Blick in die Wissenschaft 39 Forschungsmagazin der Universität Regensburg

2019 DIMENSIONEN DER ERINNERUNG

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39 Wissenschaft die in Blick DOSSIER FLOSSENBÜRG

INTERVIEW Shelomo Selinger: Die zwei Seiten des Granits

ARTIKEL | Neue Dimension Forschungsmagazin der Universität Regensburg der Erinnerungsarbeit »was bleibt?« Literatur und strukturelle Dissoziation Nacht und Nebel trotz allem Gedeih und auch Verderb­

SPOTLIGHT Wissenstransfer: ­Digitalisierung

Heft 39 | 28. Jahrgang 2019 | € 7,00 | ISSN 0942-928-X | ISSN | € 7,00 2019 Jahrgang Heft | 28. 39 ARTIKEL Matelotage, manioc, maron Philosophie trifft Theologie

INTERVIEW Neue Quantenwelt: Leibniz-Preisträger

9 Rupert Huber 3 9 0 0 7

0 SPOTLIGHT 2

9 Wie alt werden 0 0

3 Pflanzen?­ 9 1 4 Bildhauer Shelomo Selinger © Claude Olivier Big Data auch im Wald BIOTECHNOLOGIE | MEDIZINTECHNIK | PHARMA | ANALYTIK | GESUNDHEIT

Gesundheitsbranche Regensburg

➜ 1,8 Mrd. Euro Umsatz ➜ 20.000 Beschäftigte Cluster BioRegio Regensburg

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»Zukunft braucht Erinnerung«, so das Blick in die Wissenschaft Motto der Ordensverleihung im Schloss Forschungsmagazin Bellevue am Tag des Ehrenamtes im De­ der Universität Regensburg ISSN 0942-928-X zember des vergangenen Jahres. »Es gibt Heft 39 kein Ende des Erinnerns!« mahnt Bundes­ 28. Jahrgang präsident Frank-Walter Steinmeier. »Ge­ Herausgeber rade wenn es um das Leid und das Unrecht Prof. Dr. Udo Hebel geht, das von Deutschen begangen wurde, Präsident der Universität Regensburg gerade wenn es um die Verantwortung geht, die daraus erwächst, darf es keinen Redaktionsleitung Prof. Dr. rer. nat. Ralf Wagner Schlussstrich und auch keine Wende zu einem neuen Nationalismus geben. Diese Redaktionsbeirat Erinnerung, von der ich spreche, ist weder Prof. Dr. jur. Christoph Althammer Prof. Dr. rer. nat. Bernd Ammann Schande noch Schwäche. Im Gegenteil: Sie Prof. Dr. rer. nat. Ferdinand Evers macht uns stärker, sie stärkt unsere Sensibi­ Prof. Dr. rer. nat. Mark W. Greenlee lität für die Demokratie und die Würde des Prof. Dr. theol. Andreas Merkt Menschen!« In seiner Rede wünscht sich Prof. Dr. phil. Omar W. Nasim der Bundespräsident auch, »dass wir mehr Prof. Dr. rer. nat. Klaus Richter Aufmerksamkeit, mehr Herzblut und auch Prof. Dr. rer. pol. Daniel Rösch

mehr finanzielle Mittel den Orten und Pro­ © UR/Editorial Office Prof. Dr. med. Ernst Tamm tagonisten unserer Demokratiegeschichte Prof. Dr. paed. Oliver Tepner Prof. Dr. phil. Isabella von Treskow widmen.« 70. Jahrestag der Befreiung des Konzen­ Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg mar­ trationslagers nach Flossenbürg zurückge­ Editorial Office kiert einen der bedeutendsten Erinnerungs­ kehrt ist. Eindrucksvoll erzählt er über das Dr. phil. Tanja Wagensohn orte der NS-Geschichte in Deutschland. unerträgliche Nebeneinander absoluter Universität Regensburg Auf der Grundlage zahlreicher gemeinsam Grausamkeit und der Schönheit der Natur, 93040 Regensburg durchgeführter Forschungs- und Lehrpro­ die Rettung durch Kunst, die Ambiguität Telefon (09 41) 9 43-23 00 jekte erweiterten und institutionalisierten des Granits und wie es kam, dass er zu Telefax (09 41) 9 43-33 10 die Universität Regensburg und die KZ- Hause ein Stück Flossenbürger Granit auf­ Verlag Gedenkstätte Flossenbürg am 9. August bewahrt. Universitätsverlag Regensburg GmbH ihre besondere Zusammenarbeit. Dem Ergänzend wie immer auch in dieser Leibnizstraße 13, 93055 Regensburg entsprechend widmet der Blick in die Wis- Ausgabe spannende Arbeiten aus anderen Telefon (09 41) 7 87 85-0 Telefax (09 41) 7 87 85-16 senschaft in dieser Ausgabe dem Thema Fakultäten, darunter passend zum aktuel­ [email protected] »Erinnerungsort Flossenbürg« ein beson­ len Zeitgeschehen eine Rede von Professor www.univerlag-regensburg.de deres Augenmerk: Volker Depkat »Wider die Vereinfacher Geschäftsführer: Dr. Albrecht Weiland Professor Udo Hebel, Präsident der Uni­ und Vereindeutiger« und »die Macht und Abonnementservice versität Regensburg, blickt in seiner Rede Ohnmacht der Geisteswissenschaften in Oliver Hundsrucker »Neue Dimensionen der Erinnerungsarbeit« der Gegenwart«. Er spricht über nationale [email protected] anlässlich des Festaktes zur Unterzeich­ Homogenitätsfiktionen und illusionsge­ Anzeigenleitung nung des Kooperationsvertrages auf die leitete Politik, die Marginalisierung von Larissa Nevecny Historie, die Idee und den Anspruch dieser NS-Verbrechen sowie die Verrohung der MME-Marquardt in Europa einmaligen Kooperation zurück. öffentlichen Diskussion und ermuntert die [email protected] Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Absolventen der Geisteswissenschaften als Herstellung berichten weiter über die 250-jährige His­ Ambiguitäts- und Komplexitätsexperten Universitätsverlag Regensburg GmbH torie des Granit-Steinbruchs, in dem Häft­ danach zu streben, die menschliche Exis­ [email protected] linge des KZ Flossenbürg in den Jahren von tenz in ihrer Kontextualität begreifen zu Einzelpreis € 7,00 1938 bis 1945 unter unmenschlichen Be­ wollen. dingungen zu Tode kamen, über die trans­ Aus aktuellem Anlass ebenfalls in dieser Jahresabonnement bei zwei Ausgaben pro Jahr nationale Erinnerungsforschung und die Ausgabe ein Interview mit unserem gerade € 10,00 / ermäßigt € 9,00 Frage nach den Erinnerungen von Über­ ausgezeichneten Leibniz-Preisträger und für Schüler, Studierende und Akademiker/ lebenden, betroffenen Familien, Tätern, Physiker Professor Rupert Huber. Unter innen im Vorbereitungsdienst (inkl. 7 % Mitläufern und Zusehern, über den Ein­ anderem erläutert er die Bedeutung seiner MwSt) zzgl. Versandkostenpauschale € fluss von Psychotraumata auf das Erinnern prämierten Forschung für unser tägliches 1,64 je Ausgabe. Bestellung beim Verlag. sowie über die Verarbeitung und Wertung Leben und pointiert, was gute Lehre an der Für Mitglieder des Vereins der Ehemaligen von NS-Verbrechen in Film und Literatur. Hochschule auszeichnet. Studierenden der Universität Regens- Besonders lesenswert ist das Gespräch In diesem Sinne wünsche ich Ihnen burg e.V. und des Vereins der Freunde der Universität Regensburg e.V. ist der Bezug mit einem Überlebenden, dem 1928 ge­ eine anregende und ertragreiche Lektüre. des Forschungsmagazins im Mitglieds­ borenen und heute in lebenden Bild­ beitrag enthalten. hauer Shelomo Selinger, der am 26. Ap­ Prof. Dr. Ralf Wagner ril 2015 anlässlich des Gedenkakts zum Redaktionsleitung

Blick in die Wissenschaft 39 1 Inhalt Inhalt

Neue Dimension der Erinnerungsarbeit 3 Udo Hebel

»was bleibt?« 7 Birgit M. Bauridl

Literatur und strukturelle Dissoziation 14 Isabella von Treskow

Nacht und Nebel trotz allem 21 Bernhard Dotzler

Gedeih und auch Verderb 26 Ursula Regener

INTERVIEW Die zwei Seiten des Granits: Der Bildhauer Shelomo Selinger 32 Jonas Hock

SPOTLIGHT Wissenstransfer: Digitalisierung 38 Thomas Schmidt, Christian Wolff

REDE Wider die Vereinfacher und Vereindeutiger 41 Volker Depkat

Analytische Philosophie trifft Theologie 46 Thomas Schärtl-Trendel

SPOTLIGHT Wie alt werden Pflanzen? Warum sterben sie? 50 Peter Poschlod, Sergey Rosbakh

INTERVIEW Neue Quantenwelt: Leibniz-Preisträger Rupert Huber 53 Oliver Tepner

SPOTLIGHT »Big Data« auch im Wald 56 Lisa Hülsmann

Matelotage, manioc und maron 58 Ingrid Neumann-Holzschuh, Evelyn Wiesinger

2 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

Neue Dimension der Erinnerungsarbeit Universität Regensburg und KZ-Gedenkstätte Flossenbürg erweitern und institutionalisieren ihre Kooperation Udo Hebel

Der über längere Zeit entwickelte Ge- Betreuung durch die Gedenkstätte ich an len im Namen der Universität Regensburg danke einer intensiveren Zusammenar- dieser Stelle noch einmal herzlich danke. und auch ganz persönlich ebenso herzlich beit mündet 2018 in einer institutiona- Dem heutigen Tag und der Unterzeichnung danke. lisierten Partnerschaft: Am 9. August der Kooperationsvereinbarung gehen aber ó 2018 unterzeichnen der Präsident der vor allem auch viele produktive Gespräche Die Gedenkstätte Flossenbürg und ihr Universität Regensburg Professor Dr. und viele weitsichtige Überlegungen zur Leiter waren mir schon vor meinem ers­ Udo Hebel, Staatsminister Bernd Si- Fortentwicklung und Intensivierung dieser ten tatsächlichen Besuch hier vor Ort in bler, der Leiter der KZ-Gedenkstätte in Deutschland und Europa wohl einzig­ der Oberpfalz bekannt – allerdings eher Flossenbürg Dr. Jörg Skriebeleit und artigen Zusammenarbeit zwischen einer aus räumlicher Distanz und eher wissen­ der Direktor der Stiftung Bayerische Universität und einer KZ-Gedenkstätte vo­ schaftlich-theoretisch, da die Erforschung Gedenkstätten, Mitglied des Landtags raus – Gespräche und Überlegungen, für von Erinnerungskulturen und besonders Karl Freller, eine Kooperationsvereinba- die ich allen Beteiligten und allen Verant­ die Erforschung von transnationalen Erin­ rung zwischen Universität Regensburg wortlichen an den unterschiedlichsten Stel­ nerungsorten und von Erinnerungspolitik und KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Der Präsident der Universität Regensburg blickt in seiner Rede anlässlich der Un- terzeichnung auf Idee und Anspruch Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg dieser besonderen Kooperation. Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in der Oberpfalz ist ein Erinnerungsort mit einer »Der heutige Tag hier in Flossenbürg ist innovativ gestalteten Ausstellung, einer international vernetzten Wissenschaftsab­ ein wichtiger Tag und ein guter Tag. Wir teilung und einer modernen Vermittlungsarbeit. Die Gedenkstätte informiert am gießen heute eine schon länger laufende historischen Ort über die im Lagerkomplex Flossenbürg zwischen 1938 und 145 Entwicklung fruchtbarer Zusammenarbeit verübten Verbrechen und bewahrt die Erinnerung an die rund 84 000 Männer und und ertragreicher wissenschaftlicher und 16 000 Frauen aus über 30 Ländern, die zwischen 1938 und 1945 im Konzentra­ mittlerweile auch freundschaftlicher Bezie­ tionslager Flossenbürg und seinen Außenlagern inhaftiert waren. Vielfältige Bil­ hungen zwischen der Universität Regens­ dungsangebote, etwa Ausstellungen, Rundgänge oder Seminare, ermöglichen am burg und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg historischen Ort eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Konzen­ in eine neue Form der institutionalisierten trationslagers und der nationalsozialistischen Vergangenheit. Kooperation. Wir bringen eine an sich Entsprechend ihrem gesetzlichen Auftrag arbeitet die KZ-Gedenkstätte Flossen­ schon sehr bemerkenswerte Zusammenar­ bürg im historiographisch-wissenschaftlichen, archivalischen, pädagogischen und beit in die nächste Dimension – mit hohem bau-konservatorischen Sinn. Sie ist in ihren Arbeitsfeldern international in die ein­ Verantwortungsanspruch, mit großem schlägigen Netzwerke der zeithistorischen Institutionen und Museen ebenso wie Zukunftspotential und mit vielversprechen­ in thematisch verwandte Forschungs- und Bildungseinrichtungen eingebunden. Im den Perspektiven. Rahmen der Vernetzung internationaler Digitalisierungsprojekte historischer Quel­ Dem heutigen Tag gehen bereits zahl­ lenbestände nimmt die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg eine Schlüsselposition ein. reiche Forschungs- und Lehrprojekte in Zusammenarbeit zwischen der Universität https://www.gedenkstaette-flossenbuerg.de/ Regensburg und der Gedenkstätte Flos­ https://www.gedenkstaette-flossenbuerg.de/literatur/ senbürg voraus, für deren stets exzellente

Blick in die Wissenschaft 39 3 Der Präsident

Mittlerweile ist mir – wie zahlreichen Kol­ leginnen und Kollegen der Universität Regensburg auch – der Erinnerungsort Flossenbürg mit seinem ganz spezifischen Konzept, mit seinen höchstmotivierten und höchstkompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und mit seiner ganz besonde­ ren, zukunftsgerichteten Erinnerungsarbeit sehr konkret bekannt und auch persönlich sehr vertraut geworden – auf Führungen, auf wissenschaftlichen Tagungen, bei Vor­ trägen von Mitarbeitern der Gedenkstätte, bei privaten Besuchen mit Freunden und Besuchern und eben auch und vor allem in den vielen Treffen und Gesprächen mit ihrem Leiter und Spiritus Rector, Dr. Jörg Skriebeleit.

- Gedenkstätte Flossenbürg Als ich dann in den vergangenen zwei Jahren auf den internationalen Delega­

Foto © KZ Foto tionsreisen des zu dieser Zeit noch ge­ 1 Bei der Unterzeichnung der Kooperationsvereinbarung zwischen KZ-Gedenkstätte Flossenbürg meinsamen Kultus- und Wissenschaftsmi­ und Universität Regensburg im August 2018 (v. r.) Dr. Jörg Skriebeleit, Präsident Prof. Dr. Udo Hebel, nisteriums unter der Leitung des damaligen Staatsminister Bernd Sibler und MdL Karl Freller. Staatssekretärs und heutigen Staatsminis­ ters Bernd Sibler auf fernen Kontinenten unter anderem auch MdL Karl Freller von in multikulturellen und multiethnischen ist und Dr. Skriebeleits wissenschaftlich der Kooperation zwischen der Universität Gesellschaften ein zentraler Forschungs­ hervorragendes Buch »Erinnerungsort Flos­ Regensburg und der Gedenkstätte erzählte schwerpunkt meines Lehrstuhls für Ame­ senbürg« stets zur Pflichtlektüre von Stu­ und dabei auf ebenso viel Offenheit und rikastudien an der Universität Regensburg dierenden und Mitarbeitern gehörte. Unterstützung für das Projekt einer Part­ - Gedenkstätte Flossenbürg Foto © KZ Foto 2 Ehemalige Kommandantur (links) und ehemaliges SS-Kasino, nun Seminargebäude und Café (Mitte) der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg.

4 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg - Gedenkstätte Flossenbürg Foto © KZ Foto - Gedenkstätte Flossenbürg Foto © KZ Foto 3 Gelände des KZ Flossenbürg im Mai 1945.

nerschaft zwischen Universität und Ge­ deres Anliegen für die Universität Regens­ ungsfeier im April auch ganz persönlich zu­ denkstätte stieß wie in den Gesprächen burg, das viele Menschen an der Universi­ sammen mit meiner Frau sehr gerne zum mit Staatsminister Sibler, da war aus dem tät Regensburg mit mir selbst teilen. Diese Ausdruck. wissenschaftlichen Referenzpunkt und besondere Verbundenheit bringe ich als ó Forschungsgegenstand Flossenbürg längst Präsident der Universität Regensburg mit Wenn wir nunmehr heute die Koopera­ schon so viel mehr geworden: ein beson­ der Teilnahme an der alljährlichen Befrei­ tionsvereinbarung zwischen der Universität

Blick in die Wissenschaft 39 5 Der Präsident

strukturell ertragreiche Zusammenarbeit Eine enge Kooperation zwischen der Uni­ Dossier Flossenbürg genannt – von gemeinsamen Forschungs-, versität Regensburg und der Gedenkstätte Archiv-, und Digitalisierungsprojekten über Flossenbürg spiegelt das Selbstverständ­ Wissenschaftlerinnen und Wissen­ die Einbindung der Gedenkstätte in univer­ nis unserer Universität als regional in der schaftler der Universität Regensburg sitäre Studienangebote bis hin zu wissen­ Verantwortung und international in der nähern sich dem thematischen Feld schaftlichen Tagungen, Seminaren, Lehrer­- Ausstrahlung in Forschung, Lehre und Wis­ »Flossenbürg« in dieser Ausgabe un­ fortbildungen und Programmen oder Fel­ sens­transfer. seres universitären Forschungsma­ lowships für internationale Gaststudie­ Die Universität Regensburg betrachtet gazins aus verschiedenen Perspek­ rende und Gastwissenschaftlerinnen und die Fortentwicklung und Intensivierung tiven. Dazu gehören Historie und Gastwissenschaftler. Vieles ist in der heuti­ der Partnerschaft mit der Gedenkstätte Erinnerungskultur, Film, Literatur gen Kooperationsvereinbarung also schon Flossenbürg als einen wichtigen Teil ih­ und Psychotraumatologie. Ergänzt erwähnt und wird die Präsenz der Universi­ rer bildungs- und gesellschaftspolitischen werden die Beiträge durch das Ge­ tät Regensburg hier vor Ort erhöhen. Rolle – als einen wichtigen Teil ihrer erin­ spräch mit einem Überlebenden: Aus Sicht der Universität Regensburg nerungsbewussten und zukunftsorientier­ Dem 1928 geborenen und heute in als Volluniversität mit einem breiten Spek­ ten Verantwortung in der Region und weit Paris lebenden Bildhauer Shelomo trum an inter- und multidisziplinären Wis­ darüber hinaus in der wissenschaftlichen Selinger. senschaftsfeldern, mit einem weltweit aus­ Kooperation und in internationalen Begeg­ gespannten Netzwerk an internationalen nungen über alle Grenzen hinweg. Partnerschaften insbesondere auch nach Im Geiste des ebenso altehrwürdigen Ost-und Südosteuropa sowie nach Ame­ wie zukunftsfesten Selbstverständnis­ Regensburg und der KZ-Gedenkstätte Flos­ rika, mit einer innovativen wissenschaft­ ses der universitas als humanitas gibt es senbürg zur Weiterentwicklung und Inten­ lichen Infrastruktur und mit einer Vielzahl kaum eine sinnvollere Verpflichtung und sivierung unserer Zusammenarbeit unter­ an hochkreativen und sozial und politisch kaum ein sinnfälligeres Anliegen als eine zeichnen, so beschreiten wir – ausgehend engagierten studentischen Musik- und Partnerschaft zwischen der Universität Re­ von dem bewährten Fundament, Potential Theaterensembles ist mittel- und langfristig gensburg und der KZ-Gedenkstätte Flos­ und Vertrauen – neue Wege und eröffnen aber sicher auch noch mehr an zukunfts­ senbürg. innovative Optionen für Wissenschaft, For­ trächtigen Kooperationsoptionen zur wei­ Insofern ist der heutige Tag mit der Un­ schung, Bildung und auch gemeinsame Er­ teren Stärkung der Präsenz der Universität terzeichnung der Kooperationsvereinba­ innerungsarbeit im verantwortungsvollen Regensburg denkbar. rung zwischen der Universität Regensburg Bewusstsein der Vergangenheit und mit ó und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg mit einer ebenso verantwortungsbereiten Zu­ Universität und Gedenkstätte verfolgen Fug und Recht ein wichtiger und ein guter kunftsorientierung. viele ähnliche und identische Ziele und Tag – ein entscheidender weiterer Schritt, Im Text der Kooperationsvereinbarung haben ungeachtet der Unterschiedlichkeit ja ein Meilenstein auf dem zukunftsgerich­ wird eine Vielfalt an Perspektiven und der beiden Einrichtungen eine kongeniale teten Weg zu noch mehr wissenschaftli­ Formaten für eine bildungs- und gesell­ Selbstkonzeption als transnationale Orte chem Austausch, zu noch mehr Weltoffen­ schaftspolitisch hochrelevante sowie wis­ und als Plattformen für transnationale Be­ heit und zu noch mehr persönlichen und senschaftlich, organisatorisch und infra­ gegnungen. menschlichen Begegnungen.«

Prof. Dr. Udo Hebel studierte Amerikanistik, Anglistik, Germanistik und Pädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und als Stipendiat der Deutsch-Amerikanischen Ful­ bright Kommission in Mississippi, USA. Nach dem ersten und zweiten Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien wurde er 1988 an der Universität Mainz promoviert und 1995 mit der Venia Legendi für das Fach »Amerikanistik« habilitiert. 1995 Professor für Amerikani­ sche Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Potsdam; 1996 bis 1998 Professor für Nordamerikanische Literaturwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 1998 übernahm er den Lehrstuhl für Amerikanistik/American Studies an der Universität Regensburg. Rufe an die Universitäten Kassel, Mainz und Freiburg lehnte er danach ab. Seine Publikationsliste umfasst 15 Bücher, mehrere von ihm herausgegebene Zeitschriften­ hefte und mehr als 60 Aufsätze aus dem interdisziplinären Wissenschaftsfeld der Ameri­ kastudien. Mehrjährige Forschungsaufenthalte in den USA führten ihn an die University of

Foto © Petra Homeier © Petra Foto Michigan, Ann Arbor und an die Harvard University, Gastprofessuren u. a. an das Colorado College, Colorado Springs, CO. Er ist gewähltes Mitglied der American Antiquarian Society, Worcester, MA, USA. Er war u. a. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien (DGfA), Vorsitzender des International Committee der American Studies Association (USA) und Mitglied der Kommission zum Forschungsranking des Wissenschaftsrats. Seit April 2013 ist er Präsident der Universität Regensburg. Zusammen mit Dr. Jörg Skriebeleit initiierte er das Partnerschaftsabkommen zwischen der Universität Regensburg und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

6 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

»was bleibt?« Erinnerungs-Schichten: Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg als transnationaler Raum Birgit M. Bauridl

Am 23. April 1945 erreichten Soldaten licher Menschen aus unterschiedlichen nungen. Für viele der zwischen 1938 und der US-Armee das ländlich gelegene Nationen und Kulturen ranken. Dieser 1945 in Flossenbürg inhaftierten 100 000 Konzentrationslager Flossenbürg in der Artikel beleuchtet den Erinnerungsort Menschen aus 30 Nationen war dieses La­ nördlichen Oberpfalz unweit des späte- Flossenbürg durch die Linse transnatio- gersystem meist nur eine Station auf einer ren Eisernen Vorhangs. Dort fanden sie naler Forschungsansätze zu kulturellen, langen Odyssee. 30 000 der Flossenbürger noch ca. 1500 Häftlinge vor – ungefähr sozialen und politischen Räumen und Häftlinge überlebten nicht. so viele, wie es am Ende des Gründungs- aus der Perspektive transnationaler Er- »was bleibt?« – 65 Jahre nach der Be­ jahres des Konzentrationslagers 1938 innerungsforschung, wie sie auch in der freiung, am 10. Oktober 2010, eröffnete waren. Zum Zeitpunkt der Befreiung Regensburger Amerikanistik betrieben in der Gedenkstätte eine Dauerausstellung des Hauptlagers waren zahllose andere werden. unter diesem Titel. Mit zwei Worten fasst Häftlinge noch auf Todesmärschen un- sie zusammen, was seit dem 23. April terwegs. Die letzten von ihnen sollten 1945 die sozialen, kulturellen und politi­ erst am 8. Mai von den amerikanischen »was bleibt?« schen Verhandlungen um die Bedeutung Truppen eingeholt und befreit werden. von Flossenbürg als Leidens-, Tat- und Spätestens zwischen dem 23. April und Am 23. April 1945 trafen die Amerikaner in Erinnerungsort bestimmt. Wer bleibt mit dem 8. Mai 1945 wird in Flossenbürg Flossenbürg und entlang ihrer Marschrou­ was? Wo bleibt was? Wie bleibt es? Oder in besonderer Weise deutlich, dass zum ten auf unvorstellbare und doch charak­ auch: Wer erinnert und an wen wird er­ Ende des Nazi-Regimes das Gleichzei- teristische Szenen des Horrors. Während innert? Welche Deutungen der Vergan­ tige ungleichzeitig und das Ende des die US-Truppen sich näherten, hatte die genheit nehmen diese Erinnerungen vor? Lagersystems kein überall gleichzei- SS in Flossenbürg begonnen, die Spuren Wo werden diese Erinnerungen räumlich tig erfolgendes Ereignis, sondern ein ihrer Menschenverachtung mit weiteren verankert? In welcher Form sollen diese komplexer Prozess war. Spätestens am menschenverachtenden Gräueltaten zu Erinnerungen provoziert und produziert 23. April 1945 beginnt in Flossenbürg beseitigen. Auf Hitlers Wunsch wurden werden? die Frage nach der Erinnerung, oder sogenannte persönliche Gefangene wie Als eine Ausstellung auf der Meta- vielmehr die Frage nach den Erinne- Dietrich Bonhoeffer und Wilhelm Canaris Ebene des Erinnerns ist sich »was bleibt?« rungen der Menschen aus diversen Na- getötet. Mehr als 40 000 Häftlinge wur­ über die unterschiedlichen Antwortoptio­ tionen und Kulturen – die Frage nach den aus Flossenbürg und den knapp 90 nen im Klaren. Die audiovisuelle Ausstel­ den Erinnerungen der Überlebenden, Außenlagern noch kurz vor Kriegsende lungschoreographie setzt, unter anderem der Familien der Überlebenden und der auf Märsche und Transporte geschickt, die über Sound-Einblendungen, auf Viel­ Nicht-Überlebenden, der Täter*innen, nicht selten im Tod endeten. Ihr Leiden und stimmigkeit und über die Suggestion von der Mitläufer*innen, der Daneben-Ste- ihre Leichen säumten den Weg. Imaginiert Zeiteinheiten auf Vielschichtigkeit. »was henden, der Alliierten – und die Frage man ihre Pfade, wird mehr als offensicht­ bleibt?« beschäftigt sich explizit mit dem nach dem Umgang mit den Erinnerun- lich, dass Konzentrationslager keineswegs Ort, der Erinnerung, den Überlebenden gen an all diese. Spätestens ab dem punktuelle, scharf umgrenzte oder gar zu und den Täter*innen. Bewusst thematisiert 23. April 1945 wird Flossenbürg zu übersehende Orte waren. Konzentrations­ die Ausstellung den unterschiedlichen Um­ einem transnationalen Palimpsest – zu lager ist vielmehr ein verräumlichter Begriff gang mit dem Areal des ehemaligen Kon­ einem Ort, auf den sich bis heute visuell für ein engmaschiges und flächendecken­ zentrationslagers seit 1945 und regt an und architektonisch erkennbar immer- des Netz des Terrors, das sich damals kon­ zum Nachdenken darüber, was Formen der fort neue Schichten der Nutzung und kret und heute als ein Webmuster der Erin­ Nachnutzung über die Gesellschaft aussa­ Deutung durch unterschiedliche Men- nerung über die Landschaft legt – ein oszil­ gen. Bewusst beleuchtet sie die Entwick­ schen und unterschiedliche Nationen lierendes und fluides Geflecht der Gewalt, lung unterschiedlicher Erinnerungskon­ gelegt haben und um den sich immer- das gekennzeichnet war von erzwungenen zepte für den Erinnerungsort Flossenbürg fort multiple Erinnerungen unterschied- menschlichen Bewegungen und Begeg­ und hält sich und dem eigenen kommu­

Blick in die Wissenschaft 39 7 Amerikanistik

table Konstruktionen von Erinnerung be­ stätigt dabei gleichzeitig die Theorie über die Existenz multipler Interpretationen der Vergangenheit. Potenziert wird die Pluralität der Erin­ nerung durch die Mobilität von Menschen und Kulturen über Grenzen hinweg. Wie, fragt sich die Erinnerungsforschung, ent­ wickelt sich Erinnerung, wenn Menschen mehrerer Nationen an das vermeintlich Gleiche erinnern? Was passiert mit den Erinnerungen von Menschen, wenn diese in neue nationale, ethnische und kultu­ relle Umfelder gelangen? Wie bedingen vergangene nationale und kulturelle Zu­

- Gedenkstätte Flossenbürg gehörigkeiten die Erinnerungen von Men­ schen? Die transnationale und transkul­

Foto © KZ Foto turelle Erinnerungsforschung fordert eine 1 Dauerausstellung »was bleibt?«. KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, 2017. eben transnationale und transkulturelle Perspektivierung. Sie beleuchtet unter anderem die grenzüberschreitende Mobi­ nalen Umfeld einen Spiegel vor. Bewusst schiedlich motiviert und zielabhängig be­ lität von Erinnerungen und transnationale unangenehm geht sie auf die Frage nach stimmen die wissenschaftliche Diskussion Austausch-, Appropriations- und Verflech­ der Erinnerung der und an die Täter*innen und Forschung. tungsprozesse in Inhalten und Formen der ein. »was bleibt?« macht bewusst, dass Er­ Während die allgemeine Erinnerungs­ Erinnerung. Udo Hebel (2008) akzentuiert innerung vielstimmig, interessensgeleitet theorie eher eine diverse und vielstimmige die Komplexität und die Wirkmacht von und umstritten ist, dass sie niemals objek­ Erinnerungs-Realität beobachtet, bleibt ›transnational aufgeladenen Orten‹, wenn tiv und oftmals manipulativ ist. Obwohl weder die spezifisch auf den Nationalsozi­ in diesen und an diese Orte Erinnerungen die Ausstellung klar die Pluralität von Er­ alismus und Holocaust fokussierte Erinne­ entstehen. Auch bei kulturellen Inszenie­ innerung anerkennt, akzeptiert sie jedoch rungsforschung in den Kulturwissenschaf­ rungen, Handlungen, Praktiken und Ver­ keineswegs jegliche Art von und jeglichen ten noch die praxis- und gestaltungsorien­ haltensweisen – eine spezifische Form der Umgang mit Erinnerung. [1] tierte Gedenkstättenpädagogik unkritisch. kulturellen Perpetuierung und Erinnerung – Damit spiegelt »was bleibt?« Konzepte Insbesondere wenn es um rechtspopu­ werden transnationale Veränderungs- und der zeitgenössischen transnationalen Erin­ listische und verleugnende Interpretati­ Verflechtungsprozesse beobachtet (Bau­ nerungsforschung, die zu den national und onen der Vergangenheit geht, halten die ridl, 2018). international ausstrahlenden Schwerpunk­ Kulturwissenschaften eine gesellschaftlich All diese Perspektivierungen treffen ten der Regensburger Amerikanistik als und politisch verantwortungsbewusste auch auf Flossenbürg zu. Flossenbürg war Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte Rolle der Wissenschaft für angebracht. Sie als Konzentrationslager und ist als Erinne­ gehört. Deutlich wird in der Ausstellung, beleuchten diese Versionen der Vergan­ rungsort mit vielen Besucher*innen eine dass aktive Gedenkstättenarbeit und -ge­ genheit zwar als Phänomen der Multivo­ sogenannte ›Kontaktzone‹ – ein Raum, staltung auch in der Rezeption und Mitge­ kalität von Erinnerung, lassen diese jedoch in dem sich Menschen unterschiedlicher staltung der theoretischen Konzepte fußt nicht unkommentiert und stellen ihnen kultureller und nationaler Affiliationen und hier Wissenschaft und Praxis in beson­ sowohl den Holocaust belegende Fakten begegnen und ihre Position, Macht und derer Weise nahe beieinander liegen. Nicht als auch Theorien zur Manipulationsmacht Deutungsansprüche verhandeln. In diesem zufällig ist der Leiter der Gedenkstätte in von Erinnerungsversionen entgegen. transnationalen Kontext wurde und wird Flossenbürg, Dr. Jörg Skriebeleit, Kultur­ Vertreter*innen der Gedenkstättenpäda­ Flossenbürg und seine Vergangenheit als wissenschaftler mit besonderer Expertise gogik warnen die Praxis zunehmend vor Konzentrationslager immer wieder neu in der Erinnerungsforschung. Während allzu offen-konstruktivistischen Herange­ und vielfältig interpretiert. Immer wieder sich die Wissenschaft und Forschung lange hensweisen an Erinnerung. Gedenkstät­ dringen dabei manche Deutungen in den Zeit auf kollektives Erinnern auf nationaler tenarbeit, so diese Wissenschaftler*innen, Vordergrund und drängen andere in den Ebene konzentrierte, ist in der Erinnerungs­ muss auch fokussiert sein auf das Präsen­ Hintergrund. theorie seit gut zwei Jahrzehnten verstärkt tieren konkreter Fakten, Materialien und die Rede von der ›Pluralisierung der Erinne­ Relikte wie zum Beispiel Zahlen, spezifi­ rungen‹ (Hebel, 2008). Vielerlei Interpreta­ sche Verbrechensorte, Zeitzeugenberichte Erinnerung als Raum tionen der Vergangenheit, stets abhängig oder (audio)visuelle Dokumente, die einen von den diversen Bedürfnissen der Gegen­ widersprechenden Gegenpol bilden zu Für die Besucher*innen der Gedenkstätte wart und Imaginationen der Zukunft, tre­ postfaktischen und rechtspopulistischen im Jahre 2019 werden die unterschiedli­ ten in Verhandlung und manchmal auch in Verdrehungen oder gar Leugnungen der chen und multinationalen Anwesenheiten Opposition. Vorstellungen von Erinnerung Geschichte. Dieses Argument für ein offen­ und Interpretationen von Flossenbürg vor als dynamisch, polyphon, kausal, unter­ sives praktisches Vorgehen gegen inakzep­ Ort konkret sichtbar und erfahrbar – der

8 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

Raum fungiert als Erinnerungspalimpsest seiner selbst. Im eigentlichen Sinne ein ma­ terielles Manuskript, auf welches über die Zeit immer wieder neue Schriften aufge­ bracht wurden, die die alten zwar verblei­ chen, aber nicht vollständig verschwinden lassen, bezeichnet ›Palimpsest‹ im über­ tragenen Sinne Dinge, die immer wieder neu genutzt werden, jedoch erkenntliche Spuren der früheren Form und Verwand­ lung auf sich tragen. So besagen zeitge­ nössische Raumtheorien wie sie auch in der Regensburger Amerikanistik entwickelt werden, dass auch ein Ort ein Palimpsest sein kann: er trägt visuell und materiell die

Spuren – die Schichten – von immer neuen - Gedenkstätte Flossenbürg Nutzungen und Deutungen durch die un­

terschiedlichen Menschen, die zu unter­ © KZ Foto schiedlichen Zeiten an diesem Ort waren. 2 Erster Gedenkort – »Tal des Todes«, 1949. Umgekehrt kann man durch das genaue Studieren und Erforschen eines Ortes des­ sen Vergangenheit und die politischen und Die Ausstellungen der Gedenkstätte sind – triebene genutzt. »Ende der 1950er Jahre«, kulturellen Intentionen der Menschen, die unter Erhalt der Spuren der Vergangen­ so die Website der Gedenkstätte, »errichtet diesen Ort gestaltet haben, erkennen. heit – in der ehemaligen Wäscherei und die Gemeinde auf den Fundamenten der Auch Gedenkstätten sind Palimp­ Lagerküche untergebracht; etliche Büros Baracken eine Siedlung mit Eigenheimen seste. Die Gedenkstättenforschung un­ von Gedenkstättenmitarbeiter*innen wie [für Vertriebene]. Das frühere Lager wird tersucht zum Beispiel den linguistischen auch die Bibliothek befinden sich in der zum Wohnort. Der Freistaat Bayern erklärt Palimpsestcharakter von Gedenkstätten. ehemaligen Kommandantur. Der heutige den ehemaligen Appellplatz zum Gewer­ Häufig finden sich ganz konkret sprach­ Erinnerungsort legt sich sichtbar auf den begebiet. In der Lagerwäscherei und der lich-graphische Artefakte, etwa in Form ehemaligen Ort des Nazi-Terrors. Doch das Häftlingsküche produzieren verschiedene von Einritzungen. Diese zeugen von un­ war nicht immer so. In den Jahren nach der Firmen Industriegüter. Der Ort Flossenbürg terschiedlichen nationalen Präsenzen und Befreiung wurden die Häftlings-Baracken überbaut und verdrängt das ehemalige La­ von unterschiedlichen Deutungen in unter­ für die US-Militärverwaltung und als Lager gergelände nicht nur topographisch. Auch schiedlichen Zeitebenen. Heute sind diese für Kriegsgefangene, Heimatlose und Ver­ symbolisch wird die Gedenkstätte verharm­ eingeschriebenen Relikte ein Prisma in die Vergangenheit des Ortes. Linguistische und andere materielle und architektoni­ sche Spuren verweisen auf immer wieder neue Deutungen auch in der Zeit nach 1945, zum Beispiel durch neue Nutzun­ gen, Verharmlosungsprozesse oder auch neonazistische Übergriffe. Jörg Skriebeleit verdeutlicht den Palimpsestcharakter Flos­ senbürgs in seiner Begrifflichkeit des ›mehr­ schichtigen Erinnerungsortes‹ oder der visuellen ›Mehrdimensionalität‹ von ehe­ maligen Lagern (siehe Allmeier et al.). Ge­ denkstätten wie Flossenbürg und das Areal des ehemaligen Konzentrationslagers sind ganz besondere Palimpseste: Nutzung und Bebauung des Ortes durch unterschiedli­ che Menschen zu unterschiedlichen Zeiten sind eng verwoben mit dem Umgang der Erinnerung an Flossenbürg. Und diese Erin­ nerung an Flossenbürg verändert sich nicht nur immer wieder im Laufe der Zeit, son­ dern sieht auch zum gleichen Zeitpunkt für unterschiedliche Menschen unterschiedli­

cher kultureller und nationaler Affiliation Bauridl Birgit Foto: unterschiedlich aus. 3 Ausschnitt Ausstellung »was bleibt?«. Quelle: Ausstellung der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg.

Blick in die Wissenschaft 39 9 Amerikanistik - Gedenkstätte Flossenbürg - Gedenkstätte Flossenbürg © KZ © KZ 4 Barackenlager des KZ Flossenbürg, 1945. 5 Der Ort im Jahr 1958, Foto aus Privatbesitz.

lost.« Der potentielle Ort der Erinnerung die Nachnutzung in den 1950er Jahren bis merksamkeit gewann das im Jahre 2000 wird überschrieben von der Agenda und zum heutigen Gedenkort. Flossenbürg ist initiierte Voices-of-the-Holocaust-Projekt, den Interessen der eigenen Umgebung. ein an sich selbst erinnernder Raum, des­ das Audiodateien von Boders Tonband­ Gleichzeitig wird bereits 1947 mit dem sen temporale Schichten aus der Tiefe der aufnahmen online zur Verfügung stellt. Im »Tal des Todes« ein erster Erinnerungsort Vergangenheit auch heute noch klar sicht­ Jahre 2011 wurde I Did Not Interview the auf Initiative von polnischen Displaced Per­ bar sind. [4, 5, 6] Dead erstmals in einer deutschen Fassung sons eröffnet. Diese frühe Gedenkstruktur als Die Toten habe ich nicht befragt von erstreckt sich vom Krematorium über den Julia Faisst, Alan Rosen und Werner Sollors bis heute vorhandenen Aschehügel bis zu Räume der Erinnerung herausgegeben. einer Kapelle mit dem Namen »Jesus im Neben der Motivation, authentische Kerker«, erbaut aus Steinen ehemaliger Die Interpretationen des Ortes und die Er­ Zeitzeugen-Dokumente zu schaffen und Wachtürme. Während hier durch die Um­ innerungen an den Ort sind nicht nur zu als Psychologe den Effekt von extremem nutzung der Steine eine bewusste Umdeu­ unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich; Leid auf den Menschen zu untersuchen, tung der Materialien des Nazi-Terrors er­ sie sind auch zu ein und demselben Zeit­ war Boders Zielsetzung amerikanisch ge­ folgte, so war der Gedenkort dennoch ein punkt nicht für alle gleich. Einerseits treffen formt. Für ein amerikanisches Publikum monolithisch katholisch-christlich gepräg­ zum gleichen Zeitpunkt unterschiedliche wollte er vertieftes Wissen über die Zeit des ter. Die Präsenz der polnischen Displaced Menschen und Interessen in Flossenbürg Nazi-Regimes produzieren und über die Persons bestimmte die Art des Gedenkens aufeinander. Andererseits sind die Men­ Publikmachung der Schicksale Stimmen für mit. Das »Tal des Todes« existiert bis heute schen, die Flossenbürg deuten, durch un­ die Migration der Displaced Persons in die und lässt sich lesen als ein Ort des Erin­ terschiedliche individuelle Lebensverläufe USA gewinnen. Am 26. August 1946 inter­ nerns an das frühe Erinnern. [2, 3] und größere Dynamiken wie Migrations­ viewte Boder in der Schweiz den Überle­ In den 2000er Jahren werden die Indus­ flüsse nicht alle auch in Flossenbürg ver­ benden Sigmund Reich, geboren in Krakau triegebäude auf dem ehemaligen Appell­ ortet. Die Deutungen der Vergangenheit und inhaftiert im Krakauer Ghetto sowie in platz abgerissen, während der Steinbruch, durch Menschen, die zu unterschiedlichen Kamenz, Dachau, Mielec und Flossenbürg in welchem 1942 ca. 2000 Häftlinge täg­ Zeiten in Flossenbürg anwesend waren (http://voices.iit.edu/interview?doc=reichS lich zur Arbeit gezwungen wurden, bis und deren Erinnerungen somit in unter­ &display=reichS_en; siehe Literatur). zum jetzigen Zeitpunkt weiterhin aktiv schiedlichen Schichten des Palimpsests Das Interview beginnt auf Englisch und industriell genutzt wird. Ab 2007 entsteht Flossenbürg fußen, finden auch jenseits Deutsch, bevor es zunehmend ins Jiddische die erste Dauerausstellung in der ehema­ des Ortes selbst statt und werden gerahmt wechselt. Bereits die Ausgangssituation für ligen Wäscherei. Gleich dahinter befindet von Kontexten jenseits der konkreten Er­ die Produktion dieser Erinnerung ist also sich die in den 1950er Jahren gegründete fahrung von Flossenbürg. Der Psychologe eine transnationale. Auch die emotionale Wohnsiedlung. David Boder, 1886 geboren als Aron Men­ und mühsam rekonstruierte Erinnerung an »Der heutige Ort des ehemaligen Kon­ del in Liepāja im heutigen Lettland, mi­ Flossenbürg ist für Reich eng verwoben mit zentrationslagers«, so fasst die Gedenk­ grierte in den 1920er Jahren in die USA. der Erfahrung der erzwungenen Mobilität stätte auf ihrer Website zusammen, »trägt Bereits im Jahre 1946 interviewte er 130 der Häftlinge und mit multinationalen Be­ die Spuren all dieser Nutzungen und Um­ Zeitzeugen, die sich unter anderem an ihre gegnungen: »… wir kamen nach Deutsch- formungen in sich. In ihnen zeigt sich die Zeit im Konzentrationslager Flossenbürg land. Wir kamen nach Flossenbürg, jeweilige Haltung der Verantwortlichen im erinnern, in neun Sprachen an unterschied­ vielleicht sechs Kilometer von der sude- Umgang mit dem Erbe des Konzentrations­ lichen Orten. Eine erste Publikation mit tischen … tschecho-sudetischen Grenze. lagers nach 1945.« Visuell-materiell zeich­ acht Interviews erfolgte 1949 unter dem Dort … dort war eines der schlimmsten net sich beim Blick über das ehemalige La­ Titel I Did Not Interview the Dead. Boders Lager. Ein Lager der dritten … dritten ger hinweg palimpsestartig die Schichtung Projekt fiel jedoch für viele Jahre größten­ Klasse. Nur Berufsverbrecher. Deutsche der Präsenzen ab – von der Nazizeit über teils dem Vergessen anheim. Größere Auf­ Verbrecher. Neuerdings wurden auch Rus-

10 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

sen hingebracht und verschiedene Natio- SR: (Jiddisch) Ich weiß, dass mein Onkel König, errichtet im Jahre 1995 im Olym­ nalitäten. Sie wurden alle in dieses Lager dort Cousinen hat, aber weit entfernt piapark München zum Gedenken an die geschickt. In dem Lager war ich dann … verwandt. Sie ist eine ziemlich weite Opfer des Attentats von 1972, aus Flossen­ war ich dann … vielleicht … vielleicht ein Verwandte von mir. Ich… Ich schreibe bürger Granit. Unweit des 2017 eröffneten … ein Jahr. Kein ganzes Jahr. Später, als ihr nicht und sie mir nicht … »Erinnerungsort Olympia-Attentat« verbin­ die Russen näher kamen, wurden wir wie- DB: (Jiddisch) Also haben Sie nieman- det das Material des Klagebalkens Flossen­ der verlegt.« den? bürg, München und die israelischen Op­ Boder verkompliziert die transnationale SR: (Jiddisch) Nein. fer. Flossenbürg wird unweigerlich in das Rahmung der Erinnerung an Flossenbürg (Beide Passagen übersetzt durch die Auto­ Gedenk-Palimpsest Münchens inskribiert. durch die Art der gezielten Fragestellung, rin) Während sich Sigmund Reich in der in der sein besonderes Interesse an der Schweiz an Flossenbürg erinnerte, erinnern Förderung der Migration von Displaced sich viele Überlebende oder Angehörige Persons in die USA durchscheint: Im Interview wird sprachlich und inhaltlich von Häftlingen – aber auch andere betei­ sowohl die transnationale Erfahrungswelt ligte Personen wie zum Beispiel amerikani­ David Boder: (Jiddisch) Ja, und was des Konzentrationslagers Flossenbürg sche Befreier – an ganz unterschiedlichen wollen Sie dann machen? ersichtlich als auch Boders Konstruktion Orten und in sich verändernden Kontexten Sigmund Reich: (Jiddisch) Und dann? des Interviews mit amerikanisch ausge­ der Welt an Flossenbürg. Manche von ih­ Dann werde ich hoffentlich nach Eretz richteten Absichten. Flossenbürg und die nen kehren aus ihren unterschiedlichen na­ können. Erinnerung daran wird eingespannt in ein tionalen und kulturellen, prägenden Um­ DB: (Englisch) Wohin? überörtliches und überregionales Geflecht feldern zu Gedenkfeiern zurück nach Flos­ SR: (Jiddisch) Nach Eretz. von Mobilitäten, Begegnungen und Ziel­ senbürg. Der Raum der Gedenkstätte wird DB: (Englisch) Wo ist das? setzungen. so auch in der Gegenwart immer wieder SR: (Jiddisch) Eretz Yisroeil. Umgekehrt schreibt sich Flossenbürg zum Ort der multi-nationalen Begegnung. DB: (Deutsch) Sie wollen nach Paläs- auch in die Schichten der Erinnerung an Anders als archivierbare Texte, Bilder tina? anderen Orten ein. Dies wird auf materi­ oder Objekte sind Gedenkfeiern charak­ SR: (Jiddisch) Ja. eller Ebene deutlich, wenn man die Mobi­ terisiert durch ihre eigene Vergänglichkeit. DB: (Jiddisch) Und wo in Eretz Yisroeil lität des Flossenbürger Granits – abgebaut In den Performance Studies werden solche haben Sie Verwandte? in eben dem Steinbruch, in welchem einst körperlichen, aktiven, transitorischen Erin­ SR: (Jiddisch) In Eretz Yisroeil habe ich Häftlinge zur Arbeit gezwungen und getö­ nerungsformen das Repertoire genannt. keine Verwandten. tet wurden – betrachtet. So besteht bei­ Auch in der deutschen Erinnerungsfor­ DB: (Jiddisch) Haben Sie Verwandte in spielsweise der sogenannte Klagebalken, schung ist zunehmend die Rede von per­ Amerika? eine zehn Meter breite Skulptur von Fritz formativen Formen der Erinnerung, wie - Gedenkstätte Flossenbürg © KZ 6 Blick über Gedenkstätte und Wohnsiedlung, 2017.

Blick in die Wissenschaft 39 11 Amerikanistik - Gedenkstätte Flossenbürg © KZ 7 U.S.-Memorial-Day in der KZ-Gedenkstätte, 29. Mai 2017.

zum Beispiel bei Udo Hebel (2008) von er­ Repräsentant*innen des US-Militärs von die heute Lebenden in einer Gemeinschaft innernden Aufführungen und Inszenierun­ der Grafenwöhr Training Area; US-Gene­ im Publikum zu einer zukunftsgerichteten gen. In der Region um Flossenbürg – eine ralkonsulin Jennifer Gavito aus München Begegnung zusammen. Mehrere Nationen Region, die bis heute geprägt ist von einer und weitere internationale, nationale und und Kulturen im gleichen Raum erfahren militärischen und zivilen amerikanischen regionale Besucher*innen. Die Choreogra­ die Erinnerung an eine Vergangenheit, in Präsenz, wie in der unweit gelegenen phie umfasste Ansprachen; einen Genera­ der Nationalität, Kultur und Religion Grund Grafenwöhr Training Area – spielen diese tionenbericht von Yves Durnez, Sohn des für Ausgrenzung und Gewalt waren. Das Formen des Erinnerns eine entscheidende Überlebenden Marcel Durnez, der von der Publikum im Hier und Jetzt erinnert aber Rolle, wenn es um mehrstimmige und Enkelin aus dem Holländischen ins Deut­ nicht nur an die Vergangenheit, sondern transnationale Verhandlungen der Deu­ sche übersetzt wurde; Berichte von interna­ übt gleichzeitig in der Gegenwart ein fried­ tung des Zweiten Weltkrieges und der Zeit tionalen Jugendlichen in unterschiedlichen liches, multinationales Miteinander, das danach geht (siehe Bauridl, 2016, 2018). Sprachen, die das Erleben der Gedenkstätte auf eine Nicht-Wiederholung der Gräuel­ Jährlich im April findet in der KZ-Ge­ während eines Jugend-Seminars schilder­ taten in der Zukunft ausgerichtet ist (siehe denkstätte eine Feier zur Erinnerung an ten. Zur Geräuschkulisse kamen die leise Bauridl, 2018). die Befreiung statt. Die Auswahl dieses aus den Kopfhörern der internationalen Be­ Dass Menschen ihre eigenen kulturell ritualisierten Gedenkens fokussiert mit sucher wahrzunehmenden multilingualen und national geformten Erinnerungen mit der Befreiung auch die Begegnung mit Übersetzungen. Am Ende wurden Kränze in den transnationalen Erinnerungsraum den Amerikanern. Die Befreiungsfeier am im »Tal des Todes« niedergelegt. Flossenbürg bringen und dass ein Erinne­ 23. April 2017 zum Beispiel brachte wie Die Gedenkstätte selbst fungiert also rungsort immer auch geprägt ist von seiner jedes Jahr Überlebende, Zeitzeugen und nicht nur als erinnernder Raum, der das Pa­ regionalen Kontextualisierung, zeigt sich deren Verwandte aus diversen Nationen limpsest der eigenen Vergangenheit sicht­ besonders gut einige Wochen später im zusammen. Überlebender Leon Weintraub bar in sich trägt, sondern auch als trans­ Jahr. Am letzten Montag im Mai gedenkt aus Łódź, der nun in Schweden lebt; Jack nationaler Raum der Erinnerung – als Ort, man in den USA mit einem Nationalfeier­ Terry, polnisch-amerikanischer Sprecher an dem man sich erinnert – für viele Men­ tag der gefallenen Soldaten. Umstrittene der ehemaligen Häftlinge von Flossen­ schen und ihre Geschichten. Die Inszenie­ Theorien zum Ursprung dieses Gedenk­ bürg; eine polnische Militärband; deutsche rung des Befreiungstages in Flossenbürg tages ranken sich meist um die Zeit des und bayerische politische Repräsentan­ ist polyphon angelegt und gedenkt eines amerikanischen Bürgerkrieges im späten ten wie etwa der damalige Staatssekretär mannigfaltigen Kontinuums aus Trauma 19. Jahrhundert. Diesen Brauch setzen und jetzige Bayerische Staatsminister der und Befreiung, aus Tod und Überleben. Als US-Amerikaner*innen aus der Oberpfälzer Finanzen und für Heimat Albert Füracker; körperliche Form des Erinnerns bringt sie Region – zumeist aus der nahegelegenen

12 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

Grafenwöhr Training Area – fort, wenn perlich zunächst eine Wiederholung Onlineressource: David P. Boder Interviews Sig­ sie jährlich zum amerikanischen Memorial des Sich-Bewegens der SS-Offiziere im mund Reich; August 26, 1946; Genève, Switzer­ Day zur KZ-Gedenkstätte kommen und Kasino-Gebäude nach. Jedoch deuten land dort Kränze und Blumen niederlegen. [7] die heutigen Café-Gäste den ehemali­ http://voices.iit.edu/interview?doc=reichS&displa Die Gedenkstätte bietet am Memorial Day gen und exklusiven Ort der Täter*innen y=reichS_en In: Voices of © 2009 zudem Führungen in englischer Sprache um. Sie bilden eine friedliche und multi- Paul V. Galvin Library, Illinois Institute of Techno­ logy 33 W. 33rd St., Chicago, IL 60616 (http:// an. Unweigerlich wird das amerikanische nationale Gemeinschaft aus Überleben­ voices.iit.edu/), Lizenz: CC BY-NC-ND 3.0 US Gedenken alleine schon durch die Positi­ den, Zeitzeugen, Befreienden, anderen (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/ onierung im sichtbaren Erinnerungspalim­ Besucher*innen und mit Menschen mit 3.0/us/) psest von Flossenbürg verwoben mit der diversen Beeinträchtigungen – Menschen, Geschichte des Ortes. Amerikanisches Na­ die im Nazi-Regime in Flossenbürg inhaf­ tionalbrauchtum, amerikanische Präsenz tiert und umgebracht wurden. Die Körper in der Region und das Erinnern an die Ge­ der Café-Besucher*innen und der Café- schichte des Konzentrationslagers bilden Betreiber*innen bilden eine Gegen-Insze­ ein transnationales Geflecht. nierung gegen das, an was dieser Ort erin­ nert. In der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg wird der Café-Besuch so unmittelbar zu Coda – Raum für Erinnerung einem Akt des Widerstands gegen die Ver­ gangenheit und zu einer Vision einer eben Viele Besucher*innen der Gedenkstätte nicht rechtspopulistischen Zukunft. machen einen Zwischenstopp im 2015 er­ öffneten Museumscafé, das betrieben wird vom Heilpädagogischen Zentrum Irchen­ Literatur rieth. Im Café zeigt sich die Dimension der Daniela Allmeier, Inge Manka, Peter Mörtenböck, Gedenkstätte als erinnernder Raum und Rudolf Scheuvens (Hg.), Erinnerungsorte in Bewe­ Raum der Erinnerung auf besondere Weise. gung. Zur Neugestaltung des Gedenkens an Or­

Im Gebäude des ehemaligen SS-Kasinos – ten nationalsozialistischer Verbrechen. Bielefeld: © privat Foto hier liegt auch das Seminarzentrum – ver­ transcript, 2016. Dr. Birgit M. Bauridl ist Akademische sorgen Menschen mit Behinderungen die Birgit M. Bauridl, Marching Towards Kullman’s Di­ Rätin am Lehrstuhl für Amerikanistik Besucher*innen mit regionalen und inter­ ner. Performing Transnational American Sites (of der Universität Regensburg. Ihre For- nationalen Gerichten. So kommen auch Memory) in Bavaria. In: Hans Bak, Frank Mehring, schungsschwerpunkte sind: trans­ Mathilde Roza (Hg.), Politics and Cultures of Libe- nach der jährlichen Befreiungsfeier viele nationale Erinnerung; transnationale ration. Media, Memory, and Projections of De- Gäste im Café zusammen. Regionalwissenschaften; transnationale mocracy. Leiden: Brill, 2018, S. 211–240. Die Erinnerungs- und Performance- Raumtheorie; Performanztheorie; die Forschung hilft, diesen Prozess zu verste­ Birgit M. Bauridl, From Grafenwoehr to ‘Graf’: amerikanische Präsenz in Deutschland. hen. Nach Richard Schechner beschreibt A Transnational American Region in Bavaria. In: Sie ist Mitglied des Vorstands des Center Klaus Lösch, Heike Paul, and Meike Zwingenber­ sie menschliches Verhalten als »restored for International and Transnational Area ger (Hg.), Critical Regionalism. Heidelberg: Winter, Studies (CITAS) der Universität Regens­ behavior«: Jede menschliche Aktion ist ein 2016, S. 103–130. burg, Managing Director des Regensburg wiederhergestelltes, reaktiviertes Verhalten Udo J. Hebel, In Lieu of an Epilogue. Whereto European American Forums (REAF) und eines eigenen oder fremden früheren Ver­ American(ist) Memory Studies? In: Hans-Jürgen Mitglied des International Committee der haltens. Verändert man ein oder mehrere Grabbe, Sabine Schindler (Hg.), The Merits of Me­ American Studies Association. Zusammen Parameter in der (Inter-)Aktion, wird die mory. Concepts, Context, Debates. Heidelberg: mit Pia Wiegmink (Johannes Gutenberg- Wirkkraft dieses Verhaltens jedoch nicht Winter, 2008. S. 389–395. Universität Mainz) leitete sie von 2014 mehr alleine perpetuierend, sondern ini­ Udo J. Hebel (Hg.), Transnational American Me­ bis 2018 das Research Network »Cultural tiiert einen Prozess der Veränderung, des mories. Berlin: deGruyter, 2009. Performance in Transnational American Studies« der Deutschen Forschungsge­ Widerstands oder der Transgression. Jörg Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg: Ak­ meinschaft (DFG). Besuchen Teilnehmer*innen der Ge­ teure, Zäsuren, Geschichtsbilder. 2. Auflage. Göt­ denkfeier das Café, stellt das rein kör­ tingen: Wallstein, 2010.

Blick in die Wissenschaft 39 13 Romanische Philologie

Literatur und ­strukturelle ­Dissoziation Psychotraumatologische Perspektiven auf die frühe Erinnerungsliteratur zum KZ Flossenbürg Isabella von Treskow

2007 wurde mit der Einrichtung der ßerte. Ihr vielzitierter Kernsatz lautet: »Die Grundlage dienen mögen, sind sie meist neuen Dauerausstellung zum Konzen­ Berichte der Überlebenden von Konzentra­ persönlicher, schwungvoller, metaphern­ trationslager Flossenbürg, durch Archiv tions- und Vernichtungslagern sind außer­ reicher geschrieben. Fälle nachweislicher und Bibliothek ein Zugriff auf Material ordentlich zahlreich und von auffallender oder wahrscheinlicher Überarbeitung zei­ und Literatur möglich, der Langzeitun- Monotonie.« Arendts Äußerungen sind in gen, dass die Autoren die Erlebnisse mit tersuchungen erheblich begünstigt. Un- der Fachliteratur wieder und wieder aufge­ Abstand zum Geschehen anschaulicher bekannte Quellen sind jetzt zugänglich, griffen worden, oft kritisch, denn sie wur­ darstellen und selbstbewusster präsentie­ darunter zahlreiche deutsche und fran- den eben auch als Kritik an den Texten und ren, so in Flossenburg (1945), dem der zösische ab 1945 vormals Internierter. deren Qualität aufgefasst. Häufig wurde Autor Léon Calembert wohl später einige Die vergleichende Analyse kann durch versucht, Arendts Eindruck zu widerlegen, Absätze voranstellte. Der eigentliche Be­ Einbeziehen neuerer psychotraumato- sie seien kommunikationslos, geprägt von ginn der Erzählung steht im für Calembert logischer Kenntnisse das Verständnis apathischem Nicht-Begreifen und in diesen typisch sachlichen, kontrollierten, gleich­ für ihre spezifische Machart und die Eigenschaften einander sehr ähnlich. wohl nicht ganz kargen Stil: »An einem disparaten Reaktionen darauf in einer Die literaturwissenschaftliche Forschung Januarmorgen 1945 entstiegen einem Zug Weise erhellen, die für die literarische hat demonstriert, welche Bandbreite an lite­ sechzig Gefangene, von denen immer zwei Kommunikation von NS-Verbrechen rarischen Formen selbst autobiographische aneinandergekettet waren, im kleinen, generell von Bedeutung ist. Hannah Texte bei genauerem Hinsehen aufweisen. verlorenen Bahnhof von Floss in Nord- Arendt war von der »Klaglosigkeit«, ja Gleichzeitig wurde festgehalten, etwa bayern. Ihre Fahrt hatte drei endlose Tage »Kommunikationslosigkeit« der frühen von Judith Klein in Bezug auf Texte von und drei noch endlosere Nächte gedauert, Berichte irritiert, generell aber lobt man Shoah-Überlebenden, dass sie durch »ver­ ohne Getränk, ohne Schlaf, mit Handschel- just ihren dokumentarischen Charakter. kleinernde«, distanzierende und indirekte len, die sich wie Klingen ins geschwollene Diese Ambivalenz geht auf Konstellatio- Ausdrucksweisen gekennzeichnet sind. Fleisch der Gelenke bohrten.« Dass er nen zurück, die sich durch die Traumati- Gänzlich wird damit der buchstäblichen Ein- selbst einer dieser Gefangenen war, gibt sierung derer, die aus der Flossenbürger Tönigkeit vor allem der autobiographischen der Einstieg nicht zu erkennen. Lagerhaft, die vom Rand des »Tals des Nachkriegsliteratur nicht widersprochen. Es Todes« zurückkehrten, wie durch die ist, als kennten die Berichte mehrheitlich kulturellen Rahmenbedingungen erklä- keine verschiedenen Tonhöhen, keine Me­ Objektivität ren lassen – und diese betreffen auch lodie, keinen anderen Rhythmus als jenen die aktuelle Rezeption. des gleichmäßigen Vorwärtsschreitens und Die Forschung hat die frühen Erinnerungs­ keine andere Erzählerfigur als die des un­ texte zu Lagerhaft mittlerweile historisiert beteiligten Berichterstatters. Sie drohen bis und kontextualisiert. Nicht genügend hat Die »Monotonie« der Erinnerungs- heute, Lesende zu langweilen oder in ihrer sie allerdings eine Perspektive eingenom­ berichte Nüchternheit zu frustrieren. men, die sowohl die psychische Verfassung Die Langzeituntersuchung von Flossenbür­ wie die kulturellen Bedingungen der vor­ ger Texten zeigt die manifesten stilistischen mals Gefangenen berücksichtigt und hier­ Hannah Arendt argumentierte 1951 in Unterschiede zwischen den Erinnerungs­ für psychotraumatologische, soziologische The Origins of Totalitarianism bereits lite­ berichten, die unmittelbar nach der Befrei­ und literaturwissenschaftliche Kenntnisse raturanalytisch und psychologisch, als sie ung, und jenen, die erst Jahrzehnte später kombiniert. sich plakativ zu Erinnerungsberichten von verfasst wurden. Obgleich für letztere häu­ Wie war die Situation der Autoren? Rückkehrern aus Konzentrationslagern äu­ fig Aufzeichnungen der Nachkriegszeit als Arendt ging in The Origins of Totalitaria-

14 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

nism davon aus, dass die nach Hause Zu­ rückgekehrten – im vorliegenden Korpus der frühen Flossenbürg-Berichte alle männ­ lich – ihre leiblich-psychische Integrität der Zeit vor der Haft wiedererlangten. Zwi­ schen der Person vor der Verfolgung und der in Haft liege eine radikale Trennung, so die Annahme. Die Trauma-Forschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich im Übrigen maßgeblich durch die Be­ schäftigung mit KZ-Haft fortentwickelt hat, nimmt, auch unter Rückgriff auf frühere Studien beispielsweise zum Ersten Welt­ krieg, das Gegenteil an. Von einer radika­ len Trennung würde daher heute niemand mehr sprechen, gleichwohl gehen viele unkritisch von ihr aus, sobald sie sich in die Lektüre vertiefen. Dass ein traumatisiertes Individuum nicht einfach wieder in die alte Haut zurückschlüpft, ist bekannt. Nicht ge­ nügend erörtert wird jedoch bezüglich der Erinnerungsliteratur der 1940er Jahre, wie es dazu kommt und welche Ambivalenz im Vorwurf der Emotionslosigkeit der Texte steckt. Die Leserschaft – auch die profes­ sionelle – vermisst die sprachliche Vermitt­

lung von Emotionen. Indirekt steckt dahin­ - Gedenkstätte Flossenbürg ter der berechtigte Wunsch, nicht nur über

objektive Sachverhalte, sondern auch über © KZ Foto Gefühle etwas zu erfahren, denn sie zeigen 1 Zeichnung des Gefangenen Georg-Hans Trapp. Ohne Titel, ohne Jahr. die individuelle Wirkung der Geschehnisse, sind Teil der erlebten Gewalt und daher ebenfalls historische Informationen. die Fähigkeit zur Distanzierung werden ex­ Lager eine Erkenntnis des individuellen Eine Beziehung zum individuellen Er­ plizit als Qualitätsmerkmale auch von Ca­ Erlebens praktisch unmöglich sei. Auf das leben und wirksames Verstehen der Vor­ lemberts Text hervorgehoben. Verhältnis von Sprache und Trauma geht gänge stellen sich vor allem durch die Die 1995 erschienene Einleitung von er nicht ein. Die Literaturwissenschaft hat Mobilisierung von Affekten während der Gie van den Berghe zu Flossenburg enthält hierzu festgehalten, dass die Schwierigkeit, Lektüre ein. Die Lesenden vermissen also ein Unterkapitel Der Wille zur Objektivität die erlebte Wirklichkeit schwerwiegender ihre eigenen Gefühle. Zwar ist das »reale und eines zu Realität und Beobachtung Gewalterfahrung in retrospektive Berichte Erleben des Grauens«, wie Arendt Georges des Autors. Anerkennend heißt es, dass zu überführen, gerade deren Konsequenz Bataille aufgreift, nachträglich kaum zu zur Erhöhung des Maßes an Objektivität ist, und die Effekte von Traumatisierung fassen. Doch führt die Annahme der Ent­ der beobachteten Realität von Calembert analysiert. Stockende Sprache wurde als seelung (Arendt) leicht in die Irre, und man subjektive Faktoren soweit wie möglich Folge der tiefgreifenden psychischen Ver­ möchte gegen ihren Befund der Unglaub­ eliminiert wurden und subjektive Faktoren, letzungen verstanden, von den Wunden haftigkeit, der noch stark von Wissen und die dennoch verblieben, erklärt und ana­ des Textes (Dayan Rosenman) gesprochen Geisteshaltung der frühen 1950er Jahre lysiert werden. Calembert wird in diesem und auf die in der Literatur der Deporta­ zeugt, Einspruch erheben. Erschienen die Sinne zuerkannt, in Flossenburg Gefühlen tion und der Lager hervorbrechende Qual Verbrechen damals in ihrer Ungeheuerlich­ bewusst wenig Aufmerksamkeit zu schen­ des Schreibens (Klein) verwiesen. Das Sto­ keit noch unwahrscheinlich, so sind sie jetzt ken. Objektivität und analytische Darstel­ ckende stellt sich in den frühen Berichten bekannt und gesichert. Der Abstand be­ lung werden darauf zurückgeführt, dass jedoch besonders im Zurückweichen vor steht heute daher weniger zu den Ereignis­ er – Bergbauingenieur und ab 1953 Pro­ der Vermittlung der Empfindungen dar, die sen als zu den autobiographischen Texten, fessor für Geologie – ein Intellektueller und die eigene Bedrohung und der Tod Anderer auch wenn just sie zum Wissensbestand Wissenschaftler sei. auslösten. Hier als Beispiel ein Ausschnitt erheblich beitragen. Bleibt das Paradox, Der Historiker van den Berghe ist nicht aus Paul Beschets Mission en Thuringe dass die Nachkriegsliteratur gleichzeitig unsensibel gegenüber der sprachlichen (1946) zum Quarantäneblock in Flossen­ als zu nüchtern kritisiert und als nüchtern Qualität von Flossenburg und hebt her­ bürg: gelobt wurde, denn nur als »neutrale« gel­ vor, dass darin erfreulicherweise ab einem »Erschöpft schleppen sich die Leiber ten (oder galten lange) die Erinnerungen gewissen Punkt Subjektivität erkennbar von Sterbenden am Boden dahin. Diese als zur Rekonstruktion der NS-Repressalien werde. Er erklärt zu Recht, dass ohne Ver­ haben die schweren Steinbruch- oder nutzbar. Objektivität, Unpersönlichkeit und bindung zur Person und zur Situation im Grubeneinsätze erlebt, von denen sie mit

Blick in die Wissenschaft 39 15 Romanische Philologie

großen Verlusten zurückgekommen sind. Schreibhaltung ist jedoch nicht möglich, nicht oder nicht immer wieder zuhören Da das Krankenrevier überfüllt ist, werden solange die Diskrepanz zwischen dem Ich, möchten, sich abwenden oder ihnen we­ diese schrecklich abgemagerten Männer das sich im Alltagsleben stabilisiert und zu­ nig Glauben schenken, ist die Realisierung, in sogenannte Schonungsblocks hinein- rechtfindet, und dem Ich, dessen Erlebnisse dass die Bedrohungssituation vorüber ist, gepfercht. Im Übrigen müssen sie ohnehin mit heftigen Emotionen verbunden sind, außerordentlich schwer. KZ-Internierten sterben. Wo ist egal.« zu groß ist, als dass beim Schreiben beides brachte man zwar Mitleid entgegen, NS- zusammengeführt werden könnte. Schrei­ Verbrechen waren jedoch ein Tabu-Thema. ben über Misshandlung und Todesangst Ihre Vergangenheit ging zusätzlich vielfach »Scheinbar normale« und »emotio­ bricht sich am Gegenstand und kann ihm mit sozialer Marginalisierung einher, vor al­ nale« Persönlichkeitsanteile nur unter großen Vorsichtsmaßnahmen zu lem wenn sie Opfer rassischer Verfolgung sprachlicher Realität verhelfen. waren. Oft ist es Traumatisierten unmög­ Zum Verständnis dieser spezifischen lich, die Diskrepanz zwischen den durch­ Neutralität und Nüchternheit ist näher auf Autorschaft lässt sich das Konzept der lebten und noch lebendigen Gefühlen und die Spur zu kommen, wenn man das Fest­ strukturellen Dissoziation der Persönlich­ den im Alltag funktionierenden, rationalen halten an Parametern der Objektivität, der keit in einen »scheinbar normalen« und Persönlichkeitsanteilen (die diese Gefühle Entindividualisierung – zum Beispiel durch einen »emotionalen« Anteil heranziehen, ablehnen) zu überwinden. Für diese Er­ die Vermeidung des Pronomens »Ich« – das in der Psychotraumatologie entwi­ kenntnis beruft sich die psychotraumatolo­ und Emotionslosigkeit mit Erkenntnissen ckelt wurde: Nach schwerer Traumatisie­ gische Forschung übrigens gerade auf die der Psychotraumatologie verbindet. Zwei rung verhilft das Funktionieren im Gerüst Erfahrungen von NS-Opfern, in Das ver- Aspekte werden deutlich: Die Problema­ und Habitus einer »anscheinend normalen folgte Selbst auf die von Aharon Appelfeld. tik der Verbindung von Emotionalität und Persönlichkeit« dazu, den Alltag zu bewäl­ Die skizzierte Situation, die bis hinein Normalität und die Realisierung von Erwar­ tigen, ohne von posttraumatischen Störun­ in die zwischenmenschlichen Beziehungen tungen an eine funktionierende Person in gen bedrohlich beeinträchtigt und wegge­ spielte, verfestigte meist die Unmöglich­ ihrer sozialen Umgebung. Schreibanlass, rissen zu werden. Davon getrennt bleiben keit, mit den Misshandlungen einherge­ Traumatisierung und Erwartungshaltung die emotionalen Persönlichkeitsanteile. Sie hende Gefühle und das Funktionsgerüst sind liiert. Fälschlicherweise erwartete bergen die durch Traumatisierung ausge­ prekärer Normalität zu verbinden. Die ­Arendt und erwarten Leserinnen und Leser lösten Gefühle, etwa Angst, Wut, Scham gefühlsmäßige Taubheit, die ein normales nicht selten, dass KZ-Überlebende so wach und Verzweiflung. Leiden die Gefangenen Funktionieren in diesem Stadium garan­ und gelassen über ihre Erlebnisse schrei­ nach Mai 1945 an posttraumatischer Be­ tiert, schlägt stilistisch auf die Überleben­ ben wie Autoren und Autorinnen ohne lastungsstörung (PTBS) und sind von Men­ denberichte zurück, wie in Robert Oliviers derartige Erfahrungen. Eine »ausgeruhte« schen umgeben, die ihren Erzählungen Camp de Flossenbürg (1945) die Zeilen - Gedenkstätte Flossenbürg © KZ 2 »Tal des Todes« heute.

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2019 erscheint der Band Das Konzentrationslager Flossen- bürg – Geschichte und Literatur der Romanistin Isabella von Treskow: Er bietet vielfältige Unterrichtsmaterialien und Quel­ len für Geschichts- und Französischlehrkräfte, für interdiszpli­ näre Ansätze und den bilingualen Unterricht. Die Autorinnen und Autoren eröffnen neue Zugänge, regen die kritische Dis­ kussion an und geben didaktische Hinweise. Die Redaktion hat bei der Herausgeberin nachgefragt.

BiDW: Ihr Buchprojekt ist die Frucht langjährigen Forschungsin- teresses an Flossenbürg und ihres didaktischen Engagements. Beides schlägt sich auch in einem Workshop nieder, den Sie 2018 gemeinsam mit einer Kollegin der Universität Siegen ge- plant haben und der zu einem Hauptseminar in französischer Literatur- und Kulturwissenschaft gehörte. Behandelt wurde französische, algerische und deutsche Literatur zum Ende des Zweiten Weltkriegs und zur NS-Zeit. Was lernten deutsche und französische Studierende voneinander?

IvT: Sie stellten erstaunt fest, wie stark sich Perspektiven je nach Herkunftskultur unterscheiden, und nahmen dies zum Anstoß, eigene Positionen zu hinterfragen. Sie lernten nicht nur den Wert von Literatur als solcher schätzen, sondern dass sie sich auch vorzüglich eignet, Standpunkte Anderer nachzuvollzie­

hen. Französische Studierende sagten, dass ihnen Historisches © Röhrig Universitätsverlag klarer wurde als durch Sachbücher. Gerade dass die Autoren wenig bekannt seien, gefiel: Mammeri, in Algerien übrigens bürg. Neben Erinnerungsberichten plus Unterrichtsmaterial und berühmt, Herrmann-Neiße oder Schrade. Am Ende kursierten Übersetzungshilfen sind eine Video-Sequenz, eine Predigt und Bücher und lasen sie viel mehr als vorgesehen. der Brief eines Inhaftierten enthalten, von F. Béduer an seine Die deutschen Studierenden haben von den breiten Litera­ Eltern und seine Schwester Georgette. Zwei Kapitel widmen tur- und Geschichtskenntnissen der französischen Studieren­ sich dem Dichter Robert Desnos; eine Zeichnung und Texte der den profitiert. Ein Gewinn war auch die Begegnung mit den Widerstandskämpferin Eliane Jeannin Garreau sind enthalten. Siegener Geschichtsstudierenden. Der »fachfremde Blick auf Ihre Häftlingskleidung liegt in der Ausstellung in einer Vitrine. die von uns behandelte Literatur« war »sehr inspirierend«, so eine Teilnehmerin. BidW: Ihre Studierenden produzieren im Kontext des Seminars Die französischen Studierenden hoben die Literatur Algeri­ Podcasts zum Thema »Französische Häftlinge im KZ-Komplex ens, die ihnen ja prinzipiell näher ist als Deutschen, und deren Flossenbürg«. Welche Herausforderungen birgt die digitale An- Erforschung hervor. Die wissenschaftlich-kritische Methodik näherung an die Thematik? war für sie anfangs ungewohnt, aber sie überflügelten bald ihre eigenen Erwartungen. Außerdem waren sie vom Ernst der IvT: Die digitale Annäherung ist nicht das größte Problem. Die Diskussionen in Deutschland berührt. Damit hatten sie nicht Herausforderung besteht eher darin, im Podcast den Hörerin­ gerechnet. Sie lernten die Debatte um Schuld und Verantwor­ nen und Hörern in knapper Zeit das Wichtigste zu vermitteln. tung kennen und waren beeindruckt vom Workshop in Flos­ Die Studierenden sind aufgefordert, ihre Ziele zu reflektieren: senbürg, gerade auch der offiziellen Seite. Was soll warum wie für wen vermittelt werden? Dazu kommt die praktische Herausforderung: Rollenverteilung – Erzählstim­ BidW: Der Band offeriert Materialien für textbasierte, auditive men; französische Sprecher und Sprecherinnen für die Origi­ und visuelle Zugänge zum Thema. Nach welchen Kriterien ha- nalzitate, entsprechend deutsche für die Voiceover; Übersetze­ ben Sie ausgewählt? rinnen; die, die historische Informationen zusammenstellen –, Arbeitsorganisation, Skript-Erstellung, Terminplan. IvT: Originalität und Diversität der Quellen, ästhetische Qualität, Die Workshops zur konkreten Umsetzung leitet Thomas Praktikabilität für den Unterricht, Bekanntheitsgrad der Autoren Muggenthaler, Bayerischer Rundfunk. Am Ende wird alles im und Autorinnen, deren Präsenz in der KZ-Gedenkstätte Flossen­ BR-Studio Regensburg aufgenommen. Wir sind gespannt!

zum »Kartoffelkommando«, zu Hunger sich die Arbeitskolonnen in Gang. Über versuchen Kartoffeln zu stehlen und verste- und Gewalt durch abgerichtete Hunde: Bergwege laufen wir zum Dorfbahnhof, cken sie in ihren Taschen oder unter ihren »Jeden Morgen werden wir um halb vier bewacht von SS-Männern und ihren grau- Jacken, doch fast jeden Tag gibt es eine geweckt, […]. Bei Tagesanbruch setzen samen Hunden. […] Einige Kameraden Durchsuchung und der, der gefasst wird,

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wird geschlagen und manchmal von Hun- traumatischen Erlebnisse zusammenhän­ hierfür die Norm einer Gattung geschaffen, den gebissen. Das Beste ist, sie vor Ort roh gen dürfte. Die dokumentarische Machart in der das Geschehen grob chronologisch zu essen.« schließt die Verteidigung der eigenen Per­ geordnet und aus einheitlicher Perspektive son ein. Verteidigung seiner selbst war in erzählt wird, das Subjekt und dessen Ent­ KZ-Haft, so auch während der sich durch wicklung im Zentrum stehen, der Ereignis­ Warum schreiben? ein Höchstmaß an Gewalt auszeichnenden gang sich einem sinnvollen Schluss zuneigt Internierung in Flossenbürg, eine Reaktion, und Verfasser aufrichtig erscheinen. Nicht Die Autoren verweisen generell darauf, die sich eben durch Traumatisierung ausbil­ wenige ehemalige KZ-Internierte zeigen dass ihre Berichte wesentlich dem Ver­ dete. Implizit aktualisieren die Autoren ih­ in ihren Schriften, dass die Gattung nicht mächtnis der Toten dienen. Dazu tritt der ren Schmerz durch die eindeutige Schuld­ mehr funktionieren kann, wo Entwicklung Wille zur Zeugenschaft. Die NS-Verbrechen zuweisung an die Verbrecher. Ihre Texte Zerstörung bedeutete und die Idee des sollen bekannt werden, die Berichte liefern führen als Anklagen die Selbstverteidigung modernen Subjekts im Lager pervertiert Belege. Man besteht auf Faktentreue (»dies der traumatischen Phase in der Gegenwart war. Den Sinn einer Gesamtaussage stellt Zeugnis wurde so ehrlich wie möglich ver­ fort. besonders die Shoah-Literatur grundsätz­ fasst«, F. Carlier zu Jean Soudans Flossen- lich infrage, sichtbar vor allem, wenn sie bürg), auch durch Gattungsbezeichnungen autobiographische und künstlerische Ele­ (Hans Ballmann: Im K-Z – Ein Tatsachenbe- Autobiographische Normen mente verquickt oder eindeutig fiktional richt, 1945). Augenzeugenschaft wird ins ist. Schriftliche transferiert. Nach Kriegsende Eine nur relative Autonomie formt auch Frühe Berichte adaptieren jedoch über­ entstandene Texte sind schließlich auch das Autorbild, dem die KZ-Rückkehrenden wiegend das autobiographische Basismo­ im Zusammenhang mit Befragungen und entsprechen wollen. Der Erfolg zeigt sich dell, da es zum einen den Erwartungen Zeugenaussagen in Gerichtsprozessen zu in der sozialen Anerkennung, greifbar zum und Reflexionsfähigkeiten der Nachkriegs­ sehen. Dass hierfür Genauigkeit und Nach­ Beispiel in den Worten von van den Berghe gesellschaften entspricht und ihnen zum prüfbarkeit die wichtigsten Kriterien sind, zu Calembert. Die Einpassung ins kulturell anderen gestattet, in einer psychischen verstärkt ihre sprachlich-objektive Dimen­ gefestigte Muster spielt in mehrerlei Hin­ Situation struktureller Dissoziation in ge­ sion. sicht der Neigung zu Nüchternheit in die sichertem Modus das Wort zu ergreifen. Eine psychotraumatologische Perspek­ Hände, denn sie realisiert und affirmiert Was die Leserseite angeht, argumentiert tive lässt zudem die These zu, dass ihre dadurch den Anspruch an das Mischgenre Klein zurecht, dass die autobiographische hohe Zahl und neutral-objektive Beschaf­ des autobiographisch verbürgten Tatsa­ Literatur Rücksicht auf die Sensibilität der fenheit auch mit einer Fixierung auf die chenberichts. Okzidentale Kulturen haben Lesenden nehme, ihnen Raum gebe, das © Lisa Hindelang 3 Studierende auf dem Weg zum Seminar in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg.

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Unvorstellbare schrittweise zu ertasten, hohen Steinstufe und schlug die Gefange- und erlaube, durch Distanzierung und In­ nen, die hier passieren mußten, mit einer direktheit bei den mitgeteilten Erfahrun­ Eisenstange ins Kreuz.« gen zu verweilen und sich nicht panikar­ Auffällig ist in vielen Texten die Erset­ tig abzuwenden. Die Vorwegnahme der zung des Subjekts durch das Gefangenen­ inneren Abwendung potentieller Leser kollektiv und die dominante Erzählperspek­ und Leserinnen bestimmt folglich die Er­ tive eines rein beobachtenden Erzählers. zählhaltung. Hinzu tritt die kulturell veran­ Formal ist er dadurch nicht mit dem Autor- kerte Vorstellung eines guten, »normalen« Ich identisch. Observierend spricht er von autobiographischen Textes, geordnet, ra­ den Internierten als einer eigenen Gruppe, tional und realistisch, damit der Verfasser wie wenn er, das Alter ego des Autors, glaubwürdig wirkt und der Transfer der Er­ nicht Teil derselben gewesen wäre. Wenn fahrungen zum Adressaten kommunikativ Calembert schreibt, welche furchtbaren gelingt – das Pendant zum »anscheinend Erinnerungen »den Häftlingen« immer in normalen Ich«. Erinnerung bleiben würden, dann ist es Die Anpassung an das Modell des ge­ selbstverständlich sein eigenes Gedächtnis, ordneten, »vernünftigen« Berichts wirkt in »in dem die Erinnerungen niemals verblas- mehrere Richtungen: Ersetzung der feh­ sen sollten«. lenden Zuhörerschaft durch die Schaffung einer potentiellen Leserschaft, deren Scho­ nung durch den Verzicht auf Evokation Kulturelle Unterschiede - Gedenkstätte Flossenbürg

von Gefühlen, schließlich Wertschätzung © KZ durch die Wahl einer etablierten Berichts­ Das Korpus, gut zugänglich durch die Ge­ 4 Titelseite von Zebra, Erinnerungen von Hugo form und normgerechter sprachlicher Mit­ denkstättenarbeit in Flossenbürg, macht Walleitner, publiziert 1946. tel. Wichtiger noch: Die Wahl verhindert es möglich, die kulturellen Differenzen retraumatisierende Effekte, da die Erzäh­ beispielsweise zwischen deutschen und lungen durch ihr äußerlich bleibendes Ver­ französischen Texten zu erfassen, die ih­ sich scharf von den Ereignissen vor Mai hältnis zum Erlebten als »Bollwerk gegen rerseits die Verfahren normorientierter 1945 abzusetzen. So orientiert sich der die Zerstörung und den Zusammenbruch« Adaption belegen. Entgegen kommt den lebhaft und teilweise jovial verfasste Be­ (Choutri) des Ich fungieren. Autoren das politische Gebot der Stunde, richt Zebra (1946) von Walleitner [2], der Ein typisches Konstruktionsmerkmal westlicher Autobiographien kommt den Autoren dabei entgegen, die klare Tren­ nung von erzählendem und erzähltem Ich. Walter Adam arbeitet in Nacht über Deutschland (1947) etwa mit einer Erzähl­ figur, die, auch wenn es um Adam selbst und sogar die Gegenwart geht, entfernt vom Erzählten steht. Das Gerüst normativ anerkannter Distanz lässt eigene Leiden wie fremde erscheinen. Die persönliche Bedrohung wird nur knapp erwähnt: »Im Marsch-Marsch-Tempo stürmten die Häftlinge den Steilhang hinunter, um sich das Eßgeschirr zu holen, dann auf einer anderen Seite den Hang hinauf bis zum höchsten Punkt der Werkstraße, wo mittags das Essen ausgeteilt, abends zum Abmarsch angetreten wurde. Diese Hetz- jagd über Stock und Stein, hinauf, hinunter, riß den älteren Gefangenen an der Herz- muskulatur. Ich war 54 Jahre alt, als ich sie durch zwei Monate täglich mitmachen mußte und habe davon ein Andenken fürs restliche Leben. Wer nicht rasch genug den Berg hinaufkam, wurde von den SS- Chargen mit der Pistole ermuntert oder mit

Steinen beworfen. Ein SS-Obersturmführer, Thomas Muggenthaler Foto: der später im Lager Buchenwald eine Rolle 5 Der Bildhauer Shelomo Selinger (im Interview auf Seite 32 ff.) überlebte die Gefangenschaft im KZ spielte, stellte sich gerne zu einer manns- Flossenbürg. Das Bild zeigt ihn mit Isabella von Treskow im März 2019 in Paris.

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lediglich dann wortkarger wird, wenn Die genannte Anklage, mit der die Vertei­ an die Parameter der französischen Umge­ die Grausamkeit ein Höchstmaß erreicht, digungshaltung der Haftzeit in die Gegen­ bungsgesellschaft anschlussfähig machen. sprachlich am Stil deutscher Memoiren wart des Schreibens fortgesetzt wird, geht Die Autoren französischer Berichte der Zwischenkriegszeit und inhaltlich an in bei Walleitner mit dem Versuch der sozi­ nutzen im Übrigen die Möglichkeit, durch Nachkriegsösterreich sozial erwünschten alen Rehabilitation einher. Heute schwer das Indefinitpronomen »on« (»man«) eine Positionen, darunter dem Kampf für staat­ nachvollziehbar zeigt er in Zebra durch ei­ Gruppe zu bezeichnen, zu der der Erzähler liche Unabhängigkeit. Ausdrücklich solida­ nen lockeren Ton, saloppe Ironie und die nicht gehört, oder eine, zu der er gehört risiert er sich zum Beispiel mit Richard Holy, Wahl der Episoden, dass er nicht nur ein (»wir«). Unmerklich verfließen dadurch einem Kämpfer für ein »freies Österreich« bedauernswertes, unterlegenes Opfer war. die Grenzen zwischen Außenwelt und In­ und Kommunisten, als solcher in Mauthau­ Er passt sich damit indirekt der Umgebung nenwelt. Die Quersicht aufs Korpus zeigt sen und Flossenbürg inhaftiert. Walleitner, und deren »Normalität« an. Walleitner will jedoch, wie schwer es auch den französi­ selbst kein politischer Häftling, markiert so sich seinen Platz in ihr erschreiben; entspre­ schen Autoren in der Zeit nach ihrer Befrei­ die Distanz zu NS-Deutschland. chend diskret bleibt, dass er wohl wegen ung fiel, »ich« zu sagen, und mehr noch, Homosexualität in Haft kam. Die ausländi­ wie selten sich ein »Moi« findet, das unver­ sche Kritik reagierte noch vor kurzem auf bundene Personalpronomen zur Hervorhe­ Zebra mit Unverständnis und Missbilligung bung der eigenen Person. Die Möglichkeit, und stellt das Buch als geradezu frivol hin, in diesem selbstbezüglichen Ausdruck die in der Meinung, Walleitner sei nicht vom Gefühle des »emotionalen« und die Ra­ Tod bedroht gewesen. Carl Schrade, ein tionalität des »anscheinend normalen« Deutschschweizer, der als Kapo in Flossen­ Persönlichkeits­anteils verbal zu verbinden, bürg vielen Mitgefangenen half, verbirgt in war für sie noch zu fern. Le Vétéran den Haftgrund »Berufsverbre­ cher« und verfolgt unter anderem durch eine schmucklose Sprache das Ziel, trotz Literatur der Kapo-Funktion als wahrhaftes Opfer Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism. des NS-Regimes und in die Gesellschaft New York: Harcourt Brace Jovanovich, 1951. dt. wieder als ebenbürtiger Bürger aufgenom­ Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. An­ men zu werden. Deutlich distanziert er sich tisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft.

Foto © privat Foto von der SS, den Deutschen und deutscher Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, Kultur. Häufiges Stilmittel zur Markierung 1955. Prof. Dr. phil. Isabella von Treskow stu­ des Abstands zur SS ist Ironie, wie sie auch Fadhila Choutri, Violences sociales : la question de dierte Romanistik, Germanistik und Ge­ den Bericht von Willi Eifler kennzeichnet. l’accueil du traumatique. In: Fadila Choutri (Hg.), schichtswissenschaft in Berlin, Freiburg Violence, trauma et mémoire. Algier: Casbah Edi­ im Breisgau, Montpellier und Heidelberg; Politische Häftlinge wie er, Adam und Ball­ tions, S. 27–46. Promotion (1995), Universität Heidelberg, mann haben es leichter, ihre Erfahrungen Habilitation im Fach Romanische Philolo­ zu publizieren – entsprechend häufiger lie­ Anny Dayan Rosenman, Les Alphabets de la gie (2006), Universität Potsdam. Seit 2009 gen Berichte aus dieser Gruppe vor. Shoah. Survivre, témoigner, écrire. Paris: CNRS Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Autoren wie Calembert aus Belgien Editions, 2007. Philologie I, Französische und Italienische oder der Priester Beschet aus Frankreich Willi Eifler, »Im Laufschritt auf den Ölberg!«, in: Literatur- und Kulturwissenschaft an der müssen Distanznahmen zu SS, Deutschen Bernhard Füßl, Sylvia Seifert, Hans Simon-Pelanda, Universität Regensburg, Kooperation mit und Deutschland nicht vornehmen. Hin­ Ihrer Stimme Gehör geben. Überlebendenbe­ der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg seit richte ehemaliger Häftlinge des KZ Flossenbürg. gegen sind französische KZ-Berichte klar 2010. Zu den Forschungsschwerpunk- 3 Bände. Band 1: Zwangsarbeit. Hg. von der Ar­ ten der Autorin zählen Literatur, Sprache Erzählungen eines auch in der Haft fort­ beitsgemeinschaft ehemaliges KZ Flossenbürg e.V. und Medien im Kontext von kollektiver dauernden Widerstands. Autorschaft orien­ Köln: Pahl Rugenstein, 2001, S. 32–43. Gewalt im 20./21. Jahrhundert. Zu Flos­ tiert sich hier rhetorisch und intentional an Judith Klein, Literatur und Genozid. Köln/Weimar/ senbürg: Du camp au mémorial, de la lit- Schriften von Résistance-Mitgliedern. Diese Wien: Böhlau, 1992. térature à l’Histoire. Romanische Studien Ausgangshaltung liefert eine weitere Erklä­ Onno van der Hart, Ellert R. S. Nijenhuis, Kathy 2, 2015. http://www.romanischestudien. rung für die starke Selbstkontrolle in den Steele, Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissozia­ de/index.php/rst/issue/view/3 Texten. Indirekt können darin heroisierende tion und die Behandlung chronischer Traumatisie­ Tendenzen zum Tragen kommen, die sie rung. Paderborn: Junfermann, 2008.

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Nacht und Nebel trotz allem oder »die prächtigen, fröhlichen Farben dieser Folterstätten« Bernhard J. Dotzler

Nuit et brouillard (Frankreich 1955, Re- sen deutscher Bearbei­tung verfassten; und Dimension« nachsagte, korrigierte er sich gie: Alain Resnais) ist ein anerkannt ›gu- da ist Hanns Eisler, der Komponist, der die sogleich: »Man verstehe meinen Vergleich ter Film‹. Aber kann man, ja: darf man Musik zum Film beitrug – also: »Ein Filme­ nicht als Sakrileg. Resnais wollte keine einen ›guten Film‹ über einen solch un- macher, ein Literat [oder gar zwei] und Kunst machen, sondern uns einfach mit vorstellbar ›schlechten Tatbestand‹ wie ein Musiker«,­ das heißt: »Ästhetik auf al­ der größtmöglichen Objektivität unter­ die Vernichtungslager der NS-Diktatur len Ebenen«, wie noch die gegenwärtige richten. Wenn einige seiner Aufnahmen machen? Forschung konstatiert, aufgrund eines jene Schönheit im Grauen erreichen, wie Seiner Anerkanntheit wegen sind solchen Befunds die Anklage­ einer be­ sie Callot oder Goya eigen ist, so ist diese längst alle nur denkbaren Aspekte die- züglich der Thematisierung des Holocaust Schönheit eine Zugabe.« ses Films so gründlich erforscht wie »kontraprodukti­ ven­ Über-Ästhetisierung« Resnais, muss man sich hierzu in Er­ erörtert. Beständige Aufgabe der For- erhebend. Aber Nacht und Nebel ist, wie innerung rufen, stand als Regisseur von schung bleibt aber zum einen, der Ver- noch zu präzisieren sein wird, kein Holo­ Nacht und Nebel noch ganz am Beginn sei­ störung durch eben jenes Prädikat oder caust-Film. Nacht und Nebel ist »eine der ner filmkünstlerischen Laufbahn. Aber man auch durch die eigene Wahrnehmung, bekanntesten KZ-Dokumentationen«, ein richtete nicht »das Geschick« und »den Stil« was für ein nicht nur unerträglicher, »Film über die Lager der Nationalsozialis­ seines Films, wie es unlängst dem jüngsten sondern darin bestürzend ›guter Film‹ ten«. So jedenfalls informiert die Bundes­ aller Auschwitz-Filme widerfuhr. Saul fia/ es ist, nachzugehen.­ Zum andern zielt zentrale für politische Bildung, die nämlich Son of Saul (Ungarn 2015) von László Ne­ die Kernfrage des Films auf das Wissen Nacht und Nebel auf die Liste der 35 Filme mes erhielt (u.a.) den Grand Prix der Jury über die Lager, und das, obwohl sein gesetzt hat, die sie als Filmkanon für die von Cannes, und dies wiederum erntete Abstand zum Ende der Gräuel gerade Schulen propagiert. Dessen Ziel sei es, folgenden Kommentar von der Korrespon­ einmal zehn Jahre beträgt. Sorge des »bedeu­ tenden­ Werken der Filmgeschichte dentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Films – und von ihm umsorgtes Ver- auch im Schulunterricht mehr Auf­merk­ (26.5.2015): »Ich wüsste gern, was genau mächtnis für alle (damals) Über- und samkeit zu verschaffen und so der film­ hier ausgezeichnet wurde – ein Regisseur, (heute) Nachlebenden – ist die Frage schulischen Bildung in Deutsch­land neuen­ der einen ganz neuen Zugriff aufs Thema nach dem Wis­sen, das sich aus dem, Auftrieb zu geben«, zu »sensibilisieren für wagte, über dem so lange ein Bilderverbot­ »was übrig blieb«, noch gewinnen lässt. die Vielfältigkeit dieser Kunst­form, für die herrschte, ein Fiktionsverbot? Wurden sol­ Die historischen Wissenschaften (Me- Geschichte des bedeutendsten Mediums che Diskussionen überhaupt geführt? [...] dienwissenschaft inbegriffen) mehren des 20. Jahrhunderts und für das Verste­ Oder ist Auschwitz, die industrielle Ver­ dieses Wissen Jahr um Jahr. Aber zu- hen des Films der Gegenwart«. nichtung des jüdischen Volks, inzwischen gleich wächst der Abstand und mit ihm Unversehens besiegelt damit die bis­ ein Thema wie andere auch, besonders der Grund zu eben jener Sorge. lang letzte Etappe der Distribution und unerfreulich, aber doch da, um sich an ihm Rezeption­ von Nacht und Nebel seine auszuprobieren, eine Handschrift zu entwi­ Verortung auf dem Gebiet einer Cine­ ckeln, einen originellen Zugang zu finden?« Schönheit im Grauen philie, wie bereits die ersten Kritiken sie Punkt für Punkt hätte man so auch pflegten, gerade indem sie vorgaben, ihr Nacht und Nebel infrage stellen können – Der Holocaust und das KZ-System sind abzuschwören.­ So stand am 1. Februar bis auf das eine Moment, dass die Diskus­ fraglos keine Gegenstände, mit denen l‘art 1956 in L‘Humanité zu lesen: »Über diesen sionen, auf die hier angespielt wird, erst pour l‘art zu treiben wäre. Und doch: Da Film kann man unmöglich in den üblichen später geführt wurden. Das Fiktionsverbot ist Alain Resnais, als der Regisseur, dem im Worten der Film­kritik sprechen; über die vertrat auch Resnais, wenn er in der Presse weiteren mehr und mehr film­künstlerischer Einstellung[en], die Kamera, die Kamera­ erklärt: »Wir können für alle Bilder und Ruhm zuteilwerden sollte; da sind die fahrt, das Geschick und den Stil erst recht Passagen des Films Unterlagen beibrin­ Dichter Jean Cayrol und Paul Celan, die nicht.« Und als Eric Rohmer dem Film im gen. Nicht ein einziges Bild, kein einziges den Begleittext zu den Bildern bzw. des­ selben Monat in Arts eine »fresken­glei­che ­Dokument und keine Filmszene­ wurde

Blick in die Wissenschaft 39 21 Medienwissenschaft

nachträglich ›gestellt‹ ...« Aber ein Bilder­ Widerstand gegen die verbot war Resnais’ Sache damit gerade ­Auslöschung Nacht und Nebel nicht. Als Manifest des Bilderverbots ent­ stand bekanntlich erst Shoah (Frankreich Originaltitel: Nuit et brouillard 1985) von Claude Lanzmann – was diesen Drei Kritikpunkte sind aus Lanzmanns Be­ Farbe +S/W, 32 Minuten Film zwar nicht davor bewahrte, sei­nerseits merkung herauszulesen: Erstens, Resnais’ Frankreich 1955 in den besagten Filmkanon aufgenommen Film schenke der Ermordung der Juden, Schnitt und Regie: Alain Resnais zu werden (und wie der Kunsthistoriker also dem spezifischen Genozid-Verbrechen Drehbuch: Jean Cayrol und Philosoph Georges Didi-Huberman der ›Endlösung‹, zu wenig Beachtung – und Deutsche Fassung des Kommentars: angemerkt hat, es ist ja auch nicht so, das ist durchaus­ nicht falsch gesehen. Es ist Paul Celan »dass die neuneinhalbstündige Bilder­ keine Holocaust-Dokumentation, sondern Kamera: Ghislain Cloquet, Sacha folge­ von Shoah keine Bilder zeigt«), was eine Dokumentation des KZ-Systems in sei­ Vierny aber seinem Regisseur stets Legitima­ tion­­ ner ganzen menschheitsverbrecherischen Musik: Hanns Eisler genug war, Resnais für Nacht und Nebel Gleichgültigkeit. Der am französischen Ori­ Produktion: Como/Argos entschieden zu kritisieren. So etwa – und ginal beteiligte Dichter war nicht umsonst­ Produzenten: Anatole Dauman, dort immerhin eher versöhnlich – in seiner ein KZ-Überlebender aus der Resistance­ . Samy Halfon, Philippe Lifchitz Autobiographie: Gleichwohl hat man Resnais von anderer »Nacht und Nebel ist ein schöner, idea­ Seite bescheinigt, in seinem Film sei der listischer Film über die Deportation, das Völkermord an den Juden zwar nicht als Wort ›Jude‹ kommt dort nur einmal in ei­ solcher herausgestellt, aber »in seiner gan­ »alles, was uns bleibt«, und das gilt den ner ganzen Litanei von Aufzählungen­ vor, zen Spe­zifität hinreichend berücksichtigt«. ganzen­ Film hindurch für die neu und in und die Tränen, die er unaufhörlich fließen Zweitens die Bilderfrage. Der Regisseur Farbe gedrehten Bildsequenzen von den lässt, sind das Zeichen für eine großartige Lanzmann moniert, dass Resnais’ Film die Lagerruinen ebenso wie für die Archiv­ Macht zu trösten. Ja, Nacht und Nebel ist grauen­volle Lage der Deportierten »veran­ bilder, zu denen der Kommentar deutlich trotz der Lei­chen und der grauenvollen schaulicht« habe. Sieht man sich aber etwa genug erklärt, wie eines Sinnes mit Lanz­ Lage der Deportierten, die in seinen Bil­ den Filmausschnitt über die »Wirklichkeit mann, dass »kein Bild, keine­ Beschreibung« dern ver­anschaulicht wird, ein Film über der Lager« genauer an, tritt stattdessen je adäquat sein könnten. Dennoch liefert die Lebenden, die Überlebenden, ein Film, jene Frage nach dem Wissen über die La­ der Film seine Bil­der, die neu gedrehten der ermöglicht, dass das Leben weitergeht, ger in den Vordergrund: die Frage, vor al­ wie die aus den Archiven, und vorab gegen wenn die Tränen getrocknet sind, wie nach lem, nach dem Wissen,­ das sich aus dem, die Ver­wen­dung dieser Archivbilder richtet jedem großen Leid. Ich habe das mehr als »was übrig blieb«, noch gewinnen lässt. sich Lanzmanns Kritik. Unter ebendiesen einmal gesagt, und ich bin Alain Resnais Anders als in Lanzmanns Shoah kommen Bildern findet sich nun aber auch eine der dankbar, dass er, als vor kurzem die erste Überlebende weder zu Wort, abgesehen vier Photographien vom August 1944, die DVD von Nacht und Nebel herauskam, da­ von den Textern Cayrol und Celan, noch als anonyme Aufnahmen zweier Häftlinge rum gebeten hat, diese Äußerungen von ins Bild. Kein Zeugnis irgendeines Zeugen des Son­derkommandos von Auschwitz mir aufzunehmen.« wird erfragt und festgehalten. Ausnahms­ traurige Berühmtheit erlangt haben [1]. los werden die stummen Relikte gezeigt:­ »Wenn die Krematorien es nicht schaffen, errichtet man Scheiterhaufen«, lautet der zugehörige Filmkommentar. Einäscherung Ver­gaster­ in den Verbrennungsgräben unter freiem Himmel vor der Gaskammer des Krematoriums V in Auschwitz lautet der archivalische Titel des im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau aufbewahr­ ten Bilds. Georges Didi-Huberman hat die Geschichte dieser vier Aufnahmen ausführ­ lich rekonstruiert und dabei deutlich­ ge­ macht: Es sind vier »Stücke Film, der Hölle entrissen«, vier Bilder, »der Realität von Auschwitz entrissen« – Bilder­ trotz allem. »Bekanntlich war die ›Endlösung‹ mit ab­ soluter Geheimhaltung belegt: Schweigen, absolute Nach­richtensperre«, einschließ­ lich: »Fotografieren verboten!« Und als, frei nach der Tonspur von Nacht und Nebel, die Nazis den Krieg nicht gewannen, son­ dern verloren,­ schritten sie zur »Vernich- tung der Werkzeuge der Vernichtung. So

Quelle © Argos Films 1956, Bundeszentrale für politische Bildung 2011 (DVD) Films 1956, Bundeszentrale Quelle © Argos wurde das Krematorium V im Januar 1945 1 Nacht und Nebel (Screenshot) von der SS selbst zerstört: Nicht weniger

22 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg Quelle © Argos Films 1956, Bundeszentrale für politische Bildung 2011 (DVD) Films 1956, Bundeszentrale Quelle © Argos für politische Bildung 2011 (DVD) Films 1956, Bundeszentrale Quelle © Argos 2 Nacht und Nebel (Screenshot) 3 Nacht und Nebel (Screenshot)

als neun Sprengladungen­ waren dazu nö­ so die These hier, aus sehr verschiedenen die Blocks hat sich wieder das Gras angesie­ tig, darunter eine besonders gewaltige für Gründen. Lanzmanns dritter Kritikpunkt delt«. Also geht es erstens um die erste den hitze­be­ständigen Ofen. Ein weiteres ist oder war, dass Resnais statt eines Ho­ aller Gedenkpflich­ten, die KZ-Verbrechen Mal ging es darum, Auschwitz unvorstell­ locaust-Films einen Film darüber gemacht niemals zu vergessen, die Erinnerung nie bar zu machen.« Vor diesem Hintergrund habe, »dass das Leben weitergeht, wenn erlöschen zu lassen. Da­rüber hinaus leitet bedeuten die vier der Unvorstellbarkeit die Tränen getrocknet sind«. Das ist Nacht sich aus dem über die Sache wachsenden der Lager ent­rissenen Auf­nahmen nicht und Nebel in der Tat. Nur ist, dass das Le­ Gras aber zweitens noch eine weitere Mah­ weniger als »vier Widerlegungen«. Oder ben weiterging, gemäß Res­nais’ Film nicht nung ab, nämlich die, das Gras wachsen zu genauer, um Didi-Huberman noch einmal einfach nur tröstlich. In diesem Punkt geht hören. Der Vergangenheit zu gedenken ist ausführlicher zu zitieren: »Die vier Fotogra­ Lanzmanns Kritik­ wiederum­ durchaus fehl. eines; ein anderes ist, die Gegenwart zu be­ fien, die dem Lager von den Mitgliedern Längst, stellt der Film an seinem Anfang fragen und auf die Zeichen zu achten, ob des Sonderkom­man­dos entrissen wur­ wie seinem Ende fest, obwohl doch kaum und wo und wie das Unheil heute dräut, den, sind also auch vier Widerlegungen. mehr als zehn Jahre seitdem vergangen wenn nicht schon geschieht – ob, wo und Sie wurden einer Welt entrissen, die nach sind, hat Gras über die Sache zu wachsen wie also heute Widerstand angezeigt wäre. dem Willen der Nazis dunkel bleiben sollte: begon­ nen.­ Auschwitz, Buchenwald, Maj­ In diesem Sinne ist Resnais’ Film ein Film ohne Worte und ohne Bilder. In einem danek,­ Bergen-Belsen … »Ein eigentüm­ darüber, dass das Leben weitergeht, und Punkt stimmen sämtliche Untersuchun­ ­gen liches Grün bedeckt die müde getretene Celan, der »der Tod ist ein Meister aus über das Universum der Konzentrationsla­ Erde«. »Auf den Appellplätzen und rings um Deutschland« gedichtet hatte, übersetzte ger seit langem überein: Die Lager waren Laboratorien, Experimentiermaschinen ei­ ner umfassenden Auslöschung.« Ebendies gelang den KZs aufs Schlimmste, aber nicht restlos. Jenes »er­ ratische Korpus aus Bildern trotz allem« widerlegt schlicht das Dogma, »über Au­ schwitz [ließe sich nur] in den absoluten Begriffen des ›Unsagbaren‹ und ›Un­vor­ stellbaren‹« sprechen. Stattdessen sind jene Bilder eben Bilder, »durch nichts zu entkräften«, sind also Widerstand gegen den »absoluten Willen zur Auslöschung«, und nicht zuletzt dieser Widerstand ist Gegenstand und Thema, ist die Frage des Films von Resnais.

Präsens der Präsenz

Deshalb ist es auch nur konsequent, wenn

Resnais die »Äußerungen« Lanzmanns­ über für politische Bildung 2011 (DVD) Films 1956, Bundeszentrale Quelle © Argos seinen Film akzeptierte. Es geschah nur, 4 Nacht und Nebel (Screenshot)

Blick in die Wissenschaft 39 23 Medienwissenschaft

ten, der Rückblende und der falschen Pie­ tät des Erinnerungsbildes zu ent­kommen.« So stellt sich Nacht und Nebel also durchaus in den Dienst der Geschichte, der Gedächtnispolitik; vor allem aber ist Nacht und Nebel gleichsam ein ›Film im Präsens‹, nämlich dem Präsens der Präsenz einer Kamera. Das ist zugleich sein politi­ scher Einsatz und seine l‘art pour l‘art-Di­ mension, sein l‘art pour l‘art-Wagnis und dessen politische Dimension, sein Wille zu einem bestimmten Kamera-Stil wie zu den »prächtigen, fröhlichen Farben«. Man hat, trotz oder im Anblick auch dieser Farbigkeit, von der »erschreckenden Sanftheit«­ (François Truffaut) von Nacht und Nebel gesprochen, ebenso wie man – auf denselben Ein­druck bezogen – den Kamera-Stil, den Resnais hierfür erfand,

Quelle © Argos Films 1956, Bundeszentrale für politische Bildung 2011 (DVD) Films 1956, Bundeszentrale Quelle © Argos als den einer »subjektlosen Kamerafahrt« 5 Nacht und Nebel (Screenshot) (Alain Fleischer) bezeichnet hat: »Eine schein­subjektive Fahrt«, die »den Blick von niemandem verkörpert«, sondern »eine un­ als Cay­rols Kommentar gleichsam die Ge­ Farbe den Blick zu verändern, den man für sichtbare Kamera in Szene setzt, einen geis­ genfrage, ob »all das« tatsächlich »nur einer gewöhnlich auf diese Dinge richtet – den terhaften Blick, der die leeren Orte eines Zeit und nur einem Lande angehört«. Blick einer betrübten Hommage, einen tragischen Rätsels durchstreift, als wolle er Es ist die Schlusssequenz, die mit dieser Trauerflorblick.« Dezidiert sollte es also ein sie lesen, sie entziffern«. Um diesen Gestus Frage endet, und wie auf der Kommentar- Farbfilm sein, in den die schwarz-weißen des Resnais‘schen Kamera-Stils zu erfassen, Ebene der Hinweis auf das wachsende Gras Archivbilder montiert werden würden, um könnte man vielleicht vom Prinzip einer dieses Ende mit dem Anfang des Films ver­ unmissverständlich zu zeigen, dass Nacht Wahrung des Außen sprechen, und dieses bindet, so auf der Bild-Ebene das entspre­ und Nebel ein historischer Film für die Ge- Prinzip im­pli­ziert zweierlei. Erstens heißt chende Grün und die langsamen, langen genwart ist. »Der ganze Einsatz von Nuit Wahrung des Außen auch, dass Resnais Kamerafahrten über die Grünflächen et brouillard bestand darin, das Gedächt- sich oder seinen Film bis zu einem gewis­ [2, 3]. Von Beginn der Filmkonzeption an nis durch den Widerspruch zwischen den sen Maß gegen seinen Auftrag (und es ist war klar, dass die neuen Aufnahmen vor unvermeidlichen Dokumenten der Ge- ein Auftragsfilm, das sollte man nicht au­ Ort – Auschwitz und Majdanek – in Farbe schichte und den wiederkehrenden Kenn­ ßer Acht lassen) verwahrt. Zweitens bringt gedreht werden sollten. So erläuterte es zeichen der Gegenwart zu erschüttern«, es ein nahezu zynisches Paradox ans Licht, der Kameramann Ghislain Cloquet [4]: so hat Didi-Huberman dieses Moment auf das diesem Auftrag und seiner Er­füllung in »Es sollten die Bäume im Herbst zu sehen den Punkt gebracht. Oder noch ein wenig Form einer Besichtigung der KZ-Überreste sein, die prächtigen, fröhlichen Farben die­ pointierter und mit dem französischen Phi­ durch eine Kamera in­newohnt. ser Folterstätten […]. Resnais wollte eine losophen Gilles Deleuze: »Nuit et brouillard »Vor allem habe ich es mir zur Aufgabe lebhafte Farbe. Er versuchte, durch die kann als die Summe der Möglichkeiten gel­ gemacht, die Menschen sehen zu leh­ren«, hatte David Wark Griffith am Beginn der Filmgeschichte erklärt. Der Film, würde eine davon abgeleitete, prominente Theorie nur Nacht und Nebel gehört zu den frühen Dokumentarfilmen des vielfach ausge­ kurze Zeit nach Nacht und Nebel erläutern, zeichneten französischen Filmemachers und Regisseurs Alain Resnais (* 1922, sei »in einzigartiger Weise dazu geeignet, † 2014), der einem weiten Publikum nicht nur durch Kurzfilme und Dokumenta­ physische Realität wiederzugeben und tionen, sondern mehr noch seine Spielfilme wie Hiroshima, mon amour, Letztes zu enthüllen«: »Nun gibt es verschiedene Jahr in Marienbad, Das Leben ist ein Chanson oder Smoking/No Smoking bekannt sichtbare Welten […]. Die einzige Realität wurde. Resnais pflegte in den 50er und 60er Jahren enge Kontakte zu den linken aber, auf die es hier ankommt, ist die wirk­ Intellektuellen des sog. Rive Gauche, einer Bewegung, die neue politische und lich existierende, physische Realität – die ästhetische Ausdrucksformen im europäischen Kino etablierte. Resnais’ Filme wa­ vergängliche Welt, in der wir leben.« Man ren oft dokumentarisch und fast immer politisch, sie berührten u. a. den Zweiten kann sie auch »materielle Realität« oder Weltkrieg, den Algerienkrieg, den Spanischen Bürgerkrieg. Dabei arbeitete er mit »physische Existenz« oder schlicht »Leben« Schriftsteller*innen wie Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet oder Jorge Semprun nennen. Film, so der bekannte Buchtitel, zusammen. Seine Filmographie reicht bis in die 2000er Jahre. Sie endet mit dem bedeutet also The Redemption­ of Physical 2014 beim Berliner Filmfestival präsentierten Aimer, boire et chanter, nach dem Reality oder Die Errettung (oder richtiger Theaterstück Life of Riley des britischen Dramatikers Alan Ayckbourn. sogar: die Erlösung) der äußeren Wirklich- keit. – Was aber vermag eine Kamera, ein

24 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

Film dann, wenn es um eine Wirklichkeit Täter taten oder im Präsens des Films noch zugleich Verachtung und Ignoranz; die geht, die radikal der Auslöschung phy­ einmal tun: »Man schließt die Türen. Man Unwissenheit und Unfassbarkeit auf Sei­ sischer Existenz verschrieben war? »Die beobachtet«. Damit handelt es sich in die­ ten der Opfer; und die Frage nach der Wirklichkeit der Lager«, paraphrasiert die ser Sequenz zugleich um die Position und Position der Nachwelt. Als, wie eingangs Voice Over diese Frage: »die sie geschaffen doch nicht die Position der SS-Angehöri­ zitiert, »eine der bekanntesten KZ-Doku­ haben, ignorieren sie, und die sie erleiden, gen, denn ins Bild gesetzt ist eben ein Blick mentationen« bestürzt Nacht und Nebel können sie nicht fassen.­ Und wir, die wir auf diese Beobachtungsposition,­ nicht der seine Betrachter auf allen Ebenen. Aber nun zu sehen versuchen, was übrig blieb«? Blick durch das Guckloch selber. Resnais die eigentliche­ Verstörung resultiert aus verwahrt seinen Film also gegen den Tä­ der Wissensfrage und aus den Ambivalen­ terblick, um stattdessen, wie Sylvie Linde­ zen, die er um ihretwillen als sein Risiko Verwahrung des Blicks perg eindrucksvoll herausgearbeitet hat, auf sich genommen hat: Vielleicht ist das »ein Bild im Präsens herzustellen, das arm KZ-System nur begreifbar aus der Position Der Auftrag, diesen Versuch zu unterneh­ an Gewissheiten ist«. Was nämlich, wenn seiner Betreiber – aber es gilt doch, sich men, ereilte Resnais von Seiten des Comité man jenen Blick meidet: Was und wieviel gegen deren Blick zu verwahren. Unerläss­ d‘histoire de la Deuxième Guerre mondiale. vermag man dann noch zu sehen? lich bleibt die Gedächtnispolitik des Dies- Zu den Mitwirkenden zählten daher auch Schließlich gilt es auch zu bedenken, darf-niemals-vergessen-werden – aber es die im Vorspann genannten Historiker*innen dass der Film einen Nazi-Ausdruck zum gilt doch zugleich, »der Rückblende und Henri Michel und Olga Wormser. Letztere Titel gewählt hat. Der im Dezember 1941 der falschen Pietät des Erinnerungsbildes würde später in ihrem Buch Le Système in Kraft gesetzte Führererlass, der die »NN- zu entkommen«.­ Man muss, was gesche­ concentrationnaire­ nazi (1933–1945) ei­ Deportation« einführte, erhob das spurlose hen ist, dokumentieren – aber nicht durch nen bis dahin unerhörten Standpunkt für Verschwindenlassen zur regulären Maß­ einen Dokumen­ tarfilm­ der Gewissheiten, ihre historische Arbeit definieren, nämlich nahme, durch die die Verschleppten nicht der »Beweisverwaltung« (Lindeperg), son­ den, »nicht die Position eines Deportierten nur die Torturen ihrer Gefangenschaft erlei­ dern durch einen Doku­mentarfilm der einzunehmen, der das von ihm erlittene den sollten, sondern auch die doppelte Un­ Ungewissheit, der den Auftrag, wissen zu System beurteilt, sondern die eines Ange­ ge­wiss­heit erstens der eigenen Unkenntnis sollen – auch und gerade das, was heute hörigen der SS in der Konzentrationslager­­ über ihr Schicksal wie zweitens der­jenigen, geschieht –, immer neu erteilt. hierarchie, der sich bemüht, das System zu dass auch niemand sonst Kenntnis über ih­ begreifen, das anzuwenden er auf­gefordert ren Verbleib haben würde. Wieder also die ist«. Der Blick der Täter also – und diese Per­ Vernichtungspolitik der Geheimhaltung, Literatur spektive ist gleichzeitig in Ansätzen bereits Unvorstellbarkeit der Geschehnisse, Aus­ Catrin Corell, Der Holocaust als Herausforderung in die Konzeption von Nacht und Nebel ein­ löschung. »Nacht und Nebel« ist Ausdruck für den Film. Bielefeld: transcript 2009. geflossen und ein Moment, gegen das sich perfide zeuger­ ter­ Unge­ wiss­ heit­ und der Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt/ der Regisseur erkennbar verwahrt. gleichnamige Film erst als Ausdruck einer Main: Suhrkamp, 1991. Namentlich die Verwendung von Pro­ Auseinandersetzung mit diesem Ausdruck Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem. Mün­ pagandafilmmaterial, wie es sich unter ganz begriffen. Der Filmtitel, könnte man chen: Fink, 2007. den herangezogenen Archivbildern findet, sagen, adaptiert seinerseits zugleich die Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Erret­ reproduziert fraglos die Täterperspektive. Nazi-Perspektive und ist Hinweis auf die tung der äußerlichen Wirklichkeit. Frankfurt/Main: Auch unter den neu gedrehten Filmse­ quälende Ungewissheit aller anderen Per­ Suhrkamp, 1964. quenzen ließen sich verschiedene Beispiele spektiven: die der KZ-Opfer, und die der Sylvie Lindeperg, »Nacht und Nebel«. Ein Film in nennen. Das wohl bezeichnendste aber ist eigenen »was übrig blieb«-Frage. der Geschichte. Berlin: Vorwerk 8, 2010. die Gaskammer-Sequenz. Auf der Bildspur Dieses Moment – diese Wunde – also Onlineressourcen: http://www.bpb.de/shop/ ist ein kleines, schwarzes Guckfenster zu insistiert. Von Anfang bis Ende des Films multimedia/dvd-cd/33877/filmkanon-nacht-und- sehen [5], und die Tonspur erklärt, was die geht es um die Planungen der Täter mit nebel

Prof. Dr. Bernhard Dotzler wurde 2004 auf den Lehrstuhl für Medienwissenschaft am Insti­ tut für Information und Medien, Sprache und Kultur der Universität Regensburg berufen. Er studierte Germanistik, Philosophie und Kulturwissenschaft in Freiburg, Siegen, Bochum und Berlin. Nach Tätigkeiten als Referent in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates (Köln) und für die Fördergesellschaft wissenschaftlicher Neuvorhaben (Berlin) war er 1996 bis 2000 Wis­ senschaftlicher Assistent am Institut für deutsche Sprache und Literatur sowie Projektleiter am Sonderforschungsbereich SFB/FK 427 (»Medien und kulturelle Kommunikation«) der Univer­ sität zu Köln. 1997 Gastdozent an der University of Cambridge, UK. 1998 Gastprofessor für Medienwissenschaft an der Akademie der bildenden Künste, Nürnberg. 2000 bis 2004 For­ schungsdirektor für Literatur- und Wissenschaftsgeschichte am Zentrum für Literaturforschung Berlin. 2010 Kade Visiting Professor an der University of California, Santa Barbara. 2018 Char­ lotte M. Craig Distinguished Visiting Professor, Rutgers University, School of Arts and Sciences.

Forschungsschwerpunkte: Medien und Wissen, Archäologie der Medien(wissenschaft),

Foto © Julius Dotzler Foto ­IT-Geschichte, Werbeforschung, Kriminologie und Gewaltforschung.

Blick in die Wissenschaft 39 25 Neuere deutsche Literaturwissenschaft

Gedeih und auch Verderb Mindestens 250 Jahre Granitabbau in ­Flossenbürg Ursula Regener

Auf den Böden und Geländern der Stei- »Ein sonderbar Gestein wird hier wendung und Verbreitung­ des urkundlich nernen Brücke wurde er bei der letzten verarbeitet« seit 1769 in den groß­räumigen Wäldern Restaurierung verlegt. Höfe und Inte- um Flossenbürg abgebauten Granits [3]: rieur des Klosters Waldsassen sind mit Zwei Jahre bevor Goethe seine Italienische­ ihm generalsaniert, Denkmäler, Grab- Reise antrat, hatte er sich intensiv »Über steine, Skulpturen aus ihm gehauen.­ den Granit« ausgelassen und seine Neutra­ Granit aus Flossenbürg ist in der Ober- lität im Basaltstreit zwi­schen Neptunisten pfalz omnipräsent, die erbauliche,­ aber und Plutonisten kundgetan. So verwundert auch zutiefst beschämende­ Geschichte­ es nicht, dass Goethe, als er auf seinem seiner Ge­winnung ist bislang längst Weg nach Italien vom 4. auf den 5. Sep­ nicht vollständig erforscht. Der Beitrag tember 1786 in Regensburg­ weilt, in sei­ versucht, die verschieden­ perspektivier- nem Reisetagebuch festhält: ten (regional-)geschichtlichen und lite- rarischen Informationen so aufeinander »Ein sonderbar Gestein wird hier verarbei- abzustimmen, dass ein transdisziplinä- tet, zu Werckstücken, eine Art Todtliegen- res Forschungsfeld sichtbar wird. des, doch von dem, was ich für älter und ursprünglich erkenne. Es ist grünlich, mit Quarz gemischt, löchrich und finden sich grose Stücke des festesten Jaspis drin, in welchen wieder kleine runde Falden von Todt liegendem sich befinden« 3 Ausschnitt aus Post-Karte von Baiern. Mün­ chen 1812. Berücksichtigt man die von Paul Praxl Quelle: Bayerische Staatsbibliothek, Mapp. XI,54 m, mit Markierung des Abbaugebietes von sogenanntem Flossenbürger Granit. zusammengetragenen­ Informationen aus der Geschichte­ des Granitgewerbes in Ostbayern­ über zeitgenössische Abbau­ »Die sogenannten Flossenbürger Steine gebiete­ und Verkehrswege in der Ober­ sind wohl jedem Oberpfälzer bekannt; um pfälzer Region, dann führt die einzige dort so mehr verdienen die Orte und Umstände aufgeführte Quelle, die zur Beantwortung­ ihrer Verarbeitung eine nähere Beschrei- der Frage nach den Werk­stücken und der bung. Herkunft des Gesteins beiträgt, nach Flos­ Das Granitgebürge, in dem sich diese

Foto: UR/Alexander Woiton Foto: senbürg. Stein­brüche befinden, fängt am neuen 1 Helmut Langhammer: »Aufgebrochener Hammer­ im Lobkowizischen an, zieht Würfel« (1978) aus Granit vom Flossenbürger sich von da über Wald­kirch, Flossenbürg, Säuberg. »Die sogenannten Flossenbürger in die Flosser Waldung­ Lacherin, von da Steine sind wohl jedem Oberpfäl- bey Freyhüfen in die Pleßberger und Wil- zer bekannt« denauer Waldungen, dann seitwärts des Gränzbaches über einen Theil des Stifts Waldsassen gegen Bernau. […] Im Granite Höcks »Zusätze und Berichtigungen zu dem selbst ist in diesem ganzen Gebirgszug kein Geographisch­ -Statistisch-Topogra­ phi­ schen­ merk­licher Unterschied; nur läßt sich der Lexikon­ von Baiern« von 1802 berichten über Flossenbürger­ Granit wegen seines fei- 2 Schattierungen des Flossenbürger Granits. Fotos und Montage: Ursula Regener Bekanntheit, Lage, Be­schaffenheit, Ver­ nem Kerns et­was feiner bearbeiten; und

26 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

da auch in solchen die beträchtlichsten größten Steinbruch am Schlossberg hatte Vorhandensein solcher industrieller Unter­ Steinbrüche sind, so wer­den die Steine ge- 1910 Karl Egerer von Wilhelm Jacob über­ nehmungen. wöhnlich Flossen­bür­ger ge­nannt. nommen. Am 2. März 1939 wurde für das Da herrscht dann ein reges Treiben. Die Steinarbeiten bestehen meistens in Gebiet Natur­schutz verordnet. Hunderte von schweren Hämmern sind Thür- und Fenstergerichten, Stadeltenn-, Da Wirtschaftsgeschichte immer auch in Bewegung, die nur auf Minuten ruhen, Geschwell, Pflasterplatten, Gartensäulen, So­zial­geschichte ist, sei hier er­wähnt, dass wenn von der Grundmasse größere Blöcke Krautfässern, Anmischgrand, Wassertrö- Flossenbürg mit seinem 1872 gegründe­ mittels Sprengschüssen­ losgelöst werden, gen, Röhrkästen, Bräuhaus-, Meichkästen, ten Arbeiter-Unterstüt­ zungs­ verein­ eine wobei sich die Arbeiter gegen die oft weit- Gartenbassins, Tröbergruben und andern Vorreiterrolle in der für die politische Sta­ hin geschleuderten Steinsplitter zu decken dergleichen, welche aber nicht in Vorrath, bilität der Bis­marckära­ entscheidenden haben. sondern blos auf Bestellung gemacht wer- Sozialgesetz­ gebung­ zukommt. Der erste Die einen richten die rohe Form zu- den. […] Akkordlohntarif­vertrag »für die Granit­ recht, andere besorgen die feinere Aus- Sie [die Steinhauer] verkaufen übrigens werke des Bayerischen Waldes«­ datiert von arbeitung, in der bei dem Bruche befind- sicher um 2000 fl jährlich und sezen ihre 1908. [4] lichen Schmiede werden die abgenützten Arbeiten im Nürnbergischen,­ Bambergi- Instrumente wieder geschärft, Fuhrwerke schen, in Böhmen, das meiste aber gleich stehen bereit, auf welchen mittels Winden im Lande ab.« (Sp. 51–52) die schweren Stücke verladen und fortge- fahren werden« Das für das weit über die Gemeinde Flos­ senbürg hinausgehende »Granitgebürge«­ Wie in den anderen Industriezweigen Gesagte gilt im Großen und Ganzen für der Zeit machte das auf­kom­mende Akti­ alle zeitgenössischen Abbau­gebiete Ost­ enwesen auch vor dem zu Investitionen

bayerns (neben Flossenbürg: Metten, Eber­ - Gedenkstätte Flossenbürg genötigten Granitgewer­ be­ nicht Halt. hardsreuth, Waldkirchen und Hauzenberg). Vergesellschaftungen­ und Fusionierungen­

Adalbert Stifter, des­sen Beobachtun­ © KZ Foto mündeten in die 1888 in Regensburg­ - gen von Oberplan ausgehen,­ hat seine 4 Steinarbeiter der Flossenbürger »Schlossberg gegründete Bayerische Granit-Aktien-Ge- das »Sanfte Gesetz« pro­klamierende­ No­ Granitwerke« 1912, Privatbesitz. sellschaft. [5] vellensammlung Bunte­ Steine betitelt und eine der Er­zäh­lungen schlicht »Granit« genannt. »Der alte Steinbauer […] war ein tüchtiger Geschäftsmann« »eine Haupternährungsquelle Die Industrialisierung des Steinhauer­ der in dieser Gegend wohnenden gewer­bes ist auch für die (früh-)rea­li­sti­ Bevölkerung« sche Erzählkunst von Interesse. 1889 lässt der ostbayerische Schrift­steller Ma­xi­mi­lian Schmidt seine Erzählung »Der Primiziant« 1814 konnte die Flossenbürg den Schloss­ vor der Kulisse des südöstlichen­ Bayeri­ berg (mit der Burgruine) vom inzwischen­ schen Waldes spielen und setzt damit dem Königreich gewordenen Bayern erwerben Deichbauwissen, das ein Jahr zuvor durch und über den erhobenen­ »Bruchzins« die Theodor Storms »Schimmelreiter« Verbrei­ Gemeindekasse auffüllen. Dies lohnte tung fand, eine realhistorisch fundierte umso mehr, als der Bedarf an Granitwür­ Geschichte aus dem Arbeits- und Erwerbs­ 5 Werbung der Bayerischen Granit-Aktien- feln und anderen Bausteinen­ durch die zu­ leben der gro­ßen und kleinen Steinbauer Gesellschaft 1910. nächst in den Residenzstädten vorangetrie­ entgegen: Quelle: Paul Praxl, »Eine Haupternährungsquelle in dieser Gegend«. Die Geschichte des Granitgewerbes in Ostbayern. In: Winfried Helm bene Stra­ßen­bepflasterung (ab 1811 von (Hrsg.), Granit. Salzweg: Tute Druck 2007, S. 77–214, hier S. 202, ohne Bildnachweis) Wien ausgehend), Kirchenbauten, Ufer­be­ »Allenthalben fin­det man denn auch im festigungen (Donaulände Passau) und den sogenannten Vorder- und Passauerwalde im Zusammenhang mit dem Ausbau des großartige Brüche,­ in welchen eine Menge Eisenbahnnetzes benötigten Brücken (Ilz- Grabmonumente, Was­ser­behälter, Vieh­ Trat diese im Bericht der Regensburger und Innbrücke), Tunnel- und Gleisan­ ­lagen barren, Fensterstücke, Platten, Quader­ Industrie- und Handelskammer von 1914 im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchs. stücke, Gesimse, Säulen und Pflasterwür- noch wirtschaftsstark auf, wurden die 1886 erreichte dieses Schienennetz­ Floss, fel aus diesem Material gefertigt werden, guten Prognosen nach­einander durch die Strecke nach Flossenbürg wurde 1913 die, nach dem In- und Auslande versendet, den Ersten Weltkrieg, die schlechte­ Auf­ fertig. In diesem Zeitraum sind sowohl ein eine Haupternährungsquelle der in dieser tragslage und Inflationen in den Nach­ sprunghaftes­ Wachstum als auch die all­ Gegend wohnenden Bevölkerung bilden. kriegsjahren durchkreuzt. Erst infolge der mähliche Technisierung des Granitge­wer­ Mehrere hundert Arbeiter sind oft in einem Pflasterstein­kon­tingente, die im Zuge der bes zu verzeichnen. solchen Bruche beschäftigt und schon auf Reparationsvereinbarungen­ nach Frank­ 1913 bauten in Flossenbürg 300 Ar­ weite Entfernung kennt man durch den reich und Belgien abgeführt werden muss­ beiter in 25 Steinbrüchen Granit ab. Den oft hoch aufgeschichteten Abraum das

Blick in die Wissenschaft 39 27 Neuere deutsche Literaturwissenschaft

ten, prä­sentierte sich die Aktiengesellschaft 1925 wieder selbstbewusst. [6] © Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände D0245 - 01 6 Standortkarte der Betriebe der Bayerischen 7 Anzeige der »Arbeitsgemeinschaft Natursteinlieferungen« von 1937. Granit-Aktien-Gesellschaft. Quelle: Organisationsleitung des Reichsparteitages (Hrsg.): Führer zum 9. Reichsparteitag der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zu Nürnberg vom 6. bis 13. September 1937. München 1937, S. 116–117. Quelle: Alfred Kuhlo (Hrsg.), Geschichte der bayerischen Industrie, München 1926, S. 473.

Diese Hochzeit endete mit der 1929 ein­ Natursteinlie­fe­run­gen« nieder, der fast 300 die den Inhaftierten entgegenschlug, jedes setzenden Weltwirtschaftskrise. Durch den Firmen angehörten, die den ungeheuren bisherige Verständnis von Arbeit und damit Zusammenschluss zu einer Arbeits­ge­mein­ Bedarf an Natur­steinquadern, die den Vor­ auch die ökonomisch-humane Logik, wo­ schaft der Bayer. Pflaster­ industrie­ rechts stellungen des NS-Architekten Albert Speer nach die Quantität und Qualität der Pro­ des Rheins G.m.b.H. hofften Granitunter­ ent­spra­chen, zu decken ver­suchten. [7] duktion von Motivation und Verfasstheit nehmen in Ostbayern 1932, überregionale Die sich abzeichnenden Lieferengpässe der Arbeiterschaft abhängen. Auftraggeber bes­ser auf sich aufmerk­ und ihre mittlerweile gewonnene Organi­ In Flossenbürg wurden die ortsansässi­ sam machen zu können.­ Ein Jahr später, sationshoheit über die Konzentrationslager, gen Betriebe durch die Stilllegung des Ab­ nach der ›Macht­über­nahme‹, konnten sie nutzte die SS, eine eigene Granitindustrie baugebietes am Schlossberg ausgeschaltet. tatsächlich vom national­so­zialistischen aufzuziehen, die jenseits von Arbeitsrecht Damit standen die arbeitslos gewordenen Grenzlandauf­ bau­ pro­ gramm­ für die »Baye­ und Menschenwürde agierte. Ab 1938 Steinhauer und Steinmetze der DESt als rische Ostmark«­ profitie­ ren,­ in dessen völki­ firmierte sie unter dem Dach der neuen Vorarbeiter zur Verfügung. 87 zivile Mitar­ scher Propaganda auch der mit der Arbei­ »Deut­sche Erd- und Steinwerke GmbH« beiter fanden Beschäftigung. Flossenbürg, terbewegung solidarische Berufsstand der (DESt) und setzte die Konkurrenz syste­ das seine Einwohnerzahl 1939 auf 2281 Steinhauer zum Prototyp deutscher, kraft­ matisch unter Druck, indem sie Inhaftierte verdoppelte, geriet so binnen kürzester strotzender Männlichkeit umcodiert wurde. unent­geltlich zur Schwerstarbeit zwang. In Zeit in eine ökonomische und politische Ab 1934 ver­zeichnete die Bayerische Buchenwald, Groß-Rosen, Natzweiler, Gu­ Abhängigkeit von der SS. [8] Gra­nit­industrie aufgrund des hy­pertrophen sen, Mauthausen­ und Flossenbürg wurden Baupro­ gramms­ zur Umge­ staltung­ Berlins Konzentrationslager in unmittelbarer Nähe und anderer »Führer«-Städte Vollbe­schäf­ zu Stein­brüchen angelegt. Hinter der Fas­ Aufbau des Konzentrationslagers tigung. 1937 schlug sich diese Konjunktur sade eines traditionellen Industriezweigs und Erschließung der Steinbrüche in der Gründung der »Arbeits­ ­gemeinschaft unterminierten die Willkür und Brutalität,

Der Ort war durch seine über die »Arbeits­ gemeinschaft Naturstein« abgewickel­ ten­ Granitlieferungen in Betracht gekommen. Dass der damalige Regierungs­prä­si­dent von Niederbayern und der Oberpfalz, Wilhelm Freiherr von Holzschuher, seit 1928 NSDAP-Parteigänger, seit 1934 SS- Gruppenführer, forcierte den Pachtvertrag zwischen Bayern und der DESt über das

- Gedenkstätte Flossenbürg 52 000 qm große Abbauareal am Wurm­ stein. Noch bevor dieser unterschriftsreif

Quelle © KZ war (1. Juli 1938, Laufzeit 10 Jahre), war 8 Briefkopf der DESt Flossenbürg, 1943. mit der Anlage des zunächst auf 300 Häft­

28 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg Foto © KZ Gedenkstätte Flossenbürg © KZ Gedenkstätte Flossenbürg Foto © Image Bank WW2 – NIOD Foto 9 Steinmetzhalle, aus einem Album der Firma Messerschmitt, um 1943. 10 Gestelltes SS-Foto von 1942.

linge und 200 SS-Angehörige berechneten­ Berlin, aufgrund dessen Heinrich Himmler bis April 1945 in Flossenbürg überlebte Konzentrations­ lagers­ begonnen­ worden. von Flossenbürg eine Verdreifachung des und aus dessen Erinnerungen deutlich Bereits am 3. Mai 1938 hatte der erste Ausstoßes auf 12 000 cbm erwartete, wor­ hervorgeht, wie stark solche programma­ Transport mit 100 Häftlingen aus dem KZ auf die SS-Führung Expansionspläne für das tischen Verlautbarungen von den tatsäch­ Dachau die Baustelle­ erreicht. Sie mussten Konzentrations­lager entwarf. lichen Torturen im Steinbruch abweichen: die ersten Lager­baracken er­richten. Diese betrafen das Steinbruchareal, das Durch die Zwangsarbeit weiterer 1000 auf 130 000 qm erweitert wurde, die Ka­ »Ich möchte sagen, dass dieses Flossen- in der NS-Terminologie so genannte »Be­ sernen- und Verwaltungsbauten (nicht rea­ bürg für mich auf immer und ewig die rufsverbrecher« und »Vorbeugehäft­ linge«­ lisiert) sowie die Erhöhung der Aufnahme­­ Hölle darstellen wird und gebe Gott, dass waren bis Ende 1938 drei Steinbrüche­ kapazität für Häftlinge auf 8000 bis 9000 sich so etwas nicht wiederholen möge! […] erschlossen und das mit Wachtürmen­ (durch Überbelegungen umgesetzt). Mir wurde auch gestern die Frage und Stacheldraht um­zäunte Lager mit Die »Neue Planung Flossenbürg« vom nach dem Steinbruch gestellt. Wohin ka- Häft­lings-, Kommando- und Arbeitsein­ 20. Februar 1941 enthielt zudem Ideen men diese Steine? Wofür wurden sie ge- satzzonen im pervertiertesten Sinn des »über Prof. Speer auf Aufhebung des [seit macht? […] Es gab würfelförmige, parallel Wortes »betriebsfähig«. 1939 wurde die 2. März 1939] bestehenden Naturschut­ epipedartige, rechteckige,­ manche Steine Belegungskapazität auf 3000 Gefangene­ zes« am Schlossberg zu drängen, sowie in wurden für den Straßenbau­ bearbeitet. und 400 SS-Wachmänner ausgebaut. Auf acht zusätzliche Steinmetzhallen,­ die Be­ Die Steine wurden weggebracht. Es kamen dem Steinbruchareal wurden Maschinen­­ schaffung mo­dern­ster Maschinen und den Fahrer; einige von ihnen kannten wir be- haus, Schmiede, Schreinerei, Ge­folg­ Ausbau des Schienennetzes zu investieren. reits. Sie kamen sogar aus Nürnberg. D.h. schafts­haus, Garagen, Werks­hal­len erstellt. Von einer Erhöhung der Zivilsteinmetze auf unsere Steine aus Flossenbürg wurden na- Gefertigt wurden vorwiegend Pfla­ster- und 50, der »Häftlings­steinmetze« auf 1200 türlich auch in Nürnberg­ zum Bauen ver- Bruchsteine sowie Granitsand. Treppenstu­ und 1000 wei­teren angeleiteten Häft­lingen wendet. […] fen und Boden­platten für SS-Bauprojekte versprach man den Entscheidungsträgern Können Sie ein bißchen von der Arbeit gehörten zu den Aufträgen, die nur mit die entsprechende­ Leistungsfähigkeit.­ im Steinbruch im Winter erzählen? Knowhow zu bewerk­stelligen wa­ren. [9] So sollte ein Prog­ramm für zunächst 179 »Häft­lings­lehrlinge« ab November 1940 si­ chern, dass die Professionalität der Arbeiter vor Ort stieg. Die »Lehrlinge« sollten einen »12 bis 15 000 cbm von V. ­Stein­metzen bearbeitete Steine 10-wöchigen Theorie­ ­kurs absolvieren und ­scheinen möglich!« danach als »Häft­lings­vor­männer« ihrer­seits Gefangene,­ die praktische Vorkennt­ nisse­ hatten, anlernen. [10] Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive zeichnete sich von Anfang an ab, dass die Folterbedingungen nicht zur Produktivität »Ich möchte sagen, dass dieses beitragen konnten. 1940, als aufgrund der Flossenbürg für mich auf immer mi­serablen körperlichen Verfassung der und ewig die Hölle darstellen Häftlinge die Granitproduktion nur auf 4000 cbm Steine kam, wurden in Flossenbürg wird« »400 z. T. angelernte Häft­lingssteinmetze«

von 30 Zivilsteinmetzen­ angeleitet. Anlass Einer dieser Lehrlinge war Sergej Illario­ e. der Arbeitsgemeinschaft Ehemaliges KZ Flossenbürg © Archiv Foto für die Bemühungen um Bilanzen war die nowytsch Rybalka [11] aus der Ukraine, 11 Sergej Illarionowytsch Rybalka nach seiner Wiederaufnahme des Bauprogramms für der seine Inhaftierung von November 1942 Befreiung 1945.

Blick in die Wissenschaft 39 29 Neuere deutsche Literaturwissenschaft

Das war offensichtlich genau der Sinn des Steinbruchs. Darin bestand der Nutzen des Steinbruchs für die SS. Zuerst trug ich Steine. Steine trug ich. Dann trug ich das Werkzeug für die, die die Steine bohrten. Ich begleitete den Schmied. Kochal hat mich so hart geschlagen, dass ein ziviler Meister mir beigesprungen ist und fragte: »Was soll das?« Dieser Meister hat mir ge- holfen. Er zeigte mir, wie man an den Stei- nen arbeitet, wie man sie zerteilt mit dem Luftdruckhammer. […] Mit diesem Ham- mer höhlte man den Stein keilförmig aus. Und solche Aus­höhlungen machte man viele. In einem Stein alle 10–20 cm eine kleine Aushöhlung, aber tief. In diese Aus- höhlungen wurden Keile eingeschlagen. Man schlägt mit dem Ham­mer darauf und der Stein zerbricht. […] Das war alles im Freien. Bei jedem Wetter, egal ob Regen, Schnee oder Frost, saß ich auf einem Stein 12 Fotomontage aus Luftbildern von Flossenbürg, US Air Force. 23. März 1945. und arbeitete. Ich war barfuß und trug nur © National Archives, Washington D.C., mit Legenden zum Konzentrationslager (orange) und zu den Steinbrüchen (lila) nach Angaben der ­KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. diese Holzschuhe.«

Den von Rybalka entlarvend genug ge­ schilderten Ansätzen professionalisierter Die Zahl der in die Fron der Steinbrüche 1947 als Flüchtlingslager für über 2000 Arbeit stand die Massenvernichtung von abkommandierten Häftlinge stieg bis zum katholische polnische Displaced Persons, Häft­lingen durch schwerste Strapazen (Ge­ Jahresende 1942 kontinuierlich und nahm auf deren Initiative die weitere Gestaltung röllabräumung, Steineschlep­pen, Gebiets­ dann aufgrund der Verlagerung der Mes­ des von den Amerikanern angelegten Eh­ erschließung usw.) gegen­über. serschmitt-Werke von Regens­burg nach renfriedhofs, die 1947 aus den Steinen Flossenbürg ab. Trotzdem gab es weiterhin der Wachtürme errichteten Kapelle und »Ar­beits­kommandos« im Steinbruch. die Realisierung der vom Krematorium »Eine vollkommen sinnlose ausgehenden Erinnerungs­landschaft er­ ­Sklavenarbeit …« Steinbruch­ Gesamtzahl der folgte. häftlinge Gefangenen Am 28. April 1948 stellte die Bayerische Willi Eifler (seit 1939 inhaftiert): Juli 1939 646 1509 Regierung, die erst zum Jah­reswechsel offi­ Jahresende 1942 1943 3515 ziell (und rückwirkend zum 21. Juni 1948) »Dort angekommen [im Steinbruch], rief Februar 1944 126 über 3000 wieder als Eigentümer des KZ-Lagers und uns ein Kapo heraus und zeigte uns, wo Dezember 1944 530 knapp 9000 der Liegenschaften der DESt fungierte, (nur) diese bisher angelegten Erinnerungs­ wir Steine tragen mußten. Auf der vorde- Zahlenangaben nach Jörg Skriebeleit: Flossen­ zonen­ un­ter Denkmalschutz. Das übrige ren Seite eines Berges mit ca. 70 % Stei- bürg – Stamm­lager, in: Der Ort des Terrors, Band Lagerareal wurde teils bewohnt, teils ge­ gung, es waren wohl an die 2000 Häft- 4, S. 17–66. Nicht (immer) alle Häftlinge wurden linge dort beschäftigt, die mit Hacke den in die Steinbrüche geschickt. Daneben gab es wei­ werblich genutzt, das Barackengelände Abraum aufhacken mußten und den Berg tere Straf- und Arbeits­kom­man­dos. am Plattenberg ab 1958 als Bauland aus­ hinunter schippen. Der Winter war sehr gewiesen. kalt, wir hatten Temperaturen bis 36 Grad Zum Zeitpunkt der Befreiung Flossen­bürgs Minus, das Lager und der Berg lagen sehr am 23. April 1945 waren im Hauptlager hoch. Die ganze Arbeit war sinnlos, weil 13 000 bis 15 000 Menschen ent­kräftet Granitabbau am Flossenbürger die Menschen zu kraftlos waren, der Bo- gestorben oder exekutiert worden; wie Wurmstein nach 1945 den war zu hart gefroren, sie brachten nur viele davon am und im Steinbruch ist kaum kleine Stückchen Erde mit der Hacke los. auszumachen. [12] Für das Steinbruchgelände setzte die Neben uns standen die hölzernen Wach- Amerikanische Property Control bis 1948 türme mit je drei SS-Posten besetzt, ein Treuhänder ein, die mit 38 Arbeitern alte schweres MG und zwei MP. Wir mußten Nutzung des Lagergeländes Aufträge der DESt abwickelten und sich am bis auf die Spitze des Berges, oben einen nach 1945 Bau der ersten Gedenkanlagen beteiligten. schweren Stein auf die Schulter nehmen, Mit Datum 15. August 1947 verpachtete herunter tragen bis auf die Straße und dort Das ehemalige Lagergelände wurde wei­ das Bayerische Landesamt für Vermögens­­ die Böschung hinunter werfen. Eine voll- ter genutzt: Von Juni 1945 bis März 1946 verwaltung und Wiedergutma­ chung­ (im kommen sinnlose Sklavenarbeit…« als amerikanisches Kriegsge­fan­genen­lager Einvernehmen mit der Pro­perty Control) für SS-Angehörige, danach bis Oktober das Gebiet für fünf Jahre an die 1946 in

30 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

Floss gegründete Oberpfälzer­ Steinindu­­ Flecken transpor­tiert. Der Anlass für das Literatur strie Gewerk­schaftliche Genossenschaft Romanprojekt war für Ransmayr, wie er m.b.H (OSti), die auch deshalb den Zu­ in einem unter dem Titel »Das Thema hat Wolfgang Benz und Barbara Distel (Hg.), Der schlag bekam, weil sie mit der Anwerbung mich bedroht«­ abgedruckten Interview Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialisti­ schen Konzentrationslager. München: C.H. Beck, von 52 sudeten­deutschen Steinarbeiter­ aus­führt, ein individuell biogra­phischer: 2005 ff. 8 Bände. Band 1: Die Organisation des familien aus Freiwaldau einen Beitrag zur Terrors, 2005; Band 4: Flossenbürg, Mauthausen, Ver­trie­benenpolitik zu leisten versprach. »Es ist mir unmöglich, im Salzkammer- Ravensbrück, 2006. Für die Steinbrüche am Wurmstein gut, in Ebensee, in Mauthausen durch KZ-Gedenkstätte Flossenbürg/Stiftung Bayerische wur­den die Pachtverträge bis heute er­ die Kulissen meiner eigenen Geschichte Gedenkstätten (Hg.), Konzentrationslager Flos­ neuert. zu gehen, ohne dabei nicht immer auch senbürg 1938–1945. Ausgewählte Texte und gleichzeitig in dieser Vergangenheit und Bilder zur Lagergeschichte. Braunschweig: Sigert 1947–1967 OStI (Geschäftsführer 1966 Wal­ einer möglicherweise drohenden Zukunft GmbH, 2007. ter Wirt) zu sein.« Bernhard Füßl, Sylvia Seifert, Hans Simon-Pelanda, 1968–1999 Granitwerke Jacob (Hermann Ihrer Stimme Gehör geben. Überlebendenberichte Jacob † 22.8.1989 und jun.) Entworfen wird eine historische Nach­ ehemaliger Häftlinge des KZ Flossenbürg. Hg. von 2000–2003 Granitwerke Jacob (Georg kriegsszenerie, die man schnell als Ge­ der Arbeitsgemeinschaft ehemaliges KZ Flossen­ Zankl, Insolvenz angemeldet genbild des allmählichen Versiegens bürg e. V. 3 Bände. Band 1: Zwangsarbeit. Köln: Pahl Rugenstein, 2001, S. 32–43. 2002) von Erinnerung in den Aufbau­program­ 2004–2024 Granitwerke Baumann men der Nachkriegszeit begreift. Über in Paul Praxl, »Eine Haupternährungsquelle in dieser Gegend«. Die Geschichte des Granitgewerbes in (Dr. Wolfgang Baumann) Zwangs­arbeit erstellte mannshohe Granit­ Ostbayern, in: Winfried Helm (Hrsg.), Granit. Salz­ buchstaben im Moorer Steinbruch wird weg: Tute Druck 2007, S. 77–214. Ende 2018 beschloss die Regierung auf­ die Schuld präsent gehalten: »Hier liegen Jörg Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg. Ak­ grund einer 2017 ein­gereichten­ Petition elftausendneunhundertdreiund­siebzig teure, Zäsuren, Geschichtsbilder. Göttingen: Wall­ des Flos­senbürgers Stephan Krapf, keinen Tote erschlagen von den Eingebo­renen stein, 2009. weiteren Pachtvertrag mehr anzubieten dieses Landes. Willkommen in Moor.« und über ein Kon­zept zur Integration des Das wirtschaftliche und kul­turelle Leben Steinbruchareals in die KZ-Gedenkstätte­ wird neutralisiert, die Täter zum Nachvoll­ Flos­senbürg nach­zudenken. zug ihrer Taten gezwungen,­ was sie nicht menschlicher macht. 2019, im 80. Jahr nach Beginn des Granit und Erinnerung Zweiten Weltkrieges, haben sich die De­ batten alles andere als entschärft. Die poli­ Es waren und sind die »Jubiläums«-Jahre tischen Statements Walter Stein­meiers, zu Kriegsbeginn und Kriegsende, die zum Wolfgang Schäubles und Heiko Maas’ Nach- und Umdenken bewegten. So ent­ zum Gedenktag für die Opfer des Natio­ fachten die Wanderausstellung Verbrechen nalsozialismus am 27. Januar vermit­ teln­ die der Wehrmacht zum 50. oder die Eröff­ Erkenntnis, dass die Gesellschaft auf indi­ nung des Berliner Holo­caust-Denkmals viduelle Formen des Erinnerns bald nicht

zum 60. Jahrestag nach Kriegsende die mehr zurück­greifen kann. Alles komme © privat Foto schwelende Erin­nerungs­kulturkontroverse darauf an, das Wissen so präsent zu hal­ten, jeweils neu. Dies führte einerseits zur In­ dass An­griffe gegen die demo­kratische Prof. Dr. Ursula Regener, geb. 1961 in Köln. Studium (Germanistik, Philosophie, tensivierung der historischen Forschung, Gesell­schaft wirkungslos blie­ben. Musikwissenschaft) und Promotion in wie in Flossenbürg, wo seit 1996 systema­ Das dafür benötigte Wissen liegt auch Münster, 1989 bis 2004 an der Universität tisch in die historische museale Aufberei­ in einem Steinbruch. [13] Augsburg tätig. Habilitation 1999. 2001 bis tung der regionalen und transnationalen 2004 Heisenberg-Stipendiatin. Seit 1. Okto­ Ge­schichte investiert wird. Andererseits ber 2004 Ordinaria für Deutsche Philologie/ wurden die Zusammenhänge kollektiven Neuere deutsche Literatur­wissenschaft an und individuellen Erinnerns hinterfragt. der Universität Regensburg. 2005 bis 2009 Zu den Stimmen, die sich aggressiv gegen Mitglied der Jean-Paul-Preis-Jury, 2006 bis 2010 Präsidentin der Eichendorff-Gesell­ einen »Schuldkult« ausge­spro­chen haben, schaft e.V., Mitglied des Themenverbundes gehörte Martin Walser mit seiner umstrit­ »Sehen und Verstehen«, seit 2018 Beirätin tenen Rede anlässlich der Ver­leihung des des Center for International and Transna­ Friedenspreises des Deutschen Buchhan­ tional Area Studies (CITAS) der Universität dels 1998. Regensburg, seit Wintersemester 2017/18 Auf die Dialektik­ der Erkenntnis set­ Universitäts­frauenbeauftragte. zend, äußerte sich Christoph Ransmayr mit Forschungsschwerpunkte: Literaturge­

seinem 1995 publizierten Roman Mor­bus - Gedenkstätte Flossenbürg schichtliche Konstellationen, Autoren­ Kitahra, dessen Schauplatz Moor an KZ profile, Historisch-kritische Edition, Area Studies. und Steinbruch Mauthausen er­innert und © KZ Foto dessen Titel die Metaphorik­ von blinden 13 Schülergruppe am Steinbruch Wurmstein.

Blick in die Wissenschaft 39 31 Interview mit Shelomo Selinger

Interview Die zwei Seiten des Granits Ein Interview mit dem Bildhauer Shelomo Selinger

Jonas Hock

ritz und Theresienstadt. In Flossenbürg Wahrscheinlich, ich erinnere mich nicht stellte sich gerade die Schönheit der genau. Aber ich erinnere mich daran, umgebenden Landschaft im Kontrast dass man uns zum Bad brachte, zu den zum jeglicher Schönheit entbehrenden Duschen. Wir hatten Angst, dass es Gas­ Alltag für ihn als besonders unerträglich kammern seien. Aber nein, da war warmes heraus. Vielleicht, so vermutet Selinger, Wasser. Wer am Leben geblieben ist, ist weil er, der später einer der weltweit am Leben geblieben. Anschließend kamen bekanntesten Bildhauer werden sollte, wir in Quarantäne. Die Quarantänestation für Schönheit bereits früh besonders befand sich neben dem Krematorium. Das empfänglich war. Krematorium arbeitete Tag und Nacht, weil es so viele Tote gab: In den Steinbrüchen, Seit mehr als einem halben Jahrhundert und nicht nur in den Steinbrüchen, verhun­ modelliert Shelomo Selinger nun Schön­ gerte man, man starb durch die Zwangsar­ heiten – er schnitzt sie aus Holz, haut sie beit. Als ich dort war, wurde dieser Stein­ in Granit, gießt sie in Bronze. Hunderte bruch, glaube ich, in eine Flugzeugfabrik Skulpturen stehen in seinem Atelier, in umgebaut. Ein großer Teil der Gefangenen das er zum Interview empfängt. Die Bild­ hörte auf, in den Steinbrüchen zu arbeiten hauerei war und ist für ihn nicht nur Be­ und arbeitete im Flugzeugbau. Sie dachten, rufung und Broterwerb des Künstlers: Sie dass die Bomber nicht neben den Konzen­ stand auch am Anfang vom Ende seiner trationslagern … Ja, es war eine Strategie. Am­nesie. Erst durch das Skulptieren, das er Anfang der 1950er Jahre für sich ent­ Und Sie selbst haben in diesen Fabriken deckte, erlangte er sein Gedächtnis und gearbeitet? damit die Erinnerung an die Jahre als Ge­ Ich habe dort gearbeitet. Ich habe kleine fangener in deutschen Konzentrationsla­ … ich weiß nicht, kleine … bearbeitet. Wir gern wieder. Eine Erinnerung, für die Teile wussten nicht einmal, woran wir arbeite­

Foto © Claude Olivier Foto seines Werks zeugen, die Selinger aber ten. 1 Der Bildhauer Shelomo Selinger. auch in Worten teilt. Unvermittelt beginnt er zu erzählen. Sie waren also nicht im Steinbruch. Nein, überhaupt nicht. Diejenigen, die im Shelomo Selinger wurde am 31. Mai Steinbruch waren, kamen immer mit Toten 1928 in einem kleinen Ort in der Nähe Flossenbürg und Verletzten zurück. von Oświęcim geboren, das viele heute unter seinem deutschen Namen ken- … Ich bin mitten im Winter mit einem Unterschied sich Flossenbürg von ande- nen: Auschwitz. Nach dem Überfall Zug aus Groß-Rosen angekommen, einem ren Konzentrationslagern? Deutschlands auf Polen zwangen die Zug mit offenen Waggons. Ein Teil der Nach Groß-Rosen, in Flossenbürg … da Nazis seine Familie, in das Ghetto des Ge­fangenen war erfroren. Ein großer Teil. waren rund herum außergewöhnliche, nahegelegenen Chrzanów (Krenau) Wir waren alle … wir haben sehr gelit- sehr schöne Landschaften. Und das ist das umzusiedeln. 1943 wurden er und sein ten. Nicht nur vor Kälte, sondern auch, Zermürbendste. Ich hasste die Schönheit. Vater von dort ins KZ Faulbrück depor- weil wir nichts zu trinken oder zu essen Die Grausamkeit, der Tod, der Schmutz, tiert, wo sein Vater ermordet wurde. hatten. das Ungeziefer, das uns auffraß – das alles Shelomo war 14 Jahre alt und sollte war normal, aber die Schönheit war uner­ noch acht weitere Lager erleben: Grö- Nach der Ankunft am Bahnhof von Flos- träglich. Vielleicht weil ich dafür besonders ditz, Marktstadt, Fünfteichen, Groß- senbürg mussten Sie wohl zu Fuß zum empfänglich war. Vielleicht hat es mich Rosen, Flossenbürg, Dresden, Leitme- Lager hochgehen? deshalb zermürbt.

32 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

Das Nebeneinander von absoluter Grau- Rettung durch Kunst und die Schönheit der Wüste um uns zu samkeit und unschuldiger Schönheit der sehen. Dort habe ich mich also mit der Natur ist also umso bedrückender. Die Tel Hai wurde vor ihrer Ankunft von Schönheit versöhnt. Ich war ja von der Ja, der Schmutz, der Tod, die Grausamkei­ der britischen Marine aufgebracht und Schönheit traumatisiert worden. ten, unglaubliche Dinge, die grenzenlose nach geschleppt. Die illegalen Neu­ Bosheit – das war normal. Und auf einmal ankömmlinge wurden zunächst in einem Im Kibbuz lernte Shelomo Selinger auch blicke ich auf und da gibt es noch Schön­ Flüchtlingslager interniert. Nach der Freilas­ seine Frau kennen – immer wieder hat er heit in der Welt. Unerträglich. Zermürbend. sung ging Selinger in einen Kibbuz. Sein ers­ erzählt, wie diese Begegnung mit der Ent­ ter Eindruck von Israel, noch vom Schiff aus, deckung der Bildhauerei und dem Wieder­ Und diesseits des Stacheldrahts? war das Karmel-Gebirge, das in seinem Le­ finden seines Gedächtnisses zusammenfiel. Zunächst waren wir für eine gewisse Zeit ben eine wichtige Rolle spielen würde: Dort Nicht umsonst war seine erste Skulptur ein in Quarantäne, vielleicht zwei Wochen lebte seine künftige Frau, Ruth Shapirovsky; Selbstportrait aus Holz, das er in der kibbuz­- lang, danach wurden wir in eine Baracke dort schnitzte er, bei einem Spaziergang mit eigenen Schreinerei schnitzte, um es Ruth gesteckt, die über der Küche lag. Es war ihr, zum ersten Mal etwas aus einem Stück zu schenken. Bereits 1955 gewann Selin­ sehr seltsam, denn in Flossenbürg erfolgte Holz; dort hat er noch heute ein Haus, in das ger dann den »Norman-Preis« für Bildhau­ der Appell nicht auf dem Platz, wie in sich die Familie Selinger zu langen Sommer­ erei der America-Israel Cultural Foundation Groß-Rosen oder Fünfteichen, wo ich war, urlauben zurückzieht. und beschloss schließlich, mit seiner Frau sondern … Vielleicht weil es nach den Eva­ nach Paris zu ziehen, wo ein junger Bild­ kuationen so viele Gefangene gab, wurde Ich habe den Eindruck, dass es Orte hauer an der École des Beaux Arts die beste der Appell vor der Baracke abgehalten. gibt, die in Ihrem Leben immer wieder Ausbildung erwarten konnte. Es war keine Wir hatten also keinerlei Kontakt zu den vorkommen. Zum Beispiel das Karmel- einfache Zeit: Die junge Familie lebte in anderen Baracken. Und in dieser Baracke Gebirge. Es ist ein mythischer Ort voller relativer Armut; der Kunststudent Selinger lagen fünf Leute zusammengepfercht in Geschichte, aber gleichzeitig ein ganz arbeitete als Nachtwächter bei der Agence einem Bett. Es war kalt, man drängte sich konkreter Ort, der mit Ihrer Geschichte juive und bearbeitete dort abends im Hof aneinander und ab und zu wurde jemand verbunden ist. sein Material, das er im Pariser Großraum kalt. Nachts warf man ihn dann aus dem Ja, weil wir dort ein Haus haben. Und meine fand. Bald stellten sich jedoch immer mehr Bett. In der Nacht hörte man »bumm«. Es Frau ist auf dem Karmel geboren. Ich habe Ausstellungen und Erfolge ein: 1958 der gab alles, es gab Solidarität, es gab Privile­ sie im Kibbuz getroffen, dann habe ich sie »Neumann-Preis« für jüdische Künstler in gierte, es gab … Die Konzentrationslager auf dem Karmel besucht. Und dort habe Europa, in den 60er Jahren mehrere Aus­ waren so konstruiert, dass man jeden Sinn ich ihr eine Kleinigkeit geschnitzt, die ihr stellungen in der berühmten Galerie Mi­ für Menschlichkeit verlor. Bei den meisten gefallen hat. Ich bin dann in meinen Kibbuz chel Dauberville in Paris und die Ausstel­ hieß es, jeder für sich. Um zu überleben. zurückgekehrt und habe ihr anschließend lung von sieben Skulpturen im Jüdischen Aber es gab Menschen, die bis zum Ende mein Selbstportrait gebracht. Museum in New York (eine umfassende außergewöhnlich waren. Und wenn ich Aufstellung der Preise und Ausstellungen an die Menschheit glaube, dann weil es Dort hat also alles begonnen. findet sich im BandLes camps de la mort, diese Leute bis zum Ende gab, es gab diese Ja, dann habe ich nicht mehr aufgehört. vgl. die Literaturangaben unten). Paris er­ Würde, und sie haben das Menschliche wies sich also schnell als fruchtbarer Ort für nicht verloren. Sie haben es sich trotz al­ Gibt es neben dem Karmel andere Orte, den jungen Bildhauer. lem erhalten und darum glaube ich an den die für Sie eine solche Bedeutung haben? Menschen. Ich glaube an den Menschen. Es gibt einen sehr bedeutsamen Ort, an dem Paris war in der Tat sehr wichtig für mich. Ich weiß, dass es möglich ist. ich vor dem Unabhängigkeitskrieg meine Diese Pariser Atmosphäre damals … Wir ersten Schritte in Israel gemacht habe. waren sehr arm. Manchmal hatten wir Nach Flossenbürg wurde Shelomo Selinger Nämlich meinen ersten Kibbuz nördlich des nichts zu essen. Aber es gab keine Leute in verschiedene Lager verlegt und gelangte Toten Meeres, der während des Unabhän­ um uns, die uns das vorwarfen. Weil wir 1945 über zwei Todesmärsche kurz vor gigkeitskrieges zerstört wurde: Beit-Haar­ Fremde waren, die hier gelandet waren, Ende des Krieges nach Theresienstadt. Die ava, wo ich mit einer Amnesie ankam. Dort wo es unglaubliche Museen gab, großar­ Rote Armee befreite das Lager. Ein jüdi­ habe ich Hebräisch gelernt, ich habe schnell tige Möglichkeiten. Dann haben wir diese scher Militärarzt rettete Selinger das Leben, unglaublich viel gelernt, weil ich eine tabula Zeit überwunden. Und zwar nicht zuletzt indem er feststellte, dass der vermeintlich rasa war, weil ich an Amnesie litt. In Beit- durch die Unterstützung meiner Frau, die Tote, der bereits auf einem Leichenberg Haarava angekommen, im Kibbuz, wuschen das ertragen hat. Sie kam immerhin aus lag, noch atmete, und ihn in ein Militär­ wir die Erde, weil sie 17 % Salz enthielt, und einer bürgerlichen Familie und hatte das krankenhaus bringen ließ. Mit Freunden wir erschufen die Erde. Wir verwandelten nicht erwartet. In meiner Erinnerung sind floh Shelomo Selinger nach Prag und von sie in einen blühenden Garten. Vorher war diese Jahre wunderschön, und für sie ist es dort mithilfe der Jüdischen Brigade der alles karg, es war die Wüste von Judäa. Dort ein Alptraum. Ich war zum ersten Mal Stu­ britischen Armee über Deutschland und habe ich eine Dame getroffen, die mich in dent und so, das war großartig. Belgien nach La Ciotat in Südfrankreich. die Dichtung eingeführt hat, in die Liebe. Dort schifften sich 1946 mehrere hundert In einem Dokumentarfilm sagt Ihre Jüdinnen und Juden, meist Überlebende Schrieb sie selbst? Frau Ruth über Ihre Skulpturen: »Es ist der Shoah, auf der Tel Hai in Richtung Pa­ Nein, sie gab uns zu lesen. Sie las mir vor. als ob er eine andere Welt erschaffen lästina ein. Und sie brachte mich dazu, aufzublicken hat, eine friedlichere, ruhigere«. Könnte

Blick in die Wissenschaft 39 33 Interview mit Shelomo Selinger

der Stein verwandelt mich. Es gibt eine Gegenseitigkeit. Die Arbeit ist ein Liebes­ akt.

Ich habe den Eindruck, dass Sie sich sehr sicher sind und dass es in dem, was Sie tun, etwas sehr Beruhigendes gibt. Gibt es auch Momente des Zweifels? Es gibt immer Zweifel!

Ich meine solche der Angst, vielleicht, dass das vielleicht nicht der richtige Weg sein könnte, dass es scheitern könnte? Bildhauerei ist so langsam, so langsam, dass man sehr, sehr selten scheitert, man hat die Zeit, sich zurechtzufinden. Das ist beim Zeichnen anders. Ich zeichne die ganze Zeit, weil es bei der Skulptur ein recht langer Weg ist, eine Vertiefung, wäh­

Foto © Claude Olivier Foto rend es bei der Zeichnung eine Idee gibt, 2 Shelomo Selingers Arbeit am Denkmal zur Erinnerung an die Holocaustopfer für das Großherzog­ die ich viel schneller zum Ausdruck bringe. tum Luxemburg erfolgte in Louvigné-du-Désert in der Nähe des Städtchen Fougères in der Bretagne Weil eine nicht zum Ausdruck gebrachte von Juli 2016 bis Juni 2018. Idee eine neue Idee blockiert. Erst wenn ich sie habe herauskommen lassen, kann mir eine neue zufliegen. man sagen, dass es in Ihrer Arbeit diese Und wie ist das mit dem Einfluss ande- Dimension einer Fantasiewelt gibt, die rer Künste? Gibt es beispielsweise lite- Die Idee ist also wie eine Blockade, die beinahe eine therapeutische Funktion rarische Werke, die Sie geprägt oder gelöst werden muss. hat? sogar Ihre Arbeit beeinflusst haben? Genau. Und ich glaube, dass es im Leben Wenn Sie mein Atelier betreten, dann gibt Ich glaube nicht. Ich glaube nicht, dass immer so ist. Wenn Sie eine Idee haben, es da einen Teil, wo Sie eine Welt finden, die Literatur mich beeinflusst hat. Sondern die Sie nicht verwirklichen, werden Sie die ich erschaffen habe, weil es eine Welt eher das Leben. keine andere haben. gibt, die mir zerstört worden ist. Die frü­ here Welt meiner Kindheit. Alles ist zerstört Und die Musik? Das ist wahr, so empfinde ich es eben- worden. Und meine Frau hat den Eindruck, Die Musik auch. Meine Frau ist Musike­ falls. Auch beim Schreiben kann man dass ich lauter Seelen neu erschaffe, die in rin und unsere Kinder sind alle Musiker. etwas erst schreiben, nachdem man zu meinen Skulpturen hängen, Seelen, die ich Ich lebe damit, aber ich persönlich singe Papier gebracht hat … versuche, wieder zu erwecken. falsch. Ich bin ganz benebelt, wenn ich … was einen beschäftigt. Man kann das anfange zu singen – man sagt mir dann nicht beiseiteschieben. Ein bisschen hatte ich in Ihrem Atelier gleich, dass ich still sein soll. diesen Eindruck, dass der Raum, wenn Oder aber es misslingt, weil man drängt man vorübergeht, bewohnt ist; man ist Und wenn es sich zum Beispiel um bi- … dort nicht allein. blische Figuren handelt oder um Tiere, … und durcheinandergerät. Das ist zumindest, was sie behauptet. Gut. ist es dann auch, als ob Sie sie im Stein Aber ich kann so etwas nicht bestätigen. fänden? Gibt es so etwas wie Phasen in Ihrer Aber gut, ich bin nicht dagegen. Ich ak­ Ich finde sie im Stein. Ich suche sie im Stein. Arbeit? Ich habe irgendwo gelesen, es zeptiere diese Sichtweise, aber das kommt habe eine erste Phase gegeben, in der nicht von mir, sondern von jemandem, der Es handelt sich also nie um eine im Vor- Tiere vorherrschten, dann eine wei- mich kennt. hinein gemachte Vorstellung? tere, wo es eher das Familienleben war Wenn ich den Stein sehe, weiß ich, dass und schließlich, in den 60er Jahren, die Ich möchte eine etwas naive Frage an- darin eine Skulptur ist. Ich weiß noch Shoah, die zunehmend wichtig wurde. schließen: die nach der Inspiration. Bei nicht welche. Also sachte, ich bin da, ich Es gab keine Phasen. Es gab nicht eine Ihnen kommt sie eher von der Materie frage ihn: »Sag mir! Was verbirgst du in blaue Periode und dann eine rosarote. Es selbst? deinem Inneren?« Dann finde ich es und gab die Skulptur und meine Skulptur habe Aus der Materie, ja. Ich habe eigentlich da beginne ich zu arbeiten. Aber das be­ ich in den Steinblöcken gesucht, die ich zur kein Inspirationsproblem. Und wenn Sie deutet nicht, dass meine erste Beziehung Verfügung hatte. Ich habe sie gesucht und meine Skulpturen anschauen, so gibt es zu diesem Stein die richtige ist. Im Laufe ich wusste, dass in einem Steinblock, den nicht eine, die einer anderen gleicht. Ich der Arbeit entspinnt sich ein Dialog zwi­ ich besaß, eine Skulptur steckte. Aber ich kopiere nicht. schen uns. Ich verwandle den Stein und wusste noch nicht, welche.

34 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

Ihre Arbeitsweise besteht also nicht da- Selinger der Einladung, an dem Gedenkakt überlebt hat. Aber wir haben keinen Kon­ rin, eine präzise Vorstellung zu haben teilzunehmen. Obgleich er selbst nicht zur takt mehr. und sie auf den Stein zu übertragen. Arbeit im Steinbruch gezwungen worden Nein. Bei meiner Arbeitsweise sind wir drei: war, wie er weiter oben berichtet hat, Es war für Sie also wichtig, diese Num- die Materie, das Licht und Ich, der kleine kehrte er auch an diesen Ort zurück – als mer wiederzufinden, um sicher zu sein, Diener; ich befrage den Stein und folge Bildhauer, der mit Vorliebe Granit bearbei­ dass Sie dort gewesen sind? dem Licht. Es ist also wie ein Dialog mit tet, haben Steinbrüche für ihn schließlich Ja, ich habe meine Identität wiedergefun­ der Materie. Ich bin ein kleiner Diener von unweigerlich eine besondere Bedeutung. den. Und ich habe vergessen zu sagen, dass etwas, das mich übersteigt und das ich wir eine neue Nummer erhalten hatten. nicht immer verstehe. Und noch einmal, Wenn Sie heute an Orte wie Flossen- Bis Groß-Rosen hatte ich eine Nummer mit ich versuche nicht, mich auszudrücken, bürg zurückkommen, wie z. B. im Rah- einem gelben Dreieck, für die Juden. Und denn was den Ausdruck angeht, bin ich ein men der Gedenkfeier zur Befreiung des in Flossenbürg habe ich ein rotes Dreieck beschränkter Mensch. Man wird da schnell Lagers, bei der wir uns kennengelernt bekommen. Plötzlich bin ich ein Politischer meine Psychoanalyse finden, also ist das haben, wie erleben Sie das, was emp- geworden. Mit einer neuen Identität, einer nicht so interessant. Aber ich glaube, dass finden Sie bei dieser Rückkehr? neuen Nummer. Ich weiß nicht, warum. Zu meine Arbeitsweise darin besteht, ein Me­ Ich habe nach den Zeichen dieses Ortes dieser Zeit war es schon kein Vorteil mehr, dium zu sein, durch das Dinge zum Aus­ gesucht. Ich habe die Stufen gefunden, es war bereits das Ende. Ich glaube, dass druck kommen. denn es gab immer viele Stufen. Das habe alle rote Dreiecke erhielten. Auf jeden Fall ich wiedergefunden. Dann bin ich zum alle aus unserem Transport. Als Bildhauer haben Sie natürlich immer Krema­torium gegangen. Die Baracken, die mit Berührung zu tun. Selbst wenn Sie seitlich standen, habe ich nicht wiederge­ Als Sie 2015 nach Flossenbürg zurück- Ihre Skulpturen jemandem zeigen, be- funden, aber ich konnte ihren Standort gekommen sind, sind Sie da in den rühren Sie sie, Sie streicheln sie, es ist wiederfinden. Und es hat mich … Was Steinbruch gegangen? ein sehr taktiles Verhältnis. Als Betrach- mich da verwundert hat, mit den konkre­ Ich bin in den Steinbruch gegangen. ter habe ich auch manchmal Lust, sie in ten Erinnerungen, war: Wie ist es möglich ihrer Materialität zu entdecken, sie zu gewesen, dass ich von dort wieder hoch­ Was hat das in Ihnen ausgelöst? Als berühren. Aber bei Ausstellungen oder gekommen bin. Heute sage ich mir: Wenn Bildhauer haben Sie ja einen besonde- sogar im öffentlichen Raum ist das nicht ich einen oder zwei Tage lang dort wäre, ren Bezug zu Steinbrüchen, da Sie vor unbedingt gern gesehen, oft darf man würde ich nicht überleben. allem mit Granit arbeiten. es nicht einmal. Ich bin dort angekommen: Der gleiche Zunächst einmal, in meinem Atelier darf Die Vergangenheit wird also beinahe Stein, die gleiche Arbeit ist unter unter­ man es. Wenn jemand kommt, darf er unwirklich? schiedlichen Bedingungen Quelle des Le­ sie berühren. Und selbst bei Ausstellun­ Ja. bens und des künstlerischen Ausdrucks gen würde mich das nicht stören. Bei den oder Quelle der Folter und des Todes. Bronzeskulpturen wäre ich vielleicht etwas Ist aber immer noch so bedrückend, vorsichtig, denn wenn man Ringe trägt, dass Sie gleich nach Ihrer Rückkehr die Das ist tatsächlich eine Ambiguität, die kann man die Patina abkratzen. Aber der Zeichnung anfertigen mussten. mich stutzig gemacht hat. Granit ist eine Materie, die dafür geschaf­ Ja. Ich bin dort einem Mann begegnet, der fen ist, draußen zu sein, das volle Licht ab­ gekommen war, um eine Frau zu treffen, zubekommen, dieser Stein hat sogar eine Und doch waren Sie zurückgekommen, die die Tochter von jemandem war, der mit mystische Seite, während es beim Holz eher um sich mit diesem Ort zu konfrontie- mir in Dresden war. Dort arbeitete ich an etwas Sinnliches ist, weil es sich um ein or­ ren. der Reparatur der Eisenbahngleise. Ein Teil ganisches Material handelt. Das Material ist Zunächst wollte ich das nicht. Aber nach von uns räumte den Schutt weg, die wa­ bedeutsam für die Einführung von Ideen. und nach bin ich doch gegangen. Und ren privilegiert, weil sie manchmal etwas dann ist da noch etwas, was ich vergessen unter dem Schutt fanden, auch wenn es Doch selbst der Granit verändert sich habe, nämlich die Identifikationsnummer, mit dem Tod bestraft wurde, irgendetwas ein wenig. Es kann sich Moos darauf bil- die ich hatte. Und dort habe ich sie wie­ an sich zu nehmen. Ich komme auf diesen den oder etwas anderes, das die Ober- dergefunden. Mann zurück. Als sein Vater ein Kind war, fläche verändert. arbeitete er mit dem Vater dieser jungen Aber ja, das kann man auch hier in meinem In Ihrem Gedächtnis? Frau, die Israelin ist, zusammen an den Ei­ Atelier sehen. Nein, in den Archiven in Flossenbürg. Ich senbahngleisen. Ersterer war übrigens aus habe meinen Namen wiedergefunden und Hamburg. Der Vater dieser jungen Frau hat die Nummer, mit der man mich identifi­ einen kleinen Jungen gesehen und zu ihm Rückkehr nach Flossenbürg zierte. gesagt: »Kannst du mir ein Stück Brot brin­ gen?« Und dieser kleine deutsche Junge Am 26. April 2015 wurde in der Gedenk­ Haben Sie weitere Dokumente gefun- hat ihm jeden Tag ein Stück Brot gebracht. stätte Flossenbürg feierlich des 70. Jahres­ den, die Sie betrafen? tages der Befreiung des Konzentrationsla­ Nur das, die Nummer. Meine eigene und Was sicher ein großes Risiko für den gers gedacht. Als einer von rund 40 ehe­ auch die eines entfernten Verwandten, der Jungen darstellte, aber dem Mann er- maligen Häftlingen folgte auch Shelomo mit mir dort war, der mir half, der auch möglicht hat, zu überleben.

Blick in die Wissenschaft 39 35 Interview mit Shelomo Selinger

Ich habe den Eindruck, dass Ihre Zeich- nungen über die Shoah oft ganz be- stimmte Geschichten oder Szenen er- zählen. Genaue Szenen – Zeugnisse, ja. So zeuge ich, da ich ein Künstler bin, meine Art zu bezeugen beruht auf meiner Kunst.

Verstehen Sie die Skulpturen, das Mo- nument in zum Beispiel ebenso? Sind das auch Zeugnisse? Was zum Beispiel Drancy angeht, als ich das Modell für die Ausschreibung vorberei­ tete, da dachte ich mir, es solle aus Granit sein und dass es für immer bestehen blei­ ben wird. Man muss etwas erschaffen, bei dem sich jemand, der in 300 Jahren vor­ übergeht und nicht viel über den Zweiten Weltkrieg weiß, sagt: »Hier ist etwas sehr Schlimmes passiert«. Und dann kann er in eine Bibliothek gehen und sich informieren.

Das Wichtige ist also eher die Frage, die man sich stellt?

Kunst, Bonn 2019 Bild - Kunst, Jonas Hock © VG Foto: Es gibt dennoch eine Bedeutung. Da ist die 3 Shelomo Selinger, Werke im Atelier, Paris, im März 2016. Tür des Todes. Da sind die drei Elemente, die den Buchstaben »Shin« bilden. Es ist viel Symbolisches daran. Und nach dem Krieg hat der junge Mann Eisenbahnwaggon, wie er für die Depor­ Kontakt zu dem Gefangenen aufgenom­ tationen benutzt wurde, ergänzt. 1987 Dann sind da noch die Inschriften. men. Sie haben sich Postkarten geschickt. folgte ein Denkmal für den französischen Es gibt einiges, das eingraviert ist. Der Junge hat den Gefangenen gesucht Widerstand gegen die Besatzung durch und gefunden. Mittlerweile sind beide das nationalsozialistische Deutschland, Was die Schrift in Ihrem Werk angeht, verstorben, aber die Tochter und der Sohn das Mémorial de la Résistance in La Cour­ so möchte ich die Frage der Sprachen stehen immer noch in Verbindung. Sie wa­ neuve, ebenfalls in der Pariser Banlieue. ansprechen. Immerhin gibt es … ren diesmal in Flossenbürg und ich habe sie Zuletzt konzipierte Selinger, der mit 90 Jah­ … drei Sprachen! Ich habe meine Frau getroffen. Er ist, glaube ich, Anwalt, er hat ren den Stein immer noch direkt bearbeitet gebeten, mir Buchstaben mit dreieckigen mir ein Stück Granit aus Flossenbürg ge­ und weitgehend auf elektrische Hilfsmittel Balken zu skizzieren, wie die antiken Schrif­ bracht, mit einer Kerze darauf. Ich habe es verzichtet, das nationale Shoah-Mahn­ ten in Ägypten. Dadurch haben die heb­ zuhause: ein Granitstück aus Flossenbürg. mal für das Großherzogtum Luxemburg. räischen und die lateinischen Buchstaben Während diese Monumente als Orte der denselben Stil. Das ist unglaublich. Erinnerung die Jahrhunderte überdauern In der Tat! sollen, haben die vielen Zeichnungen, in Das interessiert mich als Literaturwis- denen Selinger sich mit seinen konkreten senschaftler selbstverständlich – die Erlebnissen während seiner Lagerhaft aus­ Frage, die ich mir stelle, ist die nach Zeugnis und Gedächtnis einandersetzt, wie er selbst betont, eine der »Übersetzung« des Werkes, seiner eher therapeutische Funktion und dienen »Lesbarkeit«. Wenn Sie an diese Person Obgleich der Anteil der Werke, die sich ihm der Verarbeitung allzu präsenter Erfah­ denken, die in 300 Jahren vorüberge- explizit mit der Shoah und dem Zweiten rungen. In seinem Atelier befindet sich eine hen wird, vertrauen Sie dann mehr dem Weltkrieg auseinandersetzen, in Selingers große Mappe mit zahlreichen dieser groß­ Werk in seiner Gesamtheit, darauf, dass Schaffen quantitativ gering ist, gehören die formatigen Zeichnungen (eine Auswahl ist es ins Auge springt; oder sind es auch von ihm als Teile von Memorialen gestalte­ in Les camps de la mort abgedruckt und die eingravierten Texte … ten Skulpturen im buchstäblichen Sinne zu in beinahe allen Dokumentarfilmen zeigt Die Texte sind für mich zweitrangig. Sie seinen sichtbarsten. 1973 gewann er die und kommentiert er diese Mappe). Zum wurden mir vorgeschrieben, vorgeschla­ Ausschreibung für die Gedenkstätte des Zeitpunkt des Interviews stammt die letzte gen. ehemaligen Sammel- und Durchgangsla­ vom Frühjahr 2015 – unmittelbar nach gers in Drancy, nördlich von Paris. Das in seiner Rückkehr von der Gedenkveranstal­ Das Wichtige ist also wirklich die Skulp- rosa Granit gehauene Mémorial national tung in Flossenbürg holten die Erinnerun­ tur selbst. des Déportés de France wurde schließlich gen ihn wieder ein und mussten auf Papier Die Skulptur selbst und das, was sie herauf­ 1976 eingeweiht und später durch einen gebannt werden, um sie fernzuhalten. beschwört, wenn man an ihr vorbeigeht.

36 Blick in die Wissenschaft 39 Dossier Flossenbürg

Das, was sie bei jemandem weckt. Dass sie Stimmt, einer hatte sich dort eingerich- Shelomo Selinger: »L’arbre de vie«, in: Nathan da ist und um sie herum das Licht, die Art, tet. Réra: De Paris à Drancy ou les possibilités de l’art wie sie auf dem Hügel steht, mit den Trep­ Das stört mich überhaupt nicht, weil es al­ après Auschwitz. Rouge Profond : Pertuis, 2009, pen rundherum … les überleben wird. Das Wichtigste ist, dass S. 99–117. die Skulptur da ist. Sie ist da, sie soll ihr … dem Waggon … eigenes Leben leben. Haben Sie auch die … Ja, da hatte ich Möglichkeiten! Man hat Place Basse bei La Défense gesehen? Filme mir die Mittel dazu gegeben. Ich hatte die Shelomo Selinger: Mémoire de pierre, Film von Möglichkeit, die Skulptur um den Waggon Nein, ich habe sie noch nicht gesehen. Alain Bellaïche, 2010, 77 Min. [https://www.you­ und die Schienen zu ergänzen. Aber ich kenne sie von Fotos. tube.com/watch?v=FvSJvGJVcN0] Dort sind steinerne Gärtnerinnen. Die Tat­ Les 7 portes de Shelomo Selinger, Film von Alain Es ist wirklich ein beeindruckendes En- sache, dass die Vegetation sie verbirgt, ver­- Braun und Alain Dassé, 2012, 210 Min. [http:// semble. Aber rundherum ist es … ändert ihr Aussehen. Sie sind immerhin alle www.museum-selinger.net] … etwas ganz Anderes! Es ist anderswo. gleich, die ungefähr 30 in Beton gegosse­ Shelomo Selinger, croire en l’homme, Inter­ nen Gärtnerinnen – ein wenig als ob sie aus view mit Jean-Michel Caralp, Film von Fabrice Es ist anderswo, ja, die Skulptur ist wie Granit wären, nur dass lediglich der Sockel Belmessieri, 2015, 44 Min. [https://webtv.univ- eine Insel und um sie herum liegt eine aus Granit ist. Man hat den Eindruck, dass montp3.fr/video/Shelomo-Selinger---Croire-en- andere Welt. sie aus Granit sind, aber sie sind es nicht. l%2526%2523039%253Bhomme/bb8c625a­ Ja, ja. Man hat mir einen Teil für die Skulp­ c7937a3c8dadbc96c2db6377] tur gegeben und als mir erlaubt wurde, Auch ich dachte, dass sie aus Granit sind. den Waggon hinzustellen, hat man mir ein Ich lasse die Vegetation, die Hecken, die Gelände gegeben, um ihn hinzuzufügen. dahinter sind, also an dieser Skulptur mit­ wirken. Es gibt welche, die verborgen sind, Den Waggon finde ich wichtig für das es gibt welche, die wieder auftauchen. Es Ensemble. Als ich dort war, habe ich für ist gut so. einen Augenblick innegehalten und die Leute beobachtet. Oft gingen sie zu- Sie verfolgen Ihre Skulpturen also ein nächst zum Waggon und erst danach wenig? schauten sie die Skulptur an. Ich denke, Nein, sie müssen ihr eigenes Leben leben. dass der Waggon für sie »konkreter« ist, Im Übrigen interessieren mich die Skulptu­ leichter zu verstehen. ren nicht mehr, wenn sie einmal vollendet Ja, so ist es. sind. Die Skulptur, die mich am meisten in­ teressiert, ist die, an der ich gerade arbeite. Ich war überrascht in welch unter- Und sobald sie fertig ist, kann sie ihr Le­ schiedlichem Zustand das Denkmal in ben leben. Ich löse mich von ihr. Ein Beleg,

Drancy und das in La Courneuve­ ist. In dass meine Skulptur beendet ist, ist, dass © privat Foto Drancy war es sehr gepflegt, sehr sau- ich aufhöre, sie zu lieben. Sie braucht mich ber … nicht mehr. Ich bin ein wenig wie Don Juan Dr. Jonas Hock, geboren 1987 in Mün­ chen. Studium der Romanistik, Germanis­ Das ist wahr! mit meinen Skulpturen. tik und Bildungswissenschaften in Leipzig und Lyon. Seit 2014 Wissenschaftlicher … und man hatte den Eindruck, dass Das Interview mit Shelomo Selinger fand Mitarbeiter am Institut für Romanistik sich darum gekümmert wird, dass es am 29. März 2016 in seinem Pariser Atelier der Universität Regensburg, Lehrstuhl für als ein bedeutendes Denkmal angese- in der rue Letellier auf Französisch statt. Romanische Philologie I, Französische hen wird. In La Courneuve dagegen fiel und Italienische Literatur- und Kultur­ es mir fast schwer, es zu finden. Dann wissenschaft. 2017 Promotion zu Pierre stand die Skulptur zwischen zwei stark Literatur Klossowskis Frühwerk; Kulturpreis Bayern 2018 (Kategorie: Universitäten). befahrenen Straßen … Shelomo Selinger / Bruno Durocher: Et l’homme Ja, sehr belebt! blanc écrivait son histoire ... Témoignage. Paris: Forschungsschwerpunkte: Französische Caractères, 1981. Literatur und Philosophie des 20. Jahrhun­ Sehr belebt, das ist wahr: Es gab Leute Shelomo Selinger: Les camps de la mort – Dessins derts, Aufklärungsforschung, deutsch- die sich anlehnten, die Gegenstände da- d’un rescapé/The Death Camps – Drawings by a französische Kulturkontakte, italienische rauf abstellten. Survivor. Paris: Somogy: Fondation pour la Mé­ Barockliteratur. Es gibt sogar Obdachlose, die dort wohnen. moire de la Shoah, 2005.

Blick in die Wissenschaft 39 37 Medieninformatik????

Spotlight Wissenstransfer: ­Digitalisierung Einzigartiges Kooperationsprojekt ­ zu Datenbeständen über NS-Opfer Thomas Schmidt und Christian Wolff

Transferprozesse erfolgen nicht nur in na­ mittlungsarbeit auszeichnet. Die Gedenk­ Bildungsprojekte eingebunden. Im Rah­ turwissenschaftlich-technische Bereiche, stätte informiert am historischen Ort über men der Vernetzung internationaler Digi­ sondern auch in Richtung gesellschaftlicher die im Lagerkomplex Flossenbürg zwischen talisierungsprojekte historischer Quellen­ Einrichtungen, etwa Gedächtniseinrichtun­ 1938 und 1945 verübten Verbrechen und bestände nimmt sie zwischenzeitlich eine gen wie Museen, Archive oder Gedenk­ bewahrt die Erinnerung an die rund 84 000 Schlüsselposition ein. Anfang 2019 be­ stätten. 2018 unterzeichnete die Univer­ Männer und 16 000 Frauen aus über 30 gann eine Kooperation zwischen der KZ- sität Regensburg mit der KZ-Gedenkstätte Ländern, die zwischen 1938 und 1945 im Gedenkstätte Flossenbürg und dem Lehr­ Flossenbürg in der Oberpfalz eine Koope­ Konzentrationslager Flossenbürg und sei­ stuhl für Medieninformatik der Universität rationsvereinbarung und institutionalisierte nen Außenlagern inhaftiert waren. Regensburg. Fachlich sind hier die digitalen damit ihre Zusammenarbeit mit einem Er­ Die KZ-Gedenkstätte ist in ihren Ar­ Geisteswissenschaften oder Digital Huma­ innerungsort, der sich nicht nur durch eine beitsfeldern international in die einschlä­ nities berührt, die an der Universität Re­ innovativ gestaltete Ausstellung, sondern gigen Netzwerke der zeithistorischen gensburg eine lange Tradition haben, die auch durch eine international vernetzte Institutionen und Museen ebenso wie in bis in die Gründungsjahre der Universität Wissenschaftsabteilung und moderne Ver­ thematisch verwandte Forschungs- und zurückreicht. Heute existiert hier ein breites Studienangebot, dazu gehören die Master­ studiengänge Informationswissenschaft und Medieninformatik, der Masterstudien­ gang Digital Humanities (gefördert im Rah­ men des bayerischen Förderprogramms Di­ gitaler Campus) sowie der 2018/2019 ge­ startete Masterstudiengang Public History und Kulturvermittlung. Digital Humanities umfassen alle Aspekte der Digitalisierung und Nutzung von Informationstechnolo­ gie mit Bezug zu geisteswissenschaftlichen Forschungsfragen. Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg ver­ folgt schon seit Jahren eine eigene Di­ gitalstrategie, bei der vielfältige und für die Forschung, aber auch für Bildungs­ prozesse bedeutsame Datenbestände im Mittelpunkt stehen. Sie besitzt eine große und bedeutende Datenbank über Informa­ tionen zu NS-Opfern, die aus der Zusam­ menarbeit mit mehr als 30 Institutionen, die sich mit Opferdaten aus der NS-Zeit befassen, entstanden ist. Die Datenbe­ - Gedenkstätte Flossenbürg stände umfassen zahlreiche historisch bedeutende Informationen über die Her­ Foto © KZ Foto 1 Beim Workshop des 2. International Memorial Archives Tutorial im Februar 2019: Wirtschafts­ kunft und das Schicksal von Lagerinsassen, historiker und Informatiker Maximilian Kalus (l.) mit dem Leiter der historischen Abteilung der Informationen zu Transportbewegungen ­KZ-Gedenkstätte Flossenbürg Johannes Ibel (r.). zwischen Lagern sowie zahlreiche geo­

38 Blick in die Wissenschaft 39 ????Dossier Flossenbürg Quelle © UR/Lehrstuhl für Medieninformatik 2 Memorial-Archives-Plattform: Ansicht Interview.

graphische Informationen. Die Datenbank deren Gedenkstätten sollen die Datenbe­ form und die Datenbank vorgestellt und besteht momentan aus Daten zu über stände so stets erweitert, verbessert und Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit 400 000 Opfern und 30 000 Transporten. zusammengeführt werden. der Gedenkstätte diskutiert. Im Rahmen Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg ermög­ Die Memorial-Archives-Plattform und eines »Hackathons« wurden auf Teilbe­ licht über die Memorial-Archives-Online- die dazugehörigen Datenbestände ste­ ständen der Datenbank Möglichkeiten der Plattform (https://memorial-archives.inter­ hen im Mittelpunkt der Kooperation der quantitativen Datenanalyse und Visualisie­ national/) den Zugriff und die Exploration KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und dem rung exploriert. Die Ergebnisse wurde in dieser Datenbestände für Forschende und Lehrstuhl für Medieninformatik. In diesem einer Abschlusspräsentation des »Hacka­ Interessierte. Erweitert wird der Datenbe­ Rahmen haben Vertreter des Lehrstuhls thons« den teilnehmenden Historikerinnen stand mit über 200 Mediensammlungen Anfang Februar 2019 auch am 2. Interna- und Museumsmitarbeitern vorgestellt. Die wie zum Beispiel Interviews mit ehemali­ tional Memorial Archives Tutorial und am Ergebnisse der webbasierten Visualisierung gen KZ-Gefangenen. Des Weiteren kön­ Think-Tank Quantitative Datenanalyse in von größeren Datenbeständen sind dabei nen die Daten angepasst und neue Daten Flossenbürg teilgenommen. Im Rahmen auf positive Resonanz gestoßen. Auf Basis importiert werden. In Kooperation mit an­ eines Workshops wurden dabei die Platt­ der gesammelten Erfahrungen konnten Quelle © UR/Lehrstuhl für Medieninformatik 3 Memorial-Archives-Plattform: Ansicht Opfersuche.

Blick in die Wissenschaft 39 39 Medieninformatik

inhaltliche und technische Grundlagen für zer und Besucherinnen der Gedenkstätte erleben): Gegenstand des Transfers sind künftige Kooperationsvorhaben und Trans­ erwarten. auch Aspekte der Gestaltung und Optimie­ ferprozesse gelegt werden. Ein weiteres Thema ist das Datenma­ rung geeigneter Benutzerschnittstellen auf Aus Sicht der Medieninformatik stehen nagement: Bezüglich der Datenbestände unterschiedlichen Endgeräten (Desktop, dabei mehrere Themen im Mittelpunkt, stellen sich zahlreiche Fragen im Kontext Smartphone, spezifisches Präsentations­ die in Zusammenarbeit mit den technisch »Big Data«. Die wachsenden und zuneh­ gerät im Kontext der Gedenkstätte) für die Verantwortlichen der Memorial-Archives- mend heterogenen Datenbestände müs­ Memorial-Archives-Plattform. Insbeson­ Plattform im Rahmen von Abschluss- und sen auf der Basis angemessener Daten­ dere sollen dabei Bedürfnisse der speziel­ Projektarbeiten an der Universität Regens­ modelle und Informationstechnologien len Nutzergruppen (wie Historiker*innen, burg bearbeitet und exploriert werden. modelliert, gespeichert­ und zugänglich ge­ Gedenkstättenmitarbeiter*innen, Muse­ Zu diesen Themen gehört das Informa­ macht werden. Auf der technischen Ebene umspublikum) beachtet werden. Schließ­ tionsverhalten, das sich mit Verhalten soll zusätzlich eine Programmier-Schnitt­ lich sind auch neue Formen der Informa- und Rechercheinteressen professioneller stelle entwickelt werden, die auf Basis von tionsaufbereitung und Informationsvisu- und nichtprofessioneller Nutzer*innen im aktuellen Technologien den Zugriff und die alisierung Gegenstand einer solchen Ko­ Umgang mit den bei der KZ-Gedenkstätte Veränderung von Datenbeständen ermög­ operation. Hier geht es um die Frage, wie Flossenbürg vorhandenen Daten ausei­ licht, um somit ins­besondere die professio­ große, heterogene und historische Daten­ nandersetzt. Dies betrifft einerseits un­ nelle Erweiterung der Datenbestände (also bestände angemessen dargestellt werden mittelbar Fragen der Forschung, die auch auch die Analyse von größeren Massenda­ können, insbesondere auch unter Berück­ ­datengetrieben vorangebracht werden ten) zu ermöglichen. sichtigung temporaler und geographischer kann; dies betrifft aber auch die Frage, Von Interesse sind im Weiteren Usability­ Kontextinformation. welche Art von Informationssystemen Nut­ Engineering und User Experience (Nutzer­

Prof. Dr. Christian Wolff (geb. 1966) ist seit 2003 Professor für Medieninformatik am Institut für Infor­ mation und Medien, Sprache und Kultur der Universität Regensburg. Er ist promovierter Informations­ wissenschaftler (1994, Universität Regensburg) und habilitierter Informatiker (2000, Universität Leipzig). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Mensch- Maschine-Interaktion, multimediale und webbasierte In­ formationssysteme, (Multimedia-)Softwareengineering sowie Information-Retrieval (dort insbesondere auch Informationskompetenz und Social Media).

Thomas Schmidt M.Sc. ist seit Ende 2017 wissenschaft­ licher Mitarbeiter, Dozent und Doktorand am Lehrstuhl für Medieninformatik der Universität Regensburg. Er hat seinen Master of Science 2017 im Fach Medienin­ Foto © privat Foto formatik an der Universität Regensburg erhalten. Seine Forschungsschwerpunkte sind die digitalen Geistes­ wissenschaften (Digital Humanities), computergestützte Sentiment- und Emotionsanalyse, Informa­ tionsverhalten und Mensch-Maschine-Interaktion. In seiner Doktorarbeit untersucht er den Einsatz

computergestützter Emotionsanalyse in Filmen und Theaterstücken. © privat Foto

40 Blick in die Wissenschaft 39 Macht und Ohnmacht der Geisteswissenschaften

Rede Wider die Vereinfacher und ­Vereindeutiger Von der Macht und Ohnmacht der Geisteswissenschaften in der Gegenwart Volker Depkat

Wohin man derzeit auch blickt, die Ver- einfacher in Politik, Wirtschaft und an- derswo, die eine immer komplexer wer- dende Welt mit immer weniger Worten erklären, scheinen das Sagen zu haben. Überall gibt es Abschottungsbemühun- gen und politische Alleingänge. Gleich- zeitig verroht die öffentliche Diskussion immer weiter. In einer solchen Welt ha- ben Geisteswissenschaftler*innen eine besondere Verantwortung. Darum be- müht, die Welt in ihrer komplexen Un- eindeutigkeit zu reflektieren, erforschen Geisteswissenschaftler*innen die Sinn- stiftungsmechanismen von Texten im weitesten Sinne. Sie haben Präzision im Umgang mit Wörtern und Sprache ge- lernt und sind sensibel für die Begriffe, mit denen Wirklichkeit beschrieben und Handlungssituationen definiert werden. Vor allem aber sind sie Komplexitäts-

und Ambiguitätsexpert*innen, die die © UR/Martin Bockelmann Foto menschliche Existenz in ihrer ganzen, 1 Professor Dr. Volker Depkat, Dekan der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, oft widersprüchlichen Kontextualität bei seiner Festrede. begreifen wollen. Das Beharren auf der Uneindeutigkeit der Welt und des menschlichen Lebens in ihr ist eminent senschaften in der spezifischen Form ihrer haben und dass wir das bestandene Exa­ politisch, weil nur autoritäre Weltsich- Erkenntnis. men mit aller Würde und Festlichkeit, die ten in Eindeutigkeitsversprechen und die akademische Tradition so im Repertoire Homogenitätsfiktionen ankern. »Liebe Absolventinnen und Absolventen, hat, begehen. Denn es gibt bei einer Ex­ ich freue mich sehr, Sie hier heute Abend amensfeier ja auch viel zu feiern. Es geht Das erklärte der Dekan der Fakultät für zur Absolventenfeier der Fakultät für nicht nur darum, den erfolgreichen Ab­ Sprach-, Literatur- und Kulturwissen­ Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaf­ schluss des Studiums mit den Seinen fest­ schaften, Professor Dr. Volker Depkat, in ten begrüßen und Ihnen die herzlichsten lich zu begehen und sich zu seinem Erfolg seiner Festrede auf der Absolventenfeier Glückwünsche der Fakultät zum bestande­ beglückwünschen zu lassen. Es geht ja am 22. Juni 2018. In ihr reflektierte er ak­ nen Examen übermitteln zu dürfen, sei es vielmehr auch darum, das Ende eines tief tuelle nationale wie internationale gesell­ Bachelor, sei es Master, sei es Lehramt, sei prägenden Lebensabschnitts und den Be­ schaftliche Strömungen aus Perspektive es die Promotion. ginn eines neuen zeremoniell zu begleiten. der Geisteswissenschaften und sah die Schön, dass wir die akademische Tra­ Keine Angst, ich sage jetzt nichts über politische Verantwortung der Geisteswis­ dition der Absolventenfeier wiederbelebt den Ernst des Lebens, der nun bald be­

Blick in die Wissenschaft 39 41 Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften

ginnt, denn Sie haben ja alle hoffentlich Aufklärung vor allem durch die Gewaltex­ Grenze auseinanderreißen und Kleinkinder schon Ihr Studium ernst genommen, und zesse und Zivilisationsbrüche des 20. Jahr­ von ihren Eltern trennen lässt, der die Wer­ das Leben ist, wie sie alle längst wissen, hunderts ordentlich in Verruf gekommen, tegemeinschaft des Westens zerstört, der immer so ernst oder unernst wie es eben haben doch insbesondere die Philosophen Autokraten wie Vladimir Putin bewundert ist und wie man es nimmt.« Max Horkheimer und Theodor Adorno un­ und sich einem blutrünstigen Diktator wie ter dem Blickwinkel der Dialektik der Auf- Nordkoreas Kim Jong-un auf den Schoß Studium als Fortsetzung der Persön- klärung das zerstörerische Potential von setzt, während er für die Länder Europas, lichkeitsbildung mit akademischen Rationalität und Säkularität herausgearbei­ die langjährigen Verbündeten der USA in Mitteln tet und gezeigt, dass eine moralisch nicht einer auf demokratische und liberale Werte »Was ich allerdings schon sagen möchte, gebundene, rein utilitaristische Vernunft gegründeten Gemeinschaft, nur Spott und ist, dass ich hoffe, dass Sie Ihr Studium auch dazu genutzt werden kann, mög­ Hohn übrig hat. nicht nur als fachwissenschaftliche Aus­ lichst effizient zu töten und möglichst viele Separatismen, Abschottungen, Allein­ bildung, sondern auch als Phase der Per­ Zerstörungen anzurichten. gänge wohin man auch blickt – und das sönlichkeitsbildung erlebt haben. Natürlich Das ist natürlich ein gewichtiges Argu­ Ganze geht einher mit einer kaum für haben Sie in den vergangenen Jahren viel ment, und dahinter können und dürfen möglich gehaltenen Verrohung der öffent­ Fachwissenschaftliches gelernt. Sie alle wir auch nicht mit einer idealistischen Ver­ lichen Diskussion, die die Grenzen des An­ haben für Seminare und Vorlesungen Bü­ klärung der Aufklärung des 18. Jahrhun­ standes, der Höflichkeit und des Respekts cher und Aufsätze gelesen und gedanklich derts zurückfallen. Dennoch glaube ich, wieder und wieder übertritt und sie immer durchdrungen, haben Referate erarbeitet, dass es in einer Zeit, in der populistische weiter nach hinten verschiebt. Als Vater Hausarbeiten geschrieben und sind da­ Schreihälse Homogenitätsfiktionen wie das eines inzwischen sechzehnjährigen Sohnes durch in Ihrem Fach geschult worden. Sie Volk oder die Nation dazu nutzen, eine il­ frage ich mich inzwischen schon, wie man haben ungeheuer viel Fakten und Fach­ lusionsgeleitete Politik zu rechtfertigen, ihn davon überzeugt, dass Ehrlichkeit, Höf­ wissen vermittelt bekommen und sich mit in einer Zeit, in der lebensmüde religiöse lichkeit, Anstand und Respekt die Grund­ den Grundlagen, Theorien, Methoden und Fanatiker meinen, sich im Namen von wel­ lagen des Umgangs miteinander sind und dem Handwerkszeug ihres Faches vertraut chem Gott auch immer in die Luft spren­ bleiben müssen. gemacht. Sie sind also in den letzten Jahren gen und möglichst viele Leute mit sich in Angesichts der gegenwärtigen Ent- zu Fachwissenschaftler*innen geworden, den Tod reißen zu müssen, in einer Zeit, in wicklungen kann man als Geisteswissen- sind nun Germanist*innen, Anglist*innen, der selbst die verquastesten Weltsichten im schaftler*in schon verzweifeln. Man fühlt Romanist*innen, Slavist*innen, Verglei­ Internet frei und vielfach unwidersprochen sich hilflos angesichts der scheinbaren chende Kulturwissenschaftler*innen, zirkulieren können, und in einer Zeit, in der Übermacht der Vereinfacher in Politik, Medienwissenschaftler*innen – und was sogar demokratisch verfasste Staaten unter Wirtschaft und anderswo, die eine immer man sonst noch alles schönes bei uns wer­ der Formel alternative Fakten anfangen zu komplexer werdende Welt mit immer we­ den kann. lügen – in einer solchen Zeit ist es meiner niger Worten erklären, die Alternativlosig- Gleichwohl hoffe ich, ich sage es noch Meinung nach höchste Zeit, dass wir uns keiten ausmachen, wohin sie auch blicken, einmal, dass Sie Ihr Studium nicht nur als auf die Aufklärung als Grundlage eines die krude Sündenbockpolitik betreiben fachwissenschaftliche Ausbildung, son­ wissenschaftlichen Weltbildes und eines und die Krisen herbeireden, wo tatsächlich dern auch als Persönlichkeitsbildung erlebt geregelten Verfahrens zur Feststellung von keine sind, dafür aber die Probleme, die wir haben. Wissenschaft ist nämlich nicht nur Tatsachen und Prüfung von Wirklichkeits­ tatsächlich haben, nicht wirklich angehen. Fachdisziplin, Wissenschaft ist auch eine behauptungen wieder besinnen. Geisteswissenschaftler*innen, die die Weltsicht, eine Haltung zur Welt, die die Ich will gerne gestehen, dass die Ent­ Komplexität der Welt in ihrer Komplexi­ eigene Persönlichkeit tief prägt. Universität wicklungen der Gegenwart mich an diesem tät und Uneindeutigkeit zu reflektieren ist eben immer noch die Fortsetzung der Bildungsprojekt der Aufklärung zweifeln bemüht sind, bereiten jegliche Versuche, Persönlichkeitsbildung mit akademischen lassen. Wir führen weiterhin eine aufge­ eben diese Komplexität und Mehrdeutig­ Mitteln, bei der es in erster Linie darum regte und zerstörerische Debatte über keit der Welt auf unzulässige Weise zu re­ geht, selbst denkende Persönlichkeiten Migration und Migranten, obwohl ge­ duzieren, regelrecht körperliches Unwohl­ auszubilden, die den Mut haben, sich ih­ genwärtig kaum noch Flüchtlinge zu uns sein. Wir stehen kopfschüttelnd daneben res Verstandes zu gebrauchen, die die Gel­ kommen, obwohl die Wirtschaft brummt und fühlen uns zugleich macht- und hilflos. tungsansprüche und den Wahrheitsgehalt und obwohl die systematisch geschürte Ist unser Projekt also gescheitert? Sind von Aussagen aller Art kritisch zu prüfen Angst vor Verbrechen in keinem Verhält­ wir alle der Illusion erlegen, durch geistes­ in der Lage sind und die sich selbst eine nis zur Entwicklung der Kriminalitätsrate wissenschaftliche Bildung könnte die Welt Meinung bilden können.« steht. Laut polizeilicher Kriminalitätsstatistik ein bisschen besser werden? Immunisiert ist die Zahl der registrierten Straftaten im ein geisteswissenschaftliches Studium also Das Bildungsprojekt der Aufklärung in Jahr 2017 um 9,6 Prozent gegenüber dem nicht gegen populistische Verirrungen und der heutigen Zeit Vorjahr zurückgegangen, nachdem sie seit postfaktische Verwirrungen, wie wir sie ge­ »Dies, die Emanzipation des Einzelnen 2014 eher moderat angestiegen war. Wir rade erleben?« durch Bildung und Schulung des kritischen haben Bundestagsabgeordnete, die die Zeit Verstandes, ist im Kern das alte Projekt des Nationalsozialismus als »Vogelschiss« in Macht und Ohnmacht der Geistes­ der Aufklärung, das im 18. Jahrhundert der deutschen Geschichte bezeichnen. Wir wissenschaften die intellektuellen Grundlagen unserer haben einen U.S.-Präsidenten der Familien »Dass die Welt eine bessere wäre, wenn modernen Welt gelegt hat. Zwar ist die illegaler Einwanderer in die USA an der wir nur alle Geisteswissenschaftler*innen

42 Blick in die Wissenschaft 39 Macht und Ohnmacht der Geisteswissenschaften Foto © Lorenz Kienzle Photographie, Berlin Kienzle Photographie, © Lorenz Foto 2 Die Sinnstiftungsmechanismen von Texten erkennen, Präzision mit Wörtern und Sprache erlernen, die Begriffe, mit denen Wirklichkeit beschrieben wird, kritisch prüfen – das sind zentrale Kompetenzen der Geisteswissenschaftler.

wären, das kann und wird sicherlich keiner ob sie im Gedanken der Gleichheit oder in und zu erkennen, wie diese Texte Wirk­ ernsthaft behaupten. Die Welt besser zu dem der Unterschiedlichkeit gründen, ob lichkeit darstellen. Sie haben in diesem Zu­ machen – das wäre von den Geisteswis­ sie die Mitbestimmung der Vielen ermög­ sammenhang auch zu erkennen gelernt, senschaften auch zu viel verlangt, denn die lichen oder eher autoritäre Hierarchien na­ welche Perspektiven auf Wirklichkeit durch Normen und Grundwerte, nach denen wir helegen, ob sie eher inklusiv oder exklusiv einen bestimmten Text organisiert werden, leben sollen, lassen sich wissenschaftlich sind. Man kann das immer weiter machen. welche Aspekte der Wirklichkeit dadurch nicht begründen. Geisteswissenschaften Um die kritische Prüfung der politi­ in den Blick kommen und für welche As­ können uns nicht sagen, wie wir leben und schen, sozialen, wirtschaftlichen und kul­ pekte diese bestimmte Perspektive blind was wir tun sollen. Diese Erkenntnis muss turellen Implikationen von Grundwerten, ist. Gleichzeitig haben Sie zu fragen ge­ am Anfang jeder Reflexion über Macht und die Weltbilder generieren – darum geht es lernt, wer Interesse daran hatte, Wirklich­ Ohnmacht der Geisteswissenschaften ste­ in den Geisteswissenschaften. Sie können keit so und nicht anders zu repräsentieren. hen. uns deshalb zwar nicht sagen, wie wir le­ Dieses Beharren auf der Perspektivität allen Aus der Unfähigkeit, Normen und ben sollen; sie können uns aber vor Augen Wissens und der Relativität von Wirklich­ Grundwerte begründen zu können, resul­ führen, was das für ein Leben ist, das wir keitsrepräsentationen ist ein zentraler Bei­ tiert dann aber auch die Stärke der Geis­ leben, wenn wir uns bestimmte Grund­ trag, den Geisteswissenschaftler*innen in teswissenschaften. Was sie nämlich tun werte und Weltbilder zu eigen machen, die gesellschaftlichen Debatten einspeisen können – und auch leisten sollten – ist, und dann können wir uns alle fragen, ob können und müssen. Weltbilder auf die Grundwerte zurückzu­ wir so leben wollen. Gerade deshalb hoffe Sie haben auch Präzision im Umgang führen, die sie hervorgebracht haben. Hat ich, dass sie Ihr Studium nicht nur als Aus­ mit Sprache und Wörtern gelernt. Sie wis­ man diese Grundwerte hinter den Weltbil­ bildung erfahren haben, sondern auch als sen am Ende Ihres Studiums um die sprach­ dern erst einmal freigelegt, kann man die Einüben einer geisteswissenschaftlichen liche Verfasstheit von Wirklichkeit, haben Grundwerte selbst und ihre politischen und Lebensform, einer Haltung zur Welt.« ein gesteigertes Bewusstsein für Bedeu­ sozialen Implikationen und Folgen einer tungsnuancen von Aussagen und Wörtern, kritischen Prüfung unterziehen. Man kann Was Geisteswissenschaftler*innen haben ein Gefühl dafür, ob eine bestimmte fragen, ob ein bestimmtes Weltbild und können Form der Rede offen oder geschlossen, dessen Grundwerte soziale Vielfalt erlau­ »Unsere Gesellschaft braucht Sie und ihre friedvoll oder gewaltsam, demokratisch ben oder eher Homogenität erzwingen, ob Kompetenzen. Sie haben alle gelernt, oder autoritär ist. sie eher flexibel und offen für Wandel oder Texte im weitesten Sinne – also neben Ge­ Es war der Romanist Victor Klemperer, starr sind, ob sie eher Gewalt provozieren schriebenem wie Romane, Gedichte oder der als Opfer der nationalsozialistischen oder dazu angetan sind, Frieden zu stiften, Sachtexte auch Bilder und Filme – zu lesen Judenverfolgung in höchst feinsinniger Art

Blick in die Wissenschaft 39 43 Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften

erkannte, dass bereits die Sprache der Na­ tionalsozialisten totalitär und gewaltsam war, und er hat die Gewaltexzesse des Nationalsozialismus bereits aus der Lingua Tertii Imperii herausgelesen. Hoffentlich haben auch Sie gelernt, dass Gewalt immer mit der Sprache anfängt. Angesichts der unglaublichen Verro­ hung und Vulgarisierung, die der politische Diskurs durch Rechtspopulisten, Nationa­ listen und andere Ideologen gegenwärtig überall in der Welt gegenwärtig erfährt, ist die erhöhte Sensibilität für die Bedeutung und sozial-politischen Implikationen von Wörtern und sprachlichen Strukturen mo­ mentan eine gesellschaftspolitisch höchst relevante Kompetenz, die Sie alle einbrin­ gen können. Damit zusammen hängt Ihre ausge­ prägte Sensibilität für die Begriffe, mit de­ nen wir Wirklichkeit beschreiben. Geistes­ wissenschaftliche Arbeit ist immer Arbeit am Begriff, also eine möglichst präzise und kontextgenaue Definition und konzeptio­ nelle Fassung von Wörtern, die Situationen und Verläufe auf den Begriff bringen. Wer »Wir sind das Volk« ruft, möge also bitte genau sagen, wer dieses Volk eigentlich sen sozialer Kommunikation darüber ver­ Dieser Vielschichtigkeit auf die Spur sei, wer dazu gehört und wer nicht, wer ständigen, was wirklich ist und was nicht, zu kommen, sie beschreibend zu re­ darüber bestimmt, wer dazu gehört und was sie für wirklich halten wollen und was konstruieren und sie verstehend zu in­ wer nicht, und wer das Recht hat, dies nicht, wer sie sind und wer sie sein wol­ terpretieren – das ist die Aufgabe der zu definieren und warum. Wer jemanden len, wer zu ihrer Gruppe gehört und wer Geisteswissenschaftler*innen. Ihre Arbeit als Populisten charakterisiert, möge bitte nicht. Das zu wissen, immunisiert einen kommt deshalb auch niemals so richtig zu sagen, was Populismus eigentlich sei, und gegen Authentizitäts-, Originalitäts- und einem Abschluss; ihr forschendes Verste­ wer vom den Muslimen, den Flüchtlingen Ursprünglichkeitsbehauptungen jeglicher hen von Texten, Bildern und Artefakten ist oder den Terroristen redet, möge ebenfalls Art, weil jeder Geisteswissenschaftlerin, ein niemals abgeschlossener, potentiell ins bitte präzisieren, wie er das definiert und jedem Geisteswissenschaftler klar ist, dass Endlose gehender Prozess. welche Individuen und Gruppen damit ge­ es sich hierbei allenfalls um Authentizitäts­ Das ist auch deshalb so, weil die Welt meint sein sollen. fiktionen und Ursprünglichkeitsillusionen an sich und das menschliche Leben in ihr Dieses Ringen um Begriffe ist nun kein handelt.« mehrdeutig, ja uneindeutig, und ambig Selbstzweck, kein akademisches Glasper­ sind. Sie alle, meine lieben Absolvent*innen, lenspiel, sondern es trägt entscheidend Komplexitäts- und wissen aus zahllosen Lehrveranstaltungen, dazu bei, die Situation zu definieren, in der Ambiguitätsexpert*innen dass man einen Text – oder auch ein Bild wir handeln und die Probleme zu benen­ »Vor allem aber sind Sie als Geisteswissen­ oder einen Film – so oder so verstehen nen, die es zu lösen gilt. Angesichts der schaftler*innen Experten für Komplexität kann, dass es oft gar nicht so einfach ist gegenwärtig so weitgestreuten wie diffu­ und Ambiguität. In den Geisteswissen­ festzustellen, was die Aussage eines Textes sen Unsicherheit und der Desorientierung schaften geht es um die Vielschichtigkeit eigentlich ist. Sie haben auch gelernt, dass gegenüber der Zukunft ist es meines Erach­ menschlicher Existenz, um die conditio kulturelle Artefakte aller Art in vergange­ tens wichtiger denn je, die Situation, in der humana in ihrer ganzen oft widersprüch­ nen Zeiten anders gelesen und verstanden wir handeln, und die Probleme, die wir zu lichen Kontextualität. Geisteswissenschaf­ worden sind, als heute. Neben Komplexi­ lösen haben, auf den richtigen Begriff zu ten reflektieren Texte, visuelle Artefakte, tät ist deshalb Ambiguität oder Mehrdeu­ bringen – und auch dazu können Sie alle materielle Objekte und Tatsachen des tigkeit ein Schlüsselbegriff geisteswissen­ wichtige Beiträge leisten. menschlichen Lebens in Abhängigkeit von schaftlicher Forschung. Auch das ist ein Eine weitere wichtige Kompetenz kön­ ihren zeitlichen, räumlichen, gesellschaftli­ Grund dafür, warum geisteswissenschaft­ nen Sie als Geisteswissenschaftler*innen in chen, politischen, ökonomischen, religiö­ liches Arbeiten eigentlich nie so richtig zu die Gesellschaft einbringen: Ihr Wissen um sen, ästhetischen und medialen Kontexten. einem Abschluss kommt. das Geworden sein, die Konstruiertheit und Monokausale Erklärungen sind uns fremd. Die Welt der Geisteswissenschaften ist die Wandelbarkeit von Vorstellungswelten Es geht uns stets um Gemengelagen und nicht schwarz-weiß; sie ist grau. Grau, aber und Wissenssystemen. Es sind halt immer multiple Kausalitäten hinter kulturellen nicht trist, schillert sie doch in allen Varia­ die Menschen selbst, die sich in Prozes­ Phänomenen und menschlichem Handeln. tionen der Farbe Grau, und das ist aufre­

44 Blick in die Wissenschaft 39 Macht und Ohnmacht der Geisteswissenschaften

gend, wenn nicht gar erregend, doch will das dann aber auch, dass das Beharren auf Geisteswissenschaftler*innen fortan ha­ ich von der Erotik der Fifty Shades of Grey Komplexität und Ambiguität, dass also die ben – und da wollte ich Ihnen zum Ab­ hier nicht weiter reden. Freude an der Farbe Grau, Ausdruck einer schluss Ihres Studiums nur noch einmal Das geisteswissenschaftliche Behar­ zutiefst demokratischen Haltung zur Welt zeigen, wo der Hammer hängt.« ren auf Komplexität und Uneindeutigkeit sind. Dies kann durch eine geisteswissen­ ist in einer Welt, die klare Resultate und schaftliche Intellektualität, die ihre eige­ eindeutige Antworten haben will, schwer nen Prämissen ernst nimmt, nur gestützt Literatur zu vermitteln. Und dennoch: Wir sollten werden, und auch deshalb sollten Sie alle stur bleiben, und auf der Eigenart geistes­ als Geisteswissenschaftler*innen durch die Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik wissenschaftlicher Erkenntnis bestehen. Welt gehen.« der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frank­ In Zeiten wie diesen ist das Beharren der furt am Main: S. Fischer Verlag, 1988. Geisteswissenschaften auf Komplexität Sich die Welt auch anders vorstellen Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. und Ambiguität nämlich eminent politisch. können Ditzingen: Reclam, 2018. Die Welt, in der wir leben, ist an sich »Am wichtigsten aber scheint mir zu sein, komplex und mehrdeutig. Daran können dass Geisteswissenschaftler*innen in der Victor Klemperer: Lingua Tertii Imperii. Notizbuch eines Philologen. 25. durchgesehene Auflage. wir nichts ändern, das ist unhintergehbar. Lage sind, sich die Welt auch anders vor­ Stuttgart: Reclam, 2015. Mir scheint es aber so, dass Komplexität zustellen als sie ist. Dieses Sich-die-Welt- von vielen nicht länger als zivilisatorischer auch-Anders-Vorstellen-Können ist die Fortschritt und damit als etwas Positives geisteswissenschaftliche Kompetenz mit gesehen wird. Im Gegenteil, eine wach­ der größten gesellschaftspolitischen Reich­ sende Zahl von Menschen ist offenbar weite, denn momentan deuten wir die Prof. Dr. Volker Depkat, geboren 1965 zunehmend weniger bereit, Ambiguität Welt, in der wir leben, zu sehr in Kategorien in El Paso, Texas, USA. Studium der Fä­ und Mehrdeutigkeit als unhintergehbare des Unausweichlichen, des Notwendigen, cher Geschichte, Englisch und Deutsch an Grundtatsache modernen Lebens zu ak­ der Alternativlosigkeit, des Sachzwangs den Universitäten Bonn, Eugene (Oregon, zeptieren. und der ökonomischen Rationalität, die USA) und Göttingen. Promotion 1996 in Und da sind wir nun in der Politik, ge­ uns scheinbar keine andere Wahl lässt als Göttingen mit einer Arbeit zu Amerikabil­ nauer bei den autoritären, rechtspopulis­ die, die wir gerade getroffen haben. Was dern in politischen Diskursen. Deutsche tischen und antidemokratischen Kräften, aber, wenn der Sachzwang nur unter den Zeitschriften, 1789–1830 (Stuttgart: Klett Cotta, 1998). Habilitation im Fach Neu­ die sich gegenwärtig überall in der Welt Bedingungen eines bestimmten Denkens ere und Neueste Geschichte 2003 an der eines starken Zulaufs erfreuen. Vieles von ein Sachzwang ist, der ganz plötzlich ver­ Universität Greifswald mit einer Studie zu dem, was aus dieser Ecke kommt, hat mit schwindet, wenn man nur einmal anders Lebenswenden und Zeitenwenden. Deut- Eindeutigkeitsversprechen, Homogenitäts­ zu denken anfängt? sche Politiker und die Erfahrungen des sehnsüchten und der Verneinung von just So, das alles war jetzt vielleicht etwas 20. Jahrhunderts (München: Oldenbourg, der Komplexität und Ambiguität unseres zu schwer für diesen festlichen Anlass, bei 2007). Seit 2005 Professor für Amerika­ modernen Lebens zu tun, hinter die es dem es ja in erster Linie darum gehen soll, nistik an der Universität Regensburg. Seit kein Zurück geben kann. Nur autoritäre Party zu machen und Sie gebührend zu fei­ 2015 Dekan der Fakultät für Sprach-, Lite­ Weltsichten ankern in Eindeutigkeit, nur ern. Und Sie sollen es heute Abend ja auch ratur- und Kulturwissenschaften. autoritäre Regime reduzieren Diversität krachen lassen – und dafür wünsche ich Forschungsschwerpunkte: Geschichte und dies zur Not auch mit Gewalt, nur au­ Ihnen jetzt schon viel Spaß. der USA in kontinentaler Perspektive von toritäre Ordnungen ankern in Homogeni­ Allerdings ändert das nichts an der der Kolonialzeit bis zur Gegenwart, Ge­ tätsfiktionen. Der Philosoph Thomas Bauer Tatsache, dass wir, die Lehrenden der schichte der europäisch-amerikanischen hat in seinem wunderbaren Büchlein Die Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kul­ Beziehungen von der Frühen Neuzeit bis Vereindeutigung der Welt sehr luzide he­ turwissenschaften, Sie heute zwar aus in die Gegenwart, Biographie- und Au­ rausgearbeitet, dass Fundamentalismus dem Studium entlassen können, nicht tobiographieforschung, Visuelle Kulturen und Totalitarismus ambiguitätsverneinende aber aus Ihrer politischen und sozialen des Politischen, Föderalismusforschung. Ideologien sind. Im Umkehrschluss heißt Verantwortung, die Sie als nun amtliche

Blick in die Wissenschaft 39 45 Katholische Theologie

Analytische Philosophie trifft Theologie Über einen neuen und streitbaren Stil in der systematischen Theologie Thomas Schärtl-Trendel

Mit einem Fördervolumen von insge- lytische Philosophie mit ihrem Mut zur nur noch die echten philosophischen Fra­ samt 1,2 Mio. Euro hat die John Temple­ logischen Rekonstruktion und innovati- gen beantworten zu müssen. Das waren ton Foundation von 2015 bis 2018 ein ven Theoriebildung. zumeist Fragen der mathematischen Logik Projekt zur Analytischen Theologie un- oder der Wissenschaftstheorie, der Bedeu­ terstützt, an dem auch der Lehrstuhl für tungs- und Erkenntnistheorie. Denkt man Philosophische Grundfragen der Theo- Die wechselvolle Beziehung an Protagonisten wie Bertrand Russell oder logie an der Universität Regensburg si- der analytischen Philosophie zu Rudolf Carnap und an die durchaus hefti­ gen Invektiven gegen die alten metaphy­ gnifikant beteiligt war. Dieser neue Stil religiösen Überzeugungen der Theologie ist gewissermaßen in der sischen Zöpfe der Philosophie und die an­ wissenschaftlichen Pubertät und daher geblich wissenschaftlich Sinn entbehrende nicht aus allen »Heranwachsensproble- Wer die Entwicklung der Philosophie im Sprache der Religion, so kann man in der men« heraus: Eine gewisse Irritation, 20. Jahrhundert im Hinterkopf hat, der Tat fragen, wie Theologie und analytische die aus der Begegnung mit anderen wird bei dem Stichwort »Analytische Philosophie zusammengehen können. Das theologischen Stilen resultiert, ist daher Theologie« vielleicht erst einmal ein we­ karge Brot der logischen Rekonstruktion noch unvermeidlich. Aber es zeigt sich nig staunen. Analytische Philosophinnen scheint den opulenten begrifflichen An­ bereits, dass die Theologie mit diesem und Philosophen – das waren doch die­ sprüchen der Theologie doch erst einmal auf Klarheit und Exaktheit ausgelegten jenigen, die alle denkerischen Probleme wenig anbieten zu können. Programm aufschließen und das be- einer beinharten logischen Analyse oder Die analytische Philosophie hat aller­ herzigen kann, was in der Philosophie einer sogenannten Sinnlosigkeitsüberprü­ dings in den nunmehr über einhundert inzwischen als Goldstandard gilt: ana- fung unterziehen wollten, um am Ende Jahren, da sie mit namhaften Autoren die Bühne betreten hat, eine gewaltige Ver­ wandlung und Häutung erlebt. Als Philo­ sophie war sie selbst dem Druck einer für die Philosophie typischen Selbstkritik und Reflexion ausgesetzt, sodass die frühen Slogans und Dogmen des analytischen Denkens inzwischen nicht mehr gelten. In den Reihen der großen Namen der analy­ 1 Die moderne Kosmologie tischen Philosophie finden wir Theistinnen hat uns ein nie dagewesenes und Atheisten, Religionsphilosophinnen Gefühl für die Majestät des und Agnostiker, Naturalisten und Idealistin­ Universums vermittelt. Muss nen, Existenzialistinnen und Wissenschafts­ ein theologisch angemes­ sener Gottesbegriff diese theoretiker. Was diese inzwischen hoch Unermesslichkeit in sich diversifizierten Positionen, Auffassungen spiegeln können? und Ansätze vereint, ist eine methodische Foto/Image Credit: NASA, ESA, and the Grundüberzeugung: Begriffliche Schärfe, Hubble Heritage Team (STScI/AURA) Acknowledgment: W. Blair (STScI/JHU), argumentative Transparenz und logische Carnegie Institution of Washington (Las Campanas Observatory), and NOAO (ht­ Rekonstruierbarkeit stellen ein unabding­ tps://www.spacetelescope.org/images/ bares Mittel eines echten philosophischen heic1403b/); Lizenz CC BY 4.0 (https:// creativecommons.org/licenses/by/4.0/) Erkenntnisgewinns dar. In der Anwendung

46 Blick in die Wissenschaft 39 Philosophische Grundfragen der Theologie

dieser Mittel drücken sich intellektuelle Tugenden aus, die es gestatten, philoso­ phische Debatten als echtes, streitendes Ringen zu führen. Wer im Lichte dieser Transformation und Wandlung der analyti­ schen Philosophie auf die europäische Phi­ losophiegeschichte zurückschaut, wird in Platon und Aristoteles, Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, Descartes und

Leibniz echte Vorbilder dieser Art des Den­ - Gedenkstätte Flossenbürg kens erblicken. Der Prototyp der analytischen Philoso­ phin oder des analytischen Philosophen – nicht zufällig ein Gewächs der britischen und US-amerikanischen Campus-Universi­ tätskultur – unterscheidet sich sehr mar­ kant von dem klassischen (deutschen oder französischen) Klischee der typischen Phi­ losophen, die sich in einem ewigen Krei­ sen, in pointenreichen Andeutungen, viel­ sagenden Assoziationsketten, aber auch

in einer nicht immer ganz verständlichen © Lisa Hindelang, aufgenommen in der Ausstellung der KZ Foto Sprechweise sozusagen immer tiefer ins 2 Die Gräueltaten des 20. Jahrhunderts haben Zweifel daran aufkommen lassen, dass Gott wie ein Sein wühlen, um dann mit ihrem ergrif­ personaler Akteur mit moralischer Verantwortung konzipiert werden darf. fenen und erstaunten Auditorium einen heiligen Schauer zu teilen. Nicht so der analytische Philosoph bzw. die analytische gelegte Arbeiten zu genuin theologischen stehung der Toten – für all diese durchaus Philosophin unserer Tage: Sein bzw. ihr Ziel Themen – wie Trinität, Menschwerdung angefochtenen Glaubensinhalte kann die ist die Darlegung eines offenen, transpa­ Gottes, Auferstehung der Toten – finden analytische Philosophie zwar keine letzt­ rent gemachten Arguments, das sich an ­ lassen. Diese Befassungen stehen freilich gültig zwingenden Gründe aufbieten, aber einer Theorie abarbeitet oder zu einer unter einem spezifischen Vorzeichen, die doch eine Remodellierung mithilfe meta­ neuen Theoriebildung einlädt – verbun­ sich in der Frage zusammenfassen lassen: physischer Denkformen, die zumindest das den oft auch mit einer Lust an begrifflich- »Wie lässt es sich vernünftig denken (zum Fazit erlauben, dass hier nichts geglaubt technischer Virtuosität, subtiler Differen­ Beispiel dass Gott trinitarisch ist und doch wird, was vernunftwidrig und begrifflich zierungskunst und akademischem Schlag­ einer, dass ein ewiger Gott Mensch wird, unzugänglich wäre. Eine letzte Sektion abtausch. dass ein gütiger Gott Leid zulässt, dass der wiederum befasst sich mit Fragen der Mensch seinen Tod überleben kann etc.)?« christlichen Ethik und Spiritualität – und Wer das fast eintausend Seiten starke, bemüht sich auch hier um eine klare be­ Methodenprobleme? von Professor Dr. Thomas Schärtl-Trendel griffliche, argumentativ nachvollziehbare federführend mitherausgegebene und Rekonstruktion einiger zentraler Fragen. Angesicht der Häutungen der analytischen 2017 erschienene Handbuch für Analy- So beeindruckend die Resultate sind, die Philosophie ist es nun nicht mehr ganz tische Theologie aufschlägt, bekommt diese Methodik hervorbringt, welche – wie so überraschend, dass innerhalb dieses einen ersten Eindruck in das, was eine bereits herausgestellt – in der analytischen Zweiges von Philosophie eine produktive analytische Theologie ist und was aus ihr Religionsphilosophie schon seit Jahrzehn­ Auseinandersetzung mit religiösen Über­ noch werden könnte: Da wird zunächst ten etabliert ist, so deutlich sind aber auch zeugungen und der Gottesfrage stattge­ die analytische Methode als solche diffe­ die Anfragen: Zum einen wird nicht ganz funden hat – eine Auseinandersetzung, renziert und in Auseinandersetzung mit zu Unrecht kritisiert, dass eine analytische die für die Theologie besonders spannend anderen philosophischen Stilen kritisch Theologie im Moment noch kaum von ei­ und lehrreich sein kann. Schon seit den und konstruktiv diskutiert. In einer zweiten ner analytisch eingefärbten Religionsphilo­ 1950er Jahren etablierte sich eine analy­ Sektion wird ausführlich auf die Frage der sophie und einer ähnlich gelagerten phi­ tisch geprägte Religionsphilosophie und Vernünftigkeit des religiösen Glaubens re­ losophischen Theologie zu unterscheiden philosophische Theologie, die zunächst flektiert, wobei die in Dienst genommenen sei. Es fehle noch an überzeugenden Kon­ nach dem Bedeutungsgehalt religiöser Vernunftstandards immer wieder kritisch zepten, die beispielsweise zu einer entspre­ Sprache, sodann im Weg über die Prob­ reflektiert werden – bis hin zu der Frage, ob chenden Klärung des Offenbarungsbegrif­ lematisierung der Vernünftigkeit religiöser religiöse Überzeugungen so beurteilt wer­ fes beitragen könnten oder aber zu einer Überzeugungen schlussendlich nach den den können wie andere Annahmen sonst. Hermeneutik, die es erlaubte, produktiv in konzeptionellen Ansprüchen, die mit dem In einer dritten Sektion werden Kerninhalte einen interreligiösen Dialog zu treten. Eine Gottesbegriff aufgegeben sind, fragt. In­ des christlichen Glaubens mit Hilfe der ana­ analytische Theologie der Sakramente oder zwischen sind diese Debatten so konkret, lytischen Methodik luzide rekonstruiert: Tri­ gar der Kirche ist nach wie vor ein Desi­ dass sich auch dezidiert philosophisch an­ nität, Inkarnation, der Glaube an die Aufer­ derat. Zum anderen wird bemängelt, dass

Blick in die Wissenschaft 39 47 Katholische Theologie

analytische Theologen und Theologinnen zum Kernbestand des christlichen Gottes- gensburger Projekt hier in der Tat das ent­ noch zu affirmativ mit der Glaubensüberlie­ begriffes? Und welche Gründe könnten scheidende, philosophisch nachklingende ferung umgehen, ja sie eher wie ein Theo­ dafür sprechen, alternative Gottesbegriffe Stichwort: Revisionen werden – unter rien-Depositum verstehen und mehr an der zu formulieren? Auf den ersten Blick schei­ wissenschaftstheoretischen Gesichtspunk­ ingeniösen, mit metaphysischen Modellen nen solche Fragen erneut zu überraschen: ten – immer dann notwendig, wenn eine untermauerten Verdeutlichung und Veran­ Sollte in der Theologie nicht immerhin der bestimmte Ausgangstheorie nicht mehr schaulichung der Glaubensinhalte als an Gottesbegriff klar sein? Ein Blick in die zu einem Phänomenbereich zu passen der kritischen Aufklärung mancher theo­ Theologiegeschichte der jüngeren Zeit scheint, wenn der Phänomenbereich, den logischer Engführungen interessiert sind. legt aber offen, wie schwierig die Kontu­ es zu verstehen und zu erklären gilt, kom­ Gerade Theologinnen und Theologen, die ren des Gottesbegriffes auszumessen sind: plexer oder andersartiger ist, als zunächst an sogenannten postmodernen Philoso­ Ist ein Gott, der sich für die Geschicke der angenommen. Auch wenn philosophische phien geschult sind (wie etwa an Foucault Menschen interessiert und sich in der Ge­ und theologische Theoriebildung nicht oder Lacan), würden hier einwenden, dass schichte engagiert, überhaupt mit jenem direkt ein bestimmtes Datenmaterial zum sich in die Formulierung von Glaubensaus­ Begriff eines unwandelbaren, ewigen, in Ausgangspunkt nehmen kann (allerdings sagen und Dogmen auch zeitbedingte und ist dies in einigen theologischen Unterdis­ kulturell bedingte Grundüberzeugungen ziplinen durchaus der Fall), so gibt es doch und darüber hinaus auch durchaus nicht einen (wenn auch sehr globalen) Phäno­ immer leicht zu entdeckende Machtme­ menbereich, den man als »die Wirklichkeit« chanismen eingeschlichen haben, deren und als das damit zusammenhängende Entlarvung und kritische Aufdeckung für Bemühen um ein Verständnis dieser Wirk­ ein adäquates Verständnis des Glaubens­ lichkeit fassen könnte. Gerade die Ausei­ gutes überaus wichtig sei. Ob eine solche nandersetzung der Theologie mit dem kritische Hermeneutik unter analytischem modernen, wissenschaftsaffinen Denken Vorzeichen entwickelt werden kann, wird hat zwei Grenzmarken bewusst werden im Augenblick offen und durchaus hitzig lassen: Die Grenzziehung zwischen Geist diskutiert. Zur Verteidigung verweisen und Natur hat die Vorstellung von einem Stimmen einer analytischen Theologie Designer-Gott ebenso befördert wie pro­ hier optimistisch auf die großen Gestalten blematisch erscheinen lassen. Gleichzeitig der analytischen Philosophie (wie Ludwig muss Gott – unter theistischen Vorzeichen Wittgenstein, Donald Davidson oder Hilary – nach wie vor als letzter Grund von allem Putnam), die den frühen sprachkritischen gedacht werden können. Es ist vor diesem Geist der analytischen Philosophie bewahrt Hintergrund nicht überraschend, dass die haben und in deren Sprachphilosophie sich Vorstellung von einem allzu personalen ausbaubare Elemente einer kritischen Her­ Schöpfergott buchstäblich fadenscheiniger meneutik finden. wird; sie steht einer Erfahrung von Natur

Trendel als einer kolossalen, staunenswerten, aber vollkommen eigenständigen und letztlich Gesucht: Gott für das a-personalen Größe gegenüber. Auf der 21. Jahrhundert anderen Seite hat es in jüngerer Zeit so­

Foto: Thomas Schärtl - Foto: wohl theismus-neutrale (Thomas Nagel, 3 Im englischsprachigen Raum und den dorti­ Galen Strawson) als auch theismus-affine Das Regensburger Projekt, an dem direkt gen Verlagen ist »analytische Theologie« schon (Yujin Nagasawa, John Leslie) Versuche ge­ Professor Dr. Thomas Schärtl-Trendel und länger ein fester Begriff. Im deutschsprachigen geben, die strikte Trennung von Geist und seine Mitarbeiter/innen Dr. Martin Blay, Bereich verhalf das Handbuch diesem Paradigma Natur ihrerseits noch einmal aufzuheben – Dr. Andreas Reitinger, Alena Bischoff, Ka­ zu erster, großer Bekanntheit. ein Unternehmen, das (zumindest für man­ tharina Wiedemann und Katharina Del Re, che) eine neue Ausgangsbasis für einen die beiden Templeton-Stipendiaten Martin alternativen Gottesbegriff sichtbar macht. Klinkosch und Benjamin Mitterrutzner so­ sich einfachen »Absoluten« einzuholen? Das Regensburger Projekt konzen­ wie indirekt die Doktoranden/Doktoran­ Haben die Grausamkeiten des 20. Jahrhun­ trierte sich speziell auf die Umrisse, Fort­ dinnen Jan-Levin Propach und Aysenur derts uns nicht eine Rätselhaftigkeit und schreibungen und Transformationen des Ünügür Tabur involviert waren, hatte aber Dunkelheit in Gott gezeigt, die es vielleicht so genannten klassischen Theismus, der nicht primär die grundsätzliche Frage zum gar nicht mehr gestatten, den Satz: »Gott an der Ewigkeit, Einheit und Aseität Got­ Thema, ob sich die Methode analytischer existiert« ohne Zusatz und Einschränkung tes festhält, was die Frage aufwirft, ob und Philosophie für die Bearbeitung theolo­ über die Lippen zu bringen? Und zwin­ wie sich hier personale Elemente (Gottes gischer Fragestellungen eignen würde. gen uns die atemberaubenden Einsichten Empathie und Mitleidensfähigkeit, seine Derartige Grundsatzfragen bildeten ledig­ der modernen Kosmologie, aber auch der Beziehungen zum Anderen seiner selbst) lich die Hintergrundfolie für ein deutlich Evolutionsbiologie dazu, die Vorstellung integrieren lassen und ob der klassische spezifischeres, im Kern noch nicht abge­ von einem allzu personalen Schöpfergott Theismus nicht eine gewissermaßen natür­ schlossenes Forschungsprojekt, das sich einer Revision zu unterziehen? Der Aus­ liche Neigung hin zu non-standard-theisti­ auf die Formel bringen lässt: Was gehört druck »Revision« war und ist für das Re­ schen (zum Beispiel pantheistischen oder

48 Blick in die Wissenschaft 39 Philosophische Grundfragen der Theologie panentheistischen) Konzeptionen hat. Wer ähnlich wie die Methoden analytischen Literatur hier an klassische Autoren wie Johannes Philosophierens und spekulativer Theolo­ Scottus Eriugena oder Nikolaus von Kues gie überhaupt: Sie bedient sich begriffli­ Georg Gasser, Ludwig Jaskolla, Thomas Schärtl denkt, wird die letztgenannte Frage beja­ cher Überlegungen und orientiert sich an (Hrsg.), Handbuch für Analytische Theologie. STEP hen dürfen und kann gleichzeitig zeigen, traditionellen und modernen Klassiker­ 11. Münster: Aschendorff Verlag, 2017. wie wandlungs- und integrationsfähig der texten. Dieses Vorgehen spiegelt sich an Thomas Marschler, Thomas Schärtl (Hrsg.), Got­ klassische Theismus ist: Er kann (wie bei verschiedenen Dissertationen, die direkt tes Eigenschaften. Ein Gespräch zwischen analy­ tischer Philosophie und systematischer Theologie. Anselm von Canterbury) personale Aspekte im oder im Umkreis des Projektes entstan­ STEP 6. Münster: Aschendorff Verlag, 2016. in den Gottesbegriff integrieren; er kann den sind und entstehen: Wie verhält sich Thomas Marschler, Thomas Schärtl (Hrsg.), He­ aber auch überpersonale und panenthe­ Gott zu abstrakten, ewigen Objekten (wie rausforderungen und Modifikationen des klas­ istische Elemente inkludieren (wie sich an Universalien, Propositionen oder Zahlen)? sischen Theismus, Band 1: Trinität. STEP 17/1. Scottus Eriugena zeigen ließe). Kann man sich vorstellen, dass Gott der­ Münster: Aschendorff Verlag, 2019. artig notwendige Entitäten erschaffen hat? Thomas Schärtl, Christian Tapp, Veronika Wege­ (Nein, kann man nicht; denn dann wären ner (Hrsg.), Rethinking the Concept of a Personal Internationale Vernetzung sie nicht notwendig. Aber Gottes Aseität, God. Classical Theism, Personal Theism, and Al­ d. h. seine radikale Unabhängigkeit, ver­ ternative Concepts of God. STEP 7. Münster: So genannte Cluster-Initiativen erlaubten bietet eigentlich, dass etwas Notwendiges Aschendorff Verlag 2016. innerhalb des Forschungsprojekts Koope­ außer ihm existiert.) Gibt es in der islami­ Thomas Schärtl, Gott denken – Gott glauben. rationshauptseminare und Konferenzen in schen Theologie Spiegelungen einer ähnli­ Philosophisch-theologische Grenzfragen. Regens­ Zusammenarbeit mit anderen Hochschulen chen Problemlage: nämlich der Spannung burg: Pustet Verlag, 2019. und Universitäten; eine enge Verbindung zwischen personalem und klassischem ergab sich hier zum Institut für Christliche Theismus und einer gewissen Affinität zwi­ Philosophie in Innsbruck und zur Hoch­ schen dem klassischen Theismus und so schule für Philosophie in München. Für genannten Non-Standard-Konzeptionen? Regensburger Studierende bot sich die Ge­ (Ja, die gibt es – wenn man sich nur mal legenheit, bekannte Gelehrte aus anderen die Spannungen in den Gotteskonzepten Standorten (insbesondere aus den USA, bei Avicenna, Al Ghazali und Al Surawardi aus dem Vereinigten Königreich sowie aus vor Augen führt.) Lässt sich der Wunder­ Neuseeland) kennenzulernen, ein wenig begriff in eine naturalistische und mit dem internationale Debattenluft zu schnuppern Theismus versöhnte Weltsicht integrieren? und sich mit dem einen oder anderen ei­ (Ja, unter bestimmten Voraussetzungen genen Qualifikationsarbeitsthema vertraut schon; die Heranziehung des naturphi­ zu machen. Eine verlässliche Partnerschaft losophisch berühmt gewordenen Emer­ kristallisierte sich im Rahmen dieser, von genzbegriffes kann hier einen Ausweg der Templeton Foundation mit eigenen weisen.) Oder sollten wir allen konkreten Zuschüssen geförderten, Cluster-Initiative Religionen gegenüber eine eher skeptische mit dem Lehrstuhl für Dogmatik (Pro­ Haltung einnehmen und lieber einen bloß fessor Dr. Dr. Thomas Marschler) an der abstrakten Gottesbegriff verfechten, der Universität Augsburg heraus: Zwei, von sich am Ende unserer kognitiven Evolution Augsburg und Regensburg gleichermaßen als Menschheit vielleicht erst adäquat fül­ getragene internationale Konferenzen gin­ len lässt? (Nun ja, eine solche Haltung wäre © UR/Roswitha Kerzdörfer Foto gen im Sommer 2017 und 2018 der Frage nur dann angebracht, wenn Religion und Prof. Dr. Thomas Schärtl-Trendel, ge­ nach, wie sich der Gottesbegriff des oben Wissenschaft auf derselben Ebene anzusie­ boren 1969, Studium der Theologie und beschriebenen klassischen Theismus mit deln wären.) Philosophie in Regensburg und München. dem christlichen Glauben an Trinität und Natürlich kann ein dreijähriges Pro­ 2001 Promotion zum Dr. theol. in Tübin­ Menschwerdung zusammendenken lässt jekt keine abschließenden Antworten auf gen, 2007 Habilitation zum Dr. phil. ha­ und ob eben diese wichtigen Glaubens­ solche und andere Fragen formulieren; bil. an der Hochschule für Philosophie in überzeugungen nicht doch eine Revision gerade die religionswissenschaftlichen München. Von 2006 bis 2009 Assistant eines metaphysischen Gottesbegriffes not­ Detailfragen zu den tatsächlichen Ver­ Professsor of Systematic Theology an der wendig machen. ästelungen von Gottesbegriffen allein in Catholic University in Washington D.C., 2009 bis 2015 Professor für Philosophie Wie erarbeitet man sich derartige und den abrahamitischen Religionen macht an der Katholisch-Theologischen Fakultät vergleichbare Fragen? Analytische Theo­ Anschlussprojekte ebenso sinnvoll wie der Universität Augsburg, seit 2015 In­ logie ist eine Mixtur aus systematischer dringlich. Die ersten Ergebnisse des Re­ haber des Lehrstuhls für Philosophische Theologie und philosophischer Theologie gensburger Projektteils lassen aber schon Grundfragen der Theologie an der Univer­ und Metaphysik; die empirische Erfor­ jetzt den durchaus optimistischen Schluss sität Regensburg. schung bestimmter Glaubensüberzeugun­ zu, dass der oft verfemte (weil als starr und Forschungsschwerpunkte: Philosophi­ gen und der sie verändernden Faktoren zu metaphysisch apostrophierte) klassische sche Theologie, Religionsphilosophie, Got­ ist (noch) nicht ihr Fokus. Deshalb sind Theismus wandlungs- und anpassungsfähi­ teslehre, Metaphysik, Erkenntnis­theorie. die Methoden analytischer Theologie so ger ist, als man gemeinhin annimmt.

Blick in die Wissenschaft 39 49 Naturschutzbiologie

Spotlight Wie alt werden Pflanzen? Warum sterben sie? Peter Poschlod und Sergey Rosbakh

Die Arnika ist eine bemerkenswerte nien) erreichen, die Patagonische Zypresse Pflanze. Wenn die Standortbedingungen – (Fitzroya cupressoides) kann mehr als 3600 wie offene, magere und bodensaure Ra­ Jahre alt werden und der Riesenmammut­ sen oder Heiden – stimmen, dann kann baum (Sequoiadendron giganteum) mehr sie trotz ungeeigneter Landnutzung/Pflege als 3200 Jahre [1]. In Europa gilt als äl­ und fehlender Verjüngung über Samen tester Baum die in einigen Gebirgen des überleben (Spotlight zur Echten Arnika in Balkans und in Süditalien vorkommende Blick in die Wissenschaft, Heft 38, 2018). Schlangenhautkiefer (Pinus heldreichii). Im Ihr klonales Wachstum (vegetative Ver­ süditalienischen Nationalpark Pollino kön­ mehrung über unterirdische Sprosse = Rhi­ nen sie über 1200 Jahre alt werden (eine zome) machte es möglich. Pflanzenklone Datenbank alter Bäume verzeichnet http:// können theoretisch unendlich alt werden. www.rmtrr.org/oldlist.htm). Der nachweislich bisher größte und wahr­ Während für viele holzigen Arten küh­ scheinlich älteste Pflanzenklon bedeckt fast ler Klimata, in denen in der Regel Jahres­ einen halben Quadratkilometer in der Re­ ringe ausgebildet werden, Daten zu ihrem gion Fishlake des US-Bundesstaates Utah maximalen Alter vorliegen, wussten wir und besteht aus etwa 47 000 Stämmen bis vor kurzem nur sehr wenig zum Alter der amerikanischen Zitterpappel (Populus nicht-klonaler, krautiger Pflanzen, außer tremuloides). Er wird auf mehr als 10 000 dass einjährige, zweijährige und mehr­ Jahre alt geschätzt (Mock et al. 2008). jährige Pflanzen unterschieden wurden. Wegen seiner Größe wird er »Pando« (von Zwar schrieb schon 1929 der »Vater« der lateinisch pandere = ausbreiten) genannt. Forschung zur Lebensdauer von Pflanzen, Genetische Untersuchungen offenbarten der österreichische Botaniker Hans Mo­ die Ausdehnung des Klons. Mit Hilfe der lisch, dass manche Kräuter Jahresringe vegetativen Wachstumsgeschwindigkeit aufweisen können, diese galten aber eher wurde dann das Alter grob geschätzt. Der als Ausnahme: »…in a very few cases her­ älteste Klon Europas, der bisher nachge­ baceous plants develop annual growth wiesen wurde, gehört zur Krummsegge rings« (Harper, 1977 in Schweingruber (Carex curvula), die in den Zentralalpen & Poschlod, 2005). Erst eine umfangrei­ oberhalb der Waldgrenze in alpinen Rasen che Studie im neuen Jahrtausend zeigte, wächst. Die Altersberechnung des Klons dass Jahresringe bei krautigen Arten (nur ergab etwa 2000 Jahre (siehe Schweingru­ zweikeimblättrige Arten!) eher die Re­ ber & Poschlod, 2005). gel als die Ausnahme sind [2]. Sie sind Wie alt kann aber eine Pflanze, die sich meist nur in einem kleinen Abschnitt der nicht vegetativ, sondern nur über Samen Pflanze, dem Wurzelhals (Übergang vom vermehren kann, werden? Wenn wir an Spross zur Wurzel), zu finden. Von über das Alter solcher nicht-klonaler Pflanzen 700 untersuchten Pflanzenarten der mit­ denken, denken wir zuallererst an Bäume. teleuropäischen Flora wiesen nur etwas Ihr Alter lässt sich mit Hilfe von Jahresringen weniger als 10 % keine Jahresringe auf genau bestimmen, so denn der innere Teil (Schweingruber & Poschlod, 2005). Dabei des Baumes nicht bereits vermorscht bzw. 1 Der Riesenmammutbaum (Sequoiadendron zeigte sich, dass es eine Gruppe von Arten giganteum) kann über 3000 Jahre alt werden. hohl ist. Die ältesten Bäume auf unserer gab, die in der Regel bis zu maximal zehn Der hier abgebildete Baum wird »General Grant« Erde sind Koniferen. Die Langlebige Kiefer genannt. Er gehört vom Volumen zu den drei Jahre alt wurden und eine andere Gruppe (Pinus longaeva) kann ein Alter von über größten Pflanzenindividuen der Erde. von Arten, die bis zu 20 Jahre alt werden 4800 Jahren (White Mountains, Kalifor­ Foto: Peter Poschlod konnten, in wenigen Fällen auch mehrere

50 Blick in die Wissenschaft 39 ????Wie alt werden Pflanzen?

Jahrzehnte. Die ältesten Individuen fan­ den sich in alpinen Lebensräumen bei der Herzblättrigen Kugelblume (Globularia cordifolia; 60 Jahre), beim Alpen-Klee (Tri- folium alpinum; 50 Jahre), dem Schweizer Labkraut (Galium megalospermum; 35 Jahre) und dem Alpen-Frauenmantel (Al- chemilla alpina; 34 Jahre). Das Vorkommen besonders alter Pflan­ zen in den Alpen warf die Frage auf, ob Ar­ ten an extremen Standorten (in den Alpen geringere Jahresmitteltemperaturen und kürzere Vegetationsperiode) älter werden. Eine erste Auswertung nicht systematisch erhobener Daten von Schweingruber & Po­ schlod (2005) ergab bereits, dass Arten in kühleren Gefilden und an nährstoffarmen Standorten wahrscheinlich älter werden als unter warmen und nährstoffreichen Bedin­ gungen. Was den Feuchtigkeitsgehalt des Bodens anbetraf, wurden dagegen Arten auf trockenen und nassen Standorten we­

niger alt. Arten von Standorten mittlerer Poschlod Peter Foto: Michaela Adlmüller Foto: Bodenfeuchtigkeit erreichten das höchste 2 Die krautige Sandgrasnelke (Armeria maritima ssp. elongata) kann bis zu 20 Jahre alt werden: Alter. Die erste detaillierte Studie und bis­ Links ein Individuum in einem Sandmagerrasen südlich Nürnberg. Das rechte Bild zeigt den Quer­ her einzige dieser Art bestätigte »endlich« schnitt durch den Wurzelhals mit deutlich sichtbaren Jahresringen, mit weitlumigen Gefäßen im Früh­ diese Annahme (Rosbakh & Poschlod, jahr und englumigen im Herbst (Alter 17 Jahre). 2018). In dieser Studie wurden zwei Pflan­ zenarten in Kalkmagerrasen untersucht, die vom Tiefland (350 m über Normalnull Verhungern«, erbringt. Diese Hypothese, dung der unterirdischen Wurzelbiomasse entspricht etwa 8,5°C Jahresmitteltempe­ die sich noch heute ohne wirklichen Nach­ irgendwann nicht mehr ausreicht, um die ratur) bis in die Hochlagen der Berchtes­ weis in den Lehrbüchern findet, besagt, kontinuierlich zunehmende oberirdische gadener Alpen (2300 m über Normalnull dass Pflanzen deshalb sterben, weil die Bil­ Biomasse zu ernähren. Wächst eine Pflanze entspricht etwa 2,0°C Jahresmitteltempe­ ratur) vorkamen. Die beiden Arten waren der Hornklee (Lotus corniculatus) und das Sonnenröschen (Helianthemum nummula- rium). Vom Hornklee konnten 18, vom Son­ nenröschen 14 Populationen entlang des Höhengradienten untersucht werden. In jeder Population wurden die zehn bis 20 größten (und in der Regel ältesten) Indi­ viduen entnommen und deren Alter be­ stimmt. Aus Abbildung 3 ist ersichtlich, dass das Durchschnittsalter (jeder Punkt stellt den Mittelwert des Alters der größ­ ten Individuen einer Population dar) in kühleren Klimata bzw. höheren Lagen äl­ ter (bis über doppelt so alt) als in wärme­ ren Klimata bzw. tieferen Lagen werden. »Endlich« deshalb, da dies die erste konse­ quente Studie ist, die den Nachweis für die von Molisch bereits im Jahre 1929 aufge­ stellte Hypothese der Ursache für den Tod von mehrmals blühenden, mehrjährigen Pflanzen (neben Krankheitsbefall durch Pa­ 3 Durchschnittsalter der 10 bis 20 größten Individuen (an einem Standort) des Gemeinen Sonnen­ thogene; nur einmal blühende Arten ster­ röschens (Helianthemum nummularium) und des Hornklees (Lotus corniculatus) entlang eines Höhen­ ben aufgrund hormoneller Regelung der gradienten in den Berchtesgadener Alpen. Grafik der Autoren; modifiziert, nach Sergey Rosbakh, Peter Poschlod, Killing me slowly: Harsh environment extends plant maximum life span. Lebensspanne), nämlich den »Tod durch Basic and Applied Ecology 28 (2018), S. 17–26.

Blick in die Wissenschaft 39 51 Naturschutzbiologie????

langsamer, was sie in kühleren Klimata Je älter eine Pflanze werden kann, desto wandelnden Kulturlandschaft ein Überle­ oder kurzen Vegetationsperioden tut, bil­ eher ist die Chance gegeben, dass einmal bensvorteil. Tatsächlich zeigte eine Studie det sie weniger oberirdische Biomasse und gebildete Samen erfolgreich keimen und in einem unserer artenreichsten Lebens­ kann deshalb älter werden! [3] sich etablieren können. Dies ist in unserer räume, dem Kalkmagerrasen, dass kurzle­ mitteleuropäischen, sich immer schneller bige bzw. mehrjährige, nicht klonale Pflan­ zen seltener und stärker gefährdet sind, als mehrjährige, klonale Arten (Römermann et al., 2008). Was dies für die Naturschutz­ Prof. Dr. Peter Poschlod studierte Biologie an der Universität Ulm, promovierte an der TUM-Wei- praxis bedeutet, wird in einem der nächs­ henstephan und habilitierte sich an der Universität ten Spotlights behandelt werden. Hohenheim im Fach Landschafts- und Pflanzen­ ökologie. Von 1994 bis 2001 war er Professor für Wissenschaftlichen Naturschutz an der Philipps- Universität Marburg. Seit 2001 hat er den Lehr­ Literatur stuhl für Ökologie und Naturschutzbiologie am Karen E. Mock, Carol. A. Rowe, Mevin B. Hoo­ Institut für Pflanzenwissenschaften der Universität ten, Jennifer Dewoody, Valerie D. Hipkins, Clonal Regensburg inne. Seine Forschung reicht von dynamics in western North American aspen (Pop- paläoökologischen Fragestellungen über die Ve­ ulus tremuloides). Molecular Ecology 17 (2008), getationsökologie, Populationsbiologie der Pflan­ S. 4827–4844. zen und Ökologie der Samen und Pollen bis hin Foto © privat Foto zur Landschaftsökologie und zum Naturschutz Hans Molisch, Die Lebensdauer der Pflanze, Jena: (Arten- und Biotopschutz, Landschaftspflege, Re­ Gustav Fischer, 1929. naturierung). Christine Römermann, Oliver Tackenberg, Ann-Kathrin Jackel, Peter Poschlod, Eutrophica­ Dr. Sergey Rosbakh studierte Biologie an der tion and fragmentation are related to species’ rate Universität Irkutsk (Russland) und kam über den of decline but not to species rarity – Results from DAAD als Stipendiat im Jahre 2009 an die Univer­ a functional approach. Biodiversity and Conserva­ sität Regensburg. Hier schloss er im Jahre 2014 tion 17 (2008), S. 591–604. seine Promotion ab. Zurzeit arbeitet er an seiner Sergey Rosbakh, Peter Poschlod, Killing me slowly: Habilitation am Lehrstuhl für Ökologie und Natur­ Harsh environment extends plant maximum life schutzbiologie der Universität Regensburg. Seine span. Basic and Applied Ecology 28 (2018), Forschungsschwerpunkte sind verschiedene S. 17–26. Aspekte der Biologie und Ökologie der Pflanzen, Fritz Schweingruber, Peter Poschlod, Growth rings Vegeta­tionsökologie und die Auswirkungen des in herbs and shrubs: life span, age determination

Foto © Liss Ross Foto globalen Wandels auf alpine Ökosysteme. and stem anatomy. Forest Snow and Landscape Research 79 (2005), S. 195–415.

52 Blick in die Wissenschaft 39 Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis

Interview Neue Quantenwelt Für seine bahnbrechende Forschung erhält der Physiker Rupert Huber den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2019 Oliver Tepner

Am 13. März 2019 verlieh die Deut- Bloch‘sche Beschleunigungstheorem an die 2019 erhalten sollte, hat es mir erst mal die sche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Tafel. Es beschreibt, wie Elektronen durch Sprache verschlagen. Die Statistik der Leib­ Festsaal der Berlin-Brandenburgischen Festkörper beschleunigt werden können niz-Preise in Regensburg war mir zu diesem Akademie der Wissenschaften in Ber- und ist eine wichtige Grundlage für unsere Zeitpunkt nicht bekannt, aber es war mir lin ihre diesjährigen Leibniz-Preise. Die Forschung. Plötzlich begann mein Handy schon klar, dass dies eine Wahnsinnsehre mit jeweils 2,5 Millionen Euro dotierten zu klingeln. Das war mir noch nie passiert; ist. Physik und zumal Experimentalphysik Forschungsförderpreise werden oft als normalerweise stelle ich es zur Vorlesung ist aber Teamsport. Daher trifft die Aus­ »deutsche Nobelpreise« beschrieben. immer auf stumm. Wäre es das Telefon zeichnung nicht nur mich, sondern auch 2019 wurden insgesamt zehn heraus- eines Studenten gewesen, hätte ich sicher das Team, unsere Kooperationspartner, die ragende Wissenschaftlerinnen und eine spitze Bemerkung auf der Zunge ge­ Fakultät und die Universität als Ganzes, die Wissenschaftler aus allen Disziplinen habt. Umso mehr freuten sich meine Zuhö­ jeweils einen erheblichen Teil zu diesem Ge­ geehrt – unter ihnen der Regensburger rer über meinen ehrlichen Lapsus. Als ich meinschaftserfolg beigetragen haben. Physiker Rupert Huber. Der Leibniz- beim Rückruf nach der Vorlesung von der Preisträger studierte von 1994 bis 1999 Deutschen Forschungsgemeinschaft erfuhr, Während die Nachricht, dass Sie einer Physik an der Technischen Universität dass ich den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Leibniz-Preisträger dieses Jahres München (TUM) und wurde dort auch promoviert. Seine Forschungskarriere führte ihn nach Hongkong, Berkeley und Konstanz, ehe er 2010 einen Ruf auf eine Professur für Physik an der Uni- versität Regensburg erhielt. Internatio- nal bekannt wurde Professor Huber mit seinen Arbeiten zur Ultrakurzzeitphysik.

Oliver Tepner, Professor für Didaktik der Chemie an der Universität Regensburg und Beiratsmitglied des »Blicks in die Wissen­ schaft«, hat mit dem Leibniz-Preisträger über Forschung, Lehre und Persönliches gesprochen.

Oliver Tepner: Nach über 20 Jahren und erst zum dritten Mal überhaupt darf die Universität Regensburg einen ihrer For- scher zum Leibniz-Preis beglückwün- schen. Stellen Sie uns doch bitte kurz dar, wie Sie die Nachricht erhalten und

aufgenommen haben. © DFG Foto Rupert Huber: Die Situation war echt lus­ 1 Bei der Verleihung des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises am 13. März 2019 in Berlin: Der Regens­ tig. Ich war mitten in der Vorlesung und burger Physiker Prof. Dr. Rupert Huber (r.) mit dem Präsidenten der Deutschen Forschungsgemein­ schrieb zufällig gerade das sogenannte schaft, Prof. Dr. Peter Strohschneider.

Blick in die Wissenschaft 39 53 Physik Foto © Lorenz Kienzle Photographie, Berlin Kienzle Photographie, © Lorenz Foto 2 Blick in ein Ultrakurzzeit-Laserlabor in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Rupert Huber.

sind, den meisten Naturwissenschaft- macht und wofür Sie den Preis konkret Fragen etwa, wie sich Elektronen in einem lern eine Vorstellung von der Exzellenz erhalten haben. Festkörper maximal schnell beschleuni­ Ihrer Arbeiten vermittelt, ist dies bei Elektronen, Atome und Moleküle bewe­ gen lassen, oder wie man Quantenphysik Studierenden und Kollegen anderer Dis- gen sich unvorstellbar schnell. Wie solche geschickt nutzen könnte, damit ein Elek­ ziplinen möglicherweise nicht der Fall. Bewegungen im Nanokosmos neue Funk­ tron mehr Information tragen kann und Beschreiben Sie uns doch bitte, was das tionalitäten von Materie im Makrokosmos im Stromfluss kaum Wärme erzeugt, sind Herausragende Ihrer Forschungen aus- hervorbringen können, ist die große Frage von zentraler Bedeutung für schnellere, unserer Disziplin. Wir entwickeln Kameras, grünere Computer der Zukunft. Die Na­ mit denen man solche Bewegungen in bil­ tur nutzt ultraschnelle Quantenphysik wie liardenfacher Zeitlupe verfolgen und kont­ selbstverständlich und erreicht dabei aber­ Gottfried Wilhelm Leibniz- rollieren kann. Unser besonderer Ansatz ist, witzig hohe Effizienzen etwa bei der Pho­ Preis dass wir das schwingende Lichtfeld inten­ tosynthese. Verstünden wir die Wirkung siver Laserimpulse als ultraschnelle Wech­ nanoskaliger Dynamik auf unsere makro­ Der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis selspannung verwenden, um Elektronen skopische Welt ähnlich gut, dann könnten der Deutschen Forschungsgemein­ durch Festkörper und Moleküle zu treiben. wir dieses Wissen auch für höchsteffiziente schaft (DFG) wurde 1985 eingerichtet Man nennt das Lichtwellen-Elektronik. Da­ Solarzellen oder verlustfreie Stromtrassen und gilt als der wichtigste deutsche bei treten die seltsamen Gesetzmäßigkei­ der Zukunft einsetzen. Forschungsförderpreis. 1986 erhielt ten der Quantenphysik zutage. Während ihn unter anderem der Philosoph Pro­ man Elektronen beschleunigt, können sie Wann hat sich Ihr Interesse für Physik fessor Dr. Jürgen Habermas. Der Leib­ zum Beispiel unerwartete Quantensprünge entwickelt? niz-Preis soll die Arbeitsbedingungen oder Schwingungen ausführen, oder sie Vermutlich schon als kleines Kind. Ich herausragender Wissenschaftlerin­ durchtunneln Barrieren, die sie in der klas­ hatte das große Glück, mit Geschwistern nen und Wissenschaftler verbessern, sischen Physik nicht überwinden könnten. auf dem Land aufzuwachsen, wo uns die ihre Forschungsmöglichkeiten erwei­ So erforschen wir eine völlig neue Quan­ Physik ganz natürlich begegnete – sei es tern, sie von administrativem Arbeits­ tenwelt, die auch spannende Anwen­ in den Hebelgesetzen, die beim Zerlegen aufwand entlasten und ihnen die Be­ dungsperspektiven hat. eines Differenzialgetriebes augenfällig schäftigung besonders qualifizierter werden, oder im Lichtbogen, den man jüngerer Wissenschaftlerinnen und Welche Implikationen könnten Ihre am Weidezaun so schön provozieren Wissenschaftler erleichtern. grundlegenden Arbeiten für unser täg- konnte. Unsere Neugierde wurde durch liches Leben haben? die Faszination unserer Eltern für physika­

54 Blick in die Wissenschaft 39 Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis

lisch-technische Fragen ganz authentisch gefördert. Die Deutsche Forschungs­ gemeinschaft würdig­te Was war für Sie das prägendste Ereignis Rupert Huber für dessen­ herausragende experimen­ Ihres Physikunterrichts? telle Arbeiten in der Tera­ Die konkrete Idee, später Physik verfolgen hertz- und Festkörperphysik zu wollen, kam wahrscheinlich im Che­ im Grenzbereich zwischen mieunterricht in der Schule auf. Da haben Optik und Elektronik.­ Be­ wir nämlich erstmals über Molekülorbitale kannt wurde der Wissen­ gesprochen und davon, dass die von uns schaftler mit seinen For­ wahrnehmbare Welt eigentlich ihren Ur­ schungen zur Lichtwellen­ sprung in der mikroskopischen Quanten­ elektronik, deren innovative welt hat. Später kam das in der Physik im Kernidee darin besteht, atomar starke Lichtfelder als Bohr‘schen Atommodell nochmal etwas Wechselspannung in Fest­ rigoroser. Die daran anschließenden Ideen körpern zu verwenden, um und die zugehörige Mathematik haben Foto © UR Foto so vollkommen neuartige mich so fasziniert, dass ich mich wie meine Quantenphänomene auf beiden Brüder später tatsächlich auf ein kürzesten Zeitskalen zu betrachten. Diese grundlegende Forschung könnte in Zukunft etwa in Physikstudium festgelegt habe. superschnellen atomar auflösenden Mikroskopen oder in der Quanteninformationsverarbeitung­ verwendet werden.

Was machen Sie in Ihrer Freizeit, wenn Rupert Huber gelang es erstmals, die sehr schnelle Ladungsdynamik in Festkörpern in Wechsel­ Sie nicht Forschung oder Lehre im Blick wirkung mit starken Lichtfeldern zu untersuchen: Er fand heraus, dass die Energie der Elektronen haben? innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne nach ihrer Anregung durch das starke Lichtfeld nicht Ich habe eine bezaubernde Familie. Wenn eindeutig zu bestimmen ist; die Elektronen befinden sich stattdessen in oszillierenden Mischzu­ ich nicht gerade forsche oder lehre, erfor­ ständen, die sich je nach Richtung des Lichtfelds gegenseitig auslöschen oder verstärken. sche ich am liebsten die Welt nochmal neu Der Wissenschaftler konnte zudem – analog zu Kollisionsexperimenten in Elementarteilchenbe­ mit unseren Kindern und lerne von ihnen schleunigern – sogenannte Quasiteilchen in Festkörpern gezielt miteinander kollidieren lassen. oder musiziere gemeinsam mit ihnen. Ich Diese Kollisionen führen zu ultrakurzen Lichtblitzen, die wiederum Rückschlüsse auf die Struktur habe als Kind Klavier und später Kirchen­ der Quasiteilchen zulassen. Zuletzt konnte der Physiker eine durch Lichtwellen ausgelöste Mole­ orgel spielen gelernt – letzteres übrigens külbewegung in einem atomaren Zeitlupenfilm festhalten. in der Heimatgemeinde des ehemaligen

Papstes Benedikt XVI., der mir auch gele­ und nochmals Motivation. Interessan­ Weitere Auszeichnungen gentlich über den Weg gelaufen ist. Gut terweise können wir ja als kleine Kinder bin ich inzwischen nicht mehr darin, aber schiere Wunder vollbringen, wenn wir 2019 Fellow der Optical Society of Amer­ zum Spielen mit den Kindern reicht's. motiviert sind. Wir lernen in kürzester Zeit ica laufen, sprechen und schreiben – wenn wir 2016 Preis für gute Lehre des Freistaats Neben Ihren Arbeiten als Forscher verstehen, wozu das gut sein soll. Ich bin Bayern scheint Ihnen die Vermittlung von Phy- überzeugt, dass wir auch als Erwachsene 2012 ERC Consolidator Award des Euro­ sik sehr am Herzen zu liegen. Regelmä- über uns hinauswachsen können, wenn päischen Forschungsrats ßig wird Ihre Lehre von Ihren Studieren- wir das nur wollen. Daher sehe ich meine seit 2012 elf Mal Preis für gute Lehre der den als hervorragend bewertet, sodass Hauptaufgabe darin, bei den Studierenden Fakultät Physik der Universität Regensburg eine Vielzahl der Lehrpreise der Physik- das nötige Problembewusstsein zu wecken 2009 Rudolf-Kaiser-Preis des Stifterver­ fakultät an Sie verliehen wurden. Was und gerade so viel Hilfestellung zu geben, bands für die deutsche Wissenschaft macht Ihrer Erfahrung nach gute Lehre dass sie die Herausforderung selbstständig 2006 bis 2013 Emmy Noether-Nach­ an der Hochschule aus? meistern können. Wenn mir das ab und zu wuchsgruppe der Deutschen Forschungs­ Das ist eigentlich die höchste Auszeich­ gelingt, bin ich stolz. gemeinschaft nung, die ich als Hochschullehrer be­ seit 2006 vier Rufe auf Professuren an kommen kann, und ich freue mich über deutschen Universitäten jeden Lehrpreis wie über meinen ersten Ergänzende Hinweise 2004 Feodor Lynen-Stipendium der Alex­ – insbesondere, weil die Konkurrenz in http://www.physik.uni-regensburg.de/forschung/ ander von Humboldt-Stiftung Regensburg sehr stark ist. An den guten huber/home.html 1993 bis 1998 Hochbegabten-Stipendium Vorlesungen, die ich als Student selbst https://www.dfg.de/gefoerderte_projekte/wis­ des Freistaats Bayern besucht habe, schätze ich drei Erfolgsfak­ senschaftliche_preise/leibniz-preis/2019/huber/ toren besonders: Motivation, Motivation index.jsp

Blick in die Wissenschaft 39 55 Waldökologie

Spotlight »Big Data« auch im Wald Lisa Hülsmann

Wälder sind ein zentraler Bestandteil der fen. Die erhobenen Daten belegten, dass ringe, also an Bohrkernen gemessene Landschaft und bieten neben Rohstoffen eine dramatische Zunahme der Waldschä­ jährliche Zuwächse, und kontrollierte Ex­ auch Erholungsmöglichkeiten und Schutz den tatsächlich ausblieb (Bundesministe­ perimente in Versuchsgärten und in Wäl­ vor Naturgefahren. Sie verdienen daher rium für Ernährung und Landwirtschaft dern. Viele dieser Datensätze umfassen unsere Wertschätzung und besonderen BMEL, 2018). Es war jedoch schwierig, die mittlerweile mehrere Jahrzehnte; andere Schutz. Aus den Reihen der Wissenschaft Schäden möglichen Ursachen wie Luft­ reichen sogar mehr als 100 Jahre zurück. wird laufend und mit Nachdruck auf die verschmutzung, Trockenheit, Frost oder Auch die Datenmenge nimmt ständig zu: zumeist negativen Auswirkungen des Stürmen zuzuschreiben. Um solche Fragen allein die deutsche Bundeswaldinventur­ Klimawandels auf Wälder und andere besser beantworten zu können, wurde das umfasst circa 420 000 Bäume. Dennoch Ökosysteme hingewiesen (Lindner et al., Monitoring an ausgewählten Standorten sind klassische Walddaten im Vergleich zu 2014). So hinterließ der trocken-heiße intensiviert. typischen Big-Data-Quellen wie Social Me­ Sommer im Jahr 2018 deutliche Spuren Die Daten dieses forstlichen Umwelt­ dia vergleichsweise klein. Was Walddaten in den Wäldern. Solche Bilder mögen die monitorings sind nicht die einzigen Infor­ allerdings mit Big Data gemeinsam haben, eine oder den anderen an die frühen 80er mationen, die heute über Europas Wälder ist die Vielfalt der Datenquellen und ent­ Jahre erinnern. Forstwissenschaftler warn­ vorliegen. Nationale Waldinventuren ge­ haltenen Informationen. In Zukunft wird ten damals vor einem drohenden Wald­ ben Auskunft über die Baumartenvielfalt, auch das Volumen der Walddaten durch sterben, ausgelöst durch schwefel- und den Altersaufbau, sowie Holzvorrat und hochauflösende Methoden wie das Laser­ stickoxidhaltige Abgase aus Industrie und Holznutzung der Wälder. [1] Spezielle scanning immens steigen. Verkehr. Die Debatte um das Waldsterben Inventurprogramme untersuchen die Dy­ Vor dem Hintergrund des Klimawan­ schlug große Wellen in der Öffentlichkeit namik in unbewirtschafteten Wäldern dels kommt langfristigen und großflächi­ und ebnete den Weg für eine europa­ oder den Einfluss von Waldbewirtschaf­ gen Daten eine besondere Bedeutung zu: weite Regulation von Schwefeleinträgen. tungsformen auf die Produktivität. Zu­ Walddaten können zur Kalibrierung und Zur gleichen Zeit wurde in weiten Teilen dem liefern Fernerkundungsmethoden Validierung von Waldmodellen verwen­ Europas ein jährliches Monitoring zur Er­ Waldinformationen­ auf großer Fläche. det werden, die das wichtigste Vorhersa­ fassung von Waldschäden ins Leben geru­ Weitere wertvolle Datenquellen sind Jahr­ geinstrument für Wälder im Klimawandel darstellen. Langfristige Vorhersagen sind für Wälder besonders wichtig, da Maß­ nahmen zur Anpassung aufgrund der lan­ gen Lebensdauer von Bäumen frühzeitig ergriffen werden müssen. In Anbetracht der zunehmenden Datenverfügbarkeit und des großen Bedarfs an robusten Vorhersa­ gen der Waldentwicklung ist es daher von vorrangigem Interesse, existierende Wald­ daten geschickt zu kombinieren und für die Weiterentwicklung von Waldmodellen nutzbar zu machen. Dies ist auch das Ziel einer im Herbst 2018 gegründeten Juniorforschungs­ gruppe, die vom Bayerischen Klimafor­

1 Der Wald der Zukunft sollte, wie auf diesem Bild, vielfältig sein und Risiken wie Trockenheit oder Insektenbefall auf mehrere Baumarten ver­ teilen. Derzeit dominiert jedoch oft eine Baumart die Waldbestände. Besonders häufig sind Rein­

© Lisa Hülsmann bestände der trockenheitsempfindlichen Fichte.

56 Blick in die Wissenschaft 39 Big Data

schungsnetzwerk bayklif gefördert wird. Das bayklif-Netzwerk soll dazu beitra­ gen, verlässliche Vorhersagen der Aus­ wirkungen des Klimawandels und darauf abgestimmte Anpassungsstrategien für Bayern zu entwickeln. Im Zentrum der Regensburger Juniorforschungsgruppe steht ein Waldsimulator, der Wachstum, Mortalität und Verjüngung der Bäume in Abhängigkeit von klimatischen Einflüssen und biotischen Interaktionen beschreibt. Waldmodelle benötigen typischerweise zahlreiche Parameter, zum Beispiel artspe­ zifische Wachstumsraten sowie Parameter, die die Abhängigkeit der Raten von Klima und Lichtverhältnissen quantifizieren. Diese Parameter werden im Rahmen der Juniorforschungsgruppe mit umfangrei­ chen Walddatensätzen aus ganz Europa kalibriert. Da aber sehr verschiedene Da­ tentypen miteinander kombiniert werden

sollen, sind neben einer Homogenisierung Lisa Hülsmann, modifiziert nach Hartig et al. 2012 (vgl. Literatur) © Grafik: der Daten moderne Methoden der Da­ 2 Flexible Datenassimilation mit Bayes‘schen Methoden. tenassimilation nötig. Daher verwenden wir Bayes’sche Methoden, die auch die inverse Kalibration von Parametern er­ müssen keine direkten Beobachtungen Marcus Lindner, Joanne Fitzgerald et al., Climate lauben (Hartig et al., 2012). Das heißt, eines Parameters vorliegen. Die Suche change and European forests: What do we know, die Parameter werden so festgelegt, dass nach geeigneten Parameterkombinatio­ what are the uncertainties, and what are the im­ die simulierten Wälder die beobachteten nen erfolgt iterativ, so dass das Vorgehen plications for forest management? Journal of En­ vironmental Management 146 (2014), S. 69–83. Wälder möglichst gut abbilden. [2] Dafür sehr rechenintensiv ist. Viele existierende Waldmodelle haben dafür zu lange Lauf­ Onlineressource: www.bayklif.de zeiten. Wir wollen mit unserem Projekt dazu beitragen, in der Waldmodellierung Flexible Datenassimilation mit eine neue Phase einzuläuten und zukünf­ Bayes‘schen Methoden: Diese tige Modelle viel stärker und direkter an Vorgehensweise geht auf den Satz Daten zu koppeln, so wie dies bei Wetter­ von Bayes zurück und erlaubt es, modellen bereits der Fall ist. Von diesem verschiedene Informationen mitein­ Ansatz versprechen wir uns sowohl robus­ ander zu kombinieren. Am Beispiel tere Vorhersagen der Waldentwicklung als eines Parameters in einem Waldmo­ auch ein besseres Prozessverständnis. dell, zum Beispiel einer Wachstums­ In der Schlussphase des fünfjährigen rate, kann man sich die Modellkali­ Projektes werden mithilfe des Waldsimu­ bration folgendermaßen vorstellen: lators und verschiedenen Klimaszenarien

Der Parameter kann basierend auf zukünftig mögliche Waldbilder evaluiert. © privat Foto Expertenwissen, Jahrringen und Die Ergebnisse dieser Simulationen sollen Dr. studierte Waldökolo­ Experimenten bereits etwas einge­ dann in konkrete Handlungsstrategien für Lisa Hülsmann gie und Hydrogeologie an der Universität grenzt werden (Prior). Der Vergleich die forstliche Praxis übersetzt werden. Das Göttingen und promovierte an der ETH von Modellvorhersage und beob­ Forschungsvorhaben kann somit zur lang­ Zürich zur Modellierung von Baummorta­ achteten Daten, zum Beispiel wie fristigen Erhaltung der Nutz- und Schutz­ lität. Seit 2018 leitet sie an der Universität viel Holz in einem Wald steht, lie­ funktionen der Wälder beitragen. Regensburg eine Nachwuchsforschungs­ fert die Likelihood, die darstellt, wie gruppe des Bayerischen Klimaforschungs­ gut verschiedene Wachstumsraten netzwerks bayklif. Das bayklif-Netzwerk zu den Daten passen. Kombiniert Literatur soll dazu beitragen, verlässliche Vorhersa­ man die beiden Informationen er­ gen der Auswirkungen des Klimawandels Bundesministerium für Ernährung und Landwirt­ und darauf abgestimmte Anpassungs­ hält man den Posterior, eine Wahr­ schaft BMEL, Ergebnisse der Waldzustandserhe­ strategien für Bayern zu entwickeln. Ihre scheinlichkeitsdichte, die angibt, bung 2017. Bonn, 2018. Forschungsschwerpunkte sind Wald­ wie wahrscheinlich verschiedene Florian Hartig, James Dyke et al., Connecting ökologie, Populationsdynamik, Vegetati­ Wachstumsraten unter Berücksichti­ dynamic vegetation models to data – an inverse onsmodellierung, Datenintegration und gung von Prior und Likelihood sind. perspective. Journal of Biogeography 39 (2012), quantitative Methoden. S. 2240–2252.

Blick in die Wissenschaft 39 57 Romanische Sprachwissenschaft

Matelotage, manioc und maron Das Dictionnaire étymologique des créoles fran- çais d’Amérique als Spiegel von Sprach- und Kul- turkontakten in der französischen Kolonialzeit

Ingrid Neumann-Holzschuh und Evelyn Wiesinger

»Romanistik unter Palmen« – diese besonderen Art und zu einem Spiegel sisch gewinnt allerdings zunehmend auch scherzhafte Bezeichnung für die Kre- der intensiven Sprach- und Kulturkon- im informellen Bereich an Bedeutung; ein­ olistik sollte nicht darüber hinwegtäu- takte in den französischen Kolonien. sprachige Sprecher des Kreolischen gibt schen, dass diese Disziplin seit langem es auf diesen Inseln nicht mehr. Auf den ein integraler Bestandteil der romanis- Antilleninseln St. Lucia (ca. 174 000 Spre­ tischen Forschung und Lehre ist. Fran- Die Verbreitung der Franko­ cher), Dominica (ca. 72 000 Sprecher) und zösische Kreolsprachen (FKS) haben kreolsprachen Grenada (ca. 104 000 Sprecher) steht das sich in der Kolonialzeit in zwei durchaus Frankokreolische in einem diglottischen exotischen Zonen entwickelt: im kari- Verhältnis zum Englischen, die Sprecher­ bischen Raum sowie auf einigen Inseln Im Indischen Ozean wird Kreolisch auf der zahlen sind dort jeweils rückläufig. Auf der im Indischen Ozean. Sie sind im Kon- Insel La Réunion (ca. 850 000 Sprecher), Insel Trinidad wird patwa heute nur noch takt zwischen französischen Siedlern auf Mauritius und Rodrigues (ca. 1,6 Mio. von sehr wenigen älteren Sprechern ge­ und vor allem schwarzafrikanischen Sprecher) und auf den Seychellen (ca. sprochen. Zur amerikanischen Zone gehö­ Sklaven unter spezifischen soziohis- 97 000 Sprecher) gesprochen; auf diesen ren auch die peripheren Gebiete Louisiana torischen und soziodemographischen Inseln ist Kreolisch die Alltagssprache von in den USA sowie das D.O.M. Französisch- Bedingungen entstanden und gelten mehr als 90 % der Bevölkerung. Während Guayana auf dem südamerikanischen mithin als eigenständige Sprachen. Für Kreolisch auf den Seychellen seit 1978 Kontinent. Während das Kreolische in Lou­ die meisten FKS gibt es mittlerweile neben Englisch und Französisch die dritte isiana eine aussterbende Sprache ist – es Grammatiken und Wörterbücher, ei- Amtssprache ist, ist die Amtssprache auf wird heute nur noch von allenfalls 6000 bis nige sind standardisiert und haben wie Mauritius Englisch, im Alltagsleben haben 7000 Personen gesprochen, die alle auch auf den Seychellen und auf Haiti neben allerdings auch Französisch und verschie­ Englisch beherrschen –, gibt es in Guayana den europäischen Sprachen offiziellen dene indische Sprachen eine starke Prä­ noch ca. 60 000 (in der Regel bilinguale) Charakter. Nach wie vor beschäftigt die senz. Im administrativ zu Frankreich gehö­ Muttersprachler, wobei sich das Kreolische Kreolistik die Frage nach der Genese renden Département d’outre-mer (D.O.M) in einer komplexen Kontaktsituation mit dieser Sprachen und die Erklärung ih- La Réunion beherrschen alle Kreolsprecher mehr als 30 verschiedenen autochthonen rer spezifischen grammatischen und auch die Amtssprache Französisch, die und Migrantensprachen befindet.[1] lexikalischen Strukturen. Das Diction- Grenzen zwischen Kreolisch und Franzö­ naire étymologique des créoles fran- sisch sind ähnlich wie auf den französi­ çais d’Amérique (DECA), entstanden in schen Antillen fließend. DECA: Wissenschaftsgeschichtli- Bamberg und Regensburg, ist nicht nur In der Karibik ist Haiti das Land mit den cher Kontext das bislang einzige umfassende Wör- meisten kreolophonen Sprechern (ca. 10 terbuch der FKS der karibischen Zone, Mio.), dazu kommen noch etwa eine Mil­ es erlaubt erstmals auch genauere Aus- lion haitianische Emigranten in den USA Wenngleich die Anfänge der Erforschung sagen über die Zusammensetzung des und Kanada. Kreolisch ist die Umgangs­ kreolischer Sprachen bereits im 19. Jahr­ frankokreolischen Wortschatzes. Wenn- sprache der überwiegenden Mehrheit der hundert liegen, setzte die moderne Kreo­ gleich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, nur die Elite des Landes (ca. listik erst in den 1960er Jahren ein. Schon Wörter aus dem noch stark dialektal 5 % der Gesamtbevölkerung) spricht im früh hat die Frage nach der Bedeutung der geprägten Umgangsfranzösischen der Alltag Französisch. Auf den Antillen wird afrikanischen ›Substrat‹-Sprachen zu einer Kolonialzeit stammt, haben auch die af- Kreolisch in den französischen D.O.M. lebhaften Kontroverse um deren Rolle bei rikanischen und amerindianischen Kon- Guadeloupe (ca. 406 000 Sprecher) und der Herausbildung der Kreolsprachen ge­ taktsprachen ihre Spuren hinterlassen. Martinique (ca. 381 000 Sprecher) gespro­ führt. In diesem wissenschaftsgeschichtli­ Dies macht den Wortschatz der FKS zu chen. Auch hier überwiegt zwar im Alltag chen Kontext muss die Erarbeitung eines einem sprachhistorischen Fenster der das Kreolische, die Amtssprache Franzö­ etymologischen Wörterbuchs für die FKS

58 Blick in die Wissenschaft 39 Kreolistik

derländischen stammt), wie aber ist die neue Bedeutung zu erklären, die im Fran­ zösischen Frankreichs nicht belegt ist? Wortgeschichtlich relevant sind hier zwei Einträge aus der Histoire des aventuriers fli- bustiers von Alexandre Olivier Exquemelin (1699). Daraus geht hervor, dass in der Ko­ lonialzeit die Freibeuter (flibustiers) sich un­ tereinander freundschaftlich als ›matelot‹ bezeichneten, wobei die Freundschaft so weit gehen konnte, dass man sich auch die gleiche Frau teilte, was dann als matelo- tage bezeichnet wurde. Erst später bekam das Wort dann die Bedeutung ›zwei Frauen (die sich gegenseitig als matelotes bezeich­ nen), die sich den gleichen Mann teilen‹. Welche Bedeutung die Auswertung alter Reiseberichte bzw. Beschreibungen 1 Die Verbreitung der Frankokreolsprachen. Quelle © Annegret Bollée, Romanische Kreolsprachen V. Französische Kreolsprachen, in: Günter Holtus, Michael Metzeltin, Christian Schmidt des Lebens in den Kolonien für die wort­ (Hrsg): Lexikon der Romanistischen Linguistik. Band VII: Kontakt, Migration und Kunstsprachen. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1998, S. 663. geschichtlichen Analysen des DECA hat, kann auch anhand des Worts ebichèt ›Sieb für Maniokmehl‹ gezeigt werden. [2] Eine gesehen werden, dessen Ziel die Doku­ Quellen aus der Kolonialzeit (wie diverse der wichtigsten Quellen für das frühe Le­ mentation der Herkunft und der histori­ Reiseberichte und Naturkundebücher) ben der französischen Siedler in der Kari­ schen Schichtung des kreolischen Wort­ in die Datenerfassung ein. Die Belege in bik stammt vom Missionar, Botaniker und schatzes ist. Als Modell diente nicht von geographischer Anordnung stammen aus Plantagenbesitzer Jean-Baptiste Labat, der ungefähr das Französische Etymologische Louisiana, Haiti, Guadeloupe, Marie-Ga­ zwischen 1694 und 1706 auf den Antillen Wörterbuch (FEW) von Walther von Wart­ lante, Martinique, Dominica, Sainte-Lucie, lebte und der in seinem Bericht Nouveau burg (1922–2001), eine »Darstellung des Trinidad, Guayana und Brasilien, wo eine voyage aux isles de l’Amérique unter an­ galloromanischen Sprachschatzes« in sei­ archaische Varietät des Guayana-Kreols derem minutiös den Anbau und die Ver­ ner ganzen dialektalen Vielfalt. gesprochen wird. Während die kreolischen arbeitung von Maniok, die Herstellung Das durch die Deutsche Forschungs­ Wörter französischen Ursprungs unter dem von kasav (französisch cassave, ›Maniok­ gemeinschaft (DFG) geförderte Diction- französischen Etymon erscheinen, dient mehl‹), eines der Grundnahrungsmittel auf naire étymologique des créoles français für die kreolischen Belege von Wörtern den Antillen, sowie die dazu benötigten d’Amérique (DECA) (Leitung: Annegret nicht-französischen bzw. unbekannten Ur­ Werkzeuge, beispielsweise den ebichèt Bollée (Bamberg), Dominique Fattier sprungs eine kreolische Form als Lemma (regionalfranzösisch hébichet), schildert. (Université de Cergy-Pontoise) und Ingrid (in der Regel aus dem Haiti-Kreol; diese Durch die Einbeziehung der Illustrationen Neumann-Holzschuh (Regensburg)) ist Form erscheint auch für die im Folgenden aus der Ausgabe von 1724 gewinnt die die Fortsetzung des Dictionnaire étymo- genannten kreolischen Wörter). Es folgen vorgeschlagene Etymologie – das Wort logique des créoles français de l’Océan Ableitungen und Komposita sowie der ety­ stammt aus der Indianersprache Arawak – Indien (DECOI) (Hamburg, Buske Verlag). mologische Kommentar. Wie das DECOI besteht das DECA aus zwei Grundsätzlich wurde im DECA ver­ Teilen: Teil I umfasst die Wörter französi­ sucht, über die reine Etymologie hinaus schen Ursprungs (drei Bände, erschienen auch wortgeschichtliche Informationen 2018), Teil II die Wörter unbekannten und einfließen zu lassen. Bei kreolischen Wör­ nicht-französischen Ursprungs (ein Band, tern mit einer französisch-dialektalen Her­ erschienen 2017). Mit den insgesamt acht kunft reicht es zum Verständnis des Wortes Bänden des DECOI und des DECA liegt oft nicht aus, lediglich das französische Ety­ erstmals eine umfassende historisch ori­ mon zu zitieren, vielmehr ermöglicht erst entierte Dokumentation der im Indischen ein wortgeschichtlicher Kommentar das Ozean und in der amerikanischen Zone Verständnis der spezifisch kreolischen Be­ gesprochenen FKS vor. deutung bzw. seiner Aussprache. Ein Beispiel aus dem DECA sind die haitianischen Wörter matlò(t) ›Zweitfrau‹ Etymologische Recherche bzw. matlotay ›common law mariage‹ und nan matlotay ak ›to be involved with Für das DECA wurden sämtliche für die FKS s. o.; to share a lover, date the same guy‹. 2 ebichèt: Sieb für das Maniokmehl. Quelle: der zone américaine vorliegenden Wör­ Natürlich hängen diese Wörter mit dem Nouveau voyage aux isles de l’Amérique von Jean-Baptiste Labat, vol. I, 1724 (avant p. 17). terbücher und Sprachatlanten ausgewer­ französischen Etymon matelot ›Matrose‹ Reproduktion: Gerald Raab, Staatsbibliothek Bamberg, Bip Geogr tet. Darüber hinaus flossen einschlägige zusammen (das wiederum aus dem Nie­ it q 152-1_vor S. 17

Blick in die Wissenschaft 39 59 Romanische Sprachwissenschaft

zösischen bzw. Spanischen belegt. Soll ein etymologisches Wörterbuch der Kreolspra­ chen also lediglich die etimologia pros- sima, also das kolonialfranzösische Wort, oder nicht auch die etimologia remota, also das amerindianische Etymon, ange­ ben? Im DECA wurde vom in den etymo­ logischen Wörterbüchern der romanischen Sprachen gängigen Prinzip der etimologia prossima abgewichen und als Etymon das nicht-französische Wort angegeben und dessen Geschichte nachgezeichnet. So stammt zum Beispiel manyòk vom 3 Sklaven bei der Maniokverarbeitung. Quelle: Nouveau voyage aux isles de l’Amérique von Jean- südamerikanischen Tupi-Wort manihoca Baptiste Labat, vol. I, 1724 (avant p. 127). ab und ist bereits sehr früh in die Sprache Reproduktion: Gerald Raab, Staatsbibliothek Bamberg, Bip Geogr q 152-1_vor S. 127 derjenigen Franzosen, die zwischen 1555 und 1560 die Küste Brasiliens erkundeten, entlehnt worden; der Erstbeleg stammt an Anschaulichkeit: Der ebichèt war eine Wörtern verfahren werden, die wie diese von 1556. Von dort gelangte dieses Wort Art Sieb, das ursprünglich von den India­ beiden Wörter zwar amerindianischen Ur­ auf die Antillen, hier ist es seit 1640 attes­ nern, später dann auch von den Sklaven sprungs sind, in die Kreolsprachen aber tiert. Das Wort kasav wiederum stammt zur Herstellung von Maniokmehl verwen­ nicht aus den Indianersprachen direkt, son­ aus dem Taino, der indigenen Sprache der det wurde. [3] dern über das frühe Kolonialfranzösische Großen Antillen. Es ist bereits 1492 im Spa­ Anhand der Wörter manyòk und kasav bzw. das Kolonialspanische gekommen nischen, 1599 dann auch im Französischen kann ein weiteres methodologisches Pro­ sind? Beide Wörter waren bereits lange vor der frühen Siedler und Freibeuter belegt. blem erläutert werden: Wie soll mit solchen der Entstehung der Kreolsprachen im Fran­ Beide Wörter zeigen, dass die Karibik von Foto © Evelyn Wiesinger Foto 4 Maniokwurzeln auf einem Markt in Sinnamary, Französisch-Guayana.

60 Blick in die Wissenschaft 39 Kreolistik

jeher eine durch Binnenmigration und Sprachkontakt geprägte multilinguale und multiethnische Zone war. Mit seinem Dictionnaire Caraïbe-Fran- çais von 1665 liefert Père Breton eines der ersten bedeutenden Zeugnisse für den so­ genannten langage des isles, der frühen, zwischen Indianern und Europäern ver­ wendeten Verkehrssprache, die sich durch ein spezifisches Vokabular auszeichnet. Neben manyòk und kasav gehören dazu zahlreiche weitere, noch heute in den FKS der Karibik belegte Wörter aus dem Taino (zum Beispiel amak ›Hängematte‹, tabak, Aus der Abbildung geht hervor, dass fast Frage zu beantworten, wurden die Einträge patat ›Süßkartoffel‹). [4] Diese Wörter 80 % des Wortschatzes der FKS der ame­ für Louisiana und Guayana im DECA II ex­ kamen meist über das Kolonialspanische rikanischen Zone französischen Ursprungs trahiert und zunächst einer Einzelanalyse in den langage des isles, denn das Taino sind, die Wörter nicht-französischen Ur­ hinsichtlich der verschiedenen Entlehnun­ war zur Zeit der Ankunft der Franzosen in sprungs machen 11 %, die Wörter unbe­ gen unterzogen (vgl. Neumann-Holzschuh/ der Region bereits ausgestorben. Auch das kannten Ursprungs 12 % aus. Wiesinger, im Druck). Wort maron ›entlaufener Sklave‹ stammt Betrachtet man nur die Wörter un­ Zunächst fiel auf, dass nur 10 % der ursprünglich aus dem Taino und ist ver­ bekannten und nicht-französischen Ur­ insgesamt 4580 Lemmata des DECA II mutlich ebenso über das Kolonialspanische sprungs (das DECA II umfasst ca. 4580 Ein­ auch im Louisiana bzw. Guayana-Kreol be­ und/oder -französische in die FKS gelangt. träge) ergeben sich folgende Zahlen: 51 % legt sind! Allein diese Zahl zeigt, dass das All diese Wörter zirkulierten bereits vor der Wörter sind unbekannten Ursprungs, Louisiana- und das Guayana-Kreolische der Ankunft der ersten afrikanischen Skla­ 49 % haben ein gesichertes nicht-franzö­ tatsächlich eine Sonderrolle einnehmen. ven (1616 auf St. Christophe und 1635 auf sisches Etymon. Nimmt man als Ausgangspunkt lediglich Guadeloupe und Martinique) in der Karibik die 452 in Louisiana und die 410 in Gu­ und zeigen, dass sich die Sprachpraktiken Anteil am Wortschatz ayana attestierten Wörter, zeigt sich, dass der ersten Siedler und Seeleute unter dem mit gesicherter nicht- die Überschneidungsmenge zwischen dem Einfluss des neuen Habitats verändert hat­ französischer Herkunft Louisiana-Kreol und den FKS der Karibik ten. Nicht nur musste Neues aus Flora und Afrikanismen 12 % deutlich geringer (26 %) ist als die zwi­ Fauna benannt werden, auch für die kultu­ Amerindianismen 8 % schen dem Guayana-Kreol und den kari­ rellen Praktiken der Ureinwohner mussten Hispanismen 10 % bischen Kreolsprachen (59 %). Dies spricht neue Bezeichnungen gefunden werden. dafür, dass vor allem das Louisiana-Kreol Anglizismen 38 % Dabei besteht der langage des isles kei­ in lexikologischer Hinsicht in der Tat eine Onomatopoetika 20 % neswegs nur aus ›exotischen‹ Wörtern, ›periphere‹ Kreolsprache ist. [5] auch französische Wörter bekommen in Verschiedenes 12 % Auch in Bezug auf die Afrikanismen der neuen Welt eine neue Bedeutung: abi­ gibt es deutliche Unterschiede: In Louisi­ tan (französisch habitant) bedeutet in der Die Tabelle zeigt, dass die Wörter afrika­ ana sind nur 4 % der Wörter nicht-franzö­ Neuen Welt jetzt nicht mehr ›Kleinbauer‹ nischen, indianischen und spanischen sischen Ursprungs afrikanischer Herkunft, sondern ›Plantagenbesitzer‹. Obwohl nicht Ursprungs jeweils ungefähr 10 % des in Guayana hingegen immerhin 12 %. Die genau gesagt werden kann, ab wann ein Wortschatzes mit gesicherter nicht-franzö­ meisten der in Louisiana und Guayana at­ französisches Wort tatsächlich ein kreoli­ sischer Herkunft ausmachen, die Zahl der testierten Afrikanismen sind auch in der sches Wort geworden ist, ist es sehr wahr­ Anglizismen ist hingegen insgesamt gese­ Karibik belegt; vermutlich sind auch diese scheinlich, dass bereits die ersten Sklaven hen fast viermal so hoch. Allerdings besit­ Wörter über den langage des isles nach Wörter wie manyòk, maron oder ebichèt zen die genannten Gesamtzahlen wegen Louisiana und Guayana gelangt. Auffällig aus dem Mund der Kolonialherren gehört der sehr ungleichen lexikographischen Do­ ist allerdings, dass in beiden Kreolsprachen haben – und dies lange vor der eigentli­ kumentation der einzelnen Kreolsprachen bestimmte semantische Felder fehlen. So chen Entstehung und Stabilisierung der nur vorläufigen Charakter. ist zum Beispiel der Großteil des in der Ka­ Kreolsprachen. ribik belegten Voodoo-Wortschatzes nicht attestiert, und in der Tat hat diese synkre­ Louisiana und Guayana – periphere tistische Religion weder in Louisiana noch Zusammensetzung Kreolsprachen und ihr Wortschatz in Guayana die gleiche Rolle wie etwa auf des Wortschatzes Haiti gespielt. Linguistische Daten und so­ Bilden Louisiana und Guayana vielleicht ziokulturelle Beobachtungen belegen da­ Der erste und zweite Teil des DECA wei­ eine Ausnahme, sind sie also im Sinne der her unabhängig voneinander, dass sich die sen zusammen ca. 20 000 Lemmata auf. Areallinguistik im Verhältnis zur zentralen karibischen Randgebiete von der Kernzone Das folgende Diagramm zeigt, wie die Karibikzone als laterale Regionen zu ver­ deutlich unterscheiden. Lemmata sich aus etymologischer Sicht stehen, deren Kreolsprachen bestimmte Unterschiede gibt es auch bei denje­ verteilen: sprachliche Spezifika aufweisen? Um diese nigen Amerindianismen, die überwiegend

Blick in die Wissenschaft 39 61 Romanische Sprachwissenschaft Foto © Ingrid Neumann - Holzschuh Foto 5 Whitney Plantage (Museum) in Wallace, Louisiana.

Pflanzen und Tiere sowie Alltagsgeräte be­ anischen Ursprungs – es handelt sich um südamerikanischen und westindischen In­ zeichnen: Nur 7 % der louisianakreolischen Wörter aus nordamerikanischen Indianer­ dianersprachen; es sind zumeist Wörter, Wörter haben ein indianisches Etymon, in sprachen – ist bereits im 16. Jahrhundert die im karibischen Raum schon vor der Guayana hingegen sind es nicht zuletzt mit den ersten Siedlern aus Québec bzw. Ankunft der Sklaven zirkulierten. In Gua­ aufgrund der zum Teil bis heute andau­ den coureurs des bois (Waldläufern) in yana finden sich dagegen auch Wörter, die ernden Kontaktsituation 29 %. Die Hälfte die Region um die Mississippi-Mündung direkt aus dem im nördlichen Teil des süd­ der louisianakreolischen Wörter amerindi­ gelangt. Die andere Hälfte stammt aus amerikanischen Kontinents verbreiteten Tupi und dem Festlandkaribischen entlehnt wurden. Viele Wörter des Inselkaribischen, die sehr lokal nur auf den Antillen belegt sind und chronologisch gesehen einer jün­ geren Schicht angehören, fehlen hingegen in beiden peripheren Kreolsprachen. [6] Weitere Besonderheiten, die das Lou­ isiana- und das Guayana-Kreolische aus dem Verbund der FKS der amerikanischen Zone herausheben, erklären sich zum Teil ebenfalls durch ihre Lage auf dem nord- oder südamerikanischen Kontinent. Der louisianakreolische Wortschatz französi­ schen Ursprungs weist nicht nur zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem Französischen in Québec und den maritimen Provinzen New Brunswick, Nova Scotia und Prince- Edward-Island (die ehemalige Acadie) auf,

Quelle: Postkarte aus der Privatsammlung Francine Conde Salazar aus der Privatsammlung Francine Quelle: Postkarte sondern auch eine Fülle von Anglizismen, 6 Kreolischer Tanz bei Cayenne, Französisch-Guayana. die der Omnipräsenz des Englischen in die­

62 Blick in die Wissenschaft 39 Kreolistik

sem Bundesstaat seit dem 19. Jahrhundert mals sogar Rückschlüsse auf frühe Sprach- Annegret Bollée, Dominique Fattier, Ingrid Neu­ geschuldet sind. Charakteristisch für das und Kulturkontakte innerhalb einer Region. mann-Holzschuh (Hg.) avec la contribution de Phi­ Guayana-Kreol sind demgegenüber be­ Schließlich sind Wörterbücher immer Teil lip Baker, Jean-Paul Chauveau et Hector Poullet, stimmte zum Kernwortschatz gehörende des kulturellen Gedächtnisses einer Spre­ Rédaction: Annegret Bollée, Katharina Kernbichl, Lusitanismen, was unter anderem mit der chergemeinschaft, und als solches versteht Ulrike Scholz et Evelyn Wiesinger, Dictionnaire étymologique des créoles français d’Amérique. frühen Präsenz von aus Brasilien eingewan­ sich auch das DECA: Es ist ein Spiegel der Deuxième Partie: Mots d’origine non-française derten lusophonen Juden und deren Skla­ vielfältigen kulturellen und sprachlichen ou inconnue (Kreolische Bibliothek, 29/II). Ham­ ven zusammenhängt. Beziehungen zwischen verschiedenen eu­ burg: Buske, 2017. ropäischen und nicht-europäischen Völ­ Ingrid Neumann-Holzschuh, Entre la Caraïbe et kern, die die karibische und zirkumkaribi­ l’Amérique du Nord: le créole louisianais et son Wörterbücher – eine spannende sche Zone in der Kolonialzeit bevölkerten. lexique à la lumière de ses contacts linguistiques Lektüre Wörter sind Teil des kulturellen Erbes einer et culturels. In: Ottmar Ette, Gesine Müller (Hg.), Gesellschaft, sie verbinden Sprecher, sind New Orleans and the Global South. Caribbean, Als erste umfassende Bestandsaufnahme identitätsstiftend und verdienen es von da­ Creolization, Carnival. Hildesheim et al.: Georg des lexikologischen Sprachschatzes aller her, gesammelt und erklärt zu werden. Olms, 2017, S. 71–96. FKS in der amerikanischen Zone ist das Ingrid Neumann-Holzschuh, Evelyn Wiesinger, DECA nicht nur für die Sprachwissenschaft Deux créoles à la périphérie? Les créoles louisia­ eine Goldgrube, sondern auch für Histo­ Literatur nais et guyanais à la lumière de leur lexique d’ori­ gine non-française. In: Gabriele Knauer, Mercedes riker oder Kulturwissenschaftler. Generell A. Ortiz Wallner, Ineke Phaf-Rheinberger (Hg.), sind Wörterbücher immer auch ›Lesebü­ Annegret Bollée, Dominique Fattier, Ingrid Neu­ mann-Holzschuh (Hg.) avec la contribution de Phi­ Mundos Caribeños – Caribbean Worlds – Mondes cher‹, d. h. sie geben Aufschlüsse über das lip Baker, Jean-Paul Chauveau et Hector Poullet, Caribéens, im Druck. lexikalische Inventar einer Sprechergemein­ Rédaction: Annegret Bollée, Katharina Kernbichl, Evelyn Wiesinger, Non-French lexicon in Guianese schaft in Synchronie und Diachronie, sie Ulrike Scholz et Evelyn Wiesinger, Dictionnaire éty­ French Creole. A sociohistorical and linguistic dokumentieren sprachlichen Wandel und mologique des créoles français d’Amérique. Pre­ study on the African contribution. In: Journal sprachliche Produktivität. Dabei erlauben mière Partie: Mots d’origine française (Kreolische of Pidgin and Creole Languages 34/1 (2019), historisch ausgerichtete Wörterbücher oft­ Bibliothek, 29/I). 3 Bände. Hamburg: Buske, 2018. S. 3–48.

Dr. phil. Evelyn Wiesinger, geboren in Regensburg. Studium der Romanischen Philologie, In­ terkulturellen Studien und Gender Studies an den Universitäten Passau, Regensburg und an der Universidad Complutense Madrid (Spanien). 2015 Abschluss der binationalen Cotutelle de thèse an den Universitäten Regensburg und Aix-Marseille (Frankreich) zur Nominalphrase des Guayana-Kreols. 2011 bis 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt Dictionnaire étymologique des créoles français d’Amérique. Seit 2015 Akademische Rätin a. Z. für Romani­ sche Sprachwissenschaft an der Universität Regensburg; seit 2017 Habilitationsprojekt zu Verb- Partikel-Konstruktionen im Spanischen. Forschungsgebiete: Syntax-Semantik-Pragmatik-Interface in romanischen Sprachen und Kreol­ sprachen (Nominaldetermination, Verb-Partikel-Konstruktionen), Sprachkontakt, Variation und Wandel, Konstruktionsgrammatik, Korpuslinguistik, Verschriftung und Normierung von Min­ derheitensprachen. Foto © Photo Studio Büttner Regensburg © Photo Studio Foto

Prof. Dr. phil. Ingrid Neumann-Holzschuh, geboren in Osterode/Harz. Studium der Roma­ nistik und Anglistik für das Lehramt an Gymnasien an den Universitäten Köln, Kiel und Tours (Frankreich); Promotionsstudium (Hispanistik) an der Universität Bamberg. In Bamberg Promo­ tion (1982) mit einer Arbeit zum Kreolischen in Louisiana sowie Habilitation (1993) zur Satz­ gliedanordnung im mittelalterlichen Spanisch. 1993 bis 1995 Vertretung einer Professur an der Katholischen Universität Eichstätt, seit 1995 Professorin für Romanische Sprachwissenschaft (Französisch und Spanisch) an der Universität Regensburg. Forschungsgebiete: Romanische Kreolsprachen (Drittmittelprojekt Deutsche Forschungsge­ meinschaft: Dictionnaire étymologique des créoles français d’Amérique, zusammen mit den Universitäten Bamberg und Cergy-Pontoise, Frankreich), die Varietäten des Französischen in Nordamerika (Drittmittelprojekt Deutsche Forschungsgemeinschaft: Grammaire Comparée des français d’Acadie et de Louisiane), Frankophonie, Spanisch in den USA, interne und externe

Foto © Juliane Zitzlsperger/atelier neverflash.photo © Juliane Zitzlsperger/atelier Foto Geschichte des Spanischen, Sprachkontakt und Sprachwandel.

Blick in die Wissenschaft 39 63 Universitätsverlag Regensburg

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