgedankt, weil sie gezeigt hat, daß sie nur dann für müßte es für die betroffenen Bürger aus diesem Land etwas demonstriert, wenn es gegen die USA geht. ein eigener Ansporn sein - ich bin davon überzeugt, Hier wäre die Möglichkeit, Glaubwürdigkeit zurück- es wird so sein -, zurückzukehren und beim Wieder- zugewinnen, gemeinsam mit den USA für die Durch- aufbau des Landes zu hellen, so wie es 1945 in setzung dieses Friedens auch mit militärischen Mit- Deutschland geschehen ist. teln zu demonstrieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dritte Lehre: Jeder Konflikt in Europa, der mit Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Bevölkerungsbewegungen, Vertreibungen und gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten „ethnischen Säuberungen" in Verbindung gebracht Nickels? wird, hat einen unmittelbaren Reflex auf Deutschland. (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Ja. Als begehrtes Einreiseland werden auch bei Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zukünftigen Konflikten Flüchtlinge in großer Zahl Herr Kollege, ich möchte Sie fragen, ob es nicht den Weg nach Deutschland suchen. Wir haben den wichtig ist, daß wir alles vermeiden, den hier überle- Flüchtlingen die Tür nicht versperrt. Eines muß benden Flüchtlingen ein viel schlechteres Gewissen jedoch deutlich sein: Es handelt sich um die Auf- einzureden, als sie es schon haben; denn sehr viele nahme von Kriegsflüchtlingen und nicht um die leben in einer riesengroßen Not und Zerrissenheit Errichtung eines dauerhaften Wohnsitzes. und fühlen sich schuldig, daß sie überlebt haben. Sobald die Voraussetzungen einigermaßen (Beifall bei Abgeordneten der PDS und des geschaffen sind - nicht erst dann, wenn die letzte Abg. Freimut Duve [SPD]) Tapete wieder an den Wänden klebt -, müssen die Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren. Sie sollten Wenn man argumentiert, daß sie jetzt die Pflicht und müssen das auch deswegen tun, weil ihr Land haben, sofort zurückzukehren und zu helfen, selbst sie beim Aufbau braucht und weil die Finanzmittel, wenn die geringsten Möglichkeiten nicht gegeben die von uns auch in Zukunft eingesetzt werden, bes- sind - sie unterstützen ihre Angehörigen von hier aus Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6463 Christa Nickels mit dem wenigen, das sie haben, so intensiv, wie sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat können -, schafft man neue Unsicherheiten. Stim- der Abgeordnete Freimut Duve. Ich bitte insgesamt men Sie mit mir überein, daß man alles tun muß, um um etwas mehr Ruhe. den fatalen Eindruck zu vermeiden, daß man die innere Not noch vergrößern will? Wir müssen beides im Kopf haben: Wir müssen die Rückkehr ermögli- Freimut Duve (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- chen, aber zu vernünftigen Konditionen, und in dem ginnen und Kollegen! Jetzt hat dieser Krieg ein Zeitraum, in dem sie nicht zurückkehren können, Schlußdokument, aber wir wissen: Er ist noch nicht müssen wir sie hier qualifizieren, damit sie dann, wirklich beendet. Der künftige Frieden hat jetzt ein wenn sie zurückkehren, dort um so bessere Aufbau- Anfangsdokument, aber wir wissen: Der Frieden hilfe leisten können. bleibt gefährdet. Es gibt wohl Tausende von Men- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schen in Bosnien, die von dem Treffen in Dayton gar PDS) nichts wissen. Tausende von Verschleppten und Ver- wundeten werden noch gesucht, und Hunderttau- sende hoffen, daß sie noch leben. Wenn sie noch Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Frau Kolle- leben, dann werden ihre Verschlepper ihnen von gin, ich glaube - ich habe das in der Antwort auf die Dayton nichts gesagt haben. Generalsekretär Bou- Frage der Kollegin Rönsch ausgeführt -, daß dies ein tros-Ghali hat gestern noch einmal die Verbrechen eigener Ansporn der bosnischen Bürger, die in unse- bestätigt, derentwegen der Gerichtshof in Den Haag rem Lande leben, sein wird. Anklage erhebt. Die Suche nach den Verschwunde- Jeder von uns hat in seinem Wahlkreis Anfragen nen, das Aufspüren der Verschleppten ist im Dayton von bosnischen Flüchtlingen erhalten. Daß auf die Abkommen festgehalten. Das Internationale Rote humanitäre Situation - Stichwort: Familienzusam- Kreuz und Amnesty International haben sich an uns menführung - und auf die Bedürfnisse von Familien, gewandt. Ich finde es sehr gut, daß Amnesty hier die zusammen geflüchtet sind, Rücksicht genommen sehr aktiv geworden ist und schon einige Punkte zu werden muß, steht außer Zweifel. Dayton veröffentlicht hat. Es darf nur nicht dazu führen - in meinem Wahlkreis (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gab es einen ganz konkreten Fall -, daß man bereits DIE GRÜNEN) über Kirchenasyl diskutiert, weil eine Familie nun wieder zurückgehen muß, was natürlich Trennung Beide Organisationen müssen rasch den ungehin- von der Schule und Abschied vom Leben in Deutsch- derten Zugang für ihre Sucharbeit in allen drei land heißt. Das allein kann der Grund nicht sein. Da, Machtgebieten bekommen. meine ich, muß die Notwendigkeit überwiegen, im eigenen Lande für den Wiederaufbau mit zu sorgen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich komme zum Schluß, Kolleginnen und Kolle- Der Gerichtshof in Den Haag muß den durch Dayton gen, und damit zur vierten Lehre. Wer glaubt, allein Gott sei Dank nicht versperrten Auftrag zu Ende füh- mit Geld, guten Worten und edler Gesinnung solche ren können. Es ist das erstemal seit Nürnberg, daß Konflikte eindämmen zu können, der ist auf dem Elemente eines übernationalen Strafrechts ange- Holzweg. Ich hoffe, daß Jacques Chirac dies Herrn wandt werden. Dieser Schritt darf nicht gebremst Lafontaine gestern noch einmal erklärt hat, damit er werden. nicht weiter auf diesem Holzweg fährt. - Ich bin vor einigen Wochen in der Gemeinde Genauso falsch ist die Vorstellung, die Anerken- Vanovici in einem Lager von Frauen und Kindern aus nung Kroatiens, Sloweniens und Bosniens habe den Srebrenica gewesen. 47 von ihnen lebten in einem Konflikt erzeugt. Der Krieg war vorher da, und er Raum und erzählten von dieser Schreckensreise. war nachher da, weil die Völkergemeinschaft aus der Aber ihre größte Hoffnung war immer noch, daß ihr Anerkennung nicht die notwendigen Schlüsse gezo- Bruder oder ihr Vater oder der 14jährige Sohn, der gen hat. auch aus dem Bus herausgeholt wurde, noch lebt. Sie haben immer noch die schmerzliche Hoffnung, Dieser Krieg ist auch nicht durch Waffenimporte einige der Verschwundenen wiederzufinden. Dabei ausgelöst oder geschürt worden, wie manche es sich müssen wir helfen. bei uns zur Einpassung in das eigene Weltbild zurechtlegen. Man darf sich eben nicht auf den (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem „ohne mich" -Standpunkt zurückziehen. Das ist die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) wichtigste Lehre aus dem Konflikt, der hoffentlich der letzte kriegerische Konflikt in Europa nicht nur in Bei 1,4 Millionen Vertriebenen innerhalb Bosnien diesem Jahrhundert gewesen ist, sondern auch im Herzegowinas und der Region ist die Diskussion nächsten Jahrhundert sein wird. Es liegt an uns, mit über die Rückkehr, die wir jetzt führen müssen, das der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Wichtigste. Wir müssen auch mit den Flüchtlingen etwas dafür zu tun. hier reden. Ich tue das sehr intensiv. Ich schlage vor, Vielen Dank. daß wir Runde-Tisch-Gespräche auch mit den Beam- ten und denjenigen führen, die mit ihnen zu tun (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben. Aber die erste Rückkehrchance muß es für 6464 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Freimut Duve die Menschen in der Region geben, denn sie sind, mat - im wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen auch nach Dayton, in der schlimmsten Lage. Sinne -, Hoffnung schaffen und Angst beseitigen. Die Angst ist ungeheuer groß, auch bei den Men- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schen, die hier nach Bonn, nach oder sonst- GRÜNEN, der F.D.P. sowie bei Abgeordne wohin geflohen sind. ten der CDU/CSU) Es wäre gut - ich glaube, wir würden für einen ent- Der Terror dieses Krieges hat sich gegen den wich- sprechenden Vorschlag sofort eine absolute Mehrheit tigsten Grundwert des Westens gewandt - Herr Dr. hier im Hause bekommen -, wenn die enormen Schwarz-Schilling hat darauf hingewiesen -: die Kosten der Friedenstruppen gespart werden könn- Idee, die Praxis, die Kultur der nicht-völkischen, der ten. Wie viele Häuser könnten mit diesem Geld repa- nicht-ethnischen, religiös nicht gebundenen Demo- riert werden, wie viele Fabriken könnten mit diesem kratie, in der es um die Rechte der Bürger und nicht Geld in Gang gesetzt werden! Aber wir können nicht um die Sonderrechte bestimmter Gruppen geht. beim Wiederaufbau helfen, wenn das Wiederzerstö- Dieser Krieg war Terror gegen diese Idee der Zivili- rungsrisiko nicht gebannt ist. sation. Niemand darf sagen - das war auch nur ein (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem Lapsus linguae des Außenministers heute -, Bosnien BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) würde jetzt ein islamischer Staat. Nein, es wird wie- der ein ziviler Staat, in dem die verschiedenen Reli- Wer das Wiederzerstörungsrisiko nicht bannt, darf gionen geschützt werden. jetzt nicht wiederaufbauen. Denn sonst baut er auf, was möglicherweise schon morgen wieder zerstört (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne wird. Es handelt sich nicht um zwei Seiten der ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Medaille, sondern um einen zivilen Auftrag für die DIE GRÜNEN) Welt, die sich dazu entschlossen hat. Dieser zivile Auftrag muß geschützt werden, damit das Wieder- Der Friedensschluß von Dayton war zwingend not- zerstörungsrisiko gebannt bleibt. wendig, denn der Krieg mußte aufhören. Aber die Übereinkunft akzeptiert auch - das dürfen wir nicht (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem vergessen - die Gewalt der Kriegsergebnisse, näm- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) lich auch ethnisch oder völkisch verstandene neue Was hat sich geändert? Worin liegt der Unterschied Trennungslinien. Er akzeptiert sie mehr als eine große Anzahl von Menschen, die sich auch heute zwischen der bisherigen blauhelmgestützten huma- noch so fühlen, als ständen sie dazwischen, weil sie nitären Überlebenshilfe, in der sich viele zivile Grup- weder Muslime noch Serben noch Kroaten sein wol- pen engagiert haben, und der militärgeschützten len - deren Eltern aber aus diesen Gruppen kom- Wiederaufbauhilfe jetzt? Die bisher geleistete Über- wurde von vielen Empfängern als Ali- men -, sondern sich als Bürger Bosniens fühlen. lebenshilfe mentation empfunden. Jetzt können wir auf den Ich freue mich, Herr Bundesaußenminister, daß die Zukunftswillen der Menschen setzen. Es geht um deutsche Delegation in der Kontaktgruppe - ich Aufbauhilfe, nicht mehr um Alimentation. Das darf schließe mich mit meinem Dank an - so viele Positio- niemand mißverstehen; darum die Konditionierung. nen hat durchsetzen können. Natürlich freue ich Es geht nicht um die Bevorzugung einiger Macht- mich persönlich mit meinen Kollegen, daß Elemente gruppen. Darum kann und darf diese Hilfe nicht der fünf Körbe des KSZE-Prozesses, wie wir das ohne Bedingungen gewährt werden. auch im Ausschuß vorgeschlagen haben, in den Ein Beispiel: Die Rückkehr zur wirtschaftlichen Papieren wiederzufinden sind. In ihnen heißt es zwar Rationalität scheint mir der wichtigste Baustein für nicht „Körbe", sondern „Annexe", aber die- Struktur die noch offene Regelung des Brcko-Korridors. Das ist gleich: In Korb I werden Verfassungsfragen ist ja offengelassen worden. Wenn alle wirk lich behandelt, in Korb II erfolgt die Festlegung der Gren- daran interessiert sind und sich als interessie rt erwei- zen, und in Korb III - der wichtigste Korb - ist die sen, die Wirtschaft und die Infrastruktur wieder funk- Verantwortung aller drei Staaten für ihre Bürger, tionsfähig zu machen, dann lassen sich Fragen eines unabhängig von ihrem derzeitigen Aufenthaltsort, solch komplizierten Verkehrskreuzes wie das von klargestellt worden. Brcko vertraglich relativ leicht regeln. Wir Deutschen Auch die Idee des Flüchtlingssekretariats, aus dem haben mit solchen Regelungen einige Erfahrungen. Parlament heraus entwickelt, findet sich im Dayton Wenn aber eine Seite wieder auf Krieg setzt, dann Papier. Korb IV befaßt sich mit dem - das ist erwähnt instrumentalisiert sie das Verkehrskreuz zur Läh- worden - konditionierten Wiederaufbau. In Korb V mung des Wiederaufbaus. Insofern finde ich es gar hat die Bundesregierung wichtige Forderungen nach nicht so schlecht, daß dieses einem Schiedsprozeß Abrüstung und Rüstungskontrolle eingebracht. vorbehalten bleibt. Dann kann nämlich jeder bewei- Was, meine Damen und Herren, ist in der nächsten sen, ob er den Wiederaufbau wirklich will oder nicht. Zukunft zu tun? Im Grunde genommen geht es um Dafür muß Brcko das Beispiel und das Symbol blei- zwei Dinge: erstens die Rückkehr zur wirtschaftli- ben. chen und sozialen Vernunft in dieser Region, damit - (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zweitens - die Menschen zurückkehren können. Die meisten von ihnen - ich sagte es eben - befinden sich Der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Das Modell innerhalb dieser Region, nicht mehr in ihren Dörfern des Marshallplans gibt eine gute Grundlage. Doch und Städten. Das bedeutet: Wiederaufbau der Hei- Aussicht auf langfristigen Erfolg entwickelt sich nur, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6465

Freimut Duve wenn von Anfang an eines klar ist: Der Marshallplan sen neuen Ländern, die noch viele, zum Teil jahrhun- darf von niemandem als vergoldeter Marschallstab dertealte Konflikte miteinander haben, größer wer- für die eigene militärische Karriere mißbraucht wer- den. Das wird zu einer Renationalisierung der den. Das heißt, die Mafia-Gefahren, die darin liegen Sicherheitspolitik führen, zu einer Renationalisie- - auch für die ehemals militärisch Mächtigen -, müs- rung, die wir in Europa seit Jahrzehnten überwun- sen von uns mit gebannt werden. den glaubten. Das kann in diesem Hause doch wohl niemand im Ernst wollen. Auch aus diesem Grunde Auch die Rückkehr der Vertriebenen und Flücht- ist der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Frie- linge wird Jahre dauern. Deshalb ist es so bedauer- denstruppe der Vereinten Nationen wichtig und rich- lich, daß wir vorzeitig diese für die Flüchtlinge fal- tig. sche Debatte führen. Wir müssen mit ihnen, aber nicht hier im Parlament über sie reden. (Beifall bei der CDU/CSU) Als der Krieg bei uns in Deutschland zu Ende Unsere Soldaten werden zunächst für zwölf gegangen war - viele von uns waren zu dem Zeit- Monate ihren Dienst am Frieden im Bereich des ehe- punkt Kinder -, setzte sich irgendwann in den 50er maligen Jugoslawiens tun. Ich muß Ihnen ganz offen Jahren der Satz durch: Zeit ist Geld. Ich erinnere sagen: Mich haben in den letzten Tagen bei vielen mich, wie merkwürdig ich diesen Satz fand, als ich Gesprächen mit den Soldaten der Einheiten, die dort ihn zum erstenmal hörte. Für die Nachkriegssituation hingehen werden, die Ernsthaftigkeit und die Beson- Bosniens muß gelten: Zeit ist Frieden. Dieser Prozeß nenheit beruhigt, mit denen sich die Soldaten auf braucht Zeit. diesen Auftrag vorbereiten. Wir sollten dabei nicht vergessen: 4 000 Soldaten bedeuten auch 4 000 (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Familien - Mütter, Väter, Kinder -, die von unserer Zeit wird wichtiger sein als einzelne Landfragen. Je Entscheidung direkt betroffen sind. Auch denen rascher der Wiederaufbau begonnen wird, je länger gegenüber übernehmen wir mit unserer heutigen er projektiert wird, desto größer wird die Chance für Entscheidung Verantwortung - Verantwortung dafür, einen dauerhaften Frieden. daß wir alles tun, um den Auftrag der Soldaten so sicher wie möglich zu gestalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch DIE GRÜNEN) einen Satz sagen: Nicht zuletzt dank des Umstandes, daß wir eine Wehrpflichtarmee haben, können wir feststellen, daß die Diskussion um den Einsatz unse- Das Wort hat Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rer Soldaten in viele Familien in unserem Lande jetzt der Abgeordnete Thomas Kossendey. getragen worden ist. Das macht die politische Ent- scheidung über diesen Einsatz sehr viel schwieriger. Thomas Kossendey (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Das ist aber gut so. Es ist besser, als wenn wir eine Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich Armee aus Zeit- und Berufssoldaten hätten. aus der Sicht unserer Fraktion einige abschließende Bemerkungen zum Thema der heutigen Debatte (Beifall bei Abgeordneten der SPD) machen. Als Demokrat sage ich Ihnen: Jeder Einsatz von Sol- Erstens. Wir sagen ja zu einer Bundeswehrbeteili- daten unseres Landes verdient es, im Parlament gung an der Friedensmission der Vereinten Natio- ernsthaft diskutiert zu werden. Der Umstand, daß wir nen - nicht etwa, weil wir diese Regierung mit ihrem eine Wehrpflichtarmee haben, zwingt uns diese Dis- Antrag stützen wollen, sondern aus tiefer -Verantwor- kussion geradezu auf; denn sie wird in jeder Familie tung gegenüber den Menschen in dieser Region. geführt werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU - Unruhe) ordneten der F.D.P.) Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wer die Möglichkeit Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord- hat, durch den Einsatz von Soldaten das Völkermor- neter, einen Moment. - Ich bitte die Kollegen um den in dieser Region zu beenden, diese Möglichkeit etwas mehr Ruhe. Das ist zwar schwierig, wenn eine aber nicht nutzt, handelt zutiefst verwerflich. Abstimmung bevorsteht. Ich bitte aber darum, daß Sie auch diesem Redner zuhören und die Gänge frei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU machen. und der F.D.P.) Jetzt haben Sie wieder das Wort. Wenn sich die Völkergemeinschaft als unfähig erweisen sollte, in diesen und andere regionale Kon- flikte ordnend einzugreifen, dann werden wir erle- Thomas Kossendey (CDU/CSU): Der Einsatz ben, daß die vielen sich neu bildenden Staaten in unserer Soldaten, liebe Kolleginnen und Kollegen, Mittel- und Osteuropa in Zukunft ihre Sicherheit wäre aber weniger wert, wenn es nicht gelänge, pa- selbst in die Hand nehmen wollen, daß sie den kol- rallel zu der militärischen Aktion mit dem Frieden lektiven Sicherheitssystemen nicht mehr vertrauen zwischen den ethnischen und den religiösen Grup- werden. Das wird in diesen Ländern zu einem pen zu beginnen. Dazu gehört auch, daß wir die Rüstungsboom führen, der Geld in falsche Kanäle Ursache für die Konflikte auf dem Balkan erkennen lenkt. Das wird dazu führen, daß die Risiken in die- und analysieren. 6466 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Thomas Kossendey Gestern vor 50 Jahren - das ist einigen entgangen - Ich sage Ihnen: Wenn niemand hingeht, dann wird ist die Republik Jugoslawien gegründet worden, das Völkermorden weitergehen. nach einem Bürgerkrieg in dieser Region, der mehr Opfer gefordert hat als der parallel dazu stattfin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dende Zweite Weltkrieg. Zu Beginn der Republik Wenn niemand eingreift, dann werden sich die Men- Jugoslawien sind diese zum Teil uralten Gegensätze schen aus ethnischen Gründen weiter zerfleischen. verkleistert und verdrängt worden. Die Unterdrük- Wenn niemand hingeht, dann werden die Menschen kung der kulturellen, ethnischen und religiösen wegen ihrer Rasse und Religion weiter verfolgt wer- Identitäten hat zu dieser Explosivkraft geführt, mit den. der dort in den letzten fünf Jahren das Morden unter- einander losgegangen ist. Das alles sollte die Zweifelnden bewegen, ihre ablehnende Haltung zu überdenken. Ich appelliere Wenn die Vereinten Nationen jetzt versuchen, mit daher an Sie alle: Geben Sie unseren Soldaten auf Militär die Kriegsparteien auseinanderzuhalten, diesem schwierigen Weg ein möglichst breites dann ist das nur ein Teil der Arbeit. Der wesentli- Votum dieses Parlaments mit. Stimmen Sie aus Ver- chere Teil besteht in der Friedensarbeit vor Ort. Die antwortung dem Antrag der Regierung zu, der von Soldaten sichern lediglich den Rahmen für diese Vernunft und Augenmaß geprägt ist. Friedensarbeit. Schönen Dank. Ich warne davor, die Friedensarbeit lediglich unter dem Gesichtspunkt des Geldes zu sehen. Friedensar- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) beit in Ex-Jugoslawien ist mehr als Investitionsförde- rung. Friedensarbeit in dieser Region heißt vielmehr: viele kleine Mostars mit vielen Menschen, die ein Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe gleiches Engagement wie Hans Koschnick an den damit die Aussprache. Tag legen. Friedensarbeit heißt aber auch, die Erfah- Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- rungen, die wir mit der Westeuropäischen Union, mit ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache der NATO und der Europäischen Union in Westeu- 13/3135. Gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung hat ropa in den letzten Jahrzehnten machen konnten, an der Abgeordnete das Wo rt zu einer eine Region weiterzugeben, deren Menschen sich Erklärung zur Abstimmung verlangt. zutiefst nach Frieden sehnen. Der Einsatz unserer Soldaten zielt darauf ab, die Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE sich kriegerisch gegenüberstehenden Gruppen aus- GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- einanderzuhalten. Erfüllt wird der Sinn dieses Einsat- ren! Wir werden nächste Woche am Mittwoch eine zes aber erst dann, wenn es uns gelingt, den Frieden sehr, sehr schwierige und sehr wichtige Entschei- zu fördern. Frieden ist nämlich mehr als die Abwe- dung zu treffen haben. Ich bedaure, daß bereits in senheit von Krieg. dieser Woche so etwas wie eine Vorabstimmung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge stattfindet, aber es ist das gute Recht jeder Fraktion ordneten der F.D.P.) hier im Haus, einen solchen Antrag zu stellen. Die Ansätze dazu, die in vielen Verträgen festge- Ich möchte Ihnen nur mein Abstimmungsverhalten legt worden sind, müssen ernsthaft und schnell mit erklären. Wie Sie wissen, haben wir eine entspre- Leben erfüllt werden. Zwölf Monate können eine chende Diskussion auf unserem Bundesparteitag. verdammt kurze Zeit sein. Jede jetzige Entscheidung in der Sache wäre eine - Vorfestlegung dieser Diskussion. Die Fraktion hat Lassen Sie mich zu den kritischen Stimmen, die sich entschieden, und auch ich habe mich entschie- von der PDS und auch von den Grünen gekommen den. sind, einiges sagen. Liebe Frau Nickels - wir kennen uns lange -, ich möchte eines sagen: Den Alleinver- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Sie tretungsanspruch auf Friedenspolitik, den Sie und unterliegen nur Ihrem Gewissen als Abge manche andere in Ihrer Partei erheben, halte ich für ordneter!) zutiefst unmoralisch, weil er alle anderen in diesem Parlament ausgrenzt. - Hören Sie es doch erst einmal an. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ich habe mich entschieden, mich in der Abstim- sowie bei Abgeordneten der SPD) mung jetzt zu enthalten. Das ist keine Festlegung in der Sache. Ich werde nächsten Dienstag meine Als ich in den letzten Jahren bei sogenannten Frie- abschließende Meinung bilden, ebenso andere in der densdemonstrationen in Deutschland Aufkleber mit Fraktion. Wir werden am Mittwoch dann gemeinsam dem verstümmelten Brecht-Zitat „Stellt euch vor, es unsere Entscheidung zu treffen haben. ist Krieg, und niemand geht hin" gesehen habe, habe ich gedacht: Das werden wir auf die Probe stel- (Günther Fried rich Nolting [F.D.P.]: Das ist len. Ich habe mir wie auch viele andere Deutsche der Gewissenhafte!) vorgestellt, was wohl in Jugoslawien passiert wäre, Andere werden an dieser Abstimmung aus densel- wenn sich niemand bereit erklärt hätte, dort hinzuge- ben Gründen nicht teilnehmen. hen. Jeder Deutsche hat das in den letzten Jahren abends am Fernseher verfolgen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6467

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Fraktion der - zu der Unterrichtung durch die Bundesre- CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich gierung bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Vorschlag für eine Richtlinie des Rates vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen über die Entsendung von Arbeitnehmern besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich jetzt die im Rahmen der Erbringung von Dienstlei- Abstimmung. stungen (Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) - Drucksachen 13/768, 13/786, 13/725 Nr. 135, 13/3155 - Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ist noch ein Mit- glied des Hauses da, das seine Stimme nicht abgege- Berichterstattung: ben hat? - Kann ich davon ausgehen, daß alle Anwe- Abgeordnete Leyla Onur senden abgestimmt haben? - Das scheint der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte - Zweite und dritte Beratung des von den Ab- die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. geordneten Ottmar Schreiner, Hans Büttner Meine Damen und Herren, das Ergebnis der Abstim- (Ingolstadt), Rudolf Dreßler, weiteren Abge- mung wird Ihnen später bekanntgegeben.*) ordneten und der Fraktion der SPD einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur An- Wir setzen jetzt die Beratungen fo rt. Es ist bean- gleichung der Arbeitsbedingungen bei der tragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Entsendung von Arbeitnehmern (Entsen- Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 13/3136 zu überweisen, und zwar zur federführenden Bera- degesetz) tung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an - Drucksache 13/2418 - den Rechtsausschuß sowie an den Auswärtigen Aus- schuß. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die (Erste Beratung 58. Sitzung) Überweisung so beschlossen. - Zweite und dritte Beratung des vom Bun- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla- desrat eingebrachten Entwurfs eines Geset- gen auf den Drucksachen 13/2978 (neu), 13/3078, 13/ zes zur Angleichung der Arbeitsbedingun- 3122 und 13/3127 an die in der Tagesordnung aufge- gen bei der Entsendung von Arbeitneh- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie auch mern (Entsendegesetz) damit einverstanden? - Das ist so. Dann sind die - Drucksache 13/2834 - Überweisungen so beschlossen. (Erste Beratung 69. Sitzung) Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a und b Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- auf: schusses für Arbeit und Sozialordnung a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (11. Ausschuß) desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingun- - Drucksache 13/3155 - gen bei grenzüberschreitenden Dienstleistun- Berichterstattung: gen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz - AEntG) Abgeordnete Leyla Onur -Drucksachen 13/2414, 13/2839 - Zum Gesetzentwurf der SPD liegt ein Änderungs- (Erste Beratung 58. Sitzung) antrag der Gruppe der PDS vor. b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Berichts des Ausschusses für Arbeit und So- Aussprache über den Gesetzentwurf der SPD zialordnung (11. Ausschuß) namentlich abstimmen werden. - zu dem Antrag der Abgeordneten Hans Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für Büttner (Ingolstadt), Leyla Onur, Ottmar die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden Schreiner, weiterer Abgeordneter und der vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist Fraktion der SPD es so beschlossen. Geänderter Vorschlag der Europäischen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Kommission für eine Richtlinie des Rates Bundesminister Norbe rt Blüm. über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstlei- stungen Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und - zu dem Antrag der Abgeordneten Annelie Herren! Das Thema, über das wir beraten, ist für die Buntenbach und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Bauwirtschaft, die Arbeitgeber und die Arbeitneh- DIE GRÜNEN mer, ein elementares Thema, ein Überlebensthema. Grundsätze für eine EU-Entsenderichtlinie Wir antworten auf einen Notruf. Das Baugewerbe sowie eine nationale Regelung bis zu de- befindet sich in großer Bedrängnis. ren Realisierung (Siegfried Scheffler [SPD]: Dem kann man *) Seite 6469 D sogar zustimmen!) 6468 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 Bundesminister Dr. Norbert Blüm 1995 gab es im Baugewerbe einen Rückgang der kann das nicht. Deshalb kann das nicht die Lösung Zahl der Beschäftigten um 5 Prozent. 40 000 Arbeits- des Problems sein. plätze sind in einem Jahr verlorengegangen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eine Insolvenzwelle überflutet die Bauwirtschaft. Wir haben seit 1992 eine 24prozentige Steigerung Wir brauchen dieses Entsendegesetz auch, weil der Insolvenzen in den alten Bundesländern und sonst die europäische Integration, für die wir sind, eine 90prozentige Steigerung in den neuen Bundes- ein gigantisches Lohndumping bedeuten würde. ländern. Dagegen haben hierzulande Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam gekämpft. Wenn wir Wer es gut meint mit dem Mittelstand, und zwar das Entsendegesetz nicht einführen, dann können nicht nur mit Lippenbekenntnissen, nicht nur mit wir die Tarifverträge in den Papierkorb werfen. Worten, sondern auch mit Taten, der muß dem Ent- Wenn das nicht geregelt wird, dann brauchen wir sendegesetz zustimmen. keinen Tarifvertrag mehr. Dann verliert der Tarifver- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!) trag seine Regelungsmächtigkeit, weil ein Großteil der Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihm dann nicht Wir waren und sind der Meinung, daß die europäi- unterliegt. sche Lösung die bessere Lösung ist. Keine Regierung hat sich für diese europäische Lösung mehr einge- Ohne das Entsendegesetz wird der deutsche Bau- setzt als die unsrige - keine! Es gibt dafür aber aus bereich nicht wettbewerbsfähig. Ohne Entsendege- naheliegenden Gründen keine Mehrheit, weil einige setz besteht die große Gefahr einer antieuropäischen Länder an der Entsendung interessiert sind. Deshalb Stimmung. Wer das nicht will, und wer nicht will, daß haben andere Länder - die Franzosen, die Belgier, Europa in die Kritik gerät, weil es bewäh rte Mecha- die Österreicher und die Luxemburger - nationale nismen unserer sozialen Ordnung einschließlich des Regelungen getroffen, und wir folgen ihnen. Ich bin Tarifvertrages aushöhlt, der muß für eine Übergangs- sicher: Je mehr Länder die nationale Notbremse zie- zeit - um mehr handelt es sich nicht - ein Entsende- hen, um so größer wird die Chance für eine europäi- gesetz wollen. Die beiden Alternativen zum Entsen- sche Regelung. degesetz wären, daß entweder der ausländische Kol- lege, der das gleiche arbeitet, um seinen gerechten Ich finde, daß dieses Entsendegesetz ganz beson- Lohn betrogen würde oder daß der deutsche Kollege ders für die kleinen und mittleren Betriebe wichtig arbeitslos würde. ist. Die großen können sich zur Not helfen. Sie grün- den eine Tochterfirma im europäischen Ausland und Der Regierungsentwurf ist praktikabel. Wir schla- kommen dann mit Billigtrupps hierher. Das Entsen- gen keine perfekte Regelung vor. Die unterste Lohn- degesetz ist ein Gesetz zur Rettung des Mittelstands gruppe wird festgeschrieben. Das ist sozusagen ein und des Bauhandwerkes. tarifvertraglicher Mindestlohn, kein staatlicher. Wir übernehmen nicht das gesamte Tarifgefüge, wie es (Beifall bei der CDU/CSU) im Gesetzentwurf der SPD enthalten ist. Wir nehmen Da geht es nicht nur um Bau, sondern da geht es nicht den ortsüblichen Lohn als Maßstab. Denn - das auch um Soziale Marktwirtschaft. Denn ohne eine frage ich ohne jede Häme, sondern nur wegen der Struktur, in der die kleinen und mittleren Betriebe Praktikabilität die Sozialdemokraten -: Wie wollen eine Überlebenschance haben, gibt es keine Soziale Sie den ortsüblichen Lohn feststellen? Das ist ja nicht Marktwirtschaft. der Tariflohn. Es gibt ja auch Arbeitgeber, die dem Tarifvertrag nicht unterliegen. Wer soll das feststel- Ich bleibe bei dem Satz: Wenn es dem Mittelstand len? Dann muß ja das gesamte komplizierte Tarifge- gutgeht, geht es den Arbeitnehmern gut, und wenn füge überprüft werden. Das halte ich, gelinde gesagt, es den Arbeitnehmern gutgeht, geht es dem Mittel- für nicht praktikabel. stand gut. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Liebe sozialdemokratischen Kolleginnen und Kol- Insofern können wir uns da gar nicht auseinanderdi- legen, ich halte Ihren Gesetzentwurf auch für euro- vidieren lassen. parechtlich bedenklich; denn an den ortsüblichen Wir wollen Freizügigkeit und fairen Wettbewerb. Lohn wäre dann der ausländische Anbieter gebun- Dies ist kein Gesetz, bei dem die Rolläden herun- den, der deutsche Bauunternehmer, der nicht tarifge- tergelassen werden. Dies ist kein Gesetz für die bunden ist, aber nicht. Dies wäre nach dem Europa- Festung Deutschland. Jeder kann hier arbeiten. Die recht eine Diskriminierung ausländischer Anbieter. Voraussetzung ist nur, daß er das zu den gleichen (Rudolf Bindig [SPD]: Dummes Zeug!) Bedingungen wie sein deutscher Kollege kann. Das ist fairer Wettbewerb. Es kann doch kein fairer Wett- - Das ist kein dummes Zeug, sondern Europarecht. bewerb sein, wenn die einen für einen portugiesi- Das europäische Recht besagt relativ klar, daß kein schen Stundenlohn von 4 DM arbeiten, während die ausländischer Anbieter diskriminiert werden darf. Es anderen für das Fünffache arbeiten. Dann müßten gibt deutsche Arbeitgeber, die nicht dem Tarifvertrag auch die deutschen Bauarbeiter auf 4 DM runterge- unterliegen und deshalb auch nicht den ortsüblichen hen. Gibt es jemanden hier im Saal, der das für reali- Lohn zahlen müssen. Deshalb wäre ein Ausländer an stisch hält? Ein portugiesischer Bauarbeiter kann mit diesen ortsüblichen Lohn gebunden, nicht aber ein 4 DM Stundenlohn möglicherweise seine in Portugal deutscher Unternehmer, der nicht tarifgebunden ist. lebende Familie ernähren, ein deutscher Maurer So einfach ist das. Wir dagegen bleiben beim Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6469

Bundesminister Dr. Norbert Blüm stetbewährten einen System des Beitrag Tarifvertrages, zur und zwar Verbandsflucht. mit Ich bin nicht seiner untersten Lohngruppe. an Verbandsflucht interessiert, weder auf seiten der Gewerkschaften noch auf seiten der Arbeitgeber. Ich kann auch nicht empfehlen, nach einem staatli- Auf beiden Seiten brauchen wir starke, verabre- chen Mindestlohn zu rufen. Das wäre nämlich die dungsfähige Partner. Aber die Mindestbedingung Abkehr von der bewäh rten Tradition, daß sich der Staat nicht ins Tarifgeschäft begibt. dieser Partnerschaft ist, daß es innerverbandliche Solidarität gibt und daß man auch in Notzeiten (Zustimmung bei der CDU/CSU) einem in Not befindlichen Mitglied beisteht. Deshalb mein Appell. Wenn er Mindestlöhne festsetzte, wäre es der Anfang der Unterhöhlung der Tarifautonomie. Dann Gerade der Baubereich, der in Bedrängnis ist, der müßte er nämlich nach jedem Tarifvertrag den Min- aber in der letzten Zeit auf beiden Seiten, auf Arbeit- destlohn neu bestimmen und wäre sozusagen Pa rt nehmer- wie auf Arbeitgeberseite, bewiesen hat, daß -ner von Lohnforderungen. Das haben wir uns in der er zum Umbau fähig ist, und zwar mehr als andere, Nachkriegszeit erspart, und das war gut. die darüber reden, die viele Worte machen, hat einen Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich halte konkreten Beitrag zum Umbau geleistet. Er hat das es für richtig, daß neben dem Bauhauptgewerbe Schlechtwettergeld mit Opfern von beiden Seiten auch das Bauausbaugewerbe einbezogen wird. Im selbst geregelt. Da wünsche ich mir, daß dieses gute Bauhauptgewerbe sind 1,4 Millionen Menschen Beispiel von Pa rtnerschaft Schule macht. Diese Bran- beschäftigt, im Bauausbaugewerbe zwischen 500 000 che darf nicht im Stich gelassen werden. und 700 000. Im Bauausbaugewerbe sind ganz be- Ich bitte um Ihre Zustimmung, damit wir den Bau- sonders die kleinen und mittleren Betriebe betroffen. bereich nicht im Stich lassen. Ich bitte auch wieder aus Gründen der Praktikabi- lität zu bedenken, daß ein Bau nicht nur der Rohbau (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ist. Ein Bau ist eine Arbeitsstätte, auf der Installa- ordneten der F.D.P.) teure, Elektriker, Glaser, Fußbodenleger usw. arbei- ten. Die einen hätten also die Entsendegesetzgebung Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bevor ich dem und die anderen nicht. Wer wollte es im Ernstfall aus- nächsten Redner das Wort gebe, komme ich noch einanderhalten, wenn jemand sagt, er lege gar kei- einmal zum Tagesordnungspunkt 3 zurück. Ich gebe nen Fußboden, er sei Maurer? das von den Schriftführerinnen und Schriftführern Ich bin immer dafür, daß wir bei unserer Gesetzge- ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bung nicht nur die Perfektion der Paragraphen im über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD Auge halten, sondern das Leben. Deshalb halte ich auf Drucksache 13/3135 bekannt. Abgegebene Stim- es für gut, daß wir nach der Beratung - man kann ja men: 615; mit Ja haben 207 gestimmt, mit Nein 351, auch im Zuge der Gesetzgebung klüger werden - Enthaltungen: 57. nicht nur das Bauhauptgewerbe, sondern auch das Bauausbaugewerbe mit einbeziehen. Endgültiges Ergebnis Anni Brandt-Elsweier Dr. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Abgegebene Stimmen: 615; ordneten der F.D.P.) davon Hans Martin Bury Es bleibt dabei: Es ist eine Übergangslösung. ja: 207 Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen nein: 351 Sie ist auch deshalb sachlich beschränkt, weil ein Peter Conradi Unterschied besteht zwischen einem Billigimport,- enthalten: 57 Dr. Herta Däubler-Gmelin der im Ausland hergestellt wird, und einem Produkt, Christel Deichmann das in einem hier ansässigen Bet rieb entsteht. Letzte- Ja Peter Dreßen rer nimmt auch die deutsche Infrastruktur in Rudolf Dreßler Anspruch, angefangen von den Straßen bis hin zum Freimut Duve Telefon. Insofern ist das Inland auch anders zu CDU/CSU Ludwig Eich behandeln, zumal der alte Grundsatz „gleicher Lohn Peter Enders für gleiche Arbeit am gleichen Ort" ein elementares Michael Wonneberger Gernot Erler Gesetz unserer Lohnfindung ist. Wenn wir ihn nicht Petra Ernstberger beachteten, würde über die Hintertür Europas eine Annette Faße SPD Elke Ferner große Verwirrung in Deutschland entstehen, die ver- Lothar Fischer (Homburg) mehrte Insolvenzen in einer bedrängten Branche, mehr Arbeitslose und höhere Ausgaben für Arbeits- Gerd Andres Iris Follak lose zur Folge hätte. Wer es gut meint, soll deshalb Hermann Bachmaier Norbert Formanski zustimmen. Anke Fuchs (Köln) Ich appelliere auch an die Arbeitgeber, sich nicht Ingrid Becker-Inglau Katrin Fuchs (Verl) einer Allgemeinverbindlichkeit zu entziehen. Ich Wolfgang Behrendt Arne Fuhrmann will doch einmal sehen, ob eine solche Solidaritäts- Hans Berger Monika Ganseforth verweigerung gegenüber einem Verband durchzu- Hans-Werner Bertl Konrad Gilges halten ist. Das sage ich auch im Interesse des Arbeit- Friedhelm Julius Beucher Iris Gleicke Rudolf Bindig geberverbandes insgesamt. Ein Arbeitgeberverband, Günter Gloser Dr. Ulrich Böhme (Unna) Dr. der ein in Not befindliches Mitglied im Stich läßt, lei- Arne Börnsen (Ritterhude) Günter Graf (Friesoythe) 6470 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Angelika Graf (Rosenheim) Albrecht Papenroth Jochen Welt Michaela Geiger Dieter Grasedieck Dr. Willfried Penner Hildegard Wester Achim Großmann Dr. Lydia Westrich Dr. Heiner Geißler Karl Hermann Haack Georg Pfannenstein Inge Wettig-Danielmeier (Extertal) Dr, Eckhart Pick Dr. Norbert Wieczorek Wilma Glücklich Hans-Joachim Hacker Karin Rehbock-Zureich Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Reinhard Göhner Klaus Hagemann Margot von Renesse Dieter Wiefelspütz Peter Götz Manfred Hampel Renate Rennebach Dr. Dr. Wolfgang Götzer Christel Hanewinckel Dr. Edelbert Richter Hanna Wolf (München) Joachim Gres Alfred Hartenbach Reinhold Robbe Heidi Wright Kurt-Dieter Grill Dr. Liesel Hartenstein Gerhard Rübenkönig Wolfgang Gröbl Klaus Hasenfratz Dr. Hansjörg Schäfer Dr. Christoph Zöpel Hermann Gröhe Dr. Ingomar Hauchler Gudrun Schaich-Walch Claus-Peter Grotz Dieter Heistermann Dieter Schanz Reinhold Hemker Nein Horst Günther (Duisburg) Roll Hempelmann Bernd Scheelen Carl-Detlev Freiherr von Dr. Barbara Hendricks Dr. Hammerstein Monika Heubaum Siegfried Scheffler CDU/CSU Reinhold Hiller (Lübeck) Horst Schild (Großhennersdorf) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Dieter Schloten Rainer Haungs Jelena Hoffmann (Chemnitz) Günter Schluckebier Otto Hauser (Esslingen) Frank Hofmann (Volkach) Horst Schmidbauer Jürgen Augustinowitz Hansgeorg Hauser Ingrid Holzhüter (Nürnberg) Dietrich Austermann (Rednitzhembach) Eike Hovermann Ursula Schmidt (Aachen) Heinz-Günter Bargfrede Klaus-Jürgen Hedrich Gabriele Iwersen (Meschede) Manfred Heise Renate Jäger Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Dr. Dr. Renate Hellwig Jann-Peter Janssen Regina Schmidt-Zadel Ernst Hinsken Ilse Janz Heinz Schmitt (Berg) Dr. Sabine Bergmann-Pohl Dr. Uwe Jens Dr. Emil Schnell Hans-Dirk Bierling Josef Hollerith Volker Jung (Düsseldorf) Walter Schöler Dr. Joseph-Theodor Blank Dr. Karl-Heinz Hornhues Sabine Kaspereit Ottmar Schreiner Siegfried Hornung Susanne Kastner Dr. Mathias Schubert Dr. Joachim Hörster Hans-Peter Kemper Schuhmann Richard Hubert Hüppe Klaus Kirschner (Delitzsch) Dr. Norbert Blüm Peter Jacoby Marianne Klappert Reinhard Schultz Susanne Jaffke Dr. Hans-Hinrich Knaape (Everswinkel) Dr. Maria Böhmer Georg Janovsky Walter Kolbow Volkmar Schultz (Köln) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Helmut Jawurek Fritz Rudolf Körper Ilse Schumann Dr.-Ing. Rainer Jork Nicolette Kressl Dr. R. Werner Schuster Dr. Wolfgang Bötsch Michael Jung (Limburg) Thomas Krüger Dietmar Schütz (Oldenburg) Klaus Brähmig Ulrich Junghanns Eckart Kuhlwein Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Egon Jüttner Konrad Kunick Ernst Schwanhold Dr. Harald Kahl Christine Kurzhals Bodo Seidenthal Bartholomäus Kalb Dr. Uwe Küster Lisa Seuster Hartmut Büttner Steffen Kampeter Werner Labsch Johannes Singer (Schönebeck) Dr.-Ing. Dietmar Kansy Brigitte Lange Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Detlev von Larcher Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Emstek) Irmgard Karwatzki Robert Leidinger Wieland Sorge Klaus Lennartz Wolfgang Spanier (Nordstrand) Peter Keller Dr. Elke Leonhard Dr. Dietrich Sperling Klaus Lohmann (Witten) Jörg-Otto Spiller Dr. Bernd Klaußner Dieter Maaß (Herne) Antje-Marie Steen Hans Klein (München) Winfried Mante Albert Deß Ulrich Klinkert Ulrike Mascher Dr. Peter Struck Hans-Ulrich Köhler Joachim Tappe (Hainspitz) Ingrid Matthäus-Maier Jörg Tauss Werner Dörflinger Manfred Kolbe Heide Mattischeck Dr. Bodo Teichmann Hansjürgen Doss Norbert Königshof en Markus Meckel Dr. Gerald Thalheim Dr. Alfred Dregger Eva-Maria Kors Ulrike Mehl Maria Eichhorn Hartmut Koschyk Dietmar Thieser Manfred Koslowski Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Franz Thönnes Thomas Kossendey Ursula Mogg Uta Titze-Stecher Heinz Dieter Eßmann Rudolf Kraus Siegmar Mosdorf Hans-Eberhard Urbaniak Wolfgang Krause (Dessau) Michael Müller (Düsseldorf) Siegfried Vergin Andreas Krautscheid Jutta Müller (Völklingen) Günter Verheugen Arnulf Kriedner Christian Müller (Zittau) (Pforzheim) Heinz-Jürgen Kronberg Volker Neumann (Bramsche) Karsten D. Voigt (Frankfurt) Dr. Karl H. Fell Dr.-Ing. Paul Krüger Dr. Edith Niehuis Hans Georg Wagner Ulf Fink Reiner Krziskewitz Dr. Rolf Niese Hans Wallow Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Hermann Kues Doris Odendahl Dr. Konstanze Wegner (Unna) Günter Oesinghaus Wolfgang Weiermann (Hamburg) Dr. Karl A. Lamers Leyla Onur Reinhard Weis (Stendal) (Heidelberg) Manfred Opel Matthias Weisheit Dr. Gerhard Friedrich Adolf Ostertag Gunter Weißgerber Erich G. Fritz Dr. Kurt Palis Gert Weisskirchen (Wiesloch) Hans-Joachim Fuchtel Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6471

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Dr. Dr. Jürgen Warnke PDS Herbert Lattmann Hannelore Rönsch Kersten Wetzel Dr. Paul Laufs (Wiesbaden) Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Wolfgang Bierstedt Karl-Josef Laumann Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Petra Bläss Werner Lensing Dr. Klaus Rose Bernd Wilz Maritta Böttcher Kurt J. Rossmanith Willy Wimmer (Neuss) Eva Bulling-Schröter Peter Letzgus Adolf Roth (Gießen) Dr. Ludwig Elm Editha Limbach Norbert Röttgen Simon Wittmann Dr. Dagmar Enkelmann Walter Link (Diepholz) Dr. Christian Ruck (Tännesberg) Dr. Eduard Lintner Volker Rühe Dagmar Wöhrl Dr. Dr. Klaus W. Lippold Dr. Jürgen Rüttgers Elke Wülfing Dr. Uwe-Jens Heuer (Offenbach) Roland Sauer (Stuttgart) Peter Kurt Würzbach Dr. Barbara Höll Dr. Manfred Lischewski Ortrun Schätzle Ulla Jelpke Wolfgang Lohmann Dr. Wolfgang Schäuble Wolfgang Zeitlmann Gerhard Jüttemann (Lüdenscheid) Hartmut Schauerte Wolfgang Zöller Dr. Heidi Knake-Werner Julius Louven Heinz Schemken Rolf Köhne Sigrun Löwisch Karl-Heinz Scherhag Andrea Lederer Gerhard Scheu SPD Dr. Dr. Michael Luther Norbert Schindler Heidemarie Lüth Erich Maaß (Wilhelmshaven) Dietmar Schlee Uwe Hiksch Dr. Günther Maleuda Dr. Dietrich Mahlo Ulrich Schmalz Horst Kubatschka Manfred Müller (Berlin) Rosel Neuhäuser Günter Marten Christian Schmidt (Fürth) Dr. Uwe-Jens Rössel Dr. Martin Mayer Dr.-Ing. Joachim Schmidt BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Christina Schenk (Siegertsbrunn) (Halsbrücke) Klaus-Jürgen Warnick Wolfgang Meckelburg Andreas Schmidt (Mülheim) Elisabeth Altmann Dr. Winfried Wolf Rudolf Meinl Hans-Otto Schmiedeberg (Pommelsbrunn) Gerhard Zwerenz Dr. Hans Peter Schmitz Dr. (Baesweiler) Michael von Schmude F.D.P. Enthalten Rudolf Meyer (Winsen) Birgit Schnieber-Jastram Dr. Meinolf Michels Dr. Dr. Gisela Babel SPD Dr. Gerd Müller Reinhard Freiherr von Hildebrecht Braun Elmar Müller (Kirchheim) Schorlemer (Augsburg) Engelbert Nelle Dr. Erika Schuchardt Günther Bredehorn Tilo Braune (Bremen) Jörg van Essen Ursula Burchardt Johannes Nitsch Dr. Dr. Olaf Feldmann Dr. Marliese Dobberthien (Schwäbisch Gmünd) Gisela Frick Norbert Gansel Dr. Rolf Olderog Gerhard Schulz (Leipzig) Paul K. Friedhoff Wolfgang Ilte Friedhelm Ost Frederick Schulze Barbara Imhof Diethard Schütze (Berlin) Rainer Funke Ernst Kastning Norbert Otto (Erfurt) Clemens Schwalbe Hans-Ulrich Klose Hans-Dietrich Genscher Dr. Gerhard Päselt Dr. Christian Schwarz- Volker Kröning Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Peter Paziorek Schilling Waltraud Lehn Dr. Hans-Wilhelm Pesch Christa Lörcher Dr. Helmut Haussmann Ulrich Petzold Wilfried Seibel Erika Lotz Ulrich Heinrich Heinz-Georg Seiffert Dr. Christine Lucyga Walter Hirche Dr. Gero Pfennig Rudolf Seiters Dorle Marx Birgit Homburger Dr. Friedbert Pflüger Gerhard Neumann (Gotha) Dr. Winfried Pinger Bernd Siebert Dr. Otto Reschke Jürgen Sikora Ulrich Irmer Bernd Reuter Dr. Hermann Pohler Dr. Klaus Kinkel Günter Rixe Bärbel Sothmann Detlef Kleinert (Hannover) Gisela Schröter Marlies Pretzlaff Margarete Späte Roland Kohn Horst Sielaff Dr. Carl-Dieter Spranger Dr. Heinrich L. Kolb Erika Simm Dr. Bernd Protzner Wolfgang Steiger Jürgen Koppelin Margitta Terborg Dieter Pützhofen Erika Steinbach Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Jella Teuchner Dr. Wolfgang Freiherr von Heinz Lanfermann Adelheid Tröscher Hans Raidel Stetten Uwe Lühr Josef Vosen Dr. Dr. Jürgen W. Möllemann Helmut Wieczorek (Duisburg) Rolf Rau Andreas Storm Günther Friedrich Nolting Berthold Wittich Helmut Rauber Dr. Rainer Ortleb Peter Zumkley Peter Harald Rauen Matthäus Strebl Lisa Peters Otto Regenspurger Michael Stübgen Dr. Klaus Röhl Christa Reichard (Dresden) Egon Susset Helmut Schäfer (Mainz) BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Klaus Dieter Reichardt Dr. Rita Süssmuth Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mannheim) Michael Teiser Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Volker Beck (Köln) Dr. Bertold Reinartz Dr. Susanne Tiemann Dr. Irmgard Schwaetzer Erika Reinhardt Dr. Klaus Töpfer Dr. Franziska Eichstädt-Bohlig Hans-Peter Repnik Gottfried Tröger Dr. Andrea Fischer (Berlin) Roland Richter Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Carl-Ludwig Thiele Joseph Fischer (Frankfurt) Roland Richwien Dr. Dieter Thomae Rita Grießhaber Dr. Norbert Rieder Dr. Horst Waffenschmidt Jürgen Türk Kristin Heyne Dr. (München) Dr. Theodor Waigel Dr. Wolfgang Weng Ulrike Höfken Klaus Riegert Alois Graf von Waldburg-Zeil (Gerlingen) Michaele Hustedt 6472 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Dr. Angelika Köster-Loßack Rezzo Schlauch müssen sich den Grundsätzen der Marktwirtschaft Albert Schmidt (Hitzhofen) unterordnen. Dr. Helmut Lippelt Wolfgang Schmitt Oswald Metzger (Langenfeld) Nur haben Sie bei der ganzen Geschichte eines Kerstin Müller (Köln) Werner Schulz (Berlin) vergessen: Ein deutscher Arbeitnehmer kann sich Christa Nickels Rainder Steenblock auch nicht nach dem Prinzip des freien Wettbewerbs Cem Özdemir Dr. Antje Vollmer hier polnische oder portugiesische Mietpreise aussu- Gerd Poppe Ludger Volmer chen, sondern er muß die Miete bezahlen, die ihm Helmut Wilhelm (Amberg) Simone Probst der Markt hier abverlangt. Halo Saibold Margareta Wolf (Frankfurt) (Beifall bei der SPD) Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Dasselbe gilt auch für die übrigen Lebenshaltungs- Wir fahren jetzt mit den Tagesordnungspunkten 4 a kosten. und 4 b fort. Das Wort hat der Kollege Peter Dreßen, SPD. Deshalb ist das, was hier die F.D.P. forde rt, Unsinn. Die F.D.P. will, wie Graf Lambsdorff vor einigen Monaten im „Handelsblatt" deutlich verkündet hat, (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Peter Dreßen in Wirklichkeit die Tarifautonomie abschaffen und und Herren! Herr Bundesarbeitsminister, im Sprüche das Entsendegesetz als Hebel benutzen. Daß dabei klopfen sind Sie ja groß, das ist bundesweit bekannt. Hunderttausende von Arbeitsplätzen hier verloren- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was soll gehen, interessie rt die F.D.P. anscheinend überhaupt denn das?) nicht, obwohl wir gestern gehört haben, daß 100 000 Arbeitsplätze dem Bundesarbeitsminister 3 Milliar- Wenn man Sie aber an den Taten mißt, dann ist man- den DM Kosten in diesem Land verursachen. ches geringer. Es ist doch beschämend, daß Sie hier den Eindruck erwecken, Sie hätten einen Gesetzent- Ja, welche Interessen hat eigentlich ein deutscher wurf vorgelegt, um damit die Probleme in der Bau- Volksvertreter in dieser Frage in diesem Hohen wirtschaft zu regeln. Das Gegenteil ist doch der Fall. Hause? Angesichts von 3,5 Millionen registrierten Arbeitslosen in unserem Land ist es doch unsere ver- Herr Bundesarbeitsminister, in Berlin, der größten dammte Pflicht, Arbeitsplätze vor unse riösen Anbie- Baustelle Europas, gibt es Baustellen, auf denen tern zu schützen und sie nicht dem freien Wettbe- kaum noch deutsche Bauarbeiter zu finden sind. Dies werb zu unterstellen. hat uns die Berliner Sozialsenatorin bei der Anhö- rung sehr deutlich ins Stammbuch geschrieben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne 20 000 Bauarbeiter sind dort arbeitslos, und wenn ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) man das Umfeld noch dazunimmt, kommt man auf 30 000. Offiziell wird von rund 150 000 ausländischen Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Beschäftigten mit Dumpinglöhnen ausgegangen. Auch wir wollen, daß ein portugiesischer, ein griechi- Die Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden schätzt scher oder ein englischer Arbeitnehmer aus dem EG- das Volumen sogar auf zirka 200 000. Die meisten Raum hier arbeiten kann, aber bitte zu den Bedin- stammen aus Portugal oder sind Scheinselbständige gungen, die Gewerkschaften und Arbeitgeber mit- aus Großbritannien. Hinzu kommen noch einige aus einander ausgehandelt haben. dem Ostblock. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Wir alle wissen, woran das liegt, nämlich- an der Dr. Heidi Knake-Werner [PDS]) Möglichkeit, ausländische Arbeitskräfte zu ihren Heimattarifen in Deutschland zu beschäftigen. Dazu gehört auch, daß pro Arbeitsplatz die Sozial- Dadurch können Bauaufträge von ausländischen leistungen erbracht werden, die wir hier in diesem Arbeitskräften zu Dumpingpreisen hier ausgeführt Hohen Hause in den letzten Jahren beschlossen werden. haben. Um nicht mehr, aber auch um nicht weniger geht es. Gegen diese bedenkliche Entwicklung soll nun ein Entsendegesetz verabschiedet werden, mit dem das Was sind wir eigentlich für eine Gesellschaft, wenn Lohngefälle zwischen aus- und inländischen Arbeits- wir einerseits zulassen, daß zu unmöglichen Arbeits- kräften am Bau eingeebnet werden soll. Es geht also bedingungen von ausländischen Arbeitnehmern Lei- - und das wollen wir auch - um gleichen Lohn für stungen erbracht werden, und wir andererseits gleiche Arbeit am selben O rt . unsere Arbeitnehmer dann zum Arbeitsamt schik- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Warum ken, wo sie dann auch noch die Segnungen des machen Sie dann nicht mit?) Sozialabbaus, den Sie hier permanent beschließen, auskosten dürfen? Dies - verzeihen Sie mir - ist - Darauf kommen wir noch zurück. Schwachsinn hoch drei. Aber was tut die Bundesregierung? Sie legt einen (Beifall bei der SPD) Entwurf für ein Gesetz vor, daß unsere Arbeitnehmer eben nicht vor Dumpingpreisen aus Po rtugal, Polen Herr Heinrich, ich habe noch Ihren Spruch von und Großbritannien schützt - frei nach dem Motto: gestern im Ohr: Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeits- Auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer plätze - dreimal haben Sie es wiederholt. Hier kön- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6473

Peter Dreßen nen Sie es beweisen, daß Sie Arbeitsplätze schaffen weise wieder einmal darum geht, die Kosten im und erhalten. Gesundheitswesen herunterzuschrauben. (Beifall bei der SPD - Ulrich Heinrich Meine Damen und Herren, leider besteht in die- [F.D.P.]: Das werden Sie heute auch wieder sem Haus keinerlei Einigkeit darüber, wie dem Miß- von mir hören, genau das gleiche!) stand am Bau im einzelnen zu Leibe gerückt werden Es geht also nicht um osteuropäische Gastarbeiter, soll. Es gibt unterschiedliche Auffassungen zwischen sondern um ein Problem, das aus der Freizügigkeit Regierung und Opposition. Umstritten sind die Reichweite und die Dauer der Gültigkeit eines sol- innerhalb der Europäischen Union herrührt. Hier zeigt sich eine Schwäche des Europavertrages, dem chen Entsendegesetzes. auf Betreiben der neoliberalen Wirtschaftsminister Die SPD und der Bundesrat treten für eine unbe- und der Arbeitgeberseite die soziale Dimension grenzte Dauer ein. Die SPD forde rt zu Recht weiter, weitgehend fehlt. Deshalb dringt auch die Europäi- daß dies nicht auf das Bauhaupt- und -nebenge- sche Union nicht durch, denn in der Europäischen werbe begrenzt wird, weil wir feststellen, daß auch Wirtschaftsgemeinschaft bestehen nach wie vor in anderen Bereichen Lohndumpingpreise stattfin- große Unterschiede hinsichtlich der Einkommens- den. und der Lebensverhältnisse. Nun haben Sie sich ja erweichen lassen und haben Das wird nun weidlich ausgenutzt, indem man in letzter Minute das Baunebengewerbe in Ihren Ent- Bauaufträge an ausländische Bauunternehmen ver- wurf einbezogen. gibt; der Unternehmer wiederum befördert seine Arbeitskräfte hierher und entlohnt dann zu Heimat- Dagegen zielt der Entwurf der Koalition weiter dar- tarifen. Damit werden die niedrigen Lebenshaltungs- auf ab, daß das Gesetz auf nur zwei Jahre begrenzt kosten voll ausgenutzt. wird. Meine Damen und Herren, wer eine solche Regelung auf zwei Jahre bef ristet, weiß, daß sich in Insofern zeigt sich, daß es dabei nicht etwa um zwei Jahren überhaupt nichts ändern wird. Ich frage eine Diskriminierung von Ausländern, sondern um mich deshalb: Warum diese Befristung? einen Schutz gegen den diskriminierenden Impo rt von ausländischen Lebenshaltungskosten geht. Dieser Pferdefuß geht auf den liberalen Wi rt -schaftsminister Günter Rexrodt und dessen Deregu- Den Arbeitgebern aus der Metall- und der Che- lierungswahnsinn zurück. Aber auch das kann man mieindustrie, die sich stets gegen dieses Gesetz stark nun konsequent zu Ende denken. Wie wäre es denn, gemacht haben, möchte ich dazu nur zweierlei ent- wenn man in Berlin das Lohnniveau auf das von den gegenhalten. neuen Ländern senken würde und Herr Rexrodt, ein Erstens. Die Europäische Union ist ja nicht gerade aus Berlin stammender Abgeordneter, künftig nur ein Musterbeispiel für den freien Welthandel. Wenn das ostdeutsche Durchschnittseinkommen erhalten es um Importbeschränkungen aller Art geht, arbeiten würde? die Lobbyisten auch der deutschen Wi rtschaft in (Peter Conradi [SPD]: Immer noch zuviel!) hohem Maße effizient, um unliebsame Konkurrenz außen vor zu lassen. Das hätte man wahrscheinlich am besten schon getan, als er bei der Treuhand anfing. Dann hätte er Zweitens. Innerhalb der Union gibt es, wie gesagt, aber den Job nicht angetreten. Unterschiede im Niveau von Löhnen und Lebenshal- tungskosten. Wenn Branchen wie die Metall- und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Chemieindustrie ihre Produkte hierzulande bei einem Niveau der Kaufkraft wie in Po rtugal absetzen Uns wäre dann allerdings viel Ärger und Unsinn müßten, dann könnten einige wirklich ihre Läden erspart geblieben. - Aber zurück zur Sache. zumachen. Halten wir fest: Erstens. Die Bef ristung auf zwei Da hier beim Entsendegesetz gern Wettbewerbsar- Jahre macht wenig Sinn. Zweitens. Die Beschrän- gumente ins Feld geführt werden, kann ich nur auf kung auf das Bauhaupt- und -nebengewerbe ebenso. das jüngste Beispiel hinweisen, bei dem der Preis- Und damit nicht genug. Als Kontrollbehörde sol- wettbewerb wieder einmal außer Kraft gesetzt len ihrer Ansicht nach die Länder zuständig sein. wurde. Ich meine die Pharmaunternehmen in diesem Lande. Der Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Dr. F riedrich Hassbach, hat Diese Branche hat es gerade wieder einmal das zu Recht in der Anhörung als ein „stumpfes erreicht, daß der Gesundheitsminister die Positivliste Schwert" bezeichnet, weil es überhaupt keine Exper- einkassiert hat, obwohl Medikamente in diesem ten gibt, die so etwas machen können; denn die Länder Land doppelt und dreifach so teuer sind wie in den haben weder die Kapazitäten noch die Erfahrungen. Nachbarländern. Mit Wettbewerb hat das für mich jedenfalls nichts mehr zu tun. Die einzig richtige Adresse für eine Kontrolle ist (Beifall bei der SPD) die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, meine Damen und Herren. Wie stellen Sie sich das denn Diesen Damen und Herren möchte ich folgendes vor? Die Arbeitsämter kontrollieren die Baustelle an ins Stammbuch schreiben: Wer jetzt beim Entsende- einem Tag auf illegale Leiharbeiter, und am Tag dar- gesetz nach Liberalismus und Wettbewerb ruft, den auf kommt der Landesbeamte und überprüft die nehmen wir auch dann beim Wort, wenn es beispiels- Lohnlisten. Wie soll das funktionieren? 6474 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Peter Dreßen Aber, meine Damen und Herren von der Regie- dem sie geschrieben ist, ist in der Geschichte dieses rungskoalition, so weit wird es gar nicht erst kom- Hauses noch nicht so oft vorgekommen. men. Der Regierungsentwurf sieht vor, daß die Tarif- parteien die unteren Lohngruppen am Bau für allge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE mein verbindlich erklären. Das wollen die Spitzen- GRÜNEN und der PDS) verbände der Arbeitgeber gegen das Votum der Bau- Wenn Sie es bisher noch nicht gemerkt haben soll- industrie nicht mitmachen. Sie haben das alle in der ten: Sie sind auch in der Sache völlig isoliert. Ihnen Anhörung vernommen. Aus deren Sicht würden und uns liegen massenhaft Resolutionen von Hand- damit auch solche Baufirmen an den Ta rif gebunden, werkskammern, von Innungsverbänden, vom Zen- die nicht dem Tarifverband angehören. Außerdem tralverband des Deutschen Handwerks vor, die fürchten diese Leute, daß damit ein Mindestlohn ein- unsere Argumente bestätigen, die zum Beispiel geführt würde. keine Befristung wollen und das Ausbaugewerbe einbeziehen wollen. Diese Leute gehören nicht zu Gestern mußten wir im Ausschuß erfahren, daß die unserer Klientel. Daß die Gewerkschaften sich dem Bundesregierung das auch noch als Stärkung der angeschlossen haben, beweist, wie richtig unser Tarifautonomie feiert. Umgekehrt, meine Damen Gesetzentwurf ist. und Herren, wird ein Schuh daraus. Gerade im Bau- nebengewerbe, Herr Bundesarbeitsminister, haben (Beifall bei der SPD) Sie fast ausschließlich regionale Tarifverträge, kein einziger ist bundesweit. Wollen Sie hier einen riesi- Die Ursachen für das, was uns geboten wird, sind gen bürokratischen Aufwand entfachen? klar. Der eigentliche Riß geht quer durch die Regie- rungskoalition: Die CDU/CSU ist eingequetscht zwi- Wenn Sie alle 16 Länder einbeziehen, müssen Sie schen der politischen Deregulierungswut des Aus- die Allgemeinverbindlichkeit über die Länderar- laufmodells der F.D.P. auf der einen Seite und dem beitsminister erreichen. Stellen Sie sich das einmal Arbeitgeberlager auf der anderen Seite. Herr Blüm, vor! Es gibt sogar noch Länder, die innerhalb ihres bis heute ist Ihnen kein Befreiungsschlag aus dieser Landes verschiedene Bezirke mit eigenen Tarifver- Quetschmühle gelungen. Insofern muß ich Sie an trägen haben. Ihren Amtseid erinnern: Sie sind nicht der F.D.P., son- dern den Wählern und den Wählerinnen in diesem (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Da hat er leider Lande verantwortlich. Sie sollen Schaden von diesem recht!) Land abwenden. Was Sie hier tun, kann aber nur als vorsätzliche Herbeiführung von zusätzlichem Scha- Sie entwickeln hier einen riesigen bürokratischen den bezeichnet werden. Aufwand oder Sie greifen in die Tarifautonomie ein und schreiben den Gewerkschaften bundesweite (Zuruf von der CDU/CSU: Sie tun das Tarifverträge vor. Das wäre die Alternative. Aber Gegenteil?) dann wäre der Eingriff bei ihnen und nicht bei uns. Kommt es heute zu dem Gesetz im Sinne Ihres Ent- wurfs, dann müssen wir über 100 000 Arbeitsplätze (Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Der orts am Bau abschreiben. Das ist die Situation. Das ist übliche ist viel komplizierter!) kein Horrorszenario von notorischen Protektionisten, Bei der Anhörung hat Herr Göbel von der Bundes- sondern das haben die Arbeitgebervertreter der Bau- vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, industrie in der Anhörung des Ausschusses unmiß- der zugleich einer der drei Herren im Tarifausschuß verständlich erklärt. ist, erklärt, daß die drei Arbeitgeber keinesfalls- einen Insofern möchte ich die politisch verantwortlich Allgemeinverbindlichkeitsantrag stellen werden. Im Denkenden in dieser Koalition inständig bitten: Endeffekt werden wir heute also ein Gesetz verab- Geben Sie dem Gesetzentwurf in der Ausschußfas- schieden, das, noch bevor die Stimmkarten ausge- sung nicht Ihre Stimme! Dokumentieren Sie durch zählt sind, am Nein der Arbeitgeber im Tarifaus- Ihr Stimmverhalten, daß von Mitgliedern des Parla- schuß gescheitert sein wird. Es handelt sich also bei ments eine tragfähige Beschlußfassung erwartet wer- alledem um nichts anderes als um ein Gesetz mit den kann! einem Muster ohne We rt. Ihr ganzer Entwurf ist von vorne bis hinten vollkommen sinnlos. Ich fordere Sie auf, zumindest die Bedenken der Länder ernster zu nehmen, als Sie es tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Zeit, Herr und der PDS - Hans Michelbach [CDU/ Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: CSU]: Sind das Ihre neuen Verbündeten - Kollege. oder wie?) Peter Dreßen (SPD): Ich bin gerade beim Schluß- - Darüber können wir später diskutieren. satz. Daß bei Ihren Gesetzentwürfen meistens etwas im Der Bundesrat hat mit den Stimmen aller Länder argen liegt, ist hinlänglich bekannt. Aber daß hier erstens keine Bef ristung vorgesehen und zweitens das höchste gesetzgebende Organ dieser Republik die ideologische Allgemeinverbindlichkeitsklausel mit einer Vorlage befaßt wird, von der man vorher nicht vorgesehen. Das wäre zumindest ein großer weiß, daß sie das Papier nicht wert sein kann, auf Schritt in die richtige Richtung. Sie würden damit Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6475

Peter Dreßen nicht mehr Hunderttausende Arbeitsplätze bewußt lich ist. Im übrigen, Herr Dreßen - dies kennen wir vernichten. ja -, (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist nicht prak Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE tikabel! Absoluter Bürokratismus!) GRÜNEN) ist in Ihrem Gesetzentwurf viel zuviel Dirigismus fest- zustellen; Sie verfallen wie immer in eine Regelungs- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der wut. Kollege Julius Louven, CDU/CSU-Fraktion. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: So ist es!)

Julius Louven (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Wir gehen den anderen Weg. Wir setzen darauf, sehr verehrten Damen und Herren! den niedrigsten Lohn in der Baubranche für allge- meinverbindlich zu erklären. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sagen Sie mal, was am nächsten Wochenende kommt? Welche (Peter Dreßen [SPD]: Ich denke, Sie deregu Nummer kommt dann?) lieren alles!) - Die haben wir gestern diskutiert, und da haben Sie Dies ist wesentlich einfacher zu handhaben. nicht allzugut ausgesehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Abg. Peter Dreßen [SPD] meldet sich zu (Zustimmung bei der CDU/CSU und der einer Zwischenfrage) F.D.P. - Lachen bei der SPD) - Ich lasse von Herrn Dreßen keine Zwischenfrage Vor allen Dingen haben Sie gestern geglaubt, Sie zu. Sie haben hier so laut und so lange gesprochen, könnten den Arbeitsminister, Heiner Geißler und mich auseinanderdividieren. Dieser Versuch ist (Zuruf von der CDU/CSU: Und so schlecht!) gründlich mißlungen. daß das erst einmal reicht. (Zurufe von der SPD: Oh! - Ul rich Heinrich Wir setzen auf die [F.D.P.]: Sie haben das Team Louven-Babel Tarifautonomie. Sie haben wie- derholt davon gesprochen - auch eben wieder -, daß noch einmal gefestigt!) unser Gesetzentwurf schon deshalb Makulatur sei, Herr Dreßen, nach Ihrer lauten Rede, in der Sie weil die Bundesvereinigung der Arbeitgeber sich einmal mehr den Weltuntergang beschworen haben, weigert, im Tarifausschuß dieser Allgemeinverbind- sollten wir uns wieder sachlich mit dieser Frage aus- lichkeit zuzustimmen. einandersetzen. Uns beschäftigt heute das Problem, (Peter Dreßen [SPD]: So ist es!) daß auf deutschen Baustellen immer mehr ausländi- sche Arbeitnehmer zu anderen Bedingungen als ihre Ich will dazu heute nur sagen - ich habe es auch deutschen Kollegen beschäftigt sind. Dies führt zu gestern im Ausschuß gesagt -, daß ich nicht bereit Wettbewerbsverzerrungen und gerade auch bei bin, mir in dieser Frage den Kopf der Arbeitgeber zu nachlassender Konjunktur zu arbeitsmarktpoliti- zerbrechen. schen Problemen. Deutsche Bauarbeiter werden ver- mehrt arbeitslos, während die Zahl ausländischer (Peter Dreßen [SPD]: Das ist einfach!) Bauarbeiter auf deutschen Baustellen steigt. - Warten wir doch einmal ab, Herr Dreßen, wie sie sich wirklich verhalten. Ich jedenfalls kann mir nicht Diese legale Beschäftigung ausländischer Arbeit- vorstellen, daß die Bundesvereinigung der Arbeitge- nehmer ist derzeit auf Grund des EG-Rechts- möglich, ber die gesamte Baubranche, die ja wie auch die wonach Subunternehmen aus dem EG-Bereich mit Gewerkschaften in diesem Bereich eine Regelung Arbeitskräften, von wo auch immer, in Deutschland will, im Regen stehenläßt. arbeiten können. Für gewisse ordnungspolitische Bedenken, die es Der Bundesarbeitsminister hat sich bemüht, diese im übrigen auch in meiner Fraktion gibt, habe ich Problematik auf EG-Ebene mit einer EG-Richtlinie in durchaus Verständnis. Einen Stundenlohn von den Griff zu bekommen. Hierfür war in der EG eine 20,23 DM allgemeinverbindlich festzuschreiben Mehrheit leider nicht erreichbar. Eine nationale kann von daher auch nur befristet in Frage kommen. Regelung muß deshalb gefunden werden. Nachdem andere Länder dies schon gemacht haben, steht dies (Peter Dreßen [SPD]: Und dann?) heute hier an. Dazu liegen drei Gesetzentwürfe vor: einer von der SPD, einer vom Bundesrat und einer Diese Befristung auf zwei Jahre wird ja von Ihnen, von der Bundesregierung bzw. von der Koalition. meine Damen und Herren von der SPD, aber auch von den Tarifpartnern kritisiert. Ich möchte jedoch in Um den besten Weg haben wir heftig gestritten; aller Deutlichkeit sagen, daß niemand darauf ver- heute muß entschieden werden. Ich bin, meine trauen soll, daß diese Frist verlängert wird. Ich halte Damen und Herren von der Opposition, fest davon sie für vertretbar. Ich bin der Meinung, daß wir überzeugt, daß Ihr Vorschlag, der ja im wesentlichen Europa nicht verwirklichen, wenn wir langfristig vom ortsüblichen Lohn ausgeht, der falsche Weg ist, Schutzzäune um gewisse Tarifbereiche ziehen. Die insbesondere deshalb, weil nicht tarifgebundene Tarifvertragsparteien müssen sich den neuen Gege- Arbeitgeber hieran nicht gebunden wären. Zum benheiten stellen. Es ist eine moderne Tarifpolitik anderen würde auch ständig gestritten, was ortsüb- gefragt. Hierunter verstehe ich, daß Tarifpartner ihre 6476 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Julius Louven Handlungsspielräume verantwortlich nutzen und der Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Staat bei der gewaltigen Aufgabe der Umstrukturie- SPD: Wir können noch soviel regeln, die Unterneh- rung hilft. Dazu sind wir bereit. men werden neue Nischen finden, wenn sie ums Überleben kämpfen. Es führt deshalb kein Weg Wir vertrauen auf die Tarifpartner, während Sie daran vorbei, in Deutschland Strukturen zu verän- ihnen die Fähigkeit absprechen, sich eigenverant- dern. Mit dem Errichten von Schutzzäunen werden wortlich dem europäischen Wettbewerb anzupassen. wir eine entsprechende Entwicklung jedenfalls nicht Im übrigen sind die Gewerkschaften in dieser Hin- fördern. sicht schon weiter als Sie. Das sehen Sie beim Arbeitszeitgesetz ebenso wie bei der Flexibilisierung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Arbeitszeit Ich wünsche mir kein Europa, das ewig mit Entsen- (Peter Dreßen [SPD]: Wunschdenken!) derichtlinien arbeiten muß. und den Einstiegstarifen. Das sind alles Punkte, bei (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr richtig!) denen die Gewerkschaften Sie längst überholt Ich bin ganz zuversichtlich, daß unser Weg in die haben. richtige Richtung weist. (Zustimmung bei der CDU/CSU) Herzlich Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Im übrigen gibt es eine Reihe ernstzunehmender (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Stimmen - das sind dann allerdings nicht die Funk- tionäre der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber -, die Herr Präsident, ich habe meine Redezeit nicht aus- dahin gehen, daß eine weitergehende Bef ristung den geschöpft. Vielleicht können wir es hier wie im Strukturwandel in dieser Branche, der dringend Arbeitsleben machen, daß wir Redezeitkonten ein- erforderlich ist, wenn man in Europa bestehen will, führen. Sie könnten mir dann etwas gutschreiben. mit Sicherheit verlangsamen würde. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU (Peter Dreßen [SPD]: Wie soll denn der und der F.D.P. - Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Strukturwandel aussehen? Sagen Sie dazu Wenn man schnell schafft, ist man schnell mal etwas!) fertig!) Hauptkritikpunkt des Kollegen Büttner, der ja in der ersten Lesung genauso gejammert hat wie Sie Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat heute, jetzt die Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/ Die Grünen. (Zuruf von der SPD: Mit Recht!) war die Beschränkung des Gesetzes auf das Bau- Annelle Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hauptgewerbe. Dieser Punkt hat bei uns eine erheb- NEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her- liche Rolle gespielt. Auf Grund der Anhörung haben ren! Bei verschiedenen Gesetzen, die uns die Regie- wir uns in der Koalition darauf verständigen können, rung in der letzten Zeit vorgelegt hat, haben wir auch das Baunebengewerbe in die Regelung einzu- immer auf die erschreckenden Auswirkungen hinge- beziehen. Ich bin, obwohl ich die ursprüngliche wiesen, die diese Regelungen auf unser Sozialsystem Regelung verteidigt habe, hierüber sehr froh. Ich haben werden, wenn sie Realität werden sollten: bleibe aber auch bei meiner Aussage, daß im Baune- Bundessozialhilfegesetz, Arbeitslosenhilfe und Asyl- bengewerbe die Probleme nicht so eklatant sind wie bewerberleistungsgesetz. im Bauhauptgewerbe. Wenn Sie, Herr Dreßen, eben Bei dem Gesetz, über das wir heute abstimmen sol- gemeint haben, es werde zu erheblichen Tarifproble- len, ist das Erschreckende, daß es überhaupt keine men im Bereich des Baunebengewerbes kommen, Wirkung haben wird, sondern daß es die katastro- kann ich Ihnen nur sagen: Wenn Arbeitgeber und phalen Zustände auf den Baustellen genau so läßt, Arbeitnehmer ein entsprechendes Gesetz wollen und wie sie jetzt sind. Das ist schlicht nicht zu verantwor- wir dieses Gesetz heute beschließen, dann können ten. Wie es auf den Baustellen im Moment aussieht, sie ja auch entsprechend handeln. Ich gehe davon das wissen Sie. Dazu könnte ich endlos aus Ihren aus: Sie werden es tun. eigenen Reden zitieren. Die Problematik, mit der wir es heute zu tun haben Sie verpassen heute eine echte Chance. Wir hätten - dies habe ich in der ersten Lesung schon betont -, hier mit einer breiten Mehrheit eine Regelung verab- entsteht - dies kann wohl niemand bestreiten - aus schieden können, die dem Lohn- und Sozialdumping dem teuren Arbeitsmarkt Deutschland. Gelang es am Bau ein Ende setzt. Aber Sie, meine Damen und uns früher, die Lohnstückkosten bei hohem Lohnge- Herren von den Regierungsfraktionen, konnten sich füge günstig zu halten, ist dies heute nicht mehr der nicht einigen. Einige von Ihnen wollen ein wirksa- Fall. Die internationalen Wettbewerber auch im Bau- mes Entsendegesetz, aber hatten nicht den Mut, bereich haben mächtig aufgeholt. Um am Markt zu Mehrheiten über die Regierungskoalition hinaus zu bestehen, suchen sich die Unternehmen Nischen, um suchen. Andere aus Ihren Reihen wollen kein dem teuren Arbeitsmarkt auszuweichen. Die Schein- Gesetz. Das Ergebnis ist ein Entsendegesetz, das kei- selbständigkeit ist ein Beispiel dafür, ebenso das Pro- nes ist, das nichts bewirkt. Es ist schon gescheitert, blem der geringfügig Beschäftigten, bei dem es bevor es hier verabschiedet ist. zunehmend Mißbrauch gibt, wie auch die i llegale Beschäftigung, bei der es schon ins Kriminelle geht. (Beifall des Abg. Peter Dreßen [SPD]) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6477

Annelie Buntenbach Diese Regierung ist offensichtlich unfähig, für kon- heißt das denn? Soll jedes Land eigene Ausführungs- krete soziale Probleme sachliche Lösungen anzubie- bestimmungen erlassen mit der Folge, daß wir in der ten, die nach vorn weisen. Sie schleppt ihren ideolo- Bundesrepublik europafreundlich und übersichtlich gischen Deregulierungsballast hinter sich her und ist 16 unterschiedliche Regelungen anbieten? Wie sol- damit nicht imstande, politisch zu gestalten. len die Länder das ohne Unterstützung der Bundes- anstalt für Arbeit, ohne Hauptzollämter, ohne klare Ob es künftig gleichen Lohn für gleiche Arbeit auf Regeln darüber, welche Papiere der Arbeiter auf den den Baustellen gibt, das machen Sie davon abhän- Baustellen greifbar sein müssen, und darüber, wie gig, ob die Tarifparteien den Tarifvertrag für allge- die Sozialkassen in die Kontrollen einbezogen wer- meinverbindlich erklären. Sie wissen genau, daß die den sollen, überhaupt leisten? Arbeitgeber dabei nicht mitziehen werden. Das hat die BDA längst beschlossen - das ist heute schon All diese ungelösten Fragen sind schon beantwor- mehrfach gesagt worden -, das hat sie deutlich ange- tet worden; dazu gibt es gut ausgearbeitete Alternati- kündigt. ven, zwar nicht in Ihrem Gesetz, aber in den Gesetz- entwürfen von Bundesrat und SPD. Diese ignorieren In der Bauindustrie sind Arbeitnehmer und Arbeit- Sie einfach und lasten die Verantwortung ausschließ- geber davon überzeugt, daß ein Entsendegesetz lich den Ländern an. Das kann gar nicht funktionie- dringend nötig ist. Sie setzen sich engagiert für die ren, und das wissen Sie auch. Wenn Sie es nicht Allgemeinverbindlichkeitserklärung ein. Aber ohne die Arbeitgeberverbände wird es diese nicht geben. gewußt haben sollten, als Sie den Gesetzentwurf ein- gebracht haben, dann wußten Sie es spätestens nach Die Herren aus den Arbeitgeberverbänden haben der Anhörung, in der von Sachverständigen deutlich offensichtlich ein Interesse daran, daß sich Lohn- und gemacht worden ist, daß Ihre Vorschläge zur Kon- Sozialdumping weiter ausbreitet. Also wissen Sie von trolle effektiv nichts bewirken werden. den Regierungsfraktionen schon jetzt, daß Ihr Gesetz gar nicht greifen kann, es sei denn, Sie glauben an Um so überzeugter können Sie nach zwei Jahren Wunder, zum Beispiel daran, daß die BDA ihre Posi- sagen: Das schaffen wir wieder ab, das hat nichts tion wieder ändert. Möglich ist das; aber es ist eben gebracht. Daß Sie in das Gesetz eine Befristung auf ein Wunder. zwei Jahre eingebaut haben, zeigt deutlich, wie faul (Julius Louven [CDU/CSU]: Sie schließt das die Kompromisse sind, die Sie innerhalb der Regie- nicht aus!) rungsfraktionen eingegangen sind; denn wer ein Entsendegesetz wi ll, der weiß auch, daß es in zwei Es liegen gute Alternativen vor: der Gesetzentwurf Jahren noch genauso nötig ist wie heute. vom Bundesrat und der von der SPD. Diese Alternati- ven gehen statt von der Allgemeinverbindlichkeit Mit Sicherheit wird das Lohnniveau in Portugal in von den ortsüblichen Tarifen als Grundlage aus, um zwei Jahren nicht auf dem Niveau der Bundesrepu- gleichen Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen am blik sein. Die Standards in Europa werden sich bis gleichen Ort herzustellen. dahin nicht angeglichen haben. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P. und natürlich Herr Ich möchte Ihnen, meine Damen und Herren von Haungs und Herr Louven, fordern, daß sich die Bau- den Regierungsfraktionen, noch aus einem anderen branche in zwei Jahren auf die europäischen Stan- Grund dringend anraten, auf die sehr sinnvolle und dards umstellt, dann meinen Sie doch nicht men- einzig praktikable Alternative der ortsüblichen schenwürdige Arbeitsbedingungen für alle im euro- Tarife einzuschwenken. Sie haben nach der Aus- päischen Rahmen, sondern Lohn- und Sozialdum- schußanhörung entschieden, Ihr Gesetz nicht mehr ping als Normalität. auf das Bauhauptgewerbe zu beschränken, sondern das Bauausbaugewerbe einzubeziehen. Das ist sach- (Peter Dreßen [SPD]: So ist es!) lich eindeutig zu unterstützen. Es ist ein Schritt in die Sie haben sich mit diesem Gesetz so gründlich in richtige Richtung. Nur geht es damit nicht mehr um den Fallstricken Ihrer ideologischen Borniertheit und den Tarifvertrag aus dem Baugewerbe, der für allge- faulen Kompromisse verheddert, daß wir uns als meinverbindlich erklärt werden müßte, sondern - Opposition zurücklehnen und uns die nächsten Akte das wissen Sie genau - um eine Reihe weiterer Tarif- dieses zirkusreifen Kunststücks angucken könnten. verträge: Elektrohandwerk, Klempner, Maler, Lak- Aber dafür ist das Problem, zu dessen Lösung Sie kierer usw. nicht in der Lage sind, viel zu ernst. Noch ein Som- Die Arbeitgeber wollen schon einen Tarifvertrag mer auf dem Bau unter diesen schlimmen Bedingun- nicht für allgemeinverbindlich erklären. Und jetzt gen ist einfach nicht zu verantworten. Ein immer grö- kommen Sie mit einer ganzen Reihe von Tarifverträ- ßerer Teil der dort Beschäftigten arbeitet zu Dum- gen. Funktionieren wird es nicht. Ihr Wunderglaube pinglöhnen zwischen 5 und 10 DM pro Stunde. Die scheint mir schier unerschöpflich zu sein. Unterbringung ist oft nicht einmal menschenwürdig, Unfall- und Arbeitsschutz gibt es überhaupt nicht Aber selbst wenn wir annehmen, daß das Wunder mehr. geschieht, sind Sie auch dann noch meilenweit davon entfernt, mit Ihrem Gesetz Lohn- und Sozial- Zwischen scheinselbständigen Arbeitnehmern aus dumping auf dem Bau wirklich wirksam zu bekämp- der EU und Werkvertragsarbeitnehmern aus Osteu- fen. Das steht und fällt nämlich mit den Kontrollen, ropa blüht die Grauzone illegaler Leiharbeit. Obwohl mit denen die Einhaltung des Gesetzes auf den Bau- zum Beispiel polnische Werkvertragsarbeitnehmer stellen vor Ort überprüft werden. Sie sagen in Ihrem laut Arbeitserlaubnis Anspruch auf gleiche Bedin- Gesetz lapidar: Das sollen die Länder regeln. Was gungen wie die hier beschäftigten inländischen 6478 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Annelie Buntenbach Arbeitnehmer haben, sind sie ganz offensichtlich ken sich vor der Verantwortung, menschenwürdige Lohn- und Sozialdumping ausgesetzt. Sie werden Arbeitsbedingungen zu schaffen, und zwar für Deut- mit falschen Versprechungen angeworben und sche und für ausländische Kollegen. Statt dessen ver- haben nichts Schriftliches in der Hand. Sie werden suchen Sie mit Ihrem Gesetz verzweifelt, die Verant- nach Strich und Faden ausgenutzt, was Arbeitszeiten wortung wieder loszuwerden, natürlich möglichst und Niedriglöhne angeht. Ihre Konfliktfähigkeit und ohne daß es auffällt, daß Sie handlungsunfähig sind. Rechtssicherheit müssen unbedingt gestärkt werden. Aber wir spielen hier doch nicht Schwarzer Peter. Das gilt auch für die Arbeitnehmer aus den Län- Diejenigen von Ihnen, die wirklich ein Ende des dern der EU, deren Situation sich kaum von der Lohn- und Sozialdumpings auf dem Bau wollen, geschilderten unterscheidet. Es gibt Berichte aus den haben gleich bei der Abstimmung die Chance, sich Botschaften, daß die Leute im Krankheitsfall sofort für einen tragfähigen Gesetzentwurf zu entscheiden, hinausgeworfen werden, bei Unfällen die Existenz den der SPD oder den des Bundesrates. Der Entwurf von Verträgen bestritten wird und die Leute dann des Bundesrates faßt einen sehr weitgehenden Kon- über die Grenze gebracht werden. sens der Länder zusammen, übrigens auch von CDU regierten Ländern. Ich möchte Sie dringend auffor- Die Situation auf den Baustellen ist ausgesprochen dern, jenseits der Koalitionsräson in der Sache eine explosiv. Die Kollegen werden gegeneinander nach vernünftige Entscheidung zu treffen. unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichem Paß ausgespielt. So entstehen nationale Ressenti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ments und kein weltoffenes Europa. bei der SPD und der PDS) Die Unternehmen der Baubranche, die sich korrekt verhalten und noch Tariflöhne zahlen, werden durch Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat dieses Sozialdumping in den Konkurs get rieben oder Herr Kollege Heinrich, F.D.P.-Fraktion. gezwungen, ebenfalls unter Tarif anzubieten. Wenn (Jörg Tauss [SPD]: Hein rich, zweite Auf Herr Murmann diesen Prozeß des freien Falls will - lage! - Dr. Uwe Küster [SPD]: Heinrich, der wir wollen ihn nicht, und die Baubranche, und zwar Wagen bricht!) beide Tarifparteien, wollen ihn auch nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ulrich Heinrich (F.D.P.): Herr Präsident! Meine lie- und der SPD sowie bei Abgeordneten der ben Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Ver- PDS) treter der SPD und jetzt auch die Vertreterin der Grü- Es ist inzwischen doch schon so, daß bei Ausschrei- nen so hört, was für Regulierungen und staatliche bungen auch der öffentlichen Hand Angebote alter- Bevormundung wir in Zukunft zu erwarten haben, nativ mit und ohne Kosten für die Sozialversicherung dann könnte einem schlecht werden. eingereicht werden. Die Preisunterschiede sind (Jörg Tauss [SPD]: Mir wird schlecht, aber natürlich gerade bei größeren Bauvorhaben erheb- auf Grund Ihrer Politik!) lich. Gerade die Kommunen, die dank der Bundes- politik immer weniger finanziellen Spielraum haben, Haben Sie dem Vertrag von Maastricht eigentlich geraten unter Druck. Die explosive Situation in Ber- nicht zugestimmt? Die Grünen haben es nicht, das lin ist uns im Ausschuß anschaulich geschildert wor- weiß ich, die waren schon immer gegen Europa. den: ein Bauboom unter den Bedingungen von Lohn- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Sozialdumping. Die Antwort auf die Frage, ob der Bund bei seinen Hauptstadtbauprojekten auch Aber die SPD hat doch zugestimmt. - auf Billigarbeiter zurückgreift, steht noch aus. Wir haben Dienstleistungsfreiheit. Wir müssen (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Eindeutige Aus doch einmal deutlich ansprechen, welche Entwick- schreibungsvorschrift!) lungen eingeleitet würden, wenn wir eine unbefri- stete Regelung, vor allen Dingen aber eine auf alle In Ihre absurde und kurzsichtige Sparlogik würde Bereiche ausgedehnte Regelung vornehmen würden. das durchaus passen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Der Bundestag steht als Gesetzgeber in der Pflicht, ten der CDU/CSU) Lohn- und Sozialdumping ein Ende zu setzen. Wir müssen den ordnungsrechtlichen Rahmen schaffen, Ich darf Sie schon bitten: Wer hier so redet, verspielt in dem Tarifautonomie Bestand haben kann. Wenn tatsächlich die Zukunft Europas. Sie, meine Damen und Herren von den Regierungs- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS fraktionen, Ihren unwirksamen Gesetzentwurf immer 90/DIE GRÜNEN - Rudolf Bindig [SPD]: wieder im Namen der Tarifautonomie begründen, ist Wie kann ein einzelner Mensch soviel das schlichter Unsinn. Tarife auf dem Bau werden, Unsinn reden!) wenn die Entwicklung so weiterläuft, in Zukunft nur noch eine Randerscheinung sein. Man muß die Dinge doch einmal über einen gewis- sen Kirchturmhorizont hinaus betrachten. (Jörg Tauss [SPD]: Das wollen die doch!) (Beifall bei der F.D.P.) Was Sie hier aufführen, erinnert an eine Schmie- renkomödie. Sie bejammern völlig zu Recht die Wir haben die Dienstleistungsfreiheit in der Euro- elende Situation auf den Baustellen, aber Sie drük- päischen Union. Sie erlaubt nun einmal Bauunter- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6479 Ulrich Heinrich nehmen insbesondere aus Portugal, Griechenland, schon eingangs eine Bemerkung gemacht -, und wir Großbritannien oder Irland, bei uns in der Bundesre- werden selbstverständlich mit einem spürbaren publik Deutschland Aufträge anzunehmen und diese Ansteigen der Baupreise zu rechnen haben. Auch ohne Arbeitserlaubnis auch auszuführen. Die Arbeit- das darf man nicht vergessen. nehmer arbeiten in Deutschland nach den Tarifen ihres Heimatstaates, auch die Sozialabgaben richten (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So ist es!) sich nach dem Entsendestaat. Die ausländischen Man muß davon ausgehen, daß die Preise nach oben Unternehmen haben damit einen erheblichen gehen, was sich für den Verbraucher, für denjenigen, Kostenvorteil; das ist unbestritten. Ein englischer der eine Wohnung sucht, für denjenigen, der in neue Bauarbeiter zum Beispiel verdient gegenüber einem Lagerhallen, in neue Produktionsstätten investiert, deutschen nur ein Drittel bis zur Hälfte. negativ auswirkt. Auf Grund dieser Tatsache gibt es natürlich eine (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.] - Verdrängung deutscher Unternehmer unter Verlust Jörg Tauss [SPD]: Warten wir einmal ab!) von Arbeitsplätzen. Für diese Klage muß man Ver- ständnis haben, man muß sie aufgreifen. Das haben - Wir warten es ab. wir mit diesem Entwurf eines Entsendegesetzes Es steht zu befürchten, daß nach Inkrafttreten des getan. Entsendegesetzes womöglich die Arbeitnehmer, die Nach dem Scheitern einer europäischen Richtlinie aus EU-Ländern kommen - die bislang legal hier zur Lösung des Problems hat die Bundesregierung arbeiten konnten -, schwarzarbeiten. eine nationale Lösung vorgelegt, die ausländische (Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE Arbeitgeber bei der Entsendung von Arbeitnehmern GRÜNEN]: Illegale Lagerarbeiter gibt es an deutsche Löhne bindet. Hierzu sind zwei Schritte doch schon zuhauf!) nötig: Erstens. Die deutschen Tarifverträge werden für die jeweils niedrigste Tarifgruppe allgemeinver- Auch das ist uns natürlich nicht willkommen. bindlich erklärt. Zweitens. Die für allgemeinverbind- lich erklärten Tarifverträge werden auf ausländische Trotz dieser langen Liste von Schwierigkeiten und Arbeitsverhältnisse erstreckt. Nachteilen ist in der Koalition unter Berücksichti- gung dieser Erwägungen ein Kompromiß geschlos- Aus der Sicht der F.D.P. - ich betone das ausdrück- sen worden. lich - gibt es aus ordnungspolitischen Gründen keine überschäumende Freude für dieses Gesetz. Nach wie (Peter Dreßen [SPD]: Frau Babel wurde vor erwarten wir, daß mit diesem Gesetz gravierende zurückgepfiffen!) Nachteile verbunden sind. Diese Nachteile nehmen Das Gesetz wurde ursprünglich auf das Bauhauptge- wir sehr ernst. Aber bei einer kritischen Gesamtbe- werbe mit seinen rund 1,5 Millionen Arbeitnehmern trachtung glauben wir, daß die Vorteile letztendlich beschränkt. Die Geltungsdauer beträgt zwei Jahre. doch überwiegen. Dennoch sollten auch heute noch Auf extensive Kontrollbefugnisse wird ganz bewußt einmal die Nachteile, die mit diesem Gesetzesvorha- verzichtet. ben verbunden sind, verdeutlicht werden. Denn nichts ist schlimmer, als die Augen zu verschließen In den vergangenen Wochen - das ist auch bei der vor Entwicklungen, die wir alle nicht wollen. Anhörung zutage getreten - wurde jedoch auch vom Handwerk verstärkt gefordert, das Entsendegesetz Um die Wirksamkeit des Entsendegesetzes zu auf die Nebengewerbe zu erweitern. gewährleisten, ist in Deutschland eine flächendek kende Allgemeinverbindlichkeitsregelung- vorgese- (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) hen. Es tritt somit genau das Gegenteil dessen ein, Es ist ja logisch auch kaum nachvollziehbar, daß der was die F.D.P. eigentlich wollte, nämlich die Abschaf- Maurer und der Dachdecker Vorteile durch das Ent- fung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung. sendegesetz haben sollen, der Klempner, der Instal- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr!) lateur und der Elektriker aber nicht. Das deutsche Tarifsystem verkrustet zusätzlich, und Wir müssen natürlich auch beachten, daß die Einstiegstarife für Arbeitslose sind nicht mehr mög- Abgrenzungskriterien nicht transparent und nicht lich. Das sind Fakten, die man sehen muß. logisch sind. Wir müssen deutlich darstellen, daß es auch eine sehr starke Verkomplizierung innerhalb Besonders schwierig kann die Situation in den der Betriebe gäbe. Eine Begrenzung auf das Bau- neuen Bundesländern werden. Ich bin gespannt, wie hauptgewerbe wäre für die Wirtschaft nicht nur nicht sich die Dinge dort auswirken. Wo viele Bau- und praktikabel, sondern es wäre auch nicht im Sinne der Handwerksbetriebe nur dank einer Bezahlung unter Erhaltung möglichst vieler Arbeitsplätze. Tarif existieren können, wird die Existenz dieser Ver- träge durch eine Allgemeinverbindlichkeitserklä- Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Zeit kommen rung bedroht. Diese Unternehmen sind bewußt aus Betriebe auch im Ausbaugewerbe - da sind immer- dem Tarifverbund ausgeschieden, um überhaupt hin 800 000 Arbeitnehmer beschäftigt - in große wirt- wettbewerbsfähig zu werden. schaftliche Schwierigkeiten. Die Insolvenzzahlen des Handwerks sprechen eine deutliche Sprache. Ein weiteres Negativum: Die innerhalb der Euro- Der baden-württembergische Handwerkstag hat päischen Union mühsam errungene Dienstleistungs- mich erst vor kurzem wissen lassen, daß die Zahl der freiheit wird erheblich eingeschränkt - ich habe dazu Insolvenzen bis zur Jahresmitte 1995 bereits höher 6480 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Ulrich Heinrich war als im ganzen Jahr 1994. Dies läßt Schlimmes Betrieben in dieser schwierigen Situation zur Seite zu ahnen. stehen und dieses Gesetz - allerdings auf zwei Jahre begrenzt - politisch mitzutragen. (Zuruf von der SPD: Warum wohl? - Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ich Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen sage nur: Spöri! - Zuruf von der SPD: Sie mich zum Schluß noch zwei Punkte ansprechen. Unmittelbare Folge der Regierung!) Erstens. Sollte die Allgemeinverbindlichkeitserklä- rung nicht zustande kommen, - Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie wissen genau so gut wie ich, daß das Handwerk in (Zuruf von der SPD: Was dann?) den vergangenen Jahren überproportional gute so sagen wir ganz deutlich, daß wir ein Mindestlohn- Zuwächse hatte. Insgesamt haben wir eine Abschwä- gesetz auch in Zukunft ablehnen werden. chung der Baukonjunktur zu verzeichnen. Da folgen eben entsprechende Insolvenzen. (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) (Zuruf von der SPD: Die Ehrlichen werden Zweitens. Für uns kommt auch eine gesetzliche betrogen!) Allgemeinverbindlichkeitserklärung nicht in Frage. Die Zustimmung des Tarifausschusses muß zwin- Alles deutet darauf hin, daß mit der Abschwä- gend vorliegen; denn die Politik darf nicht gegen den chung der Konjunktur auch die Insolvenzwelle wei- Willen der Tarifvertragsparteien selbstherrlich ent- ter steigt. Dies ist nicht nur auf Wettbewerbsnach- scheiden. teile zurückzuführen, sondern auch auf die Abfla- chung der Baukonjunktur. Deshalb war das Arbeits- Zum Schluß noch ein Satz zur Befristung. Ohne die platzargument für uns mit ausschlaggebend dafür, Befristung auf zwei Jahre hätte es von uns keine daß wir der Ausdehnung des Entsendegesetzes auf Zustimmung gegeben; denn die ordnungspolitischen das Baunebengewerbe zugestimmt haben. Sünden, die begangen worden sind, sollten zumin- dest zeitlich begrenzt werden. Das ist eine Begrün- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger dung. Ich gebe zu: Sie ist nicht besonders stark. lingen] [F.D.P.] - Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) (Peter Dreßen [SPD]: Das ist wahr! Ihre ganze Rede ist nicht stark!) Auch für unsere Bevölkerung ist es sicherlich nicht nachvollziehbar, wenn wir im Rahmen europäischer Es liegt jetzt an uns, aus der Belastung der Harmonisierung immer nur negative Begleiterschei- Betriebe durch Steuern und Abgaben die Konse- nungen mit zu vertreten haben. Auch aus diesem quenz zu ziehen und hier in den nächsten zwei Jah- Grund müssen wir von unserer Seite aus mit dafür ren spürbare Erleichterungen durchzusetzen. Dann sorgen, daß die Dinge erträglich werden. können wir auch die Befristung mittragen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) die Betriebe zur Zeit kämpfen müssen, haben auch Somit wird es auch für die Betroffenen erträglich etwas mit der zu hohen Steuerbelastung sowie den werden. zu hohen Lohnzusatzkosten zu tun. Herzlichen Dank. (Beifall bei der F.D.P. - Zuruf von der SPD: Baut sie doch endlich ab!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Auch da können wir uns von der Verantwortung nicht freisprechen. Wenn die Lohnzusatzkosten und - Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die die Steuerbelastung zu hoch sind, dann müssen wir Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner, PDS. uns doch auch darüber im klaren sein, daß wir dafür zu sorgen haben, daß gegengesteuert wird. Ich sage Ihnen ganz offen: Mir wäre es lieber, wir könnten die Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Herr Präsident! Steuer- und Abgabenlast um 20 Prozent nach unten Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Motiv, das Sie, fahren; dann bräuchten wir dieses Entsendegesetz Herr Heinrich, für die Befristung angeführt haben, ist nämlich gar nicht. ganz neu. Es wäre sehr interessant, hierüber weiter- zudiskutieren. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Nein, Minister Blüm, Ihr Gesetzentwurf ist keine Antwort auf den Notruf. Sie lassen die Kolleginnen Das ist entscheidend: Auf der einen Seite belasten und Kollegen im Regen stehen. Selbst der Mittel- wir die mittelständischen Unternehmen mit zusätzli- stand, den Sie zu fördern vorgeben, lehnt Ihr Gesetz chen Abgaben und Steuern, ab, wie Sie aus der Anhörung lernen konnten. (Ottmar Schreiner [SPD]: Wer hat denn (Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS] und belastet? Wer ist denn „wir"?) des Abg. Peter Dreßen [SPD]) und auf der anderen Seite sagen wir, wenn es Es muß einen schon wundern, daß in den letzten Schwierigkeiten gibt: Nein, aus ordnungspolitischen Wochen in diesem Hause die Tarifautonomie sozusa- Gründen können wir euch natürlich nicht helfen. So gen Hochkonjunktur feiert. Ich sage Ihnen: Ich können wir allerdings auch nicht verfahren. Deshalb werde Sie daran erinnern, wenn die nächsten Tarif- liegt es jetzt in der Verantwortung der Politik, den abschlüsse erfolgen. Ich bin fest davon überzeugt, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6481

Dr. Heidi Knake-Werner daß die Tarifautonomie in dem Maße hier Konjunktur Sie beschränken zweitens die Lohngleichheit nach hat, wie Sie in Ihrem unsozialen Deregulierungs- wie vor auf die untere Lohnstufe. Das ist hier gerade absichten fortfahren und deshalb die zu lösenden wieder begründet worden. Das Lohngefälle am Bau- Probleme auf die Schultern der Tarifpartner übertra- gewerbe bleibt also bestehen. gen und damit abladen wollen, Drittens haben Sie schließlich trotz der vielen wich- (Beifall bei der PDS) tigen Hinweise der Sachverständigen stur an der Befristung auf zwei Jahre festgehalten, übrigens so nach dem Motto, wie wir es schon im Ausschuß wider besseres Wissen. gehört haben: Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht; jetzt ist es der Job der Tarifpartner, sich mit Ich möchte noch einmal den Kollegen Laumann diesem Gesetz auseinanderzusetzen. Das sagte wo rt bemühen. Er hat uns in der gestrigen Sitzung wo rt -getreu der Kollege Laumann. -reich erklärt, daß es noch eine unendlich lange Zeit brauchen wird, bis sich Portugal diese Sozialstan- Das war schon beim Schlechtwettergeld so; die dards leisten kann, die wir in der Bundesrepublik Kollegen am Bau haben die Zeche dafür zu zahlen. haben. Jawohl, Kollege Laumann, deshalb ist gar Das wird auch bei dem Entsendegesetz so sein. Wie- nicht einzusehen, daß wir das Entsendegesetz auf der trifft es das Baugewerbe. Man muß schon fast zwei Jahre beschränken, weil es bis dahin noch vermuten, daß Sie gegen diesen Berufsstand etwas keine Angleichung von Sozialstandards geben wird, haben. (Leyla Onur [SPD]: Das ist auch etwas ande Trotz besserer Alternativen von SPD und Bundes- res!) rat - das ist hier schon gesagt worden - machen Sie ein Gesetz, das auf halbem Wege steckenbleibt. Es abgesehen von Ihrem Bemühen als Regierungspar- ist doch absehbar, daß Ihr Vorschlag der Allgemein- teien, Portugal entgegenzukommen, indem Sie stän- verbindlichkeitserklärung - auch das ist hier schon dig die Sozialstandards in der Bundesrepublik nach mehrfach gesagt worden - eben nicht das Ziel reali- unten nivellieren. siert, gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort durchzusetzen. (Beifall bei der PDS)

Die Bundesvereinigung der Arbeitgeber hat ihre Das kann man an der Stelle vielleicht auch einmal Ablehnung bereits beschlossen. Es gibt überhaupt sagen. kein Signal dafür, daß sie jetzt zu einem Gesinnungs- wandel kommen wird. Das heißt doch, daß Ihr Solange es also keine europaweite Regelung gibt, Gesetzentwurf über eine nationale Entsenderege- die wir, glaube ich, alle vorziehen würden, brauchen lung schon Essig ist, bevor es überhaupt losgegan- wir ein unbefristetes Entsendegesetz in der Bundes- gen ist. republik. Noch gestern hat uns allen eine Nürnber- ger Innung mitgeteilt, daß es müßig ist, ein Gesetz Ein Entsendegesetz, das von den Arbeitgebern auf den Weg zu bringen, das in der Praxis schon zum nach Belieben ausgehebelt werden kann, fördert Scheitern verurteilt ist. Das ist keine Einzelmeinung. nicht die Tarifautonomie, jedenfalls nicht die, die ich Das wissen Sie sehr wohl. mir vorstelle. Im Gegenteil: Wenn Tarifverträge unterlaufen werden können, ist die Tarifautonomie Sie schlagen eine nationale Regelung vor, die weit gefährdet und der Anstieg der Arbeitslosenzahl vor- hinter die Forderungen der EU-Kommission für eine programmiert. Nur wenn gesichert ist, daß die von EU-Richtlinie zurückfällt; denn do rt geht es um einen den Tarifparteien ausgehandelten Tarifverträge- für harten Kern von Mindestkonditionen und eben nicht alle Beschäftigten gelten, können Lohn- und Sozial- nur um Lohn. Vielmehr spielen auch Fragen der dumping wirksam bekämpft werden. Deshalb bietet Arbeitszeit, des Gesundheitsschutzes, der Arbeitssi- es sich förmlich an, alle entsandten Arbeitnehmer cherheit usw. eine Rolle. Wir haben gestern im Aus- nach den ortsüblichen Arbeitsbedingungen zu schuß darüber noch ausführlich diskutiert. beschäftigen. Aber jede gesetzliche Regelung - das will ich Sie haben mit Ihrem gestrigen Änderungsantrag ebenfalls noch einmal sagen - in der Frage der Ent- zwar die Ausdehnung des Geltungsbereichs senderichtlinie, auch wenn sie noch so dürftig ist wie beschlossen - das ist sehr löblich - und damit wenig- die Ihre, bleibt Makulatur, wenn nicht gleichzeitig stens eine Anregung der Sachverständigen aufge- wirksame Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen vor- nommen, andere Anregungen aber massenhaft nicht gesehen sind. Hier stehlen Sie sich schlicht und berücksichtigt. Diese aber halte ich für mindestens ergreifend aus der Verantwortung. genauso wichtig. Ich will sie kurz nennen. Warum, bitte sehr, überlassen Sie nun ausgerech- Erstens. Sie haben Ihr Gesetz weiterhin auf die net diesen Punkt der Regelung auf Länderebene? Baubranche beschränkt. Ich kann überhaupt nicht Warum ermöglichen Sie die Kontrollen nicht do rt, wo verstehen, warum Sie die Kolleginnen und Kollegen die rechtlichen Zuständigkeiten für die Genehmi- in der Gastronomie nicht ebenfalls vor Lohn- und gung der Arbeitsverhältnisse von ausländischen Sozialdumping schützen wollen. Es gibt noch viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern liegen, näm- andere Dienstleistungsbereiche, wo eine soziale lich bei der Bundesanstalt? Absicherung fehlt und mangelnder Arbeitsschutz und Niedrigstlöhne vorherrschen. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) 6482 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Heidi Knake-Werner Wenn Sie das auf Ihre Entscheidungsebene ziehen werden wir den Gesetzentwurf der Regierung ableh- würden, könnten Sie Ihrem Lieblingshobby, der Miß nen. brauchsaufklärung, endlich frönen. Um das in aller Deutlichkeit zu sagen: Dabei geht es mir wirklich Danke schön. nicht darum, daß Sie mit Hundestaffeln den ausländi- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne schen Kollegen hinterherjagen, sondern daß Sie end- ten der SPD) lich die Machenschaften unse riöser Arbeitgeber und Arbeitsvermittler aufklären. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die (Beifall bei der PDS) Kollegin Leyla Onur, SPD.

Daß Sie an dieser Stelle die Länder ins Boot holen, Leyla Onur (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- finde ich insofern befremdlich, als Sie sich mit Ihrem nen und Kollegen! Mit dem bedeutenden Beitrag von Gesetzentwurf konsequent gegen die Positionen der Herrn Heinrich von der F.D.P. möchte ich mich aus Länder stellen, an denen Ihre eigenen Leute in Berlin Höflichkeit nicht näher befassen - maßgeblich mitgearbeitet haben. Das müßten Sie wahrscheinlich noch einmal erklären. (Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir schlagen aus Höflichkeit, denn sonst würde ich unter Umstän- einen kleinen Änderungsantrag zu dem SPD-Gesetz- den einige sehr unfreundliche Bemerkungen entwurf vor. Wir möchten gern die Förderung von machen müssen. Anlauf- und Beratungsstellen für ausländische (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Da kön Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen durch den nen Sie sich den Rest auch sparen!) Bund. Ihre Aufgabe soll es sein, zielgerichtet Hilfen für ausländische Arbeitskräfte anzubieten, die Herr Bundesminister Dr. Blüm, Sie tun mir wirklich Durchsetzung formal bestehender Rechte zu unter- leid, einen solchen Pa rtner in dieser Frage zu haben. stützen und die betroffenen Beschäftigten umfassend (Widerspruch bei der CDU/CSU - Beifall praktisch zu orientieren, ihnen Handlungsmöglich- bei Abgeordneten der SPD) keiten aufzuweisen, ihre Rechtssicherheit sowie aber auch ihre Konfliktfähigkeit zu stärken. Am Beispiel Ich möchte mich aber natürlich mit dein Hauptver- der polnischen Vertragsarbeiterin wissen wir, wie antwortlichen befassen, und das sind Sie, Herr Dr. notwendig das ist. Blüm. Ich muß noch einmal auf die Wurzel des Übels zurückkommen, auf die Tatsache, daß wir, ich muß Die vorgeschlagenen Einrichtungen sollen dazu sagen: fast alle bis auf die F.D.P., nach wie vor vehe- beitragen - das ist mir jetzt sehr wichtig -, die vieler- ment eine europäische Entsenderichtlinie fordern. orts ehrenamtlich und unbezahlt geleistete Vertrau- Diese europäische Entsenderichtlinie haben wir aber ensarbeit durch Vereine und Initiativen zu versteti- bis heute nicht, weil Sie, Herr Blüm, während der gen, um die Rechte der vorübergehend Beschäftigten deutschen Ratspräsidentschaft die Chance, die Sie dauerhaft zu sichern. hatten, nicht genutzt haben. Im Gegenteil, Sie haben sich in der Zeit zwischen August 1991 und Juli 1994 Ansonsten will ich abschließend zu unserem um diese Entsenderichtlinie nicht oder nicht genug Abstimmungsverhalten noch kurz etwas sagen. Wir gekümmert. werden dem Gesetzentwurf der SPD unsere Zustim- mung geben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten der PDS) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]:- Na Erst kurz vor Beginn der deutschen Ratspräsident- klar! Das habt ihr doch besprochen!) schaft sind Sie aufgewacht. Warum haben Sie die Wir werden den Gesetzentwurf der Bundesregierung europäische Entsenderichtlinie erst im Juli 1994 zur ablehnen. Das betone ich deshalb, weil wir uns Chefsache gemacht? Die Antwort ist einfach. gestern im Ausschuß enthalten haben. Erstens. Der Bundestagswahlkampf hatte begonnen, und über 150 000 arbeitslose Bauarbeiter und ihre Familien sind auch Wählerinnen und Wähler. Ein Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die Zeit, Frau weiterer Kommentar erübrigt sich wohl an dieser Kollegin. Stelle. (Beifall des Abg. Peter Dreßen [SPD])

Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Das ist mein letzter Zweitens. Jeder Minister, der etwas auf sich hält, Satz. möchte am Ende seiner Ratspräsidentschaft Erfolg vermelden können. Da alle Minister diesen Wunsch Wir haben die Entscheidung nicht unbedacht haben und alle nacheinander an die Reihe kommen, getroffen. Wir haben uns das sehr wohl überlegt, sind sie auch im eigenen Interesse bereit, ihren weil wir von der Annahme ausgingen, ein schlechter jeweiligen Kollegen einen Erfolg zu gönnen, nach Entwurf kann besser sein als gar kein Entwurf. Wir dem Motto: Gibst du mir, geb ich dir. Unter dieser haben uns gestern von den direkt Betroffenen noch Voraussetzung hätten Sie, Herr Bundesminister einmal mit guten Argumenten überzeugen lassen, Blüm, im zweiten Halbjahr 1994 unter deutscher daß das keine vernünftige Regelung ist. Deshalb Ratspräsidentschaft hervorragende Chancen gehabt, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6483

Leyla Onur sich am Ende der Präsidentschaft mit einer positiven Ihre Morgengabe wurde gerne angenommen, Entscheidung zur europäischen Entsenderichtlinie ohne Gegenleistung, ohne das ersehnte Ja zur Sen- schmücken zu können. derichtlinie, ohne Erfolg für die deutsche Ratspräsi- dentschaft. Sie haben dem Ansehen der deutschen (Peter Dreßen [SPD]: Schön wäre es gewe Regierung und über 150 000 einheimischen Bauar- sen!) beitern damit sehr geschadet. Aber leider hat Herr Bundesminister Blüm es nicht (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Petra verstanden, diese Chance zu nutzen, im Gegenteil, Bläss [PDS]) er hat die Sache nach Strich und Faden vermasselt. Er hat nämlich auf das falsche Pferd gesetzt, das Sie werden sicherlich nachvollziehen können, daß heißt, an einer Stelle Zugeständnisse gemacht, die Ihr persönlicher Reputationsverlust uns als Opposi- nie strittig waren. Ich meine den Anwendungsbe- tion nicht in tiefe Trauer stürzt. Zur Schadenfreude reich der Entsenderichtlinie. Sowohl in dem Entwurf haben wir allerdings auch keinen Anlaß. Denn Ihr von 1991 als auch in dem geänderten Richtlinienent- Versagen trifft andere, die ihre Hoffnung auf Sie als wurf von 1993 ist ein uneingeschränkter Anwen- den verantwortlichen Minister gesetzt haben und dungsbereich vorgesehen. Das heißt, die europäi- schwer enttäuscht worden sind. Durch Ihr Versagen sche Richtlinie soll für alle Unternehmen, die im Rah- haben Sie kleine und mittlere Unternehmen und men der Erbringung von Dienstleistungen im Sinne Handwerker um die Chance gebracht, sich unter fai- des EWG-Vertrages tätig sind, gelten und entspre- ren Bedingungen auf dem Markt zu behaupten. Eine chend für alle befristet entsandten Arbeitnehmerin- dramatisch hohe Zahl von Pleiten und Konkursen ist nen und Arbeitnehmer, ganz gleich welcher Bran- das traurige Ergebnis Ihres dilettantischen Vorge- che. hens. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Jetzt reden Sie (Beifall bei der SPD - Ulrich Junghanns doch einmal zum Gesetzentwurf!) [CDU/CSU]: Das ist ja lachhaft!) Sie haben über 150 000 einheimische Arbeitneh- - Regen Sie sich doch nicht auf, Herr Kollege Hein- mer in die Arbeitslosigkeit getrieben. Weitere rich, wir kommen noch dazu. 100 000 Arbeitsplätze sind gefährdet. Über eine Einschränkung des Anwendungsberei- (Peter Dreßen [SPD]: So ist es!) ches ist nie ernsthaft diskutiert worden. Von Beginn an bis heute strittig ist ein völlig anderer Punkt, näm- Sie haben durch Ihr Versagen zugelassen, daß ent- lich die Schwellenfrist. Erst der Bundesminister Blüm sandte Arbeitnehmer aus Portugal, Griechenland hat die Beschränkung des Anwendungsbereichs auf und aus anderen Mitgliedstaaten weiterhin wie Skla- die Baubranche im Juli 1994 als Morgengabe auf ven ausgebeutet werden. Dafür, Herr Sozialminister, dem silbernen Tablett serviert, um - wie wir vermu- tragen Sie die alleinige Verantwortung. ten - die Blockierer dieser Richtlinie in das Boot zu (Peter Dreßen [SPD]: So ist es! - Ul rich bekommen, also die konservative britische Regie- Junghanns [CDU/CSU]: Sie sind unmög rung, die irische, die portugiesische oder vielleicht lich!) auch die italienische Regierung. In völliger Fehlein- schätzung der Situation hat er wohl gehofft, den briti- Was haben Sie nach Ihrem Versagen gemacht? Sie schen Sozialminister aus der Phalanx der Verhinde- haben vollmundig ein nationales Entsendegesetz rer herauszubrechen. angekündigt. Nach Ihrem vollmundigen Ankündi- gen sollte dieses Entsendegesetz schnell kommen (Zuruf von der SPD: So ist er halt!) - und wirksam sein. Neue Hoffnungen machten sich Auf welchem Baum, Herr Minister, haben Sie eigent- breit, doch welch eine Enttäuschung für die Betroffe- lich 1994 geschlafen? Sonst hätten Sie wissen müs- nen. Was Sie endlich im August 1995 vorgelegt sen, daß die europafeindliche britische Regierung bei haben, ist ein Reparaturgesetzchen, weit entfernt einem strikten Nein bleiben würde, was auch immer von einer umfassenden und durchgreifenden Lösung Sie angeboten hätten. Diese britische Regierung hat des Problems. aus ihrerseits guten Gründen als einziger EU-Staat Sie kommen mir vor wie ein Feuerwehrmann, der nicht das Sozialprotokoll unterschrieben. Diese briti- vor einer lichterloh brennenden Scheune steht und sche Regierung will soziale und arbeitsrechtliche mit einem Wassereimer das Feuer zu löschen ver- Schutzbestimmungen in der EU um jeden Preis ver- sucht. hindern. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Petra Sie hat leider auf Grund der laschen Haltung der Bläss [PDS] - Ottmar Schreiner [SPD]: Hei, anderen - eben auch Ihrer laschen Haltung, Herr Feuerwehrmann! Zuhören!) Bundessozialminister - damit Erfolg. Jeder, der sich auf dem europäischen Parkett auskennt, hätte Ihnen Derweil sind die Funken längst auf die Nachbarge- vorher sagen können, daß Sie ohne Not etwas preis- bäude übergesprungen. Aber um diese weiteren gegeben haben, ohne eine Gegenleistung dafür Brandherde, sprich: Branchen, kümmern Sie sich zugesichert bekommen zu haben. Jeder Teppich- nicht, sondern warten, bis auch die Nachbargebäude händler ist im Verhandeln geschickter als Sie. lichterloh brennen, um dann eventuell einen zweiten oder dritten Wassereimer herbeizuholen. Ein echter (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Petra Feuerwehrmann würde alle zur Verfügung stehen- Bläss [PDS]) den Löschfahrzeuge einsetzen und in einer großan- 6484 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Leyla Onur gelegten Aktion das Großfeuer und die kleineren hen werden" müßten. Lassen Sie es sich auf der Brände löschen, also das Feuer mit einem Schlag im Zunge zergehen, verehrte Kollegen! Keim ersticken. Warum sich der Bundesminister von dieser weisen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Einsicht verabschiedet hat, weiß ich nicht. Mit Ret- Genau so eine Aktion haben wir von Ihnen erwar- tung der Tarifautonomie hat das sicherlich nichts zu tet. Sie aber sind mit einem Eimerchen voll Wasser tun. Wir dagegen haben nach einer praktikablen erschienen, um einen Großbrand zu löschen. Schen- Lösung gesucht und eine gefunden: die Ortsüblich- ken Sie den Wassereimer Ihrem 2,5-Prozent-Koaliti- keit. Sie wurde gemeinsam von SPD- und CDU/ onspartner F.D.P., und setzen Sie endlich das notwen- CSU-Europaabgeordneten entwickelt, von der Euro- dige schwere Gerät ein! Mit den Instrumenten des päischen Kommission aufgegriffen und in den verän- SPD-Vorschlages kann das Problem nämlich gelöst derten Vorschlag von 1993 aufgenommen. werden. Sie, Herr Bundesminister, haben sich von dieser (Beifall bei der SPD) gemeinsamen Linie verabschiedet und damit ein Scheitern vorprogrammiert. Die Arbeitgeber im Ihr Reparaturgesetzchen ist schon vor der Verab- Tarifausschuß haben Ihnen die rote Karte schon schiedung gescheitert, weil die Arbeitgeber im Tarif- gezeigt. Noch haben Sie jedoch die Möglichkeit, auf ausschuß in einem wesentlichen Punkt nicht mitma- der Grundlage Ihrer realistischeren Einschätzung der chen werden. Problematik von 1991 die richtige Schlußfolgerung zu ziehen und unseren Vorschlag, der dem Vorschlag (Zuruf von der CDU/CSU: Warten Sie es des Europäischen Parlaments und der Kommission doch mal ab!) entspricht, also europakonform ist, zuzustimmen. Ich möchte Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kolle- gen, gerne einen kurzen Text vorlesen. Abschließend möchte ich einige Bemerkungen zu dem kläglichen Rest Ihres Reparaturgesetzchens (Zurufe) machen. Ich mache es mir leicht und ziehe aus dem dicken Paket kritischer Stellungnahmen zum Koaliti- - Ich mache es kurz. onsentwurf beispielhaft die Stellungnahme des Zen- Es heißt: tralverbandes des Deutschen Baugewerbes heraus und zitiere die zwar höflich formulierten, aber den- Nach Artikel 3 Abs. 1 Buchst. a sollen für die in noch vernichtenden Kritikpunkte dieses Verbandes. Artikel 2 genannten Entsendefälle solche Dabei will ich nicht verschweigen, daß dieser Ver- Arbeitsbedingungen des Arbeitsortes maßgeb- band natürlich in bezug auf Mindestlohn und Urlaub lich sein, die „in Rechts- oder Verwaltungsvor- durchaus positiv Stellung genommen hat; aber dafür schriften, tarifvertraglichen Vereinbarungen oder haben Sie ja die schon häufig erwähnte rote Karte Schiedssprüchen" enthalten sind, „die für die von den Arbeitgebern bekommen. betreffende Tätigkeit und das betreffende Gewerbe insgesamt gelten und eine Erga Ansonsten entsprechen die von diesem Verband Omnes-Wirkung haben und/oder rechtsverbind- angesprochenen Punkte unserer Meinung: „Das lich für die betreffende Tätigkeit und das betref- Bauhauptgewerbe reicht nicht aus." Okay, das fende Gewerbe sind". Dieser Text bedeutet für haben Sie in letzter Sekunde repariert. „Die vorgese- die spezifische Situation in der Bundesrepublik henen Sanktionen bei Nichteinhaltung der zwingen- Deutschland, daß von den Tarifverträgen- nur die den Arbeitsbedingungen reichen nicht aus." Völlig allgemeinverbindlichen zu berücksichtigen sind, richtig. „... nicht erkennbar, daß die Regelungen mit weil andere in der Bundesrepublik Deutschland geeigneten Mitteln durchgesetzt werden können." keine „Erga-Omnes-Wirkung" haben. Da in Völlig richtig. „Vorgesehene Ausnahmeregelungen Deutschland allgemeinverbindliche Tarifverträge lassen ein Unterlaufen des Gesetzes befürchten." besonders im Bereich der Lohntarifverträge die Auch richtig. „Die zweijährige Geltungsdauer ist zu große Ausnahme darstellen, würde die Richtlinie kurz." Ich würde sagen, sie ist ein Witz. insoweit in Deutschland weitgehend leerlaufen. (Beifall bei der SPD) Das ist nun keine Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes, auch keine Stellungnahme Meine sehr verehrten Damen und Herren, der der SPD, sondern das ist die Stellungnahme der Bun- SPD-Entwurf dagegen ist von allen Betroffenen mit desregierung aus dem Jahr 1991. Lob und Anerkennung überhäuft worden. Wir sind (Peter Dreßen [SPD]: Hört! Hört! - Zuruf gern bereit, Lob und Anerkennung mit Ihnen zu tei- von der CDU/CSU: Und was ist daran neu?) len. Sie brauchen nur unserem Vorschlag zuzustim- men und Ihr „Reparaturgesetzchen" dahin zu beför- Diese Stellungnahme ist überschrieben mit „Die dern, wo es hingehört, nämlich in den Papierkorb. Problematik der allgemeinverbindlichen Tarifver- träge". Recht hatte die Bundesregierung bzw. der Danke schön. verantwortliche Bundesminister mit dieser Einschät- zung, und recht hatte er auch mit der Forderung, daß (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne „andere praktikable Anwendungskriterien vorgese- ten der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6485

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die Endgültiges Ergebnis Christel Hanewinckel Aussprache. Die Kollegin Dr. Gisela Babel gibt eine Alfred Hartenbach Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung zu Proto- Abgegebene Stimmen: 608; Dr. Liesel Hartenstein davon koll. *) Klaus Hasenfratz ja: 291 Dr. Ingomar Hauchler Dieter Heistermann Wir kommen zu dem von der Fraktion der SPD ein- nein: 317 Reinhold Hemker gebrachten Entwurf eines Entsendegesetzes. Der Rolf Hempelmann Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt Dr. Barbara Hendricks Ja Monika Heubaum auf Drucksache 12/3155 unter Nr. 2, den Gesetzent- Uwe Hiksch wurf für erledigt zu erklären. Interfraktionell ist ver- Reinhold Hiller (Lübeck) einbart, dennoch über den Gesetzentwurf der SPD CDU/CSU Stephan Hilsberg abzustimmen. Gerd Höfer Erwin Marschewski Jelena Hoffmann (Chemnitz) Es liegt dazu ein Änderungsantrag der Gruppe Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter der PDS auf Drucksache 12/3156 vor, über den SPD Eike Hovermann wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Ände- Wolfgang Ilte rungsantrag der Gruppe der PDS? - Die Gegen- Brigitte Adler Barbara Imhof Gerd Andres Gabriele Iwersen probe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist Hermann Bachmaier mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Renate Jäger Ernst Bahr Ilse Janz SPD gegen die Stimmen der Gruppe der PDS und Doris Barnett Dr. Uwe Jens der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abge- Klaus Barthel Volker Jung (Düsseldorf) lehnt. Ingrid Becker-Inglau Sabine Kaspereit Wolfgang Behrendt Susanne Kastner Hans Berger Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ernst Kastning Hans-Werner Bertl Hans-Peter Kemper Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 13/2418. Die Friedhelm Julius Beucher Klaus Kirschner Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Rudolf Bindig Marianne Klappert Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Lilo Blunck Hans-Ulrich Klose vorgesehenen Plätze einzunehmen. Dr. Ulrich Böhme (Unna) Dr. Hans-Hinrich Knaape Arne Börnsen (Ritterhude) Walter Kolbow Anni Brandt-Elsweier Ich gehe davon aus, daß alle Urnen besetzt sind. Fritz Rudolf Körper Tilo Braune Nicolette Kressl Das scheint der Fall zu sein. Ich eröffne die Abstim- Dr. Eberhard Brecht Volker Kröning mung. - Marion Caspers-Merk Horst Kubatschka Wolf-Michael Catenhusen Eckart Kuhlwein Peter Conradi Konrad Kunick Kann ich davon ausgehen, daß alle Mitglieder des Dr. Herta Däubler-Gmelin Hauses ihre Stimme abgegeben haben? Christine Kurzhals Christel Deichmann Dr. Uwe Küster Karl Diller Werner Labsch (Zurufe: Nein!) Dr. Marliese Dobberthien Brigitte Lange Peter Dreßen Detlev von Larcher Bei aller Bereitschaft, lange zu warten: Kann ich Rudolf Dreßler Waltraud Lehn Freimut Duve jetzt davon ausgehen, daß alle ihre Stimmen abgege- Robert Leidinger Ludwig Eich Klaus Lennartz ben haben? - Das scheint der Fall zu sein. Dann Peter Enders Dr. Elke Leonhard schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftfüh- Gernot Erler Klaus Lohmann (Witten) rer, mit der Auszählung zu beginnen.*) Petra Ernstberger Christa Lörcher Annette Faße Erika Lotz Elke Ferner Bis zum Vorliegen des Ergebnisses dieser nament- Dr. Christine Lucyga Lothar Fischer (Homburg) Dieter Maaß (Herne) lichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. Gabriele Fograscher Winfried Mante Iris Follak Dorle Marx (Unterbrechung von 14.36 bis 14.44 Uhr) Norbert Formanski Ulrike Mascher Dagmar Freitag Christoph Matschie Anke Fuchs (Köln) Ingrid Matthäus-Maier Katrin Fuchs (Verl) Heide Mattischeck Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die unterbro- Arne Fuhrmann Markus Meckel chene Sitzung ist wieder eröffnet. Monika Ganseforth Ulrike Mehl Norbert Gansel Angelika Mertens Konrad Gilges Ursula Mogg Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Iris Gleicke Siegmar Mosdorf Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Günter Gloser Michael Müller (Düsseldorf) von der SPD eingebrachten Entwurf eines Entsende- Dr. Peter Glotz Jutta Müller (Völklingen) gesetzes - Drucksachen 13/2418 und 13/3155 Nr. 2 - Günter Graf (Friesoythe) Christian Müller (Zittau) bekannt. Es wurden 613 Stimmen abgegeben. Mit Ja Angelika Graf (Rosenheim) Volker Neumann (Bramsche) Dieter Grasedieck haben 296 gestimmt, mit Nein 317, keine Enthaltun- Gerhard Neumann (Gotha) Achim Großmann Dr. Edith Niehuis gen. Karl Hermann Haack Dr. Rolf Niese (Extertal) Doris Odendahl Hans-Joachim Hacker Günter Oesinghaus *) Anlage 2 Klaus Hagemann Leyla Onur *) Seite 6485 C Manfred Hampel Manfred Opel 6486 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Adolf Ostertag Ute Vogt (Pforzheim) Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Karl H. Fell Kurt Palis Karsten D. Voigt (Frankfurt) Dr. Ruth Fuchs Ulf Fink Albrecht Papenroth Josef Vosen Dr. Gregor Gysi Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Willfried Penner Hans Georg Wagner Dr. Uwe-Jens Heuer Leni Fischer (Unna) Dr. Martin Pfaff Hans Wallow Dr. Barbara Höll Klaus Francke (Hamburg) Georg Pfannenstein Dr. Konstanze Wegner Dr. Willibald Jacob Herbert Frankenhauser Dr. Eckhart Pick Wolfgang Weiermann Ulla Jelpke Dr. Gerhard Friedrich Joachim Poß Reinhard Weis (Stendal) Gerhard Jüttemann Erich G. Fritz Karin Rehbock-Zureich Matthias Weisheit Dr. Heidi Knake-Werner Hans-Joachim Fuchtel Margot von Renesse Gunter Weißgerber Andrea Lederer Michaela Geiger Renate Rennebach Gert Weisskirchen (Wiesloch) Dr. Christa Luft Norbert Geis Otto Reschke Jochen Welt Heidemarie Lüth Dr. Heiner Geißler Bernd Reuter Hildegard Wester Manfred Müller (Berlin) Michael Glos Günter Rixe Lydia Westrich Rosel Neuhäuser Wilma Glücklich Reinhold Robbe Inge Wettig-Danielmeier Dr. Uwe-Jens Rössel Dr. Reinhard Göhner Gerhard Rübenkönig Helmut Wieczorek (Duisburg) Christina Schenk Peter Götz Dr. Hansjörg Schäfer Dieter Wiefelspütz Klaus-Jürgen Warnick Dr. Wolfgang Götzer Dieter Schanz Berthold Wittich Dr. Winfried Wolf Joachim Gres Rudolf Scharping Dr. Wolfgang Wodarg Gerhard Zwerenz Kurt-Dieter Grill Bernd Scheelen Hanna Wolf (München) Wolfgang Gröbl Dr. Hermann Scheer Heidi Wright Hermann Gröhe Siegfried Scheffler Uta Zapf Nein Claus-Peter Grotz Horst Schild Peter Zumkley Manfred Grund Otto Schily Horst Günther (Duisburg) Dieter Schloten CDU/CSU Carl-Detlev Freiherr von Günter Schluckebier BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Hammerstein Horst Schmidbauer Ulrich Adam Gottfried Haschke (Nürnberg) Gila Altmann (Aurich) Peter Altmaier (Großhennersdorf) Ursula Schmidt (Aachen) Elisabeth Altmann Anneliese Augustin Gerda Hasselfeldt Dagmar Schmidt (Meschede) (Pommelsbrunn) Jürgen Augustinowitz Rainer Haungs Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Volker Beck (Köln) Dietrich Austermann Otto Hauser (Esslingen) Regina Schmidt-Zadel Angelika Beer Heinz-Günter Bargfrede Hansgeorg Hauser Heinz Schmitt (Berg) Matthias Berninger Franz Peter Basten (Rednitzhembach) Dr. Emil Schnell Annelie Buntenbach Dr. Wolf Bauer Klaus-Jürgen Hedrich Walter Schöler Amke Dietert-Scheuer Brigitte Baumeister Manfred Heise Ottmar Schreiner Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Sabine Bergmann-Pohl Dr. Renate Hellwig Gisela Schröter Dr. Uschi Eid Hans-Dirk Bierling Ernst Hinsken Dr. Mathias Schube rt Andrea Fischer (Berlin) Dr. Joseph-Theodor Blank Peter Hintze Schuhmann Richard Joseph Fischer (Frankfurt) Renate Blank Josef Hollerith (Delitzsch) Rita Grießhaber Dr. Heribert Blens Dr. Karl-Heinz Hornhues Brigitte Schulte (Hameln) Kristin Heyne Peter Bleser Siegfried Hornung Reinhard Schultz Ulrike Höfken Dr. Norbert Blüm Joachim Hörster (Everswinkel) Michaele Hustedt Friedrich Bohl Hubert Hüppe Volkmar Schultz (Köln) Monika Knoche Dr. Maria Böhmer Peter Jacoby Ilse Schumann Dr. Angelika Köster-Loßack Wolfgang Börnsen Susanne Jaffke Dr. R. Werner Schuster Steffi Lemke (Bönstrup) Georg Janovsky Dietmar Schütz (Oldenburg) Vera Lengsfeld Wolfgang Bosbach Helmut Jawurek Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Helmut Lippelt Dr. Wolfgang Bötsch Dr.-Ing. Rainer Jork Ernst Schwanhold Oswald Metzger Klaus Brähmig Michael Jung (Limburg) Bodo Seidenthal Kerstin Müller (Köln) Paul Breuer Ulrich Junghanns Lisa Seuster Monika Brudlewsky Dr. Egon Jüttner Horst Sielaff Christa Nickels Georg Brunnhuber Dr. Harald Kahl Erika Simm Cern Özdemir Hartmut Büttner Bartholomäus Kalb Johannes Singer Gerd Poppe (Schönebeck) Steffen Kampeter Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Simone Probst Dankward Buwitt Dr.-Ing. Dietmar Kansy Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Dr. Jürgen Rochlitz Manfred Carstens Manfred Kanther Wieland Sorge Halo Saibold (Emstek) Irmgard Karwatzki Wolfgang Spanier Irmingard Schewe-Gerigk Peter Harry Carstensen Volker Kauder Dr. Dietrich Sperling Albert Schmidt (Hitzhofen) (Nordstrand) Peter Keller Jörg-Otto Spiller Wolfgang Schmitt Wolfgang Dehnel Eckart von Klaeden Antje-Marie Steen (Langenfeld) Hubert Deittert Dr. Bernd Klaußner Ludwig Stiegler Ursula Schönberger Gertrud Dempwolf Hans Klein (München) Dr. Peter Struck Werner Schulz (Berlin) Albert Deß Ulrich Klinkert Joachim Tappe Rainder Steenblock Renate Diemers Hans-Ulrich Köhler Jörg Tauss Manfred Such Wilhelm Dietzel (Hainspitz) Dr. Bodo Teichmann Dr. Antje Vollmer Werner Dörflinger Manfred Kolbe Margitta Terborg Helmut Wilhelm (Amberg) Hansjürgen Doss Norbert Königshofen Jella Teuchner Margareta Wolf (Frankfurt) Dr. Alfred Dregger Eva-Maria Kors Dr. Gerald Thalheim Maria Eichhorn Hartmut Koschyk Dietmar Thieser Wolfgang Engelmann Manfred Koslowski Franz Thönnes PDS Rainer Eppelmann Thomas Kossendey Uta Titze-Stecher Heinz Dieter Eßmann Rudolf Kraus Adelheid Tröscher Petra Bläss Horst Eylmann Wolfgang Krause (Dessau) Hans-Eberhard Urbaniak Maritta Böttcher Anke Eymer Andreas Krautscheid Siegfried Vergin Eva Bulling-Schröter Ilse Falk Arnulf Kriedner Günter Verheugen Dr. Ludwig Elm Jochen Feilcke Heinz-Jürgen Kronberg Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6487

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Dr.-Ing. Paul Krüger Erika Reinhardt Gunnar Uldall Rainer Funke Reiner Krziskewitz Hans-Peter Repnik Dr. Horst Waffenschmidt Hans-Dietrich Genscher Dr. Hermann Kues Roland Richter Dr. Theodor Waigel Dr. Karlheinz Guttmacher Werner Kuhn Roland Richwien Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Helmut Haussmann Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Rieder Dr. Jürgen Warnke Ulrich Heinrich (Heidelberg) Dr. Erich Riedl (München) Kersten Wetzel Walter Hirche Karl Lamers Klaus Riegert Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Dr. Dr. Norbert Lammert Dr. Heinz Riesenhuber Gert Willner Birgit Homburger Helmut Lamp Hannelore Rönsch Bernd Wilz Dr. Werner Hoyer Armin Laschet (Wiesbaden) Willy Wimmer (Neuss) Herbert Lattmann Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Matthias Wissmann Ulrich Irmer Dr. Paul Laufs Dr. Klaus Rose Simon Wittmann Dr. Klaus Kinkel Karl-Josef Laumann Kurt J. Rossmanith (Tännesberg) Detlef Kleinert (Hannover) Werner Lensing Adolf Roth (Gießen) Dagmar Wöhrl Roland Kohn Christian Lenzer Norbert Röttgen Michael Wonneberger Dr. Heinrich L. Kolb Peter Letzgus Dr. Christian Ruck Elke Wülfing Jürgen Koppeln Editha Limbach Dr. Jürgen Rüttgers Peter Kurt Würzbach Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Walter Link (Diepholz) Roland Sauer (Stuttgart) Cornelia Yzer Heinz Lanfermann Eduard Lintner Ortrun Schätzle Wolfgang Zeitlmann Uwe Lühr Dr. Klaus W. Lippold Dr. Wolfgang Schäuble Wolfgang Zöller Jürgen W. Möllemann (Offenbach) Hartmut Schauerte Günther Friedrich Nolting Dr. Manfred Lischewski Heinz Schemken Dr. Rainer Ortleb Wolfgang Lohmann Karl-Heinz Scherhag F.D.P. Dr. Klaus Röhl (Lüdenscheid) Gerhard Scheu Helmut Schäfer (Mainz) Julius Louven Norbert Schindler Ina Albowitz Sigrun Löwisch Dietmar Schlee Dr. Gisela Babel Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Heinrich Lummer Ulrich Schmalz Hildebrecht Braun Dr. Irmgard Schwaetzer Dr. Michael Luther Bernd Schmidbauer (Augsburg) Dr. Hermann Otto Solms Erich Maaß (Wilhelmshaven) Christian Schmidt (Fürth) Günther Bredehorn Dr. Max Stadler Dr. Dietrich Mahlo Dr.-Ing. Joachim Schmidt Jörg van Essen Carl-Ludwig Thiele Günter Marten (Halsbrücke) Dr. Olaf Feldmann Dr. Dieter Thomae Dr. Martin Mayer Andreas Schmidt (Mülheim) Gisela Frick Jürgen Türk (Siegertsbrunn) Hans-Otto Schmiedeberg Paul K. Friedhoff Dr. Wolfgang Weng Wolfgang Meckelburg Hans Peter Schmitz Horst Friedrich (Gerlingen) Rudolf Meinl (Baesweiler) Dr. Michael Meister Michael von Schmude Dr. Angela Merkel Birgit Schnieber-Jastram Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Friedrich Merz Dr. Andreas Schockenhoff Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die Rudolf Meyer (Winsen) Dr. Rupert Scholz weitere Beratung. Hans Michelbach Reinhard Freiherr von Dr. Gerd Müller Schorlemer Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von Elmar Müller (Kirchheim) Dr. Erika Schuchardt der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Engelbert Nelle Wolfgang Schulhoff Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, Drucksachen 13/ Bernd Neumann (Bremen) Dr. Dieter Schulte 2414, 13/2839 und 13/3155 Nr. 1. Johannes Nitsch (Schwäbisch Gmünd) Claudia Nolte Gerhard Schulz (Leipzig) Dr. Rolf Olderog Frederick Schulze Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Friedhelm Ost Diethard Schütze (Berlin) Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- Eduard Oswald Clemens Schwalbe zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen! - Norbert Otto (Erfurt) Dr. Christian Schwarz Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit Dr. Gerhard Päselt Schilling - den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Dr. Peter Paziorek Horst Seehofer Stimmen der Opposition angenommen. Hans-Wilhelm Pesch Wilfried Seibel Ulrich Petzold Heinz-Georg Seiffert Wir kommen zur Anton Pfeifer Rudolf Seiters Dr. Gero Pfennig Johannes Selle Dr. Friedbert Pflüger Bernd Siebert dritten Beratung Dr. Winfried Pinger Jürgen Sikora Ronald Pofalla Johannes Singhammer und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die Dr. Hermann Pohler Bärbel Sothmann dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- Ruprecht Polenz Margarete Späte ben. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Marlies Pretzlaff Carl-Dieter Spranger Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitions- Dr. Albert Probst Wolfgang Steiger fraktionen gegen die Stimmen der Opposition ange- Dr. Bernd Protzner Erika Steinbach nommen. Dieter Pützhofen Dr. Wolfgang Freiherr von Thomas Rachel Stetten Hans Raidel Andreas Storm Wir kommen jetzt zum Gesetzentwurf des Bundes- Dr. Peter Ramsauer Max Straubinger rates auf Drucksache 13/2834. Der Ausschuß für Rolf Rau Matthäus Strebl Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache Helmut Rauber Michael Stübgen 13/3155 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf für erledigt Peter Harald Rauen Egon Susset zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- Otto Regenspurger Dr. Rita Süssmuth lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- Christa Reichard (Dresden) Michael Teiser schlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- Klaus Dieter Reichardt Dr. Susanne Tiemann (Mannheim) Gottfried Tröger tionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition Dr. Bertold Reinartz Dr. Klaus-Dieter Uelhoff angenommen. 6488 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Aus- schen Eidgenossenschaft über die Einbe- schusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem ziehung der Gemeinde Büsingen am Hoch- Antrag der Fraktion der SPD zum Richtlinienvor- rhein in das schweizerische Zollgebiet schlag der Europäischen Union über die Entsendung - Drucksache 13/2986 - von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, Drucksache 13/3155 Nr. 2. Der Überweisungsvorschlag: Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Druck- Finanzausschuß sache 13/768 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für d) Erste Beratung des von der Bundesregie- diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den zes zu dem Abkommen vom 15. März 1995 Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- zwischen der Regierung der Bundesrepu- men der Opposition angenommen. blik Deutschland und der Regierung der Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Aus- Republik Chile über die Seeschiffahrt schusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem - Drucksache 13/2987 — Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu den Überweisungsvorschlag: Grundsätzen für eine EU-Entsenderichtlinie auf Drucksache 13/3155 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, Ausschuß für Verkehr auch den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auf e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Drucksache 13/786 für erledigt zu erklären. Wer rung eingebrachten Entwurfs eines Mikro- stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegen- zensusgesetzes und eines Gesetzes zur Ä n- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung derung des Bundesstatistikgesetzes ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. - Drucksachen 13/3107, 13/3131 — Überweisungsvorschlag: Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Aus- Innenausschuß (federführend) schusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Richt- Finanzausschuß linienvorschlag der Europäischen Union über die Ausschuß für Wirtschaft Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Er- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit bringung von Dienstleistungen auf Drucksache 13/ Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 3155 Nr. 3. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- nologie und Technikfolgenabschätzung schlußempfehlung ist einstimmig angenommen. f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 19a bis i Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über sowie die Zusatzpunkte 4 a bis e auf: die Festlegung eines vorläufigen Wohnor- tes für Spätaussiedler 19. Überweisungen im vereinfachten Verfahren - Drucksache 13/3102 — a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Überweisungsvorschlag: brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Innenausschuß (federführend) derung des Einführungsgesetzes zur Abga- Ausschuß für Gesundheit benordnung g) Erste Beratung des von der Bundesregie- - Drucksache 13/2836 — - rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Überweisungsvorschlag: zes zur Reform des Rechts der Arbeitslosen- Finanzausschuß (federführend) hilfe Rechtsausschuß (Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz - AlhiRG) b) Erste Beratung des von der Bundesregie- - Drucksache 13/3109 — rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Überweisungsvorschlag: zes zu dem Vertrag vom 19. Mai 1995 zwi- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) schen der Bundesrepublik Deutschland Innenausschuß und der Tschechischen Republik über die Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten gegenseitige Unterstützung der Zollver- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend waltungen Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau - Drucksache 13/2985 — Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Überweisungsvorschlag: h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Finanzausschuß Albert Schmidt (Hitzhofen), Gila Altmann (Aurich), Rainder Steenblock und der Frak- c) Erste Beratung des von der Bundesregie- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ergänzende Kriterien zu den Leitlinien zes zu dem Abkommen vom 4. Juli 1995 über die Transeuropäischen Verkehrsnetze zur Änderung des Vertrages vom (TEN) 23. November 1964 zwischen der Bundes- republik Deutschland und der Schweizeri - Drucksache 13/1933 - Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6489

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Überweisungsvorschlag: e) Beratung des Antrag der Abgeordneten An- Ausschuß für Verkehr (federführend) drea Fischer (Berlin) und der Fraktion Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heit Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Sozial verträgliche Abschmelzung der Auf- Union füllbeträge und Rentenzuschläge in Ost- deutschland i) Beratung des Antrags des Bundesministeri- ums der Finanzen - Drucksache 13/3141 — Einwilligung in die Veräußerung eines Überweisungsvorschlag: Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Drucksache 13/3027 - Haushaltsausschuß Überweisungsvorschlag: Zu diesen Punkten findet eine Debatte nicht statt. Haushaltsausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an ZP4 Weitere Überweisungen im vereinfachten die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Verfahren überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der sen. CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes über den Abbau von Salzen im Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 20a und b Grenzgebiet an der Werra sowie d bis g auf:

- Drucksache 13/3138 — Abschließende Beratungen ohne Aussprache Überweisungsvorschlag: a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung Ausschuß für Wi rtschaft des von der Bundesregierung eingebrach- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten ten Entwurfs eines Gesetzes zu der Resolu- Dr. Angelica Schwall-Düren, Susanne Kast- tion vom 15. Januar 1992 zur Änderung des ner, Heidi Wright, weiterer Abgeordneter Internationalen Übereinkommens vom und der Fraktion der SPD 7. März 1966 zur Beseitigung jeder Form Verhinderung weiterer Gewässerverunrei- von Rassendiskriminierung und zu der Re- nigungen durch das Totalherbizid DIURON solution vom 8. September 1992 zur Ände- rung des Übereinkommens vom 10. De- - Drucksache 13/2518 — zember 1984 gegen Folter und andere Überweisungsvorschlag: grausame, unmenschliche oder erniedri- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- gende Behandlung oder Strafe heit (federführend) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten - Drucksache 13/1883 - Ausschuß für Gesundheit (Erste Beratung 55. Sitzung) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne Kastner, Ulrike Mehl, Michael Beschlußempfehlung und Bericht des Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter Rechtsausschusses (6. Ausschuß) und der Fraktion der SPD - - Drucksache 13/2962 - Notwendige Grundsätze der guten fachli- chen Praxis beim Düngen in der Düngever- Berichterstattung: ordnung Abgeordnete Peter Altmaier Dr. Jürgen Meyer (Ulm) - Drucksache 13/2524 — Überweisungsvorschlag: b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des von der Bundesregierung eingebrach- (federführend) ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit kommen vom 10. Juni 1993 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- d) Beratung des Antrages der Abgeordneten land und der Regierung der Ukraine über Ulrike Höfken, Steffi Lemke und der Frakti- den Luftverkehr on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erforderliche Maßnahmen zur Umsetzung - Drucksache 13/1886 - der EU-Nitratrichtlinie im Rahmen der (Erste Beratung 55. Sitzung) Düngeverordnung Beschlußempfehlung und Be richt des Aus - Drucksache 13/3064 - schusses für Verkehr (15. Ausschuß) Überweisungsvorschlag: - Drucksache 13/2976 - Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Berichterstattung: heit Abgeordneter Lothar Ibrügger 6490 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- angenommen. nung (1. Ausschuß) zu den Verfahren nach § 44b Abgeordnetengesetz (AbgG) Tagesordnungspunkt 20 f: Beschlußempfehlung (Überprüfung auf Tätigkeit oder politische des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/3074. Verantwortung für das Ministe rium für Es handelt sich um die Sammelübersicht 83. Wer Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicher- stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegen- heit der ehemaligen Deutschen Demokrati- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung schen Republik) ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der - Drucksache 13/2994 - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen. Berichterstattung: Abgeordneter Dieter Wiefelspütz Tagesordnungspunkt 20 g: Beschlußempfehlung e) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/3075. Es tionsausschusses (2. Ausschuß) handelt sich um die Sammelübersicht 84. Wer stimmt Sammelübersicht 82 zu Petitionen für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Ent- haltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den - Drucksache 13/3073 - Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ f) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Die Grünen bei Stimmenthaltung der Gruppe der tionsausschusses (2. Ausschuß) PDS angenommen. Sammelübersicht 83 zu Petitionen - Drucksache 13/3074 - Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: g) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- tionsausschusses (2. Ausschuß) desregierung eingebrachten Entwurfs eines Sammelübersicht 84 zu Petitionen Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches - Drucksache 13/3075 - Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 20a: Abstim- - Drucksache 13/2590 - mung über den von der Bundesregierung einge- (Erste Beratung 63. Sitzung) brachten Gesetzentwurf zur Änderung der Überein- kommen zur Beseitigung von Rassendiskriminierung Beschlußempfehlung und Be richt des Aus- und gegen Folter auf Drucksache 13/1883. schusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 2962, den Gesetzentwurf unverände rt anzunehmen. - Drucksache 13/3150 - Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- men wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Berichterstattung: Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig Abgeordneter Uwe Lühr angenommen. Dazu liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion Tagesordnungspunkt 20b: Abstimmung über den der SPD und der Gruppe der PDS vor. Nach einer von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzent- Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache wurf zu dem Abkommen mit der Ukraine über den eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? Luftverkehr, Drucksache 13/1886. - Keinen. Dann ist so beschlossen. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksa- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- che 13/2976, den Gesetzentwurf unverände rt anzu- gin Ulrike Mascher. nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist Ulrike Mascher ginnen! Liebe Kollegen! Bereits bei der ersten einstimmig angenommen. Lesung dieses Gesetzespaketes haben alle Fraktio- Tagesordnungspunkt 20d: Be richt des Ausschus- nen erklärt, daß sie einer Erosion der gesetzlichen ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- Rentenversicherung nicht tatenlos zuschauen wollen; nung zu den Verfahren nach § 44 b des Abgeordne- denn durch die Schaffung immer neuer berufsständi- tengesetzes, Drucksache 13/2994. Kann ich davon scher Versorgungswerke und die Einbeziehung auch ausgehen, daß Sie den Bericht zur Kenntnis genom- von abhängig Beschäftigten in diese Versorgungs- men haben? - Das ist der Fall. werke drohten der gesetzlichen Rentenversicherung immer mehr Mitglieder verlorenzugehen. Wer die Tagesordnungspunkt 20 e: Beschlußempfehlung solidarisch finanzierte gesetzliche Rentenversiche- des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/3073. - rung auch für die Zukunft erhalten wi ll, muß dieser Es handelt sich um die Sammelübersicht 82. Wer Abgrenzung zwischen gesetzlicher Rentenversiche- stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegen- rung und berufsständischen Versorgungswerken probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung zustimmen. ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6491

Ulrike Mascher Die SPD begrüßt es deshalb, daß alle Fraktionen in Fraktionen eine Ausnahmeregelung getroffen diesem Hause diesen Beitrag zur Stabilisierung der wurde. gesetzlichen Rentenversicherung unterstützen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Das zweite wichtige Thema dieser Änderung des DIE GRÜNEN) Rentenversicherungsrechtes war der Versuch, im Vorgriff auf eine umfassende Neuregelung des Rech- Ich hoffe, es wird von den Betroffenenverbänden tes der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten die als ein Signal verstanden, daß der Ausschuß für steigende Zunahme der vorzeitigen Verrentung Arbeit und Sozialordnung und der ganze Bundestag wegen Arbeitslosigkeit zu begrenzen. Die Regie- durchaus bereit sind, die besondere Lebenssituation rung hat einen Vorschlag vorgelegt, um einer für die von Behinderten bei ihren Entscheidungen zu beach- Zukunft zu erwartenden Rechtsprechung des Bun- ten. Da hat es in den letzten Wochen und Monaten dessozialgerichts vorzubeugen. Für die SPD war die- einige Irritationen gegeben. ser Vorgriff auf eine umfassende Regelung betref- fend die Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten ein Darüber hinaus möchte ich anregen, die Frage der unzureichendes Stückwerk. Es war für uns auch Begrenzung des Hinzuverdienstes nicht nur bei fragwürdig, einer Rechtsprechung, die im Interesse erwerbsgeminderten Rentnern zu überprüfen und der Betroffenen angesichts der steigenden Arbeitslo- neu zu regeln, sondern auch bei anderen Personen- sigkeit und der schwindenden Vermittlungschancen gruppen, die aus öffentlichen Kassen Gehälter oder eine Verrentung ermöglicht, ein gesetzliches Nein Pensionen in erklecklicher Höhe erhalten. entgegenzusetzen. Ich habe es bei der ersten Lesung begrüßt, daß in zwei Punkten eine Verlängerung der Sonderrege- Mir sind die finanziellen Probleme für die gesetzli- lung im Arbeitsförderungsgesetz für die neuen Bun- che Rentenversicherung sehr bewußt. Aber ich desländer vorgesehen ist. kenne auch die Schicksale von älteren Arbeitneh- mern, die aus gesundheitlichen Gründen nur einge- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr richtig!) schränkt beschäftigt werden können. Ihnen drohen nach einem langen Arbeitsleben Arbeitslosigkeit Bei den Beratungen im Ausschuß hat die SPD noch und als Endstation die Sozialhilfebedürftigkeit. Was zwei weitere Änderungsanträge gestellt, die von den ihnen bei dieser Zukunftsperspektive angesichts der Regierungsfraktionen leider abgelehnt wurden. von der Regierung geplanten Einschnitte und Kür- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Unerhört!) zungen bei Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe droht, das wissen alle hier im Raum. Besonders gut müssen Im ersten Antrag ging es um eine Regelung zur das die Vertreter der Regierungsfraktionen wissen. Fortführung von noch nicht abgeschlossenen Groß- projekten von ABS-Gesellschaften. Auch der Bun- (Beifall bei der SPD) desrat hat einen entsprechenden Beschluß gefaßt. Wir hätten es sehr gut gefunden, wenn wir im Aus- Wir begrüßen es deshalb, daß die Regierungsfrak- schuß eine Mehrheit für unseren Antrag bekommen tionen, nachdem die SPD ihre Ablehnung dieses hätten. Flickwerks bei der Erwerbs- und Berufsunfähigkeits- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne rente deutlich gemacht hatte, auf diese Regelung erst ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einmal verzichten. Ich möchte aber deutlich machen: und der PDS) Der SPD ist die Problematik des Verschiebebahnho- fes zwischen Arbeitslosigkeit und Rentenversiche-- Aber offenbar sind die Realität in den neuen Bundes- rung sehr wohl bekannt. Wir wissen, daß wir hier ländern und die schwierige Finanzierungssituation eine Lösung brauchen. Bessere Arbeitsmarktchan- für Beschäftigungsprojekte den Vertretern der CDU/ cen für Ältere würden wir uns alle wünschen - die CSU und der F.D.P. nicht so gegenwärtig gewesen, SPD hat mit ihrem Arbeits- und Strukturförderungs- gesetz hier Vorschläge gemacht -, wenigstens aber (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Leider wahr!) eine Kostenregelung, um der Rentenversicherung obwohl meine Kollegin Renate Jäger immer wieder nicht zusätzliche Lasten aus der Arbeitslosigkeit auf- versucht hat, sich durchzusetzen. Wir stellen diesen zubürden. Ich denke, hier ist eine Lösung dringend Änderungsantrag heute noch einmal zur Abstim- notwendig. mung. Sie haben also noch eine Chance, sich positiv im Interesse der Beschäftigten in diesen ABS-Gesell- Die SPD hat mit einem Änderungsantrag auch schaften in den neuen Bundesländern zu entschei- erreicht, daß Behinderte, die in Werkstätten für den. Behinderte arbeiten, bei der Einführung von Hinzu- verdienstgrenzen bei verminderter Erwerbsfähigkeit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ausgenommen werden. Uns haben die Einwendun- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gen von Betroffenenverbänden überzeugt. Die Tätig- und der PDS) keit der Behinderten in Werkstätten ist primär nicht (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Burkhard auf Erzielung von Einkommen gerichtet, sondern auf Hirsch) eine Eingliederung in ein Beschäftigungsverhältnis. Deswegen freuen wir uns, daß für diesen Personen- Ein zweiter Antrag hat trotz der Bemühungen mei- kreis auf Antrag der SPD mit Unterstützung aller nes Kollegen Hans Urbaniak auch in Gesprächen mit 6492 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Ulrike Mascher dem Arbeitsminister, noch eine Änderung zu errei- Eigentlich sollten die Beamten hier ihre wohl chen, auch keine Mehrheit gefunden. durchdachten und minuziösen Änderungen darlegen und erläutern; denn im Grunde ist die Aufgabe von (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das kann ja wohl Politikern etwas anderes: nämlich die große Linie nicht wahr sein!) eines Gesetzentwurfs zu verteidigen oder zu attak- Hier geht es um den Umstrukturierungsprozeß in kieren. Frau Mascher, das ist Aufgabe der Politiker. der Stahlindustrie, vor allem in den ostdeutschen Ich möchte auf die wesentlichen Punkte eingehen. Ländern. Dieser Umstrukturierungsprozeß wird mit In den meisten Punkten waren wir uns sehr einig. Bei Montanbeihilfen der Europäischen Union gestützt. den rentenrechtlichen Fragen dieser Vorlage gab es Wenn die Ausnahmeregelungen, die bisher galten, weitgehenden Konsens. Die Einführung einer Hinzu- für die Montanindustrie nicht verlängert werden, verdienstgrenze bei Erwerbsunfähigkeitsrenten in drohen Kündigungen für jüngere Arbeitnehmer; bis- Höhe der Geringfügigkeitsgrenze etwa wurde her stießen die Vorruhestandsregelungen für die sowohl von der SPD als auch von der Koalition älteren Arbeitnehmer auf breite Akzeptanz. Auch begrüßt. hier hoffen wir, daß die Regierungskoalition ihre Chance nutzt, unseren Änderungsantrag doch noch Durch die Hinzuverdienstgrenze wird es Fälle, in zu unterstützen. denen Versicherte mit Rente und Hinzuverdienst über ein wesentlich höheres Einkommen verfügen (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie als vor Eintritt der Erwerbsminderung, nicht mehr bei Abgeordneten der PDS) geben. Daß dabei das Einkommen für Behinderte in Ich denke, die wichtigste Botschaft des heute vor- den Werkstätten nicht als Verdienst angerechnet liegenden Gesetzentwurfs ist - ich habe das zu wird, ist gut und richtig. Ich freue mich, daß es in die- Beginn meiner Rede schon einmal gesagt -: Alle sem Punkt Einigkeit gab. Fraktionen des Bundestages, CDU/CSU, F.D.P., SPD, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU die Grünen, und die PDS tun das Erforderliche, um und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die gesetzliche Rentenversicherung zu stärken. Das sollte die Botschaft sein, die von dieser Debatte aus- Sicher ist es auch richtig, daß die Frage der geht, um die Verunsicherung der Rentnerinnen und Ansprüche auf Erwerbs- und Berufsunfähigkeits- Rentner vielleicht etwas abzumildern. rente im Rahmen der dies betreffenden Regelung zu einem späteren Zeitpunkt erneut diskutiert wird. Ich danke Ihnen. Aber, Frau Mascher, das, was Ihnen vorgelegen hat, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne als Flickwerk zu bezeichnen ist doch etwas überzo- ten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ gen. Sie sollten sich wirklich ein Beispiel an den DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) Gewerkschaften nehmen, die Ihnen nahestehen und in diesen Fragen häufig weiter sind als die SPD in ihrem jetzigen Stadium. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram das Wo rt. Wir sind noch immer der Meinung, daß eine Geset- zesänderung erforderlich ist, die festschreibt, daß für erwerbs- und berufsgeminderte, aber vollschichtig Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Herr Präsi- dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau einsatzfähige Versicherte kein konkreter Nachweis Mascher, das war ja wieder einmal ein richtig klassi- einer Stelle nötig ist, um ihnen Rentenansprüche zu scher Schlagabtausch. Ich wünsche mir wirklich, es verweigern. Für eine Neuregelung sprechen nach unserer Meinung gute Gründe. Wir haben das in der würde sich das Bild widerspiegeln, wie- wir es im Ausschuß erlebt haben. Wir waren viel einiger, als Debatte schon einmal gesagt. Sie hier getan haben. Ich will die drei wichtigsten Punkte gern nennen: (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nöl - Dr. Gisela Bei einem erweiterten Personenkreis Erwerbs- und Babel [F.D.P.]: Das war wie eine Friedens Berufsgeminderter mit Rentenanspruch würden taube!) unter dem Druck der Arbeitsmarktlage noch mehr ältere erwerbsgeminderte Arbeitnehmer in die Früh- Wie dem Titel des vorliegenden Gesetzentwurfs zu rente ausweichen, würde das Risiko der Arbeitslosig- entnehmen ist, soll nicht nur über das Sozialbuch VI keit noch mehr auf die Rentenversicherung übertra- entschieden werden, sondern auch, wie es heißt, gen werden und würde die Rentenversicherung mit über „andere Gesetze". In der Vorlage sind also eine Mehrkosten von 5 Milliarden DM belastet werden. Menge kleinerer Änderungen und Formalien zusam- Daß auch Sie das nicht wollen, weiß ich wohl. Aus mengefaßt. Ministeriumsintern nennt man so ein diesen Gründen sehen wir unverände rt die Notwen- Gesetz Omnibusgesetz, das heißt, vieles, was auf der digkeit einer Gesetzesänderung. Strecke liegengeblieben ist, wird eingesammelt. Ich denke, die Anfertigung solcher Gesetzesvorlagen ist Übereinstimmung herrscht auch über die Diskus- eher eine Sternstunde für Ministerialbeamte, die sion über die Friedensgrenze zwischen gesetzlicher darin ihre ganze Akkuratesse und Sachkenntnis auf Rentenversicherung und den berufsständischen Ver- engstem Raum einbringen können. Für diese akribi- sorgungswerken. Sowohl Regierung wie auch Oppo- sche Arbeit, die notwendig ist, möchte ich an dieser sition haben betont, daß die Möglichkeit, als Nicht- Stelle herzlichen Dank sagen. selbständiger die gesetzliche Rentenversicherung verlassen zu können, äußerst restriktiv gehandhabt (Beifall bei der CDU/CSU) werden muß. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6493

Birgit Schnieber-Jastram Klar und unbestritten ist, daß eine zu großzügige Ganz kurz einige Anmerkungen zu den im Gesetz- und aufgeweichte Abgrenzung zwischen beiden entwurf versteckten Änderungen des Arbeitsförde- Altersversorgungssystemen für die gesetzliche Ren- rungsgesetzes. Sehen wir einmal davon ab, daß das tenversicherung fatale Folgen hätte. Millionen wür- Verstecken dieser Regelungen in einem Gesetz über den die Solidargemeinschaft der Rentenzahler ver- die Rentenversicherung doch immer etwas überra- lassen, um den berufsständischen Organisationen schend ist. Wir halten die vorgeschlagenen Regelun- beizutreten. Diese können nämlich zum Teil weitaus gen für einen zwar wichtigen, aber für einen unzurei- bessere Konditionen bieten. Die finanziellen Folgen chenden Schritt. Die aktive Arbeitsförderpolitik kann für die Rentenversicherung - und damit auch für die nicht immer wieder kurzfristig auf neue Gesetzes- Beitragssätze - gingen ebenfalls in zweistellige Mil- grundlagen gestellt werden. Wir brauchen eine liardensummen. grundlegende Überarbeitung der Förderlandschaft, die Planungssicherheit gewährt und in den entspre- Im großen und ganzen, Frau Mascher, gibt es also chenden Projekten nicht Arbeitnehmer verschiede- - das ist vielleicht beispielhaft für die Diskussion im ner Entlohnung und Arbeitszeit erzwingt. Deswegen sozialen Bereich - Einigkeit über die Notwendigkeit unterstützen wir die SPD-Änderungsanträge. des vorliegenden Gesetzespakets. Ich halte es des- wegen für eine gute Sache, daß wir uns in notwendi- Eine der wichtigsten Regelungen des Gesetzent- gen Fragen der sozialen Sicherung verständigen wurfs ist die sogenannte Festigung der Friedens- konnten. Das gesetzliche Sozialsystem und vor allen grenze der gesetzlichen Rentenversicherung. Auch Dingen das Rentensystem wollen wir hoffentlich wir finden es äußerst problematisch, wenn sich Versi- gemeinsam stabilisieren und für das 21. Jahrhundert cherte mit hohem Einkommen der Solidargemein- wetterfest machen. schaft entziehen. Die Gesetzesänderungen zwingen sie nun wieder zurück in die gesetzliche Rentenversi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) cherung. Allerdings riecht die Ausnahmeregelung für Architekten in Niedersachsen und Hamburg ver- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das dächtig nach erfolgreicher Lobbyarbeit. Wort der Abgeordneten Andrea Fischer. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Was sollen die armen Jungs denn machen?) Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, Sie sollten aufpassen, meine Damen und Für die Opposition ist es ein außerordentlich seltenes Herren von der Koalition, daß Sie damit nicht Ihr Vergnügen, einem Gesetzentwurf der Bundesregie- ansonsten auch von uns geteiltes richtiges Anliegen diskreditieren. rung zuzustimmen. Ich war über die heftige Reaktion der Kollegin Schnieber-Jastram auf die Rede der Kol- Die grundsätzlichen Regelungen begrüßen wir legin Mascher jetzt gerade richtig verblüfft, die ich jedoch mit gemischten Gefühlen. Es widerstrebt uns, überhaupt nicht als so polarisierend wahrgenommen daß wir ausschließlich mit Zwang auf ein politisches habe. Frau Kollegin, wenn sich die Opposition an Problem reagieren. Was ist denn los, daß die Men- einem Gesetzentwurf der Regierung beteiligt, sollte schen von der Leistungsfähigkeit der Sozialversi- Sie das doch freuen, und Sie sollten uns dann schon cherung nicht mehr überzeugt sind? Welche Argu- zugestehen, daß wir noch die eine oder andere kriti- mente könnten die Menschen für die Solidargemein- sche Anmerkung dazu machen. schaft zurückgewinnen? Wir Bündnisgrünen halten die vorgesehenen Rege- Minister Blüm, der jetzt leider nicht mehr teil- lungen für die Anrechnung von Hinzuverdienst auf nimmt, hat einen sehr bemerkenswe rten Artikel in Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten für sinnvoll der „Woche" von heute geschrieben. Darin und sachgerecht. Es ist den Beitragszahlern nicht zu beschreibt er dieses Phänomen als Verlust an vermitteln, daß Erwerbs- und Berufsunfähigkeits- Gemeinsinn. Er befürchtet ein Single-Programm des rentner unbegrenzt zu ihrer Rente hinzuverdienen. Egoismus. Diese Sorgen kann man wohl teilen. Aber Mit Renten, auch mit Berufs- und Erwerbsunfähig- ich teile nicht die Beschreibung, daß wir es einfach keitsrenten, sichern wir den Verlust des Erwerbsein- nur mit einem Werteverlust zu tun haben. kommens ab. Wenn in einer anderen Tätigkeit ein Einkommen erzielt werden kann, darf deshalb die (Beifall der Abg. Margareta Wolf [Frankfu rt] Versichertengemeinschaft nicht über Gebühr in die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Verantwortung genommen werden. Die Zustimmung Minister Blüm sieht die Kaputtrederei des Stand- ist uns insbesondere deshalb erleichtert worden, weil orts Deutschland als eine Problemursache. die Bundesregierung schließlich auf die vielfachen Proteste reagiert hat und nun doch eine Ausnahme- (Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das regelung für die Beschäftigten in Werkstätten für ist auch so!) Behinderte vorsieht. Es wäre geradezu zynisch gewe- Das möchte ich ergänzen: Wir haben in den vergan- sen, in dem Moment, wo den Behinderten nach genen Jahren eine beispiellose Demontage des Wer- 20 Jahren erstmals eine EU-Rente zusteht, sie ihnen tes der Sozialversicherungen erlebt. Das Zutrauen in im Hinblick auf ihren kargen Lohn zu kürzen. die Leistungsfähigkeit, in die Qualität dieser Systeme (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist tief erschüttert worden. Deswegen kann Zwang nicht unser einziges Mittel sein. Wir müssen die Ebenfalls ist uns das Zurückziehen der vorgesehenen Menschen überzeugen. Wir müssen gute Argumente EU/BU-Regelungen sehr entgegengekommen. haben. Wir müssen das Angebot der gesetzlichen 6494 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Andrea Fischer (Berlin) Rentenversicherung verbessern und den veränderten gungswerke für jede Mark Beitrag einen höheren Lebensumständen anpassen, damit sich alle Men- Ertrag, eine höhere Altersversicherung ab. schen darin gut aufgehoben fühlen. Langfristig halte Diese schlichten ökonomischen Tatsachen verstär- ich diese Strategie auch für zukunftsträchtiger, als ken bei denjenigen, die in eine Rentenversicherung immer nur Zwang auszuüben. einzahlen, den Anreiz, aus der gesetzlichen Renten- In diesem Sinne sehe ich die heutige Verabschie- versicherung zu flüchten und diese höheren Alterssi- dung des Gesetzes als einen ersten, als einen wichti- cherungen in einem berufsständischen Versorgungs- gen, aber auch als einen noch unzulänglichen Schritt. werk zu erwerben. Das ist nicht unbedingt eine Flucht aus der Solidarität, aber es ist schon ein Miß- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN trauensvotum, weil man so um die zusätzlichen sowie der Abg. Petra Bläss [PDS]) Lasten, die wir in die gesetzliche Rentenversiche- rung hineingedrückt haben - meist sind es die Wohl- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun erteile ich taten der Sozialpolitiker oder der Finanzpolitiker -, das Wort der Abgeordneten Dr. Gisela Babel. herumkommt. Das ist ein Vorgang, den wir im Aus- schuß über alle Parteigrenzen hinweg bedauern und gegen den der Widerstand wächst. Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Vizepräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Die Ingenieurkammern haben in Bayern - das war schwierigen Debatten im Ausschuß für Arbeit und sozusagen der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen Sozialordnung beraten wir heute ein SGB-VI-Ände- gebracht hat - am 1. Januar ein neues Versorgungs- rungsgesetz - und beschließen es wohl auch -, das in werk gegründet. Weitere Bauingenieurversorgungs- zwei Schwerpunkten für die Rentenversicherung werke waren geplant. Wir haben dieser Entwicklung Änderungen mit sich bringt. Zum einen geht es um einen Riegel vorgeschoben; denn sonst wäre das die sogenannte Friedensgrenze zwischen der Ren- System der berufsständischen Versorgungswerke tenversicherung und den berufsständischen Versor- gefährdet worden. gungswerken, zum anderen geht es um wichtige Wir haben festgesetzt, daß es keine neuen berufs- Änderungen bei den Hinzuverdienstgrenzen bei ständischen Versorgungswerke geben darf - außer in EU- und BU-Renten. den klassischen freien Berufen, bei denen sie in man- Die berufsständischen Versorgungswerke sind chen Bereichen noch nicht errichtet worden sind. Ich nicht unbedingt das Lieblingskind aller Parteien, appelliere an die SPD, die Voraussetzungen zu schaf- wenn es darum geht, daß die Altersversicherungen fen, daß man in allen Bundesländern berufsständi- im Wettbewerb stehen. Aber die Liberalen - Sie wer- sche Versorgungswerke möglich macht. den es mir nachsehen - haben ein besonderes Faible Daß die Architekten in Niedersachsen und Ham- für dieses Alterssicherungssystem, und zwar deswe- burg außerhalb des „closed shop" in das System hin- gen, weil es auf dem Kapitaldeckungsverfahren ein wollen, ergibt sich aus der Tatsache, daß sie beruht - auch wenn es einige Elemente des Umlage- immer als freiwillige Mitglieder dabei waren. Wenn verfahrens gibt. Das Kapitaldeckungsverfahren ist in ihnen der Zustrom verweigert wird - wenn wir die der Zukunft wetterfest, weil es durch die Kapitaler- Tür schließen -, wäre das ein Eingriff in die Zukunfts- träge die Sicherungen schon mit sich bringt. fähigkeit des Systems. (Beifall bei der F.D.P. - Anke Fuchs [Köln] Insofern halte ich die Lösung, die man in diesem [SPD]: Das meinen Sie! - Gegenruf des Bereich anstrebt, sie einvernehmlich - auch die SPD Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist so!) hat das signalisiert - mit in die Pflichtverkammerung Ein Alterssicherungssystem, das nach diesem Ver- hineinzunehmen, für geeignet; denn sie gibt ihnen fahren arbeitet, ist weniger anfällig für die Schwie- die Möglichkeit, ihr Versorgungswerk für die rigkeiten, die die demographische Entwicklung für Zukunft zu sichern. die gesetzliche Rentenversicherung mit sich bringen - Meine Damen und Herren, im Bereich der EU/BU wird. Daß davon mittlerweile auch die SPD, zumin- Renten vollziehen wir eine kleine Reform, was ich dest ein bißchen, überzeugt ist, zeigt sich in dem Ent- ein bißchen bedauere. Denn dazu hatten wir uns vor- wurf zur Reform der agrarsozialen Sicherung. genommen, die Rechtsprechung, die zur Gefährdung (Zuruf von der SPD: Das hat doch ganz der Rentenversicherung geführt hätte, einzudäm- andere Gründe!) men. Dies ist leider nicht gelungen. Das scheiterte an der Zustimmung der SPD. Zumindest den Hinzuver- Dort war es möglich, die berufsständischen Versor- dienst haben wir einvernehmlich regeln können. gungswerke in die Gesetzgebung mit einzubezie- Uns liegt daran, daß dieses Gesetz, das zustim- hen, was zunächst einmal nicht der Fall war. mungsbedürftig ist, im Konsens nun möglichst rasch Meine Damen und Herren, zum zweiten verzichten im Bundesrat verabschiedet wird. Dazu gehören die berufsständischen Versorgungswerke weitge- natürlich auch die Bestimmungen, die die Maßnah- hend auf die großzügige Umverteilung innerhalb des men nach § 249h verlängern können, woran wir ein Systems. Man hat ihnen schlichtweg weniger versi- gemeinsames Interesse haben. Es sollte gelingen, cherungsfremde Leistungen aufgebürdet. Diese aber den 1. Januar 1996 zu erreichen. belasten ja gerade die gesetzliche Rentenversiche- Ich bedanke mich. rung. Ich glaube, in dieser Einschätzung sind wir uns einig. Im Ergebnis werfen berufsständische Versor- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6495

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das derbedingungen des § 249h zu belassen und nicht Wort der Abgeordneten Petra Bläss. auf den § 242s AFG umzustellen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, obwohl wir weiterhin Vor- schläge verfolgen werden, wie aus unserem arbeits- Petra Bläss (PDS): Herr Präsident! Meine Damen marktpolitischen Sofortprogramm 1996 zu ersehen und Herren! Der heute zur Verabschiedung anste- ist. hende Gesetzentwurf mit seiner Vielzahl von Geset- zesänderungen ist für uns nicht unproblematisch. Der Änderungsantrag der PDS forde rt, das Abschmelzen der Auffüllbeträge per Bescheid Eines der Hauptanliegen, dem Bestreben berufs- bekanntzugeben. Obwohl die ursprüngliche Ände- ständischer Versorgungswerke, immer weitere Per- rung, das nur mit einer Mitteilung des Postrenten- sonengruppen aufzunehmen, die bisher in der dienstes zu tun, nun doch nicht in die §§ 315a und gesetzlichen Rentenversicherung versichert waren, 319a eingeführt werden soll, ändert sich am Fakt einen Riegel vorzuschieben, ist im Interesse der Soli- nichts. Die Betroffenen werden lediglich eine Mittei- dargemeinschaft zu begrüßen. Aber: In diesem admi- lung über das Ergebnis des Abschmelzens und Hin- nistrativen Schritt sehen wir nicht die Lösung des weisblätter mit Beispielen erhalten. Uns fehlt die sich dahinter verbergenden Problems. Gerade für die Rechtsmittelbelehrung. Die ist um so wichtiger, als sich in den neuen Bundesländern im Aufbau befind- wir den Beginn des Abschmelzens der Auffüllbe- lichen Versorgungswerke muß sich das als Eingriff in träge per 1. Januar 1996 für rechtswidrig halten. die Länderentscheidungskompetenz und als Un- gleichbehandlung gegenüber Versorgungswerken in Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag, der nur den alten Bundesländern darstellen. einen formalen Akt auslösen soll, zuzustimmen. Im Wesen verbirgt sich hinter der Ausweitung der Selbstverständlich werden wir in unseren Bemü- berufsständischen Versorgungen doch, daß die hungen nicht nachlassen, das Abschmelzen der Auf- öffentliche Diskussion über die Unsicherheit der Ren- füllbeträge noch zu stoppen. Deshalb haben wir dies- ten bereits gegriffen hat und einzelne Gruppen von bezüglich einen Antrag gestellt, der sich noch in der Tätigen ihre Konsequenzen für eine kalkulierbarere parlamentarischen Beratung befindet. Alterssicherung ziehen. Notwendig ist also, die Zukunft der Renten politisch seriös zu diskutieren Sie haben gemerkt: Ich habe Pro und Kontra dieses und erforderliche Schlußfolgerungen zu ziehen. Gesetzentwurfes betont, Vor- und Nachteile mitein- ander abgewogen. Wir könnten uns zum Ausbau der Alterssicherung vorstellen, die allgemeine Versicherungspflicht ein- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Sie müssen zuführen und berufsständische Versorgungswerke zum Schluß kommen, Frau Kollegin. und andere Versorgungen zu zusätzlichen Leistun- gen umzugestalten. Das wäre eine solidarische und zugleich eine sozial gerecht differenzierende Vari- Petra Bläss (PDS): Die PDS wird sich bei der ante der Alterssicherung. Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten. Andere Punkte des Gesetzes lehnen wir ab. Mit (Beifall bei der PDS) dem Eingrenzen der Möglichkeiten für die soge- nannte „Arbeitsmarktrente" erhöht sich die soziale Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun Unsicherheit für leistungsgeminderte Menschen. nachträglich zu der Rede der Abgeordneten Schnie- Wenn der Arbeitsmarkt gesundheitlich Leistungsge- ber-Jastram dem Kollegen Hans Urbaniak zu einer minderten keinen zumutbaren Arbeitsplatz bietet, Kurzintervention das Wo rt. spezielle Förderprogramme nicht existieren, der Ret- tungsanker Rente dennoch erschwert wird, werden diese Menschen als „Überflüssige" in die Sozialhilfe Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Präsident! abgeschoben. Meine Damen und Herren! Zunächst geht es um eine gesetzestechnische Frage. Der Änderungsantrag der Bei der neuen Hinzuverdienstgrenze für die SPD auf Drucksache 13/3153 muß unter A rt. 10 Nr. 19 Berufsunfähigkeitsrente sind Behinderte in Werk- geändert werden. Unter Nr. 19 soll nicht § 249m, son- stätten jetzt zwar ausgenommen; wir sehen aber wei- dern § 242m stehen. Sie sehen also, wie wir bei unse- terhin die Gefahr der Schlechterstellung für voll ren Änderungsanträgen aufpassen, Herr Präsident. berufstätige Blinde und Querschnittsgelähmte. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Bravo! - Weitere Als positiv erkennen wir an, daß in der Renten- Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) überleitung vergessene Übergangsgelder renten- - Ich sage das aus dem Grund, weil dies ja mal pas- rechtlich anerkannt werden sollen; das betrifft insbe- sieren kann. sondere die „berufsbezogene Zuwendung" an Bal- lettmitglieder und die „befristete erweiterte Versor- Nun zu den Änderungsanträgen, die wir im Aus- gung" für Sonderversorgte der ehemaligen Schutz- schuß gestellt haben. Es ist bemerkenswert, daß und Sicherheitsorgane der DDR. weder die Kollegen von der CDU noch die Kollegen von der F.D.P. mit einem Wo rt auf diese wichtige Pro- Wir begrüßen, daß die Sonderbedingungen für blematik eingegangen sind. ABM Ost um ein Jahr bis zum 31. Dezember 1996 verlängert werden. Wir befürworten zugleich den (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wir wußten doch, Änderungsantrag der SPD, es im Osten bei den För- daß Sie kommen!) 6496 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Hans-Eberhard Urbaniak Sie haben hier kein Wo rt dazu gesagt. Das spiegelt Jahrgänge verunsichert, ob sie ihre Rente überhaupt Ihr Verhältnis zu den Stahlarbeitern und zu den Pro- noch bekommen. blemen, die wir in den neuen Ländern haben, wider. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das haben Sie ausgeklammert. Dazu haben Sie keine Beziehung. Ich bitte darum, daß das endlich eingestellt wird. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: In fünf Minuten Wir dürfen uns dennoch nicht zurücklehnen, son- kann man nicht alles ansprechen!) dern müssen weiterhin dafür sorgen, daß unser gesetzliches Rentensystem nicht überfordert wird. Das, was Sie von sich gegeben haben, ist eine ganz Darum müssen wir unter anderem die Aufgabenab- schäbige Geschichte. Das sage ich hier mit aller grenzung zwischen den einzelnen Systemen der Deutlichkeit. sozialen Sicherheit verbessern. Wir müssen eine Aus- zehrung der Solidargemeinschaft der Rentenversi- (Beifall bei der SPD und der PDS) cherten verhindern. Entscheidend dafür ist, daß die Wir wollten eine Ausnahmeregelung für die Stahl- Friedensgrenze zwischen gesetzlicher Rentenversi- industrie, weil es notwendig ist, einen befristeten cherung und berufsständischer Versorgung gefestigt Zeitraum zur Verfügung zu stellen, um den Abschluß werden muß. der Sanierung zu vollziehen. Wir leiden noch immer Die jüngste Ausdehnung der berufsständischen unter erheblichen Wettbewerbsverzerrungen. Art. 56 Versorgung auf neue Berufsgruppen, zum Beispiel des Montanvertrages können wir nur dann in auf Bauingenieure, hat diese Abgrenzung zwischen Anspruch nehmen, wenn auch Sozialpläne durchge- den beiden Systemen grundsätzlich in Frage gestellt. bracht werden. Diese aber sind in großer Gefahr. Diese Entwicklung gefährdet auf längere Sicht die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversiche- Ich sage Ihnen: Die Wirtschaftsvereinigung hat rung und führt zu einem Erosionsprozeß, der für die schon Entlassungen angekündigt, allerdings für jün- Solidargemeinschaft nicht tragbar ist. gere Leute. Das werden Sie zu verantworten haben. Sie haben jetzt noch die Chance, unserem Antrag, Deshalb haben wir das Recht zur Befreiung von den wir in dieser Situation mit großer Sorge gestellt der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenver- haben, Ihre Zustimmung zu geben. Lassen Sie sicherung wegen Zugehörigkeit zu einem berufs- unsere Leute an den Stahlstandorten nicht im Stich! ständischen Versorgungswerk neu geregelt. Die langjährige Abgrenzung zwischen gesetzlicher Ren- (Beifall bei der SPD und der PDS) tenversicherung und berufsständischer Versorgung wird beibehalten. Gleichzeitig wird aber verhindert, daß sich diejenigen Berufsgruppen, denen eine Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun dem Parlamentarischen Staatssekretär Horst Gün- berufsständische Sicherung künftig vorteilhafter ther das Wort. erscheint, zu Lasten der verbleibenden Mitglieder aus der Solidargemeinschaft verabschieden können. Daneben, meine Damen und Herren, brauchen wir Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes- dringend notwendige Änderungen im Bereich der minister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsi- Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Bis dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle- zur Verwirklichung der grundsätzlichen Neuordnung gen! Entgegen allen Unkenrufen und allem Getöse dieser Renten muß vorher klargestellt werden, daß der Systemgegner und Katastrophenspezialisten für leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsatz- die Rentenversicherung sage ich: Die Altersrenten - fähige Versicherte weiterhin nicht erwerbs- oder bleiben in der heutigen Form auch bis weit in das berufsunfähig sind, wenn sie noch in einer zumutba- nächste Jahrhundert hinein finanzierbar. Das haben ren Beschäftigung tätig sein können. zuletzt die Rentenversicherungsträger, das Prognos Gutachten und der Sozialbeirat bekräftigt. Mit einer Festschreibung würde der bestehende Status quo nur aufrechterhalten. Hierüber besteht (Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) allerdings noch Beratungsbedarf. Um aber das recht- zeitige Inkrafttreten des Gesetzes nicht zu gefähr- - Frau Kollegin Fuchs, wenn nicht jede Woche eine den, haben wir uns dazu entschlossen, die Angele- neue Meldung käme, wonach die Renten gefährdet genheit in diesem Gesetzgebungsverfahren nicht sein sollen - - weiterzuverfolgen. Aber ich sage ganz klipp und (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das habe ich klar: Die Regelung ist nach wie vor dringend notwen- nicht gesagt!) dig. Darum kommt das Thema ganz schnell wieder auf die Tagesordnung. - Nein, aber Sie haben einen Zwischenruf gemacht. Deshalb spreche ich Sie an. Ein Bereich ist bereits jetzt geregelt. Es werden Hinzuverdienstgrenzen bei Renten wegen vermin- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ich habe gesagt: derter Erwerbsfähigkeit eingeführt, um die Lohner- Wenn wir Arbeitsplätze schaffen!) satzfunktion dieser Renten wiederherzustellen, aus- genommen bei Schwerbehinderten in Werkstätten. - Ja, das ist in Ordnung. Da sind wir uns einig. Das geltende Recht sieht nämlich derzeit keine Es wäre gut, wenn nicht jede Woche eine neue Hinzuverdienstgrenzen vor. Wer berufs- oder Meldung käme, die die Rentner und die rentennahen erwerbsunfähig ist und eine entsprechende Rente Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6497

Parl. Staatssekretär Horst Günther bezieht, kann unbegrenzt hinzuverdienen. Wir mei- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, nen, dem muß ein Ende gemacht werden. Das steht gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Urba- auch im Widerspruch zur Lohnersatzfunktion; denn niak? die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sollen entgangenen Arbeitslohn ersetzen. Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Bei Erwerbsunfähigkeitsrenten führen wir darum minister für Arbeit und Sozialordnung: Ja, bitte bei Überschreiten der Hinzuverdienstgrenze die schön, Kollege Urbaniak. Rentenzahlungen auf die niedrigere Berufsunfähig- keitsrente zurück. Außerdem werden in Stufen Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Staatssekre- gestaffelte Hinzuverdienstgrenzen für Renten wegen tär, können Sie mir bestätigen, daß wir es vor drei Berufsunfähigkeit eingeführt. Je höher der Hinzuver- Jahren unternommen haben, eine Ausnahmerege- dienst, desto niedriger ist die Höhe der Berufsunfä- lung herbeizuführen, die nur über den Vermittlungs- higkeitsrente. In Zukunft wird es also keine Fälle ausschuß möglich war? Sie waren damals dagegen. mehr geben, in denen Berufsunfähige mit Rente und Können Sie mir zweitens bestätigen, daß die Wirt- Hinzuverdienst über mehr Einkommen verfügen schaftsvereinigung heute angekündigt hat, es kämen können als vorher, als sie noch vollständig erwerbstä- keine Sozialpläne mehr in Frage, vielmehr müßten tig waren. wir entlassen? Können Sie dies bestätigen? Herr Kollege Urbaniak, Sie haben eben gerügt, daß niemand von der Koalition - es ist auch nach mir Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes- kein Redner mehr vorgesehen - etwas zu Ihren minister für Arbeit und Sozialordnung: Erstens, Herr Anträgen gesagt hat. Ich wollte dazu auch nichts Kollege Urbaniak: Ich kenne das aus anderen sagen. Gesetzgebungsverfahren. Auch beim Entsendege- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr schade! - setz haben wir das Szenario der Arbeitgeberver- Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Er schiebt bände, daß sie so lange pokern, bis das Gesetz verab- doch!) schiedet ist. Wir wollen einmal die Entwicklung, die in der Stahlindustrie stattfindet, abwarten. Auch ich - Nun lassen Sie mich doch ausreden! Seien Sie doch stehe in Gesprächen mit den Herren der Stahlindu- einmal ruhig! Ich will doch gerade eine Erklärung strie. Da können Sie ganz sicher sein. So schlimm, abgeben. Regen Sie sich doch nicht so auf! wie Sie das sehen, wird das nicht ausfallen. (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Bei Ihnen Zweitens sage ich Ihnen: Es ist nicht richtig, daß kann man nicht ruhig sein!) erstmalig im Vermittlungsausschuß darüber gespro- - Sind Sie jetzt fertig? chen wurde. Nein, die Koalitionsfraktionen - ich war ja selber damals beteiligt - haben sich schon vorher Also, niemand der Koalitionsfraktionen spricht sehr eindeutig dafür ausgesprochen, die Verlänge- mehr dazu. Sie haben das gerügt. Das ist Ihre Sache. rung vorzunehmen. Richtig ist, daß das dann im Ver- Ich wollte dazu seitens der Bundesregierung auch mittlungsausschuß festgeklopft worden ist. Das will nichts sagen, weil wir in unserem Gesetzentwurf ich Ihnen gerne zugestehen. eine solche Regelung nicht vorgesehen haben. Aber ich habe Sie gestern im Ausschuß auf das Schrek- Vielen Dank. kensszenario hingewiesen - ich wiederhole das -, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß es keine Sozialpläne mehr geben könne. Daß die EGKS-Mittel daher nicht in Anspruch genommen werden können, stimmt nicht. Wenn nämlich die Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe Stahlunternehmen bereit und in der Lage sind, damit die Aussprache. Sozialpläne mit etwas höheren Mitteln abzuschlie- Wir kommen zur Abstimmung über den von der ßen, dann können sie auch EGKS-Mittel in Anspruch Bundesregierung eingebrachten Entwurf zur Ände- nehmen. rung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und Im übrigen, Kollege Urbaniak und meine Damen anderer Gesetze, Drucksachen 13/2590 und 13/3150. und Herren, haben wir der Stahlindustrie vor drei Dazu liegen Änderungsanträge der Fraktion der Jahren klipp und klar gesagt, daß es das letzte Mal SPD und der Gruppe der PDS vor, über die wir zuerst sein muß, daß eine Verlängerung in Frage kommt. abstimmen. Wir haben das nach einer Diskussion und nach einer entsprechenden Einigung nicht erst im Vermittlungs- Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag der ausschuß, wie Sie, Kollege Urbaniak, das verbreiten, Fraktion der SPD auf Drucksache 13/3153 in der von sondern schon vorher durch die Koalitionsfraktionen Herrn Urbaniak vorgetragenen Fassung ab. Wer die- festgelegt. sem Änderungsantrag der Fraktion der SPD zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Gegen- Die Stahlindustrie war also drei Jahre darauf vor- probe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit bereitet. Ich kenne die Probleme. Ich kenne die den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Strukturkrisen. Ich wohne selber in einer Stadt, in gesamten Opposition abgelehnt. der wir sehr viel mit Stahl zu tun haben. Aber man muß auch einmal eingegangene Versprechungen Dann stimmen wir über den Änderungsantrag der einhalten. Insofern, meine Damen und Herren, war PDS auf Drucksache 13/3157 ab. Wer für diesen die Stahlindustrie vorbereitet. Änderungsantrag der PDS stimmt, bitte ich um das 6498 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? Weder 1992, als der Bundestag die Frist bereits ein- - Ich stelle fest, daß der Änderungsantrag mit den mal verlängerte, noch heute hat sich die Situation auf Stimmen der Fraktionen der Koalition, des Bündnis- dem Wohnungsmarkt in den neuen Ländern grund- ses 90/Die Grünen und der SPD abgelehnt worden legend verbessert. ist. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: So ist es!) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- Durch die Einführung erleichterter Kündigungsbe- zeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich dingungen gemäß BGB droht nun eine Welle von stelle fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Bera- Eigenbedarfskündigungen und Kündigungen soge- tung mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthal- nannter Einliegerwohnungen, ohne daß der Woh- tung der Gruppe der PDS angenommen worden ist. nungsmarkt auf diese Situation eingerichtet ist. In dieser Einschätzung wird die SPD-Bundestagsfrak- Dann kommen wir zur tion von den Regierungen der neuen Länder durch dritten Beratung ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat, aber auch durch an sie gerichtete Zuschriften unterstützt. Auch und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die von CDU-Landesministern ist diese Notwendigkeit dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu er- ausdrücklich unterstrichen worden. heben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit der gleichen (Beifall bei der SPD) Mehrheit wie in der zweiten Lesung angenommen worden ist. Es geht bei dem Thema besonderer Kündigungs- schutz für Mieter in Ein- und Zweifamilienhäusern Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 6 auf. nicht um irgendein Rechtsproblem, sondern es geht um die Grundfrage der für Fami- Zweite und dritte Beratung des von der Frak- Existenzsicherung lien, insbesondere in Ballungsgebieten. Es geht um tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines sozialen Frieden, und es geht um Rechtsfrieden in Gesetzes zur Verlängerung des besonderen den neuen Ländern. Der Einwand, daß bei Auslaufen Kündigungsschutzes in den neuen Bundeslän- des Sonderkündigungsschutzes die Sozialklausel des dern BGB greift, ist zwar richtig. Diese Klausel verhindert - Drucksache 13/2444 - jedoch nicht die tausendfache Verunsicherung von Menschen. Sie verhindert nicht den vorprogrammier- (Erste Beratung 61. Sitzung) ten tausendfachen Rechtsstreit.

Beschlußempfehlung und Be richt des Rechts- Mit dem Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfrak- ausschusses (6. Ausschuß) tion reagieren wir auf die Situation in den neuen Län- - Drucksache 13/3145 - dern, zeigen wir einen Lösungsweg auf, der den Anpassungsprozeß befriedend, ausgleichend gestal- Berichterstattung: ten kann. Abgeordnete Dr. Michael Luther Hans-Joachim Hacker (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Fran ziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die GRÜNEN]) Aussprache über diesen Gesetzentwurf namentlich abstimmen werden. Mit dem Gesetzentwurf verbinden wir keine wahl- - taktischen Überlegungen wie die F.D.P., als sie 1994 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt in der Koa- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich lition durchgesetzt hat, den sogenannten Datschen- sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so kündigungsschutz weit über die Vorschläge des Bun- beschlossen. desrats hinaus auszudehnen. So haben wir heute in Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der den neuen Ländern, ja in ganz Deutschland die gro- Abgeordnete Hans-Joachim Hacker. teske Situation, daß Nutzer von Erholungsgrundstük- ken, dieser sogenannten Datschen, weitergehenden Rechtsschutz genießen als Wohnungsmieter - eine Hans-Joachim Hacker (SPD): Vielen Dank, Herr einmalige Situation! Präsident. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute nicht handeln, wenn die Mehrheit (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das kann doch des Hauses heute dem Gesetzentwurf der SPD nicht nicht wahr sein!) zustimmt, läuft am 31. Dezember 1995 der besondere Kündigungsschutz in den neuen Ländern aus. Der An dieser Stelle ist auch anzumerken, daß sich die Gesetzgeber hat bei der Verabschiedung des Eini- SPD-Bundestagsfraktion bereit erklärt hatte, den zur gungsvertrages erkannt, daß bei den Wohnungsmiet- Abstimmung stehenden Gesetzentwurf im Interesse verhältnissen in den neuen Ländern eine Sondersi- seiner Akzeptanz in der Koalition zu präzisieren und tuation vorliegt, die den besonderen Schutz der Mie- die Schutzfrist lediglich um zwei Jahre zu verlän- terinnen und Mieter durch entsprechende Über- gern. Dieser Vorschlag ist - genauso wie Überlegun- gangsfristen vor der vollen Inkraftsetzung der miet- gen zu einem besonderen Kündigungsschutz für rechtlichen Bestimmungen des BGB verlangt. ältere Mieter - jedoch von der Koalition im Rechts- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6499

Hans-Joachim Hacker ausschuß nicht akzeptiert, sondern abgelehnt wor- und weil sie etwas für die Menschen in den neuen den. Bundesländern tun will. Aber das kann sich ja mögli- cherweise von Ihrer Meinung unterscheiden. (Zuruf von der SPD: Völlig verbohrt!)

Die Gestaltung des Mieterschutzes in den neuen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Ländern ist nicht allein und nicht in erster Linie eine Luther, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- juristische Frage. Wir können mit der Verabschie- ordneten Hacker? dung des SPD-Gesetzentwurfes auch ein Zeichen setzen, wie wir auf existentielle Sorgen reagieren. (Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Der hat schon Dazu ist die Politik aufgefordert. Das kann und das den ersten Satz nicht verstanden!) muß sie leisten. (CDU/CSU): Ja, bitte schön. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Fran Dr. Michael Luther ziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Hans-Joachim Hacker (SPD): Herr Dr. Luther, ich hatte in diesem Zusammenhang in keiner Weise die So falsch, wie das Zeichen war, das vom Besuch des CDU kritisiert. Das hätte ich sicherlich in einem Bundeskanzlers bei der chinesischen Armeeinheit anderen Zusammenhang tun können. Sind Sie aber ausging, so richtig und so ausgleichend wäre das Zei- nicht mit mir der Auffassung, daß es sich um ein chen, das von der Annahme unseres Gesetzentwur- Wahlkampfmanöver der F.D.P. gehandelt hat, als der fes heute ausgehen würde. Sonderkündigungsschutz bei den Datschengrund- (Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Das ist ein stücken so extrem ausgedehnt wurde? mutiger Zusammenhang!) Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Herr Hacker, ich Die namentliche Abstimmung am heutigen Tage bie- hatte gesagt, daß die CDU nie etwas aus wahltakti- tet erneut die Möglichkeit zu prüfen, wie es mit der schen Gründen tut, sondern etwas für die Menschen Übereinstimmung von Anspruch und Realität bei der tun möchte. Deswegen verstehe ich Ihre Frage in die- Vertretung von Bürgerinteressen hier in Bonn sem Zusammenhang nicht. Ich empfehle Ihnen, die bestellt ist. Frage einem späteren Redner zu stellen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Petra Meine Damen und Herren, ich möchte ganz kurz Bläss [PDS]) Rückschau halten: Wir haben uns am 5. November In der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und 1992 hier über dieses Thema unterhalten. Damals SPD in Mecklenburg-Vorpommern ging es auch schon um die Verlängerung des beson- deren Kündigungsschutzes; seinerzeit haben wir ihn (Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Die wird auch um drei Jahre verlängert. Lassen Sie mich aus mei- bald gekündigt!) nem eigenen Redebeitrag zitieren: ist der Kündigungsschutz wegen Eigenbedarfs und Die Gründe dafür, die beim Abschluß des Eini- bei Einliegerwohnungen ausdrücklich aufgeführt. Zu gungsvertrages vorlagen, bestehen jedoch größ- der Verhandlungsdelegation auf der CDU-Seite ge- tenteils fort. Der Wohnungsmarkt in den neuen hörte unter anderem die CDU-Landesvorsitzende Ländern wird sich erst mit der Zeit fühlbar ent- und Bundesministerin Frau Angela Merkel. Was in spannen. Schwerin in dieser grundsätzlichen Frage verabredet wurde, muß auch hier in Bonn gelten. Dieselbe Begründung führt heute die SPD in ihrem - Antrag aus, in dem sie schreibt, angesichts der aktu- Ich appelliere an Sie, meine Damen und Herren ellen Wohnraumlage sei eine Verlängerung um wei- von der Koalition, aber ich appelliere insbesondere tere drei Jahre notwendig. Die Frage ist nun, ob das an die CDU-Abgeordneten aus Mecklenburg-Vor- stimmt. Leider bleibt diese konkrete Frage im SPD- pommern: Stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu! Antrag unbeantwortet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Uns hat ein Brief des Deutschen Mieterbundes ten der PDS) vom 12. September 1995 erreicht, in dem ähnlich argumentiert wird. Es heißt, an der Situation habe sich nichts geändert; davon seien mehrere 100 000 Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Michael Luther das Wo rt. Mietverhältnisse betroffen. - Meine Damen und Her- ren, das ist starker Tobak; darüber muß man nach- denken, darüber muß man reden. Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hacker, Wir haben das versucht. Mein Kollege Rolf Rau die CDU macht nie etwas aus wahltaktischen Grün- und ich haben mit Schreiben vom 21. September den, 1995 versucht, einen Gesprächstermin mit der Präsi- dentin des Deutschen Mieterbundes, Frau Anke (Widerspruch bei der SPD) Fuchs, zu vereinbaren. Offensichtlich war ihr der Weg zu weit, sich auf die niedere Ebene eines norma- sondern weil sie glaubt, die Situation in den neuen len Abgeordneten aus Sachsen, aus einem der neuen Ländern richtig einschätzen zu können, Bundesländer, zu begeben. Auf jeden Fall fand sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) keine Zeit, mit uns ein Gespräch zu führen. Vielleicht 6500 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 Dr. Michael Luther hat sie ja noch die Sorge aus dem Jahr 1990, daß mit besonderen Kündigungsschutzes ausgesprochen sächsischen Menschen schwierig umzugehen sei. haben? (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie sind ja ein Witzbold, Herr Kollege!) Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Herr Großmann, ich bin gern bereit, zu bestätigen, daß Sie richtig vor- Wir hatten aber trotzdem ein Gespräch mit dem gelesen haben. Ich möchte das auch kommentieren, Direktor des Mieterbundes, Herrn Rips; es war ein was Sie aus dem Schreiben von Herrn Hardraht vor- sehr konstruktives Gespräch, in dem wir zu klären gelesen haben. Er spricht von einer unterschiedli- bemüht waren, inwieweit es stimmt, daß sich die chen Sach- und Rechtslage. Das ist natürlich wahr. aktuelle Wohnraumlage noch nicht entspannt habe. Das Mietenüberleitungsgesetz erzeugt in den neuen Er konnte das in dem Gespräch nicht beantworten Bundesländern - und das ist richtig so - noch eine und sagte uns ein Schreiben zu. Das Antwortschrei- völlig andere Sachlage. Darauf bezieht sich letztend- ben haben wir erhalten. Ich will aber daraus nicht lich das Schreiben, und das bringt ihn zu der Schluß- zitieren, weil es daraus nichts zu zitieren gibt. Der folgerung, daß, die Verlängerung des Kündigungs- Inhalt des Schreibens ist einfach gleich Null. Meine schutzes notwendig sei. Damen und Herren, hier stellt sich für mich natürlich die Frage, was man eigentlich von seiten der SPD Nur, Herr Großmann, die Kardinalfrage ist damit will. Hat man überhaupt ein Interesse am konkreten nicht beantwortet, im übrigen auch nicht durch das Schutz der Mieter? Schreiben von Herrn Schuster, das ich auch zur Kenntnis genommen habe. Die Kardinalfrage ist (Zuruf von der CDU/CSU: An Krawall!) dadurch nicht geklärt worden, nämlich die Begrün- Im Ausschuß erklärten die Oppositionsfraktionen, dung für eine Verlängerung des besonderen Kündi- daß es ihnen bis heute nicht möglich gewesen sei, gungsschutzes. Es müßte ja dann in diesem Schrei- konkretes Zahlenmaterial vorzulegen. Stellen Sie ben darauf eingegangen werden, daß sich die Wohn- sich das bitte einmal vor! Fünf Jahre nach der deut- raumsituation noch nicht gravierend verändert habe schen Einheit - jeder weiß, wie schwierig dieses und deswegen nicht genügend Wohnraum zur Ver- Thema ist; vor drei Jahren haben wir über dieses fügung stehe, so daß die Verlängerung dieses beson- Thema hier im Deutschen Bundestag diskutiert - ist deren Kündigungsschutzes notwendig sei. Davon ist es dem Mieterbund nicht möglich, durch eine einfa- in den Schreiben, die Sie gerade zitiert haben, nicht che Mitgliederbefragung festzustellen, wo es schwie- die Rede. Damit sind wir bei der Frage, ob wir dem rige Wohn- und Mietverhältnisse gibt. Ich weiß nicht, SPD-Antrag zustimmen können, keinen Schritt wei- was letztendlich mit diesem Antrag aus Ihrer Sicht ter; denn wir haben keine Beweise, keine Unterlagen gewollt ist. dafür zur Verfügung gestellt bekommen, daß sich die Situation nicht geändert hat.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Meine Damen und Herren, ich habe mich bemüht, Luther, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- darzustellen, welche Vorgespräche wir geführt ordneten Großmann? haben, um uns mit dem Sachverhalt zu beschäftigen. Ich muß Ihnen an dieser Stelle vorwerfen, daß Sie nicht an der Lösung des Problems interessie rt sind, Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Herr Großmann, daß Sie keinen Versuch unternommen haben, dies- bitte schön. bezüglich Aufklärung zu geben. Sie haben auch nicht versucht, die Mieter oder die Vermieter aufzu- Achim Großmann (SPD): Herr Kollege Luther, sind klären bzw. zwischen den beiden Parteien zu vermit- Sie bereit, dem Plenum gegenüber zu bestätigen, teln. daß ich im Bauausschuß aus den Briefen aller zustän- digen Minister der neuen Bundesländer zitiert habe, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege in denen sie uns bestätigt haben, daß der besondere Luther, zwei weitere Kollegen haben den Wunsch Kündigungsschutz verlängert werden müsse? Sind nach Zwischenfragen. Wollen Sie sie zulassen? Die Sie ferner bereit, zu bestätigen - Sie haben den Brief erste stammt von Frau Eichstädt-Bohlig. ja auch gelesen -, daß mein Zitat aus dem Brief des sächsischen Innenministers Hardraht stimmte? Er schreibt: Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Die Zwischenfrage von Frau Eichstädt-Bohlig lasse ich gern zu. Durch das derzeit geltende Mietenüberleitungs- gesetz, das für die neuen Bundesländer das Miet- höhegesetz in wesentlichen Punkten modifiziert, Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE ist noch bis mindestens 31. Dezember 1997 von GRÜNEN): Herr Kollege Luther, Sie haben eben einer unterschiedlichen Sach- und Rechtslage auf gesagt, es gebe keine Beweise, ob die Argumenta- dem Gebiet des Mietrechts auszugehen. Zumin- tion der Opposition stimmt, daß es zu großen Kündi- dest bis zu diesem Zeitpunkt sollte der Ausschluß gungswellen kommt, oder ob Ihre Behauptung, das der Kündigungsmöglichkeit in den neuen Bun- sei überhaupt kein Problem, stimmt. Stimmen Sie mit desländern bestehenbleiben. mir überein, daß es dann, wenn das so ist, sinnvoll wäre, mit der Entscheidung über diese für die ost- Sind Sie also bereit, dem Plenum hier zu bestätigen, deutschen Mieter sehr wichtige Sache wenigstens so daß sich alle zuständigen Landesminister in den lange zu warten, bis die jetzt beginnende Wohnungs- neuen Bundesländern für die Verlängerung des zählung darüber genauere Informationen gibt? Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6501

Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Ich glaube, dazu Ich denke, das zeigt deutlich, daß sich die Situation ist die Wohnraumzählung nicht notwendig. Ich habe gegenüber 1992 drastisch verändert hat. Deswegen das vorhin zu erklären versucht. Der Deutsche Mie- ist die Begründung, die Kündigungsschutzfrist terbund hat Mitglieder. Er könnte seine Mitglieder müsse verlängert werden, weil die Wohnraumsitua- befragen und dann sagen: Wir haben in unserem tion unbefriedigend sei, nicht haltbar. Verband soundso viele Mitglieder, deren Mietver- hältnis konkret bedroht ist. Das hat sich ja an vielen (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Die Sozialdemo Stellen vorher angekündigt. - Der Deutsche Mieter- kraten kommen nicht von der Regulierung bund war nicht in der Lage, uns dazu eine Antwort los!) zu geben. Meine Damen und Herren, ich habe schon auf das Schreiben von Herrn Hardraht Bezug genommen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort zur und auch die Gelegenheit genutzt, mich mit Herrn nächsten Zwischenfrage hat der Kollege Warnick. Hardraht persönlich sowie mit anderen Ministern aus den neuen Ländern zu unterhalten. Ich muß sagen, die Gesprächsergebnisse haben eher meine Erfah- Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Diese Zwischen- rungen bestätigt. frage möchte ich nicht beantworten. Meine Damen und Herren, es gibt ein anderes Pro- blem; auch darauf möchte ich eingehen. Es ist unan- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Vielen Dank. Dann fahren Sie bitte fort. genehm, wenn man eine angestammte Wohnung, ein Einfamilienhaus, das man gemietet hat, mögli- cherweise seit zehn und mehr Jahren, jetzt verlassen Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Ich möchte in mei- muß. Aber die Lösung, die Sie vorschlagen, die Kün- ner Rede fortfahren. digungsschutzfrist um drei Jahre zu verlängern, ist Meine Damen und Herren, deswegen möchte ich keine Hilfe. Das ist die Verschiebung des Problems Ihnen ganz einfach unterstellen, daß Sie etwas ganz auf einen Zeitpunkt, der drei Jahre später liegt, das ist reiner Verschiebebahnhof. anderes wollen als den Versuch, einheitliche Rechts- verhältnisse in unserem gemeinsamen Deutschland (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Dann wollen die zu schaffen. Sie wollen letztendlich die Manifestie- wieder verlängern! Das geht doch immer so rung eines Zustandes in den neuen Bundesländern, weiter!) den ich aus der Zeit des Sozialismus in der DDR kenne. In diesem Punkt bin ich mit Herrn Hardraht nicht einer Meinung, wenn er schreibt, daß wegen der (Zurufe von der SPD: Hoi!) unterschiedlichen Sach- und Rechtslage das Mieten- Sie wollen dort das Eigentum zurückdrängen. Das überleitungsgesetz noch bis 1997 gelten und der will ich nicht! Ausschuß der Kündigungsmöglichkeit bis dahin bestehenbleiben sollte. Im Gegenteil: Genau jetzt ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - der richtige Zeitpunkt für das Auslaufen des beson- Zuruf von der SPD: Das ist unglaublich! - deren Kündigungsschutzes gegeben; denn jetzt ist es Weitere Zurufe von der SPD und der PDS) so, daß, wenn man sich neuen Wohnraum im Bestand sucht, die Steigerung bei Neuvertragsmieten auf Meine Damen und Herren, hat sich die Wohn- 15 Prozent beschränkt ist. Jetzt gelten noch die bes- raumsituation geändert? Ich habe Ihnen gerade aus- seren Regelungen, die nach 1997 nicht mehr gelten. geführt, daß uns von denjenigen, die den Antrag gestellt haben, bzw. von denjenigen, die- in dieser (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Frage am lautesten geschrieen haben, keine Informa- sowie des Abg. Heinz Lanfermann [F.D.P.]) tionen zugänglich gemacht worden sind, wie die Situation vor Ort konkret aussieht. Deswegen haben Herr Kollege, wir uns selbst sachkundig gemacht und eigene Infor- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn mationen eingeholt. Schuhmann? Hat sich die Situation verändert? - Meine Damen und Herren, wer mit offenen Augen durch die neuen Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Von Herrn Schuh- Bundesländer geht, wird feststellen, daß es gerade mann gern. im Baubereich in den letzten Jahren enorm geboomt hat. Es sind sehr viele Wohnungen entstanden. Richard Schuhmann (Delitzsch) (SPD): Herr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Luther, trifft es zu, daß Teile Ihrer Fraktion, dem 1994 und 1995 sind im Gebiet der neuen Bundeslän- SPD-Antrag folgend, für ältere Bürger durchaus der 130 000 bis 140 000 Wohnungen fertiggestellt einem besonderen Mieterschutz zustimmen wür- worden bzw. werden fertiggestellt. Im ersten Halb- den? jahr 1995 wurden 80 000 Genehmigungen für den (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ja, das gibt es!) Wohnungsbau erteilt. Das sind 47 Prozent mehr als im ersten Halbjahr des Jahres 1994, und im Einfami- lienhausbereich sieht es ähnlich aus. Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Herr Schuhmann, wir haben über dieses Problem diskutiert. Herr Hak- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Stolze Zahlen!) ker wollte mich eigentlich nach einem Inte rview 6502 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Michael Luther befragen, das in der „Ostsee-Zeitung" teilweise Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Nein, jetzt nicht abgedruckt wurde und in dem ich genau diesen mehr. Überlegungsstand dargestellt habe. Wir haben uns im letzten halben Jahr über diese Frage sehr viele Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Danke. Gedanken gemacht. Wir haben es uns nicht leichtge- macht und auch diese Möglichkeit erwogen. Wir sind aber letztendlich zu dem Ergebnis gekommen, daß Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Meine Damen und es sehr schwierig sein wird, das gesetzlich zu fassen Herren, ich möchte mit meiner Rede langsam zum und es auch verfassungsrechtlich zu vertreten. Aus Ende kommen. Lassen Sie mich nur noch wenige diesem Grunde haben wir davon Abstand genom- Bemerkungen machen. men. Vielleicht darf ich auch noch die Begründung dazu geben, warum wir das am Ende nicht weiter Erstens. Wir müssen den Mietern deutlich sagen, daß gerade im Eigenbedarf verfolgt haben. Einfamilienhausbereich angemeldet werden muß. Dieser muß begründet sein Es ist so, daß von vielen eine Untergangsstimmung und nachgewiesen werden. verbreitet wurde. Es wurde gesagt, daß ab 1. Januar 1996 alle Mieter auf der Straße lägen, wenn der Zweitens. In den besonderen Fällen der Zweifami- besondere Kündigungsschutz auslaufe. Aber ich lienhäuser und der Einliegerwohnungen ist es so, glaube, gerade das soziale Mietrecht und die Recht- daß es hier im wesentlichen nicht um Alteigentümer sprechung dazu, die sich für die neuen Bundesländer geht, sondern um Mietverhältnisse, in deren Rahmen in besonderer Weise gestalten wird, nehmen speziell Bürger, die auch schon zu Zeiten der DDR in diesen Bezug auf soziale Fälle und natürlich auch auf das Häusern gelebt haben, zusammenleben. Ich denke, Problem der älteren Bürger. Wir halten das aus Sicht hier wird diese Streitfrage nicht so gravierend sein. der Koalition zumindest für ausreichend. Aus meinen Erfahrungen aus Bürgersprechstunden, in denen man die meisten konkreten Fälle kennen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. lernt, kann ich sagen: Es gibt Vermieter, die sich Heinz Lanfermann [F.D.P.]) mistig verhalten. Es gibt aber genauso viele Mieter, die es ihren Eigentümern schwermachen. Ich denke, Meine Damen und Herren, Aufklärung ist aus mei- es ist keine Lösung, wenn wir nur den besonderen ner Sicht eine wichtige Aufgabe, und diese Aufklä- Kündigungsschutz verlängern. rung haben offensichtlich einige Personen in diesem Haus versäumt. Drittens. Da die Mieter mindestens fünf Jahre in diesen Häusern wohnen müssen und auch schon vor- (Zuruf von der SPD: Sie selbst!) her darin gewohnt haben, also insgesamt mehr als - Im Gegenteil, ich habe mit vielen gesprochen, die zehn Jahre, beträgt die Kündigungsfrist ein Jahr. Ich folgende Entwicklung festgestellt haben, gerade im glaube, die Zeit reicht noch, um auf die Mieter auf- Umfeld von Brandenburg: Dort gibt es viele Restituti- klärend einzuwirken. Sie ist auch ausreichend, daß onsfälle. Ich halte es durchaus für berechtigt, wenn sich die Mieter, die von Kündigungen betroffen sein Alteigentümer fünf Jahre nach der deutschen Einheit könnten, eine neue Wohnung suchen. versuchen wollen, wieder in ihr Einfamilienhaus ein- zuziehen. Man hat sich also von seiten der Alteigen- Viertens. Die Sozialklausel habe ich schon tümer mit den Mietern hingesetzt, hat mit ihnen erwähnt. Hier spielen Elemente wie Alter oder das Gespräche geführt, hat versucht, zu Lösungen zu Fehlen eines angemessenen Ersatzwohnraums eine kommen. Die Lösungen sehen so aus, daß man Fri- Rolle. sten bis zum Auszug vorgegeben hat, daß man Meine Damen und Herren, Sie verbreiten hier Kas- Abfindungssummen vereinbart hat, daß man sandrarufe, wenn Sie in diesem Zusammenhang von Umzugshilfen zugesagt hat, daß man bei der Suche Obdachlosigkeit sprechen, die als Welle auf uns nach Ersatzwohnraum Hilfe zugesagt hat. zukomme. (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) DIE GRÜNEN]: Glauben Sie selbst, was Sie da sagen?) Ich will nun noch kurz auf die verfassungsrechtli- chen Fragen Bezug nehmen. Wir befinden uns im Dieses Stimmungsbild - ich kann Ihnen viele Bei- Bereich des Grundgesetzes - Gott sei Dank. spiele dafür nennen - hat sich leider drastisch verän- Zunächst einmal: Die Verlängerung des besonderen dert, weil die Mieter in den Einfamilienhäusern, Kündigungsschutzes berührt erstens die Eigentums- offensichtlich von manchen Personen bewußt gesteu- garantie des Grundgesetzes und zweitens den ert, in dem Glauben gelassen wurden, ihr Zustand Gleichheitssatz des Grundgesetzes. Sie können nicht würde sich auf ewig so halten lassen. Das geht ein- ungeachtet der Einkommensverhältnisse der Eigen- fach nicht. Und deswegen wäre es besser gewesen, tümer und der Nutzer von Einfamilienhäusern eine man hätte die letzten fünf Jahre genutzt, um aufzu- Kündigungsschutzfrist zugunsten des Nutzers ver- klären. längern, ohne zum Beispiel auf Einkommen von Mie- (Beifall bei der CDU/CSU) tern in Ost und West Bezug zu nehmen, die durchaus nicht immer so unterschiedlich sind; denn Durch- schnittszahlen sind eben nur Durchschnittszahlen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Luther, Herr Professor Heuer möchte noch eine Zwi- Meine Damen und Herren, ich fordere Sie zum schenfrage stellen. Schluß auf: Sagen Sie, was Sie wollen! Sie wollen in Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6503 Dr. Michael Luther Deutschland ein anderes Mietrecht, und Sie wollen jetzt ihr Haus verlieren, daß sie statt dessen das BGB das Eigentumsrecht zurückdrängen. Meine Damen haben! Das wird sie nicht trösten. und Herren, ich habe das erlebt. Es nannte sich in dem Staat, in dem ich gelebt habe, Sozialismus. Ich (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne habe genug Sozialismus gehabt. Deswegen möchte ten der SPD) ich mich an dieser Stelle für Freiheit und Demokratie entscheiden. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Luther, Sie können darauf antworten. - Nein. Dann Ich bitte, diesem Gesetzentwurf nicht zuzustim- erteile ich der Abgeordneten Franziska Eichstädt men. Ich werde ihm auf jeden Fall nicht zustimmen. Bohlig das Wort . Bitte lehnen Sie diesen Gesetzentwurf ab!

Danke schön. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Her- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ren! Wir haben eben ein lebhaftes Beispiel dafür bekommen, daß die Mehrheit dieses Hauses immer noch nicht begriffen hat - und offenbar auch nicht Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- begreifen will -, welch großen Schaden das Vermö- interv ention erteile ich dem Abgeordneten Professor gensrecht mit dem Vorrang von Rückgabe vor Ent- Heuer das Wort. schädigung im Osten ausgelöst hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Ich möchte zu den Aus- bei der SPD und der PDS) führungen meines geschätzten Kollegen Luther zwei Anmerkungen machen. Die erste ist: Er verweist auf und wie sehr die Eigentumsstrukturen dort momen- die Sozialklauseln des BGB. Er sollte sich aber dar- tan in ständiger Veränderung sind. Gerade das ist über klar sein, daß es für die Ostdeutschen ein Unter- das Problem, von dem wir letztlich heute reden. schied ist, ob ihre Ansprüche gesetzlich dezidiert Ich weiß nicht, ob die Schätzungen von mehreren abgesichert sind oder ob sie darum über ihre hundertausend betroffenen Mietern zutreffen, aber Anwälte kämpfen müssen. Sie müssen bedenken, ich weiß aus Ortskenntnis, aus beruflicher Erfahrung daß es für eine ganze Reihe von Menschen, die in und aus den wöchentlichen Immobilienannoncen, ihrem Haus 10 oder 15 Jahre gewohnt haben, eine daß sehr, sehr viele Mieter über kurz oder lang von komplizierte Situation ist, wenn man jetzt von ihnen diesen Regelungen, über die wir heute befinden, verlangt, darauf zu warten, ob sie hinausgeklagt wer- betroffen sein können, vor allem - und das muß man den, um dann in den juristischen Kampf zu gehen. sich klarmachen - vom Zusammenspiel von drei Das sind die Westdeutschen vielleicht mehr Aspekten: nämlich erstens, daß sehr, sehr viele gewohnt. Aber die Ostdeutschen wären in einer bes- Grundstücke infolge der Restitution verkauft wer- seren Lage, wenn wir ihnen noch für einen bestimm- den; zweitens, daß wir im Osten eine spezifische ten Zeitraum gesetzliche Sicherheit bieten. Das ist Nutzerstruktur und sehr viele Mieter in Kleinsiedlun- die Frage, um die es hier geht. gen haben - Mieter, sage ich, im Unterschied zu Westdeutschland; und drittens, daß gerade in der Der zweite Punkt ist folgender: Es ist der Vorschlag letzten Sitzungswoche die erleichterten Kündigungs- gemacht und in der Debatte auch diskutiert worden, möglichkeiten für Ein- und Zweifamilienhäuser ver- ob man ab 65 Jahren einen absoluten Schutz geben längert wurden, also gerade für diese Kleinsiedlun- sollte - mit der bekannten Begründung,- daß man gen. einen alten Baum nicht mehr verpflanzen darf. Ich meine, das ist ein vernünftiger Vorschlag, der aus (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!) den Reihen der Koalition kam. Das führt genau zu dem Problem, von dem wir reden. Nun hat Herr Luther gesagt, daß sei Sozialismus. Da können Sie nicht drumherumreden, Herr Luther: Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß die Wir werden Kündigungs- und Prozeßwellen in F.D.P. genau diesen Vorschlag im vorigen Jahr für die einem sehr großen Ausmaß bekommen. Datschenbesitzer gemacht hat, und die F.D.P. ist, glaube ich, keine sozialistische Partei. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS) (Zuruf von der F.D.P.: Nur in dem Punkt hat Ich würde mich freuen, wenn ich nicht recht haben er recht!) würde. Ich wäre sehr dankbar dafür. - Dies sollten Dieser Vorschlag der F.D.P. ist ja auch beschlossen Sie also endlich zur Kenntnis nehmen. worden, weil damals Wahlen drohten. Ich meine, was Was mich ärgert, ist, daß es wirklich zynisch ist, den Datschenbesitzern billig war, sollte den Woh- wie Sie das Recht auf Wohnen und - das sage ich nungsbesitzern recht sein, denn eine Wohnung ist dazu - das Recht auf Heimat dem Recht auf Eigen- schließlich noch etwas wichtiger als die Datsche. tum und auf Immobilienverwertung unterordnen. Eine letzte Bemerkung: Herr Luther sagte im Aus- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS schuß, die Ostdeutschen seien jetzt glücklich, das SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der BGB zu besitzen. Aber sagen Sie einmal Leuten, die PDS) 6504 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Franziska Eichstädt-Bohlig Ich sehe es anders als die SPD. Ich gebe Ihnen zu: Es Jahre einen deutlicheren Schutz für die ostdeut- gibt zur Zeit im Osten eine Reihe von freistehenden schen Mieter zu gewähren. Stimmen Sie also dem Wohnungen, sowohl im Bereich der kaputten Altbau- Gesetzentwurf der SPD zu! Wir werden das tun; wir wohnungen als auch im Bereich der neu erstellten haben keinen eigenen Antrag eingebracht, weil es Wohnungen. Ich halte es aber für eine völlig falsche albern gewesen wäre, da noch mit irgendwelchen Politik, von den Menschen, die jetzt in ihren Woh- Nuancen zu arbeiten. Es geht eindeutig um Ja oder nungen als Mieter leben, zu verlangen, sie sollten Nein. sich doch auf dem Markt eine Wohnung suchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS bei der SPD und der PDS) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Einen letzten Satz möchte ich noch an die Adresse Ich halte das insbesondere im Hinblick auf die älte- der Mieterinnen und Mieter in Sachsen, Thüringen, ren Menschen für zynisch. Dazu hat Herr Heuer Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Ost-Berlin und Meck- eben sehr deutlich etwas gesagt. Ich halte es aber lenburg-Vorpommern richten: Ich schäme mich auch für die anderen Menschen für unzumutbar. Erst dafür, in einem Bundestag zu sein, dessen Mehrheit haben wir ihnen die Orientierung im Gesellschaftssy- taub und blind gegenüber den Problemen der Men- stem völlig durcheinandergebracht, schen im Osten ist. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) dann die Arbeit genommen, und jetzt betreiben Sie eine Politik, daß ihnen die Wohnung genommen wird. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Heinz Lanfermann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS - Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Walter Hirche Heinz Lanfermann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine [F.D.P.]: Wir haben ihnen das Gesellschafts Damen und Herren! In der Tat war es weder für system durcheinandergebracht? Das ist ja Bündnis 90/Die Grünen noch für die PDS nötig, unglaublich!) eigene Anträge vorzulegen. Wir haben ja die verei- nigte Linke jetzt erlebt. Wozu das? Es ist völlig unnötig. Sie haben überhaupt keine Gründe dafür. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU - Lachen bei Abgeordne Beschämend finde ich auch, daß sich die Mehrheit ten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE dieses Hauses - wir diskutieren hier eigentlich über GRÜNEN und der PDS) zwei Punkte - selbst den sehr bescheidenen und eigentlich dringend erforderlichen Milderungen aus - Ich habe bei den Beiträgen, die wir gehört haben, dem unsäglichen Vermögensgesetz, die von der SPD keine Mauern mehr zwischen Ihren Reihen feststel- und vom Bundesrat vorgeschlagen worden sind, ver- len können. weigert. Ist das denn nötig? Es ist wirklich nicht zu begreifen, warum das eigentlich sein muß. Es wäre (Achim Großmann [SPD]: Dazu zählen aber ein Baustein, um einen etwas gerechteren Ausgleich auch die CDU-geführten Landesregierun zwischen Nutzern und Eigentümern zu bringen. gen!) Warum nicht? Warum können wir das nicht beschlie- Tatsächlich - damit will ich den politischen Ke rn ßen? - ansprechen; denn der Kollege Luther ist ja hier im (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Gegensatz zu den anderen Rednern auf die Sachlage SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) und auf die Fakten eingegangen - verhält es sich ja so, daß in all diesen drei Reden bzw. der Kurzinter- Insofern bedauere ich sehr, daß heute wieder ein- vention des Herrn Heuer, der ja im übrigen von der mal ein Tag ist, an dem der Mauer der Resignation, Datschenregelung profitiert hat - das hat er gestern die im Osten schon sehr hoch geworden ist, ein gro- im Rechtsausschuß zu erkennen gegeben -, nichts ßer Baustein hinzugefügt wird, ein Baustein, der zum Art. 14 des Grundgesetzes gesagt worden ist; es absolut nicht nötig ist. Es würde überhaupt nichts ist nichts zum Eigentum gesagt worden; es ist vor kosten, das so zu beschließen, wie es hier beantragt allen Dingen nichts zu einem vernünftigen Interes- worden ist. senausgleich zwischen Vermietern und Mietern gesagt worden. Es ist eindeutig nur Stimmung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gemacht worden, indem Sie behauptet haben, Sie bei der SPD und der PDS) würden auf eine Situation reagieren. In Wirk lichkeit Von daher möchte ich auch ganz deutlich die ost- agieren Sie aber, indem Sie anheizen und indem Sie deutschen Abgeordneten auffordern, ihrem Wissen verunsichern. und ihrem Gewissen zu folgen (Abg. Siegfried Scheffler [SPD] meldet sich (Achim- Großmann [SPD]: Und den CDU zu einer Zwischenfrage) Landesministern zu folgen!) und den SPD-Anträgen zuzustimmen. Es wäre näm Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege lich die richtige Lösung, wenigstens noch ein paar Lanfermann, lassen Sie eine Zwischenfrage zu? Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6505

Heinz Lanfermann (F.D.P.): Nach den Erfahrungen, gelingen, auch zukünftig die unabdingbar notwendi- die der Kollege Luther machen mußte, werde ich gen Investoren für den privaten Wohnungsbau zu meine kurze Redezeit jetzt nicht zerhacken lassen. finden. Das Ideal der lebenslänglich geschützten Wohnung, möglichst unter Kosten billig zu mieten, (Lachen und Widerspruch bei der SPD, dem hat zu dem geführt, was wir an Wohnungsbestand BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS - 1989/90 in der untergegangenen DDR vorgefunden Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS]) haben. Das ist doch die Wahrheit, wenn man über Meine Damen und Herren, als man Ende 1992 fest- Mieten, Kündigung und Rechte von Vermietern und stellen mußte, daß die tatsächlichen und finanziellen Mietern spricht. Probleme in der Tat unterschätzt worden waren, hat (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der Bundestag eine Übergangsregelung des beson- deren - ich betone: des besonderen - Kündigungs- Wer behauptet, den Mietern in Zweifamilienhäu- schutzes für weitere drei Jahre bis Ende 1995 sern in Ostdeutschland drohe durch die Vermieter beschlossen und damit auch endgültig befristen wol- die reine Willkür, verkehrt die Rechtslage und argu- len. Im sechsten Jahr der deutschen Einheit hat sich mentiert mit der Angst. Ich halte das für eine bösar- die wohnungswirtschaftliche Gesamtlage eindeutig tige Politik. verbessert. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das stimmt doch lingen] [F.D.P.]) nicht!) Ich bitte auch die Justizministerin und den Bau- Ich will einmal feststellen, daß in den Jahren 1994 minister, hier eine entsprechende Aufklärungskam- und 1995 jeweils 130 000 bis 140 000 Wohnungen in pagne zu starten, damit diesen Desinformationen in den neuen Bundesländern fertiggestellt worden sind den neuen Ländern entgegengewirkt werden kann. und daß im ersten Halbjahr 1995 in den neuen Län- dern einschließlich Berlin-Ost Genehmigungen zum (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Bau von über 80 000 Wohnungen erteilt worden sind, Das Mietrecht ist über Jahrzehnte gewachsen. Es immerhin 47 Prozent mehr als im vergleichbaren enthält einen weitreichenden Katalog von sozialen Zeitraum 1994. Auch die Zahlen für die Ein- und Kündigungsvorschriften. Man könnte scherzhaft Zweifamilienhäuser belegen den Wachstumskurs. hinzufügen, meine Damen und Herren: Unser Miet- Mit 24 300 genehmigten Wohnungen ist ein Zuwachs recht ist sogar so sozial, daß es nach geltendem Recht von einem Fünftel zu verzeichnen. Auf der anderen heute einfacher ist, sich von seinem Ehegatten schei- Seite, neben diesem boomenden Wohnungsneubau, den zu lassen, als einem Mieter zu kündigen. ermittelt das Statistische Bundesamt für die neuen Länder einen Wohnungsleerstand von 400 000 Woh- (Widerspruch und Lachen bei der SPD und nungen. der PDS) Es wird doch wohl noch erlaubt sein, auch Wenn Sie argumentieren, fügen Sie bitte beispiels- zunächst über die Fakten zu sprechen, bevor man an weise auch hinzu, daß Eigenbedarfskündigungen in die Frage herangeht, ob es denn wirklich sinnvoll Zweifamilienhäusern nur möglich sind, wenn der wäre, eine Regelung für drei Jahre zu verlängern. Ich Vermieter selbst im Hause wohnt. Sagen Sie, daß die meine aus den Reden immer herausgehört zu haben, Kündigungsfrist mindestens sechs und in den von daß eigentlich das lebenslängliche Wohnrecht, und Herrn Luther geschilderten Fällen mindestens zwölf das zu möglichst niedrigen Mieten, wohl eher im Monate beträgt und im übrigen dann noch einmal Kopfe ist als die Verlängerung, von der Sie behaup- um drei Monate verlängert wird. ten, sie sei sinnvoll. - Es gilt die Sozialklausel des § 556a BGB, nach der (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: eine Kündigung ausgeschlossen ist, wenn sie eine Genauso ist es! Andere Leute sollen bezah nicht zu rechtfertigende Härte für den Mieter bedeu- len! - Zuruf von der CDU/CSU: Ja, so ist tet. Konsequenz ist dann eine Fortsetzung des Miet- es!) verhältnisses auf unbestimmte Zeit. Ich sage Ihnen: Sie ist nicht sinnvoll. (Achim Großmann [SPD]: Der Kündigungs schutz ist abgebrannt!) Die Rechtsangleichung an das im Westen Deutsch- lands langjährig bewährte soziale Kündigungs- Selbst wenn die Räumungsklage mit Erfolg erhoben schutzrecht wird ein weiteres Stück Normalität her- wird, beträgt die Räumungsfrist bis zu einem Jahr. stellen. Es gibt keinen Anlaß, meine Damen und Her- Notfalls kann die Behörde den Mieter erneut in seine ren von SPD, PDS und Grünen, bei Mieterinnen und Mietwohnung einweisen. Dies ist ein sehr effektiver Mietern Angst vor der Zukunft oder sogar vor Rechtsschutz, der auch in schwierigen Fällen wir- Obdachlosigkeit zu schüren. kungsvoll Obdachlosigkeit verhindert. Es kommt darauf an, zu dem bewäh rten ausgewo- Noch ein Wort zu der Idee, 65jährigen ein besonde- genen Rechtsverhältnis zwischen sozialen Kündi- res Kündigungsschutzrecht zu geben. Meine Damen gungsschutzrechten für Mieter einerseits und den in und Herren, da muß man ein bißchen weiterdenken. Art. 14 des Grundgesetzes verankerten Rechten der Oder wollen Sie jetzt etwa eine Kündigungswelle bei Verfügungsmöglichkeit über das Eigentum und der Vermietern, die zweifeln, auslösen, damit sie die 60- Erzielung eines angemessenen Mietzinses für Ver- bis 65jährigen ja noch kündigen, weil sie später gar mieter zurückzufinden. Anders wird es auch nicht keine Möglichkeit mehr dazu hätten? Sie müssen 6506 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 Heinz Lanfermann immer auch das Ende bedenken. Deswegen bitte ich, Es ist zynisch zu sagen, der Mieterschutz reicht diesen Gesetzentwurf abzulehnen. aus, Kauf bricht nicht Miete. Das ist alles Augenwi- scherei. Fragen Sie Anwälte, wie es in der Praxis aus- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - sieht. Das stimmt so alles überhaupt nicht. Achim Großmann [SPD]: Mieterland ist abgebaut!) Wer, wie im Speckgürtel um Berlin massenhaft geschehen, und nicht nur do rt, Restitutionsansprü- che oder rückübertragene Häuser aufgekauft hat, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Meine Kolle- obwohl er wußte, daß do rt ein oder zwei Mietpar- ginnen und Kollegen, das große Interesse, das Sie teien wohnen, hat sich darauf verlassen, daß er schon der namentlichen Abstimmung entgegenbringen, juristische Tricks und Möglichkeiten finden wird, sollten Sie auch den Rednern entgegenbringen. diese Menschen aus ihrer Wohnung zu vertreiben, (Zustimmung bei der PDS) und daß ihm die Bundesregierung dabei hilft. Solche Leute können sich auf Sie tatsächlich verlassen. Darum erteile ich jetzt das Wort dem Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick. Ich bin voller Bitternis, daß vernünftige Argumente nicht zum Ziel führen können, daß man diese ver- nünftigen Argumente der Parteidisziplin opfert. Ich Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Herr Präsident! dachte, als wir im Herbst 1989 auf die Straße gegan- Meine Damen und Herren! Der Westen setzt seine gen sind, daß die Zeiten, in denen das Gewissen Interessen wieder einmal mit Brachialgewalt gegen zugunsten einer Parteidisziplin zurückgestellt wird, die Interessen der Ostdeutschen durch. Es ist eine endlich vorbei sind. Aber das ist leider ein Irrtum. ziemlich einmalige Situation, (Beifall bei der PDS) (Zuruf von der SPD: Ist doch glatter Wenn Sie gegen die Verlängerung stimmen, haben Unsinn!) Sie auch den Mut und kommen Sie nach Ostdeutsch- daß hier gegen die Meinung des gesamten Ostens, land zu den Menschen, die durch ihre Entscheidung gegen die Meinung aller Ministerpräsidenten, gegen aus ihren Wohnungen vertrieben werden! Sagen Sie die Meinung der Bau- und Justizminister und sogar ihnen ins Gesicht, daß Ihnen die monetären Interes- gegen die Meinung von CDU-Landtagsfraktionen sen von Vermietern und Käufern von Restitutions- gehandelt wird, daß man hier in Bonn weiß, wie es häusern und deren Profitsteigerung wichtiger sind im Osten aussieht, daß man hier wieder alles besser als der friedliche Lebensabend der älteren Men- weiß und von hier aus entscheiden muß, weil Millio- schen! nen Menschen vor Ort im Osten angeblich nicht wis- (Beifall bei der PDS) sen, wo es langgeht. Schauen Sie diesen älteren Menschen, die in Ich sage Ihnen: Sie wissen nicht, wie es im Osten 40 Jahren DDR nicht reich geworden sind, aber sich aussieht! ihre Menschlichkeit erhalten haben, (Beifall bei der PDS) (Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Was bei Ihrer Partei schon ein Problem war!) Ich finde es schlimm, daß sich Ost-CDU-Abgeord- nete zu Helfershelfern machen und hierbei noch ins Gesicht! Sagen Sie ihnen, daß Sie billigend in Schützenhilfe leisten, anstatt sich für ihre Bürger vor Kauf nehmen, daß viele von ihnen nach dem Raus Ort einzusetzen, von denen sie gewählt wurden. schmiß aus der Einliegerwohnung - bis vor kurzem - wußten diese Menschen gar nicht, was der Beg riff (Beifall bei der PDS) Einliegerwohnung überhaupt bedeutet, das brauch- Die Zahlen, die hier genannt wurden, sind reali- ten sie zum Glück auch nicht zu wissen - nur noch stisch. Es ist ganz eindeutig so, daß zum Jahresan- wenige Monate leben! Sagen Sie das diesen Men- fang mindestens 5 000 bis 10 000 Leute schlagartig schen! aus ihren Wohnungen vertrieben werden, wenn die- Hat das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung", ser Kündigungsschutz nicht verlängert wird. Das der Kardinalfehler der deutschen Einheit, nicht wird in den nächsten ein bis zwei Jahren dazu füh- schon genug Opfer gefordert? Ich denke an Dr. Dalk ren, daß 50 000 bis 100 000 weitere Mieter aus ihren und viele andere. Ich habe viele gesehen, die an die- Wohnungen heraus müssen. sem Kardinalfehler, für den Sie die Verantwortung Wenn Sie uns vorwerfen, daß diese Zahlen nicht tragen, elendig zugrunde gegangen sind. stimmen, dann möchte ich nur an folgendes erin- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) nern: Wir waren 1990 im Justizministerium und haben darauf hingewiesen, daß eine Million Men- Wenn sich vorgebliche Christen aus dogmatischen schen von Rückübertragungsansprüchen betroffen Gründen unch ristlich verhalten, sind sie für mich sind. Da hat man uns ausgelacht. Die entsprechende absolut nicht anders als viele Pseudosozialisten in Zahl lautet heute, entsprechend den Angaben des der DDR, die durch ihr dogmatisches Handeln die Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfra- Idee des Sozialismus für Jahrzehnte in Verruf gen: 2,2 Millionen Ansprüche auf Häuser und gebracht haben. Ich appelliere an die ostdeutschen Grundstücke. Das nur noch einmal zur Erinnerung. CDU-Abgeordneten, die noch wankelmütig sind, ihr Gewissen vor die Parteidisziplin zu stellen, wie sie es (Zustimmung bei der PDS) auch im Fall der Islam-Konferenz getan haben. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6507

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Sie haben den Mieterbund angesprochen, dessen Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß Präsidentin ich bin. Herr Rips ist ein sehr kluger kommen. Gesprächspartner. Da Sie seinen B rief nicht vorgele- sen haben, will ich zitieren, was darin steht:

Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Ja. - Denken Sie an Der Deutsche Mieterbund ringt darum, daß die- die älteren Menschen in Ihrem Wahlkreis! Wer ser besondere Kündigungsschutz verlängert gegen die Verlängerung stimmt, stimmt für das Geld wird. und gegen die einfachen Menschen in Ostdeutsch- land. Wir werden dafür sorgen, daß die zynische Wir tun das nicht auf Grund von Statistiken, sondern Rede von Herrn Luther in den Zeitungen Ostdeutsch- weil wir mit den Menschen, die davon betroffen sind, lands erscheint, damit die Menschen wissen, wie sie reden, bei den nächsten Wahlen handeln müssen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne und der PDS) ten der SPD) weil wir wissen, was das für die Betroffenen heißt.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun Ich will den Eindruck dieser Debatte wiedergeben: der Abgeordneten Anke Fuchs das Wo rt. Auch ich habe eine Zeitlang gedacht, wenn der Kün- digungsschutz aufgehoben wird, wird das nicht gleich in jedem Falle praktiziert. Aber ich höre heute Anke Fuchs (Köln) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gern zur Sache kom- mit ganz offenem Ohr, daß CDU und F.D.P. davon ausgehen, daß von diesem Kündigungsrecht auch men, weil ich dafür werbe, daß auch die Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU, die aus dem Osten sofort Gebrauch gemacht wird. Meine Damen und kommen, heute mithelfen, daß wir ein Stückchen Herren, wissen wir eigentlich, welche soziale Unruhe heute über dieses Land geht, wenn wir so beschlie- sozialen Frieden auch in Ostdeutschland erhalten. Seien wir uns doch darüber im klaren, um was es ßen, wie es leider zu befürchten ist? geht! (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei GRÜNEN und der PDS) Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen appelliere ich mit den CDU-geführten Ländern, mit den Landtagen, in denen auch CDU- Als das Vierte Mietänderungsgesetz am 29. Mai Abgeordnete sind, 1992 vorgelegt wurde, hat die Bundesregierung gesagt: (Achim Großmann [SPD]: Alles Sozialisten!)

Nach den derzeitigen Erkenntnissen wird ... mit der Koalitionsregierung von Mecklenburg-Vor- nicht zu erreichen sein, daß der vom Rechtssy- pommern - alles post-sozialistische Schwestern oder stem gewährleisteten grundsätzlichen rechtli- Brüder, oder wie soll ich das eigentlich verstehen? -, chen Waffengleichheit auch eine tatsächliche noch einmal festzuhalten: Es gibt keine bezahlbaren Waffengleichheit zwischen Mietern und Vermie- Ersatzwohnungen. Es gibt kein Angebot, mit dem tern entspricht. - sich nennenswert auf diese Kündigungswelle reagie- Auseinandersetzungen zwischen Vermietern und ren ließe. Und es gibt die Menschen, die zu Recht einer nicht darauf vorbereiteten Mieterschaft im sagen: Arbeit und sichere, bezahlbare Wohnungen Zusammenhang mit Eigenbedarfskündigungen sind unsere Grundbedürfnisse, und wir haben nie- können das Zusammenwachsen beider Teile mals damit rechnen müssen, daß irgend jemand das Deutschlands erheblich belasten. Recht hat, uns die Wohnung zu kündigen. Das war damals richtig, und es ist leider auch heute Wenn Herr Biedenkopf sagt: „Bedenken Sie, wel- noch so, cher Bruch sich in den Herzen und Köpfen der Men- schen vollzieht, wenn sie plötzlich aus ihren Woh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne nungen heraus müssen" , dann wissen Sie, daß wir ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN um des sozialen Friedens und um des Zusammen- und der PDS) wachsens von Ost und West willen gut beraten sind, heute die Verlängerung des besonderen Kündi- weil die Situation drüben nicht so ist, Herr Luther, gungsschutzes zu beschließen. wie Sie sie freundlich beschreiben wollen, sondern bezahlbare Ersatzwohnungen eben fehlen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der SPD) GRÜNEN und der PDS) Sie können die teuren leerstehenden Wohnungen Was ist das eigentlich für ein Zusammenwachsen, nicht immer wieder heranziehen, um daraus abzulei- wenn CDU und F.D.P. zugeben, mit Auslaufen des ten, daß der besondere Kündigungsschutz nicht besonderen Kündigungsschutzes gehe eine Kündi- mehr notwendig ist. gungswelle durch das Land, und wenn dies auch 6508 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Anke Fuchs (Köln) noch mit den besonderen Eigentumsverhältnissen in was sich gerade auch im Vergleich mit vielen ande- diesem Land begründet wird? ren europäischen Ländern nicht nur sehen lassen kann, sondern wirklich ganz herausragend ist. (Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Das hat doch niemand gesagt! Was erzählen Sie denn (Beifall bei der F.D.P. - Walter Hirche da?) [F.D.P.]: Da hat Frau Fuchs versucht, die Öffentlichkeit zu täuschen!) Ich habe ein anderes Verständnis von sozialem Mit- einander und kann diese Argumentation schlicht Sie malen Entwicklungen an die Wand, die Sie mit nicht ertragen. nichts belegen können. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie haben keine GRÜNEN und der PDS - Heinz Lanfermann Ahnung!) [F.D.P.]: Unerträglich! Das hat niemand Sie schüren die Ängste von Bürgern und Bürgerin- gesagt! Warum zitieren Sie falsch! - nen in den neuen Bundesländern, Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Erst erfinden, dann beklagen!) (Zuruf von der SPD: Die sind doch da!)

Sie haben auf die Eigentumsregelung hingewiesen, wenn Sie sagen, jetzt sehen sie sich einer Kündi- und Sie sind nicht bereit, zu akzeptieren, daß im gungswelle gegenüber. Osten die rechtlichen und die tatsächlichen Mietver- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) hältnisse andere sind und deswegen mit denen im Westen nicht vergleichbar sind. Das trifft nicht zu, sondern das erzeugt Emotionen, das erzeugt eine Atmosphäre, in der die Bürgerinnen Deswegen appelliere ich an Sie alle, insbesondere und Bürger vielleicht nicht wissen, wie sie mit der an die Kollegen und Kolleginnen aus der CDU, die geltenden Rechtslage, die sehr, sehr viele Schutz- aus Ostdeutschland kommen: Stimmen Sie unserem möglichkeiten beinhaltet, umzugehen haben. Antrag zu! (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Die werden raus (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE geschmissen!) GRÜNEN und der PDS - Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Sie arbeiten mit Unterstellungen!) Ich möchte meine Rede, weil ich nur noch zwei Minuten habe, gerne im Zusammenhang fortführen und keine Zwischenfragen zulassen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das Wort der Bundesjustizministerin, Frau Sabine Leut- Ich finde es verantwortungslos, wenn hier so getan heusser-Schnarrenberger. wird, als würde unser Mietrecht, das in vielen Jahren gewachsen ist und zu Vertrauen geführt hat, nicht eine ausreichende Anzahl von Schutzmechanismen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- enthalten. Die Möglichkeit einer Eigenbedarfskündi- nisterin der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen gung heißt doch nicht, und Herren! Was ist das für ein Zusammenwachsen (Zuruf von der SPD: Sie müssen einmal vor in ganz Deutschland, wenn wir fast bis zu zehn Jah- Ort kommen!) ren nach der deutschen Einheit Sonderrecht auf- rechterhalten wollen und so tun, als würden wir den - daß der Vermieter sagen kann: Übermorgen muß die Menschen in den neuen Bundesländern nicht Wohnung geräumt sein! zutrauen, von ihren Rechten auch Gebrauch zu machen? (Weitere Zurufe von der SPD)

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Wir wissen doch, warum wir eine Sozialklausel in ten der CDU/CSU - Widerspruch bei der unser Mietrecht aufgenommen haben. SPD - Abg. Hans-Joachim Hacker [SPD] (Achim Großmann [SPD]: Wie weit sind Sie und Abg. Margareta Wolf [Frankfu rt] von der Wirklichkeit weg!?) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] melden sich zu Zwischenfragen) Der Mieter kann der Kündigung widersprechen, wenn er keinen angemessenen Wohnraum zu zumut- Sie behandeln sie mit Ihren Bemerkungen, Herr baren Bedingungen findet. Denn dann wird das Heuer, wie Menschen, die dazu nicht in der Lage Mietverhältnis trotz Kündigung fortgesetzt, und zwar wären. möglicherweise auch auf unbestimmte Zeit. Deshalb ist es richtig, wenn wir heute beschließen, Deshalb: Wenn Sie diese Situation nicht ganz den besonderen Kündigungsschutz nicht weiter gel- nüchtern und sachlich richtig beschreiben, dann tra- ten zu lassen. Wir sollten in einer solchen Debatte gen Sie Mitverantwortung, wenn Bürgerinnen und dann auch einmal offen sagen: Es gilt dann das Bürger, wenn Mieterinnen und Mieter in den neuen soziale Kündigungsschutzrecht im Mietrecht, Bundesländern Angst davor haben, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. - Zuruf (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: von der F.D.P.: Genau das ist es!) Das wollen die ja! Frau Fuchs will das!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6509

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger daß der 1. Januar kommt und diese besonderen Es gibt keinen bezahlbaren Wohnraum für die Fami- Regelungen auslaufen. lien, die ihren Wohnraum auf Grund des Auslaufens des besonderen Kündigungsschutzes ab 1996 verlie- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - ren werden. Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Wir tragen gemeinsam die Verantwortung dafür, daß Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wir aufklären und informieren, daß wir - mit einer GRÜNEN) Stimme - darlegen, wie die tatsächliche Situation ist, welche Rechte Mieterinnen und Mieter haben und Die Begründungen dafür, warum die Hausbesitzer welche Möglichkeiten zu Recht auch ein Vermieter, Familien, alten Leuten, Alleinlebenden kündigen, ein Eigentümer haben muß. haben sie doch in der Zwischenzeit schon in der Tasche. Sie lauem doch bloß darauf, daß ab Januar (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger die Chance da ist, unliebsame Mieter - kinderreiche lingen] [F.D.P.]) Familien und diejenigen, die in den Häusern alt wer- Nur wenn wir beide Seiten sehen und nur wenn wir den - auf die Straße zu setzen. unsere Politik, die in Eigentums- und Vermögensfra- Ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Punkt. gen auf den Ausgleich unterschiedlicher Interessen Deshalb bitte ich sehr nachdrücklich darum, daß sich angelegt ist, fortführen, werden wir in der Lage sein, all diejenigen unter Ihnen, die aus den neuen Län- das den Menschen in den neuen Bundesländern als dern kommen, dem Antrag der SPD anschließen und akzeptabel und richtig zu vermitteln. für eine Verlängerung stimmen. Aber ich weiß, welche Kampagnen von der PDS Vielen Dank. gefahren werden. Wir haben einen Vorgeschmack (Beifall bei der SPD und der PDS) dessen erlebt. Wir werden uns dem nicht anschlie- ßen. Ich weiß, daß wir all denjenigen, die die rechtli- che Situation in Bürgersprechstunden erklären müs- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun folgen sen, sachliche Informationen an die Hand geben eine Reihe von Erklärungen zur Abstimmung nach müssen. Dann werden sie die Mieterinnen und Mie- § 31 der Geschäftsordnung. ter überzeugen, daß sie von der Bundesregierung Zu Protokoll gegeben worden sind die Erklärun- nicht schutzlos gestellt werden. gen der Kollegen Rainer Eppelmann, Ulf Fink, Ulrich Vielen Dank. Junghanns, Manfred Koslowski, Michael Stübgen, Michael Wonneberger, Heidemarie Lüth und Ger- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - hard Jüttemann.*) Widerspruch bei der SPD) Es liegen drei Wortmeldungen für Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 vor, und zwar von den Kolle- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- gen Wolfgang Ilte, Dr. Dagmar Enkelmann und intervention erteile ich dem Kollegen Fuhrmann das Klaus-Jürgen Warnick. Wort. Ehe ich dazu das Wo rt erteile, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß die persönlichen Erklärun- Arne Fuhrmann (SPD): Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin, bei Ihrer Rede haben Sie gen zur Abstimmung nicht dazu dienen, die Debatte zwei Bereiche überhaupt nicht bedacht: zu verlängern, sondern nur dazu, das persönliche Abstimmungsverhalten zu erklären. Damit wir nicht Realität ist, daß Investoren aus den westlichen Tei- in Auseinandersetzungen geraten, möchte ich die - len dieser Republik im Ostteil, in den neuen Bundes- Kollegen, die persönliche Erklärungen abgeben wol- ländern, bei Abschreibungsquoten von bis zu len, ausdrücklich darauf aufmerksam machen. 50 Prozent des Eigenkapitals Wohnraum bauen, der dann in der Quadratmeterendsumme 30 bis 50 DM Dies vorausgeschickt, erteile ich dem Kollegen Miete kostet. Wolfgang Ilte das Wo rt für eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Alles Quatsch! - Weitere Zurufe von der Wolfgang Ilte (SPD): Herr Präsident! Meine Damen CDU/CSU und der F.D.P.) und Herren! Als die überwiegende Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland im Herbst 1989 auf- - Klar, die Herren und Damen von der F.D.P. müssen brach, ein neues Land aufzubauen, war jedem klar, an dieser Stelle natürlich besonders kollern. Das daß das ein langer Weg werden würde. Die Einheit habe ich auch so erwartet. Deutschlands stand damals noch nicht auf der Tages- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Frak- ordnung, tionen, die aus dem Ostteil Deutschlands kommen, (Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Sagen Sie, wie sich noch einmal vor Augen zu halten, was es bedeu- Sie abstimmen und warum!) tet, mit dem Argument loszumarschieren, es gäbe in den neuen Bundesländern bezahlbaren Wohnraum. war aber wohl der heimliche Wunsch vieler. Daß sie Ich bitte Sie, genau darüber nachzudenken, was Sie Wirklichkeit werden konnte, verdanken wir in erster damit andeuten. Linie jenen im Osten, die fest an das gemeinsame

(Beifall bei Abgeordneten der PDS) *) Anlagen 3 und 4 6510 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Wolfgang Ilte Land geglaubt haben, und jenen im Westen, die die- halte ich es für dringend notwendig, mein Abstim- ses Ziel nicht weniger unbeirrt verfolgt haben. mungsverhalten zu erklären. Ich werde dem Antrag der SPD selbstverständlich zustimmen. Um so nachdenklicher stimmt mich, daß wir in unserem Volk zur Zeit eine Situation vorfinden, in Herr Kollege Lanfermann, Sie haben vorhin der die Menschen im Westen im Beg riff sind, ihre gesagt, wir schürten die Angst vor einer Kündi- ausgestreckten Arme langsam, aber sicher zurückzu- gungswelle. Die Tatsachen sprechen eine andere ziehen, Sprache. Ich wünsche mir sehr, daß Sie zum Beispiel zu einer Sprechstunde in ein Wahlkreisbüro im Osten (Zurufe von der F.D.P.: Aufhören!) Deutschlands kommen. und in der die Menschen im Osten das Gefühl haben, trotz ihres Aufbruchs 1989 noch immer nicht (Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Sie sollen nicht zu Hause angekommen zu sein. Eine Ablehnung des zu mir sprechen; Sie sollen Ihr Verhalten vorliegenden Gesetzentwurfs wird viele Menschen erklären, Frau Kollegin!) im Osten wieder einmal in diesem Gefühl bestärken. Schauen Sie sich bitte einmal an, was die Leute (Widerspruch bei der CDU/CSU und der inzwischen an Kündigungsschreiben erhalten! F.D.P.) Frau Kollegin Fuchs, das hat eingesetzt; sie Wir brauchen in diesem unserem Land im Osten, bekommen Kündigungsschreiben. aber auch im Westen Lebensbedingungen, die allen Ich will nur eines vortragen. Es geht um den Menschen das Gefühl vermitteln: Dies ist unser Rechtsanwalt Herrn Grasser und eine Familie in Land; hier sind wir zu Hause. Kleinmachnow. In dem Schreiben steht:

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Wir kündigen als Eigentümer das Mietverhältnis Ilte, ich muß Sie unterbrechen. Sie merken an der über das Grundstück ... fristgerecht zum Reaktion des Hauses, - 31. Januar 1996. Die Kündigung erfolgt wegen Eigenbedarfs ... Wir haben Sie aufzufordern, das Grundstück sowie die Mieträume in geräumtem Wolfgang Ilte (SPD): Das wundert mich nicht. Zustand spätestens am 31. 01. 1996 samt den dazugehörigen Schlüsseln zu übergeben. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: - daß das, was Sie vortragen und was Sie sicherlich beschäftigt, ein Frau Kollegin! Debattenbeitrag, aber weniger eine Erklärung Ihres Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: persönlichen Verhaltens ist. (PDS): Das findet also (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Dagmar Enkelmann bereits statt, und genau das ist das Problem. Darauf Ich bitte Sie, die Geschäftsordnung und die Ner- will ich Sie aufmerksam machen. ven Ihrer Zuhörer nicht zu sehr zu strapazieren. Bitte beschränken Sie sich auf das, was § 31 der Ich will Sie bitten, sich anders zu verhalten. Ich will Geschäftsordnung Ihnen gestattet. Sie bitten, dem Gesetzentwurf der SPD zuzustim- men. (Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Sagen Sie, wie Sie abstimmen, sonst verstehen wir Sie (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne nicht!) ten der SPD) - Wolfgang Ilte (SPD): Meine Damen und Herren! Es Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ehe ich dem wäre ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Ein- Kollegen Klaus-Jürgen Warnick das Wort gebe, heit, wenn Sie, alle Damen und Herren von der Koali- möchte ich Ihnen, verehrte Kollegen, sagen: Wenn tion, insbesondere aber die Ostdeutschen, Sie Erklärungen zur Abstimmung geben, dann soll- ten Sie nicht an das Haus appellieren. Sie müssen (Widerspruch bei der CDU/CSU und der sich selber erklären. Sie müssen sagen, warum Sie F.D.P.) sich so verhalten. diesem Gesetzentwurf heute zustimmen würden, so Herr Kollege, hoffentlich haben wir bei Ihnen wie meine Fraktion und ich das tun werden. etwas mehr Glück. Besten Dank. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Heinz F.D.P.) Lanfermann [F.D.P.]: Jetzt wissen wir nicht, warum!) Sie haben das Wort.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun gebe ich Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Ich habe natürlich das Wort der Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann. auch ein Schreiben dabei. Ich bin stellvertretender Landesvorsitzender des Mieterbundes, und es sind eine ganze Menge Schreiben an uns gegangen. Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dieser Debatte (Unruhe bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6511

Klaus-Jürgen Warnick - Ich will nur einen einzigen Satz hieraus vorlesen Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die und damit erklären, warum ich so leidenschaftlich für Abstimmung. diese Verlängerung kämpfe. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Meine Kolle- der Fall. ginnen und Kollegen, es gehört ein bißchen Toleranz von beiden Seiten dazu. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das (Widerspruch bei der CDU/CSU und der Ergebnis der Abstimmung werde ich später bekannt- F.D.P.) geben. *) - Eine Sekunde. Darf ich Sie bitten, Ihre Plätze wieder einzunehmen, damit wir fortfahren können. Wenn das nicht Man kann schlecht beurteilen, ob es eine persönli- geschieht, unterbreche ich die Sitzung. Frau Sonn- che Erklärung ist, wenn der Redner noch gar nicht tag-Wolgast, darf ich auch Sie bitten, uns zu ermögli- richtig hat reden können. chen fortzufahren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Wir setzen damit die Beratungen fo rt . Ich rufe den PDS - Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] Tagesordnungspunkt 7 auf: [F.D.P.]: Den kennen wir!) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD Aber, Herr Kollege Warnick, das gilt auch für Sie: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Es ist nicht Sinn der Erklärung nach § 31 der Änderung des Gesetzes zur sozialen Absiche- Geschäftsordnung, vorzutragen, was andere wollen. rung des Risikos der Pflegebedürftigkeit Sinn ist vielmehr, sich selber erklären zu können. Ich bitte Sie wirklich, dies zu tun und nicht vorzutragen, (Pflege-Versicherungsgesetz) was andere von Ihnen wünschen. - Drucksache 13/2393 — Sie haben das Wort. Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Rechtsausschuß Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Es ist natürlich auch Ausschuß für Wirtschaft mein Interesse, daß die Verlängerung heute Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit beschlossen wird. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Ich möchte noch einen Satz anbringen: Wenn eure Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und Schonzeit beendet ist, fliegt ihr sowieso raus. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- (Unruhe bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sen. Ich möchte auch noch auf das eingehen, was Frau Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abge- Schnarrenberger gesagt hat, und das Ganze erklä- ordneten Rudolf Dreßler das Wo rt. ren, weil es hier zu Mißverständnissen gekommen ist. Der Hauptgrund dafür, daß wir diese Verlänge- Rudolf Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine rung brauchen, sind die Einliegerwohnungen. Bei Damen und Herren! Der heute zur Beratung anste- einer Einliegerwohnung kann man nach dem BGB hende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Ände- ohne Angabe von Gründen kündigen. Wir haben im rung des Pflege-Versicherungsgesetzes bet rifft Osten eine ganz andere Zahl an Einliegerwohnun- eigentlich eine Selbstverständlichkeit des deutschen gen als in den westlichen Bundesländern; das muß Sozialrechts. Die Sozialversicherungsbeiträge wer- zur Richtigstellung hier noch einmal gesagt werden. den je zur Hälfte einerseits von den Arbeitnehmerin- Die Gefahr ist bei uns eine völlig andere. Deswegen nen und Arbeitnehmern und andererseits von den brauchen wir diese Verlängerung. Arbeitgebern gezahlt. (Beifall bei der PDS) Daß diese Selbstverständlichkeit für die Pflegever- sicherung eigens einer gesetzlichen Klarstellung bedarf, ist ein Politikum an sich. Daß diese Klarstel- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Damit ist die lung auf vielfältigen offenen oder verdeckten Wider- Aussprache geschlossen. stand von maßgeblichen Politikern aus CDU/CSU Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- und F.D.P. trifft, das ist ein Menetekel. wurf der Fraktion der SPD zur Verlängerung des (Beifall bei der SPD) besonderen Kündigungsschutzes in den neuen Bun- desländern, Drucksache 13/2444. Der Rechtsaus- Wer zum Teil über 100 Jahre alte sozialstaatliche schuß empfiehlt auf Drucksache 13/3145, den Selbstverständlichkeiten in Zweifel zieht oder gar Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den ablehnt, der zeigt nicht nur, was ihm der Sozialstaat Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, nicht über die heute noch we rt ist, sondern er offenbart auch, daß er Beschlußempfehlung, abstimmen. auf dem Wege ist, seine Regeln und Grundsätze zu Lasten der Menschen, die seines Schutzes bedürfen, Die Fraktion der SPD verlangt namentliche einzuschränken. Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze einzunehmen. Sind alle *) Seite 6513 C 6512 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Rudolf Dreßler Der heute zur Beratung anstehende Gesetzentwurf sich durch, einmal wenigstens; denn das Anliegen hat daher zunächst einmal eine politische Signal- der Pflegebedürftigen ist diesen Einsatz wert. funktion: Die sozialdemokratische Fraktion macht das nicht mit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne und der PDS) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da ist auf der anderen Seite Herr Rexrodt, die per- Die SPD-Abgeordneten werden sich der von der Koa- sonifizierte tolle Nummer dieses Kabinetts, dem eine lition stillschweigend hingenommenen und teils neue Kompensation gar nicht weit genug gehen offen angestrebten Aushöhlung sozialstaatlicher kann. Prinzipien in den Weg stellen. Wir machen uns nichts Die fehlende Entscheidungsfähigkeit der Koalition vor; vor allem aber, wir lassen uns nichts vormachen. ist derzeit Anlaß für allerlei öffentlichkeitswirksame politische Ablenkungsmanöver. Herr Solms etwa Bei der jetzt erneut angezettelten Diskussion um fabuliert über ein weitreichendes soziales Kürzungs- die Umsetzung der zweiten Stufe der Pflegeversi- programm in zweistelliger Milliardenhöhe. Außer cherung geht es der Koalition aus CDU/CSU und Herrn Solms glaubt zwar niemand, daß diese Koali- F.D.P. um vieles, aber um eines zuletzt: um die Pflege tion eine solche Operation je überstehen würde; aber und die Pflegebedürftigen. das ist von der Sache her zunächst einmal wurscht. Wichtig ist, daß die F.D.P. aus der Deckung gekom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne men ist. Sie hat deutlich gemacht, was wir Sozialde- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mokraten Mal für Mal festgestellt haben: Die F.D.P., und der PDS - Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das meine Damen und Herren, redet vom sozialen ist unverschämt!) Umbau und will den sozialen Abbau. Die vom Wäh- In Wahrheit sollen die zur Verwirklichung der zwei- ler kahlgeschlagene F.D.P. übt den sozialen Kahl- ten Stufe der Pflegeversicherung notwendigen politi- schlag. schen Entscheidungen instrumentalisiert werden, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne um die von der Koalition gewünschten gesellschafts- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN politischen Veränderungen herbeizuführen. Diese und der PDS - Hans-Eberhard Urbaniak Kräfte wollen die Gesellschaft nach rückwärts verän- [SPD]: Demonteure!) dern. Sie wollen aber nicht den Pflegebedürftigen helfen. Herr Stoiber philosophiert über Mehrarbeit der Arbeitnehmer, um die angeblichen Mehrbelastungen Rein sachlich geht es derzeit um die Antwort auf für die zweite Pflegestufe zu kompensieren. Zehn die Frage, ob bei der Einführung der zweiten Stufe Stunden pro Monat schweben ihm da vor, wenn ich der Pflegeversicherung am 1. Juli 1996 abermals der ihn richtig verstanden habe. Hat der bayerische Beitragsanteil der Unternehmen kompensiert wer- Ministerpräsident noch nie etwas von Tarifautonomie den soll. Das dazu notwendige Verfahren ist im gehört? Ist ihm unbekannt, daß die Arbeitszeit nicht Pflege-Versicherungsgesetz vorgezeichnet. gesetzlich, sondern tarifvertraglich geregelt wird? Erstens. Der Sachverständigenrat zur Begutach- Und dann haben wir da noch Frau Babel und tung der gesamtwirtschaftlichen Lage gibt in einem Herrn Louven. Sie träumen erneut ihren Traum von Gutachten ein Urteil ab, ob zum Ausgleich der Bela- der Einschränkung der Lohnfortzahlung, ein Traum, stungen der Unternehmen durch ihren Beitragsanteil der, träte er ein, für Millionen von Menschen zu an der zweiten Stufe der Pflegeversicherung- ein einem Alptraum werden würde. Kompensationsbedarf besteht. - Dieses Gutachten liegt seit geraumer Zeit vor. - Zweitens. Die Bundes- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne regierung entscheidet in eigener Verantwortung - ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) aber unter Beiziehung des Gutachtens -, ob eine wei- Zwar haben „Seine Hochwohlgeboren" höchstper- tere Kompensation erforderlich ist und setzt die sönlich den beiden Kollegen beim ersten Vorstoß die- zweite Stufe durch Rechtsverordnung in Kraft. So ser Art , wie man sagt, sozusagen eins auf die Nuß steht es im Gesetz. Für alle ist aber offenkundig, daß gegeben; aber trotz der Kanzlerschelte bohren sie diese Bundesregierung eben nicht entscheidet. Sie weiter, um dieses strategisch entscheidende Loch im kann nicht entscheiden, sie ist handlungsunfähig, sozialstaatlichen Netz endlich anbringen zu können. weil sie sich über diese Fragen streitet. Was eigentlich könnte deutlicher machen, daß Da ist auf der einen Seite der Arbeitsminister, des- diese Diskussionen nichts mit Pflege und den Pflege- sen Zahlen exakt belegen, daß eine weitere Kompen- bedürftigen zu tun haben, als solche Vorschläge? sation überflüssig ist. Aber der Arbeitsminister hat Hier wird an der altbekannten Schablone geschnitzt, Sprechverbot. Er sagt nur ganz leise und hinter vor- daß der Sozialstaat jenen Standortnachteil Deutsch- gehaltener Hand, daß ihm die neue Kompensation lands darstelle, der uns im internationalen Wettbe- auf den Geist geht. Herr Blüm, Hand weg vom werb behindere. Hier werden einseitig die unbezwei- Mund, sagen Sie es laut, und ziehen Sie vor allem die felbaren Kosten des Sozialstaates bilanziert, ohne politischen Konsequenzen aus Ihren Erkenntnissen! seine unbezweifelten Erlöse und Erträge ebenfalls in Minister, die ihre Meinungen nur flüstern, können diese Bilanz einzustellen. Wer so einseitig bilanziert, am Kabinettstisch nicht gehört werden. Setzen Sie kann nur ein Ziel verfolgen: Er will sich eine ökono- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6513

Rudolf Dreßler mische Scheinlegitimation zurechtzimmern, um die Die Beiträge zur Pflegeversicherung tragen Arbeit- Notwendigkeit eines Sozialabbaus zu rechtfertigen. nehmer und Arbeitgeber je zur Hälfte. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Andrea Ich fordere die Koalition auf: Unterlassen Sie Ihre FischerÜ [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GR Ablenkungsmanöver und Interpretationsklimmzüge! NEN]) Stimmen Sie dieser sozialstaatlichen Selbstverständ- lichkeit zu! Vor allen Dingen: Jagen Sie nicht jeden Die Zahlen und die Fakten zur Kompensation in Sonntag eine neue Sau durchs Dorf, Frau Babel! Die Sachen Pflegeversicherung sind eindeutig. Ich wie- Menschen in Deutschland, die sich bisher auf den derhole: Sie stammen aus der Feder der Bundesre- Sozialstaat verlassen, sind das nämlich satt. gierung oder des Sachverständigenrates. Letzterer stellte fest: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Abschaffung eines Feiertages zur Entlastung der Unternehmen von ihrem Beitragsanteil zur Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ehe ich das ersten Stufe der Pflegeversicherung hat deren Wort dem nächsten Redner erteile, komme ich auf Belastung überkompensiert. den Tagesordnungspunkt 6 zurück und gebe das von Da sage ich: Richtig. den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Die Abschaffung eines zweiten Feiertages zur Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Verlänge- Kompensation der zweiten Pflegestufe führt aber- rung des besonderen Kündigungsschutzes in den mals zur Überkompensation. neuen Bundesländern, Drucksachen 13/2444 und 13/ 3145, bekannt: Abgegebene Stimmen: 624. Mit Ja Da sage ich: Auch richtig. haben gestimmt: 301. Mit Nein haben gestimmt: 322. Enthaltungen: 1. Damit ist der Gesetzentwurf in Der verbleibende Rest an Kompensationsbedarf, zweiter Lesung abgelehnt. Nach unserer Geschäfts- den der Sachverständigenrat zu erkennen glaubt, ist ordnung erübrigt sich damit eine weitere Befassung Ergebnis einer unvollständigen Bewertung, einer mit diesem Gesetzentwurf. Bewertung, die jene entlastenden Maßnahmen unterschlägt, die im Zusammenhang mit der Verab- schiedung des Pflege-Versicherungsgesetzes verein- Endgültiges Ergebnis Peter Dreßen bart und durchgeführt worden sind: Rudolf Dreßler Abgegebene Stimmen: 623; Freimut Duve (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist ja wohl davon Ludwig Eich selbstverständlich!) ja: 301 Gernot Erler Petra Ernstberger erstens Mißbrauchsbekämpfung: 1,8 Milliarden DM, nein: 321 Annette Faße zweitens Bettenabbau im Krankenhaus wegen Fehl- enthalten: 1 Elke Ferner belegung: 0,75 Milliarden DM, drittens Korrektur bei Lothar Fischer (Homburg) AFG-Leistungen: 1,6 Milliarden DM, viertens Kür- Gabriele Fograscher zungen bei Lohnersatzleistungen: 0,25 Milliarden Ja Iris Follak Norbert Formanski DM. Dagmar Freitag Das macht nach Adam Riese eine Entlastungswir- SPD Anke Fuchs (Köln) Katrin Fuchs (Verl) kung von 4,4 Milliarden DM, die bei der Kompensa- Brigitte Adler Arne Fuhrmann tionsberechnung des Sachverständigenrates nicht Gerd Andres Monika Ganseforth berücksichtigt worden ist. Zusammen mit- den vom Hermann Bachmaier Norbert Gansel Sachverständigenrat berechneten Entlastungswir- Ernst Bahr Konrad Gilges kungen von 5,6 Milliarden DM für den abgeschafften Doris Barnett Iris Gleicke Feiertag und 1,2 Milliarden DM in der gesetzlichen Klaus Barthel Günter Gloser Krankenversicherung ergibt sich eine Gesamtentla- Ingrid Becker-Inglau Dr. Peter Glotz Wolfgang Behrendt Günter Graf (Friesoythe) stung der Unternehmen von über 11 Milliarden DM. Hans Berger Angelika Graf (Rosenheim) Hans-Werner Bertl Dieter Grasedieck Angesichts dieser Sachlage stelle ich für die SPD- Friedhelm Julius Beucher Achim Großmann Bundestagsfraktion fest, was der Bundesarbeitsmini- Rudolf Bindig Karl Hermann Haack ster sich nicht festzustellen traut: Es gibt bei der Pfle- Lilo Blunck (Extertal) geversicherung für die Einführung der zweiten Pfle- Dr. Ulrich Böhme (Unna) Hans-Joachim Hacker gestufe keinen weiteren Kompensationsbedarf. Arne Börnsen (Ritterhude) Klaus Hagemann Anni Brandt-Elsweier Manfred Hampel (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Andrea Tilo Braune Christel Hanewinckel FischerÜ [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GR Dr. Eberhard Brecht Alfred Hartenbach NEN]) Edelgard Bulmahn Dr. Liesel Hartenstein Hans Martin Bury Klaus Hasenfratz Unser Gesetzentwurf zieht daraus die Konsequenz. Marion Caspers-Merk Dieter Heistermann Wolf-Michael Catenhusen Reinhold Hemker Da wir damit rechnen müssen, daß auch Herr Rex- Peter Conradi Rolf Hempelmann rodt und Frau Babel ihn lesen, haben wir ihn bewußt Dr. Herta Däubler-Gmelin Dr. Barbara Hendricks schlicht gehalten: Christel Deichmann Monika Heubaum Karl Diller Uwe Hiksch (Heiterkeit bei der SPD) Dr. Marliese Dobberthien Reinhold Hiller (Lübeck) 6514 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Stephan Hilsberg Margot von Renesse Jochen Welt Dr. Barbara Höll Gerd Höfer Renate Rennebach Hildegard Wester Dr. Willibald Jacob Jelena Hoffmann (Chemnitz) Otto Reschke Lydia Westrich Ulla Jelpke Frank Hofmann (Volkach) Bernd Reuter Inge Wettig-Danielmeier Gerhard Jüttemann Ingrid Holzhüter Dr. Edelbert Richter Dr. Norbert Wieczorek Dr. Heidi Knake-Werner Erwin Horn Günter Rixe Heidemarie Wieczorek-Zeul Rolf Köhne Eike Hovermann Reinhold Robbe Dieter Wiefelspütz Andrea Lederer Lothar Ibrügger Gerhard Rübenkönig Berthold Wittich Dr. Christa Luft Wolfgang Ilte Dr. Hansjörg Schäfer Dr. Wolfgang Wodarg Heidemarie Lüth Barbara Imhof Gudrun Schaich-Walch Hanna Wolf (München) Dr. Günther Maleuda Gabriele Iwersen Dieter Schanz Heidi Wright Manfred Müller (Berlin) Renate Jäger Rudolf Scharping Uta Zapf Rosel Neuhäuser Jann-Peter Janssen Bernd Scheelen Peter Zumkley Dr. Uwe-Jens Rössel Ilse Janz Dr. Hermann Scheer Christina Schenk Dr. Uwe Jens Siegfried Scheffler Klaus-Jürgen Warnick Volker Jung (Düsseldorf) Horst Schild BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEr Dr. Winfried Wolf Sabine Kaspereit Otto Schily Gerhard Zwerenz Susanne Kastner Dieter Schloten Gila Altmann (Aurich) Ernst Kastning Günter Schluckebier Elisabeth Altmann Hans-Peter Kemper Ursula Schmidt (Aachen) (Pommelsbrunn) Nein Klaus Kirschner Dagmar Schmidt (Meschede) Volker Beck (Köln) Marianne Klappert Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Angelika Beer Dr. Hans-Hin rich Knaape Regina Schmidt-Zadel Matthias Berninger CDU/CSU Walter Kolbow Heinz Schmitt (Berg) Annelie Buntenbach Fritz Rudolf Körper Dr. Emil Schnell Amke Dietert-Scheuer Ulrich Adam Nicolette Kressl Walter Schöler Franziska Eichstädt-Bohlig Peter Altmaier Volker Kröning Ottmar Schreiner Dr. Uschi Eid Anneliese Augustin Thomas Krüger Gisela Schröter Andrea Fischer (Berlin) Jürgen Augustinowitz Horst Kubatschka Dr. Mathias Schube rt Joseph Fischer (Frankfurt) Dietrich Austermann Eckart Kuhlwein Schuhmann Richard Rita Grießhaber Heinz-Günter Bargfrede Konrad Kunick (Delitzsch) Gerald Häfner Franz Peter Basten Christine Kurzhals Brigitte Schulte (Hameln) Kristin Heyne Dr. Wolf Bauer Dr. Uwe Küster Reinhard Schultz Ulrike Höfken Brigitte Baumeister Werner Labsch (Everswinkel) Michaele Hustedt Dr. Sabine Bergmann-Pohl Brigitte Lange Volkmar Schultz (Köln) Dr. Manuel Kiper Hans-Dirk Bierling Detlev von Larcher Ilse Schumann Monika Knoche Dr. Joseph-Theodor Blank Waltraud Lehn Dr. R. Werner Schuster Dr. Angelika Köster-Loßack Renate Blank Robert Leidinger Dietmar Schütz (Oldenburg) Steffi Lemke Dr. Heribert Blens Klaus Lennartz Dr. Angelica Schwall-Düren Vera Lengsfeld Peter Bleser Dr. Elke Leonhard Ernst Schwanhold Dr. Helmut Lippelt Dr. Norbert Blüm Klaus Lohmann (Witten) Bodo Seidenthal Oswald Metzger Friedrich Bohl Christa Lörcher Lisa Seuster Kerstin Müller (Köln) Dr. Maria Böhmer Erika Lotz Erika Simm Winfried Nachtwei Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Dr. Christine Lucyga Johannes Singer Christa Nickels Wolfgang Bosbach Dieter Maaß (Herne) Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Cem Özdemir Dr. Wolfgang Bötsch Winfried Mante Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Gerd Poppe Klaus Brähmig Dorle Marx Wieland Sorge Simone Probst Paul Breuer Ulrike Mascher Wolfgang Spanier Dr. Jürgen Rochlitz Monika Brudlewsky Christoph Matschie Dr. Dietrich Sperling Halo Saibold Georg Brunnhuber Ingrid Matthäus-Maier Jörg-Otto Spiller Irmingard Schewe-Gerigk Hartmut Büttner Heide Mattischeck Antje-Ma rie Steen Rezzo Schlauch (Schönebeck) Markus Meckel Ludwig Stiegler Albert Schmidt (Hitzhofen) Dankward Buwitt Ulrike Mehl Dr. Peter Struck Wolfgang Schmitt Manfred Carstens (Emstek) Angelika Mertens Joachim Tappe (Langenfeld) Peter Harry Carstensen Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Jörg Tauss Ursula Schönberger (Nordstrand) Ursula Mogg Dr. Bodo Teichmann Werner Schulz (Berlin) Wolfgang Dehnel Siegmar Mosdorf Margitta Terborg Rainder Steenblock Hubert Deittert Michael Müller (Düsseldorf) Jella Teuchner Christian Sterzing Gertrud Dempwolf Jutta Müller (Völklingen) Dr. Gerald Thalheim Manfred Such Albert Deß Christian Müller (Zittau) Wolfgang Thierse Dr. Antje Vollmer Renate Diemers Gerhard Neumann (Gotha) Dietmar Thieser Ludger Volmer Wilhelm Dietzel Dr. Edith Niehuis Franz Thönnes Helmut Wilhelm (Amberg) Werner Dörflinger Dr. Rolf Niese Uta Titze-Stecher Margareta Wolf (Frankfurt) Hansjörgen Doss Doris Odendahl Adelheid Tröscher Dr. Alfred Dregger Günter Oesinghaus Hans-Eberhard Urbaniak Maria Eichhorn Leyla Onur Siegfried Vergin PDS Wolfgang Engelmann Manfred Opel Günter Verheugen Rainer Eppelmann Adolf Ostertag Ute Vogt (Pforzheim) Wolfgang Bierstedt Heinz Dieter Eßmann Kurt Palis Karsten D. Voigt (Frankfurt) Petra Bläss Horst Eylmann Albrecht Papenroth Hans Georg Wagner Maritta Böttcher Anke Eymer Dr. Willfried Penner Dr. Konstanze Wegner Eva Bulling-Schröter Ilse Falk Dr. Martin Pfaff Wolfgang Weiermann Dr. Ludwig Elm Jochen Feilcke Georg Pfannenstein Reinhard Weis (Stendal) Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Karl H. Fell Dr. Eckhart Pick Matthias Weisheit Dr. Ruth Fuchs Ulf Fink Joachim Poß Gunter Weißgerber Dr. Gregor Gysi Dirk Fischer (Hamburg) Karin Rehbock-Zureich Gert Weisskirchen (Wiesloch) Dr. Uwe-Jens Heuer Leni Fischer (Unna) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6515

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Klaus Francke (Hamburg) Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Rieder Alois Graf von Waldburg-Zeil Herbert Frankenhauser (Heidelberg) Dr. Erich Riedl (München) Dr. Jürgen Warnke Dr. Gerhard F riedrich Karl Lamers Klaus Riegert Kersten Wetzel Erich G. Fritz Dr. Norbert Lamme rt Dr. Heinz Riesenhuber Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Hans-Joachim Fuchtel Helmut Lamp Hannelore Rönsch Gert Willner Michaela Geiger Armin Laschet (Wiesbaden) Bernd Wilz Norbert Geis Herbert Lattmann Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Willy Wimmer (Neuss) Dr. Heiner Geißler Dr. Paul Laufs Dr. Klaus Rose Matthias Wissmann Michael Glos Karl-Josef Laumann Kurt J. Rossmanith Simon Wittmann Wilma Glücklich Christian Lenzer Adolf Roth (Gießen) (Tännesberg) Dr. Reinhard Göhner Peter Letzgus Norbert Röttgen Dagmar Wöhrl Peter Götz Editha Limbach Dr. Christian Ruck Michael Wonneberger Dr. Wolfgang Götzer Walter Link (Diepholz) Dr. Jürgen Rüttgers Elke Wülfing Joachim Gres Eduard Lintner Roland Sauer (Stuttgart) Peter Kurt Würzbach Kurt-Dieter G rill Dr. Klaus W. Lippold Ortrun Schätzle Cornelia Yzer Wolfgang Gröbl (Offenbach) Dr. Wolfgang Schäuble Wolfgang Zeitlmann Hermann Gröhe Dr. Manfred Lischewski Hartmut Schauerte Wolfgang Zöller Claus-Peter Grotz Wolfgang Lohmann Heinz Schemken Manfred Grund (Lüdenscheid) Karl-Heinz Scherhag Horst Günther (Duisburg) Julius Louven Gerhard Scheu F.D.P. Carl-Detlev Freiherr von Sigrun Löwisch Norbert Schindler Hammerstein Heinrich Lummer Dietmar Schlee Ina Albowitz Gottfried Haschke Dr. Michael Luther Ulrich Schmalz Dr. Gisela Babel (Großhennersdorf) Erich Maaß (Wilhelmshaven) Bernd Schmidbauer Hildebrecht Braun Gerda Hasselfeldt Dr. Dietrich Mahlo Christian Schmidt (Fürth) (Augsburg) Rainer Haungs Erwin Marschewski Dr.-Ing. Joachim Schmidt Günther Bredehorn Otto Hauser (Esslingen) Günter Marten (Halsbrücke) Jörg van Essen Hansgeorg Hauser Dr. Martin Mayer Andreas Schmidt (Mülheim) Dr. Olaf Feldmann (Rednitzhembach) (Siegertsbrunn) Hans-Otto Schmiedeberg Gisela Frick Klaus-Jürgen Hedrich Wolfgang Meckelburg Hans Peter Schmitz Paul K. Friedhoff Manfred Heise Rudolf Meinl (Baesweiler) Horst Friedrich Dr. Renate Hellwig Dr. Michael Meister Michael von Schmude Rainer Funke Ernst Hinsken Friedrich Merz Birgit Schnieber-Jastram Hans-Dietrich Genscher Peter Hintze Rudolf Meyer (Winsen) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Wolfgang Gerhardt Josef Hollerith Hans Michelbach Dr. Rupert Scholz Dr. Helmut Haussmann Reinhard Freiherr von Dr. Karl-Heinz Hornhues Meinolf Michels Ulrich Heinrich Schorlemer Siegfried Hornung Dr. Gerd Müller Walter Hirche Dr. Erika Schuchardt Joachim Hörster Elmar Müller (Kirchheim) Dr. Burkhard Hirsch Wolfgang Schulhoff Hubert Hüppe Engelbert Nelle Birgit Homburger Bernd Neumann (Bremen) Dr. Dieter Schulte Peter Jacoby Dr. Werner Hoyer Johannes Nitsch (Schwäbisch Gmünd) Susanne Jaffke Ulrich Irmer Claudia Nolte Gerhard Schulz (Leipzig) Georg Janovsky Dr. Klaus Kinkel Helmut Jawurek Dr. Rolf Olderog Frederick Schulze Detlef Kleinert (Hannover) Dr. Dionys Jobst Friedhelm Ost Diethard Schütze (Berlin) Roland Kohn Michael Jung (Limburg) Eduard Oswald Clemens Schwalbe Dr. Heinrich L. Kolb Ulrich Junghanns Norbert Otto (Erfu rt) Dr. Christian Schwarz Jürgen Koppelin Dr. Egon Jüttner Dr. Gerhard Päselt -Schilling Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Dr. Harald Kahl Dr. Peter Paziorek Horst Seehofer Heinz Lanfermann Bartholomäus Kalb Hans-Wilhelm Pesch Wilfried Seibel Sabine Leutheusser Steffen Kampeter Ulrich Petzold Heinz-Georg Seiffert Schnarrenberger Dr.-Ing. Dietmar Kansy Anton Pfeifer Rudolf Seiters - Uwe Lühr Manfred Kanther Dr. Gero Pfennig Johannes Selle Jürgen W. Möllemann Irmgard Karwatzki Dr. Friedbert Pflüger Bernd Siebert F rich Nolting Volker Kauder Dr. Winfried Pinger Jürgen Sikora Günther ried Peter Keller Ronald Pofalla Johannes Singhammer Dr. Rainer Ortleb Eckart von Klaeden Dr. Hermann Pohler Bärbel Sothmann Lisa Peters Dr. Bernd Klaußner Ruprecht Polenz Margarete Späte Dr. Klaus Röhl Hans Klein (München) Marlies Pretzlaff Carl-Dieter Spranger Helmut Schäfer (Mainz) Ulrich Klinkert Dr. Albert Probst Wolfgang Steiger Cornelia Schmalz-Jacobsen Hans-Ulrich Köhler Dr. Bernd Protzner Erika Steinbach Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Hainspitz) Dieter Pützhofen Dr. Wolfgang Freiherr von Dr. Irmgard Schwaetzer Manfred Kolbe Thomas Rachel Stetten Dr. Hermann Otto Solms Norbert Königshofen Hans Raidel Dr. Gerhard Stoltenberg Dr. Max Stadler Eva-Maria Kors Dr. Peter Ramsauer Andreas Storm Carl-Ludwig Thiele Hartmut Koschyk Rolf Rau Max Straubinger Dr. Dieter Thomae Manfred Koslowski Helmut Rauber Matthäus Strebl Jürgen Türk Thomas Kossendey Peter Harald Rauen Michael Stübgen Dr. Wolfgang Weng Rudolf Kraus Otto Regenspurger Egon Susset (Gerlingen) Wolfgang Krause (Dessau) Christa Reichard (Dresden) Dr. Rita Süssmuth Andreas Krautscheid Klaus Dieter Reichardt Michael Teiser Arnulf Kriedner (Mannheim) Dr. Susanne Tiemann Enthalten Heinz-Jürgen Kronberg Dr. Bertold Reinartz Gottfried Tröger Dr.-Ing. Paul Krüger Erika Reinhardt Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Reiner Krziskewitz Hans-Peter Repnik Gunnar Uldall F.D.P. Dr. Hermann Kues Roland Richter Dr. Horst Waffenschmidt Werner Kuhn Roland Richwien Dr. Theodor Waigel Dr. Karlheinz Guttmacher 6516 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich komme nun zu unserem Tagesordnungspunkt 7 Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Herr Dreßler, zurück und erteile dem Abgeordneten Karl-Josef auch diejenigen, die sich Gedanken darüber Laumann das Wort. machen, wie wir den Sozialstaat finanzierbar halten - wir wissen alle, daß wir ihn nur mit vielen sozialver- sicherungspflichtigen Arbeitsplätzen finanzierbar Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Herr Präsident! halten -, Meine Damen und Herren! Jeder in diesem Hohen Haus, aber auch in unserer Gesellschaft weiß, daß es (Walter Hirche [F.D.P.]: Genau das ist der zu den überzeugendsten sozialpolitischen Leistun- Punkt!) gen der Regierung Helmut Kohl und des Bundesar- beitsministers Norbert Blüm gehört, daß wir trotz sorgen mit uns gemeinsam dafür, daß auf Dauer erheblicher Widerstände die Sicherung gegen das soziale Leistungen wie die der Pflegeversicherung Pflegerisiko durchgesetzt haben. Deshalb ist auch finanzierbar sind. klar, daß Regierung und Koalitionsfraktionen recht- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zeitig einen Antrag in den Bundestag einbringen werden, um die zweite Stufe der Pflegeversicherung Deswegen lasse ich hier eine Spaltung nicht zu. umzusetzen, wie wir das in der vergangenen Wahl- Natürlich bin ich über Veränderungen in der Lohn- periode vereinbart haben. Die Pflegebedürftigen und fortzahlung nicht begeistert; dazu kennen wir uns ihre Angehörigen, ja die Menschen in unserem Land gut genug. Aber es darf in einer Diskussion in einem können sich da auf uns verlassen. Parlament auch keine Tabus geben. Man muß das in der Sache miteinander austragen können. Aber gestatten Sie mir auch noch ein Wort zur ersten Stufe. Anfängliche Schwierigkeiten, die ange- (Beifall des Abg. Julius Louven [CDU/CSU] sichts einer völlig neuen Versicherung eigentlich nie- sowie bei der F.D.P.) manden überraschen dürfen, haben leider über einige Zeit die öffentliche Diskussion überschattet. Aber daß wir in der Gesamtheit unsere Sozialversi- Nach acht Monaten können wir aber gemeinsam cherungen finanzierbar halten müssen - 40 Prozent feststellen, daß jetzt über eine Million Pflegebedürf- Nebenkosten auf jede menschliche Arbeitsstunde tige Leistungen der Pflegeversicherung erhalten: sind wahrlich eine ganze Menge -, muß man doch Einer Million Menschen, die vorher häufig auf sich auch zugeben. Deswegen ist der Vorwurf nicht allein gestellt waren, wird jetzt geholfen. Das ist eine gerechtfertigt, daß diese Kolleginnen und Kollegen gute Bilanz. Herr Dreßler, wie man dann davon spre- den Pflegebedürftigen in unserem Land nicht helfen chen kann, daß es uns in den Koalitionsfraktionen wollten. nicht um die Pflegebedürftigen gehe, kann ich wirk- Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt ist lich nicht verstehen. Das geht etwas zu weit. mir heute auch wichtig. Skeptiker, die gesagt haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die erste Stufe der Pflegeversicherung sei mit einem Beitragssatz von 0,7 Prozent nicht solide zu finanzie- ren, sind heute widerlegt. Die zu erwartenden Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie 12 Milliarden DM reichen aus, die erste Stufe abzu- eine Zwischenfrage von Herrn Dreßler? decken. Mit der häufig umstrittenen Kompensation für die Wirtschaft - darüber haben wir gerade schon (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Ach, würde gesprochen - hat die Koalition politisches Neuland ich nicht machen! Das lohnt ja nicht!) betreten. Wir haben damals mit unserer Forderung Ernst gemacht, die Wirtschaft durch neue soziale - Das stellen wir gleich fest. Maßnahmen nicht weiter zu belasten, sondern einen Ausgleich zu suchen. Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Herr Dreßler, Ich gebe ganz offen zu, daß mir persönlich der bitte schön. Wegfall eines Feiertages nicht besonders gut gefal- len hat. Wir sollten mit unseren Feiertagen, die Aus- druck unserer Religion, unserer Kultur und unserer Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege, sind Sie bereit, geschichtlichen Entwicklung sind, nach meiner Auf- zur Kenntnis zu nehmen, daß ich denjenigen in Ihrer fassung sehr vorsichtig umgehen. Andere Kompen- Fraktion und in der Fraktion der F.D.P., die ununter- sationslösungen wie etwa der Verzicht auf einen brochen neuen Sozialabbau fordern, bis die zweite Urlaubstag hätte ich viel lieber gesehen. Aber dies Stufe der Pflege eingeführt wird, diesen Vorwurf war ja leider nicht durchzusetzen. gemacht habe, daß ich aber Sie und auch jene Ihrer Kolleginnen und Kollegen, die sich immer für die (Julius Louven [CDU/CSU]: Mit der SPD, zweite Stufe eingesetzt haben - die gibt es ja auch ja!) noch -, damit nicht gemeint habe? Der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten Sind Sie zweitens bereit, sich meiner Auffassung festgestellt, daß bei der Einführung der zweiten anzuschließen, daß diejenigen, die pausenlos Pflege- Stufe der Pflegeversicherung ein Restbedarf an bedürftige gegen Kranke ausspielen, wie es jetzt Kompensation von 24 bis 29 Prozent besteht. Dies zum Beispiel beim Lohnfortzahlungsgesetz der Fall bedeutet erst einmal ganz sachlich, daß die erste ist, den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen Stufe der Pflegeversicherung mehr als kompensiert einen Tort antun? ist. Zweitens bedeutet dies, daß die Abschaffung Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6517 Karl-Josef Laumann eines weiteren Feiertages eine Überkompensation Hier trifft der Vorwurf wirklich zu, daß auf Kosten der wäre. Pflegebedürftigen gespart wird. Die Konsequenz des absprachewidrigen Verhaltens ist, daß Pflegebedürf- Aber, meine Damen und Herren, es ist auch wahr, tige zum Beispiel in Niedersachsen, Nordrhein-West- daß in der heutigen Zeit eine Ausweitung sozialer falen und Hessen mit bis zu 900 DM höheren Pflege- Leistungen äußerst schwierig ist. Dies spüren wir, so sätzen als in anderen Bundesländern leben müssen. glaube ich, über Fraktionsgrenzen hinweg. Wir kön- Bis zu 900 DM monatlich mehr bedeutet, daß der nen nicht wie in den 70er Jahren bedenkenlos drauf- Eckrentner - wir unterhalten uns hier über eine satteln; wir müssen umbauen, um Neues wie die Rente von unter 2 000 DM - trotz der Einführung der zweite Stufe der Pflegeversicherung verantworten zu Pflegeversicherung nicht aus der Sozialhilfe heraus- können. kommt. Im übrigen gilt dies, glaube ich, auch unabhängig Das zum Beispiel von der von SPD und Grünen von der Pflegeversicherung. gebildeten Landesregierung in Nordrhein-Westfalen Die Opposition diffamiert diese Anstrengungen - vorgeschlagene Pflegewohngeld ist ein ausgemach- und Sie, Herr Dreßler, haben das eben auch wieder ter Etikettenschwindel. Wieder werden Einkom- getan - pauschal als Abbau des Sozialstaates. Soziale mens- und Vermögensverhältnisse geprüft, werden Kälte, Unbarmherzigkeit gegenüber den Schwachen, alte Menschen nach lebenslanger Arbeit weiterhin ungerechte Bevorzugung der Arbeitgeber - so lauten auf eine nur anders genannte Sozialhilfe angewiesen die Schlagworte. sein, wird derjenige, der in Form einer Lebensversi- cherung für sein Alter vorgesorgt hat oder eine Dabei geht es nicht darum, der Menge der Arbeit- höhere Rente erhält, auf den Investitionskosten nehmer etwas zu nehmen, um es den einzelnen schlicht und ergreifend sitzengelassen. Dies wider- Unternehmern zu geben. Wer Wirtschaftspolitik so spricht Wort und Geist der im Vermittlungsausschuß versteht, versteht nach meiner Auffassung nichts von getroffenen Vereinbarung. der Wirtschaftspolitik. Vielmehr kommt es darauf an, im Interesse der Arbeitnehmer menschliche Arbeit in Ich fordere daher die Bundesländer auf, sich vorbe- Deutschland bezahlbar zu halten. Dazu haben wir haltlos an die Ergebnisse des Vermittlungsausschus- alle, wir in der Politik, Verantwortung zu tragen. ses zu halten. Ohne das Vertrauen darauf, daß Absprachen, die in diesem Gremium getroffen wor- Nicht derjenige ist der beste Sozialpolitiker, der den sind, auch von allen Seiten eingehalten werden, zuerst feststellt, daß alles so bleiben muß, wie es ist, ist nach meiner Auffassung der Föderalismus gefähr- und daß man draufsatteln kann, sondern derjenige, det. der Wichtiges von Unwichtigem, Verzichtbares von Unverzichtbarem trennt und bei knappen Mitteln am (Julius Louven [CDU/CSU]: Dazu hat Dreß Menschen orientierte Schwerpunkte setzt. Der geht ler heute kein Wort gesagt!) verantwortungsvoll mit dem Sozialsystem und mit Die SPD-Bundestagsfraktion fordere ich auf, auf der Schaffung neuer Spielräume für neue Notwen- ihre Länderkollegen einzuwirken, ihren Teil der Ver- digkeiten um. einbarungen endlich zu erfüllen. (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich glaube, meine Damen und Herren von der Denn es steht die Glaubwürdigkeit der gesamten Opposition, in der Theo rie werden wir in diesem Politik auf dem Spiel. Wenn die Menschen in diesem Hohen Haus sicherlich zu einer Einigung kommen. Lande nach jahrelanger Diskussion über die Pflege- Aber wie sieht das eigentlich in der Praxis- aus? Bis- versicherung den Eindruck gewinnen müssen, daß her haben Sie zu allen Vorschlägen der Koalition sich für sie nichts geändert hat, daß ein großer Pro- nein gesagt. 1994 ist im Vermittlungsausschuß von zentsatz der Pflegebedürftigen in Heimen trotz der den Bundesländern verbindlich zugesagt worden, Pflegeversicherung immer noch auf Sozialhilfe ange- daß sie die Investitionskosten in den Pflegeheimen wiesen ist, schaffen wir Politik- und, was noch viel übernehmen. Viele Länder, vor allen Dingen die schlimmer ist, Staatsverdrossenheit. Und das liegt SPD-bestimmten Länder, entziehen sich ihrer Ver- daran, daß die Länder sich weigern, ihre im Vermitt- antwortung und wollen sich bei der Übernahme der lungsausschuß gegebenen Zusagen einzuhalten. Ich Bau- und Unterhaltungskosten der stationären Pfle- sage noch einmal: Das ist eine ganz große Sauerei! geeinrichtungen drücken. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.] - Gerd Andres [SPD]: Das ist ein großer Julius Louven [CDU/CSU]: Dazu hat Herr Quatsch, den Sie hier erzählen!) Dreßler nichts gesagt!) Die Länder müssen wissen, daß es ohne die Über- Dies ist ein schäbiges Verhalten der Bundesländer. nahme der Investitionskosten nur schwer zu verant- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) worten wäre, die zweite Stufe in Kraft zu setzen. Wir sollten uns gut überlegen, wann wir unser letztes Auf dem Rücken der betroffenen Pflegebedürftigen Druckmittel, nämlich die zweite Stufe in Kraft zu set- wird hier der Versuch unternommen, die durch jahre- zen, gegenüber den Bundesländern aus der Hand lange sozialdemokratische finanzielle Mißwirtschaft legen. zerrütteten Landesfinanzen zu retten. Trotz aller aufgezeigten Differenzen - das sage ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ihnen ganz deutlich - freue ich mich auf die Debatte 6518 Deutscher Bundestag 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Karl-Josef Laumann im Ausschuß, die wir sicherlich zur zweiten Stufe der Mir ist ein Punkt aufgefallen, zu dem ich einmal Pflegeversicherung haben werden. Meine Fraktion die Freunde des freien Wettbewerbs von der F.D.P. und ich werden ganz klar zu dem stehen, was abge- fragen möchte. Das fand ich doch einen sehr interes- macht ist. Die zweite Stufe muß kommen, sie wird santen Hinweis. Das Sachverständigengutachten kommen, und sie wird auch zeitgerecht kommen. sagt: (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Eine Kompensationslösung kann nicht gewähr- Aber die Länder müssen auch die Investitionskosten leisten, daß alle Unternehmen in gleichem Maße entlastet werden, wie sie zunächst durch Bei- so, wie sie gesagt haben, übernehmen. tragszahlung belastet worden sind. (Peter Dreßen [SPD]: Alle!) Es kommt dann sogar zu der Befürchtung: Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es kann doch nicht in unserem Sinne sein, daß am Ende derjenige, der in ... so schließt dies nicht aus, daß der Ausgleich seinem Leben ein ganz normales Einkommen gehabt für manche Unternehmen unzureichend ist, wäh- hat, der nach 45 Jahren die Eckrente hat, nur des- rend bei anderen sogar eine Überkompensation halb, weil die Länder ihre Absprache nicht einhalten, bewirkt wird. die Investitionskosten nicht selber finanzieren kann, in der Sozialhilfe bleibt, und die anderen, die dar- Es kommt also zu Verschiebungen in der Wettbe- über liegen, haben dann eine Erbschaftssicherungs- werbskraft, die auf Dauer auch strukturelle Anpas- versicherung. Dafür haben wir es doch nicht getan. sungen erforderlich machen können. Deswegen sage ich noch einmal, daß die Bundes- Frau Kollegin Babel, teilen Sie meine Befürchtung, länder auch eine Mitverantwortung dafür haben, ob daß damit eine Kompensation der zweiten Stufe der die zweite Stufe so funktioniert, wie wir uns das vor- Pflegeversicherung durch einen weiteren Feiertag stellen, oder ob sie zu einem großen Teil eine Entla- am Ende zu einem Eigentor werden könnte, weil sie stungsversicherung für die Städte und Gemeinden Wettbewerbsfolgen hätte, die sicherlich auch Ihnen wird. nicht recht sein können? Ich glaube, die Sozialpolitiker im Bundestag müs- (Gerd Andres [SPD]: Ich würde keinen Ver sen in dieser Frage wirklich gegenüber ihren Lan- such mehr machen, sie zu überzeugen; das deskollegen sehr deutlich vorgehen, und da ist das, ist zwecklos!) was teilweise überlegt wird, nicht in Ordnung. Des- wegen sage ich zu dem Land, in dem ich mich am Dann möchte ich noch eine grundsätzliche Anmer- besten auskenne: Das, was sich die nordrhein-west- kung machen. Jeder Zweig der Sozialversicherung, fälische Landesregierung einfallen ließ, nämlich ein auch die Pflegeversicherung, kann nur bewahrt und Pflegewohngeld einzuführen, wieder Einkommen zu weiterentwickelt werden, wenn er Zustimmung fin- prüfen, wieder die Leute in eine anders genannte det. Nun ist es schon bei der Einführung der Pflege- Sozialhilfe zu drängen, entspricht nicht dem, was versicherung so gewesen, daß die Feiertagsdebatte, diese Landesregierung im Vermittlungsausschuß diese unselige Debatte, alle Fragen der Qualität hint- durchgesetzt hat. angestellt hat und auch dazu geführt hat, daß der Fortschritt, der in der Einführung einer Pflegeversi- Ich bin auch nicht bereit, mir von den gleichen cherung lag, für die Leute kaum noch erkennbar Fraktionen, nämlich SPD und Grüne, die in den Län- war. dern die Verantwortung dafür tragen, daß Pflegebe- dürftige auf den Investitionskosten sitzengelassen- Das heißt, dabei ist auch eine Chance verspielt und abkassiert werden, soziale Kälte vorwerfen zu worden, um die Bereitschaft zu werben, sich daran lassen. Sie sollten einmal vor Ihrer eigenen Haustür zu beteiligen. Diese Bereitschaft müssen wir immer kehren und dafür sorgen, daß das eingehalten wird, wieder neu erringen, denn es gibt natürlich viele was Sie zugesagt haben. Menschen, die denken: Mich wird es nicht treffen; ich mag da nicht mitmachen. Statt dessen ist mit die- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - ser ungleichen Verteilung der Lasten großer sozialer Walter Hirche [F.D.P.]: Da könnte der neue Unfrieden herbeigeführt worden. Parteivorsitzende Führungsstärke bewei sen!) Es hat mich so beeindruckt, Herr Minister Blüm, daß ich jetzt zum zweitenmal aus Ihrem Beitrag, den Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat ich heute in der Zeitung lesen konnte, zitieren jetzt die Abgeordnete Andrea Fischer. möchte: (Bundesminister Dr. Norbe rt Blüm: Das ist Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- doch schön!) NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Selbstverständlich ist Kollege Laumann der letzte, Der Kontrakt zwischen Arbeitnehmern und dem wir hier soziale Kälte unterstellen würden. Der Arbeitgebern: Von dem, was wir gemeinsam Kollege Dreßler hat sich eben ja schon ausführlich erwirtschaften, geben wir soviel ab, wie die Kran- auf die Ergebnisse des Sachverständigengutachtens ken, Alten, Arbeitslosen brauchen. Der Konsens zur Kompensation der zweiten Stufe der Pflegeversi- begründet die hälftige Aufbringung der Sozial- cherung bezogen. versicherungsbeiträge und die Zusammenarbeit Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6519 Andrea Fischer (Berlin) der Sozialpartner in der Selbstverwaltung der sind, daß es sich lohnt, sich auch finanziell an der Sozialversicherungszweige. Pflegeversicherung zu beteiligen. Das wäre, glaube ich, ein großer Fortschritt, und wir könnten diese (Bundesminister Dr. Norbe rt Blüm: Richtig!) unselige Feiertagsdebatte endlich beenden. Ein kostbares Erbstück unserer sozialstaatlichen Kultur! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Ich bin ja konservativ, und ich denke, kostbare PDS) Erbstücke hält man in Ehren, anstatt sie in den Müll- eimer zu werfen, wenn sie der Verwandtschaft nicht gefallen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gisela Babel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Ich glaube, es wäre verheerend, noch einen weite- Damen und Herren! Die SPD beantragt ein unver- ren Feiertag zu streichen, und zwar nicht, weil es zügliches Inkraftsetzen der zweiten Stufe der Pflege- eine objektive, in Prozentzahlen meßbare Grenze für versicherung ohne Kompensation. Für die F.D.P. Solidarität gibt, sondern weil die Belastungsgrenze, sage ich unmißverständlich nein. von der soviel die Rede ist, auch eine Frage des poli- tischen und gesellschaftlichen Klimas ist. (Peter Dreßen [SPD]: Das haben wir uns schon gedacht!) Ohne daß ich mich für eine Erhöhung der Beitrags- sätze aussprechen möchte, will ich nur darauf hin- Die zweite Stufe der Pflegeversicherung tritt erst in weisen, daß in den Niederlanden ohne große politi- Kraft, wenn die Kompensation auf dem Tisch liegt, sche Verwerfung der Beitragssatz deutlich höher ist vorher nicht. Dieser Streit war vorhersehbar. Damals als bei uns. Das heißt, wer die Lasten der Pflegeversi- waren wir uns einig - cherung so ungerecht verteilt, wie das jetzt der Fall (Zuruf des Abg. Peter Dreßen [SPD]) ist, und wer diese Ungerechtigkeit sogar mit der Streichung eines weiteren Feiertages verstärken - Herr Dreßen, mir scheint, daß Sie das ausblenden, würde, bringt die Pflegeversicherung stärker in Sie haben es ja mitunterschrieben -, daß es eine Gefahr, als eine Beitragssatzerhöhung es je könnte. Kompensation geben müsse, daß sie also das aus- Deswegen stimmen wir dem Gesetzentwurf der SPD gleicht, was an Belastungen für den Arbeitgeber zu. durch die Pflegeversicherung entsteht. Darüber Ich will noch etwas zu der Frage sagen, ob die waren wir uns alle einig. Leute das Gefühl haben, daß die Pflegeversicherung Nicht einig waren wir uns darüber, ob als auszu- für sie ein großer Fortschritt ist. Heute morgen hat gleichende Kompensation ein Tag, Urlaub oder Fei- die „Lebenshilfe" in Bonn mit der „Blauen Kara- ertag, genügt - damals war das noch die Auffassung wane" eine Aktion gemacht, in der sie auf die von BMA und SPD - oder ob es zwei Tage sein müs- Schwierigkeiten aufmerksam gemacht hat, die sie für sen. Das war die Auffassung der F.D.P. Weil wir uns das Leben von Menschen mit Behinderungen in dieser Frage nicht einigen konnten, haben wir befürchten. Dort haben wir mit Menschen gespro- gesagt: Es soll zunächst in der ersten Stufe ein Tag chen, die große Angst davor haben, daß durch das abgeschafft werden, und wir wollen dann für den völlig ungeklärte Verhältnis von Eingliederungshilfe Herbst 1995 das Sachverständigengutachten einho- und Pflegeversicherung die Bedingungen des len, in dem das bewertet werden soll. Wir haben uns Lebens, der Betreuung, der Assistenz von Menschen auch darauf geeinigt, daß das Votum des Sachver- mit Behinderungen, insbesondere von Menschen mit ständigengutachtens von allen akzeptiert wird. geistigen Behinderungen, verschlechtert werden. Meine Damen und Herren, das war also der Schlich- Diesen Konflikt müssen wir ganz dringend lösen, ter, den wir zusammen eingesetzt haben. denn sonst teile ich die Sorge der Menschen mit Behinderungen, ihrer Angehörigen, ihrer Betreuer (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: und ihrer Assistenten und auch die Sorge der bayeri- Das haben die längst vergessen!) schen Sozialministerin Stamm, daß die Zukunft der Die blasse Hoffnung, die Beurteilung könne ein- Einrichtungen und der familienentlastenden Dienste deutig ausfallen und der Kompensationsbedarf in durch dieses ungeklärte Verhältnis in Gefahr ist. Ganztagesschritten vorgeschlagen werden, blieb Es gibt sicherlich gute Gründe, die Leistungen der natürlich unerfüllt. Das konnten wir uns fast vorstel- Pflegeversicherung einzugrenzen, auch mit Blick auf len. Ein Tag reicht nicht aus, zwei Tage sind nicht die Kosten. Aber das darf man nur tun, wenn man notwendig. So ein Mittelding, ein halber Tag oder in vorher sichergestellt hat, daß sich die Sozialhilfeträ- Geld ausgedrückt: 2,5 bis 3 Milliarden DM, ist erfor- ger nicht auf Kosten der Pflegeversicherung aus der derlich. Das besagt das Sachverständigengutachten. Verantwortung stehlen. Frau Fischer, ich gebe Ihnen völlig recht, aus den Deswegen appelliere ich noch einmal an Sie, daß Erfahrungen, die wir gemacht haben, waren wir uns wir bald daran arbeiten, diese Abgrenzung zu klä- alle einig, daß das der Weg sein sollte. Das wollen ren, damit die behinderten Menschen keine Angst wir nicht verkennen. - Sie waren damals noch nicht mehr haben müssen. Auch damit können wir dazu im Bundestag. - Wir waren uns einig, daß es ein Fei- beitragen, daß die Menschen in Deutschland sicher ertag und nicht ein Urlaubstag sein sollte. 6520 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Gisela Babel Die Erfahrung, die wir mit der Abschaffung des sagen können: Wir wollen die zweite Stufe der Pfle- Feiertages gemacht haben, hat gezeigt, daß das ein geversicherung. Das geht so nicht. Weg ist, den wir heute vielleicht sogar gerne unge- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne schehen machen würden. ten der CDU/CSU) Er war nicht besonders überzeugend. Die Leute Meine Damen und Herren, Kompensation, wie sie haben das nicht verstanden. gemeint war und von der F.D.P. auch immer so ver- standen war, wird nur dann erreicht, wenn die (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist Arbeitgeber unmittelbar entlastet werden und wenn sehr richtig!) Einsparungen in den sozialen Sicherungssystemen in Aber eine zweite, noch blassere Hoffnung hat auch direkte Beitragssenkungen umgemünzt werden. Das noch getrogen, nämlich daß sich die SPD an das habe ich im Sommer bereits unmißverständ lich Votum binden würde, wenn es weiteren Kompensati- gesagt. onsbedarf für nötig hält. Von Rechentricks, Luftbuchungen, Schönredne- reien, wie wir sie jetzt wieder zur Genüge erleben, (Rudolf Dreßler [SPD]: Es gibt keinen Auto haben wir genug. Auf vage Zusagen - wir wollen matismus! Sie reden hier absoluten Stuß!) einmal sparen, aber wann, wo und wie, wissen wir noch nicht so genau - können wir uns bei dieser Es war vorauszusehen, daß Sie in eine Mäkeldebatte Frage bestimmt nicht einlassen. eintreten und an diesem und jenem Anstoß nehmen würden. (Gerd Andres [SPD]: Herr Minister, sie meint Sie! Luftbucher Blüm!) Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festge- Meine Damen und Herren, der SPD paßt das Urteil schrieben, daß zur Sicherung des Standortes des Sachverständigenrates nicht, und sie will sich Deutschland die Lohnnebenkosten gesenkt werden aus der gemeinsamen Verantwortung herausstehlen. müssen. Wir haben da auch hineingeschrieben, daß das ein Vorhaben ist, an dem sich alle beteiligen (Beifall bei der F.D.P. - Rudolf Dreßler müssen: die Betriebe, die Tarifpartner und eben auch [SPD]: Sagen Sie einmal, wo das vereinbart die Politik. worden ist!) (Walter Hirche [F.D.P.]: Das erklärt sogar die Meine Damen und Herren, so leicht dürfen Sie es SPD pausenlos!) sich nun nicht machen. Wir haben uns darauf ver- Ich stelle die Kompensation des Arbeitgeberanteils ständigt, daß wir unsere Maßnahmen nach dem aus- auch bewußt in den Zusammenhang des gesamten richten, was die Sachverständigen als Votum heraus- Spektrums, denn die Kompensation hatte ihren geben. Und wir haben im § 69 Abs. 4 festgeschrie- Grund: Wir wollten nicht weiter die Lohnnebenko- ben, daß, wenn es nicht ganze Tage sind, wie do rt sten ohne Ausgleich steigern. Dieses Gesamtkonzept vorgesehen ist, über den gesetzgeberischen Bedarf muß die Bereiche Arbeitslosenversicherung, Kran- 1995/96 entschieden werden soll. Das steht da wun- kenversicherung, Rentenversicherung und sicher n. Insofern waren wir durchaus voraus- derbar dri auch Lohnfortzahlung in sich fassen, zumindest in schauend in dem, was wir da machen. der Prüfung. Meine Damen und Herren, die Frage der Verein- Dieses Gesamtkonzept besagt aber nicht, daß die barungen gibt mir hier schon auch noch- Anlaß, auf Kompensation des Arbeitgeberanteils ein kleiner, das einzugehen, was auch Herr Laumann gesagt hat: beliebiger und verschiebbarer Rechnungsposten sein Ich war bei den Verhandlungen mit dem Bundesrat darf. Wir müssen vielmehr sicherstellen, und zwar dabei, und, Herr Dreßler, Sie waren es auch. politisch, daß erkennbar bleibt, welche konkreten Schritte zur Entlastung der Wirtschaft für die Bei- (Rudolf Dreßler [SPD]: Sie waren nicht mehr tragsmehrbelastung mit den Kosten der Pflegeversi- dabei, als wir das verhandelt haben! Da cherung vereinbart sind. Es muß klar sein, wie wir waren Sie nämlich nicht mehr nötig! Da dieses Ziel erreichen. wollte man Sie nicht mehr!) Meine Damen und Herren, ich möchte vermeiden, Wir haben alle zusammengesessen, und wir waren daß wir bei der zweiten Stufe der Pflegeversicherung uns einig, daß die Länder keine bundesgesetzliche wieder in dieselben quälenden Debatten eintreten, Verpflichtung auferlegt bekommen können. Aber sie die wir damals führten. haben sich eigenverantwortlich bereit erklärt, die Investitionskosten, die notwendig sind, zu überneh- (Gerd Andres [SPD]: Dann brauchen Sie men, um das Ziel zu erreichen, daß Sozialhilfeemp- nur unserem Gesetzentwurf zuzustimmen!) fänger nach Einführung der Pflegeversicherung aus Ich möchte auch vermeiden, daß die Bürger, Städte der Sozialhilfe herausfinden können. und Kreise wieder verunsichert werden, ob die zweite Stufe der Pflegeversicherung, wie geplant, Sie und Ihr neuer Parteivorsitzender Oskar Lafon- vom Stapel läuft. taine unterlassen das. Das ist doch schmählich! Diese Bringschuld wird nicht erbracht. Dann, denke ich, Aber ich will auch unmißverständlich erklären, daß sind Sie die allerletzten, die sich hier hinstellen und man sich auf das vereinbarte Gesamtpaket verlassen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6521

Dr. Gisela Babel muß: vollständige Kompensation des festgestellten nicht gelesen; daher kommen auch ihre merkwürdi- Bedarfs. gen Beweggründe.

(Beifall bei der F.D.P.) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Jetzt wird es nicht nur dümmlich, sondern Dieser Bestandteil des Pflegekompromisses darf unverfroren! Setzen Sie sich hin!) nicht untergehen, und das ist kein vernachlässigba- rer Posten im Rahmen der notwendigen Diskussion Viertens. - Da helfen auch Ihre unqualifizie rten über die Senkung der Lohnnebenkosten. Das Junk- Zwischenrufe, Herr Weng, nichts. - tim zwischen Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pfle- geversicherung und der Sicherstellung der Kompen- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: sation muß erhalten bleiben. Sie sind qualifizierter als Ihr Geschwätz!) Gefordert sind also Vorschläge vom Bundesarbeits- Ich empfehle Ihnen den Gesetzestext. Wenn Sie sich minister und eine Verständigung über diese Vor- daran halten und endlich wahrnehmen, daß die im schläge. Dann kann hier zügig gehandelt werden. Gesetzestext verlangten Dinge erfüllt sind, Ich stimme aber auch zu, daß mit demselben Nach- druck das eingefordert werden sollte, was die Länder (Zuruf von der F.D.P.: Nein, sie sind nicht in diesem Bereich zu tun haben. erfüllt!) Ich bedanke mich. dann stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu, und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) verunsichern Sie nicht weiter die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- (Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/ tervention erteile ich jetzt das Wo rt dem Kollegen CSU: Sagen Sie einmal was zu Lafontaine Dreßler. und Schröder, zu den Investitionszusagen der Länder, die nicht eingehalten werden! - Gegenruf des Abg. Gerd Andres [SPD]: Was Rudolf Dreßler (SPD): Frau Präsidentin! Meine haben denn die Länder damit zu tun? - Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob es irgend Gegenruf von der CDU/CSU: Die treiben etwas hilft; ihre Leute in die Sozialhilfe! Das ist die Wahrheit!) (Gerd Andres [SPD]: Nein! - Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ich glaube nicht, daß Ihnen irgend etwas hilft!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Den lieben Kol- aber man soll jedenfalls den Versuch nie beenden. legen von der F.D.P. wollte ich sagen: Wo rt erteilen, Ich sehe mich veranlaßt, ein paar Klarstellungen für hinsetzen, das darf nur ich hier oben anordnen. das Protokoll vorzunehmen, damit die Legende von Frau Babel hier nicht weitergestrickt wird. Jetzt ist aber die Kollegin Babel an der Reihe. Erstens. Im Gegensatz zur Behauptung von Frau Babel, sie sei dabeigewesen, war sie nicht dabei; ihr Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Dreßler, ich Fraktionsvorsitzender saß am Tisch und hat verhan- bleibe bei dem, was ich gesagt habe. Ich will mich delt, nicht sie. jetzt nicht darüber streiten, in welcher Runde was vereinbart wurde. Sie wissen vielleicht besser als (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Welche Phase viele andere, wie dieser Einigungsweg in vielen Gre- meinen Sie denn? Im Vermittlungsausschuß mien beschritten wurde. saßen wir nämlich zusammen! - Zuruf von der CDU/CSU: Die Phase, wo er auch nicht Woran ich mich aber sehr gut erinnere - die Bun- dabei war!) desländer saßen am Tisch, und im Vermittlungsaus- Zweitens. Im Gegensatz zu der Behauptung von schuß war ich anwesend -, ist, daß wir uns auf diese Frau Babel, das Sachverständigengutachten habe Verpflichtung der Länder dort geeinigt haben. Das einen Automatismus im Gesetzgebungsverfahren war der erste Punkt. dahin gehend, daß Politik sich verpflichtet fühle, die- ses Sachverständigengutachten in seiner Wirkung (Rudolf Dreßler [SPD]: Wir reden jetzt vom politisch zu übernehmen, stelle ich fest: Das Gegen- Sachverständigengutachten!) teil ist in der Runde, an der Frau Babel nicht beteiligt war, sondern ihr Fraktionsvorsitzender, beschlossen Der zweite Punkt ist, daß das Gesetz - wenn Sie es worden. bitte noch einmal lesen - in Abs. 4 klar sagt, daß dann, wenn es nicht zu der Abschaffung von Feierta- (Gerd Andres [SPD]: Das steht auch anders gen, von ganzen Tagen kommen muß - da war von im Gesetz!) Feiertagen in der Tat die Rede -, aber ein Kompensa- tionsbedarf bejaht wird, gesetzliche Schritte unter- Drittens. Hätte Frau Babel den Gesetzestext gele- nommen werden müssen. Das haben wir do rt hinein- sen, dann wüßte sie es. Ich stelle fest: Sie hat ihn geschrieben, und das können wir nun nicht hier in 6522 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Gisela Babel wohlgesetzter polemischer Rede, Herr Dreßler, ein- tion, welcher Art auch immer, gestimmt. Ein wesent- fach vom Tisch wischen. licher Grund dafür war für uns, daß mit der Pflege- versicherung das bestehende Sozialversicherungssy- (Rudolf Dreßler [SPD]: Sie haben behauptet, stem ausgehebelt werden soll. Das hat Pilotcharak- das Sachverständigengutachten zwinge die ter; leider ist diese' Befürchtung mit den Sparnovellen Politik! Das ist falsch! Das steht nicht im des Jahres 1995 bestätigt worden. Gesetz! Nehmen Sie das bitte zur Kennt nis!) Die paritätische Finanzierung der anderen Sozial- versicherungen soll in Frage gestellt werden. Als erster Schritt wird öffentlich über das Einfrieren der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Bläss. Arbeitgeberbeiträge zur Krankenversicherung nach- gedacht. Mit Verweis auf die Pflegeversicherung soll mit der BSHG-Novellierung das Bedarfsdeckungs- Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen prinzip beseitigt werden. Die Gefahr, daß neue Prin- und Herren! Frau Kollegin Babel, ich denke, wir alle zipien der Finanzierung und Budgetierung zu Lasten sind es leid, diese „quälende Debatte" zu führen. Der der Betroffenen auch in anderen Sozialversicherun- Kollege Dreßler hat zu Recht darauf verwiesen, daß gen eingeführt werden, ist nicht von der Hand zu man sie beenden kann, indem man kurz und bündig weisen. dem SPD-Entwurf die Zustimmung gibt. Die PDS fordert deshalb als ersten Schritt zur Im übrigen möchte ich nur darauf verweisen, daß Gestaltung einer wirklichen Sozialversicherung, die es Ihre Hü-und-hott-Reaktionen innerhalb der Regie- Kompensation der Arbeitgeberbeiträge als system- rungskoalition sind, die das Ganze so quälend widrig generell aufzugeben. Schrittweise ist eine machen; denn vor kurzem konnte man ja vom Kolle- bedarfsdeckende, die Selbstbestimmung und Eigen- gen Glos von der CSU vernehmen, daß die zweite verantwortung der Betroffenen stärkende Lösung zu Stufe der Pflegeversicherung ausdrücklich ohne schaffen. Notwendige Schritte wären weiterhin die Kompensation in Kraft treten wird. Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze entspre- chend der Rentenversicherung oder die Einbezie- (Zuruf von der SPD: Die ganze F.D.P. ist hung der Beamten in die allgemeine Beitragspflicht. eine Hü-und-hott-Partei!) Zugleich wollen wir Sie darauf aufmerksam Der vorliegende Gesetzentwurf findet die Zustim- machen, daß die Bundesregierung erneut ihre Haus- mung der PDS; denn damit soll ein weiterer Abbau aufgaben nicht erledigt hat. Obwohl die Spitzenver- des Sozialstaates begrenzt und indirekt eingestan- bände der Pflegekassen Entwürfe zur Sicherung der den werden, daß die Kompensation der Arbeitgeber- vielfältigen Aufgaben bei der Einführung der zwei- beträge für die Pflegeversicherung eine Sackgasse ten Stufe der Pflegeversicherung vorlegten, sind sozialstaatlicher Entwicklung ist. Die von der Bun- diese bis jetzt vom BMA nicht bestätigt. Auch der desregierung als Solidarmodell verkaufte und ange- Entwurf der Richtlinie für den sogenannten Härtefall priesene Pflegeversicherung schließt ja gerade eine liegt seit längerer Zeit vor. Eine Entscheidung des gleichberechtigte Heranziehung von Arbeitgebern BMA ist nicht bekannt. und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei der Finanzierung der Pflegeversicherung aus. Die Kom- Ähnlich gelagerte Probleme sind beim Pflegemit- pensation wird - ich zitiere aus dem Gutachten des telkatalog sowie bei der erweiterten Richtlinie zur Sachverständigenrates zur Einführung der zweiten Begutachtung der Pflegebedürftigkeit in stationären Stufe der Pflegeversicherung -: Einrichtungen zu verzeichnen. letztlich auch durch eine Rückwälzung- der Die vielen offenen Fragen lassen daran zweifeln, Arbeitgeberbelastung auf die Arbeitnehmer ob ein größeres Durcheinander noch zu verhindern erreicht, zwar nicht direkt über verminderte ist. Ich verweise an dieser Stelle auch auf die noch Löhne, sondern indirekt über den Wegfall ande- fehlenden Verordnungs- und Durchführungsbe- rer Vorteile, im vorliegenden Fall durch die Strei- stimmungen. chung von Feiertagen. (Beifall bei der PDS) Ich zitiere hier gern weiter, auch wenn daraus schon mehrmals zitiert worden ist, weil ich denke, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Als nächster hat daß Sie, meine Damen und Herren von der Regie- der Kollege Gerd Andres das Wo rt. rungskoalition, diese Zitate nicht oft genug hören können: Gerd Andres (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr Eine Kompensationslösung kann nicht gewähr- verehrten Damen und Herren! Ich denke, zunächst leisten, daß alle Unternehmen im gleichen Maße ist eine Replik auf den Kollegen Laumann nötig. Herr entlastet werden. Kollege Laumann, wenn Sie hier in Ihrer Rede formu- lieren - ich wiederhole das sinngemäß, soweit ich Die Kompensation beruht darauf, daß Vorteile für mitgehört habe -, daß wir uns - damit meinten Sie die Arbeitnehmer entfallen; die damit erreichte die Koalitionsfraktionen - sehr überlegen müßten, ob Entlastung ist aber von Unternehmen zu Unter- wir unser Faustpfand der Inkraftsetzung der zweiten nehmen sehr unterschiedlich. Stufe aus der Hand geben, um die Länder zu irgend Die PDS hatte seinerzeit sowohl gegen das Pflege- etwas zu bewegen, und Sie sich im gleichen Atem- versicherungsgesetz als auch gegen eine Kompensa- zuge darüber beschwert haben, wie es im Zusam- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6523

Gerd Andres menhang mit Sozialhilfe und mit Besitzstandsrege- auch bei weiteren Kompensationsmaßnahmen im lung Auseinandersetzungen zwischen den Ländern, Zusammenhang mit der Pflegeversicherung. den Sozialhilfeträgern und der Pflegekasse auf Kosten der Pflegebedürftigen gegeben hat, dann (Beifall bei der SPD) halte ich so etwas schlicht und ergreifend für phari- Dritter Punkt: Wer sich genauer A rt. 69 des Pflege- säerhaft. Sie nehmen die Pflegebedürftigen in Gei- Versicherungsgesetzes ansieht, wird feststellen, daß selhaft, um bestimmte Konstruktionen im Föderalis- dieser Artikel eine sehr eigenartige Rechtskonstruk- mus durchsetzen zu können oder nicht. Das halte ich tion ist. Das, was Sie vorhin in der Diskussion für unmöglich, um das ganz schlicht zu sagen. behauptet haben, Frau Dr. Babel, der Gesetzgeber sei beispielsweise zwingend an das gebunden, was (Beifall bei der SPD) der Sachverständigenrat mache, steht in Art. 69 so nicht drin. Das wäre im übrigen auch verfassungs- Der zweite Punkt. Herr Laumann, ich habe es widrig, um es ganz schlicht zu sagen. Das Gutachten schon gestern in der Aktuellen Stunde erlebt, daß die soll erstellt werden, es muß bewe rtet werden, und allgemeine Leidensoperette angestimmt wird. Da die Bundesregierung soll erklären, ob die Streichung wird gesagt: Arbeit muß bezahlbar bleiben; Arbeit eines weiteren Feiertages notwendig ist oder nicht. darf nicht mehr so belastet werden. Ich möchte Ihnen Das steht in den Abfolgen dieses A rtikels. eine ganz schlichte Frage stellen: Wer regiert denn nun schon seit vielen Jahren in diesem Land? Wer Wenn Sie sich die weiteren Bedingungen ansehen, trägt denn die Verantwortung für die Beitragsbela- dann werden Sie feststellen - dazu erschien in der stung der Arbeitnehmerinnen und der Arbeitnehmer Zwischenzeit eine ganze Reihe von Artikeln in der und der Wirtschaft in diesem Land? Wer hat denn Fachliteratur -, daß die spannende Frage, ob der beispielsweise große Lasten im deutschen Eini- Gesetzgeber faktisch durch ein Gutachten des Sach- gungsprozeß schlicht an die Sozialversicherung verständigenrates ausgeschaltet werden kann oder abgeschoben und sich damit ganz elegant aus der nicht, völlig klar beantwortet wird: Nein! Wir haben Affäre gezogen? deswegen in unserem Gesetzentwurf vorgeschlagen, Art. 69 zu streichen, und zwar deswegen, weil der (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sachverständigenrat festgestellt hat, daß die Strei- Alle!) chung eines weiteren vollen, stets auf einen Werktag fallenden Feiertages zu einer Überkompensation der Wer hat das denn gemacht? Wer trägt denn die Ver- Leistungen für die stationäre Pflege führt und damit antwortung dafür, daß wir die höchste Abgaben- und im Grunde genommen nicht notwendig ist. Steuerquote in diesem Land haben? Sie doch! Sie mit Ihren Fraktionen! Ich möchte den Bundesarbeitsminister, der gleich sprechen wird, fragen, was in dieser Koalition eigent- (Beifall bei der SPD) lich gilt. Man konnte am Dienstag dieser Woche lesen, daß sich die Koalitionsrunde darauf verstän- Deswegen muß ich Ihnen sagen: Man muß bei der digt hat, die zweite Pflegestufe ohne spezielle Kom- ganzen Kompensationsdebatte auch einmal den Ver- pensation einzuführen. In einer Agenturmeldung such unternehmen, ein bißchen sachlich zu sortieren. wird darüber hinaus festgehalten, daß Herr Glos, der Frau Dr. Babel hat recht. Im April des vergangenen Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, für die CSU am Jahres hat der Kollege Dreßler in der Debatte um die Dienstag mitgeteilt hat, daß die Koalitionsspitzen Ergebnisse des Vermittlungsausschusses für uns vereinbart haben, am 1. Juli 1996 die zweite Stufe erklärt, daß wir die Streichung eines Feiertages ohne eine spezielle zusätzliche Kompensation umzu- akzeptieren. Das war aber kein allgemeines setzen. Bekenntnis zur Notwendigkeit und zur Richtigkeit der Kompensation, - damit Sie sich da überhaupt Es heißt weiter: Wie von anderen Teilnehmern ver- nicht vertun. Wir haben uns vielmehr nach zwei Ver- lautet, wurde es in der Runde als nicht glücklich mittlungsverfahren und einem ganz schwierigen Pro- bezeichnet, daß aus den Reihen der Koalition wieder- zeß dazu durchgerungen, weil wir nicht wollten, daß holt laut über Einzelkompensationen nachgedacht das Projekt Pflege scheitert. wird. Ich nehme an, damit waren die Äußerungen vom Wochenende von Herrn Louven und Frau Dr. Faktisch bedeutet die Konstruktion von Kompensa- Babel gemeint, die die Lohnfortzahlungsdebatte fak- tion, die Sie gemacht haben, daß die Arbeitnehme- tisch wieder losgetreten haben, um auf diese Weise rinnen und Arbeitnehmer die Beitragslast alleine tra- die Kompensation erneut ins Gespräch zu bringen. gen. Das ist Ihr Kompensationsmodell, und das ist Herr Solms hat am 28. November 1995 erklärt: Die das, was Sie wollen. Deswegen muß man in der Dis- im Pflege-Versicherungsgesetz vorgesehene Begut- kussion, um die es hier geht, sehr genau darauf auf- achtung durch den Sachverständigenrat hatte erge- passen, daß wir nicht zu weiteren Etappen kommen, ben, daß eine weitere Kompensation in Höhe von auf denen sozusagen ein tragendes Prinzip der rund 2,5 Milliarden DM notwendig ist. Die Koalition Sozialversicherung, nämlich die hälftige Beitrags- ist sich vor diesem Hintergrund einig, daß diese Kom- zahlung, von Ihnen Stück für Stück desavouiert und pensation auch in vollem Umfang erbracht wird. Die geschliffen wird. Ich sage Ihnen - deswegen haben Bundesregierung wurde aufgefordert, dazu entspre- wir das in unserem Gesetzentwurf so formuliert -: Sie chende Vorschläge zu machen. werden uns als ganz erbitterte Gegner solcher Rege- lungen erleben, und zwar sowohl im Gesundheitsbe- Ich habe eine ganz einfache Frage an den Bundes- reich mit der Einfrierung der Arbeitgeberhälfte als arbeitsminister. Ich möchte gerne, daß er der deut- 6524 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 Gerd Andres schen Öffentlichkeit mitteilt, was stimmt. Ich möchte gereicht haben, weil die Gewerkschaften der Auff as von ihm wissen, ob er der Auffassung ist, daß für die sung sind, daß hier ein gravierender Tatbestand der Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversiche- Ungleichbehandlung vorliegt. Es wäre sicherlich rung, also der stationären Versorgung, eine zusätzli- interessant und spannend, dazu eine offizielle che Kompensation notwendig ist oder nicht. Bewertung zu erhalten.

Ich habe hier von Dienstag, 28. November 1995, Eine weitere Bemerkung, Herr Kollege Laumann - einen Artikel aus dem „Handelsblatt" mit einem da will ich gar nicht ausweichen; ich sage das so, wie hübschen Photo des Bundesarbeitsministers, verse- ich es meine, und Sie wissen es auch aus den Aus- hen mit der Überschrift „Kein Bedarf für weitere Pfle- schußberatungen -: Was mir in den zurückliegenden gekompensation". Ich fordere den Bundesarbeitsmi- Wochen und Monaten große Sorgen gemacht hat, ist, nister auf, dieses Verwirrspiel hier eindeutig zu been- daß wir im Zusammenhang mit der Einführung und den und zu erklären, daß die zweite Stufe der Pflege- Umsetzung der Pflegeversicherung ein, wie ich versicherung in Kraft gesetzt werden kann, ohne daß finde, schändliches Spiel erlebt haben. Wir haben eine zusätzliche weitere Kompensation notwendig nämlich erlebt, daß sich die Sozialhilfeträger, die ist. Länder, der Bund, die Pflegekassen jeweils immer (Beifall bei der SPD und der PDS) mit einem schönen Schwarzer-Peter-Spiel darum gestritten haben, wer was zu leisten hat. Das Bedau- Liebe Kolleginnen und Kollegen, darüber hinaus erliche in diesem Zusammenhang war, daß das gibt es weitere Fragen, die man klären muß. Am immer zu Lasten und auf den Knochen der betroffe- Dienstag war ein Sprecher des Bundesarbeitsmini- nen Pflegebedürftigen und Behinderten stattgefun- steriums zu vernehmen, der erklärte, ob man für die den hat. Inkraftsetzung der zweiten Stufe eine Gesetzesände- rung benötige oder ob dies auf dem Verordnungs- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: wege gehe, sei noch offen. Ich will für uns erklären - Das stimmt doch gar nicht!) deswegen haben wir das auch in Gesetzesform gegossen -, daß auch wegen der Konstruktionspro- Wir müssen als Bundesgesetzgeber dringend dar- bleme, die in Art. 69 des Pflege-Versicherungsgeset- auf achten, daß solche Tatbestände nicht weiter um zes stecken, eine Gesetzesänderung notwendig ist, sich greifen. Für die SPD-Bundestagsfraktion wi ll ich die wir in erster Lesung heute auch beraten. ganz ausdrücklich sagen, daß wir der Auffassung sind, daß die Länder die zugesagten Investitionslei- Wer auf die weiteren Elemente unseres Entwurfs stungen, die sie aus der Einsparung der Sozialhilfe eingeht, wird feststellen, daß wir ausdrücklich fest- finanzieren sollen, auch erbringen müssen. halten, daß der Beitrag künftig je zur Hälfte von Arbeitnehmern und ihren Arbeitgebern zu tragen ist. Ich will als Schlußbemerkung folgendes sagen: Wir Auch in diesem Zusammenhang muß eine Frage erleben momentan eine heftige Auseinandersetzung gestattet sein; ich bitte den Bundesarbeitsminister um die Abgrenzung zwischen Bundessozialhilfege- auch hier, sich eindeutig zu erklären. Wir haben die setz und Pflege-Versicherungsgesetz. Wir erleben, Situation, daß nach der Einführung der Pflegeversi- daß die Fragen, die nichts mit der Hilfe zur Pflege, cherung alle Länder einen Feiertag abgeschafft sondern etwas mit den Integrationshilfen des BSHG haben, mit einer Ausnahme: das Land Sachsen. Die zu tun haben, hinsichtlich der Abgrenzung zu ganz rechtliche Konstruktion sieht in einem solchen Fall schwierigen Problemen führen. Ich habe die herzli- vor, daß die Arbeitnehmer die Beiträge allein bezah- che Bitte, daß man damit aufhört, in der A rt gegen- len. Daran kann man auch ersehen, wie das mit dem seitiger Schuldzuweisung den Versuch zu unterneh- Äquivalent Feiertag gemeint ist, denn durch eine - men, das einerseits auf die Länder oder andererseits Feiertagsstreichung tragen die Arbeitnehmer die auf den Bund zu schieben. Belastung faktisch alleine. Deswegen ist die Debatte über die Kompensation oder den Umbau auch ein Ich glaube, es ist dringend notwendig, daß der Stück weit unehrlich. Ehrlich wäre sie, wenn man Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion, den wir sagt, wir lasten den Arbeitgebern einen bestimmten heute eingebracht haben, in den nächsten Wochen Beitrag auf, und dafür müssen wir die Arbeitgeber schnell beraten und dann auch hier verabschiedet auf einer anderen Seite entlasten. Dies betrifft aber wird, damit es Rechtsklarheit gibt. Aber notwendig nur die Arbeitgeber. Man muß dann auch dafür sor- ist auch, daß wir die eine oder andere Frage, die im gen, daß die Arbeitnehmer dafür nicht die Zeche zu Zusammenhang mit der Einführung der stationären zahlen haben. Pflege bei der Pflegeversicherung behandelt werden Faktisch ist es in Sachsen so, daß die Arbeitnehmer muß, im Ausschuß noch weiter beraten. seit 1. Januar dieses Jahres einen Beitrag von 1 Prozent zu leisten haben. Ich würde, weil in A rt. 69 Herzlichen Dank. des Pflege-Versicherungsgesetzes auch steht, daß eine weitere Überprüfung stattfinden soll, gern wis- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sen, welche Situation sich nach der Einführung der GRÜNEN und der PDS) Pflegeversicherung ergibt und wie man gegenüber Ländern reagie rt, die sich zu anderen Maßnahmen entschlossen haben. Der Bundesarbeitsminister weiß, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- daß die Gewerkschaften hinsichtlich des Landes tervention erhält der Abgeordnete Laumann das Sachsen in der Zwischenzeit Verfassungsklage ein- Wort. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6525

Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Herr Kollege haben, taugt nichts, weil wir trotzdem Sozialhilfe Andres, Sie haben am Anfang Ihrer Rede darauf ver- beziehen müssen. wiesen, daß die CDU/CSU seit vielen Jahren regiert Ich habe die große Angst, daß sich die Landesfür- (Gerd Andres [SPD]: Habe ich nicht „viel zu sten dann, wenn die zweite Stufe in Kraft ist, einen viele Jahre" gesagt?) Teufel darum scheren, was sie im Bundesrat zuge- sagt haben. Deswegen verstehen Sie, daß wir in die- und wir in unserem Land die höchste Steuer- und ser Diskussion sehr darauf achten werden - ich Abgabenbelastung haben. Ich glaube, unstreitig ist: glaube, das werden wir gemeinsam tun -, daß die Daß wir eine so hohe Steuer- und Abgabenlast in Länder ihre Bringschuld leisten und sie ihren Teil unserem Land haben, liegt daran, daß 1990 die Wie- einhalten, so wie wir unseren Teil einhalten. Anson- dervereinigung stattfand und daß unser Volk eine sten können wir die Probleme nicht lösen. riesige Aufbauleistung in den neuen Bundesländern solidarisch finanzieren muß. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zur Antwort der Ich gebe zu: Natürlich wurde ein Teil der Umstruk- Kollege Andres. turierung der sozialen Absicherung in den neuen Bundesländern, die für die Menschen unbedingt sein mußte, über die Sozialversicherung finanziert. Gerd Andres (SPD): Lieber Kollege Laumann, ich will ganz kurz erwidern - weil Sie auf meine Rede (Rudolf Dreßler [SPD]: Zu einem erhebli Bezug genommen haben -: Nach einem Schreiben chen Teil!) des Bundesarbeitsministers an die „lieben Kollegin- Ob diese Entscheidung richtig gewesen ist, kann nen und Kollegen" der Unionsfraktion vom man natürlich zur Diskussion stellen. Aber bitte ver- 30. August 1995 beläuft sich die Gesamtleistung, die stehen Sie auch: Damals mußte schnell gehandelt aus den Sozialkassen im Zusammenhang mit der werden. deutschen Einheit von 1991 bis 1995 aufgebracht wurde, auf 106,6 Milliarden DM. (Ottmar Schreiner [SPD]: Das hat mit dem Wahlkampfschwindel im Herbst 1990 zu Die zweite Bemerkung: Sie haben das wider besse- tun: Keiner wird auf etwas verzichten müs res Wissen getan. Wir haben in den Diskussionen sen!) 1990/1991 immer darauf hingewiesen, daß Sie Lasten, die sich aus dem Prozeß der deutschen Eini- Auch wir Sozialpolitiker sind uns darüber im kla- gung ergeben, unzulässigerweise den Sozialkassen ren: In beitragsfinanzierten Systemen müssen wir zuschieben. Schritt für Schritt dafür sorgen, daß nur die Aufgaben über diese Systeme bezahlt werden, die durch Bei- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: träge legitimiert sind. Wir haben es bei der Pflegever- Ohne jede Alternative!) sicherung doch hinbekommen, daß für die, die zu Das war kein Fehler von Ihnen, Sie haben das ganz Hause pflegen, Rentenbeiträge in die Rentenkasse absichtlich gemacht. eingezahlt werden. Wir haben also nicht einfach einen Anspruch in der Rentenversicherung geschaf- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: fen, sondern durch die Beiträge gegenfinanziert. Auf Ohne jede Alternative!) diesem Weg sollten wir weitergehen. Ich werde auf Sie sagen, das sei eine soziale Finanzierung. Von jeden Fall, solange ich hier mitarbeiten darf, sehr wegen! Klar ist doch beispielsweise, daß jede Lei- darauf achten, daß nicht mehr gesamtstaatliche- Auf- stung, die von der Bundesanstalt für Arbeit erbracht gaben von der Sozialversicherung übernommen wer- wird, von den Beitragszahlern finanziert wird, daß den müssen. aber all diejenigen, die keine Beitragszahler in die- Zu einem weiteren Punkt, den ich kurz ansprechen sem Sinne sind, von der Solidarität ausgenommen muß: Sie haben gesagt, ich wolle die Pflegebedürfti- sind. Sie sind gar nicht beteiligt. Deswegen wäre es gen als Geisel nehmen, um die Länder zu zwingen, sinnvoller gewesen, es anders zu finanzieren. Dann die Zusage der Investitionskosten einzuhalten. Das gäbe es eine ganze Reihe von Problemen, die wir zur will ich natürlich nicht. Aber da ich ja weiß, wie das Zeit mit Sozialabgaben und Beitragshöhen haben, Verhältnis zwischen Bund und Ländern, zwischen nicht. den politischen Ebenen ist - jeder schaut, wie er (Beifall bei der SPD) seine Finanzprobleme in den Griff bekommt -, habe ich schon die Sorge: Wenn die Länder beim Inkraft- treten der zweiten Stufe ihre Aufgaben nicht gelöst Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Für die Bundes- haben, die Investitionskosten nicht übernommen regierung hat jetzt das Wo rt der Bundesminister für sind, so daß die Menschen die Investitionskosten aus Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbe rt Blüm. dem eigenen Portemonnaie zahlen müssen - was ja dazu führt, daß es gerade den Handwerker, den Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Arbeitnehmer, der 45 Jahre für seine Rente gearbei- Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und tet hat, trifft und wir ihn nicht mehr aus der Sozial- Herren! Die zweite Stufe der Pflegeversicherung hilfe bekommen -, dann werden die Menschen nicht muß am 1. Juli 1996 kommen. Das halte ich für den Ländern die Schuld geben. Sie werden sagen: unverzichtbar. Eine Pflegeversicherung, die sich auf Die Pflegeversicherung, die die da in Bonn gemacht die ambulante Pflege beschränken würde, wäre eine 6526 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Bundesminister Dr. Norbert Blüm halbe Sache; und halbe Sachen sind schlechte gut. Wenn es sich nicht verhindern läßt, nehme ich Sachen. auch an der Kompensationsdebatte teil.

Der erste Grund ist: Ohne die zweite Stufe der Pfle- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist doch nicht geversicherung wäre die erste Stufe beschädigt. Es wahr!) gibt nämlich viele Übergänge zwischen ambulanter - Doch. Ich will es gerade erklären. und stationärer Pflege, die auch den unterschiedli- chen Lebenslagen entsprechen. (Rudolf Bindig [SPD]: Dann kompensieren wir die F.D.P.! - Gerd Andres [SPD]: Das Der Kollege Andres hat zu Recht bedauert, daß wir machen die Wähler von alleine!) bei der Einführung einen Streit über die Grenze zwi- schen Sozialhilfe und Pflegeversicherung ausgetra- Gegen die Rechnungen des BMA sind ganze Kom- gen haben - leider. Die Gefahr besteht, daß wir diese panien angerannt: Bisher - darauf bin ich ganz stolz - Streitigkeiten auch zwischen ambulanter und statio- sind die Rechnungen noch nicht ausgehebelt wor- närer Pflege austragen würden. Was ist Kurzzeit- den. Da gibt es große Rechenschlachten der Arbeit- pflege? Ist sie ambulant oder stationär? Was ist geber. Frau Babel, es ist auch behauptet worden - Tagespflege? Ist sie ambulant oder stationär? Was ist wenn wir schon zurückblicken -, zwei Feiertage Nachtpflege? Es gibt - Gott sei Dank - auch Kombi- seien notwendig. Der Sachverständigenrat hat ein- nationen zwischen ambulanter und stationärer deutig festgestellt - das können Sie nachlesen -: Pflege. Gerade dieser Zwischenbereich muß, glaube Zwei Feiertage wären eine Überkompensation. ich, ausgebaut werden. Wir müssen diese grobe Unsere Position war immer: ein Feiertag plus weitere Alternative verhindern: entweder daheim allein oder Maßnahmen. Wir hatten uns auf weitere Kompensa- im Heim. Wenn die stationäre Pflege als Ergänzung tionsmaßnahmen verständigt. Die Möglichkeit der nicht käme, gäbe es an der Grenze zwischen ambu- Einsicht in die Koalitionsvereinbarung besteht; ich lanter und stationärer Pflege einen Zuständigkeits-, schicke sie Ihnen notfalls auch zu. Das geschah in einen Finanzierungskrieg. der Koalition, nicht mit mir allein.

Ich will einen zweiten Grund nennen. Die Kommu- Daß die Krankenversicherung von Pflegeleistun- nen rechnen fest mit der finanziellen Entlastung. gen in Höhe von 3,7 Milliarden DM entlastet wird, Selbst wenn die Investitionskosten abgezogen wer- kann nicht bestritten werden. Diese Leistungen wur- den, haben sie noch eine kräftige Entlastung: den bisher von der Krankenversicherung erbracht. 11 Milliarden oder 12 Milliarden DM. Die Hälfte dieses Betrages hat der Sachverständigen- rat bei seiner Berechnung den Arbeitgebern ange- (Zuruf von der SPD: Ich habe nichts davon rechnet; das ist auch richtig. Wenn man die Zahlen gehört!) des Sachverständigenrates auf Gesamtdeutschland bezieht, kommt man auf 3,7 Milliarden DM, von - Sie haben nichts davon gehört. Die eigentliche Ent- denen die Hälfte der Arbeitgeber zu tragen hat. lastung setzt nämlich erst bei der stationären Pflege Darüber, daß die Lohnersatzleistungen wie die ein, sehr geehrte Frau Kollegin. Denken Sie nach! Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung, Bei der ambulanten Pflege können die Kommunen die an das Nettoprinzip gebunden sind, mit der Ein- keine große Entlastung haben, weil die Sozialhilfe führung der Pflegeversicherung sinken, gibt es auch dabei nur in sehr beschränktem Maße eine Rolle nichts zu streiten. Das ist eine Frage der Mathematik. spielt. Die eigentliche Entlastung setzt bei der statio- Hier sind es 220 Millionen DM. nären Pflege ein, wenn es um die Sozialhilfeempfän- ger in den Heimen geht. Wir haben weiter den Umbau hinsichtlich der fehl- belegten Krankenhausbetten, die Mißbrauchsbe- Der dritte Grund ist der Hauptgrund. Wir würden kämpfung der Lohnfortzahlung und den Wegfall der die 450 000 in Heimen Untergebrachten enttäuschen, Leistungen nach der zehnten Novelle festgelegt. und sie würden in der Sozialhilfe bleiben. Ich komme Hier geht es um einige Beträge. Der Sachverständi- auf die Investitionshilfeproblematik noch zurück. genrat hat dies - das will ich festhalten - nicht abge- lehnt; er hat es nur nicht quantifiziert. Es bestand Übereinstimmung darin, daß die Bela- stungen der Wirtschaft durch die Pflegeversicherung Nehmen Sie einmal meine Quantifizierung: Wenn ausgeglichen werden müssen. Das ist kein Geschenk wir uns im Unterschied zu anderen verschätzt hätten an die Arbeitgeber für deren Privatkasse; es geht um - das ist noch nie passiert -, selbst um 100 Prozent, die Entlastung hinsichtlich der Kosten der Arbeits- würden wir trotzdem noch eine volle Kompensation plätze. Davon nehme ich kein Jota zurück. erreichen, wobei ich nicht einmal die Entlastung der Sozialhilfe einbeziehe. Jetzt ist nur die Frage: Führen wir eine Kompensa- tionsdebatte, oder führen wir eine Debatte darüber, (Beifall bei der SPD - Gerd Andres [SPD]: Nun klatscht doch mal von der Koalition!) wie die Arbeitsplätze hinsichtlich der Kosten entla- stet werden müssen? Ich hätte uns eine buchhalteri- Ich wollte keine Kompensationsdebatte führen. sche Debatte über die Kompensation gern erspart! Wissen Sie, warum nicht? Ich fürchte nämlich, daß Ich habe die Kämpfe der vergangenen Zeit um Zah- wir dann wieder in den Fuchsbau kommen. len in schlechter Erinnerung. Frau Babel hat es vor- gezogen, eine Kompensationsdebatte zu führen. Nun (Zuruf von der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6527 Bundesminister Dr. Norbert Blüm - Die Debatte ist so eröffnet worden. Ich war nicht Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, daß es dafür, muß aber darauf antworten. Ansonsten sähe es gut ist, die Debatte in zweiter Auflage rechnerisch zu so aus, als wären unsere Rechnungen widerlegt wor- führen. Ich lade uns alle zu einer großen Anstren- den. Das ist ganz und gar nicht der Fall. gung zur Entlastung der Wi rtschaft ein. Wenn ich Wirtschaft sage, dann meine ich die Arbeitnehmer (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Es und Arbeitgeber. Es geht um Arbeitsplätze, nicht um sagt doch keiner was!) eine Diskussion darüber, ob das nun 2,5 Milliarden - Ich bin doch gar nicht bös. Ich möchte das nur ganz DM oder nur 1,7 Milliarden DM sind. Aber wenn Sie, ruhig erklären. Frau Babel, eine solche Debatte haben wollen, führe ich sie morgens, mittags und abends, zu jeder Tages- Ich schlage vor, eine Debatte über die notwendi- und Nachtzeit, die Sie wünschen, gen Entlastungen für die Wirtschaft zu führen. Diese gehen weit über das hinaus, was bezüglich der Kom- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ pensation diskutiert wird. Macht es denn Sinn, wenn DIE GRÜNEN) jemand sagt: Ich habe Anspruch auf 1 DM! und der mit den Zahlen der Überkompensation. Selbst wenn andere erwidert: Ich will dir 10 DM geben!, dann ich mich verrechnet habe, ist Ihr Ziel noch immer aber über 1 DM diskutiert wird? Ich halte Entlastun- erfüllt. Ich schlage das aber nicht vor. gen, die weit über den in Frage stehenden rechneri- schen Kompensationsbedarf in der Wirtschaft hinaus- Ich halte den zweiten Teil für wichtiger - da habe gehen, für unumgänglich. Ich finde, daß wir es im ich eben eine Übereinstimmung festgestellt -: Wenn Moment mit einer Einladung zu einer kleinkarierten sich die Länder drücken, dann sollten wir, der Deut- Buchhalterdebatte zu tun haben. Etwas anderes fällt sche Bundestag, gemeinsam versuchen, die Sache in mir dazu nicht ein. Angriff zu nehmen. Darin, Frau Babel, unterstütze ich Sie voll. Im Vermittlungsausschuß sind wir vom (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU monistischen System auf das duale System der sowie bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Finanzierung umgestiegen mit der Zusage der Län- DIE GRÜNEN) der, sie übernähmen die Investitionskosten. Darin Von dieser Sorte haben wir im Zusammenhang mit bestätige ich Frau Babel ausdrücklich. der Pflegeversicherung zum Leidwesen der Versi- Wir wollten Finanzierung aus einer Hand. Alle cherten ausreichend gehabt. Länder, A wie B, rot wie nicht rot Ich habe die Sozialhilfe als Entlastung noch gar (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Schwarz!) nicht dazugezählt. - es gibt ja noch andere -, wollten im Planungsge- (Rudolf Bindig [SPD]: Weiter so! Die F.D.P. schäft bleiben. Planungskompetenz, das war der muß überzeugt werden!) wahre Grund. Sie haben zugesagt, daß sie die Inve- Was den Feiertag anbelangt: Am vergangenen stitionskosten übernehmen. Das war eine Zusage. Mittwoch habe ich die Proteste der Kirchen wegen Rechtlich konnten wir das nicht einfordern; denn des Wegfalls des Buß- und Bettags gehört. Am Don- dann hätten wir eine Grundgesetzänderung machen nerstag haben die Arbeitgeber über einen Beitrag in müssen. Aber es muß ja auch zwischen Bund und Höhe von 1,7 Prozent für die Pflegeversicherung Ländern noch außerhalb von Paragraphen ein verläß- geklagt. Es kann nur eines von beiden stimmen: liches Wort geben. Wenn der Feiertag weggefallen und damit zu einem Ich will einmal vorlesen, wie die Lage ist: Baden Arbeitstag geworden ist, kann man nicht von Württemberg hat im Haushalt 70 Millionen DM ein- 1,7 Prozent Belastung der Wirtschaft reden.- Beides gestellt, Bayern 100 Millionen DM, Berlin 109 Millio- geht nicht. nen DM, Brandenburg 161 Millionen DM - es (Beifall des Abg. Karl-Josef Laumann bekommt, das muß ich hinzufügen, vom Bund [CDU/CSU] sowie bei der SPD und dem 130 Millionen DM -, Bremen ist nicht bekannt, das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heißt in diesem Jahr null, Hamburg gibt noch keine Auskunft, Hessen in diesem Jahr 9 Millionen DM Ich muß wie der Kollege Laumann sagen: Auch ich bedaure den Wegfall des Feiertags. Wir haben aber (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Eichel!) alles probiert. Ein Karenztag wurde mit bestimmten - Hessen unter Herrn Eichel, das will ich schon Gründen abgelehnt. Der Vorschlag bezüglich eines sagen -, Mecklenburg-Vorpommern 158 Millionen Urlaubstages ist doch nicht an dem Gesetzgeber DM, Niedersachsen mit Schröder 12 Millionen DM, gescheitert; das ist Sache der Tarifpartner. Beide Nordrhein-Westfalen 135 Millionen DM, Rheinland Tarifpartner haben nein gesagt. Also blieb doch nur Pfalz, das im übrigen jetzt ein Gesetz mit besseren der Feiertag. Zusagen hat, 10 Millionen DM - ich will ja fair blei- ben - und Saarland 3 Millionen DM. Oskar, der neue Ich hätte mir, nebenbei gesagt, von den Kirchen nur halb soviel Einsatz für die Pflegebedürftigen Vorsitzende, ist in der Verweigerung der Investitions- gewünscht wie bei den Protesten wegen des Weg- kosten einsamer Sieger. falls des Feiertags am vergangenen Mittwoch. Ein (Gerd Andres [SPD]: Wie viele Einwohner solcher Protest wäre glaubwürdiger gewesen. hat denn das Saarland?) (Beifall des Abg. Karl-Josef Laumann - Wie auch immer, mehr Investitionskosten als [CDU/CSU]) 3 Millionen DM fallen dort mit Sicherheit an. Jetzt 6528 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Bundesminister Dr. Norbert Blüm zerstören Sie gerade wieder die neu gefundene Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Übereinstimmung im Bundestag. Es geht doch jetzt Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita nicht um CDU/CSU, F.D.P. und SPD. Es geht darum, Grießhaber, Dr. Angelika Köster-Loßack, daß die Pflegebedürftigen mit Hilfe der Pflegeversi- Dr. Helmut Lippelt, weiterer Abgeordneter cherung aus der Sozialhilfe herausgeholt werden. und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dazu müssen die Investitionskosten rausgerechnet werden. Das werden im Durchschnitt 500 bis 600 DM Kein Import von Kinderspielzeug aus chinesi- sein. Diese 500 bis 600 DM Investitionskosten zahlen, schen Arbeitslagern wenn sie nicht bezahlt werden, die Pflegebedürfti- gen. - Drucksache 13/3054 — Überweisungsvorschlag: Unsere Rechnung setzt voraus, daß die Pflegesätze Auswärtiger Ausschuß sinken, weil die Investitionskosten rausgerechnet Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden. Deshalb lade ich die SPD und die Grünen Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ein Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zehn Minuten - ja, alle, auch F.D.P. und CDU/CSU; ich bin da gar erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann nicht kleinkariert -, die Länder aufzufordern, das ist das so beschlossen. gegebene Wort zu halten. Die Pflegeversicherung ist Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat zunächst weder die Sparkasse der Kommunen noch der Sozial- die Abgeordnete Rita Grießhaber. hilfe noch der Länder. Die Pflegeversicherung ist eine Versicherung für die Pflegebedürftigen. Das müssen wir gegenüber allen Verweigerern gemein- Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sam einfordern. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wäh- rend Bundeskanzler Kohl - wohlgemerkt auf eigenen (Zurufe von der CDU/CSU: So ist das!) Wunsch - chinesische Militärparaden abschritt und sich als Türöffner für die deutsche Wi rtschaft betä- Wir müssen in diesem Sinne zusammenwirken, tigte, beschäftigen wir uns hier mit der Frage, unter welchen Bedingungen ein Teil dieser Waren herge- (Rudolf Dreßler [SPD]: Auch nachts!?) stellt wird, die bei uns so unglaublich billig und attraktiv auf dem Markt angeboten werden. um die zweite Stufe zu verwirklichen - ich bekenne Wer genau hinschaut, dem tut sich ein Abgrund mich ausdrücklich dazu, damit niemand meint, ich auf. Über 1 000 Zwangsarbeitslager gibt es in der würde mich vom Spielfeld machen - und eine Spar- Volksrepublik China; etwa 8 Millionen Gefangene, anstrengung vorzunehmen, die weit über das hinaus- darunter viele aus der Demokratiebewegung, müs- geht, was rechnerisch zur Debatte steht, was eine sen in diesen Lagern arbeiten, oft über Jahrzehnte. Buchhalterdebatte ergeben würde. Ich kann uns Sie sind ein Teil dieser scheinbar ach so günstigen nicht zur zweiten Auflage dieser Debatte ermahnen, Produktionsbedingungen. sondern muß uns zu einer großen Anstrengung auf- fordern, die wir ja gemacht haben und die von Aus- Wir importieren und kaufen Waren, von denen wir einandersetzungen begleitet war. Ich muß die Spar- nicht mit Sicherheit sagen können, ob sie nicht in gesetze, die wir nach der Pflegeversicherung verab- einem solchen Lager hergestellt wurden. Wie viele schiedet haben und die noch in der Diskussion- sind, Weihnachtsbäume werden mit Schmuck behangen nicht in Erinnerung rufen. Ich lade alle ein: Laßt die sein, der von verzweifelten Gefangenen hergestellt Buchhalterdebatte beiseite! Denkt an die, um die es wurde? Wieviel Spielzeug wird auf den Gabenti- geht! Die zweite Stufe der Pflegeversicherung muß schen liegen, an dem Blut klebt? kommen und wird um der Pflegebedürftigen willen Wir wollen mit unserem Antrag verhindern, daß es kommen. solche Waren hier zu kaufen gibt. Ich bedanke mich, daß alle dabei mitwirken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Walter Hirche [F.D.P.] und bei Abgeordne Wir fordern die Bundesregierung auf, ein Importver- ten der SPD) bot für Kinderspielzeug einzuführen, das in chinesi- schen Arbeitslagern hergestellt wurde. Nun sind wir ja, was diese Dinge angeht, hier in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe die Deutschland nicht allein handlungsfähig. Deshalb Aussprache. fordern wir die Bundesregierung auch auf, sich im Rahmen der Europäischen Union für ein solches Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Importverbot in allen Mitgliedsländern einzusetzen. Gesetzentwurfes auf Drucksache 13/2393 an die in Die Europäische Union räumt ja bestimmten Ent- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. wicklungsländern, darunter auch China, im Handel Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht Zollpräferenzen ein. Allerdings besagt A rt. 9 der ent- der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. sprechenden EU-Verordnung, daß diese Präferenzen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6529

Rita Grießhaber jederzeit zurückgenommen werden können, wenn es den Beitrittsverhandlungen mit festgeschrieben wer- sich bei den Waren um Erzeugnisse handelt, die in den. Strafanstalten hergestellt werden. Das muß doch erst recht gelten, wenn es sich um Waren handelt, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unter menschenrechtswidrigen Umständen produ- sowie bei Abgeordneten der SPD) ziert wurden. Wenn wir mit China Handel treiben, müssen wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) uns auch mit den Bedingungen beschäftigen, unter denen der chinesische Markt funktioniert. Ich frage China ist der Hauptlieferant für den deutschen Sie: Wer sind Ihre Verhandlungspartner dort? Militär Spielzeugmarkt. Natürlich stellen sich die Fragen, und politische Funktionäre? Es gibt keine Arbeitneh- welche Spielwaren, die hier auf dem Markt sind, in mervereinigungen. Menschenrechtsorganisationen Arbeitslagern hergestellt werden und wie das festge- haben nicht die Möglichkeit einzureisen, um die Pro- stellt werden kann. Der Nachweis, welches Spiel- duktionsbedingungen zu überprüfen. Darüber muß zeug woher kommt, ist schwierig. Die chinesische mit der chinesischen Regierung gesprochen werden. Regierung leugnet die Existenz von Straflagern, in denen für den Export produziert wird. Namen der Unter diesen Bedingungen ist die oft gebrauchte Lager werden gewechselt, Namen der Produkte wer- Parole vom „Wandel durch Handel" mehr als frag- den ausgetauscht, und oft werden Teile im Lager pro- würdig. Unsere Wirtschaftspolitik darf sich nicht dar- duziert und dann an anderer Stelle zusammenge- auf beschränken, die Menschenrechtsfrage auf eine baut. Der Nachweis ist zugegebenermaßen schwie- kleine Liste mit zum Teil zufällig bekanntgeworde- rig. nen Namen zu beschränken. Gerade Deutschland, das in seiner eigenen Geschichte das Schandkapitel Unsere Fraktion hatte in den letzten Tagen Harry der Konzentrationslager verzeichnen muß, darf als Wu zu Gast. Harry Wu, der chinesische Menschen- Handlungsreisender zum Straflagersystem in China rechtler mit amerikanischem Paß, der ihm diesen nicht vornehm schweigen. Sommer die Freiheit beschert hat, hat über 19 Jahre seines Lebens in chinesischen Arbeitslagern ver- In seinem Buch über die Jahre im chinesischen bracht. Nach seiner Freilassung 1979 ist er mehrmals GULag, Laogai genannt, erzählt Harry Wu auch, wel- nach China zurückgekehrt und hat über das Lager- che Ähnlichkeiten es gibt: Über deutschen KZs stand system recherchiert, Videos gedreht und Dia-Auf- die Parole: „Arbeit macht frei", über chinesischen nahmen gemacht. Dabei hat er jederzeit seine Frei- Arbeitslagern steht der Spruch: „Arbeit gibt dir ein heit riskiert. neues Leben". Harry Wu beschreibt sehr genau, was diese Umerziehung durch Arbeit bedeutet: Das aber scheint unsere Regierung nicht zu inter- essieren. Geht es doch in China um die Eroberung Wer ein Gewissen hat, kann die schrecklichen eines neuen, riesigen Marktes mit ungeahnten Verhältnisse in den Lagern nicht mit Schweigen Absatzmöglichkeiten. Da abstrahiert man anschei- oder Gleichgültigkeit übergehen, denn dadurch nend gerne von den Bedingungen, unter denen diese wird die brutale Ausbeutung von Millionen Waren hergestellt werden. unterstützt. Diese Verbrechen gegen die Mensch- lichkeit müssen aufhören. Ich frage Sie: Wollen wir wirk lich Waren importie- ren, an denen Blut klebt? Wollen wir unseren Kin- Dem habe ich nur eins hinzuzufügen: Stimmen Sie dern Spielzeug zu Weihnachten schenken, das von diesem Anliegen zu. Menschen hergestellt wurde, die sich in diesen Lagern einer Gehirnwäsche unterziehen müssen? Vielen Dank. Die US-amerikanischen Zollbehörden haben eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Liste von Waren erstellt, die nicht mehr in die USA und bei der PDS) importiert werden, Waren, von denen die Amerika- ner überzeugt sind, daß sie aus Zwangsarbeitslagern Das Wort hat stammen. Die Liste mit 24 Produkten und chinesi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: jetzt der Abgeordnete E rich Fritz. schen Fabrikationsnamen wird als Spitze eines Eis- bergs bezeichnet. Wie groß der Eisberg ist, läßt sich nur ahnen. Die Schwierigkeiten sollten uns nicht Erich G. Fritz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine abschrecken. Im Gegenteil, wir müssen sie als beson- Kolleginnen und Kollegen! Frau Grießhaber, dem dere Herausforderung begreifen und tätig werden. Anliegen stimmt das Haus sicher zu. Denn nach den Bei entsprechendem politischen Willen wäre die vielen Debatten, die im Bundestag über die Men- Erstellung einer solchen Liste sehr wohl auch hier schenrechtssituation in China geführt worden sind, möglich. sind wir uns doch einig darüber, daß die Straflager zu dem Teil der beklagenswerten Situation gehören, Für die Bundesregierung bestehen vielfältige Mög- den wir am meisten verdammen. Die Schilderung der lichkeiten. Es gibt Ansatzpunkte. China will unbe- Situation, wie wir sie in den letzten Wochen hier dingt Mitglied im GATT werden. Da bietet Art. 20 erlebt haben, hat uns plastisch deutlich gemacht, daß GATT/WTO sehr gute Möglichkeiten. dies Ähnlichkeit mit Konzentrationslagern hat, daß Ich fordere Sie auf: Nutzen Sie diese Möglichkei- das mit rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu tun hat ten. Wirken Sie darauf hin, daß die sozialpolitischen und daß es für viele noch nicht einmal die Chance Anliegen der Internationalen Arbeitsorganisation bei einer Möglichkeit gibt, daß Verfahren stattfinden. 6530 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 Erich G. Fritz Die Menschen vegetieren dort unter oft unwürdi- Deshalb kann man die Angelegenheit auch nicht gen Bedingungen. Das kann uns nicht gleichgültig mit einer moralischen Attitüde allein behandeln. sein. Es kann uns auch nicht gleichgültig sein, wenn Wenn wir der Sache ordentlich nachgehen wollen, Produkte, die in diesen Lagern hergestellt werden, müssen wir uns nun zusammen mit der Bundesregie- am deutschen Markt verkauft werden. Produkte, die rung, die uns die entsprechenden Informationen zur unter solch menschenunwürdigen Bedingungen her- Verfügung stellen muß, um diesen Sachverhalt küm- gestellt werden, können Verbrauchern auch beim mern und ihn möglichst korrekt beraten. geringsten Preis keine Freude bereiten. Sie können nicht besser beurteilt werden als etwa Teppiche, die Der Antrag selbst, jetzt einmal unterstellt, daß wir in Kinderarbeit hergestellt werden. Im Gegenteil, sie dringenden Handlungsbedarf haben, ist insofern in müssen - da der soziale Druck, der bei Kinderarbeit Frage zu stellen, als nicht als erstes die Frage nach häufig noch dahintersteckt, nicht vorhanden ist - einem Verbot von Importen diskutiert werden sollte. noch schärfer verurteilt werden. Es gibt ja auch Mittel, die staatlichen Maßnahmen vorweggehen: etwa Selbstverpflichtungen - da hat Wenn man allerdings fragt, wie groß das Problem, sich die deutsche Spielwarenindustrie schon an vie- das Sie schildern, auf dem deutschen Markt wirklich len Stellen erklärt -, vor allen Dingen aber Verbrau- ist, dann stellt man fest, daß die deutschen Spielwa- cherinformationen, die ja, wie wir wissen, das Ver- renimporteure - so meine Recherchen; ich will nicht braucherverhalten sehr deutlich beeinflussen kön- sagen, daß ich das in der Kürze der Zeit vollständig nen. überblickt habe - überwiegend mit p rivaten chinesi- schen Spielwarenproduzenten zusammenarbeiten, Ein solches Vorgehen setzt detaillie rte Kenntnisse daß die Produktionsstätten regelmäßig aufgesucht voraus, die dann in den Ausschüssen gemeinsam werden und daß bei keiner dieser Besichtigungen beraten werden müssen. Erst wenn diese Erkennt- Feststellungen über Zwangsarbeit und über Zwangs- nisse dann auch offen als Informationen vorhanden arbeitslager gemacht worden sind. sind, kann der Verbraucher reagieren und auf solche Produkte verzichten. Ein solches Vorgehen wäre Die chinesischen Spielwarenhersteller sind ein nach meiner Auffassung bei entsprechenden Voraus- wichtiger Partner für die deutsche Spielwarenindu- setzungen sicherlich ein sehr guter Weg. Schließlich strie. Die Möglichkeit, auch noch bei uns im Lande sollten wir nicht immer als erstes nach der staatlichen solche Produkte herzustellen, hängt zum Teil mit der Keule rufen, wenn auch andere Methoden mit großer Zusammenarbeit mit solchen Ländern zusammen. Wahrscheinlichkeit zum Ziel führen können. Der Export von Spielwaren stellt im übrigen auch einen Teil der Entwicklungsmöglichkeiten des Ent- Anläßlich des Besuches des chinesischen Minister- wicklungslandes China dar. präsidenten Li Peng im Juli 1994 in der Bundesrepu- blik Deutschland haben eine Reihe Kollegen meiner In Ihrem Antrag sprechen Sie von einem Hong- Fraktion auf den jetzt im Antrag von Bündnis 90/Die kong Toy Center. Ich nehme an, daß Sie damit den Grünen zum Ausdruck kommenden Sachverhalt hin- Hongkong Trade Development Council meinen. Das gewiesen. In dem damals verfaßten Appell heißt es ist aber kein Handelshaus, wie von Ihnen dargestellt unter anderem: wurde, sondern ein reines Informationszentrum. Es werden also diese Waren von deutschen Importeuren Wir fordern deutsche Firmen, die mit China han- in Hongkong nicht anonym gekauft, so daß sie gar deln, auf, sicherzustellen, daß die von ihnen aus nicht wissen, wer der Erzeuger ist, sondern es gibt China bezogenen Waren nicht in Sklavenarbeit schon die Rückkopplung zu den Betrieben. hergestellt werden. Andernfalls müssen solche Waren von der Bevölkerung boykottiert werden. Wenn jemand wie Harry Wu auftritt und- Aussagen macht, dann läßt uns das nicht gleichgültig, weil ich Der Antrag, den Bündnis 90/Die Grünen hier vor- nicht davon ausgehe, daß sich Harry Wu vor irgend- gelegt hat, wird ja heute nicht entschieden, sondern einen Karren spannen läßt und diese Aussagen nur zur Beratung an die Ausschüsse überwiesen. Ich benutzt, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen. wäre dankbar, wenn die Bundesregierung für diese Wenn er sagt, es gebe bei den amerikanischen Zoll- Beratungen zusätzliche Informationen vorlegen behörden Informationen, aus denen man ersehen könnte, die eine differenzie rte Beurteilung chinesi- könnte, welche Produkte in Straflagern hergestellt scher Exporte nach Deutschland möglich machen. In würden, dann ist es die Sache we rt , diesen Dingen der Zwischenzeit sollten Sie, liebe Kolleginnen und nachzugehen, obwohl es schwierig bleibt - das Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen aber auch haben Sie auch gesagt, Frau Grießhaber -, zu unter- nicht alle Spielwareneinfuhren deutscher Importeure scheiden - - pauschal verdächtigen, wie es zum Teil in den Pres- severöffentlichungen durchklang. Allein die Tatsa- (Rita Grießhaber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ che, daß Sie sagen, es handele sich um 1 Milliarde NEN]: Die Liste kann ich Ihnen gern zur DM - so war das den Presseberichten zu entnehmen -, Verfügung stellen!) läßt ja alles in einem Topf landen, und wir sind uns - Der Lager? sicherlich darüber einig, daß nicht das ganze Impo rt -volumen, wenn es denn so ist, aus Straflagern (Rudolf Bindig [SPD]: Und der Firmen!) kommt. - Es bleibt die Tatsache, daß es schwierig ist, im Ein- Ich sage für meine Fraktion, daß wir dieser Sache zelfall zu unterscheiden, woher die Produkte kom- ordentlich nachgehen wollen. Ich glaube nicht, daß men. so viel Sprengstoff darin steckt, wie Sie öffentlich Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6531

Erich G. Fritz dargestellt haben, aber es lohnt sich allemal wegen moralisch und menschenrechtlich verwerflich und des Einsatzes für die Betroffenen und do rt Inhaftier auch wirtschaftlich falsch. ten, der Sache mit aller Ernsthaftigkeit nachzugehen. (Beifall des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) Danke schön. Produkte aus Zwangs- und Kinderarbeit sind nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Erzeugnisse wirtschaftlicher Produktion, sie sind Ergebnisse von Willkürherrschaft, Macht und Aus- beutung. Noch stärker als der Ruf nach Sozial- und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Ökoklauseln muß im Außenhandel der Ruf gegen jetzt der Abgeordnete Rudolf Bindig. den Handel mit Produkten aus Gefängnisarbeit unter Sklavenarbeitsbedingungen erfolgen. Rudolf Bindig (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Um es präziser herauszuarbeiten und auch zu Kolleginnen und Kollegen! In bezug auf China unterscheiden, da ja auch in Europa und in Deutsch- haben wir uns in der letzten Woche mit der Frage land in Vollzugsanstalten gearbeitet wird: Es geht beschäftigt, was die Politik tun darf und was sie um die Art der Sklavenarbeit im Laogai und um die unterlassen muß, um Außenhandel zu fördern, und Rechtlosigkeit der Menschen im Laogai. wo die Grenzen der Politik sind, wenn es um Außen- handel und Außenwirtschaft geht. Heute behandeln Die Bundesregierung hat sich dieser Thematik bis- wir die Frage, was Außenhandel und Außenwirt- her nicht hinreichend angenommen. Schon vor Jah- schaft tun dürfen und was sie unterlassen müssen, ren haben wir die Bundesregierung gedrängt, nach wenn es um Menschenrechte geht. dem Vorbild der amerikanisch-chinesischen Verein- barung aus dem Jahre 1992 auf eine deutsch-chinesi- Es geht um den chinesischen Archipel GULag, das sche Vereinbarung zum Verbot des Ex- und Impo rtes Laogai-System. Laogai ist die chinesische Va riante von in Zwangsarbeit hergestellten Produkten hinzu- des Unterdrückungsmechanismus, dessen sich totali- wirken. Die Bundesregierung hat behauptet, daß in täre politische Systeme bedienen, um politische Dis- Zwangsarbeit hergestellte Produkte aus der Volksre- sidenten und Andersdenkende zu eliminieren und zu publik China bisher auf dem deutschen Markt nicht disziplinieren, um die eigene Macht zu konsolidieren nachgewiesen werden konnten. Das Gegenteil ist und zu erhalten. richtig. So einfach kann es sich das Wirtschaftsmi- nisterium mit der angeblichen Nichtnachweisbarkeit Laogai-Lager - „Reform-durch-Arbeit"-Lager - nicht machen. gibt es in China in verschiedenen Varianten: als Gefängnis, als Lager zur Umerziehung durch Arbeit, (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ als Jugendstrafmaßnahme, als Psychiatriehospital DIE GRÜNEN) oder als Gefangenenlager, wo Insassen auch ohne jedes Urteil oder nach dem eigentlichen Strafvollzug Wer die Augen verschließt, wird auch nichts sehen. zur Zwangsarbeit herangezogen werden. Die Men- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen dort arbeiten ohne Lohn, sie leiden Hunger, DIE GRÜNEN) werden geprügelt und gefoltert. Als Produkte, die in chinesischen Zwangsarbeitsla- In besonders bösartiger und brutaler Weise sind im gern hergestellt worden sind, konnten eindeutig in Laogai-System die Mißachtung der Menschenwürde Deutschland Graphit, Textilien, Werkzeuge und und der Menschenrechte mit der Absicht der chinesi- eben Kinderspielzeug identifiziert werden. schen Machthaber verbunden, aus der Ausbeutung von Menschen wirtschaftlichen Nutzen- zu ziehen. Waren die Laogai-Lager zunächst in erster Linie Teil Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, - - des Macht- und Unterdrückungsapparates der Dikta- tur des Proleta riats mit dem Ziel, Menschen zur Rudolf Bindig (SPD): Wir haben deshalb den Bun- Arbeit zu zwingen, um sie in neue, „sozialistische" deskanzler vor seiner Reise nach China noch einmal Menschen zu verwandeln, so dienen die Laogai- ausdrücklich schriftlich auf die mehr als 1 000 Laogai- Lager nach den ökonomischen Reformen in China in Camps hingewiesen. Die meisten dieser Lager wer- erster Linie dem Ziel, Geld und Devisen zu verdie- den unter zwei unterschiedlichen Namen geführt, nen. unter einem Gefängnisnamen und einem Firmenna- men. Die Palette der Produkte, die in diesen Lagern in Zwangsarbeit hergestellt werden, ist breit, Kinder- spielzeug nur ein Teil. In den Straf- und Gefangenen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, lagern werden erzeugt: Tee, Werkzeuge, Textilien, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Chemikalien, Mineralien, Rohstoffe und eben jenes Irmer? Kinderspielzeug aus Plüschwaren und Modellautos aus Metall und Kunststoff. Rudolf Bindig (SPD): Ja. Handel kann und darf nicht so weit gehen, daß es ihm gleichgültig ist, unter welchen Bedingungen die Ulrich Irmer (F.D.P.): Danke schön. - Herr Kollege Produkte, die in Deutschland und Europa verkauft Bindig, ich finde Ihre Ausführungen außerordentlich werden, produziert werden. Der Handel mit Waren interessant und hörenswert. Ich will Sie nur folgen- aus dem Laogai-System ist gleichermaßen ethisch, des fragen: 6532 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 Ulrich Irmer Sie schlagen vor, daß man mit den Chinesen eine besuche in den Produktionsstätten möglich sind, Vereinbarung treffen sollte, wonach die in Zwangsar- zeigt das bereits erwähnte Abkommen, welches die beit hergestellten Güter nicht importiert werden USA mit der Volksrepublik China geschlossen dürften. Wie ist das aber, da die Chinesen doch die haben. Existenz dieser Lager leugnen, machbar? Sie werden ja wohl nicht bereit sein, eine Vereinbarung zu tref- Natürlich können auch die Verbraucher ihre fen, in der sie dann zumindest indirekt zugeben wür- Macht einsetzen und Waren aus chinesischer den, daß es diese Lager gibt. Zwangsproduktion boykottieren. (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) Rudolf Bindig (SPD): Sie werden staunen, aber es Dies setzt allerdings voraus, daß sie die Produkte gibt eine Vereinbarung zwischen den USA und der kennen und erkennen. chinesischen Regierung, ein Memorandum of Under- standing on Prohibiting Import and Export Trade in Mehr Möglichkeiten hat da schon der Handel Prison Labour Products. Dieses Abkommen geht selbst. Dieser sollte selbstkritisch und differenzie rt sogar so weit, daß die Chinesen es in Zweifelsfällen der Frage nachgehen, wo und wie die Produkte erlauben, daß die Produktionsstätten der Waren erzeugt werden. Wer wie der Gesamtverband des inspiziert werden. Wenn man nur will, kann man so deutschen Spielwarengroß- und -außenhandels pau- etwas vereinbaren, und das sogar mit den Chinesen. schal den Vorwurf zurückweist, daß auch nach Deutschland importierte Spielwaren in chinesischen Sie leugnen es offen, aber intern wissen sie natür- Straflagern gefertigt werden, erweist der eigenen lich, daß die Sache anders aussieht. Branche einen schlechten Dienst. Etliche Spielwaren (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Danke schön!) sind als Produkte aus Zwangsarbeitslagern identifi- ziert. Die Bundesregierung sollte hier im Bundestag Rechenschaft darüber ablegen, ob und was sie mit Der Handel sollte lieber mit den Verbrauchern und den chinesischen Staatshandelspartnern im Hinblick Menschenrechtsorganisationen zusammenarbeiten auf den Handel mit Produkten aus dem Archipel Lao und nach dem Beispiel der Rugmark - als Zeichen gai besprochen und vereinbart hat. Oder müssen wir der Produktion für Teppiche ohne Kinderarbeit - ein befürchten, daß diese Frage gar nicht behandelt wor- Signum schaffen, welches sicherstellt, daß die Pro- den ist und daß der Kanzler der falschen Symbole, dukte nicht aus dem Laogai stammen. nachdem er bereits das besetzte und unterdrückte Harry Wu, der 19 Jahre in chinesischen Arbeitsla- Tibet und die chinesische Volksbefreiungsarmee gern verbrachte und die Weltöffentlichkeit über die besucht hat, nächstes Mal auch noch eine der Han- schrecklichen Zustände im Laogai informiert hat, hat delsfirmen besuchen wird, welche für den Vertrieb in eindringlicher Weise den Handel aufgefordert, von Chinas Waren aus Straflagern zuständig ist? auch von sich aus tätig zu werden. Ich zitiere Harry Wu: Maßnahmen gegen den Impo rt von Produkten aus den chinesischen Zwangsarbeitslagern nach Wenn Du Geschäfte machst, chinesische Pro- Deutschland können auf verschiedenen Wegen dukte kaufst und wenn Du herausfindest, daß ergriffen werden. Ich hatte eben schon erwähnt, daß diese Produkte hergestellt werden unter Tränen es in den USA, aber auch in Großbritannien, durch und Blut, daß die Leute leiden, daß die Leute zur den Foreign Prison-made Goods Act von 1897 übri- Arbeit gezwungen werden wie Sklaven, und Du gens schon ein gesetzliches Importverbot für Pro- machst Profit, dann verstößt dies gegen die Men- dukte aus Gefangenenarbeit gibt und daß große US- schenrechte, gegen Deine eigenen Prinzipien. Unternehmen dazu übergegangen sind, in- Verträgen Du solltest es sein lassen. Du unterstützt ein Skla- mit chinesischen Partnern die Klausel „no forced vensystem. Und heute leben acht Millionen Men- labour products" aufzunehmen. schen in diesem Gulagsystem. Das solltest Du nicht machen. Die Regeln des GATT bzw. der WTO sehen in Art. 20e vor, daß keine Vertragspartei daran gehin- Politik, Handel und Verbraucher sollten gemein- dert ist - und jetzt wörtlich -, sam das Laogai-System bekämpfen, damit solche schrecklichen inhumanen Praktiken so schnell wie Maßnahmen zu beschließen oder durchzufüh- möglich aufhören zu existieren und nie wiederkeh- ren ... hinsichtlich der in Strafvollzugsanstalten ren. In diesem Geist sollten wir den Antrag in den hergestellten Waren. Ausschüssen weiter beraten. Wer handeln will, kann also handeln und Instru- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE mente nutzen. GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Bei den gerade wieder aktualisierten Verhandlun- jetzt der Abgeordnete Jürgen Türk. gen über die Heranführung der Chinesen an die Regeln der WTO könnten Vereinbarungen über die Jürgen Türk (F.D.P.): Sehr geehrte Frau Präsiden- Nichtzulässigkeit des Handels mit Waren aus chine- tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abschaf- sischen Arbeitslagern getroffen werden. Daß mit der fung der Sklaverei, die Gewährleistung der Erzie- chinesischen Seite sogar Regelungen über Kontroll- hung für alle Menschen, Versammlungsrecht und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6533 Jürgen Türk freie Meinungsäußerung aller gehören zu den Forde- Ich möchte die Bundesregierung mit Nachdruck rungen, für die sich Liberale weltweit einsetzen. auffordern, jedem konkreten Nachweis nach dem Import - und zwar jeglicher Waren - aus chinesi- (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) schen Arbeitslagern nachzugehen und zu überprü- Die Durchsetzung dieser Forderungen muß nicht nur fen. Falls sich der Verdacht bewahrheitet, muß die im Rahmen der Handelspolitik, sondern auf allen Bundesregierung umgehend die Europäische Union politischen Ebenen verfolgt werden. zum Handeln zwingen. Diese ist zuständig für die Handelspolitik. Deutschland allein kann hier tatsäch- Freiheit ist nicht teilbar in bürgerliche und wirt- lich nichts bewirken. schaftliche Freiheit. Ich glaube, darin sind wir uns einig. Ein solches Importverbot wäre im übrigen auch GATT-konform. Wie das heute schon gesagt wurde, Frau Grießhaber, ich teile Ihr Anliegen, aber wir ist im Art. XX Abschnitt e des GATT ein Exportver- müssen uns an Fakten halten. Die Bundesregierung bot für Waren festgelegt, die in Strafvollzugsanstal- hat mir mitgeteilt, daß sie geprüft hat, ob die Pro- ten hergestellt werden. China ist zwar noch kein Mit- dukte, die in chinesischen Gefängnissen und glied des GATT bzw. der Welthandelsorganisation, Arbeitslagern hergestellt werden, in die Bundesrepu- es bemüht sich jedoch, wie bekannt ist, seit längerem blik eingeführt werden. Belastbare Beweise hierfür um einen Beitritt. Für die Liberalen ist unabdingbare hat sie bisher nicht vorgefunden. Bedingung für diesen Beitritt, daß China die Rege- lungen zur Sanktion von Produkten aus Strafvoll- Deutschland hat bei mehreren Gelegenheiten dar- zugsanstalten akzeptiert. auf hingewiesen, daß es Einfuhren aus Straflagern nicht hinnehmen werde. Dies ist auch bei der China Erstes Ziel der Liberalen ist es, die Lebensverhält- Reise des Bundeskanzlers wieder zur Sprache nisse in China - damit ist nicht nur Wohlstand, son- gekommen. Die chinesische Regierung hat jedes Mal dern auch Demokratie gemeint - dauerhaft zu ver- eindeutige Erklärungen abgegeben - zugegeben: bessern. Dazu trägt die Öffnung der Märkte für Han- Papier ist geduldig -, daß Expo rte aus Straflagern del sicher bei, natürlich ohne Produkte aus Gefange- streng verboten sind. Auch der BND bestätigt, daß nenlagern. der Export von Erzeugnissen aus Straflagern in China ausdrücklich verboten ist. Die in Arbeitslagern Auch ich bin dafür, daß wir Ihren Antrag in den hergestellten Produkte gingen zu etwa zwei Dritteln Ausschuß überweisen. in den Eigenbedarf und zum restlichen Drittel in den chinesischen Binnenmarkt. Vielen Dank.

Man kann zwar vermuten, daß solche Produkte als (Beifall bei der F.D.P.) Zulieferungen von exportberechtigten Handelsge- sellschaften gekauft und nach Weiterverarbeitung exportiert werden, zolltechnische Recherchen - die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zur Kurzinter- sind gemacht worden, auch durch die USA - haben vention erhält der Kollege Schmitt das Wort. aber keine Nachweise erbracht.

Diese Berichte sind sicherlich aus dem Blickwinkel Wolfgang Schmitt (Langenfeld) (BÜNDNIS 90/DIE der Menschenrechtsproblematik nicht ganz befriedi- GRÜNEN): Herr Kollege Türk, Sie haben die Initia- gend, auch nicht für mich. Sie bieten aber auch kei- tive meiner Fraktion als populistisch bezeichnet. Sie nen Hebel, um die Verhältnisse in den chinesischen - hätten recht, wenn wir mit Hilfe dieser Initiative an Arbeits- und Straflagern zu verbessern. Dem Kinder- dumpfeste Ressentiments in der deutschen Bevölke- spielzeug sieht man es nicht an, daß es aus Strafla- rung appelliert hätten. Aber das ist hier nicht der gern kommt. Fall. Diese Initiative hat den Anspruch, populär zu Bei allem Verständnis für den chinesischen Bürger- sein, weil wir der Auffassung sind, daß es innerhalb rechtler Harry Wu: Der Antrag, liebe Frau Grießha- der deutschen Bevölkerung ein weitverbreitetes ber, ist ziemlich populistisch. Es wird genutzt, daß Rechts- und Unrechtsempfinden gibt. Ich halte es für der Aufruf zum Boykott von Kinderspielzeug aus redlich, wenn politische Parteien jedweder Couleur China gerade in der Vorweihnachtszeit ein größeres an das Rechtsempfinden der deutschen Bevölkerung öffentliches Interesse hat. appellieren, wenn es darum geht, Unrecht nicht nur hier in der Bundesrepublik, sondern auch im Aus- Meiner Meinung nach ist er auch zu pauschal, land anzuprangern, und wenn man in dem gleichen denn bei konkretem Nachweis müßten aus morali- Antrag auch appelliert, daß die Verbraucherinnen schen Gründen alle Produkte aus chinesischen und Verbraucher von ihrer eigenen Souveränität Arbeitslagern mit einem Importverbot belegt wer- Gebrauch machen und darüber nachdenken, daß der den, nicht nur Kinderspielzeug. Da müssen wir schon Kauf von Waren möglicherweise damit verbunden konsequent sein. sein kann, daß anderenorts durch Unrechtssysteme Menschen unterdrückt werden. Deswegen sage ich Ohne konkretere Nachweise trifft ein solcher Boy- es noch einmal deutlich: Es mag eine populäre Initia- kott alle Produzenten von Kinderspielzeug, vielleicht tive sein. Den Beg riff des Populismus weise ich aller- kleine und mittlere Unternehmen, in denen erste dings mit Entschiedenheit zurück. Ansätze von bürgerlicher Freiheit und Demokratie erarbeitet werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 6534 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat den. Das wollte ich betonen. Dies geschieht auch in jetzt der Abgeordnete Willibald Jacob. unserem Lande. (Wolfgang Schmitt [Langenfeld] [BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der rote (PDS): Frau Präsidentin! Meine Dr. Willibald Jacob Nolte! - Zuruf des Abg. Rudolf Bindig Damen und Herren! Bevor ich mich an der Diskus- [SPD]) sion um Menschenrechte beteilige, möchte ich sagen, daß mir heute in der Debatte um das Miet- - Jetzt geht es aber um die Dinge, die heute gesche- recht deutlich geworden ist, daß auch Demokraten hen. Menschenrechte verletzen können. In einer Warenwelt werden auch Menschenrechte (Widerspruch bei der CDU/CSU - Zuruf von zur Ware, und ihr Marktwert steigt oder fällt umge- der CDU/CSU: Das ist ein hartes Wo rt ! - kehrt proportional zum Marktwert des Landes, in Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie wis dem sie verletzt werden. Im Falle Kubas zum Beispiel sen wahrscheinlich gar nicht, was Men steigt ihr Marktwert, weil Kuba nur geringen Markt- schenrechte sind!) wert besitzt. Im Falle Chinas fällt ihr Marktwert, weil in China wirtschaftlich etwas zu machen ist und ein Für mich persönlich ist das, was hier geschieht, riesiger Markt vorhanden ist. Der Besuch des Bun- ebenso wie das, was Menschen in Deutschland, ins- deskanzlers in China - das haben viele schon gesagt - besondere in Ostdeutschland angetan wird, eine hat deutlich gemacht, welchen Marktwert China hat. Menschenrechtsverletzung. Es ist doch nicht mög- Ich kann nur unterstreichen, was die Fraktion Bünd- lich, daß wir immer nur über andere reden. Wir hät- nis 90/Die Grünen formuliert hat; der Ausschuß wird ten vielmehr auch einmal zurückzufragen, in wel- es beraten und sorgfältig prüfen müssen. Ich zitiere: chen Strukturen und Zusammenhängen wir auf eine Die Einforderung von Menschenrechten läßt sich ganz diffizile bürgerliche A rt und Weise Menschen- nicht auf das - notwendige - Überreichen von rechte verletzen. Listen mit ausgesuchten Namen und die Über- prüfung von Einzelschicksalen als Beiwerk mil- Ich kann Arbeitslager und Zwangsarbeit in China liardenschwerer Wirtschaftsverträge reduzieren. nicht gutheißen, egal, was do rt hergestellt wird. Wir rtschaftspolitik und Menschenrechtspolitik können aber ebensowenig über die Zwangsarbeit Wi von Strafgefangenen in Ketten in westlichen Län- sind nicht zu trennen. dern hinweggehen, worüber erst jüngst die Medien Ich frage: Was bedeutet das für die Bundesregie- aus den USA berichteten. rung? Heißt das, wie überall erfahrbar, sich den Marktmechanismen zu beugen und nur von Fall zu Fall Menschenrechte einzuklagen? Wird da nicht in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, falscher Weise auf die gewachsene inte rnationale gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Grieß- Verantwortung der Bundesrepublik gepocht, aber haber? bezeichnenderweise immer an der falschen Stelle? Das Kinderspielzeug aus China ist nur ein aktuelles Beispiel für die Doppelmoral der Bundesregierung in Dr. Willibald Jacob (PDS): Ja, bitte sehr. Sachen Menschenrechte. Bei gründlicher Beantwor- tung der Anfrage der PDS zu China werden mögli- cherweise noch andere „Spielsachen" zutage treten, so wie es schon von einigen dargestellt worden ist. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.-

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihre Redezeit ist leider abgelaufen. Herr Kollege, ich wollte Sie fragen: Wollen Sie ernst- haft Probleme, die Sie beim Mietsystem sehen, mit (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Nicht nur die Rede dem vergleichen, was in chinesischen Zwangsar- zeit, Frau Präsidentin!) beitslagern passiert? Ich frage Sie: Wollen Sie ernst- haft Situationen, wenn in westlichen Demokratien im Dr. Willibald Jacob (PDS): Ich denke, es muß ein Gefangenensystem irgendwelche Ungerechtigkeiten Importverbot erwogen werden, um Zeichen zu set- passieren, mit dem vergleichen, was in China unter zen. Gleichzeitig sollten wir wachsamer werden im dem dortigen Regime in den Zwangsarbeitslagern Blick auf Menschenrechtsverletzungen im eigenen passiert? Ist es Ihr Ernst, daß Sie solche Vergleiche Lande und in der westlichen Welt. hier anstellen wollen? Ich danke Ihnen. (Zuruf von der F.D.P.: Frau Grießhaber, das rich Irmer [F.D.P.]: will er tatsächlich! Das ist ihm ernst!) (Beifall bei der PDS - Ul Unglaublich! - Zuruf von der CDU/CSU: Wie kann man da klatschen?) Dr. Willibald Jacob (PDS): Es ist mir insofern Ernst, als der Vergleich auch Unterschiede zutage fördern Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu kann und wird. Das, was Menschen an sich selbst einer Antwort auf die Kurzintervention erhält der erfahren, wird als Verletzung ihrer Rechte empfun- Kollege Türk. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6535

Jürgen Türk (F.D.P.): Lieber Kollege Schmitt von tende Berichte deutscher Medien als unwahr zurück- den Grünen, ich will es wirklich kurz machen: Ich gewiesen. ziehe den Beg riff „populistisch" zurück. Es ist hier gesagt worden: Den Erzeugnissen ist (Lisa Peters [F.D.P.]: Da müßt ihr einmal nicht anzusehen, wo sie produziert wurden. Die Bun- klatschen! - Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE desregierung braucht aber belastbare und be- GRÜNEN - Ulrich Irmer [F.D.P.]: Alles weiskräftige Angaben, daß Produkte aus chinesi- Ehrenmänner hier, die Frauen eingeschlos schen Straflagern in die Bundesrepublik exportiert sen!) werden.

Ich finde, bei so Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie etwas kann man tatsächlich klatschen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: eine Zwischenfrage des Kollegen Bindig? (Beifall im ganzen Hause)

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatsse- Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- kretär Dr. Heinrich Kolb. desminister für Wirtschaft: Ja, bitte sehr, Herr Bindig.

Parl. Staatssekretär beim Bun- Dr. Heinrich L. Kolb, Rudolf Bindig (SPD): Herr Staatssekretär, sind desminister für Wirtschaft: Frau Präsidentin! Liebe Ihnen die sehr guten und sorgfältig gemachten Kolleginnen und Kollegen! Es gibt sicher keinen Recherchen des Westdeutschen Rundfunks bekannt, Abgeordneten dieses Hohen Hauses, der einen welche mit Hilfe von Filmen bewiesen haben, daß Import von Kinderspielzeug oder anderen Waren aus Produkte - ich nenne als Beispiel Graphit -, die in chinesischen Arbeitslagern gutheißen würde. Dies einer chinesischen Mine, die zum Laogai gehört, her- tut auch die Bundesregierung nicht. Ganz im Gegen- gestellt worden sind, in deutschen Firmen verarbeitet teil hat sich die Bundesregierung immer unzweideu- werden, und wissen Sie, daß diese Recherchen auch tig in dieser Frage geäußert. Ich bin überzeugt, daß für andere Produkte die Kette geschlossen und ent- es bei uns - dabei beziehe ich auch alle mir bekann- sprechende Nachweise erbracht haben? Warum ver- ten Wirtschaftsvertreter mit ein - niemanden gibt, lassen Sie sich dann immer auf die Aussagen der der insoweit die Notlage der Menschen ausnutzen Regierung in China und gehen solchen vorliegenden will, die in solchen Lagern unter schwierigsten Tatsachenbeweisen nicht stärker nach? Umständen leben. Wir haben auch die chinesische Regierung nicht über unsere Überzeugung im unklaren gelassen. Die Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- Bundesregierung hat vielmehr immer wieder die sich desminister für Wirtschaft: Herr Kollege Bindig, ich bietenden Gelegenheiten genutzt, die chinesische habe gesagt und bleibe dabei: Wir brauchen belast- Regierung darauf hinzuweisen, daß wir Expo rte aus bare, beweiskräftige Angaben. Wir haben Gelegen- Arbeitslagern nicht dulden können. Die chinesische heit - ich fordere Sie auf, diese zu nutzen -, uns in Regierung hat allerdings ebensooft kategorisch der Ausschußberatung zum Beispiel mit den von bestritten, daß Erzeugnisse aus chinesischen Arbeits- Ihnen angeführten Beweisen - Recherchen des lagern exportiert werden. In der Tat kann die chinesi- WDR - zu befassen. Dazu sind wir selbstverständlich sche Regierung hieran auch kein Interesse haben; bereit. denn China bemüht sich bekanntlich seit längerem Aber ich sage noch einmal: Damit wir handeln - um einen Beitritt zur WTO. Ein WTO-Beitritt, der können, brauchen wir belastbare, beweiskräftige auch von uns befürwortet wird, setzt aber zwingend Angaben. Ich denke, daß wir uns im Ausschuß ent- voraus, daß das in A rt . XX Abschnitt e des GATT sprechend unterhalten können. Sie müßten dann festgelegte Exportverbot für Waren aus Strafvoll- allerdings die entsprechenden Materialien mitbrin- zugsanstalten anerkannt und beachtet wird. Ich gen. kann mir nicht vorstellen - es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür -, daß China seinen bevorste- (Rudolf Bindig [SPD]: Sie suchen nicht henden WTO-Beitritt durch eine Mißachtung des selbst! Deshalb finden Sie auch nichts!) Art. XX des GATT leichtfertig aufs Spiel setzen sollte. Eine Mißachtung des Exportverbotes von - Das ist nicht der Fall, Herr Kollege Bindig; im Sträflingsprodukten würde darüber hinaus die den Gegenteil. Ich will Ihnen sagen, daß wir zolltechni- Chinesen von der amerikanischen Regierung einge- sche Recherchen angestellt haben. Jedoch haben räumte Meistbegünstigungsklausel gefährden. auch diese kein anderes Resultat gebracht. Anfragen der Bundesregierung bei den Verbänden der deut- Nur etwa 5 000 Außenhandelsgesellschaften sind schen Wirtschaft und bei einzelnen deutschen Unter- in China überhaupt zum Export berechtigt. Hierzu nehmen haben ebenfalls keine konkreten, belastba- zählen selbstverständlich nicht die Straflager. Nach ren Hinweise ergeben. Wir haben allerdings nicht unseren Erkenntnissen hat die chinesische Regie- alle deutschen Rundfunk- und Fernsehanstalten rung den Export von Gefängnisprodukten sogar angerufen und abgefragt. Das räume ich ein. strikt untersagt. Dies hat beim jüngsten Besuch des Bundeskanzlers in China die Außenhandelsministe- (Rita Grießhaber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ rin Wu Yi gegenüber Bundesminister Dr. Rexrodt NEN]: Warum werden denn dann die Ame ausdrücklich bestätigt. Sie hat im übrigen anderslau- rikaner fündig?) 6536 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb - Frau Kollegin Grießhaber, ich biete doch ausdrück- lung der nationalen und internationalen Maßnahmen lich an, daß wir uns im Ausschuß mit allem, was vor- zum Schutz der Ozonschicht auf Drucksache 13/3158 liegt, auseinandersetzen. Das wollen wir gerne tun. zu erweitern. Eine Anhörung des amerikanischen Menschen- Der Antrag soll gleich in verbundener Beratung rechtlers Harry Wu im Auswärtigen Amt am mit Tagesordnungspunkt 9 behandelt werden. Sind 28. November - also vor zwei Tagen - hat nach den Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist mir hier vorliegenden Berichten insoweit ebenfalls so beschlossen. keine beweiskräftigen Fakten erbracht, sondern Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b lediglich die Wiederholung der seit langem in allge- sowie den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 5 auf: meiner Form vorliegenden Anschuldigungen. 9. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, um es Dr. Liesel Hartenstein, Michael Müller ganz deutlich zu sagen: Die Bundesregierung geht (Düsseldorf), Dr. Bodo Teichmann, weiterer gleichwohl jedem konkreten Hinweis nach und wird, Abgeordneter und der Fraktion der SPD falls sich solche Hinweise als zutreffend erweisen sollten, die chinesische Regierung um Abhilfe bitten. Schutz der stratosphärischen Ozonschicht Sie wird zusammen mit ihren westlichen Pa rtnern die und Bekämpfung des anthropogenen Situation auch weiterhin sehr genau beobachten. Die Treibhauseffektes durch Beendigung des Europäische Union hat im übrigen ebenfalls deutlich Einsatzes von FCKW gemacht, daß sie Exporte aus Straflagern - falls es - Drucksache 13/2498 — solche geben sollte - nicht hinnehmen kann. Überweisungsvorschlag: Ein für solche Importe - das ist ja Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Einfuhrverbot heit (federführend) Gegenstand des Antrages - würde ohnehin, auch bei Ausschuß für Wirtschaft konkreten Hinweisen, Frau Kollegin Grießhaber, Ausschuß für Gesundheit nicht national von uns, sondern nur durch die Euro- Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- päische Union verhängt werden können. Die Bun- wicklung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen desregierung wird nicht zögern, dies in Brüssel zu Union beantragen, falls es beweiskräftige, belastbare Hin- weise über Importe aus Straflagern gibt. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaele Hustedt, Dr. Jürgen Rochlitz, Vera Ich möchte an dieser Stelle doch noch einmal eines Lengsfeld, weiterer Abgeordneter und der aufgreifen. Der Verband der deutschen Spielwaren- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN industrie, in dem Mitgliedsfirmen zusammenge- schlossen sind, die einen Marktanteil von 85 Prozent Maßnahmen zum Schutz der Ozonschicht in Deutschland haben, wird eine Selbstverpflichtung - Drucksache 13/3125 — eingehen, keine Produkte zu importieren, die in Überweisungsvorschlag: Zwangs- oder Kinderarbeit hergestellt wurden. Dies Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- soll durch entsprechende Vertragsbedingungen in heit (federführend) den Verträgen mit den Lieferanten sichergestellt Ausschuß für Wirtschaft werden. Ich glaube, wir sollten darüber nachdenken, Ausschuß für Gesundheit daß das auch ein guter Weg sein kann, um unserem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung gemeinsamen Anliegen Rechnung zu tragen. Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ZP5 Beratung des Antrags der Fraktionen der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) CDU/CSU und F.D.P. Weiterentwicklung der nationalen und in- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe ternationalen Maßnahmen zum Schutz der damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei- Ozonschicht sung der Vorlage auf Drucksache 13/3054 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- - Drucksache 13/3158 - schlagen, wobei es nach einer Vereinbarung unter Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für den Geschäftsführern nicht zu einer Überweisung an die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vor- den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und gesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so Jugend kommen soll. beschlossen. Als federführender Ausschuß ist der Ausschuß für Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat zunächst Wirtschaft vorgesehen, außerdem soll die Vorlage die Abgeordnete Liesel Hartenstein. dem Auswärtigen Ausschuß und dem Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union zur (SPD): Frau Präsidentin! Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit ein- Dr. Liesel Hartenstein Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Wien hat vor verstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlos- wenigen Tagen die 7. Nachfolgekonferenz zum sen. Montrealer Protokoll über den Schutz der Ozon- Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tages- schicht begonnen. Diese Konferenz wäre - ich hoffe, ordnung um die Beratung des Antrags der Fraktio- sie ist es - eine hervorragende Chance, um endlich nen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Weiterentwick- den Gebrauch der ozonzerstörerischen FCKWs und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6537

Dr. Liesel Hartenstein H-FCKWs zu stoppen, um endlich einen Durchbruch Zweite Forderung: Für das schon genannte zu erreichen. Methylbromid, das ein mehrfach höheres Ozonzer- störungspotential als die FCKW hat, muß unbedingt Wenn nämlich die fortdauernde Ausdünnung der ein Sofortverbot ausgesprochen werden. Das ist Ozonhülle anhält, dann führt die Menschheit nicht unsere vorrangige Forderung. nur einen Krieg gegen die Natur, sondern auch einen Krieg gegen sich selbst. Das ist leider keine Übertrei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bung. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Die Konferenz fällt in einen Zeitraum, in dem der PDS) Ozonschwund höchst dramatische Ausmaße ange- In Deutschland wurden nach dem 3. Ozonbericht der nommen hat. Im Oktober hat das Ozonloch über der Bundesregierung noch jährlich 100 Tonnen Methyl- Antarktis die doppelte Größe Europas erreicht und ist damit weitaus größer geworden als in den beiden bromid auf die Felder ausgebracht. Dafür gibt es unseres Erachtens keinerlei stichhaltige Begründung Jahren zuvor. Auch über der Nordhalbkugel ist die mehr. Ozonhülle zeitweise bis zu 60 Prozent ausgedünnt. Das ist ein noch nie dagewesener Negativrekord, der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE weltweit aufrütteln sollte. GRÜNEN und der PDS) Es gibt also Grund genug, schleunigst zu handeln. Ein weiteres Zögern und Taktieren ist angesichts der Eine nur schrittweise Reduktion, wie sie leider auch enormen Gefahren nicht mehr zu rechtfertigen. Ich die EU-Kommission vorschlägt, ist nicht akzeptabel. habe allerdings den Eindruck, daß die Bundesregie- Als drittes fordern wir die Aufstockung des Multi- rung den Handlungsdruck nicht richtig einschätzt lateralen Fonds. Wir halten dies für unerläßlich; und daß sie mit sehr wenig präzisen Vorstellungen denn dieser Fonds soll den Entwicklungsländern, nach Wien gegangen ist. Weder ihre Erklärung im insbesondere den bevölkerungsreichsten Ländern Umweltausschuß noch der vorliegende Antrag der Indien und China, die Umstellung auf ozonunschäd- Koalition lassen darauf schließen, daß die Gefahr liche Ersatzstoffe erleichtern. Wir halten deshalb eine wirklich erkannt ist. Verdoppelung der Mittel nicht nur für angebracht, Sie setzen weiterhin auf Selbstverpflichtung der sondern auch für erforderlich. Industrie. Sie haben nicht einmal den Mut, das hoch- schädliche Pestizid Methylbromid sofort aus dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verkehr zu ziehen. Das ist schwer verständlich. Was DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der in Holland möglich ist - do rt ist es verboten -, das PDS) muß doch auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland möglich sein. Denn anders werden die Entwicklungsländer nicht für eine Fristverkürzung zu gewinnen sein. Sie, lie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ber Kollege Lippold, werden uns nun sofort sagen: DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre finanziel- PDS) len Verpflichtungen erfüllt. - Das ist richtig, und das soll auch anerkannt werden. Die SPD-Fraktion hat rechtzeitig im September einen Antrag vorgelegt, der die notwendigen Maß- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nahmen benennt. Ich will nur vier vordringliche Punkte herausgreifen. Sie werden gleichzeitig sagen: Andere Industrielän- der sind säumige Zahler. Auch das ist mir bekannt. Erstens brauchen wir eine drastische Verkürzung- Von der für die Zeit bis 1996 vereinbarten Summe der Ausstiegsfristen und eine strikte Begrenzung fehlen immer noch 124 Millionen Dollar. Das ist der Ausnahmeregelungen. Es kann doch nicht ange- bedauerlich; hier muß eine Änderung erreicht wer- hen, daß auch in den Industrieländern noch über das den. Wir sind aber der Auffassung, daß der Weg Jahr 1996 hinaus harte FCKW produziert und zum finanzieller Hilfe für die Entwicklungsländer auch - Beispiel als Lösungsmittel, als Medizinsprays oder ich sage das einmal so - als ein Mittel der Industrie- für Laborarbeiten verwendet, übrigens auch expor- länder verstanden werden muß, einen Teil ihrer öko- tiert werden dürfen. Es gibt heute praktisch für alle logischen Schulden gegenüber dem Süden zurück- Bereiche Ersatzstoffe, auch im Bereich der Medizin. zuzahlen. Die viel zu großzügigen Anwendungsfristen für die H-FCKW, also für die teilhalogenierten Stoffe, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne sogar in der Europäischen Union noch bis zum Jahre ten der PDS) 2015, also noch 20 Jahre lang, produziert und ange- wendet werden dürfen, müssen ebenfalls drastisch Es bleibt mir jetzt nicht die Zeit, dies zu erläutern; reduziert werden. Weltweit dürfen diese H-FCKW aber ich denke, die, die hier im Saale sind, verstehen, noch bis 2030 auf dem Markt sein. Das kann so nicht was ich damit meine. bleiben. Ebenso muß die FCKW-Produktion in den Entwicklungsländern, die bis jetzt noch eine zehn- Viertens schließlich sollten in Wien endlich die jährige Übergangsfrist bis zum Jahre 2006 haben, Schlupflöcher gestopft werden, die es heute noch in rascher zurückgefahren werden. Allein China produ- bestimmten Bereichen, zum Beispiel im Kältebereich, ziert heute rund 100 000 Tonnen harte FCKW im ermöglichen, auf FKW, also auf Fluorkohlenwasser- Jahr. stoffe auszuweichen. Hier gibt es bislang überhaupt 6538 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Liesel Hartenstein keine Beschränkungen. Auch dies kann nicht so blei- Ich sage ausdrücklich: Man sollte die Tatsache ben. gewiß nicht geringschätzen, daß sich die internatio- nale Staatengemeinschaft in diesem einen wichtigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Punkt überhaupt als handlungsfähig erwiesen hat, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nämlich in dem Bemühen, die Zerstörung der Ozon- PDS) hülle gemeinsam abzuwehren.

Denn in Wirklichkeit treiben wir hier den Teufel mit Aber heute ist eine gefährliche Stagnation einge- Beelzebub aus: treten. An der Dimension der Bedrohung gemessen, (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ sind wir noch weit hinter dem Notwendigen zurück. DIE GRÜNEN]: Genau so ist es!) Dabei ist der Höhepunkt der Zerstörung leider noch lange nicht überschritten, denn die ozonschädlichen Die FKW enthalten zwar kein Chlor, haben aber Stoffe brauchen zehn bis fünfzehn Jahre, bis sie in dafür einen tausendfach stärkeren Klimaaufhei- die Stratosphäre aufsteigen. Sie kennen alle die zungseffekt als das Kohlendioxid. Das kann ganz Bedrohungen - ich brauche sie nur stichwortartig zu gewiß keine Lösung für die Zukunft sein. nennen -: Der schwarze Hautkrebs hat in den letzten 20 Jahren um das Sechsfache zugenommen. Durch (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert das Eindringen der UVB-Strahlung werden Augen- Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE erkrankungen, Entzündungen und Immunschwäche GRÜNEN]) erzeugt, und die ultraviolette Strahlung schädigt das Pflanzenwachstum und verursacht Ernteverluste bis Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu 25 Prozent. Dies muß uns doch alle tief treffen. Wir an dieser Stelle zwei Bemerkungen machen. sollten die Gefahren für die Welternährung nicht unterschätzen, nur deshalb, weil wir satt sind. Erste Bemerkung: Natürlich wissen wir alle, daß internationale Verhandlungen schwierig sind, und Klar ist also: Die bisherigen Maßnahmen reichen wir wissen alle, daß die über hundert Staaten, die vor nicht aus, diesen gewaltigen Herausforderungen zu zehn Jahren das Wiener Abkommen unterzeichne- begegnen. ten, sicherlich nicht bereit sein werden, allen Vorstel- lungen eines einzelnen Landes oder der Europäi- Ich bitte noch um eine Minute, Frau Präsidentin. schen Union wortlos zu folgen. Wenn wir aber Über- zeugungskraft und Glaubwürdigkeit erlangen wol- Wir sollten uns alle an das alte Wo rt erinnern: Wir len, dann müssen wir um so mehr darauf achten, daß sind verantwortlich nicht nur für das, was wir tun, die Industrieländer zuerst vor der eigenen Türe keh- sondern auch für das, was wir nicht tun. Deshalb ver- ren, auch die Bundesrepublik. lange ich von der Bundesregierung, daß sie sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruht. Es ist nicht zu ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ treten, daß heute noch 57 000 Tonnen voll- und teil- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der halogenierte FCKW in Kälteanlagen vorhanden sind, PDS) daß wir mit einer jährlichen Leckagerate von 10 000 Das gilt auch für uns, insonderheit deshalb, weil sich Tonnen rechnen müssen und diese 10 000 Tonnen die Bundesrepublik Deutschland so gern ihrer Vor- jährlich wieder aufgefüllt werden. Diese Anlagen reiterrolle rühmt. Sie muß sie dann auch wirklich kann man durch FCKW-freie Geräte ersetzen, und ausfüllen. man sollte es tun. Wir verlangen in unserem Antrag auch, daß eine regelmäßige Kontrolle erfolgt, daß Zweite Bemerkung: Wir sind jederzeit bereit,- liebe eine Instandhaltung durchgeführt wird. Dies alles ist Kolleginnen und Kollegen, wirkliche Erfolge anzuer- notwendig. Auch im medizinischen Bereich gibt es - kennen. Aber wir sind nicht bereit, Schwachstellen ich sagte es schon - Ersatzmöglichkeiten. Es gibt und Defizite zu verkleistern und Fehlentwicklungen zum Beispiel gut funktionierende Pulverdosierungs- zu verharmlosen. Das geht einfach nicht. Die geräte, die an die Stelle der FCKW-haltigen Asthma- Bekämpfung der Ozonzerstörung war eines der sprays treten könnten. wichtigsten parteiübergreifenden Anliegen der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre", Warum - so frage ich zum Schluß - ist es notwen- und sie war und - ich hoffe es wenigstens - ist immer dig, daß wir FCKW noch beim Automobilsport zulas- noch ein gemeinsames Anliegen des Deutschen Bun- sen, daß wir zulassen, daß FCKW in den Triebköpfen destages. Als im Juni 1990 das Londoner Abkommen der Deutschen Bahn verwendet werden? Da könnte unterzeichnet wurde, erschien es vielen, als sei dies man endlich herangehen und massiv auf Ersatzstoffe eine umweltpolitische Großtat. Ohne Zweifel ging setzen und die Ersatzstoffe auch auf den Markt brin- London weit über Montreal von 1987 hinaus. Ohne gen. Hier wird viel zu lasch vorgegangen. Wir kön- Zweifel war es auch ein Fortschritt, daß sich nen uns kein Open-end-Spiel mehr leisten. Es geht 93 Staaten darauf verständigen konnten, Ausstiegs um die Zukunft des blauen Planeten. Deswegen sage fristen für die Ozonkiller festzulegen und den schon ich: Was wir heute beim Kampf gegen die Ozonzer- erwähnten Fonds einzurichten. Zwei Jahre später störung versäumen, sind keine läßlichen Sünden - wurden im Kopenhagener Folgeprotokoll die Fristen weiter verkürzt, und es wurden erstmals die teilhalo- genierten FCKW einbezogen. Das waren sinnvolle Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, erste Schritte. Sie müssen wirklich Schluß machen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6539

Dr. Liesel Hartenstein (SPD): - noch zwei Worte -, Da wird der Waldschadensbericht zum Waldzu- sondern das sind Kardinalsünden, und die werden standsbericht gemacht, und da ruht sich die Bundes- bekanntlich nicht vergeben. regierung auf einem Erfolg von vor vier Jahren, dem Verbot von FCKWs, aus. Man will damit den Ein- Danke schön. druck vermitteln, man sei auf dem besten Weg, das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ozonloch zu begrenzen. Das ist aus meiner Sicht DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der alles Augenwischerei. Den Menschen wird nicht die PDS) Wahrheit gesagt. Es verhält sich genauso wie bei der deutschen Ein- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat heit, als der Kanzler versprochen hat, die blühenden jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt. Landschaften aus der Portokasse zu bezahlen, und damit den Menschen die Bereitschaft zum Abgeben genommen hat. Genauso verantwortungslos ver- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Michaele Hustedt schenken Sie aus meiner Sicht durch Ihre Verharmlo- Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- sung die Bereitschaft der Menschen, etwas für den ren! Das hat in diesem Ozonloch über der Antarktis Umweltschutz zu leisten. Jahr eine neue Rekordgröße erreicht. Es wächst schneller, als wir befürchtet haben. Es wächst nicht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wie vermutet, linear, sondern exponentiell. und bei der SPD sowie der Abg. Eva Bul ling-Schröter [PDS]) Jetzt nimmt sich der Bundestag also um 19 Uhr eine halbe Stunde Zeit, um darüber ein bißchen zu Frau Hartenstein, Deutschland ist mit seinen sprechen. Ich halte das, ehrlich gesagt, für dem Pro- Bemühungen um den Schutz der Ozonschicht längst blem völlig unangemessen. Ich finde, dies hätte zu nicht mehr Vorreiter, sondern bestenfalls Mittelmaß. einer Zeit diskutiert werden müssen, wo die Öffent- Während die Regelungen des Montrealer Protokolls lichkeit noch anwesend war, und man hätte mehr 1992 ausgeweitet und verschärft wurden und die EU- Zeit haben müssen, über dieses Problem zu spre- Regelungen im Dezember 1994 weiterentwickelt chen. wurden, ist die FCKW-Halonen-Verbotsordnung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unverändert geblieben. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Was will die Bundesregierung dagegen tun? Im Abg. Rolf Kutzmutz [PDS]) Antrag steht, sie will mit der Chemieindustrie reden. Das trägt ebenso zur Verharmlosung des Problems (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ bei wie der Antrag der Bundesregierung, der hier im DIE GRÜNEN]: Das kennen wir!) Schnellschuß vorgelegt wurde, und zwar aus zwei Gründen: Der eine Grund ist, daß Sie in Ihrem Ich muß wirklich sagen: Ich bin tief beeindruckt von Antrag nicht darauf hinweisen, daß das Ozonloch Ihrem Kämpfertum. Und was passiert, wenn die Che- durch die lange Lebensdauer und das Bestehen der mieindustrie sagt, das koste Arbeitsplätze? Dann Altanlagen selbst dann noch weitere 50 bis 60 Jahre werden Sie jegliche Vorschläge zum Handeln - wachsen würde, wenn wir jetzt aus der Produktion genau wie bei der Energiesteuer - wieder in die und dem Verbrauch sämtlicher ozonschädigender Schublade stecken. Substanzen aussteigen würden. Das heißt, wir sind nicht am Ende, sondern erst am Anfang. Wir werden (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ die Sünden von gestern noch zu spüren bekommen. DIE GRÜNEN]: Da weiß man schon, wie - das funktioniert!) Zum zweiten weisen Sie auch nicht darauf hin, daß es Synergieeffekte zwischen Treibhauseffekt und Am bedenklichsten finde ich - darauf ist Frau Har- dem Ozonloch gibt. Das Ozonloch schädigt durch tenstein schon eingegangen -, daß Sie auf die Schad- die vermehrte UV-Strahlung zum Beispiel das stoffe der zweiten Generation, das FKW, setzen. Wachstum von Phytoplankton. Das Phytoplankton Diese haben ein sehr hohes Treibhauspotential. Die aber kann die CO2-Emission binden, also den Treib- Prognosen lauten, daß sich der Verbrauch von FKW hauseffekt begrenzen, während der Treibhauseffekt 134a auf 300 000 Tonnen pro Jahr weltweit auswei- umgekehrt das Ozonloch verstärkt. Das ist ein ganz ten wird. Das ist das Treibhauspotential der gesam- gefährlicher Teufelskreis, auf den ich noch zu spre- ten CO2-Emissionen der Bundesrepublik. Es kann chen komme. Das darf man nicht verharmlosen, son- doch nicht der Weg sein, daß wir, um das Ozonloch dern muß man klar und deutlich sagen. zu begrenzen, den Treibhauseffekt fördern. Es gibt also, wie gesagt, Synergieeffekte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) Dagegen beobachten wir bei der Bundesregierung Für den Klimaschutz genauso wie für das Ozon- immer wieder das gleiche Spiel, auch in bezug auf loch gilt: Solange es diese Regierung gibt, scheinen das Ozonloch. Wahrheitswidrig wird immer wieder wir nicht bereit zu sein, unser Schicksal - Herr Kohl behauptet, das Klimaschutzziel könne erreicht wer- sprach auf Ihrem Parteitag in diesem Zusammen- den. Jetzt liegt eine Studie von Prognos vor, die ein- hang von der Schicksalsfrage - in die Hand zu neh- deutig belegt, daß es nicht erreicht wird, sondern men. Mit dieser Bundesregierung sind wir anschei- steigende CO2-Emissionen zu erwarten sind. nend unserem Schicksal ausgeliefert. 6540 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, die Rede- Ich finde es schön, wenn Sie den Zusammenhang zeit ist abgelaufen. nicht so direkt herstellen. Aber ich nehme dann Ihre eigenen Worte, stelle den Zusammenhang her, und auf einmal stellt sich heraus, daß unsere Leistungen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Michaele Hustedt sehr akzeptabel sind. Ich komme zum letzten Satz. - Diese Haltung ist im Kern zutiefst unmoralisch und inhuman. Wir machen Das Wort, daß sich die Bundesregierung nicht auf ein Experiment mit der Erde. Bei diesem naturwis- ihren Lorbeeren ausruhen solle, ist insofern richtig, senschaftlichen Experiment sind wir die weißen als sie den Lorbeer verdient hat. Daß wir weiterarbei- Mäuse. Daran sollten wir immer denken. ten, wird aus unserem Antrag deutlich; darauf gehen wir ein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Eva Bul Frau Hustedt, ich sage es noch einmal ganz deut- ling-Schröter [PDS]) lich: Wir verharmlosen die Probleme nicht; wir wei- sen darauf hin.

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- Ich kann unterstreichen, was Frau Hartenstein zu lege Dr. Klaus Lippold. den problematischen Wirkungen gesagt hat. Diese Auffassung teilen wir. Deshalb meinen wir auch, daß wir aktiv sein und die Gangart beschleunigen müs- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): sen. Das ist genau unsere Position, das ist genau Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und unser Rezept. Deswegen sind wir der Meinung, daß Herren! Wir kennen die übliche Haltung der Opposi- wir bei der in Wien anstehenden Konferenz eine tion: Was die Regierung macht, ist schlecht, viel beschleunigte internationale Gangart herbeiführen zuwenig, muß, was die Zeitdauer angeht, noch ver- müssen. Das geht gar nicht anders. Das Problem ist kürzt werden usw. so wichtig - da teile ich Ihre Meinung -, daß wir Vor diesem Hintergrund, Frau Hartenstein, ist es gemeinschaftlich an einer Lösung arbeiten müssen. erstaunlich, daß Sie sich wenigstens durchgerungen Daß dies in den vergangenen Jahren in erster Linie haben, anzuerkennen, daß wir die ersten waren, die ein Problem der Nordhalbkugel war, ist genauso etwas getan haben, daß wir die ersten waren, die richtig. Deshalb unterliegen wir besonderen Ver- etwas durchgesetzt haben, daß wir diejenigen pflichtungen. Dazu stehen wir. Das halte ich für rich- waren, die im internationalen Konzert den Impuls tig. gegeben und dafür gesorgt haben, daß dieses Pro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, blem überhaupt als solches erkannt, Frau Hustedt, der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/DIE und auch angegangen wurde. GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Deshalb meine ich, sollten wir ganz deutlich ordneten der F.D.P.) sagen: In diesem Bereich muß weitergearbeitet wer- den. Wir müssen auch die Entwicklungsländer über- Ich will es einmal so deutlich sagen, da Sie meinen, zeugen, den weiteren Weg mit uns zu gehen. Wir wir hätten in unseren Anträgen dies, das und jenes können die Entwicklungsländer aber nur überzeu- nicht beachtet: Frau Hustedt, wir arbeiten seit zehn gen, wenn wir zu den Versprechungen stehen, die Jahren daran. Wir sagen das immer wieder. Wenn wir seinerzeit gemacht haben. auch Sie jetzt kommen, hier sind und das entdecken, ist das sehr schön; aber wir haben das seit zehn Jah- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ren öffentlich behandelt. Wir haben die Gedanken NEN]: Sie trauen sich nicht!) daran vorangetrieben, damit das Problembewußtsein- Das heißt, Technologietransfer wie Finanztransfer in dieser Republik überhaupt entsteht, als Sie noch müssen funktionieren. Wir als Bundesrepublik gar nicht wußten, was FCKW sind. Deutschland stehen dazu. (Rudolf Bindig [SPD]: Faß ihn! - Wider Ich freue mich, daß wir im Gegensatz zu dem, was spruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) im Antrag steht, heute abend deutlich machen kön- Deshalb sage ich ganz deutlich: Es ist manchmal nen, daß wir als Bundesrepublik - da sind wir etwas einfach, sich hierhinzustellen. Umweltschützer einig mit den Haushältern in der Koalition - die Mittel für die Lösung des Problems im Ich will noch etwas anderes sagen. Frau Harten- internationalen Rahmen aufstocken werden. stein meint, die Selbstverpflichtungen der deutschen Wirtschaft seien nicht hinreichend. Im nächsten Satz (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sagt sie aber, die anderen Industrieländer sollten ordneten der F.D.P.) gefälligst einmal das erreichen, was wir schon erreicht haben. Frau Hartenstein, so schlecht kann Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, gestatten das Instrument in unserem Land doch nicht sein, Sie eine Zwischenfrage? wenn Sie anderen Ländern, die dieses Instrument nicht einsetzen, vorwerfen, endlich das zu erreichen, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): was wir in der Bundesrepublik Deutschland an Aus- Gern, Herr Präsident. stieg schon realisiert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Frau Kollegin. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6541

Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): könnte das nicht verantworten. Die Wissenschaftler Sie haben allgemein Ihre Bereitschaft erklärt, daß brauchen für diese Prüfung Zeit. Diese können Sie etwas getan werden soll. Können Sie mir bitte mal nicht durch Definitionen verkürzen. Daran muß gear- konkret - ich betone das - sagen, was hier in beitet werden. Deutschland - seit vier Jahren ist nichts passiert - - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Lip- - Nein. Die FCKW-Halon-Verbotsverordnung ist von pold, die Kollegin Hustedt würde gerne eine zweite 1991; das ist vier Jahre her. Seitdem ist in Deutsch- Zwischenfrage stellen. land nichts passiert. (Offenbach) (CDU/CSU): Sie (Birgit Homburger [F.D.P.]: Das ist nicht Dr. Klaus W. Lippold weiß, daß ich ihr das nie abschlagen könnte. richtig!)

Ich möchte von Ihnen wissen, erstens, was Sie kon- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kret - und nicht allgemein: wir wollen, wir wollen - Sie haben hier wieder von der Vorreiterrolle gespro- in nächster Zeit in Deutschland anstreben, was getan chen. Stimmt meine Information, daß Finanzminister werden soll, und zweitens, wie Ihre Position - Frau Waigel auf der letzten Finanzministerkonferenz eine Hartenstein und ich haben es angesprochen - zu den europaweite Energiesteuer auf Initiative Deutsch- FKW ist. lands verhindert hat? (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS SES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Darf ich Ihnen sagen, Frau Hustedt, daß sich Herr Finanz- Mein Eindruck nämlich ist, daß Sie, die Bundesregie- minister Waigel auf der letzten EU-Finanzminister- rung, dieses Problem überhaupt nicht berücksichti- konferenz ganz nachhaltig dafür eingesetzt hat, gen, sondern auf Ersatz der ozonschädigenden Sub- stanzen durch FKW setzen. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es!) daß eine EU-weite CO2-/Energiesteuer durchgesetzt Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): wird. Ganz kurz: Frau Hustedt, Sie müssen zur Kenntnis nehmen - das können Sie nicht abstreiten -, daß die (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Bundesregierung im internationalen Rahmen als NEN]: Das ist eine Lüge! Sie lügen!) erste Regierung den Ausstieg aus dem Einsatz von Wenn es noch andere Finanzminister gegeben hätte, FCKW geschafft hat und wir damit das selbstge- die diesem Engagement gefolgt wären, dann bräuch- steckte Ziel wesentlich früher erreicht haben, als es ten wir heute nicht mehr darüber zu philosophieren, vereinbart war. Das könnten Sie auch einmal loben. dann hätten wir sie. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Genau dieses bewährte Instrument der Selbstver- Loben Sie einmal Herrn Waigel, daß er sich in die- pflichtung werden wir benutzen, um auch den zwei- ser Form einsetzt. Das, meine ich, muß man tun. Man ten Schritt zu vollziehen. kann hier nicht angreifen. Man muß vielmehr seine Initiativen zur Umsetzung in Europa Ich sage Ihnen aber auch ganz deutlich: Man darf würdigen. Das tue ich hiermit ganz ausdrücklich: Ich die Wirtschaft nicht überfordern. Sie machen- das danke ihm dafür. immer zu einem Definitionsproblem. Wenn Sie ein Problem erkannt haben, glauben Sie, es sei durch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge einfache Wortschöpfungen gelöst. Wir wissen, daß ordneten der F.D.P.) dies ein Problem ist, dessen Lösung umgesetzt wer- den muß. Ebenso deutlich sage ich Ihnen: Sie müs- Meine Damen und Herren, wir als Bundesrepublik sen einfach akzeptieren, daß wir, wenn wir Stoffe Deutschland können nicht anderen Staaten anord- durch neue substituieren, sorgfältiger als früher prü- nen, was sie zu tun haben. Wir können mit gutem fen, ob sie keine schädigenden Nebenwirkungen Beispiel vorangehen; das wollen wir tun. Wir können haben. Hemmnisse, die im Wissenschaftsbereich bestehen, abbauen. Sie können uns zum Beispiel dabei helfen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß die im Forschungsbereich existierenden Hemm- nisse durch Bürokratie nicht durch immer weitere Sie selbst haben von uns verlangt, die Auswirkun- Erfindungen Ihrerseits verstärkt werden. Unsere Wis- gen der Stoffe mit viel mehr Mitteln sorgfältig zu prü- senschaftler sollten bei der Arbeit freiere Hand fen. Wir haben dies früher getan als andere Natio- haben, damit sie schneller zu Problemlösungen kom- nen. Wir haben anspruchsvolle Programme zur Prü- men, die letztendlich der Menschheit im Gesund- fung der Nebenwirkungen entwickelt. Jetzt müssen heitsbereich dienen. Sie wenigstens abwarten, bis die Stoffe sorgfältig geprüft worden sind. Ich will nicht verantworten, daß Sie sollten über die Einflußmöglichkeiten, die Sie im Medizinbereich Stoffe eingesetzt werden, von dank grüner Netze haben, mithelfen, daß im interna- denen wir hinterher sagen: Menschen sind damit tionalen Bereich auch andere unserer Positionen geschädigt worden; das war zu ihrem Nachteil. Ich unterstützt werden, damit wir nicht die einsamen 6542 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) Rufer in der Wüste sind und die anderen sagen: Laßt Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Deutschen mal! Sie sind so weit voran, wir aber Herr Kollege Lippold, ich möchte Ihnen nicht unter- kommen erst viel später. - Helfen Sie dabei mit. Ich stellen, daß Sie lügen. Aber wissen Sie nicht, was glaube, das ist für uns alle wichtig. Herr Waigel getan hat? Es liegt mir eine Resolution des Umweltausschusses des Europäischen Parla- Ich will Ihnen noch eines sagen: Wir werden selbst- ments - unter Leitung eines Konservativen, Tom verständlich auch bei den H-FCKW und dem Methyl- Spencer - vor, die einstimmig von allen Parteien ver- bromid eine Ergänzung anstreben. Damals aber abschiedet wurde, wo Herr Waigel auf der letzten haben wir gesagt, daß wir zunächst einmal darüber Finanzministertagung eine europaweite Energie- froh sind, schnelle Übergangsmöglichkeiten zu steuer verhindert hat. Es haben noch zwei andere haben. Jetzt, nachdem wir die ersten Übergangs- Länder dagegen gestimmt, aber Herr Waigel hat die möglichkeiten haben, treten wir in die zweite Phase Initiative ergriffen und hat eine mögliche europa- ein. Das heißt also: Das Ganze hat System. Sie kön- weite Energiesteuer verhindert. nen sich darauf verlassen: Wenn wir in drei Jahren eine Diskussion führen, werden Sie wieder etwas Ich muß ehrlich sagen: Mir kommt es so vor, daß Neues bringen müssen, weil das, was Sie jetzt außer der CSU alle Parteien eine europäische Ener- gebracht haben, dann genauso abgearbeitet ist wie giesteuer gewollt haben. Auf allen Parteitagen hat es das, was eingehalten wurde, was Sie der Bundesre- diesen Beschluß gegeben, nur bei der CSU nicht. gierung aber vor vier Jahren zum Vorwurf gemacht Anscheinend macht Waigel das völlig unlegitimiert haben. und undemokratisch nach Gutdünken. Ich erwarte nächste Woche - deswegen haben wir Ich erinnere mich natürlich noch sehr deutlich diesen Tagesordnungspunkt in die Sitzungwoche daran: Als wir vor vier Jahren in diesem Haus die eingebracht - eine ähnliche Problematik mit Herrn Selbstverpflichtung diskutiert haben, waren Sie es, Rexrodt, der zum europäischen Energiebinnenmarkt die Zweifel daran gehabt haben, ob dieses Instru- eine andere Position hat als seine Kollegen in der ment wirkt. Sie haben ausschließlich auf das Ord- CDU. nungsrecht setzen wollen. Ich sage Ihnen heute: Erkennen Sie doch einmal an, daß wir mit dem Ich muß einmal sagen: Dieses Parlament muß end- Instrument der freiwilligen Vereinbarung und der lich dazu kommen, daß die auf der europäischen Selbstverpflichtung wesentlich weiter gekommen Ebene nicht einfach nach ihrem eigenen Parteigut- sind als andere Industrienationen. dünken machen können, was sie wollen. Dieses Par- lament muß, weil das Kabinett es nicht tun kann und Jetzt noch einmal abschließend: Ich bin sehr froh, Sie es nicht besser wissen, endlich einmal anfangen, daß unsere Haushälter aufgeschlossen genug waren, die Minister zu kontrollieren. nachdem wir zwischen Umweltschützern und Ent- wicklungshelfern zu einer Einigung gekommen sind, Vielen Dank. eine Aufstockung der Mittel im internationalen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bereich von uns aus möglich zu machen. Ich würde Sie bitten, einmal zu prüfen, welche anderen Länder überhaupt bereit sind, ihre bisherigen Zusagen ein- Vizepräsident Hans Klein: Zur Replik Kollege Lip- zuhalten - das ist für uns nämlich eine Selbstver- pold. ständlichkeit -, und in ähnlicher Weise wie wir bereit sind, darüber hinauszugehen. Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herren, liebe Frau Hustedt, ich freue mich natürlich, wenn Sie mir solche Vorlagen geben. Wissen Sie, ich Wenn Sie mir das hinterher nachweisen können, bin habe in vielen Gesprächen mit verschiedenen Kolle- ich Ihnen dankbar. gen aus den anderen christlichen Parteien Europas Ich bin froh, daß wir über die finanzielle Schiene in lernen müssen, daß unsere Partei, CSU und CDU, guter Verabredung zwischen den verschiedenen innerhalb der christlichen Volksparteien Europas im Bereichen der Entwicklungshelfer, Umweltschützer Umweltschutz eine absolut einsam führende Rolle und Haushälter zu einem so positiven Ergebnis hat. gekommen sind; denn ohne Technologietransfer und Ich denke daran, wie ich mich mit meinen Kolle- ohne Finanztransfer zur Dritten Welt würde das gen, insbesondere aus England, geprügelt habe. Sie Abkommen scheitern. Wir sind darauf angewiesen, haben in dieser Frage Eiszeitformulierungen und daß es weltweit weiterentwickelt wird, deshalb auch sich mit diesen Fragestellungen bei weitem nicht so der finanzielle Einsatz. Ich danke dem Finanzmini- auseinandergesetzt, wie wir das tun. Ich finde das ster, daß er den Weg hierzu freimacht. richtig, daß wir gemeinschaftlich darauf hinweisen, daß sie sich ändern müssen. Herzlichen Dank. Wenn sie in der Frage - Grüne gibt es da ja nicht - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenigstens einmal von ihren sozialdemokratischen Kollegen so gepeitscht würden, wie wir sie in den internationalen Konferenzen peitschen, dann hätte Vizepräsident Hans Klein: Zu einer Kurzinterven- das vielleicht einen Sinn. Aber eine nationale Partei tion gebe ich der Kollegin Hustedt das Wo rt. wie die Konservativen in England, die sich jedes Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6543

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) Angriffs seitens der Sozialdemokraten do rt nicht Ich bin überzeugt, daß wir mit einem realistischen erwehren muß, weil es in dieser Richtung keine Vor- Konzept - das vertreten wir - sinnvolle Lösungen für stöße gibt, ist natürlich in dem, was Umweltschutz unsere Umwelt finden. angeht, nicht gefordert. Wir stehen in der Bundesre- publik ganz anders da. Ich sage das einmal so: Wir (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ sind hier die Speerspitze. DIE GRÜNEN]: Was ist mit dem Herrn Goppel?) Ich sage Ihnen noch einmal: Zu Fragen der CO2-/ Energiesteuer hat Theo Waigel eine ganz eindeutige Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Kollegin Position vertreten. Das ist belegbar. Birgit Homburger das Wort.

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es wäre vielleicht Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe ganz gut, wenn wir hier mehr Gelegenheit zu länge- Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr 1995 ist das Jahr ren Debatten hätten. Da gebe ich einem Hinweis wichtiger internationaler Konferenzen, um den welt- gerade recht, damit wir nicht in so verkürzter Zeit weiten Umweltschutz voranzubringen. Dazu gehört nur über die Leistungen, die wir bringen, reden, son- sicherlich der Berliner Klimagipfel, aber auch die dern sie wesentlich ausführlicher darstellen können. Konferenz zum Schutz der Artenvielfalt in Djaka rta Das würde nämlich manche Mißverständnisse aus- und die siebte Vertragsstaatenkonferenz des Mon- räumen und wäre im Zuge einer guten und ausrei- trealer Protokolls in Wien. chenden Information auch der Öffentlichkeit besser. Das Montrealer Abkommen zum Schutz der Ozon- Insofern noch einmal herzlichen Dank für Ihren schicht ist ein erfolgreiches Abkommen mit konkre- Beitrag, Frau Hustedt; sonst hätte ich nicht mehr die ten Reduzierungspflichten und echten Umsetzungs- Gelegenheit gehabt, dies klarzustellen. erfolgen. Es wäre schön, wenn wir bei den anderen Übereinkommen die gleiche Qualität erreichen könnten. (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Liesel Har tenstein [SPD]: Das war keine Klarstellung!) Beim Schutz der Ozonschicht haben wir Erfolge zu verzeichnen, national und international. Die Industriestaaten müssen durch das Protokoll ihre bis dahin stufenweise reduzierte FCKW-Produktion Vizepräsident Hans Klein: Zu einer Kurzinterven- tion gebe ich dem Kollegen Simon Wittmann das bis Ende 1995 vollends einstellen. Die EU-Mitglied- Wort . staaten haben das schon früher vollzogen. In Deutschland wurde im Mai 1994 die Produktion von FCKW eingestellt. Deutschland hat hier eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) enorme Schrittmacherfunktion wahrgenommen. Dies muß man auch anerkennen. Wir sind uns aber auch völlig einig, daß man sich darauf nicht ausru- Simon Wittmann (Tännesberg) (CDU/CSU): Frau hen kann. Hustedt, daß Sie die CSU angesprochen haben, gibt mir Gelegenheit, zum Verhalten von Dr. Theo Waigel Die Maßnahmen der Industriestaaten haben posi- etwas festzustellen. Zu den Verhandlungen ist ja tive Auswirkungen. Der Chlorgasanstieg in der schon einiges gesagt worden. Die CSU war eine der- Atmosphäre hat sich meßbar verlangsamt. Die Kon- jenigen Parteien, die die europaweite Einführung zentrationen werden bei ungestörter Entwicklung ab einer CO2-/Energiesteuer bereits vor drei- Jahren auf Anfang des nächsten Jahrzehnts abnehmen. dem Parteitag in Freising beschlossen und in das Aber die Erfolge sind natürlich dadurch gefährdet, CSU-Programm aufgenommen hat. Dies wurde im daß die Entwicklungsländer einen hohen und drin- letzten Jahr nochmals bestätigt. Ich kann Ihnen die- genden Nachholbedarf haben, beispielsweise bei sen Beschluß schriftlich zustellen. Das war vor der Kühlgeräten. Man denke nur an die hohen Lebens- CDU, das war vor der F.D.P. mittelverluste durch ungekühlte Lagerung in war- men Regionen. Würde dieser Bedarf mit der alten (Birgit Homburger [F.D.P.]: Nein, nein!) FCKW-Technologie gestillt, so wären natürlich alle Bemühungen um den Schutz der Erde vor der - Gut, Frau Homburger, ich lasse mich eines Besse- Zunahme der schädlichen und gefährlichen UV- ren belehren; aber es war sicher einer der ersten Strahlung zunichte gemacht. Deshalb ist es so wich- Beschlüsse. tig, daß auf der Konferenz in Wien die zehnjährige Übergangsfrist für die alte FCKW-Technik verkürzt Ich darf auch daran erinnern, daß gerade von der wird. Wir müssen die Entwicklungsländer bei der CSU - vielleicht erinnern Sie sich an meine Rede hier Einführung neuer Technologien mit modernen im Parlament - zum Beispiel die europaweite Ersatzstoffen unterstützen. Die F.D.P. unterstützt die Besteuerung des Flugbenzins ganz klar gefordert Bundesregierung, insbesondere Frau Dr. Merkel, wurde. Die CSU wird sich nie nachsagen lassen, daß dabei nachdrücklich. sie im Bereich von sinnvollem Umweltschutz und (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr gut!) damit auch einer sinnvollen Einführung von Energie- steuern nicht immer mit dabei war und sogar sehr Es ist auch im Interesse deutscher Arbeitsplätze - häufig den Vorreiter gespielt hat. auch das will ich hier ganz deutlich sagen -, wenn 6544 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Birgit Homburger die Hersteller von Kühlcontainern beispielsweise in diesem Sinne sollten wir im Ausschuß über unsere Korea sich nicht länger Kostenvorteile durch die Ver- Anträge beraten. wendung von FCKW verschaffen, während deutsche Hersteller die Umstellungsinvestitionen auf sich Vielen Dank. genommen haben. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Ich möchte an dieser Stelle auch einmal darauf hin- ten der CDU/CSU) weisen, Frau Kollegin Hartenstein, daß Sie da in Ihrem Entschließungsantrag natürlich ein paar Frau Kollegin Eva Bul- Widersprüche haben, beispielsweise in II, Nr. 3, wo Vizepräsident Hans Klein: ling-Schröter, Sie haben das Wo rt . Sie einerseits sagen, das Umweltbundesamt sei auf- zufordern, seine Arbeiten zur Identifikation geeigne- ter Ersatzkältemittel zu intensivieren, und anderer- Eva Bulling-Schröter (PDS): Sehr geehrter Herr seits, umweltverträgliche Ersatzstoffe seien unver- Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Über die öko- züglich bekanntzugeben. Was denn jetzt? Sollen sie logischen Auswirkungen von Fluorchlorkohlenwas- intensivieren, oder sollen sie unverzüglich bekannt- serstoffen und anderen Ozonzerstörern ist in diesem geben? Da muß man dann schon wissen: Wie weit Hause schon oft gesprochen worden. Es wurden sind wir eigentlich, was können wir, und was können auch Konsequenzen gezogen: FCKWs werden in der wir nicht? Deswegen muß man über den Antrag noch Bundesrepublik nicht mehr produziert. einmal intensiv reden. Gleichwohl ist 1995 das bisherige Rekordjahr in Die F.D.P. hat eine unmißverständliche Haltung puncto Ozonzerstörung. In der Stratosphäre ist das zur Aufstockung des Montreal-Fonds. Wir sind für Ozonloch mit 20 Millionen Quadratkilometern dop- eine Aufstockung des Montreal-Fonds, weil ihm pelt so groß wie in ganz Europa. Dazu wird nun auch eine bedeutende Rolle zukommt. Ich denke, die der Norden unseres Planeten nicht mehr verschont. Bereitschaft des Bundesministeriums für wirtschaft- So ging in Sibirien die Ozonkonzentration um drama- liche Zusammenarbeit, für eine Aufstockung des tische 35 Prozent zurück. Die Konsequenzen für die Fonds Mittel in seinen Haushalt umzuschichten, fin- natürliche Umwelt sind dem Hause sicher bekannt. det Anerkennung und Unterstützung. Deshalb freue ich mich, daß uns hier weitere Schritte und Die Schlußfolgerungen können also nur heißen, Maßnahmen von seiten der Bundesrepublik weltweit die Anstrengungen zum Verbot der Produk- Deutschland mit Wirkung auf internationaler Ebene tion und des Einsatzes aller Ozonkiller zu verstärken. gelingen werden. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Sowohl der Antrag der SPD als auch der weiterge- Aber auch national sind noch nicht alle Aufgaben hende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zielen darauf ab. Besonders begrüßen wir die Forderungen, gemacht. Es werden noch immer zu viele medizini- die von den Industriestaaten für Osteuropa und die sche Aerosole unter Zuhilfenahme von FCKW herge- stellt. Dort, wo es gleich gute und schnell wirksame Entwicklungsländer bereitgestellten Mittel, welche Ersatzstoffe gibt - national oder inte rnational -, müs- einen sofortigen Ausstieg aus FCKW und anderen sen sie eingesetzt werden. Die deutschen Arzneimit- halogenierten Kohlenwasserstoffen befördern sollen, telhersteller müssen ihre Anstrengungen hier intensi- spürbar anzuheben. vieren. Über diesen Punkt müßten wir uns im - Bezüglich des Verbots des Einsatzes von teilhalo- Umweltausschuß noch einmal intensiv unterhalten. genierten FCKWs lassen Konsequenzen sowohl in Deutschland als auch im europäischen Maßstab noch Wichtig ist, daß mit den immer noch in vielen Alt- auf sich warten. Laut EG-Verordnung dürfen diese geräten befindlichen Mengen an FCKW bei der Ver- H-FCKW, im Hauptanwendungsbereich beispiels- schrottung sorgsam umgegangen wird, weil hier die weise Dämmstoffe, noch nahezu 20 Jahre verwendet größte Freisetzungsgefahr besteht. Industrie und werden. Ersatzstoffe existieren; deren Anwendung Landesvollzugsbehörden sollten an dieser Stelle ist aber auf Grund von Profitinteressen und der Hand in Hand arbeiten. Rechtslage nur marginal. Hier muß die Bundesregie- rung aktiv werden. Nur ein Verbot kann den Innova- Die Konferenz in Wien zeigt, daß internationale tionsverweigerungskartellen das Handwerk legen. Umweltpolitik ein schrittweiser Prozeß ist. Die Auch wir sind gegen diese Selbstverpflichtungen. Anfänge des Montrealer Protokolls waren aus dama- Man muß einmal sagen, was Sache ist. liger Sicht sicherlich unbefriedigend. Der rasch fort- schreitende Abbau der Ozonschicht verlangte nach (Birgit Homburger [F.D.P.]: Was ist denn mehr. Jetzt ist daraus ein dynamischer Prozeß gewor- Sache?) den, der die technologische Entwicklung enorm vor- angetrieben hat. - Sache ist, daß das jetzt sofort verändert werden soll. Es gibt genügend Firmen, die jetzt schon Produkte Die F.D.P. setzt darauf, daß sich diese technologi- entwickeln und eigentlich nur darauf warten - dazu sche Entwicklung weltweit fortsetzt. Die Bundesre- liegen uns Unterlagen von Greenpeace vor -, daß die gierung verdient dafür die volle und möglichst ein- entsprechenden Gesetze verabschiedet werden. hellige Unterstützung des Deutschen Bundestags. In Dann könnten sie sofort auf den Markt kommen. Das Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6545

Eva Bulling-Schröter wäre ja sicherlich auch im Sinne der Marktwirtschaft Das gilt im übrigen auch für Forderungen, die im und damit in Ihrem Sinne. SPD-Antrag angeführt worden sind und über die wir im einzelnen sicherlich im Ausschuß reden können. (Birgit Homburger [F.D.P.]: Na ja, das mit Ich möchte das wegen der Zeit hier nicht tun. Zum der Marktwirtschaft haben Sie nicht recht Teil versuchen Sie, über Selbstverständlichkeiten verstanden! Aber das macht nichts!) und Dinge, die schon auf dem Wege sind, noch ein- mal zu beschließen. Beispielsweise ist in Deutsch- - Ich glaube, Sie lehren uns das noch. land kein methylbromidhaltiges Pflanzenschutzmit- Meine Damen und Herren, die Ozonproblematik tel zugelassen; es wird auch keines eingesetzt. Wir zeigt erneut: Eine Vielzahl von Umweltschädigun- können natürlich zusätzlich ein Verbot beschließen; gen bauen sich durch komplexe Wechselwirkungen dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. weitgehend unbemerkt auf. Wenn sie dann akut sind und offensichtlich die Lebensgrundlage der Mensch- Im Grunde geht es jetzt aber darum, daß wir aus heit bedrohen, können die Prozesse trotz eingeleite- den Maßnahmen, die wir in unserem Lande bei vol- ter Ursachenbekämpfung nur sehr schwer oder gar ler Berücksichtigung der Arbeitsplatzsituation haben überhaupt nicht mehr beeinflußt werden. Niemand durchführen können, internationale Konsequenzen weiß beispielsweise, wann und ob die heutigen Maß- ziehen. Es geht in Wien um zwei Dinge - auch da nahmen zur drastischen Reduzierung der Ozonkiller besteht mehr Einigkeit, als die Debatte gezeigt hat -: tatsächlich greifen werden. Schließlich kommen die um eine Verkürzung der Ausstiegsfristen in den letzten Moleküle dieser hauptsächlich in der Vergan- Industriestaaten - so wollen wir bei H-FCKW schon genheit eingesetzten Gase erst in Jahren in der Stra- im Jahr 2015 statt 2030, wie bisher vorgesehen, aus- tosphäre an. steigen - und um eine Reduzierung des Methylbro- mids international um jeweils 25 Prozent ab 1998 im Die Probleme sind also bekannt. Wir werden den ersten Schritt und 2005 im zweiten Schritt. Anträgen der SPD und der Grünen zustimmen. Zum anderen ist es neben den Verschärfungen für (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne die Industrieländer unser Ziel, die Entwicklungslän- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ) der einzubeziehen. Es gibt jetzt einen Streit im Vor- feld von Wien, weil die Entwicklungsländer erst die Finanzierung gesichert haben wollen und die Indu- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Parla- strieländer sagen, daß erst die materiellen Regelun- mentarischen Staatssekretär beim Bundesministe- gen beschlossen werden sollen. Ich denke, hier wird rium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, es noch eine Verständigung geben; denn ein Schei- Walter Hirche, das Wort. tern des Montreal-Prozesses kann sich niemand erlauben.

Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- In der Debatte ist schon darauf hingewiesen wor- ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- den, daß es erfolgreiche bilaterale deutsche Projekte cherheit: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! mit China und Indien im Bereich der Haushaltskälte- Es besteht offenbar Einigkeit in diesem Hause dar- technik gibt, die auch belegen, wie eindrucksvoll die über, daß der Schutz der Ozonschicht einerseits und deutschen Leistungen bei der Entwicklung alternati- die Bekämpfung des Treibhauseffekts andererseits ver Technologien auf der Basis von Kohlenwasser- die zwei wichtigsten umweltpolitischen Diskussions- stoffen sind. themen sind. Die Bundesregierung hat bei dem Thema „Schutz der Ozonschicht" in den- letzten Jah- ren Erfolge vorzuweisen. Ich möchte das nur in Erin- Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine Zwi- nerung rufen. 1986 betrug der FCKW-Ausstoß welt- schenfrage? - Bitte sehr. weit 1 Million Tonnen. Zukünftig werden wir auf Grund des Ersatzes von FCKW nur noch 300 000 Tonnen R 134 a haben. Da dieses Mittel nur ein Sech- (SPD): Herr Staatssekretär, Sie stel der Schadwirkung auf das Klima hat, bedeutet Wolfgang Behrendt haben sich jetzt eben auch wieder etwas verschwom- dies, daß wir innerhalb eines Zeitraums von gut zehn men ausgedrückt, was die finanzielle Unterstützung Jahren das Schadenspotential um 90 Prozent redu- für die Entwicklungsländer anbetrifft. Herr Kollege ziert haben werden. Dr. Lippold hat hier eine überraschende Wendung Auch der umweltpolitische Sprecher der SPD, Herr gemacht, indem er einen Punkt aus unserem Antrag Müller, hat vor zwei Tagen auf einer Veranstaltung aufgegriffen und sich für eine Aufstockung des mul- der Friedrich-Ebert-Stiftung anerkannt, daß die tilateralen Fonds eingesetzt hat, obwohl im Antrag Selbstverpflichtungen zu den FCKW erfolgreich der CDU/CSU lediglich von der Fortführung dieses gewesen sind. Deswegen werden wir auch auf die- Fonds die Rede ist. Meine Frage ist jetzt: Machen Sie sem Wege fortfahren. sich das zu eigen? Wird die Bundesregierung in Wien ganz gezielt auch für eine Aufstockung der Mittel Darüber hinaus ist festzustellen, daß ein Ausstieg dieses multilateralen Fonds eintreten? Wenn ja, frage aus dem H-FCKW R 22 in Deutschland zum 1. Januar ich mich, warum die Bundesrepublik in den Vorver- 2000 zu erreichen ist und in der EU für das Jahr 2015 handlungen nicht diese eindeutige Haltung einge- und in der Welt für das Jahr 2030 diskutiert wird. nommen und sich gegen eine auch nur mäßige Erhö- Hier sind einige Maßnahmen eingeleitet. hung gewandt hat. 6546 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- gestellt, aber er hat darauf nicht geantwortet. Daher ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- stelle ich sie noch einmal Ihnen. cherheit: Herr Kollege Behrendt, Ausgangspunkt für die Regierung ist natürlich der multilaterale Fonds, Welche Position haben Sie zu den Fluorkohlenwas- wie wir ihn heute haben und wie er selbstverständ- serstoffen, die zwar kein Ozonkiller sind, die aber lich auch für die Zukunft als Basis weiter vorgesehen den Treibhauseffekt beträchtlich vorantreiben wer- ist. Die Bundesregierung - das stelle ich hier heute den, die teilweise ein Treibhauspotential von 60 000 fest - nimmt mit Genugtuung zur Kenntnis, wie sich im Vergleich zu CO2 haben? Welche Position hat die die Fraktionen insgesamt in diesem Hause eingelas- Bundesregierung dazu? Wird sie sich in Wien dafür sen haben. Von daher gehe ich davon aus, daß es im einsetzen - meine bisherigen Informationen besa- Hinblick auf Wien - die Diskussion beginnt in der gen, daß dieses Thema in Wien überhaupt nicht nächsten Woche - eine nochmalige und endgültige angesprochen wird -, daß auch das Problem der Festlegung innerhalb der Bundesregierung geben Fluorkohlenwasserstoffe dort thematisiert wird? wird, bei der es zu einer Einigung zwischen den betroffenen Ressorts kommen muß. Ich kann nur Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- über den Stand von heute reden, bin da aber sehr ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- zuversichtlich. cherheit: Frau Kollegin, soweit ich eben zugehört habe, hat Kollege Lippold durchaus auf diese Frage Ich darf als zweiten Punkt für Wien neben dem geantwortet, aber ich will es gern für mich tun, Thema der Wiederauffüllung des multilateralen indem ich noch einmal festhalte, daß die Bundesre- Fonds mindestens im bisherigen Umfang die Frage gierung hier Schritt für Schritt handelt: das Wichtig- der Verschärfung der Kontrollmaßnahmen des Mon- ste zuerst - das war die Substitution der FCKW -, trealer Protokolls nennen. So müssen zum Beispiel und die anderen Schritte - H-FCKW, FKW, Methyl- bei den H-FCKW die zulässigen Verbrauchsober- bromid und andere Dinge - kommen hinsichtlich der grenzen gesenkt werden, und der endgültige Aus- Lösung der Probleme dann nacheinander. stieg muß vorgezogen werden. Das habe ich gesagt, und ich habe auch die Reduktionsschritte bei Wissen Sie, ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie Methylbromid angesprochen. die Durchsetzung von umweltpolitischen Forderun- gen nicht dadurch anderen Fachbereichen gegen- Ich denke, daß über die Einzelheiten der Punkte, über erschweren würden, daß Sie sozusagen alles die in den verschiedenen Anträgen enthalten sind, auf einmal lösen wollen, sondern wenn Sie versu- im Ausschuß ruhig gesprochen werden kann. Das chen würden, kann man innerhalb von fünf Minuten nicht so detail- liert tun, wie es die Anträge verdienen. (Zuruf der Abg. Michaele Hustedt [BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich möchte am Ende doch festhalten, daß sich die nationalen Maßnahmen, mit denen Deutschland vor- nach dem international gültigen Grundsatz „First angegangen ist, international sehen lassen können. things first" zuerst die Dinge zu machen, mit denen wir um 90 Prozent reduzieren können, und dann (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne lassen Sie uns anschließend über die restlichen ten der CDU/CSU) 10 Prozent reden. Ich sage dazu auch, meine Damen und Herren: Die Natürlich gehört alles auf die Tagesordnung, und Dritte Welt, die Entwicklungsländer werden Maß- über alles muß gesprochen werden. Ich verstehe nahmen, die wir vorschlagen, nur dann annehmen, auch Ihre Ungeduld, aber lassen Sie uns das doch wenn wir weiterhin nachweisen können - ich betone: - dann in den entsprechenden Schritten machen; dann weiterhin nachweisen können -, daß wir Verbesse- werden wir auch die anderen mitreißen können. rungen im Umweltbereich durchaus mit positiven Rationales Handeln ist gefragt und nicht emotionale Beiträgen auf dem Arbeitsmarkt verbinden können. schrille Aufregung. Wenn wir das nicht im Einzelfall nachweisen könn- ten, würden sie auf dem alten Weg der Wirtschaft Vielen Dank. gehen, und das wollen wir vermeiden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Zuruf von der F.D.P.: Das ist ein richtiger CDU/CSU) Weg!)

Ich schließe die Aus- Vizepräsident Hans Klein: Herr Parlamentarischer Vizepräsident Hans Klein: Staatssekretär, die Kollegin Hustedt würde gern eine sprache. Zwischenfrage stellen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen Nr. 13/2498, 13/3125 und 13/ 3158 - abweichend vom Überweisungsvorschlag auf Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- der Tagesordnung - zur federführenden Beratung an cherheit: Gerne. den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Gesundheit, den Aus- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Ich habe diese Frage auch schon Herrn Lippold wicklung, den Ausschuß für Fremdenverkehr und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6547

Vizepräsident Hans Klein Tourismus sowie an den Ausschuß für die Angele- chermaßen muß das Verfahren wi rtschaftlicher und genheiten der Europäischen Union zu überweisen. effizienter gestaltet werden. Die Neuregelungen Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? müssen der deutlichen Entlastung der Justiz dienen, ohne die rechtsstaatliche Ausrichtung des Verfahrens (Birgit Homburger [F.D.P.]: Haushaltsaus in Frage zu stellen. schuß!) Diesen Ansprüchen wird die 2. Zwangsvollstrek- - Frau Kollegin Homburger, ich weiß nicht, ob Sie kungsnovelle zwar in weiten Bereichen gerecht; sich mit dem Vorschlag bei den Haushältern beliebt machen. gleichwohl sind es gerade die entscheidenden Vor- schriften, die entweder das Mögliche nicht voll aus- (Birgit Homburger [F.D.P.]: Es würde nicht schöpfen oder aus unserer Sicht die an der sozialen schaden!) Gerechtigkeit orientierten Grenzen des Zwangsvoll- streckungsrechts tangieren. Es gibt also keine ernsthaft vorgebrachten ander- weitigen Vorschläge. Dann sind die Überweisungen Wichtig ist - deshalb nenne ich diesen Punkt auch so beschlossen. zuvörderst -, daß nun auch im Gesetz Klarheit geschaffen wird, daß Schuldner nur dann die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Durch- suchung und Pfändung in ihrer Wohnung dulden Erste Beratung des vom Bundesrat einge- müssen, wenn sie einwilligen oder eine Anordnung brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur des zuständigen Gerichts vorliegt. Liegt aber nun Änderung zwangsvollstreckungsrechtlicher eine solche Anordnung vor, dann ist nicht mehr Vorschriften nachzuvollziehen, warum hiermit nicht auch Voll- streckungshandlungen in Geschäftsräumen außer- (2. Zwangsvollstreckungsnovelle) halb der üblichen Geschäftszeiten, also zur Nachtzeit - Drucksache 13/341 - und an Sonn- und Feiertagen, zulässig sein sollen, ohne daß das Gericht in einem weiteren Schritt ange- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die rufen wird. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dage- gen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Die Gerichtsvollzieher werden heute schon unter Dann ist es so beschlossen. Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßig- keit darauf achten, daß sie ihre Ziele nicht über- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- schreiten. Kassenpfändungen in Kneipen und gen Alfred Hartenbach das Wort. Taschenpfändungen bei Schwarzarbeitern wären leichter durchzuführen. Für Gläubiger wäre dies eine Alfred Hartenbach (SPD): Ich würde .gern zurück- Beschleunigung, an der Rechtsstellung der Schuld- stehen, wenn der Bundesrat, vertreten durch die bay- ner änderte sich nichts. Selbstverständlich ist auch, erische Landesregierung - - daß Wohnungsdurchsuchungen zur Nachtzeit nur auf Grund eines richterlichen Beschlusses zulässig (Zuruf von der F.D.P.: Staatsregierung! sind. Gegenruf von der SPD: Vielen Dank für den Hinweis! - Staatsministerin Ursula Männle Nun ist aber auch nicht jeder Beschleunigungsef- [Bayern]: Wenn die Parlamentarier möch fekt mit dem bestehenden Schuldnerschutz in Ein- ten, dann bitte schön!) klang zu bringen. Der befristeten Geltendmachung von Räumungsschutz stehen wir schon skeptisch Vizepräsident Hans Klein: Also, jetzt haben die gegenüber, auch wenn uns durchaus bekannt ist, Parlamentarischen Geschäftsführer die Rednerliste- daß durch kurzfristig gestellte Schutzanträge der festgelegt. Kommen Sie, Herr Hartenbach! bereits bestellte Möbelwagen wieder abfahren muß. In diesem Falle gilt aber: besser unnütze Kosten ver- ursacht als Schuldner und ihre Familien auf die Stra- Alfred Hartenbach (SPD): Sehr geehrter Herr Präsi- ßen geräumt. dent! Liebe Rechtsfreundinnen und Rechtsfreunde! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich hätte Ihnen Gleichermaßen haben wir Vorbehalte gegen die wirklich gerne den Vortritt gelassen, Frau Männle. Vorladung der Schuldner zur Abgabe der eidesstatt- lichen Versicherung, wenn sie dem Gerichtsvollzie- (Zuruf von der SPD: Da sehen Sie mal, wie her den Zutritt zur Wohnung verweigern. Sie üben höflich wir sind!) doch lediglich ein Grundrecht aus. Da muß man auch Fast 120 Jahr alt, nur die gröbsten Falten wurden die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren und ab und an einmal geglättet - so stellt sich das Achte zunächst den zweiten, richterlich abgesegneten Ver- Buch der Zivilprozeßordnung dar. Es ist gut, daß der such zur Vollstreckung machen, und dann erst kann Bundesrat eine etwas umfangreichere Novellierung die Ladung zur Abgabe zur eidesstattlichen Versi- anregt; hoffen wir, daß uns ein echtes Facelifting, cherung erfolgen. vielleicht sogar eine richtige Runderneuerung gelingt. Wir begrüßen sehr, daß in vielen Fällen das Verfah- ren für Gläubiger effizienter werden kann, ohne daß Ziel dieses Gesetzgebungsverfahrens muß sein: dabei in die Rechtsstellung der Schuldner eingegrif- Die in zähen und mühsamen Verhandlungen fen wird. Das gilt bei den Vollstreckungen Zug um errungenen Schutzfunktionen für Schuldner müssen Zug, beim freihändigen Verkauf von Pfandgegen- erhalten bleiben. Für Gläubiger und Schuldner glei- ständen und insbesondere bei der Möglichkeit der 6548 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 Alfred Hartenbach ratenweisen Tilgung der Schuld nach erfolgter Pfän- das Vollstreckungsgericht nicht einmal den Betrag dung. Der Gesetzgeber vollzieht und lega lisiert, was fest, der einbehalten werden kann. Dieser Betrag schon lange von den Gerichtsvollziehern zu Nutz ergibt sich aus dem Gesetz - mit Ausnahme der und Frommen von Gläubiger und Schuldner gehand- Pfändbarkeit bei Unterhaltsansprüchen. Der Rechts- habt wird. pfleger macht also etwas, was ich ganz überwiegend als juristisches Tütenkleben bezeichne. Leider macht der Entwurf auf halbem Wege halt. Was spricht eigentlich dagegen, die Forderung auch Für mich ist es vorstellbar, in diesen - teilweise ein- dann über den Gerichtsvollzieher in Teilbeträgen fach gelagerten - Fällen dem Gläubiger zu gestatten, einzuziehen, wenn die Vollstreckung fruchtlos aus- wie bei der Mobiliarvollstreckung den Gerichtsvoll- gefallen ist, sofern der Gläubiger damit einverstan- zieher unmittelbar zu beauftragen, der auf Grund den ist und nach der Einschätzung des Gerichtsvoll- seiner Ausbildung die Zulässigkeit der Vollstreckung ziehers eine Tilgung ohne Neuverschuldung reali- auch in diesen Fällen prüfen kann. Dabei muß sicher- stisch erscheint? Der Gläubiger wi ll Bares sehen, und gestellt sein, daß Schuldner und Drittschuldner mit den Schuldner bewahrt man oft vor peinlichen Erklä- der Zustellung des Zahlungsverbots ausreichend rungen, möglicherweise gar vor einer Kündigung sei- über Rechtsmittel und Rechtsbehelfe informiert und nes Arbeitsverhältnisses; und ich denke, man kann belehrt sind. Das Vollstreckungsgericht wird dann das auch noch dann praktizieren, wenn die Abgabe erst tätig, wenn sich Schuldner oder Drittschuldner der eidesstattlichen Versicherung durch die Haft gegen das Zahlungsverbot wenden. Der Schutz der erzwungen werden soll. Schuldner vor unzulässigen Eingriffen bleibt erhal- ten. Das Vollstreckungsgericht wird spürbar entla- Bei dem Wort Haft muß ich etwas verweilen: Nach stet, und qualifizierte Rechtspflegerinnen und geltendem Recht kann der Schuldner dann verhaftet Rechtspfleger werden für andere wichtige Aufgaben werden, wenn er die Abgabe der eidesstattlichen freigestellt, wie etwa für die Betreuungsverfahren Versicherung verweigert. Der Gerichtsvollzieher lie- oder für das Insolvenzrecht. fert ihn in die nächste Justizvollzugsanstalt ein. Erklärt jedoch der Schuldner bei der Verhaftung, er Halten wir fest: Der Entwurf ist eine beachtliche wolle nun die eidesstattliche Versicherung abgeben, Antwort auf fällige Reformen. Er wirft allerdings Pro- ist er dem Vollstreckungsgericht, also dem Rechts- bleme auf, die den Schuldnerschutz tangieren. Er pfleger, vorzuführen. Das alles bereitet kein Problem gestaltet das Verfahren in Teilbereichen effizienter, zu üblichen Dienstzeiten. Abends und am Wochen- macht aber einige wünschenswerte Schritte nicht, ende kann dies trotz Bereitschaftsdienst aber dazu die einer noch deutlicheren Entlastung der Justiz die- führen, daß der abgabewillige Schuldner einen bis nen könnten. zwei Tage in Haft verbringt. Hier stellt sich natürlich die Frage: Muß das sein? Und die Antwort lautet Lassen Sie uns nun - Herr Lanfermann, ich lade Sie besonders ein - gemeinsam beraten und ent- genauso natürlich: Nein! Nach der Haftanordnung durch den Richter kann der Gerichtsvollzieher näm- scheiden, ob wir am Ende des Verfahrens den alten lich jetzt schon als reine Vollstreckungshandlung die Kuckuck etwas aufgeplustert hier vorfinden eidesstattliche Versicherung abnehmen. Ich denke, (Zuruf von der SPD: Ein sehr schöner Ver die Freiheitsrechte des Schuldners sind sicherlich gleich!) höher zu werten als die Befürchtung einiger, das Ver- fahren würde dadurch eine Abwertung erfahren. oder ob es uns gelingt, einen aufregend bunten Vogel auszubrüten. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, dessen Verwirklichung zu einer entscheidenden Ent- Ich danke Ihnen, daß Sie mir bei dieser trockenen lastung der Vollstreckungsgerichte beitragen- kann, Materie so zugehört haben. aber intensiver und gewissenhafter Beratung bedarf, (Beifall im ganzen Hause) weil wir hier Neuland betreten und weil der Schutz der Schuldner für uns ein wichtiges Gut ist: Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Dietrich Bei der Vollstreckung in körperliche Sachen Mahlo, Sie haben das Wort. beauftragt der Gläubiger den Gerichtsvollzieher unter Übersendung des Vollstreckungstitels, der Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Präsident! Vollstreckungsklausel und des Zustellungsnachwei- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin ses sowie aller Forderungsaufstellungen unmittelbar. von meiner Fraktion aufgefordert worden, noch inter- Bei einer Vollstreckung in Geldforderungen über- essanter zu reden als mein Vorredner, aber ich habe sendet er die gleichen Unterlagen zuerst dem Voll- Sie schon darüber belehrt, daß es auch ein bißchen streckungsgericht. Dabei bedient er sich in aller an der Materie liegt. Regel eines Formulars, das er säuberlich ausgefüllt „In abgeschlossenen Kreisen lenken wir gesetzlich und mit seinem Namen, dem Namen von Schuldner streng das in der Mittelhöhe des Lebens wiederkeh- und Drittschuldner und weiteren Angaben zum rend Schwebende" - das steht in der „Natürlichen Schuldtitel versehen hat, also genauso wie bei der Tochter". körperlichen Pfändung. Auf dieser Grundlage ver- fügt das Vollstreckungsgericht den allseits bekann- Wenn ich mir die apokalyptischen Sorgen vor ten Pfändungs- und Überweisungsbeschluß, ohne Augen führe, die sonst an dieser Stelle diskutiert erneut, wie viele irrtümlich glauben, in eine Sachprü- werden, dann finde ich es manchmal ganz wohl- fung eingetreten zu sein. Ganz überwiegend setzt tuend, wenn man als Jurist in dieser „Mittelhöhe des Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6549

Dr. Dietrich Mahlo Lebens" einmal etwas ordnungsgemäß regeln kann, einem Gerichtsvollzieher in der Wohnung des was sich diesen Dimensionen entzieht. Schuldners oder an einem anderen Ort abgenommen werden können. Das ist in dem Entwurf der Länder, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) soweit ich weiß, mit knapper Mehrheit unterlegen. Das tun wir nun in Form eines sechzigseitigen Darauf werden wir zurückkommen. Gesetzentwurfs. Ich begrüße, daß die Voraussetzungen für die Pro- (Zuruf von der F.D.P.: Vom Feinsten!) zeßkostenhilfe konkreter werden. Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich jetzt nicht den (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Versuch mache, unter den 50 Vorschriften, die geän- DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) dert werden sollen, einzelne aufzugreifen und sie Das ist wichtig - das wird Sie, Herr Fischer, beson hier Revue passieren zu lassen. ders brennend interessieren -, weil es eben dazu bei- (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ trägt, auch dem wirtschaftlich Schwachen, den wir DIE GRÜNEN] : Das ist aber ein Jammer! immer den sozial Schwachen nennen, sein Recht auf Das hätten wir erwartet!) Vollstreckung zukommen zu lassen. Immerhin darf man, glaube ich, in einer schnellebi- (Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] gen Zeit, wenn man seit 1877 - von 1877 stammt das [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) bisherige Zwangsvollstreckungsrecht -, also etwa - Vielen Dank, Herr Fischer. 120 Jahre damit hat arbeiten können, wahrscheinlich sagen, daß unsere Vorfahren eine ganz ordentliche (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das gesetzgeberische Arbeit geleistet haben müssen. war der Beifall von Herrn Fischer, der wie Jetzt allerdings ist die Zeit für Reformen reif. der mal gar nichts verstanden hat!) Worum geht es? - Es geht um Straffung der Verfah- Alles in allem enthält der Entwurf eine Reihe von ren, Verlagerung von Kompetenzen, Verzicht auf einleuchtenden neuen Vorschlägen. Wir werden das bestimmte Klageerfordernisse, Erweiterung der Ra- im Ausschuß debattieren. Hoffentlich wird es eine tenzahlungsgewährung, überhaupt darum, Zwangs- interessante Diskussion. vollstreckung wirtschaftlicher und effizienter zu Vielen Dank. machen, ohne dabei undifferenzie rt zu werden. Es geht um Vereinfachung, Beschleunigung, Verbesse- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ rung der Durchsetzbarkeit von Titeln, Entlastung der DIE GRÜNEN]: Darf ich noch eine Zwi Vollstreckungsorgane. schenfrage rufen, nämlich warum so viele von der PDS bei dem Thema Zwangsvoll Durch immer neue Schuldnerschutzvorschriften ist streckung da sind? - Heiterkeit) in den vergangenen Jahrzehnten die Effektivität der Forderungsdurchsetzung über das nützliche Maß - Die Frage, die sich stellt, ist: Sind sie Gläubiger hinaus ausgehöhlt worden. Im Einzelfall blieb man- oder Schuldner? - Vielleicht wird uns das der Redner cher Prozeß ein stumpfes Schwert und manches von ihrer Seite beantworten. Urteil eine fromme Deklamation. Ein unwirksames Zwangsvollstreckungsverfahren aber kostet viel Erstens war die Rede- Geld, schädigt das Vertrauen in das Recht und richtet Vizepräsident Hans Klein: zeit des Herrn Kollegen Mahlo schon abgelaufen; großen volkswirtschaftlichen Schaden an. Unein- zweitens können Sie nur einen Zwischenruf machen, bringliche Schulden führen Jahr für Jahr zu Preisstei- Herr Kollege Fischer; gerungen, zu hohen Zinsen, zu nachlassender- Inve- stitionstätigkeit, zu Insolvenzen, kurz: zu Schäden in (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Milliardenhöhe. Das gilt es bei der Reform zu beach- DIE GRÜNEN]: Einen zwischengefragten ten. Auf der anderen Seite gilt es auch, den Erforder- Ruf!) nissen eines rechtsstaatlichen Verfahrens in jeder Phase zu genügen. Diese beiden Zielsetzungen cha- für eine Zwischenfrage bedarf es der Worterteilung. rakterisieren die Gratwanderung, auf der wir uns (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Und drittens befinden. Ich denke, daß man mit etwas Fingerspit- war es trotzdem gut!) zengefühl und etwas Weitsicht diese Wanderung unternehmen kann. Aber wir haben das geistig bereits in einen Zwi- schenruf umgewandelt, Herr Kollege. Ein besonderes Interesse - das ist schon gesagt worden - verdient der Vollstreckungsschutz in Woh- Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinz Lanfer- nungsräumungssachen. Ich will das hier nicht weiter mann. ausführen. (Zuruf von der SPD: Jetzt kommen wir zur (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Frauenpolitik!) DIE GRÜNEN]: Ein Jammer! - Heiterkeit) - Das ist ein Jammer. Ich kann aber Ihnen, Herr Kol- Heinz Lanfermann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine lege Fischer, ein Privatissimum anbieten. Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Staatsmi- nisterin, ich freue mich, daß Sie heute abend bei uns Wichtig ist, daß eidesstattliche Versicherungen sind; denn selten machen uns Gesetzentwürfe aus möglicherweise außer vor Gericht künftig auch von dem Bundesrat so viel Freude wie dieses Werk, das 6550 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Heinz Lanfermann hier gerade von meinen Vorrednern schon beschrie- Herausragend an diesem Gesetzentwurf ist vor ben worden ist. Es handelt sich in der Tat - deswe- allen Dingen, daß überflüssige Wohnungsdurchsu- gen sind ja die wenigen Feinschmecker aus dem juri- chungen vermieden werden sollen und man dadurch stischen Bereich heute abend hier so begeiste rt ver- schneller zur eidestattlichen Versicherung kommen sammelt - um ein wirklich schönes Werk von kann. 60 Druckseiten. Es gibt nicht nur viele Paragraphen in diesem Werk; es gibt auch unglaublich viele Zitate Ich möchte hier - ich denke, das ist ein ganz guter aus der einschlägigen Zwangsvollstreckungslitera- Ort dafür - noch ein Wort zu den Gerichtsvollziehern tur. Ich kann wirklich nur jeden einladen, dies ein- sagen. Die Arbeit der Gerichtsvollzieher ist nicht mal zu lesen, obwohl ich zugebe, daß im Gegensatz einfach. Sie ist in den letzten Jahren auch nicht zu dem vorherigen Thema, Ozon, oder auch zu Fuß- gerade einfacher geworden. Ich denke, es ist gut, ball oder Diäten dies ein Thema ist, von dem nicht einmal ein Lob dafür auszusprechen, wie diese alle behaupten, sie würden etwas davon verstehen. Arbeit vollbracht wird. Es ist schließlich nicht ange- nehm, Leuten, die einen Prozeß verloren haben oder (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ auf andere Weise der Zwangsvollstreckung unterlie- DIE GRÜNEN]: Da wäre ich mir nicht so gen, dauernd nahezutreten, sie zur Zahlung aufzu- sicher!) fordern und zu prüfen, ob bei ihnen noch etwas zu pfänden ist oder nicht. Ich muß sagen: Bei der Vorbereitung der wenigen Minuten, die mir hier nur bleiben - - Aber es ist eine notwendige Arbeit, denn auch die (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Gläubiger befinden sich in einer schwierigen Situa- tion. Wie viele kleine und mittlere Bet DIE GRÜNEN]: Wie oft sind Sie denn schon riebe leiden zwangsvollstreckt worden?) darunter, daß ihre berechtigten, ja sogar vor Gericht erstrittenen Forderungen nicht vollzogen werden - Herr Fischer, ich finde es ganz toll, daß Sie zu die- können und sie selbst dadurch in Liquiditätsschwie- sem Thema gekommen sind. Jetzt haben wir zwar rigkeiten kommen! Das hat wiederum Folgen für die leider keine Rede von einem Ihrer Kollegen hier Arbeitsplätze. gehört, weil sie sicherlich verhindert sind. Aber ich hatte schon den Verdacht, daß das Thema Zwangs- (Beifall bei der F.D.P.) vollstreckung Ihnen ohnehin Probleme macht, weil Zwangsvollstreckung ist ein Thema, das zwar in es vielleicht mit dem Postulat gewaltfreier Politik der Materie trocken ist, aber im Leben eine große nicht so ganz in Übereinstimmung zu bringen ist. Bedeutung hat. Erlauben Sie mir noch ein letztes (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Wort: Der Gesetzentwurf geht auf einen Beschluß der DIE GRÜNEN]: Na, na! Gläubiger werden Justizministerkonferenz von 1988 zurück. Sieben doch nicht verprügelt, Herr Lanfermann!) Jahre sind für die Entwicklung solcher Vorschriften keine lange Zeit. Wenn ich an die Entwicklung der Ich glaube, Sie haben gerade auch geklatscht, als Insolvenzrechtsreform denke, so muß ich feststellen, Herr Dr. Mahlo etwas zugunsten der Vollstreckungs- daß das noch etwas länger gedauert hat. - Ich sehe, gläubiger gesagt hat. Jedenfalls habe ich das so Herr Funke nickt ganz verständnisvoll. gesehen. Es ist in diesem Zusammenhang überlegt worden, (Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] ob man die eidesstattliche Versicherung im Verfah- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) rensablauf nicht etwas vorzieht, ob sie zum Beispiel - Na ja, das ist eine gute Entwicklung, Herr Fischer. nicht vom Gerichtsvollzieher abgenommen werden könnte. Dagegen spricht nicht die Person des - (Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/ Gerichtsvollziehers als solche - in ihn hätte ich schon DIE GRÜNEN]: „Steuerland ist abge Vertrauen -, dagegen spricht eher die Überlegung, brannt"!) daß wir schon einmal einen ähnlichen Schritt gemacht haben. - Ich finde es auch gut, daß Sie zu unserer Parteizen- trale kommen, um die Plakate dort zu lesen. Auch das ist völlig in Ordnung. Sie können noch einiges Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit! von uns lernen, Herr Fischer. Aber kommen wir zu diesem trockenen Thema Heinz Lanfermann (F.D.P.): Ich komme sofort zum zurück, das bisher in eher humorvoller Form abge- Ende, Herr Präsident. - Es gab früher den Offenba- handelt worden ist. Ich denke, Herr Kollege Harten- rungseid. Diesen haben wir zur eidesstattlichen Ver- bach, eines sollten wir nicht tun: Es hat keinen Sinn, sicherung heruntergestuft. Aber der Vorgang ist sich bei diesem Thema in Einzelheiten - da wir über schon etwas Bedeutendes, und das soll auch der Zwangsvollstreckung sprechen, möchte ich den Schuldner wissen. Deswegen haben wir Bedenken, Begriff gleich fachgerecht gebrauchen - zu verstrik- diesen weiteren Schritt zu gehen. Zumindest sollte ken. Das versteht bei der Kürze der Diskussion nie- man zuerst einmal die Erfahrungen mit diesem mand; wir werden das im Rechtsausschuß behandeln. Gesetzentwurf - wenn er als Gesetz in Kraft getreten Vielleicht ist eine solche Verfahrensweise ein Beispiel ist - abwarten, um dann noch einmal über diesen dafür, wie sinnvoll es sein könnte, Gesetzentwürfe Schritt nachzudenken. ohne eine Debatte im Plenum direkt in den Rechts- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ausschuß zu verweisen, um sie do rt - selbstverständ- lich in aller Gründlichkeit - zu behandeln. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6551

Vizepräsident Hans Klein: Der Sprecher von Bünd- schutzwürdige Interesse der Schuldner, auch unter nis 90/Die Grünen, der Kollege Volker Beck, möchte den Bedingungen der Zwangsvollstreckung einen seinen Debattenbeitrag zu Protokoll geben.*) Ich gewissen Freiraum für ein menschenwürdiges Leben setze das Einverständnis des Hauses dafür voraus. - zu behalten, gewahrt ist oder durch den Entwurf wei- Danke. ter eingeschränkt wird. Die Bundesregierung hat hier schon Bedenken zum Beispiel im Zusammen- (Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Wir werden es hang mit § 811 ZPO, angemeldet. aufmerksam lesen!) Ich möchte abschließend auf ein brennendes Pro- Als nächstem erteile ich Professor Uwe-Jens Heuer das Wort. blem hinweisen. Es gibt Vermögensgegenstände, deren Besitz von existentieller Bedeutung für ein menschenwürdiges Dasein ist. § 811 ZPO hat dem Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Herr Präsident! Meine durch die Aufstellung unpfändbarer Gegenstände Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob Herr Fischer Rechnung getragen. Zu diesen Gegenständen gehört hier war, um in Vorbereitung seines Parteitages hin- meines Erachtens die Wohnung. Wenn bestimmte sichtlich der Möglichkeit, Zwang anzuwenden, von Gegenstände unpfändbar sind, wenn ein bestimmtes uns zu lernen. Einkommen unpfändbar ist, warum sollte dann die Der vorliegende Gesetzentwurf enthält 30 mehr Räumung der Wohnung mit dem Ergebnis der oder weniger einschneidende Änderungen der Vor- Obdachlosigkeit weiterhin möglich sein? Ich weiß, schriften über Zwangsvollstreckung. Herr Harten- daß dies kein Problem der ZPO allein oder der ZPO bach hat schon davon gesprochen, daß es sich dabei in erster Linie ist. Angesichts von bereits jetzt zirka um mehr als Kosmetik handelt. Eine Entrümpelung 920 000 Obdachlosen sollte die dramatische einer so alten Vorschrift und die Herstellung ihrer Zunahme von Räumungsklagen vor allem in Ost- besseren Handhabbarkeit unter den heutigen Bedin- deutschland - in kurzer Zeit in Leipzig um gungen sind zweifellos geboten. Nach dem ersten 112 Prozent - auch uns veranlassen, darüber nachzu- Eindruck bietet der Entwurf hier einige akzeptable denken, wie Räumungen möglichst vermieden wer- Lösungen an, so mit den Änderungen zu §§ 813, 825 den können, und nicht unbedingt nur darüber, wie und 828 ZPO. Auch die Übernahme der durch die Räumungen für den Vermieter günstiger gestaltet Rechtsprechung klargestellten Lage zu A rt . 13 des werden können. Grundgesetzes in die Vorschriften zur Wohnungs- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. durchsuchung ist im Sinne der Rechtssicherheit zu begrüßen. (Beifall bei der PDS) Neben all den Klarstellungen, Modernisierungen und Anpassungen an die wohlverstandenen Interes- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der bayeri- sen der beiden sich im Zwangsvollstreckungsverfah- schen Staatsministerin für Bundesangelegenheiten ren gegenüberstehenden Parteien geht es der und Bevollmächtigten des Freistaats Bayern beim Novelle aber in erster Linie - das hat Herr Mahlo hier Bund, Frau Professor Ursula Männle, das Wort. positiv hervorgehoben - um die Verbesserung der Stellung der Gläubiger. Die Durchsetzung titulierter Staatsministerin Ursula Männle (Bayern): Herr Prä- Forderungen soll verbessert werden. sident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag berät heute erstmals über den Natürlich gehört zum Rechtsstaat auch, daß voll- Entwurf des Bundesrates zu einem Zweiten Gesetz streckungsfähige Ansprüche durchgesetzt werden zur Änderung zwangsvollstreckungsrechtlicher Vor- können. Es ist auch kaum zu bestreiten, daß Gläubi- schriften. Ich bedanke mich bei allen Fraktionen des ger es unter den bisher obwaltenden Umständen Hauses für das Lob, das dieser Vorlage bisher zuteil nicht leicht haben, ihre Forderungen durchzusetzen; geworden ist. sie brauchen dazu Geduld, Energie und Geld. Selbst wenn sie dies alles aufbringen, werden ihre Forde- Mit diesem Gesetzentwurf erreichen jahrelange rungen in vielen Fällen nicht zu befriedigen sein. Vorarbeiten von Spezialisten des Zwangsvollstrek- Abstrakt gibt es also durchaus einen Bedarf, die Stel- kungsrechts endlich den zuständigen Gesetzgeber. lung der Gläubiger zu verbessern, ihre Chancen zur Ich darf ganz kurz auf die Entstehungsgeschichte Befriedigung von Forderungen auch durch eine Ver- eingehen: Bereits im Frühjahr 1988 hatten die Justiz- kürzung und Vereinfachung des Verfahrens zu erhö- ministerinnen und Justizminister der Länder eine hen. Allerdings stellt sich die Lage konkret doch Überarbeitung des Zwangsvollstreckungsrechts wohl so dar, daß die Mehrheit der Schuldner, gefordert, das im wesentlichen - das ist schon ausge- namentlich bei der Mobiliarvollstreckung und der drückt worden - in seiner über 100jährigen Wohnungsräumung, zu den ärmeren und ärmsten Geschichte unverändert geblieben ist. Im Dezember sozialen Schichten gehört. Vereinfacht gesagt: Hier 1988 setzte die Justizministerkonferenz eine Arbeits- wird von oben nach unten vollstreckt. gruppe ein, an der sich auch das Bundesministerium der Justiz beteiligte. Die Arbeitsgruppe hat der Nun mache ich mir keinerlei Illusionen, daß dies in Justizministerkonferenz im Herbst 1992 einen einem sozialen Rechtsstaat zu verhindern wäre. Es Abschlußbericht vorgelegt. Die Vorstellungen der wird aber meines Erachtens bei der Beratung des gerichtlichen Praxis und der betroffenen Verbände Entwurfs im Ausschuß genau zu prüfen sein, ob das waren in die Überprüfung des geltenden Zwangs- vollstreckungsrechts und die Erarbeitung von *) Anlage 5 Reformvorschlägen eingebunden worden. Auf der 6552 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Staatsministerin Ursula Männle (Bayern) Grundlage des Abschlußberichts erstellte die diese Rahmenbedingungen auf eine neue, moderne Arbeitsgruppe schließlich den vorliegenden Gesetz- Grundlage zu stellen. entwurf, der bereits dem 12. Deutschen Bundestag vorlag, der aber am Ende der vorherigen Legislatur- Herr Abgeordneter Hartenbach, Schuldner- und periode nicht mehr behandelt wurde. Gläubigerschutz müssen beide beachtet werden. Unser Ansatz dient dazu, die Rechtspflege zu entla- Meine sehr geehrten Damen und Herren, trotz der sten. Wir sind gern bereit, die Vorschläge und Einzel- langen Vorgeschichte des Gesetzentwurfes - ich heiten, die Sie hier angesprochen haben, mitzudisku- denke, auch Sie sind froh, daß wir am Ende dieser tieren und eventuell einzubeziehen. Geschichte angekommen sind - beraten wir eine im guten Sinne moderne Novelle. Das bisher geltende Ich danke Ihnen. Zwangsvollstreckungsrecht weist zum Teil überflüs- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sige Verfahrensabläufe auf. In der über 100jährigen sowie bei Abgeordneten der SPD) Geschichte der Geltung des Zwangsvollstreckungs- rechts hat sich divergierende Rechtsprechung ent- wickelt, die den Gesetzeswortlaut überlagert. Man- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Parla- che Formalitäten sind als überflüssig erkannt. Die mentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin Reformvorschläge der Novelle straffen die Verfah- der Justiz, Rainer Funke. rensabläufe und liefern damit ein gutes Beispiel für die Bemühungen um einen schlanken Staat. Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen Soweit es die Funktion des Gerichtsvollziehers als und Herren! Die 2. Zwangsvollstreckungsnovelle ist Vollstreckungsorgan zuläßt, werden ihm maßvoll für die Praxis ein ganz wichtiges Gesetz. Deswegen Kompetenzen übertragen, die bislang in der Hand wundere ich mich eigentlich, daß hier außer einem des Vollstreckungsgerichts lagen. So bekommen wir prominenten Anwaltskollegen keine weiteren unbürokratische Abläufe, die die Entscheidungs- Anwaltskollegen im Raum sind; denn die müssen kompetenz, wo es rechtlich zulässig ist, in die Hand damit später arbeiten. des Vollstreckungsorgans selbst legen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir Außerdem bereinigt der Entwurf Unklarheiten und sind hier als Abgeordnete und nicht als setzt langjährige Rechtsprechung zum Schutz des Anwälte!) Schuldners um, so etwa die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Notwendigkeit einer - Es schadet einem Anwaltskollegen, der gleichzeitig richterlichen Anordnung der Wohnungsdurchsu- Bundestagsabgeordneter ist, nicht, wenn er sozusa- chung beim Schuldner. Die 2. Zwangsvollstrek- gen die Rechtsfortbildung im eigenen Hause mitbe- kungsnovelle beschleunigt den Ablauf des Vollstrek- kommt. Ich hätte das ganz gern gesehen. Bei der kungsverfahrens, ohne das Schutzbedürfnis des Beratung der Bundesrechtsanwaltsgebührenord- Schuldners zu vergessen. Sie schlägt auch im Inter- nung werden wahrscheinlich mehr Kollegen hier esse des Schuldners mehr Flexibilität vor, etwa bei sein. der Gewährung des Vollstreckungsaufschubs auf Grund von Ratenzahlungen. (Beifall der Abg. Co rnelia Schmalz-Jacob sen [F.D.P.]) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die 2. Zwangsvollstreckungsnovelle dient auch der Ich darf das als Anwalt sagen. Beschleunigung der Zwangsvollstreckungsverfah- Die Bundesregierung unterstützt diese Novelle ren. Das eigentliche Ziel der Zwangsvollstreckungs-- sehr. Sie ist in der Tat für die Praxis ungewöhlich novelle ist aber eine Anpassung der Gesetzeslage an wichtig. Sie setzt eine Reihe von Gerichtsurteilen um, moderne Entwicklungen. Deshalb sollte man die auch die des Bundesverfassungsgerichts. Darauf ist Novelle nicht mit anderen Vorstößen zur Straffung Frau Professor Männle bereits eingegangen. und Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens verwechseln. Nicht umsonst bin ich auf die Entste- Im Bereich der Verwertung von gepfändeten hungsgeschichte des Reformvorhabens eingegan- Sachen räumt die Novelle dem Gerichtsvollzieher gen. Als die Arbeitsgruppe ihre Beratungen auf- weitergehende Befugnisse ein. So kann er künftig nahm, war an die deutsche Wiedervereinigung und auf Antrag von Gläubigern oder Schuldnern selbst die durch sie ausgelöste Personalhilfe der Justiz nicht entscheiden, ob er eine andere Verwertung als durch zu denken. Damit gehört die 2. Zwangsvollstrek- Versteigerung, etwa durch freihändigen Verkauf kungsnovelle nicht in die Reihe der - aus der Sicht oder Eigentumsübertragung auf den Gläubiger, der Länder gewiß notwendigen - Rechtspflegeentla- vornimmt. Das ist eine für die Praxis ganz wichtige stungsgesetze. Angelegenheit. Die Bemühungen um eine effektive Zwangsvoll- Erfreulich aus der Sicht der Bundesregierung ist es streckung sind ein wichtiger Schritt und ein selbstän- auch, daß die Novelle eine in der Praxis festzustel- diger Baustein zur Sicherung des Wirtschaftsstand- lende Verlagerung der Bedeutung von den Mobiliar- orts Deutschland. Nur wo einem gerichtlichen vollstreckungen hin zu Forderungspfändungen Erkenntnisverfahren eine zuverlässige und rasche berücksichtigt. Die eidesstattliche Versicherung Zwangsvollstreckung folgt, bestehen verläßliche setzt nicht mehr stets eine fruchtlose Sachpfändung rechtliche Rahmenbedingungen für das Wirtschafts- voraus. Insoweit meine ich, daß der Bezug von Herrn leben. Die 2. Zwangsvollstreckungsnovelle hilft, Kollegen Hartenbach nicht ganz richtig war, denn es Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6553

Parl. Staatssekretär Rainer Funke ist bei der Zwangsvollstreckung doch immer wichtig Berichterstattung: gewesen, die Bescheinigung der Erfolglosigkeit vom Abgeordnete Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Gerichtsvollzieher zu bekommen und dann auf diese Cornelia Schmalz-Jacobsen Weise zu erfahren, wo gegebenenfalls noch pfänd- Cern Özdemir bare Habe, insbesondere im Bereich der Lohnforde- Ulla Jelpke rungen usw. vorhanden ist. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ker- Lassen Sie mich abschließend jedoch ein Beden- stin Müller (Köln) und der Fraktion BÜND- ken äußern. Wir wollen die Ausdehnung des Schut- NIS 90/DIE GRÜNEN zes des privilegierten Vorbehaltsverkäufers in den Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge mit langem Ausschußberatungen noch einmal problematisieren. Aufenthalt - Änderung von § 100 des Auslän- Das ist insbesondere im Bereich der freien Berufe dergesetzes (Altfallregelung) nicht ganz unwichtig. - Drucksache 13/2550 (neu) — Meine Damen und Herren, diese Zwangsvollstrek- Überweisungsvorschlag: kungsnovelle ist kein Jahrhundertwerk. Vielmehr Innenausschuß (federführend) wird versucht, das umzusetzen, was in diesen vier Rechtsausschuß Jahren umsetzbar erschien. Aber wir müssen natür- lich noch systematisch und strukturell eine Gesamt- Ich darf zunächst fragen: Ist für diese Punkte etwas reform des Zwangsvollstreckungsrechts vornehmen. zu Protokoll gegeben worden? - Nein. Nicht zu Unrecht ist von Herrn Kollegen Hartenbach Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die und auch von Herrn Lanfermann darauf hingewiesen gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgese- worden, daß die ZPO über 100 Jahre alt ist und daß hen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann wir noch einiges systematisch verändern können und ist das so beschlossen. müssen. Wir konnten das aber in der Kürze der Zeit nicht, denn es gibt im Zwangsvollstreckungsrecht Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wo rt eine ganze Reihe von Verweisungen und Verzahnun- der Kollegin Dr. Sonntag-Wolgast. gen, zum Beispiel mit der Abgabenordnung und der Insolvenzordnung. Insoweit müssen wir weiterarbei- Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Herr Präsi- ten. Ich hoffe, daß wir dann in der 3. Zwangsvoll- dent! Meine Damen und Herren! Zur Einstimmung streckungsnovelle noch grundlegende Arbeiten erle- möchte ich vor diesem erlauchten kleinen Kreis ein digen können. Bündel von Briefen zur Hand nehmen und einige wenige Sätze zitieren. Da heißt es zum Beispiel: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich bitte, Familie M. Bleiberecht zu gewähren, da (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) es mir unchristlich erscheint, sie nach Sy rien zurückzuschicken, weil ihr do rt als Mitglied einer christlichen Minderheit Gefahr droht. Außerdem Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- sollten sie in Deutschland bleiben dürfen, weil sie sprache. hier schon über sieben Jahre leben. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des So weit diese Passage eines Bittschreibens. Ange- Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/341 an den hängt ist eine lange Unterschriftenliste von Nach- Rechtsausschuß vor. Gibt es dazu anderweitige Vor- barn und Freunden. schläge? - Es werden keine gemacht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Beispiel Nummer zwei, an uns im Innenausschuß gerichtet, eine Bitte um Menschenrechtsschutz für Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b eine Familie, die 1989 zu uns gekommen ist, wegen auf: ihres aktiven Eintretens für ihren jüdisch-christlichen Glauben aus der damaligen UdSSR ausgebürgert a) Beratung des Zwischenberichts des Innenaus- wurde und jetzt in einer rheinischen Kleinstadt lebt. schusses (4. Ausschuß) gemäß § 62 Abs. 2 der Ich zitiere noch einmal: Geschäftsordnung Die Kinder Mira und Paul absolvieren gerade die zu dem von der Fraktion der SPD eingebrach- Hauptschule und stehen in der praktischen ten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Berufsausbildung. Die Familie ist völlig in der Ausländergesetzes und des Asylverfahrens- deutschen und europäischen Kultur aufgegan- gesetzes gen. Sie hat besonders dankbar nach der religiö- sen und persönlichen Unterdrückung in der zu dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf UdSSR das Gemeindeleben geschätzt und wahr- eines Gesetzes zur Änderung des Ausländer- genommen. Der Sohn David ist am 5. März 1991 gesetzes in Bad Neuenahr geboren. zu dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf Liebe Kollegen und Kolleginnen, Sie alle kennen aus eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfah- Ihren Wahlkreisen solche B riefe, Bittgesuche, Pro- rensgesetzes testresolutionen, Zeitungsartikel. - Drucksachen 13/809, 13/1188, 13/1189, 13/ (Cornelia Schmalz-Jacobsen [F.D.P.]: Das ist 3132 - sehr wahr!) 6554 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Ausländische Familien sollen nach einem mehrjäh- Wir brauchen endlich eine humane „Altfallrege- rigen Asylverfahren Deutschland wieder verlassen - lung". Wir brauchen sie bald, und wir brauchen von und das, obwohl sie hier inzwischen Wurzeln Ihnen endlich eine klare Antwort. geschlagen haben, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, ihre Kinder in Schulen oder Kindergä rten (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marga schicken. Wir sprechen in ziemlich anonymer Kühle reta Wolf [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE von „Altfällen". Wir meinen ehemalige Asylbewer- GRÜNEN]) ber, De-facto-Flüchtlinge - sprich: Geduldete - und Diese Antwort kann aber nicht so ausfallen, wie es Vertriebenenbewerber, denen das geltende Auslän- uns der Innenminister vor zwei Wochen am Beispiel derrecht die Ausreise zwingend vorschreibt, obwohl der Länder Rheinland-Pfalz und Hessen vorgeführt sie sich hier voll integriert haben und niemandem hat. Er verkündete, daß bislang als „Altfälle" behan- „auf der Tasche" liegen. delte Familien nun sofort ausreisen sollten, und das zu einem Zeitpunkt - das muß ich betonen -, in dem Es ist schon bemerkenswert, wie rasch den deut- inhaltlich deckungsgleiche Gesetzentwürfe des Bun- schen Bürgerinnen und Bürgern die Parole „Aus- destages wie auch der Länderkammer noch im Aus- länder raus" auf den Lippen erstirbt, wenn sie solche schuß anhängig sind. Ich meine, dieses Verhalten Menschen einmal persönlich kennenlernen, sich mit verstößt nicht nur gegen den Grundsatz der Humani- ihrem Schicksal befassen und vielleicht sogar tät, sondern auch gegen den parlamentarischen Freundschaft schließen. Wenn dann diese Familien Brauch, schwebende Gesetzesänderungen nicht Deutschland verlassen sollen, erhebt sich massiver durch eine Politik der vollendeten Tatsachen zu kon- Widerstand. terkarieren. (Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgit Nun weiß ich sehr wohl, weiß die SPD-Bundestags- ter] [SPD]) fraktion, daß wir längst nicht allen Zugewanderten Wenn der Innenminister, wenn die Mehrheit im Heimstatt auf Dauer bieten können. Die „Altfallre- gelung" aber, für die wir im Gleichklang mit dem Kreise der Regierungsfraktionen schon nicht auf die Bundesrat werben, und zwar seit mehr als einem hal- Opposition hören mag, dann vielleicht wenigstens ben Jahr, ist der Versuch eines Brückenschlages zwi- auf jemanden aus Ihren eigenen Reihen. Denn es schen den rigorosen Vorgaben des Gesetzes und war der rheinland-pfälzische CDU-Landesvorsit- zende, unser ehemaliger Bundestagskollege dem Gebot der Humanität. Wir wollen schlicht und Johan- einfach die Möglichkeit schaffen, daß Ausländern nes Gerster, der scharfe Kritik am Verhalten Manfred mit mindestens einem minderjährigen Kind die Auf- Kanthers übte und sogar das Wo rt „Inhumanität" in enthaltserlaubnis nach fünfjährigem Aufenthalt den Mund nahm. erteilt werden kann. Das ist zwar immer noch eine (Zustimmung bei der SPD) lange Zeitspanne, aber eine wohl notwendige. So kurz, wie Bündnis 90/Die Grünen sie in ihrem Antrag Ich darf auch daran erinnern, daß sich der F.D.P.- ansetzen, können wir sie wohl nicht machen. Kollege Burkhard Hirsch - heute abend leider nicht zugegen - postwendend in diese Debatte einschal- tete und den Innenminister vor übereilten Entschei- Meine Damen und Herren, Saumseligkeit, Desin- dungen warnte. Sein Vorschlag, für Familien mit teresse und Starrsinn sind Markenzeichen für die mindestens einem minderjährigen Kind nach fünf Ausländer- und Flüchtlingspolitik der Bundesregie- Jahren Aufenthalt eine Aufenthaltsmöglichkeit zu rung. gewähren, stimmt völlig mit unserem Antrag über- - ein. Warum dann nicht einfach zustimmen? (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf (Zuruf von der SPD: Genau!) Kutzmutz [PDS]) Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., Hinzu kommt, daß in diesem Themenbereich - ähn- es muß doch auch bei Ihnen wenigstens hin und wie- lich wie in anderen Fragen, wie beim Solidarzu- der der Drang spürbar werden, Ihren hehren Worten schlag oder der Gesundheitsreform - der Spaltpilz parlamentarische Taten folgen zu lassen. zwischen Union und F.D.P. wächst. Nur spekulieren Das sage ich übrigens auch an die Adresse derjeni- Sie offenbar darauf, daß der interne Zwist in dieser gen, die hier im Plenum eine harte Linie der Ableh- Frage nicht so auffällt. nung verfolgen, sich im Wahlkreis aber ganz anders gebärden, nämlich verständnisvoll und tolerant. Wir Leider müssen wir Ihnen hier einen Strich durch erleben da ganz seltsame Wandlungen. Christlich- die Rechnung machen und bedienen uns einmal demokratische und christlich-soziale Hardliner wer- mehr des Mittels, mit Hilfe der Geschäftsordnung die den angesichts eines konkreten Falles, der in einem parlamentarische Waffe der Beratung des „Zwi- Dorf oder einer Stadt für Aufregung sorgt, plötzlich schenberichtes für den Innenausschuß" einzuklagen, zu einer Riege von Wohltätern. weil wir Hinhaltetaktik und Verzögerung nicht wei- Ich will Ihnen auch das an einem Beispiel erläu- ter dulden können. tern: Der CDU-Bürgermeister einer Gemeinde in Rheinland-Pfalz wendet sich gemeinsam mit weite- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ren Parteifreunden mit einem Gnadengesuch für den PDS) Verbleib einer rumänischen Familie hilfesuchend an Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6555 Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast den Innenminister in Mainz. Der Innenminister, SPD, zum Asylverfahrensgesetz heute auf die Tagesord- federführend für die Bundesratsinitiative zur „Alt- nung des Plenums zu setzen, ist, so meine ich, durch- fallregelung", muß die Bittsteller auf die nun mal aus von Ungeduld geprägt. noch geltende Rechtslage verweisen, die der Auslän- derbehörde keinen weiteren Spielraum gewährt. Ich (Widerspruch bei der SPD) finde, das ist ganz schön paradox. - Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, ich glaube schon, Liebe Kollegen und Kolleginnen, hier im Parla- daß er von Ungeduld geprägt ist; aber gut Ding wi ll ment eine strikte Absage zu erteilen, vor Ort oder in Weile haben. einer bestimmten Gemeinde aber den Fürsprecher (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber zu spielen ist inkonsequent und unaufrichtig. doch nicht noch mehr!) (Beifall bei der SPD - Zuruf von der SPD: Ich kann nur eines sagen: Wenn wir Gesetzent- Man kann es auch scheinheilig nennen!) würfe sehr schnell beschließen, dann maulen Sie. Merken Sie sich: Kunstvoller Spagat findet Applaus Beraten wir gründlich, geht es Ihnen zu langsam. Sie vielleicht im Zirkus oder im Varieté, aber nicht im hätten lieber das Mittelmaß. Im Mittelmaß wollen wir politischen Alltag; denn da erwarten die Bürgerinnen aber nicht beraten. Wir wollen abwägend beraten und Bürger, daß Reden und Handeln zusammenpas- und den Sachverhalt miteinander gründlich prüfen. sen und daß Mandatsträger einer Partei in Bonn (Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Krokodilstränen!) nichts anderes sagen als in Remagen oder in Erfu rt oder vor laufenden Fernsehkameras. - Das sind keine Krokodilstränen; das ist bei der (Beifall bei der SPD) Komplexität und der Gewichtigkeit dieser Mate rie absolut notwendig. Verantwortungsvolle Innenpolitik sollte nicht nur auf Gesetzessystematik achten, sondern auch auf die Vor diesem Hintergrund möchte ich auf Details Akzeptanz des Handelns und auf die Logik der überhaupt nicht eingehen. Die Altfallregelung ist im Menschlichkeit. Wer das mißachtet, opfert Einsicht Zusammenhang mit dem Asylkompromiß eingehend und Toleranz der Starre eines Prinzips. beraten und hier im Hause gemeinsam beschlossen worden. Dazu gibt es gültige gesetzliche Regelun- Wir würden im übrigen auch so manchen Fall von gen. Zur Zeit liegen neue Anregungen vor. Aber die Kirchenasyl als absolut letzte Zufluchtsmöglichkeit muß man wirklich sehr sorgfältig beraten. Ich möchte überflüssig machen, wenn wir endlich eine andere darüber heute nicht im Detail Auskunft geben. Ich Regelung hätten. kann nur eines sagen: Wir beraten alle vorliegenden (Beifall der Abg. Cornelia Schmalz-Jacob Gesetzentwürfe sehr sorgfältig sen [F.D.P.]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Es handelt sich im übrigen - auch das will ich Fritz Rudolf Körper [SPD]: Sie beraten, sagen - um eine überschaubare Personengruppe, die beraten, beraten!) in den Genuß einer „Altfallregelung" käme - keines- und wägen sie mit eigenen Vorstellungen ab. Dazu wegs um ein neues, riesiges Einfallstor für Zuwande- benötigen wir noch etwas mehr Zeit. Mehr möchte rer, wie es einige Gegner unseres Entwurfs schon ich dazu heute nicht sagen. düster an die Wand malen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Meine Damen und Herren, ich komme zum Rolf Köhne [PDS]: Feige!) Schluß. Herzliche Bitte und Appell: Machen Sie die- - sem unwürdigen Gezerre rasch ein Ende! Seit Ap ril liegen die Gesetzentwürfe für die „Altfallregelung" Vizepräsident Hans Klein: Wir sollten niemandem, vor. Sie sind in erster Lesung beraten; die Vorarbeit der es für richtig hält, Beratungen dieser A rt im Aus- ist geleistet. Sorgen Sie für eine baldmögliche Bera- schuß zu pflegen und deshalb eine spätabendliche tung im Innenausschuß und natürlich für ein positi- Debatte etwas abzukürzen, Feigheit vorwerfen. ves Votum; dann haben wir diese vorsichtige und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vernünftige Reform endlich geregelt. Die Sache drängt! Ich möchte fetz nicht erforschen, wer der Zwischen- Ich danke Ihnen. rufer war. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Rolf Köhne [PDS]: Ich nehme es zurück!) GRÜNEN und der PDS) Ich erteile der Kollegin Amke Dietert-Scheuer das Wort . Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Erika Steinbach, Sie haben das Wort. Amke Dietert-Scheuer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- Erika Steinbach (CDU/CSU): Herr Präsident! gen! Wir finden es sehr begrüßenswe rt, daß das Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kol- Thema der Altfallregelung für lange hier lebende leginnen und Kollegen! Der Antrag, den Stand der Flüchtlinge endlich auf die Tagesordnung des Bun- Beratungen im Innenausschuß zu den unterschied- destages gesetzt worden ist. Es hat sehr lange ge- lichsten Gesetzentwürfen zum Ausländergesetz bzw. dauert, eigentlich viel zu lange. 6556 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Amke Dietert-Scheuer Wir teilen auch das Anliegen der SPD-Fraktion, im Unser eigener Antrag geht allerdings in einigen Bundestag möglichst bald zu einer endgültigen Punkten weiter als diese Entwürfe. Hier die wichtig- Regelung zu kommen. Wir begrüßen ferner, daß die sten Punkte: Notwendigkeit einer baldigen gesetzlichen Neurege- lung auch in der Unionsfraktion gesehen wird. Eine Mindestaufenthaltsdauer von acht Jahren ist unseres Erachtens aus humanitären Gründen nicht Frau Sonntag-Wolgast hat schon die Position des zu vertreten. Der Zeitrahmen muß kürzer gefaßt sein. rheinland-pfälzischen CDU-Vorsitzenden, Johannes Wir schlagen eine Dauer von fünf Jahren, bei Perso- Gerster, erwähnt, der seinem Parteikollegen Innen- nen mit minderjährigen Kindern von drei Jahren vor. minister Kanther in dieser Frage Inhumanität vorge- Ferner lehnen wir eine Stichtagsregelung ab. Eine worfen hat - meiner Meinung nach völlig zu Recht -, Stichtagsregelung ist eine verschämte, einmalige als sich dieser Anfang November geweigert hat, Lösung. Damit drückt man sich um die Tatsache, daß einer Verlängerung des Abschiebestopps in Hessen das humanitäre Problem der lange hier lebenden und Rheinland-Pfalz für seit langem hier lebende Flüchtlinge in den nächsten Jahren wieder auftreten ehemalige Asylbewerber zuzustimmen. wird. Wir plädieren dagegen für eine klare und (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Da hat er dauerhafte Lösung. sich eben geirrt!) Im Gegensatz zu den vorliegenden Gesetzentwür- Eine gesetzliche Lösung für lange hier lebende fen wollen wir eine Lösung nicht nur für Asylbewer- Flüchtlinge und Asylbewerberinnen und Asylbewer- ber nach abgeschlossenem Asylverfahren, sondern ber ist daher dringend geboten. bereits für sogenannte Altfälle im Verfahren. Bundes- rat und SPD wollen aus diesem Personenkreis nur Für uns sind dabei humanitäre Gründe vorrangig; den Gruppen mit hohen Anerkennungschancen ein denn längst haben Asylbewerberinnen und Asylbe- Aufenthaltsrecht anbieten - dies bereits nach zwei werber, die bereits vor Jahren Anträge gestellt Jahren. Dem stimmen wir zwar gerne zu, meinen haben, ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepu- allerdings, daß das für alle Asylbewerber gelten muß, blik Deutschland gefunden. Viele von ihnen haben die sich seit mehreren Jahren im Verfahren befinden; Kinder, die hier geboren wurden, hier zur Schule denn das humanitäre Problem hängt von der Dauer gehen und sich dieser Gesellschaft mittlerweile des Aufenthaltes hier ab, nicht von der Frage des zugehörig fühlen. Aufenthaltsstatus. Aus diesem Grund haben sich zahlreiche gesell- Eine Entlastung der Verwaltungsgerichte muß schaftliche Gruppen mit der Bitte an uns gewandt, konsequenterweise einen weiteren wichtigen Faktor uns dringend für ein asylunabhängiges Bleiberecht der Verschleppung der Asylverfahren aufgreifen, einzusetzen. Dieses Anliegen wird von den großen nämlich die zahlreichen Einsprüche des Bundesbe- christlichen Kirchen, von Verbänden, Flüchtlings- auftragten für Asylangelegenheiten gegen positive initiativen und Rechtsanwälten immer wieder vorge- Entscheidungen durch das Bundesamt oder die bracht. Nicht zuletzt erfahren wir in der Arbeit des Gerichte. Petitionsausschusses von abgelehnten Asylbewerbe- rinnen und Asylbewerbern, die hier seit langem Angesichts der parteiübergreifenden Kritik an der leben und arbeiten. Politik des Innenministers sehen wir begründeten Anlaß zu der Hoffnung, daß in diesem Haus eine Eine Rechtslage, nach der diese Menschen baldige Einigung über eine umfassende Altfallrege- Deutschland trotz vollzogener Integration zwingend lung erreichbar ist. Ich fordere Sie daher auf: Sorgen verlassen müssen, ist gerade ihren deutschen Unter- Sie dafür, daß die gesetzliche Neuregelung nicht stützern schlicht unverständlich. Auch hierfür hat selbst zum Altfall wird, und stimmen Sie im Interesse Frau Sonntag-Wolgast schon Beispiele genannt. einer humanitären Regelung unserem Antrag zu. Ein zweiter wichtiger Gesichtspunkt ist die Entla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stung der Verwaltungsgerichte. Zwar wurden die sowie bei Abgeordneten der SPD und der Verwaltungsgerichte personell erheblich erweitert PDS) und verstärkt; dennoch kommen sie derzeit kaum zu Entscheidungen von Asylklagen in der Hauptsache. Die Gerichte müssen vorrangig über die zahllosen Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Cornelia Rechtsschutzanträge entscheiden, die übrigens eine Schmalz-Jacobsen, Sie haben das Wort. Folge der massiven Einschränkung des Rechtsschut- zes durch die Asylverfahrensänderungen von 1992 Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Herr Präsi- und 1993 sind. Gerade aussichtsreiche Asylklagen dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie sieht ein bleiben so zwangsläufig liegen. Auch für die soge- Altfall aus? Da lebt zum Beispiel eine Familie seit nannten Altfälle, die bereits im Asylverfahren entste- acht Jahren in Deutschland. Die Frau versorgt drei hen, ist daher eine aufenthaltsrechtliche Lösung oder vier alte Frauen in der Gemeinde. Der Mann hat außerhalb des Verfahrens dringend geboten. eine besondere Qualifizierung im Großkesselreini- gen. Die Kinder gehen in die Schule. Diese Leute sol- Humanitäre Gründe und Entlastung der Verwal- len weg. tungsgerichte sind auch die Gründe für die Gesetz- entwürfe des Bundesrates und der SPD-Fraktion. Es entsteht große Unruhe in der Gemeinde, weil Deshalb stimmen wir diesen Gesetzentwürfen im die alten Frauen ins Altersheim müssen und weil die Grundsatz zu. Großkessel schwer zu reinigen sind und kein Ersatz Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6557

Cornelia Schmalz-Jacobsen gefunden wird. Die Kinder fühlen sich in der Schule daß in Einzelfällen Briefe geschrieben werden und wohl. Die Leute haben Wurzeln geschlagen. Sie ver- ansonsten gewissermaßen vom grünen Tisch ent- dienen ihren Lebensunterhalt. Sie gehören dazu. schieden wird. Ich kenne einen Fall in Bayern, da ist jemand seit Vielen Dank. 13 Jahren in der Bundesrepublik und soll nun das (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Land verlassen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele fordern eine Altfallregelung. Die Kollegin Sonntag-Wolgast hat Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kolle- Briefe mitgebracht. Auch ich hätte das tun können. gin Ulla Jelpke. Das Interessante ist, daß es nicht nur B riefe von Ver- bänden, Vereinigungen, Nachbarn und Freunden sind, sondern Briefe, die aus jeder Fraktion dieses Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Meine Damen Hauses kommen. und Herren! Ich denke, daß das Innenministerium, aber auch Bundesinnenminister Kanther nicht müde (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist werden, wenn es darum geht, immer neue Gruppen es!) von hier lebenden Ausländern und Ausländerinnen Aus jeder Fraktion dieses Hauses kommen B riefe, aus Deutschland hinauswerfen zu wollen. Einmal die uns oder mitunter in besonderer Weise mich bit- sind es die Vietnamesen, einmal sind es die Algerier, ten, etwas für den einen oder die andere zu tun. inzwischen sind es die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Johannes Gerster ist als Zeuge genannt worden. Ich dem ehemaligen Jugoslawien. Bei den Anträgen, die nenne auch August Lang, der nicht mehr in der wir heute beraten, geht es um die Menschen, die seit Staatsregierung, Jahren ihren Rechtsanspruch auf politisches Asyl in diesem Land wahrnehmen. (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Eben!) (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Was?) aber immerhin doch Mitglied Ihrer Partei, lieber Herr Zeitlmann, ist. Ich denke, daß auch die Besorgnis des - Das ist ihr Rechtsanspruch; das sind Altfälle, wie bayerischen Innenministers Beckstein, der in genau Sie wissen. Von daher haben sie meines Erachtens dieser Zwickmühle steckt, wie man ein besonderes auch ein Recht, hier zu sein. Kirchenkontingent vielleicht erlangen könnte, ein Bundesinnenminister Kanther stellte, wie zuletzt Beispiel dafür ist, daß man etwas tun muß. im „Focus", die Asylbewerberinnen und Asylbewer- Ich werde Ihnen das Dilemma aufzeigen. Natürlich ber, die unter die Altfallregelung fallen müßten, als kann es nicht in unserem Interesse liegen, einen Zeit- solche hin, die sich mit allen Mitteln und trickreich punkt niederzulegen, bei dem alles Sinnen und einen längeren Aufenthalt in Deutschland erwirkt Trachten darauf gerichtet ist, ihn zu erreichen. Aber hätten. Tatsächlich haben diese zufluchtsuchenden es geht nicht, daß man ohne jegliche menschliche Menschen nur die ihnen zustehenden Rechtsmittel Regung und ohne Augenmaß für humanitäres Han- ausgeschöpft. In dera rtigen Äußerungen des Bundes- deln die Leute abschiebt. innenministers zeigt sich meines Erachtens ein gebrochenes Verhältnis zum Rechtsstaat. Dies gilt Wir haben uns überlegt, ob man aus dieser Falle auch für Überlegungen des Vorsitzenden des Rechts- mit einer Härtefallregelung für Einzelfälle heraus- ausschusses, Eylmann, der just in dieser Diskussion kommt. Das Problem ist, daß solche Fälle sehr schwer gefordert hat, das Asylrecht ganz abzuschaffen und einzugrenzen sind und man bedenken muß, daß der dafür eine sogenannte institutionelle Garantie vorzu- Inspektor vor Ort so etwas überprüfen und auch ent- schlagen. Diese Überlegungen haben nur das eine scheiden muß. Ziel, Asylsuchende vom Grundrecht auf gerichtli- chen Rechtsschutz auszuschließen. Die Gefahr, daß jeder dieser Einzelfälle ein politi- scher Fall wird mit dem öffentlichen Druck und Wir diskutieren hier vor dem Hintergrund, daß allem, was dazugehört, ist eine unerträgliche Vorstel- sozialdemokratische Bundesländer - das haben wir lung. Darum neigen wir Freien Demokraten zu einer schon gehört -, wie zum Beispiel auch Hessen, ver- zeitlichen Regelung. Wir halten das, was vom Bun- sucht haben, einen Abschiebestopp für langjährig desrat hierzu vorgelegt wurde, für vernünftig. Bei hier lebende asylsuchende Menschen zu verlängern. schwerer Krankheit oder Behinderung ist das etwas Dies ist Anfang November an dem Veto von Innenmi- anderes. Da gibt es, ganz leise, humanitäre Lösun- nister Kanther gescheitert. Die betroffenen ausländi- gen. Ich weiß auch dies übrigens aus Bayern. Im schen Familien, um die es hier geht - das ist uns hier Asylkompromiß hat man sich auf eine begrenzte Alt- im Detail von meinen Kolleginnen erläutert worden -, fallregelung verständigt. Aber, liebe Kolleginnen haben sich inzwischen integriert. Sie sollen aus die- und Kollegen, ist es denn eine Schande, noch einmal sem sozialen Umfeld herausgeholt werden. Kinder, darüber nachzudenken, ob man hier nicht etwas ver- die hier geboren wurden, werden aus Schulen und bessern kann? Die Zahlen können ja so horrende Freundeskreis gerissen, wenn sie abgeschoben wer- nicht sein. Neue, ähnlich lange Aufenthaltszeiten den. können wohl schwerlich entstehen. Meine Damen und Herren, ich denke, daß diese Ich hoffe sehr, daß wir zu einer Einigung kommen Menschen gar keine andere Möglichkeit mehr und daß sich die Innenminister von Bund und Län- haben, als in das Kirchenasyl zu gehen; denn seitens dern ebenfalls einigen. Denn ich finde es nicht gut, der Kirchen finden sie gegenwärtig Unterstützung. 6558 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Ulla Jelpke Ich möchte insbesondere in der vorweihnachtlichen Durch die hier bestimmten Regelungen der Fünf- Zeit daran erinnern, daß es nicht gerade eine christli- prozentklausel beziehungsweise der sogenannten che Tat ist, was in diesem Zusammenhang insbeson- Grundmandateregelung sehen die Einspruchsführer dere vom Innenministerium und vom Innenminister einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz der zu hören ist. Art. 3 und 38 des Grundgesetzes. Die eingehende Prüfung durch den Wahlprüfungsausschuß hat Ich freue mich, daß die CDU/CSU nachdenkt. Ich jedoch in allen Fällen eine offensichtliche Unbegrün- möchte aber auch den Appell wiederholen, den detheit der Wahleinsprüche gemäß § 6 Abs. 1 a Nr. 3 andere Kollegen vor mir schon geäußert haben: Es des Wahlprüfungsgesetzes ergeben, so daß auch von gibt in diesem Hause eine Mehrheit, diesen Men- einer mündlichen Verhandlung Abstand genommen schen wirklich zu helfen. Wir werden dem Antrag werden konnte. Denn allein die Behauptung der Ver- der Grünen zustimmen, weil wir im Unterschied zu fassungswidrigkeit von Gesetzen schließt nicht auto- dem Antrag der SPD die kürzeren Fristen befürwor- matisch die Begründung eines Einspruches ein. ten. Auch geht der Deutsche Bundestag nach seiner stän- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. digen Praxis davon aus, die Verfassungsmäßigkeit der bestehenden Wahlgesetze nicht in Frage zu stel- (Beifall bei der PDS und beim BÜNDNIS len. Diese Prüfung bleibt dem Bundesverfassungsge- 90/DIE GRÜNEN) richt vorbehalten. Dennoch will ich Ihnen an Hand einiger Beispiele Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- aufzeigen, daß es für zukünftige Wahlen verfas- sprache. sungspolitisch geboten wäre, über Änderungen der Wahlgesetzgebung zu beraten. So werden als Bei- Der Ältestenrat schlägt eine Überweisung der Vor- spiele folgende Gründe gegen die Grundmandatere- lage auf Drucksache 13/2550 (neu) an die in der gelung genannt: Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Erstens. Die geltende Regelung erleichtert gerade Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. radikalen Parteien den Einzug in den Bundestag. Zweitens. Die entstandene Privilegierung der PDS Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: ist nicht zu rechtfertigen. Beratung der 1. Beschlußempfehlung und des Drittens. Mit Vergrößerung des Bundestages 1990 Berichts des Wahlprüfungsausschusses hätte die Zahl der zu erringenden Direktmandate zur Umgehung der Fünfprozenthürde erhöht werden zu 28 gegen die Gültigkeit der Wahl zum müssen, wie das bereits bei der Vergrößerung des 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Bundestages in den 50er Jahren mit der Erhöhung Wahleinsprüchen von einem auf drei Direktmandate durchgeführt - Drucksache 13/2800 - wurde. Berichterstattung: Und schließlich viertens. Der Wählerwille wird Abgeordnete Dr. Bertold Reinartz durch Anrechnung der Zweitstimmen bei Erreichen Anni Brandt-Elsweier von drei Direktmandaten erheblich verfälscht. Jörg van Essen Auch gegen die Fünfprozentklausel an sich wird Dr. Peter Paziorek Einspruch erhoben, weil - so der Einspruchsführer - Erika Simm damit die abgegebene Stimme für eine an dieser Clemens Schwalbe Klausel gescheiterten Partei insgesamt nicht mehr Norbert Geis berücksichtigt würde. Kurios ist aber hier der Vor- Gerald Häfner schlag eines anderen Einspruchsführers, der für die- Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Fünfminu- sen Fall eine Reservestimme verlangt. tenrunde vereinbart worden. - Dagegen erhebt sich Da auch bei der laufenden Beratung der noch vor- kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. liegenden Einsprüche der Schwerpunkt bei dieser Problematik liegt, hält es die Fraktion der CDU/CSU, Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- in deren Namen ich hier spreche, im Ergebnis der gen Clemens Schwalbe das Wo rt . Beratungen für geboten, im Rahmen der Reformar- beit zur Verkleinerung des Deutschen Bundestages Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Herr Präsident! die Überprüfung der Fünfprozentklausel, der Grund- Meine Damen und Herren! Der Wahlprüfungsaus- mandateregelung, aber auch der Überhangmandate- schuß legt heute den ersten Bericht zu 28 von insges- regelung einzubeziehen. amt 1 434 im Bundesrat eingegangenen Wahlein- Ich begrüße es deshalb, daß wir diesen Prüfungs- sprüchen zur Wahl zum 13. Deutschen Bundestag zur auftrag fraktionsübergreifend in die Beschlußemp- Beschlußfassung vor. Im Rahmen dieses Berichtes fehlung geschrieben haben. Als Mitglied der Reform- waren alle Wahleinsprüche, die ich zu behandeln kommission habe ich dies bereits bei der Aufgaben- hatte, gegen die Vorschrift des § 6 Abs. 6 Satz 1 erste beratung in diese Kommission eingebracht. und zweite Alternative des Bundeswahlgesetzes gerichtet. Hierzu möchte ich ein paar kurze Ausfüh- Abschließend möchte ich nochmals unmißver- rungen machen. ständlich feststellen, daß bei allem politisch gebote- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6559

Clemens Schwalbe nen Handlungsbedarf die Wahleinsprüche nach der- der Wahlprüfungsausschuß, dem die Vorbereitung zeitiger Rechtslage keine Rechtsverletzung nachwei- der Entscheidung des Bundestages auf Grund des sen und damit die Zurückweisung zwangsläufig ist. Wahlprüfungsgesetzes obliegt, seine Prüfungspflicht Dies gilt auch für alle anderen behandelten Einsprü- sehr ernst. Ich denke, ich kann auch im Namen mei- che innerhalb dieser Berichterstattung, auf die mit ner Kolleginnen und Kollegen sagen, daß diese Auf- Sicherheit von den weiteren Rednern eingegangen gabe für uns keine lästige Pflichtübung darstellt. Für wird. uns sind die Einspruchführer demgemäß auch keine lästigen Querulanten oder Besserwisser, sondern Die CDU/CSU stimmt dieser Beschlußempfehlung Bürger, die ihr Wahlrecht sehr ernst nehmen und auf zu. mögliche Mißstände hinweisen wollen. Vielen Dank. Es hat eine lange parlamentarische Tradition, das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Parlament selbst über die Einsprüche gegen seine Wahl entscheiden zu lassen. Schon in der Paulskir- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schmidt, chenverfassung und in der Bismarckschen Reichsver- Sie haben den Wunsch, vom Platz aus zu sprechen. fassung war es alleinige Aufgabe des Parlaments, Sie haben das Wort. hier zu prüfen und zu entscheiden. Das Grundgesetz hat diese Übung in Art. 41 aufgenommen und die Wahlprüfung dem Bundestag zugewiesen. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich erkläre für die SPD-Fraktion, daß ich mit dem von Herrn Schwalbe für die CDU/ Statt eines Wahlprüfungsgerichts aus drei Mitglie- CSU-Fraktion eben vorgeschlagenen Verfahren ein- dern des Reichstages und zwei Mitgliedern des verstanden bin. Reichsverwaltungsgerichts, wie es die Weimarer Ver- fassung vorsah, ist heute, nachdem der Bundestag über einen Einspruch entschieden hat, eine Be- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schmidt, schwerde beim Bundesverfassungsgericht möglich. bitte bleiben Sie noch einen Augenblick stehen. Viel- leicht können Sie dem Haus helfen. Wir werden Deshalb bleibt es auch dem Bundesverfassungsge- nachher über die Beschlußempfehlung des Wahlprü- richt vorbehalten, über die Verfassungsmäßigkeit fungsausschusses abstimmen, die aber berichtigt von Bestimmungen des Wahlrechts zu entscheiden. worden ist. Ursprünglich war vorgesehen, daß der Insofern mußten wir bislang alle Einsprüche von Bür- Vorsitzende des Ausschusses, der offenbar verhin- gern, die die geltende Fünfprozentklausel oder die dert ist, die Berichtigung dem Haus erläutert. Ich Grundmandatsverteilung kritisierten, bei den Bera- weiß nicht, ob Sie vielleicht dazu in der Lage sind; tungen des Wahlprüfungsausschusses als offensicht- sonst kann es der Kollege van Essen jetzt tun. lich unbegründet zurückweisen. Diese beiden Punkte des Wahlrechts wurden bislang nämlich in Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ich wäre dank- ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungs- bar, wenn es der Kollege van Essen machte. gerichts als verfassungskonform angesehen. Im Rah- men der Beratungen der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages sollten allerdings Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege van Essen, diese Vorschriften des Bundeswahlgesetzes über- da Herr Häfner im Moment nicht anwesend ist, prüft und gegebenenfalls Vorschläge zur Änderung erteile ich Ihnen gleich das Wort. Ich bitte Sie, die vorgelegt werden. Berichtigung mit einzubeziehen. Auch können nur solche Wahlfehler einen Wahl- Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine einspruch erfolgreich begründen, die Einfluß auf die Damen und Herren! Auf Seite 3 der Beschlußempfeh- Mandatsverteilung haben oder hätten haben kön- lung muß es statt „Anlagen 1 bis 30" richtig „Anla- nen; so hat ebenfalls das Bundesverfassungsgericht gen 1 bis 25" heißen, weil wir nur über 28 Wahl- entschieden. Deshalb hatte ein Wahleinspruch, der einsprüche entschieden haben, die der Beschluß- mir zur Berichterstattung vorlag und der das Aufstel- empfehlung in 25 Anlagen beigefügt sind. Dies ist len eines Wahlplakates direkt neben dem Eingang mir bereits bei der Vorbereitung meiner Rede für den zum Wahllokal rügte, keinen Erfolg; denn die Anzahl heutigen Tag aufgefallen. Es ist also überhaupt nicht der Wahlberechtigten bzw. der gültigen Stimmen in von Bedeutung; do rt ist ein schlichter Druckfehler diesem Wahllokal war viel zu gering, um die Man- unterlaufen. datsverteilung im konkreten Fall beeinflussen zu können. Trotzdem ist dieser Wahleinspruch wichtig, Meine Damen und Herren, wir beraten und ent- um zukünftig solche Mißstände zu verhindern und scheiden heute über die ersten 28 Einsprüche, die bei den nächsten Wahlen noch stärker darauf zu ach- gegen die Gültigkeit der Wahl zum Deutschen Bun- ten, daß eine unzulässige Wählerbeeinflussung nicht destag vom 16. Oktober des vergangenen Jahres ein- stattfindet und das Ausüben der freien Wahl vollstän- gegangen sind. dig gewährleistet wird. Der Deutsche Bundestag muß sich in dieser Legis- laturperiode - Herr Kollege Schwalbe hat es vorhin Zum Abschluß möchte ich allen Kolleginnen und schon gesagt - mit einer Rekordzahl von Wahlein- Kollegen, aber insbesondere Herrn Ministe rialrat Dr. sprüchen befassen. Trotz dieser hohen Zahl nimmt Kretschmer sowie den Mitarbeiterinnen und Mitar- 6560 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Jörg van Essen heitern des Ausschusses für die hervorragende Vor- fen, sonst wird er den Einwendungen, die erhoben bereitung und Begleitung unserer Arbeit danken. worden sind, nicht gerecht. Vielen Dank. Wie jedes staatliche Organ verpflichtet A rt. 20 (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Abs. 3 des Grundgesetzes auch den Ausschuß zu einer solchen Prüfung. Wenn er zu dem Ergebnis kommt, daß eine Wahlrechtsnorm verfassungswidrig Vizepräsident Hans Klein: Dies ist offensichtlich sein könnte, so gibt es dafür den Weg, der auch in ein besonders vornehmer Ausschuß. Da kommen die der Kommentierung immer wieder vorgeschlagen Kollegen knapp vor ihrer Rede. wird, dem zu folgen der Wahlprüfungsausschuß aber Ich erteile dem Kollegen Gerald Häfner das Wo rt. abgelehnt hat, nämlich in das Plenum zu gehen und dem Plenum zu empfehlen, ein Normenkontrollver- fahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 des Grundgesetzes Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr einzuleiten. Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vor- nehmheit des Ausschusses bezieht sich hoffentlich Das hat der Wahlprüfungsausschuß abgelehnt mit nicht nur auf den Zeitpunkt des Erscheinens im Ple- der Begründung, er habe kein Recht, solche Verfas- num, sondern auch auf den Ton, mit dem wir mitein- sungsverstöße zu überprüfen. Gleichzeitig teilt er ander umgehen, wenn wir über Wahlprüfungsfragen aber den Einwendern immer wieder mit, daß - wört- zu entscheiden haben. liches Zitat - „ein Verfassungsverstoß unzweifelhaft ausscheidet." Ich kann mich vielem, was gesagt wurde, anschlie- ßen; an einer Stelle aber muß ich Wasser in den Wein Das, meine Damen und Herren, kann nicht ange- gießen, und ich will das sehr deutlich sagen. hen; das verstößt schon gegen die Gesetze der Logik. Entweder man prüft, dann kann man, ja dann muß Die Bundestagswahl liegt jetzt gut ein Jahr hinter man auch einen Verstoß feststellen, oder man prüft uns. Wir beschäftigen uns mit Wahlprüfungsfragen. nicht, dann kann man aber auch nicht behaupten, „Offensichtlich unbegründet" - so ist ausnahmslos daß ein Verfassungsverstoß ausscheidet. das harte juristische Urteil über die ersten 28 Ein- sprüche, die uns hier vorliegen. Es ist damit zu rech- Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Wahl- nen, daß auch die Entscheidung über fast alle weite- prüfungsausschuß ist in dieser Frage seiner Aufgabe ren Einsprüche „offensichtlich unbegründet" lauten nicht gerecht geworden. Das ist aber keine unbedeu- wird. tende Frage; denn wie Sie alle wissen, ist mit der Ich denke, daß uns schon die Zahl der Einsprüche Frage der Verfassungsmäßigkeit der Überhangman- auf ein Problem aufmerksam machen sollte. Bei der date auch die Frage nach den Mehrheitsverhältnis- Wahl zum 12. Bundestag waren es noch 86 Ein- sen in diesem Deutschen Bundestag gestellt. Sie wis- sprüche; diesmal sind es 1 434 Bürgerinnen und Bür- sen, daß durch die Regelung, die bei der letzten Bun- ger, die Einspruch erhoben haben. Viele davon wer- destagswahl gegriffen hat, der Grundsatz des glei- den mit einer schwer nachvollziehbaren, manche chen Zähl- und des gleichen Erfolgswertes jeder sogar ohne jede Begründung vorgebracht. Manche Stimme, also einer der obersten Grundsätze des Ver- Einsprüche sind durchaus begründet - Beispiele fassungsrechts im Hinblick auf die Wahlen, durch- wurden ja schon erwähnt -, hätten aber am Ergebnis brochen worden ist. der Wahl nichts geändert. Während der CDU bei der Wahl zum 13. Deutschen Darüber hinaus jedoch gibt es einen zahlenmäßig Bundestag 65 940 Zweitstimmen pro Mandat reich- außerordentlich gewichtigen Komplex von Einsprü- ten, benötigten Bündnis 90/Die Grünen nicht weni- chen, die sich auf die Frage der Grund- und vor allen ger als 69 884 Zweitstimmen pro Mandat. Dingen auf die Frage der Überhangmandate bezie- Wir haben einen Bundestag, der nicht mehr dem hen. Die Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsaus- Willen der Wählerinnen und Wähler entspricht. Wäre schusses, die Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, es nach dem Ergebnis der Zweitstimmen gegangen, heute vorliegt, empfiehlt in all diesen Fällen, die Ein- also nach dem Proportionalitätsgrundsatz, hätte die sprüche zurückzuweisen. Regierungskoalition deutlich weniger Stimmen in Ich bin hier deutlich anderer Meinung. Was hat der diesem Bundestag, als sie heute hat. Diese Frage zu Wahlprüfungsausschuß entschieden? Er hat ent- überprüfen ist von eminentem Interessse, und es schieden, er sehe sich nicht in der Lage, Wahlrechts- wäre unsere Aufgabe als Ausschuß gewesen, diese vorschriften auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu Überprüfung durchzuführen. prüfen. Ich halte diese Auffassung für verfassungs- rechtlich nicht haltbar und für verfassungspolitisch Es geht, wie gesagt, nicht um eine nachrangige untragbar. Frage, sondern es geht im Kern um einen Grundsatz unseres Verfassungsrechts, um den gleichen Zähl- Es gehört zum Stand des bundesdeutschen Verfas- und Erfolgswert jeder Stimme, und es geht darum, sungsrechtes, daß allein das Bundesverfassungsge- daß wir möglicherweise in einem Bundestag tätig richt berufen ist, Gesetze - dazu gehören ja auch sind, der falsch besetzt ist, der nicht dem Willen der Wahlrechtsvorschriften - bei Verfassungswidrigkeit Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger entspricht und zu verwerfen. Dazu ist der Wahlprüfungsausschuß damit auch der Kanzler mit einer Mehrheit gewählt natürlich nicht in der Lage. Er kann und muß aber worden ist, die nicht dem tatsächlichen Wahlergeb- die Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin prü- nis entspricht. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6561

Gerald Häfner Meine Damen und Herren, diese Tatsache darf Dies zu wissen enthebt den Ausschuß aber nicht nicht unter den Tisch gebügelt werden. Wir werden seiner Pflicht, die Einsprüche mit größter Sorgfalt zu deshalb die Beschlußempfehlung in diesem Punkt prüfen und sich der von den Bürgern vorgetragenen ablehnen. berechtigten Anliegen anzunehmen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]) Gemäß Art. 41 des Grundgesetzes obliegt die Kon- trolle der Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag diesem Hohen Hause. Aufgabe dieses Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- spezifischen Verfahrens ist es, die gesetzmäßige lege Dieter Wiefelspütz. Zusammensetzung des Deutschen Bundestages zu gewährleisten. Aus dem Anfechtungsprinzip des Bundeswahlgesetzes folgt, daß der Prüfungsumfang Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Präsident! Liebe von dem Vorbringen des jeweiligen Einspruchsfüh- Kolleginnen und Kollegen! rers abhängt. (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll Aufgrund der Neufassung des § 3 Abs. 2 des Wahl- mer) prüfungsgesetzes gehören dem Wahlprüfungsaus- - Nun geht der Präsident, und eine Präsidentin schuß durch Nachwahlen nunmehr neun statt sieben kommt. Ich wollte mich dafür entschuldigen, daß ich ordentliche Mitglieder an. Eine weitere Neuregelung etwas später gekommen bin und nicht der guten bestimmt, daß der Bundestag aus der Mitte einer Ordnung nachkam, den Kollegen zuzuhören, die mit Vereinigung von Mitgliedern des Bundestages, die mir im Ausschuß diese Arbeit gemacht haben. Aber nach der Geschäftsordnung als parlamentarische wir haben heute nachmittag noch zusammengeses- Gruppe anerkannt ist, zusätzlich ein beratendes Mit- sen und einen weiteren Teil der Wahlprüfungsver- glied wählen kann. Davon ist Gebrauch gemacht fahren abgearbeitet. worden. Ihnen liegt jetzt eine Beschlußempfehlung des Die große Zahl von Wahleinsprüchen machte es Wahlprüfungsausschusses vor, zu der wir um Zustim- erforderlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, von der mung bitten - interfraktionell, fraktionsübergreif end. bisherigen Übung, dem Plenum alle Wahleinsprüche gesammelt vorzulegen, abzuweichen. Wir entschei- Dem Wahlprüfungsverfahren kommt wegen der im den heute über die erste Gruppe von Wahleinsprü- Vergleich zu den vorausgegangenen Wahlperioden chen; weitere Vorlagen des Ausschusses werden fol- überaus großen Zahl von Einsprüchen diesmal eine gen. besondere Bedeutung zu. Wir haben weit mehr als zehnmal soviel Wahleinsprüche wie in den vergan- Der Deutsche Bundestag muß alles tun, um den genen Legislaturpe rioden. Insgesamt haben nicht Vorwurf zu entkräften, daß er das Wahlprüfungsver- fahren absichtlich verzögere, um die bestehende weniger als 1 434 Personen bzw. Personenvereini- gungen Einspruch eingelegt. Die ungewöhnliche Sitzverteilung so lange wie möglich aufrechtzuerhal- Dimension der Aufgabe, die der Ausschuß in dieser ten. Ich persönlich bin der Auffassung, daß der Vor- Wahlperiode zu bewältigen hat, wird erst dann wirk- wurf der Verzögerung absurd ist. Aber immerhin, er erhoben. lich deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß in wird da und dort den vergangenen drei Wahlperioden lediglich 40 bis Wir sind dieses Mal schneller als in den vergange- 80 Wahleinsprüche zu bescheiden waren.- nen Legislaturperioden. Trotzdem haben die Bürge- rinnen und Bürger sicherlich einen berechtigten Ich fand auch ganz interessant, daß ganze Schul- Anspruch darauf, daß das Haus zügig entscheidet. klassen Wahleinsprüche eingelegt haben. Offenbar Ich denke, daß wir in den nächsten zwei Monaten gab es da und dort eine A des staatsbürgerlichen rt auch die übrigen Wahleinsprüche abgearbeitet Unterrichts in der Schule dergestalt, daß man den haben. Wahleinspruch sozusagen im Klassenverband einge- legt hat. Ich bin sehr interessiert daran, wie das dann Im Mittelpunkt des Interesses der Bürgerinnen und in den Schulen nachgearbeitet wird, wenn die Ent- Bürger steht unzweifelhaft die Überhangmandate- scheidungen dieses Hauses vorliegen. regelung. Von den insgesamt über 1 400 Wahlein- sprüchen beschäftigen sich nicht weniger als etwa Die vergleichsweise große Zahl der Einsprüche, 1 300 Einsprüche mit der entsprechenden Norm des die uns erreicht hat, legt die Frage nahe, wie es um Bundeswahlgesetzes. In einem Drittel dieser Fälle die Akzeptanz politischen Handelns und gesetzgebe- wird die Forderung nach einer Gewährung von Aus- rischen Entscheidens in Teilen der Bevölkerung gleichsmandaten erhoben. Eine Vielzahl von Ein- bestellt ist. Andererseits darf die hohe Zahl der Wahl- spruchsführern wandte sich auch gegen die Fünfpro- einsprüche aber nicht vergessen machen, daß die zentklausel oder gegen die Grundmandatsregelung übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger die in der jetzigen Fassung. Durchführung und das Ergebnis der Wahl akzeptiert und auf die Rechtmäßigkeit der Wahl vertraut. Der Ausschuß hat es als seine Pflicht angesehen, Schließlich ist es nur ein ganz geringer Teil der fast sich mit den Argumenten der Bürgerinnen und Bür- 50 Millionen Wähler und Wählerinnen, der sich des ger, die sich mit den inkriminie rten gesetzlichen Mittels des Wahleinspruchs bedient hat. Regelungen nicht abzufinden vermögen, intensiv 6562 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dieter Wiefelspütz auseinandersetzen. Es ist ein Ertrag der Beratungen, die zum Jahresende 1995 insgesamt 8,7 Milliarden daß das Plenum in der nunmehr vorliegenden DM betragen werden, soll zwischen den kommuna- Beschlußempfehlung aufgefordert wird, die Reform- len Spitzenverbänden, der Bundesregierung und kommission zur Größe des Deutschen Bundestages den ostdeutschen Ländern nunmehr am 4. Dezember damit zu betrauen, die Vorschriften des Bundeswahl- 1995 weiter verhandelt werden. Der Bundeskanzler gesetzes zur Überhangmandatenregelung, zur Fünf- hat sich am Montag leider noch nicht dazu durchrin- prozentklausel sowie zur Grundmandateregelung gen können, den genannten 1 400 ostdeutschen kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls Ände- Kommunen die vollständige Befreiung von der Last rungsvorschläge zu erarbeiten. „Altschulden", für die sie nicht verantwortlich sind, zuzusagen. Wir bedauern das ausdrücklich. Lassen Sie es mich dabei bewenden. Wir werden noch weitere Wahleinsprüche zu debattieren haben. Will die Bundesregierung mit dem Geltendmachen Ich möchte mich von dieser Stelle aus schon jetzt bei von in der Sache nicht berechtigten Forde rungen den Kolleginnen und Kollegen des Wahlprüfungs- Städte wie Leipzig, Halle/Saale, Magdeburg, ausschusses, aber auch bei den Beamtinnen und Rostock, Hoyerswerda oder Schwedt - um nur die Beamten des Ausschusses herzlich bedanken, ohne Spitzen des Altschuldeneisberges zu nennen - in den deren tatkräftige Hilfe unsere Arbeit nicht möglich finanziellen und damit auch sozialen und wirtschaft- wäre. lichen Kollaps treiben? Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Natürlich nicht!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Leidtragenden eines derartigen Crashkurses, Herr Weng, wären doch mindestens vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der besagten 1 400 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe Städte und Gemeinden. Das kann doch offensichtlich damit die Aussprache. nicht das Anliegen der Bundesregierung sein. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- Aber: Kommunen in Not heißt bekanntlich immer empfehlung des Wahlprüfungsausschusses auf Menschen in Not. Drucksache 13/2800. Wer stimmt für diese Beschluß- empfehlung mit der vorgetragenen Berichtigung? - (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Beim Bund in Not sind auch Menschen in Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußemp- Not!) fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Bei Aufrechterhaltung dieses Kurses wären nicht Grünen und der PDS angenommen worden. nur die betroffenen Bürgerinnen und Bürger, son- dern überdies tausende Handwerksbetriebe, mittel- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: ständische Unternehmen, die vor allem von Aufträ- gen der Kommune leben, sehr stark in ihrer Existenz Beratung des Antrags der Abgeordneten bedroht, zumal in einer Zeit, in der das Konjunktur- Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Barbara Höll, Rolf barometer in Ostdeutschland auch im November Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der seine anhaltende Talfahrt leider fortgesetzt hat. Gruppe der PDS Die Gruppe der PDS hat am 28. September dieses Vollständige Übernahme der sogenannten Jahres als erste der im Bundestag vertretenen Frak- Altschulden auf gesellschaftliche Einrichtun tionen/Gruppe einen Antrag zur Lösung des kommu- gen ostdeutscher Kommunen durch- den Bund nalfeindlichen Altschuldenproblems eingebracht. - Drucksache 13/2434 - (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Zu Lasten anderer!) Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei Unser Antrag hat zwei Eckpunkte. Erstens. Die soge- die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich nannten Altschulden auf gesellschaftliche Einrich- sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. tungen ostdeutscher Kommunen, die auf Grund von in der DDR getätigten Investitionen entstanden sind, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der werden nicht den Kommunen übertragen. Abgeordnete Dr. Uwe-Jens Rössel. Zweitens. Die aus Investitionen für den Bau gesell- schaftlicher Einrichtungen resultierenden sogenann- Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Frau Präsidentin! ten Verbindlichkeiten der Kommunen in den neuen Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fünf Minuten vor Bundesländern gegenüber der Gesellschaft für kom- zwölf hat Bundeskanzler Helmut Kohl beim munale Altkredite und Sonderaufgaben der Wäh- Gespräch mit den Vorständen der kommunalen Spit- rungsumstellung, kurz: GAW, sind Staatsschulden zenverbände am Montag abend vor einer drohenden der DDR. Sie sind vollständig als solche zu behan- Prozeßflut von 1 400 ostdeutschen Städten und deln und als Schulden des Bundes im Rahmen des Gemeinden gegen den Bund zum sogenannten Alt- Erblastentilgungsfonds zu übernehmen. Das ist der schuldenproblem erst einmal eingelenkt. Kern des Antrages. Über die angeblichen Altschulden auf kommunale Selbstverständlich enthält unser Antrag eine aus- gesellschaftliche Einrichtungen in Ostdeutschland, führliche Begründung und eine Darstellung der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6563

Dr. Uwe-Jens Rössel Finanzierungsmechanismen kommunalen Handelns Dietrich Austermann (CDU/CSU): Frau Präsiden- in der DDR. Man mag es bedauern oder sonstwie tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag sehen: Das bundesdeutsche Recht der Kommunal- der PDS weist natürlich keinen begründeten Weg zur kreditaufnahme kann eben nicht rückwirkend auf Lösung des angesprochenen Problems, sondern er ist die Verhältnisse in der DDR angewendet werden. der Versuch, sich zu Lasten des Bundes wieder ein- Die Bundesregierung sollte sich diese gutachterlich mal, wie schon so oft im Rahmen der Finanzaus- gesicherte Rechtslage endlich zu eigen machen. gleichsmaßnahmen zwischen Bund, Ländern und Denn Tatsache war: Kommunale Selbstverwaltung Gemeinden, zu bedienen. stand in der DDR leider nur in den Sternen, war nie und nimmer Realität. Er weist dazu einen Weg, aber eben einen nicht gangbaren. Dies, glaube ich, dürfte ganz klar sein, Die Kommunen der DDR verfügten demzufolge wenn man sich die verfassungsrechtliche Situation auch kaum über eigene Einnahmen von nennens- betrachtet, aber auch, wenn man Ihren Antrag werter Größe. Sie waren bis 1990 - ich zitiere aus der ansieht. Verfassung der DDR - „Gemeinschaften im Rahmen Sie haben darauf hingewiesen, die Kommunen der zentralen Leitung und Planung". seien in Not und das bedeute, die Menschen seien in Ausgaben der Städte, Gemeinden und Kreise von Not. In bezug darauf wollen wir zunächst feststellen: Belang und damit auch Investitionen für gesellschaft- Das ist eine Situation, die Ihre Vorfahren hinterlassen liche Einrichtungen wurden in der DDR demzufolge haben. Ich glaube, es ist wichtig, daß man das weiß fast vollständig durch Zuschüsse und Zuweisungen (Zuruf von der SPD: Unser aller Vorfahren) aus dem Haushalt der Republik an die betreffenden Kreishaushalte bestritten und eben nicht durch und daß man nicht ständig, wie Sie das versuchen, eigene Einnahmen der Städte, Gemeinden und unter dem falschen Baum bellt. Vielmehr muß man Landkreise. ganz genau erkennen: Die Entscheidungen über den Bau und die Finan- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: zierung von Kulturhäusern, von Kindergärten, von Die politischen Vorfahren!) Altenheimen und ähnlichem lagen eben nicht im Es waren die politischen Vorfahren - die von Herrn Ermessen der Kommunen. Sie wurden von der Volks- Rössel natürlich nicht, sondern die politischen Vor- kammer mit den jährlichen Gesetzen zum Volkswirt- fahren, als deren Nachfahren Sie sich ja auch in schaftsplan und zum Staatshaushaltsplan festgelegt. wesentlichen Teilen betrachten. Da die Regierung der DDR im Rahmen des einheit- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: lichen Staatshaushalts auch die jährlichen Zins- und Der Trainer von Frau Fuchs war auch Tilgungsleistungen für Kredite auf gesellschaftliche dabei!) Einrichtungen übernommen hatte, sind diese Ver- bindlichkeiten als Staatsschulden anzusehen. So wie Wenn Sie dann mit Ihrem Antrag beginnen, der es auch Professor Harms von der Freien Universität sich aus zwei - - im jüngst veröffentlichten Rechtsgutachtenansatz (Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Als die Schulden dargelegt hat, sind diese Verbindlichkeiten als entstanden sind, haben Sie doch selber Staatsschulden anzusehen, die vom Bund im Rah- nicht mehr an die Einheit geglaubt! Das hat men des Erblastentilgungsfonds getilgt werden müs- doch damit überhaupt nichts zu tun! - sen. Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Weng Die Städte und Gemeinden in Ostdeutschland - [Gerlingen] [F.D.P.]: Der Austermann hat das ist die weit verbreitete und weithin geäußerte immer an die Einheit geglaubt! Ich war Meinung unter Kommunalpolitikerinnen und Kom- dabei!) munalpolitikern über die Parteigrenzen hinweg - - Das ist wieder einmal ein verzweifelter Versuch - brauchen einen Befreiungsschlag von angeblichen wie gesagt: das Bellen unter falschen Bäumen -, Ver- Altschulden. antwortung, die man eigentlich zu tragen hat, ande- ren aufzulasten. Sie werden ja, wenn Sie Ihren Antrag denn lesen wollten und vielleicht sogar gele- Herr Abgeord- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sen haben, eines ganz klar feststellen: Sie loben sich neter, Ihre Redezeit ist längst überschritten. auch heute noch und klopfen sich auf die Schultern für die im internationalen Vergleich hohe Ausstat- Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Unser Antrag weist tung mit Sozialeinrichtungen, die ein erklärtes politi- dafür einen inhaltlich begründeten Weg. sches Ziel der DDR gewesen ist. Dann zeigen Sie eine Seite später, wie das Ganze Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. finanziert worden ist: in der Regel zu 10 Prozent aus (Beifall bei der PDS - Dr. Wolfgang Weng Barmitteln und zu 90 Prozent aus Krediten. Das war [Gerlingen] [F.D.P.]: Und wer zahlt?) der Grund, daß der Staatssicherheitsdienst schon Anfang 1988, wenn ich mich richtig erinnere, Herrn Mielke mitgeteilt hat, daß die DDR pleite ist, weil Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat man es nämlich im wesentlichen auf Pump und nicht jetzt der Abgeordnete Diet rich Austermann. mit der erwirtschafteten Leistung finanziert hat. Bei 6564 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 Dietrich Austermann diesem maroden System wäre das auch gar nicht - Gut, sämtliche nicht, aber die, die nutzbar sind, die möglich gewesen. in Ordnung und intakt sind. - Dann könnte man auch die Schulden übernehmen und könnte mögli- Wir diskutieren heute das zweite Mal über die cherweise an die Gemeinden herantreten und sagen: Frage, wer letztendlich die Investitionen in Kinderta- Wir bieten euch hier einen gebrauchten Kindergar- gesstätten, Kindergärten, Turnhallen, Schulen und ten an; ihr könnt ihn haben, wenn ihr das entspre- Rathäuser in 16 Prozent der Gemeinden - nicht etwa chende Geld dafür bezahlt. in allen Gemeinden - in den neuen Bundesländern zahlen soll. Es sind in der Tat zum großen Teil nützli- Das zeigt doch, wie töricht Ihre Entscheidung in che Dinge. Zum Teil liegen dem aber willkürliche dieser Frage ist. Unterstellt man, die Investitionsent- Investitionsentscheidungen aus DDR-Zeiten zu- scheidungen wären zum gleichen Zeitpunkt, zu dem grunde; zum Teil handelt es sich um lang überlegte sie in der DDR getätigt worden sind Infrastrukturprojekte. (Zurufe von der PDS) Sie sagen in Ihrem Antrag: Dies sind Investitionen, - ich weiß, daß Sie das unruhig macht; weil die Wahr- die nicht den Kommunen übertragen werden. Dazu heit aber zumutbar ist, sage ich das -, in den alten muß ich nach den Rechtsgrundlagen, die die Situa- Bundesländern getroffen worden, würde niemand tion in Deutschland bestimmen, ganz klar feststellen: Zweifel daran äußern, daß es sich hier um kommu- Sie werden nicht den Kommunen übertragen; sie nale Investitionen für Einrichtungen handelt, die von sind den Kommunen übertragen worden. Denn nach den Kommunen mit Sonderbedarfs- oder Anteilsfi- Art . 21 Abs. 1 des Einigungsvertrages ist das Verwal- nanzierung von den jeweiligen Bundesländern hät- tungsvermögen, also Aktiva und Passiva der gesell- ten errichtet werden müssen. schaftlichen Einrichtungen, auf die übertragen wor- den, die am 1. Oktober 1989 Nutzungsberechtigte Aus der aktuellen Situation weiß jeder, wie zum waren. Die Übertragung erfolgte mit Wirkung vom Beispiel die Finanzierung von Kindergartenplätzen 3. Oktober 1990. Daraus ergibt sich ganz klar, daß läuft. Wir hatten deshalb die Diskussion um die die Gemeinden, die Schulen, die Sport- und Freizeit- Finanzierung des Rechtsanspruchs auf einen Kinder- einrichtungen, Kindergärten usw. übernommen gartenplatz. Wer bestellt, der bezahlt. Eine Verpflich- haben, auch für die Schulden rechtlich verantwort- tung des Bundes, Kindergärten zu finanzieren ist von lich sind. uns immer abgelehnt worden. Dies werden wir auch in Zukunft tun. Ich glaube, in den neuen Bundesländern kann man die Auffassung vertreten, daß die aus den Kre- (Zurufe von der PDS) diten, die bei der Deutschen Kreditbank aufgelaufen - Auch Wettbrüllen von Ihrer Seite wird nicht verhin sind, resultierenden Schulden nicht zu den Schulden dern, daß ich das, was ich sagen möchte, auch sage. zu rechnen sind, die der Sozialismus hinterlassen - Soweit Gemeinden dazu nicht in der Lage sind - hat. Dann würde man allerdings diesen Einigungs- davon gibt es in der Tat eine große Zahl in den neuen vertrag, auf den Sie sich ja so gerne berufen, nicht Bundesländern -, muß halt der Finanzausgleich her. akzeptieren. Er ist das geeignete Mittel, auch die Gemeinden zu beteiligen, die willkürlich zu Zeiten der zentralstaat- Ministerpräsident Stolpe sagt dies etwas schlichter: lichen Planung von Schulden entlastet wurden. Der Bund habe sich 1990 im großen und ganzen fröh- lich dazu bekannt, Rechtsnachfolger der DDR zu Die Position der Länder, daß sie in der Sache nicht sein. Ich hoffe, es gilt für ihn auch, daß er sich fröh- betroffen seien, ist nicht nur falsch, sondern auch lich dazu bekannt hat, daß wir die Wiedervereini- verantwortungslos. Ich meine - wir haben das im gung haben. - Haushaltsausschuß mehrfach festgestellt -, die neuen Bundesländer sind wie selbstverständlich in Daraus leitet Herr Stolpe den fehlerhaften Schluß den bundesstaatlichen Finanzausgleich einbezogen ab, der Bund müsse nun bezahlen. Diese Auffassung worden. Sie haben gewaltige finanzielle Anteile aus widerspricht der Entscheidung des Bundesgerichts- dem Steuerkuchen erhalten. Was haben sie mit dem hofs zu Art. 21, die ganz eindeutig sagt, daß Art. 21 Geld gemacht, das sie seit dem 1. Januar nach dem bestimmte Konsequenzen haben muß. Föderalen Konsolidierungskonzept bekommen? Das sind 35 Milliarden DM jährlich. Daß die Entscheidung, die von einzelnen in den neuen Bundesländern vertreten wird, falsch ist, (Lachen bei der PDS) ergibt sich auch daraus, wenn man die Diskussion Wo nehmen sie ihre kommunale Ausgleichsfunktion umkehrt. Nun stellen Sie sich doch einmal vor, wenn wahr, um tatsächlich die Belastung von 16 Prozent es sich um Projekte handelt, die willkürlich gegen der Gemeinden auf 100 Prozent der Gemeinden zu den Willen der Gemeinden errichtet worden sind verteilen? und die die Gemeinden auch nicht bezahlen wollen, es mögen sämtliche Einrichtungen auf den Bund In der Vergangenheit wurde oft akribisch darauf übertragen werden. geachtet, daß Zuständigkeiten nicht vermischt wer- den. Jetzt soll der Bund für alles verantwortlich sein, Ich bin dafür, daß sämtliche dieser Einrichtungen was in den Gemeinden bestellt, genutzt oder - mei- auf den Bund übertragen werden. netwegen - auch nur erstellt wird. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ministerpräsident Vogel hat darauf hingewiesen, Nein, nein!) daß die alten Machthaber der DDR sich ein besonde- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6565

Dietrich Austermann res Bubenstück geleistet haben, indem sie ohne das sage ich ganz eindeutig - zu helfen. Das letzte jeden Bezug Schulden auf Dinge gelegt haben. Jetzt Angebot aus dem Kanzleramt bedeutet, daß müßten die Gemeinden aus diesem Schlamassel her- 2,4 Milliarden DM, also zwei Drittel der aufgelaufe- ausfinden. Diejenigen, die heute dazu Anträge stell- nen Zinsen, vom Bund übernommen werden, wenn ten, wollen die Verantwortung ihrer politischen Vor- die Länder den gleichen Betrag und die Gemeinden fahren abschütteln. 3,9 Milliarden DM übernehmen. Dies entspricht dem Schuldenstand zum 1. Januar 1997. Es wäre Aufgabe der Länder, dafür zu sorgen, daß die Verteilung über Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kutzmutz? den kommunalen Finanzausgleich hinsichtlich der Gemeindelasten erfolgt.

Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ja. Damit ergäben sich für alle zumutbare Belastun- gen. Der Ausgleich muß bei der Summe aller Gemeinden in den neuen Bundesländern selbst vor- Rolf Kutzmutz (PDS): Herr Kollege, ich will nicht auf die Polemik bezüglich der Frage eingehen, wer genommen werden. Ich sage das auch an die Bun- wie lange an die Einheit geglaubt hat und wann sie desregierung gerichtet. Es kann nicht so sein, daß herbeigeführt worden ist. hier wieder einzelne die Belastungen übernehmen und andere sich davonstehlen.

Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ich glaube, daß Nach einer pauschalen Übersicht der Schuldensi- Sie da immer den kürzeren ziehen würden. tuation der Gemeinden in den neuen Ländern ent- steht durch Übernahme dieser Verpflichtungen aus (Heiterkeit bei der CDU/CSU) der Vergangenheit, für die ja Vermögenswerte geschaffen worden sind - das behaupten sie zumin- Rolf Kutzmutz (PDS): Sie sollten sich nicht derart dest -, auf denen manch einer - vor allem auf der überschätzen. Ich will nur eine Frage stellen: Halten extrem linken Seite - im nostalgischen Rückblick Sie es für eigenartig, daß ein Staat - zu dem man ste- noch immer besonders stolz ist, nach unserer Ein- hen kann, wie man will -, der Kindergärten und schätzung in der Regel kein höherer Schuldenstand anderes plant und das dann - wie Sie es sagen - den für einzelne Gemeinden als in den alten Bundeslän- Kommunen aufdrückt, während der Zeit, zu der er dern. existiert und das bauen läßt, nicht daran denkt, daß irgendwann ein anderes Rechtssystem auf diese Wir erwarten das Signal der neuen Länder, das bis- Kommunen übertragen werden könnte? Halten Sie her aussteht. Wir erwarten das Signal der unbelaste- Ihre Argumentation gegenüber den Kommunen und ten Kommunen, das bisher aussteht. Wenn von Soli- Ländern nicht für eigenartig? darität gesprochen wird, kann es nicht immer nur um die Solidarität in Form einer Einbahnstraße gehen. Hier ist auch ein Stück Solidarität Ost gefordert. Sie Dietrich Austermann (CDU/CSU): Die Argumenta- ist in jedem Falle sinnvoller als ein jahrelanger Gang tion, die Sie führen, bedeutet, daß Sie es grundsätz- durch die Gerichte, der zusätzliche Kosten, Zinsen lich ablehnen, daß das Rechtssystem der Bundesre- und böses Blut bringen würde, an der grundsätzli- publik auf die neuen Bundesländer übertragen wor- chen Situation nach der Entscheidung des Bundesge- den ist. richtshofs aber nichts ändern würde. (Widerspruch bei der PDS) „Hilf dir selbst, dann hilft auch Bonn", könnte man - Aber selbstverständlich, nichts anderes bedeutet sagen. es, als daß Sie die Konsequenzen daraus nicht haben wollen. Daß das Ihrer alten politischen Auffassung (Lachen bei der SPD und der PDS) widerspricht, muß festgestellt werden, ändert aber Aber die Bereitschaft der Länder und der Kommunen nichts daran, daß das, was Sie zu dieser Frage sagen, in den neuen Bundesländern muß dazukommen. falsch ist. Ich glaube, Sie wissen ganz genau, wie die Situa- Herzlichen Dank. tion bis 1989 gewesen ist. Sie haben mit Sicherheit zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - den Letzten gehört, die gesagt haben: Nun müssen Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Da müssen wir fast wir endlich die Wiedervereinigung haben. Vielmehr Beifall klatschen!) haben Sie bis zuletzt versucht, das zu verhindern, haben das unter dem Druck der Bevölkerung nach- her aber nicht mehr gekonnt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ch ristine Lucyga. (Zurufe von der PDS: Das können Sie gar nicht einschätzen! - Er ist Hellseher!) (SPD): Frau Präsidentin! - Das ist ja das Erstaunliche dabei, daß Sie das alles Dr. Christine Lucyga Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Kol- konkret erlebt haben und trotzdem keine richtigen lege Austermann, ich hätte Ihnen liebend gern schon Schlüsse daraus ziehen können. in der vergangenen Aktuellen Stunde zu den Alt- Nach den Gesprächen im Bundeskanzleramt ist schulden eine angemessene Antwort gegeben; da erkennbar geworden, daß der Bund gleichwohl war die Geschäftsordnung davor. Aber ich freue bereit ist, über die rechtliche Verantwortung hinaus - mich, Ihnen jetzt gleich an einem plastischen Bei- 6566 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Christine Lucyga spiel zeigen zu können, wie die Politik von der Theo- Die betroffenen Kommunen und mit ihnen die ost- rie überholt wird - oder umgekehrt. deutschen Länder wehren sich also zu Recht gegen diese Form pauschaler Vergatterung, (Birgit Homburger [F.D.P.]: Was denn jetzt? - Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ganz egal, wie herum, Hauptsache überho GRÜNEN und der PDS) len!) die ausschließlich auf der Grundlage alter und so gar nicht mehr verifizierbarer Bankunterlagen erfolgt, Jedenfalls lautet das Beispiel folgendermaßen: Die die zwangsläufig regionale Disparitäten festschrei- Gemeinde Grabow im Müritzkreis in Mecklenburg ben muß und eine grobe Ungleichbehandlung im Vorpommern ist in einer ganz absurden Situation. Ihr Vergleich zu den bereits entschuldeten Kommunen liegt eine Aufstellung des BMF vor, nach der die bedeutet. Gemeinde beim Hause Waigel mit 3,8 Millionen DM in der Kreide steht. Das bedeutet bei 155 Einwohnern Aus willkürlichen Entscheidungen des DDR- eine Pro-Kopf-Verschuldung von sage und schreibe Staatsapparates, die rechtlich bis heute strittig sind, 23 000 DM. Woher diese Horrorzahlen kommen, wis- macht die Bundesregierung der Grundsatzentschei- sen die Bürger nicht. Sie haben weder Schule noch dung geltendes Recht, und zwar das Recht des Stär- Kulturhaus, noch Kindergarten, noch Sportplatz, keren. nichts von all dem, wofür in DDR-Zeiten zentral (Beifall bei der SPD und der PDS - Zustim zugewiesene Mittel verwendet wurden. Diese würde mung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sich der Bund am liebsten von einem Teil der ostdeut- schen Kommunen nachträglich zurückzahlen lassen. Auf dem Umweg über absurd hohe Zinssätze und wundersame Vermehrung wird so aus einer Eine andere Gemeinde ähnlicher Größenordnung Buchungsgröße richtiges gutes Geld. So könnte die nordwestlich von Grabow ist in einer vergleichsweise moderne Version des Goldesels aussehen; aber die höchst komfortablen Situation, besitzt Kindergarten, Kommunen sind keine Goldesel, sie haben höchstens Jugendclub, Lehrlingswohnheim, Sportanlagen. Sie einen nötig. braucht aber keine Angst vor einer gepfefferten (Beifall bei der SPD und der PDS) Nachforderung des BMF zu haben. Ein entsprechen- der Beschluß von Staatsrat, Politbüro oder Zentralrat Was jetzt 16 Prozent der ostdeutschen Kommunen der FDJ - so genau weiß das niemand -, vor allem in Rechnung gestellt werden soll, ist eine Mischung aber der lange Arm von Egon Krenz machten das aus politischer Altlast und Folgelast eines schweren möglich; denn als „Dorf der Jugend" bekam diese handwerklichen Fehlers und im übrigen ein aussage- Gemeinde ihre kommunalen Einrichtungen gratis kräftiges Beispiel der seit Jahren von der Bundesre- aus dem Staatshaushalt. Ich werde mich im übrigen gierung geübten Methode, finanzielle Engpässe ein- hüten, den Namen dieser Gemeinde hier preiszuge- fach von oben nach unten an die Schwächsten, in ben, um nicht noch Begehrlichkeiten zu wecken; diesem Fall an die Kommunen, durchzureichen. denn das Vertrauen auf die Einsicht der Koalition Durch die seit 1991 angewachsene und weiter und der Bundesregierung in der Altschuldenfrage wachsende Zinslast bekommt das Altschuldenpro- hält sich sehr in Grenzen. Außerdem heißt es in den blem zudem eine Eigendynamik, die ausschließlich bereits erwähnten Forderungen, etwaige Unge- vom BMF zu verantworten ist. Damit wird eine nauigkeiten bei der Zuordnung seien nicht auszu- Lösung immer drängender. Allerdings hat die Bun- schließen. desregierung bisher nur dürftige Vorschläge aufge- - boten, die zu Recht von den kommunalen Spitzen- (Heiterkeit bei der SPD) verbänden als inakzeptabel zurückgewiesen wer- den; denn es ist den ostdeutschen Kommunen 84 Prozent der ostdeutschen Gemeinden dürfen Schlichtweg nicht zuzumuten, daß sie Forderungen sich also darüber freuen, daß sie im großen und gan- akzeptieren, die ihre finanzielle Leistungsfähigkeit zen wohl ohne den berühmten Mahnbescheid aus übersteigen. Bonn davonkommen werden, weil sie rechtzeitig aus dem Staatshaushalt der DDR entschuldet wurden. (Beifall bei der SPD, der PDS sowie bei Zwickau, Berlin, Chemnitz sind bekannte Beispiele. Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber anders sieht es für die 1 400 Kommunen aus, All das müßte der Bundesregierung bekannt sein; die sich in der mißlichen Lage der Gemeinde Grabow denn seit mehreren Jahren wird die Auseinanderset- befinden. Sie sollen nach dem Willen des BMF jetzt zung mit wachsender Intensität geführt. Dabei hat durch die bundeseigene GAW für Zuweisungen aus sich die Bundesregierung - das sei hier in aller dem DDR-Staatshaushalt früherer Jahre zur Kasse Bescheidenheit gesagt - einen richtiggehenden Tot- gebeten werden. stellreflex erlaubt und sich auf eine Position festge- legt, die zunehmend durch qualifizierte Rechtsgut- Da diese Altforderungen zudem durch eine ver- achten in Frage gestellt wird, an der natürlich auch hängnisvolle Fehlentscheidung des BMF mit saftigen die vor kurzem im Kanzleramt begonnenen Verhand- Zinsen belegt sind, sind sie inzwischen fast doppelt lungen von vornherein scheitern mußten. so hoch. Weder der einzelfallbezogene Nachweis noch die Wertberichtigungen liegen dafür vor; das Da helfen auch keine permanenten Drohgebärden macht die Sache so pikant. des Bundes, da hilft auch nicht das ständige ultima- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6567

Dr. Christine Lucyga tive Gerede von einem letzten Angebot und die Dro- Und da keiner wollte leiden, hung mit Mahnbescheiden schon gar nichts. daß der andre für ihn zahle, zahlte keiner von den beiden ... Es kann im übrigen auch niemand ein Interesse daran haben, daß sich die kommunale Selbstverwal- Damit machen Sie es sich einigermaßen leicht. Es tung an finanziellen Hürden totläuft, daß lebensnot- wäre sicher schön, wenn die Altschulden von heute wendige Investitionen unterbleiben und - um mit auf morgen verschwunden wären. dem Rostocker Stadtkämmerer, Ihrem Parteifreund übrigens, zu sprechen - „keine Kelle und kein Kran" mehr geht. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kas- Seriöse Gutachten sprechen von der Auferlegung pereit? ruinöser Zahlungsverpflichtungen durch den Bund. Darüber sollten Sie einmal nachdenken.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist Dr. Christine Lucyga (SPD): Ich möchte erst zu völlig unlogisch! - Dr. Wolfgang Weng Ende reden, und dann werden die Kollegen ja sehen, [Gerlingen] [F.D.P.]: Seriöse Gutachten sind ob die Zwischenfrage notwendig ist. diejenigen, die Ihre Meinung haben!) (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] Die Kommunen wehren sich zu Recht und haben das [CDU/CSU]: Die ist doch von euch!) über ihre Spitzenverbände unmißverständlich klar- gestellt. Sie haben auch Anspruch darauf, gehört Mir wäre es lieb, wenn die Altschulden von heute und ernst genommen zu werden. auf morgen verschwunden wären, Aber das ist leider nicht mehr drin. Die Weichen für eine solche Lösung (Beifall bei der SPD und der PDS) hätten wesentlich früher gestellt werden müssen; denn noch vor der Währungsunion, spätestens aber Wo anders wird das soziale Leben organisiert, wenn im Einigungsvertrag hätte auch das Altschuldenpro- nicht in der Kommune? Wo wird das soziale Netz blem gelöst werden müssen. Es hätte der Regierung geknüpft, und von wo kommen die Signale, wenn es Modrow, der das Problem bekannt war, gut zu zu reißen droht? Um zu einem praktikablen Lösungs- Gesicht gestanden, das Altschuldenproblem auf die ansatz zu kommen, muß sich also der Bund bewe- Tagesordnung zu setzen; denn über diese interne gen. In der Zinsfrage muß er es ohnehin tun; denn Systemkenntnis verfügte die nächste DDR-Regie- das Problem ist vom BMF hausgemacht, und da sollte rung schon nicht mehr. zumindest das Verursacherprinzip gelten, das heißt Übernahme der Zinsen durch den Bund. Aus der kurzen Zeit der vorletzten DDR-Regierung sind uns zum Beispiel zahlreiche Aktivitäten zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Sicherung von Parteivermögen, darunter mehr als ten der PDS) 100 Firmengründungen, Darlehensvergaben zu un- gewöhnlich günstigen Bedingungen und anderes Aber auch bei den Grundforderungen gibt es eine mehr bekannt. Ich würde gern von Ihnen erfahren, eindeutige Bringpflicht für ein akzeptables Angebot, ob Sie sich mit gleichem Engagement auch des Alt- meinetwegen als Rechtsnachfolger der DDR. Aber - schuldenproblems angenommen haben. Mir ist dar- das sage ich an die Adresse der Bundesregierung -: über nichts bekanntgeworden. Lassen Sie das Taktieren, übernehmen Sie Ihren Teil der Verantwortung, erpressen Sie die Kommunen- (Beifall bei der SPD) nicht mit Mahnbescheiden. Es führt doch zu nichts.

Die Voraussetzung für ein vernünftiges Herange- Das Altschuldenproblem, das seinerzeit nicht hen an die Problemlösung ist doch mehr Ehrlichkeit gelöst wurde, hat sich durch die politischen Fehler in der Altschuldenfrage und die Korrektur der bishe- der Bundesregierung auf ganz absurde Weise zuge- rigen Position. spitzt und allein durch die Zinslast eine erhebliche Eigendynamik entwickelt. Deshalb muß sich die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Bundesregierung doch fragen lassen, wem sie jetzt ten der PDS - Dietrich Austermann [CDU/ die Folgen ihrer Fehlentscheidung zumuten will. Sie CSU]: Das ist allerdings gefordert!) muß endlich Verantwortung übernehmen und Teil der Lösung werden und nicht Teil des Problems blei- Die Forderungen der Kommunen und Länder nach ben. Übernahme der Zinsen durch den Bund, nach einem konkreten Nachweis der Forderungen und Verzicht Bei den zum Glück noch nicht endgültig geschei- auf nicht nachweisbare Forderungen verdienen terten Verhandlungen im Kanzleramt muß es jetzt Unterstützung. Länder und Kommunen sind - das um Kostentransparenz und eine angemessene Betei- haben sie wohl bewiesen - kompromißbereit. ligung des Bundes gehen. Es muß eine Lösung geben, die für den Bürger und den Steuerzahler Mehr Ehrlichkeit möchte ich den Damen und Her- erträglich ist. Ein langwieriger Rechtsstreit kann ren der PDS ins Stammbuch schreiben; denn Sie nicht der Weisheit letzter Schluß sein. kommen jetzt in Ihrem Antrag mit Vorschlägen, die man nach Heinrich Heine auch so diktieren könnte: (Beifall bei der SPD) 6568 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Christine Lucyga Deshalb muß sich die Verantwortung der Bundesre- Zweitens ist die Belastung der ostdeutschen Kom- gierung jetzt beweisen. munen mit den einschlägigen Schuldbeträgen, wie jedenfalls ich finde, auch eine unerträgliche Starthy- Ich danke Ihnen. pothek für die junge kommunale Selbstverwaltung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im Gebiet der früheren DDR. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD - Richard Schuhmann [Delitzsch] [SPD]: Sie sollten in die SPD ein Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat treten!) jetzt der Abgeordnete Schmidt-Jortzig. - Nein, nein, das wird dann alles nur noch viel schlimmer. - Sollen die Gemeinden, Städte und Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (F.D.P.): Frau Präsiden- Kreise dort das schwere Aufholrennen in Sachen tin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Rössel, Infrastruktur einigermaßen aussichtsreich aufneh- es tut mir leid, auch ich muß am Anfang eine Vorbe- men, darf man ihnen nicht gleich beim Anfangsspurt merkung in Ihre Richtung machen, selbst wenn ich die Beine festbinden. nachher in der Sache wieder etwas näher bei Ihnen bin. Daß der vorliegende Antrag zur Entlastung der (Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Das ist wahr!) ostdeutschen Kommunen von Altschulden ausge- Drittens schließlich widersp richt es auch dem rechnet aus Ihrer Ecke des Hauses kommt, ist schon schlichten Gerechtigkeitsempfinden, wenn die eine ein gewisses Stück Heuchelei, Gemeinde nun unter ihren sogenannten Altschulden (Widerspruch bei der PDS - Zuruf von der ächzt, die Nachbargemeinde aber als altschuldenfrei CDU/CSU: Heuchelei!) dasteht, und dies, obwohl in beiden durchaus ähnli- che Gemeinschaftseinrichtungen geschaffen worden denn unter der Rechtsvorgängerin der Antragsteller, sind, nur eben die eine Gemeinde aus DDR-politi- der SED, wurde überhaupt jede Form kommunaler schen Erwägungen dafür eine Finanzierungsvermitt- Selbstverwaltung unterbunden. lung, die andere aber eine Direktverbuchung erhielt. (Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Das ist richtig!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Die Ausweisung von Finanzleistungen als Fremdzu- Dann ist die Logik doch nicht, daß ein Drit schüsse erfolgte außerdem gänzlich willkürlich, so ter bezahlt!) daß heute das Bestehen sogenannter Altschulden Auch gab es zum Teil die entsprechend geschaffe- nahezu zufällig ist. nen gesellschaftlichen Einrichtungen beim Beginn In der Sache hält - das sage ich deutlich, Herr Kol- freiheitlicher Selbstverwaltung 1990 schon gar nicht lege Austermann -, die F.D.P. den Hilferuf der ost- mehr, oder sie waren so verrottet, daß sie zur weite- deutschen Städte und Gemeinden in der Tat für rich- ren Nutzbarkeit hohe Ergänzungsinvestitionen tig. brauchten. Soll jetzt für diese Fehlbestände auch noch gezahlt werden müssen? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Zuruf von der SPD: Genau!) Dies erstens, weil die seinerzeitigen Finanzeinsätze der DDR in den betreffenden Kommunen keine Freilich sind - das eben muß man auch beachten; rechtswirksam begründeten Verbindlichkeiten oder es ist immer gut, wenn man beide Seiten der auch nur drittgerichteten Lastenzuteilungen im Medaille beguckt - die betreffenden Finanzposten Sinne des Kreditrechts sind. Es gab seinerzeit keine im Zuge der deutschen Einigung nun einmal den gegenüber dem Staat rechtlich separie- rten und Kommunen als Schulden zugeteilt worden. Dies ent- eigenständigen Gemeinden oder Kreise. Die betref- springt nicht der Willkür der Bundesregierung, son- fenden Investitionen für gesellschaftliche Einrichtun- dern ist geltendes Vereinigungsrecht. Aus Sicht der gen wurden in der DDR vielmehr auf Grund zentra- Vermögensentflechtung des sozialistischen Einheits- ler staatlicher Politik und Haushaltsentscheidungen staates hatte das auch seinen Sinn. Deshalb sollten getätigt. die Kommunen - ich gebe ja nur freundliche Rat- schläge - mit ihren Nöten auch nicht vorschnell zu Sofern nominell Bankkredite zur Finanzierung ein- den Gerichten laufen. Das Gutachten Harms ist eine geschaltet wurden, erfolgte die betreffende Zins- Sache, aber die Entscheidung von Obergerichten und Tilgungsleistung meistens über die Zwischen- dazu wäre eine andere Sache. stufen des Haushalts der Räte und Bezirke aus dem Republikhaushalt der DDR. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Aha!) (Zuruf von der SPD: Richtig!) Jedenfalls: Aus besserer Einsicht nach fünf Jahren darf man wenigstens politisch die damaligen Rege- Es geht also um interne Finanzumschichtungen in lungen nun korrigieren. Ich meine, dafür besteht einem zentralistischen Einheitsstaat und nicht um wirklich Anlaß. Geldbewegungen zwischen selbständigen Rechts- subjekten auf Grund eigenverantwortlicher Entschei- (Beifall bei der SPD und der PDS) dungen der Empfängerseite. Sosehr also der Bund aufgefordert ist, hier lösungs- (Zuruf von der SPD: So ist es! - Dr. Wolfgang willig heranzugehen - er tut das ja; das muß man Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Dafür kriegt ihr auch einmal anerkennen -, so falsch wäre es, dabei doch keine Mark!) die neuen Bundesländer aus ihrer Mitverantwortung Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6569

Dr. Edzard Schmidt-Jortzig zu entlassen. Denn nach der bundesstaatlichen Ver- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage fassungsordnung haben nun einmal die Länder und auf Drucksache 13/3134 an die in der Tagesordnung nicht der Bund für eine hinreichende Finanzausstat- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie tung ihrer Kommunen zu sorgen. damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das hatte keiner auf der linken Seite gesagt!) Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15: Daß sich die Kommunen den hartnäckigen Finanz- Beratung des Antrags der Abgeordneten Rein- egoismus ihrer Länder immer noch gefallen lassen, hard Weis (Stendal), Dr. Uwe Küster, Dr. Ulrich kann nun wirklich nicht dem Bund angerechnet wer- Böhme (Unna), weiterer Abgeordneter der den. Deshalb ist der Lösungsvorschlag der PDS viel Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Eli- zu simpel. Es soll wohl auch nur wieder dem bekann- sabeth Altmann (Pommelsbrunn), Kristin ten Verschleierungstanz Vorschub geleistet werden, Heyne, Dr. Manuel Kiper, weiterer Abgeord- das böse Bonn sei an allem schuld. neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Rosel Neuhäuser [PDS]: Aber an vielem!) Rücknahme der Weisung für die Einlagerung Das kann natürlich so nicht hinhauen. Vom Bundes- mittelradioaktiver Abfälle im Endlager für ra- tag jedenfalls sollte schon heute das Signal an Bun- dioaktive Abfälle Morsleben (ERAM) desregierung und Länder ausgehen, daß die Frage der kommunalen Altschulden so gelöst werden muß, - Drucksache 13/2365 — daß die örtliche Selbstverwaltung finanziell unbe- Überweisungsvorschlag: dingt handlungsfähig bleibt. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend) (Beifall der Abg. Dr. Christine Lucyga Ausschuß für Wirtschaft [SPD]) Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technolo- gie und Technikfolgenabschätzung Die F.D.P. stimmt der Überweisung an die Aus- schüsse mit deutlicher Unterstützung des Sachanlie- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gens zu. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei der SPD und der PDS) Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Abgeordnete Reinhard Weis das Wort. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der Abgeord- nete Werner Schulz hat gebeten, seine Rede zu Pro- Reinhard Weis (Stendal) (SPD): Frau Präsidentin! tokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstan- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten den? - Das ist der Fall. Mal beschäftigt uns heute das Endlager für radioak- tive Abfälle in Morsleben. Die erneute Bewertung Dann schließe ich die Aussprache. der schwerwiegenden Sicherheitsprobleme des End- Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage lagers soll deshalb nicht im Mittelpunkt meines Bei- auf Drucksache 13/2434 an die in der Tagesordnung trages stehen. Schließlich wissen wir alle aus vergan- aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einver- genen Debatten, aus den Ausschußberatungen, aus standen? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. den Berichten der Medien und vor allem aus den bereits durchgeführten Untersuchungen, wie proble- - Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: matisch die Einlagerung im radioaktiven Endlager Morsleben zu bewerten ist. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ger- not Erler, Volker Kröning, Uta Zapf, weiterer Ich darf die wichtigsten Gründe kurz benennen. Abgeordneter und der Fraktion der SPD Erstens ist die Unkenntnis des tatsächlich vorhande- nen Inventars zu erwähnen. Das gilt nicht nur für das Abrüstung konventioneller Streitkräfte in Eu- Inventar, das schon zu DDR-Zeiten eingelagert ropa: Sicherung und Fortentwicklung des wurde, sondern leider auch für die jüngsten Einlage- KSE-Vertrages rungen auf Grund des Versturzes in Sohle 5 a. Denn - Drucksache 13/3134 — durch die Last des Aufpralls können Faßbeschädi- Überweisungsvorschlag: gungen nicht ausgeschlossen werden, so daß Abfall- Auswärtiger Ausschuß (federführend) stoffe freigesetzt werden und unkontrollierte Lager- Verteidigungsausschuß bedingungen die Folge sind. Die Inventarisierung einer jeden Sondermülldeponie geschieht gewissen- Die Abgeordneten Gernot Erler, Dr. Friedbert Pflü- hafter als das, was zur Zeit in Morsleben passiert. ger, Dr. Olaf Feldmann, Gerhard Zwerenz und Ange- lika Beer haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne geben zu dürfen. Gleiches gilt für Staatsminister ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schäfer. **) Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Zweitens ist die geringe Salzschwebe zwischen dem Deckgestein und den alten Abbauen zu nennen *) Anlage 6 und drittens die möglicherweise unkontrollierbar **) Anlage 7 werdenden Laugenzuflüsse. 6570 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 Reinhard Weis (Stendal) Sie alle wissen das, und Sie wissen auch, daß der- den betroffenen Landesregierungen politisch nur zeit ein Planfeststellungsverfahren läuft, um die dann durchsetzen können, wenn wir mit dem Ein- Frage des Weiterbetriebs nach dem 30. Juni 2000 zu stieg in den Ausstieg aus der Atomenergie konkret prüfen, wenn die vorläufige, noch aus DDR-Zeiten beginnen. stammende Betriebsgenehmigung erlischt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Die Bundesregierung ist im Gegensatz zu uns der ten der PDS) Auffassung, daß ein Nachweis der Langzeitsicher- heit erbracht werden kann. Diese Auffassung wird Zweitens. Wir müssen das Problem mit der größt- immer wieder in Ihren Äußerungen im Bundestag, möglichen Beteiligung der Öffentlichkeit und unter zuletzt beispielsweise am 22. Juni 1995 durch den Einbeziehung aller Verantwortlichen erörtern und zu Parlamentarischen Staatssekretär Klinkert, aber auch lösen versuchen. Geheimniskrämerei, obskure Gut- durch Ihre Haushaltsplanungen deutlich. achten, aufsichtliche Weisungen - all das verstärkt Mißtrauen und provoziert geradezu jenes Sankt-Flo- Trotz der vollmundigen Reden der Bundesregie- rians-Verhalten, das den Menschen im Land von der rung verhält sie sich aber nicht so, als ob sie sich Bundesregierung immer wieder vorgehalten wird. ihrer Sache sicher wäre, im Gegenteil: Durch eine Politik, die Weisungen erteilt, statt auf Argumente zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne hören, die Informationen vorenthält, statt zu infor- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mieren, die versucht, mit aller Gewalt vollendete Tat- und der PDS) sachen zu schaffen, um wenigstens bis zum Jahr 2000 möglichst viel Atommüll in Morsleben loszu- Wenn zum Beispiel, wie kürzlich in meinem Wahl- werden, beweist sie vor allem, wie unsicher sie sich kreis im altmärkischen Waddekath geschehen, in der Sache selbst ist. weder Landesregierung noch die Menschen vor Ort darüber informiert werden, daß der Boden unter (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ihren Füßen nach Aussagen eines wichtigen Gutach- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der tens atomaren Müll aufnehmen soll, dann kann ich PDS) die Menschen sehr gut verstehen, die sich massiv Wir haben keinen akuten Atommüllnotstand. gegen eine solche heimliche Vereinnahmung Warum also will die Bundesregierung nach dem wehren. Dann unterstütze ich diese Menschen auch. Motto „Augen zu und durch" die Einlagerung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne schwach- und mittelradioaktiven Mülls in Morsleben ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN betreiben? Warum wartet sie nicht ab, bis der Plan- und der PDS) feststellungsbeschluß vorliegt? Warum wählt sie, indem sie den mittelradioaktiven Müll auf Sohle 5 a Drittens. Die Bundesregierung sollte sich auch für einfach abkippt, eine Form der Verbringung, die eine andere Einlagerungsmedien öffnen. Ich will damit Rückholung faktisch ausschließt? Steinsalzformationen als Lagerort nicht grundsätzlich ausschließen. Es wäre aber glaubwürdiger, wenn Ich will es Ihnen sagen. Insgeheim ist sie genau auch andere Medien ernsthaft für eine mögliche Ein- wie wir davon überzeugt, daß Morsleben am 30. Juni lagerung geprüft würden. Es geht nicht an, daß zum 2000 endgültig dichtgemacht werden muß. Deshalb Beispiel aus Angst vor den politischen Freunden in verkippt sie ausgerechnet den problematischeren Bayern Ergebnisse heimlich durchgeführter Erkun- mittelradioaktiven Müll, um später vielleicht schein- dungen von Granitformationen unter Verschluß heilig sagen zu können: Tut uns leid, aber nun gehalten oder offiziell abgestritten werden. bekommen wir das Zeug nicht wieder raus. Mit dem schwachradioaktiven Müll geht- sie anders Diese drei Vorbedingungen werden heute in kei- um. Der wird in befahrbaren Stollen in Fässern gesta- ner Weise erfüllt. pelt. Sie handelt nach dem Motto „Nach uns die Sint- Zurück zu Sachsen-Anhalt, zu Morsleben. Ich darf flut". Weil sie nicht weiß, was kommt, lagert sie jetzt festhalten: Die Landesregierung Sachsen-Anhalt hat möglichst viel und nicht rückholbar in Morsleben die Nutzung der Einlagerungsbereiche für mittelra- ein. Das ist unverantwortlich und sträflich fahrlässig. dioaktive Abfälle in der Sohle 5 a so lange untersagt, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bis ein Nachweis der erforderlichen Schadensvor- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der sorge erbracht wird. Sie handelt aus ihrem Verant- PDS) wortungsbewußtsein gegenüber den Menschen in Sachsen-Anhalt, die übrigens zu 82 Prozent der Auf- Meine Damen und Herren, Sie wissen sehr gut, fassung sind, daß in Morsleben nicht bzw. nur im Fall daß wir in Deutschland ein Endlager für atomaren der eindeutig nachgewiesenen Sicherheit des Endla- Müll brauchen. Dieses Problem sehen auch wir gers eingelagert werden sollte. Sozialdemokraten. Doch um einen geeigneten Stand- ort zu finden und diesen auch in möglichst großem (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Konsens realisieren zu können, müssen verschiedene Überrascht Sie das?) Vorbedingungen erfüllt sein. Drei möchte ich nen- nen. Den letzten Halbsatz sollten die Bundesregierung und auch Sie bei allen Widerständen gegenüber den Erstens. Es müßte klar sein, daß die Menge des atomaren Endlagern doch eigentlich erfreut aufgrei- Atommülls letztendlich begrenzt ist. Das heißt, wir fen. Die Bürger in Sachsen-Anhalt und ihre Landes- werden ein Atommüllendlager in Deutschland mit regierung, die Sie so gerne verteufeln und in die Ver- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6571

Reinhard Weis (Stendal) weigererecke stellen wollen, akzeptieren, daß ein Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Frau Präsidentin! atomares Endlager in Morsleben besteht. Meine Damen und Herren! Erstens. Herr Kollege Weis, der gemeinsame Antrag von SPD und Bündnis 90/ (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Aber zäh Die Grünen und das, was Sie hier vorgetragen neknirschend!) haben, sind nichts weiter als eine Kopie der nieder- Es muß aber nachweislich sicher sein. sächsischen Politik von Frau Griefahn. Ich sage Ihnen: Das Original war schon nicht gut. Die Kopie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ist noch schlechter. ten der PDS) Zweitens. Die Gerichte, zum Beispiel das OVG in Wenn Sie sich so sicher sind, daß dieses Endlager Magdeburg, bestätigen in den jüngsten Urteilen so sicher ist, wie Sie das immer behaupten, dann weder die juristische noch die fachliche Wertung des schaffen Sie doch die notwendigen Voraussetzun- sachsen-anhaltinischen Umweltministeriums. gen: Weisen Sie die Langzeitsicherheit nach! Schaf- Drittens. Sachsen-Anhalt kann es sich eigentlich fen Sie Vertrauen! Gehen Sie auf die Forderung nach noch weniger als Niedersachsen leisten, mit dem dem Einlagerungsmoratorium ein! Verfahren, das Sie vorschlagen, Schadensersatzkla- Der freiwillige Verzicht auf eine Einlagerung radio- gen zu riskieren und auch noch Schadensersatz zah- aktiven Mülls bis zum Ende des Planfeststellungsver- len zu müssen. fahrens sollte Ihnen doch angesichts dessen, was Sie Man sollte sich vor dem Hintergrund der nieder- offiziell als Ergebnis erwarten, keinerlei Schwierig- sächsischen Erfahrung sehr wohl überlegen, keiten bereiten. Sollten Sie die zuvor genannten Bedingungen erfüllen, werde auch ich Sie unterstüt- (Otto Schily [SPD]: Was ist das denn für zen, wenn es darum geht, für den Betrieb eines End- eine Argumentation!) lagers um Akzeptanz zu werben. ob man, Herr Schily, aus rein opportunistischen und Aber Ihre praktische Politik schürt bisher lediglich politischen Gründen einen Weg wählt, mit dem man Ängste und Vorbehalte. Dies ist auch nachvollzieh- den Täter im Grunde genommen zum Opfer machen bar. Schließlich beinhaltete die Weisung der Bundes- möchte. Das ist der Hintergrund Ihrer Politik. Sie -regierung nicht nur eine Rücknahme der sachsen machen sich zum Opfer einer angeblich bösartigen anhaltinischen Verfügung vom 24. August 1995. Sie Politik dieser Bundesregierung, weil Sie sonst verlangen darüber hinaus, alle Verfahrensschritte, gezwungen wären, wirklich Farbe zu bekennen, und die den Endlagerbetrieb in Morsleben behindern irgendwann einmal in diesem Hohen Hause oder an oder verhindern könnten, zur Genehmigung vorge- irgendeiner anderen Stelle in Deutschland sagen legt zu bekommen. Sie verlangen, daß Verwaltungs- müßten, was Sie denn an welcher Stelle mit atoma- verfahren so durchgeführt werden, daß sicherheits- ren Abfällen, für die Sie selber eine erhebliche Ver- technische Bedenken zum Endlager nicht ersichtlich antwortung haben, tun wollen. sind. Sie verlangen zudem, daß sämtliche Schrift- sätze, die gerichtlich verwendet werden sollen, mit Es ist eine Politik der Behauptungen ohne Ihnen abgestimmt werden. Beweise. Es ist schon schlimm, wenn man sich mit dem Sachstandsbericht über Morsleben inhaltlich Meine Damen und Herren der Bundesregierung, auseinandersetzt, in welcher simplifizierenden und, damit machen Sie das sachsen-anhaltinische ich sage auch einmal, den Leuten bewußt angst Umweltministerium zum Befehlsempfänger und machenden Art Sie die Ignoranz der Fakten in Politik Handlanger Ihrer verfehlten Politik. umzusetzen versuchen. Das ist die Realität. - (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN]: Ihre Realität ist das!) Sicherheitsprobleme lösen Sie damit allerdings nicht. Es läßt sich doch überhaupt nicht nachvollziehen, Vertrauensbildend sind diese Maßnahmen schon gar was Sie etwa zum Langzeitnachweis vorgetragen nicht. Sie verhindern aber eine erfolgversprechende haben. Suche nach einer Lösung der Endlagerungsproble- (Otto Schily [SPD]: Da stimmt schon die matik. Grammatik nicht bei Ihnen!) In Ihrem eigenen Interesse: Nehmen Sie die Wei- - Ja, das kann vielleicht sein, aber inhaltlich ist es sung zurück, und verzichten Sie auf die weitere Ein- allemal besser als das, was Herr Weis vorgetragen lagerung bis zur Vorlage des Planfeststellungsbe- hat. Das kann ich Ihnen sagen. schlusses! (Zurufe von der SPD: Auch nicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Clemens Schwalbe [CDU/ Die Frage des Langzeitnachweises ist geklärt. Es CSU]: Das war ja nichts! - Dr. Wolfgang ist ein Sicherheitsbericht vorgelegt. Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Differenzierte Verweigerungshaltung!) Sie können noch nicht einmal geotechnisches und ein geothermisches Konzept voneinander unterschei- den. Herr Weis, wenn ich Ihnen ein bißchen Nachhil- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat feunterricht in der Frage der Versturztechnik geben jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill. darf: Es ist so, daß die Versturztechnik - sie hat im 6572 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Kurt-Dieter Grill übrigen ein ungeheuer wichtiges Ziel, was Sie bei behaupten - das ist die A rt und Weise, wie Sie poli- Ihrer Betrachtungsweise leider vollkommen außer tisch im Grunde genommen jenseits der Fakten argu- acht lassen - dem Schutz des Betriebspersonals im mentieren -, die Bundesregierung wolle mit aller Sinne des Minimierungsgebotes der Strahlenschutz- Gewalt - Sie müssen sich einmal den Sprachge- verordnung dient. Das ist das eine. brauch überlegen - das Endlager durchsetzen. Das zweite ist: Wenn Sie darauf abheben - das scheint ja so der Fall zu sein -, daß die Gebinde in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, ihrer Verfassung sozusagen notwendig sind, damit gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle- die Versturztechnik funktionieren kann, dann liegen gin Gila Altmann? Sie eindeutig falsch. Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Nein, Frau Präsiden- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, tin, ich möchte zunächst einmal meinen Text vortra- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten gen. Schönberger? Sie bezichtigen die Bundesregierung einer unver- antwortlichen, sträflichen, fahrlässigen Handlungs- Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Bitte schön. weise. Ich sage Ihnen: Wenn Sie einmal die Men- schen sehen, die in diesem Endlager arbeiten - ich Ursula Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schließe ausdrücklich den Betriebsleiter Ebel ein, der NEN): Herr Grill, Sie haben eben gesagt, daß der Morsleben wie seine Westentasche kennt und der Versturz der Sicherheit des Personals dient. Ist Ihnen hervorragend qualifiziert ist -, dann wäre es schon bekannt, daß ausgerechnet aus dieser Versturztech- gegenüber denjenigen, die dort bisher gearbeitet nik resultiert, daß dort unten ständig ein erhöhter haben, unverantwo rtlich - da denke ich besonders Ausstrom von Radon stattfindet, daß zwei- bis drei- an Herrn Ebel -, ihnen vorzuwerfen, sie handelten mal pro Woche das Gebiet, worunter die Kaverne ist, möglicherweise im Auftrag von Frau Merkel fahrläs- sig, sträflich, nachlässig und unverantwortlich. Dies (Birgit Homburger [F.D.P.]: Waren Sie schon stimmt nicht. einmal da?) (Beifall bei der CDU/CSU) von dem Bedienungspersonal geräumt werden muß, weil die interne Warnschwelle überschritten ist, daß Dies gilt natürlich auch weder für das Bundesamt der Abluftstrom erhöht werden muß, um das Gas für Strahlenschutz noch für die DBE, noch für das nach außen abzulassen, und erst dann der Betrieb Bundesumweltministerium. Wenn man das Ganze weitergehen kann? Das passiert, so wie mir der wirklich auf seinen sachlichen Gehalt untersucht, Betriebsleiter mitteilte, zwei- bis dreimal pro Woche. kommt man immer wieder auf das gleiche Strickmu- Das ist etwas, was genau aus dieser Versturztechnik ster: Sie machen sich als Täter zum Opfer. Weil Sie resultiert. Ist Ihnen der Tatbestand bekannt? natürlich mittlerweile wissen, daß Sie eine Antwort geben müssen auf die Frage, wo das Endlager in Deutschland gebaut werden soll, fliegen Sie die Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Ich bin dreimal in Kurve, die nicht mehr auszuhalten ist. Sie führen Morsleben gewesen. Ich bin in sämtlichen Veräste- eine Begrenzung der Menge an. Damit wird das Pro- lungen dieses Bergwerkes gewesen und habe mit blem letztendlich nicht anders. der Betriebsleitung sowie dem Bet riebsrat gespro- chen. Mir ist das, was Sie darstellen, nie vorgetragen (Zurufe von der SPD - Zuruf der Abg. worden. Ursula Schönberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Ursula Schönberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe es selbst erlebt! - Otto Sie plädieren für eine größtmögliche Beteiligung der Schily [SPD]: Das ist die Ignoranz!) Öffentlichkeit. All das ist gewährleistet. - Es ist mir nie vorgetragen worden, Herr Schily. Ich Das Verlogenste an Ihrer Politik ist, bin dreimal dagewesen. (Otto Schily [SPD]: Was heißt denn das?) (Zuruf des Abg. Rolf Köhne [PDS]) daß Sie den Mut haben - oder sollte ich besser - Wissen Sie, das ist eine Art und Weise der Betrach- „Chuzpe" sagen? -, sich hier hinzustellen und zu tung, Herr Köhne, die vollständig der Verantwortung behaupten, Frau Merkel habe Waddekath schon zum Ihrer Partei für das entspricht, was in Morsleben ent- Endlagerstandort gemacht. Ihre Partei forde rt von standen ist. dieser Bundesregierung tagtäglich Alternativen zu Gorleben, zu Konrad, wo Sie überall stehen und Herr Weis, Ihre Vorwürfe will ich einmal aufneh- „Nein, danke" sagen. men. Sie sagen: Informationen vorenthalten. Das stimmt vorne und hinten nicht. Ich denke, daß Frau Sie sind doch der Prototyp eines, wie man im Ame- Merkel und niemand von der Bundesregierung, vom rikanischen sagt, Nimby - „Not-in-my-backyard". Bundesamt für Strahlenschutz und vom DBE eine An jedem Ort dieser Republik sagen Sie: „Hier geht Veranlassung haben, Informationen vorzuenthalten. es nicht." Wenn ein Gutachten vorgelegt wird, in Selbst wenn es in der Frage der Informationspolitik dem mögliche Standorte überhaupt erst einmal hier und da Kritik gibt, kann nicht davon gesprochen benannt werden, sagen Sie gleich: „In Waddekath werden, daß Informationen vorenthalten werden. Sie soll Müll aufgenommen werden." Dort wird das glei- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6573 Kurt-Dieter Grill che inszeniert wie in Sumpte und wie diese Stand- hier vorsätzlich so gemacht worden ist, einzugehen. orte alle heißen. Ich denke, daß Sie sich bemühen sollten, hier und vor Ort in Ihrer Argumentation etwas seriöser zu wer- Im übrigen gibt es keine geheimen Untersuchun- den. Damit wäre uns in der Auseinandersetzung gen zu Granit, meine Damen und Herren. Wir haben schon geholfen. vollen Zugriff auf die kanadischen, die schwedi- schen, die schweizerischen Untersuchungen von (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Granit. Insofern ist das im Grunde genommen alles Hat sie gelogen? - Gegenruf von der CDU/ nur eine reine Show-Veranstaltung. CSU: Ich weiß nicht, ob sie gelogen hat; vielleicht hat sie es nur nicht verstanden!) Ich habe gerade vom Kollegen Letzgus gehört, daß Frau Heidecke und der eine oder andere von Ihnen eigentlich noch nie in Morsleben war. Ich finde es Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zur immer bewunderungswürdig, wenn die Menschen Kurzintervention hat die Abgeordnete Steffi Lemke. über schwerwiegende komplizierte Sachverhalte reden können, ohne jemals vor Ort gewesen zu sein. Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Ich sage Ihnen zum Schluß noch einmal: Was Sie Grill, ich bin fassungslos, was Sie für Unterstellungen aufführen, ist eine Kopie der niedersächsischen Poli- hier in den Raum stellen. Wenn Sie so oft in Morsle- tik, eine schlechte Politik. Sie führen das Land Sach- ben sind, dann hat Ihnen Herr Ebel vielleicht mitge- sen-Anhalt unnötigerweise in die Gefahrenzone, teilt, daß Frau Schönberger und ich Morsleben in die- nicht vorhandene Gelder für mögliche Schadener- sem Sommer bereist haben. Wir haben do rt unten satzleistungen bereitstellen zu müssen. Dies nenne wirklich unsere schlimmsten Befürchtungen bestä- ich nicht mehr verantwortbare Politik für die Men- tigt bekommen, obwohl ich persönlich sehr unvorein- schen in Sachsen-Anhalt und auch in Deutschland. genommen an diesen Besuch herangegangen bin. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich möchte Ihnen gerne von diesem Besuch erzäh- len, und ich gehe davon aus - da Sie ja um die Sicherheit der dort lebenden Menschen besorgt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu sind -, daß Sie die Vorgänge überprüfen und dem einer Kurzintervention erhält die Abgeordnete Alt- Parlament vielleicht darüber berichten werden. mann. Wir kamen jedenfalls mit diesem netten Wägel- chen an der Versturzstelle unten an. Eine Alarm- Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lampe blinkte, und eine Sirene ertönte. Herr Ebel NEN): Herr Grill, ich hätte Ihnen gerne eine Zwi- teilte uns mit, daß das völlig normaler Bet rieb sei und schenfrage gestellt. Leider haben Sie diese Frage daß das Blinken der Alarmlampe nur darauf zurück- nicht zugelassen. Insofern kann ich nur folgende zuführen sei, daß do rt erhöhte Radonwerte gemessen Feststellung machen: würden, was zwei-, dreimal die Woche auftreten Ich finde es merkwürdig und, um mit Ihren Worten würde. Man müßte jetzt leider die Lüftung intensivie- zu sprechen, nicht verantwortbar, daß Sie über die ren. Ich weiß nicht, welchen Zustand er damit her- Frage von Frau Schönberger einfach hinweggegan- stellen wollte, wenn das der Normalzustand sein gen sind. Der Sachverhalt, der hier geschildert sollte. Er hat uns dann noch erklärt, daß Morsleben wurde, ist nachprüfbar. Es stimmt mich nachdenk- dort unten eine viel geringere Radioaktivität auf- lich, daß es Ihnen nicht mal we rt ist, darauf einzuge- weise, als die natürliche Radioaktivität oberhalb des hen. Schachtes betrage. Das ist völlig logisch: Wenn ich die Radonwerte oben erhöhe, indem ich die Lüftung Ich frage mich wirklich, ob es hier darum geht, die intensiviere, ist es klar, daß unten weniger ist. Sachlage zu diskutieren und über Sicherheit zu reden oder nur etwas durchzudrücken. Nachdem Sie hier unterstellt haben, daß das eine unwahre oder eine unse riöse Behauptung sei, Ich möchte von Ihnen wissen, wie Sie mit diesen erwarte ich von Ihnen, daß Sie sich mit Herrn Ebel in Informationen umzugehen gedenken, gerade aus der Verbindung setzen und sich das von ihm bestätigen Verantwortung für die do rt lebende Bevölkerung lassen. Er hat uns das mit seinen eigenen Worten so heraus. dargestellt und uns damit eindrucksvoll die Unsi- cherheit des sogenannten Endlagers demonstrie rt. Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Frau Altmann, ich kann nur sagen: Die Behauptung, die Frau Schönber- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die nächste ger hier aufgestellt hat, beruht auf der Angabe der Rednerin ist die Abgeordnete Ursula Schönberger. Betriebsleitung. Sie hat das jedenfalls so formuliert. Ich habe mich bei drei Bereisungen der Anlagen in Ursula Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Morsleben über alle Sachverhalte informiert, bin do rt NEN): Meine Damen und Herren von der Regie- riebsrat, mit stundenlang gewesen, habe mit dem Bet rungskoalition, wenn Sie jetzt hier über das erbost dem Personal, mit der Betriebsleitung gesprochen. sind, was meine Kollegin gesagt hat, kann ich nur Eine solch schwerwiegende Behauptung, wie hier sagen: Sie müssen das einfach zur Kenntnis nehmen. aufgestellt, ist mir zu keiner Zeit vorgetragen wor- Sie können nicht daran herumdeuteln oder sagen: den. Deswegen habe ich auch keine Lust, auf eine Das war nicht so. Wir waren unten, und es gab die- Behauptung, von der ich annehmen muß, daß sie sen Warnalarm. Es gab auch die Aussage von Herrn 6574 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Ursula Schönberger Ebel, daß das so sei, weil auf Grund des Versturzes So war die DDR-Genehmigung! Wollte das Bundes- dort ständig Radongas austrete, und daß dies ganz amt für Strahlenschutz mittelaktiven Müll stapeln normaler Betrieb sei und zwei- bis dreimal die Woche und nicht verstürzen, so wäre dies nicht durch die passieren würde. Wenn Sie die Wahrheit, die Tatsa- DDR-Genehmigung abgedeckt. Eine dera rtige chen, die man vor Ort erlebt, nicht akzeptieren wol- Änderung der Einlagerungsbedingungen wäre aber len, ist das Ihr Problem. So realitätsfremd sind wir so wesentlich, daß ein Planfeststellungsverfahren allerdings nicht. notwendig wäre. Das allerdings wäre zu riskant, könnte doch in einem solchen Verfahren ans Tages- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN licht kommen, daß die Einlagerung prinzipiell nicht sowie bei Abgeordneten der SPD und der zu verantworten wäre. Aus wäre es mit der beque- PDS) men Entledigung dieses strahlenden Mülls bis zum Was wir heute hier diskutieren, ist einer der größ- Jahre 2000. ten Skandale in dieser durch und durch skandal- trächtigen Geschichte der Nutzung der Atomenergie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Da gibt es ein Atommüllendlager auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, das in DDR-Zeiten genehmigt wor- Das sachsen-anhaltinische Umweltministerium hat den ist. Dieses Atommüllendlager ist durch den aus der Prüfung der Genehmigungsdokumentation, deutsch-deutschen Einigungsvertrag ohne atom- die im übrigen erst im April dieses Jahres vom Bund rechtliches Planfeststellungsverfahren zu einem bun- übergeben worden ist, Anhaltspunkte für Sicher- desdeutschen Endlager geworden - ein Atommüll- heitsmängel gewonnen. Es hat daraufhin den einzig endlager als Morgengabe der deutsch-deutschen richtigen Schritt gemacht und im Interesse der Einigung. Sicherheit und Gesundheit der Bevölkerung einen teilweisen Einlagerungsstopp verfügt. Dieser Einla- Ansonsten war Ihrer Meinung nach alles schlecht gerungsstopp sollte solange gelten, bis das Bundes- in der DDR. Aber dieses Atommüllendlager soll gut amt für Strahlenschutz als Betreiber einen Sicher- gewesen sein und soll unseren Ansprüchen genü- heitsnachweis in den aufgeworfenen Fragen er- gen! bringt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Was macht Frau Merkel? Anstatt sich der fachli- PDS - Zuruf von der SPD: Das war jetzt chen Diskussion um die Sicherheit des Endlagers zu eine gute Bemerkung!) stellen, ignoriert sie die Bedenken des Landesum- weltministeriums. Vor allem aber ignoriert sie die Selbst das Bundesumweltministerium zweifelt an potentielle Gefahr für die Menschen vor O rt. Sie der Genehmigungsfähigkeit von Morsleben. In zieht den Weisungshammer, verweigert sich der Dis- einem internen Strategiepapier des Bundesumwelt- kussion und ordnet die Wiederinbetriebnahme an. ministeriums vom März dieses Jahres ist zu lesen: Sie geht sogar noch weiter: Sie erläßt einen Maul- Ein Weiterbetrieb über den 30. Juni 2000 hinaus korb und verbietet dem Land, seine Interessen vor erfordert ein Planfeststellungsverfahren, das Gericht wahrzunehmen. angesichts der geologischen Situation mit Schwierigkeiten und Risiken behaftet ist. Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsko- alition, die Art und Weise, wie die Bundesregierung Das muß man sich mal ganz genau durchdenken. derzeit im Atomenergiebereich agiert, mißachtet das Da gibt es ein Bundesumweltministerium, das expli- Sicherheitsbedürfnis vieler Menschen. Das fängt zierte Bedenken bezüglich der geologischen Situa- damit an, daß sie den Umgang mit Atommüll mit tion von Morsleben hat, - Kuchenbacken vergleicht. Das geht mit dem größten (Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik GRÜNEN]: Das will was heißen!) weiter, der aufgeboten wurde, um den Castor-Behäl- ter nach Gorleben durchzubringen. Und es geht so das aber überhaupt keine Bedenken hat, in dieses weit, daß sie die Sicherheitsdiskussion durch den Lager bis zum 30. Juni 2000 einzulagern, was das Weisungshammer ersetzt. Diese Politik, die an den Zeug hält. Ängsten und Bedürfnissen der Menschen vorbei- geht, ist polarisierend. Mit ihrer Atompolitik hat sich Und wie wird eingelagert? Es werden, wie mein Kollege schon ausführte, mittelradioaktive Stoffe ein- die Bundesregierung von den gesellschaftlichen Dis- kussionen und dem Empfinden der Gesellschaft weit fach auf alten Müll gekippt, die Fässer zerplatzen, der Müll vermischt sich. Reaktionen der Gebinde entfernt. untereinander sind nicht auszuschließen, ebenfalls Ich kann - das sage ich zum Schluß - Sie deshalb nicht, daß brennbares Material frei herumliegt. Das nur bitten und auffordern: Stellen Sie sich der Dis- alles ist aber sicherheitstechnisch nicht untersucht kussion um die Sicherheit und Verantwortbarkeit der worden. Einlagerung von Atommüll von Morsleben! Machen Für ein westdeutsches Atommüllager wurde die Sie nicht eine Weisungspolitik, machen Sie eine Poli- Versturztechnik explizit ausgeschlossen. In Morsle- tik der Diskussion über die Sicherheit, und stimmen ben, wie auch Herr Weis sagte, werden schwachak- Sie unserem Antrag zu! tive Abfälle gestapelt und stärker strahlende ver stürzt - nach gesundem Menschenverstand eigent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, lich ein Unding. Aber die Gründe sind ganz einfach: bei der SPD und der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6575

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt untersucht werden, ob beherrschbar oder nicht, was der Abgeordnete Rainer Ortleb. aber sofort die Frage anschließt, was denn beherrsch- bar ist. Dr. Rainer Ortleb (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung soll also Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord- eine Weisung zurücknehmen, die die Wiederauf- neter, einen kleinen Moment. Gestatten Sie eine Zwi- nahme einer Einlagerung in ein Endlager für radio- schenfrage? aktiven Müll verfügt. Die Situation stellt sich nun wie folgt dar: Die Antragsteller sehen Sicherheitsmängel, Dr. Rainer Ortleb (F.D.P.): Wenn Sie einen Moment fehlende Sicherheitsnachweise für den Langzeit- wie gestatten, gleich. auch den gegenwärtigen Betrieb, Gutachten, die ohne Recherchen und Daten erstellt wurden, so daß Letzteres ist die Frage nach Situation und Eintritts- man gar nicht richtig rechnen konnte, sie sehen den wahrscheinlichkeiten und ersteres die kritische Beur- Ort als solchen für ungeeignet an und zweifeln letzt- teilung geltenden Wissens, machbarer Technik und lich am dortigen Stand von Technik und Technologie. geläufiger Technologie. Man kann den Sachverhalt auch so zusammenfas- Eine Zwischen- sen: Das Landesumweltministerium hat recht und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: frage der Abgeordneten Schönberger. beruft sich offensichtlich auf weitblickend vorsorgli- che Experten. Das Bundesumweltministerium hat nicht recht und verfügt nur über dilettierende oder Ursula Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- atomlobbyistisch liierte, fragwürdige Fachleute. Dar- NEN): Herr Professor Ortleb, ich habe eine Nach- über müssen wir nun einen tatsächlichen wissen- frage zu Ihren Äußerungen. Soll das jetzt heißen, daß schaftlichen Dialog führen, natürlich mit offenem man dann, wenn man für die Option Kernenergie ist, Ende. einlagern kann oder gar einlagern muß, wo gerade ein Loch da ist, egal ob dieses Atommüllager speziell Sicherlich ist Ihnen aufgefallen, daß ich bisher die den Sicherheitsanforderungen entspricht, weil man Ortsangabe Morsleben nicht verwendet habe. Das sich sonst vielleicht der Option Kernenergie nicht liegt nicht daran, daß ich die Kenntnis der Tagesord- stellen würde, oder sind nicht sogar auch Sie, der Sie nung voraussetze. Vielmehr meine ich, daß die ja zur Option Kernenergie sagen, mit mir der glei- Antragsteller dieselbe, gegebenenfalls geringfügig chen Meinung, daß man natürlich über jedes Lager modifizierte Darstellung für jedes Endlager X-leben, ganz konkrete Sicherheitsdiskussionen führen muß Y-feld oder Z-dorf geben könnten und daß eine solche Sicherheitsdiskussion nichts m(Heiterkeit und Beifall der Abg. Birgit Ho nützt, wenn währenddessen ständig tonnenweise burger [F.D.P.]) Müll hineingekippt wird? und auch da in jedem Einzelfall den eben so genann- Dr. Rainer Ortleb (F.D.P.): Ich habe die Gelegen- ten tatsächlichen wissenschaftlichen Dialog führen heit, einfach meinen nächsten Satz zu nehmen, den wollen. ich geplant habe. Ich könnte mir nämlich gut vorstel- Ich glaube, daß es um Morsleben nur als das len, daß Sie hinsichtlich der letzten Sentenzen mei- Mosaiksteinchen Morsleben geht. Die umfassendere ner Rede mit mir gar nicht so unbedingt nicht einver- Fragestellung, um die es sich eigentlich handelt, ist standen sind. Der Unterschied zwischen uns ist nur, doch, ob man Kernenergie als optionale Energie daß Sie als Antragsteller unbedingt nicht wollen und haben will oder nicht. - ich bedingt will. (Zuruf von der SPD) Damit bin ich am Ende der Antwort, und da der laufende Text sehr gut dazu paßt, kann ich damit - Ja, da sind wir doch völlig einverstanden. - Und weitermachen. hier ist eben Morsleben in einem sozusagen dem Thema angepaßten anderen Bild nur ein Atom des Die wohl größte Differenz haben wir infolgedessen Ganzen: nämlich Option Kernenergie oder nicht. in der Beurteilung von Qualität und Redlichkeit von Fachleuten des Denk- und Handwerks rund um die Und schließlich, wenn man durch eine Politik rein Anwendung von Kernkraft. Immer wieder entdecke verfahrenstechnischer Einzelzertrümmerung der ich, daß Oberflächlichkeit und Unsolidität vor allem Atome des Körpers Option vorgeht, dann ist die den - nennen wir es - bedingten Befürwortern unter- Option Kernenergie auch zerstört. Übrigens habe ich stellt wird. So ist auch die unterschiedliche Beurtei- die Wortfolge „durch eine Politik rein verfahrens- lung von im vorliegenden Falle Bundes- und Landes- technischer", wie Sie sicher sofort bemerkt haben, regierung zu verstehen. Genauso verhält es sich aus der Begründung des vorliegenden Antrags ge- auch mit der Darstellung der Sachverhalte. klaut. Im Gegensatz dazu bin ich der Auffassung, daß Die Wortspiele sollen aber keineswegs ablenken, man in Deutschland sowohl bei Gutachten als auch denn mir liegt sehr viel daran, insofern zu präzisie- bei Handhabung geradezu pingelig genau ist. Wer ren, daß verantwortungsvoller Umgang mit Kernkraft das nicht glaubt, der lese und studiere nur einmal die nicht allein heißt, optionale Kernenergie ja oder nein, Berichte über meldepflichtige Havarien in Kernkraft- sondern Augenmerk auf die Bedingungen der Nut- werken. Da ist dann auch die defekte Glühlampe im zung richten muß. Und hier muß dann in der Tat Vorbereich der Sicherheitszone dabei. Diese Ge- 6576 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Dr. Rainer Ortleb nauigkeit ist jedoch lobenswert und gut. Nur so kann weiteren Nutzung der Atomenergie festzuhalten. bedingte Befürwortung Vertrauen gewinnen. Morsleben ist ja eben genau so ein Detail davon, Mich stört, wenn lange geführte Untersuchungen, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Begutachtungen und Diskussionen zu einer Sache Schaltet das Licht aus!) oder zu einer Lösung offenbar nie einen Abschluß finden oder nur dann, wenn das Ergebnis den unbe- und genau darum geht es. dingten Aussteigern recht gibt. Wenn allgemeine Regelung sein soll, daß der „tatsächliche wissen- Endlager werden nur dann, wenn überhaupt, in schaftliche Dialog" so lange geführt werden muß, bis der Bevölkerung akzeptiert werden, wenn ganz klar Gott sei Dank gar hoffentlich endlich ein negatives gesagt wird, daß wir aussteigen, daß Schluß ist, daß Resultat für die bedingten Befürworter vorliegt, wäh- kein neuer Müll mehr kommt. Dann erst wird man rend etwa ein zwischenzeitlich schon erzieltes positi- darüber überhaupt sachlich diskutieren können. ves grundsätzlich nicht gilt, dann kann man das Ver- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: fahren auch abkürzen und den Ausstieg aus der Die Bevölkerung ist nicht so blöd, wie Sie Kernenergie auch gleich gesetzlich festschreiben denken! - Ursula Schönberger [BÜNDNIS 90/ wollen. Das ist ehrlicher als die eifrige Produktion DIE GRÜNEN]: Sie haben doch schon von Mosaiksteinchenanträgen. längst keine Mehrheit mehr!) Da sind wir mit dem Begriff „gesetzliche Fest- schreibung" unversehens bei der Chance von - Ich schließe mich der Argumentation der Kollegin Betrachtung zum Demokratieverständnis angelangt. Schönberger an, daß Sie in dieser Frage die Mehrhei- Gegen Mehrheitsentscheidungen zum Beispiel ten nicht mehr hinter sich haben. Schienenstücke herauszusägen und Bäume, auch (Ursula Schönberger [BÜNDNIS 90/DIE grüne, zu fällen, verträgt sich für mich nicht. Im GRÜNEN]: Sie müssen ja mit Weisungen Sinne von Demokratieverständnis ist der vorliegende arbeiten!) Antrag eigentlich die Aufforderung an die Bundesre- gierung, die Gesetze zu brechen, nach denen sie eben, anders als vom Antrag gewollt, handelte. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: So, aber jetzt hat doch der Redner hier weiter das Wort. Danke. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Rolf Köhne (PDS): Zurück zur Sache. Angesichts der offensichtlichen Sicherheitsmängel im Endlager Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord- Morsleben ist es also nicht verantwortbar. Die Wei- neter, da war noch der Wunsch nach einer Zwischen- sung der Ministerin muß deswegen zurückgenom- frage. men werden, und ich schließe mich einfach dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und SPD an. Dr. Rainer Ortleb (F.D.P.): Es gibt doch die Möglich- keit zur Kurzintervention. (Beifall bei der PDS und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang Weng [Ger (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Da lingen] [F.D.P.]: Starke Truppe! Da habt ihr hat er sich wieder gedrückt! - Gegenruf euch gefunden!) vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das macht er doch immer so!) - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Hirche. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Köhne. Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Rolf Köhne (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- ginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich Sie, wer- cherheit: Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- ter Herr Kollege G rill, auf einen Widerspruch auf- ren! Am 1. September dieses Jahres mußte das Bun- merksam machen: Bei jeder Gelegenheit weisen Sie desumweltministerium erstmalig eine Weisung an darauf hin, daß die DDR die Umwelt verschmutzt hat eines der neuen Bundesländer erteilen. Entspre- und in dieser Hinsicht sehr nachlässig gewesen sei. chend unserer Verantwortung für die sichere Entsor- Sie tun das zu Recht, wie ich leider auch bekennen gung nuklearer Abfälle haben wir die sachsen-anhal- muß. Auf der anderen Seite sind Sie auf einmal sehr tinische Umweltministerin Heidecke angewiesen, froh, daß Sie eine Genehmigung aus dem Jahre 1986 den Ende August von ihr untersagten Versturz von von der DDR einfach erben durften. Das ist der radioaktiven Abfällen ins Endlager für radioaktive Widerspruch in Ihrer Argumentation, den Sie einfach Abfälle Morsleben wieder zuzulassen. Die Unter- nicht auflösen können. sagungsverfügung wurde daraufhin von Umwelt- ministerin Heidecke am 4. September 1995 zurück- Zum anderen: Herr Ortleb, Sie haben die Sache genommen. sicherlich sehr gut auf den Punkt gebracht. Es geht genau um die Frage, Atomenergie ja oder nein. Es Für den Bund war es nicht hinnehmbar, wie die gibt sehr viele Details, in denen immer wieder deut- sachsen-anhaltinische Umweltministerin versucht lich wird, daß es sehr unverantwo rtlich ist, an der hat, ohne nachvollziehbare Rechtsgrundlage und auf Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6577

Parl. Staatssekretär Walter Hirche Grund unbewiesener Behauptungen den Betrieb des Ich bin ganz sicher - und Herr Kollege G rill hat das Endlagers Morsleben zu blockieren. ja schon angeführt -, daß auch eventuelle weitere Verfahren genau so kläglich scheitern werden, wie (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: das in Niedersachsen der Fall ist, und daß damit nur Warum ist sie eigentlich nicht hier? - Cle der Steuerzahler in dem jeweiligen Bundesland mit mens Schwalbe [CDU/CSU]: Es ist schon zu zig Millionen belastet wird. spät!) (Ursula Schönberger [BÜNDNIS 90/DIE Unsere Auffassung ist im übrigen vom Oberverwal- GRÜNEN]: Nach dem Urteil zu Mülheim tungsgericht Magdeburg in seiner Entscheidung Kärlich wäre ich mir da nicht so sicher!) vom 16. November bestätigt worden. Zur bereits hier diskutierten Frage der Langzeitsi- Meine Damen und Herren, Weisungen dieser A rt cherheit darf ich zur Klarstellung noch einmal darauf können eben auch gerichtlich überprüft werden, und verweisen, daß nach dem Recht der damaligen DDR dann wird man feststellen, welcher der Standpunkt abschließende Aussagen zur Langzeitsicherheit erst ist, der die Sicherheitsargumente berücksichtigt. in einer auf die Dauerbetriebsgenehmigung folgen- Die Grünen versuchen hier keine Sicherheitsdis- den Stillegungsgenehmigung verfahrensrelevant kussion, sondern sie versuchen eine Unsicherheits- gewesen wären. Deshalb enthält die jetzige Betriebs- debatte mit Halbwahrheiten. genehmigung folglich keine Aussagen, wie sie in einem Endlager-Planfeststellungsbeschluß nach bun- (Beifall bei der F.D.P. - Gila Altmann desdeutschem Recht erforderlich wären. [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zynisch!) Das derzeit laufende Planfeststellungsverfahren für den Betrieb über den 30. Juni 2000 hinaus wird Der vorliegende Antrag ist keineswegs anspruchs- die verfahrensrelevante Feststellung zur Langzeitsi- voller als das, was Frau Heidecke versucht hat. cherheit enthalten. Die Untersuchungen sind einge- leitet, aber bereits jetzt liegen Aussagen zur Lang- zeitsicherheit vor, die ergeben, daß für die bis zum Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Staatsse- Jahre 2000 einzulagernden Abfälle zu keiner Zeit kretär, gestatten Sie eine Zwischenanf rage? eine Überschreitung der Dosisgrenzwerte zu erwar- ten ist. Diese Aussagen erlauben auf jeden Fall den Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Betrieb bis zu diesem Zeitpunkt bedenkenfrei. ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicher- cherheit: Sofort. - Wiederum werden nur Behauptun- heit hat für die Sicherheit der Nachbetriebsphase gen aufgestellt; nachvollziehbare Begründungen Analysen durchgeführt, die die bis zum 30. Juni 2000 fehlen. in Aussicht genommenen einzulagernden Abfälle (Zuruf von der F.D.P.: Urwaldstrategien!) berücksichtigen. Die Ergebnisse der GRS weisen aus, daß die in Aussicht genommene Menge an radioaktiven Abfällen im ERAM sicher verwahrt wer- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie gestatten den kann. Dabei unterstellt die GRS-Hypothese eine Zwischenfrage der Abgeordneten Schönberger. sogar, daß die Grube voll Wasser laufen könnte, was - Bitte. nach Ansicht der Geologen überhaupt nicht zu erwarten ist. Ursula Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Darüber hinaus zeigen die Analysen, daß unter - NEN): Herr Hirche, wenn Sie sagen, daß do rt nur Berücksichtigung eines optimierten Stillegungskon- Behauptungen aufgestellt werden, die nicht bewie- zeptes weiteres Potential der Einlagerung für ausge- sen sind, führt das nicht zu dem Umkehrschluß, daß wählte Radionuklide gegeben ist. Mit der Erarbei- Sie diese Behauptungen, wie Sie sagen, auch nicht tung eines solchen Stillegungskonzeptes, das den widerlegen können? Sonst müßten Sie ja sagen, Anforderungen eines zukünftigen Planfeststellungs- diese Behauptungen seien falsch, und könnten nicht beschlusses genügen kann, wurde bereits begonnen. sagen, diese Behauptungen sind nicht bewiesen wor- den. Wir haben uns in Deutschland entschieden, sämtli- chen radioaktiven Müll in tiefen geologischen For- Ist Ihnen nicht auch bekannt, daß das OVG in mationen einzulagern. Die hierfür vorgesehenen Magdeburg nur den formalen Vorgang gerechtfertigt Salzstöcke sind größenordnungsmäßig über 200 Mil- hat, aber keineswegs Stellung zu dem Inhalt Ihrer lionen Jahre alt. Wer bei verantwortungsbewußter Weisung bzw. zu dem Inhalt der Verfügung des sach- Einlagerung in diese Salzstöcke konkrete Gefahren sen-anhaltinischen Umweltministeriums genommen an die Wand malt, muß sich dem Vorwurf aussetzen, hat, sondern ein rein formales Verfahren durchge- vorsätzlich Panikmache zu betreiben. führt hat? (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger lingen] [F.D.P.]) Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- Das gilt auch für die Halbwahrheiten, die hier über cherheit: Frau Kollegin, vor Ge richt geht es immer das Thema Alarmanzeigen und Warnschwellen im darum, daß nur über den Sachverhalt geurteilt wird, Zusammenhang mit Morsleben verbreitet worden der im Augenblick zur Debatte steht. sind. 6578 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Parl. Staatssekretär Walter Hirche Meine Damen und Herren, in einem Berichtsent- Ich stelle abschließend fest, daß eine Rücknahme wurf des BfS vom gestrigen Tage wird das Thema der Weisung vom 1. September weder aus rechtli- noch einmal aufgegriffen. Hier sind Warnschwellen chen noch aus sicherheitstechnischen Gründen im Zusammenhang mit den aus Minimierungsgrün- gerechtfertigt ist. Der Bet rieb erfolgt derzeit auf den unterhalb der für das ERAM ohnehin sehr nied- Grund einer gültigen Dauerbetriebsgenehmigung, rig angesetzten Grenzwerte festgelegt. Es hängt die in verantwortlicher Weise genutzt wird. Aus die- dann ausschließlich davon ab - das können Sie sem Grunde entbehrt der Antrag, der hier vorgelegt schlicht beim Autofahren und anderswo feststellen -, wird, jeder Grundlage. Es sind weder rechtliche noch wo Sie eine Warnschwelle ansetzen. Wenn die rote sicherheitstechnische Gründe anzuführen, die diesen Lampe aufblinkt, können Sie Vorsorgemaßnahmen Antrag rechtfertigen könnten. ergreifen. Das hat überhaupt nichts mit Problemen zu tun. Es handelt sich in keinem Fall um Überschrei- Vielen Dank. tung von Grenzwerten. Genau dieser Eindruck ist von Frau Schönberger erweckt worden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, dies ist ein typischer Fall dafür, wie mit Halbwahrheiten gearbeitet wird Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe angesichts des Nichtwissens von Einzelheiten. Das damit die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die ist der Versuch, über solche Halbwahrheiten statt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/2365 über Tatsachen die Dinge öffentlich in Unsicherheits- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zonen zu bringen. Morsleben ist ein Endlager, das vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die der Bund zwar nicht errichtet, sondern übernommen Überweisung so beschlossen. hat, dessen Sicherheit er aber überprüft hat, das er sicher betreibt und das er am Ende der Bet riebszeit Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- auch sicher verschließen wird. ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deut- schen Bundestages auf morgen, Freitag, 1. Dezember Meine Damen und Herren, der Bund hat über das 1995, 9 Uhr ein. Bundesamt für Strahlenschutz die entsprechenden Anträge auf Planfeststellung im Hinblick auf Betrieb Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche allen eine und Stillegung über das Jahr 2000 hinaus gestellt. gute Nacht. An den Einzelheiten wird gearbeitet. Der Nachweis der Sicherheit wird detaillie rt erbracht werden. (Schluß der Sitzung: 22.30 Uhr) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6579*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 2

Liste der entschuldigten Abgeordneten Erkärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Gisela Babel (F.D.P.) zur entschuldigt bis Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes Abgeordnete(r) einschließlich über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen Antretter, Robert SPD 30. 11. 95 * (Arbeitnehmer-Entsendegesetz) (Tagesordnungspunkt 4) Beck (Bremen), BÜNDNIS 30. 11. 95 Marieluise 90/DIE Dem Regierungsentwurf eines Arbeitnehmer-Ent- GRÜNEN sendegesetzes in der im Bundestagsausschuß erwei- terten Fassung kann ich nicht zustimmen. Belle, Meinrad CDU/CSU 30. 11. 95 Ich verkenne nicht die Lage der deutschen Bauar- Braun (Auerbach), CDU/CSU 30. 11. 95 beiter und deutschen Bauunternehmen, die durch Rudolf den preislichen Wettbewerb ausländischer Unter- Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 30. 11.95 * nehmen auf deutschen Baustellen ihre Arbeitsplätze Klaus bzw. ihre Unternehmen gefährdet finden. Sie sind jedoch in der gleichen Lage, wie viele andere Bran- Büttner (Ingolstadt), SPD 30. 11. 95 chen der deutschen Wi rtschaft, zum Beispiel die Tex- Hans tilindustrie, in denen durch preisgünstige Importpro- dukte Arbeitsplätze verlorengingen und -gehen. Graf von Einsiedel, PDS 30. 11. 95 Ursache hierfür ist die erhöhte Wettbewerbsfähigkeit Heinrich anderer Länder, zu hohe deutsche Löhne und Lohn- Hörsken, CDU/CSU 30.11.95 zusatzkosten einschließlich der Steuern. Das Arbeit- Heinz-Adolf nehmer-Entsendegesetz ändert diese grundlegenden Ursachen nicht. Es wird allerdings die Bauleistungen Horn, Erwin SPD 30. 11.95 verteuern, zu geringerer Baunachfrage und zu Irber, Brunhilde SPD 30. 11.95 höheren Mieten führen. Umfangreiche Kontrollen auf den Baustellen sind erforderlich, um die Einhal- Klemmer, Siegrun SPD 30. 11. 95 tung des Gesetzes zu gewährleisten. Die Allgemein Meißner, Herbert SPD 30. 11.95 verbindlicherklärung trifft zudem auch alle deut- schen Bauunternehmen, insbesondere in den neuen Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 30. 11. 95 Bundesländern, die aus vielfältigen Gründen nicht tarifgebunden sind, und zwingt sie auf das allge- Neumann (Berlin), SPD 30. 11.95 meine Tarifniveau mit entsprechenden Auswirkun- Kurt gen auf die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unterneh- Pfeiffer, Angelika CDU/CSU 30. 11.95 men und ihrer Arbeitsplätze. Purps, Rudolf SPD 30. 11. 95 Das Gesetz, insbesondere in seiner erweiterten Fassung, halte ich für nicht verantwortbar, da es Reschke, Otto SPD 30. 11. 95 unserer Wirtschaftsordnung nicht entspricht, den Rexrodt, Günter F.D.P. 30.- 11.95 Wettbewerb auf deutschen Baustellen begrenzt, im Kern protektionistisch ist und dem Prinzip des Euro- Scheel, Christine BÜNDNIS 30. 11.95 päischen Binnenmarktes, der auch die Freizügigkeit 90/DIE der Arbeitnehmer unabdingbar beinhaltet, wider- GRÜNEN spricht. Scherhag, CDU/CSU 30.11.95 Auch mein Kollege Dr. Otto Graf Lamsdorff hat von Karl-Heinz Beginn der Diskussion um ein nationales Entsende- gesetz an erklärt, daß er ein solches Gesetz in jedwe- Schwanitz, Rolf SPD 30. 11.95 der Fassung für falsch hält. Aus diesen Gründen Sebastian, CDU/CSU 30.11.95 nimmt er an der heutigen Abstimmung nicht teil. Wilhelm-Josef Ich habe dem Regierungsentwurf als Kompromiß Tippach, Steffen PDS 30. 11.95 mit großen Bedenken zugestimmt, da er zeitlich befristet und auf das Bauhauptgewerbe beschränkt Vogt (Düren), CDU/CSU 30. 11.95 bleibt. Der jetzt zur Entscheidung anstehende Wolfgang Gesetzentwurf, der den Regierungsentwurf in seiner Wohlleben, SPD 30.11.95 Wirkung vom Bauhauptgewerbe auch auf das Bau- Verena nebengewerbe ausdehnt, verändert den Regierungs- entwurf aus meiner Sicht qualitativ. Ich halte diese Ausdehnung für nicht mehr verantwortbar. Ich kann daher dem Entwurf zu einem Arbeitnehmer-Entsen- * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- degesetz in der im Ausschuß erweiterten Fassung sammlung des Europarates nicht zustimmen. 6580* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Da die Arbeitgebervertreter im Tarifausschuß ein weiterer Investitionsstau bei der Wohnraumsa- erklärt haben, daß sie einem Antrag auf Allgemein nierung durch eine erneute generelle Verlängerung verbindlicherklärung nicht zustimmen werden, läuft des besonderen Kündigungsschutzes Ost nicht ver- das vorgesehene Gesetz absehbar ins Leere. Es tretbar. gehört aus meiner Sicht zur Ehrlichkeit der Politiker, den Betroffenen klar zu sagen, daß damit das Gesetz Wir anerkennen den Schutzbedarf für eine noch zu keines ihrer Probleme lösen würde. bestimmende Anzahl von Mietern in Einliegerwoh- nungen in ausgewählten Kommunen und Städten des Landes Brandenburg. Deshalb erwarten wir von der Bundesregierung, daß sie gemeinsam mit der Landesregierung Brandenburg für eine befristete Verordnungsermächtigung des Landes initiativ wird, Anlage 3 um der besonderen Situation der Mieter von Einlie- gerwohnungen Rechnung zu tragen. Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Michael Wonneberger, Rainer Eppelmann, Ulf Fink, Ulrich Junghanns, Manfred Koslowski und Michael Stübgen (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Anlage 4 Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes in den Erklärungen nach § 31 GO neuen Bundesländern zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes (Tagesordnungspunkt 6) zur Verlängerung des besonderen Für die dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion Kündigungsschutzes in den neuen Bundesländern zugrunde liegende Problematik sehen wir in ausge- (Tagesordnungspunkt 6) wählten Regionen des Landes Brandenburg durch- aus Handlungsbedarf. In zahlreichen Städten und Gerhard Jüttemann (PDS): Die Entscheidung, die Gemeinden des Berliner Umlandes hat sich die Lage wir heute zu fällen haben, ist eine besondere Ent- auf dem Wohnungsmarkt noch nicht entspannt. In scheidung. Das Besondere an ihr ist, daß sie sich in- diesen Gebieten ist auf Grund des historisch gewach- nerhalb von ganz wenigen Tagen auf Tausende Be- senen Siedlungscharakters die Anzahl der Einlieger- troffene in den neuen Bundesländern auswirken wohnungen besonders hoch. wird, und zwar existentiell. Insbesondere für diesen Bereich können wir die Ich bin der Meinung, wenn wir uns mehrheitlich Sorgen der Mieter nachvollziehen, die nach Auslau- falsch entscheiden, dann können diese Menschen ab fen des besonderen Kündigungsschutzes in den Januar nächsten Jahres aus ihren Wohnungen ver- neuen Bundesländern Eigenbedarfskündigungen trieben werden. Die es nicht sofort trifft, werden der Eigentümer befürchten. künftig in Unsicherheit leben, weil sie jeden Tag den Brief, der das Ende ihres Mietverhältnisses bedeutet, Dennoch lehnen wir den Antrag der SPD-Fraktion zu erwarten haben. auf Drucksache 13/2444 mit folgender Begründung ab: Viele dieser Menschen sind nicht mehr jung und werden diesen Schock nicht verkraften. Sie alle wer- Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion forde rt eine den unschuldig in die Lage kommen, in die Sie sie nochmalige generelle Verlängerung des besonderen mit einer falschen Entscheidung bringen. Sie haben Kündigungsschutzes für alle neuen Bundesländer- in Treu und Glauben in der DDR ein normales Miet- ohne Beschränkung auf die besonders schutzbedürf- verhältnis begründet, stets pünktlich ihre Miete tigen Mieter in Einliegerwohnungen. Dies halten wir bezahlt, sich nie etwas zuschulden kommen lassen. aus sachlichen und rechtlichen Erwägungen für Und dennoch würde ihnen jetzt ihre Wohnung weg- nicht tragbar. Wir sind der Ansicht, daß es speziell genommen. bei den Mietern von Einliegerwohnungen Fallgrup- pen geben kann, bei denen trotz Vorhandenseins der Ich bitte Sie, sich klarzumachen, was das heißt: Die Sicherungsmechanismen des sozialen Mietrechts, Wohnung wird weggenommen, das Umfeld und die insbesondere der Sozialklausel des § 564b BGB, Voraussetzung der Existenz. selbst nach einer Übergangszeit von fünf Jahren Von Heinrich Zille stammt der Satz, daß man einen noch unzumutbare Härten bei einer Kündigung auf- Menschen mit seiner Wohnung erschlagen kann. treten können. Nur bei diesem Personenkreis - und Aber wieviel schneller geht das noch, wenn man ihm nicht bei allen Mietern in den neuen Bundesländern - seine Wohnung nimmt. halten wir weitergehende Schutzmaßnahmen für erforderlich. Ich bitte Sie deshalb auch als Ch rist: Lassen Sie derartig unchristliches Tun nicht zu. Stimmen Sie für Eine zahlenmäßige Eingrenzung der tatsächlich zu die Verlängerung des besonderen Kündigungsschut- erwartenden Härtefälle ist nicht möglich. Unter- zes in Ostdeutschland. schiedliche Annahmen in den neuen Bundesländern führten zu differierenden Auffassungen hinsichtlich eines erneuten Regelungsbedarfs. Heidemarie Lüth (PDS): Heute steht der Gesetzent wurf der SPD zur Verlängerung des besonderen Kün Nachdem der besondere Kündigungsschutz in den digunsschutzes in den neuen Bundesländern um drei neuen Bundesländern fünf Jahre Bestand hatte, ist weitere Jahre zur Abstimmung. Damit entscheiden Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6581* wir, ob es ab 1. Januar 1996 zu einer Kündigungs- Für nicht akzeptabel halte ich den neuen Absatz 3 welle in Ostdeutschland, insbesondere aus Einlieger- in § 765a ZPO des Entwurfes. Bei der Räumungsvoll- wohnungen, Zwei- bzw. Dreifamilienhäusern und streckung soll eine zeitliche Sperre von 2 Wochen vor Restitutionshäusern in Umlandgemeinden von Berlin dem festgesetzten Räumungstermin eingeführt wer- und anderen Ballungsräumen kommt oder nicht. den, bis zu der wegen bis dahin vorliegender und bekannter Umstände ein Antrag auf Vollstreckungs- Mehrere betroffene Bürgerinnen und Bürger aus schutz nach § 765 a ZPO nur noch gestellt werden meinem und anderen Wahlkreisen Ostdeutschlands kann. Diese Regelung würde dazu führen, daß in haben sich in den letzten Wochen mit der dringen- zahlreichen Fällen eine sachliche Prüfung der Voll- den Bitte an mich gewandt, für die Verlängerung des streckungsschutzanträge nicht mehr möglich ist, weil besonderen Kündigungsschutzes in den neuen Bun- die Räumungsschuldner die Anträge zu spät stellen. desländern einzutreten. Menschen, die seit Jahren Sie würden damit schon aus rein formellen Gründen bzw. Jahrzehnten in ihrer Wohnung leben, zeigten die Chance verlieren, einen weiteren Aufschub der mir Schreiben mit der Aufforderung, die Wohnung Wohnungsräumung zu erreichen. Dadurch würde bzw. das Haus zu verlassen, und ihre dabei geäu- die Gefahr vergrößert, daß Schuldner obdachlos wer- ßerte Angst um die nackte Existenz war keine Schau- den, weil behördliche Maßnahmen nicht mehr recht- spielerei. zeitig greifen. Ich möchte Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Auch die Beseitigung des Pfändungsschutzes zu aus einem Brief zitieren: Lasten des Käufers, der eine Sache unter Eigentums- vorbehalt erworben hat, ist zu weitreichend. Der Hiermit kündigen wir im Namen der Erbenge- Pfändungsschutz zielt darauf ab, dem Schuldner die meinschaft das Mietverhältnis zum 31. 12. 94, Besitz- und Gebrauchsmöglichkeiten einer Sache zu ersatzweise zum nächstmöglichen Termin entspr. erhalten. Das fehlende Volleigentum allein kann des- den gesetzlichen Vorschriften. Da wir beabsichti- halb nicht die Aufhebung des Pfändungsschutzes gen, die Erbengemeinschaft aufzulösen, bieten wir rechtfertigen. Ihnen an, das Grundstück zum ortsüblichen Preis zu kaufen. Verfassungsrechtlich bedenklich ist auch die Rege- lung, daß der Schuldner zur Vorlage eines Vermö- Ich glaube, das bedarf keiner weiteren Kommentie- gensverzeichnisses verpflichtet ist, wenn er die rung. Durchsuchung verweigert hat oder wenn der Gerichtsvollzieher den Schuldner - nach vorheriger Ich werde dem Gesetzentwurf zur Verlängerung Ankündigung - nicht in der Wohnung angetroffen des besonderen Kündigungsschutzes in Ostdeutsch- hat. Die Berufung auf Grundrechte - hier auf A rt. 13 land zustimmen und bitte Sie, das auch zu tun. GG - muß in jedem Fall sanktionslos bleiben. Leitgedanke einer Reform der Zwangsvollstrek- kung sollte sein, in jeder Phase der Vollstreckung durch geeignete Maßnahmen auf eine sozial verträg- liche, wirtschaftlich sinnvolle, rechtsfriedliche Rege- Anlage 5 lung hinzuwirken. Diesen Gedanken greift der Ent- wurf jedoch nicht in ausreichendem Maße auf. Es ist Zu Protokoll gegebene Rede bedauerlich, daß der Bundesrat von der im zu Tagesordnungspunkt 10 Ursprungsentwurf vorgesehenen Möglichkeit, eine (Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung Verhaftung des Schuldners durch Abgabe einer zwangsvollstreckungsrechtlicher Vorschriften eidesstattlichen Versicherung zu Protokoll des [2. Zwangsvollstreckungsgesetz]) Gerichtsvollziehers abzuwenden, wieder Abstand genommen hat, weil man keine „eidesstattliche Ver- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sicherung am Küchentisch" ermöglichen wollte. Bei Wie viele andere Vorlagen aus den letzten Jahren Beibehaltung der geltenden Rechtslage bleiben die steht auch der heute zu behandelnde Bundesratsent- Gerichtsvollzieher gezwungen, die zwangsweise wurf zur 2. Zwangsvollstreckungsnovelle unter der Vorführung des Schuldners zum nächsten Vollstrek- Zielsetzung „Rechtsvereinfachung" und „Beschleu- kungsgericht vorzunehmen. Dies erfordert für nigung". Und in der Tat, hier stimme ich den Ent- Gerichtsvollzieher und Schuldner weite Wege, und wurfsverfassern zu, ist gerade das Vollstreckungs- der ohnehin in Zahlungsschwierigkeiten befindliche recht gekennzeichnet durch Unübersichtlichkeit, Schuldner verliert auch noch Arbeitszeit. Noch kras- Schwerfälligkeit und Kompliziertheit seiner Regelun- ser stellt sich die Situation dar, wenn der offenba- gen. Viele Regelungen sind antiquiert. Gesetzeslage rungsbereite Schuldner nach Dienstschluß in die und Vollstreckungswirklichkeit stimmen in weiten Haftanstalt eingeliefert werden muß, weil beim Voll- Bereichen nicht mehr überein. Eine grundlegende streckungsgericht niemand mehr da ist. Ich habe mir von Gerichtsvollziehern erläutern lassen, daß sie in Neukonzeption des Vollstreckungsrechts ist daher im Flächenstaaten teilweise bis zu 200 Kilometer Interesse aller am Vollstreckungsverfahren Beteilig- zurücklegen, um etwa eine JVA zu erreichen, die für ten geboten. Der vorliegende Bundesratsentwurf ent- die Aufnahme von Frauen zuständig ist. Hier gilt es hält insoweit einige positive Ansätze. Wir müssen endlich Abhilfe zu schaffen. uns aber davor hüten, in dem Bestreben nach Verein- fachung und Beschleunigung das Kind mit dem Bade Nicht aufgegriffen hat der Bundesrat auch Vor- auszuschütten und sozial nicht hinnehmbare Ein- schläge, die Gerichtsvollzieher nach erfolgloser Pfän- schränkungen des Schuldnerschutzes vorzunehmen. dung - bei Einverständnis zwischen Gläubiger und 6582* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

Schuldner - zur Entgegennahme von Teilzahlungen gen: War die Übertragung der sogenannten Kredit- zu ermächtigen. Dieses Vorgehen ist zwar bei eini- verpflichtungen von Kommunen und Bet rieben gen Gerichtsvollziehern längst Praxis, eine ausdrück- gegenüber den staatlichen Banken der DDR in die liche gesetzliche Bestimmung fehlt jedoch, und es bundesrepublikanische Ordnung ein Kardinalfehler kann zu Konflikten mit der Dienstaufsicht kommen. der deutschen Vereinigung? Wurden die Steuerzah- Zur Abwendung der Verhaftung wäre auch eine ler und Steuerzahlerinnen auf Grund des Dilettantis- Ermächtigung der Gerichtsvollzieher zur Entgegen- mus der Bundesregierung möglicherweise in drei- nahme von Teilzahlungen im Einverständnis mit dem stelliger Milliardenhöhe belastet? Vertuscht die Bun- Gläubiger erörterungswürdig. Hierdurch könnte desregierung möglicherweise einen Finanzskandal gleichzeitig eine Entlastung des Vollstreckungsge- ungeheuren Ausmaßes? richts erzielt werden, weil dem Gläubiger auf Grund erfolgloser Pfändung ansonsten nur noch der Antrag Wir haben gestern eine Große Anfrage zum auf Vermögensoffenbarung bleibt. Gesamtkomplex der Altschuldenproblematik einge- bracht. Wir wollen der Bundesregierung Gelegenheit Zum Abschluß möchte ich noch darauf hinweisen, geben, sich zu diesen und anderen Vorwürfen zu daß wir unser Augenmerk verstärkt darauf richten äußern. Wir erwarten allerdings eine rasche und prä- sollten, die Fülle von Zwangsvollstreckungen zu ver- zise Beantwortung; schließlich hätte die Bundesre- meiden. Nach wie vor werden Tausende von Men- gierung schon 1990 Kenntnis über den Sachverhalt schen in dieses Verfahren hineingezogen, nachdem bzw. die Zusammenhänge haben müssen. unsinnige und überzogene Ratenkreditverträge und Darlehen geplatzt sind. Bereits an dieser Stelle gilt Im Zuge der deutschen Vereinigung wurden soge- es, geeignete Schutzvorkehrungen zu treffen. nannte Kreditverpflichtungen von Kommunen und Betrieben gegenüber den staatlichen Banken der DDR in die bundesrepublikanische Ordnung übertra- gen. Ein Großteil der zugehörigen Forderungen wurde im Zuge der Privatisierung des DDR-Banken systems an westdeutsche Banken weitergegeben. Anlage 6 Die Verwandlung von DDR-Verrechnungseinheiten in harte DM-Schulden scheint mir jedoch juristisch Zu Protokoll gegebene Rede äußerst zweifelhaft. In einer Verfassungsbeschwerde zur Tagesordnungspunkt 13 wird die Auffassung vertreten, diese Verrechnungs- (Antrag: Vollständige Übernahme der einheiten hätten ersatzlos gestrichen werden können sogenannten Altschulden auf gesell bzw. müssen. Die einzigen Gewinner scheinen west- schaftliche Einrichtungen ostdeutscher deutsche Banken zu sein, die praktisch ohne Risiko Kommunen durch den Bund) das frühere DDR-Bankensystem übernehmen konn- ten. Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN): Am kommenden Montag soll erneut versucht Darüber hinaus hat - dem Bericht des Bundesrech- werden, zwischen der Bundesregierung und den nungshofs zufolge - die Bundesregierung bei der Vertretern der ostdeutschen Kommunen einen Kom- Abwicklung der Altkredite und bei ihrer Übertra- promiß bezüglich der Übernahme der Altschulden zu gung auf westdeutsche Kreditinstitute in erhebli- finden. chem Umfang weitere Verteuerungen der Kredite zu Lasten der Schuldner und - auf Grund der Aus- Die in der Öffentlichkeit diskutierten Vorschläge gleichsregelungen - der Steuerzahler und Steuerzah- bewegen sich zwischen einer Teilübernahme der lerinnen zu verantworten. Falls sich der Eindruck Verbindlichkeiten bzw. aufgelaufenen Zinsen der bestätigen sollte, daß die Bundesregierung an einer Kommunen und einer vollständigen Übernahme- die- zügigen und konsequenten Aufklärung der Vorwürfe ser sogenannten Altkredite durch den Bund. Letzte- nicht interessiert ist, werden wir für die Einsetzung res fordert die PDS in ihrem Antrag mit der Begrün- eines Untersuchungsausschusses zur Abwicklung dung, daß die aus Investitionen für den Bau gesell- der sogenannten Altkredite eintreten. schaftlicher Einrichtungen resultierenden Schulden ostdeutscher Kommunen Staatsschulden der DDR Die Belastung mit den sogenannten Altschulden seien. Diese - so die PDS - müßten daher vollständig hat teilweise zu einer erheblichen Einschränkung als Schulden des Bundes im Rahmen des Erblasten- der Handlungsspielräume der betroffenen Unterneh- tilgungsfonds übernommen werden. men und Körperschaften geführt. Die dazu getroffe- nen Regelungen sind, wie bereits erwähnt, aber Eines ist für mich klar. Wir dürfen die Kommunen nicht nur finanzpolitisch zweifelhaft. Sie haben mög- mit den sogenannten Altschulden nicht alleine las- licherweise den wirtschaftlichen Aufbau der neuen sen. Dies wäre die nachträgliche Anerkennung will- Bundesländer nachhaltig behindert. kürlicher Entscheidungen des früheren DDR-Regi- mes. Voraussetzung jeder wie auch immer gearteten Vor diesem Hintergrund bedarf die Frage der Lösung dieses Problems ist die Klärung des Charak- Behandlung der Altkredite der Kommunen dringend ters dieser sogenannten Altschulden, und zwar nicht einer grundsätzlichen Beantwortung. Der vorlie- nur im kommunalen Bereich, sondern auch in der gende Antrag greift zu kurz. Er bleibt inkonsequent Landwirtschaft, bei den Betrieben und bei den Woh- und auf halbem Wege stecken. nungsgesellschaften. Ich möchte an dieser Stelle meiner Verwunderung Grundsätzlich, aber auch aktuell durch den Bericht Ausdruck geben, daß ausgerechnet die PDS, die sich des Bundesrechnungshofes begründet, stellen sich doch sonst immer so radikal gebärdet, mit ihrem Vor- mir hier zunächst einmal eine ganze Reihe von Fra- schlag nichts anderes macht, als zweifelhafte Forde- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6583* rungen von Banken durch die Steuerzahler und Steu- men an 16 verschiedenen Orten Deutschlands zer- erzahlerinnen begleichen zu lassen. Sie schließt sich stört wurden, im einzelnen 2 566 Kampfpanzer, 4 257 so der Linie der Bundesregierung an, die schon im gepanzerte Kampffahrzeuge, 1 623 Artilleriewaffen Zusammenhang mit der Entschuldung der Treu- und 140 Flugzeuge. handbetriebe durch Umbuchen die Steuerzahler und Auch die osteuropäischen Staaten und vor allem Steuerzahlerinnen dieses Landes mit über die Russische Föderation mit den größten Reduzie- 100 Milliarden DM belastet hat. rungsaufgaben haben sich nach Kräften bemüht, Es kann hier und heute nicht um dubiose Kom- ihre vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Es promisse gehen. Notwendig ist die Klärung der gibt heute lediglich noch einige Implementierungs- grundsätzlichen Fragestellung: Waren die soge- rückstände in Belarus, Aserbaidschan und in der nannten Altkredite ganz oder zum überwiegenden Ukraine, wo der Streit um die Schwarzmeerflotte Teil lediglich Verrechnungseinheiten? Wenn ja, einer Erfüllung der Verpflichtungen im Wege steht. dann ist die Bundesregierung gefordert, die ge- Und trotzdem gibt es auch Sorgen. Sie betreffen samte Finanzierung der deutschen Einheit rückab- vor allem die regionalen Stationierungsbeschränkun- zuwickeln! gen, die zur Zeit der noch existierenden Sowjetunion Wir können und wollen den Vertretern der Kom- festgelegt wurden und heute der Russischen Födera- munen keine Vorschriften machen. Wir raten aber tion große Schwierigkeiten bereiten. Es ist erfreulich, dringend dazu, die grundsätzliche Fragestellung daß in Wien inzwischen Vorschläge zur Lösung des nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn denn die sogenannten Flankenproblems sowohl vom Westen Bundesregierung kein Einsehen hat, dann wird viel- als auch von Rußland vorgelegt wurden, und wir leicht das Bundesverfassungsgericht im kommenden unterstützen ausdrücklich die Bemühungen auch der Jahr eine neue Rechtslage schaffen. Und der Bundes- Bundesregierung, zusammen mit Moskau zu einer regierung kann ich nur dringend nahelegen, auf vertragskonformen Lösung dieses Problems zu kom- Mahnbescheide und ähnliche Zwangsmaßnahmen men. zu verzichten. Noch ist es nicht zu spät, fehlerhafte Um so bedauerlicher ist es, daß einige Sprecher Entscheidungen und dubiose Regelungen aus eige- der russischen Politik, zuletzt in besonders auffälliger ner Entscheidung zu korrigieren. Weise der russische Verteidigungsminister Grat- schow, gelegentlich den gesamten KSE-Prozeß wegen der Flankenproblematik, aber auch wegen des Streits über die NATO-Osterweiterung in Frage stellen. Erfreulicherweise verhält sich die russische Anlage 7 Delegation dort, wo die eigentliche Politik gemacht wird, nämlich bei der „Joint Consultative Group" in Zu Protokoll gegebene Reden Wien, viel kooperativer, als das Getöse auf der inter- zu Tagesordnungspunkt 14 nationalen Bühne erscheinen läßt. Es gibt also die (Antrag: Abrüstung konventioneller Streitkräfte begründete Hoffnung, daß durch gemeinsame in Europa: Sicherung und Fortentwicklung Anstrengungen bis zur für den kommenden Mai vor- des KSE-Vertrages) gesehenen Überprüfungskonferenz ein Vollzug der Verpflichtungen aus dem November 1990 vermeldet Gernot Erler (SPD): Neben den großen Verträgen werden kann. über die atomare und chemische Abrüstung stellt der „Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa Aber längst geht es nicht nur um die Implementie- (KSE)" vom 19. November 1990 eine der wichtigsten rung des Vertrages von 1990. KSE ist ein Stichwort für Abrüstungschancen auf verschiedenen Ebenen Säulen des europäischen Sicherheitssystems- dar. geworden. Es ist kein Zufall, daß in dem Dayton Dieser Vertrag verpflichtet die 16 Mitgliedstaaten der Abkommen für eine Friedensregelung in Bosnien im NATO und die sechs damaligen Mitgliedsländer des Zusammenhang mit Abrüstungsverpflichtungen der Warschauer Vertrages zur Reduzierung ihrer Haupt- drei Kriegsparteien Höchstgrenzen nach dem KSE- waffensysteme um annähernd 50 000 Einheiten. Au- Vertrag, genauer gesagt nach den Regeln von KSE- ßerdem legte der KSE-Vertrag regionale Stationie- IA, auftauchen. Der KSE-Vertrag ist auf Fortsetzung rungsbeschränkungen fest und verpflichtete die Un- angelegt. In Art. 18 des Vertragswerkes heißt es: terzeichner zu einem jährlichen Informationsaus- tausch und einem dichten Netz von Vor-Ort-Inspek- Nach Unterzeichnung dieses Vertrages setzen tionen. die Vertragsstaaten die Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte mit dem gleichen Während der START-II-Vertrag und das Chemie- Mandat und mit dem Ziel, auf diesem Vertrag waffen-Abkommen immer noch auf die Ratifizierung aufzubauen, fort. vor allem in Washington und Moskau warten und damit auch auf die Realisierung der atomaren und In Wirklichkeit ist im November 1990 ein Prozeß in chemischen Abrüstung, hat sich bei der konventio- Gang gesetzt worden, der nicht im Mai nächsten Jah- nellen Abrüstung in Europa wirklich etwas getan. res enden darf. Am Stichtag 17. November dieses Jahres waren die Es bleibt richtig, was die Bundesregierung in einer Verpflichtungen fast überall erfüllt. Die Bundesrepu- weit verbreiteten Broschüre über den KSE-Vertrag blik kann stolz darauf sein, daß sie sogar vorzeitig, 1991 feststellte: genau gesagt am 23. Mai dieses Jahres, alle Reduzie- rungsauflagen erfüllt hatte. Betroffen waren davon Die Beendigung des Kalten Krieges und die 11 000 Waffensysteme, von denen 8 600 von Privatfir- Überwindung der ideologischen Konfrontation 6584 * Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995

müssen Antrieb dafür sein, über die bisher tragsstaaten erfüllt werden. Die Bundesrepublik hat erzielten Reduzierungen hinaus weitere Maß- bereits vor dem förmlichen Inkrafttreten des Vertra- nahmen zu vereinbaren. Ziel der Anstrengungen ges mit der Zerstörung von 8 700 Waffensystemen muß es sein, Umfang, Struktur und Bewaffnung begonnen und diese Demontage am 23. Mai dieses der Streitkräfte in Europa ausschließlich an der Jahres, sechs Monate früher als vertraglich gefordert, Fähigkeit zur Selbstverteidigung auszurichten. abgeschlossen. Diese Waffenvernichtung stellt eine Solcherart militärische Selbstbeschränkung wäre enorme Leistung dar. Deutschland hatte - bedingt ein zentraler Baustein in der Sicherheitsarchitek- durch die Übernahme des Mate rials der ehemaligen tur des neuen Europas. NVA - nach Rußland und mit weitem Abstand vor Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, über den den übrigen Vertragsstaaten die zweithöchste Redu- wir heute beraten, will erreichen, daß die Bundesre- zierungsverpflichtung. Insgesamt war der Bestand gierung gegen die drohende Stagnation bei der kon- um 2 566 Kampfpanzer, 4 357 gepanzerte Fahrzeuge, ventionellen Abrüstung in Europa eigene Ideen ent- 1 638 Artilleriewaffen und 140 Kampfflugzeuge zu wickelt und im Rahmen der Überprüfungskonferenz reduzieren. eine neue KSE-Dynamik anstößt. Deswegen forde rt der Antrag die Bundesregierung auf, rechtzeitig vor In anderen Staaten gibt es noch Probleme bei der der geplanten Konferenz im Bundestag einen Be richt vollständigen Umsetzung der Bestimmungen. Diese vorzulegen, der über folgende Fragen Auskunft resultieren zum Beispiel in Rußland aus der soge- geben soll: nannten Flankenregelung oder in Armenien und Aserbaidschan aus den Kriegswirren. Allerdings ste- Soll es nach Ansicht der Bundesregierung weiter hen die Chancen, nicht zuletzt auf Grund der Bemü- bei den jetzigen Obergrenzen („ceilings") bleiben, hungen der deutschen Diplomatie, gut, daß bis spä- die noch aus der Zeit des Kalten Krieges stammen? testens Mitte 1996 alle vertraglich geforderten Oder gibt es weitere sinnvolle Reduzierungsschritte Demontagen erbracht sein werden. bei den sogenannten Hauptwaffensystemen, also Kampfpanzern, gepanzerten Kampffahrzeugen, Obwohl wir weiterhin ein fundamentales Interesse Artilleriewaffen, Angriffshubschraubern und Kampf- an einer Fortsetzung der konventionellen Abrüstung flugzeugen? Welche Vorstellungen hat die Bundesre- in Europa haben, ist es zur Zeit wichtiger, die vorhan- gierung über eine Fortschreibung der Obergrenzen denen Bestimmunen umzusetzen und langfristig bei- den Personalstärken, wie sie 1992 bei den KSE abzusichern. Die Überprüfungskonferenz hat nicht, IA-Verhandlungen festgelegt worden sind? Wird es wie fälschlicherweise im SPD-Antrag steht, das Ziel, eine Initiative der Bundesregierung geben, in einer diese konventionelle Abrüstung fortzusetzen, son- nächsten Stufe auch die Seestreitkräfte in den KSE- dern sie dient der Überprüfung der Wirkungsweise Prozeß einzubeziehen? Welchen Beitrag kann es von des Vertrags. Die von der SPD geforderte Aufnahme deutscher Seite geben, um eine neue Methodik für neuer Bestimmungen in den KSE-Vertrag, die verrin- den KSE-Prozeß zu entwickeln, nachdem die bishe- gerte Obergrenzen und die Aufnahme weiterer Waf- rige Festlegung von gruppenweise ermittelten Ober- fensysteme in die Reduzierungsverpflichtungen zur grenzen obsolet geworden ist? Und welche Zukunft Folge hätte, wäre aber nur über eine erneute Ratifi- sieht die Bundesregierung für die Stärkung des zierung des gesamten Vertragswerkes in den erfolgreichsten Teils des KSE-Prozesses bisher, näm- 30 Mitgliedsstaaten zu erreichen. Angesichts der lich den vertrauens- und sicherheitsbildenden Maß- instabilen Lage in Osteuropa ist aber ein derartiges nahmen und den Vor-Ort-Inspektionen, die tatsäch- Vorgehen, das die Grundlage der konventionellen lich weniger zur Kontrolle als zur Vertrauensbildung Abrüstung im ganzen nordatlantischen Raum in beigetragen haben? Frage stellt, ein zu gefährliches Spiel. Es geht nicht darum, Luftschlösser zu- bauen. Es Die SPD schreibt selbst, daß sich auf Grund des geht darum, daß neue Ziele am Ho rizont sichtbar KSE-Vertrags die „Gefahr eines Überraschungsan- werden müssen, wenn der KSE-Prozeß, auf den die griffes oder großangelegter militärischer Offensiv- Bundesrepublik existentiell in ihrer Sicherheitspolitik operationen in Europa drastisch verringert" habe. angewiesen ist, nicht ins Stottern geraten soll. Der Dem kann ich nur uneingeschränkt zustimmen. Ich beantragte Bericht der Bundesregierung ist als Basis sehe darin auch ein Kompliment für die Bundesregie- gedacht für einen breiten Diskussionsprozeß in der rung. Aber es wäre falsch, jetzt diesen gewaltigen Öffentlichkeit und im Deutschen Bundestag, um das sicherheitspolitischen Fortschritt zu gefährden, Engagement Deutschlands bei der konventionellen indem man neue Forderungen erhebt - indem man Abrüstung in Europa kreativ weiterzuentwickeln den Topf öffnet, ohne zu wissen, ob man den Deckel und für alle sichtbar zu machen. wieder draufbekommt. Deshalb wird es die wichtig- ste Aufgabe der Überprüfungskonferenz sein, den Stand der Implementierung zu prüfen, den Bestand (CDU/CSU): Am 19. No Dr, Friedbert Pflüger des Vertrags zu sichern und Bestimmungen wie die vember 1990 unterzeichneten 22 Staaten der NATO Flankenregelung an das veränderte sicherheitspoliti- und des Warschauer Paktes den Vertrag über kon- sche Umfeld anzupassen, ohne daß eine formelle ventionelle Streitkräfte in Europa, den KSE-Vertrag. Änderung des Vertrags nötig wird. Dieser Vertrag, dem seit der Auflösung der ehemali- gen Sowjetunion 30 Staaten angehören, sah die Ver- Trotz dieser Verschnaufpause bei der konventio- nichtung von insgesamt 50 000 angriffsfähigen Waf- nellen Abrüstung müssen wir uns auch einmal vor fensystemen wie Kampfpanzern, Kampfflugzeugen Augen halten, daß der KSE-Vertrag in einer ganzen oder Hubschraubern vor. Am 17. November dieses Reihe umfassender abrüstungspolitischer Anstren- Jahres mußten die Verpflichtungen durch die Ver gungen besteht. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6585*

Der Anteil des Verteidigungshaushaltes am daß in einem Nuklearkrieg nicht nur das in den Krieg Gesamtetat des Bundes ist von 1975 bis 1995 von geschickte Fußvolk sterben müßte, sondern auch sie einem Fünftel auf ein Zehntel gesunken. Diese dra- selbst, ganz zu schweigen von der ökologischen matische Reduktion der Verteidigungsausgaben war Katastrophe, die ein Atomkrieg verursacht hätte. und ist eine gewaltige Leistung. Das gilt erst recht für die Reduktion der Truppenstärke: Diese umfaßte Auch bei den Reduzierungsprozessen nach 1989 zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung in Gesamt- geht es nicht um Abrüstung, sondern um Rüstungs- deutschland fast 700 000 Mann, wurde aber inner- kontrolle. Abgerüstet werden dabei in der Regel halb von sechs Jahren auf knapp 340 000 gesenkt. Waffen und Waffensysteme, die aus militärischer Sicht überflüssig sind. Waffen und Waffensysteme, Bei den Vorbereitungen zur Überprüfungskonfe- die aus Sicht der Militärs für notwendig gehalten renz des Waffenübereinkommens der Vereinten werden, werden im Gegenteil modernisiert oder zum Nationen, die in diesem Herbst in Wien stattfindet, Teil sogar neu entwickelt. Hinter Rüstungskontrolle hat sich die Bundesregierung vehement für strengste als Konzept des militärischen Gleichgewichts ver- Einsatzauflagen für AntiPersonenminen, APM, ein- birgt sich qualitative Aufrüstung. gesetzt. Diese Waffen sind besonders grausam und treffen in erster Linie Zivilisten. Die Bundeswehr hat Das Abkommen von Dayton beinhaltet einen an daher weit über eine Million APM vernichtet. Dar- der KSE orientierten Rüstungskontrollprozeß zwi- über hinaus wurde trotz großer haushaltspolitischer schen den Vertragsunterzeichnern. Die Aufhebung Engpässe der Etat für Minenräumung für das Jahr des Waffenembargos konterkariert jedoch diese im 1996 von 3 auf 13 Millionen DM aufgestockt. Diese Kern richtige Idee; denn es besteht die sehr reale Etaterhöhung ist auch eine Mahnung an diejenigen Gefahr, daß im Hintergrund der Verhandlungen Staaten, die bei den Verhandlungen in Wien als eben der beschriebene Aufrüstungsprozeß stattfin- Bremser auftraten und für das vorläufige Scheitern det. der Konferenz verantwortlich sind, mehr für eine Erlauben Sie mir als Beispiel einen Hinweis auf die politische Lösung des Landminenproblems zu tun. Minenpolitik: Der Konflikt auf der Minenkonferenz Der Posten Abrüstungshilfe des Auswärtigen war doch nicht der zwischen humanen und nichthu- Amtes wurde auf 18 Millionen DM erhöht. Ebenso manen Politikern. Die Bundesregierung ist nur wie die Aufstockung der Mittel für Minenräumung bereit, auf die Minen zu verzichten, die hierzulande geht diese Etaterhöhung auf eine parlamentarische nicht mehr hergestellt werden. Auf moderne Minen Initiative zurück. für die Krisenreaktionseinsätze wi ll die Bundesregie- rung dagegen nicht verzichten. Die atomare Abrüstung, an der wir natürlich nicht direkt teilhaben, macht ebenfalls große Fortschritte. Trotzdem ist natürlich Rüstungskontrolle ein Fo rt So wurde die Anzahl der atomaren Sprengköpfe, die -schritt, weil Rüstungsprozesse koordiniert und auf dem Gebiet der Bundesrepublik stationiert sind, kooperativ kontrolliert werden und in dem Prozeß in den letzten Jahren von 7 000 auf weniger als 500 sich die Chancen für Abrüstung erhöhen. Dies aller- reduziert. dings nur, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist, das rüstungskontrollpolitische Instrumenta rium Allein diese wenigen Beispiele machen deutlich, weiterzuentwickeln. daß das von Helmut Kohl geprägte Wort „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" der Leitfaden Im Zusammenhang mit dem KSE-Vertrag erhebt der deutschen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik sich die Frage nach der sicherheitspolitischen Stabili- bleibt. Abrüstung und Rüstungskontrolle behalten tät in Europa. Eng verbunden damit ist die Frage der weiterhin höchste Priorität. NATO-Osterweiterung: So wie sie von der NATO betrieben wird, ist es nachvollziehbar, daß Rußland sich bedroht fühlt. Andererseits könnten sich, den Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach Vertragstext wörtlich genommen, auch sicherheits- dem Ende des Ost-West-Konflikts wird verstärkt und militärpolitische Vorteile für Rußland ergeben. über den KSE-Vertrag diskutiert. Dies liegt unter an- Durch eine Ausdehnung der NATO würde gewisser- derem daran, daß das Vertragswerk noch in der Zeit maßen die Rüstungsdichte in den einzelnen NATO- des Ost-West-Konflikts entstanden ist und jetzt, un- Ländern verdünnt. ter den neuen sicherheitspolitischen Bedingungen, in eine Krise geraten ist. Die aktuelle Diskussion aber Einer der kritischen Punkte ist die von Rußland macht deutlich, daß die Philosophie, die hinter dem gewünschte neue Flankenregelung. Änderungsbe- Vertrag steht, sein größtes Problem ist. darf wurde von seiten Rußlands schon länger ange- meldet. Verschärft wird das Problem durch den Krieg Denn letztendlich steht die Rüstungskontrolle, wie in Tschetschenien und im Kaukasus. Das weist auch wir sie heute kennen, in der Tradition des militäri- auf ein besonderes Dilemma für das Vertragswerk schen Gleichgewichtsdenkens und der grundsätzlich hin. Akzeptiert man die russischen Wünsche, unter- mißtrauischen Haltung, was in der sogenannten rea- stützt man möglicherweise die russische Politik in listischen Theorie als „Sicherheitsdilemma" bezeich- Tschetschenien. Verweigert man die Kooperation, net wird. Frei nach Hobbes: Der Staat ist der Staaten besteht die Gefahr, daß der KSE-Vertrag gefährdet Wolf. ist. Rüstungskontrolle während des Ost-West-Kon- Die Türkei ist aus zwei Gründen erwähnenswert. flikts wurde nicht aus Einsicht in die Unvernunft und Zum einen wurde der Türkei im Vertrag eine Sonder- den Zynismus der Überrüstung entwickelt, sondern stellung eingeräumt, um ihre Bedrohungsängste zu weil die Sicherheits- und Außenpolitiker erkannten, berücksichtigen. Zum anderen wirft die Abrüstungs- 6586* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 politik der Bundesrepublik ein Licht auf das man- heiten bei den Hauptwaffensystemen ist fast völlig gelnde Verständnis von echter Abrüstung und auf abgeschlossen. Europa ist dadurch sicherer gewor- eine zynische Unterstützung des Folterregimes. Die den. Bundesrepublik hat einen Teil der abzurüstenden Waffen nicht vernichtet, sondern gleich zwei Fliegen Ein Hauptziel des KSE-Vertrages - Überraschungs- mit einer Klappe geschlagen. Sie hat sich die Kosten angriffe oder große militärische Offensivoperationen der Vernichtung gespart, und sie hat, weil zuständig in Europa möglichst auszuschließen - ist erreicht für die NATO im Rahmen der Rüstungshilfe, der Tür- worden, und zwar mit politischen Mitteln. Dies ist ein kei Waffen geliefert, die diese in den Kämpfen gegen großer Sieg unserer Politik. die kurdische Bevölkerung verwendet. Diesen Miß- Ein besonderes Lob verdient die Bundeswehr, die brauch der Rüstungskontrolle lehnen wir ab. sofort im August 1992 mit der Umsetzung der im Die Versuche der Türkei, den Status einer Regio- KSE-Vertrag eingegangenen Verpflichtungen be- nalmacht zu erlangen, will ich nur kurz erwähnen, gonnen hat und sie im Mai dieses Jahres erfolgreich um darauf hinzuweisen, daß auch von dieser Seite abgeschlossen hat. Damit hat sie ihr Vertragsziel her die Stabilität des Vertrags gefährdet wird. Auch sechs Monate früher als gefordert erfüllt. Dies ist eine hier ist indirekt wieder die Bundesrepublik im Spiel, enorme Leistung. Denn Deutschland hatte durch die die sowohl an Griechenland wie an die Türkei Waf- Übernahme des ehemaligen NVA-Materials hinter fen geliefert hat. Rußland die zweithöchste Reduzierungsverpflich- tung. Das Ziel ist - und in so allgemeiner Form gibt es da auch wenig Differenzen -, den Vertrag am Leben zu Wir wollen das bisher Erreichte sichern. Ziel der erhalten, weil sein Wegfall zu einem unkontrollie rten Überprüfungskonferenz im Mai 1996 ist eine Aufrüstungsprozeß führen könnte. Bestandsaufnahme. Darüber hinaus sollen die Wir- kungsweise des KSE-Vertrages verbessert und Wir unterstützen den Antrag der SPD, weil er dazu Anpassungen vorgenommen werden, um die beitragen kann, auf einige der Probleme aufmerk- Lebensfähigkeit des KSE-Regimes auch zukünftig zu sam zu machen. sichern. Wir dürfen uns aber nicht einbilden, dabei stehen Die SPD forde rt in ihrem Antrag die Bundesregie- bleiben zu können. Rüstungskontrolle hat interne rung auf, weitere Reduzierungsmöglichkeiten bei Widersprüche, worauf ich schon anfangs hingewie- den vertragsrelevanten Hauptwaffensystemen aufzu- sen habe, die eine Weiterentwicklung des Konzepts zeigen. Dabei wird offensichtlich die Gefahr unter- insgesamt notwendig machen. schätzt, die von Änderungen des bestehenden Ver- trages ausgehen kann. Jede Vertragsänderung Wir wollen von quantitativer Rüstungskontrolle zu macht eine Neuratifizierung durch alle 30 Ver- qualitativer Abrüstung kommen. Damit meine ich, tragsstaaten erforderlich. Dies birgt das Risiko eines daß zuerst das Denken in Kategorien nationaler, Scheiterns des KSE-Vertrages in sich. Ein solches selbstbezogener Sicherheit überwunden werden Risiko dürfen wir auf keinen Fall eingehen. Wir wol- muß. Daher sollten wir den Abrüstungsprozeß im len auf dem bisher erfolgreichen Weg der Abrüstung eigenen Land beginnen und mehr abrüsten, als im Schritt für Schritt weitergehen. Vertrag vorgesehen ist. Die von der SPD angesprochene Einbeziehung von Die Krise der konventionellen Rüstungskontrolle Seestreitkräften in das KSE-Regime ist zwar wün- sollten wir produktiv überwinden, indem wir ihre schenswert, aber aus den zuvor genannten Gründen Schwächen aufheben. nicht realistisch. Noch steht die Abrüstung auf schwankendem Boden, vor allem ihre Umsetzung. Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Die heutige Beratung Trotz der bisher erreichten Abrüstungserfolge des SPD-Antrags zur Sicherung und Fortentwicklung besteht kein Anlaß zu einer Abrüstungs-Euphorie. des KSE-Vertrages gibt Gelegenheit, das bisher in der Weder START II noch das CWÜ sind bisher ratifiziert konventionellen Abrüstung Erreichte zu würdigen. worden. Auch das große Engagement der Bundesregierung, Wir verstehen, daß die im KSE-Vertrag festgeleg- insbesondere unserer Außenminister Genscher und ten regionalen Beschränkungen nicht den heutigen Kinkel, will ich ausdrücklich hervorheben. Der KSE- sicherheitspolitischen Bedürfnissen Rußlands ent- Vertrag ist ein Eckpfeiler europäischer Sicherheit. sprechen. Die F.D.P. unterstützt die Bemühungen, zu einer einvernehmlichen Flankenschutzregelung für Die gemeinsame Beratungsgruppe als zuständiges Rußland zu kommen. Gremium hat zum Stichtag 17. November 1995 fest- gestellt, daß keinem Partner Vertragsverletzungen Es ist sinnvoll, den Vertrag bei regionalen Statio- vorgeworfen werden können. Es gibt allerdings nierungsbegrenzungen den aktuellen politischen Implementierungsdefizite bei einzelnen. Die beru- Realitäten anzupassen. Es müssen aber Einzelfallent- hen, wie wir alle wissen, auf internen Problemen und scheidungen bleiben. Keinesfalls darf die völker- Auseinandersetzungen. rechtliche Verbindlichkeit des Vertrages in Frage gestellt werden. Die im KSE-Vertrag eingegangenen Selbstver- pflichtungen - vom jährlichen Informationsaustausch Deutschland hat größtes Interesse, den Abrü- über Vor-Ort-Inspektionen bis hin zu regionalen Sta- stungs- und Rüstungskontrollprozeß in Europa wei- tionierungsbeschränkungen - wurden im wesentli- ter voranzutreiben. Deshalb arbeitet die Bundesre- chen erfüllt. Insbesondere die eingegangene Ver- gierung engagiert an der Umsetzung der im Budape- pflichtung zur Reduzierung von nahezu 50 000 Ein- ster Dokument 1994 enthaltenen Beschlüsse mit. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 6587*

Darüber hinaus beteiligen wir uns im OSZE-Forum Abrüstung ist bei fast allen Regierungen derzeit kein intensiv an der Erstellung eines Rüstungskontrollrah- Thema. mens. Auf dieser Grundlage können dann weitere Rüstungskontrollmaßnahmen aufgebaut werden. Wir Viertens. Worum es wirklich geht, hat die NATO wollen der Abrüstung sowie der Vertrauens- und schon 1992 bei den Verhandlungen um das Mandat Sicherheitsbildung neue Impulse geben. dieses OSZE-Forums offengelegt: Vorrang habe die geplante Umrüstung der Streitkräfte. Im Klartext: der Zusammenfassend darf ich feststellen: Der KSE- Aufbau schneller Eingreiftruppen Vertrag hat die Sicherheit in Europa entscheidend verbessert. Wir wollen das Vertragswerk voll aus- Zur Erinnerung: Beim KSE-Vertrag war es ausge- schöpfen. Der KSE-Vertrag darf keinesfalls gefährdet machtes Verhandlungsziel, die „Angriffsfähigkeit" werden. Deshalb werden wir dem vorliegenden SPD- der Streitkräfte abzubauen und schließlich ganz Antrag nicht zustimmen und beantragen Überwei- abzuschaffen. Davon ist heute keine Rede mehr. Im sung an die zuständigen Ausschüsse. Gegenteil! Wer weltweit militärisch intervenieren will, der braucht eben den Ausbau offensiv ausge- richteter Rüstung. Daran wird mit Hochdruck gear- Gerhard Zwerenz (PDS): Wir unterstützen das An beitet. Die Bundeswehr will neue Jagdflugzeuge, liegen der SPD-Kolleginnen und Kollegen, von der neue Panzerhaubitzen, neue Hubschrauber, neue Bundesregierung Antworten zu fordern, wie der kon- Fregatten und U-Boote, Spionagesatelliten, Raketen- ventionelle Abrüstungsprozeß in Europa weiterge- abwehrsysteme. Die Liste der Beschaffungsvorhaben hen soll. Wir werden noch weitergehen und diesem ist endlos. Neue Abrüstungsverhandlungen werden Hause neue Abrüstungsvorschläge unterbreiten. da nur als störend empfunden. Denn auch nach der Umsetzung des KSE-Vertrages Fünftens. Es gibt auch aus einem weiteren Grund ist die Lage - zum Teil entgegen der öffentlichen Anlaß zu größter Besorgnis. Für den KSE-Vertrag Wahrnehmung - alles andere als rosig. bestimmend war das Prinzip der Parität zwischen Erstens. Es ist sicherlich gut, wenn sich in Europa den beiden Militärblöcken. „Wer mehr hat, muß mehr abrüsten", war damals ein geflügeltes Wo rt. seit 1989 die Bestände an Großwaffensystemen - Wenn sich die NATO nun nach Osten ausdehnen auch in Folge des KSE-Vertrages - etwa halbiert würde, würden die Grundlagen des KSE-Vertrages haben. Weniger gut ist, daß die Reduzierungen im ausgehebelt. Es wäre nur logisch, wenn Rußland die Bereich der NATO-Staaten - unter dem Strich - fast NATO-Erweiterung als Aufforderung zu neuen, gegen Null gehen. erheblichen Rüstungsanstrengungen verstehen Die NATO hat die nach dem Vertrag möglichen würde. Ein neuer Rüstungswettlauf wäre vorpro- Aufrüstungsoptionen in den südeuropäischen Län- grammiert. Auch dies ist ein Beleg dafür, wie unver- dern, in Griechenland und der Türkei konsequent antwortlich gegenwärtig Sicherheitspolitik bet rieben ausgenutzt. Die US-Army in Europa und die Bundes- wird. wehr haben weniger moderne Großwaffen abgebaut; Oder wollen Sie die NATO-Erweiterung mit drasti- Griechenland und die Türkei haben damit eine kräf- schen Rüstungsreduzierungen, nun endlich auf west- tige Aufrüstung und Modernisierung ihrer Armeen licher Seite, kombinieren? Auf die Vorschläge der durchführen können, und dies in einer ausgespro- Bundesregierung dürfen wir gespannt sein. chenen Krisenregion; von der Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung mit Hilfe dieser Waffen Aus der gesamten, eher düsteren Lage folgt: ganz zu schweigen. Gerade jetzt wäre es erforderlich, daß die Bundesre- gierung aus dem alten, bornierten Rüstungstrott aus- Zweitens. Reduzierungen der Waffenbestände und - bräche und in Sachen Abrüstung initiativ würde. Die des Militärumfanges wurden nicht zuletzt auf Grund Bundesrepublik Deutschland könnte hier internatio- der kritischen Haushaltslage der meisten Staaten in nale Verantwortung übernehmen. Sie könnte voran- Ost und West vorgenommen. Mittlerweile rühmen gehen, wenn es darum geht, mit dem Unfug immer sich die NATO-Minister auf ihren Ratstagungen, die- neuer, immer „effizienterer" Rüstungsbeschaffungen sen Trend nunmehr gestoppt zu haben. Die Regie- Schluß zu machen. Dies wäre vernünftige und weit- rungsfraktionen haben hierzulande gerade einen sichtige Politik. Aber von dieser Regierung ist in die- Rüstungshaushalt verabschiedet, der wieder nach ser Hinsicht leider nichts zu erwarten. oben weist. Die Weichen für eine neue Aufrüstungs- runde sind gestellt. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Drittens. Es wird gesagt, nach den vorausgegange- Amt: Die Bundesregierung weiß sich mit den im nen Umbrüchen und Einschränkungen müsse jetzt Deutschen Bundestag vertretenen Parteien darin ei- erst einmal Ruhe an der „Abrüstungsfront" einkeh- nig, daß der KSE-Vertrag der Eckstein der europäi- ren. Dies ist ein fadenscheiniger Vorwand. Im OSZE- schen Sicherheit ist und zukünftig bleiben muß. Forum für Sicherheitspartnerschaft wurden in den zurückliegenden drei Jahren diesbezügliche Erfah- Die europäische Staatengemeinschaft hat mit die- rungen gesammelt: Vergeblich wurde eine beschei- sem weitreichendsten und umfassendsten Abkom- dene- Ausdehnung der bisher erreichten Abrüstungs men der Abrüstungsgeschichte militärische Macht- und Rüstungskontrollverträge auf den Raum von mittel unter die Macht der politischen Verantwortung Vancouver bis Wladiwostok versucht. gestellt. Dies zeigt eines: Es fehlt an der Bereitschaft, weiter Vor diesem Hintergrund hat Bundesaußenminister abzurüsten! Man braucht sich doch nur umzuhören. Kinkel den 17. November, den Stichtag der Imple- 6588* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1995 mentierung des KSE-Vertrags, als ein Erfolgsdatum Oberstes Ziel bei der Überprüfungskonferenz muß kooperativer Sicherheitspolitik in Europa bezeichnet. es deshalb für uns sein, die Integrität des KSE-Ver- trags zu erhalten und Anpassungen do rt vorzuneh- Präzedenzlose Reduzierungen von fast 50 000 men, wo seine Wirksamkeit zusätzlich gesichert wer- schweren Waffensystemen zwischen Atlantik und den kann. Ural haben zusammen mit dem im Vertragsraum ent- standenen umfassenden und intrusiven Informations- Die Bundesregierung ist zugleich der Auffassung, und Kontrollsystem dazu geführt, daß die entschei- daß es im nationalen und europäischen Interesse ist, denden Stabilitätsziele des KSE-Vertrags erreicht den Abrüstungs- und Rüstungskontrollprozeß in werden konnten. Strategische Überraschungsangriffe Europa überall do rt fortzusetzen, wo dies zu einem und breit angelegte Offensivhandlungen sind in Zugewinn an Stabilität führt. Europa praktisch unmöglich geworden. Die Bundesregierung beteiligt sich deshalb enga- Deutschland hat hierzu durch eine vorzeitige Erfül- giert an der Umsetzung der vom Budapester OSZE- lung seiner umfangreichen Reduzierungsverpflich- Gipfel 1994 festgelegten Beschlüsse. Entsprechend tungen, mit 8 500 Waffensystemen die zweithöchsten arbeitet sie im OSZE-Forum für Sicherheitskoopera- hinter Rußland, verantwortungsbewußt beigetragen. tion intensiv an einem Rüstungskontrollrahmen mit, Zugleich teilt die Bundesregierung die Sorgen der Abrüstung sowie Vertrauens- und Sicherheitsbil- innerhalb der KSE-Vertragsgemeinschaft angesichts dung neue Impulse verleihen soll. bestehender Implementierungsmängel. Vorrangig ist Die Bundesregierung ist bereit, auch aus dem Par- insbesondere die Lösung der sogenannten Flanken- lament weiterhin zu nutzen, um ihre Politik zur problematik, und zwar vertragskonform und im Kon- Sicherung der Integrität des KSE-Vertrages zu ver- sens aller Vertragspartner. Vertragsverpflichtungen deutlichen. dürfen jetzt nicht relativiert werden. Dies gilt vor allem für Reduzierungsverpflichtungen, denen Diese Politik ist Teil unseres Mitwirkens beim Auf- einige Staaten noch nicht voll nachgekommen sind, bau kooperativer Sicherheitsstrukturen für ganz aber auch für die erreichte Verifikationskultur. Europa. Daher stellt die Bundesregierung mit Befriedigung fest, daß sich die 30 KSE-Vertragspartner in Wien am 17. November in einer gemeinsamen Entscheidung erneut zu den Zielen des Vertrags bekannt haben und seine Integrität wahren wollen. Anlage 8 Der KSE-Vertrag ist seit seiner Unterzeichnung Antwort 1990 von allen beteiligten Staaten als Anker europäi- scher Stabilität genutzt und entsprechend umsichtig des Parl. Staatssekretärs Dr. Paul Laufs auf die Fra- angepaßt worden. Die Überprüfungskonferenz dient gen der Abgeordneten Gabriele Iwersen (SPD) in erster Linie der Überprüfung der im Vertragsge- (Drucksache 13/3093 Fragen 1 und 2): biet erreichten Reduzierungen und der neuartigen Ist der Bundesregierung bekannt, ob die Deutsche Post AG ih- Verifikationskultur. re Anteile an der Gemeinnützigen Deutschen Wohnungsbau Gesellschaft mbH veräußern will? Dabei werden gewiß auch Fragen von Zukunftsbe- deutung aufkommen. Sie sollten jedoch nach Ansicht Ist die Bundesregierung bereit, ihre Anteile an der Gemein- der Bundesregierung unter Nutzung der vertragli- nützigen Deutschen Wohnungsbau Gesellschaft mbH aufzutei- chen Bestimmungen besser anschließend sachge- len und den örtlichen ehemaligen gemeinnützigen Wohnungs- baugesellschaften zum Kauf anzubieten? recht in den vom Vertrag vorgesehenen Gremien und Konferenzen weiterbehandelt werden. Neben Aspekten der technischen Verbesserung des Verifi- Zu Frage 1: kationsregimes ist zweifellos mit weiteren Ände- Der Bundesregierung ist bekannt, daß die Deut- rungsinitiativen seitens verschiedener Vertragspart- sche Post AG angesichts dessen, daß der Mehrheits- ner zu rechnen. beteiligte Bund seine Anteile an der Gemeinnützi- Änderungsinitiativen dürfen keine Erosionsgefah- gen Deutschen Wohnungsbaugesellschaft mbH - ren für den Vertrag aufwerfen. Sie müssen vor allem genannt Deutschbau - veräußern will, ebenfalls ihre gegenüber dem Risiko eines ungewissen Ausgangs Bereitschaft erklärt hat, gemeinsam mit dem Bund notwendiger zusätzlicher Ratifizierungen in eine Lösung zur Veräußerung dieser Gesellschaft, an 30 Partnerstaaten abgewogen werden. der die Deutsche Post AG einen Anteil von 42 Prozent hat, anzustreben. Wenn wir auf den europäischen Wahlkalender schauen, ist derzeit nicht in allen Fällen gewiß, daß Zu Frage 2: die im Deutschen Bundestag überwiegend herr- schende positive Einschätzung des KSE-Vertrags Bei einem entsprechenden konkurrenzfähigen und dort von neuen Parlamenten ebenfalls geteilt werden seriösen Angebot von örtlichen ehemaligen gemein- wird. Weder wir noch die anderen europäischen nützigen Wohnungsbaugesellschaften werden auch Staaten können ein Interesse an Erosionen dieses diese in die Überlegungen zu Veräußerung der Vertrags haben. Deutschbau einbezogen.