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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

150 Jahre SPD und die nationale Frage Von „Vaterlandslosen Gesellen“ und „Einheitsverfechtern“

Autor: Claus Heinrich Redaktion: Martin Gramlich Regie: Andrea Leclerque Sendung: Donnerstag, 23. Mai 2013, 8:30 Uhr, SWR2 Wissen

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1 MANUSKRIPT

Atmo: Lied der Deutschen, Schöneberger Fassung 1989

Sprecher: , Schöneberger Rathaus, am 10. November 1989. Also einen Tag nach dem Mauerfall. Tausende Westberliner demonstrieren ihre Solidarität mit den Bürgern der DDR, die gegen die SED-Herrschaft und für ihre Freiheit kämpfen. Für den Redner Bundeskanzler gibt es Pfiffe, ebenso wie bei dem abschließend gesungenen „Lied der Deutschen“. Unter den Sängern und Rednern sind auch zwei Sozialdemokraten: der SPD-Ehrenvorsitzende und sein Nachfolger im Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Walter Momper:

Archiv-Aufnahmen: Walter Momper: Das war der Moment, auf den wir so lange gewartet haben. 28 Jahre lang, seit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 haben wir diesen Tag herbeigesehnt und herbeigehofft. Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt. Willy Brandt: Meine Überzeugung war es immer, dass die betonierte Teilung und dass die Teilung durch Stacheldraht und Todesstreifen gegen den Strom der Geschichte standen. Berlin wird leben und die Mauer wird fallen.

Ansage: 150 Jahre SPD und die nationale Frage – Von "Vaterlandslosen Gesellen" und "Einheitsverfechtern". Eine Sendung von Claus Heinrich.

Sprecher: In diesem Wendejahr 1989 scheinen die Sozialdemokraten endlich mit sich im Reinen zu sein. Denn mit Vaterland und Nation haben sie sich immer schwer getan. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört – so lässt sich Willy Brandt später zitieren. Aber: Gehören die Bundesrepublik Deutschland inklusive West-Berlin und die DDR nach 40 Jahren Trennung wirklich zusammen? Die Frage über das Ob, aber später vor allem über das Wie entzweite den ersten Nachkriegskanzler der Sozialdemokratie Willy Brandt von dem damals aktuellen Kanzlerkandidaten, Brandts politischen Enkel :

O-Ton – Oskar Lafontaine: Wir hatten auf einem Parteitag damals Reden gehalten. Dann kam er zu mir: „Ich war Dir wohl zu national“. Er hatte sinngemäß formuliert: der Zug der deutschen Einheit kann nicht stehen bleiben wenn die übrigen Europäer sich noch nicht versammelt haben. Ich habe ihm gesagt: „Ja, Du warst mir zu national.“ Das war ein Konflikt zwischen uns beiden. Ich habe das im Nachhinein so interpretiert, dass er aufgrund seines Lebens doch viel stärker noch in diesen nationalen Traditionen gelebt hat als ich. Ich hatte die Sorge, wenn wir zu sehr die deutsch-nationale Karte ziehen, dass dann die europäischen Partner misstrauisch werden und glauben, es kommt wieder ein Deutschland, dass ein zu großes Gewicht hat im Rahmen von Europa.

Sprecher: Der politische Gegner rechts von der SPD machte beiden, Brandt und Lafontaine, im Laufe ihrer politischen Karriere immer wieder den Vorwurf, „vaterlandslose Gesellen“ zu

2 sein. Ein alter Vorwurf aus der Kaiserzeit. Er bedeutet, dass die Sozialdemokraten sich nicht mit Deutschland identifizieren und sich nicht genug für ihr Land einsetzen. So wie alle Linken. Auch Brandt wurde vorgeworfen, sein Land verraten zu haben, als er 1933 vor den Nazis fliehen musste und vom Exil aus versuchte, den deutschen Widerstand zu unterstützen. Der erste Bundeskanzler spielte dann offen mit diesem Ressentiment:

Archivaufnahme: Konrad Adenauer: Es ist dringend notwendig, dass den Sozialdemokraten die Möglichkeit gegeben wird zu einem Bekenntnis, ob sie jetzt so national denken, wie der Durchschnittsdeutsche denken muss, oder nicht.

Sprecher: „Brandt an die Wand“ schrie noch enthemmter die extreme Rechte, als die sozialliberale Koalition die Entspannungspolitik mit dem kommunistischen Osten einleitete. Und sie schäumte, als Willy Brandt als Bundeskanzler dann 1970 in Warschau vor dem Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos kniete.

O-Ton – : Der Antifaschist, der Verfolgte kniet für sein Volk nieder, um wortlos um Vergebung zu bitten und um Wiederaufnahme in die Völkergemeinschaft in dem Land, in dem die meisten Menschen damals in die Konzentrationslager geschickt wurden, in Polen. Welch eine Geste.

Sprecher: Ist der derzeitige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel noch heute beeindruckt:

O-Ton – Sigmar Gabriel: Einen größeren Beitrag als Patriot kann man eigentlich nicht leisten. Und wieder hat die extreme Rechte, wieder hat auch die CDU/CSU ihn als Vaterlandsverräter beschimpft.

Sprecher: Zu Unrecht. Denn als 1989 die Mauer fiel und ein Jahr später die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten zur neuen Bundesrepublik gefeiert wurde, da schloss sich für den Patrioten Brandt der Kreis. Durch seine Politik der Aussöhnung und des Gewaltverzichts mit Polen und der Sowjetunion und mit dem Grundlagenvertrag mit der DDR. Ein Vermächtnis, das heute auch seine politischen Gegner anerkennen. Anders fällt bis heute das Urteil über den Einheitsskeptiker Oskar Lafontaine aus. [Bundesfinanzminister Theo Waigel 1990 im Deutschen Bundestag:

Archivaufnahme: Theo Waigel: Wenn Herr Lafontaine in den letzten 12 Monaten Regierungsverantwortung in Deutschland gehabt hätte, dann stünden wir jetzt vor einer Finanz- und wirtschaftspolitischen Katastrophe.

Sprecher: Lafontaine hatte eindringlich vor den wirtschaftlichen und sozialen Folgen einer zu schnellen Vereinigung auf der Grundlage eines 1:1-Währungstauschs gewarnt. Bis heute beurteilt er dies als Wahlkampfmanöver.

O-Ton – Oskar Lafontaine:

3 Kohl hat eben diese Situation gesehen: ich verspreche denen die D-Mark und dann gewinne ich die Wahl. Und diese Rechnung ist ja aufgegangen.]

Sprecher:] Die Sozialdemokraten und das Vaterland – wie gesagt, eine komplizierte Geschichte. Deutlich machen das: der langjährige sozialdemokratische Schriftsteller Günter Grass, der ehemalige Generalsekretär Klaus-Uwe Benneter und zunächst der SPD- Nachkriegsvorsitzende .

Archivaufnahme: Kurt Schumacher: Heute ist die Frage, Kommunist oder Sozialdemokrat, die Frage Russe oder Deutscher. Und wir sind Deutsche. Günter Grass: Ich habe vor dieser Form der raschen Vereinigung, die ein administrativer Akt gewesen sei, reiner Anschluss, gewarnt. Und aufgrund dieser Warnung wurde ich quasi als vaterlandsloser Geselle beschimpft. Klaus-Uwe Benneter: Das Merkel-Zitat „Reformen seien unmöglich zu machen, wenn man sein Land nicht liebt“, das unterstützt ja genau das, was die Bundesrepublik tut, eben die Agenda 2010 in Angriff nehmen. Wir lieben dieses Land. Und weil wir dieses Land lieben, deshalb setzen wir die Reformen um.

Sprecher: Als „vaterlandslos“ gelten Sozialdemokraten auch heute wieder, wenn sie sich in der europäischen Verschuldungskrise z. B. mit den französischen Sozialisten beraten. Kanzlerkandidat Peer Steinbrück:

Archivaufnahme: Peer Steinbrück: Ich bin sehr gespannt, ob es dann wieder Entgegnungen gibt von den politischen Kontrahenten, die hinter diesen Kontakten eine Art Verrat an Deutschlands Interessen vermuten. Das alles wird mir den Buckel runterrutschen.

Sprecher: Aber diese Polemiken sind natürlich kein Vergleich zu der brenzligen Situation, in der seinerzeit der SPD-Vorsitzende war. Am 23. März 1933 schleuderte er dem frisch ernannten Reichskanzler mutig entgegen:

Archivaufnahme: Otto Wels: Freiheit und Leben kann man uns nehmen. Die Ehre nicht. Sigmar Gabriel: Der Begriff vaterlandslose Gesellen ist ein Kampfbegriff der politischen Rechten, der äußersten Rechten, auch der Nationalsozialisten, der Reaktion in Deutschland gegen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gewesen. Die haben das Land und den Staat mit dem Kaiser oder mit dem Führer gleichgesetzt. Wer das kritisierte, war ein vaterlandsloser Geselle.

Sprecher: Anders als der heutige Parteichef Sigmar Gabriel stört sich sein Amtsvorgänger Oskar Lafontaine nicht an dem „Vorwurf“, die Sozialdemokraten, seien vaterlandslose Gesellen. Dies geschehe …

O-Ton – Oskar Lafontaine: … teilweise zu Recht, weil die SPD sich natürlich im Rahmen der internationalen Arbeiterbewegung als ein Glied dieser Arbeiterbewegung verstanden hat und daher

4 dumpfen Nationalismus niemals mittragen konnte. Wir sehen in den Arbeitern der anderen Länder unsere Schwestern und Brüder. Und das war ja auch die Begründung für die Verweigerung, Kriege mit zu führen. Weil man hat einfach gesagt, wir wollen nicht, dass Arbeiter auf Arbeiter schießen.

Sprecher: Hat man dann aber doch im Ersten Weltkrieg. Und fast alle sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten stimmten 1914 den kriegswichtigen Krediten zu:

O-Ton – Oskar Lafontaine: Das war ein schwerer Sündenfall. Aber es war ja nicht so, dass nur die deutsche Sozialdemokratie von nationalen Wellen ergriffen worden ist, das ging ja durch ganz Europa. Da stoßen wir auf ein Phänomen, mit dem sich die Arbeiterbewegung immer auseinandersetzen musste. Das Phänomen, dass natürlich die Menschen dem Zeitgeist hinterherlaufen.

[Die Menschen wollen dazugehören. Gegen den Strom zu schwimmen erfordert viel mehr Kraft als mit dem Strom zu schwimmen, und deshalb schwimmen die meisten mit dem Strom. Das ist ein Problem, dem sich eine linke Partei immer stellen muss. Die Sozialdemokraten sind ja keine besonderen Menschen, keine großen Helden. Es sind Menschen wie Du und ich.

Sprecher: Die Zustimmung zu den Krediten für den Ersten Weltkrieg hält auch der amtierende SPD-Vorsitzende heute für einen Sündenfall:]

O-Ton – Sigmar Gabriel: Ja. Ganz sicher, es hat ja auch zu den ersten Spaltungen in der SPD geführt. Aber natürlich haben Sozialdemokraten damals vielleicht auch unter dem Eindruck dieses Vorwurfs, sie seien vaterlandslose Gesellen, nicht das getan, was noch wenige Monate zuvor sich übrigens alle Arbeiterparteien in Europa geschworen hatten, nämlich nicht die Arbeiterklasse aufeinander schießen zu lassen. Das ist schon, wenn Sie so wollen, ein Sündenfall in der Geschichte.

Sprecher: Der Erste Weltkrieg übertraf alle bislang bekannten Zerstörungen. Millionen Tote an der Front und schlimme Opfer in der Zivilbevölkerung. Die anfängliche Kriegsbegeisterung erlahmte schnell. Auch bei den Sozialdemokraten. Der Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann hielt 1917 im Reichstag eine Friedensrede:

Archivaufnahme: Philipp Scheidemann: Es ist genug. Jeder Mann mit Verantwortungsgefühl und Gewissen solle sich die Frage vorlegen, ob es erträglich wäre, immer neue Hunderttausende auf die Schlachtbank zu schicken. Es wäre ein Glück für ganz Europa, wenn wir schnellstens einen Frieden der Verständigung haben könnten. Würde die deutsche Regierung ihre Eroberungszüge fortsetzen wollen, dann, meine Herren, verlassen Sie sich darauf, dann haben Sie die Revolution im Lande.

Sprecher:

5 Die Revolution kam dann auch prompt ein Jahr später, 1918. Der gleiche Philipp Scheidemann rief auf dem Balkon des Reichstags vor Tausenden Menschen die Republik aus.

Archivaufnahme: Philipp Scheidemann: Arbeiter und Soldaten! Der unglückselige Krieg ist zu Ende. Das Morden ist vorbei. Der Kaiser hat abgedankt. Er und seine Freunde sind verschwunden. Über sie alle hat das Volk auf der ganzen Linie gesiegt. Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik!

Sprecher: Damit war Scheidemann dem Spartakisten zuvor gekommen, der die deutsche Sowjetrepublik ausrufen wollte. Ein historisches Versagen der Sozialdemokratie, findet Oskar Lafontaine. Der Historiker Heinrich August Winkler sieht das allerdings ganz anders:

Archivaufnahme: Heinrich August Winkler: Eine Politik des revolutionären Klassenkampfes mit dem Ziel der Diktatur des Proletariats, wie die die Spartakisten auf dem äußersten linken Flügel der Unabhängigen Sozialdemokraten propagierten, sie hätte in Chaos und Bürgerkrieg, ja zurück in den Weltkrieg geführt. Sie wäre eine Katastrophenpolitik gewesen.

Sprecher: Die SPD wollte eben keinen Bürgerkrieg. Sie bekämpfte also die aufständischen Kommunisten – und [paktierte mit den gemäßigt bürgerlichen Parteien. Zum Preis der dauerhaften Spaltung der Arbeiterbewegung in einen revisionistisch- sozialdemokratischen und einen revolutionär-kommunistischen Teil. Und] sie verzichtete darauf, die alten wilhelminischen Kräfte zu verjagen. Für den Historiker ein Fehler.

Archivaufnahme: Heinrich August Winkler: Die SPD hätte bei stärkerem Gestaltungswillen in der revolutionären Übergangszeit in der Tat weniger bewahren und mehr verändern können. Und das vor allem im Hinblick auf die Unterordnung des Militärs.

O-Ton – Sigmar Gabriel: Die Frage ob man hätte gegenüber reaktionären Strukturen des alten Kaiserreichs, der Generalität, des reaktionären Beamtentums mehr hätte erreichen können? Na ja, wir stellen am Ende der Weimarer Republik fest: Die Republik ist gescheitert mangels Demokraten. Das ist historisch schwer zu beurteilen. Jedenfalls hat die SPD immer versucht, mit parlamentarischen Mitteln, diese Demokratie zu verteidigen. Übrigens: Die Arbeiter- und Soldatenräte damals wollten mehrheitlich auch nicht den Weg von Karl Liebknecht und gehen.

Sprecher: Die Kommunisten wurden auch nach der revolutionären Phase von 1918/19 keine Partner der Sozialdemokraten mehr. Erst recht nicht am Ende der Weimarer Republik, erläutert der Historiker Heinrich August Winkler:

Archivaufnahme:

6 Heinrich August Winkler: Ein Zusammengehen mit den Kommunisten, die im Zeichen von Stalins ultralinker Wende von 1928, die Sozialdemokraten beharrlich als „Sozialfaschisten“ diffamierten, war nicht vorstellbar. Hätte die SPD auf eine linke Einheitsfront gesetzt, wäre dies das Ende jedweder Art von Machtbeteiligung gewesen. Die SPD hätte einen erheblichen Teil ihrer Wähler und Mitglieder verloren. Und noch mehr verschreckte bürgerliche Wähler in die Arme der Nationalsozialisten getrieben. Die Vorstellung, man könne auf diese Weise die Demokratie retten, war angesichts des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen SPD und KPD reines Wunschdenken. Ja, nach Einschätzung der sozialdemokratischen Parteiführung um Otto Wels ein Ausdruck von politischem Abenteurertum.

Sprecher: Es war auch jener SPD-Vorsitzende Otto Wels, der nach Einschätzung von Heinrich August Winkler die Ehre der ersten deutschen Republik gegen die Nazis verteidigt hat. Mit seiner schon erwähnten Rede gegen das sogenannte Ermächtigungsgesetz 1933. Es übertrug Hitlers Schergen nahezu unbeschränkte Macht. Die bürgerlichen Parteien stimmten für das Ende der Weimarer Demokratie. Die Kommunisten waren bereits verboten. Otto Wels‘ Rede im März 33 fiel übrigens streckenweise deutlich konzilianter aus, als das berühmte Zitat „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ vermuten lässt:

Archivaufnahme: Otto Wels: Meine Damen und Herren. In der außenpolitischen Forderung deutscher Gleichberechtigung, die der Herr Reichskanzler erhoben hat, stimmen wir Sozialdemokraten umso nachdrücklicher zu, als wir sie bereits seit jeher grundsätzlich verfochten haben. Ich darf mir wohl in diesem Zusammenhange die persönliche Bemerkung gestatten, dass ich als erster deutscher vor einem internationalen Forum auf der Berner Konferenz am 3. Februar des Jahres 1919 die Unwahrheit von der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges entgegen getreten bin. Nie hat uns irgendein Grundsatz unserer Partei daran hindern können oder gehindert, die gerechten Forderungen der deutschen Nation gegenüber den anderen Völkern der Welt zu vertreten.

Sprecher: Deutsch-nationale Töne eines Sozialdemokraten im Angesicht des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler. Wie ist dies zu erklären?

Archivaufnahme: Heinrich August Winkler: Der Redner sollte zum einen lebend vom Pult herunterkommen. Zum anderen hatte nur eine maßvolle Rede Aussicht, über die bürgerliche Presse im Lande verbreitet zu werden.

Sprecher: Und: Die sozialdemokratischen Abgeordneten, die nicht vorher schon verhaftet worden sind, standen im Spalier von SA und SS unter Lebensgefahr. Und diese Atmosphäre der Bedrohung sollte die nächsten zwölf Jahre Deutschland und die halbe Welt beherrschen.

Einer, der unter den Nazis jahrelang in vielen Konzentrationslagern saß, war der erste Nachkriegsvorsitzende der SPD, Kurt Schumacher. Er wollte sich mit der drohenden deutschen Spaltung nicht abfinden. Anders als der erste Bundeskanzler Konrad

7 Adenauer. Den nannte Schuhmacher einen „Kanzler der Alliierten“. Aufgrund Adenauers Politik der Westbindung auf Kosten einer möglichen Wiedervereinigung. Auf dem SPD-Parteitag 1950 rief Schumacher pathetisch:

Archivaufnahme: Kurt Schumacher: Deutschland ist als Ganzes beieinander und Deutschland ist als Staat ein einziges großes Ganzes. Und die Einheit Deutschlands ist die Aufgabe der Demokratie in Europa und der Welt. Eine bloß antideutsche Politik ist eine antieuropäische Politik.

Sprecher: Die Sozialdemokraten waren nach dem Krieg die eigentlichen Einheitsverfechter. Auch wenn sie sich ein neutrales, aber vereinigtes Deutschland vorstellen konnten. Den sogenannten Stalinnoten von 1952 erlagen die meisten Sozialdemokraten nicht. Das Angebot also, Deutschland wieder zu vereinigen. Wohl auch, weil sie den Kommunisten nach der bitteren Zwangsvereinigung von SPD und KPD im Osten nicht trauten.

O-Ton – Sigmar Gabriel: Ich hab mal als SPD-Parteivorsitzender jemanden geehrt, der 80 Jahre in der SPD war. Fit. Und der erzählte die bewegende Geschichte, wie er mit seinem Vater 1933 die SPD-Fahne und alles was an die SPD erinnerte im Garten vergraben hat, es ´45 ausgrub und dann bald wieder, weil das Ganze im Osten stattfand, wieder vergraben musste, weil sie wieder unter Verfolgungsdruck war.

Sprecher: Deutschland blieb also geteilt. Die Sozialdemokraten im Osten wurden von den Kommunisten einverleibt. Im Westen stand die SPD zwar in der Opposition zu Adenauers CDU. Deren Kurs der Westintegration trug die SPD aber nach anfänglichen Widerständen letztlich mit. Aus Sicht des heutigen Linken-Politikers Oskar Lafontaine:

O-Ton – Oskar Lafontaine: … war das eher ein Sündenfall. Denn das Bekenntnis zur Nato, zur Wiederaufrüstung letztendlich dann auch, hat ja die Prinzipien der Arbeiterbewegung nicht reflektiert, die auf internationale Zusammenarbeit und Abrüstung immer orientiert war, auf friedliches Zusammenleben. Und dies hat teilweise nach meinem Urteil Willy Brandt mit seiner Entspannungspolitik wieder korrigiert.

Sprecher: Es war dann Brandts Nachfolger im Kanzleramt , der eine Nachrüstung mit Cruise Missiles und Pershing auf westdeutschem Territorium einforderte. Als Antwort auf die Stationierung sowjetischer SS 20-Mittelstreckenraketen in Osteuropa. Die Jüngeren in der SPD um Willy Brandt rebellierten dagegen, allen voran Lafontaine:

O-Ton – Oskar Lafontaine: Wenn also jedes Land die Fähigkeit hat, das andere einmal total zu vernichten, dann würde es ja an und für sich schon ausreichen. Aber wenn es zwanzig Mal vernichten kann und noch mehr, und noch mehr, dann ist ja irgendwann mal die Frage die, ob das noch einen Sinn macht weiter aufzurüsten. Das war im Grunde genommen der große Konflikt.

[O-Ton – Sigmar Gabriel:

8 Man muss allerdings aber heute der Fairness willen sagen, Helmut Schmidt hat recht behalten. Die Härte gegenüber der Sowjetunion hat dann zu Verhandlungen geführt.]

O-Ton – Oskar Lafontaine: Ich glaube, dass das ein auslösender Faktor war.] Die Frage ist, ob es richtig war so vorzugehen, den Zusammenbruch durch Überrüstung mit herbeizuführen. Ich glaube, die Gesellschaftssysteme standen miteinander im Wettbewerb. Und deshalb würde ich eben sagen: Das Gesellschaftssystem, das die Sowjetunion repräsentiert hat, hat diesen Wettbewerb nicht bestanden.]

Sprecher: Erstmals seit langem hörte man bei den Friedensbewegten, die in den 80er Jahren gegen die Nachrüstung im Westen protestierten, auch wieder deutsche, nationale Töne. Standen nicht die beiden deutschen Staaten im Mittelpunkt der neuen atomaren Bedrohung, drohte nicht ein gesamtdeutsches Schlachtfeld, wenn Amerikaner und Sowjets die auf Boden der beiden deutschen Staaten stationierten Mittelstreckenraketen zum Einsatz bringen würden? Eine Debatte über das nationale Selbstverständnis irritierte das Ausland, insbesondere Frankreich. Willy Brandt versuchte im Jahr 1982, diese Ängste zu nehmen. Anlass waren die Feierlichkeiten zum 150. Jahrestag des Hambacher Fests für bürgerliche Freiheit und deutsche Einheit:

Archivaufnahme: Willy Brandt: Ob die Deutschen wohl wieder zu einem Faktor der Unberechenbarkeit in Europa würden. Und ich sage nun gerade unter Berufung auf das Hambacher Fest: Wir Deutschen, wir haben gebrochen mit jener unseligen Tradition des Hasses, der Überheblichkeit und des Militarismus. Und ich bekräftige hier gern auf diesem Platz zu Neustadt meinen Satz: Nein, nach allem was passiert ist, kann ein guter Deutscher kein Nationalist sein.

Sprecher: [Hatte Brandt mit seinen Worten dem deutschen Nationalismus endgültig den Garaus gemacht? Zwar gelang die Deutsche Einheit wenige Jahre später friedlich und weitgehend ohne dumpfes Getöse.] Böse nationalistische Stimmungen machten sich aber schon bald nach der Vereinigung wieder breit und zwar in ihrer hässlichsten Form. Unter dem Eindruck brennender Asylbewerberheime in Rostock, Hoyerswerda und Mölln wollte die schwarz-gelbe Bundesregierung das Grundrecht auf Asyl drastisch einschränken. Zunächst stieß sie dabei auf den Widerstand der SPD unter Parteichef Björn Engholm. Dennoch stimmte sie 1993 der Änderung des Asyl-Artikels im Grundgesetz zu. Der spätere Literaturnobelpreisträger Günter Grass trat aus Protest aus der SPD aus:

O-Ton – Günter Grass: Hier sind Teufelchen und Teufel losgelassen worden. Diese latente Ausländerfeindlichkeit ist eine Sache, die deutsch ist.

Sprecher: Oskar Lafontaine verteidigt gegenüber Grass die Einschränkungen bei der Zuwanderung:

O-Ton – Oskar Lafontaine:

9 Ich habe ihm gesagt, die Zuwanderung ist nicht ein Problem der wohlhabenden Leute, zu denen auch die politischen Führungen und die Schriftsteller gehören. Die Zuwanderung ist ein Problem der kleinen Leute. Wenn ich gesehen habe, wie die Zusammensetzung der Zuwanderer war: Alte, Kranke, Behinderte habe ich nie gesehen.

Sprecher: Oskar Lafontaine, der Populist. Er spielte zum Bespiel Spätaussiedler gegen Asylbewerber aus oder sprach von „Fremdarbeitern“, die deutsche Arbeitsplätze in Deutschland gefährdeten. Heute wiegelt er ab:

O-Ton – Oskar Lafontaine: Das ist mir so rausgerutscht, das wurde dann ausgerechnet von der Bild-Zeitung hoch geblasen, alle rannten dann wieder hinterher.

Sprecher: Auch die SPD war und ist nicht gefeit gegen fremdenfeindlichen oder nationalistischen Populismus, und das geht nicht nur auf das Konto von Thilo Sarrazin und seine umstrittenen Thesen über muslimische Migranten. Ex-SPD-Chef Franz Müntefering bezeichnete ausländische Hedgefonds als „Heuschrecken“. Wer sein Geld an der Steuer vorbei ins Ausland bringt, ist für Sigmar Gabriel ein „Asozialer“. Deutschen Unternehmern, die lieber im Ausland investieren, wird mangelnder Patriotismus vorgeworfen. Lafontaine verteidigt solche Kritik am globalisierten Kapitalismus mit dem Hinweis, dass …

O-Ton – Oskar Lafontaine: … dieser Vorwurf der Vaterlandslosigkeit auch schon vor dem Ersten Weltkrieg nicht den braven deutschen Arbeiterführern zu machen war, sondern dem Kapital, das eben, weil es nur auf Gewinn aus ist, und Patriotismus stört dabei allenfalls, das eben immer, wenn man so will, vaterlandslos war. Alles wurde, was sich irgendwo national im Sinne des Schützens des Sozialstaates geäußert hat, wurde diffamiert als nationalistisch oder so. Dieser Vorwurf ist mir auch gemacht worden, als ich gesagt habe, wir müssen den Sozialstaat in Deutschland erhalten, wir müssen ihn schützen.

Sprecher: Der neue deutsche Nach-Wende-Patriotismus ist also keineswegs so entspannt, wie es manche glauben machen wollten. [Etwa nach der Fußballweltmeisterschaft 2006 unter der von Gerhard Schröder erfundenen Parole „Zu Gast bei Freunden“.] Denn nach dem Ende der Blockkonfrontation war das Undenkbare wieder denkbar und sehr real geworden: Krieg in Jugoslawien, mitten in Europa. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder:

Archivaufnahme: Gerhard Schröder: Eine verantwortliche, eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung hatte keine andere Wahl als alle, aber auch alle Mittel zu nutzen, um diesen Treiben Milosevics ein Ende zu bereiten.

[Sprecher: Für Oskar Lafontaine war der Kosovokrieg 1999 einer der Gründe für seinen Rückzug aus dem Kabinett Schröder und vom SPD-Parteivorsitz.

10 O-Ton – Oskar Lafontaine: Oskar Lafontaine: Ich habe mich im Kabinett mich zurückgehalten, weil ich wusste, dass alles im Kabinett am nächsten Tag in der Bild-Zeitung oder im Spiegel oder wo auch immer steht. Habe allerdings die beiden verantwortlichen Minister Scharping und Fischer damals regelrecht angefaucht: „Weiß hier überhaupt irgendjemand, was da passieren soll?“ Bekam keine Antwort. Diese Diskussion führte ich schon so aggressiv, dass eigentlich jeder merken musste, was los war. Das war schon ein ganz gravierender Sündenfall. Und war einer der Ursachen für meinen Rücktritt.]

Sprecher: Deutschland hat sich zwar militärisch kaum aktiv am Kosovokrieg beteiligt. Aber das Kriegstabu in Deutschland war damit gebrochen. Deutsche Bundeswehrsoldaten konnten und wurden inzwischen weltweit militärisch eingesetzt. Auch in Afghanistan – auf Befehl sozialdemokratischer Politiker wie Verteidigungsminister Peter Struck und Gerhard Schröder.

Archivaufnahme: Gerhard Schröder: Ich habe dem amerikanischen Präsidenten George Bush die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands zugesichert. Peter Struck: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.

O-Ton – Oskar Lafontaine: Den Satz des leider verstorbenen Peter Struck, den habe ich wirklich als eine Beleidigung des klaren Denkens empfunden. Das ist ja die Öffnung der Kriegsoption für die ganze Welt.

Sprecher: Bemerkt Oskar Lafontaine. Deutschland ist dabei auf dem Balkan oder in Afghanistan. Aber zum Irak-Krieg 2003 sagte die Rot-Grüne Bundesregierung Nein:

[Archivaufnahme: Gerhard Schröder: Wer immer etwas entscheidet der Folgen wegen und der Bedingungen wegen, wird sich Deutschland unter meiner Führung an einer militärischen Intervention im Irak nicht beteiligen.]

O-Ton – Sigmar Gabriel: Es bedarf eines Beschlusses der Vereinten Nationen. Deswegen konnte die SPD Ja sagen zum Einsatz gegen die Taliban in Afghanistan und deswegen musste die SPD Nein sagen zum Irak-Krieg, denn der war völkerrechtswidrig. Dass die SPD eine Partei ist, die sich immer schwer tut mit Waffeneinsatz, darauf bin ich ehrlich gesagt stolz.

Sprecher: Die SPD ist keine pazifistische Partei. Aber eben auch keine nationalistische. Sie hat, worauf der Vorsitzende Sigmar Gabriel mit einigem Stolz verweist, schon zwischen den großen Kriegen versucht, dem Teufelskreis von Nationalismus und Krieg in Europa zu entkommen.

O-Ton – Sigmar Gabriel: Genau das hat dazu geführt, dass die SPD 1925 auf ihrem Heidelberger Parteitag beschlossen hat, damit wir das verhindern, brauchen wir die Vereinigten Staaten von Europa. Das müssen Sie sich mal vorstellen – 1925!

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Sprecher: Die Vereinigten Staaten von Europa, die damals utopisch und heute immer noch fern erscheinen, das könnte eine Antwort auf Krieg und Nationalismus sein. Und so ein „Vaterland Europa“ braucht dringend „patriotische Gesellen“ wie die deutschen Sozialdemokraten. Denn auf alte und neue Nationalisten kann es nicht setzen.

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