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Zitierhinweis Andrea Löw: Rezension von: Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos, Reinbek: Rowohlt Verlag 2010, in sehepunkte 12 (2012), Nr. 2 [15.02.2012], URL:http://www.sehepunkte.de/2012/02/17838.html First published: http://www.sehepunkte.de/2012/02/17838.html copyright Dieser Beitrag kann vom Nutzer zu eigenen nicht-kommerziellen Zwecken heruntergeladen und/oder ausgedruckt werden. Darüber hinaus gehende Nutzungen sind ohne weitere Genehmigung der Rechteinhaber nur im Rahmen der gesetzlichen Schrankenbestimmungen (§§ 44a-63a UrhG) zulässig. sehepunkte 12 (2012), Nr. 2 Dokumentieren, Bewahren und Erinnern. Neuerscheinungen zu Emanuel Ringelblum und dem Untergrundarchiv des Warschauer Gettos "Falls keiner von uns überlebt, soll wenigstens das bleiben." Das schrieb der Historiker Emanuel Ringelblum Anfang 1944, nur wenige Tage bevor die Deutschen sein Versteck in einem unterirdischen Bunker im besetzten Warschau entdeckten und ihn ermordeten, an seinen Freund Adolf Berman. [ 1 ] Gemeint waren die Quellen, die er und seine Mitstreiter im Untergrundarchiv des Warschauer Gettos gesammelt und selber verfasst hatten. Emanuel Ringelblum, der noch im engen Bunker unermüdlich schrieb, und seine Kollegen wollten Leben und Sterben der jüdischen Bevölkerung im besetzten Polen dokumentieren, sie wollten Sorge tragen, dass an sie erinnert und die Geschichtsschreibung nicht den Tätern überlassen würde. Fast niemand von ihnen hat die Shoah überlebt (von den engsten Mitarbeitern Ringelblums nur Bluma und Hersh Wasser sowie Rachel Auerbach), doch große Teile der Dokumente konnten auf abenteuerliche Weise gerettet werden. Es sind Quellen von unschätzbarem Wert, die wir dem Wirken dieser außergewöhnlichen Persönlichkeiten verdanken. Die im November 1940 in Emanuel Ringelblums Wohnung im gerade abgeriegelten Warschauer Getto gegründete Gruppe hatte es sich zum Ziel gesetzt, sämtliche Aspekte der Geschichte der polnischen Juden während des Zweiten Weltkriegs zu dokumentieren und zu erforschen. Die Arbeit war von zwei Prinzipien bestimmt, wie Ringelblum selbst schrieb: "Allseitigkeit" und "Objektivität". Die Mitarbeiter waren der Ansicht, dass alles, was sie erlebten, unmittelbar niedergeschrieben werden müsse, nicht erst später aus der Rückschau. [ 2 ] Sie sammelten Dokumente unterschiedlichster Herkunft, archivierten alles, was irgendwie mit dem Leben im Getto zu tun hatte: Plakate, Einladungen zu kulturellen Veranstaltungen, Lebensmittelkarten, Passierscheine, Arbeitsbestätigungen, Rechnungen, Dokumente zu religiösen und kulturellen Themen sowie Untergrundzeitungen. Besonders waren sie an Quellen interessiert, die das individuelle Leben einzelner im Getto lebender Menschen verdeutlichten: Tagebüchern, Berichten und Briefen. Sie führten Interviews durch, um auch die Probleme und das Leben derjenigen zu dokumentieren, die nicht selber schrieben. Sie verfassten selbst Reportagen und Studien über verschiedene Aspekte des Gettolebens. Viele Schriftsteller, die im Warschauer Getto eingeschlossen waren, übergaben dem Untergrundarchiv ihre Werke, andere vertrauten der Gruppe Familienfotografien oder ihre Tagebücher an. Flüchtlinge und Zwangsumsiedler verfassten Arbeiten über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in ihren Heimatorten. Auch sammelten die Chronisten Berichte über verschiedene Arbeitslager. Anfang 1942 begannen Ringelblum und seine Freunde ein großes neues Projekt: eine wissenschaftliche Arbeit über "Zweieinhalb Jahre Krieg". Geplant war eine Gesamtdarstellung der polnischen Juden während des Krieges im Umfang von etwa 1600 Seiten. Das Projekt wurde wegen des beginnenden Massenmords nicht beendet, doch sind zahlreiche Ausarbeitungen zumindest in Fragmenten überliefert. An den Konzepten für diese Studie und auch an den sonstigen Ausarbeitungen der Mitarbeiter wird deutlich, wie modern sie dachten: Hier sollte Sozial- und Alltagsgeschichte geschrieben werden. Viele Themen, denen sich Forscher erst in den letzten Jahren zuwandten, waren hier bereits vorgegeben. Und auch Saul Friedländers Forderung "Gebt der Erinnerung Namen!"[ 3 ] war schon das zentrale Anliegen der Gruppe im Warschauer Getto. Die Dokumente des Untergrundarchivs waren im August 1942, während der Deportation der meisten Warschauer Juden in das Vernichtungslager Treblinka, in zehn Metallkästen, dann im Februar 1943 in zwei großen Milchkannen und im April 1943 an mehreren Orten versteckt worden. Sie wurden nach dem Krieg unter den Trümmern des Warschauer Gettos gefunden. Den ersten Teil des Archivs fand man im September 1946 nach Bemühungen von Rachela Auerbach und Hersh Wasser, zwei der drei Überlebenden der Gruppe "Oneg Schabbat", wie der Tarnname des Archivs lautete. Der zweite Teil wurde im Dezember 1950 bei Erdarbeiten entdeckt. Vom dritten Teil wurden nur Fragmente eines Tagebuchs gefunden. Das Ringelblum-Archiv wird im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt, dem Institut, das kürzlich nach Emanuel Ringelblum benannt worden ist und seit Jahren eine Edition der Dokumente des Archivs erarbeitet. Mehrere Studien über Emanuel Ringelblum, neue Bände der Warschauer Edition sowie jeweils ein englisches und ein polnisches Inventar dieser einzigartigen Dokumente sind in den letzten Jahren erschienen. Samuel Kassow, Professor für Osteuropäische Geschichte am Trinity College in Hartford/Connecticut, hat Emanuel Ringelblum und der Gruppe "Oneg Schabbat" ein grandioses Buch gewidmet. Bereits 2007 erschien unter dem treffenderen Titel "Who Will Write Our History?" die englische Originalausgabe, nun liegt eine deutsche Übersetzung vor. [ 4 ] Kassow legt die bisher umfassendste Biografie Emanuel Ringelblums vor, zugleich eine Geschichte des geistigen Umfelds, in dem Ringelblum und die anderen Mitglieder von "Oneg Schabbat" ihre Fragestellungen und Arbeitsweisen entwickelten. Ringelblum und viele andere, die später im Untergrundarchiv aktiv wurden, waren eng mit dem 1925 in Wilna gegründet YIVO (Yidisher Visnshaftlekher Institut/Jüdisches Wissenschaftliches Institut) verbunden. Dort wurden neuere Forschungsmethoden wie die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte für die jüdische Geschichtsschreibung verwendet und beispielsweise Arbeitsmethoden mit nicht-professionellen Interviewern entwickelt, um die Geschichte einzelner Individuen untersuchen zu können. Die Gruppe um Ringelblum wandte die hier ausgebildeten Methoden später bei ihrer Arbeit im Getto an. Eine weitere Vorkriegsentwicklung, die Kassow kenntnisreich aufzeigt, ist überaus wichtig zum Verständnis von Ringelblums Wirken während des Zweiten Weltkriegs: Der überzeugte Linkszionist Emanuel Ringelblum, der sich nach der Aufspaltung der Partei Poale Zion im Jahr 1920 deren linken Flügel anschloss, war neben seiner Tätigkeit als Historiker und Lehrer schon seit den frühen 1930er Jahren im sozialen Bereich äußerst aktiv gewesen. Er arbeitete beispielsweise für das American Jewish Joint Distribution Committee, kurz Joint. Als die deutsche Wehrmacht in Polen einmarschierte und zahlreiche jüdische Intellektuelle in Richtung Osten flohen, entschied sich Emanuel Ringelblum ganz bewusst zu bleiben. Von Beginn an war er in der Jüdischen Selbsthilfe im besetzten Warschau aktiv, ebenso wie die meisten seiner Mitstreiter im Untergrundarchiv. All dies arbeitet Kassow überzeugend und anschaulich heraus. Er stellt zudem zahlreiche Dokumente aus dem Archiv umfassend vor und bietet damit zugleich detaillierte Innensichten in das Leben im Warschauer Getto. Kassow analysiert überzeugend die Motivationen der Menschen, die unter nahezu unglaublichen Bedingungen alles daran setzten, das unter der Besatzung Erlebte zu dokumentieren, alles aufzuzeichnen, die Erlebnisse auch derer zu sammeln, die nicht selber schrieben. Und er erzählt die dramatischen Geschichten der Mitglieder von "Oneg Schabbat". Eines ihrer großen Ziele war es, die jüdischen Opfer aus der Anonymität zu reißen, ihnen ihre Individualität zurückzugeben, an jeden einzelnen Menschen zu erinnern. Diese Ziele seiner Protagonisten nimmt Kassow auf wunderbare Weise ernst, indem er ihre Geschichten detailliert aufzeichnet, dabei ausführlich aus den Quellen zitiert, die sie hinterlassen haben. Das Ergebnis ist ein Meisterwerk. Kassow hat auch die kundige Einführung in das englischsprachige Inventar der Dokumente des Ringelblum-Archivs und im hier vorzustellenden Sammelband einen Aufsatz zu den polnisch-jüdischen Beziehungen in den Schriften Ringelblums beigesteuert. Der von Israel Gutman herausgegebene Sammelband über Ringelblum war bereits 2006 in einer Ausgabe unter demselben Titel erschienen, in der manche der Aufsätze ausschließlich auf Hebräisch und damit einem deutlich eingeschränkten Leserkreis zugänglich waren. Der eingangs zitierte Brief ist einer von mehreren Briefen, die Emanuel Ringelblum und seine Frau Józia Yehudit zwischen dem 25. November 1943 und dem 3. März 1944 im Bunker an das befreundete Ehepaar Adolf Berman und Basia Temkin-Bermann geschrieben haben. Sie sind im Ghetto Fighters' House in Israel überliefert und im vorliegenden Sammelband, versehen mit einer Einleitung und umfangreichen Anmerkungen durch den Historiker Israel Gutman, selbst ein Überlebender des Warschauer Gettos, erstmals vollständig in englischer Übersetzung abgedruckt. Die Ringelblums beschreiben die Zustände im Bunker, schreiben über ihre Sorgen, wenn Nachrichten von den Bermans ausbleiben, sie berichten, was sie von anderen Freunden und Bekannten gehört haben, über andere Verstecke und die Sorgen, dass diese entdeckt werden. Er schickt Berman Notizen