Jacqueline Büsse
MittelalterlicheMittelalterliche Lyrik im Deutschunterricht
Entwurf von Curriculum-Modulen zu Walther von der Vogelweide in der Sekundarstufe I und II
Göttinger Schriftenreihe für studentische Germanistik Jacqueline Büsse Mittelalterliche Lyrik im Deutschuhunterricht Entwurf von Curriculum-Modulenlen zu Walther von der Vogelweide in der Sekundarstufe I und II
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Jacqueline Büsse
Mittelalterliche LyrikL im Deutschunterrichicht
Entwurf von Currirriculum-Modulen zu Walther von der VVogelweide in der Sekundarstufe I unund II
eScripta Göttinger Schriftenrenreihe für studentische Germanististik Band 4
SemSeminar für Deutsche Philologie GeGeorg-August-Universität Göttingen 2011
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über
Erschienen in der Reihe eScripta. Göttinger Schriftenreihe für studentische Germanistik. In der elektronischen Schriftenreihe eScripta werden herausragende Arbeiten von Studierenden des Göttinger Seminars für Deutsche Philologie publiziert. ISSN: 2192-0559 http://www.escripta.de
Herausgeber der Reihe Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen Hartmut Bleumer, Andrea Bogner, Albert Busch, Hiltraud Casper-Hehne, Heinrich Detering, Anke Detken, Ruth Florack, Udo Friedrich, Anke Holler, Gerhard Kaiser, Ina Karg, Gerhard Lauer, Markus Steinbach, Claudia Stockinger, Simone Winko
Anschrift des Autors Jacqueline Büsse [email protected] Abstract
Wie sollen Schüler und Lehrer mit Vergangenheit umgehen? Dieser die Thematik mittelalterlicher Lyrik umfassenden Frage hat sich die vorliegende Arbeit angenommen. Am Beispiel Walthers von der Vogelweide wurde ein Dialog zwischen Fachwissenschaft (Mediävistik) und Deutschdidaktik angestrebt. Entstanden sind zwei Curriculum-Module, die dem didaktischen Prinzip ›produktiver Rezeption‹ und einer methodischen ›Handlungsorientierung‹ verpflichtet sind. Die Arbeit zeigt: Mittelalterliche Lyrik ist für den (Deutsch-)Unterricht unverzichtbar und eröffnet neue Umgehensweisen mit Lyrik ganz grundsätzlich.
Inhaltsverzeichnis
1. Mittelalterliche Literatur im Deutschunterricht? – Motivation, Konzeption und Zielsetzung ...... 1
1.1 Bestandsaufnahmen – Mittelalter und Literatur im rezeptionsgeschichtlichen Auf und Ab und: Deutschunterricht im Umbruch ...... 1 1.2 Curriculum-Module oder: Veränderung als Chance und Potenzial ...... 7
2. Mediävistik und Deutschdidaktik – Kooperation und Innovation ...... 11
2.1 Walther von der Vogelweide und die ›Reinmar-Walther-Fehde‹ als schulthematisches Novum – Wissenschaftliche Grundlagen ...... 11 2.1.1 Biographisch-historische Forschungsansätze der ›Reinmar-Walther- Fehde‹ ...... 11 2.1.2 »Wer ist ›Walther von der Vogelweide‹«? – Walthers sängerischer Selbstentwurf oder: ›Fehde‹ als Mittel zur Rollenkonstruktion ...... 13 2.1.3 Die Vielfalt problematischer Aspekte des Fehde-Konzeptes: Mut zur didaktischen Rekonstruktion? ...... 22 2.2 Anknüpfungen der Deutschdidaktik ...... 27 2.2.1 Ein Plädoyer für (mittelalterliche) Lyrik im Deutschunterricht – Literatur und lyrikdidaktischer Abriss ...... 27 2.2.2 Moderne Lyrik – Poetry Slam und (Pop/Rap-)Musik ...... 29 2.2.3 Zwischen Alterität und Aktualität: Abwägung von Konzepten zum Lyrikunterricht oder: Literaturdidaktik für ältere Texte ...... 35
3. Walther in der Praxis (Sekundarstufe I und II) – Eine kritische Lehrwerks- und Arbeitsmaterialanalyse ...... 43
4. Medieval (Slam) Poetry?! Unterrichtseinheit für die Sekundarstufe I .. 48
4.1 Der Gegenstand und seine Bedeutung ...... 48 4.2 Bezug zum Kerncurriculum ...... 50
4.3 Mögliche Lernziele und geförderte Kompetenzen ...... 51 4.4 Durchführung der Unterrichtseinheit in aufeinanderfolgenden Phasen ...... 56 4.4.1 Zum Ersten: Textbegegnung, Hintergrunderarbeitung ...... 56 4.4.2 Zum Zweiten: Textkenntnis & literarisches „Fehden“-Spiel ...... 58 4.4.3 Zum Dritten: Walther und Minnesang heute? – Poetry Slam als Folgekonzept mittelalterlicher Lyrik ...... 64 4.4.4 Zum Vierten: Produktive Rezeption ...... 68
4.5 Alternativen – Was könnte anders sein? ...... 69 4.6 Didaktische Antizipationen – Reflexion potenzieller und/oder bereits vorgebeugter Probleme ...... 71 4.7 Textgrundlagen und Material ...... 74 4.8 Bereichs- und Fächerübergreifende Aspekte ...... 76 4.9 Leistungsbewertung ...... 77
5. Die deutsche Sprache historisch verstehen: Walthers Sangspruch als literarisches Exempel – Unterrichtseinheit für die Sekundarstufe II .... 79
5.1 Der Gegenstand und seine Bedeutung ...... 79 5.2 Bezug zum Kerncurriculum ...... 81 5.3 Mögliche Lernziele und geförderte Kompetenzen ...... 83 5.4 Durchführung der UE in aufeinanderfolgenden Phasen ...... 85 5.4.1 Erster Schritt: Klang, Alterität, Sprache ...... 86 5.4.2 Zweiter Schritt: Aneignung sprachhistorischen Wissens: Vom Sprachwandel zur Übersetzungsproblematik ...... 87 5.4.3 Dritter Schritt: Walthers Sangspruch: Von der Textübersetzung zum Textinhalt ...... 88 5.4.4 Vierter Schritt: Eigenes (Nach-)Denken – Reflexion und Kreativität ...... 91 5.5 Textgrundlagen und Material ...... 93 5.6 Bereichs- und fächerübergreifende Aspekte ...... 94
6. Resümee: Ziele eines Dialogs zwischen Wissenschaft und Didaktik .. 95
7. Anhang ...... 97
8. Literatur- und Quellenverzeichnis ...... 124
1. Mittelalterliche Literatur im Deutschunterricht? – Motivation, Konzeption und Zielsetzung
1.1 Bestandsaufnahmen – Mittelalter und Literatur im rezepti onsgeschichtlichen Auf und Ab und: Deutschunterricht im Umbruch
Hêr Walther von der Vogelweide, Swer des vergaeze, der taete mir leide.1
Diese, dem Gelehrten Hugo von Trimberg (um 1235 1313) zugeschriebe nen Worten (Renner 1188), lesbar am Gedenkstein im »Lusamgärtlein« des Würzburger Neumünsters,2 dem Ort, an dem der wohl bekannteste mittelal terliche Dichter, Walther von der Vogelweide, laut Überlieferung begraben sein soll,3 spiegeln die basale Intention dieser Arbeit wider: die mittelalterli che Dichtung (hier: Minnesang und Sangspruch), ihre Sprache sowie ihren gesellschaftlich kulturellen Kontext, primär am Exempel Walthers von der Vogelweide, in das Gedächtnis der Leserinnen und Leser dieser Arbeit zu rückzuholen, und zwar so, dass der unverzichtbare didaktische Nutzen für den Einsatz im gymnasialen Deutschunterricht erkannt und zur Implemen tierung bzw. zur Weiterarbeit in der Praxis angeregt wird. Wolfgang Kersken stellte 1982 fest: »Über mittelalterliche Literatur im Deutschunterricht […] in der Bundesrepublik heute zu referieren, heißt, die Geschichte einer langen Agonie, eines stillen Todes und einer lautlosen Beerdigung zu skizzieren«4. Die Geschichte, insbesondere die der Rezeption, ist eine von Höhen und Tiefen, soviel trifft zu, doch gestorben und begraben ist mittelalterliche Lite ratur gewiss nicht und dazu soll es auch nicht kommen.
1 Wapnewski, Peter (1979): Walther von der Vogelweide. Berlin [u.a.], S. 6. 2 Vgl. nach Muth, Hanswernfried: Das Würzburger Neumünster. Ehemalige Kollegiatsstiftskirche. Internet Beleg: http://www.bistum wuerzburg.de/bwo/dcms/sites/bistum/kunst/kirchen/neu_muenster.html, Zugriff am 1.6.2010, S. 1 von 1. Zu weiteren Details einer »Walther Gedächtniskultur« vgl. Birkhan, Helmut (2005): …swer des vergêze, der tête mir leide. Walther Gedächtniskultur in den Gästebüchern des Vogelweidehofes in Lajen. In: ders. (Hrsg.) unter Mitwirkung von Cotten, Ann: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Wien, S. 25 82, hier insbes. S. 25 f. Die Verse Hugos von Trimberg werden ergänzend auf einer Marmortafel oberhalb der Tür des Lajener Vogelweidhofs lokalisiert, einem mutmaßlichen und umstrittenen Herkunftsort im Rahmen einer Vita Walthers. 3 Vgl. z.B. Scholz, Manfred Günter (2005a): Walther von der Vogelweide. 2. korrigierte und bibliographisch ergänzte Auflage. Stuttgart; Weimar (Sammlung Metzler Bd. 316), S. 17. 4 Kersken, Wolfgang (1982): Literatur des Mittelalters im Deutschunterricht der Sekundar stufe II. In: Kühnel, Jürgen/Mück, Hans Dieter/Müller, Ursula & Ulrich (Hsrg.): Mittelal ter Rezeption II. Gesammelte Vorträge des 2. Salzburger Symposions ›Die Rezeption des Mittelalters in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts‹. Göp pingen (GAG Nr. 358), S. 97 114, hier S. 97 f.
1 Um die Vorgehensweise, genauere Zielsetzung und Motivation dieser Ar beit vollständig darlegen zu können, ist es also notwendig, mittelalterliche Literatur zunächst in ihrem umfassenden und turbulenten rezeptionsge schichtlichen und bildungspolitischen Umfeld zu betrachten. Das betrifft eine Trias von Diskursen bzw. Diskursverläufen: erstens Rezeptionsge schichte, zweitens Lehrplan bzw. Curriculums und drittens Kanondiskussion. Diese beeinflussen sich wechselseitig und dominieren die allgemeinen Rahmenbedingungen, d.h. Chancen und Potenziale, aber auch Probleme der Behandlung mittelalterlicher Literatur im Unterricht. Hier sei im Folgenden näher darauf einzugehen: Die »in mehreren Wellen und unter divergierenden Vorzeichen« 5 vollzogene Rezeptionsgeschichte lässt sich mit Hilfe von Zuschreibungen gesellschaftlicher, 6 politischer oder kultureller Gratifikationsfunktionen, die die jeweilige Form der Rezeption erfüllt und bestimmt haben, gliedern. So übernahm die frühe Rezeption »in ihrer Hin wendung zum germanisch deutschen Altertum«7 zunächst eine eskapistische Funktion, etwa bei den Humanisten oder barocken Autoren, die die alten Zeugnisse »als verklärte Wunschfolie für eine als unzulänglich empfundene Gegenwart« 8 gebrauchten. In ihrer Funktion als ›Bildungsgut‹ etablierte sich die mittelalterliche Literatur spätestens seit der wegweisenden Entde ckung und Veröffentlichung der bis dahin unbekannten Manessischen Lie derhandschrift durch den Schweizer Rechtsgelehrten Goldast im 17. Jahr hundert. So wurde auch der bis dato in Vergessenheit geratene Walther von der Vogelweide in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und die eigene deutsche Sprache von Sprachreformern und gesellschaften als Pres tigeobjekt erkannt.9 Um 1800, zusammenhängend mit der zunehmenden Philologisierung des Faches Germanistik,10 kam es schließlich zu einer ent scheidenden, positiven Wende: Die Texte wurden »um ihrer selbst willen« betrachtet, ihre ästhetische Qualität und Funktion wurde wahrgenommen und eine historische Quellenrekonstruktion angestrebt.11 Negativ konnotierte Konjunkturen blieben jedoch nicht unvermieden: Die napoleonische Fremdherrschaft forcierte eine identitätsstiftende Funkti on mittelalterlicher Literatur durch patriotische Akzente, die primär politi
5 Krohn, Rüdiger (1996): Aufbrüche in die Vergangenheit zur Gewinnung der Zukunft. Wellen und Wandlungen der Mittelalter Rezeption. In: Mitteilungen des Deutschen Germanisten verbandes 45: Mittelalterrezeption, H. 1 2, S. 134 158, hier S. 134. 6 Der Begriff »Mittelalter Rezeption« setzt nach Rüdiger Krohn ein gewisses »Epochen Bewußtsein« auf Seiten der Träger voraus, weshalb er den Beginn einer Rezeptionsgeschich te erst in nachmittelalterlicher Zeit, wann immer diese Epochengrenze gezogen werden soll te (zur Problematik und Unsicherheit des Epochenbegriffs vgl. Karg, Ina (2001a): Mittelal ter ohne Ende? Aktualität und Geschichtlichkeit einer (nicht immer) populären ›Epoche‹. In: ide 25, H. 3, S. 38 47, hier S. 39 f.), determiniert. Der bereits im Mittelalter einsetzende Prozess der Verschriftlichung, d.h. »Bewahrung und Belebung« (Krohn (1998), S. 135) der mündlichen Dichterkultur, wird somit nicht miteinbezogen. 7 Krohn, Rüdiger (1998), S. 136. 8 Ebd., S. 137. 9 Krohn, Rüdiger (1998), S. 138 f. 10 Ebd., S. 135. 11 Ebd., S. 136.
2 sche Funktionen ausübten. 12 Insbesondere das Nibelungenlied, in seiner Bearbeitung Der Nibelungen Lied (1807) von Friedrich Heinrich von der Hagen, wurde resolut für politische Zwecke instrumentalisiert und
bildete den ersten ›Sündenfall‹ der noch jungen, eben erst als Univer sitätsfach sich etablierten Germanistik, die ihre Anfälligkeit für ideolo gische Vereinnahmungen seither in vielfältiger Weise offenbart hat.13
So wurde auch Walther von der Vogelweide »zu einer wirkmächtigen Identi fikationsfigur der Deutschen« stilisiert, ja zum »›Sänger des Reiches‹«, ei nem »frühen Apologeten«14 des aktuellen Strebens nach politischer Einheit. Eine derartige Inanspruchnahme wurde insbesondere während des Ersten Weltkrieges und der Zeit des Nationalsozialismus fortgesetzt.15 Hier hatte, neben dem Nibelungenlied in der berüchtigten Stalingrad Rede Görings,16 erneut Walther von der Vogelweide »eine spürbare Wirkung auf junge NS Autoren, die sich von der Pose des Dichters als Führer und Erzieher beein drucken ließen.«17 Auf diese, so betitelte, »perverse[n] Schändung eines gan zen Zeitalters und seiner kulturellen Hervorbringungen«, folgte zunächst ein Ende der Mittelalter Rezeption. Bei Krohn heißt es: »Es dauerte etwa 30 Jahre, bis dann im Umfeld der großen Stuttgarter Staufer Ausstellung 1977 das Interesse am Mittelalter erneut belebt wurde.«18 Und was ist heute? Die moderne Mittelalter Rezeption umfasst eine ganz neue, nicht wissen schaftliche, sondern wirtschaftliche Rezeptionsebene, die das Mittelalter zu einem »Phänomen der Bewußtseins und Unterhaltungsindustrie«19 macht. Dies geht besonders auf die wachsende Bedeutung der Medien und des Kul turbetriebs zurück. Dementsprechend unterscheidet Siegrid Schmidt insge samt vier, zum Teil eng miteinander verknüpfte Rezeptionsebenen: kulturel le Unterhaltung (z.B. Mittelalter Feste mit »›Event Charakter[s]‹«20), litera rische Adaptionen, primäre (z.B. Schule) und sekundäre Bildung (z.B. Muse en) sowie Literatur und Kulturwissenschaft.21 Rezeption meint hier »die unterschiedlichsten Formen der Aneignung (rezeptiv und produktiv) in den verschiedensten Medien (Literatur, Theater, Film, Musik) und Diskursen
12 Krohn, Rüdiger (1998), S. 143. 13 Ebd., S. 144; vgl. zudem Karg, Ina (2006): Ältere Literatur. In: Kliewer, Heinz J./Pohl, Inge (Hrsg.): Lexikon Deutschdidaktik. Band 1. Baltmannsweiler, S. 3 7, hier S. 4. 14 Krohn, Rüdiger (1998), S. 145. 15 Vgl. ebd., S. 150. 16 Vgl. ebd., S. 154. 17 Ebd., S. 153. 18 Krohn, Rüdiger (1998), S. 154. 19 Ebd., S. 155. 20 Ebd. 21 Vgl. Schmidt, Siegrid (2001): Under der linden saz ich ûf eime steine... Walther von der Vogelweide als Protagonist für junge Rezipienten. In: Mertens, Volker/Müller, Ulrich (Hrsg.): Walther lesen. Interpretationen und Überlegungen zu Walther von der Vogelweide. Festschrift für Ursula Schulze zum 65. Geburtstag. Göppingen, S. 255 277, hier S. 256.
3 (Schule und Hochschule, Kulturbetrieb und Alltagspraxis)« 22 . Ihren Ur sprung nimmt die omnipräsente Begeisterung an der Epoche dabei mit Um berto Ecos Name der Rose (1980, deutsch 1986),23 einem Roman, der vor allem außerhalb des schulischen Raumes einen »Boom« 24 des Mittelalterinteresses auslöste: von Ausstellungen »bis hin zur nostalgischen Unterhaltung und zum Fantasy Klamauk«25 als »Verschnaufpause im Globa lisierungsgalopp«26. Aber welche Rolle spielt das Mittelalter und seine Lite ratur dabei für die schulische Bildung? Ein Vergleich zwischen dem akademischen und außerakademischen Inte resse am Mittelalter zeigt:
So selbstverständlich […] der alltägliche [oft unreflektierte und unkriti sche (!), J.B.] Umgang mit dem Mittelalter heute scheint, so umstritten bleibt diese Epoche mit ihrer Kultur in Lehr und Studienplänen.27
Womit man sich inmitten eines zweiten Diskurses befindet, der Lehrplan und Curriculumdiskussion. Über den Verlust des Mittelalters in der Schule wurde viel geklagt, die Literatur als »didaktischer Ladenhüter«28 betitelt, ihr Tod angeprangert. Doch ist dies eine verengte, zu einseitige Perspektive. Mittelalterliche Literatur befindet sich vielmehr in einer turbulenten, ja am bivalenten Situation. Auf der einen Seite scheint sie ein Randdasein in der schulischen Realität zu fristen, auf der anderen Seite sollen Lehrpläne, Cur ricula oder Rahmenrichtlinien aber scheinbar auch nicht auf eine Themati sierung, wie auch immer diese beschaffen sein mag, verzichten.29 Dieser ungewisse Status lässt sich auf die derzeitige »Umbruchphase in der Bil dungspolitik« 30 zurückführen. »Schlag bzw. Reizworte [wie] ›Pisa‹ und ›Bologna Prozess‹« 31 verschärfen in ihrer medialen Präsenz die Bil dungsdiskussion und stellen sie vor eine neue Herausforderung: den bil dungspolitischen Übergang von den Inhalte festlegenden Lehrplänen hin zu Curricula oder sogenannten Rahmenrichtlinien, wobei die Diskussion dies bezüglich noch lange nicht abgeschlossen ist. Es werden nun eben nicht
22 Bachorski, Hans Jürgen/Kasten, Ingrid (1998): Zwischen Politik, Philologie und Pop: Mit telalter Rezeption. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 45: Mittelalterrezeption, H. 1 2, S. 5 10, hier S. 5. 23 Vgl. Karg, Ina (2006), S. 3; Karg (2001a), S. 42. 24 Vgl. Karg, Ina (1998): ...und waz si guoter lêre wernt...Mittelalterliche Literatur und heuti ge Literaturdidaktik. Versuch einer Kooperation. Frankfurt/Main (Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts Bd. 35), S. 79. 25 Ebd., S. 10.; vgl. auch Bachorski, Hans Jürgen/Kasten, Ingrid (1998), S. 5. 26 Kugler, Hartmut (1998): Mediävistik – Memoria – Management. In: Mitteilungen des Deut schen Germanistenverbandes 45: Mittelalterrezeption, H. 1 2, S. 129 132, hier S. 129. 27 Bachorski, Hans Jürgen/Kasten, Ingrid (1998), S. 5. 28 Jentzsch, Peter (1998b): Mittelalterliche Literatur im Unterricht. Begegnungen mit Walther von der Vogelweide. In: DUB 51, H. 1, S. 3 16, hier S. 3. 29 Vgl. Karg, Ina (1998a), S. 9. 30 Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006): Mittelalter Germanistik in Schule und Universität: Leistungspotenzial und Ziele eines Faches. Göttingen, S. 9 f. 31 Ebd.
4 mehr Inhalte, sondern restriktive Lernziele und Kompetenzen fokussiert, die insbesondere für die Sekundarstufe I allenfalls um unvollständige, unzuläng lich begründete Lektürevorschläge ergänzt werden und damit jeden Inhalt einer Begründungsnot im Hinblick auf Unterrichtsziele ausliefern.32 So er öffnet sich das erste Problem und Dilemma für die älteren Texte dadurch, dass die Deutschdidaktik einem derartigen »Begründungszwang« 33 zum Einsatz mittelalterlicher Literatur im Unterricht zunächst nicht nachkam.34 Gründe für die Vernachlässigung im Unterricht gab und gibt es diverse, sei es die ideologische Vorbelastung, die fremde sprachliche Form35 oder ein unkritisches, über Jahre progressiv implementiertes Geschichtsverhältnis,36 das in der unhinterfragten Annahme wurzelt, uns stünden grundsätzlich und somit auch bei der Lektüre im Deutschunterricht, die Dinge näher, »die sich in unserer unmittelbaren zeitlichen Umgebung abspielen und ansiedeln«37. Dieser Gedanke berührt schließlich einen dritten Diskurs, der in die Diskus sion um den Stellenwert mittelalterlicher Literatur eingreift: Kanonbildung bzw. verdrossenheit. Die immense Bedeutung einer dynamischen Kanondiskussion und einer Aufnahme von literarischen Texten in den Ka non wird deutlich, betrachtet man ihre Funktion für Gesellschaft und Kultur:
Der Kanon ist Index für Kultur und Kulturwandel, er ist das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft, und seine Diskussion ist eine Diskussion über ihre kulturellen Verständigungsgrundlagen. Wo kein Kanon mehr gepflegt und zugleich diskutiert wird, droht die kulturelle Identität ei ner Gemeinschaft zugrunde zu gehen.38
Einer bis heute stetigen Entwicklung von Kanonverdrossenheit muss somit entschieden entgegengewirkt werden. Denn wo die Gesellschaft versucht, einer Kanondiskussion zu entgehen, beispielsweise im Kontext der Curriculumidee, »kommt [es] geradezu zwangsläufig zum ›heimlichen Ka
32 Georg Behütuns macht beispielsweise anhand einer systematischen Untersuchung von 14 Lehrplänen des Faches Deutsch in den verschiedenen Bundesländern deutlich, dass sich viele dazu entscheiden, die mittelalterliche Literatur und Epoche, und somit eine wichtige geschichtliche Dimension, außen vor zu lassen (vgl. Behütuns, Georg (1998): Mittelalter in Deutsch Lehrplänen der Bundesländer. (Rest ) Bestände und eine Überraschung. In: Mit teilungen des Deutschen Germanistenverbandes 45: Mittelalterrezeption, H. 1 2, S. 13 28). Wo das Mittelalter doch mit aufgelistet wird, wird es häufig zur reinen Option stilisiert: »Die Lerngruppe kann mit ihrer Lehrkraft nach diesen Vorgaben sehr wohl einen Schwer punkt Mittelalter wählen, muß es aber nicht zwingend« (Behütuns (1998), S. 16, Lehrplan entwurf für die Klassen 5 9/10 aller Schulen in Rheinland Pfalz; vgl. hierzu auch Raitz, Wal ter (1992): Ein Relikt mit Zukunft? Deutsche Literatur des Mittelalters im Unterricht. In: Der Deutschunterricht 44, H. 2, S. 3 11, hier S. S. 5). 33 Karg, Ina (1998a), S. 20. 34 Vgl. ebd., S. 17. 35 Vgl. ebd., S. 9. 36 Vgl. Karg, Ina (1998a), S. 9. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 33.
5 non‹ des immer Gleichen oder zum Gegenkanon gegen vorher unhinterfragt Akzeptiertes.«39 Es lässt sich resümieren: Mittelalterliche Literatur ist in ihrer Rezeption eine ideologisch vorbelastete, unterliegt derzeit zahlreichen Modernisie rungstendenzen und muss sich einem Wandel des bildungspolitischen Sys tems stellen. Doch »Veränderungen bedeuten eine Chance – dann, wenn sie den entsprechenden Raum zur Reflexion geben«40 und dieser ist vorhanden:
1. Die gegenwärtige Faszination und Popularität der Epoche des Mittelal ters kann im Unterricht aufgegriffen und als motivationssteigerndes Element genutzt werden, vorausgesetzt natürlich, eine sinnvolle Behand lung im Unterricht, die der Beschaffenheit älterer Texte Rechnung trägt, wird angestrebt. Wie eine adäquate Thematisierung konkret für die Pra xis aussehen kann und sollte, wird diese Arbeit im Verlauf herausstellen. 2. Die Forderung, die mit dem Beschluss von Bildungsstandards durch die Kultusministerkonferenz (2002) einhergeht, nämlich »die Vermittlung von Wissen in eine Vermittlung von Kompetenzen umzuwandeln«41, darf eines nicht außer Acht lassen: »Woran sollte sich Kompetenz zeigen, wenn nicht an Gegenständen und Sachverhalten?«42
Die Strukturveränderungen im Schulwesen und die Entwicklung von Bil dungsstandards,43 die den Fokus auf Kompetenzen, bei der Leistungsbewer tung und kontrolle vom Input auf den Output verlegen,44 ermöglichen auf grund einer dazugewonnenen Freiheit bei der Textauswahl, vor allem inner halb der Sekundarstufe II, eine neue Chance zur Fokussierung mittelhoch deutscher Literatur im Unterricht. Auch im Rahmen des Zentralabiturs kön nen und müssen Anknüpfungspunkte an Pflicht und Wahlpflichtmodule genutzt werden. Denn genau hier liegt die Anschlussstelle für die Deutschdi daktik, mittelalterliche Texte für den Unterricht wieder stark zu machen und auf diese Weise Bildungsstandards als Herausforderung und Chance zu gleich sehen zu können. So soll diese Arbeit dazu beitragen, dass »die ausge klammerten Literaturen allmählich wieder in den Literaturunterricht« 45 (zurück)kommen und »in jüngster Zeit eine Rolle in didaktischer Diskussion und Unterrichtsvorschlägen«46 spielen.
39 Karg, Ina (1998a), S. 35. 40 Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 10. 41 Ebd., S. 11. 42 Ebd., S. 11 f. 43 Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.) (2006a): Beschlüsse der Kultusministerkon ferenz (KMK). Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Bildungsabschluss. Bonn 2003. Internet Beleg: http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/bs_ms_kmk_deutsch.pdf, Zugriff am 14.08.2009. 44 Vgl. Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 95. 45 Karg, Ina (1999a): Die Rückkehr der ausgeklammerten Literaturen. Mittelalter und Post moderne in ihrem didaktischen Beitrag zu Literaturbegriff und Lehrerrolle. In: Beisbart, Ortwin/Mieth, Annemarie (Hrsg.): Deutschlehrer Bildung im Wandel. Frankfurt/Main (Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts Bd. 41), S. 201 226, hier S. 209. 46 Ebd.
6 1.2 Curriculum Module oder: Veränderung als Chance und Po tenzial
Die publike Zeitschrift Deutschunterricht bietet seit 1998 innovative An regungen für die Praxis in Form sogenannter »Curriculum Module«, die Lehrkräften die Unterrichtsplanung erleichtern sollen. Der Initialgedanke geht dabei auf Harro Müller Michaels zurück, der die Zeit für eine neue »Qualität von Unterrichtsplanung« vor allem auf Basis des geschilderten bildungspolitischen Diskurses als günstig beurteilt:47 Erstens fordern Richt linien und deren Entscheidungsspielräume Lehrende dazu auf, die Bedeu tung von Unterrichtsgegenständen im Hinblick auf Lernziele und Kompe tenzen neu zu überdenken und zu rechtfertigen; zweitens gehen bisherige Planungshilfen für Lehrer kaum über einzelne Stunden hinaus und lassen vor allem Kontexte, in denen Texte, Motive oder Probleme eine Rolle spielen, vermissen. Hier sollen konkrete Halbjahresplanungen mittlerer Reichweite Abhilfe schaffen.48 Per Definition bieten Curiculum Module
Sequenzen mittlerer Reichweite (bis zu zwölf Stunden), die eine thema tische Einheit in ihrem Kontext behandeln. Dabei meint ›Curriculum‹ mehr als nur den Stoff des Lehrplans: einen bereits strukturierten Un terrichtsverlauf. ›Modul‹ bedeutet eine größere Einheit aus verschie denen Elementen, die vielseitig anschließbar ist. Der neue Begriff ›Cur riculum Modul‹ soll zum Ausdruck bringen, daß thematische Einhei ten so [offen und flexibel, J.B.] konzipiert werden, daß sie mit ganz un terschiedlichen anderen Themenkomplexen verbunden werden kön nen.49
Ein solcher Entwurf von Curriculum Modulen zur Übersetzbarkeit und Er probung in der Praxis der Sekundarstufe I und II des Gymnasiums ist das Ziel dieser Arbeit, das einiger grundlegender fachwissenschaftlicher und didaktischer Vorüberlegungen bedarf, die sich im Aufbau bzw. der Konzepti on dieser Arbeit widerspiegeln: In einem ersten Schritt gilt es, eine für die Curriculum Module konstitutive Verknüpfung von Theorie und Praxis, d.h. einen Transfer aus der Wissenschaft in die Unterrichtspraxis zu leisten.50 Das grundlegende und vielfach beklagte Kommunikationsproblem zwischen Fachwissenschaft (hier vor allem der Mediävistik), Deutschdidaktik51 und Praxis soll auf diese Weise aufgehoben und eine wissenschaftlich adäquate
47 Vgl. Müller Michaels, Harro (1997a): Neue Anregungen für die Praxis: Curriculum Module. In: Deutschunterricht/Berlin 50, H. 7/8, S. 362. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. Müller Michaels, Harro (1997a), S. 362. 50 Vgl. ebd.; Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 100. 51 Vgl. hierzu Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006); Bachorski, Hans Jürgen/Kasten, Ingrid (1998), S. 6.
7 Kooperation ermöglicht werden. Bezüglich der dabei fokussierten Thematik strebt diese Arbeit nach Innovation. Vorbereitende Lehrbuch und Arbeits materialrecherchen haben gezeigt, dass zwar gelegentlich das ein oder ande re mittelhochdeutsche Gedicht, insbesondere Walthers von der Vogelweide, für den Unterricht vorgeschlagen wird (ob in didaktisch methodisch wertvol ler Art und Weise sei noch zu klären) 52. Das in der Mediävistik bereits durch zahlreiche Publikationen etablierte Forschungsthema der sogenannten »Reinmar Walther Fehde« findet jedoch keinerlei Beachtung. Dieses soll geändert, ja das »zum festen Begriffsarsenal der Literaturgeschichtsschrei bung«53 zählende Thema in die Praxis geholt werden. Das fachwissenschaft liche Abstract steht dabei unter dem folgenden Axiom: Walther von der Vo gelweide und Reinmar der Alte haben literarisch miteinander kommuni ziert.54 Inwieweit diese Kommunikation Bestandteil einer ›Fehde‹ ist und was diese für das ›Image‹ bzw. die ›Rolle‹ des Sängers Walther von der Vo gelweide bedeutet, wird herauszustellen sein. So soll unter 2.1.1 ein Über blick über die wissenschaftliche ›Fehde‹ Forschung, über die Vielfalt biogra phisch historischer Annahmen bezüglich des Verhältnisses beider Lyriker innerhalb der germanistischen Philologie, gegeben werden. Auf einer zwei ten, konzeptuell textimmanenten Ebene, wird die Beziehung beider Autoren anhand ausgewählter Textkorpora angeschnitten und das durch die For schung als besonders hervorgehobene Potential der Lyrik des Dichters Wal ther zusammengefasst (siehe 2.1.2). Die getroffene Auswahl beschränkt sich dabei auf durch Forschungskonsens anerkannte und zentrale Lieder des Kontextes »Reinmar Walther Fehde«55, um Problemen wie dem Verwerten sogenannter »Pseudoreinmare«56 vorzubeugen. Der für diese Arbeit konsti tutive Schritt erfolgt schließlich unter 2.1.3: Trotz oder gerade aufgrund der Vielfältigkeit und historischen Überlieferungsproblematik des komplexen literarischen ›Fehde‹ Konzeptes, soll aufgezeigt werden, wie die Thematik, ja wie die Behandlung des Minnesängers und Sangspruchdichters Walther von der Vogelweide ganz grundlegend didaktisch rekonstruiert und frucht bar für den Unterricht gemacht werden kann. Der zweite umfassende Schritt dieser Arbeit besteht nun darin, didakti sche Anknüpfungspunkte an den mediävistischen Themenkomplex aufzuzei gen. Es wird intendiert, die Relevanz und mögliche Übertragung essentieller
52 Eine ausführliche Analyse bereits vorhandenen Unterrichtsmaterials befindet sich unter Punkt 3. 53 Schweikle, Günther (1986): Die Fehde zwischen Walther von der Vogelweide und Reinmar dem Alten. Ein Beispiel germanistischer Legendenbildung. In: ZfdA 97, S. 235 253, hier S. 235. 54 Vgl. Bauschke, Ricarda (2004): Spiegelungen der sog. Reinmar Walther »Fehde« in der Würzburger Handschrift E. In: Brunner, Horst (Hrsg.): Würzburg. Der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Wiesbaden (Imagines medii aevi 17), S.227 250, hier S. 227. 55 Vgl. Schweikle, Günther (1995): Minnesang. 2., korr. Aufl. Stuttgart (SM 244), S. 109. 56 Tervooren, Helmut (1989): Reinmar und Walther. Überlegungen zu einem autonomen Reinmar Bild. In: Mück, Hans Dieter (Hrsg.): Walther von der Vogelweide: Beiträge zu Le ben und Werk. Stuttgart (Kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd.1), S. 89 105, hier S. 105.
8 und zentraler Begriffe, die in der mediävistischen Forschung der Charakteri sierung mittelalterlicher Dichtung dienen, in diesem Fall Klang (siehe 2.2.1), Performanz (siehe 2.2.2) und Alterität (siehe 2.2.3), auf die Deutschdidaktik zu applizieren und an das literarische Umfeld der Schülerinnen und Schüler rückzubinden. Dabei wird das Ziel verfolgt, Vergangenheit und Gegenwart, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, auszuloten. 2.2.1 verfolgt diesbezüglich zunächst die Frage, warum sich diese Arbeit speziell für die Gattung Lyrik ausspricht. Literatur und lyrikdidaktische Argumente sollen hier überzeu gend angeführt werden. 57 2.2.2. fragt daraufhin: »Minnesang oder Sangspruch heute?« und thematisiert moderne Formen der Lyrik wie Slam Poetry und (Pop ) Musik anhand des Performanzbegriffs, der hier die Funk tion eines tertium comparationis ausübt. Bezüglich des Verhältnisses zwi schen mittelalterlicher Literatur und Deutschdidaktik konnte lange Zeit nur Orientierungslosigkeit konstatiert werden:
Die Literaturdidaktik hat bis jetzt kein Konzept für die Aneignung his torischer Literatur – und das heißt sowohl Literatur mit historischem Thema als auch ältere Texte – entwickelt.58
Abschnitt 2.2.3 nimmt sich dieser Problematik an und beleuchtet Überle gungen einer Didaktik für ältere Texte im Spannungsfeld von Alterität und Modernität. Die hier gewonnenen Erkenntnisse fungieren als Ausgangs und Bezugspunkte für die didaktisch methodische Konzeption der Curriculum Module. »So macht demzufolge auch nicht der Inhalt, sondern erst die Ver bindung mit der Darstellungsweise Sinn.«59 Die letzte ›Vorarbeit‹ wird mit der unter Punkt drei vorgenommen, kriti schen Analyse bereits vorhandener Lehrwerks und Arbeitsmaterialien für Schüler und Lehrer abgeschlossen. Wie sind die Materialien zu bewerten? Auf welche lässt sich zurückgreifen, auf welche besser nicht und warum? Die gesamten, innerhalb dieses theoretisch fundierten, fachwissenschaftlichen und didaktischen Teils der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse, sollen schließ lich durch Transferleistung in zwei Curriculum Module, eines für die Sekun darstufe I (=CUM I) und eines für die gymnasiale Oberstufe (=CUM II), in die Praxis übersetzt werden.60 Während Modul I, Medieval (Slam) Poetry?!,
57 Gemeint ist hier eine allgemeindidaktische Argumentation. Eine detaillierte Argumentation mit Bezugnahme auf Kompetenzvermittlung oder zu erreichende Lernziele wird erst im Rahmen des eigentlichen Curriculum Moduls geleistet werden. 58 Karg, Ina (1998a), S. 10. 59 Ebd., S. 40. 60 Der grundlegende Aufbau der Curriculum Module orientiert sich dabei an bereits vorhan denen Exemplaren (vgl. z.B. Karg, Ina (1999b): Eulenspiegeleien. Eine Unterrichtseinheit für die Sekundarstufe I. In: Deutschunterricht/Berlin 52, H.2, S. 119 124; Müller Michaels, Harro (1997b): Die Aktualität des Mythos Prometheus. Unterrichtseinheit für das 10. Schul jahr. In: Deutschunterricht/Berlin 50, H. 7/8, S. 363 366.). CUM I erweitert diese Struktur jedoch aufgrund seines Schwerpunktcharakters für diese Arbeit zusätzlich um Alternativ vorschläge und didaktische Antizipationen, die eine Reflexion der Unterrichtseinheit ver stärken sollen.
9 den kommunikativen und performativen Charakter der Texte Walthers und Reinmars betont, fokussiert Modul II, Die deutsche Sprache historisch ver- stehen: Walther als literarisches Exempel, die Alterität mittelhochdeutscher Lyrik am Beispiel des Klanges und versucht diese zugleich zu erläutern und ein Stück weit mit Hilfe des Themenschwerpunkts »Wandel der deutschen Sprache« zu überwinden.61 Die primäre Intention des zweiten Moduls ist das Aufzeigen von Anknüpfungspunkten und Anschlussideen an in der Sekun darstufe I bereits gelegte Grundlagen, Kenntnisse und Kompetenzen. Es soll verdeutlicht werden, dass mittelalterliche Lyrik einen berechtigten Stellen wert im Unterricht hat, ja gerade nicht in der oberflächlichen Betrachtung vereinzelter Minnelieder innerhalb einer Lyrikeinheit erstarren darf, 62 son dern »im Sinne der Idee von Spiralcurricula Facetten der Beschäftigung mit dem Mittelalter in weiteren Unterrichtseinheiten […] späterer Jahrgangsstu fen«63 wieder aufgreifen und in die jeweils beabsichtigte Richtung weiterfüh ren muss. Für diese Arbeit bedeutet das, mögliche Verknüpfungen zum Zent ralabitur aufzuzeigen. CUM II ist somit als Ausblick, der sich an den thema tischen Schwerpunkt dieser Arbeit, CUM I, anknüpft, zu verstehen und wird dementsprechend kürzer abgehandelt, natürlich auch aufgrund der Kapazi tät dieser Arbeit. Alles in allem besteht die Hoffnung, ausdrücken zu können, dass es sich lohnt, mit dem besagten Gegenstand zu befassen,
und zwar in rekursiver, letztlich nicht endender Wechselwirkung zwi schen wissenschaftlicher Arbeit, didaktischen Fragestellungen und dem Erkenntnisgewinn für Schülerinnen und Schüler,64 mit dem übergeordneten Ziel, ein didaktisches Konzept zu entwickeln, das den Einsatz mittelalterlicher Lyrik im Unterricht »unverzichtbar macht«65.
61 Für detaillierte thematische Begründungen siehe 4.1 und 5.1 dieser Arbeit. 62 Vgl. Skrotzki, Ditmar (1998): Konstellationen mittelalterlicher Texte. Einen Annäherung an eine ungeliebte Epoche. In: Deutschunterricht 51, Heft 1, S. 17 26, hier S. 18. 63 Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 118; vgl. auch Karg, Ina (1998b): Der Bösewicht im Klassenzimmer. Diskursumbau und Sprachhandeln eine Per spektive für den handlungsorientierten Literaturunterricht? In: Deutschunterricht/Berlin 51, H.1, S. 27 36, hier S. 33. 64 Karg, Ina (2008): Einleitung. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55, H. 4, S. 378 f., hier S. 379. 65 Karg, Ina (1998a), S. 15.
10 2. Mediävistik und Deutschdidaktik – Kooperation und Innovation
2.1 Walther von der Vogelweide und die ›Reinmar Walther Fehde‹ als schulthematisches Novum – Wissenschaftliche Grundlagen
2.1.1 Biographisch historische Forschungsansätze der ›Reinmar Walther Fehde‹
Der Forschungsbereich der ›Reinmar Walther Fehde‹ wurde 1874 durch Erich Schmidt, der die heute allgemein anerkannte These, »Walther von der Vogelweide und Reinmar der Alte haben literarisch miteinander kommuni ziert«66, erstmals in ähnlicher Art und Weise propagierte, eröffnet.67
Reinmar, der aufgrund der Apostrophe als nahtegal von Hagenouwe in Gottfrieds ›Tristan‹ verschiedenen Adelsgeschlechtern ›von Hagenau‹ zugeteilt wurde68 und Walther, diu [nahtegal] von der Vogelweide, werden in Gottfried von Straßburgs Tristan und Isolde als die bedeutendsten Minnesänger ihrer Zeit hervorgehoben.69 Doch historisch umstritten ist bereits die Namensgebung: Ob sich die Betitelung ›von Hagenouwe‹ tatsächlich auf Reinmar und seine Erfolgswirkungsstätte bezieht oder ob hier nicht direkt auf den Stauferkaiser Heinrich VI., der Hagenau im Elsaß als seinen persönlichen Ort der Ruhe auserkoren hatte, verwiesen wird.70 Sollte Letzteres der Fall sein, so würde bereits an dieser Stelle eine der wichtigsten Säulen zur Unterstützung der Fehde Hypothese zerbrechen. Forschungskonsens bleibt jedoch die Attributierung Reinmars. »Die ältere Forschung sah sowohl den Lebensgang wie auch das Minne konzept der beiden Sänger wesentlich durch eine langjährige, in mehreren
66 Bauschke, Ricarda (2004), S. 227. 67 Vgl. Nordmeyer, Henry W. (1971): Der Ursprung der Reinmar Walther Fehde. Ein Problem der Textkritik. In: Beyschlag, Siegfried (Hrsg.): Walther von der Vogelweide. Darmstadt (Wege der Forschung Bd. CXII), S. 95 108, hier S. 95. Für eine Gesamtdarstellung der For schung um die ›Reinmar Walther Fehde‹ vgl. Bauschke, Ricarda (1999): Die »Reinmar Lieder« Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstin szenierung. Heidelberg (GRM Beiheft 15), S. 25 42. 68 Schweikle, Günther (1995), S. 107. 69 Vgl. Bauschke, Ricarda (1999), S. 266. 70 Vgl. ebd., S.269.
11 Phasen verlaufende Auseinandersetzung geprägt«71. Um 1919 trat mit Carl von Kraus und Hermann Schneider zum ersten Mal die Meinung auf, dass Walther und Reinmar innerhalb eines sogenannten »Fehde Zyklus«72 mitei nander kommuniziert haben. Ausgehend von dieser Prämisse entwickelten sich weitere biographisch historische Annahmen, so zum Beispiel die Ver mutung, beide Dichter hätten sowohl am selben Hof als auch vor demselben Publikum gedichtet, da »ein poetischer Schlagabtausch […] die Anwesenheit beider Kontrahenten«73 voraussetze und »eine gemeinsame Arena«74 erfor dere. Burdach lokalisierte den Sängerstreit schließlich am Babenberger Hof in Wien und supponierte eine dortige Festanstellung Reinmars. 75 Da außer dem Walthers Tätigkeit als reisender Sänger sowie eine Reihe von Ortsanga ben, Höfen und Gönnern in seiner Spruchlyrik als belegt gelten, entwickelten von Kraus und Schneider eine Theorie dreier zeitlich aufeinander folgender Fehden (vor 1198, 1203, nach 1205)76, die jeweils dann einsetzten, wenn sich Walther in Wien befand. In der Folgezeit existierte diese Zyklus Hypothese unter Ausblendung der mit ihr einhergehenden Probleme als Bestandteil wissenschaftlicher Forschung. Schließlich wurde die persönliche und inhaltliche Ebene der ›Fehde‹ von der Forschung genauer beleuchtet. So propagierte Burdach die These, Wal ther sei Schüler Reinmars gewesen und habe bei seinem Lehrer die Kunst des Minnesangs erworben.77 Gleichzeitig wurde durch dieses Lehrer Schüler Verhältnis eine Diskussion über das Lebensalter beider Lyriker impliziert, wobei Reinmars Attribut bzw. Beiname ›der Alte‹ (überliefert in der Großen Heidelberger Liederhandschrift) sowie die Tatsache, dass dieser vor Walther starb, als Indizien für sein höheres Alter gelten, obwohl seine Lebensdaten im Dunkeln liegen.78 Demgegenüber publizierte von Kraus die zeitliche Ab folge des nebeneinander Dichtens, in der beide Lyriker um die Fürsprache des Publikums buhlten. Sowohl auf zwischenmenschlicher als auch auf text immanent inhaltlicher Ebene seien Walther und Reinmar Lyriker gewesen, die »jeweils eine von zwei kontradiktorischen Minnekonzeptionen favorisier
71 Hahn, Gerhard (1999): Art. Walther von der Vogelweide. In: ²VL Bd. 10, Sp. 665 697, hier Sp. 674. 72 Bauschke, Ricarda (1999), S. 26. 73 Schweikle, Günther (1978): Der Stauferhof und die mhd. Lyrik, im Besonderen zur Reinmar Walther Fehde und zu Hartmanns herre. In: Krohn, Rüdiger u.a. (Hrsg.): Staufer zeit: Geschichte, Literatur, Kunst. Stuttgart (Karlsruher Kulturwiss. Arb. 1), S. 245 59, hier S. 251. 74 Ebd., S. 252. 75 Vgl. Schweikle, Günther (1986), S. 236. 76 Schweikle, Günther (1989): Art. Reinmar der Alte. In: ²VL Bd. 7, Sp. 1180 1191, hier Sp. 1188. 77 Vgl. Burdach, Konrad (1971): Der mythische und der geschichtliche Walther. In: Beyschlag, Siegfried (Hrsg.): Walther von der Vogelweide. Darmstadt (Wege der Forschung Bd. CXII), S. 14 83, hier S. 25; 68 f. 78 Schweikle, Günther (1969): War Reinmar ›von Hagenau‹ Hofsänger zu Wien? In: Kreuzer, Helmut (Hrsg.): Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur , kunst und musikwissenschaftliche Studien. In Zusammenarbeit mit Käte Hamburger. Stuttgart, S. 1 31, hier S. 1; 31.
12 ten«79. Im Speziellen sollen Walthers ›Mädchenlieder‹ dabei als Abgren zungsmechanismus zum »Toposcharakter des Hohen Sangs«80 fungiert ha ben. Walthers lyrischer Gegenentwurf bezeuge auch den Umstand, dass er nach dem Tode seines Gönners Friedrich I. den Wiener Hof verlassen muss te, denn Thronfolger Leopold VI. solle Reinmars Minnekonzept präferiert und Walthers innovatives Engagement verkannt haben. Sowohl Bauschke als auch Schweikle und Hoffmann wenden sich jedoch entscheidend gegen diese These. Bauschke betont, dass
die Vorstellung, Reinmar nehme in Wien und in der zeitgenössischen Lyrik eine besondere Position ein, um die sich Walther aggressiv be werbe, […] auf reiner Spekulation [beruhe], welcher zudem eine Fehl einschätzung des Primärtextmaterials zugrunde liegt.81
Neuere Forschungsansätze brechen nun mit über 100jährigen Traditio nen und sprechen sich deutlich gegen einen ›Fehde Zyklus‹ aus. Günther Schweikle stellt heraus, dass beide Dichter an wechselnden Orten bzw. Pfal zen des Stauferhofes tätig waren und aufeinander trafen,82 folglich eine »an dauernde Konkurrenz«83 bestand. Damit wird auch Reinmar die Existenz als fahrender Sänger zugestanden und das Konzept »chronologisierbarer Schaf fensphasen«84 endgültig abgeschafft.
2.1.2 »Wer ist ›Walther von der Vogelweide‹?«85 – Walthers sängerischer Selbstentwurf oder: ›Fehde‹ als Mittel zur Rollenkonstruktion
»Dieser weiße Ritter auf dem Marktplatz von Bozen, so lichtumflossen, aber auch so individualitätslos in seinem Nachglanz Düsseldorfischer Ro mantik, er hat etwas Mythisches an sich.«86 – Mit diesen Worten, gerichtet an das Denkmal Walthers von der Vogelweide (ca. 1170 123087), charakteri
79 Bauschke, Ricarda (1999), S. 34. 80 Ebd., S. 37. 81 Ebd., S. 265. 82 Vgl. Schweikle, Günther (1978), S. 251. 83 Schweikle, Günther (1986), S. 244. 84 Bauschke, Ricarda (1999), S. 41. 85 So der Titel des Beitrages von Hahn, Gerhard (2000): Wer ist ›Walther von der Vogelweide‹? Zur Einheit seines literarischen Werks. In: Klein, Dorothea/Lienert, Elisabeth/Rettelbach, Johannes (Hrsg.): Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für Horst Brunner. Wiesbaden, S. 147 160. Ein Wiederaufgreifen der Frage zudem bei Bleumer, Hartmut (2005): Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen Sangspruch und Minne sang. In: Birkhan, Helmut (Hrsg.) unter Mitwirkung von Cotten, Ann: Der achthundertjäh rige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla –Zeiselmauer. Vorträge ge halten am Walther Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Wien, S. 83 102, hier S. 83. 86 Burdach, Konrad (1971), S. 15. 87 Vgl. Schweikle, Günther (1995), S. 89.
13 siert Konrad Burdach einen frühen, naiven und kritikwürdigen Umgang des 19. Jahrhunderts,88 der Walther zum politischen Patrioten, zum deutsch nationalen Symbol stilisierte, 89 und anhand des »moderne[n] Dichterbe griff[s]«90 der romantisierten Geniezeit mit Goethe maß.91 Walther sei kein vereinsamter, unglücklich liebender Minnesänger, »keine singuläre Natur«, »kein Zeitloser«.92 Vielmehr könne Walther nur begriffen werden, »wenn man ihn geschichtlich, d.h. ihn selbst inmitten seiner Hörer, für die und mit denen er lebte und schuf, kennt und versteht.«93 Verknüpft mit dem Namen Burdachs vollzog sich so die entscheidende Wende vom mythischen zum historischen Walther. Der historische Walther, der »zu Lebzeiten und […] bis heute als einer der Größten seines literarischen Faches«94 gilt, wird schließlich »als Person begriffen, die über ihren Sang im Rahmen der realen Geschichte zu einer eigenen Geschichte kommt.« 95 Charakteristisch und einzigartig für einen klaren Begriff der Waltherschen Lyrik ist in diesem Zusammenhang die Rea lisierung eines »Doppelkonzeptes« aus Sangspruchdichtung und Minne sang. 96 Walther verknüpft die Spruchdichter und Minnesängerrolle ein drucksvoll miteinander97 und konstruiert, was die Forschung mitunter als »Walther Rolle«98 bezeichnet hat: Er tritt als werbender Sangspruchdichter auf, der über seine Vergangenheit als kompetenter Minnesänger singt und so eine Geschichte skizziert.99 Narrative Effekte führen auf der einen Seite über
88 Vgl. Bleumer, Hartmut (2005), S. 86. 89 Vgl. Burdach, Konrad (1971), S. 15. 90 Ebd., S. 20. 91 Vgl. ebd., S. 19 ff. 92 Ebd., S. 28. 93 Ebd. 94 Hahn, Gerhard (1989a): Walther von der Vogelweide. Eine Einführung, 2., durchges. Aufl. München, Zürich (Artemis Einführungen; Bd. 22), S. 9. 95 Bleumer, Hartmut (2005), S. 87. 96 Vgl. ebd., S. 88 f.; Bein, Thomas (2004c): ›Kurzbesprechungen‹: Kurzanzeige: Karin Brem: Gattungsinterferenzen im Bereich von Minnesang und Sangspruchdichtung des 12. und 13. Jahrhunderts. In: ders. (Hrsg.): Walther verstehen – Walther vermitteln. Neue Lektüren und didaktische Überlegungen. Frankfurt/Main (Walther Studien Bd. 2), S. 289 f., hier S. 289: Es liegt ein »Interferenzphänomen in der Lyrik des Hochmittelalters« vor, gemeint ist ein »Wechsel von ›lyrischen Gattungen‹ innerhalb eines Liedverbandes, d.h. also zwischen Minnesang und Sangspruchdichtung oder zwischen dem genre subjectif und genre objectif.« »Besonders das Werk Walthers von der Vogelweide lädt zu entsprechenden Un tersuchungen ein«, so »liegt es nahe, dass ein Lyriker, der in beiden Richtungen zu Hause ist, in manchen Fällen die Grenzen in die eine und andere Richtung überschreitet – ob stets bewusst oder unbewusst, wird sich wohl nicht eindeutig entscheiden lassen. « 97 Während der Sangspruchdichter als fahrender Unterhaltungskünstler gemäß seiner sozialen Position von außen an das Publikum herantritt, um in einem öffentlichen Rahmen das feu dale Dienst Modell zu inszenieren, ist der Minnesänger bereits von vorneherein Teil der ad ligen Gesellschaft, aus der er sängerisch als ›Ich‹ hervortritt. Das Dienst Modell wird im Minnesang ins Paradoxe potenziert, im Sang selbst praktiziert und umgesetzt (vgl. Bleumer, Hartmut (2005), S. 89 f.). 98 Bleumer, Hartmut (2005), S. 94. 99 Nur innerhalb dieses ästhetischen Spiels mit den Kommunikationsebenen des Sanges kann Walther seine eigene Geschichte schaffen. Denn der Sangspruchdichter spielt eine struktu rell anonyme Rolle, die der adligen Selbstrepräsentation dient und hat somit keine eigene, sich selbst repräsentierende Geschichte in seinen Texten (vgl. Bleumer, Hartmut (2005), S. 89). Auch gemäß dem Modell des hohen Sanges ist die Entfaltung einer vollständigen Ge
14 die textinterne Sängerfigur hin zu einer Biographie, auf der anderen Seite über den impliziten Sänger hin zu einer sanglichen Kompetenz. Eine Entloh nung bzw. Zielerfüllung des Sanges ist auf diese Weise ebenfalls möglich:
Während der Minnesänger in der Hoffnung auf Entlohnung einer frouwe dient und damit der höfischen Gesellschaft nützt, dient der Spruchdichter mit seinem Minnesang zweiter Ordnung der höfischen Gesellschaft und kann dadurch eine konkrete Entlohnung erwarten. Und weil der Spruchdichter von Hause aus ein Minnesänger sein soll, wird er axiologisch aufgewertet und damit erstmalig in den Augen des adligen Publikums geschichtswürdig.100
Auch »Minneerfüllung kann es geben«, wie das häufig mit dem umstrittenen Begriff der ›Mädchenlieder‹101 verbundene Under der linden zeigt, »aber eben nur in der Kunst Walthers.«102 Die traditionelle Forschung ist diesem Mechanismus einer »›biographi schen Prätention‹«103 in Walthers Oeuvre gefolgt,
einem Impuls, der über die interne Sprecherfigur hinaus auf den kon kreten Sänger gelenkt wird, der also den Rezipienten dazu bringt, die Sprecherebenen und Rollen zusammenzuschauen und das personal gewordene Anliegen des Sängers im Sinne einer kleinen Geschichte zu vollenden.104
Walthers Texten wird dabei eine traditionelle Geschichtsstruktur von Anfang, Mitte und Schluss zugeschrieben, 105 so schließlich auch der Story
schichte nicht möglich, da das Ziel des Sanges, die Liebeserfüllung, nie erreicht werden darf. Liebesbegehren und Minnedienst wiederholen sich stetig (vgl. ebd., S. 92). 100 Bleumer, Hartmut (2005), S. 95. 101 Vgl. ebd.; genauer bei Bennewitz, Ingrid (1989): ›vrouwe/maget‹. Überlegungen zur Inter pretation der sogenannten Mädchenlieder im Kontext von Walthers Minnesang Konzeption. In: Mück, Hans Dieter (Hrsg.): Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Stuttgart (Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1), S. 237 252; »Von einer homogenen ›Mäd chenlieder Gruppe‹ kann aber doch keine Rede sein, und selbst wenn man ex post, aus heu tiger Rückschau heraus, thematische Liedgruppen differenzieren mag, dürfte man kaum vo raussetzen, dass ein Publikum um 1200 […] eine solche Gruppe ›abruft‹« (Bein, Thomas (2004c), S. 290). 102 Bleumer, Hartmut (2005), S. 99. 103 Ebd., S. 101. Das Stichwort selber geht zurück auf Brandt, Rüdiger (1989): ›ich sach, ich hôrte, ich bin, ich wolt‹. Biographische Prätention und Thematisierung nichthöfischer Be reiche bei Walther. In: Mück, Hans Dieter (Hrsg.): Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Stuttgart, S. 155 169, hier S. 158; vgl. zudem Kern, Manfred (2005): auctor in persona. Poetische Bemächtigung, Topik und die Spur des Ich bei Walther von der Vogelweide. In: Birkhan, Helmut (Hrsg.) unter Mitwirkung von Cotten, Ann: Der achthun dertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla –Zeiselmauer. Vorträ ge gehalten am Walther Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Wien, S. 193 217, hier S. 201. 104 Bleumer, Hartmut (2005), S. 102. 105 Vgl. Bleumer, Hartmut (2005), S. 87 f.
15 der ›Reinmar Walther Fehde‹, die im »Implikat des Narrativen«106 ihren Ursprung nimmt. Zur genauen Untersuchung des literarischen ›Spiels‹ zwi schen Walther und Reinmar werden im Folgenden vier konzeptuell textimmanente Bezüge, d.h. durch Intertextualität geprägte literarische Zeugnisse, exemplarisch näher betrachtet. Über die Anzahl und den Umfang der in der ›Fehde‹ integrierten Liedcorpora herrschen Meinungsverschiedenheiten. Drei Minnelieder gelten jedoch als zentral, ihre Zugehörigkeit zum Fehdecorpus als unbestritten107: Reinmars Ich wirbe umbe allez, daz ein man108, Ich wil allez gâhen109 sowie Walthers Replik Ein man verbiutet ein spil âne pfliht110. Das äußere Text merkmal dieses sogenannten »Schachmattlied[es]«111 , In dem dône, legt den Ausgangspunkt, in diesem Falle Ich wirbe umb allez daz ein man, für Wal thers Beanstandungen fest und präsupponiert zugleich seine Textkenntnisse. In der ersten Strophe des Schachliedes überbietet ein Mann rücksichtslos ein Spiel. Doch wer ist dieser Mann? Die in Vers vier verwendete Metapher des ôsterlîchen tages (vgl. MFMT XIX, 3, 5), »wörtliches Zitat in indirekter Rede«112, identifiziert den besagten Mann als Reinmar den Alten. Dieser rühmt seine Dame in MF 170,1 als seinen Ostertag, seine Auferstehungsfreu de, ein »pauschale gaudium«113 in der Bildlichkeit religiöser Dichtung. Die zweite Strophe erteilt Reinmars Dame schließlich das Wort.114 Walther po tenziert seine Kritik an dieser Stelle mit dem Motiv des Kussraubes (vgl. MFMT XXVII). Die Dame setzt sich gegen den ›Kussdieb‹, Reinmar, zur Wehr und kündigt an, das Minneverhältnis aufzuheben und seine Werbung zukünftig nicht mehr anzunehmen. Reinmars ›lausbubenhafte‹ Idee, näm lich seiner Dame einen Kuss zu stehlen und diesen bei Missfallen zurückzu geben, was bildlich gedeutet den Umstand eines zweiten Kusses impliziere, wird hier entschieden verachtet. Walther setzt den Sangeskollegen mit Hilfe seiner eigenen Spielfigur, seiner Dame, matt, parodiert und rekurriert somit auf zwei der prägnantesten Frauenpreismotive Reinmars (Mattsetzung MFMT X, 1, 9; Kussraub X, 3, 2).
106 Bleumer, Hartmut (2005), S. 86. 107 Vgl. Bauschke, Ricarda (2004), S. 241. 108 Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Voigt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. I: Texte. 38., erneut revidierte Aufl. Stuttgart 1988, Reinmar der Alte, Nr. X, S. 305 ff. (im Folgenden wird diese Ausgabe des Minnesangs Frühling mit dem Zusatz ›MT‹ gekenn zeichnet werden). 109 Reinmar, MFMT Nr. XIX, S. 329 ff. (alle weiteren Textbelege der Ausgabe MFMT erfolgen unter Angabe der Lied , Strophen und Verszahl im Text). 110 Cormeau, Christoph (Hrsg.) (1996): Walther von der Vogelweide. Leich – Lieder – Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner. Berlin/New York, Nr. 81, S. 234 (L 111, 23 ff.) (im Folgen den wird diese Ausgabe durch das Kürzel ›Corm.‹ gekennzeichnet werden). 111 Hahn, Gerhard (1999), Sp. 674. 112 Schweikle, Günther (1995), S.109. 113 Ebd., S. 257. 114 Birkhan, Helmut (1971): Reimar, Walther und die Minne. Zur ersten Dichterfehde am Wie ner Hof. In: PBB 93. Tübingen, S. 168 212, hier S. 178.
16 Eine zweite intertextuelle Ebene eröffnet Walthers sog. Preislied, Ir sult sprechen willekommen115 (Corm. 32), das auf Reinmars Swaz ich nu niuwer mære sage (MFMT XIV) Bezug nimmt und in der Mitte der ›Fehden‹ Geschichte angesiedelt werden kann. Betont Reinmar, dass das Publikum von ihm keine niuwe mære, stattdessen nur die alte klage zu erwarten habe (vgl. MFMT XIV, 1, 1ff.), so nutzt Walther diese Situation um sich zu profilie ren. Er ist derjenige, der niuwe mære bringet (Corm. 32, I, 2) und Innovati on schafft. Den Sang seiner Vorgänger und somit auch Reinmars tut er ab als ein wint (Corm. 32, I, 4), ein Nichts im Gegensatz zu seiner Dichtung. Insge samt repräsentiert die erste Strophe dabei gattungstypische Sangspruchmerkmale. Der vorgetragene Sang wird als Dienst, der êre er weist, inszeniert und das Publikum auf diese Weise zu milte und Entlohnung verpflichtet. Die zweite Strophe enthüllt daraufhin das Geheimnis der niuwen mære. Es soll ein Frauenpreis folgen, der das Ansehen der tiuschen vrowen (Corm. 32, II, 1) in der Gesellschaft steigert, wobei sich die Lohnfor derung von einer materiellen Entlohnung auf den gruoz der Damen verlagert (vgl. Corm. 32, II, 8), der den Lohn des Minnesängers symbolisiert.116 An dieser Stelle wird deutlich: Walther kreuzt traditionelle Elemente des Sangspruchs mit denen des Minnesangs und durchbricht auf diese Weise thematische, stilistische und soziale Grenzen. In der dritten Strophe versucht Walther schließlich das Publikum von den Vorteilen seines Reisendendaseins zu überzeugen. Er präsentiert sich als weitgereister und kundiger Sänger, der lande vil gesehen (Corm. 32, III, 1) hat und entwirft so eine weitere Besonderheit: Der Sangspruchdichter kommt als ›Ich‹ Persona normalerweise im Sang nicht vor, da er nicht Bestandteil des Hofes ist. Wal ther schafft sich jedoch eine Identität und Geschichte auf Basis einer, bei keinem anderen Lyriker so stark ausgeprägten, ›Ich‹ Prätention.117 Inner halb der Forschung hat dieses Charakteristikum Walthers eine methodische Differenzierung des Autor Begriffs118 hervorgerufen. So werden
115 Walther, Corm. Nr. 32, S. 117ff. (L 56,14ff.) (alle weiteren Textbelege der Ausgabe Corm. erfolgen unter Angabe der Lied Strophen und Verszahl im Text). 116 Vgl. Unzeitig, Monika (2002): wîbes gruoz: programmatische Polivalenz. Eine semantische Skizze. In: Bein, Thomas (Hrsg.): Walther von der Vogelweide. Beiträge zur Produktion, Edition und Rezeption. Frankfurt a. M. (Walther Studien 1), S. 93 110, hier S. 96. 117 Seit Alfred Mundhenks Aufsatz »Walthers Selbstbewußtsein« (1963) wird über die Dominaz der ›Ich‹ Aussagen bei Walther diskutiert (in: DVjS 37, H. 3, S. 406 438). Ferner reiht sich in die Diskussion auch Knape, Joachim (1989): Rolle und lyrisches Ich bei Walther. In: Mück, Hans Dieter (Hrsg.): Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Stuttgart, S. 171 190, ein. 118 Für einen umfassend verzeichneten Forschungsstand vgl. Schnell, Rüdiger (2001): Vom Sänger zum Autor. Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs. In: Peters, Ursula (Hrsg.): Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 1450. Stuttgart, Weimar (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 96 149. Als einer der ersten impulsge benden Beiträge sei in diesem Zusammenhang auch auf Kuhn, Hogo (1969): Minnesang als Aufführungsform. In: Ders. (Hrsg.): Text und Theorie. Stuttgart, S. 182 190; 364 366, ver wiesen. Eine kritisch elaborierte Thematisierung des Fiktionalitätsdiskurses findet sich ins besondere bei Strohschneider, Peter (1993): Aufführungssituation: Zur Kritik eines Zentral begriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung. In: Janota, Johannes (Hrsg.): Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Tübingen (Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991 Bd. 3),
17 die Größen des historischen Autors, des Autors als Ordnungskategorie des literarischen Diskurses, des Sängers in der performativen Rahmen situation des Textes, der textinternen impliziten Sprecherinstanz und der verschiedenen konkreten Sprecher und Sängerrollen119 als verschiedene Instanzen unterschieden. Insbesondere Walthers textinter nes ›Ich‹ erschöpft sich dabei in »einem unerwünschten terminologischen Überschuß«120, sei es »als ob Individualität«121, »›biographische[s] Narra tiv‹« 122 , banale »ich-Form« 123 oder »persona (auctoris)« 124 . Seine Texte suggerieren aufgrund ihrer Faktizität und Ereignisbezogenheit, vor allem im Sangspruch, ein »›Erlebt Haben‹«125, das immer auch die Frage nach der Fiktionalität mittelalterlicher Lyrik mit sich bringt.126 So sei der Erfolg der Dichtung Walthers eine Fiktion, die sich in dem Glauben der Rezipienten an eine, aus den unterschiedlichen Sprachhandlungen Walthers heraus, imagi nierte und projizierte Sängergestalt manifestiere. 127 Dieser der anglo amerikanischen Fiktionstheorie und dem Begriff des make-believe verwand
S. 56 71.; Strohschneider, Peter (1996): »Nu sehent, wie der singet!« Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang. In: Müller, Jan Dirk (Hrsg.): »Aufführung« und »Schrift« in Mit telalter und früher Neuzeit. Stuttgart, Weimar (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), S. 7 30. 119 Bleumer, Hartmut (2005), S. 83. 120 Vgl. ebd., S. 84. 121 Kern, Manfred (2005), S. 216. 122 Kern, Manfred (2005), S. 195. 123 Gerhard Hahn versteht die ich-Form Walthers »als die Form des Bekenntnisses: die ich Form artikuliert das bewußte und öffentliche Bekenntnis zu einer Rolle und einer Rollen konstellation« (Hahn, Gerhard (1989): Zu den Ich-Aussagen in Walthers Minnesang. In: Müller,Jan Dirk/Worstbrock, Franz Josef (Hrsg.): Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl Heinz Borck. Stuttgart, S. 95 104, hier S. 96). Er sieht Walthers Leistung zudem in der souveränen Variation und Mischung, dem »Spiel mit Rollen« (Ebd., S. 103), um sich einer wirksamen Selbstdarstellung zu bedienen (vgl. ebd., S. 99). 124 Die Spannung zwischen dem ›Ich‹ des Textes, dem biographischen ›Ich‹ und dem Autor subjekt wird bei Kern mit Hilfe des Terminus der poetischen »persona« als Ausdruck poe tischer ›Ich‹ Rede geklärt (vgl. Kern, Manfred (2005), S. 197 f.; 201). Zum einen meint der Begriff die Rolle eines Schauspielers, zum anderen aber auch das sich seiner Individualität bewusste Subjekt, hier mit der Stimmgewalt eines Walthers von der Vogelweide als persona auctoris, die »aus der Spannung zwischen Traditionalität und Singularität resultiert« (ebd., S. 205), gekennzeichnet (vgl. ebd., S. 198). »In der persona fassen wir eine poetische Entität, die spezifischen historischen Bedingungen unterliegt« (ebd., S. 216 f.). 125 Kern, Manfred (2005), S. 202. 126 Zur aktuellen Thematisierung des Fiktionalitätsbegriffs innerhalb der Forschung vgl. Grubmüller, Klaus (2009): Was bedeutet Fiktionalität im Minnesang? In: Peters, Ursu la/Warning, Rainer (Hrsg.): Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan Dirk Müller zum 65. Geburtstag. München, S. 269 287; und Köbele, Susanne (2009): Ironie und Fiktion in Walthers Minnelyrik. In: Peters, Ursula/Warning, Rainer (Hrsg.): Fik tion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan Dirk Müller zum 65. Geburts tag. München, S. 289 317. »›Fiktional‹ hieße in solchen Fällen, daß die Aussagen, die der Sprecher sich in der Vortragssituation zuschreibt, ihm gar nicht zuzuschreiben sind, daß die supponierte Referenz außer Kraft gesetzt ist« (Grubmüller, Klaus (2009), S. 273). »Erst die Referenzbehauptung des ›Rollen Gedichts‹ macht – anders als beim referentiell unent schiedenen Lyrischen Ich – eine Entscheidung über die Berechtigung einer Zuschreibung und damit auch die Erkennbarkeit der Fiktion möglich« (ebd., S. 281), dabei kann es zu ei ner »Skalierung der ›Fiktionalität‹« (ebd., S. 286.) kommen (vgl. markierte Rollenrede, ver schleierte Rollenrede usw. (ebd., S. 287)). 127 Vgl. Bleumer, Hartmut (2005), S. 83.
18 te Effekt spiegelt sich in Walthers Lied wider 128: Der Sangspruch wird durch eine stark ausgeprägte Selbstinszenierung aufgewertet und an das Niveau des Minnesangs angenährt.129 Eine dritte intertextuelle Referenz erscheint ebenfalls eindeutig: Wäh rend Reinmar in Wol ime, daz er ie wart geboren (MFMT IX) aus Ergeben heit und einseitiger Verehrung verlautet: stirbet sî, sô bin ich tôt (MFMT IX, 3, 8), setzt Walther dem eine neue Formel der Abhängigkeit der Dame vom Sänger Ich entgegen. In Lange swîgen des hât ich gedâht (Corm. 49) heißt es demzufolge: sterbet si mich, sô ist si tôt (Corm. 49, IV, 6). Walther ver deutlicht, dass die Überhöhung und Idealisierung der Dame Teil eines fik tionalen Frauenpreiskonzeptes ist. Die Minnedame als imaginäres Konstrukt des Sängers kann durch diesen wieder vernichtet werden. Den Schluss der ›Fehde‹ Geschichte bildet Walthers ter ›Leopoldston‹ (Erster Thüringerton, Zweiter Atzeton; Corm. 55), der sich nach der Ausgabe Cormeaus in der zweiten und dritten Strophe namentlich auf Reimâr bezieht und ebenfalls durch Intertextualität auffällt: So stammt Walthers Zitat, sô wol dir, wîp, wie reine ein nam! (Corm. 55, II, 12), ein deutig aus Reinmars Preislied Swaz ich nu niuwer maere sage (MFMT XIV). Da aus der deutschsprachigen Lieddichtung um 1200 nur vereinzelt Toten klagen überliefert sind, bekommt Walthers Nachruf hier eine Sonderstel lung.130 Die Stollen der Strophen des doppelten Nachrufes beinhalten einen Klagegestus, der in Strophe zwei unübersehbar durch den Ausruf Owê (Corm. 55, II, 1) gekennzeichnet ist. Beide Nekrologstrophen beinhalten zudem eine »Seelenheilsperspektive«131. Der Gegenstand des Betrauerns wird bereits im ersten Teil des Abgesanges erkenntlich: Reinmar, der in der Forschung als »›Scholastiker der unglücklichen Liebe‹«132, der durch die Kunst des Minne sangs sein leit alsô schône kan getragen (MFMT XII, 5, 5), bekannt ist und eine »Poetik des trûrens«133, ja eine »resignativ leidende Diktion«134 vertritt, wird hier seiner edelen kunst (Corm. 55, III, 6) wegen und somit als Minne sänger vermisst.
128 Vgl. Bleumer, Hartmut (2005), S. 83. 129 Vgl. Hahn, Gerhard (2000), S. 153. 130 Vgl. Kasten, Ingrid (2005): Walthers ›Nachruf‹ auf Reinmar. Memoria, lyrische Form und der Diskurs über Trauer im mittelalterlichen Europa um 1200. In: Birkhan, Helmut (Hrsg.) unter Mitwirkung von Cotten, Ann: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vo gelweide – Wolfger von Erla –Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Wien, S. 177 191, hier S. 179. 131 Mertens, Volker (2001): Walthers Reinmar. Die Reinmar Nachruf Strophen. In: Mertens, Volker/Müller, Ulrich (Hrsg.): Walther lesen. Überlegungen zu Walther von der Vogelweide. Festschrift für Ursula Schulze zum 65. Geburtstag. Göppingen (GAG 629), S. 105 132, hier S. 116; Kasten, Ingrid (2005), S. 184 (die Fürbitte für das Seelenheil als regelmäßiges Motiv der Totenklage). 132 Obermaier, Sabine (1995): Von Nachtigallen und Handwerkern. »Dichtung über Dichtung« in Minnesang und Sangspruchdichtung. Tübingen (Hermea 75), S. 64. 133 Bauschke, Ricarda (1999), S. 280. 134 Ebd.
19 Sein wol redender munt und sein vil süezer sanc (Corm. 55, III, 9) werden lobend erwähnt. Eine daraus resultierende
ostentative Trennung zwischen Person und Minnesänger diente der Forschung als Bestätigung für die Auffassung, dass beide Lieddichter durch eine produktive Rivalität […] verbunden waren, die ihre Spuren in zahlreichen intertextuellen Bezügen hinterlassen habe und in ner ›Fehde‹ kulminiert sei.135
Demgegenüber hebt insbesondere Ingrid Kasten hervor, dass Walther zwar über die Werte und die verlorene Kunst klage, dass diese Werte jedoch zu gleich auch immer an individuelle Voraussetzungen gebunden seien und folglich mit dem Tode Reinmars verloren gingen.136 Wenn es bei Kasten schließlich heißt:
Mit der Frage, warum der Verstorbene mit seinem Tod nicht auf ihn gewartet habe, ruft der Klagende die Vorstellung auf, dass Reinmar über den Zeitpunkt seines Todes selbst Verfügungsgewalt gehabt und ihn, Walther, gleichsam im Stich gelassen habe. Eine dieser Vorstel lungen korrespondierende Bewegung wird mit der Äußerung vollzogen, dass er, Walther, dem Verstorbenen bald nachfolgen und die Gemein schaft wieder herstellen werde. Damit öffnet der Klagende eine Per spektive auf den eigenen Tod und inszeniert eine Gemeinschaft im Jenseits, als deren Garant die eigene affektive Bindung an den Verstor benen ins Feld geführt wird.137
Das große Paradox der Fehde Thematik wird somit anhand zweier Parallelen zwischen dem Konzept des Minnesangs und dem der ›Fehde‹ erst richtig vor Augen geführt: Erstens, so wie der Sinn des Minnedienstes darin liegt, im Sang nie zur Erfüllung gelangen zu dürfen, so liegt der Sinn des Streits zwi schen Walther und Reinmar darin, dass er nie zum endgültigen Sieg Wal thers über Reinmar führen darf. Walther verwendet polemische, intertex tuelle und zudem gattungstypische Sprach und Kommunikationsmuster, motivisch manifestiert im Sängerstreit, um sich in seinem literarischen Um feld zu ermächtigen und eine individuelle Sängerrolle, die an Narration und ›Ich‹ Prätention gebunden ist, zu schaffen. Der Streit darf also nie zu Ende gehen, weshalb Walther wiederum Reinmars Tod beklagt, ja eine nie endende Zusammengehörigkeit beider Sänger ins Jenseits projiziert. Wal thers besondere Art der Subjektivierung, im Paradox des nie endenden
135 Kasten, Ingrid (2005), S. 180. 136 Vgl. ebd., S. 189. 137 Kasten, Ingrid (2005), S. 190.
20 Streits manifestiert, trägt hier zu seiner Walther Rolle bei und spiegelt die »Spur eines historischen Individualitätsbewusstseins«138 wider.
[So] scheint es, ist seine Klage ein Zeugnis minnesängerischer Selbst reflexivität; sie ist darauf ausgerichtet, der Liedkunst ein Denkmal zu setzen und damit zugleich die eigene soziale Identität zu stabilisieren und zu institutionalisieren.139
Dementsprechend liegt es nahe, die »poetologische Funktion der Biographisierung als affektive Authentisierungsstrategie«140 zu begreifen, da sich eindeutige biographische Erkenntnisse nicht aus den Strophen ableiten lassen. Zweitens, so wie die frouwe des Sanges eine Konstruktion des Sängers ist,141 so erscheint Walther, dessen Selbstbewusstsein und Bedürfnis nach Selbstinszenierung sich als Kern seines sängerischen Stils erweist, als eine Konstruktion der intertextuellen Fehde. Er »reduziert die Distanz zwischen Aussagesubjekt und Sänger, indem er ›sein‹ textinternes Aussagesubjekt mit Merkmalen der Person Walther ausstattet.«142 Für den Unterricht sollte so mit bedacht werden: »Was aus heutiger Sicht nicht mehr biographistisch gedeutet werden kann, bleibt […] als literarisch intertextuelles Spiel […] im Blickfeld der Forschung.«143 Walther ist nicht historisch, sondern vielmehr philologisch als Rolle fassbar.144 Denn »[d]er Einblick in die Wirklichkeit und Alltäglichkeit des literarischen Lebens jener Zeit ist uns verwehrt; so daß die Literatur selber Zeugnis des Lebens dieser Literatur sein muß«145.
138 Kasten, Ingrid (2005), S. 181. 139 Ebd., S. 189. 140 Ebd., S. 123. 141 Vgl. z.B. Schweikle, Günther (1995), S. 181. 142 Hausmann, Albrecht (2004): Wer spricht? Strategien der Sprecherkonstituierung im Span nungsfeld zwischen Sangspruchdichtung und Minnesang. In: Egidi, Margreth/Mertens, Volker/Miedema, Nine (Hrsg.): Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder. Frankfurt am Main (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittel alterforschung Bd. 5), S. 25 43, hier S. 43. 143 Seelbach, Ulrich (2004): Besseres liefern. Ein Vorschlag zu Walthers »Matt wider Matt« (L 111,23). In: Bein, Thomas (Hrsg.): Walther verstehen – Walther vermitteln. Neue Lektüren und didaktische Überlegungen. Frankfurt a. M. (Walther Studien 2), S. 253 266, hier S. 253. 144 Vgl. Kern, Manfred (2005), S. 214. 145 Wapnewski, Peter (1975): Reinmars Rechtfertigung. Zu MF 196,35 und 165,10. In: Ders. (Hrsg.): Waz ist minne. Studien zur Mittelhochdeutschen Lyrik. München (Edition Beck), S. 181 194, hier S. 181.
21 2.1.3 Die Vielfalt problematischer Aspekte des Fehde Konzeptes: Mut zur didaktischen Rekonstruktion?
Wie lässt sich nach diesen Erkenntnissen nun der Terminus ›Fehde‹ de finieren? Wird beispielsweise ein etymologisches Wörterbuch konsultiert, so lässt sich eine mögliche Definition herausstellen:
Fehde [ahd. (gi)fēhida, zu gifēh ›feindselig‹], die Feindseligkeit, der Privatkrieg zw.[ischen] zwei Freien oder ihren Sippen in ger man.[ischer] Zeit und im MA [Mittelalter].146
Literarische oder intertextuelle Belege der Beziehung Reinmars und Wal thers weichen jedoch deutlich von dieser Definition ab und sind nicht mit einem Privatkrieg gleichzusetzen. Vielmehr bedarf der Fehdebegriff einer Relativierung bzw. Erweiterung, er muss »von der Schwere und dem Ernst«147, die ihm einige Philologen zugesprochen haben,148 befreit werden. Vor allem Schweikle fordert, germanistische Klischeevorstellungen in diesem Bereich abzulegen. Aus realhistorischer Sicht bietet er die Deutung, sich die sogenannte ›Fehde‹ als alltägliches dichterisches Kräftemessen, bei dem die Sänger um die Gunst des Publikums buhlen, vorzustellen.149
So gesehen wird das Bild des Minnesangs bunter, plastischer, wird die Reinmar Walther Fehde zu einem literarischen Schlagabtausch, der sich nicht in einem starren Nacheinander von These und Gegenthese zum Frauenpreis und in zeitlich abgegrenzten Phasen ›abwickelte‹, sondern der sich spontan immer dann ereignen konnte, wenn die Kon trahenten irgendwo zusammentrafen und die Publikumsstimmung ei nem solchen Wettstreit günstig war.150
Das Minnesangmodell wird durch die Koordinate der ›Sängerkonkurrenz‹ erweitert, jedoch nicht aus dem typischen Koordinatensystem des Sanges herausgelöst oder gar von ihm abgehoben.151 Walthers polemische Bezüge auf Reinmar gelten als
Teil einer grundsätzlichen intertextuellen Dichtungsweise, die Anspie lungen auf Kollegen einsetzt, um das Einzellied in den großen Kontext
146 Brockhaus. Die Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, Bd. 7. 20. überarb. und aktual. Aufl., Leipzig; Mannheim 1996, S. 166. 147 Scholz, Manfred Günter (2005a), S. 131. 148 Vgl. hierzu z.B. Reichert, Hermann (1997): Gewollte oder ungewollte Mißverständnisse um 1200? In: Krause, Burkhardt (Hrsg.): Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann. Wien (Philologica Germanica 19), S. 279 301. 149 Vgl. Schweikle, Günther (1986), S. 252. 150 Schweikle, Günther (1986), S. 252. 151 Vgl. Obermaier, Susanne (1995), S. 89.
22 des Systems ›Minnesang‹ zu stellen und Publikumsaufmerksamkeit zu provozieren152.
Genau an dieser Stelle kann auch eine didaktische Rekonstruktion der The matik für die Unterrichtspraxis einsetzen. Das Stichwort lautet hier: »›Pro duktive Rezeption‹«153. Dieser hat sich die Lyrik bereits seit den Ursprüngen volkssprachlicher Dichtung erfreut. Gemeint sind eben solche expliziten Namensnennungen oder den Texten implizite Auseinandersetzungen mit literarischen Ausdrucksformen und ihren Sinngebungsmöglichkeiten wie sie die ›Reinmar Walther Fehde‹ bietet. Im Unterricht soll folglich nicht das Anekdotische einer biographisch ausgemalten Dichterfehde und somit der etwaige Kompetenzstreit im Fokus stehen, im Gegenteil:
Aufschlußreicher […] sind für den literaturgeschichtlichen Prozeß je doch allemal die poetischen und poetologischen Implikationen des Mit und Gegeneinander, die intertextuellen Bezüge, seien sie nun ab sichtsvoll oder schlichtweg Teil des Verständigungssystems, das ohne sie keines wäre.154
In diesem Zusammenhang müssen auch Walther und Reinmar als Dichter verstanden werden, die immer wieder um Sinn, um die Wichtigkeit und Ver bindlichkeit ihrer dichterischen Muster, Modelle und Äußerungsformen gerungen haben. Literatur, so die Schlussfolgerung, ist also nichts Selbstver ständliches, sie bedarf der Überlegung, ja der Legitimation und wird auf diese Weise ein diskussionsbedürftiger und interpretierbarer Gegenstand des Unterrichts.155
Das Bemühen, Standort und Funktionsbestimmungen von Literatur zu definieren, das Ringen um das Rechte Publikum, den Wert und die Wichtigkeit des eigenen Textes, die Berufung auf und die Abgrenzung gegen Dichterkollegen –156 sie sollen dies verdeutlichen. Gerade in der Zeit der höfischen Klassik wurde mit literarischer Kommu nikation experimentiert und versucht, sich ihrer Klarheit zu verschaffen, mit dem Ziel, »den Sinn der literarischen Äußerungsform zu definieren« und so »im Zug einer gewissen Literarisierung der höfischen Zeremonie Minnesang […] auf die Etablierung eines ›Literatenstandes‹«157 hinzudrängen. Die für
152 Bauschke, Ricarda (2004), S. 241. 153 Karg, Ina (1998a), S. 150. 154 Ebd. 155 Vgl. Karg, Ina (1998a), S. 56. 156 Ebd. 157 Hahn, Gerhard (1989b), S. 103.
23 die ›Reinmar Walther Fehde‹ so wichtigen Querverweise zwischen den Tex ten üben in diesem Kontext schließlich zweierlei Funktionen aus: Zum einen greifen sie auf Tradition zurück und führen diese weiter. Zum anderen eröff nen sie jedoch auch die Möglichkeit, Tradition eben mit Verweis auf dieselbe zu verändern, pointierter gedacht:
[D]er Aufruf und das Wissen um und Verstehen von Tradition als etab liertem Satz von Selbstverständlichkeiten [bietet] überhaupt erst die Voraussetzung dafür, der eigenen Aussage bestimmte markante Nuan cen zu verleihen158 und Kommunikation zu garantieren. Dabei ist nicht nur das Aufgreifen sprachlicher Mittel gemeint, sondern beispielsweise auch die für die Gattung Lyrik so essentielle Komponente des Klangs. Zur mittelalterlichen Intertextualität zählt somit auch die »poésie formelle der Kanzone«, die »als plurale tantum mit dem ästhetischen Reiz der Variation von Text zu Text aufgenommen wurde.«159 Hier bereitet
die Wahrnehmung der Differenz, der immer wieder anderen Variation eines Grundmusters, Genuß […] für die ästhetische Erfahrung, die für den modernen Leser von Kriminalromanen so selbstverständlich ist wie für den mittelalterlichen Zuhörer160.
Das Aufgreifen und Weiterführen von Tradition bedingt zudem Wettbe werb. Für die Thematisierung der ›Fehde‹ im Unterricht bedeutet dies je doch nicht, bei oberflächlichen Dichterrivalitäten zu verharren, sondern ein Bemühen um literarische Kommunikation und die dabei ablaufenden Verstehensprozesse nachzuvollziehen. 161 »Texte und Autoren greifen vor handenes auf, erzählen neu, erzählen um«, damit fungieren sie in gewisser Weise als Interpreten, die ihre eigenen Akzente setzen.162 Diese eigenen Ak zente sollen nicht als spezielle Konzepte von Minnesang ›verpackt‹ und ge geneinander ausgespielt werden. Was wäre der Mehrwert für die Schülerin nen und Schüler, würden sie anhand Walthers Saget mir ieman, waz ist minne? oder Under der linden ausschließlich das ›Konzept‹ der ›niederen‹ oder ›ebenen Minne‹ im Kontrast zur ›hohen Minne‹ Reinmars (Problema tisierung eines ständisch definierten frouwe Begriffs vs. Proklamation des überständischen wîp Begriffs eines Mädchens einfachen Standes) kennen lernen? Dies würde sich in einem simplen, kategorialen Denken erschöpfen:
158 Karg, Ina (1998a), S. 75. 159 Jauß, Hans Robert (1985): Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. In: Haupt, Barbara (Hrsg.): Zum mittelalterlichen Literaturbegriff. Darmstadt, S. 312 373, hier S. 325. 160 Ebd., S. 323. 161 Vgl. Karg, Ina (1998a), S. 76. 162 Vgl. ebd.
24 Walther versus Reinmar.163 Hiermit ist jedoch auch nicht gemeint, dass das künstlerisch innovative Potential in vielen Liedern Walthers keine Beach tung finden soll, im Gegenteil, das eine soll das andere an dieser Stelle nicht ausschließen. Vielmehr geht es um eine didaktische Schwerpunktsetzung, die ihren Ursprung in der Mediävistik findet und ein rein konzeptuelles Denken weiterführt. So verwerfen Ranawake und Bauschke beispielsweise ebenfalls den Ansatz, Walthers Minnelieder seien lediglich in Opposition zu Reinmars ›Hoher Minne Thematik‹ verfasst worden. 164 Die Didaktik schließt sich an dieser Stelle an, was zu einer adäquat heterogenen Auffas sung des Walther Bildes führt:
An die Stelle der linearen Entwicklung Walthers vom Reinmar Schüler zum Rebellen wider seinen Lehrer und rigorosen Verfechter einer standesunabhängigen Minnekonzeption tritt ein nur noch schwer zu fassender Autor, der, nicht zuletzt um dem Bedürfnis seines jeweiligen Publikums nach niuwer mære nachzukommen, offenbar synchron mit verschiedenen Minnediskursen und Sängerrollen operierte.165
Reinmar tritt als fester Bestandteil und Bezugspunkt jedes umfassenden Walther Bildes auf und auch Bauschke kommt zu dem Ergebnis, dass »[d]ie Initiation der ›Fehde‹ These […] zeitlich mit der Entstehung eines normge benden Walther Bildes zusammen[trifft].«166 Reinmar ist jedoch nicht der einzige Sänger, auf den Walther innerhalb seines Œuvres Bezug nimmt. Heinrich von Morungen und Peire Vidal spielen in der Forschung, auch wenn es aus inhaltlichen Gründen in dieser Arbeit nicht aufgezeigt werden kann, ebenfalls eine besondere Rolle innerhalb der Intertextualitätsthematik. 167 Auf Basis eines heterogenen Walther Bildes kann folglich einem ersten fachwissenschaftlichen Problem entgangen wer den: Man muss sich vor Augen halten, dass sowohl Reinmars als auch Wal thers sängerisches Bild unter einem ständigen reduzierenden Vergleich von Minnesangkonzepten leiden kann. Das wohl eindeutigste Beispiel dafür ist die Beschneidung des Oeuvres Reinmars168 auf die Lieder, die Reinmar »das homogene Bild eines ewig klagenden, das Leid ästhetisierenden, stets abs trakt bleibenden Gedankenlyrikers« 169 verkörpern lassen, um ihn so mit
163 Vgl. ebd., S. 163. 164 Vgl. Bauschke, Ricarda (1999), S. 40; Ranawake, Silvia (1982): Gab es Reinmar Fehde? Zu der These von Walthers Wendung gegen die Konventionen der hohen Minne. In: OGS 13 (1982), S. 7 35. 165 Vgl. Steinbach, Oliver (2004): ›Neue Lektüren‹: Zu Walther 27 (L 50, 19) und dem Problem seiner ›Zusatzstrophe‹ in der Würzburger Handschrift E. In: Bein, Thomas (Hrsg.): Walther verstehen – Walther vermitteln. Neue Lektüren und didaktische Überlegungen. Frank furt/Main (Walther Studien Bd. 2), S. 267 281, hier S. 270. 166 Bauschke, Ricarda (1999), S. 13. 167 Vgl. Bauschke, Ricarda (2004) S. 241. 168 Vgl. Schweikle, Günther (1989), Sp. 1184. 169 Bauschke, Ricarda (2004), S. 228.
25 Walther, dem Dichter der gegenseitigen, glücklichen Liebe, kontrastieren zu können.170 Schließlich soll an dieser Stelle auch noch ein zweites, bereits angeklun genes fachwissenschaftliches Problem für eine didaktische Rekonstruktion beseitigt werden: Das »einzige sichere Datum« aus Walthers von der Vogel weide Leben ist laut Forschungskonsens das im Reiserechnungsbuch des Passauer Bischofs Wolfger von Erla zum Martinstag (11.11.1203) eingetrage ne Geldgeschenk für einen Pelzrock, das Walther empfing.171 Der Rest sei »[l]iterarhistorische Spekulation«. Dementsprechend lässt sich für die aktu elle Forschung konstatieren: »Vorbei sind endgültig […] die Zeiten, als man glaubte, die Texte von […] Walther […] als direkte Informationsquellen über die Umgebung, der sie entstammen, nutzen zu können«172 und so müssen »wohl auch […] die Zeiten, als man im Minnesang die Verherrlichung von Ehebruch sehen zu […] glaubte« 173 endlich begraben sein. Andere Re konstruktionsarbeit ist hier gefragt, indem man sich klar macht, dass es zu derartig eklatanten Fehlschlüssen nur aufgrund des omnipräsenten, durch Schriftlichkeit der Überlieferung sowie Singularität und Autonomie der Au torenschaft geprägten Dichtungsverständnisses des 19. Jahrhunderts,174 »das besonders in der Lyrik persönliche Bekenntnisse sah«175, kommen konnte. Das Verständnis der Lehrkraft muss dem mittelalterlichen kulturellen Um feld von Literatur Rechnung tragen, folglich die Lieder als Rollenlyrik in ihrer jeweils eigentümlichen poetischen und symbolischen Struktur vermit teln. So haben ritter und frouwe als überständische Begriffskürzel »kein genau bestimmbares Korrelat in der mittelalterlichen Gesellschaft«, sondern lassen multiple Identifikationen zu. Schweikle verdeutlicht dies durch einen anschaulichen Vergleich, der auch im Unterricht von Nutzen sein sollte:
Minnesang ist prinzipiell so realitätshaltig wie ein Natureingang im Minnelied: Auch hier werden einzelne realistische Details (walt, linde, loub, heide usw.) zitiert und zu einem eigenständigen, toposhaften, sti lisierten Bild zusammengesetzt, vergleichbar einer Miniatur in einer Minnesanghandschrift, in welcher vor dem Hintergrund des bloßen
170 Ein weiteres markantes Problem, das in dieser Arbeit schlichtweg außen vor gelassen wurde, ist die Vielfalt an unterschiedlichen Textüberlieferungen. In einem ihrer Aufsätze macht Bauschke darauf aufmerksam, dass die Positionen pro und contra ›Fehde‹ letztlich auf »kontaminierten« (Bauschke, Ricarda (2004), S. 229) Überlieferungskorpora aufbauen. 171 Vgl. Schweikle, Günther (1994): Walther von der Vogelweide um 1200. In: Lutz, Bernd (Hrsg.): Metzler Autoren Lexikon: deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittel alter bis zur Gegenwart. 2. überarb. und erw. Aufl. Stuttgart; Weimar, S. 823 f., hier S. 823. 172 Karg, Ina (1998a), S. 155. 173 Ebd.; vgl. auch Schweikle, Günther (1982): Mittelalterliche Realität in deutscher höfischer Lyrik und Epik um 1200*. Wolfgang Mohr zum Fünfundsiebzigsten (19. Juni 82). In: GRM 32, S. 265 285, hier S. 267. 174 Vgl. Jauß, Hans Robert (1985), S. 322. 175 Schweikle, Günther (1982), S. 269.
26 Pergaments trotz realistischer Detailverweise stilisierte Szenen darge stellt sind.176
Als Grundlage für den Entwurf der Curriculum Module bleibt an dieser Stelle zu resümieren: Berufsdichter sehen sich dem Problem gegenüberge stellt, vor einem äußerst heterogenen Publikum mit unterschiedlichen Re zeptionsfähigkeiten und Kompetenzen auftreten zu müssen. Jeder Lyriker, auch ein Walther oder Reinmar, der nach angemessener Belohnung und Ansehen strebt, muss einen Weg finden, möglichst viele Zuhörer und somit Bildungsgruppen mit seinem Sang zu erreichen. So heißt es für die Schüle rinnen und Schüler zu erfassen, dass produktive Rezeption »essentiell zur literarischen Kommunikation« gehört, damals wie heute, und »unabdingba rer Faktor« bereits erworbener oder, im Falle der Lerner, noch zu erwerben der »literarischer Kompetenz«177 ist.
2.2 Anknüpfungen der Deutschdidaktik
2.2.1 Ein Plädoyer für (mittelalterliche) Lyrik im Deutschunter richt – Literatur und lyrikdidaktischer Abriss
Abraham/Kepser (2009) stellen in ihrer Einführung zur Literaturdidaktik heraus, dass Lyrik als Gegenstand des Unterrichts im Vergleich zu den ande ren »gattungspoetologische[n] Fundamentalkategorie[n]« 178 didaktisch schwer begründbar sei.179 Zurückzuführen sei dies auf diverse Gründe: einem allgemeinen Ruf als ›schwierige‹ Gattung, negativer Schulerfahrung mit ritualisierten Gedichtstunden, die sich in der streng formalen Analyse und Interpretation erschöpfen, 180 und vor allem eine gegenwärtige Reduktion gesellschaftlicher Bedeutung. Lyrik spiele im Kulturdiskurs der Erwachsenen eher eine marginale Rolle, Gedichte und Gedichtbände seien für Verleger ein Verlustgeschäft und hätten ihr, noch im späten 18. und frühen 20. Jahrhun dert vorhandenes, öffentliches Interesse eingebüßt.181 Eine solche Betrach tungsweise führt häufig dazu, dass »Lyrik in der Unterrichtspraxis im Ver gleich zu den anderen Gattungen […] ein Schattendasein«182 fristet. In der späten Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II stehen, so zeigen Erfah
176 Schweikle, Günther (1982), S. 270. 177 Karg, Ina (1998a), S. 77. 178 Sorg, Bernhard (1999): Lyrik interpretieren. Eine Einführung. Berlin, S. 7. 179 Vgl. Abraham, Ulf/Kepser, Matthis (2009): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin (Grundlagen der Germanistik – 42), S. 150. 180 Vgl. Abraham, Ulf/Kepser, Matthis (2009), S. 150; Nünning, Ansgar/Surkamp, Carola (2006): Englische Literatur unterrichten 1: Grundlagen und Methoden. Seelze Velber, S. 83. 181 Vgl. ebd., S. 151. 182 Nünning, Ansgar/Surkamp, Carola (2006), S. 83.
27 rungswerte, die Lehrkräfte dementsprechend immer wieder einer Lyrikverdrossenheit auf Seiten der Schüler gegenüber: 183 Gedichte seien langweilig, uninteressant, »Texte für ältere Leute« und vor allem schwer zu verstehen.184 So stellt sich aus gattungstypologischer Sicht die Frage: »Wozu Lyrik?«185 Überzeugende Argumente für den Einsatz von Lyrik lassen sich dem in stärkerer Gewichtung entgegenhalten. Im Sinne Klafkis lässt sich Lyrikunterricht als Teil der formalen Bildung und des literarischen Ka nons,186 sofern dieser noch Gültigkeit besitzt und diskutiert wird, legitimie ren. Neuere didaktische Überlegungen rekurrieren darüber hinaus auf die Faszination poetischer Sprache auf mehreren Ebenen (Laut, Metrum, Rhythmus, Bildlichkeit). 187 Per Minimaldefinition besteht Lyrik nach Burdorf und Waldmann188 aus Versen und ist »durch zusätzliche Pausen bzw. Zeilenumbrüche von der normalen rhythmischen oder graphischen Erschei nungsform der Alltagssprache abgehoben«189. Die verdichtete lyrische Spra che, ihre »leitmotivische[n] Wiederholungen und gezielte[n] Variati on[en]«190, die zur genauen Lektüre und Beobachtung der Sprache führen, werden hervorgehoben: »Lyrik zeigt, wie mit wenigen Worten viel gesagt werden kann.«191 Aufgrund prägnanter Merkmale wie einer relativen Text kürze, einer spezifischen äußeren Form (Versstruktur, Metrum, Strophen einteilung), Bildhaftigkeit und Polyvalenz, die Imagination und Kreativität herausfordern, 192 ist Lyrik, auch mittelalterliche, für den Einsatz im Unter richt geradezu prädestiniert.193 Denn für sie gilt:
Zunächst einmal kann ganz Offensichtliches an den Texten abgelesen und gelernt werden, z.B. die Kanzonenform, die Reime, die Strophen, kurz: formale Elemente. Sie zu erkennen ist unverzichtbare Vorausset zung für die Einsicht in die Besonderheit des lyrischen Sprechens als unalltägliches Sprechen zu allen Zeiten. Es sichert dies den lyrischen
183 Vgl. Nünning, Ansgar/Surkamp, Carola (2006), S. 83; Karg, Ina (1998a), S. 187; Kammler, Clemens (2009): Lyrik verstehen – Lyrik unterrichten. In: Praxis Deutsch 213, S. 4 11, hier S. 4; Malsch, Gabriele (1987): Schwierigkeiten bei der Vermittlung von Lyrik (Sekundarstufe II). In: Der Deutschunterricht 39, H. 3, S. 23 32, hier S. 23 f. 184 Vgl. Pronold Günther, Friederike (2006): Streifzug durch die Liebeslyrik der Jahrhunderte. Ein Projekt mit Hauptschülern. In: Franz, Kurt/Hochholzer, Rupert (Hrsg.): Lyrik im Deutschunterricht. Grundlagen – Methoden – Beispiele. Hohengehren, S. 71 87, hier S. 71. 185 Kammler, Clemens (2009), S. 4. 186 Vgl. ebd., S. 4. 187 Vgl. ebd., S. 5. 188 Vgl. Waldmann, Günther (2003): Neue Einführung in die Literaturwissenschaft. Baltmannsweiler, S. 12. 189 Burdorf, Dieter (1997): Einführung in die Gedichtanalyse. 2. Auflage. Stuttgart Weimar, S. 20. 190 Kammler, Clemens (2009), S. 5. 191 Spinner, Kaspar H. (2005): Der standardisierte Schüler. In: Didaktik Deutsch 18, S. 4 13, hier S. 6.; vgl. auch Gien, Gabriele (2007): Lyrische Text und ihre Didaktik. In: Lange, Gün ther/Weinhold, Swantje (Hrsg.): Grundlagen der Deutschdidaktik. Sprachdidaktik – Medi endidaktik – Literaturdidaktik. 3. Auflage. Baltmannsweiler, S. 273 296, hier S. 278. 192 Vgl. Abraham, Ulf/Kepser, Matthis (2009), S. 150; Kammler, Clemens (2009), S. 4. 193 Vgl. Nünning, Ansgar/Surkamp, Carola (2006), S. 115.
28 Texten ihre gesellschaftliche Akzeptanz in wichtigen Situationen und an öffentlichen und privaten Schauplätzen, die sich durch die ihr eige ne Diktion heraushebt, damals wie heute.194
Das sich aus dieser Charakterisierung ableitende, entscheidende Argument, das Lyrik aus philologischer Sicht zu einem unverzichtbaren Gegenstand des Unterrichts macht, ist ihr Klang: »Das Wort Lyrik stammt vom griechischen lyra, Leier, und verweist so auf einen Ursprung dichterischen Sprechens, den Gesang.«195 Es besteht folglich eine »enge Relation von Lyrik und Mu sik«, die bis heute »nachvollziehbar und wirkungsmächtig«196 ist.197 Um den eufonischen Ursprung der Lyrik zu erkunden, erweist sich wiederum mittel alterliche Lyrik als unverzichtbarer Gegenstand: Das Lyrische an der Lyrik ist ihr (Wohl )Klang, dieser wiederum verweist auf die Ursprünge von Lite ratur als Sanges und Aufführungskunst: Minnesang und Sangspruch lebten als ›orale Dichtungen‹198 von ihrem Klang, ja hatten diesen gezielt einzuset zen, um die Aufmerksamkeit und Gunst des Publikums zu erwerben. Dieser Kontext sollte schließlich auch die Neugier, Aufmerksamkeit und den Ehr geiz der Schülerinnen und Schüler wecken, Lyrik selber zum Klingen zu bringen.
2.2.2 Moderne Lyrik – Poetry Slam und (Pop/Rap )Musik
Genau wie der griechische Terminus lyra, pointiert auch der angloameri kanische Begriff lyrics, im deutschen ›Songtext‹, die Verbindung von lyri schem Text und Klang. Der Umgang mit lyrischen Texten ist den Schülerin nen und Schülern folglich gar nicht so fremd, denn sie ist Teil der aktuellen Jugendkultur »– [...] bei der Rezeption [von] […] Rock und Popmusik. Nur ist den meisten gar nicht bewusst, dass viele Songtexte durchaus lyrische Merkmale aufweisen.«199 Der Vorteil einer Thematisierung von Lyrics im Unterricht, nämlich die Schüler im Bereich ihrer gegenwärtigen populären musikalischen Unterhaltung abzuholen, ist in der Didaktik bereits anerkann ter Usus200 und in Unterrichtsmaterialien201 für Lehrkräfte integriert. Auch mittelalterliche Lyrik, so die erste These, weist Parallelen zur derzeitigen Rock und Popkultur auf. Dass Rockgruppen wie beispielsweise In Extremo
194 Karg, Ina (1998a), S. 191. 195 Sorg, Berhard (1999), S. 7. 196 Ebd. 197 Eine knappe und übersichtliche Darstellung didaktisch relevanter Merkmale von Lyrik findet sich auch bei Kammler, Clemens (2009), S. 5. 198 Vgl. Abraham, Ulf/Kepser, Matthis (2009), S. 154. 199 Pronold Günther, Friederike (2006), S. 71. 200 Vgl. z.B. Abraham, Ulf/Kepser, Matthis (2009), S. 152 f. 201 Vgl. z.B. Friedl, Gerhard (2009): EinFach Deutsch Unterrichtsmodell. Liebeslyrik: Gymna siale Oberstufe. Braunschweig, Paderborn, Darmstadt, S. 22.
29 explizit Texte Walthers aufgreifen und musikalisch interpretieren, 202 ist nur ein Grund. Die Erwartungen eines, durch ein bestimmtes gesellschaftliches und kulturelles Umfeld geprägten Publikums, dem der sprachliche und mu sikalische Code ihrer ›Lieblingsband‹ im Gegensatz zu vielen anderen Rezi pienten zugänglich erscheint, ein anderer. Ferner treten inhaltliche Affinitä ten zwischen Minnesang und Popmusik hervor, von der oft schmerzlichen oder glücklichen Liebesthematik der meisten Popsongs ganz abgesehen. Hört man die folgenden Verse des deutschen Sängers Xavier Naidoo: »Und wenn ein Lied meine Lippen verlässt, dann nur, damit du (meine) Liebe empfängst«203, drängt sich dann nicht das mittelalterliche Bild eines Kaiser Heinrichs auf, der sein Lied als gruoz an seine Dame definiert? Es scheint: Moderne Songs zehren immer noch von mittelalterlichen Motiven der Lyrik. Hier ließe sich didaktisch ansetzen. Gemäß der didaktischen Intention, differenzierte Einblicke in Wand lungsprozesse zu ermöglichen und mittelalterliche Lyrik als unverzichtbar für den Deutschunterricht auszuweisen, soll für diese Arbeit jedoch eine andere diskursive Qualität von ›moderner‹ Lyrik, auch aufgrund ihres inno vativen Charakters für den Deutschunterricht, präferiert und entdeckt wer den: Slam Poetry im kulturellen Kontext sogenannter Poetry Slams. Diese Art des Dichtens erweist sich, so die zweite These, als das moderne Pendant zur mittelalterlichen Lyrik, beispielsweise eines Walthers und Reinmars, was die folgende Argumentation und Präsentation des Phänomens verdeutlichen soll: Poetry Slams – das sind »Dichterschlachten, in denen meist junge Per formance Poeten mit ihren Sprechtexten in einen Wettstreit treten«204:
Dichter, die auf der Bühne eigene Werke nicht nur einfach vortragen, sondern mit Stimme und Körper zum Leben erwecken. Ein Publikum, das nicht einfach nur Kultur konsumiert, sondern Punkte für Poesie und Performance vergibt und so einen Sieger des Abends kürt. Und Texte, in denen mit Sprache gespielt, mit Reim und Rhythmus experi mentiert wird, die Lyrik oder Prosa, komisch oder traurig, gesell schaftskritisch oder Nonsens sein können.205
Im Hinblick auf die Unterrichtspraxis ist es »vor allem dem unermüdlichen Wirken von Petra Anders zu verdanken, dass Poetry Slams und Slam Poetry
202 Vgl. z.B. Zimmermann, Günter (2005): Rollenspiele? Zum ›Ich‹ bei Walther (Atzeton 103,12; 103,29; 104,7). In: Birkhan, Helmut (Hrsg.) unter Mitwirkung von Cotten, Ann: Der acht hundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla –Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaf ten vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Wien, S. 561 579, hier S. 561 ff. 203 Vgl. z.B.: PrinCessJuLiia (2008): Und wenn ein Lied – Xavier Naidoo (Lyrics). Internet Beleg: http://www.youtube.com/watch?v=ynSXnrjxeGc, Zugriff am 07.08.2010. 204 Aden, Almut (2008): Editorial. In: Praxis Deutsch 208, 2008, S. 1, hier S. 1. 205 Ebd.
30 mittlerweile […] didaktisch und methodisch gut erschlossen sind.«206 2007 brachte Anders eine »Slam Werkstatt«, die Kreativität und aktives Mitma chen fördert und fordert,207 heraus. Auffällig und für diese Arbeit konstitutiv sind die im und explizit gezogenen Parallelen zur Lyrik des Mittelalters. Denn Dichterwettkämpfe, d.h. Formen des literarischen Wettbewerbs, gibt es nicht erst seit dem Kulturphänomen Poetry Slam. So taucht in einer Übersicht unter dem terminologischen Stichpunkt »Mitte des 12. Jh. bis Ende 14. Jh.« schließlich die folgende Information auf:
Ritter ziehen als Dichter und Sänger von Hof zu Hof und tragen in Konkurrenz ihre Gedichte an Fürstenhöfen vor. Aufgabe: Fürstenlob, Huldigung der Herrin durch Minnesang.208
Trotz der ersichtlichen historischen Simplifizierung und der negativ zu beur teilenden Feststellung, dass Jugendliche mit Stichworten wie »Huldigung der Herrin durch Minnesang« sicherlich nichts anfangen können, wird, und dies ist entscheidend, der mittelalterliche Ursprung der Slam Poetry (an)erkannt. Dieser, auf mittelalterlicher Dichtkultur aufbauende, 209 lebendige und moderne Zugang zu Lyrik, wie ihn Praxis Deutsch (208/2008) und Petra Anders schildern, wurde vor ca. 20 Jahre in den USA ›erfunden‹ und dann wenig später (1993/94) nach Europa »importiert«.210 Entscheidende Impul se für Slam Poetry gab dabei die nordamerikanische HipHop Musik, »eine spezielle Richtung innerhalb der schwarzen Popmusik mit meist sozialkriti schen, oft aggressiven Inhalten und charakteristischem Sprechrhythmus«211, die zusammen mit dem sog. Rap Gesang als Musikstil und poetische Aus drucksform in den USA immer populärer wurde.
Rap und HipHop waren und sind ein battle, also ein Kampf, der auf einem sprachlichen Schlagabtausch basiert und der die konkrete künstlerische Auseinandersetzung bezeichnet.212
Medienwirksames battlen in rhythmisierten Worten beschäftigt die Jugend lichen heute täglich in ihrem Alltag und hat spätestens seit Eminems Film 8
206 Vgl. Abraham, Ulf/Kepser, Matthis (2009), S. 154. 207 Vgl. Anders, Petra (2007): Poetry Slam. Live Poeten in Dichterschlachten. Ein Arbeitsbuch. Aktualisierte Ausgabe. Mühlheim an der Ruhr. 208 Anders, Petra (2007), S. 32. 209 Die Inszenierung mittelalterlicher Lyrik und die Form des literarischen Wettbewerbs weist wiederum bereits Wurzeln in der griechischen Antike auf. »In musischen ›Agonen‹ konkur rierten Dichter [hier] seit 700 v. Chr. um Preise für den besten Hymnenvortrag« (Gans, Mi chael (2008): Aristoteles opens Stage. Vom Worteklauben zur Redekunst – Ein Slam Projekt für die Offene Bühne. In: Praxis Deutsch 208, S. 24 28, hier S. 24). 210 Vgl. Westermayr, Stefanie (2004): Poetry Slam in Deutschland. Theorie und Praxis einer multimedialen Kunstform. Marburg, S. 12ff. 211 Ebd., S. 20. 212 Ebd., S. 21.
31 Mile (2003) den Status eines Kulturphänomens.213 Der fachwissenschaftliche Diskurs um die ›Reinmar Walther Fehde‹ greift ebenfalls explizit auf diesen aktuellen Hintergrund der Hip Hop- und Battlekultur zurück und stellt so eine erste Verbindung zwischen mittelalterlicher Lyrik und dem Phänomen Poetry Slam her. 214 Walthers Schachlied sowie der Nekrolog exemplifizieren »die ›Fehde‹ als ein dynamisches Interaktionsspiel von Sprache und Ton.«215 Minnesang muss folglich als »interaktive Gattung«216 beschrieben werden, in der Sänger mal mehr und mal weniger miteinander in Austausch treten. In einer Art lyrischem Dialog kommen Parodien, einzelne Responsionen bzw. unpolemische Repliken zum Tragen. Ein Spiel mit dem Wissen des Publi kums erweist sich hier als angemessene Definition, auch in Bezug auf das Phänomen Poetry Slam:
Slam Poetry ist durch hohe Intertextualität geprägt, da sich die reisen den Poeten oft gegenseitig bei Veranstaltungen rezipieren und durch Zitate und Verfremdungen sowohl sprachlich als auch mit den Erwar tungshaltungen der Slam KollegInnen und des Publikums spielen.217
Auf einer Zeitachse ist das Konzept ›Fehde‹ somit nicht punktuell anzuset zen, es erstreckt sich vielmehr dauerhaft über den gesamten Zeitstrahl. Vor diesem Hintergrund sind Lesebühnen, Open Mics oder Perfor- mances218 auf dem Vormarsch. Mittlerweile gibt es allein in Deutschland Slam Turniere in über 70 Städten. Beim Poetry Slam als Veranstaltungsort treten die von Slam zu Slam reisenden aktiven Poeten, derzeit mehr als 250, innerhalb eines Zeitlimits (ca. 5 7 Minuten) gegeneinander an.219 Auch Mu sik und Slam Poetry fusionieren von Zeit zu Zeit und erschließen neue audi tive Bereiche: »›Vertonte Poesie ermöglicht einen mehrdimensionalen Lyrik Genuss. Inhalt, Rhythmus und Sprachmelodie der Gedichte gehen ins Ohr.‹«220 Einer der ersten deutschen Slammer, der Musik und Poesie ver band, ist Bastian Böttcher mit seiner Band »Zentrifugal«. 1997 gewann er den ersten »National Poetry Slam« in Berlin.221 Das vorhandene Angebot der Medien wird in diesem Zusammenhang zur Verbreitung des Kulturphäno mens herangezogen. Es werden Höraufnahmen gemacht und Performances für sog. Poetry Clips, ähnlich der Musikvideos, inszeniert und gefilmt. Der
213 Vgl. Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008): Poetry Slam und Poetry Clip. Formen inszenierter Poesie der Gegenwart. In: Praxis Deutsch 208, S. 6 15, hier S. 6. 214 Vgl. Fischer, Hubertus (2003): Reinmar Balbulus oder die Kunst der Infamie – Anmerkun gen zu Walthers Schachlied mit einem Ausblick auf die Battlekultur. In: ders. (Hrsg.): Die Kunst der Infamie. Vom Sängerkrieg zum Medienkrieg. Frankfurt a. M., S. 11 80, hier S. 75 80. 215 Fischer, Hubertus (2003), S. 79. 216 Ebd., S. 80. 217 Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008), S. 7 f. 218 Für eine genaue Differenzierung der ›Szene‹ Begriffe siehe ebd., S. 13 (Glossar). 219 Vgl. ebd., S. 7. 220 Westermayr, Stefanie (2004), S. 96. 221 Vgl. ebd.
32 Poetry-Clip ist folglich »ein Hybrid Medium zwischen Live Performance, Schauspiel, Verfilmung und Musikvideo.«222 Indem Literatur unterschied lich medial aufbereitet und inszeniert wird, bietet sie zahlreiche Anknüp fungspunkte und für Lehrkräfte leicht zugängliche Materialien für den Un terricht (Poetry Clips, DVD Dokumentationen, Hörbücher, MP3, Youtube Clips, Spielfilme, Fernsehauftritte und Anthologien mit und ohne CD Beilage). 223 Gegenwartsdichtung der gesprochenen Form wird also entweder live in szeniert (Spoken Word Poetry) oder medial vermittelt (Poetry Clip). Gomringer merkte in diesem Zusammenhang in einem Praxis Deutsch Interview an: eigentlich sollte das »Performanzpoesie«, gemäß dem engli schen ›Szenebegriff‹ der performance, heißen.224 Er schlägt damit genau die alles entscheidende Parallele zur mittelalterlichen Dichtung, die einen Ver gleich mit der Kunst des Poetry Slams so wertvoll für den Unterricht macht: die Performanz und Rollenebene, die den überlieferten mittelalterlichen Texten ›implizit eingeschrieben‹ ist.225 »Sprechakte der Lyrik« weisen einen mittelalterlichen Ursprung auf226 und machen »die elokutionäre Präsenz des Sprechers oder Sängers erforderlich und manifest«227. Denn »ohne ein ver nehmbares, identifizierbares Subjekt ist kein Sprechakt möglich.«228 Dieser Ansatz wird in der Mediävistik zur Bestimmung des Performanzbegriffs auf gegriffen. So rekurriert Mertens auf Rainer Warnings »doppelte Rollenhaf tigkeit«229 des lyrischen Ichs und differenziert zwischen einem Performanz und einem Text ›Ich‹230. Mit Performanz( ›Ich‹) ist hier auf der Auffüh rungsebene die aktive und performative Umsetzung, genauer genommen Inszenierung, von im Text angelegten Rollen, zum Beispiel einer durch das mittelhochdeutsche Pronomen si als lyrisches Ich klassifizierten Dame, vor einem Publikum gemeint.231 Mittelalterliche Rollenlyrik und moderne Slam Poetry verkörpern und praktizieren also genau das, was moderne, rein schriftbasierte Lyrik vermisst: ein Konzept, das Texte mit Vortrag, Auffüh rung und klanglicher Inszenierung verbindet. Unter den Bedingungen einer »face-to-face-Interaktion«232 stehen dabei drei Instanzen im Mittelpunkt:
222 Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008), S. 8. 223 Vgl. ebd., S. 9. 224 Vgl. ebd., S. 7. 225 Vgl. Mertens, Volker (1995): Autor, Text und Performanz. Überlegungen zu Liedern Wal thers von der Vogelweide. In: Dauven van Knippenberg, Carla/Birkhan, Helmut (Hrsg.): Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik. Sô wold ich in fröiden singen. Festgabe für Anthonius H. Touber zum 65. Geburtstag, Bd. 43 44, S. 379 397, hier S. 381. 226 Vgl. Schlaffer, Heinz (2008): Sprechakte der Lyrik. In: POETICA. Zeitschrift für Sprach und Literaturwissenschaft, Bd. 40, S. 21 42, hier S. 23; 26. 227 Ebd., S. 42. 228 Ebd. 229 Vgl. Warning, Rainer (1979): Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Cormeau, Christoph (Hrsg.): Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven, Gedenkschrift H. Kuhn, Stuttgart 1979, S. 120 159. 230 Mertens (1995), S. 381. 231 Ebd., S. 385. 232 Egidi, Margreth (2004): Der performative Prozess. Versuch einer Modellbildung am Bei spiel der Sangspruchdichtung. In: ders./Mertens, Volker/Miedema, Nine (Hrsg.):
33 Sänger/Dichter, Text und Publikum.233 An diesem Kommunikationsprozess sind die Faktoren Stimmklang, Gestik und Mimik beteiligt.234 Die Auffüh rung selbst gilt als singulär, einmalig, da sie »je nach Anlaß, Disposition des Sängers, Interaktion mit dem Publikum und anderen Variablen«235 differiert. Im erweiterten Sinn lässt sich eine derartige Performanzpoetik nach Mertens als »rituell kulturelle Performanz«, die
auf die Herstellung eines Gemeinschaftserlebnisses und gefühls [zielt] und […] dafür vertraute Inhalte und Formen, nicht unbedingt in repeti tiver, sondern durch aus in maßvoll variierter Gestalt236 nutzt, bestimmen und kategorisieren. Voraussetzung für ein solches Ge meinschaftserlebnis ist ein gemeinsamer Bildungs und Erfahrungshorizont auf Seiten der Rezipienten.237 Die im Sinne von Koch/Oesterreicher als me dial mündlich und konzeptionell schriftlich einzustufenden Slam Poetry Texte238 nehmen, indem sie sich »unter den Vorzeichen einer ›sekundären Oralität‹ (Ong) […] beinahe ausschließlich an Zuschauer und Zuhörer«239 richten, den Platz mittelalterlicher Lyrik im gesellschaftlichen Diskurs ein. »Lyrik als eine von drei Großgattungen der Literatur ist«, so lässt sich ab schließend festhalten, »alles andere als ›verstaubt‹ oder ›tot‹.« 240 Slam Poetry-Texte sind gerade in Bezug auf Schule und Unterricht »Ausdruck eines Wandels«241. Denn hier findet sich genau das, was die Vermittlung mittelalterlicher Texte benötigt: »Wege zur Lyrik mal ganz anders«242 und zwar handlungsorientiert und performativ. Wichtig ist in diesem Zusam menhang, dass die Schüler erkennen, dass moderne Pendants zu Minnesang und Sangspruch nicht in irgendwelchen modernen Gedichten, die zufällig auch das Thema Liebe oder Politik behandeln, zu suchen ist, sondern in Formen einer poetisch inszenierten Aufführungskunst, die das Lyrische an der Lyrik, ihren sprachlichen Klang, hervorhebt und in einen gesellschaftli
Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder. Frankfurt am Main (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung Bd. 5), S. 13 24, hier S. 14. 233 Vgl. Egidi, Margreth (2004), S. 18. 234 Vgl. ebd., S. 21. 235 Mertens, Volker (1995), S. 380 f. 236 Mertens, Volker (2004): Meistersang und Predigt. Formen der Performanz (?). In: Egidi, Margreth/Mertens, Volker/Miedema, Nine (Hrsg.): Sangspruchtradition. Aufführung – Gel tungsstrategien – Spannungsfelder. Frankfurt am Main (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung Bd. 5), S. 125 142, hier S. 139. 237 Mertens, Volker (2004), S. 140. 238 Vgl. Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008), S. 7. 239 Diehr, Achim & Christina (2004): ›Walther vermitteln in Schule und Hochschule‹: Reisende Dichter, singende Hühner und fliehende Freundinnen. Das Verhältnis zwischen Sänger und Publikum in Minnesang und Poetry Slam. Ein Unterrichtsmodell für die gymnasiale Ober stufe. In: Bein, Thomas (Hrsg.): Walther verstehen – Walther vermitteln. Neue Lektüren und didaktische Überlegungen. Frankfurt/Main (Walther Studien Bd. 2), S. 9 28, hier S. 9 f. 240 Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008), S. 9. 241 Ebd., S. 6. 242 Anders, Petra (2008): Slam Poetry: für die Sekundarstufe. Stuttgart, S. 1.
34 chen Kontext stellt. Lyrikunterricht muss nicht mehr als heikel gelten, denn er spricht auf diese Art und Weise »auch und gerade Jugendliche an, die sich sonst nur schwer für Literatur und schon gar nicht für Lyrik begeistern las sen.« 243 Ein beträchtliches sprachschöpferisches und sprachgestaltendes Potenzial gilt es hier zu nutzen: »In der Performanz steckt die Kompetenz – lassen wir uns darauf ein!«244
2.2.3 Zwischen Alterität und Aktualität: Abwägung von Kon zepten zum Lyrikunterricht oder: Literaturdidaktik für älte re Texte
»›Wahre Dichtung ist unhistorisch‹«245 – Meist ist es nicht Lyrik und auch nicht die Thematik des Mittelalters,246 die Probleme bereitet, sondern, wie das Eingangszitat zeigt, der Umgang mit dem Gegenstand an sich. Denn Fachdidaktik für mittelalterliche Texte hat es erst gar nicht gegeben,247 von vereinzelten Versuchen einmal abgesehen. Hier seien beispielsweise Brackert, Christ und Holzschuh (1972/1976) sowie das Tübinger Projekt von Jentzsch und Wachinger (1979/1980), die das Ziel verfolgten, Gegenwart und Vergangenheit aufeinander zu beziehen,248 zur Orientierung genannt. Die Begründung einer solch gravierenden didaktischen »Leerstelle« wird in der, als störend deklarierten, »Alterität« mittelalterlicher Texte gesucht. Dazu gehört zum einen die Sprache der Texte, die heutzutage nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar und verständlich ist.249
Mögen Wörter […] zwar zunächst gar nicht so fremd klingen, liegen doch Hunderte von Jahren an Veränderungen im sozialen Miteinander, in der Lebensform, dem Denken, dem Handeln, dem Gefühlshaushalt und der Wertewelt der Benutzer zwischen ihnen und den heutigen Formen250, sodass Sprachbarrieren den unmittelbaren Zugang zur Literatur verhin dern.251 Zum anderen geht es, und dieses ist nach Karg der entscheidende Aspekt, um die »problematischen Überlieferungssituationen«, die »Anony mität«252 als Gattungsmerkmal mittelhochdeutscher Lyrik, die daraus resul
243 Anders, Petra (2008), S.1. 244 Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008), S. 14. 245 Karg, Ina (1998a), S. 43. 246 Vgl. hierzu die Studie von Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 51. 247 Vgl. Karg, Ina (1999a), S. 202. 248 Vgl. Karg, Ina (2006), S. 4. 249 Vgl. Karg, Ina (1999a), S. 208. 250 Karg, Ina (2006), S. 5. 251 Vgl. Karg (1998a), S. 24. 252 Karg, Ina (1999a), S. 208.
35 tiert, dass Texte nur schlecht oder gar nicht editiert sind, sodass das heutzu tage etablierte Autor Werk Verständnis zu erschüttern droht. Insbesondere von Lyrik wird stets angenommen, sie transportiere allgemeingültige Werte und Ideale als autonomes Kunstobjekt und Ausdruck der Dichterpersönlich keit.253 Bereits 1970 wurde diese vehement vorherrschende Richtung der Literaturdidaktik, die Dichtung als Ausdruck des subjektiven und persönli chen Dichter Genies im Sinne des Erlebnisbegriffs Diltheys begreift,254 kriti siert. Denn »[v]on der Realexistenz eines Walther von der Vogelweide weiß man beispielsweise ausschließlich aufgrund eines einzigen Dokuments in der Buchführung der Passauer bischöflichen Finanzverwaltung«.255 Die Vermitt lung von Literatur hat folglich immer auch mit einem entsprechenden Lite raturverständnis zu tun, das es kritisch zu betrachten gilt.256 Geht es im Unterricht um ›Mittelalter‹, tun sich zwei Gefahren auf: ers tens, das Mittelalter als das »›ganz andere‹«257 zu betrachten und damit in eine unverständliche Ferne zu rücken. Hier besteht die Gefahr der Klischee bildung von schwierigen, zeitlich fernen Texten, die nicht für Schule und Literaturunterricht geeignet sind, da »es sich um einen Bereich für Experten handelt«258. Zweitens, in ihm »die Spuren des stets Gleichen« zu suchen und damit jede Lernchance zu verpassen. Wird Minnesang beispielsweise aus schließlich mit anderen Liebesgedichten verglichen und gleichgesetzt, verlie ren die Schülerinnen und Schüler den Blick für epochale, historische Unter scheidungen259 – »[e]in Mittelalter ohne Ende wäre das Ende des Mittelal ters.«260 Logische Schlussfolgerung daraus ist das Finden eines geeigneten Mittelweges, der in einem adäquaten Umgang mit Alterität das Ziel des Um gangs mit mittelalterlicher Literatur sieht: »Nicht wären demnach die Sper rigkeiten zu glätten und Eigenes in die Texte hinein zu lesen, sondern die Herausforderungen anzunehmen, die eine Lektüre von Zeugnissen vergan gener Zeiten darstellen.«261 Dieser unter dem Stichwort »Alterität« geführte didaktische Diskurs geht, gemäß der übergeordneten Intention dieser Arbeit, auf einen Gemeinplatz mediävistischer Reformbewegungen zurück und hebt somit die enge und notwendige Verbindung zwischen Fachwissenschaft und Didaktik noch ein mal gezielt hervor. In Anknüpfung an Hans Robert Jauß wird das spezifische Potential mittelalterlicher Lyrik im »ästhetischen Vergnügen, der befrem denden Andersheit und dem Modellcharakter262 mittelalterlicher Texte«263
253 Vgl. Karg, Ina (1998a), S. 42 f. 254 Vgl. ebd., S. 13. 255 Ebd., S. 24. 256 Karg, Ina (1999a), S. 201. 257 Karg, Ina (2001a), S. 41. 258 Ebd. 259 Vgl. ebd. 260 Ebd., S. 40. 261 Karg, Ina (2001a), S. 45. 262 Der Modellcharakter rührt für Jauß daher, dass die Kultur und Gesellschaft ein eigenes, historisch fast gänzlich abgeschlossenes System darstellen, »in welcher Kunst und Literatur
36 gesehen. Jauß, dessen Alteritätsbegriff264 zunächst am Gegenstand mittelal terlicher Tierepik entwickelt wurde, verwendet somit primär die ästhetische Erfahrung als Bezugspunkt zur Moderne. Mittelalterliche Literatur begegnet den Schülern dabei in einem Spannungsverhältnis, einer Dialektik zwischen zwei Polen: »als Zeugnis einer fernen, historisch abgeschiedenen Vergan genheit in befremdender ›Andersheit‹« und auf der anderen als »ästheti scher Gegenstand«, »dank seiner sprachlichen Gestalt auf ein anderes, ver stehendes Bewußtsein bezogen«, was »mithin auch mit einem späteren, nicht mehr zeitgenössischen Adressaten Kommunikation ermöglicht.«265 Die Sprache macht uns also erst die Alterität bewusst, als poetisches zeitüber dauerndes Element aber auch wieder zugänglich. In ihrem Kern kann diese Argumentation mit Bertholt Brechts ›Verfremdungseffekt‹ verglichen wer den: Alterität übt die Funktion aus, dem Betrachter vertraute Dinge in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Sie macht die Faszination, ja Modernität, des Gegenstandes Mittelalter aus,266 denn sie bedeutet gerade nicht Fremd heit, »die allenfalls zu egalisieren und zu überwinden wäre: Alterität ist die Chance zum Verstehen, auch des Eigenen.«267Im Literaturunterricht »ist immer mit Alterität zu rechnen, ganz grundsätzlich, und nicht nur mit Blick auf das Mittelalter.«268 »So besehen ist ›Alterität‹ kein Spezifikum einer bestimmten Epoche, sondern etwas Prinzipielles am geschichtlichen Pro zeß«269, dem im Unterricht Rechnung getragen werden muss. Wie sieht nun eine Didaktik aus, die die Eigenschaften älterer Texte, in diesem Fall mittelalterlicher Lyrik, sinnvoll im Unterricht in Szene setzt? In diesem Zusammenhang stellt sich zunächst die Frage nach dem Was der Didaktik. Im Unterricht muss vor allem die Rolle und Funktion bzw. das Verständnis und Selbstverständnis von dichterischer Tätigkeit im Mittelalter, d.h. Autorschaft, anders als in unserem gegenwärtigen literarisch kulturellen Umfeld betrachtet werden. Verpflichtung auf Tradition, Repräsentations funktion, und Auftragsarbeit sind wichtige Schlüsselbegriffe, ihre
noch in der Praxis ihrer normbildenden Funktionen greifbar sind« (Jauß, Hans Robert (1985), S. 337). 263 Jauß, Hans Robert (1985), S. 313. 264 Aktuelle Überlegungen zum Alteritätsbegriff z.B. bei Peters, Ursula (2007): ›Texte vor der Literatur‹? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter Philologie. In: POETICA. Zeitschrift für Sprach und Literaturwissenschaft, Bd. 39, S. 59 88; Kiening, Christian (2005): Alterität und Methode. Begründungsmöglichkeiten fachlicher Identität. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52, H. 1, S. 150 166. 265 Jauß, Hans Robert (1985), S. 320. 266 Vgl. Wintersteiner, Werner (2001): Editorial. »Historische Ausrüstung im richtigen Sinne des Wortes«. In: ide 25, H. 3, S. 4 6, hier S. 5. 267 Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 149. 268 Karg, Ina (2001a), S. 46. 269 Karg, Ina (1998a), S. 49.
37 Einbindung in unmittelbare gesellschaftliche Funktionszusammen hänge […] demnach konstituierend – nicht etwa Originalität, Innovati on oder das dichterische Genie.270
Minnesang als »[d]as Lied von der Liebe zum Singen beim Fest« 271 , Sangspruch als »Welterfahrung in Versen«272, d.h. mittelalterliche Lyrik als Performanzkunst ist hier zentraler Unterrichtsgegenstand. Alles entscheidend ist schließlich die Frage nach dem Wie, der Schnitt stelle zur Methodik des didaktischen Konzepts. Aus fachdidaktischer Sicht lassen sich im Groben zwei Positionen zum Gegenstand Lyrik unterscheiden:
Die eine ist am Paradigma der erlebnishaften Lyrik orientiert und stellt affektive Aspekte sowie den ästhetischen Genuss in den Mittelpunkt; die andere geht von einem breiteren Lyrikbegriff aus […] und operiert entsprechend stärker mit philologischen Analyseverfahren.273
Während letztere analytische Verfahren »eher der Hermeneutik der Er schließung« zuzurechnen sind, dominieren seit Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre kreative Verfahren, die sich unter dem Stichwort »handlungs und produktionsorientierter Literaturunterricht« subsumieren lassen und im Dienst einer »Hermeneutik des Verdachts« stehen,274 die auf subjektive Textzugänge setzt. »Die Beteiligung des Lesers an der Sinnbildung«275, akti ve Vorstellungsbildung und Körperorientierung rücken hierbei als Schlüs selbegriffe ins Zentrum.276 Je nachdem, welchem der Vertreter dieser Litera turdidaktik gefolgt wird,277 lassen sich die spezifischen Methoden in unter schiedliche Schwerpunkte unterteilen: operative Verfahren, »schwerpunkt mäßig im Sinne der Ergänzung, der Transformation und der Variation«278, sinnlich ästhetische (ganzheitliche) Verfahren, zum Beispiel Gedichte spre chen, akustische oder szenisch gestaltende, 279 spielerische Verfahren mit Sprache und schließlich schreib produktive Verfahren, so zum Beispiel das Selberschreiben von Gedichten.280 Staatliche Legitimation haben die kreati
270 Karg, Ina (2006), S. 5. 271 Karg, Ina (1998a), S. 155. 272 Ebd., S. 181. 273 Abraham, Ulf/Kepser, Matthis (2009), S. 155 f. 274 Vgl. Kammler, Clemens (2009), S. 9. 275 Spinner, Kaspar H. (1999): Die eigenen Lernwege unterstützen. Die sog. Kognitive Wende in der Deutschdidaktik. In: ders. (Hrsg.): Neue Wege im Literaturunterricht. Hannover, S. 4 ff., hier S. 5. 276 Vgl. Spinner, Kaspar H. (2008): Handlungs und produktionsorientierte Verfahren im Literaturunterricht. In: Kämper van den Boogaart, Michael (Hrsg.): Deutsch Didaktik. Leit faden für die Sekundarstufe I und II. Völlige Neubearbeitung, Berlin 2008, S. 184 198, hier S. 184 f. 277 Zu nennen sind an dieser Stelle vor allem Günter Waldmann, Gerhard Haas, Kaspar H. Spinner, Ingo Scheller, Wolfgang Menzel und Harro Müller Michaels (vgl. Spinner, Kaspar H. (2008), S. 188 f.). 278 Gien, Gabriele (2007), S. 285. 279 Vgl. ebd., S. 286 f. 280 Vgl. ebd., S. 287 ff.
38 ven, der Motivationssteigerung verpflichteten Verfahren bereits mit ihrem Einzug in Lehrpläne, Bildungsstandards, Unterrichtsmaterialien und seit 2002, unter dem Begriff des »Gestaltenden Erschließens«, auch in den EPAs erhalten.281 Da Gedichte häufig »als Hauptgegenstand der produktionsorientierten Literaturdidaktik«282 bezeichnet werden, erscheint es auf den ersten Blick nahe liegend, auch mittelalterliche Lyrik mit Hilfe dieses Ansatzes zu vermit teln. Diesem Gedanken sind jedoch in Bezug auf den in dieser Arbeit fokus sierten Unterrichtsgegenstand, mittelalterliche Lyrik, entscheidende Beden ken entgegenzusetzen:283
1. Handlungs und produktionsorientierter Unterricht setzt sich für sub jektive Erfahrungen des Rezipienten mit dem Text ein. Im Fokus stehen hier also primär Selbstreflexion und Gegenwart.284 2. Das Primat der subjektiven Perspektive führt die Gefahr einer Ausblen dung der literaturgeschichtlichen Dimension mit sich (»enthistorisierter Literaturbegriff«285).286 3. Häufig bedeutet dies, Verfahrensweisen des Umgangs mit älteren Texten zu entwickeln, »die um der Kontinuität willen jede Fremdheit und An dersartigkeit ausblenden oder sie allenfalls mit ein paar Floskeln ab tun.« 287 Für die mittelalterlichen Texte heißt das, »sie als zeitlos überzeitliche zu verstehen oder auf sie zu verzichten«288, ein unzurei chendes Entweder oder. 4. Die Verfahren gehen grundsätzlich von der »Möglichkeit einer Identifi kation zwischen Leser und literarischer Figur aus«. Diese ist »in der all tagspsychologischen Motivationen heutiger Provenienz grundlegend«. Die Verfahren sind also »nicht an vormoderner Literatur […] entwickelt worden«289. 5. Eine permanente, tendenziell immer stärker festzustellende Orientie rung an der subjektiven Wahrnehmung bzw. am Rezeptionserlebnis der Lerner, kann zu einem »Egozentrismus Jugendlicher im schulischen
281 Vgl. Spinner, Kaspar H. (2008), S. 184. 282 Spinner, Kaspar H. (1995): Umgang mit Lyrik in der Sekundarstufe I. 2., vollständig überar beitete Auflage. Baltmannsweiler, S. 3. 283 Neben den, für diese Arbeit relevant befundenen Vorbehalten gegenüber handlungs und produktionsorientierten Verfahren, herrschen in didaktischen Publikationen weitere, allge meine Kritikpunkte vor (z.B. »Verabsolutierung des Methodischen«, »Spaßkultur« etc.), vgl. dazu Spinner, Kaspar H. (2008), S. 190 f.; Gien, Gabriele (2006), S. 289; Karg, Ina (1999a), S. 207; bezüglich der Bewertung des literaturtheoretischen Hintergrundes handlungs und produktionsorientierter Verfahren (Leerstellenbegriff, Rezeptionsästhetik) vgl. Karg, Ina (2008b): Die Schüler bei der Stange halten? Nibelungenlied und Deutschunterricht. In: Mit teilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55, H. 4, S. 400 413, hier S. 406. 284 Vgl. Karg, Ina (1998a), S. 14 f. 285 Begriff nach Karg (2008a), S. 406. 286 Vgl. Kammler, Clemens (2009), S. 9. 287 Karg, Ina (1998a), S. 44; vgl. auch Karg, Ina (2006), S. 5 f. 288 Ebd. 289 Karg, Ina (2008b), S. 406.
39 Verhalten« führen, d.h. »alles abzulehnen, wozu man nicht einen ver meintlich direkten und unmittelbaren Zugang findet.«290 In diesem Kontext stellt sich eine Eins zu eins Übertragung auf die mittelal terlichen Texte also alles andere als unproblematisch dar. Mittelalterliche Texte dienen zwar auch der »Begegnung mit uns selbst«291, jedoch nicht im Sinne Hegels als »Medium der Auseinandersetzung mit Subjektivität«292. Ein geeigneter Alternativweg und didaktischer Lösungsansatz, der aus den geäußerten Bedenken Konsequenzen zieht, lässt sich vor allem in Anleh nung an die Bemühungen Ina Kargs (1998a) um eine Literaturdidaktik für ältere Texte finden. Das hier vertretene Konzept umfasst im Wesentlichen drei Aspekte: Es richtet sich gegen eine dominante Erlebnisästhetik und tritt stattdessen für reflektierte Rekonstruktionsarbeit und kulturelles Lernen ein.293 Dementsprechend muss auch der allgemein vorherrschende Litera turbegriff der Erlebnisästhetik anders gehandhabt werden, nämlich mit Blick auf die älteren Texte, die »in Intertextualität mit anderen stehen und an entscheidenden Diskursen ihrer Zeit Anteil haben.«294 Solche diskursiven Auseinandersetzungen und Verstehensprozesse verlangen »Wissen, Kennt nisse und ein Bewusstsein solcher Voraussetzungen und Zusammenhänge des menschlichen Miteinanders«295. Neben dem Literaturbegriff bekommt auf diese Weise auch die, für hand lungs und produktionsorientierte Verfahren so wichtige, literaturtheoreti sche Basis der Rezeptionsästhetik eine neue bzw. erweiterte Konnotation:
Rezeptionsästhetik bedeutet dabei nicht, dass irgendwer immer ir gendwas aus Literatur herausliest, das wäre höchst trivial, sondern dass es stets bestimmte, auf Kenntnissen, auf Wissen und Vorausset zungen beruhende Erwartungen sind, mit denen ein Text zu rechnen hat und dies auch tut, und dass sich im Wechselspiel von Rezeption, neuem Text und wieder Rezeption Sinn konstituieren kann. Rezepti onsästhetik ist mehr als Rezeption.296
Für den Unterricht und die Kompetenz der Lehrkräfte bedeutet dies dreierlei: Erstens, Analysefähigkeit bzw. diagnostische Kompetenz: Die Voraussetzun gen der Schülerinnen und Schüler müssen, gemäß dem pädagogischen Kon zept, Schüler »dort abzuholen«, wo sie stehen,297 kennengelernt werden. Wie und mit welchem Wissen gehen die Lerner an Texte heran, und wichtiger
290 Karg, Ina (1998a), S. 189. 291 Domin, Hilde (1993): Wozu Lyrik heute? Dichter und Leser in der gesteuerten Gesellschaft. Frankfurt am Main, S. 26. 292 Kammler, Clemens (2009), S. 5. 293 Vgl. Karg, Ina (1998a), S. 187 196. 294 Karg, Ina (1999a), S. 215. 295 Ebd. 296 Ebd., S. 216. 297 Karg, Ina (1999a), S. 216 f.
40 noch: Welche Voraussetzungen müssen zunächst im Unterricht geschaffen werden, d.h. welches Vorwissen benötigen die Schüler, um ihnen überhaupt gegenstandsangemessenes Lesen und Leseverstehen der mittelalterlichen Texte zu ermöglichen, ja um die Texte ihres vermeintlich höheren Schwie rigkeitsgrades zu entlasten?298 Zweitens spielt kommunikative Kompetenz und historisches Bewusstsein eine ausschlaggebende Rolle: Literatur selbst soll in ihrem kommunikativen Charakter und ihrer kommunikativen Funkti on, unter Einbezug der historischen Dimension, begriffen werden. Die Texte sind folglich Anlass und Ursprung, aus dem heraus die Schüler ins Gespräch kommen. Die eigene Sicht auf die literarischen Texte, Welten und Hand lungskonstellationen, soll mit der Sicht anderer verglichen299 und am Dia logangebot mittelalterlicher Lyrik, im weiteren Sinne der Kunst, soll teilge nommen werden. Drittens kommt Diskursivität ins Spiel, d.h. Reflexion, nicht vom Lehrer aufgezwungene Interpretation. Die Schüler lernen nicht nur zu Verstehen, sondern auch »wie Verstehensprozesse initiiert werden und ablaufen«300. Schließlich darf in einem vierten Schritt die Verwendung in diskursiven Zusammenhängen, eine eigene produktive Rezeption, nicht fehlen: ein »Weiterdenken und Weiterentwickeln der Sinnangebote, die der Text enthält, die ihm zu entnehmen sind«, »in Verbindung mit der Reflexion auf sich, d.h. den Rezipienten selbst.«301 Wird aus methodischer Sicht häufig Einseitigkeit kritisiert, d.h. die Bevorzugung rein analytischer, den Inhalt ausblendender Unterrichtshandlungen auf der einen, und textferne Spekula tionen auf der anderen Seite. So stehen hier eine Vielfalt an Optionen zur Verfügung: genaue Analysearbeit an konkreten Texten, Recherche, Re konstruktionsarbeit, in diesem Sinne auch Informationsbeschaffung und verarbeitung, das Erkunden von Orten und Schauplätzen, die mit den be handelten Texten im Zusammenhang stehen, unterschiedliche Sozialformen (Einzelarbeit, Gruppenarbeit, Präsentationen durch ›Experten‹), Medien vielfalt (Texte, audio visuelle, neue Medien, PC, Internet), vor allem aber die klangliche und sprachliche Verarbeitung und Inszenierung von Lyrik. Ein solches Unterrichtskonzept ist ebenfalls »handlungs (Performanz von Lyrik) und produktionsorientiert (produktive Rezeption durch Verfassen eigener Texte)«302 – jedoch auf eine andere Art und Weise: Es greift bereits vorhan dene didaktische Verfahrensweisen auf, gibt ihnen aber eine neue Richtung und zwar indem es »die Sicht auf die Gegenstände auf eine wissenschaftlich vertretbare Grundlage stellt und daraus Unterrichtsmethoden ableitet.«303
298 Vgl. Karg, Ina (2006), S. 7. 299 Vgl. Karg, Ina (1999a), S. 219 f. 300 Karg, Ina (1999a), S. 222. 301 Karg, Ina (1998a), S. 73. 302 So soll an dieser Stelle auch der Vorwurf Jentzschs, Lehrkräfte, die mittelhochdeutschen Unterricht durchführten, würden sich innovativen Ansätzen gegenüber verschließen (vgl. Jentzsch, Peter (1996): Handlungsorientierte Begegnungen mit dem Mittelalter. Didakti sche Skizzen, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 45, H. 1 2, S. 44 66, hier S. 47), entkräftet werden. 303 Karg, Ina (1998b), S. 35.
41 Die im zweiten, praxisorientierten Teil dieser Arbeit (CUM I und II) ange wandten Methoden werden dementsprechend aus dem Besonderen des Un terrichtsgegenstandes abgeleitet:
Mittelalterliche Lyrik bedeutet…
…Alterität, bedingt methodisch die Betrachtung ihrer ästhetischen und stilistischen Form und Sprache. Dies impliziert, im Unterricht auch das ganz Offensichtliche, beispielsweise die Reime, Strophen oder Kanzonenform abzulesen. Formale Elemente zu kennen ist Grund und Orientierungswissen, dass es entdeckend zu lernen gilt. Es ist die Vo raussetzung dafür, dass die Schüler »Einsicht in die Besonderheit des ly rischen Sprechens als unalltägliches Sprechen zu allen Zeiten« erwerben und es sichert »den lyrischen Texten ihre gesellschaftliche Akzeptanz in wichtigen Situationen und an öffentlichen und privaten Schauplät zen«.304 …Performanz, bedingt methodisch die performative, körperliche und stimmliche Inszenierung und Aufführung von Lyrik, von im Text ange legten Rollen und sprachlichen Besonderheiten, im gesellschaftlichen Kontext ›Schule‹. …Klang, bedingt methodisch alle Verfahren zur akustischen Inszenie rung, z.B. den Gedichtvortrag, lautes Lesen, den Einsatz von Vertonun gen im Unterricht, eigene Vertonungen, d.h. musikalische Untermalun gen der Texte. …produktive Rezeption, bedingt methodisch die Verarbeitung und Re flexion des Unterrichtsgegenstandes sowie die Teilnahme an weiterfüh renden Diskussionen über diesen (Diskursivität). …gemeinschaftliches Erleben und Kommunikation, bedingt methodisch einen Horizontaustausch, Diskussion und Kommunikation unter den Schülerinnen und Schülern, z.B. in Gruppenarbeiten.
304 Karg, Ina (1998a), S. 191.
42 3. Walther in der Praxis (Sekundarstufe I und II) – Ei ne kritische Lehrwerks und Arbeitsmaterialanalyse
Im Hinblick auf den Entwurf zweier Curriculum Module für die Praxis stellt sich an dieser Stelle die Frage, welchen Stellenwert mittelalterliche Lyrik in Lehrwerken, Arbeitsmaterialien oder Lehrerbegleitheften einnimmt. Schließlich ist ein Argument für die Vernachlässigung der Thematik im Un terricht die fehlende Unterstützung der Lehrkräfte durch unzureichendes Arbeitsmaterial und mangelndes Interesse der Schul und Lesebuchverla ge.305 Vermisst werden laut Bein insbesondere »schnelle, aber zuverlässige Orientierungen, Abbildungen, Grafiken, Überblicke, die man für die Unter richtsreihe braucht.«306 Sind diese ›Überblicke‹ mittlerweile vorhanden und wenn ja, wirklich sinnvoll für die Praxis? Zudem soll sich herausstellen, ob gegebenenfalls auf bereits vorhandenes, qualitativ hochwertiges Unter richtsmaterial zurückgegriffen werden kann. Die aussagekräftigsten Ergeb nisse einer im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten tabellarischen Gegen überstellung und Analyse von Unterrichtsmaterialien für Schüler und Lehrer, inklusive aktueller Schüler und Lehrerbände von Sprach und Lesebüchern, sollen an dieser Stelle zusammengefasst werden:307 Grundsätzlich ließ sich, entgegen dem Argument mangelnder materieller Unterstützung, einiges an Material, über die Anfänge der sog. und viel kritisierten308 Stundenblätter309 längst Hinausgehendes, zum Thema ›mittelalterliche Lyrik im Unterricht‹ auffinden, so auch Lieder Walthers von der Vogelweide in sieben von acht betrachteten Werken. Insbesondere die vom Äußeren her sehr viel versprechend aufgemachten EinFach Deutsch Unterrichtsmodelle für Lehrer, hier mit den Titeln »Mit telalter«310, »Liebeslyrik«311 und »Das Nibelungenlied«312, die sowohl Infor
305 Vgl. z.B. Heckt Albrecht, Dietlinde H. (1997): Walther von der Vogelweide in deutschen Lesebüchern. Ein Beitrag zur germanistischen und schulischen Rezeptionsgeschichte Wal thers von der Vogelweide. Göppingen (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 629), S. 225. 306 Bein, Thomas (2004): ›Walther vermitteln in Schule und Hochschule‹: Walther von der Vogelweide. Schul und hochschuldidaktische Materialien zur Überlieferungs und Editi onsgeschichte. In: ders. (Hrsg.): Walther verstehen – Walther vermitteln. Neue Lektüren und didaktische Überlegungen. Frankfurt/Main (Walther Studien Bd. 2), S. 57 81, hier S. 57. 307 Vgl. tabellarische Gegenüberstellung im Anhang, S. 86 92. 308 Vgl. z.B. Reichelt, Ulla (1998): Lebenszeichen nach lautlosem Begräbnis: Mittelalterliche Literatur im Deutschunterricht. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Mittelalterrezeption, Jahrgang 45, H. 1 2, S. 30 42, hier S. 33. 309 Vgl. Stamer, Uwe (1991): Stundenblätter Literatur des Mittelalters: Ein Epochenaufriß. 2. Aufl. Stuttgart. 310 Vgl. Möller, Jürgen (2007): EinFach Deutsch Unterrichtsmodell. Mittelalter. Braunschweig, Paderborn, Darmstadt. 311 Vgl. Friedl, Gerhard (2009): EinFach Deutsch Unterrichtsmodell. Liebeslyrik. Braun schweig, Paderborn, Darmstadt. 312 Vgl. Sosna, Anette (2010): EinFach Deutsch Unterrichtsmodell. Das Nibelungenlied. Braun schweig, Paderborn, Darmstadt. Dieses Unterrichtsmodell wird aufgrund seiner kurzen Ein führung in die Sprache des Mittelhochdeutschen, die im Unterricht verwendet werden kann, betrachtet, nicht aufgrund der Nibelungenthematik.
43 mationsanteile für Lehrkräfte als auch Arbeitsmaterialien für Schüler enthal ten, weisen jedoch zahlreiche Mängel auf, die eine Eins zu eins Umsetzung im Unterricht bedenklich erscheinen lassen. Die Themenhefte zum Mittelal ter und zur Liebeslyrik fallen durch ihre starke Gegenstandsfixierung auf, die sich in Textinterpretationen erschöpf und über inhaltliches Wissen hinaus gehende, übergreifende Lernziele eines kompetenzorientierten Literaturun terrichts aus dem Blick zu verlieren scheint. So wird deutlich, dass sie sich für die Behandlung der Themen im Unterricht einsetzen wollen, der Mehr wert der jeweiligen Unterrichtsbausteine bleibt jedoch unklar: Was sollen die Schüler und Schülerinnen mit dem, was gelehrt wurde und was sie gegebe nenfalls gelernt haben, anfangen? Es liegt hier keine, von aktuellen Bil dungsstandards geforderte, Kompetenzorientierung vor. Darüber hinaus lässt sich vor allem im Rahmen dieser Arbeit die fachwissenschaftliche Un genauigkeit der Lehrer und/oder Schülerinformationstexte beanstanden, z.B. die Annahme, im hohen Sang verehre der Sänger eine bestimmte, per sönlich anwesende, verheiratete Frau.313 Ein weiterer negativer Aspekt, näm lich die starke Steuerung von Textinterpretation durch vorgegebene Tafelbil der, Gesamtinterpretationen als Kurzfassungen sowie durch das gegenei nander Ausspielen von Minnesangkonzepten wie ›hoher‹, ›niederer‹ oder ›ebener‹ Minne, überwiegt und bietet gefährlichen Raum, »überkom menen Vorstellungen und Klischees aufzusitzen.«314 Auch die vorrangig aus Interpretation und Analyse bestehenden Arbeitsaufträge führen dazu, dass die Schüler lediglich in einen Nachvollzug dessen geraten, was implizit an vorhandener Textinterpretation bereits in den Arbeitsanweisungen enthalten ist.315 Die Konzeption des Themenheftes »Liebeslyrik« korrespondiert stark mit den untersuchten Lese und Sprachbüchern deutsch.ideen316 und Deutsch- buch 9317 für die neunte Klassenstufe.318 Die Art des gewünschten Umgangs mit den Texten lässt sich hier anhand der Arbeitsaufträge sowie der Über schriften und Einleitungen zu Textgruppen eruieren. So wird Minnelyrik in die Thematik der ›Sehnsucht‹ und ›Liebe‹ eingebettet. Die mittelalterlichen Texte weisen eine besonders große Präsenz auf, wo Lehrpläne eine themati sche Ausrichtung einfordern. Die Lehrmaterialien verbinden die Minnesangthematik mit Liebesgedichten anderer literarischer Epochen, mit
313 Vgl. Möller, Jürgen (2007), S. 99. 314 Karg, Ina (1998a), S. 29. 315 Vgl. ebd., S. 30. 316 Vgl. Graf, Günter/Stammel, Hans (Hrsg.) (2007a): deutsch.ideen 9. Lese und Sprachbuch. SI – Allgemeine Ausgabe. Braunschweig, S. 190 201; sowie Graf, Günter/Stammel, Hans (Hrsg.) (2007b): deutsch.ideen 9. Lese und Sprachbuch für das Gymnasium. Informatio nen für Lehrerinnen und Lehrer. Braunschweig, S. 78 81. 317 Schurf, Bernd/Wagener, Andrea (Hrsg.) (2008a): Deutschbuch 9. Schuljahr: Sprach und Lesebuch. Gymnasium. Neue Ausgabe. Berlin, S. 247 268; sowie Schurf, Bernd/Wagener, Andrea (Hrsg.) (2008b): Deutschbuch 9. Schuljahr: Sprach und Lesebuch. Handreichun gen für den Unterricht. Neue Ausgabe. Berlin, S. 260 281. 318 In den gleichnamigen Deutschbüchern der Klassenstufen 5 bis 8 und 10 findet mittelalterli che Lyrik keine Beachtung.
44 der Thematik »Liebe, verliebt sein, unglückliche Liebe«, mit Erfahrungen der Pubertät, dem »Kribbeln im Bauch« oder der »Angst«, »abgelehnt zu werden«319. Genau diese individuelle Aneignung von mittelalterlichen Tex ten sollte jedoch kritisch betrachtet werden, will man einer vorschnellen Überwindung der Alterität mittelhochdeutscher Lyrik vorbeugen. Zudem sind mittelalterliche lyrische Texte überall dort vorhanden, wo Texte aus verschiedenen Epochen miteinander verglichen werden sollen.320 Als Orga nisationsformen werden alles in allem Längs und Querschnitte verwendet: ein Thema, ein Motiv wird über zeitgeschichtliche Grenzen hinaus verfolgt, wobei sich Verbindungen oder Unterschiede ergeben sollen. So übersichtlich und hilfreich derartige Gruppierungen für die Lehrkräfte sein mögen, so wenig erscheinen weiträumige und zu allgemeine, beliebig wirkende Längs schnitte durch die Jahrhunderte wertvoll für die Lerner. Malsch pointiert dies: Es
steht Fremdes Fremdem gegenüber, soll miteinander verglichen und voneinander unterschieden werden […]. Vordergründig inhaltlich wird sich ergeben: es war halt immer schon so mit Liebe und Natur, Krieg und Tod, nur das Ewiggleiche unterschiedliche ausgedrückt.321
Diese Arbeit plädiert im Gegenzug dafür, Gedichte nicht aus ihrem entste hungsgeschichtlichen Kontext zu isolieren, sondern poetologische Probleme des literarischen Lebens, z.B. Produktionsbedingungen, mit einzuschließen. Auch wenn gerade im Rahmen der Themenhefte »Mittelalter« und »Lie beslyrik« die Problematik der Überlieferung und Autorschaft mittelalterli cher Lyrik außen vor gelassen und methodisch äußerst einseitig im Rahmen von Analyse und Interpretation gearbeitet wird, so muss im Gegensatz zu den betrachteten Sprach und Lesebüchern positiv herausgestellt werden: Beide Modelle heben hervor, dass mittelalterliche Lyrik keine Form moder ner Erlebnislyrik darstellt. Während das EinFach Deutsch Konzept somit eine Parallele zur Erlebnislyrik vermeidet, tritt in den Sprach und Lesebü chern, auch als Folge ihrer oben beschriebenen thematischen Einbindung, eine Orientierung an Erlebnisästhetik entschieden hervor. Unterstützt wird diese Feststellung zudem durch methodisch primäre ganzheitliche, hand lungs und produktionsorientierte Ausrichtung, die den Schülern ohne jegli che Kontext und Hintergrundinformationen den lyrischen Inhalt als Liebes erlebnis und gefühl des Autors vermittelt. Erlebnisorientierte Interpretatio nen mittelalterlicher Lyrik erscheinen hartnäckig, ebenfalls in neuesten di daktischen Publikationen. So heißt es beispielsweise bei Jöst:
319 Pronold Günther, Friederike (2006), S. 71. 320 Vgl. auch Karg, Ina (1998a), S. 16 f. 321 Malsch, Gabriele (1987), S. 25.
45 Damit weist Walthers Gedicht den Weg zur Erlebnislyrik und eröffnet die Möglichkeit, die Schüler ein zweites Thema literarisch gestalten zu lassen: die Liebe. Auch die von Peter Jentzsch gestellte Frage ›Wo liegt Gegenwärtiges in Walthers Werk‹322, beruft sich auf die alte Legitimation, mittelalterliche Lyrik vermittle über zeitliche Werte. Karg bringt die Kritik an einem derartigen Konzept auf den Punkt:
Nichts scheint die Wichtigkeit der Texte so unwiderlegbar zu beweisen wie die Tatsache, daß ihnen anscheinend ewig Gültiges entlockt wer den kann. So wird immer wieder der Eindruck vermittelt, sie hätten Schülern auch heute noch etwas zu sagen oder was sie sagten, sei auf die Gegenwart mühelos und direkt zu übertragen.323
Positiv zu erwähnen sei für die Sekundarstufe I abschließend ein für den offenen Unterricht bzw. für die Freiarbeit angelegtes Unterrichtmaterial mit dem Titel Minne und Mäzene324 , das abwechslungsreiche Textmaterialien, eingebunden in Informationen zum kulturellen, gesellschaftlichen und lite rarischen Umfeld, die sich durchaus ergänzend verwenden lassen, bietet. Alle im Rahmen dieser Arbeit betrachteten ›Materialsammlungen‹ bieten zudem zahlreiche anschauliche Illustrationen aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), die im Unterricht verschiedentlich ein gesetzt werden können. So negativ die materiellen Ergebnisse für das angestrebte erste Curricu lum Modul ausfallen, so positiv sind die Unterrichtsmaterialien hingegen bezüglich des Themengebietes ›Sprachwandel‹ und ›mittelhochdeutsche Sprache bzw. Sprachstufe‹ für die Sekundarstufe II aufgefallen. Zum Ersten ist hiermit der thematische ›Baustein 1‹, »Mittelhochdeutsch – Eine kurze Einführung«325 , des EinFach Deutsch Unterrichtsmodells zum Nibelungen lied, der die sprachliche Entwicklung und Veränderung vom Mittel zum Neuhochdeutschen übersichtlich, knapp und gut verständlich für die Praxis aufarbeitet, gemeint. Zum Zweiten brilliert insbesondere der Oberstufen band Blickfeld Deutsch326mit einer starken Kompetenzorientierung, Metho denvielfalt und seiner fachwissenschaftlichen Fundiertheit, auch und vor allem im Lehrerband, der zahlreiche Hinweise auf einschlägige fachwissen schaftliche Sekundärliteratur gibt. Bereits zu Beginn des Kapitels wird ange
322 Jentzsch, Peter (1998b), S. 8. 323 Karg, Ina (1998a), S. 26. 324 Mittendorfer, Franz & Martina (1999): Minne und Mäzene. Neue Materialien zur Literatur des Mittelalters. Linz (maxi MUMMM). 325 Vgl. Sosna, Anette (2010, S. 16 26. 326 Vgl. Mettenleitner, Peter/Knöbl, Stephan (Hrsg.) (2003): Blickfeld Deutsch. Oberstufe. Schülerband. Paderborn, S. 84 115; sowie Mettenleitner, Peter/Knöbl, Stephan (Hrsg.) (2003): Blickfeld Deutsch. Oberstufe. Lehrerband. Paderborn, S. 132 185.
46 regt, mögliche Klischeebildungen zur Epoche des Mittelalters mit den Ler nern zu reflektieren, um sich ein differenziertes Mittelalterbild aufbauen zu können. Anhand der Überschriften: »Leitbilder mittelalterlichen Lebens«, »Der höfische Ritter als Minnesänger – Formen des Minnesangs«, »Walther von der Vogelweide als politischer Dichter – In der Spruchdichtung Kritik an einer gestörten Ordnung« sowie »Die Sprachen des Mittelalters«, wird deut lich, dass die Lyrik des Mittelalters in ihrem gesellschaftlichen Kontext wahrgenommen wird. Auch die in dieser Arbeit angestrebte Verbindung von Sprachwandel und Literatur (CUM II) ist hier bereits angedeutet. Im Kursthemenheft Deutsch, Sprache im Wandel: Sprachkritik und Ge- schichte327, findet ebenfalls eine wenn auch nur sehr oberflächliche Verbin dung zwischen der Lyrik Walthers und der Thematik des Lautwandels statt. Kenntnis vom Bewusstsein geschichtlichen Wandels wird hier versucht zu vermitteln, doch geht es dabei nicht um den Inhalt, nicht um den Text, son dern um einzelne sprachliche Erscheinungen, als deren »›Zeuge[n] der Ver gangenheit‹«328 der Text deklariert wird. Eine derartige Funktionalisierung, die die Textthematik zugunsten der Sprachbetrachtung völlig außen vor lässt, bedarf jedoch einer entschiedenen Erweiterung im Unterricht. Ein Lichtblick ist, dass mittelalterliche Lyrik in zahlreichen aktuellen Publikationen integriert und nicht aufgegeben ist. Die vorgeschlagene Art und Weise des Umgangs mit ihr lässt jedoch in den meisten Fällen zu wün schen übrig und bedarf der Verbesserung. Denn »Form und Funktion litera rischer Kommunikation können auf die Weise, in der Arbeitsbücher mit den Texten umgehen, nicht in den Blick kommen.«329
327 Erlach, Dietrich/Schurf, Bernd (Hrsg.) (2006): Kursthemen Deutsch. Sprache im Wandel: Sprachkritik und Sprachgeschichte. Erarbeitet von Lisa Böcker und Gerd Brenner. 2. Aufla ge. Berlin, S. 45 51; Erlach, Dietrich/Schurf, Bernd (Hrsg.) (2006): Kursthemen Deutsch. Sprache im Wandel: Sprachkritik und Sprachgeschichte. Handreichungen für den Unter richt. 2. Auflage. Berlin, S. 41 48. 328 Karg, Ina (1998a), S. 27. 329 Karg, Ina (1998a), S. 28.
47 4. Medieval (Slam) Poetry?! − Unterrichtseinheit für die Sekundarstufe I
4.1 Der Gegenstand und seine Bedeutung
Mittelalterliche Lyrik in ihren wohl bekanntesten Formen, dem Minnesang und Sangspruch, ist Schü lern der Sekundarstufe I gar nicht so fremd wie sie vielleicht zu Anfang denken mögen. Werden diese in ihrem historisch kulturellen und gesellschaftlichen Kontext betrachtet, so wird deutlich: Minnesang/Sangspruch ist Auffüh rungs , ja Performanzkunst und diese ist der Jugendkultur mittlerweile nur allzu gut bekannt: Rock und Popmusiker treten vor einem großen Publikum auf und ›performen‹ ihre Lyrics und auch in der Szene der Dichter treten meist junge Slammer auf sog. Poetry Slams gegeneinander an und ›battlen‹ um die Gunst des Publikums. Sie tragen ›Dichterschlachten‹ aus, betreiben genauer genommen literarische Kommunikation und produktive Rezeption, wie einst der wohl bekannteste mittelalterliche Dichter Walther von der Vo gelweide und sein Dichterkollege Reinmar der Alte. Kommunikation rekur riert also stets auf bereits Bekanntes und Texte stehen nie für sich alleine, sondern in impliziten oder expliziten Bezügen zueinander. So steht die Her ausforderung im Mittelpunkt, Texte grundsätzlich anders zu lesen, als Spiel mit Mustern, Bedeutungen, Sinnzuweisungen oder verweigerungen.330 Minnegedichte aus der Zeit des Mittelalters sind in Lehrwerken bestimm ter Klassenstufen durchaus enthalten. Doch genau hier liegt auch die Prob lematik, denn im Grunde ist es immer wieder das Gleiche: Liebe ist und war ein zentrales Thema von Lyrik. Über diese Erkenntnis soll der im Folgenden dargestellte Unterricht jedoch weit hinausgehen, indem die Jugendlichen erkennen, dass es Bedingungen für die Entstehung von Literatur gibt, die historisch verschieden sind – Minnelieder sind, dies gilt es zu beachten, nicht Ausdruck der Verarbeitung persönlicher Liebeserfahrungen mittelal terlicher Autoren. Der Deutschunterricht soll den Schülerinnen und Schü lern hier die Möglichkeiten bieten, einen genuinen Literaturunterricht zu erfahren, der ihnen vermittelt,
330 Vgl. Karg, Ina (1999a), S. 215.
48 dass Textkonstitution, Autorabsicht, Sprache, [und] Textform nicht selbstverständlich gegeben, sondern Bedingungen unterworfen sind – ebenso wie die Rezeption: einst, heute und zukünftig.331
Insbesondere Walthers umfangreiches Œuvre, die Varianz seiner Dichtkunst und das Überschreiten von Grenzen zwischen Minnesang und Sangspruch, bieten hierfür zahlreiche spannende Anknüpfungspunkte und eine Vielzahl einsetzbarer Texte für den Unterricht. Die Ich Prätention seiner Lyrik, die Geschichten zu erzählen scheint, die kommuniziert mit dem Publikum und mit Dichterkollegen seiner Zeit, ja die mit ihrem Klang fasziniert, ist eine literarästhetische Bereicherung jeden Unterrichts. Die literarische Kommu nikation Walthers und Reinmars, einer der wohl eindeutigsten Vertreter dessen, was als klassischer Minnesang zu bezeichnen ist, dokumentiert, »was für Literatur grundsätzlich – und letzten Endes für alle Texte – gilt oder geltend gemacht werden kann«332: Als »eine menschliche Äußerungsform« schreibt und mischt sie sich in Diskurse ein und hebt »in ihren spezifischen Repräsentationsformen für die Nachwelt« etwas davon auf, »was ihre einsti gen Produzenten und Rezipienten beschäftigt hat«333. In diesem Zusammenhang bietet sich die Gelegenheit, Schüler »die ›Ge genwart des Mittelalters‹«334 entdecken und selber inszenieren zu lassen, um ihnen einen neuen Zugang zu lyrischen Texten zu eröffnen: produktionsori entiert, indem die Schüler eigene Texte auf Basis produktiver Rezeption her vorbringen und handlungsorientiert, indem sie ihre lyrischen Texte schließ lich selber zum Klingen bringen, mehr noch, indem sie sie ›performen‹. »Die Mittel der Mündlichkeit (v.a. Gestik, Mimik, Sprechtempo und lautstärke) und der Rhetorik (Gliederung, Stilmittel, Adressatenorientierung) werden wichtig.« 335 Es wird einem modernen Lyrikbegriff Rechnung getragen wer den, der die Auswahl lyrischer Texte für den Deutschunterricht als gründlich zu überdenken herausstellt und die Gattung Lyrik um die Dimension der mündlichen Dichtung (oral poetry) erweitert und den Akzent nicht einseitig auf die Textanalyse verlagert. Somit soll kein steriles Faktenwissen vermittelt werden, sondern ein »Spiel mit den Verständigungs und Sinngebungsmus tern, dem man, wenn man die Texte liest, zuschaut und an dem man sich mit eigenen Versuchen beteiligen kann«, entstehen. Eben »ein Spiel, das Wissen schafft und ein Wissen, das Spiel überhaupt erst ermöglicht.«336 Eine in diesem Rahmen betrachtete Lyrikbehandlung eröffnet vielfache Chancen für den Unterricht. Auf der einen Seite trägt die Anbindung an das Phänomen Poetry Slam, d.h an eine »reale literarische Community« 337, zur
331 Karg, Ina (2006), S. 6. 332 Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 116. 333 Ebd. 334 Ebd. 335 Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008), S. 12. 336 Karg, Ina (1999a), S. 221. 337 Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008), S. 12.
49 Enkulturation bei und bezeugt die Aktualität und Lebendigkeit der lyrischen Gattung auf spannende Weise. Auf der anderen Seite wird die Wichtigkeit des kulturellen Erinnerns, des entdeckenden, zugleich aber auch kritischen Sichtens von Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart sowie die Notwen digkeit von historischer Rekonstruktionsarbeit, die die Schüler in kleinem Umfang leisten, deutlich. Ein so gedachter Deutschunterricht macht lyrische Texte diskutierbar und reflektierbar, gestaltet Unterricht als Kommunikati onsprozess und zeigt den Schülern – so die Hoffnung – Zugangsmöglichkei ten zu Texten jeder Vergangenheit auf.
4.2 Bezug zum Kerncurriculum
Die unterrichtspraktischen Überlegungen sind als inhaltli che/gegenständliche Konkretisierung der im aktuellen Niedersächsischen Kerncurriculum eingeforderten und ausgewiesenen Kompetenzen zu verste hen. Dies begründet sich in der Tatsache, dass das Niedersächsische Curricu lum für die Sekundarstufe I lediglich Literaturempfehlungen an die Hand gibt, diese jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, auch nicht in Bezug auf literarische Textarten. So ist Gattung Lyrik, diesbezügliche Au torennamen und Titel von einzelnen Gedichten oder Gedichtsammlungen, nicht in das Verzeichnis aufgenommen worden. Hier bedarf es folglich der Lückenschließung, die sich an spezifischen, vom Kultusministerium festge legten Kriterien für die Lektüreauswahl orientiert:
Die ausgewählten lyrischen Texte sind literarisch oder literaturge schichtlich bedeutsam und aufgrund ihres exemplarischen Charakters geeignet, die Orientierung der Schülerinnen und Schüler in der eigenen Kulturgeschichte zu begründen. Ausgewählt werden Texte der Tradition und der Gegenwart. Sie greifen Themen auf, die unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten den Schülerinnen und Schülern helfen, sich in der Welt und im sozialen Miteinander zu orientieren, Einsichten in die historische Dimension ih rer Lebenswirklichkeit zu gewinnen, Konflikte zu verstehen und ihre Identität zu entfalten. Die ausgewählten Texte stellen im Hinblick auf Inhalt und Form eine intellektuelle und emotionale Herausforderung dar. 338
Ein Umgang mit lyrischen Texten wird im Kerncurriculum der Unterstufe von Schuljahrgang 7 bis 10 vermerkt.339 Eine jeweils altersangemessene, an das Leistungsniveau und den Leistungsstand der Schüler angepasste Umset
338 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.) (2006b): Kerncurriculum für das Gym nasium. Schuljahrgänge 5 10. Deutsch. Hannover. Internet Beleg: http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_gym_deutsch_nib.pdf, Zugriff am 01.07.2010, S. 37. 339 Vgl. ebd., S. 25.
50 zung des Curriculum Moduls, beispielsweise durch das Vereinfachen oder Auslassen bestimmter Phasen, soll einen Einsatz in den unterschiedlichen Klassenstufen ermöglichen und auf die Flexibilität und den reichhaltigen Nutzen des Unterrichtsgegenstandes für die Sekundarstufe I hinweisen. Im Kontext von Minnesang und Spruchdichtung ist Walther in Niedersachen zumindest in den Rahmenrichtlinien der Sekundarstufe II vertreten und wird auch von anderen Bundesländern als Repräsentant des Minnesangs vorgeschlagen; Reinmar wird in Sachsen Anhalt, Saarland und Berlin in Literaturempfehlungen erwähnt.340
4.3 Mögliche Lernziele und geförderte Kompetenzen
Aus der oben entwickelten Sicht auf den Gegenstand lassen sich unter schiedliche Lernziele ableiten. Die Schülerinnen und Schüler können bei der Beschäftigung mit der Waltherschen und Reinmarschen Lyrik, mit Performanzpoesie, a) geschichtlich kulturelle Erkenntnisse, b) literarische Kompetenz und c) Einsicht in das Funktionieren literarischer und gesell schaftlich kultureller Kommunikation gewinnen:
a) In der Arbeit mit den Texten können die Kinder und Jugendlichen et was über die Historizität von Äußerungs , Aufführungs und Inszenierungs formen lernen, die vor allem in der mittelalterlichen Literatur »sehr viel stärker, als das für die neuere deutsche Literatur gilt, in außerliterarische Gebrauchs und Begründungszusammenhänge eingebunden« 341 sind. Als kulturgeschichtliches Phänomen um 1200 dient mittelalterliche Lyrik als literarisches Motiv, Definition und Selbstinterpretation einer höfischen Ge sellschaft, die Kulturträger ist und sich dem höfischen Fest und der Gesell schaftskunst verpflichtet.342 Ihr Öffentlichkeitscharakter, die Gebundenheit an Orte und zeremonielle Gelegenheiten, der Entwurf von Rollenfiguren als Ausdruck des offiziellen Miteinanders von Mann und Frau sowie die Insze nierung von vreude durch Gesang, 343 konkretisieren historischen Erkennt nisgewinn für die Schüler und charakterisieren mittelalterliche Lyrik. Walther und Reinmar sind Dichter einer vergangenen Zeit. Ihr gesell schaftliches Umfeld und ihre Kommunikationsformen werden durch ihre Texte offengelegt und damit der Möglichkeit geschichtlicher Veränderung ausgesetzt. Hier – und nicht etwa in der vermeintlichen Überzeitlichlichkeit des Liebesmotivs mittelalterlichen Minnesangs – muss der Schritt in Rich tung Gegenwart gemacht werden: »Lyrik hatte zu allen Zeiten einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert, und das ist bis in die heutige Zeit so geblie
340 Vgl. Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 146. 341 Röcke, Werner (1996): Alterität und Aktualität der mittelalterlichen Literatur. In: Mittei lungen des deutschen Germanistenverbandes, 43. Jg., H. 1, S. 70 74, hier S. 72. 342 Vgl. Karg, Ina (1998a), S. 171. 343 Vgl. ebd., S. 173; 175.
51 ben.«344 Die Übertragung der mittelalterlichen oralen Performanzpoesie auf heutige Slam Poetry, eingebettet in den gesellschaftlichen, kulturellen und medialen Kontext des Poetry Slams, soll dies bestätigen und ermöglichen.
b) Die Schüler sollen etwas von den literarischen Konventionen (z.B. Minnesang als Reden von der Beziehung zwischen Mann und Frau) und sprachlichen Besonderheiten (Vers, Strophenbau, Reimformen, sprachliche Topoi etc.) der Gattung Lyrik verstehen lernen. Die Beschäftigung mit Rei men, Rhythmus und Klangmustern trägt dabei zur Sprachsensibilisierung bei, innerhalb derer die Schüler die Einsicht gewinnen, dass sie es bei der ausgewählten Literatur mit Texten einer anderen Sprachstufe zu tun haben. Lyrik ist etwas Besonderes, findet in nicht alltäglichen Situationen statt und auch ihre Sprache hebt sich im differenztheoretischen Sinne vom alltags sprachlichen Code ab. Dies impliziert, auch die Formanalyse im Unterricht wiederzubeleben und zwar immer im Hinblick auf die Aufführungs und Klangeigenschaften des betrachteten Textes. So gilt es, die Schüler im Unter richt diese performative und klangliche Ebene selber erproben zu lassen. Darüber hinaus sollen die Schüler zu der grundlegenden Einsicht gelangen, dass das gattungstypische lyrische Ich nicht mit dem Autor gleichzusetzen ist, auch wenn Walther, und dies zeichnet die Besonderheit seiner ›Ich‹ geprägten Lyrik aus, seinem Publikum oftmals eine Verschmelzung beider Rollen suggeriert.
c) Literaturgeschichtlich und theoretisch lässt sich mittelalterliche Lyrik, insbesondere Minnesang, in einer Zeit verorten, in der es immer mehr um Emanzipation, damit einhergehend aber auch um Legitimation weltlicher Literatur ging. 345 »Die Rolle des Minnesangs ist dabei die der schon etablier ten Gattung, auf die man sich berufen kann. Minnesang hat den poetologi schen Diskurs vorbereitet und gibt seine Richtung an.«346 In diesem Sinne wird mittelalterliche Lyrik als ein System literarischer Kommunikation ver mittelt, indem Wissen um Form und Tradition das Gelingen sichert.347 Die Schüler sollen dieses System an den Gemeinsamkeiten zwischen den mittel hochdeutschen Texten für sich entdecken und den ›Code‹ mittelalterlicher Lyrik erkunden. Walther, der nuanciert und pointiert, und auch Reinmar greifen auf ein bestimmtes Repertoire um 1200 (z.B. Minnekanzone, Spruch), d.h. auf Redeweisen des Kommunikationssystems mittelalterlicher Lyrik zurück und betreiben somit produktive Rezeption.
344 Karg, Ina (1998a), S. 171. 345 Vgl. ebd., S. 169. 346 Ebd. 347 Vgl. ebd., S. 165.
52 Verständigung heißt nun, daß man mitmacht bei diesem artistischen Spiel im verständnissichernden Rahmen von Formen und Traditionen, und daß man dabei Akzente setzt, um etwas sagen zu können.348
So stellen beide Dichter ihre literarische Kommunikationskompetenz unter Beweis und werben am Hof um Sozialprestige. Das Aufdecken der literari schen Kommunikation, hier unter der wissenschaftlichen Überschrift der ›Reinmar Walther Fehde‹, soll den Schülern Spaß machen und sie dazu befähigen, selbst am Literaturdiskurs, an literarischer Kommunikation teil zunehmen. Die Konfrontation mit produktiver Rezeption bis in die Gegen wart hinein dient hierbei dem Erkenntnisgewinn. Das Konzept verfolgt zu gleich das Ziel, die Schüler mit der Kompetenz auszustatten, sich später selb ständig Texte erarbeiten zu können und Interesse für ihre literarische und kulturelle Umgebung zu entwickeln. Seit dem »Mythos Pisa«349 ist neben der Formulierung von Lernzielen der Kompetenzbegriff ein zentraler Begriff der Bildungspolitik geworden und soll auch an dieser Stelle zusätzliche Beachtung finden. Mit Blick auf das Kerncurriculum Deutsch der Jahrgangsstufen 5 bis 10 werden innerhalb des Curriculum Moduls alle vier Basiskompetenzen des Faches Deutsch geför dert, 350 wobei der Schwerpunkt den Lernzielen entsprechend auf den Kom petenzen »Lesen – mit Texten und Medien umgehen« sowie auf »Sprechen und Zuhören« gelegt wird, gefolgt von den Kompetenzen »Schreiben« (Schwerpunkt unter 4.4.4) und »Sprache und Sprachgebrauch untersu chen«.351 Die vorrangig geförderte ›Großkompetenz‹ »Lesen – mit Texten und Medien umgehen« beinhaltet, die Lesekompetenz sowie die Lesefreude und das Interesse der Schüler an der Gattung Lyrik kontinuierlich zu fördern und zu steigern. 352 Die Begegnung mit den ausgewählten lyrischen Texten dient gleichzeitig der Begegnung mit einer anderen Kultur und anderen ge sellschaftlichen Konventionen, hier denen der mittelalterlich höfischen Kul tur. Dies trägt neben der Identitätsbildung zum Weltverstehen und zur Aus bildung kultureller Kompetenz bei. Auf der Ebene der Methodenkompetenz sollen die SuS über Techniken und Verfahren zur Erschließung von Gedich ten verfügen, auf der Ebene der Sachkompetenz zunehmend ein Grundla genwissen über mittelalterliche Textformen erwerben. Dies soll die Lerner »zu einem zielgerichteten und angemessenen Umgang mit Inhalt, Sprache und Struktur sowie deren historischer Dimension«353 befähigen. Die Schüle rinnen und Schüler sollen sowohl Lyrik der Gegenwart als auch der literari
348 Karg, Ina (1998a), S. 165 f. 349 Vgl. Karg, Ina (2005): Mythos Pisa: vermeintliche Vergleichbarkeit und die Wirklichkeit eines Vergleichs. Göttingen. 350 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (2006b), S. 12. 351 Eine detaillierte Auflistung aller relevanten Teilkompetenzen in Anlehnung an das Kerncur riculum befindet sich im Anhang, S. 93 98. 352 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (2006b), S. 12 353 Ebd., S. 23.
53 schen Tradition kennen, um in der Lage zu sein, »die ästhetische Qualität anspruchsvoller Texte zu beurteilen und wertzuschätzen sowie Texte in grö ßere Zusammenhänge einzuordnen.« 354 Durch den Umgang sowohl mit schriftlichen als auch auditiven Medien (hier: Slam Auftritt) setzen sie sich mit den spezifischen Gestaltungsmitteln und Wirkungsweisen der Gattung Lyrik auseinander und gewinnen aus alten und neuen Medien »Informatio nen, beurteilen diese kritisch und setzten sich mit spezifischen Gestaltungs mitteln und Wirkungsweisen der Medien auseinander.«355 Schließlich wird die im Kerncurriculum vernachlässigte soziale Kompetenz durch die ge meinsame Konstruktion von Sinn und das Einüben eines literarischen Ge sprächs im Plenum und in Kleingruppen begünstigt. Gerade bei der Behandlung von Lyrik liegt es zudem nahe, dass das Hör verstehen und auf diese Weise entwickelten Vorstellungen genauso wertvoll für die Schüler sein müssen wie das Leseverstehen. 356 Diesem Gedanken trägt auch die Inszenierung eines eigenen Poetry Slams im Klassenraum Rechnung.
Das Überarbeiten eigener Texte sowie das Vorlesen und Vortragen sind übertragbare Kompetenzen: Auch für Texte aus der Litera tur(geschichte) kann man eine ›Stimme‹ und einen Rhythmus des Vor trags finden, besonders dann, wenn sie wie die mittelalterliche Dich tung ebenso wie die aktuelle Slam Poesie für den mündlichen Vortrag gedacht sind.357
Das Vortragen von Texten, das im Deutschunterricht lange Zeit zu den ver nachlässigten Fähigkeiten gehörte, »erlebt hier eine kulturelle Renais sance«358. Die sog. »Praxis des hörenden Lesens«359 macht die Schüler im Unterricht auf mögliche Sprechgestaltungen und Sprechweisen aufmerk sam.360 So wird nicht nur der rezeptive, sondern auch der produktive, kom munikative Aspekt von Sprache und Literatur gefördert. Spezifische Fähig keiten, die mit dem innovativen Konzept der Lyrikvermittlung mittels Poetry Slam erworben werden, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
»Der in Auseinandersetzung mit eigenen, noch nicht bühnenreifen Ent würfen entwickelte kritische Blick auf Sprache und Gestalt kann […]
354 Niedersächsisches Kultusministerium (2006b), S. 23. 355 Ebd. 356 Vgl. hierzu Abraham, Ulf (2008): Lesekompetenz, literarische Kompetenz, poetische Kom petenz. Fachdidaktische Aufgaben in einer Medienkultur. In: Rösch, Heidi (Hrsg.): Kompe tenzen im Deutschunterricht. Beiträge zur Literatur , Sprach und Mediendidaktik. 2. überarb. und erw. Aufl. Frankfurt am Main, S. 13 25, hier S. 22. 357 Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008), S. 9. 358 Ebd., S. 14. 359 Lösener, Hans/Siebauer, Ulrike (2009): Sprechgestaltung in Gedichten entdecken. Eine Unterrichtsanregung zum hörenden Lesen von Gedichten. In: Praxis Deutsch 213, S. 23 25, hier S. 23. 360 Vgl. ebd., S. 24.
54 auch dem Feedback zugute kommen, das man lernt anderen Schreibern zu geben, schriftlich und mündlich. Kommunikative Textstrukturen, wie sie für das Argumentieren und Er örtern, das Schildern und Appellieren gebraucht werden, lassen sich in poetischen Redesituationen von Slam Texten studieren und selbst ent wickeln. […] Besondere Bedeutung kommt in neueren Lehrplänen dem Präsentieren zu […]; auch dafür stellt Slam eine fruchtbare Übungssituation dar.«361 Anschlusskommunikation, eine Debatte oder Auseinandersetzung über das Vorgetragene findet statt und ist sozial bedeutsam für die Schüler. Selbst verfasste Texte bieten Raum für Emotionalität und Identifikation. Kooperatives Schreiben fördert die soziale Interaktion, man unterstützt sich in der Anwendung des Wortschatzes, beim Aushandeln sprachlicher Bilder, bei der Planung der Performance und der Textaufteilung für den Vortrag. Die audiovisuellen Medien knüpfen an die Rezeptionsgewohnheiten der Schüler an.362 Die Verbindung von Text und Performance wird hervorgehoben. Auf führung und Selbstbewusstsein hängen hier ganz stark voneinander ab,363 und können dadurch zur Persönlichkeitsbildung beitragen. Mit dem Curriculum Modul werden zum einen Kompetenzen erworben, die für den Deutschunterricht zentral sind, dies schließt auch fachspezifi schen Wissenszuwachs mit ein, zum anderen werden aber auch bereichs übergreifende Kompetenzen gefördert, die in vielen anderen Bereichen an gewendet werden können. Eine Verbindung von Sach , Anwendungs und Selbstkompetenz (eigenverantwortliches Handeln und Arbeiten) findet statt:364 Erwerb eines ›Handwerkszeugs‹ zur Gedichtanalyse, die Fähigkeit zur Informationsbeschaffung und verarbeitung, die begründete Bewertung literarischer Qualität, das Schreiben und Überarbeiten eigener Texte, der Vortrag und die szenische Umsetzung vor einem Publikum, die Deutung von Texten mit Hilfe von Inszenierungsmöglichkeiten sowie Teamfähigkeit und Umgang mit Texten und Medien, insbesondere dem Internet (»computer literacy« 365) und deren kritische Reflexion.366 Abraham zeigt deutlich auf, dass literarische Rezeptionskompetenz (Tex te »verstehen«), literarische Handlungskompetenz (Kommunikation) sowie
361 Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008), S. 12. 362 Vgl. Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008), S. 14. 363 Vgl. Ruppel, Lars/Rabsahl, Sebastian (2008): Performance und Selbstbewusstsein. Mit gezielten Übungen den Vortrag eigener Texte vorbereiten. In: Praxis Deutsch 208, S. 21 23, hier S. 21. 364 Vgl. Hochholzer, Rupert (2006): Von der Recherche zur Interaktivität. Lyrik und Internet im Deutschunterricht. In: Franz, Kurt/ders. (Hrsg.): Lyrik im Deutschunterricht. Grundla gen – Methoden – Beispiele. Hohengehren, S. 25 33, hier S. 28 f. 365 Vgl. ebd., S. 26. 366 Vgl. Aden, Almut (2008), S. 1; Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 116.
55 literarisch ästhetische Kompetenz (Formen und Gestalten »erkennen«) 367 grundlegend zu erwerbende Kompetenzen darstellen, die zur kulturellen Teilhabe und kulturellen Kommunikation, zur »poetischen Kompetenz«, befähigen.368 Dabei haben alle Medien
prinzipiell das Zeug zur Poesis, bis hin zum Videoclip und zum Poetry Clip, wie ihn die deutschsprachige Poetry Slam Bewegung derzeit her vorbringt. Und sie alle ermöglichen, auf je spezifische Art, Anschluss kommunikation, Alteritätserfahrung und ›Übergänge‹, auch in einem neben dem tiefenpsychologischen Sinn zweiten, nämlich entwick lungspädagogischen: Sie können beim Aufwachsen helfen.369
Das Ziel einer umfassenden literarischen Kompetenz sei schließlich erreicht, »wenn die Fähigkeit hinzutritt, literarische Einsichten und Erfahrungen mit anderen LeserInnen auszutauschen – in Gespräch und Diskussion, aber auch in Inszenierung und eigenem Entwurf (Schreiben).« 370 Diesem Ziel ist das hier entwickelte Curriculum Modul verpflichtet, mit einem Unterricht, der Wissensaneignung und Kreativität, ebenso wie die Entwicklung kommu nikativer, literarischer und kultureller Kompetenzen miteinander verbindet.
4.4 Durchführung der Unterrichtseinheit in aufeinanderfolgen den Phasen
4.4.1 Zum Ersten: Textbegegnung, Hintergrunderarbeitung
Eine erste unbefangene Textbegegnung wird den Schülern ermöglicht, indem die ausgewählten mittelhochdeutschen Texte der ›Fehde‹ Thematik inklusive der Illustrationen Walthers und Reinmars aus dem Codex Manesse bereits vor Beginn der Unterrichtseinheit an einer Stell oder Pinnwand im Klassenraum aufgehängt und zur Ansicht zugänglich gemacht werden. Auf diese Weise wird den Lernern zunächst ein persönlicher und unvermittelter Zugang erlaubt, der Neugier weckt. Zu Beginn der Sequenz versammeln sich alle Schüler um die Texte und Bilder. Diskutiert werden die Zugangsvoraus setzungen der Lerner. Sie äußern hier ihre ersten Assoziationen und Gedan ken zu den Texten und Bildern (z.B. Texte »sehen aus« wie Gedichte371),
367 Vgl. Schaubild bei Abraham, Ulf (2008), S. 21. 368 Vgl. ebd. 369 Abraham, Ulf (2008), S. 20. 370 Ebd. 371 An dieser Stelle bietet sich insbesondere im Literaturunterricht der unteren Klassenstufe an, einen kurzen Exkurs zur Gattung Lyrik einzuschieben: Was wissen die Schüler bereits über die Gattung Lyrik? Welche formalen sprachlichen Mittel/Stilmittel sind schon bekannt? Als Ergänzung zur Recherchehausaufgabe kann den Schülern an dieser Stelle auch ein von der
56 rätseln beispielsweise über die bildlichen Darstellungen (Wer ist dargestellt? Wie ist/sind die Personen/Figuren dargestellt?), stellen Vermutungen über die in den Texten verwendete Sprache (älteres Deutsch?) und über die ge schichtliche Entstehungszeit an. Fällt der Begriff des ›Mittelalters‹ in diesem Zusammenhang, so kann von den Schülern erfragt werden, was sie über diese Zeit bereits wissen, mit welchen Vorstellungen und welchem Vorwissen sie an die Texte herangehen. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Lerner auf diese Weise erkennen, welche Wissensbestände bzw. Informationen ih nen fehlen, um das, was sie sehen auch näher verstehen und verorten zu können. Es geht hier um die Entwicklung eines Problembewusstseins des nur vermeintlichen Verstehens der relevanten Texte. Die Schüler entwickeln anhand der Illustrationen und mittelhochdeutschen Texte eigenständig Themengebiete, die es zu erarbeiten gilt. Die Lehrkraft notiert die Anregun gen der Schüler auf Karten in Form von Fragen, denen nachgegangen oder konkreten Arbeitsaufträgen, die ausgeführt werden sollen und ergänzt, falls nötig, weitere wichtige Vorkenntnisbereiche und zusätzliche Informationen, die erkundet werden sollen. Die Recherche wird in Form einer arbeitsteiligen Recherche (5 Gruppen) zunächst innerhalb der schulischen Gegebenheiten (z.B. Schulbibliothek, Internetzugänge etc.) begonnen und als Hausaufgabe zu Ende geführt. Die Informationsbeschaffung und verarbeitung schlägt dabei zugleich eine Brücke zwischen dem Klassenzimmer und außerschuli schen Lernorten. Antizipierte Themengebiete und Arbeitsaufträge können lauten:372
1. Sprache: Erforscht den Begriff ›Mittelhochdeutsch‹, was versteht man darunter und welche sprachgeschichtlichen Informationen erhältst du? Wähle dir ein bekannt vorkommendes und ein völlig fremd klingendes Wort aus den mittelalterlichen Gedichten aus und recherchiere: Was be deuten die Wörter (damals und/oder heute)? 2. Literatur und Musik: Informiere dich über die Dichterpersönlichkeiten Walther von der Vogelweide und Reinmar von Hagenau, auch Reinmar der Alte genannt. Was kannst du darüber hinaus über die Gattungen Minnesang und Sangspruch in Erfahrung bringen? Finde heraus, was mit literarischen Formen wie ›Kanzone‹ oder ›Stollen‹ gemeint und was über die Musik hochmittelalterlicher Zeit bekannt ist. 3. Geschichte: Informiere dich (z.B. auch im Rahmen des Geschichtsunter richts) über den Literaturbetrieb und die Zeit des Mittelalters, gehe da bei insbesondere den folgenden Stichpunkten nach: ›Stauferzeit‹, ›Mä zenatentum‹ (Rolle der Mäzenen) und ›Ministerialitätssystem‹. 4. Überlieferung: Was versteht man unter einer Handschrift? Sammele Informationen, Bilder und Materialien zur Manesse Handschrift. Über
Lehrkraft ausgewähltes ›Lyriklexikon‹ bzw. Merkblatt, das sich die SuS zur Wiederho lung/Einführung anschauen sollen, mit nach Hause gegeben werden. 372 Anregungen dazu auch bei Karg, Ina (1998a), S. 198 f.
57 lege: Warum ist gerade diese Handschrift so bekannt und berühmt, wa rum ist sie wichtig im Hinblick auf mittelalterliche Literatur? 5. Spuren des Mittelalters: Erkunde Spuren des Mittelalters vor Ort, d.h. Überreste mittelalterlichen Lebens in deiner Umgebung: Gebäude, Kunstwerke, Inschriften, Namen von (wichtigen, bekannten) Persön lichkeiten etc. Es könnte dir helfen, deine Eltern, Freunde oder Bekann ten zu befragen, dich in Museen oder Bibliotheken zu erkundigen, im In ternet zu recherchieren und natürlich auch im Geschichts , Geographie oder Kunstunterricht nachzufragen. Zusatzaufgabe: Gibt es Orte, an denen man noch heute auf Spuren Wal thers von der Vogelweide oder Reinmars des Alten stoßen kann? Wenn ja, in welcher Art und Weise?
Die Ergebnisse der Schüler werden zunächst in Gruppen zusammenge tragen, bereits »das Vorstellen und Darstellen dessen, was gelesen, gesam melt, reflektiert und diskutiert wird, ist […] eigenes Sprachhandeln.«373 An schließend werden die Werke, z.B. Kurzberichte, Bilder, Mind Maps etc., präsentiert und mit der jeweiligen Recherchekarte zusammen im Klassen zimmer aufgehängt. Auf diese Weise entsteht ein erstes ›Mittelalterbild‹. Eine für den nachfolgenden Leseverstehensprozess wichtige Grundlage ist somit während der gesamten Unterrichtseinheit optisch präsent, sodass auf Informationen zurückgegriffen und diese reflektiert werden können. Wichtig wäre es für die Schüler beispielsweise zu wissen, dass historische Fakten über mittelalterliche Dichter so gut wie gar nicht existieren, ja dass der kon kret bestimmte, moderne Autorbegriff unserer Zeit in Bezug auf mittelalter liche Literatur einer Unbestimmtheit und Vagheit weichen muss. Auch mög liche Mittelalter bzw. Epochen Klischees sollten problematisiert werden: »Hier ist zu fragen, an welches Mittelalterbild bei den Jugendlichen anzu knüpfen ist.«374
4.4.2 Zum Zweiten: Textkenntnis & literarisches ›Fehden‹ Spiel
Vor diesem Hintergrund soll mit der Textarbeit in Form eines »entde ckenden Lernens«375 begonnen werden. Gruppen werden entweder ausgelost oder mit anderen spielerischen Mitteln eingeteilt. Jede Gruppe bekommt ein bestimmtes Textkorpus an die Hand, mit dem sie sich beschäftigen soll. Alle
373 Karg, Ina (1998b), S. 35. 374 Schmidt, Siegrid (2001), S. 274. 375 Der Begriff wurde von Jerome Bruner geprägt und ist im pädagogisch didaktischen Diskurs anerkannt. Vgl. Bruner, Jerome S. (1961): The act of discovery. Harvard Educational Review, 61, S. 21 32; ebd. (1981): Der Akt der Entdeckung. In: Neber, Heinz (Hrsg.): Entdeckendes Lernen. Weinheim, S. 15 44.
58 Schüler erhalten alle Texte, beschäftigen sich in den Gruppen jedoch zu nächst mit jeweils einem bestimmten Text: Gruppe A: Ein man verbiutet ein spil âne pfliht (Walther) Gruppe B: Ich wil allez gâhen (Reinmar) Gruppe C: Ich wirbe umbe allez, daz ein man (Reinmar) Gruppe D: Ir sult sprechen willekommen (Walther) Gruppe E: Swaz ich nu niuwer maere sage (Reinmar) Gruppe F: Wol ime, daz er ie wart geboren (Reinmar) Gruppe G: Lange swîgen des hât ich gedâht (Walther) Gruppe H: »Leopoldston« (Walther)
Allen Texten ist eine entsprechende Übersetzung und Aussprachekonventio nen bzw. Hinweise für den mittelhochdeutschen Text hinzugefügt, sodass Sprachbarrieren überwunden werden können und Verständnis sich einstel len kann. Die reiche Anzahl von Gruppen soll zur bewussten Arbeit in Klein gruppen von ca. drei Schülern führen, die eine erste intensive Textarbeit und Kommunikation erleichtert. In einem ersten Schritt gilt es, die Lerner ihr Textverständnis bzw. den innerhalb des jeweiligen Textes vorliegenden Gedankengang beschreiben zu lassen, um dem Text so einen Sinn zu geben. Im Folgeschritt wird die Grup penarbeit schließlich zu einer Form des Gruppenpuzzles376 ausgeweitet, das den kommunikativen Charakter und die kommunikative Funktion der Texte unter Einbezug ihrer historischen Dimension herausstellt. Jeweils ein Schü ler der Stammgruppe A tut sich mit jeweils einem Partner aus den Stamm gruppen B und C zusammen. Des Weiteren tun sich die Lerner der Gruppen D, E und H sowie F und G auf die gleiche Art und Weise zusammen, sodass am Ende acht neue, sogenannte Expertengruppen, entstehen. An dieser Stel le wird bereits ersichtlich, warum den Schülern jeweils alle Texte als Material zur Verfügung gestellt werden: In den Gruppen stellen sich die Schüler ihre Texte gegenseitig vor, um diese in einem zweiten Schritt genauer miteinan der vergleichen zu können. Die Methode des Gruppenpuzzles führt dabei die Texte zusammen, die durch Intertextualität und Kommunikation miteinan der verbunden sind, und zeigt dadurch überhaupt erst die Gemeinsamkeiten auf, die Anlass dazu geben, die Texte in eine Reihe zu stellen. Die kommuni kative Funktion mittelalterlicher Lyrik sowie die intertextuellen Bezüge zwi schen Walther und Reinmar sollen auf diese Weise von den Schülern ent deckt und inhaltlich am Beispiel der Fehden Thematik verfolgt werden. So steht am Ende die Erkenntnis: Walther und Reinmar haben miteinander kommuniziert.
376 Das Gruppenpuzzle wird nach amerikanischem Vorbild auch Jigsaw Methode genannt und geht auf Elliot Aronson zurück. Vgl. z.B. Aronson, Elliot (1978): The jigsaw classroom. Be verly Hills. Eine übersichtliche Darstellung und Auflistung von Vor und Nachteilen der Gruppenarbeit und Gruppenmixverfahren findet sich z.B. bei Mattes, Wolfgang (2002): Me thoden für den Unterricht. 75 kompakte Übersichten für Lehrende und Lernende. Pader born, S. 32 38.
59 Die jeweiligen Expertengruppen präsentieren ihre Ergebnisse nacheinan der (1. A/B/C, 2. D/E/H, 3. F/G) im Plenum, d.h. welche Texte sie betrachtet und verglichen haben, wovon diese handeln, ob und wie sie sich aufeinander beziehen. Die Gruppen können sich dabei gegenseitig ergänzen, korrigieren und Fragen stellen. Wichtig ist jedoch, dass sich zu den drei Textgruppen jeweils ein durch den Lehrer unterstützend geführtes Unterrichts bzw. lite rarisches Gespräch ergibt. Methodisch sind hiermit keine fragend entwickelnden Schritte gemeint, sondern ein Gespräch, das von den schüler eigenen ›Deutungen‹ ausgeht, die von der Lehrkraft jedoch durch entspre chende Impulse (Fragen nach den Konstellationen mittelalterlicher Lyrik und deren Funktionen) weitergeführt und präzisiert werden, um mittelalter liche Literatur auf eine verantwortbare wissenschaftliche Basis zu stellen. Der Erkenntnisgewinn der Schüler liegt in der kumulativ aufeinander auf bauenden, vergleichenden Besprechung der Texte, deren performativer Cha rakter (Lyrik als Werbelyrik) deutlich werden soll. Die Texte sind also wäh rend der ganzen Zeit über Anlass und Ursprung, aus dem heraus die Schüler ins Gespräch kommen. Walther, wer auch immer das war und sich hinter den mageren Lebenszeugnissen verbirgt, steht dabei im Mittelpunkt. Schließlich sollten die Schüler bemerkt haben, dass es primär Walther ist, der sich auf Reinmar und dessen Texte bezieht. So gilt es, anhand der Lieder die Funktion der produktiven Rezeption Walthers zu besprechen: Walther betreibt Werbung in eigener Sache (deshalb: polemische, parodistische Be züge auf Reinmar, ›Mattsetzung‹ Reinmars durch dessen eigene Dame (vgl. Schachlied)). Eine detaillierte Betrachtung 377 des sog. »Preisliedes« 378 in Rückbezug auf Reinmars Swaz ich nu niuwer maere sage verdeutlicht diese Sichtweise. Er preist sich und seine Kunst (Anfang und Ende des Preisliedes), gibt eine »›Kostprobe‹«379 seiner Fähigkeiten im Mittelteil des Liedes, der den traditionellen Frauenpreis im Minnesang widerspiegelt und positioniert sich im literarischen Diskurs und den Konventionen seiner Zeit, indem er auf Reinmar Bezug nimmt, sich zugleich jedoch von seinem Dichterkollegen abgrenzt, um sich selbst in ein besseres Licht zu rücken. Das lyrische Ich präsentiert hier ein stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein und verknüpft das Ringen um die Gunst des Publikums mit einer Aufforderung zur Entlohnung. Darüber hinaus wird ein grundlegendes Merkmal dieser Lyrik deutlich, vor allem auch in Bezug auf Reinmars Preislied, das beispielhaft aufzeigt, was als »klassischer Minnesang« 380 gelten kann: In der mittelalterlichen Gesell schaft erfährt das Verhältnis von Mann und Frau eine gesteigerte Aufmerk
377 Vgl. auch Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Chritiane (2006), S. 131 ff. 378 Die Bezeichnung resultiert aus der Walther Rezeption des 19. Jahrhunderts, die ihn als Dichter der Deutschen im Zuge des Nationalgedankens stilisierte (vgl. z.B. Hoffmann von Fallerslebens Deutschlandlied). Viel passender wäre hier allerdings der Begriff »Werbelied«, der mit einer konsensfähigen Interpretation bzw. Auffassung des philologischen Diskurses einhergeht. 379 Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 131. 380 »[E]s ist das Paradox von liebe unde leit, […] das ausgemalt wird, das den Text konstituiert« (Karg, Ina (1998a), S. 165).
60 samkeit. Minnesang ist Reden von der Liebe, genauer genommen »Reden von der Beziehung zwischen Mann und Frau.«381Zweitens ist Minnesang Rollenlyrik und Aufführungskunst.
Jeder lyrische Text konzipiert […] nicht Personen, sondern Rollen: das lyrische Ich ist Grundelement lyrischen Sprechens. Der Gegenstand, sei er nun Liebespartnerin, die Liebesbeziehung oder was auch immer, ist zunächst nie ein Gegenstand der Wirklichkeit.382
Das lyrische Ich kann dabei sowohl männlich als auch weiblich sein, ritter oder vrouwe können zu Wort kommen. Es lässt sich deduzieren, dass mittel alterliche Lyrik durch ihre Performativität, ihren Aufführungscharakter strukturiert, konstituiert und gekennzeichnet wird. Die gewonnenen Erkenntnisse werden schließlich vor dem an der Stell oder Pinnwand dokumentierten Hintergrund reflektiert und vertieft: z.B. mit weiteren Gedanken zur Vermischung der Gattungen Minnesang und Sangspruch, zur mittelalterlichen Lyrik als Auftragskunst, zur Konkurrenzsi tuation der Berufsdichter an den Höfen und dem Literaturbetrieb, innerhalb dessen die Lieder entstanden sind. Die mittelalterlichen Texte beziehen sich auf die höfische Festgesellschaft und ihr Leben, sie repräsentieren den Sym bolwert des Festes, den idealen Anspruch einer adligen Gesellschaft, die im Gespräch auf den Minnesang rückbezogen und mit den bildlichen Darstel lungen der Manesse in Zusammenhang gebracht werden soll (Kleidung, Hal tung und Darstellung der Sänger, gemalte Hintergründe etc.). Neben der inhaltlichen Erkundung der Texte soll auch die lyrische Form, die zu ihrem spezifischen Klang beiträgt, entdeckt werden. Da der Performanzcharakter mittelalterlicher Lyrik bereits auf die zentrale Bedeu tung des Gedichtvortrags für den Literaturunterricht hinweist, wählen sich die Schüler in ihren Gruppen jeweils ein Lied aus, das nach einer Vorberei tungsphase383 von ihnen laut vorgetragen wird, wenn möglich384 auf mittel hochdeutsch (und ggf. mit unterschiedlichen Sprechern, den im Text ange legten Rollen Rechnung tragend), um den spezifischen Klang der Lyrik, der einer inhaltlichen Übersetzung meist zum Opfer fällt,385 zum Ausdruck brin gen zu können:
381 Karg, Ina (1998a), S. 163. 382 Ebd., S. 159. 383 Zum Beispiel das gemeinsame Überlegen in Kleingruppen, wie die Gedichte beim lauten Vorlesen wirkungsvoll präsentiert werden können, mit welcher Lautstärke, Schnelligkeit. Dies impliziert ein Nachdenken über Reimschemata, Rhythmen, Enjambements oder Zei lenstile, Pausen, Stimmungen, d.h. ästhetische Effekte eines Gedichts. 384 Dies hängt natürlich von der Klassenstufe bzw. der sprachlichen Kompetenz der Schüler ab. Alternativ kann auch die neuhochdeutsche Übersetzung gesprochen werden. 385 Vgl. Bein, Thomas (2004a), S. 284; Spechtler, Franz Viktor (2001): Walther lesen – mittel hochdeutsch und neuhochdeutsch. Zum Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen: Ein Er fahrungsbericht. In: Mertens, Volker/Müller, Ulrich (Hrsg.): Walther lesen. Interpretatio
61 Lest euch das Gedicht zunächst noch einmal ganz durch! Überlegt dann, wie man es lesen muss. Dazu sollt ihr euch entscheiden, welche Sprech weisen sinnvoll sind. Jetzt übt den Vortrag – erst jeder für sich, dann sollt ihr euch gegenseitig verbessern. Was habt ihr gehört? Bei welcher Vortragsweise entstehen eher Bilder in eurem Kopf? Bei welcher Vor tragsweise habt ihr mehr verstanden? Stimmt die gehörte Vortragsweise wirklich mit dem Text überein?
Die Lerner sollen hier entdecken, dass die Lieder vor allem durch ihre klang lichen und rhythmischen Effekte wirken, in denen auch ein Teil der Textbe deutung steckt. Zudem schulen die Schüler auf diesem Weg ihre mündliche Präsentationskompetenz und erkennen, dass sie als aktive Leser, indem sie sich für eine bestimmte Vortragsweise entscheiden, Interpretations und Deutungsarbeit leisten. Es werden zusätzliche Sinnaspekte aufgedeckt, die beim stillen Lesen zunächst aus dem Blick geraten: Die Schüler denken kon kret darüber nach, wie Walther und Reinmar ihre Lieder aufgeführt haben könnten, mit welchen Gesten und tragen so dem performativen Charakter und den Möglichkeiten mittelalterlicher Lyrik Rechnung. Wie ließe sich bei spielsweise Walthers polemisch dargestellter Kussraub inszenieren? Mit welchen Melodien, welcher Musik könnten die Lieder untermalt worden sein, welche Instrumente könnten zur Vertonung eingesetzt werden? Eine Be trachtung des Gebrauchs bestimmter Vokale, der Verwendung von Assonan zen kann zudem Aufschluss über bestimmte Klangfarben und Wirkungen geben. In diesem Unterrichtsabschnitt ist es also sinnvoll, wichtige Leitbe griffe oder zentrale Stellen im Urtext zu betrachten,
zum einen, um überhaupt eine Vorstellung von der Sprachform zu ge winnen, d.h. an der fremden Bedeutung ganz verwandter Wörter die Geschichtlichkeit von Sprache zu thematisieren und die Bedingungen kennenzulernen, unter denen Sprachentwicklung sich vollzieht, zum anderen, um die Textbefunde wenigstens an einigen Stellen am histori schen Sprachmaterial zu prüfen.386
Die hier gewonnen Erkenntnisse werden erneut vor dem bereits anfänglich dokumentierten Hintergrund mit Bezug auf die Rechercherubrik ›Literatur und Musik‹ vertieft:
Im Vortrag fallen Repräsentationserfüllung, Vermehrung des Ansehens auf der Mäzenatenseite (beim modernen Veranstalter: finanzieller Ge winn) zusammen mit der Erwartungsbefriedigung des verstehenden
nen und Überlegungen zu Walther von der Vogelweide. Festschrift für Ursula Schulze zum 65. Geburtstag. Göppingen, S. 227 234. 386 Brackert, Helmut/Christ, Hannelore/Holzschuh, Horst (Hrsg.) (1976): Mittelalterliche Texte im Unterricht. Teil 2. München (Literatur in der Schule; Band 2), S. 33.
62 Publikums: insgesamt ein identitätsstiftendes und bestätigendes Mo ment.387
Wichtig ist, dass die Schüler mittelalterliche Lyrik als Performanzkunst den ken, d.h. als Aufführungskunst vor einem rezipierenden Publikum und somit als öffentlich gesellschaftliche und kulturelle sowie literarische Kommunika tionssituation (zwischen Sänger und Publikum, Dichtern/Sängern und deren Kollegen). Abschließend reflektieren die Schüler über die sog. ›Überschrift‹, unter der die im Unterricht bisher behandelte Lyrik innerhalb der Mittelalterphilologie diskutiert wird: die ›Reinmar Walther Fehde‹. Zu nächst wird dazu ein Bezug zur heutigen Lebenswelt der Schüler hergestellt: Was bedeutet der Begriff ›Fehde‹ für die Schüler (hier können (etymologi sche) Wörterbücher zur Hilfe genommen werden)? Gibt es Situationen, in denen die Schüler selber einen Streit initiiert haben, und wenn ja, warum? Was wollten sie damit bezwecken? Warum streiten oder dissen beispielswei se Pop oder Rapstars wie Eminem in der Öffentlichkeit (Aufmerksamkeit erregen, Selbstinszenierung, Profilierung, Abgrenzen von anderen, Tradition, Innovation)? Der erneute Blick in den Leopoldston Walthers wird schließlich den Transfer auf die mittelalterlichen Texte leisten, nämlich das Paradox eines nie endenden Streits zu erkennen: So wie es im Minnesang nicht zur Erfüllung des Liebesglücks kommen darf, so darf auch die ›Fehde‹ mit Reinmar nicht enden, da sich Walther durch diese vor dem Publikum profi liert. Sich selbst in Form einer bestimmter Rolle zu positionieren und sich als einen Teil der Musik , Literatur oder gesellschaftlichen Kultur zu etablieren, am ›Spiel‹ des kulturellen Lebens teilnehmen zu können, bestimmt hier die Funktion der sogenannten ›Fehde‹. Da der Terminus den Schülern zusätzlich bereits durch ihre anfängliche Recherche über Walther und Reinmar bekannt sein könnte und sollte, ist es an dieser Stelle Zeit, den Lernern die größtenteils anekdotischen historisch biographischen Spekulationen über die Streit Beziehung zwischen beiden Sängern noch einmal bewusst in ein anderes Licht zu rücken und eine Refle xionsstufe weiter zu gehen: Die Schüler haben anhand der Texte literarische Kommunikation und Intertextualität kennengelernt, auch in Form von po lemischen Bezügen, jedoch keine wissenschaftlich fundierten, biographi schen Informationen über die Beziehung zwischen Walther und Reinmar gewonnen. Wichtiger als der Kompetenzstreit zwischen den Dichtern ist somit die bewusste Teilnahme Walthers an einer umfassenden Verständi gung innerhalb der Gattung Lyrik. Ziel ist es – so die Hoffnung – dass die Schüler begreifen: Auf literaturtheoretischer Ebene verdeutlicht die Reinmar Walther Fehde produktive Rezeption der Gattungen Minnesang und Sangspruch, im Spezifischen der Texte Reinmars durch Walther. Litera
387 Zimmermann, Günter (2005), S. 563.
63 tur ist im Allgemeinen und im Speziellen, d.h. in den vorliegenden mittelal terlichen Texten, Ergebnis und Bestandteil einer produktiven Rezeption bestimmter Autoren/Dichter/Verfasser. Sie greift auf bestehende formale, stilistische und/oder inhaltliche Konventionen bzw. Gegebenheiten zurück, gleichzeitig kann sie aus dem Beständigen heraus Innovation schaffen. Sie ist Kommunikation, Performanz, Kunst und Kultur. Um diese abschließende Reflexionsstufe erreichen zu können, stellt die Lehrkraft gezielte Nachfragen bei den Schülern (siehe Leitfragen). Die Lerner formulieren dann eigenstän dig ihre Ergebnissicherung, indem sie, angeregt durch die fragenden Impul se, über die ›Zutaten‹ der Waltherschen Lyrik nachdenken, diese im literari schen Diskurs verorten und ihnen eine Funktion zuweisen: Welche literarischen Bestandteile benutzt Walther in seinen Tex ten?/Worauf greift er in seinen Texten zurück (Tradition)? Gattungskonventionen (Formalia der Gattung der Lyrik; Minnesang als konventionalisierte Verständigungsform); Minnethematik; bereits be stehende Rollen im Minnesang; bereits bekannte Meta phern/Redewendungen/Aussagen anderer Dichter. Was fügt Walther neu hinzu (Innovation)? Weiterdenken bereits vorhandener Textmuster; Spiel mit den Rollen im Minnesang; Dominanz und Selbstbewusstsein des lyrischen Ichs; eine ausgeprägte Performanzebene
Was tut Walther in/mit seinen Texten (Funktion)? Denkt dabei sowohl an die Textinhalte als auch an die Aufführungssituation und den perfor mativen Kontext von Minnesang. er inszeniert sich selbst, schafft sich ein ›Image‹, kreiert seine eigene Rolle; allgemeiner und zugleich genauer: er betreibt Kommunikation (produktive Rezeption) im literarischen Diskurs (mit Reinmar, mit dem Publikum).
4.4.3 Zum Dritten: Walther und Minnesang heute? – Poetry Slam als Folgekonzept mittelalterlicher Lyrik
Die thematische Anbindung an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler verleiht der schulischen Arbeit einen Sinn. Um Vergangenheit und Gegenwart auszuloten bzw. beides aufeinander zu beziehen, sollen sich die Schüler die Frage stellen, ob und worin Pendants mittelalterlicher Lyrik auch in der heutigen Zeit bestehen. Sie nehmen auf diese Weise an einem aktuel len Diskurs teil und reflektieren die Funktion performativer Lyrik in der Gegenwart. Die Lerner werden dabei zunächst mit der ›Klamauk‹ Seite mo derner mittelalterlicher Rezeption konfrontiert. Am Beispiel des Phänomens Nikolai de Treskow, der sich selbst als Deutschlands einziger Minnesänger
64 vermarktet und durch das »beminnen« von 760 Frauen bereits einen Ein trag ins Guinnessbuch der Rekorde erhielt, erkunden die Schüler die spiele rische Willkürlichkeit moderner Mittelalter und Minnesangadaption, ja »die robuste Umdeutung und Verfälschung des überlieferten Materials zum Zwecke der geschäftstüchtigen Gewinnmaximierung«388. Sie lernen, diese kritisch zu betrachten und werden sich deren Funktionen bewusst: mediale Inszenierung, Schauspiel und Vermarktung, Profitmacherei, Realitätsferne und Eskapismus. Die Jugendlichen bearbeiten dazu verschiedene Textaus schnitte (Interview, Zeitungsartikel) sowie Abbildungen zu Nikolai de Treskow (Folie) und tragen ihre Ergebnisse im Plenum zusammen. Gemein sam wird in der Klasse reflektiert, inwiefern de Treskows Konzept einer Minne bzw. Flirtschule zur Verführung von Damen von dem in den vorheri gen Stunden erarbeiteten Minnesang Konzept abweicht bzw. als Fehlinter pretation bezeichnet werden kann. Insbesondere die Tatsache, dass de Treskow das Charakteristikum der Rollenlyrik und den fiktionalen Charakter der Texte zu übergehen und die im Text angelegten Rollen als Realität auszu leben scheint, ebenso wie das von ihm vertretene, klischeebehaftete und romantisierte Mittelalterbild, das der Gratifikation des Eskapismus ver pflichtet scheint, bietet hier spannenden Diskussionsanlass. Im nächsten Schritt werden die Minnelieder Walthers und Reinmars schließlich mit Slam Poetry und dem mittlerweile etablierten Kulturphäno men Poetry Slam in Bezug gesetzt. Die Schüler haben den Auftrag bekom men, sich im Internet über das Phänomen Poetry Slam zu informieren. Ins besondere die Website des WDRs (http://www.wdr.de/tv/poetryslam/) wird hierzu empfohlen. Es wird mit Hilfe des Zusammentragens der Schülerer gebnisse an einer Definition des Phänomens gearbeitet, seine Regeln und Atmosphäre besprochen. Erste Parallelen zur mittelalterlichen Lyrik bzw. zur Reinmar Walther Fehde werden hier bereits anhand der Übersetzung des Begriffs ›Poetry Slam‹ als ›Dichterwettstreit‹ oder ›Dichterschlacht‹ sowie aufgrund der Aufführungssituation vor einem Publikum gezogen. Es folgt ein konkretes Beispiel: Die Schüler erhalten zunächst den Titel und die ersten zwei Zeilen des Slam Beitrags »Küss mich« von Sebastian 23, alias Sebastian Rabsahl, Slampoet und Kabarettist, der 2008 bei den deutschsprachigen Poetry Slam Meisterschaften in Zürich den Meistertitel im Einzelwettbewerb gewann. Die Schüler denken darüber nach, wie der Titel (→ deutet auf ein Liebeslied/Liebesgedicht hin) mit dem Hinweis auf die Geschichte eines Kindheitstraumas (→ gescheiterte Liebe, trauriges Er lebnis?) zusammenhängen könnte bzw. von welchem Ereignis das Lied/Gedicht handeln könnte. Mit Hilfe der Methode Think-Pair-Share389
388 Krohn, Rüdiger (1998), S. 157. 389 Etablierte Methode nach Spencer Kagan. Für nähere Informationen vgl. z.B. Internet Beleg: http://blk demokra tie.de/getfile.php?f=fileadmin/public/dokumente/Bausteine/selbstevaluation/Schuelerseva _ThinkPairShare.doc, Zugriff am 06.08.2010.
65 notieren die Lerner zunächst jeder einzeln ihre Gedanken und Assoziationen, tauschen sich dann aber mit einem Partner aus, um schließlich die Ergebnis se im Plenum in Form einer Mind Map zusammenzustellen. Die gesammel ten Vorerwartungen werden mit der Aufzeichnung des Auftritts von Sebas tian 23 bei der Slam Poetry Labelnacht in Berlin (2009) konfrontiert. Dabei wird den Schülern ein audiovisuelles Erlebnis ermöglicht, dass die Motivati on steigert. Auch der vor Ironie, Witz, Sprachspiel und Intertextualität strot zende Text trägt mit seiner, von den Schülern so sicher nicht erwarte ten ›Liebesgeschichte‹, zur Begeisterung bei. Im Anschluss an die audio visuelle Rezeption wird die Textvorlage ausgegeben, um stilistische und in haltliche Textmerkmale näher betrachten und analysieren zu können: Ironische Beschreibung der ›Geliebten‹ als Star Wars Figur (Darth Vader) Hervorrufen eines Star Wars Kontextes (Dunkelheit, Sterne, Galaxien, Laserschwert) durch sprachliche Bilder (Metaphern, Vergleiche) Vergleiche und Anspielungen auf andere fiktionale Figuren wie Batman, den »schwarzen Mann« Ironisierende (»dissende«) Bezüge zu deutschen Rap Musikern wie Sido390 und Bushido391 Sprachspiele wie »Bu shido« Onomatopoesie, in diesem Fall die Lautmalerei von Soundeffekten (hier: Laserschwert) Fast durchgängige Verwendung von Paarreimen. Wichtig ist auch hier die enge Verknüpfung von Lyrik und Musik, insbeson dere die Verwendung eines Refrains sowie die Charakterisierung der musi kalischen Untermalung als »emotionales Gezupfe«. Die melancholisch ruhige Anfangsmelodie spielt mit den Erwartungen der Rezipienten und konterkariert diese schließlich mit einer Rock musikalischen, stimmungsvol len Untermalung und einer hohen stimmlichen Variabilität im Hauptteil des Liedes. In diesem Zusammenhang sollen die Schüler auch auf den Performanzcharakter des Beitrags achten, schließlich ist innerhalb der Spoken word Kultur392 der Vortrag genauso wichtig wie der Text: Welche Gestik und Mimik, welche stimmlichen/paralingualen Besonderheiten ver wendet Sebastian 23 in seinem Vortrag? Welche Atmosphäre wird (dadurch) geschaffen? Welche Reaktionen zeigt das Publikum? Um die Wirkung non
390 Sido fällt insbesondere durch provokante Texte und einen aggressiven, leicht lakonischen Unterton in der Stimme auf. In Anlehnung an Ghostface Killah (US amerikanischer Rapper des Wu Tang Clans) trug er lange eine Maske, um seine Identität zu verschleiern (vgl. Inter net Beleg: http://de.wikipedia.org/wiki/Sido, Zugriff am 19.07.2010). 391 Bushidos Nähe zum amerikanischen »Gangsta Rap«, nationalistische, rassistische, frauen und homosexuellenfeindliche Texte sowie Anklagen wegen Körper und Urheberrechtsver letzungen sorgten dafür, dass die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien einzelne Lieder Bushidos als jugendgefährdend einschätzte (vgl. Internet Beleg: http://de.wikipedia.org/wiki/Bushido_(Rapper), Zugriff am 19.07.2010). 392 Verwendung des Begriffs bei Nünning, Ansgar/Surkamp, Carola (2006), S. 89.
66 verbaler Aspekte zu verstärken, zeigt die Lehrkraft das Video nicht nur mit, sondern auch noch einmal ohne Ton. An wichtigen Stellen wird das Abspie len der Aufnahme gestoppt, um Möglichkeit zur Reflexion zu bieten. Auf Basis dieser detaillierten Textbetrachtung lässt sich zu Vergleichsas pekten zwischen Slam Poetry Text und mittelalterlichen Gedichten überlei ten. So werden zunächst sprachliche und inhaltliche Unterschiede des Slam Beitrags herausgestellt:
eher beliebige Themenwahl strenge Zeitlimits vorgeschriebene Form von Zustimmung oder Ablehnung durch das Pub likum Danach werden zahlreiche, die Unterschiede aufwiegende Gemeinsamkeiten gesammelt und die Ergebnisse schriftlich fixiert (z.B. and der Tafel, Proto kollführung durch Schüler etc.): face-to-face Beziehung zwischen Dichter/Sänger und dem Publikum Performanzsituation, Aufführung als gesellschaftlich kulturelles und gemeinschaftsstiftendes Element Konkurrenzsituation der Dichter im Rahmen der Aufführungskunst, die Suche nach Zustimmung beim Publikum Erzeugen einer positiven Stimmung (Nicht )Vorhandensein einer mehr oder weniger differenzierten musika lischen Untermalung/Begleitung, die die Rezeptionshaltung des Publi kums textunabhängig prägt Verständnis von Lyrik als Rollenlyrik. So kommt das Rollen Ich Darth Vaders bei Sebastian 23 zu Wort, genau wie Reinmars Dame in Corm.81 ausgeprägte Intertextualität, im Falle von Sebastian 23 sogar transmedi al in Bezug auf die audio visuellen Star Wars Filme Rekurrieren auf vorhandene Wissens und Textbestände.
Besonders wichtige Merkmale, die als Vergleichskategorien dienen, sind somit Kürze, Klanglichkeit, Interaktion mit dem Publikum und Intertextualität. Als modernes Element tritt schließlich noch Intermedialität hinzu.393 Wichtige Erkenntnis für die Schüler ist, dass der mediale Kontext hier bestimmt, was miteinander zu vergleichen ist. Mittelalterliche Lyrik ist nicht schlichtweg mit schriftbasierter Lyrik von heute oder mit anderen Lie besgedichten aus fremden literarischen ›Epochen‹ zu vergleichen, sondern mit Performanzlyrik, mit Aufführungskunst. Bezüglich der Slammer wäre dann zu klären,
warum sie sich für ihre Selbst und gesellschaftliche Rollendefinition der Vermittlung der literarischen Kommunikation bedienen. Der Ver
393 Vgl. Anders, Petra/Abraham, Ulf (2008), S. 8.
67 gleich würde von Gemeinsamem ausgehend die historischen Akzente zu erarbeiten haben, Akzente jenseits der gängigen Vorstellungen von den literarischen Schaffensprozessen, die sie in jenem Oberflächlichen Sinn auf eine Kombination von Originalität und Überzeitlichkeit redu zieren.394
4.4.4 Zum Vierten: Produktive Rezeption
In der letzten Phasen der Sequenz wenden die Schüler ihr erworbenes Wissen in einem diskursiven Zusammenhang an, indem sie die Sinnangebo te der zuvor im Unterricht behandelten Texte weiterdenken und entwickeln und mit Bezug auf sich selbst, auch ihre eigene Person reflektieren. Das be deutet: Die Lerner betreiben genau wie Walther, Reinmar oder Sebastian 23, kreative produktive Rezeption, indem sie die Reinmar Walther Kommunikation als Poetry Slam inszenieren. Denn
[w]o der Weg über die Einsicht in historische Bedingungen der Äuße rungsformen und ihren Status als Elemente literarischer, und das heißt ästhetischer Kommunikation führt, aber nur dort, soll Schülern das Experiment nicht verwehrt werden, solche Äußerungsformen auch zu ihren eigenen zu machen bzw. sie in eigener produktiver Rezeption zu adaptieren.395
Dazu werden die Schüler zunächst in Gruppen eingeteilt, in denen sie eines der behandelten mittelhochdeutschen Lieder in einen neuhochdeutschen Slam Poetry Beitrag umschreiben (der Beitrag von Sebastian 23 dient hier als Exempel) und zwar unter Beachtung und Auswahl passender Gestik und Mimik, dem Einbau von lyrisch stilistischen Elementen wie beispielsweise Reimen und Assonanzen, der Verwendung von Intertextualität, gegebenen falls ironischen oder witzigen Details und/oder einer musikalischen Unter malung. Die Schüler erhalten hier vor allem auf der inhaltlichen Ebene Ge staltungsfreiheit, die es ihnen z.B. ermöglicht, mit den Rollen im Minnesang zu experimentieren, d.h. die Texte aus einer anderen Perspektive, beispiels weise der der vrouwe, zu verfassen. Der Blick auf die Texte ist hier nicht starr, Minnesang kann und darf ebenfalls für die produktive Rezeption ge öffnet werden.396 Zusätzlich zu den Kleingruppen, die die Oral Performance (Lieder Wal thers und Reinmars) erarbeiten, wird eine Gruppe gebildet, die als Jury fun giert und die Aufgabe erhält, den besten Beitrag zu prämieren. Die Juroren
394 Karg, Ina (1998a), S. 44. 395 Ebd., S. 77. 396 Vgl. Karg, Ina (1998a), S. 334 f.
68 entwickeln Beurteilungskriterien, nach denen sie die Qualität der einzelnen Beiträge beurteilen können.397 Die Kriterien werden schriftlich fixiert und für alle erreichbar und sichtbar im Klassenraum aufgehängt. Die Präsentation der Arbeiten, mit einer anschließenden argumentativ überzeugenden Beur teilung durch die Jury und einer sich daraus ableitenden Reflexion der Bei träge folgt. Eine, die Unterrichtssequenz abschließende und abrundende Frage im Unterricht befasst sich mit der Funktion von performativer Lyrik in der Gegenwart. Erkenntnisse werden formuliert: Performative (Slam/Medieval) Lyrik/Poetry…
…ist Gesellschaftskunst, …wirkt gemeinschaftsstiftend, …hat ihren festen Platz bei öffentlichen und/oder festlichen Angelegen heiten, …ist Aufführung als Traditionspflege überlieferter Kommunikations praktiken, …ist Gestus der Selbstdefinition, Repräsentation und Selbstdarstellung gegenüber anderen, …und hat als repräsentatives Kommunikationsmittel somit kaum etwas von ihrer einst im Mittelalter definierten Rolle verloren!398
4.5 Alternativen – Was könnte anders sein?
Für Entscheidungen gibt es vor allem im Sekundarstufenbereich I auf grund der thematischen Offenheit des Kerncurriculums Alternativen bzw. Möglichkeiten, im Unterricht Schwerpunkte und Akzente anders zu setzen. Für das dargestellte Curriculum Modul sollen an dieser Stelle einige Alterna tiven aufgezeigt werden: Die vorgeschlagene Unterrichtseinheit schlägt mit acht ausgewählten mittelhochdeutschen Texten ein breites Textrepertoire zur Bearbeitung im Unterricht vor, dass sich insbesondere an der zumeist hohen Anzahl von Schülern in einer Schulklasse orientiert, um die zu bilden
397 Merkmale einer solchen Kriterienliste könnten beispielsweise die folgenden sein: eine deut liche und klare Aussprache, auswendig vorgetragener Text, Betonung/sprachliche Umset zung, Rhythmus, Blickkontakt zum Publikum, Verknüpfung von Textinhalt und Perfor mance, Spaßfaktor. Die Kriterien könnten mit Hilfe mathematischer Zeichen schnell und übersichtlich bewertet werden: ++, +, 0, , . Im Allgemeinen ist ein »Vortrag […] gut gestaltet, wenn die nonverbalen Mittel, die ›Aus drucksmedien‹, so wirkungsvoll angeordnet werden, dass sie den Hörer beeindrucken […]. Abwechslung, Gegensätze und Steigerung in Harmonie mit dem Text sind wesentliche Kri terien der Gestaltung« (Schmidt, Georg (2006): Wie man Gedichte vortragen kann. Metho dische Vorschläge zur Darbietung von Poesie. In: Franz, Kurt/ Hochholzer, Rupert (Hrsg.): Lyrik im Deutschunterricht. Grundlagen – Methoden – Beispiele. Hohengehren, S. 159 174, hier S. 160). Wichtig sind also zum einen prosodische Elemente wie Melodie, Tempo (accellerando/retardando), Lautstärke (piano, laut, crescendo, diminuendo/decrescendo), Pausen (z.B. als grammatikalische Funktion), Stimmklang (forte, fortissimo) und Betonung (vgl. ebd., S. 165). 398 Vgl. hierzu auch Karg, Ina (1998a), S. 202.
69 den Gruppen klein halten zu können. Das Repertoire ließe sich jedoch we nigstens um zwei Texte (siehe Gruppe F und G) reduzieren, ohne dass den Schülern dadurch essentielle Erkenntnisse bezüglich der literarischen Kom munikation Walthers und Reinmars vorenthalten blieben. Während die Tex te A, B und C den Kern der sog. ›Fehde‹ bilden, D und E das jeweils Charak teristische des Waltherschen und Reinmarschen Minnesangs aufzeigen und Text H den Abschluss und die Grundlage für eine anschließende Funktions reflexion der literarischen Kommunikation darstellt, ist es Ziel der Texte F und G, die auch in den anderen Texten bestehende Intertextualität, das Spiel mit lyrischen Topoi, noch einmal explizit zu machen und zu verdeutlichen, natürlich aber auch die spielerische Kommunikation Walthers und Reinmars in ihrer Vielfalt aufzuzeigen. Somit könnte am ehesten auf die genannten beiden Lieder verzichtet werden. Andersrum ist es natürlich auch möglich, den Schwerpunkt auf mittelalterliche Texte auszuweiten, indem weitere, für die Schüler aufgrund ihrer charakteristischen oder außergewöhnlichen Machart, interessante Texte zu Walther und/oder Reinmar ergänzt werden, so z.B. Walthers Under der linden. Das sicherlich bekannteste Lied Walthers ist wegen seiner reichen Metaphorik und Bildlichkeit, der Verwendung des Locus amoenus als Gemeinplatz, geradezu für den Unterricht prädestiniert. Die ästhetische Evidenz des Textes, seine Anschaulichkeit, regt die Schüler in besonderem Maße zur Erzeugung von Vorstellungsbildern an und unter stützt auf diese Weise das intuitive Erfassen des Textes.399 Unter 4.1 ist bereits angeklungen, dass neben dem Kulturphänomen Poetry Slam ein weiteres tertium comparationis in der aktuellen Rock und Popmusikkultur zu finden ist. So könnte dieser Aspekt von der Lehrkraft ergänzend thematisiert, oder, für Musikliebhaber, vielleicht sogar an die Stelle des Poetry Slams gerückt werden. Die Schüler könnten hier ihre ›Lieb lingsbands‹ vorstellen und darüber nachdenken, worauf die Attraktivität der jeweiligen Musik beruht, wie die gängige Erwartungshaltung des (jugendli chen) Publikums aussieht, 400 so z.B. im Hinblick auf die Erfüllung bestimm ter ›Rollen‹ durch die Sänger (›Gangsta‹ Rapper, ›Teenager next door‹ etc.). Genauso wären der Aufführungscharakter sowie charakteristische Songtexte und themen zu behandeln. Es könnten Show Auftritte oder Musikvideos zur Behandlung im Unterricht eingesetzt werden, die im medialen Format des sog. Poetry Clips, einer für die Kamera inszenierten Darstellung eines Textes, im Übrigen auch online für Sebastian 23 bei Youtube zu finden sind.401 Ein
399 Zum Textmerkmal der ästhetischen Evidenz vgl. Köster, Juliane (2005): Wodurch wird ein Text schwierig? – ein Test für die Fachkonferenz. In: Deutschunterricht 5, S. 34 39, hier S. 34 f. 400 Vgl. Jöst, Erhard/Mair am Tinkhof, Andreas (2004): ›Walther vermitteln in Schule und Hochschule‹: Wie man zer welte solte leben. Nachdenken im Deutschunterricht mit und über Walther von der Vogelweide. In: Bein, Thomas (Hrsg.): Walther verstehen – Walther vermitteln. Neue Lektüren und didaktische Überlegungen. Frankfurt/Main (Walther Studien Bd. 2), S. 29 46, hier S. 32. 401 Vgl. Pommes23 (2009): Sebastian 23 – Küss mich! Internet Beleg: http://www.youtube.com/watch?v=hkhGaVQwyuI, Zugriff am 26.07.2010.
70 Vergleich eines Poetry Slam Auftritts mit einem dazu passenden Poetry Clip würde sich hier folglich ebenso anbieten, wie die Ausweitung der produktiv rezeptiven Handlung der Schüler in Projektform: zur Erstellung eines eige nen Poetry Clips402 mit den eigens verfassten Texten. Der Umgang mit der Kamera sowie das Agieren vor dieser rückt die mediale Kompetenz, Kreativi tät sowie die Handlungs und Präsentationskompetenz der Schüler stärker in den Mittelpunkt. Die Ebene der produktiven Rezeption kann auf diese Weise ebenfalls den unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Interes sen der jeweiligen Lerngruppe angepasst werden.
4.6 Didaktische Antizipationen – Reflexion potenzieller und/oder bereits vorgebeugter Probleme
Ein besonders in der Pädagogik weit verbreiteter Leitsatz lautet, die Schüler dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden.403 Für die dargestellte Unterrichtseinheit würde dies bedeuten, den Schritt von der Gegenwart, d.h. der Betrachtung des Poetry Slams, in die Vergangenheit, d.h. in das Mittelal ter, zu vollziehen. Der für diese Arbeit gewählte Ansatz favorisiert jedoch bewusst den gegenteiligen Schritt, nämlich mit historischem Wissenserwerb und Textbegegnungen zu beginnen und die Parallele zur Gegenwart in einem letzten Schritt zu ziehen. Auf der einen Seite soll dadurch der Gefahr entgan gen werden, dass die anfänglich durch das Phänomen Poetry Slam evozierte, hohe Schülermotivation bereits zu Beginn der Einheit aufgebraucht und somit die Textarbeit an den mittelhochdeutschen Texten als lästiges und langweiliges ›Anhängsel‹ von den Schülern abgewertet wird. Auf der ande ren Seite soll den Lernern anhand der Reihenfolge deutlich werden, dass sich die Gegenwart erst auf Basis ihrer Vergangenheit richtig verstehen lässt, ja »dass alles, was ist, geworden ist«. 404 Dabei soll die Betrachtung des Poetry Slam Phänomens nicht als ›Bon Bon‹ am Ende einer Unterrichtseinheit missverstanden werden. Im Gegenteil, sie ist die notwendige Konsequenz aus dem literaturgeschichtlichen Ziel, Vergangenheit und Gegenwart adä quat aufeinander zu beziehen. Die zu Beginn der Einheit von den Schülern eigenständig durchgeführte Recherche dient dem Wissenserwerb bzw. der Grundlagenbildung für das Verständnis der mittelalterlichen Texte. Denn »[g]erade Mangel an histori schem Vorwissen ist häufig der Grund dafür, dass Schüler Schwierigkeiten beim ganzheitlichen Verstehen literarischer Texte haben.«405 Dieser Gedan ke ist natürlich in Bezug auf alle Texte zu verfolgen, auch auf moderne, wie
402 Vgl. z.B. folgende didaktische Anregung: Uschner, Bert (2008): Kamera läuft. Einen eigenen Poetry Clip produzieren. In: Praxis Deutsch 208, S. 52 56. 403 Vgl. Karg, Ina (1999a), S. 216 f. 404 Karg, Ina (2006), S. 6. 405 Kammler, Clemens (2009), S. 6.
71 Sebastian Rabsahls »Küss mich«, sollten die Lerner die genannten Rapper wie Bushido oder Sido beispielsweise nicht kennen, und deshalb die ironi schen Anspielungen und den Sprachwitz auch nicht nachvollziehen können. Wie unter 2.2.3 bereits erläutert, wird damit methodisch auch Leseförderung, Lesemotivation und Leseverstehen unterstützt, indem die Schüler dazu an geregt werden, ihr neu erworbenes Wissen anzuwenden. Die Lerner sollen erkennen, dass ihnen das Textverständnis durch ihre Vorkenntnisse und Voraussetzungen erleichtert wird. Durch die Zusammenführung von Vorwis sen und Textkenntnissen wird es ihnen ermöglicht, ein Situationsmodell zum Verständnis der Texte entwickeln zu können.406 Leseförderung wird hier also nicht im emphatischen Sinne als Animation, sondern im Sinne ei ner direkten Strategievermittlung zur Förderung der Lesekompetenz ver standen. Die für das Textverständnis so wichtige Zusammenführung von Scripts und Schemata, d.h. von Vorwissen/Weltwissen und Text, wird innerhalb der Unterrichtseinheit insbesondere durch das Unterrichtsgespräch gefördert und angeregt. Das im Kontext der Textarbeit unter 4.4.2 geführte Gespräch darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass den Schülern eine bestimmte Interpretation aufgezwungen und in kleinen Schritten ent lockt wird bzw. im Sinne einer Osterhasenpädagogik von den Schülern auf gefunden werden soll. Vielmehr ist es mit der Gruppenarbeitsphase zu Be ginn des Unterrichtsabschnitts zusammenzudenken: Diese bietet den Ler nern die Möglichkeit, von ihren eigenen Zugängen zu den Texten auszuge hen und sich in ihrer Sinnzuschreibung und Vorstellungsbildung kooperativ zu unterstützen. Damit es jedoch zu einem Erkenntnisgewinn kommt, be gleitet die Lehrperson den Verständnisprozess der Schüler anschließend, d.h. sie verhilft zur Präzision und Weiterentwicklung des Verständnisses – es ist also Lehrkompetenz gefragt! Ferner können beim literarischen Gespräch alle Schüler miteinbezogen und aktiv werden, da in den Gruppen zuvor eine in tensive Auseinandersetzung mit den Texten stattgefunden hat. Für die Gruppeneinteilung wird das Zufallsprinzip vorgeschlagen, damit es innerhalb der Lerngruppe nicht zu einer ungewollten Unruhe und Cli quenbildung bzw. zu einer Verstärkung oder Förderung dieser kommt und alle Schüler lernen, kooperativ und kommunikativ miteinander zu arbeiten und respektvoll miteinander umzugehen. Natürlich besteht jedoch stets die Möglichkeit, das Zufallsprinzip leicht zu manipulieren, d.h. Schüler einer bestimmten Lerngruppe zuzuordnen, ohne dass diese die Absicht der Lehr kraft dahinter vermuten. Auf diese Weise kann Binnendifferenzierung be trieben werden, bestimmte Texte können aufgrund ihres eingeschätzten Schwierigkeitsgrades bestimmten Schülergruppen oder auch lernschwächere Schüler den stärkeren Lernern zugeordnet werden, um die Schüler vonei
406 Zum Prozess des Leseverstehens vgl. grundlegend Van Dijk, Teun A./Kintsch, Walter (1983): Strategies of discourse comprehension. New York.
72 nander lernen zu lassen. So wird zur Stärkung des Selbstvertrauens in klei neren Gruppen beigetragen und von einer inneren Differenzierung der Gruppen profitiert. 407 Kooperatives Lernen wird hier durch die Existenz »einer ›positiven wechselseitigen Abhängigkeit‹ innerhalb der Gruppe«408, bei der die SuS voneinander und miteinander lernen können, angeregt. Es muss schließlich bedacht werden, dass »auch wirklich alle Arbeiten in allen nötigen Details erledigt werden.«409 Darüber hinaus wird die Kompetenz des Präsentierens von Ergebnissen vor einem Plenum im Anschluss an Gruppe narbeitsphasen geübt. Dabei werden insbesondere kleinere Gruppen zu Be ginn der Erarbeitungsphase vorgeschlagen, um dem Problem zu entgehen, dass sich einzelne Schüler aus der Verantwortung ziehen, andere für sich arbeiten lassen und nicht an der Diskussion teilnehmen. Zudem ist es deut lich einfacher, den Lärmpegel bei kleineren Gruppen niedrig zu halten. Da Teamfähigkeit gefördert bzw. Gruppenarbeit geübt wird und aus zeitökono mischen Gründen in Gruppen mehr Stoff in weniger Zeit bearbeitet werden kann, erweist sich diese Sozialform als besonders geeignet. Ergänzend ist noch wichtig zu erwähnen, dass der Ablauf bzw. die Methode des Gruppen puzzles in einer Lerngruppe Übung und Erläuterung bedarf, damit kein Cha os ausbricht und die Gruppenzusammensetzungen reibungslos und ohne Aufruhr vonstattengehen. Innerhalb der Unterrichtseinheit ist das Gruppen puzzle alles in allem perfekt geeignet, um Erkenntnisgewinn zu unterstützen und angestrebte Lernziele zu erreichen. Deutlich wird anhand der didaktisch methodischen Konzeption des Cur riculum Moduls auch, dass das heutzutage allgegenwärtige Konzept von Lyrik als Erlebnislyrik aufgebrochen wird. Basierend auf dem Grundsatz, Methoden stets inhaltsadäquat einzusetzen,410 wird hier einer vorschnellen Identifikation der Schüler mit den Texten durch die richtige Methodenaus wahl entgegengewirkt. Mittelalterliche Lyrik wird in ihrer Alterität und öf fentlichen Funktion wahrgenommen und zugleich als Kunst in ihrer kultu rellen Situation reflektiert. 411 Es scheinen Traditionslinien auf, »der produk tive Umgang mit bestimmten Schemata literarischer Gestaltung kann deut lich werden,« genauso wie »die Arbeit mit einem Repertoire [(siehe ›Zuta ten‹ Walthers), J.B.], das dem Sänger/Dichter/Lyriker zur Verfügung steht«412. Um alltägliche Gefahren und Probleme des Unterrichtsgeschehens im Allgemeinen zu verringern, sei an dieser Stelle darauf verwiesen, stets zu reflektieren, welche methodischen Vorkenntnisse und Kompetenzen bei den
407 Vgl. Mattes, Wolfgang (2002), 32. 408 Baurmann, Jürgen (2007): Kooperatives Lernen im Deutschunterricht. In: Praxis Deutsch 205, S. 6 11, hier S. 6. 409 Karg, Ina (1998a), S. 147. 410 Vgl. Meyer, Hilbert (2003a): Unterrichts Methoden I: Theorieband. Berlin (Lizenzausgabe für die WBG), S. 72. 411 Vgl. Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 133. 412 Ebd.
73 Schülern bereits vorhanden sind und welche nicht, d.h. die eigenen Vorer fahrungen als Lehrkraft mit der Lerngruppe noch einmal vor Beginn der Einheit zu reflektieren. Von den Schülern wird insgesamt hohe Einsatzbe reitschaft, Eigenständigkeit und Pflichtbewusstsein erwartet. Eine engagierte Beteiligung auf allen Ebenen zahlt sich hier jedoch ganz besonders aus und bereitet, so die Hoffnung, zudem Spaß.
4.7 Textgrundlagen und Material
Das Text , Medien , und ergänzende Unterrichtsmaterial kann verschie denen Quellen entnommen werden. Genügend Hinweise auf Sekundärlitera tur und Unterrichtsmaterialien zu Walther von der Vogelweide können sich Lehrkräfte online und in der Walther Bibliographie von Scholz holen, um das eigene Wissensrepertoire zu erweitern:
Scholz, Manfred Günter (2005b): Walther Bibliographie 1968 2004. Frankfurt am Main [u.a.] (Walther Studien Bd. 3). Internet Quelle:http://www.thomas bein.privat.t online.de/index2.html.
Die meistkonsultierte Übersetzung der Werke Walthers dürfte derzeit Gün ther Schweikles im Reclam Verlag sein. Ihr liegt ein (eigener) mittelhoch deutscher Text sowie ein Sachkommentar zur Erschließung bei:413
Schweikle, Günther (Hrsg.) (1994): Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe. Band 1. Spruchlyrik. Mittelhoch deutsch/Neuhochdeutsch. Stuttgart (Universal Bibliothek Nr. 819). Schweikle, Günther (Hrsg.) (1998): Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe. Band 2. Liedlyrik. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Stuttgart (Universal Bibliothek Nr. 820).
Einzelne Texte mit Übersetzungen und/oder Anmerkungen zu Walther und Reinmar lassen sich auch in den unter Punkt 3 erwähnten Lehr und Unter richtsmaterialien finden, z.B.:
Möller, Jürgen (2007): EinFach Deutsch Unterrichtsmodell. Mittelalter. Braunschweig, Paderborn, Darmstadt. Friedl, Gerhard (2009): EinFach Deutsch Unterrichtsmodell. Liebeslyrik. Braunschweig, Paderborn, Darmstadt.
Mittelhochdeutsche Originaltexte zu Walther und Reinmar sind zu entneh men aus:
413 Vgl. Bein, Thomas (2004): ›Kurzbesprechungen‹: Kurzbesprechung: Walther von der Vo gelweide. Sämtliche Gedichte. […] übertragen von Franz Viktor Spechtler. In: ders. (Hrsg.): Walther verstehen – Walther vermitteln. Neue Lektüren und didaktische Überlegungen. Frankfurt/Main (Walther Studien Bd. 2), S. 283 288, hier S. 283.
74 Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Voigt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. I: Texte. 38., erneut revi dierte Aufl. Stuttgart 1988. Walther von der Vogelweide. Leich – Lieder – Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hg. von Christoph Cormeau. Berlin/New York 1996. Ein kurzer und knapper, dennoch gut verständlicher Exkurs zur Aussprache des Mittelhochdeutschen ist zu finden in: Sosna, Anette (2010): EinFach Deutsch Unterrichtsmodell. Das Nibe lungenlied. Braunschweig, Paderborn, Darmstadt.
Die für die Unterrichtseinheit speziellen Arbeitsmaterialien zum Beitrag »Küss mich« von Sebastian 23, sowie Texte und Bilder zu Nikolai de Treskow, Bilder aus der Manessischen Liederhandschrift sowie ein kurzes Lyriklexikon, wurden eigens zusammengestellt und befinden sich im Anhang. Online Quellen lauten: Codex Manesse (Walther): Internet Beleg: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1a/Codex_Maness e_Walther_von_der_Vogelweide.jpg, Zugriff am: 22.07.2010. Codex Manesse (Reinmar von Hagenau): Internet Beleg: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/0/0b/Codex _Manesse_Reinmar_der_Alte.jpg/200px Codex_Manesse_Reinmar_der_Alte.jpg, Zugriff am: 22.07.2010. Brömsel, Sven (1998): Nikolai de Treskow. Liebeswerbung als Kult und Kunstform. Im Gespräch mit Nikolai de Treskow. Internet Beleg: www.luise berlin.de; online unter: http://www.luise berlin.de/lesezei/blz98_04/text02.htm, Zugriff am: 22.07.2010. SUZ (1995): Textarchiv. Kunst des Balzens auf der Burg. Minnesänger Nikolai de Treskow will die männlichen “Verführungsflaschen” das Flir ten lehren. Internet Beleg: http://www.berlinonline.de/berliner zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/1995/1218/none/0033/index.html, Zu griff am: 18.07. 2010. GEO Epoche Nr. 2 10/1999: Minnesänger: Der Letzte seiner Art. Nikolai de Treskow ist Deutschlands einziger Minnesänger. Mit zarten Tönen betört er weibliche Fans und singt an gegen den Sittenverfall. Internet Beleg: http://www.geo.de/GEO/kultur/geschichte/974.html, Zugriff am 18.07.2010, S. 1 2. Bilder von Nikolai de Treskow: Internet Belege: http://www.burgtheater ziesar.de/burgtheater/media/.gallery/image15.jpg http://www.reise update.de/images/wartb4.jpg
75 http://www.amazon.de/Die Hohe Kunst Verf%C3%BChrung mittelalterlichen/dp/3593358085/ref=sr_1_3?ie=UTF8&s=books& =1279446732&sr=8 3; Zugriff am: 18.07.2010. SlamminPoetry (2009): Sebastian23 – Küss mich. Internet Beleg: http://www.youtube.com/watch?v=6cJQN2P8MKk, Zugriff am 23.07.2010.
4.8 Bereichs und fächerübergreifende Aspekte
Die Unterrichtseinheit ist insofern offen und flexibel angelegt, als dass Lehrer je nach Klasse bzw. Lerngruppe unterschiedliche Schwerpunkte setz ten und diese möglicherweise in einem komplexen bereichs und fächer übergreifenden Projekt verwirklichen können. Auch zeigt das vorgeschlagene Modul Ansätze eines integrativen Fachunterrichts, der Textproduktion und Textrezeption nicht trennt und so »Literatur und Sprachbetrachtung als traditionelle Bereiche des Deutschunterrichts miteinander verknüpft.«414 Die Schüler verfassen eigene Texte in Verbindung zum Schreibunterricht, jedoch immer rückgebunden an die ursprünglichen Texte, um Kreativität Erkennt nis an die Seite zu stellen. Die Thematik mittelalterlicher Lyrik verbindet sich dabei vor allem mit kulturhistorischem Wissen. Diese enge Interdependenz von historischem Kontext (siehe Rechercheaufgaben unter 4.4.1) und literarischem Inhalt, die ein Lernen über den Text hinaus geradezu impliziert, fungiert beispielsweise als Bindeglied zum Geschichtsunterricht. Informationen über die Zeit des Mittelalters könnten jedoch nicht nur im Unterricht vermittelt, sondern auch in Form von Texten und Bildern in ein umfassendes Projekt, so zum Beispiel eine Ausstellung, verwandelt werden. Eine weitere Möglichkeit, Lernen über den Klassenraum hinaus zu ermöglichen, wäre eine im Rahmen des Faches Erdkunde veranstaltete Stadterkundung, mit dem Ziel, mittelalterliche Spu ren in der eigenen Lebenswelt und Umgebung vor Ort zu erkunden und mit eigenen Erfahrungen zu verbinden. Der Deutschlehrer muss folglich nicht zum »Universalfachmann« 415 werden und kann eine Kooperation mit ande ren Fächern anregen. Darüber hinaus gibt es einige Motive und Rahmenbedingungen, die für eine Zusammenarbeit der Fächer Deutsch und Englisch sprechen. Als sprachliche Fächer haben sie »per se viele thematische und methodische Gemeinsamkeiten«, die genutzt werden können, beispielsweise die Förde rung der kommunikativen Kompetenz oder die Reflexion von Sprache. In beiden Fächern wird zudem eine rezeptiv produktive Umgangsweise »mit literarischen Texten, mit Sach und Gebrauchstexten in Print , Ton und
414 Karg, Ina (1998a), S. 71. 415 Brackert, Helmut et al. (1976), S. 32.
76 Bildmedien geübt,« wenn »die Lernenden mit exemplarischen, über die Fä chergrenzen hinausgehenden analytisch interpretierenden Arbeitsmethoden und Lernstrategien vertraut gemacht«416 werden. Konkret bedeutet das für den Unterricht, die Thematik ›Lyrik‹ in den Fächern Deutsch und Englisch parallel zu behandeln. So geht auch die Fremdsprachendidaktik von einem erweiterten Lyrikbegriff aus, der moderne Formen wie Limericks, Songs oder Oral Poetry und Poetry Slams in den Unterricht integriert.417 In diesem Sinne würde sich ein größeres Slam Projekt mit deutsch und englischspra chigen Beiträgen und einer »internationalen« Jury anbieten. Auf diese Weise wird zudem ein Beitrag geleistet, um »die europäische Dimension stärker in das Bewusstsein der Lernenden zu verankern« und das »Leitziel der kultu rellen Handlungsfähigkeit (cultural competence)«418 zu fördern. Die Verbin dung von Slam Poetry und Musik eröffnet schließlich sogar die Möglichkeit, den Musikunterricht zusätzlich mit einzubeziehen, um die Texte der Schüler oder die mittelalterlichen Originale vertonen bzw. rhythmisch gestalten zu lassen. Im Sinne eines Spiralcurriculums sollen in der Oberstufe die in der Se kundarstufe I gewonnenen Einsichten wieder aufgegriffen und erweitert werden. Eine denkbare Weiterführung läge in einer genaueren Betrachtung der mittelhochdeutschen Sprachform, was eine Vermittlung von Sprachwan del in Bezug auf Bedeutungen, Grammatik und Orthographie mit sich brin gen würde. Kategorien, die in der Sekundarstufe I zugunsten anderer Lern ziele eher in den Hintergrund gerückt wurden.
4.9 Leistungsbewertung
Da innerhalb der Unterrichtseinheit komplexe Lern und Leseprozesse stattfinden und die Schüler ein hohes Maß an eigenständiger und engagierter Arbeit leisten, ist dafür zu plädieren, die Einheit nicht mit einer herkömmli chen Klausur oder einem Aufsatz abzuschließen. Auch die Vielfalt hinsicht lich der Methoden und Materialien im Unterricht unterstützt die Sichtweise, kein Testen und Messen »off-line« 419, sondern »on-line«, d.h. während des Lese und Lernprozesses, durchzuführen. Im Unterricht findet keine mecha nische Wissensvermittlung statt, Wissen, das sich im Nachhinein einfach abfragen ließe. Stattdessen steht der Erwerb von Grundfertigkeiten (z.B. Informationsbeschaffung, Recherche etc.) im Vordergrund. 420 Lernfort
416 Bickelmann, Elke/Lenkewitz, Susanne (2000): Fächerverbindendes Lernen in den Fächern Deutsch/Englisch. Projekte: »Fremd Sein« und »Liebe«. In: Brinkmöller Becker, Heinrich (Hrsg.): Fächerübergreifender Unterricht in der Sekundarstufe II: Projekte und Materialien für das Fächernetz Deutsch. Berlin, S. 65 100, hier S. 65. 417 Vgl. Nünning, Ansgar/Surkamp, Carola (2006), S. 86 f. 418 Bickelmann, Elke/Lenkewitz, Susanne (2000), S. 65. 419 Nünning, Ansgar/Surkamp, Carola (2006), S. 52. 420 Karg (1998), Der Bösewicht, S. 35.
77 schritte und Lernerfolge sollen deshalb auf andere Weise dokumentiert wer den: in Form von Portfolios, Lerntagebüchern oder Sammelmappen, die Lern und Erkenntnisprozesse dokumentieren: 421 Was haben die Schüler wirklich mitbekommen und gelernt, wie haben sie die Erkenntnisse verarbei tet?
421 Für eine detaillierte Darstellung der Vorteile von Lesetagebüchern und Portfolios vgl. Nünning, Ansgar/Surkamp, Carola (2006), S. 53 59.
78 5. Die deutsche Sprache historisch verstehen: Wal- thers Sangspruch als literarisches Exempel – Un terrichtseinheit für die Sekundarstufe II
5.1 Der Gegenstand und seine Bedeutung
In seiner 1897 unter dem Titel Die Bedeutung der deutschen Philologie für das Leben der Gegenwart gehaltenen Rede, lässt Hermann Paul verlauten: »Ein führung in das Leben und die Entwickelung der Spra che ist […] die beste Schulung für das Verständnis aller Kultur entwickelung überhaupt.«422 Diesen didaktischen Nutzen will auch das im Folgenden dargestellte Curriculum Modul aufzeigen. Wurde die Sprachge schichte lange Zeit in der Deutschdidaktik vernachlässigt und beklagt,423 so spielt sie heute mit dem Rahmenthemenkomplex des Zentralabiturs, »Refle xion über Sprache und Sprachgebrauch«424, eine deutlich wichtigere Rolle in der Sekundarstufe II des Gymnasiums.425 Dennoch strebt dieses Modul nicht ausschließlich nach einer Vermittlung deklarativen sprachgeschichtlichen Wissens, das aus kompetenzorientierter Perspektive einen unbestreitbar »notwendigen ›Beitrag zur Allgemeinbildung der Schülerinnen und Schüler in Form eines Orientierungs und Handlungswissens in Sprache, Literatur, und Medien und einer entsprechenden Verstehens und Verständigungs kompetenz‹«426 leistet, sondern nach einer Vermittlung sprachgeschichtli chen Wissens als zur Textarbeit dazugehörige Kompetenz. In diesem Kontext sprechen insbesondere zwei Gründe dafür, die textuel le Komponente der Unterrichtseinheit mit einem mittelhochdeutschen Text beispiel zu füllen: Erstens lassen sich sprachgeschichtliche Phänomene wie der Lautwandel innerhalb der deutschen Sprachen sehr gut anhand mittel hochdeutscher Texte nachvollziehen, die einen bestimmten Sprachstand repräsentieren, von denen aus die deutsche Sprachgeschichte weiter rekon struiert werden kann. Zweitens eignet sich vor allem Walthers von der Vo gelweide Sangspruchdichtung als Weiterführung bzw. neue spannende Ak
422 Paul, Herrmann (1998): Sprachtheorie, Sprachgeschichte, Philologie. Reden, Abhandlungen und Biographie. In: Henne, Helmut/Kilian, Jörg (Hrsg.): Tübingen, S. 85 105, hier S. 94. 423 Vgl. Kilian, Jörg (2008): Sprachgeschichte im Deutschunterricht vom gëlpfen bis zum dissen. Zur didaktischen Bedeutung mittelalterlichen Sprachhandelns für das Sprachlernen der Gegenwart. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55, H. 4, S. 380 398, hier S. 381. 424 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (2009) (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymna sium – gymnasiale Oberstufe. Internet Beleg: http://www.nibis.de/nli1/gohrgs/kerncurricula_nibis/kc_2009/go/KC_Deutsch_GO_i_2 009.pdf, Zugriff am: 03.02.2010, S. 48. 425 Man bedenke hier auch, dass andere Nationen schließlich auch weder »auf die literarische Tradition noch auf Standards der Sprache noch auf Kenntnisse ihrer geschichtlichen Ent wicklung« (Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 227) verzichten. 426 Kilian, Jörg (2008), S. 383.
79 zentverschiebung der in der Sekundarstufe I ausführlich thematisierten mit telalterlichen Gattung des Minnesangs. Zudem ist Spruchdichtung als au thentisches Exempel der Sprachstufe des Mittelhochdeutschen geradezu prädestiniert, »dem Schüler Historizität und Gesellschaftlichkeit von Litera tur zu zeigen.« 427 Der Terminus ›Sangspruchdichtung‹ umfasst dabei per Definition »Texte politischen Inhalts«,
die die Situation des (fahrenden) Dichters als lyrisches Rollenkonzept im allgemeinen oder im besonderen thematisieren, die von Abhängig keiten sprechen oder das behandeln, was man mit ›allgemeiner Le bensweisheit‹ umschreiben könnte, geht es um den Status und die Funktion von Dichtung, und sie bestimmen ihr Dasein und ihre Be rechtigung als Teil der höfischen Kultur.428
Die »poetische Leistung«429 dieser mittelhochdeutschen Lyrik besteht darin, dass sie die Entwicklung neuer Literatursprachen aus den Volkssprachen vorangetrieben und durch den Einsatz von rhetorisch stilistischen Mitteln ein neues Sprach und Kompetenzbewusstsein geschaffen hat. So soll der »Lehr Lern Bereich ›Sprachgeschichte‹ […] helfen, das Wesen der Sprache und die Wege und Wandelgänge des Sprachgebrauchs zu erfassen«430 und zwar nicht isoliert, d.h. ausschließlich mit Hilfe von Sach und Informations texten, sondern mit Hilfe eines literaturgeschichtlich bedeutsamen Textes (hier: Walthers Ich saz ûf eine steine). Eine derartige Kombination von Text und sprachhistorischem Wissen beginnt mit der Betrachtung des Sprachhandelns historischer Sprecher, »das als soziales Handeln begriffen wird«431 und entwickelt ein Textverständnis durch die Erarbeitung sprachhistorischen Wissens, um schließlich dem Textgegenstand an sich gerecht werden und »nach den Mitteln und Formen, deren sich die Sprecher zum Vollzug dieses Sprachhandelns bedienen«432, fragen zu können. Sprachwandel wird in diesem Sinne also primär als Be deutungswandel von Wörtern verstanden und exemplarisch vorgeführt. Dies kommt dem weitgehend konsensfähigen Verständnis entgegen, Sprache mit bedeutungstragenden Einheiten, sprich Wörtern, zu identifizieren und somit die Fremdheit oder Vertrautheit einer Sprache bzw. Sprachstufe anhand der bekannten Wörter zu messen. 433
427 Brackert, Helmut et al. (1976), S. 134. 428 Karg, Ina (1998a), S. 181. 429 Kern, Manfred (2001): Mittelalterliche Liebeslyrik. Eine fächerübergreifende Projektskizze, in: ide 25, H. 3, S. 83 88, hier S. 84. 430 Kilian, Jörg (2008), S. 383. 431 Ebd., S. 385 f. 432 Kilian, Jörg (2008), S. 385 f. 433 Vgl. Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 113.
80 Zum anderen eröffnet gerade der Wortschatz, wenn man ihn zu inter pretieren versteht, gleichsam Fenster in eine andere Kultur oder eine andere Zeit, mit anderen im Wortschatz verankerten gesellschaftlichen, kulturellen, politischen Voraussetzungen, Rahmenvorstellungen und Gepflogenheiten, so dass man sich dem Ziel, Texte und Sprache im so zialhistorischen Kontext verstehen zu lernen, besonders über den Wortschatz nähern kann.434
Ein solcher Unterricht zielt auf Sprachbewusstheit, auf Verstehen der deut schen Sprache als gewordene, historische, auf die Überwindung von Distanz zu einer früheren Sprachstufe. Ein solcher Unterricht verwendet die fremde Sprache des Mittelhochdeutschen, um ein aufmerksames und aktives Lesen zu fördern. Dieses wird durch die reiche Metaphorik und Symbolik des Spruchs Ich saz ûf eine steine, die die Imaginationsfähigkeit der Schülerin nen und Schüler anregt und unterstützt sowie durch den unübertrefflichen Klang der Waltherschen Lyrik unterstützt. Abschließend ist anzumerken, dass die Unterrichtssequenz bestenfalls auf Vorkenntnissen der Schüler aus der Sekundarstufe I aufbaut (vgl. CUM I), d.h. Progression betreibt, sodass
Wissen und Können sowie erworbene Einsicht nicht belassen, sondern stets wieder und in neuen, anderen, erweiterten und die Kenntnisse und das Verstehen erweiternden und vertiefenden Zusammenhängen aufgegriffen wird.435
Die unverzichtbare Bedeutung des Themenkomplexes für den Deutschunter richt besteht schließlich in der Erkenntnis,
dass Sprachwissen, Textwissen und (historisches) Weltwissen einander beeinflussen und erst recht ihrerseits davon beeinflusst sind, in wel cher Sprache sich heutige Rezipienten bewegen und mit welchem (heu tigem) Text und Weltwissen diese Sprache verknüpft ist.436
5.2 Bezug zum Kerncurriculum
Jörg Kilian empfiehlt in seinem Beitrag zur Sprachgeschichte im Deutschunterricht (2008) aus sprachdidaktischer Sicht »den Ausgang von der sprachlichen Gegenwart sowie von den Sprachhandlungserfahrungen der
434 Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 113. 435 Karg, Ina (1998a), S. 71. 436 Feistner, Edith/Karg, Ina/Thim Mabrey, Christiane (2006), S. 195.
81 Schülerinnen und Schüler zu nehmen«437, um darauf aufbauend den Weg in die Sprachgeschichte und schließlich zurück in die Sprachgegenwart zu ge stalten, auf dem
dann auch die sprachlichen Formen und deren Strukturen in den Blick zu nehmen [seien], desgleichen aber auch die kultur und sozial , ideen und mentalitätsgeschichtlichen Indikatoren und Faktoren die ses Prozesses.438
Ein solcher Weg lässt sich in Orientierung am Kerncurriculum entwickeln. Es wird dafür plädiert, den vorgestellten Themenkomplex dem Rahmenthe ma 6 (3. Schuljahr der Qualifikationsphase), »Reflexion über Sprache und Sprachgebrauch« 439 , innerhalb diesem genauer genommen dem Wahl pflichtmodul 6, »Sprachgeschichte«440, zuzuordnen, dem das Pflichtmodul sowie weitere Wahlpflichtmodule mit Bezug auf die »Tendenzen in der deut schen Gegenwartssprache«441 im Unterricht zeitlich vorausgehen sollen, um den didaktischen Schritt von der Gegenwart in die Vergangenheit und zu rück vollziehen zu können. So geht es im Zusammenhang des ausgewählten Rahmenthemas im Sekundarstufenbereich II »verstärkt um die Ausbildung metasprachlicher Kompetenzen«, wozu eine Betrachtung »des Verhältnisses von Sprache und Gesellschaft« sowie eine diachrone »sprachgeschichtliche Betrachtung«442 beitragen sollen. Basierend auf dem Kerncurriculum wird das grundlegende Ziel dabei in der Reflexion über Sprache und Sprachge brauch und der daraus resultierenden Sprachbewusstheit gesehen. Diese entwächst im Unterricht vor allem aus »problemorientierte[n] Einbli cke[n]«443 in die Sprachentwicklung des Deutschen. Durch die curriculare Einordnung soll auf der einen Seite gewährleistet sein, dass neben dem häufig bereits in der Sekundarstufe I thematisierten Minnesang, auch Sangspruch als ein zentraler Bestandteil mittelalterlicher Lyrik in den Unterricht integriert, reflektiert und diskutiert wird und dies auf einer höheren sprachlichen Reflexionsstufe als es in der Sekundarstufe I möglich ist. Denn gerade dieser regt durch seine kritisch politische Konnota tion und Wortwahl gezielt zum Nachdenken, auch über Sprache, an. Auf der anderen Seite soll die Betrachtung mittelalterlicher Lyrik unter dem Aspekt des stets Gleichen, nämlich der Einbettung in sog. Liebeslyrikeinheiten,444 vermieden und dadurch das Potential mittelhochdeutscher Lyrik effizienter ausgeschöpft werden. So verzichtet dieses Modul bewusst darauf, eine trivia
437 Kilian, Jörg (2008), S. 386. 438 Ebd. 439 Niedersächsisches Kultusministerium (2009), S. 48. 440 Ebd., S. 52. 441 Ebd., S. 50. 442 Niedersächsisches Kultusministerium (2009), S. 48. 443 Ebd. 444 Die Bedenken diesbezüglich wurden bereits in dieser Arbeit geäußert, vgl. S. 39.
82 le Zuordnung mittelalterlicher Lyrik in das Rahmenthema 4 (2. Schulhalb jahr der Qualifikationsphase) der Sekundarstufe II, »Vielfalt lyrischen Spre chens«445, genauer genommen dem Wahlpflichtmodul 1, »Liebesauffassun gen und Liebeserfahrungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart«446 vorzu nehmen und Walthers Under der linden exemplarisch auf eine epochentypische Vorstellung mittelalterlicher Liebe, auf Liebe als flüchtiger Begegnung des Glücks, 447 zu reduzieren, um dann zur nächsten Epoche zu ›springen‹.
5.3 Mögliche Lernziele und geförderte Kompetenzen
In Anlehnung an die ›Großkompetenz‹ »Sprache und Sprachgebrauch untersuchen: Reflexion über Sprache und Sprachverwendung«448 fördert die Unterrichtseinheit vor allem die folgenden Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler…
• …kennen und beurteilen Phänomene des Sprachwandels […] • …besitzen einen Überblick über die Entwicklung der deutschen Sprache […] • …erkennen und bewerten Sprachverwendung im Zusammenhang politi scher und gesellschaftlicher Interessen […] • …gewinnen exemplarisch Einblicke in den Zusammenhang von Denken, Sprechen und Wirklichkeit […].449 • …erschließen die Bedeutung von Wörtern […] • …untersuchen und beurteilen die Leistung semantischer Strukturen und sprachlicher Mittel […].450
Die weitere curriculare Einordnung des Stundenthemas ist in das Wahl- pflichtmodul 6, »Sprachgeschichte«451, möglich. Hiermit lässt sich sowohl die Behandlung der Herausbildung der deutschen Standardsprache als auch eine Thematisierung der Übersetzungsproblematik verorten und legitimie ren.452 Konkrete Lerninhalte, die sich aus diesen Oberthemen ergeben sind:
• Veränderungen im Wortschatz, semantische Erscheinungen; • Veränderungen im Vokalismus und Konsonantismus, Richtung und Ausbreitung der Lautveränderungen; • Bedeutungsverengung, erweiterung, verschlechterung, verbesserung;
445 Niedersächsisches Kultusministerium (2009), S. 32. 446 Ebd., S. 34. 447 Vgl. ebd. 448 Ebd., S. 15. 449 Niedersächsisches Kultusministerium (2009), S. 49. 450 Niedersächsisches Kultusministerium (2006b), S. 30. 451 Niedersächsisches Kultusministerium (2009), S. 52. 452 Vgl. ebd.
83 • Monophthongierung, Diphthongierung, Dehnung, Kürzung, Rundung; • Textuelle Anbindung, hier: an mittelalterliche Sangspruchdichtung. Unabhängig vom aktuellen Kerncurriculum und den dort aufgeführten Kompetenzen, haben Dieckmann/Voigt bereits vor knapp dreißig Jahren einen Lernziel Katalog für die Bereiche »Einsicht in die Geschichtlichkeit der Sprache« sowie »Bildung eines historischen Sprachbewusstseins« mit stets aktueller Gültigkeit entworfen, der sich in Anlehnung an das Kerncurri culum wie folgt formulieren lässt: Die Schülerinnen und Schüler…