EINE ZEITSCHRIFT DER ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG 2 19 ENTEIGNUNG ALS GESCHÄFTSMODELL 23 SOZIALEN WOHNUNGSBAU ANDERS MACHEN GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 20192015 KLEINGÄRTEN UND KLASSENKAMPF WIE LEBEN IN RECHTEN RÄUMEN? MIETER*INNEN GEGEN IMMOBILIENKONZERNE SCHÖNER WOHNEN MARGIT MAYER | ANDREJ HOLM | INGO SCHULZE UND URBANE REALITÄT KATALIN GENNBURG | KNUT UNGER | GRETA PALLAVER | ARMIN KUHN

WENDEZEIT – WER SCHREIBT GESCHICHTE? EMBURG

X ULRIKE HAMANN | REMZI UYGUNER | BEA FÜNFROCKEN | CHRISTOPH

ISSN 1869-0424 LU TRAUTVETTER | ERASMUS SCHÖFER | MARIEKE PREY | JAN SAHLE U.A. 1/2019 EUROPA – TROTZ ALLEDEM Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise. Fliehkräfte und Gegensätze nehmen zu, ein EinE ZEitschrift dEr rosa-LuxEmburg-stiftung 1 19 das LinkE diLEmma mit Europa 13 autoritärEr konsEns: das Eu-sichErhEitsrEgimE GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 20192015 Fortbestehen der Union ist nicht gesichert. Zugleich festigen und vertiefen die Politiken der EU monstEr und gEspEnstEr momEntum für Ein Europa dEr ViELEn EinE fEministischE intErnationaLE im WErdEn globale Ungleichheiten. Die real existierende EU repräsentiert nicht in Ansätzen das Europa, Europa – trotZ aLLEdEm stuart haLL | kathrin röggLa | Lukas Was ist dEmokratischEs charisma?

mbURG obErndorfEr | fLorian WEis | kErstin WoLtEr | max LiLL | aLEx

rEproduktiVE gErEchtigkEit E X WischneWski | hannah schurian | andrej hunko | Beppe caccia | das wir uns wünschen. Doch wie lässt sich der europäische Horizont im Blick behalten, ohne

issn 1869-0424 LU WEnkE christoph | stEfaniE krohn | sandro mEZZadra u.a. die neoliberalen Institutionen der EU als Geschäftsgrundlage zu akzeptieren? Wie lassen sich solidarische Antworten finden auf transnationale Herausforderungen? Wie lässt sich Europa anders machen: solidarisch und demokratisch und im Interesse der Vielen?

BEITRÄGE VON Beiträge von Stuart Hall, Kathrin Röggla, Lukas Oberndorfer, Florian Weis, Kerstin Wolter, Max Lill, Alex Wischnewski, Hannah Schurian, Andrej Hunko, Beppe Caccia, Wenke Christoph, Stefanie Kron, Sandro Mezzadra u.a.

April 2019, 136 S.

3/2018 ICH WERDE SEIN

eine Zeitschrift der rosa-luxemburg-stiftung 3 Rosa Luxemburg steht für eine Haltung, in der Entschiedenheit im politischen Kampf und »weit- 18 »wer weitergeht, wird erschossen!« 3 luxemburg als soZialistische feministin GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 20182015 wie kritisiert man revolutionen? herzigste Menschlichkeit« ein Ganzes bilden. 100 Jahre nach ihrer Ermordung ist sie zur Ikone care als feld neuer landnahme lehren und lernen mit luxemburg ich werde sein Drucilla cornell | Gal Hertz | tove SoilanD | 15 tage, die die welt erschütterten geworden, doch die Beschäftigung mit ihrem Werk bleibt oft oberflächlich. Die Jubiläumsausgabe

mbURG Jörn schütrumpf | uwe sonnenberg | w alter baier | miriam

ernst bloch mit gramsci lesen E

X pieschke | Judith dellheim | michael löwy | Janis ehling |

issn 1869-0424 LU Kate evanS | Jan reHmann | HolGer Politt u.a. fragt nach der Bedeutung ihres Denkens und Tuns für heute: Wie dachte Luxemburg das Verhält- nis von Partei und Bewegung? Wie hielt sie es mit dem Internationalismus? Wie können wir uns als Feminist*innen auf sie beziehen? Wie ging sie mit dem Widerspruch zwischen Reform und Revolution um? Und was können wir von ihr über Strategien der Organisierung lernen?

BEITRÄGE VON Drucilla Cornell | Michael Brie | Alex Demirović | Judith Dellheim | Janis Ehling | Gal Hertz | Michael Löwy | Miriam Pieschke | Holger Politt | Ingo Schmidt | Tove Soiland | Jörn Schütrumpf, Ingar Solty & Uwe Sonnenberg u.a.

Januar 2019, 176 Seiten

2/2018 AM FRÖHLICHSTEN IM STURM: FEMINISMUS Der Wind weht scharf. Autoritarismus und Rechtsradikalismus gewinnen an Zustimmung. eine zeitsChrift der rosa-luxeMBurg-stiftung 2 18 von #Metoo zu #WestriKe 23 einstiege in eine feministische trAnsformAtion GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 20182015 Aber auch der Feminismus ist zurück. Er bildet die einzige transnationale Bewegung, die gender als syMBolisCher Kitt transfeMinisMus und neue KlassenpolitiK faMilien- und gesChleChterpolitiK á la afd einen sicht­baren Gegenpol zur Rechten und zum Neoliberalismus markiert und den Aufbruch Am fröhlichsten im sturm: feminismus Margarita tsoMou | Kinder, KüChe, KlassenKaMpf

mbURG Kate Cahoon | atlanta ina Beyer | WeroniKa grzeBalsKa | lia

leBensWeise als frage gloBaler gereChtigKeit E X BeCKer | Melinda Cooper | liz Mason-deese | eszter Kováts | in eine bessere Zukunft verkörpert. Sie ist sozial heterogen und thematisch vielfältig – AM

issn 1869-0424 LU andrea pető | alex WisChneWsKi | stefanie hürtgen u.a. ­FRÖHLICHSTEN IM STURM! Wie kann ein inklusiver Feminismus aussehen? Wie lässt er sich von den Rändern her entwickeln? Und wie kann eine feministische Klassenpolitik entstehen, die auch die Klassenanalyse auf die Höhe der Zeit bringt?

BEITRÄGE VON Margarita Tsomou | Kate Cahoon | Atlanta Ina Beyer | Weronika Grzebalska | Lia Becker | Melinda Cooper | Liz Mason-Deese | Eszter Kováts | Andrea Pető | Alex Wischnewski | Stefanie Hürtgen u.a.

Demonstration »Stoppt den Mietenwahnsinn« in Berlin, April 2019 September 2018, 144 Seiten Foto: Umbruch Bildarchiv 1/2018 ERST KOMMT DAS FRESSEN Das globale Ernährungssystem scheitert nicht nur an dem Anspruch, die Welt satt zu machen. EiNE ZEiTSchRiFT DER ROSA-luxEMBuRg-STiFTuNg 1 18 hARTZ-iV-MENü uND FEiNKOSTThEKE 31 AuFSTAND iN DER liEFERKETTE GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 20182015 Es schafft auch neue Abhängigkeiten und untergräbt die Selbstbestimmung von Staaten und AlTERNATiVEN jENSEiTS DER NiSchE POPuliSMuS FüR DEN läNDlichEN RAuM? DEN BODEN NEu VERTEilEN lokalen Gemeinschaften. Es sind die Bewegungen von Landlosen und Kleinbäuer*innen im ERST KOMMT DAS FRESSEN PhiliP McMichAEl | STEPhANiE WilD | iMPERiAlE lEBENSWEiSE MEETS KlASSE

mbURG chRiSTA WichTERich | KAlyANi MENON-SEN | KiRSTEN TAcKMANN |

WAS BlEiBT VON 68? E X SATuRNiNO M. BORRAS | liNDA REhMER | BENjAMiN luig | STEFFEN globalen Süden, die sich seit Jahrzehnten für »Ernährungssouveränität« stark machen. Für sie

iSSN 1869-0424 LU KühNE | ulRich BRAND | MARKuS WiSSEN | RhONDA KOch u.A. ist der Kampf gegen das Ernährungsregime der Konzerne ein Kampf um Demokratie. Auch hierzulande regt sich Widerstand gegen die Nahrungsmittelindustrie, nicht erst seit den »Wir haben es satt«-Demonstrationen. Wie lässt sich diese Kritik von links aufgreifen und zuspitzen?

BEITRÄGE VON Philip McMichael | Stephanie Wild | Christa Wichterich | Kalyani Menon-Sen | ­Kirsten Tackmann | Saturrnino M. Borras | Linda Rehmer | Benjamin Luig | Steffen Kühne | Markus Wissen | Ulrich Brand | Rhonda Koch | Michael Bättig u.a.

Juni 2018, 132 Seiten »Wir brauchen eine neue Art Politik zu machen. [...] »Die Einkommen Dabei müssen wir wachsen nicht so stark wie konkrete Lösungen anbieten, die Gewinne und Mieten. und diese so durchsetzen, dass sie Früher oder später das Leben der Leute verändern. muss dieser Widerspruch Die Demokratie lässt sich zum Knall führen, am besten auf der lokalen politisch oder wirtschaftlich. [...] Ebene verwirklichen. Die Geschäftsmodelle der Dort leben wir unseren Alltag Immobilienkonzerne basieren und dort ist die Regierung auf der alltäglichen Enteignung nahe an den Menschen.« der Mieter*innen.

Ada Colau, Bürgermeisterin von Barcelona Der nicht ganz neue Gedanke, die Enteigner zu enteignen und Wohnungen unter gesellschaftliche Kontrolle zu bringen, ist deshalb naheliegend.«

Knut Unger in diesem Heft

MIETE UND RENDITE BAUSTELLEN UND HEBEL STADT UND RAND Gespräch über Enteignungsstrate- Warum der Soziale Woh- Warum Klimaschutz und gien von Deutsche Wohnen & Co. nungsbau seinen Namen soziale Wohnungspolitik und Möglichkeiten der Gegenwehr nicht verdient zusammengehören Mit Knut Unger Von Andrej Holm Von Greta Pallaver SCHWERPUNKT: SCHÖNER WOHNEN

RENDITE UND MIETE 12 Bewegung in der 34 INTERVIEW: unternehmerischen Stadt »Enteignung ist inzwischen Wie sich das Terrain mehrheitsfähig« verändert hat Gespräch über Mieter*innen- Von Margit Mayer Organisierung und die Erneuerung linker Politik 10 BILDSTRECKE: 20 INTERVIEW: Mit Marieke Prey und Im Namen des Bauherrn »Das Geschäftsmodell basiert­ Jan Sahle Von Dimitrij Leltschuk auf der Enteignung der Mieter*innen« LUXEMBURG ONLINE: Gespräch über die Praktiken Vergesellschaftung statt von Immobilienkonzernen Eigentum und die Möglichkeit der Von Caren Lay und Hanno Gegenwehr Bruchmann Mit Knut Unger LUXEMBURG ONLINE: 26 Die Absahner Hilfe, die Berater kommen! Wie Investmentfonds Gespräch über Beraterfirmen die Finanzialisierung des in der Stadtpolitik Wohnens vorantreiben Mit Anne Vogelpohl Von Christoph Trautvetter LUXEMBURG ONLINE: HKWM-Stichwort »Miete« Von Bernd Belina EDITORIAL

BAUSTELLEN UND HEBEL Die Wohnungsfrage ist mit Wucht zurückgekehrt. Nicht nur in 40 Geschäftsmodell mit der Linken, auch in der breiten Öffentlichkeit wird über Wohnen beschränkter Wirkung und Bauen, Miete und Rendite, Besitzen und Besetzen diskutiert. Warum der soziale Dass es problematische Folgen hat, Wohnraum marktförmig ­Wohnungsbau seinen zu organisieren, ist eine alte linke Erkenntnis. Die aktuelle ­Namen nicht verdient Wohnungskrise hat sie vielen neu bewusst gemacht. Privatisie- Von Andrej Holm rung und Finanzialisierung des Immobiliensektors haben den Verwertungsdruck erhöht. In den großen Städten explodieren 46 Kommunal und die Mieten, bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Das birgt selbstverwaltet sozialen Sprengstoff, vertieft Abstiegsängste und setzt insbeson- Warum städtisches Eigen- dere die, die wenig haben, in verschärfte Konkurrenz. tum ohne Mitbestimmung Stadtpolitik ist aber auch ein Feld der politischen Hoffnung nur halb so schön ist und des solidarischen Widerstands. In Hausgemeinschaften Von Jannis Willim und Nachbarschaften, mit Kampagnen und Demonstrationen machen immer mehr Menschen gegen den Mietenwahnsinn 54 Spielräume nutzen mobil. Die Forderung nach Enteignung großer Immobilien- Wo linke Wohnungspolitik konzerne gewinnt ungeahnte Zustimmung. Diese Proteste auf Bundesebene ansetzen haben die Wohnungsfrage wieder auf die politische Agenda kann gesetzt. Linke Landesregierungen wie der rot-rot-grüne Senat Von Armin Kuhn in Berlin vollziehen nun einen Kurswechsel. Doch es ist erst ein Anfang – vieles muss weitergetrieben oder erst entwickelt werden. Wie kann eine linke Wohnungspolitik aussehen, die sich am Gemeinwohl orientiert, die Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausspielt, die inklusiv und zugänglich für alle ist? Wie lassen sich Strukturen schaffen, die politische Macht und Entscheidungskompetenzen umverteilen? Wo müssen die Hebel dafür jetzt ansetzen? LuXemburg 2/2019 schließt an die neuen Kämpfe um Wohn- raum an und fragt, wie SCHÖNER WOHNEN für alle geht. Wie lässt sich das Wohnen dem Markt entreißen, wie können der Immobilienindustrie reale Gewinne abgetrotzt werden? Wie sehen Alternativen aus, die nicht nur sozialer, sondern auch demokratischer sind? Und mit welchen Strategien können sich auch diejenigen organisieren, die über wenig Ressourcen der Gegenwehr verfügen? STADT UND RAND LUXEMBURG ONLINE: 74 Wohnen, wohnen, wohnen INTERVIEW: Warum es eine rebellische, Der Berliner Mietendeckel – linke und solidarische Stadt- ein Leuchtturmprojekt!?! politik braucht Mit Gaby Gottwald Von Stefan Thimmel

60 Kurswechsel statt Kosmetik 80 Dämmung ohne Warum wir Wohnen anders Verdrängung organisieren müssen Warum Klimaschutz und Von Bernd Riexinger soziale Wohnungspolitik zusammengehören 64 Boden gutmachen Von Greta Pallaver Was kann linke Bodenpolitik? Von Werner Heinz 86 Friede den Hütten Warum Kleingärten­bebauung 70 INTERVIEW: Klassenkampf von oben ist »Wohnraum muss Von Katalin Gennburg für alle da sein« Gespräch über Hindernisse 92 … da, wo es brennt und Zugänge für Geflüchtete Wo die LINKE als organisie- auf dem Wohnungsmarkt rende Partei vor Ort ist. Mit Bea Fünfrocken und Von Christina Kaindl und Remzi Uyguner Sarah Nagel

© Oliver Feldhaus RUBRIKEN 98 INTERVIEW: 6 Was kommt »Wenn wir mehr werden, 8 Wer schreibt bringt es was« 130 Was war Gespräch über Mieten­ 132 Mit wem wahnsinn und die Gründe, sich zu wehren 120 WER SCHREIBT GESCHICHTE? Mit Ilona Vater Neunundachtzig Neunzig Von Ingo Schulze LUXEMBURG ONLINE: Die zerfetzte Fahne »Rein in die Stadtteile« Von Erasmus Schöfer Gespräch über Vergeigt Organisierungserfahrungen Von Reinhold Andert an der Haustür Mit Susanne Steinborn LUXEMBURG ONLINE: Feminismus für die 100 Stadtpolitiken des 99 Prozent Willkommens Ein Manifest (Auszug) Konflikte um Von Cinzia Arruzza, neuen Wohnraum für Tithi Bhattacharya und Geflüchtete Nancy Fraser Von Ulrike Hamann LUXEMBURG ONLINE: 108 Blühende Landschaften und ABC DER TRANSFORMATION Wolfserwartungsgebiete Vergesellschaftung Was es heißt, in rechten Von Frank Deppe Räumen zu leben Von Kerstin Köditz LUXEMBURG ONLINE: WIEDERGELESEN 114 Die Sehnsucht nach Hausarbeit neu gedacht der Stadt und die Furcht Von Lise Vogel vor der Nicht-Stadt Was Science-Fiction mit urbaner Realität zu tun hat Von Christoph Spehr Foto: James McNellis/flickr

FEMINIST FUTURES FESTIVAL hier weiterzukommen, die Bewegungen zu stärken 12.–15. SEPTEMBER IN ESSEN und zu konsolidieren, braucht es Orte für Debatten Weltweit gewinnen feministische Bewegungen und um voneinander zu lernen. Einen solchen Raum an Stärke und schlagen einen radikaleren Kurs bietet die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Koopera- ein: Lautstark und vielfältig stellen sie sich dem tion mit dem Netzwerk Care Revolution und dem neoliberalen Ausverkauf des Gesundheitswesens Konzeptwerk Neue Ökonomie: das internationale und schlechten Arbeitsbedingungen entgegen. Feminist Futures Festival. Dort wird es Podien Sie kämpfen gegen sexuelle Gewalt, rassistische und Workshops zu theoretischen wie praktischen Ausgrenzungen und die Zerstörung der natürlichen Fragen und Zeit für Trainings und Gesprächsrunden Umwelt. Und sie treten für soziale Gerechtigkeit als geben. Es soll an ältere feministische Praxen der Grundlage für Selbstbestimmung über ihre Körper ›Selbsterfahrung‹ angeschlossen werden und über und ihr Leben ein. Damit gehören sie zu den wich- feministische Gesundheit genauso gelernt werden tigsten Gegner*innen eines globalen Rechtspopulis- wie über transformatives Organizing. Unterschiedli- mus und bauen an einer besseren Zukunft für alle! che Formen künstlerischer und kultureller Beiträge Vieles ist in Bewegung: Feminist*innen mit verschie- werden zentraler Bestandteil des Programms sein. denen Erfahrungen und Hintergründen kommen Es wird Filme, Bühnen für Musik und gesprochenes wieder oder das erste Mal zusammen. Es entstehen Wort, Theater und Performances geben. Und es soll Praxen, die auf ein Gemeinsames orientieren, ohne zusammen getanzt werden! Das Festival ist offen für Unterschiede zu negieren. Sie verbinden feministi- alle Interessierten. sche und queer-feministische Anliegen mit konse- quenter Kapitalismuskritik und Klassenpolitik. Um Info: www.feministfutures.de

6 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN WAS KOMMT

NEOSOZIALISTISCHE KLASSENPOLITIK wie eine kostenfreie Gesundheitsversorgung und TAGUNG, 1. UND 2. NOVEMBER 2019 IN BERLIN Bildung sowie bezahlbares Wohnen für alle; entgelt- Die globale Ungleichheit hat ein nie gekanntes Aus- freie öffentlichen Dienste von Bibliotheken bis zum maß erreicht, mit dramatischen Folgen für den öffentlichen Nahverkehr; demokratische Mitsprache, sozialen Zusammenhalt und die Demokratie aber die etwas bewegt; mehr Zeit füreinander; Mitbestim- auch für die ökonomische Entwicklung. Dazu treten mung und wirkliche Demokratie sowie ein ökologi- die Folgen kapitalistischen Wachstums, die zu einer scher Umbau der Städte, des Verkehrs, der Energie- planetarischen ökologischen Krise geführt haben, die versorgung und der Landwirtschaft. Klaus Dörre hat weitere soziale Verwerfungen und immer größere jüngst eine Debatte um den »Neosozialismus« ent- wirtschaftliche Schäden mit sich bringt. Es han- facht. Das Institut für Gesellschaftsanalyse (IfG) der delt sich um Menschheitsprobleme, die auch ein Rosa-Luxemburg-Stiftung wiederum verfolgt eine Scheitern des Kapitalismus signalisieren. In Zeiten Theorie eingreifender sozialistischer Transformations- großer Krise und gesellschaftlicher Polarisierung forschung. Wie also kritisch an die Geschichte für ist eine radikale Perspektive entscheidend. Es geht eine Zukunft des Sozialismus anknüpfen? Wie sehen nicht einfach um die Verteidigung des Sozialstaates, Konturen einer Strategie neosozialistischer Klassen- die Rückkehr zu einem nationalstaatlich regulierten politik aus? Um diese Fragen wird sich die Tagung Kapitalismus und dessen ökologische Einhegung. Es des IfG und des Instituts für Soziologie der Friedrich- geht um eine Perspektive, die Bernie Sanders unbe- Schiller-Universität Jena im November drehen. kümmert Sozialismus nennt. Dazu gehören Dinge Info: www.rosalux.de/neosozialismus/

CAMPUS FÜR WELTVERÄNDERNDE PRAXIS an: zum einen den Kurs »Bildung fürs Weltver- KURSE VON SEPTEMBER 2019 BIS JUNI 2020 ändern« mit einem Fokus auf emanzipatorischer IN BERLIN Bildung als Quelle und Werkzeug gesellschaftlicher Der neoliberale Kapitalismus ist in eine Phase des Veränderung, zum anderen den Kurs »Strategien fürs Umbruchs eingetreten. Er befindet sich in einer Weltverändern«, der sich hauptsächlich mit Ansätzen handfesten »Vielfachkrise«, die sich von der Wirt- der Transformation und politischer Strategieent- schafts- und Finanzkrise über die Klimakrise bis wicklung befasst. Der CAMPUS will einen Beitrag zur Krise der politischen Repräsentation erstreckt. zu dieser Veränderung leisten, indem er Räume für Neben die neoliberalen Kräfte ist eine neue Rech- gemeinsame Fort- und Bündnisbildung bietet. Ziel ist te getreten, die global wie regional die politische es, im Sinne eines »linken Mosaiks« unterschiedliche Agenda wesentlich mitbestimmt. Die politische linke Traditionen, Kulturen und Organisationsweisen Linke – parteiförmig organisiert, in Gewerkschaften sowie Akteure in einen produktiven Austausch zu oder in sozialen Bewegungen versammelt – reagiert bringen. Der CAMPUS ist ein Projekt und eine Platt- auf diese Herausforderungen bisher mehr oder form verschiedener Bildungsträger mit Angeboten weniger hilflos. Klar ist, dass es großer und gemein- zu Themen wie Organisierung, Strategieentwicklung samer Anstrengungen bedarf, damit echte positive und linke Bildung zur Stärkung der kollektiven politi- Veränderungen möglich werden. schen Handlungsfähigkeit der Linken. Der »CAMPUS für weltverändernde Praxis« der Rosa- Luxemburg-Stiftung bietet 2019 zwei Fortbildungen Info: www.rosalux.de/news/id/40258/

WAS KOMMT | LUXEMBURG 2/2019 7 Der »Atlas der Migration« ist zum Weltflüchlingstag am 20. Juni 2019 erschienen. Abbildung: Titelillustration

EIN UMKÄMPFTES MENSCHENRECHT batte beitragen. Selbst innerhalb der europäischen »ATLAS DER MIGRATION« Linken reichen die Haltungen von der Forderung Migration ist kein gesellschaftlicher Sonderfall. Jede nach offenen Grenzen bis zur Ablehnung von moderne Gesellschaft und jeder Staat der Welt ist unkontrollierter Migration. Diese Ablehnung beruht auch ein Ergebnis menschlicher Mobilität. Dennoch oft auf der Annahme, Zuwanderung verschärfe erhitzt das Thema rund um den Globus politische in den Aufnahmegesellschaften die Konkurrenz Debatten, und nicht selten verläuft die Meinungs- zwischen den besonders Schwachen. Die im Atlas bildung von Bürger*innen, Politiker*innen, Parteien zusammengetragenen Zahlen und Fakten zeigen und Bewegungen entlang der Frage der Migration jedoch, dass Migration, die in allen Teilen der Welt und der Politiken des Umgangs mit ihr. Entspre- stattfindet, viele positive Auswirkungen sowohl auf chend wirkmächtig sind die Mythen, Metaphern die Gesellschaften der Zielländer als auch auf die und Bilder, die dieses soziale Phänomen begleiten. der Herkunftsländer haben kann. Zu den bekanntesten gehören Ströme, Wellen und Dennoch hat Migration etwas Bedrohliches, und Fluten. Sie lassen Migration­ als etwas Bedrohliches zwar für die Migrierenden selbst, vor allem für Ge- erscheinen und machen die Menschen, die sich flüchtete und Menschen ohne gültige Papiere. Dies aus verschiedenen Gründen auf den Weg machen machen die Beiträge im Atlas deutlich, die über die (müssen), unsichtbar. zunehmende Zahl von Menschen berichten, die Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat nun einen »Atlas an den Grenzen und auf den immer gefährlicher der Migration« herausgegeben. Mit ihm möchten werdenden Flucht- und Migrationsrouten Gewalt die Verfasserinnen den Blick auf Migration und ihre erleben oder gar ihr Leben lassen. Alltagsrassismus Akteure verändern, zu einer Versachlichung der De- und rassistischer Terror, aber auch Xenophobie

8 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN WER SCHREIBT

in den Institutionen und der Politik erschweren angemessenen Wohnraum, Bildung und Gesundheit Migrant*innen und Flüchtlingen zudem ihre »Rei- entstanden. Sie tragen dazu bei, die »Gesellschaft se«, bedrohen ihre gesellschaftliche Teilhabe oder der Vielen« Wirklichkeit werden zu lassen. sogar ihr Leben in den Zielländern – und damit ihr Migration hat viele Realitäten und Facetten. Im Menschenrecht auf Migration. derzeitigen gesellschaftlichen Klima bedarf es Mut, Doch immer mehr Menschen nehmen ihr Schick- sich diesem Thema unaufgeregt zuzuwenden und sal selbst in die Hand. Dies zeigen die Beiträge zu anzuerkennen, dass Einwanderung unsere Gesell- Kämpfen der Migration – gegen Rassismus und schaften im demokratischen Sinne pluralisiert. Der für die Rechte von Einwander*innen und Geflüch- »Atlas der Migration« wirbt für einen differenzierten teten. So sind in Europa und der Welt unzählige Umgang mit ihr. Bewegungen der Solidarität gegen Abschiebungen, Stefanie Kron Xenophobie und Rechtspopulismus sowie für das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe, würdige Arbeit, Download: www.rosalux.de/atlasdermigration

ERFAHRUNGEN, WIRKUNGEN, WIDERSTAND WIE AUS DER DEFENSIVE KOMMEN? STUDIE ZU »RACIAL PROFILING« BROSCHÜRE ZUR FINANZIALISIERUNG Überall und jederzeit in eine Polizeikontrolle gera- DES WOHNENS ten zu können, peinliche Befragungen, Durchsu- Mehr als zehn Jahre sind seit dem Platzen der chungen und Festnahme über sich ergehen lassen Immobilienblase vergangen. Heute kaufen Invest- zu müssen, wie ein Schwerverbrecher behandelt mentfonds und Banken wieder ganze Stadtteile zu werden – und das mitten in der Öffentlichkeit. auf und treiben dabei mit Unterstützung nationaler Für viele Schwarze Menschen und People of und europäischer Institutionen spekulative Inves- Color gehört dies zum Alltag. »Racial Profiling« als titionen voran. Dies verschärft den Konflikt um verbreitete polizeiliche Strategie ist zur alltäglichen bezahlbares Wohnen und verstärkt Räumungen Schikane für viele geworden, die als ethnisch oder und Vertreibungen. religiös »anders« wahrgenommen werden. Dies Die Broschüre »Housing Financialization«, die vom zeigt eine aktuelle Studie der »Kollaborativen For- Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu- schungsgruppe Racial Profiling« auf. Für die Studie sammen mit der »Europäischen Aktionskoalition­ für wurden in der Schweiz Personen interviewt, die das Recht auf Wohnung und auf Stadt« (ACRHC)­ mit diskriminierenden Polizeikontrollen konfrontiert herausgegeben wurde, behandelt genau diese worden waren. Zur Sprache kommen neben den Dynamiken. Es ist nach »Resisting Evictions Across kon­kreten Erlebnissen die Gefühle, die Auswirkun- Europe« bereits die zweite Broschüre beider Ko- gen der Kontrollen, die Taktiken im Umgang mit operationspartner. Untersucht werden die jüngsten der ständigen Gefahr, ins Visier der Polizei zu ge- Wechselbeziehungen zwischen Kapital und Woh- raten, und die Art und Weise, wie sich Menschen nungswesen, aber auch die Möglichkeiten politi- gegen diese rassistische Praxis individuell und scher Intervention. kollektiv zur Wehr setzen. Download (Englisch): www.rosalux.eu/publications/housing- Download: www.rosalux.de/publikation/id/40493/ financialization/

WER SCHREIBT | LUXEMBURG 2/2019 9 IM NAMEN DES Von Dmitrij Leltschuk BAUHERRN

Überall in St. Petersburg wird gebaut, das Graue und Rostige mit fri- schem Weiß überdeckt. Dafür sorgen vor allem so genannte Gastar- beiter aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die auf den unzähligen Baustellen der russischen Metropole arbeiten. Auf dem Bau lassen sich ein paar Rubel verdienen, um die Existenz zu sichern, die eigene und die der Familie daheim. »Gastarbeiter« ist eines der deutschen Wörter, die ins Russische eingegangen sind. Es bezeichnet dort ganz allgemein Ar- beitskräfte aus dem Ausland, ohne dass damit ein Rechtsstatus verbun- den wäre. Die weitaus meisten sind ohne Papiere in Russland. Für die Aufenthaltsgenehmigung bräuchten sie einen Arbeitsvertrag, doch den bekommen die wenigsten von ihren Arbeitgebern. So sind sie mündli- chen Zusagen und schlechter Zahlungsmoral der Bauherren ausgeliefert und arbeiten unter prekären, teils elenden Bedingungen.

Alle Bilder bis S. 63: © Dimitrij Leltschuk Dmitrij Leltschuk, 1975 in Minsk geboren, arbeitete in Weißrussland als freier Journalist, bis er nach Deutschland ging. Von 2002 bis 2007 stu- dierte er an der Hamburger Hochschule­ für Angewandte Wissenschaf- ten Medientechnik/Audiovisuelle Medien. Seitdem arbeitet er als freier Fotograf. Für seine Fotoarbeit »Im Namen des Bauherrn«, aus der hier einige Bilder zu sehen sind, besuchte er »Gastarbeiter« auf verschiede- nen Baustellen Sankt Petersburgs und begleitete ihre Arbeit und ihren Alltag über mehrere Wochen mit der Kamera. BEWEGUNG IN DER UNTERNEHMERISCHEN STADT

WIE SICH DAS TERRAIN VERÄNDERT HAT

MARGIT MAYER

Die Auseinandersetzungen, die heute im und um den städtischen Raum ausgetra- gen werden, unterscheiden sich in wichtigen Dimensionen von früheren. Urbane Proteste und Bewegungen manifestieren sich spätestens seit der Französischen Revolution, als solche wahrgenommen wurden sie erst ab den 1960er und vor allem 1970er Jahren, als Sozialwissenschaftler wie Manuel Castells und Henri Lefebvre sie zu Forschungsgegenständen machten und als politische Subjekte analysierten. Konzepte und Theorien über städtische Bewegungen wurden vor- nehmlich an den – heute würden wir sagen: fordistisch geprägten – Kontexten und Konflikten dieser Zeit entwickelt. Der fordistische Urbanismus war allerdings ein sehr spezifischer historischer Moment. Er prägte das Aufbegehren der Bewegun- gen gegen die technokratische Zurichtung und die daraus resultierende »Unwirt- lichkeit unserer Städte« (Mitscherlich 1965). Die städtischen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre waren Teil eines Protestzyklus, der sich aus der Kritik am Fordismus und den ihm eigenen Produk- tions-, Regierungs- und Lebensweisen entwickelte. Die Funktion der Städte und die Bedingungen städtischen Lebens spielten dabei zentrale Rollen. Der Angelpunkt der Kämpfe hatte sich von der »produktiven« hin zur »reproduktiven Sphäre« mit ihren öffentlichen Infrastrukturen und Dienstleistungen verschoben, deren kulturelle orN - men genauso hinterfragt wurden wie ihr Preis und ihre Qualität. Die Bewegungen forderten nicht nur eine Verbesserung dieser Einrichtungen des kollektiven Konsums, sondern auch eine stärkere Beteiligung an deren Gestaltung. Während sie so auf eine am Gebrauchswert orientierte Stadt drängten, entwickelten sie selbst autonome lokale Szenen und Projekte gegen die Standardisierung und einseitige Planung von Lebens-, Kultur- und Arbeitsweisen. In vielen Städten entstand eine dynamische Bewegungsin- frastruktur von Stadtteil- und Jugendzentren, Kinderläden, Gesundheitszentren und

12 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN anderen selbstverwalteten Projekten. Die Bewegungen richteten sich also gegen die BEWEGUNG IN DER »keynesianische Stadt«, in der ein Großteil der sozialen Reproduktion vom (lokalen) Staat übernommen wird, weshalb zeitgenössische Autor*innen das Städtische explizit in Kategorien kollektiven Konsums definierten (vgl. Castells 1983). UNTERNEHMERISCHEN Heute, nach mehreren Runden neoliberaler Umstrukturierung, agieren die städtischen Bewegungen in einem völlig anderen Setting. Sie konfrontieren ­keine »keynesianische« Stadt mehr. Auf die Rollback-Phase der 1980er Jahre, in der der STADT keynesianische Wohlfahrtsstaat geschliffen wur­ de, und die Rollout-Phase der 1990er Jahre, in WIE SICH DAS TERRAIN VERÄNDERT HAT der die Folgen dieser Sparpolitik durch flankie- MARGIT MAYER ist Politikwissenschaftlerin und rende Maßnahmen abgemildert werden sollten, Professorin a. D. an der Freien Universität Berlin MARGIT MAYER folgte die durch die Finanz- und Wirtschafts- und Senior Fellow am Center for Metropolitan Studies Berlin. Sie forscht seit Langem zu städti- krise geprägte Phase der Austerität. Entschei- schen Themen und sozialen Bewegungen in den dende Dimensionen der Stadtpolitik werden USA und Deutschland. heute weniger von kommunalpolitischen Insti­ tu­tionen als von zunehmend globalen Wirt- schafts-, Finanz- und Immobilieninteressen bestimmt. Statt zentral regulierter wohlfahrtsstaatlicher Politik sehen sich die Bewegungen multi-skalaren Aktivie- rungsstrategien – und machtvollen privaten Developern und Investoren gegenüber. Die Aufgabe von Stadtpolitik hat sich darauf verengt, das (ungezügelte) Wirken »des Markts« zu ermöglichen – was inzwischen aber auch Gegenwehr hervorruft.

VIER MERKMALE KENNZEICHNEN DIE HEUTIGE NEOLIBERALISIERUNG DES STÄDTISCHEN BZW. DER STADTPOLITIK 1 | Nach wie vor ist der neoliberale Urbanismus bestimmt vom obersten Ziel, Wachstum zu befördern. Um sich in der verschärften interurbanen Konkurrenz gut zu platzieren, bemühen sich Lokalpolitiker*innen, Investitionsströme in ihre­ Stadt zu schleusen. In dieser Konkurrenz können nicht alle Städte gewinnen, doch sie hat überall Bodennutzungsentscheidungen hervorgebracht, die auf die größtmögliche Renditeerwartung setzen und somit für die Ausbreitung von Gen- trifizierung, neuer privatisierter Enklaven für den Elitenkonsum und desinfizierter Räume sozialer Reproduktion sorgen. Diese Wachstumspolitik (häufig angeheizt durch internationale Boden- und Immobilienspekulation) hat nicht nur die gebaute Umwelt transformiert, sondern auch die Boden- und Immobilienpreise explodieren lassen, was Verdrängungsprozesse, vermehrte Räumungen und eine neue Wohnungs- und Obdachlosigkeitskrise zur Folge hat. Im Gegensatz zu den führenden Global Cities sehen sich die meisten »norma- len« Städte schrumpfenden Haushalten gegenüber. Sie können das Wachstum also

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019 13 kaum noch mithilfe der in den 1980er Jahren gängigen Standortpolitik beflügeln, die auf teure Groß-Events wie Gartenshows oder Bauausstellungen setzte. Stattdes- sen haben sie sich eher symbolischen, preisgünstigen Formen der Standortpolitik zugewandt, um ihr lokales Flair aufzumöbeln und »kreative Klassen« und in der Folge auch Investoren anzuziehen, darunter so simple Maßnahmen wie erleichterte Vorschriften für die Gründung von Internetcafés. Solche innovativen, zunehmend kulturellen Branding-Strategien kommen unter anderem alternativen und subkul- turellen Bewegungen zugute. Stadtmanager*innen haben festgestellt, dass sich solche Bewegungen als nützlich für Vermarktungsstrategien erweisen und leicht in »Kreative-Stadt-Projekte« eingepasst werden können. 2 | Städte haben in mehr und mehr Bereichen ihres Regierungshandelns unter- nehmerische Formen von Governance eingeführt. Sie nutzen dabei nicht nur angeb- lich effizientere betriebswirtschaftliche Modelle, sondern vergeben immer mehr Aufgaben an private Akteure (in Form von Sub- und Out-Contracting), etwa bei Ausschreibungen für (spekulative) Investitionsprojekte oder die Entwicklung bestimmter Stadtteile. Indem Bürgermeister*innen zusammen mit ihren Part- nern aus der Wirtschaft für einzelne Projekte spezielle Träger beauftragen oder Public-Private-Partnerships einrichten, werden Stadträte zunehmend umgangen. Hegemonie wird hier, wenn überhaupt, nur über kleinteilige Einbindungen herge- stellt. An die Stelle von langfristigen, tripartistisch angelegten Regulierungsmodi treten flexible, ständig wechselnde Zugeständnisse an verschiedene Gruppen. Dieser Trend einer »Projektepolitik« hat die kommunale Planung deutlich verän- dert und informelle und kooperative Prozesse verankert. Die von der Kommune orchestrierten kooperativen Planungsverfahren beteiligen neben (globalen) Deve- lopern und allerlei Experten für technologische, logistische und algorithmische Lösungen vermehrt auch zivilgesellschaftliche Gruppen. Diese Praxis von »Adhocismus« und Informalisierung der Politik verschafft exter- nen und internationalen Akteuren wie Developern und Investoren einen wachsenden Einfluss, eröffnet aber auch neue Zugänge für artikulationsstarke Bewegungsakteure. Die fehlende öffentliche Transparenz dieser Strategie ruft aber auch neue Proteste auf den Plan, weil unberücksichtigte Gruppen sich von der Gestaltung der Stadt ausge- schlossen sehen und gegen die Erosion repräsentativer Demokratie zur Wehr setzen. 3 | Intensivierte Privatisierungsprozesse – sei es von kommunalem Vermögen oder öffentlichen Diensten – nehmen immer extremere Formen an und haben die tra- ditionelle Beziehung und Abgrenzung von öffentlicher und privater Sphäre trans- formiert. Soziale Einrichtungen wurden abgebaut bzw. reorganisiert und kollektive Dienstleistungen und Infrastrukturen wie Versorgungsunternehmen dem Markt ausgesetzt. Zunehmend wird aus Privatisierung sogar Finanzialisierung, indem

14 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN kommunale Verkehrssysteme oder Sozialwohnblöcke auf den Finanzmärkten ver- hökert werden. Bei dieser Plünderung öffentlicher Haushalte werden städtische Ressourcen und öffentliche Dienstleistungen zu Optionen für eine erweiterte Kapi- talakkumulation durch Enteignung. Besonders gern haben Städte die Privatisierung öffentlicher Räume vorange- trieben. Je mehr private Räume dem Elitenkonsum gewidmet werden, umso besser kann eine maximale Bodenrente realisiert werden. Dies hat spürbare Effekte auf die Stadtlandschaft: Die Privatisierung von Plätzen, Bahnhöfen und quasi-öffentlichen Einkaufszentren hat den Zugang zu kollektiven Infrastrukturen beschränkt oder verteuert. Längst sind ganze Stadtzentren, von Paris, New York und London bis Hongkong oder Singapur, zu exklusiven »Zitadellen der Eliten« geworden. Gegen diese Einhegungen regt sich vielfältiger Protest, etwa gegen die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen oder für Rekommunalisierungen. 4 | Ein weiteres wichtiges Merkmal ist eine neue Doppelstrategie im Umgang mit der wachsenden sozialräumlichen Polarisierung. In den frühen Phasen der Neoliberali- sierung in den 1980er und 1990er Jahren bestanden die einschlägigen Instrumente vor allem aus quartiersbezogenen Revitalisierungs- und Aktivierungsprogrammen, die eine unterstellte Abwärtsspirale in sogenannten Problembezirken aufhalten sollten. Solche Programme sind inzwischen zurückgefahren worden oder werden ersetzt durch eine neue zweigleisige Politik: Sie koppelt einerseits unverblümte Ver- drängungsstrategien mit repressiven Maßnahmen und zielt andererseits darauf, mit

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019 15 scheinbar wohlmeinenden Programmen bestimmte ausgewählte verarmte Gebiete und soziale Gruppen in Aufwertungsprozesse einzubeziehen. Die repressiven Instrumente beinhalten Strategien, die unerwünschtes Verhalten sowie unerwünschte Gruppen (wie Obdachlose oder Bettelnde) bestrafen, ebenso wie die Verdrängung unterer Einkommensgruppen in immer entferntere Peripherien oder versteckte Elendsnischen innerhalb der Stadt. Diese punitive Seite der neoliberalen Stadt – mit ihren verschärften Gesetzen, härteren Polizeimaßnahmen, zunehmender Entrechtung – trifft insbesondere Obdachlose, papierlose Migrant*innen, informelle Arbeiter*innen, aber zunehmend auch neue Opfer von Austeritätspolitiken. Die »gutartigen« Instrumente dagegen kommen in Gebieten zum Einsatz, wo sich ein neues Entwicklungspotenzial abzeichnet: alte Industriegebiete oder verfal- lende Sozialwohnungsbezirke, also eigentlich stigmatisierte Gegenden. Wenn sie günstig gelegen sind, werden sie zu Standorten von Entwicklungsprojekten, die laut Versprechen des Stadtmanagements auch den Anwohner*innen zugutekommen sollen. Diese Strategien greifen nur dort, wo erfolgreiche Verwertungsprozesse, also ein Ansteigen von Immobilienpreisen und Investitionen, winken. Sobald es gelingt, die erwünschte hochpreisige Klientel anzuziehen – häufig durch Vermarktung des vorgefundenen »wilden Urbanismus«, des authentischen Arbeiterklassenmilieus oder der hippen »kulturellen Authentizität« – werden die ärmeren Bewohner*innen verdrängt. Häufig sind begleitende partizipatorische Verfahren vorgesehen, um die antizipierten Konflikte um die gegensätzlichen Interessen kleinzuarbeiten.

AKTUELLE KONFLIKTE UND KÄMPFE UM DIE NEOLIBERALE STADT Die vielfältigen und vielschichtigen, mit der neoliberalen Stadtentwicklung einher- gehenden Ausgrenzungs-, Verdrängungs-, Enteignungs- und Entrechtungsprozesse haben der Bewegungslandschaft neue unkonventionelle Akteure zugeführt und sie zugleich heterogenisiert und fragmentiert. Während die Folgen der intensivierten Wachstumspolitik Proteste von Anwohner*innen und unterschiedlichsten Betroffe- nen hervorbrachten – gegen Aufwertung und Verdrängung, gegen Touristifizierung oder Zweckentfremdung –, haben die neuen Wachstumsstrategien der »Kreative- Stadt-Politik« neue Spaltungslinien innerhalb der Bewegungslandschaft produziert. Prekäre, aber in diesem Kontext über »symbolisches Kapital« verfügende Kultur- schaffende und Künstler*innen konnten hier zumindest temporär zu potenziellen »Profiteuren« der neoliberalen Stadtpolitik werden. Auch besetzte Häuser oder selbstverwaltete soziale Zentren konnten mancherorts über Jahre überleben, weil sie als Attraktivitätsmarker fungierten in einem Prozess, der über kurz oder lang von Investoren in lukratives Development überführt wird – womit meist eine neue Runde (nun defensiver) Kämpfe beginnt.

16 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Bewegungen, die sich nicht so zweckdienlich in lokale Standortpolitik und Ver- marktungsstrategien einbinden lassen, haben weniger Entgegenkommen von staatlicher Seite zu erwarten. Dennoch erstarken neben Protesten gegen Aufwer- tung und Verdrängung auch unter ressourcenarmen Gruppen diejenigen, die sich gegen Austeritätspolitik und Sozialkürzungen sowie gegen Privatisierung und überhaupt gegen das Vordringen globaler (Finanz-)Markt-Akteure in die Stadtent- wicklung und die damit verbundene Erosion lokaler Demokratie richten. So hat sich vielerorts eine öffentlichkeitswirksame Bewegungsszene herausgebildet, wel- che die politischen Eliten massiv unter Druck setzt. Viele dieser – seit Kurzem und seit Langem – Bewegten kommen unter dem Dach des Protests gegen »Mietenwahnsinn« zusammen.1 Die großen Demonstra- tionen im April 2019 in Berlin, München, Leipzig, Stuttgart, Frankfurt am Main und weiteren Städten markierten einen vorläufigen Höhepunkt. Dahinter stehen rasante Selbstorganisationsprozesse unterschiedlichster Mietergruppen, die sich mit kreativen Aktionen gegen exorbitante Mietsteigerungen zur Wehr setzen und zunehmend mit anderen Protestgruppen verbünden – etwa jenen gegen Gentrifi- zierung, Zwangsräumungen und Zweckentfremdung; für Rekommunalisierung, gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbau und Enteignung großer Wohnungsunter- nehmen. Allein in Berlin hatten 280 Initiativen zu dem bundesweiten Protesttag am 6. April aufgerufen. Dahinter stehen auch lokale Aktivistengruppen, die sich seit Jahren unter dem Banner »Recht auf Stadt«2 über Landesgrenzen hinweg vernet- zen, um ihren Kampf um bezahlbaren Wohnraum oder gegen Zwangsräumungen3 multi-skalar zu führen. Den derart erstarkten Bewegungen neuer und alter urban outcasts gelingt es zunehmend, ihre Themen auf die mediale und politische Agenda zu setzen, gewisse Konzessionen zu erstreiten und mancherorts auch bewegungs- nahe Politiker*innen in kommunale Ämter zu hieven. Da die eigentlichen Adressaten der Proteste, die global agierenden Investmentfir- men und Developer, schwer greifbar sind und die Kommune oft nicht mehr als Feind der Bewegungen wahrgenommen wird, kommt es zu Annäherung und Kooperatio- nen »zwischen Zivilgesellschaft und Politik«, vor allem dort, wo Letztere zugänglich erscheint. Unter dem Label des »neuen Munizipalismus« finden Bewegungsforde- rungen Fürsprache bei Stadträten und/oder Bürgermeister*innen – von Barcelona über Zagreb, Warschau, Bologna und Berlin bis nach Jackson (Mississippi) und jüngst auch in Chicago. Die Versuche, nicht nur Forderungen, sondern auch Akteure der Bewegung in lokale Institutionen und Regierungen hineinzuheben, rufen erheblichen Widerstand der etablierten Parteien und vor allem des Immobilien- und Finanzkapi- tals hervor. Gleichzeitig generieren sie Friktionen aufseiten von Bewegungsgruppen, deren Erwartungen über das »realpolitisch Durchsetzbare« oft hinausgehen. Oder

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019 17 sie verstärken vorhandene Spaltungslinien, weil die bereitgestellten Partizipations- formate eher von »Bewegungseliten« genutzt werden (Balcerowiak 2018). Meist sind es langwierige und mühsame Kämpfe, in denen Initiativen wie »Stadt von unten« darauf drängen, gerade NICHT »ein paar Projektorchideen für ein paar Glückliche zu schaffen« (Stadt von unten 2018). »Stadt von unten« wurde 2014 in Berlin gegründet, um ein Modellprojekt in kommunalem Eigentum am Dragoner- Areal, einem größeren, von der Bundesanstalt für Immobilien (BIMA) zum Verkauf bestimmten bebauten Gebiet in Berlin-Kreuzberg durchzusetzen. Gemeinsam mit anderen Initiativen gelang es ihnen 2016, eine Privatisierung des Areals zu verhin- dern und es zum Sanierungsgebiet erklären zu lassen.4 Mit der Kommunalisierung verknüpfen sie als Hauptziel die Demokratisierung der Wohnungsunternehmen und substanzielle Mitbestimmungsrechte der Mieter*innen, die eine langfristige soziale Ausrichtung und bezahlbare Mieten gewährleisten sollen. 2018 gelang es ihnen, einen paritätisch besetzten »Gründungsrat« zu etablieren und dort gemeinsam mit allen Projektbeteiligten Leitlinien für eine Kooperation zu entwerfen. Es zeichnete sich aber ab, dass Senat und Bezirk sich nicht auf inhaltliche Vorgaben einlassen wollten, die über die üblichen Auflagen für Sanierungsgebiete hinausgehen, wie zum Beispiel das Erbbaurecht. Noch bevor die Kooperationsvereinbarung unterzeichnet war, berief die Kreuzberger Bezirksverwaltung eine eher exklusive (da tagsüber im Rathaus tagende) »Beteiligungswerkstatt« ein, um Bau- und Nutzungsanforderungen zu klären – wor- auf die Initiativen mit Boykott reagierten (Stadt von unten 2019). Während die Initiativen beim Tauziehen mit politischen Entscheidungsträger*innen in Gremien wie dem Gründungsrat kaum Zugeständnisse bei inhaltlichen Vorga- ben und Leitlinien der Kooperationsvereinbarung erreichen können, konzediert die Politik auf Bezirks- wie übergeordneter Ebene neue, informelle wie formelle Arbeits- und Koordinierungsstellen, die es ermöglichen, bislang ehrenamtliche und deshalb oft prekäre aktivistische Arbeit auf solidere Beine zu stellen. Dadurch werden Teile der Initiativen professionalisiert und in eine »gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung« eingebunden. Derartige Stellen steigern allerdings, genauso wie die oft umkämpften Kooperationsverfahren (vgl. Ziehl 2018), ohne aufmerksame Begleitung das Risiko von Intransparenz und Demokratiemangel in den Planungs- und Entscheidungsprozessen (vgl. Mayer 2019). Wo es also um die Umsetzung von Bewegungszielen geht, bewirken sowohl die unter »neuen munizipalistischen« Vorzeichen eröffneten Verhandlungs- und Kooperationsrunden als auch die Projektplanungen im Rahmen einer unter- nehmerischen Governance ein Auseinanderdividieren von Bewegungsakteuren: ein Teil entscheidet sich für eine Mitwirkung in diesen Gremien, ein anderer kritisiert deren fehlende öffentliche Transparenz.

18 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Erfolg oder Scheitern heutiger städtischer Bewegungen lässt sich nicht bestimmen, indem man sie mit früheren fordistischen Bewegungen vergleicht. Aber so wie die damaligen Bewegungen die fordistische Stadt widerspiegelten und schließlich zu ihrer Krise beitrugen, so lassen sich auch die heutigen erst in ihrer Relation zum neoliberalen Urbanismus begreifen. Ihr Erfolg wird nur an dessen Demontage zu messen sein. Daraus folgt, dass Linke bei der Wahl ihrer stadtpolitischen Aktionen und Kampagnen die Dynamik der neoliberalen Stadtpolitik und deren Auswir- kungen auf die Bewegungslandschaft beachten sollten. Die Wohnraumfrage etwa bietet Mobilisierungs- und Politisierungschancen, allerdings nur, wenn es gelingt, auf die große Masse der Betroffenen und auf Solidarität zwischen ressourcenar- men und mehr oder weniger privilegierten Gruppen hin zu orientieren und so den inhärenten Spaltungstendenzen entgegenzuwirken. Eine Vereinnahmung und Kooptierung von Akteuren, die über Artikulationsstärke, kulturelles Kapital oder sonstige für die »kreative Stadt« nützliche Kompetenzen verfügen, torpediert das cross-movement building, das so nötig ist. Nur wenn viele verschiedene Bewegungen sich hinter eine Forderung wie etwa die von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen!« stellen, besteht die Chance, über kosmetische Veränderungen hinauszukommen.

LITERATUR Balcerowiak, Rainer, 2018: Gegenteil einer sozialen Bewegung. In Großstädten tritt immer häufiger ein links-alternatives Bürgertum auf, das ein Recht auf Stadt einfordert – für sich und nicht für Wohnungs­ lose, in: die tageszeitung, 15.11.2018 Castells, Manuel, 1983: The City and the Grassroots, Berkeley Mayer, Margit, 2019: The Promise and Limits of Participatory Discourses and Practices, in: Ülker, Bariş/Mar Castro, Maria do (Hg.), Doing Tolerance. Democracy, Citizenship and Social Protests, Leverkusen (im Erscheinen) Mitscherlich, Alexander, 1965: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt a.M. Stadt von unten, 2018: Kommunal ist nicht genug! Übertragungsvertrag zum Dragonerareal frisst Modell- projekt, 9.10.2018, https://stadtvonunten.de/kommunal-ist-nicht-genug-uebertragungsvertrag-zum-­ dragonerareal-frisst-modellprojekt/ Stadt von unten, 2019: Rathausblock/Dragonerareal: Stadtpolitische Initiative verweigert Mitarbeit an Werk- statt zur »Beteiligung«, 4.4.2019, https://stadtvonunten.de/pressemitteilung-rathausblockdragonerareal- stadt­politische-initiative-verweigert-mitarbeit-an-werkstatt-zur-beteiligung/ Ziehl, Michael, 2018: Zukunftsfähigkeit durch Kooperation. Ein Laborbericht, http://urban-upcycling.de/ laborbericht/

1 Vgl. die Pressemitteilung von Bundesweites Bündnis #Mietenwahnsinn vom 22.3.2019 unter https://mietenwahnsinn.info/­demo-april-2019/wp-content/uploads/sites/4/2019/03/pm3-bundes-weites-­ buendnis-mietenwahnsinn.pdf. 2 Siehe z. B. www.realize-ruhrgebiet.de/2018/05/14/recht-auf-stadt-zwischen-abwehr-kaempfen-radikaler- realpolitik-und-alternativen/. 3 Siehe z. B. European Action Coalition for the Right to Housing and to the City aus Anti-Zwangsräu­ ­mungs­ initiativen aus 13 europäischen Ländern: www.rosalux.eu/publications/resisting-evictions-across-europe/. 4 Das Areal ist seither im Besitz des Landes Berlin. Die BIMA regelte, dass 90 Prozent der Fläche kommu- nal (also von einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft) bewirtschaftet werden müssen, das heißt, maximal zehn Prozent könnten selbstverwaltet bzw. in Erbbaurecht gemanagt werden.

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019 19 »DAS GESCHÄFTSMODELL BASIERT AUF DER ENTEIG- NUNG DER MIETER*INNEN« GESPRÄCH ÜBER DIE PRAKTIKEN DER IMMOBILIEN-KONZERNE UND DIE MÖGLICHKEIT DER GEGENWEHR

MIT KNUT UNGER sind selbst Kapitalsammelstellen, die für die Finanzinteressen von Dritten agieren, zum Immobilienriesen wie Vonovia und Deutsche Beispiel der berüchtigte Fondsverwalter Black- Wohnen sind in aller Munde. Warum sind rock, der norwegische Staatsfonds oder große sie eigentlich schlimmer als andere private Privatstiftungen und Versicherungen. Um Wohnungsunternehmen und warum sollten ihre Kund*innen bei der Stange zu halten und wir uns gerade mit ihnen anlegen? neue Anleger*innen zu gewinnen, müssen Der Unterschied ist, dass die börsennotierten die gebotenen Renditen und Sicherheiten Immobilienkonzerne kapitalmarktorientiert ständig verbessert werden. Und wie geht das? sind. Sie sind also nicht nur damit beschäftigt, Indem die Mieteinnahmen gesteigert werden, das eigene Vermögen zu bewahren oder zu die Bewirtschaftungskosten gesenkt, Risiken mehren. Ihr Hauptgeschäft besteht darin, gestreut und die eigenen Geschäfte permanent einer internationalen Kundschaft von Finanz- ausgeweitet und profitabler gemacht werden. investoren Aktien und Anleihen anzubieten, Doch wir sollten diese Unternehmen die lukrativer oder sicherer erscheinen als nicht nur mit anderen privaten Vermietern die Anlagen der Konkurrenz, zum Beispiel vergleichen, sondern mit den früher gemein- Staatsanleihen. Aus den Zahlungsströmen nützigen Wohnungsunternehmen. Fast alle der Mieten und der Kreditsicherheit, die das Wohnungen der Immobilien-AGs wurden Immobilieneigentum bietet, lassen sich zahl- einst mit öffentlichem Geld errichtet und reiche Finanzprodukte konstruieren. Diese gehörten zu gemeinnützigen oder staatlichen Produkte können global bewertet, permanent Organisationen. Ihr Zweck war nicht Rendite, gehandelt und in weitere abgeleitete Finanz- sondern die Versorgung breiter Schichten der produkte verpackt werden. Viele der Aktionäre Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum.

20 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Dieses Erbe wurde mit der Abwicklung der westdeutschen Wohnungsgemeinnützigkeit KNUT UNGER ist Sprecher des MieterInnenvereins Witten. Er ist seit vielen Jahren mit der Beratung, und der DDR-Wohnungswirtschaft ab 1990 Organisierung und Interessenvertretung von der hemmungslosen Verwertung ausgeliefert. Mieter*innen großer Wohnungsunternehmen Ab Ende der 1990er Jahre wurden zahlreiche befasst. Zudem ist er Mitglied der Plattform kritischer Immobilienaktionär*innen. kommunale, werksverbundene und staatlich kontrollierte Wohnungsunternehmen an Fi- nanzinvestoren verkauft, umstrukturiert und mit Profit an die Börse gebracht. Die Finanz- gen in externe Unternehmen ausgegliedert, marktlogik begann alle Poren des Immobilien- um Kosten zu sparen. Seit etwa zehn Jahren geschäftes zu durchdringen. Diesen Prozess, wird die entgegengesetzte Tendenz verfolgt: der weder abgeschlossen noch widerspruchs- Die Branchenführer versuchen, immer mehr frei ist, können wir als Finanzialisierung Tätigkeitszweige über Tochterunternehmen in der Wohnungswirtschaft bezeichnen – ein ihre Konzernhierarchie zu integrieren – nicht strukturell wichtiger Bestandteil der finanzdo- nur die Verwaltung, sondern auch Reparatu- minierten kapitalistischen Formation. ren und Modernisierungen. Insgesamt kontrollieren solche Vermieter Die Vonovia beschäftigt heute fast 10 000 etwa fünf Prozent der deutschen Mietwoh- Menschen, fast alle übrigens zu schlechteren nungen. Das erscheint auf den ersten Blick Bedingungen als in der Immobilienwirtschaft überschaubar. Doch sie sind die Vorreiter mit ihren entsprechenden Tarifverträgen der Finanzialisierung aller Sparten des üblich. Sie lässt Fenster im Ausland fertigen Wohnungswesens. Ihre Methoden setzen die oder kauft Heizkessel massenhaft und billig Trends der ganzen Branche. Wenn wir diese ein. Wer heute einen Mietvertrag abschließt, Entwicklung nicht stoppen, wird die Woh- bindet sich oft zugleich an einen Multimedia- nungskrise niemals zu lösen sein. und Energieversorger, an dem der Vermieter beteiligt ist. Von der Kalkulation möglicher Du hast die Geschäftspraktiken von Firmen Mieterhöhungen über das Reparaturma- wie Vonovia untersucht und sprichst von nagement bis zur Planung und Abrechnung einer »finanzialisierten Industrialisierung« von Modernisierungsmaßnahmen wird die der Wohnungswirtschaft. Was verbirgt sich gesamte Wohnungsbewirtschaftung immer dahinter? mehr automatisiert. Der persönlich bekannte Um ihre großen Wohnanlagen zu bewirt- lokale Vermieter wird durch eine digitale Si- schaften, setzen Vonovia, Deutsche Wohnen, mulation ersetzt, die zum Teil autistische Züge LEG und Co. immer stärker auf IT-gestützte annimmt: Direkte Kommunikation ist nicht standardisierte Verfahren. Immer größere möglich, Ansprechpartner*innen sind nicht Bereiche rund um das Wohnen unterwerfen erreichbar. Es werden unsinnige Baumaßnah- sie einer digitalisierten Logik anonymisierter men ausgeführt und maschinell Phantom- Finanzanlagen. Früher wurden Dienstleistun- rechnungen erstellt. Es werden massenhaft

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019 21 willkürliche Mahnschreiben verschickt, die Aufwertung der Verkehrswerte der Immobili- tatsächlich einen großen Teil der Mieter*innen en nicht mehr möglich. Denn diese basieren einschüchtern. Viele sprechen von einem auch auf den geschätzten Mieteinnahmen der »System Vonovia«, dessen Vorgänge für die nächsten zehn Jahre. Mieter*innen undurchschaubar sind und das jenseits der üblichen Marktgesetze und Können die Gewinne der Konzerne ewig wei- mietrechtlichen Standards funktioniert. ter wachsen? Und wenn es einen Crash gibt, ist das gut oder schlecht für die Mieter*innen? Viele Proteste von Mieter*innen entzünden Das ist keine abstrakte ökonomische Frage. Das sich an Modernisierungen. Welche Rolle hängt stark von den sozialen und politischen spielen sie in diesem System? Kräfteverhältnissen ab. So stark wie die Gewin- Die massenhaften Instand-Modernisierungen ne und Mieten wachsen die Einkommen nicht. sind der extremste Ausdruck des Systems der Früher oder später muss dieser Widerspruch finanzdominierten Industrialisierung. Ange- zum Knall führen, politisch oder wirtschaft- sichts niedriger Zinsen von zurzeit acht Prozent lich. Der Job der Manager ist es, diesen Crash der Baukosten auf die jährliche Miete der aufzuschieben und den Widerspruch zum Renditetreiber Nummer eins. Das gilt beson- Wohl der Finanzrendite zu beherrschen. Dafür ders für die Konzerne mit ihren standardisier- verfügen sie über mehrere Methoden. Unter ten Massenmodernisierungen. Die jüngste der Bezeichnung »Portfoliomanagement« ver- Änderung des Modernisierungsrechts mit ändern sie ständig die Zusammensetzung ihrer zeitlich begrenzten Mieterhöhungsdeckeln stellt Wohnungsbestände und damit ihrer Mieter- für sie kein Problem dar. Vonovia-Chef Rolf schaften. Wohnviertel mit schlechter Miethö- Buch rühmte sich in einem Analystengespräch hungsprognose werden an andere Spekulanten sogar, diese Regelung bei Politikern angeregt zu verkauft. Viertel mit besserem Erhöhungspo- haben. Wenn es zu größeren Protesten kommt, tenzial werden zugekauft. Ähnliche Folgen hat die den Ruf der Konzerne schädigen und die Verdrängung durch Modernisierung. politische Konsequenzen oder das Misstrauen Oft haben die Bewohner*innen aber gar der Anleger hervorrufen, können die Konzerne keine Möglichkeit auszuweichen und zahlen flexibel nachsteuern. Im Dezember 2018 hat die dann eben mehr, als sie sich leisten können. Vonovia verkündet, freiwillig auf neue Moder- Man spart sich die erhöhte Miete vom Munde nisierungen, die zu Miethöhungen von über 2 ab, nimmt noch einen weiteren prekären Job Euro pro qm führen würden, zu verzichten, um an oder arbeitet schwarz. Das Fast-Monopol, Konflikte mit den ieter*innenM zu vermeiden. das die Konzerne an manchen Orten bei den Trotzdem geben sie das Ziel, die Mieten Angeboten von Wohnungen für Menschen mit weiter zu steigern, natürlich nicht auf: Es ist begrenztem Einkommen und Migrationshin- für die finanzindustriellen Vermietungskon- tergrund haben, sorgt dafür, dass die Mieten zerne existenziell. Ohne steigende Mietein- auch bei stagnierenden Löhnen weiter steigen. nahmen wäre die jährliche milliardenschwere Aber natürlich spitzt sich durch diese Abpres-

22 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN sung von Rendite der Konflikt gesellschaftlich auch immer mehr zu. Die Vonovia reagiert darauf mit einer fle- xibleren Taktik. Fassadendämmungen ganzer Wohnviertel lösen kollektive Betroffenheit und damit Proteste aus. Mit kleinteiligeren Modernisierungen einzelner Wohnungen verhindert man diesen Effekt. Allerdings kann man ohne Massenmodernisierungen nicht unbedingt die Wachstumssprünge machen, die man als Marktführer benötigt. Das gelingt nur mit dem Zukauf von Wohnungspaketen mit hohem Mietsteigerungspotenzial. In Deutschland sind günstige privatisierte Sozialwohnungen ausverkauft, einen Ausweg bietet das Ausland. Die Vonovia ist der größte private Vermieter in Österreich und baut ihre Position in Schweden aus, wo sie auf Modernisierungen setzt. Sie hat bereits eine Beteiligung in Frankreich, dessen immer noch riesiger Bestand an öffentlichen Wohnungen gerade durch die Regierung Macron für Privatisierungen geöffnet wird. Eine weitere Wachstumsstrategie ist es, Die riskanten Verbriefungen des letzten Jahr- die Kontrolle über die Zulieferketten und woh- zehnts wurden durch Unternehmensanleihen nungsnahen Dienstleistungen auszuweiten, mit stärker differenzierter Laufzeit ersetzt. zum Beispiel im Energiebereich, aber vor al- Aktienkapital spielt eine größere Rolle. Trotz- lem mit der Digitalisierung des Wohnens und dem könnten die Konzerne auch wieder von dem Internet der Dinge. Die LEG hat bereits einem Finanzcrash betroffen sein, etwa wenn die »Industrialisierung 4.0« der Wohnungs- die Zinsen sprunghaft steigen. Ich glaube aber wirtschaft ausgerufen. Die Mieter*innen nicht, dass so ein Crash von ihnen ausgehen können mit diesem Vermieter inzwischen wird. Und es werden zunächst eher die kleine- besser mit einer App kommunizieren als per ren Fonds sein, die dann pleitegehen. Telefon. Der Konzernvermieter der Zukunft Ein ungeregelter Crash eines Wohnungs- könnte viele Züge des »Großen Bruders« aus unternehmens ist in der Regel schlecht für die Orwells Dystopie »1984« tragen. Mieter*innen. Es kommt zu jahrelangen Ab- Natürlich beschäftigen sich die Konzerne auch wicklungsketten, bei denen sich undurchsich- intensiv mit der Optimierung ihrer Schulden. tige Geierfonds spekulativ bereichern und die

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019 23 Wohnungen verfallen lassen, bevor dann die eigene Wohnungsunternehmen, die sich in nächste extraktive Investitionswelle einsetzt. eine Anstalt öffentlichen Rechts umwandeln Anders liefe es nur, wenn sich der Staat oder ließen. Die Berliner*innen allein werden eine eine besonders gute Mieterorganisation darauf öffentlich bezahlbare Enteignung grenzüber- einstellen und die Initiative ergreifen würde, greifend agierender Wohnungskonzerne die Wohnungen der Bankrotteure günstig in wahrscheinlich aber nicht isoliert durchsetzen gesellschaftlich kontrolliertes Eigentum zu können. Wir brauchen eine bundesweite überführen. Bewegung, um die Kontrolle über die Woh- nungswirtschaft zurückzugewinnen. Bei aller Die Kampagne »Deutsche Wohnen & Co. Begeisterung für den Gedanken einer grund- enteignen« in Berlin erzielt gerade enorme legenden Alternative sollten wir dabei nicht Aufmerksamkeit. Ist das die richtige Initiative die notwendigen Etappenziele und die vielen in der jetzigen Situation? möglichen Verbesserungen des bestehenden Die Geschäftsmodelle dieser Konzerne Rechts vergessen. Es gibt weder auf Bundes- basieren auf der alltäglichen Enteignung der noch Länderebene ein Gesetz, das Verwer- Mieter*innen. Der nicht ganz neue Gedanke, tungsstrategien Grenzen setzt. Es wäre zum die Enteigner zu enteignen und Wohnungen Beispiel nötig und möglich, die Transparenz unter gesellschaftliche Kontrolle zu bringen, der Eigentümerstrukturen und die Kontrolle ist deshalb naheliegend. Viele betroffene der Mieterschaft bei der Berechnung von Mieter*innen nicht nur in Berlin, auch bei Mieterhöhungen und Nebenkosten viel besser uns im Ruhrgebiet oder zum Beispiel in zu regeln. Eine effiziente Besteuerung von Stuttgart stimmen dem Slogan der Enteig- Anteilsverkäufen würde das Geschäftsmodell nung spontan zu. Es ist erstaunlich, was die auf einen Schlag unattraktiver machen. Berliner Kampagne alles ausgelöst hat. Aber Um bundesweit aus der finanzdominierten die Gegenseite reagiert natürlich mit ihrer Wohnungswirtschaft auszusteigen, bräuchten eigenen Propagandamaschine und hat bereits wir den gesetzlichen Rahmen einer dauerhaft erreicht, dass die Zustimmung im Bundesge- sozial gebundenen, demokratisch organisier- biet begrenzt ist. Trotzdem ist gesellschaftlich ten neuen Wohnungsgemeinnützigkeit – und die richtige Frage gestellt, die neue Hand- eine ganze Landschaft an Akteuren, die sich lungsspielräume eröffnen kann. Aber dazu ihren Regeln unterwerfen. Die Übertragung braucht es nicht nur Slogans, sondern auch der Immobilien an diese Akteure könnte man eine realistische Strategie. mit einer niedrigen »Exit-Tax« begünstigen. Die Berliner*innen sind in der glück- Die Vergesellschaftung wäre so auch ohne den lichen Lage, dass sie eine Landesregierung Enteignungshammer möglich. Ein Enteig- haben, die sie mit der Kampagne zu radika- nungs- und Sozialisierungsgesetz muss es leren Konsequenzen treiben können. In den aber trotzdem geben, um rechtzeitig auf eine Flächenländern sind wir weit davon entfernt. mögliche Kapitalflucht und die Ausplünde- Hier haben wir oft nicht einmal mehr landes- rung der Immobilien reagieren zu können.

24 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Ein rein der Finanzrendite verpflichteter bräuchten wir in der Tat ein Vergesellschaf- Wohnungssektor ist weder mit dem Men- tungsgesetz, um eine ungeregelte spekulative schenrecht auf Wohnraum noch mit der Abwicklung zu verhindern. In jedem Fall grundgesetzlichen Sozialverpflichtung des brauchen wir also sowohl eine strikte Regulati- Eigentums vereinbar. In diesem Sinne ist die on der Wohnungsunternehmen als auch eine Sozialisierung des Wohnungswesens tatsäch- konkrete Vergesellschaftungsperspektive. lich eine wesentliche Herausforderung, der sich diese Gesellschaft heute stellen muss. Immer mehr Mieter*innen der großen Kon- zerne schließen sich zusammen. Inwiefern Könnte eine entschlossene Politik gegen diese entstehen mit dem Aufstieg der neuen Player Industrie, etwa eine Enteignung, zu einem auch neue Möglichkeiten der Organisierung? Crash führen? Wie reagieren die Konzerne auf Bei diesem massenhaften Angriff auf die den Versuch, ihr Geschäftsmodell zu zerstören? Einkommen und Lebensbedingungen der Wenn es zu einer realistischen Option wird, Menschen ist es nicht verwunderlich, dass dass Wohnungskonzerne zum Beispiel in Ber- es zu Gegenwehr und Protesten kommt. Die lin enteignet werden, wird das natürlich Ein- Organisierung über die einzelnen betroffenen fluss auf die Geschäftsmodelle haben. Da sich Standorte oder über einzelne Städte wie Berlin die Gesetzgebung und die verfassungsrecht- hinaus steckt aber noch in den Anfängen. Das liche Auseinandersetzung länger hinziehen Potenzial ist groß: Das standardisierte Vorge- werden, haben die Konzerne genügend Zeit, hen der Konzerne könnte mit standardisierten sich andere Investitionsziele zu suchen oder und weit verbreiteten Gegenmaßnahmen auf eine gute Entschädigung zu spekulieren. beantwortet werden – vielleicht sogar in einer Je nach der Marktsituation könnte die Aussicht standortübergreifenden, quasi syndikalis- auf Entschädigung die Kurse sogar stützen. tischen Organisation. Die auf individuelle Kurzfristig könnte es ihnen mehr wehtun, Rechtsberatungen ausgerichteten Strukturen wenn es zu einem wirksamen Mietendeckel der Mietervereine tun sich aber schwer, eine und zur Abschaffung der Modernisierungs- entsprechende Praxis zu entwickeln. Und erhöhung käme. Vor allem wenn ein Mieten- die meisten Mieterinitiativen verschwinden, deckel auf einzelne Bundesländer beschränkt wenn der unmittelbare Anlass ihrer Aktionen bliebe, könnten die Konzerne aber reagieren, nicht mehr besteht. Ich denke, es müssen sich indem sie den betroffenen Beständen Kapital zunächst die offensiven und basisorientierten entziehen und – wie vor zehn Jahren – viel zu Kräfte in den traditionellen Mieterorgani- wenig in die Instandhaltung investieren. Um sationen, den Initiativen und den linken das zu verhindern, muss man sie unbedingt Bewegungen zusammentun. Sie könnten gesetzlich zwingen, liquide Bauerneuerungs- handlungsfähige Plattformen bilden und sich rücklagen zu bilden und zu verwenden. Wenn in der Fläche verankern. es dann tatsächlich steil abwärts ginge mit den Renditen von Deutsche Wohnen & Co., Das Gespräch führte Hannah Schurian.

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019 25 DIE ABSAHNER WIE INVESTMENTFONDS DIE FINANZIALISIERUNG DES WOHNENS VORANTREIBEN

CHRISTOPH TRAUTVETTER Wenn im Immobilienbereich über gnaden­ lose Profitmaximierung, hohe Managerge­ hälter und überhöhte Renditen gesprochen wird, liegt der Fokus meistens auf den börsen­notierten Wohnungsunternehmen. Share Deals zur Vermeidung von Grund­ erwerbssteuer werden immer wieder als Symbol für ein ungerechtes Steuersystem genannt. Und bei Geldwäsche denken viele Politiker*innen, Journalist*innen und ihre Leser*innen an die Geldkoffer der italienischen Mafia. Ein Akteur wird dabei oft übersehen: die Immobilienfonds und Vermögensverwalter. Sie zahlen teilweise noch sehr viel höhere Gehälter und erzielen mit hochspekulativen Anlagestrategien die höchsten Profite. Durch die ­Registrierung in Steueroasen umgehen sie nicht nur die Grunderwerbssteuer, sondern zusätzlich die Kapitalertrags-, die Gewerbe- und die Körper­ schaftsteuer. Dadurch, dass ihre Investoren völlig anonym bleiben, sind sie ein perfektes Vehikel für die Hinterziehung der Einkom­

26 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN mensteuer und dafür, schmutziges Geld in kauften angelsächsische »Heuschrecken«‚ in den legalen Markt zu schleusen. großem Umfang kommunale Wohnbestände und dominierten den deutschen Wohnimmo­ DIE GROSSEN IMMOBILIENFONDS bilienmarkt.2 Diese Rolle haben sie zwischen­ AUF DEM DEUTSCHEN WOHNUNGSMARKT zeitlich an die großen Immobilien-AGs und Investmentfonds sammeln Kapital von Inves­ deren Anteilseigner abgegeben.3 toren ein und verwalten es mit einer vorher Einer der größten Immobilieninvestoren vereinbarten Anlagestrategie in deren Namen. der Welt ist der US-amerikanische Vermögens­ Es gibt Fonds für professionelle Investoren verwalter Blackstone, der weltweit Immobi­ wie Versicherungen mit Mindestbeteiligungen lien im Wert von 250 Milliarden US-Dollar von zehn Millionen Euro und mehr sowie besitzt.4 Anfang 2018 kaufte Blackstone auch sogenannte Publikumsfonds. Die meisten von knapp 60 Mietshäuser in Berlin – von Talie­ ihnen investieren in Aktien, unter anderem von sin, einem auf Jersey beheimateten Invest­ börsennotierten Immobiliengesellschaften, ein mentfonds. Blackstone war bereits früher in Teil aber auch direkt in Immobilien. Invest­ mentfonds aus Deutschland verwalten insge­ samt knapp 3 Billionen Euro, davon sind knapp CHRISTOPH TRAUTVETTER ist Politikwissenschaftler, 200 Milliarden Euro zu ungefähr gleichen Public-Policy-Experte und Unterstützer des Teilen auf professionelle und publikumsoffene Netzwerks Steuergerechtigkeit. Er ist Mitautor des von der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2019 herausge- Immobilienfonds (Gewerbe und Wohnen) gebenen Buchs »Wem zahle ich eigentlich Miete?«. verteilt. Zu den größten deutschen und für die Allgemeinheit offenen Immobilienfonds gehören Wertgrund Wohnselect D (mit circa Berlin und Deutschland aktiv, verkaufte aber 2 000 Wohnungen), Fokus Wohnen Deutsch­ beispielsweise 2013 ein größeres Paket an die land (circa 1 700 Wohnungen) und UniImmo: Deutsche Wohnen. Wohnen ZBI. Darüber hinaus gibt es eine Reihe professioneller und ausländischer Investment­ WIE VIEL VERDIENT DER INVESTMENT- fonds, zu denen aber kaum Daten vorliegen. MANAGER EINES IMMOBILIENFONDS? Laut Gebäude- und Wohnungszählung Die deutschen Publikumsfonds brachten des Statistischen Bundesamtes waren 2011 ihren Anlegern in den letzten Jahren im deutschlandweit ungefähr 700 000 und in Schnitt zwischen 2,5 und 3 Prozent Rendite Berlin immerhin 130 000 Wohnungen im (Scope Investor Services 2018a) und damit Besitz von »anderen privatwirtschaftlichen deutlich mehr als ein Sparkonto. Institutio­ Unternehmen«, also Banken, Versicherungen nelle Investoren erwarten von professionellen und Fonds.¹ Mit einem Gesamtanteil von rund Fonds immerhin sechs bis acht Prozent zwei beziehungsweise sieben Prozent sind sie Rendite (Scope Investor Services 2018b) und eine der kleinsten Eigentümergruppen, aber Blackstone wirbt bei seinen Anlegern sogar dafür eine der aktivsten. Vor der Finanzkrise mit einer Rendite von 16 Prozent.

MIETE UND RENDITE | LUXEMBURG 2/2019 27

Doch bevor diese Renditen bei den Anlegern Dollar rangiert er auf Platz 34 der Forbes-Liste ankommen, werden hohe Management­ der Milliardäre. gebühren fällig. Die Investmentmanager erhalten in der Regel ein Honorar von ein bis WIE SCHAFFEN ES IMMOBILIENFONDS, zwei Prozent des verwalteten Immobilienvo­ SO GUT WIE KEINE STEUERN ZU ZAHLEN? lumens, zuzüglich einer Erfolgsbeteiligung Das Ziel maximaler Renditen erreichen inter­ an der Wertsteigerung von 20 Prozent – eine nationale Immobilienfonds zum einen über Strafe für Wertverminderung ist meistens professionell gemanagte Mietsteigerungen nicht vorgesehen. Was das im Einzelfall und gut getimte Spekulationen, zum anderen bedeuten kann, zeigt der Fall der Berliner über aggressive Steuervermeidung. Kauft man Häuser von Taliesin und Blackstone. als Privatperson ein deutsches Mietshaus, In einem aus Investorensicht großartigen zahlt man auf die Mietüberschüsse – also Jahr wie 2017, in dem die Immobilienpreise die Einnahmen nach Abzug der Kosten – in explodierten, erhielt der Investmentmanager Deutschland Einkommensteuer, je nach Höhe von Taliesin laut Jahresabschluss knapp des Einkommens bis zu 47,5 Prozent (ein­ 17 Millionen Euro Honorar und Boni – schließlich Reichensteuer und Solidaritätszu­ bei Mieteinnahmen von lediglich knapp 11 schlag). Und zwar ganz egal, in welchem Land Millionen Euro. Er beanspruchte nicht nur man geboren ist oder wo man wohnt. Das Be­ die kompletten Mieteinnahmen des Jahres, steuerungsrecht für Mieteinnahmen liegt fast sondern auch einen Teil der zukünftigen immer bei dem Land, in dem das Haus steht. Einnahmen und Mietsteigerungen für sich. Verpackt man das Haus in ein Unternehmen, Pro Mietpartei kostete er 2017 grob überschla­ dann verteilt sich die Steuerzahlung auf zwei gen 13 000 Euro – ohne dafür, abgesehen Stufen, verändert sich aber im Effekt kaum. Auf von ein paar gezielten Luxussanierungen und Stufe eins bezahlt das Unternehmen auf seine aus Anlegersicht gut gemanagten Mietstei­ Gewinne Körperschaft- und Gewerbesteuer von gerungen, eine Gegenleistung erbracht zu zusammen knapp 30 Prozent. Auf Stufe zwei haben. Der Chef und Gründer von Blackstone, zahlt der Anteilseigner noch einmal zusätzli­ Stephen A. Schwarzmann, genehmigte sich che Steuern, wenn er die Gewinne ausbezahlt im selben Jahr ausweislich des Jahresabschlus­ bekommt. Zusätzlich zur Einkommensteuer ses Gehalt und Prämien von insgesamt 132 werden beim Kauf einmalig bis zu 6,5 Prozent Millionen US-Dollar, zuzüglich einer Dividen­ vom Kaufpreis als Grunderwerbsteuer fällig. de auf seine Anteile von knapp 661 Millionen Wertsteigerungen werden beim Verkauf US-Dollar. Auf das gesamte durch Blackstone pauschal, also unabhängig von der Höhe verwaltete Vermögen runtergerechnet – mit des Einkommens, mit 25 Prozent besteuert. über 400 Milliarden US-Dollar deutlich mehr Mit der richtigen Strategie lassen sich fast als bei Taliesin –, hätte Herr Schwarzmann alle diese Steuern umgehen. Taliesin und jede Mietpartei nur rund 350 Euro gekostet. Blackstone zeigen wieder beispielhaft, wie das Mit einem Vermögen von 13,3 Milliarden US- funktioniert.

30 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Fangen wir mit den Steuern auf Einkommen Share Deal werden nicht Häuser verkauft, son­ und Unternehmensgewinne an. Immobi­ dern Firmenanteile, und der Eigentümer im lienfonds zählen in Deutschland meistens Grundbuch ändert sich nicht. Werden weniger nicht als Gewerbebetriebe, sondern als als 95 Prozent der Firmenanteile übertragen, vermögensverwaltende Gesellschaften. Mit der entfällt die Grunderwerbsteuer. Und wenn richtigen Gestaltung und ein paar Vorsichts­ der Share Deal im Ausland stattfindet, entfällt maßnahmen sparen sie sich so die Gewer­ wegen einer Gesetzeslücke auch die Steuer besteuer und zahlen lediglich 15,8 Prozent auf die Wertsteigerung. Um trotzdem 100 Pro­ Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag zent der Immobilien übernehmen zu können, auf ihre Gewinne. Mit einem firmeninternen hat Taliesin eine Konstruktion gewählt, bei der Kredit aus Luxemburg oder einer anderen ein kleiner Teil der Anteile auf eine auf dem Steueroase sowie mit dem geschickten Hin- Papier unabhängige Treuhandgesellschaft und Herschieben von Verlusten und anderen ausgelagert wurde. Beim Verkauf an Black- Tricks lässt sich der zu versteuernde Gewinn stone wurde diese Gesellschaft für einen Euro noch kleinrechnen, sodass nur sehr geringe mit verkauft. Blackstone war anscheinend Steuerbelastungen übrigbleiben. Anstatt die weniger kreativ und griff auf zwei in Jersey Gewinne in Deutschland auszuschütten und eigens für den Deal gegründete Gesellschaften zu versteuern, werden sie über Luxemburg in (Canary und Wren) zurück. Zumindest die eine Steueroase wie Jersey oder die Cayman Gesetzeslücke bei den Wertsteigerungen ist Islands geschleust, wo die Steuerlast null seit dem 1. Januar 2019 und damit pünktlich Prozent beträgt. Wenn sich dann der Anteils­ zum Ende des Immobilienbooms und den eigner dort hinter anonymen Firmenkonstruk­ damit verbundenen Preissteigerungen und zu tionen vor den heimischen Steuerbehörden spät für Blackstone gestopft. Auch die Schlie­ versteckt oder seinen steuerlichen Wohnsitz ßung der Lücke bei der Grunderwerbsteuer durch ein paar Tricks dorthin verlagert, wo wird seit mehreren Jahren vorbereitet. 2018 keine Steuern auf ausländisches Einkommen einigten sich die Finanzminister der Länder fällig werden, entfällt Stufe zwei der Besteue­ darauf, die Grenze für den Share Deal auf rung nicht nur für Deutschland, sondern kom­ 90 Prozent abzusenken. Aber während das plett. Wem die Anteile an Blackstones Fonds Gesetz aktuell im Bundestag verhandelt wird, gehören, ist für die Öffentlichkeit – anders als ist Blackstone schon einen Schritt weiter und bei normalen Unternehmen – nicht nachvoll­ hat laut Eintrag im deutschen Handelsregister ziehbar und auch für die Steuerbehörden oft vorsorglich die Anteile seiner zwei Firmen nicht zu erkennen. entsprechend angepasst. Auch die Grunderwerbsteuer und die Steuer auf Wertsteigerungen – für Spekulan­ WER KONTROLLIERT DIE HERKUNFT ten mit hohen Renditeerwartungen mindes­ DES GELDES? tens genauso wichtig – lassen sich mit einem Dass die Investoren von Immobilienfonds einfachen Trick umgehen. Beim sogenannten fast immer anonym bleiben, ist nicht nur für

MIETE UND RENDITE | LUXEMBURG 2/2019 31 die Besteuerung problematisch. Expert*innen Geldes« jemals entdeckt wird. Besonders groß gehen davon aus, dass knapp zehn Prozent sind diese Löcher bei den Investmentfonds. des weltweiten Vermögens – je nach Schät­ So sind etwa US-amerikanische Investment­ zung zwischen sieben und 25 Billionen Euro manager von der Verpflichtung ausgenom­ – völlig anonym ist (Henry 2012; Zucman men, ihre Kunden auf Geldwäscheverdachts­ 2015). Das sieht man beispielsweise an den momente zu überprüfen und gegebenenfalls Lücken in den internationalen Investmentsta­ anzuzeigen. Bei den Registern für die tistiken. Dort melden Länder die Guthaben wirtschaftlichen Berechtigten gelten wieder­ und Schulden ihrer Bürger*innen gegenüber um Grenzen: Anteilseigner, die weniger als dem Ausland. Lücken entstehen dabei, wenn 25 Prozent besitzen, müssen nicht gemeldet beispielsweise ein deutscher Arzt von seinem werden, was bei Investmentfonds meistens anonymen Konto in der Schweiz in einen in für alle Anleger zutrifft. Luxemburg beheimateten Immobilienfonds Auch hierzu ein Beispiel: Trockland ist investiert. Dann meldet Luxemburg Schulden ein Berliner Immobilienprojektentwickler, der gegenüber der Schweiz, die Schweiz meldet auch an einem Wohnprojekt in der Nähe vom aber kein Guthaben gegenüber Luxemburg, Checkpoint Charlie und der Neubebauung weil sie weiß, dass es Deutschland zuzuord­ des Checkpoint Charlie selbst beteiligt ist. nen ist. Aber weil Deutschland das nicht weiß, Zu den Investoren des Wohnprojekts gehö­ meldet auch Deutschland kein Guthaben. ren laut Presseinformationen (vgl. Keller/ Das heißt nicht nur, dass die Steuerbe­ Schlieter 2018) auch Familienmitglieder des hörden leer ausgehen, auch Nachforschungen ehemaligen und mittlerweile verstorbenen von Ehepartner*innen im Scheidungsfall turkmenischen Präsidenten Nijazov. Ihm genauso wie polizeiliche und nachrichten­ und seiner Familie wird vorgeworfen, in dienstliche Ermittlungen zu Profiten aus Dro­ seiner Amtszeit mehrere Milliarden Euro genhandel, Waffenschmuggel und Korruption aus staatlichen Gasgeschäften auf private oder zur Finanzierung von terroristischen Konten abgezweigt zu haben. Von den Organisationen verlaufen oft im Sande. Um Geldern fehlt bis heute jede Spur. Im Fall von das zu vermeiden, gibt es eigentlich ein Trockland tauchen die Familienmitglieder internationales System aus Geldwäschegeset­ im deutschen Handelsregister als Anteils­ zen, das Banken, Makler- und Berater*innen eigner der für das Wohnprojekt zuständigen und viele andere Beteiligte dazu verpflichtet, Objektgesellschaft für jeden sichtbar auf. verdächtige Transaktionen zu melden. Wie viel Geld sie investiert haben und woher Außerdem verpflichten immer mehr Länder das Geld kommt, ist nicht ersichtlich. Es gilt Firmen dazu, ihre endgültigen Eigentümer zunächst die Unschuldsvermutung. Sehr – die sogenannten wirtschaftlichen Berech­ viel undurchsichtiger wird es, wenn man tigten – in Registern offenzulegen. Allerdings sich die Kreditgeber von Trockland anschaut. ist dieses System so löchrig, dass nur ein Dabei handelt es sich um einen anonymen verschwindend kleiner Teil des »schmutzigen Spezialfonds aus Luxemburg. Mit Geldwä­

32 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN schevorwürfen konfrontiert, hat Trockland der Wurzel zu packen, müssten die finalen auf seiner Internetseite erklärt, dass es sich Nutznießer von Immobilieninvestments bei den Anteilseignern dieser Fonds unter registriert und leistungsloses Einkommen anderem um »institutionelle Investoren aus etwa in Form von spekulativen Gewinnen Europa, darunter Pensionskassen, Versiche­ aus Bodenwertsteigerungen angemessen rungsunternehmen sowie Investmentfonds besteuert werden. Auch dafür gibt es eine aus Großbritannien, Niederlande, Luxemburg Vielzahl konkreter Vorschläge: angefangen und Schweiz« handele. Wer sich hinter diesen von einer Erfassung von Immobilienwerten Fonds verbirgt, bleibt ein Geheimnis. für eine wertabhängige Grundsteuer über die Einführung eines Immobilienregisters, das WAS DAS FÜR BEZAHLBARE MIETEN BEDEUTET die wirtschaftlich Berechtigten erfasst, bis hin In einem angespannten Marktumfeld sorgen zur Wiederbelebung der Vermögensteuer.5

Spekulanten, darunter viele Investmentfonds, ZUM WEITERLESEN dafür, dass sich die gestiegenen Preise Bonczyk, Sopie/Trautvetter, Christoph, 2019: Profitmaxi­ mierer oder verantwortungsvolle Vermieter? Hg v.d. Rosa- schneller und auf einen viel größeren Teil Luxemburg-Stiftung des Immobilienbestands übertragen. Ihre

Spekulationsgewinne sind für Kommunen LITERATUR und Mieter*innen für immer verloren und Global Witness, 2006: It’s a gas. Funny Business in the Turkmen-Ukraine Gas Trade, 25.6.2006, müssen in Zukunft über Verluste neuer www.globalwitness.org/en/reports/its-gas/ Investoren oder höhere Mieten getragen Henry, James Stuart, 2012: The Price of Offshore Revisited, Tax Justice Network werden. Durch aggressive Steuervermeidung Keller, Gabriele/Schlieter, Kai, 2018: Investoren am Check­ und möglicherweise mit ›schmutzigem Geld‹ point Charlie, in: Berliner Zeitung, 4.12.2018 Peters, Rolf Herbert, 2005: Heuschrecken spielen Monopoly, erhöhen die Investoren dabei ihre Renditen in: Der Stern, 29.10.2005 auf Kosten der Allgemeinheit. Wenige Scope Investor Services, 2018a: Renditen offener Immo- bilienfonds, 11.9.2018 Einzelpersonen schöpfen so riesige Gewinne Dies., 2018b: Institutionelle Immobilienfonds: ein ab. Würde man sowohl den Kauf als auch Marktüberblick, 9.4.2018 Zucman, Gabriel, 2015: The hidden wealth of nations – the die Wertsteigerung bei Verkauf ordentlich scourge of tax havens, Chicago University Press besteuern und dafür die Option von Share Deals ausschließen, würde Spekulation teurer 1 Vgl. www.zensus2011.de/DE/Zensus2011/Methode/ Methode_GWZ_node.html. und damit unattraktiver. Darüber, dass diese 2 Vgl. z. B. Peters (2005); http://spiegelkabinett-blog. Gesetzeslücke geschlossen werden soll, be­ blogspot.com/2013/01/heuschrecken-saugen-wohnungs­ markt-aus.html. steht weitestgehend Einigkeit, auch wenn sich 3 Vgl. die BBSR-Datenbank Wohnungstransaktionen die Immobilienlobby und Teile der CDU/CSU unter www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/WohnenImmobilien/ Marktakteure/ProjekteFachbeitraege/DatenbankWohnungs­ noch dagegen wehren. Der aktuelle Gesetzes­ transaktionen/Veroeffentlichungen.html. vorschlag zur Grunderwerbsteuer muss aber 4 Vgl. www.blackstone.com/the-firm/asset-management/ real-estate. dringend verschärft werden. Um die Proble­ 5 Vermögensteuer wurde in Deutschland zuletzt 1996 me unfairer Vermögensverteilung, ungleicher erhoben. Vgl. dazu auch: https://netzwerksteuergerech­ tigkeit.files.wordpress.com/2018/09/2018_09_11_info- Besteuerung und Geldwäsche wirklich an steuergerechtigkeit-zu-immobilien1.pdf.

MIETE UND RENDITE | LUXEMBURG 2/2019 33 »ENTEIGNUNG IST INZWISCHEN MEHRHEITSFÄHIG« GESPRÄCH ÜBER MIETER*INNEN-ORGANISIERUNG UND DIE ERNEUERUNG LINKER POLITIK

MIT MARIEKE PREY UND JAN SAHLE Solange ein Großteil des Wohnsektors waren­ (INTERVENTIONISTISCHE LINKE BERLIN) förmig organisiert ist und profitorientierte Konzerne damit die Renditeansprüche ihrer Ihr seid Teil der Berliner Kampagne »Deut­ Anleger*innen bedienen müssen, sind soziale sche Wohnen & Co. enteignen«, die bundes­ Mietverhältnisse unrealistisch. weit in aller Munde ist. Die Initiative will per Langfristig wollen wir aber mehr errei­ Volksentscheid Druck machen, große private chen als soziale Mieten. Die Vergesellschaf­ Wohnungsunternehmen zu enteignen. Wieso tung ist der entscheidende Schritt, damit wir, ist das im Moment die richtige Forderung? die Bewohner*innen Berlins, die demokrati­ Reicht es nicht, andere mietenpolitische Hebel sche Gestaltungsmacht über unsere schöne anzusetzen? Stadt zurückgewinnen. Auf diese Weise wollen Mit der Kampagne wollen wir mehr als nur wir auch zeigen, dass es konkrete linke Ant­ die Mietpreisentwicklung ein bisschen zu ver­ worten auf drängende soziale Probleme gibt. langsamen. Unser Ziel ist es, Wohnungen zu Beim Thema Mieten spürt die Mehrheit der vergesellschaften, Wohnen also als ­Gemeingut Berliner*innen, dass das Dogma »der Markt und nicht als Ware zu organisieren. Dazu regelt alles« nicht stimmt. Die Enteignungs­ müssen wir die Wohnungen wirklich de­ kampagne greift ein sehr alltägliches und mokratisieren und unter die Kontrolle der existenzielles Problem auf und zeigt, wie un­ Bewohner*innen und der ­Stadtgesellschaft gerecht die kapitalistische Vergesellschaftung stellen. Dies ist der nach­haltigere Ansatz, ist. Hier die Eigentumsfrage zu stellen, macht denn andere Hebel tasten die Ursache von eine solidarische Perspektive auf und deutlich, Mietenwahnsinn und Verdrängung nicht wie wir gemeinsam gegen die Neoliberalisie­ an und bringen keine echte Veränderung. rung und ihre Folgen kämpfen können. Das

34 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN ist auch für Leute anschlussfähig, die noch keine Antikapitalist*innen sind. MARIEKE PREY UND JAN SAHLE sind in der Stadt AG der Interventionistischen Linken Berlin aktiv, die sich aktuell in der Kampagne »Deutsche Wohnen Enteignungen waren bis vor Kurzem ein & Co. enteignen« engagiert. Tabuthema oder galten als »linksextreme« Forderung. Wie kommt es, dass eure Kampa­ gne jetzt so breite Akzeptanz genießt? sich linker oder gar linksradikaler Politik Das Wichtigste ist, dass in den letzten Jahren eher fern fühlen, ob die von Verdrängung eine sehr starke und vielseitige mietenpoliti­ bedrohten Menschen mit wenig Einkommen sche Bewegung in der Stadt entstanden ist, die oder die bürgerlichen Kreise, die ebenfalls den auch wirklich handlungsfähig ist. An dieser Mietenwahnsinn spüren. Bewegung kommt niemand mehr vorbei. Den Es gab zudem ganz konkrete Schritte, um Lösungsvorschlägen der Immobilienwirtschaft die Enteignungsforderung zu verbreiten und und der politischen Verursacher der Woh­ anschlussfähig zu machen. Hier in Berlin gibt nungskrise wird nicht mehr getraut. Dadurch es mehrere beispielhafte Kämpfe, etwa von gilt eine radikale Kritik am Wohnungsmarkt Sozialmieter*innen am Kottbusser Tor, die für inzwischen vielen Menschen als legitim, die die Rekommunalisierung ihrer privatisierten

DEUTSCHE WOHNEN & CO. ENTEIGNEN – WORUM GEHT'S? Wohnen als börsennotierter Immobilienkonzern Die Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« war auch deshalb namensgebend, weil sie mit will Unternehmen mit mehr als 3 000 Wohnungen 111 500 Wohnungen der größte Fisch ist. An in Berlin enteignen. Die Wohnungen sollen nach zweiter Stelle folgt die ebenfalls börsennotierte Art. 15 Grundgesetz vergesellschaftet werden Vonovia mit etwa 45 000 Wohnungen in Berlin. und würden in kommunalen Besitz übergehen. Außerdem geht es um ADO Properties (22 200), Über diesen Vorschlag sollen die Berliner*innen in Covivio (15 700), Akelius (14 000), TAG Immobi- einem Volksentscheid abstimmen. lien (9 900), Grand City Properties (8 000), BGP Group (8 000) und die Deutsche Vermögens- und Was wird enteignet? Immobilienverwaltungs GmbH (3 800). Hinter Die Vergesellschaftung beträfe etwa 243 000 diesen Unternehmen stehen meist internationale Berliner Wohnungen. Das sind ca. 15 Prozent al- Investoren. ler Wohnungen in Berlin, in denen etwa 500 000 Hinzu kommt die evangelische Hilfswerk Berliner*innen wohnen. Formal sollen nicht die Siedlung GmbH mit etwa 6 000 Wohnungen. Unternehmen enteignet werden, sondern der Deren Enteignung könnte allerdings durch eine Grund und Boden, auf dem die entsprechenden Änderung des Unternehmenszwecks und eine Ver- Wohnungen stehen. Damit würden auch die pflichtung aufs Gemeinwohl vermieden werden. Wohnungen in kommunalen Besitz übergehen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung fügt der Liste ein weiteres Unternehmen hinzu: Pears Wer wird enteignet? Global Real Estate mit rund 6 000 Wohnungen. Auf der vom Senat erstellten Liste stehen zehn Es ist davon auszugehen, dass nach einem Unternehmen, die betroffen wären. Die Deutsche genauen Blick in die Grundbücher noch weitere

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019 35 Wohnungen kämpfen, oder die Deutsche- Hinzukommt, dass immer mehr Initiativen Wohnen-Mieter*innen der angrenzenden Otto- von Mieter*innen, deren Häuser verkauft Suhr-Siedlung, die sich gegen Verdrängung werden sollen, die Bezirke zur Wahrnehmung durch energetische Modernisierung wehren. ihres Vorkaufsrechts drängen. Auch hier wird Den Erfolgen dieser Kämpfe gingen jahrelange gefragt: »Wem gehört die Stadt?« All diese Prozesse der Selbstorganisierung voraus. In Prozesse sind eingebettet in eine Krise neoli­ den Siedlungen wissen die Leute aus eigener beraler Hegemonie. Die Idee, dass renditege­ Erfahrung, dass es die heutigen Missstände triebene Investoren gesellschaftliche Aufgaben – Mieterhöhungen, Verdrängung, Verwahr­ übernehmen, ist ja offensichtlich absurd, wie losung von Wohnungen – so nicht gab, als alle diese Beispiele zeigen. Neu ist, dass das sie noch unter der Verwaltung der landesei­ immer mehr Betroffene auch so benennen genen Wohnungsgesellschaften standen. Die und sich dagegen zur Wehr setzen. Deutsche Wohnen hat den Bogen zusätzlich überspannt durch Angriffe auf den ietspie­M Ihr seid eine linksradikale Organisation, die gel, die alle Mieter*innen bedrohen. Sie hat gesellschaftlich wesentlich mehr verändern sich so in der gesamten Stadt als »Unsympath will als steigende Mieten zu stoppen. Wie seht Nummer eins« einen Namen gemacht. ihr eure Rolle in der Mietenbewegung der

Unternehmen dazukommen. Ausgenommen Werden die Unternehmen entschädigt? werden sollen die rund 80 Genossenschaften mit Ja, jedoch nicht zum Marktwert - darin stimmen ihren etwa 200 000 Wohnungen und die landes- alle bisherigen rechtlichen Einschätzungen überein. eigenen Wohnungsunternehmen, die 308 862 Zur genauen Höhe der Entschädigung gibt es Wohnungen verwalten. allerdings unterschiedliche Berechnungsmodelle. Die Kostenschätzung der Initiative liegt derzeit bei Ist eine Enteignung rechtlich möglich? 7 bis 14 Milliarden Euro, die des Senats bei 26 bis Grundsätzlich ja. Enteignung nach Art. 14 Grund- 34 Milliarden Euro. Während der Senat zunächst gesetz gehört zur regelmäßigen Verwaltungspraxis den Marktwert zugrunde gelegt hat, und davon und ist beispielsweise beim Bau von Autobahnen dann – wegen der spekulativen Immobilienwer- ein Standardeingriff. Mit einer Vergesellschaftung tentwicklung der letzten vier Jahre – 20 Prozent nach Art. 15 Grundgesetz würde allerdings juristi- abgezogen hat, ist die Initiative einen anderen Weg sches Neuland betreten: Eine solche wurde in der gegangen. Statt vom Marktwert auszugehen, legt Geschichte der BRD bisher noch nicht vollzogen. sie den sogenannten Ertragswert der Immobilien Um zu klären, was mit Blick auf das Volksbegehren zugrunde. Das heißt, dass die mit einer Immobilie möglich wäre, hat die von der LINKEN geführte erzielte Jahresnettokaltmiete unter Einbeziehung Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Woh- aller Instandhaltungs- und Bewirtschaftungskosten nen drei Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, die zur Grundlage genommen und dann über einen mittlerweile veröffentlicht sind. Alle drei kommen bestimmten Zeitraum hochgerechnet wird. Die zu dem Ergebnis, dass eine Vergesellschaftung städtischen Wohnungsbaugesellschaften bewerten nach Art. 15 Grundgesetz möglich ist. Die Gutach- ihre Immobilien nach diesem Modell und legen die ten finden sich hier: http://gleft.de/2Uc Jahresnettokaltmieten für 14 Jahre zugrunde. Da-

36 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN letzten Jahre und in der Kampagne »Deutsche aufzuzeigen, wie eine solidarische Umstruk­ Wohnen & Co. enteignen«? turierung der Wohnraumversorgung konkret Seit knapp zehn Jahren sind wir in Berlin aussehen könnte. Damit wollen wir eine neue mietenpolitisch aktiv. In den Anfangsjahren Diskussion anstoßen, die die Verantwortlichen haben wir versucht, ein berlinweites Mieten­ unter Druck setzt. Zweitens setzen wir auf die bündnis aufzubauen, allerdings ohne größere Organisierung gemeinsam mit Betroffenen Erfolge. Daraus haben wir gelernt, zum Glück, und den Aufbau von Initiativen. Darin sehen und unsere Praxis weiterentwickelt. Heute wir einen wichtigen Beitrag zur Erneuerung ist es uns wichtig, nicht allein auf ein großes und besseren Verankerung der gesellschaftli­ Bündnis oder eine große Demo zu orientie­ chen Linken und einen Weg, um aus eventori­ ren, sondern unsere außerparlamentarische entierten Politikformen und den Szenenischen Praxis auf vier Elementen aufzubauen, die rauszukommen. So unterstützen wir schon eng verzahnt sind. Zunächst ist da die Arbeit seit einigen Jahren Mieterinitiativen und sind an einer sozialistischen Programmatik für aktuell in der Starthilfe-AG der Enteignungs­ Mieten- und Stadtpolitik. In unserer Broschüre kampagne aktiv. Das Ziel dieser AG ist es, Be­ »Das Rote Berlin« haben wir Forderungen aus troffenen konkrete Hilfestellung zu geben, wie den Bewegungen aufgegriffen und versucht sie sich organisieren können. Drittens suchen

mit käme man laut der Innitiative auf etwa 14 Mil- erzielbaren Mieten zur Grundlage genommen wer- liarden Euro - die obere Grenze ihrer Kostenschät- den, etwa nach einer Modernisierung oder anderen zung. Für die untere Grenze von 7 Millarden hat die Instrumenten der Mieterhöhung. Initiative als zentrale Bezugsgröße die Einkommen der Mieter*innen genommen und den zu erzielen- Wer soll das bezahlen? den Ertragswert so berechnet, dass niemand mehr Wie am Immobilienmarkt üblich, würden 80 Pro- als 30 Prozent des Haushaltseinkommens für die zent der Kosten über Kredite finanziert. Lediglich Miete ausgeben muss. Die Mieten müssten dafür 20 Prozent der Entschädigungssumme müssten teilweise deutlich gesenkt werden. Das Bundes- vom Senat als Eigenkapital eingebracht werden. bewertungsgesetz, das eine wichtige Orientierung Bei einer Entschädigungssumme von rund 20 für anstehende Gerichtsprozesse sein kann, legt als Milliarden Euro wären dies also etwa 4 Milliarden Wert einer Immobilie die bestehende Jahresnetto- Euro, die bei einem schrittweisen Vorgehen über kaltmiete nach Abzug aller Instandhaltungs- und mehrere Haushaltsjahre gestreckt werden könnten. Bewirtschaftungskosten zu Grunde. Diese wird Zum Vergleich: Nach Abzug aller Ausgaben erwirt- nach einem bestimmten Modell so hochgerechnet, schaftete das Land Berlin 2018 einen Haushalts- dass der angenommene Immobilienwert bei den in überschuss von 2,4 Milliarden Euro. Die Kredite Frage stehenden Beständen dann etwa beim 15 fa- sollen über die Mieteinnahmen aus den betroffenen chen der Jahresnettokaltmiete liegt. Die Deutsche Wohnungen getilgt werden. Nach Rechnung der Wohnen bewertet ihre Immobilien in der eigenen Initiative wären diese, inklusive aller Instandhal- Bilanz mit einem Ertragswert, der über 30 Jahre tungskosten, nach 30 bis 40 Jahren abbezahlt und gerechnet wird. Der Marktpreis liegt teilweise noch die Mieten könnten dabei sogar noch um 0,97 deutlich darüber, weil in der Regel die in Zukunft Euro/m2 gesenkt werden. Derzeit erwirtschaften

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019 37 wir nach echten politischen Hebeln: Was sind Ressourcen einbringen können: vom einmali­ konkrete Forderungen, mit denen wir Kämpfe gen Unterschriftensammeln bis zur langfristi­ führen können, die breit verankert sind, die gen Mitarbeit im koordinierenden Kreis. gewinnbar sind, die die Beteiligten ermächti­ gen und die langfristig zu einer Stärkung der Einerseits gibt eure Kampagne den organisier­ Bewegung beitragen? Genau deshalb halten ten Mieter*innen eine politische Perspektive wir den Volksentscheid zur Enteignung für und enorme mediale Sichtbarkeit. Anderer­ ein so wichtiges Instrument und haben selbst seits lasten auf ihr große Erwartungen. Was ist intensiv an der Formulierung mitgeschrieben. aus eurer Sicht wichtig, damit sie langfristig Viertens geht es uns darum, unsere Ziele die Bewegungen stärkt? und Projekte in partizipativen Kampagnen Die Nachhaltigkeit der Organisierung ist für umzusetzen und Zugänge für unterschiedliche uns ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Leute zu schaffen. Unser Ziel ist eine einladen­ Punkt. In diesem Zusammenhang ist die de und demokratische »Mitmach-Kampagne«, schon erwähnte Arbeit in der Starthilfe-AG in die sich Menschen mit unterschiedlichem so relevant. Wir unterstützen den Aufbau Vorwissen und unterschiedlichen zeitlichen von Mieterinitiativen zum Beispiel durch

die Immobilienkonzerne Milliardengewinne mit den auch wegen der Überlastung der Bauwirtschaft zu Beständen. Die Wohnungsbestände sind also ein Verzögerungen. Die 30 000 Wohnungen werden gutes Geschäft. Nach Ablauf von 30 Jahren wären 2021 voraussichtlich zwar alle im Bau, aber nicht die Kredite getilgt und Berlin hätte sein Vermögen alle fertiggestellt sein. Bei den derzeitigen Bauziel- beträchtlich gesteigert – denn die Wohnungen zahlen – die eine deutliche Steigerung gegenüber wären ja weiterhin in kommunalem Besitz. Derzeit den letzten 20 Jahren bedeuten – würde der Senat fließen die Gewinne aus den Mieteinnahmen statt- rund 40 Jahre brauchen, um die 243 000 zur Debat- dessen in die Taschen internationaler Investoren. te stehenden Wohnungen neu zu bauen. DIE LINKE hat deshalb vorgeschlagen, die Baukapazitäten Wäre es nicht sinnvoller, das Geld in Neubau zu der öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften zu investieren? stärken. Jenseits dessen hätte eine Vergesellschaf- Derzeit landen die Mieteinnahmen bei den tung von rund 15 Prozent der Berliner Wohnungen Aktionären. Der Senat kann darüber also gar nicht aber einen unmittelbar spürbaren und langfristig verfügen. Insofern stehen der Neubau von bezahl- wirksamen Effekt auf den Berliner Wohnungs- baren Wohnungen und eine Vergesellschaftung der markt, denn die Marktmacht der aggressivsten genannten Immobilien gar nicht gegeneinander. Mietpreistreiber wäre gebrochen. In städtischen Mit seinen eigenen Haushaltsmitteln kümmert sich Wohnungen sind Vorschriften bezüglich Miethöhe, der Senat aber auch um den Neubau von Wohnun- Sozialquote, Mitbestimmung und Modernisierungs- gen in öffentlichem Besitz: Die rot-rot-grüne Koali- umlagen deutlich strenger als bei den Privaten. Erst tion hat sich im Koalitionsvertrag für die gesamte Recht, seit der Mietendeckel beschlossen wurde. Legislatur (2016–2021) den Neubau von 30 000 (vgl. Gottwald auf LuXemburg-Online). städtischen Wohnungen vorgenommen, also 6 000 pro Jahr. Trotz großer Anstrengungen kommt es Moritz Warnke für die Redaktion

38 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Workshops, Schulungen und konkrete Organisierungsarbeit, etwa eine Klingel-Tour durch den Häuserblock. Diese AG ist fester Teil der Enteignungskam­ pagne und der Vernetzung der Deutsche-Wohnen-Mieter*innen, die aus Dutzenden Initiativen besteht und weiter wächst. Wir merken, dass die Kampagne die Selbstorganisierung in den Siedlungen ermutigt, indem sie eine gemeinsame Stoßrichtung anbietet. Diese Initiativen können zum Positiven verändert hat und der Stadt­ aus unserer Sicht auch Keimformen der Mieter- gesellschaft mehr zugehört wird. Trotzdem Mitverwaltung sein, die wir im Volksentscheid gibt es noch keine echte Wende in der Woh­ fordern. Denn die Bewohner*innen kennen nungspolitik. Die sozialere Neuausrichtung der die Probleme und Bedarfe in den Siedlungen landeseigenen ­Wohnungsunternehmen etwa am besten. Der Volksentscheid zielt ja darauf, wurde nur durch Druck von unten durchge­ die Bestände von Deutsche Wohnen und Co. setzt. Die ­linke Senatorin allein wäre nicht in in eine Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) zu der Lage gewesen, offensive ieterhöhungenM überführen, die aber anders als die bisherigen durch die landeseigene Degewo kurz nach der landeseigenen Wohnungsgesellschaften wirk­ Wahl des Senats 2016 effektiv zu stoppen. Wir lich demokratisch ausgestaltet und kontrolliert sehen, dass in Politik und Verwaltung noch sein soll. Dafür ist es hilfreich, wenn schon immer Akteur*innen des rot-roten Kahlschlag- Strukturen der Selbstverwaltung vorhanden Senats sitzen. Wir müssen also weiter Druck sind, auf denen aufgebaut werden kann. von links machen, wenn es etwa um die geplante Privatisierung von Schulen geht oder Seit über zwei Jahren verspricht die rot-rot- ein ehemaliger Vonovia-Manager zum Vorstand grüne Regierung in Berlin ein Umsteuern in eines landeseigenen Wohnungsunterneh­ der Wohnungspolitik. Wie seht ihr aktuell das mens ernannt wird. Solange eine neoliberale Verhältnis von linker Regierung und stadtpo­ Politik der Haushaltskonsolidierung im Kern litischen Bewegungen und wie beeinflusst das fortgesetzt wird, also ohne Not Hunderte von eure Strategie? Millionen Euro in die Schuldentilgung fließen Interessanter finden wir, wie sich die Strategie und nicht für die Bedürfnisse der Bevölkerung der Linkspartei geändert hat, seit sie Teil dieser eingesetzt werden, haben wir viel zu tun. Mitte-links-Regierung ist. Wir merken, dass sich der Ton gegenüber sozialen Bewegungen Das Gespräch führte Hannah Schurian.

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019 39 GESCHÄFTSMODELL MIT BESCHRÄNKTER WIRKUNG WARUM DER SOZIALE WOHNUNGSBAU SEINEN NAMEN NICHT VERDIENT

ANDREJ HOLM Wenn über Wohnungspolitik diskutiert wird, fällt schnell das Schlagwort sozialer Woh- nungsbau. Mieterbund und Gewerkschaften fordern eine Aufstockung des Fördervolumens, viele Kommunen versuchen, verbindliche Quo- ten für Sozialwohnungen bei Neubauprojekten festzulegen, und selbst die Lobbyverbände der Immobilienwirtschaft möchten mehr sozialen Wohnungsbau – insbesondere seit Vorschläge zur Enteignung großer Immobilienkonzerne die Schlagzeilen füllen (vgl. GdW 2019). Doch wie fast immer, wenn ein Konzept so breite Zustimmung erfährt, gibt es einen Haken: Der soziale Wohnungsbau, wie wir ihn kennen, ist für eine soziale Wohnversorgung viel zu teuer und nutzt vor allem der Wohnungswirtschaft.

WAS IST SOZIALER WOHNUNGSBAU? Im Alltagsverständnis wird der Begriff der Sozialwohnung oft für die Gesamtheit preiswer- ter Wohnungen benutzt und meist mit einem bestimmten Bautypus sowie Klischeevorstellun- gen von betonierten Großsiedlungen assoziiert.

40 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Nichts davon stimmt: Der soziale Wohnungs- Euro pro Jahr für die Wohnraumförderung bau ist weder ein preiswertes Wohnungsmarkt- ausgegeben – der Anteil am Bundeshaushalt segment noch eine Gebäudeklasse, sondern in betrug nur noch 0,3 Prozent. erster Linie ein Förderprogramm für Inves- Obwohl mit Baudarlehen, Baukosten- und toren. Für den Kreis der Begünstigten gibt es Aufwendungszuschüssen jede Sozialwohnung keine Einschränkungen. Kommunale und kom- im Durchschnitt rechnerisch mehr Fördermit- merzielle Wohnungsunternehmen, Genossen- tel verschlingt als die Wohnung kostet, sind schaften und private Eigentümer*innen können die sozialen Gegenleistungen der Bauherren gleichermaßen die staatlichen Gelder nutzen. zeitlich begrenzt. Weil im Zeitverlauf immer Durch die Struktur der Förderprogramme ist weniger Wohnungen gefördert wurden, der Status Sozialwohnung in Deutschland stehen trotz der 4,3 Millionen geförderten zeitlich befristet. So erklärt sich auch, warum Mietwohnungen derzeit nur noch 1,2 Millio- trotz der enormen Förderanstrengungen in der nen Sozialwohnungen zur Verfügung (vgl. Vergangenheit die Zahl der Sozialwohnungen Bundesregierung 2017). von Jahr zu Jahr kleiner wird. Zur Behebung der Wohnungsnot nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verab- ANDREJ HOLM ist Stadtsoziologe und arbeitet an der schiedete die Adenauer-Regierung die ersten Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist seit vielen Gesetze zum geförderten Wohnungsbau, Jahren in sozialen Bewegungen, insbesondere in der Recht-auf-Stadt-Bewegung, aktiv. Er berät um »breite Schichten« der Bevölkerung mit und unterstützt viele Mieterinitiativen in Berlin und Wohnungen zu versorgen.1 Insgesamt wurden anderswo. 2017 verfasste er für die Rosa-Luxem- bis zum Jahr 2000 fast 7,1 Millionen Wohnun- burg-Stiftung eine Studie zu Neuer Wohnungsge- meinnützigkeit. gen öffentlich gefördert – davon 4,2 Millionen Mietwohnungen (vgl. RegioKontext 2011). Mit dem Wohnraumfördergesetz von 2001 wurde die Orientierung an den breiten Bevölkerungs- WELCHE WOHNUNGEN WERDEN GEBRAUCHT schichten gesetzlich aufgehoben und der UND WAS HAT DER SOZIALE WOHNUNGSBAU soziale Mietwohnungsbau entwickelte sich zu ZU BIETEN? einem Instrument der Wohnungsversorgung Die Wohnversorgung wird in den Metropol- sozialer Randgruppen, für »Haushalte, die regionen und Universitätsstädten von einer sich auf dem Markt nicht angemessen mit spekulativen Ertragserwartung bestimmt und Wohnraum versorgen können«. Das Förder- hat massive Mietsteigerungen im Bestand, bei volumen wurde nun deutlich reduziert. Lag Neuvermietungen und im Bereich von Neu- die Zahl der jährlich geförderten Wohnungen bauwohnungen ausgelöst. Die Mietentwick- zwischen 1950 und dem Jahr 2000 bei durch- lungen der letzten Jahre haben sich dabei von schnittlich knapp 140 000, waren es seit 2001 den Einkommen entkoppelt und die mittleren nicht einmal 22 000 Wohnungen pro Jahr. Mietbelastungsquoten deutlich erhöht. Allein Durchschnittlich wurde etwa eine Milliarde in 77 Großstädten Deutschlands (darunter

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 41 boomende Städte wie München, Frankfurt Programmjahren aus. Zwischen 2013 und am Main und Stuttgart, aber auch Städte wie 2017 standen knapp 88 000 geförderte Neu- Chemnitz, Gelsenkirchen und Herne) müssen bauwohnungen etwa 410 000 Wohnungen mit mehr als 40 Prozent der Haushalte mehr als auslaufenden Sozialbindungen gegenüber. Die ein Drittel ihres Einkommens für die Wohn- Wohnraumförderung baut den Bindungsver- kosten ausgeben. Als von den Kosten zumut- lusten hinterher und kann bei dem derzeitigen bar gelten Wohnungen, deren Mietkosten Fördervolumen nicht einmal die jährlichen 30 Prozent des monatlichen Nettoeinkom- Abgänge kompensieren. mens nicht überschreiten. Allein in den Während das Fördervolumen zu klein Großstädten fehlen schon jetzt 1,9 Millionen ausfällt, sind die Mieten im sozialen Woh- Wohnungen für Haushalte mit geringen nungsbau zu hoch. Die Einstiegsmieten der Einkommen, die auf Mieten zwischen 4 Euro/ geförderten Wohnungen variieren je nach m² und 6 Euro/m² (nettokalt) angewiesen Bundesland und Förderprogramm. Sie liegen sind (Hans-Böckler-Stiftung 2017 u. 2018). meist zwischen 6 und 8,50 Euro/m² (netto- Solche Angebote sind von ökonomisch kalt). Sie sind damit für die Einkommensgrup- rational agierenden Marktakteuren nicht pen mit den größten Versorgungsproblemen zu erwarten, da sie ihre Bewirtschaftung in zu teuer und würden zu einer Mietbelastung der Regel mindestens an den durchschnitt- von etwa 40 Prozent des Einkommens führen. lich erzielbaren Erträgen orientieren. Die Die Wohnraumförderung in ihrer aktuellen Versorgung von Haushalten mit geringen Struktur verfehlt sowohl in den Mengenef- Einkommen zu unterdurchschnittlichen fekten als auch in der sozialen Reichweite die Preisen ist eine öffentliche Aufgabe und muss Ziele einer sozialen Wohnraumversorgung. in der Regel gegen private Gewinninteressen durchgesetzt werden. WEM NÜTZT DER SOZIALE WOHNUNGSBAU? Die aktuellen Förderprogramme von Während in den frühen Jahren des sozialen Bund, Ländern und Kommunen kommen die- Wohnungsbaus die Fördergelder zum Teil ser öffentlichen Verantwortung nicht nach. Der als einmaliger Baukostenzuschuss gezahlt Umfang der sozialen Wohnraumförderung wurden, setzte sich letztendlich eine Förde- wurde seit 2016 auf etwa 25 000 Bewilligun- rung mit Darlehen und Aufwendungshilfen gen pro Jahr erhöht, dennoch reicht die Zahl zur Finanzierung des Bauvorhabens durch. der neu geförderten Wohnungen nicht aus, um Im Gegensatz zur Reduzierung der Erstel- die Versorgungslücken schließen zu können. lungskosten wurde nun die Rückzahlung Mit der derzeitigen Förderquote würde es etwa der Bankkredite gefördert, die für den Bau 80 Jahre brauchen, um allein das Versorgungs- aufgenommen werden mussten. Der Staat defizit der Großstädte auszugleichen. Und subventionierte mit seiner Wohnungsbauför- selbst diese Rechnung ist zu optimistisch, derung im engeren Sinne gar nicht den Bau denn jedes Jahr laufen die Sozialbindungen von Wohnungen, sondern beteiligte sich an von Zehntausenden Wohnungen aus früheren den Finanzierungskosten. Der größte Teil der

42 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN öffentlichen Wohnungsbauförderung floss Unabhängig von den sozialen Effekten ist daher gar nicht in die Gebäude, sondern an der soziale Wohnungsbau vor allem ein die finanzierenden Banken. hoch subventioniertes und enorm lukratives Auch für die Bauunternehmen waren Wirtschaftsförderprogramm für Wohnungs- die Förderprogramme des sozialen Woh- baugesellschaften und private Investoren. nungsbaus eine attraktive Geschäftsbasis, Von den Banken gar nicht zu reden. Denn denn das Förderprinzip bestand immer anders als echte Marktteilnehmer kennen die darin, die »unrentierlichen Kosten« für die Eigentümer*innen im sozialen Wohnungsbau Eigentümer*innen kleinzuhalten. Die Förder- kein Geschäftsrisiko. Da alle Kosten vom Staat gelder des Staates waren dabei immer genau übernommen werden und selbst die Gewinne so kalkuliert, dass die Lücke zwischen der Kos- auf das Eigenkapital fest vereinbart sind, ist tenmiete und der Sozialmiete gedeckt werden der soziale Wohnungsbau eine wahre Gold- konnte. Während die Sozialmieten politisch grube für Immobilieninvestoren. festgelegt wurden, wurden die Kostenmieten Dass mit dem sozialen Wohnungsbau Ge- von den Wohnungsunternehmen selbst be- winne gemacht werden können, ist merkwür- stimmt. Alle Kosten für den Bau, die Planung, dig genug, doch die Förderlogik hält noch eine die Finanzierung und sogar eine Eigenkapital- Steigerung der Absurdität bereit: Nach Ablauf rendite von bis zu 6,5 Prozent konnten dabei der festgelegten Förderzeiträume – wenn alle angerechnet werden. Wurde eine solche Kos- Darlehen zur Finanzierung der Immobilie tenmiete einmal anerkannt, blieb sie bis zum mithilfe des Staates zurückgezahlt sind – Ende der Förderung die Berechnungsgrundla- werden die Mietpreis- und Belegungsbindun- ge. Selbst wenn später günstigere Kredite zur gen aufgehoben. Jetzt, wo die entschuldeten Finanzierung abgeschlossen wurden, hatte die Sozialwohnungen zu geringen Kosten für ursprüngliche Kostenmiete Bestand. Während die Verwaltung und Instandsetzung bewirt- die Eigentümer*innen ihre Rendite, festgelegt schaftet werden könnten, endet der Status für 30 Jahre, garantiert bekamen, war für die Sozialwohnung und die Vermieter*innen Mieter*innen eine Mietsteigerungsdynamik können Mieten beliebig steigern, Luxusmoder- vorgesehen. Ein »degressiver Förderverlauf« nisierungen durchführen und die ehemaligen lässt den staatlichen Aufwendungszuschuss Sozialwohnungen in Eigentumswohnungen Jahr für Jahr um einen vorher festgelegten umwandeln. Damit werden im sozialen Anteil (z. B. 0,13 Euro/m²) sinken. Da die Wohnungsbau ausgerechnet die Langfristef- Kostenmiete sich nicht verändert, wird die fekte der Immobilienfinanzierung zugunsten Differenz durch einen jährlichen Mietanstieg privater Gewinne aufgegeben. im sozialen Wohnungsbau ausgeglichen. Mit dieser Konstruktion unterscheidet Diese planmäßig steigenden Mieten haben sich der soziale Wohnungsbau in der BRD in vielen Städten dazu geführt, dass der von wohnungspolitischen Programmen in soziale Wohnungsbau für viele Haushalte mit vielen anderen Ländern. Der österreichische geringen Einkommen zu teuer ist. Kurzum: Wohnungswissenschaftler Christian Donner

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 43 (2000, 200) bezeichnet das deutsche System orientieren. Wie in anderen Bereichen der deshalb treffend als eine »Förderung privater Gemeinnützigkeit auch durften keine Ge- Mietwohnungsinvestitionen mit sozialer winne erzielt werden und alle Überschüsse Zwischennutzung«. mussten zum Zweck der Gemeinnützigkeit wieder ausgegeben werden. Anders als NEUE WOHNUNGSGEMEINNÜTZIGKEIT STATT gewerbliche Anbieter waren die gemeinnützi- SOZIALER ZWISCHENNUTZUNG gen so gezwungen, ihre Bestände permanent Statt also in den Aufbau von dauerhaft auszuweiten – selbst wenn gerade keine gebundenen Beständen zu investieren, wird Höchstgewinne im Neubau zu erzielen waren. ein dauerhafter Kreislauf der Förderung mit Zwischen 1949 und 1989 wurde fast jede begrenzten Effekten erzwungen. Beispiele aus vierte in der BRD fertiggestellte Wohnung von anderen Ländern zeigen, welche Auswirkun- gemeinnützigen Wohnungsunternehmen gen dauerhafte Bindungen haben können. So errichtet. Mit der Aufhebung der Gemeinnüt- ermöglicht beispielsweise die Gemeinnützig- zigkeit wurden letztendlich die Grundlagen keit von Wohnbauträgern in Österreich im ge- für die Privatisierungen in den 1990er und förderten Wohnungsbau eine Fortsetzung der 2000er Jahren geschaffen, denn Wohnungen, Kostenmietbegrenzung nach dem Ende der die einer Gewinnbeschränkung unterliegen, Förderphase. Nach der kompletten Refinanzie- sind für Anleger alles andere als attraktiv. rung des Objektes erfolgt eine Absenkung der Seit ein paar Jahren wird in politischen Anschlussannuität auf ein Niveau von unter Initiativen der grünen und linken Bundestags- 4 Euro/m² (nettokalt) (ebd.). fraktionen, vom Mieterbund und in Fachdis- In der BRD wurde die Wohnungsgemein- kussionen die Wiedereinführung einer Ge- nützigkeit 1989 unter dem Deckmantel einer meinnützigkeit gefordert (vgl. Kuhn in diesem Steuerreform abgeschafft, sodass knapp Heft). Eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit 4 Millionen Wohnungen de facto über Nacht soll den Rahmen bieten, um eine dauerhafte in handelbare Marktgüter verwandelt wurden. Versorgung zu leistbaren Mietpreisen in Seitdem gibt es keinen institutionalisierten den Satzungen der Wohnungsunternehmen Rahmen für eine nicht-profitorientierte festzuschreiben. Anders als heute wäre die Wohnungsbewirtschaftung mehr. Selbst mietpreisbegrenzende Wirkung nicht befristet kommunale und landeseigene Wohnungs- und die öffentlichen Wohnungsbestände hät- baugesellschaften werden seither nach ten einen zusätzlichen Privatisierungsschutz. Kassenlage bewirtschaftet und bieten keinen Eine soziale Mietgestaltung von kommunalen verbindlichen Schutz vor Mietsteigerungen, Wohnungsunternehmen würde nicht mehr Verdrängung und Privatisierung. von wechselnden politischen Mehrheiten ab- Gemeinnützige Wohnungsunternehmen hängig, sondern als Bewirtschaftungsprinzip unterlagen zuvor einer klaren Gewinnbe- im Unternehmen selbst verankert sein. schränkung und waren angehalten, ihre Die Einführung einer neuen Wohnungs- Bewirtschaftung am Kostenmietprinzip zu gemeinnützigkeit müsste auf der steuerrecht-

44 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN lichen Ebene der Abgabenordnung auf Bun- und dem privilegierten Zugang zu öffentlichen desebene erfolgen. Als Ausgleich zur Erfüllung Grundstücken auch ein Wohnungsneubau von Aufgaben im öffentlichen Interesse würde für Menschen mit niedrigem Einkommen der Staat verschiedene Steuerbegünstigungen entstehen kann. Modellrechnungen zeigen, einräumen – sodass dadurch die Kosten für dass mit einem Mitteleinsatz von 6 Milliarden den Bau und die Bewirtschaftung sinken Euro und ohne Zugeständnisse an die Bauqua- würden. In den Modellvorschlägen für eine lität etwa 100 000 gemeinnützige Wohnungen neue Wohnungsgemeinnützigkeit wird der (mit Durchschnittsmieten von 5 Euro/m² Aufgabenbereich wie folgt umrissen: »Die Neue nettokalt) pro Jahr entstehen könnten. Die Gemeinnützigkeit im Wohnungssektor dient neue Wohnungsgemeinnützigkeit wäre ein der Daseinsvorsorge im Bereich der Wohn- geeigneter Weg, um die Forderung »einmal raumversorgung. Sie umfasst alle Aktivitäten gefördert – immer gebunden« umzusetzen. der Erstellung, Bewirtschaftung und Erneu- Die Vorschläge liegen seit Jahren vor, werden erung von Wohnungen zu leistbaren Mieten von Regierung und Wohnungswirtschaft aber sowie die Erbringung von wohnungsnahen gleichermaßen ignoriert. Dienstleistungen, die durch die Zweckbindung der Einnahmen und eine Gewinnbeschränkung ZUM WEITERLESEN Holm, Andrej/Horlitz, Sabine/Jensen, Inga, 2017: Neue einen gesellschaftlichen Mehrwert erfüllen Wohnungsgemeinnützigkeit. Voraussetzungen, Modelle und erwartetet Effekte, Hg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, und insbesondere einen nachhaltigen Beitrag Reihe Studien, Berlin zur Lösung von sozialen, räumlichen und

ökologischen Herausforderungen leisten. Die LITERATUR Gemeinnützigkeit im Wohnungssektor ist Bundesregierung, 2017: Bericht der Bundesregierung über die Verwendung der Kompensationsmittel für den Be- durch eine strikte Non-profit-Orientierung in reich der sozialen Wohnraumförderung 2017, Bundes- der Bewirtschaftung, eine klar definierte Zweck- tags-Drucksache 19/3500, Berlin Donner, Christian, 2000: Wohnungspolitiken in der Europä- bindung der unternehmerischen Ziele sowie ischen Union: Theorie und Praxis, Wien durch eine effektive gesellschaftliche Kontrolle GdW, 2019: Bezahlbare Wohnungen für alle. Kein #Enteig- nungswahnsinn, in: GdW kompakt, 2.4.2019, https://wei- gekennzeichnet.« (Holm et al. 2015, 41) terdenken-statt-enteignen.de/media/GdW-Kompakt.pdf Wie andere gemeinnützige Vereine und Hans-Böckler-Stiftung, 2017: Wohnverhältnisse in Deutsch- land – eine Analyse der sozialen Lage in 77 Großstädten, Unternehmen sollen auch die Wohnbauträger Düsseldorf einer klaren Gewinnbeschränkung unterliegen, Dies., 2018: Wie viele und welche Wohnungen fehlen in deutschen Großstädten? Working Paper Nr. 63, April sodass sich die Mietpreise aus den tatsächli- 2018, Düsseldorf Holm, Andrej/Horlitz, Sabine/Jensen, Inga, 2015: Neue chen Kosten der Bewirtschaftung ableiten und Gemeinnützigkeit. Gemeinwohlorientierung in der Woh- nicht aus wirtschaftlichen Gewinnerwartun- nungsversorgung. Arbeitsstudie im Auftrag der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag, Berlin gen. Im Gegenzug zur Gewährleistung einer RegioKontext, 2011: Fortführung der Kompensationsmittel dauerhaften sozialen Wohnungsversorgung für die Wohnraumförderung, Berlin erlässt der Staat den gemeinnützigen Woh- nungsunternehmen sonst anfallende Steuern, 1 Vgl. Erstes Wohnungsbaugesetz vom 24. April 1950, veröffentlicht im Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1950/16: 83ff; sodass in Kombination mit Förderprogrammen Zweites Wohnungsbaugesetz (WoBauG), 1956.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 45 KOMMUNAL UND SELBSTVERWALTET MODELLPROJEKT AM KOTTBUSSER TOR

JANNIS WILLIM Als 2011 am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg der Unmut gegen zu hohe Mieten hochkochte und eine kraftvolle, heterogene Nachbarschaft ihren Protest artikulierte, entstand unsere Initiative Kotti & Co. Viele der Wohnungen dort wurden im Rahmen des sozialen Wohnungs- baus errichtet. Bei einem näheren Blick wurde deutlich, dass die hohen Mieten die Folgen eines Fördersystems sind, in das die Interessen von privaten Immobilieninvestoren und ihren kreditgebenden Banken eingeschrieben sind und das nur nachgeordnet der Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum für einkommens- arme Haushalte dient (vgl. Holm in diesem Heft). Das führt dazu, dass Sozialmieter*innen, die Hartz IV beziehen, einen viel zu hohen Anteil ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen. Eine Reform des sozialen Wohnungsbaus zugunsten einer Mietsenkung wird momentan in der rot-rot-grünen Regie- rungskoalition blockiert. Seit 2012 fordern wir daher als langfris- tige Lösung die (Re-)Kommunalisierung der

46 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Sozialwohnungen. Die ersten Ideen für die ben. Dabei haben wir auch untersucht, was für Selbstverwaltung ganzer Sozialwohnungs- Vorstellungen von Mitbestimmung existieren bestände haben wir in einer Konferenz 2012 und welche Bereitschaft in einer so benachtei- entwickelt. (Hamann/Kaltenborn 2014) nach- ligten Nachbarschaft wie am Kottbusser Tor zulesen sind. Die Kämpfe der letzten Jahre um unter den Mieter*innen besteht, sich aktiv die Sozialwohnungen – nicht nur am Kott- an einer Selbstverwaltung ihrer Wohnungen busser Tor – haben eine andere Ausgangslage und Häuser zu beteiligen. Das Plus steht für geschaffen. So wurde aufgrund der Forderung die größtmögliche Mitbestimmung. Denn nach Rekommunalisierung und Selbstver- unmittelbar in Anschluss an eine Rekommu- waltung im Koalitionsvertrag der Berliner nalisierung – ob über Rückkauf oder Verge- rot-rot-grünen Landesregierung von 2016 eine sellschaftung mit Entschädigung – stellen sich Klausel aufgenommen, auf deren Grundlage weitere Fragen: Was ist gewonnen, wenn die diese Forderung zumindest am Kottbusser Bestände in die öffentliche Hand überführt Tor Realität werden könnte, wenn der politi- sind? Schließlich wissen wir, dass öffentliche sche Wille dazu bestehen bleibt. Die Klausel lautet: »Die Koalition will den Bestand der Sozialwohnungen zur Wohnraumversorgung JANNIS WILLIM lebt am Kottbusser Tor, studiert Stadt- bedürftiger Haushalte erhalten. Deshalb sollen und Regionalplanung sowie historische Urbanistik sich die städtischen Wohnungsbaugesellschaf- an der TU Berlin und ist seit Jahren bei Kotti & Co aktiv. Der Text ist das Ergebnis jahrelanger ten bei den geplanten Zukäufen verstärkt um gemeinsamer Diskussionen bei Kotti & Co. und fasst den Erwerb von Sozialwohnungen bemühen, zentrale Einsichten aus der vor einigen Monaten insbesondere in Stadtteilen mit einem Mangel erschienenen Studie »Rekommunalisierung Plus: Modellprojekt am Kottbuser Tor« zusammen. an preiswertem Wohnraum. Die Koalition unterstützt stadtweit Modellprojekte, wie am Falkenhagener Feld und am Kottbusser Tor angedacht, für selbstverwaltete Mietergenos- Wohnungsbauunternehmen seit der Abschaf- senschaften.« fung der Wohnungsgemeinnützigkeit nach Mittlerweile wurde das Neue Kreuzberger unternehmerischen Prinzipien funktionieren. Zentrum (NKZ) nach massivem öffentlichem Hinzu kommt, dass sie große bürokratische Druck insbesondere durch den Mieterrat des Apparate sind, denen die Auseinandersetzung NKZ von der Landesregierung kommunali- mit lokalen Problemlagen zum Teil mit sehr siert. Auf dieser Grundlage und der im Koali- viel Geduld und Durchhaltevermögen fast tionsvertrag verankerten Klausel sind Fragen schon aufgezwungen werden muss. Ist die nach einer stärkeren Mieterselbstverwaltung politische Mitsprache durch die Mieter*innen und deren Umsetzung ganz praktische gewor- automatisch verbessert, wenn die Wohnungen den. In diesem Zusammenhang haben wir die kommunales Eigentum sind? In welchen Bedarfe der Mieter*innen in einer Studie mit Bereichen wollen Mieter*innen mitbestim- dem Titel »Rekommunalisierung Plus« erho- men? Was ist gemeint, wenn wir etwa die

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 47 Bauerbeiter mit der Tochter eines Kollegen in der Gemeinschaftswohnung, genannt Kommunalka

Forderung »kommunal und selbstverwaltet« Ein Ergebnis der Studie ist, dass es bei der Be- für Häuser erheben, die von der sozialen wertung der Wohnzufriedenheit im Vergleich Zusammensetzung der Bewohner*innen her zwischen staatlichen und privaten Vermietern nicht unbedingt klassischen Hausprojekten in einem Punkt zu deutlich unterschiedlichen gleichen, sondern deren Bewohnerschaft Einschätzungen kommt: nämlich in der viel heterogener ist und stärker durch Migra- Miethöhe. Dass diese bei staatlichen Vermie- tions- und Rassismuserfahrung, Armut und tern besser bewertet wird als bei privaten, ist Ausgrenzung geprägt? wenig überraschend. So liegt die Warmmiet- belastung bei letzteren durchschnittlich bei 41 ERGEBNISSE DER STUDIE Prozent, im Kreuzberger Zentrum hingegen, An der Erstellung der Studie waren über- wo die landeseigene Gewobag die Vermieterin wiegend Menschen beteiligt, die selbst ist, lediglich bei 30 Prozent. Sozialmieter*innen am Kottbusser Tor sind. Auch in Bezug auf »klassische Themen« Die Studie soll auch ausloten, wie sich die der Mitverwaltung zeigt sich, dass die Unzu- gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung friedenheit bei Mieter*innen der Deutschen ausweiten lässt und welche unterschiedlichen Wohnen – mit Ausnahme des Themas Perspektiven auf ein solches Engagement Sicherheit – höher ist als bei Mieter*innen dabei zu berücksichtigen sind. Methodisch der Gewobag1. Dabei lassen sich zwei wichtige haben wir verschiedene Ansätze miteinander Anliegen der Mieter*innen als Ergebnis verknüpft. Die Palette reichte von Recher- der Studie feststellen, die zukünftig berück- chen und einem Community Mapping über sichtigt werden sollten: Zum einen wurde Interviews mit wichtigen Akteuren im Kiez, die Ansprechbarkeit bei Reparaturen bzw. eine quantitative Erhebung, bei der an die 1 255 Hausverwaltungsthemen kritisiert und zum betroffenen aushalteH des Untersuchungs- anderen Probleme bei der Müllentsorgung. gebiets Fragebögen verteilt wurden (Antwort- Überraschenderweise gaben 59 Prozent der quote von 12,9 Prozent, 162 ausgewertete befragten Mieter*innen in Gewobag-Häusern Fragebögen), bis hin zu einer Qualifizierung an, dass sich seit der Kommunalisierung des des Beteiligungspotenzials. Diese Qualifi- NKZ im Januar 2016 die Ansprechbarkeit zierung geht von der Forderung von Kotti & bei Reparaturen verschlechtert habe. Bei Co. und des Mieterrats im NKZ aus, dass die Mieter*innen der Deutschen Wohnen (DW) zu entwickelnde Mitbestimmungsformen in waren es nur 19 Prozent der Befragten, die Bezug auf das Wohnen und die Nachbarschaft in diesem Zeitraum eine Verschlechterung an den realen Ressourcen und Interessen der beklagten. Das schlechte Abschneiden der Nachbarschaft auszurichten sind. Kernziel der kommunalen Wohnungsunternehmen in die- Studie war also die Ermittlung handlungsori- sem Punkt gegenüber dem für seine schlechte entierter Mietertypen, die hinsichtlich ihrer Ansprechbarkeit stadtweit bekannten Immo- Ansprechbarkeit sowie ihrer Einsatz- und bilienaktienunternehmen Deutsche Wohnen, Mitwirkungsbereitschaft unterschiedlich sind. ist unter anderem damit zu erklären, dass

50 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN sich die Frage nach einer Verschlechterung Ein für uns zentrales und motivierendes nur auf die letzten zwei Jahre bezog. Dazu Ergebnis der Studie ist, dass ein Viertel der be- muss man wissen, dass die Privatisierung der fragten Anwohner*innen angab, bereits aktiv GSW (jetzt Deutsche Wohnen) zum Zeitpunkt zu sein, etwa in einer lokalen Initiative. Die der Befragung schon 15 Jahre zurücklag und Hälfte der Befragten möchte sich in Zukunft die Mieter*innen seit langer Zeit mit einem an solchen Aktivitäten beteiligen und nur schlechten Service der Hausverwaltung kon- ein Viertel der Bewohner*innen zeigte kein frontiert waren. Das kürzlich kommunalisierte Interesse an einer gegenseitigen Unterstüt- Gebäude des NKZ mit 300 Wohnungen hatte zung in der Nachbarschaft. Insgesamt ergibt jedoch bis zum Kauf durch die Gewobag eine sich ein differenziertes Bild. Deutlich wird, private lokale Hausverwaltung, die sehr gut dass sowohl die vorhandenen Strukturen, ansprechbar war und einen engen Kontakt zu beispielsweise die Eigentumsverhältnisse und den Mieter*innen pflegte. auch die konkreten Eigentümer*innen der Dass es seit Jahren am Kottbusser Tor Häuser, als auch die jeweiligen finanziellen immer wieder Beschwerden über Vermüllung und zeitlichen Ressourcen der Nachbar*innen gibt, ist darauf zurückzuführen, dass für die am Kotti Einfluss darauf haben, wie und wie Abfallentsorgung ein privates Unternehmen, stark die Bewohner*innen bereit sind, sich die B&O Berlin Service GmbH, zuständig einzubringen. So wird etwa die Sinnhaftig- ist, deren Geschäftsmodell auf geringen keit des eigenen Engagements klar an die Personalkosten der vor Ort Beschäftigten Besitzverhältnisse der bewohnten Immobilie beruht. Einige Mieter*innen vermuten auch gekoppelt: »Wieso sollten wir das selbst eine bewusste »Verslumungsstrategie« der machen? Der Deutschen Wohnen Geld sparen Deutsche Wohnen, denn andere Wohnblöcke helfen?« (Clausen et.al. 2018, 41) mit einer ähnlichen Bewohnerstruktur, aber Reale Möglichkeiten der Mitbestimmung einen anderen Hausverwaltung, haben keine werden zudem als Voraussetzung benannt, vergleichbaren Probleme. um Mieter*innen zu aktivieren: »Das habe ich Diese beiden Teilergebnisse unserer damals zum Hausmeister auch gesagt, wenn Studie zeigen, wie wichtig es ist, in einer da Sitzungen stattfinden würden, einmal in der Übergangsphase nach der Rekommunali- Woche Hausversammlungen [...] einfach, dass sierung – in welcher Verwaltungsform auch man zusammenkommt. Wo der Hausverwalter immer – auf die Bedürfnisse und Vorschläge auch dabei ist und sagt: ‚So, was für Sorgen der Bewohner*innen einzugehen und habt ihr, was für Probleme gibt es, was können gemeinsam mit der Nachbarschaft einen wir besser machen?‘ Dass da Gespräche »Fahrplan« für die Zukunft zu entwickeln. So stattfinden und Ideen umgesetzt werden, dann gilt es auch zu berücksichtigen, welches die reagieren auch Mieter ganz anders.« (Ebd.) Bereiche sind, bei denen die Mieter*innen Bemerkenswert sind zudem die durchaus mehr Mitsprache einfordern und wo sie sich realistischen Vorstellungen, was die Notwen- engagieren wollen. digkeit einer Arbeitsteilung und bestimmter

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 51 persönlicher Voraussetzungen (z.B. die Wir betrachten die Selbstorganisierung und Aneignung von Kompetenzen) bei der Selbst- das Vorhandensein nachbarschaftlicher verwaltung von Wohnhäusern angeht: »Nicht Netzwerke als Grundlage für die erfolgrei- alle Mieter können mitverwalten, weil da che Mitbestimmung von Mieter*innen im braucht man schon ein bisschen Erfahrung, kommunalem Wohnungsbestand. Wie unsere bisschen Organisationstalent auch, auch mit Studie zeigt, sind diese nachbarschaftlichen der Gesetzeslage sich auseinandersetzen, dass Netzwerke am Kottbusser Tor auch immer man das mitberücksichtigt. Aber jeder Mieter migrantische Netzwerke. Einerseits zeigt kann auch mitgestalten, das ist machbar.« die hohe Anzahl der türkisch- und arabisch- (Ebd.) Die für eine Mitbestimmung erfor- sprachigen Haushalte die Bedeutung der derlichen Zeit­ressourcen werden ebenfalls Migrationsgeschichte im untersuchten Gebiet. angesprochen, was letztlich auch die Frage Dabei ist auch interessant, dass diese Gruppen nach der Bezahlung solchen Engagements in überdurchschnittlich lange (12,5 Jahre) am der Selbstverwaltung aufwirft: »Man bekommt Kottbusser Tor wohnen und ihr Einkommen bestimmt jetzt nicht viele dazu, sich Vollzeit im Vergleich zum Durchschnitt niedriger ist zu engagieren. Deswegen ist es gut, ein Gre- (913 Euro im Verhältnis zum Berliner Durch- mium zu haben oder einen Vorstand und eine schnitt von 1250 Euro). Insgesamt beträgt das Mieterversammlung einmal im Jahr.« (Ebd.) Durchschnittseinkommen im Untersuchungs- gebiet nur 77 Prozent des Durchschnittsein- PERSPEKTIVEN FÜR EINE kommens in der Umgebung. (ebd., 38) Daraus »REKOMMUNALISIERUNG PLUS« ist zu schließen, dass der Verdrängungsdruck, Ziel der Studie war, die Ergebnisse für die der auf der ansässigen Bewohnerschaft lastet, Gestaltung der Zukunft der Bewohner*innen besonders groß ist. Dies gilt umso mehr für im Untersuchungsgebiet nutzbar zu machen. die türkisch- und arabischsprachigen Haushal- Für diesen Zweck wurden mit den Fragebögen te und Familien. auch Informationen zu Einkommen, Wohn- Andererseits ist interessant, dass in dauer und Haushaltsgröße abgefragt, um aus jüngerer Zeit deutlich mehr Französisch, diesem Wissen über die sozioökonomische La- Italienisch, Hebräisch und Spanisch am ge sowie aus den Positionen der Mieter*innen Kottbusser Tor gesprochen wird. Dies lässt modellhafte Handlungsansätze für zukünftige sich auf jüngere Migrationsbewegungen von Formen der nachbarschaftlichen Unterstüt- gut ausgebildeten Fachkräften und Studie- zung ableiten zu können. renden zurückführen (ebd., 40). Sie sind Die Voraussetzungen und das Interesse Ausdruck der europäischen Krise, die sich der Menschen, an nachbarschaftlichen Projek- auch hier räumlich niederschlägt. Denn es ist ten mitzuwirken, sind sehr unterschiedlich. anzunehmen, dass diese junge Generation Dieses Wissen ist für uns zentral, um geeig- für eine bessere Lebensperspektive nach nete Formate und Orte für die gegenseitige Deutschland migriert ist. Tatsächlich liegt das nachbarschaftliche Unterstützung zu finden. Durchschnittsalter dieser Personengruppen

52 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN mit 31,6 Jahren deutlich unter dem Gesamt- 2 | Für die Mitbestimmung bei vorausset- durchschnitt von 54,4 Jahren. Die Heterogeni- zungsvollen Themen wie Instandhaltung, tät unserer Nachbarschaft verstehen wir dabei Gewerbeentwicklung, Modernisierung, als Vorteil. Unser gemeinsamer Kampf um Planungsprozesse etc. kann es kein allgemein- bezahlbaren Wohnraum ist von gegenseitigem gültiges Rezept geben. Vielmehr schlagen wir Interesse an unseren Unterschiedlichkeiten ein Bausteinsystem vor, welches die Ausgangs- geprägt. Das hat sich als sehr bereichernd er- bedingungen des jeweiligen Organisationsgra- wiesen, für das Wohnen und Zusammenleben des der Mieter*innen berücksichtigt.2 im Alltag, aber auch für die politische Zusam- 3 | Die Reprivatisierung rekommunalisierter menarbeit. Wir haben zum Teil selbst erlebt, Wohnungsbestände muss dauerhaft unterbun- was es bedeutet, in einem Kiez anzukommen den werden. und sich dort eine (neue) Heimat zu schaffen. Letzten Endes geht es darum, dass in Wir sind stolz darauf, wie wir gemeinsam Zukunft mehr Menschen in unserem Viertel unser Viertel zu dem gemacht haben, was es darüber mitentscheiden können, was mit heute ist – auch wenn die Gentrifizierung uns den Häusern, in denen wir leben, passiert. die Möglichkeiten nimmt, unsere Vorstellun- Es lohnt sich, in Richtung größtmöglicher gen vom Zusammenleben in einer postmig- Mitbestimmung von Sozialmieter*innen wei- rantischen Stadt und von einem solidarischen terzudenken. Die landeseigenen Wohnungs- Miteinander im Alltag umzusetzen. Genauso baugesellschaften werden diesen Prozess von werden wir nie aufhören darüber zu reden, sich heraus weder anstoßen noch meistern – dass Rassismus ein beständiger Begleiter von »Insellösungen« von einzelnen Hausprojekten vielen von ist, sei es auf der Straße, bei der sind dagegen zu klein dimensioniert. Bei Wohnungssuche oder beim Jobcenter. dem »Modellprojekt Kottbusser Tor« geht Wir wollen am Kottbusser Tor mit es deshalb darum, auszuprobieren, wie eine »Rekommunalisierung Plus« nun einen Rekommunalisierung mit realer Demokrati- nächsten Schritt gehen. Dazu soll nicht nur sierung und Teilhabe der postmigrantischen die vielfältige nachbarschaftliche Unterstüt- Gesellschaft verbunden werden kann. zung sichtbarer werden, sondern wir wollen erstmals diese Ansprüche auch in selbstver- LITERATUR walteten Mieterstrukturen in landeseigenen Holm, Andrej/Hamann, Ulrike/Kaltenborn, Sandy, 2016: Wohnungsbeständen umsetzen. Wichtig ist Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau, Berlin Clausen, Matthias et al., 2018: Rekommunalisierung Plus: dabei: Modellprojekt am Kottbusser Tor, Berlin 1 | Selbstverwaltung bedeutet Ressourcenauf- Hamann, Ulrike/Kaltenborn, Sandy (Hg.), 2014: Nichts läuft hier richtig. Informationsbroschüre zum sozialen Woh- wand – damit sie von einer breiten, diversen nungsbau in Berlin, www.nichts-laeuft-hier-richtig.de/ nachbarschaftlichen Mischung getragen wird, muss sie vor allem Auswirkungen auf die 1 Die Gewobag ist eines von derzeit sechs kommunalen Miete haben und der Sicherung einer guten Wohnungsunternehmen in Berlin. 2 Mehr dazu unter: https://kommunal-selbstverwaltet- Wohnqualität dienen. wohnen.de/

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 53 SPIELRÄUME NUTZEN WO LINKE WOHNUNGSPOLITIK AUF DER BUNDESEBENE ANSETZEN KANN

ARMIN KUHN Durch den anhaltenden Anstieg der Mieten und Immobilienpreise scheint die Verwand­ lung der Innenstädte in sterile Wohlstandsin­ seln vorgezeichnet. Der zunehmende Aus­ schluss derjenigen, die ohnehin nur schwer Zugang zu Wohnraum finden, ist nicht nur eine Katastrophe für die unmittelbar Betrof­ fenen. Wenn nachbarschaftliches Leben und damit oft existenziell wichtige Netzwerke der gegenseitigen Unterstützung zerstört werden, wenn sich Unterschiedliches nicht mehr auf der Straße begegnet, wenn Feuerwehrleute, Krankenpfleger*innen oder Erzieher*innen nicht mehr annähernd in der Nähe ihrer Arbeitsplätze wohnen können, dann ist städti­ sches Leben als Ganzes gefährdet. Lange haben sich Entscheidungs­trä­ger*­ in­nen in den Städten, in den Ländern und in der Bundespolitik von dieser Erkenntnis nicht beeindrucken lassen. Doch seitdem sich Mieter*innen, Gewerbetreibende, soziale Bewegungen und Initiativen für bedrohte Freiräume massenhaft organisieren und ihr

54 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Recht auf Stadt einklagen und spätestens sieren die Initiativen das Wohnungsproblem seitdem die Angst vor Verdrängung auch in als ein gesellschaftliches, das auf der kom­ der akademischen Mittelschicht umgeht, hat munalen bzw. der städtischen Ebene zu lösen ein Umdenken eingesetzt. Die neoliberale ist. Für sie geht es nicht nur um die Krise des Stadtpolitik zeigt sich jetzt mehr und mehr als Wohnens, sondern um die Krise der Stadt. Ursache der vielfältigen Probleme. In einigen Städten haben die organisier­ Dieses Umdenken beginnt vor Ort. Eine ten Proteste beachtliche Erfolge erzielt. Dort, progressive, an den Interessen der Vielen wo solche Interventionen und Bewegungen orientierte Wohnungs- und Stadtpolitik fehlen, kommen nur wenige politische muss darauf ausgerichtet sein, sowohl die Verantwortliche von sich aus auf die Idee, der kommunalen Gestaltungsoptionen im Sinne Verfolgung von privaten Verwertungsinteres­ der Bewohner*innen als auch die Handlungs­ sen an unseren Städten Grenzen zu setzen spielräume der organisierten Mieter*innen (vgl. Vollmer 2018). Das aber ist eine zentrale und Bewegungen als zentrale Akteure des Aufgabe einer progressiven Wohnungspolitik. Wandels auszuweiten. Deswegen möchte ich den Blick auf unterschätzte Schauplätze jen­ seits der wohnungspolitischen Großbaustellen ARMIN KUHN lebt in Berlin, arbeitet als wohnungs- lenken, auf drei Instrumente, die realpolitisch und mietenpolitischer Referent für die Bundes- durchsetzbar erscheinen und zugleich die tagsfraktion DIE LINKE und engagiert sich in der Initiative »Stadt von unten«. Organisierung von unten und den Aufbau von Alternativen strukturell stärken könnten.

BEWEGUNG IN DEN STÄDTEN, NEOLIBERALER Insbesondere auf der Bundesebene müssen STILLSTAND IM BUND die Rahmenbedingungen im Miet- und im Seit mehr als einem Jahrzehnt haben Mieter­ Planungsrecht, im sozialen Wohnungsbau, initiativen und stadtpolitische Bewegungen im Steuerrecht und bei der finanziellen Aus­ die toxische Wirkung der neoliberalen stattung der Kommunen geändert werden, Stadtpolitik skandalisiert und ihre Forderun­ um die vielen berechtigten Forderungen der gen für ein Recht auf Stadt auf die politische Bewegungen auch umsetzen zu können. Agenda gehoben. Ihre Kämpfe setzen an zwei Auf der Bundesebene haben diese Effekten der neoliberalen Stadtpolitik an: der Fragen lange Jahre kaum eine Rolle gespielt. Schwächung der staatlichen, insbesondere Öffentliches Desinteresse sowie der Glaube, der kommunalen Ebene hinsichtlich der der Markt werde die Grundlagen städtischen Möglichkeiten, städtisches Leben politisch Zusammenlebens schon regeln, haben eine zu gestalten, und an der Vereinzelung der Wohnungspolitik befördert, die vor allem Bewohner*innen auf einem Wohnungs­ darin bestand, dass der Staat kaum mehr in markt, der in erster Linie als Privatangelegen­ bezahlbaren Wohnraum investierte, während heit betrachtet wird. Demgegenüber themati­ zugleich Milliardensummen von den öffent­

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 55 lichen Haushalten in die Hände von Inves­ Wenn es also zutrifft, dass ein Politikwandel toren und Wohnungseigentümer*innen nicht ohne politischen Druck von unten umverteilt wurden: durch steuerliche zu haben ist, muss es die Aufgabe linker Förderungen ohne jede soziale Bindung, parlamentarischer Politik sein, die Organisa­ durch die Streichung von Mitteln für den so­ tionsfähigkeit von Mieter*innen zu stärken. zialen Wohnungsbau zugunsten öffentlicher Dabei können Forderungen nach einer Subventionen für steigende Mieten und für Vergesellschaftung von Wohnraum oder nach Wohneigentum sowie durch Privatisierun­ Mietobergrenzen neue politische Möglich­ gen und Deregulierungen im Mietrecht. keitsräume öffnen und damit auch Hoffnung Angesichts einer sich zuspitzenden auf eine ganz andere Wohnungspolitik erzeu­ Wohnungskrise werden inzwischen Lösun­ gen. Die folgenden Vorschläge für eine linke gen breit diskutiert, die – wie Mietobergren­ Wohnungspolitik auf der Bundesebene haben zen oder Enteignungen – noch vor Kurzem darüber hinaus das Potenzial, Mieter*innen undenkbar schienen. Parallel dazu jedoch im Hier und Jetzt Erfolge zu verschaffen, greift die Große Koalition mit dem Baukin­ Handlungsspielräume für die Organisierung dergeld oder einer Sondersteuerabschrei­ auszuweiten und den Aufbau konkreter bung für die Bauwirtschaft zu Instrumenten Alternativen zu erleichtern. aus just dem gleichen Werkzeugkasten, der die heutigen Probleme verursacht hat.¹ Die VORKAUFSRECHT AUSBAUEN seit 2015 vorgenommenen Korrekturen im Das im Baugesetzbuch verankerte Vorkaufs­ Mietrecht oder die erhöhten Mittel für den recht der Kommunen für Grundstücke spielte sozialen Wohnungsbau bedeuten also nicht in der wohnungspolitischen Praxis lange eine Abkehr von den neoliberalen Grundan­ kaum eine Rolle. Das änderte sich schlagartig, nahmen, die seit etwa drei Jahrzehnten die als Florian Schmidt, grüner Baustadtrat von Wohnungs- und Sozialpolitik bestimmen. Friedrichshain-Kreuzberg, Ende 2016 begann, Sie sichern vielmehr den Fortbestand der unter dem Slogan »Wir kaufen uns die Stadt herrschenden Verhältnisse. Die derzeit zurück« dieses Instrument offensiv einzuset­ schizophren anmutende Politik spiegelt zen. Seitdem wurden in ganz Berlin auf diese eine Ungleichzeitigkeit wider: Auf lokaler Weise über 30 Häuser mit mehr als 1 000 Ebene haben die Proteste und Bewegungen Wohnungen rekommunalisiert. der vergangenen Jahre ein Umdenken Doch das Vorkaufsrecht stößt im über­ eingeleitet. Doch auf der Bundesebene hitzten Immobilienmarkt an Grenzen. Es sorgt die Entfernung vom lokal erzeugten greift nur in bestimmten, planungsrechtlich politischen Druck dafür, dass das neoliberale festgelegten Gebieten und es muss inner­ Paradigma der vergangenen drei Jahrzehnte halb von nur zwei Monaten, nachdem ein im Wesentlichen weiterbesteht – was die Hausverkauf bekannt geworden ist, wahrge­ Handlungsmöglichkeiten auf der lokalen nommen werden. Die Kommune muss in Ebene erheblich einschränkt. den abgeschlossenen Kaufvertrag eintreten

56 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN und den dort vereinbarten Preis zahlen. Diese nur die finanzielle Hürde für die Einzelnen gesetzliche Regelung begrenzt nicht nur die senken. Die Mieter*innen wären auch nicht Anwendung, es zwingt die Kommunen auch, von einer fortschrittlichen kommunalen überhöhte Immobilienpreise zu zahlen und Verwaltung abhängig, um ihr Haus vor dem somit Spekulationsgewinne von Verkäufern Verkauf zu bewahren. Der Bund könnte solche aus Haushaltsmitteln zu finanzieren. So Gemeinschaften und Kommunen außerdem waren in den meisten betroffenen Häusern durch einen Rekommunalisierungsfonds die für die Rekommunalisierung aufzu­ finanziell unterstützen. bringenden horrenden Summen nur durch Ein so gestärktes Vorkaufsrecht für (moderate) Mieterhöhungen zu refinanzieren. Grundstücke und Wohnraum eröffnet Meist ging die Wahrnehmung des neue Handlungsspielräume: zum einen für Vorkaufsrechts auf das Engagement be­ Mieter*innen, die durch gemeinschaftliche troffener Hausgemeinschaften zurück, die Organisierung konkrete Erfolge erringen und sich zusammengeschlossen, den Kontakt bezahlbare Wohnungen erhalten können, zum zu politischen Entscheidungsträger*innen anderen für die Kommunen, die über die Aus­ gesucht, an Lösungen mitgearbeitet und auf weitung ihrer Wohnungsbestände an Einfluss diese Weise Mitentscheidungs- und Selbstver­ auf den Wohnungsmarkt gewinnen. waltungsrechte erkämpft haben. Ein gestärk­ tes kommunales Vorkaufsrecht kann diesen KOLLEKTIVE MIETERRECHTE GARANTIEREN Prozess der Selbstermächtigung unterstützen Obwohl das deutsche Mietrecht in anderen und als wirksames Instrument zur schrittwei­ Ländern als vorbildlich gilt, hat es neben sen Ausdehnung eines nicht profitorientierten vielen Lücken und einseitigen Bevorzugungen Wohnungssektors eingesetzt werden. Dafür der Vermieterseite eine entscheidende Schwä­ müssen aber die gesetzlichen Regelungen che: Die dort verankerten Regulierungen und verschärft werden: Das Recht muss auf das ge­ Abwehrrechte sind eine rein zivilrechtliche samte Stadtgebiet ausgedehnt, die Frist für die und damit private Angelegenheit. So wird der Wahrnehmung verlängert und vor allem der gesellschaftliche Interessenkonflikt zwischen Preis auf den Ertragswert festgesetzt werden, Wohneigentum und Mieter*innen individu­ der sich aus den aktuellen Mieten und den In­ alisiert. Die mietrechtlichen Bestimmungen standsetzungskosten ergibt.2 Ausgeweitet wer­ greifen im Zweifel erst dann, wenn sie von den muss auch das im Mietrecht garantierte den betroffenen Mieter*innen individuell Vorkaufsrecht der Mieter*innen beim Verkauf wahrgenommen werden. Die Geschichte ihrer Wohnung. Wenn nicht nur vereinzelte der Mietpreisbremse seit ihrer Einführung Mieter*innen, sondern Hausgemeinschaften im Jahr 2015 ist ein Beispiel für die Schwie­ als ganze ihr Vorkaufsrecht zugunsten einer rigkeiten bei der Durchsetzung von Mieter­ Genossenschaft, eines kommunalen Unter­ rechten. ­Diese wachsen mit dem Machtun­ nehmens oder eines gemeinwohlorientierten gleichgewicht zwischen Mieter*innen und Trägers ausüben könnten, würde das nicht Vermieter*innen, wie die aktuellen Auseinan­

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 57 dersetzungen mit Wohnungskonzernen wie öffentlichen rundstückenG und Fördermit­ Vonovia zeigen.3 teln etc.) neu festzulegen hätte, ließen sich Die Einführung kollektiver, also gemein­ entsprechende Rechte verankern – auch um sam durchsetzbarer Mieterrechte wäre eine die demokratische Kontrolle solcher Unter­ angemessene Reaktion auf die Erfahrung, nehmen zu gewährleisten. Die Wohnungsge­ dass de facto nur diejenigen ihre Rechte wahr­ meinnützigkeit sollte vier Grundprinzipien nehmen, die willens und in der Lage sind, oft folgen: Erstens tritt die Kostendeckung an die langwierige und kostenintensive gerichtliche Stelle der Gewinnmaximierung als ökonomi­ Auseinandersetzungen zu führen. Ein Ansatz­ sches Leitziel der Wohnungsbewirtschaftung; punkt dafür ist das kürzlich eingeführte zweitens werden die zulässigen Gewinne Verbandsklagerecht, das es zum Beispiel Mie­ strikt beschränkt, sodass überschüssige tervereinen ermöglicht, Sammelklagen für Einnahmen in den Wohnungsbau oder in Betroffene (Mieter*innen, die im selben Haus das Wohnumfeld investiert werden müssen; wohnen oder mit demselben Eigentümer zu drittens wird die Gemeinnützigkeit an die tun haben) einzureichen. Ein weiterer Ansatz Garantie leistbarer Mieten sowie an einen ist die Ausweitung von Mitbestimmungs- und spezifischen sozialen Versorgungsauftrag für Selbstverwaltungsrechten der Mieter*innen. Haushalte, die nur schwer Zugang zu Wohn­ Diese sind im Rahmen des Mietrechts raum finden, gebunden; und viertens gilt das nicht durchsetzbar, sondern bräuchten Prinzip demokratischer Mitbestimmung und eine eigene gesetzliche Grundlage. Vorbild öffentlicher ontrolle.K 4 hierfür könnten Mitbestimmungsrechte von Eine so konzipierte neue Wohnungsge­ Arbeitnehmer*innen sein, wie wir sie aus meinnützigkeit böte nicht nur Antworten dem Betriebsverfassungsgesetz kennen. Ein auf die Krankheiten des alten sozialen Blick auf das schwedische Mietrecht, das Wohnungsbaus – insbesondere auf das Mietergewerkschaften großen Einfluss auf die Problem der auslaufenden Mietpreis- und öffentlichen Wohnungsunternehmen sichert Sozialbindungen (vgl. Holm in diesem Heft). und ihnen ein erhebliches Mitspracherecht Sie ist auch notwendig, um im Zuge von Re­ bei der Festlegung der Mieten einräumt, zeigt kommunalisierung oder Vergesellschaftung das Potenzial eines solchen Weges. von Grundstücken und von Wohnraum die Immobilien vor einer zukünftigen profitorien­ NEUE WOHNUNGSGEMEINNÜTZIGKEIT tierten Verwertung zu schützen und dauerhaft Ein dritter Weg, Mitbestimmungs- und als soziale Infrastruktur abzusichern. Vor­ Selbstverwaltungsrechte für Mieter*innen aussetzung dafür wäre eine strikte Bindung zu verankern, ist eine Neuregelung der öffentlicher ördermittel,F steuerlicher Wohnungsgemeinnützigkeit. In einem Subventionen und Privilegien für die Immo­ entsprechenden Gesetz, das die Pflichten bilienwirtschaft an das Gemeinnützigkeits­ und Privilegien gemeinnütziger Wohnungs­ ziel. Gemeinnützige Wohnungsunternehmen unternehmen (Steuervorteile, Zugang zu müssten von der Grundsteuer und von der

58 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Grunderwerbssteuer ausgenommen werden. zeitig wird dort über die Rahmenbedingun­ Doch Wohnungsunternehmen – auch die gen und damit auch Erfolgsaussichten von großen Genossenschaften und die kommu­ lokalen Kämpfen entschieden. Wie können nalen – werden sich nur dann gemeinnützig Häuser und Grundstücke der Profitlogik ausrichten, wenn durch weitere gesetzliche entzogen, wie kann die Vereinzelung von Regelungen im Miet-, Bau- und Steuerrecht Mieter*innen aufgehoben und ein Rahmen sowie durch ihre entsprechende Anwendung für einen neuen gemeinwohlorientierten vonseiten der Länder und Kommunen die Sektor geschaffen werden? Die hier skiz­ Attraktivität privater Investitionen in den zierten Vorschläge bieten dafür konkrete Wohnungsmarkt verringert und die des ge­ Ansätze. Am Ende muss es auch beim meinnützigen Wohnungsbaus entsprechend parlamentarischen Handeln darum gehen, erhöht wird. Handlungsspielräume für die Selbstermäch­ tigung und Organisierung von Mieter*innen FAZIT und stadtpolitischen Bewegungen auszu­ Nach langen Jahrzehnten neoliberaler weiten. Sollen Lösungen für die aktuelle Wohnungspolitik im Bund ist die Zahl der Krise nicht auf halbem Weg steckenbleiben, Baustellen aus linker Sicht kaum mehr zu muss strukturell etwas an den Bedingungen überblicken. An unzähligen Schrauben muss verändert werden. gedreht werden, um die Wohnungsmarkt- und die Stadtentwicklung langsam wieder an den Bedürfnissen der Vielen auszurichten. Obers­ LITERATUR Holm, Andrej/Horlitz, Sabine/Jensen, Inga, 2017: tes Ziel muss auch in der Wohnungspolitik Neue Wohnungsgemeinnützigkeit, hrsg. von der sein, Profitinteressen zurückzudrängen. Es Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin Kuhn, Armin/Lay, Caren, 2019: Keine soziale Wohnungs- gilt, die kollektiven Rechte und Entscheidungs­ politik ohne Neubau, hrsg. von der Rosa-Luxem­ optionen von Mieter*innen nachhaltig zu burg-Stiftung, Reihe Standpunkte 2/2019, Berlin Vollmer, Lisa, 2018: Strategien gegen Gentrifizierung, stärken und das Recht auf Wohnen und Stadt Stuttgart als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen und dessen Wahrnehmung zu garantieren. Die 1 Vgl. zur Kritik der Wohnungspolitik der Bundes­ zentralen Akteure dieses Wandels sind die regierung und zum Gegenvorschlag eines öffentlichen Wohnungsbauprogramms nach Wiener Vorbild Mieter*innen, die sich in ihren Häusern und in Kuhn/Lay 2019. Initiativen gegen Mieterhöhung und Verdrän­ 2 Die Regionalberatung im Mietshäusersyndikat Berlin- Brandenburg hat im Juli 2017 nach einigen Monaten gung zusammenschließen, sowie die stadtpo­ praktischer Erfahrung mit der offensiven Anwendung des litischen Bewegungen, die ihre Forderungen Vorkaufsrechts die entsprechenden Forderungen entwickelt. Vgl. hierzu http://syndikat.blogsport.eu/?p=1762. an die staatlichen Entscheidungsträger*innen 3 Strategien zur Profitmaximierung mithilfe von Moder­ richten und zugleich mit dem Aufbau konkre­ nisierungen und Nebenkostenabrechnungen, die legale Grenzen häufig überschreiten, haben Nicolai Kwasniewski ter Alternativen begonnen haben. und Philipp Seibt für eine Artikelserie recherchiert, veröf­ Die Bundesebene scheint von den lokalen fentlicht auf Spiegel-Online am 19. und 21.11.2018. 4 Vgl. zum Konzept, Hintergrund und zu Möglichkeiten Auseinandersetzungen weit entfernt. Gleich­ der Umsetzung Holm et al. 2017.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 59 KURSWECHSEL STATT KOSMETIK WARUM WIR WOHNEN ANDERS ORGANISIEREN MÜSSEN

BERND RIEXINGER In Berlin demaskiert der Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« die Kräfte, die hinter dem aktuellen Mieten- wahnsinn stecken. Das Ziel der Initiative, in der Hauptstadt mittels Volksentscheid alle Wohnungskonzerne mit mehr als 3 000 Miet- wohnungen zu vergesellschaften, alarmierte die bürgerlichen Parteien und das Kapital glei- chermaßen. Während die Konservativen mit Schaum vor dem Mund vor »sozialistischen Blütenträumen« warnten, fällt die Erpressung des Kapitals handfester aus. So mahnte die US-amerikanische Rating­ agentur Moody’s, die Debatte gefährde die Bonität des Landes Berlin, und drohte mit der Herabstufung der Kreditwürdigkeit, wodurch sich die Zinsen für Kredite des Landes erheblich erhöhen würden. Einer der wichtigs- ten Anteilseigner bei Moddy’s ist Blackrock, der mächtigste Vermögensfonds der Welt, dem große Teile des Immobilienkonzerns Deutsche Wohnen gehören. Auch der Finanz- konzern MFS ist in erheblicher Höhe sowohl

60 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN an der Ratingagentur als auch an besagtem barem Wohnraum nicht mehr als staatliche Immobilienkonzern beteiligt. Mit anderen Kernaufgabe verstanden und Wohnungsbau Worten: Mittels Moody’s warnt das Kapital das und Mietenentwicklung gezielt dem Markt Land Berlin vor seiner eigenen Enteignung. überlassen hat. Die Profiteure dieser Krise Nun sind im Kapitalismus bezahlbare und sind Immobilienriesen wie Deutsche Wohnen menschenwürdige Wohnbedingungen nicht und Vonovia. Diese beiden Konzerne realisier- die Regel, sondern die historische Ausnahme. ten im vergangenen Jahr gemeinsam einen Sozialer Wohnungsbau, wie er hierzulande operativen Gewinn von rund einer Milliarde Anfang des 20. Jahrhunderts und verstärkt Euro. Das Manager Magazin bemerkte dazu nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, lag nüchtern: »Steigende Mieten führen zu stei- zwar durchaus auch im langfristigen Interesse genden Gewinnen. Die Mieter zahlen mehr, von Teilen der kapitalistischen Klasse, musste die Aktionäre bekommen mehr Dividende.« aber durch die Arbeiterbewegung des 20. Gegen diese Entwicklung formiert Jahrhunderts mühsam erkämpft werden. sich vielerorts Widerstand. Längst wehren Wenn die Versorgung der Bevölkerung sich immer mehr Mieter*innen gegen ihre mit Wohnraum nur noch Markt und Profit überlassen wird, zahlt die Mehrheit der Men- BERND RIEXINGER ist Ko-Vorsitzender der Partei DIE schen einen hohen Preis. Bereits heute haben LINKE. Vor Kurzem erschien von ihm im VSA-Verlag viele Menschen in Deutschland Angst davor, »Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt ihre Wohnung bald nicht mehr bezahlen zu Herrschaft der Wenigen« (2018). können. Sie fürchten zu Recht, dass steigende Mieten sie in Armut stürzen. Für mehr als­ 1,3 Millionen Menschen ist das bereits Realität: faktische Enteignung und die Zerstörung Ihr Einkommen liegt durch zu hohe Mieten von Nachbarschaften durch Gentrifizierung unter Hartz-IV-Niveau. Wohnungs- und und Verdrängung. Bundesweit engagieren Obdachlosigkeit steigen dramatisch. sich weit über Hunderttausend Menschen in Längst treffen steigende Mieten auch Mieterinitiativen. Durchschnittsverdiener*innen. Für Familien Trotzdem setzt die Bundesregierung mit Kindern ist es fast unmöglich, eine be- aus CDU/CSU und SPD weiter auf markt- zahlbare Wohnung zu finden. In Großstädten konformen Lösungen. 1,5 Millionen neue zahlen 40 Prozent der Menschen mehr als Wohnungen sollen entstehen, im Besitz von ein Drittel ihres Einkommens für die Miete. Privateigentümern, mit Mieten um die In vielen Städten hätte über die Hälfte der zehn Euro­ pro Quadratmeter, subventioniert Bewohner*innen Anrecht auf einen Wohnbe- mit Steuergeld. Auch die nachgebesserte rechtigungsschein. Mietpreisbremse verpufft weitgehend. Im Jahr Diese Wohnungskrise ist Resultat der 2020 steht sie offiziell auf dem Prüfstand; die neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte, die Immobilienlobby fordert bereits heute ihre die Versorgung der Bevölkerung mit bezahl- Abschaffung. Hinzukommt, dass ab dem Jahr

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 61 2021 die Zukunft des sozialen Wohnungsbaus dauerhaft in öffentlichem oder genossen- völlig offen ist. Durch die Föderalismusre- schaftlichem Eigentum bleiben. form wird eine weitere Förderung durch den Wenn der Markt versagt, muss auch über Bund ausgeschlossen. Jedes Jahr fallen trotz den Aufbau einer nicht-profitorientierten leicht gestiegener Neubauzahlen etwa 50 000 regionalen Bauwirtschaft nachgedacht Wohnungen aus der Sozialbindung. werden. Im Deutschen Bundestag hat die Um den Mietenwahnsinn zu stoppen und Fraktion DIE LINKE deshalb ein öffentliches bezahlbaren Wohnraum für alle zu realisieren, Wohnungsbauprogramm im Umfang von­ 10 reichen keine kleinen Korrekturen mehr. Milliarden­ Euro gefordert. Mit der Hälfte der Notwendig ist ein Bruch mit der neoliberalen Summe sollen die Bundesländer den sozialen Politik, ein grundlegender Richtungswechsel: und gemeinnützigen Wohnungsbau unter- Bund, Länder und Kommunen müssen Woh- stützen, die andere Hälfte soll großenteils als nungen aufkaufen und neue bezahlbare, ökolo- Investitionsprogramm dem kommunalen und gisch modernisierte Wohnungen bauen lassen. genossenschaftlichen Wohnungsbau dienen. Private Wohnungskonzerne wie Vonovia und Nur so ist eine flächendeckende Senkung der Deutsche Wohnen müssen unter gesellschaft- Mietpreise innerhalb von fünf bis zehn Jahren liche Kontrolle gebracht, die Wohnungen in möglich. Vorbild kann dabei das Wiener öffentliches oder genossenschaftliches Eigen- Modell eines kommunalen, gemeinwohl- statt tum überführt und die Mieten gesenkt werden. profitorientierten Wohnungsbaus sein: Die Notwendig ist ein sofortiger Mietenstopp durch Mieten für moderne Neubauten liegen dort ein gesetzliches Moratorium. bei etwa 5 Euro pro Quadratmeter. Die aktuelle Wohnungskrise wirft die Fra- Mit solchen Konzepten kann die Woh- ge einer demokratisch organisierten Planung nungskrise gelöst werden. Dafür ist es notwen- auf, die sich am gesellschaftlichen Bedarf und dig, mehr Mieter*innen zu organisieren und die an den unterschiedlichen Bedürfnissen der derzeit überwiegend dezentralen Mietenproteste Menschen beim Wohnen und Zusammenle- bundesweit sichtbar und wirkmächtig zu ma- ben in den Kommunen orientiert. Angesichts chen. DIE LINKE trägt dazu auf drei Ebenen bei: der Klimakrise sind ökologisches Bauen und Erstens beteiligen wir uns am Aufbau Sanierung unbedingt notwendig. Doch das eines bundesweiten Bündnisses »Zusammen findet bisher zu wenig statt. Energetische gegen #Mietenwahnsinn«. Mit politischen Modernisierung wird stattdessen zum Mittel, Bündnispartner*innen wie dem Deutschen um Mieten zu erhöhen und Menschen zu Mieterbund, dem DGB, Umweltverbänden verdrängen (vgl. Pallaver in diesem Heft). Die und lokalen Mietenbündnissen entfalten wir Modernisierungsumlage muss daher sofort Druck auf die Bundesregierung. Aufbauend abgeschafft werden. Bezahlbare, ökologisch auf den Demonstrationen im April 2019 wer- modernisierte und den verschiedenen Bedürf- den wir mit Demonstrationen und Aktionen nissen der Menschen angepasste Wohnungen des sozialen Ungehorsams die Bundesregie- müssen staatlich finanziert werden und rung zum Handeln zwingen.

62 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Zweitens werden wir mit unserer bundes- weiten Kampagne »Bezahlbare Miete statt fetter Rendite« zur Mobilisierung und zur Organisierung von Mieter*innen beitragen. Im Mittelpunkt stehen die Forderungen nach einem Mietenstopp, der Abschaffung der Modernisierungsumlage und verbindlichen, örtlich festzulegenden Höchstmieten. Die Forderung nach dem Bau oder Erwerb von 250 000 zusätzlichen bezahlbaren Wohnun- gen pro Jahr in öffentlicher und gemeinnüt- ziger Hand ist ebenso zentral wie die nach Einkommen wohnen: Mit Haustürbesuchen Vergesellschaftung der Immobilienkonzerne. und Stadtteilarbeit, die von der Mieterbera- Bislang haben im Rahmen der vor einigen tung über Frühstücke für Erwerbslose und Monaten gestarteten Kampagne bereits mehr kulturelle Angebote reicht, wollen wir die als 200 Aktionen stattgefunden. Menschen erreichen und ermutigen, aktiv Die Kampagne verfolgt einen organisie- Widerstand gegen steigende Mieten zu leisten. renden Ansatz, den Weg der Stärkung einer Dafür haben wir in einem ersten Schritt »organisierenden Mitgliederpartei«, den wir gezielte Modellprojekte gestartet (vgl. Kaindl/ in den letzten Jahren mit Kampagnen, mit Nagel in diesem Heft). In der Gropiusstadt in Organizing-Projekten und Haustürgesprächen Berlin-Neukölln trägt die Arbeit des dortigen begonnen haben. Zum einen unterstützen Bezirksverbands erste Früchte: Mieterinnen linke Kreisverbände in vielen Kommunen und Mieter organisieren sich, planen und schon jetzt tatkräftig Mieterinitiativen, starten realisieren Aktionen und öffentlichen Protest kommunale Bündnisse und Kampagnen. In (vgl. Vater in diesem Heft). In den nächsten Bielefeld etwa hat der Kreisverband lange vor Monaten geht es darum, diese und andere dem Start der Mietenkampagne erfolgreich Erfahrungen auszutauschen, voneinander Druck für einen städtischen sozialen Woh- zu lernen und schrittweise diesen Ansatz nungsbau organisiert. Diese Arbeit wollen wir des transformativen Organizing in der Partei bundesweit unterstützen mit Angeboten zur auszubauen. DIE LINKE unterstützt so über Bildung und Vernetzung. die Metropolen hinaus die Organisierung und Drittens geht es um die Bildung offener Vernetzung der Mieterinnen und Mieter von Kampagnengruppen vor Ort, für die gezielt Deutsche Wohnen, Vonovia & Co. Mieter*innen, die noch nicht in der Partei Diese Form der unmittelbaren, verbin- DIE LINKE aktiv sind, gewonnen werden denden Klassenpolitik braucht einen langen sollen. Unser Ziel ist eine organisierende Atem. Die Kampagne und die organisierende Arbeit, besonders in Stadtteilen, in denen Arbeit vor Ort sind auf viele Jahre angelegt. Es überwiegend Menschen mit geringem gibt keine Abkürzungen.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 63 BODEN GUTMACHEN WAS KANN LINKE BODENPOLITIK?

WERNER HEINZ Die Nachfrage nach Grund und Boden sowie Immobilien ist gegenwärtig immens. Nicht allein in den Großstädten der Ballungsräume und wirtschaftlich attraktiven Mittel- und Uni- versitätsstädten werden Grundstücke vermehrt als Objekte der Kapitalanlage- und Spekula- tion gesehen, auch am landwirtschaftlichen Grundstücksmarkt zeigt sich zunehmendes Kaufinteresse. Der preistreibenden Nachfrage steht in vielen Städten eine immer größere Zahl von Haushalten gegenüber – zunehmend auch von Angehörigen der Mittelschicht –, die den damit kontinuierlich steigenden Grund- renten-, Miet- und Bodenpreisforderungen nicht mehr nachkommen können. Gegenwär- tig gibt jeder zehnte Großstadthaushalt mehr als die Hälfte seines verfügbaren Einkommens für Miete aus (vgl. Frankfurter Rundschau, 13.9.2017). Die Politik der öffentlichen Hand hat maßgeblich zur Verschärfung dieser Probleme beigetragen, indem sie sich in Bund und Ländern aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaus zurückzog.

64 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Zur Eindämmung der drastischen Boden- bebaute Grundstücke würden damit um ein preissteigerungen und zur »Lösung« der Vielfaches höher belastet als heute (Difu/vhw Wohnungsproblematik wird in jüngerer Zeit 2017, 21). Ob es dadurch bei privaten Eigen- eine Vielzahl unterschiedlicher Forderungen tümern, die auf Spekulationsgewinne setzen, erhoben. Sie reichen von einer veränderten tatsächlich zu einer Aufgabe der Zurückhal- Besteuerung von Grund und Boden über eine tung bei der Bebauung von Grundstücken und Ausweitung planungsrechtlicher Maßnahmen damit zu einer Ausweitung des Angebots an bis zu einer gemeinwohlorientierten Liegen- Bauland kommen wird, ist eine offene Frage. schaftspolitik. Diese Forderungen sind zum Ein verstärkter Verkauf von Grundstücken Teil nicht neu, einige gehen auf die vor allem wird allerdings – vor allem in attraktiven von der SPD in den frühen 1970er Jahren Lagen – kaum zu einem Absenken der Boden- initiierte Diskussion zur Reform des Boden- preise und dem Bau bezahlbarer Wohnungen rechts zurück, andere wie die Bodenwertzu- führen. Schließlich wird über Steuerreformen wachssteuer sind bereits im 19. Jahrhundert die gegenwärtig vorherrschende Funktion von angestoßen, später auch umgesetzt worden.

WIRKSAMKEIT DER GEGENWÄRTIG WERNER HEINZ ist promovierter Planungswissen- DISKUTIERTEN ANSÄTZE schaftler, leitete von 1984 bis 2009 die Kölner Große Erwartungen in Bezug auf die Reduzie- Abteilung des Deutschen Instituts für Urbanistik und arbeitet gegenwärtig als freier Berater und rung von Bodenpreisen werden gegenwärtig an Autor. Gemeinsam mit Bernd Belina veröffentlichte die Grundsteuerreform gerichtet. Welche der er zuletzt die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung diskutierten Optionen – eine reine Bodenbe- beauftragte Studie »Die kommunale Bodenfrage« (2019), auf die dieser Beitrag zurückgeht. steuerung oder eine kombinierte Besteuerung von Boden und aufstehenden Gebäuden – sich durchsetzen wird, ist noch nicht abschließend geklärt. In Hamburg und München wird Boden und Wohnungen als profitable Kapi- zudem auch über die Einführung der schon talanlage nicht beseitigt. Auch nach Ansicht bei früheren Wohnungsengpässen diskutierten der Autoren der Bodenpolitischen Agenda Bodenwertzuwachssteuer nachgedacht. Ziel 2020–2030 ist die »Bodenwertsteuer […] kein aller Besteuerungsmodelle ist eine Abschöp- Instrument […], mit dem direkt oder gezielt fung steigender Bodenwerte bzw. Bodenwert- gegen Aufwertungs- und Verdrängungsprozes- zuwächse und damit von leistungslosen, durch se vorgegangen werden könnte« (ebd., 22). kommunale Planungs- und Infrastrukturmaß- Die Einsatzmöglichkeiten »städtebaulicher nahmen bewirkten Gewinnen. Verträge«, mit denen Investoren zur Schaffung Bei der Reformvariante Bodenwertsteuer von sozialem Wohnraum und zur anteiligen soll sich die Höhe der Steuer unabhängig von Übernahme von Infrastrukturkosten verpflich- der tatsächlichen Bebauung an der rechtlich tet werden können und mit denen gegenwärtig maximal zulässigen Nutzung orientieren. Un- die höchsten Förderzahlen realisiert werden,

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 65 sind gleichfalls begrenzt. Für neu errichtete genschaftsdezernat hat aber nur 8 Wohnhäu- Wohnungen, die über § 34 des Baugesetzbuches ser […] erworben sowie für weitere 13 Objekte genehmigt werden – und dies sind im Durch- […] sogenannte Abwendungsvereinbarungen schnitt etwa 50 Prozent –, kommen städtebau- erzielt« (Frankfurter Rundschau, 1.11.2018). liche Verträge nicht infrage. Sie können nur Schließlich wird von vielen Seiten »eine in bestimmten Bereichen – auf kommunalen aktive Baulandpolitik der Städte und Gemein- Grundstücken, bei denen privatrechtliche Rege- den« gefordert, da »die Bereitstellung geeig- lungen möglich sind, oder im Rahmen neuen neter Grundstücke« für die Schaffung von Planungsrechts (Bebauungspläne) – geschlos- bezahlbarem Wohnraum »eine unverzichtbare sen werden. Mithilfe solcher Verträge wurde in Voraussetzung« sei (Difu/vhw 2017, 14). München zwischen 1994 und 2017 Baurecht Vernachlässigt wird dabei, dass gegenwärtig auf privaten Flächen für mehr als 12 000 öf- durchaus gebaut wird, zum Teil in beträcht- fentlich geförderte Wohnungen geschaffen (vgl. lichem Umfang, aber eben nicht für niedrige Landeshauptstadt München 2019). Im gleichen und mittlere Einkommensgruppen. Für Zeitraum fiel allerdings eine weit größere Zahl private Investoren ist dies im Vergleich mit an- von Wohnungen aus der Sozialbindung.1 deren Kapitalverwertungsmöglichkeiten nicht Die quantitative Wirksamkeit des gelten- rentabel. Ein dauerhafter, bezahlbarer und der den Vorkaufsrechts ist in wohnungspolitischer Renditelogik entzogener Wohnungsbestand Hinsicht gleichfalls begrenzt. Kommunales im Sinne kommunaler Daseinsvorsorge kann Eingreifen ist nur in Gebieten möglich, in de- daher nicht über eine »aktive Baulandpolitik« nen durch Satzungen – wie Milieuschutz- oder erreicht werden, sondern nur über einen Erhaltungssatzungen – Gemeinwohlgründe grundlegenden Paradigmenwechsel in der zur Ausübung des Vorkaufsrechts vorliegen. Wohnungspolitik. Die Zahl derartiger Gebiete ist in der Regel In der aktuellen bodenpolitischen Diskus- begrenzt und die Ausübung des Rechts ist sion gewinnt zunehmend die Erkenntnis an überdies auf wenige Jahre befristet (vgl. Felsch Gewicht, dass angesichts der Entwicklungen 2010, 39). Dementsprechend niedrig ist auch auf dem Grundstücks- und Bodenmarkt die Zahl der realisierten Fälle in Großstädten öffentliches Eigentum an Grund und Boden wie München oder Frankfurt am Main. In im Sinne einer gemeinwohlorientierten Stadt- München wurden zwischen 1994 und 2010 entwicklung und zur Sicherung und Stärkung »45 Anwesen mit insgesamt 599 Wohnungen des kommunalen Handlungsspielraums eine durch Ausübung des Vorkaufsrechts erwor- zentrale Erfordernis ist. Ein erster, wenn auch ben und wieder privatisiert. Dem stehen 211 begrenzter Schritt könnte dabei eine Abkehr Abwendungserklärungen für insgesamt 4 354 vom Verkauf von noch in öffentlicher Hand Wohnungen gegenüber« (ebd., 40). Die Stadt befindlichen Grundstücken zu Höchstpreisen Frankfurt am Main hat in Gebieten, für die an Private sein. Diesen sollten hingegen eine Milieuschutzsatzung gilt, »seit 2016 den befristete Nutzungsrechte mit Gemein- Kauf von 23 Immobilien empfohlen, das Lie- wohlbindungen im Wege des Erbbaurechts

66 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN eingeräumt werden. Kommunen haben mit den Kommunen kein übergreifendes und diesem Instrument das Recht, Nutzer und Art weitreichendes Konzept, sondern nur ein der Nutzung zu bestimmen, und behalten ihre fragmentierter Katalog von Maßnahmen mit planerischen Gestaltungsmöglichkeiten. Über begrenzter Wirksamkeit gegenüber. Einige Konzeptverfahren können sie stadtentwick- dieser Maßnahmen greifen zu kurz, da lungspolitische Ziele langfristig sichern. weitere relevante Politikbereiche außer Acht Weiterhin ist in der Diskussion, mit gelassen werden. Bei anderen stehen einem einer gezielten Politik der Bodenbevorratung wachsenden Bedarf nur geringe Fallzahlen in und der Einrichtung revolvierend angelegter der Praxis gegenüber. Diese Maßnahmen sind Boden- und Infrastrukturfonds auch für den kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Ausbau des kommunalen Grundstückspools Stein. Die Diskrepanz zwischen Problemum- zu sorgen. Die kommunalen Haushalte sollen fang und auf der kommunalen Ebene zur hierfür mit entsprechenden Mitteln ausgestat- Anwendung kommenden Instrumenten ist tet werden. Gedacht ist dabei an Einnahmen eklatant. Beispielhaft hierfür steht die Stadt aus den oben genannten Bodensteuern. Bund München, deren Bodenmarkt trotz einer und Länder sollen den Aufbau dieser Fonds Vielzahl als vorbildlich erachteter bodenpo- zusätzlich unterstützen: mit einer Anschub- litischer Instrumente einer der teuersten finanzierung sowie mit der Bereitstellung Deutschlands ist. bundes- und landeseigener Grundstücke. Ein aktueller Beschluss des Bundestages kommt EIN PROBLEMADÄQUATER SCHRITT: dieser Forderung ein Stück weit entgegen. ERWEITERUNG DES ÖFFENTLICHEN EIGENTUMS Danach sollen von den knapp 20 000 Liegen- AN GRUND UND BODEN schaften, die die bundeseigene Bundesanstalt Was also tun? Angesichts des Problemum- für Immobilienaufgaben verwaltet, etwa 5 000 fangs, der Ursachen der aktuellen Boden- kostengünstig an Kommunen für den Bau von problematik und der Tatsache, dass »das Wohnungen vergeben werden (vgl. mdr 2018). Grundeigentum [trotz] eine[r] Vielzahl von […] Diese Zahlen klingen zunächst hoch, erweisen Eingriffen [der öffentlichen Hand] zwischen sich aber angesichts des vorhandenen Bedarfs den Ritzen der Gesetze und Maßnahmen […] als vergleichsweise niedrig. Auch die erwarte- potenziell sofort wieder in den sozialwidrigen ten Mittel aus Grundsteuereinnahmen dürften Bereich hinein[wächst]« (Vogel 1972, 1546), ist infolge weiterer kommunaler Aufgaben, die inzwischen ein Kipppunkt erreicht, bei dem mit ihnen finanziert werden sollen – von sich eine Politik, die sich allein auf punktuelle preisgünstigen Wohnungen bis zu Einrich- Ansätze beschränkt, als immer unzureichen- tungen der Infrastruktur –, kaum zum Aufbau der erweist. Was wir stattdessen brauchen, ist eines angemessenen Bodenvorrats reichen. ein radikaler, das heißt an den Wurzeln (radix) Zur »Bekämpfung der kommunalen ansetzender Politik- und Paradigmenwechsel, Boden- und Wohnungsproblematik« – dies mit einer generellen Infragestellung des lässt sich bilanzierend feststellen – steht Privateigentums an Grund und Boden und

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 67 einer sukzessiven Überführung städtischen bei anderen Vermögensgütern« (zit. nach Bodens – vor allem in den Ballungszentren Luft 2018, 14). – in kommunales bzw. Gemeinschaftsei- Angesichts der zunehmenden Beein- gentum. Beispiele aus dem Ausland wie der trächtigung des Gemeinwohls (bezahlbarer Kommunale Wohnungsbau in Wien oder die Wohnraum ist Gemeinwohl) und der auf staatlichem Bodeneigentum basierenden Wohn- und Lebensverhältnisse von immer Erbbaurechtspolitiken von Singapur oder mehr städtischen Bewohner*innen durch den Niederlanden könnten hier als Vorbilder die Entwicklungen auf dem Boden- und dienen. Boden steht in diesen (Stadt-)Staaten Wohnungsmarkt (mit einer »zunehmenden zum einen kostengünstig für Einrichtungen Angst vor der Zukunft«) ist es an der Zeit, der Daseinsvorsorge zur Verfügung und kann dass die Interessen der Allgemeinheit über zum anderen im Erbbaurecht an Private private Profitinteressen gestellt werden. Ziel verpachtet werden. sollte eine schrittweise Zurückdrängung von Nach den Regelungen des deutschen Bodeneigentum sein, das nicht der privaten Grundgesetzes und einschlägigen Äuße- Nutzung, sondern allein der monopolistischen rungen von verfassungsrechtlicher Seite ist Verwertung dient. Zur politischen Durchset- eine solche Bodenpolitik auch hierzulande zung dieses Ziels gibt es das Instrument der vorstellbar. Artikel 14 Abs. 2 des Grundgeset- Enteignung gegen Entschädigung. Beim Bau zes bestimmt, dass »Eigentum verpflichtet«, von Autobahnen oder bei Einrichtungen der »sein Gebrauch […] zugleich dem Wohle der Kohle- und Atomwirtschaft sind Enteignungen Allgemeinheit dienen« soll und Enteignungen keine Seltenheit, in der Wohnungspolitik kom- im Sinne dieses Wohles zulässig sind (Abs. 3). men sie seit den Nachkriegsjahren allenfalls Nach Artikel 15 kann »Grund und Boden […] in Ausnahmesituationen zum Tragen. Der so zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein gewonnene Boden sollte für Einrichtungen Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädi- der Daseinsvorsorge und den Bau bezahlbarer gung regelt, in Gemeineigentum oder in an- Wohnungen verwendet werden. dere Formen der Gemeinwirtschaft überführt Für die Umsetzung dieser keineswegs werden«. Ein in jüngerer Zeit häufig zitierter revolutionären, sondern auf dem Boden des Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von Grundgesetzes stehenden und an die boden- 1967 verweist darauf, dass »die Tatsache, dass politischen Vorschläge von Hans-Jochen Vogel der Grund und Boden unvermehrbar und aus den frühen 1970er Jahren anknüpfende unentbehrlich ist, [es] verbietet […], seine Nut- Forderung bedürfte es einer differenzierten zung dem unübersehbaren Spiel der Kräfte Auseinandersetzung, die Gegenstand einer und dem Belieben des Einzelnen vollständig eigenen Studie sein sollte. Umsetzungsre- zu überlassen: Eine gerechte Rechts- und levante Vorschläge aus jüngerer Zeit gibt es Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, bereits. Berliner Mieterinitiativen votieren die Interessen der Allgemeinheit in weit für ein Volksbegehren, das darauf zielt, die stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als Wohnungsbestände großer Wohnungsbauun-

68 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN ternehmen mit Gewinnerzielungsabsichten Nutzungseigentum forderte, wurden Befürch- und einem Bestand von mindestens 3 000 tungen laut, dies liefe auf eine Abschaffung Wohnungen sukzessive in Gemeineigentum der kapitalistischen Gesellschaftsform hinaus. zu überführen (vgl. Deutsche Wohnen & Das ist bekanntlich weder in Dänemark noch Co. enteignen 2019). Ziel ist die Versorgung in Singapur eingetreten. Es handelt sich der Stadtbevölkerung mit Wohnraum zu vielmehr um Staaten mit einer anderen Boden- leistbaren Mieten. Die Entschädigung soll ordnung, die mit maßgeblichen Vorteilen für per Gesetz geregelt und anteilig vom Land die Wohnungsversorgung ihrer Bevölkerung Berlin und über Kredite finanziert werden. einhergeht. »Gesellschaftliche Veränderun- Zur Sicherung demokratischer und transpa- gen«, so hieß es bereits 1972, »werden uns renter Entscheidungsstrukturen soll für die nicht geschenkt, sie müssen erkämpft werden. vergesellschafteten Wohnungsbestände ein Dies gilt auch für ein soziales Bodenrecht.« Gesamtmieterbeirat eingerichtet werden. (Conradi et al. 1972, 142) Von einem Mitglied des »Münchener Aufrufs für eine andere Bodenpolitik« kommt ein

Vorschlag, der sich gleichfalls auf Art. 15 des LITERATUR Grundgesetzes stützt und für eine Begren- Conradi, Peter/Dieterich, Hartmut/Hauff, Volker, 1972: Für ein soziales Bodenrecht, Frankfurt a.M. zung der privatrechtlichen Verfügungsgewalt Deutsche Wohnen & Co. enteignen, 2019: Eine Antwort über Grund und Boden ausspricht und unter auf die Wohnungskrise, 5.4.2019, www.dwenteignen. de/2019/04/05/eine-antwort-auf-die-wohnungskrise/ Verweis auf die Bodenpolitik Dänemarks eine Difu (Deutsches Institut für Urbanistik)/vhw (Bundesver- mengenmäßige Begrenzung des privaten band für Wohnen und Stadtentwicklung), 2017: Boden- politische Agenda 2020 – 2030. Warum wir für eine Bodeneigentums auf den Eigenbedarf fordert. nachhaltige und sozial gerechte Stadtentwicklungs- und »Das im Erbfall über den Eigenbedarf der Wohnungspolitik eine andere Bodenpolitik brauchen, Berlin Erben hinausgehende Grundvermögen würde Felsch, Bernadette-Julia, 2010: Wege zu einer gerechten […] gegen Entschädigung verstaatlicht und Bodenordnung, München Heinz, Werner/Belina, Bernd, 2019: Die kommunale Boden- in Erbpacht zur Nutzung vergeben. […] Nicht frage – Hintergrund und Lösungsstrategien, hrsg. von mehr möglich wäre die Hortung von und das der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin Landeshauptstadt München, 2019: Sozialgerechte Bodennut- Spekulieren mit Grund und Boden und damit zung. Der Münchner Weg, www.muenchen.de/rathaus/ Stadtverwaltung/Kommunalreferat/immobilien/sobon. das Erzielen leistungsloser Einkünfte.« (Felsch html 2010, 120). Luft, Christa, 2018: Wider den Marktradikalismus, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Analysen, Berlin Für staatliche Eingriffe in die private mdr, 2018: Bund will Baugrundstücke freigeben, 13.10.2018, Bodenverwertung ist Dänemark kein Ein- www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/bund-grundstu- ecke-bau-100.html/. zelbeispiel. Wie bereits erwähnt, befindet Vogel, Hans-Jochen, 1972: Bodenrecht und Stadtentwick- sich in Singapur der gesamte Grund und lung, in: Neue Juristische Wochenschrift 35/1972, 1544ff. Boden des Stadtstaates in öffentlicher Hand. Bereits in den 1970er Jahren, als der SPD- 1 So der frühere Münchener Stadtdirektor Stephan Reiß- Mann Hans-Jochen Vogel die Aufteilung des Schmidt in einem Vortrag in der Evangelischen Akademie in Grundeigentums in ein Verfügungs- und ein Frankfurt am Main am 17.10.2018.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 69 »WOHNRAUM MUSS FÜR ALLE DA SEIN« GESPRÄCH ÜBER DIE HINDERNISSE UND ZUGÄNGE VON GEFLÜCHTETEN AUF DEM WOHNUNGSMARKT

MIT BEA FÜNFROCKEN UND REMZI UYGUNER terstützen können. Neben den Diskriminie- rungserfahrungen bei der Wohnungssuche Ihr unterstützt Personen mit Fluchterfahrung kommen Fälle von Diskriminierung auch bei der Wohnungssuche. Was sind die dring- in mietrechtlichen oder strafrechtlichen lichsten Probleme, mit denen die Menschen Verfahren, beispielsweise in Nachbarschafts- zu euch kommen? konflikten vor und müssten eigentlich dort als BEA: Die meisten wollen dringend aus den solche verhandelt werden. In diesem Rahmen Unterkünften raus und in einer eigenen werden Fragen der Diskriminierung aber oft Wohnung leben, eine Privatsphäre haben. nicht berücksichtigt. REMZI: Wir unterstützen Personen, die bei Es gibt jedoch vereinzelt Erfolge, wenn der Wohnungssuche eine Diskriminierung Vermieter*innen im Rahmen von Klagen nach erfahren. Leider stellen wir täglich fest, dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz dass die Wohnungssuche insbesondere für (AGG) Diskriminierung nachgewiesen werden Menschen mit Flucht- oder Migrationserfah- kann. Damit bekommen die Betroffenen rung besonders schwierig ist. Sie haben kaum leider noch keinen Rechtsanspruch auf eine Zugänge zum Wohnungsmarkt und sind von Wohnung. Nach dem AGG ist nur eine Ent- unterschiedlichen Arten der Diskriminierung schädigung oder Schadensersatz vorgesehen. betroffen. Frustrierend ist zudem, wenn die Betroffenen aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten von Was könnt ihr dagegen tun? einer an sich aussichtsreichen Klage absehen. REMZI: In konkreten Fällen der Diskriminie- Die Betroffenen müssen darüber hinaus rung lässt sich politisch leider wenig machen. individuell klagen und ihre Rechte allein Die Betroffenen müssen selbst rechtliche durchsetzen. Die Möglichkeit von Sammel- Schritte unternehmen, die wir jedoch un- und Verbandsklagen sieht das AGG nicht vor.

70 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Wer ist besonders von Ausschlüssen ­betroffen? REMZI: Insbesondere große Familien oder BEA FÜNFROCKEN arbeitet bei Xenion, einem Ver- ein, der psychosoziale Unterstützung für politisch Haushalte über fünf Personen haben prak- Verfolgte anbietet. Als Koordinatorin der AG tisch keine Chance, eine Wohnung zu finden. Wohnen berät sie Geflüchtete bei der Wohnungs- Das liegt an der sogenannten Eine-Person-ein- suche und vertritt deren Interessen gegenüber Vermieter*innen und Ämtern. Wohnraum-Regelung. Diese besagt, dass Woh- nungen mindestens so viele Zimmer haben REMZI UYGUNER arbeitet bei der Fachstelle gegen sollen wie die Anzahl der zusammenlebenden Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt und ist ehrenamtlich Vorstandsmitglied des Türkischen Personen. Im bezahlbaren und öffentlich Bundes in Berlin-Brandenburg (TBB). geförderten Sektor gibt es aber einfach kaum Wohnungen mit fünf und mehr Zimmern. BEA: Bei Xenion arbeiten wir mit Familien, In Gesprächen beim Runden Tisch »Alter- die seit neun Jahren im Heim leben – obwohl nativen zur öffentlichen Unterbringung sich ihr Aufenthaltsstatus geändert hat. Die Geflüchteter«, einer von den enatsverwal-S Kinder kennen nur Flucht- und Heimunter- tungen für Integration, Arbeit und Soziales bringung, sie haben noch nie in einer eigenen sowie für Stadtentwicklung und Wohnen Wohnung gewohnt. Wir brauchen eine ganz einberufenen Runde, wurde zudem deutlich: gezielte Förderung für große Familien, die Private Vermieter*innen haben oft Angst vor ihnen Zugang zu bezahlbaren Wohnungen Mietausfall. Sie erhalten ja keine Bürgschaft ermöglicht. Kürzlich haben wir im Wedding wie im geschützten Marktsegment, sondern ein halbes Jahr gebraucht, bis wir endlich für tragen das Risiko selbst. Hier müsste der Senat eine Familie zwei Wohnungen zusammenle- eine Bürgschaft übernehmen, denn es gibt gen konnten. durchaus engagierte private Haus­verwaltungen, die auch an Geflüchtete vermieten würden. Es Wie sieht es mit privaten Vermieter*innen aus? reicht nicht, hier nur die kommunalen Woh- REMZI: Hier gibt es die gleiche Praxis. An eine nungsbaugesellschaften im Blick zu haben, die Familie mit sechs Personen wird nur eine privaten machen schließlich einen großen Teil Sechszimmerwohnung vergeben. Die gibt es des Wohnungsmarktes aus. In Brandenburg aber nicht. Das bedeutet im Klartext, dass diese haben die Kommunen beispielsweise direkt Familien vom Wohnungsmarkt quasi komplett Wohnungen angemietet, die sie an Geflüchtete ausgeschlossen sind. weitervermieten. BEA: Hier müsste die Bauförderung verändert werden. Momentan ist die Förderung für Das wären konkrete politische Maßnahmen, Bauunternehmen an die Anzahl der bereit- die den Zugang von Geflüchteten zu Wohn- gestellten Wohnungen geknüpft, nicht an die raum verbessern würden. Gäbe es weitere? Anzahl der Personen, die darin leben können. BEA: Eine unserer wichtigsten Forderungen ist Daher gibt es im sozialen Wohnungsbau sehr ein Wohnberechtigungsschein (WBS) für alle. viele Ein- und Zweizimmerwohnungen. Der WBS berechtigt ja Menschen mit geringen

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 71 Einkommen, in eine mit öffentlichen Mitteln ändern, hätte das sicherlich auch Ausstrah- geförderte und damit günstigere Wohnung zu lung auf den privaten Wohnungsmarkt. ziehen (vgl. Holm in diesem Heft). Obwohl Auch die privaten Vermieter*innen möchten Geflüchtete zu diesem Personenkreis gehören, unbedingt eine lange Aufenthaltsdauer schließt die Senatspolitik aktuell Menschen nachgewiesen haben. Wobei ich sagen muss, im laufenden Asylverfahren vom Anspruch ein Mieterwechsel gehört halt zum Job eines auf einen WBS und damit vom Zugang zu Eigentümers oder einer Hausverwaltung. Das Sozialwohnungen aus. Das Gleiche gilt für kann auch unabhängig von der Aufenthalts- Menschen, deren Aufenthaltsbewilligung dauer passieren. weniger als elf Monate umfasst. Ein Asylverfahren dauert ja oft mehrere Woran liegt es, dass sich die Forderung nach Jahre. Solange müssen die Menschen in den einem WBS für Geflüchtete derzeit politisch meisten Fällen in Gemeinschaftsunterkünften nicht durchsetzen lässt? bleiben. Außerdem kann es zu Fehlern bei BEA: Der Staatssekretär für Wohnen, Sebastian den Einträgen in die Ausweispapiere kommen. Scheel, argumentiert beispielsweise, dass Ich hatte in der Beratung eine Familie mit aktuell schon 30 000 Sozialwohnungen in einem behinderten Kind. Die Mutter hatte Berlin fehlen. Da könne man den sozialen eine zweijährige Aufenthaltsgenehmigung, der Wohnraum nicht für eine weitere anspruchs- Mann allerdings nur eine einjährige, weil sein berechtigte Gruppe, nämlich Geflüchtete im Ausweis verloren gegangen war und die Aus- Asylverfahren, öffnen. Das gäbe schlechte länderbehörde dann statt zwei Jahren nur noch Stimmung. Die Tatsache, dass es einen deut- ein Jahr in den neuen Ausweis geschrieben lichen Mangel an Sozialwohnungen gibt, darf hat. Deshalb wurde der WBS abgelehnt. Die jedoch kein Argument dafür sein, eine bedürf- Sachbearbeiter*innen ziehen sich immer auf tige Gruppe vom Anspruch auszuschließen. das Argument zurück: »Es muss ein Aufenthalt Einen offensichtlichen Mangel fair zu verwal- von mindestens elf Monaten gegeben sein.« ten stellt eine große soziale ­Verantwortung Dabei genießt die Familie in Deutschland seit dar. Transparente Vergabe­kriterien sind hier fünf Jahren subsidiären Schutz. Es gibt viele zentral, um zu verhindern, dass Betroffene ähnliche Geschichten. Widersprüche reichen sich gegeneinander ausgespielt fühlen. hier teils bis zur Sozialstadträtin – ohne Erfolg, Der Flüchtlingsrat Berlin hat hier egal in welchem Bezirk. Daher fordern wir, Praxisbeispiele aus anderen Bundesländern dass Geflüchtete unabhängig vom Aufenthalts- vorgestellt, die Geflüchteten weit mehr status einen WBS erhalten. Damit könnten Möglichkeiten geben. Zum Teil werden Woh- sie in integrierte Wohnprojekte in der Mitte nungen dann vergeben, wenn eine positive der Gesellschaft einziehen und müssten nicht Bleibeperspektive besteht. Wenn etwa eine weiter in separierten Einrichtungen wohnen. Arbeitserlaubnis vonseiten der Ausländerbe- REMZI: Würden die kommunalen Wohnungs- hörde erteilt wird, dann reicht dies, damit die/ baugesellschaften hier ihre Vergabepraxis der zuständige Sachbearbeiter*in dem Umzug

72 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN in eine eigene Wohnung zustimmen kann. aufbringen können. Wir suchen deshalb das © Oliver Feldhaus Das ist eine ganz praktikable Sache. Gespräch mit Genossenschaftsmitgliedern, REMZI: Ich finde auch: Transparenz ist sehr um dafür zu werben, auch Neuberliner*innen wichtig. Wir müssen gerade in Gesprächen in diese Projekte einzubinden. Mit Unterstüt- mit den unterschiedlichen Bedarfsgruppen zung der Genossenschaft Ostseeplatz konnten betonen, dass sie im selben Boot sitzen und beispielweise 23 geflüchtete Menschen in ein sich nicht gegeneinander ausspielen lassen Gemeinschaftsprojekt, einen Neubau nach dürfen. Und: Wir müssen allen passgenaue neuestem Standard, in der Lynarstraße im Angebote machen. Wedding einziehen. Sie waren auch an dem zweijährigen Planungsprozess beteiligt. Au- Gibt es weitere Handlungsfelder, um für ßerdem wäre es wichtig, die Genossenschaft- Geflüchtete bessere Bedingungen auf dem sidee und -struktur auch unter Geflüchteten Wohnungsmarkt zu schaffen? publik zu machen. Städtischer Wohnungsbau, BEA: Mein Schwerpunkt sind gerade Genos- so wie er derzeit organisiert ist, ist langfristig senschaften. Wir versuchen, zusammen keine Lösung. Wir brauchen wieder einen mit Stiftungen einen Unterstützungsfond rechtlich abgesicherten und kontrollierten zu schaffen, um Geflüchtete auch in neue gemeinnützigen Wohnungsbau (vgl. Kuhn in Genossenschaftsprojekte und frei finanzierte diesem Heft). Neubauprojekte integrieren zu können. Der Zugang ist leider an hohe finanzielle Ein- Das Gespräch führten Jan Drunkenmölle lagen gebunden, die diese Menschen nicht und Julia Schnegg.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 73 WOHNEN, WOHNEN, WOHNEN WARUM ES EINE REBELLISCHE, LINKE, SOLIDARISCHE STADTPOLITIK BRAUCHT

STEFAN THIMMEL Wem gehört die Stadt? Wem gehört Ham- burg? Wem gehört Berlin? Wem gehört Leipzig? Wem gehört Konstanz? Nachdem Anfang der 2000er Jahre viel über schrump- fende Städte, Leerstandsprobleme, Rückbau und ökologische Fragen diskutiert wurde, sind seit einigen Jahren steigende Mieten, Wohnungsmangel, Verdrängung und Obdach- losigkeit zum drängenden Problem geworden. Anfang April 2019 haben allein in Berlin 35 000 Menschen gegen den Mietenwahnsinn protestiert. Die Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« nutzte die spektakuläre Demo als Auftakt für ihr Volksbegehren zur Vergesellschaftung der Berliner Bestände großer Immobilienkonzerne. Denn es geht nicht nur um bezahlbare Wohnungen, um Wohnungsneubau im Allgemeinen und sozialen Wohnungsbau im Besonderen. Es ist die Eigentumsfrage, die gegenwärtig auf der Agenda steht. Kein Wunder, denn die Probleme sind gravierend. Alarmierend sind die absoluten

74 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Zahlen, aber auch der Trend: Innerhalb von Mit rund 310 000 fehlenden Wohnungen in nur einem Jahr stiegen die anteiligen Wohn- diesem Segment steht Berlin an der Spitze kosten in Berlin von 40 auf 46 Prozent, das (Holm et al. 2018). Es werden viel zu wenige heißt, durchschnittlich wird fast die Hälfte Sozialwohnungen gebaut, aktuell nur 26 000 des verfügbaren Einkommens für Wohnkos- im Jahr, es müssten über 80 000 sein. Aber ten ausgegeben. Dabei ist für Expert*innen nicht nur die Menge stellt ein Problem dar – unumstritten, dass die Bruttokaltmiete nicht es fehlt ein schlüssiges Konzept (vgl. Prognos mehr als 30 Prozent des Nettoeinkommens AG 2019 und Kuhn in diesem Heft). betragen sollte. In größeren Städten sind die Gleichzeitig fallen jährlich Zehntausende Mieten besonders hoch. 2018 mussten bei Sozialwohnungen aus der Mietpreisbindung Neuvermietungen im Mittel 11,57 Euro/m2 und werden auf dem sogenannten freien gezahlt werden. Aber das Wachstum der Markt angeboten, nicht selten als Eigentums- Neuvertragsmieten fiel seit 2010 in keiner der wohnungen, ob mit oder ohne Sanierung (vgl. Städte so hoch aus wie in Berlin. Die Neuver- Holm in diesem Heft). Infolge sind innerhalb tragsmieten stiegen bis Ende 2018 nominell um 73 Prozent. Es gibt kaum mehr zu vermie- tende Wohnungen, die Leerstandsquote in den STEFAN THIMMEL ist Referent für Wohnungs- und großen Städten beträgt 3,6 Prozent. Stadtpolitik im Institut für Gesellschaftsanalyse der Dass dieses Problem nicht allein durch Rosa-Luxemburg-Stiftung. massenhaften Neubau gelöst werden kann, dämmert mittlerweile auch denjenigen, die noch zu Beginn des Jahres 2019 darin das von nur sechs Jahren die durchschnittlichen Allheilmittel sahen. »Wenn man die Mieten Quadratmeterpreise für Bauland in den sieben im Griff haben will, muss man bauen, bauen, größten Städten Deutschlands von 600 auf bauen – ob es Frau Lompscher gefällt oder 1 120 Euro gestiegen. Selbst in mittelgroßen nicht.« So der Fraktionschef der SPD im Städten gingen die Preise nach oben, von 240 Berliner Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, in auf 500 Euro. Eine besondere Zahl kursiert der Fraktionsklausur vom Januar 2019. Der inzwischen in Bezug auf München: Dort Markt reguliert das Problem aber nicht. Die haben sich die Baulandpreise seit 1950 um Preise sinken nicht, obwohl das Angebot 39 000 Prozent verteuert (Fabricius 2019). In wieder leicht ansteigt. Worauf kritische Berlin sind die Preise für bebaute Grundstü- Stadtforscher*innen schon seit Jahren cke zwischen 2008 und 2017 von 1 700 Euro hinweisen: Die meisten der neu gebauten auf fast 4 500 Euro/m2 gestiegen (vgl. Heinz/ Wohnungen sind für Normalverdienende Belina 2019 und Heinz in diesem Heft). und erst recht für Geringverdienende nicht In den 2000ern hieß es, »Deutschland bezahlbar. 1,9 Millionen Wohnungen, die ist gebaut«. Das hat nie gestimmt und stimmt für Menschen mit niedrigem Einkommen heute weniger denn je. Es wird ausgegrenzt erschwinglich sind, fehlen in Deutschland. und verdrängt, nicht mehr an den sprich-

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 75 Beide Bilder: © Oliver Feld­haus wörtlichen Stadtrand, denn auch dort gibt relle Events, gründen Informations­portale, es keinen signifikanten Leerstand mehr und recherchieren Besitzverhältnisse und setzen kaum noch bezahlbare Wohnungen, sondern kommunale Politik und Landesregierungen ins Umland, in prekäre Wohnverhältnisse, unter Druck. Zumindest in den Großstädten Verschuldung und Wohnungslosigkeit. »Es ist das NIMBY-Phänomen (Not in my backyard gibt kein Grundrecht auf Wohnen in der – Nicht in meinem Hinterhof) heute weniger Stadtmitte!«, so ein Kommentar im Berliner präsent als die rebellische, linke und solida- Tagesspiegel vom 4. Februar 2013. rische Aktion. In allen größeren Städten gibt es lokale Mieterinitiativen, in Berlin beispiels- NICHT UNWIDERSPROCHEN weise Bizim Kiez,1 Kotti & Co, Stadt von unten Aber es tut sich etwas. Vor allem in den oder das Bündnis Zwangsräumung stoppen, Städten, dort, wo auch die Probleme wohnen. um nur einige zu nennen. Sie alle setzen sich Der Verdrängung, der neben den unteren jetzt gegen die aktuelle Wohnungspolitik zur Wehr, auch mittlere Einkommensgruppen ausgesetzt entwickeln Alternativen und machen mit sind, widersetzen sich die Betroffenen zuneh- eindrucksvollen Aktionen auf Immobilienspe- mend. Die Menschen wollen bleiben. In den kulation, Verdrängung und Luxussanierungen Innenstädten, in den Außenbezirken, in ihren aufmerksam. Sie erzählen auch die Geschich- Kiezen und in ihren Vierteln. Sie verweigern ten der betroffenen Menschen. sich Räumungsbeschlüssen, schließen sich Ende Februar 2019 kamen mehrere als Hausgemeinschaften zusammen, führen Hundert Menschen aus diesen Initiativen, erfolgreiche und manchmal auch erfolglose der Berliner Landesregierung, der Linkspartei Kämpfe, organisieren politische und kultu- sowie kritische Wissenschaftler*innen bei

76 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN »RLS-Cities: Rebellisch.Links.Solidarisch«, der werden), ihre Mieten seit einer 2017 geschlos- wohnungspolitischen Konferenz der Rosa- senen Kooperationsvereinbarung nur noch um Luxemburg-Stiftung, in Berlin zusammen. Sie maximal zwei Prozent jährlich erhöhen. Bei diskutierten gemeinsam über eine progressive privaten Vermietern greift eine Kappungsgren- Stadtpolitik und eine Art Halbzeitbilanz nach ze von maximal 15 Prozent in drei Jahren. Dazu zwei Jahren Mitte-links-Regierung. sorgen inzwischen 57 Milieuschutzgebiete Die Veränderungen gehen langsam. Aber dafür, dass preistreibende Luxussanierungen nach gut zwei Jahren rot-rot-grüner Wohnungs- in 460 000 Wohnungen schwieriger geworden politik kommt in Berlin durchaus etwas in Be- sind. Durch das kommunale Vorkaufsrecht wegung: Der im Mai 2019 veröffentlichte neue oder Abwendungsvereinbarungen wurden Mietspiegel weist erstmals seit Langem einen 2018 Mieter*innen in 3 050 Wohnungen vor gebremsten Mietenanstieg aus. Die Mieten in Verdrängung geschützt. der Stadt stiegen mit 2,5 Prozent nur noch halb Für einen radikalen Umbau der Städte so schnell wie bei der letzten Erhebung von vor reicht das noch lange nicht. Die verschärfte zwei Jahren, als es noch 4,8 Prozent jährlich Lage hat aber den Diskurs nach links verscho- waren. Auch einzelne Maßnahmen der linken ben. Dies spiegelt sich auch im Beschluss des Wohnungs- und Stadtpolitik wirken mittler- Berliner Landesverbands der LINKEN vom weile: So dürfen die öffentlichen Wohnungs- 11. Mai 2019. Der Leitantrag »Rebellische baugesellschaften, die aktuell in Berlin einen Stadtpolitik: in Berlin und in einem europäi- Bestand von 300 000 Wohnungen verwalten schen Netzwerk der Metropolen« wurde mit (weitere 100 000 Wohnungen sollen in den großer Mehrheit angenommen. Die Kern- nächsten sechs Jahren gebaut und erworben forderungen von stadtpolitischen Initiativen

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 77 und Mietervereinen zum Beispiel zur Boden- DIE ENTEIGNUNGSDEBATTE MACHT MUT – politik, zu einem Mietendeckel oder zu einer AUCH INTERNATIONAL Vergesellschaftung sind darin aufgenommen.2 Schon 2013 forderte David Harvey, der britisch-US-amerikanische Sozialtheoretiker ZENTRAL: DIE STÄDTISCHE EBENE und Stadtforscher, in seinem Buch »Rebelli- Dass sich etwas bewegt, liegt auch daran, dass sche Städte« eine urbane Revolution gegen sich immer mehr Menschen lokal organi- die »Akkumulation durch Enteignung«. In sieren und sich wehren. Diese klassen- und Berlin soll jetzt »zurückenteignet« werden. barrierenüberwindende politische Praxis Es herrscht große Aufregung. Die Zustim- nimmt zu und schafft Verbindlichkeiten, mungswerte schwanken hin und her, mal ist wirkliche Vernetzung und neue Bündnisse. eine Mehrheit der Berliner und Berlinerinnen Die soziale Dynamik und das plurale Mitei­ dafür, mal dagegen. Aber vor allem durch die nander, das sich in Häusern und Kiezen bildet Medienpräsenz und -resonanz der Kampagne und konsolidiert, deren Bewohner*innen »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« ist unterschiedslos alle den sprichwörtlichen Berlin stadtpolitisch auch international zu Brief erhalten haben, in dem der Eigentümer- einer Referenz geworden. Initiativen in Barce- wechsel angekündigt wird, sind ein neues lona, London und New York sprechen in den Phänomen. Hier vor Ort, auf dieser lokalen höchsten Tönen über die aktuelle Entwicklung Ebene entsteht auch Druck auf die Verwaltun- in Berlin und betonen deren Bedeutung für gen. Wie gut oder schlecht die Zusammen- ihre eigenen lokalen Kämpfe. Und Leilani arbeit von Initiativen, Hausgemeinschaften Farha, Rechtsanwältin aus Toronto und gegen- und Bündnissen mit den verschiedenen wärtig Sonderberichterstatterin der Vereinten Verwaltungsebenen funktioniert, ist ein Nationen für angemessenes Wohnen, zeigte Schlüsselmoment für eine erfolgreiche sich Anfang Mai 2019 bei einem Berlin- rebellische Stadtpolitik. Es entwickelt sich ein Besuch auf Einladung der Rosa-Luxemburg- verändertes Verhältnis von Bewegungen und Stiftung begeistert. Initiativen, linken Parteien und Regierungen. Dabei sind Enteignungen alltägliche Die kommunale, die städtische Ebene hat Praxis, sie stehen im Grundgesetz, sind Teil international enorm an Bedeutung gewonnen, der öffentlichen Daseinsvorsorge. Praktiziert sowohl was den administrativen Spielraum als werden sie bis dato aber nur im Straßenbau auch was die Mobilisierungsfähigkeit betrifft. und im Tagebau, nicht aber beim Wohnen. Im Vor wenigen Jahren wurde hinsichtlich der Mai 2019 liefen 200 Enteignungsverfahren kontroversen mieten- und wohnungspoliti- bundesweit, 102 davon, um Boden für Auto- schen Themen noch oft achselzuckend und bahntrassen und 98, um Platz für Bundesstra- scheinbar ohnmächtig auf die bundespoliti- ßen zu schaffen. Dass Wohnen kein Luxusgut sche Ebene verwiesen. Inzwischen entsteht sein darf, ist inzwischen in aller Munde. Woh- auf der lokalen und kommunalpolitischen nen darf aber auch kein Spekulationsgut und Ebene tatsächlich soziale Gegenmacht. damit auch keine Ware sein. Sechs Jahre nach

78 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN dem Erscheinen von David Harveys Buch entierten Wohnungsbaus und von Sozialwoh- liegt jetzt auch in Deutschland ein Hauch nungen, Diskriminierungsverbote, Boden- von Rebellion in der städtischen Luft. Die fonds und Community Land Trusts. Vieles Situation wird von den finanzmarktorientier- liegt auf Schreib- und Zeichentischen, noch ten Wohnungsunternehmen durchaus ernst mehr in Schubladen. Weiteres kann erfunden genommen, zu denen nicht nur die berühmt- werden. Und dann kommen Städte wie Berlin berüchtigte Deutsche Wohnen, Vonovia oder einer rebellischen, linken und solidarischen Blackstone gehören, sondern beispielsweise Stadtpolitik näher, sodass es irgendwann auch die dänische Pensionskasse PFA.3 Mi- tatsächlich authentisch heißen kann: Und die chael Voigtländer, Immobilienökonom beim Stadt gehört Euch. Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln, bezeichnet die Debatte um Enteignungen großer Immobilienunternehmen als »Tabu- bruch«. Es sei »erschreckend, dass die Politik LITERATUR Fabricius, Michael, 2019: Bau-Dilemma belastet deutsche sie nicht viel entschiedener zurückweist«, so Mieter, in: Die Welt, 10.5.2019 Voigtländer im Handelsblatt (Kersting 2019). Heinz, Werner/Belina, Bernd 2019: Die kommunale Boden- frage. Hintergrund und Lösungsstrategien, hrsg. von Nimmt man die eigenen Beschlüsse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin, ernst, gehört zu einer rebellischen Stadt- www.rosalux.de/publikation/id/40013/die-kommunale- bodenfrage/ politik auch das Bekenntnis: Ja, wir wollen Holm, Andrej et al., 2018: Wie viele und welche Wohnungen Investoren abschrecken! 2017 gab es mit 240 fehlen in deutschen Großstädten? Die soziale Versor- gungslücke nach Einkommen und Wohnungsgröße, Milliarden Euro einen neuen Umsatzrekord Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, www.boeckler.de/ am Immobilienmarkt, der wiederum die Im- pdf/p_fofoe_WP_063_2018.pdf Kersting, Silke, 2019: »Die Enteignungsdebatte ist ein echter mobilien- und Bodenpreise extrem anheizt. Tabubruch« – IW-Ökonom zum Volksbegehren in Ber- Neubauprojekte mit Eigentumswohnungen lin, in: Handelsblatt, 5.4 2019 Prognos AG, 2019: Wer baut Deutschland? Inventur zum zu 5 000 Euro pro Quadratmeter sind keine Bauen und Wohnen 2019. Studie zum Wohnungsbau- Tag 2019, www.prognos.com/publikationen/alle-publi- Seltenheit, aktuell hält in Berlin ein Objekt kationen/908/show/127c478196ff919b2e8772ae365b mit 7 500 Euro pro Quadratmeter an der East ba56/ Side Gallery den Rekord. Solche Investitionen braucht kein Mensch. Dafür aber umso 1 Bizim Kiez ist eine seit 2015 bestehende offene Initiative mit Plattformcharakter und projektbezogenen Arbeitsgrup- mehr eine Politik, die das Recht auf Wohnen pen. Bizim heißt »unser« auf Türkisch. Bizim Kiez wurde umsetzt. Die Instrumente dafür liegen im gegründet von solidarischen Nachbar*innen aus Protest gegen die Kündigung des familiengeführten Obst- und Prinzip bereit. Sie heißen: Mietendeckel Gemüseladens Bizim Bakkal im Kreuzberger Wrangelkiez. und Mietpreisbremse, Vorkaufsrecht und 2 Vgl. https://dielinke.berlin/partei/parteitag/beschluesse/ det/news/rebellische-stadtpolitik-in-berlin-und-in-einem- Milieuschutzsatzungen, Spekulations- und europaeischen-netzwerk-der-metropolen/. Zweckentfremdungsverbot, Transparenzre- 3 Wer in Berlin welche Wohnungsbestände besitzt, findet sich in der im Mai 2019 erschienenen Studie »Profit- gister und Verbot von Share-Deals, Verbot maximierer oder verantwortungsvolle Vermieter? Große von Zwangsräumungen, staatlich regulierte Immobilienunternehmen mit mehr als 3 000 Wohnungen in Berlin im Profil« von Christoph rautvetterT und Sophie Neubauten, Förderung des gemeinwohlori- Bonczyk, Hg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019 79 DÄMMUNG OHNE VERDRÄNGUNG WARUM KLIMASCHUTZ UND SOZIALE WOHNUNGSPOLITIK ZUSAMMENGEHÖREN

GRETA PALLAVER Für den Klimaschutz ist Gebäudesanierung ein wichtiges Instrument. Sie ist absolut notwendig, um die Ziele des Pariser Abkom- mens und die deutschen Klimaschutzziele zu erreichen. Der Gebäudebereich ist für ein Drittel der energiebedingten CO2-Emissionen sowie für rund 35 Prozent des Endenergiever- brauchs verantwortlich, von denen 28 Prozent auf Raumwärme entfallen (DUH 2014). Da zwei Drittel des Gebäudebestands private Wohnhäuser sind, ergibt sich hier besonderer Handlungsbedarf. Laut Klimaschutzplan der Bundesrepublik müsste der Gebäudebestand bis 2050 nahezu emissionsfrei werden. Der Primärenergiebedarf der Gebäude müsste dafür um 80 Prozent gesenkt werden. Die Art, in der die Gebäudesanierung heute umgesetzt wird, hat aber in vielen Fällen unsoziale Folgen. Die Vermieter*innen dürfen die Kosten für Modernisierungen, zu denen auch energetische Sanierungen gehören, auf die Miete umlegen. Auf diese Weise können die Maßnahmen als Instrument

80 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN der Mietsteigerung missbraucht werden. Die durchaus. Zu den unterschiedlichen Wär- hohen Kosten für die Mieter*innen führen zu metechnologien gehören etwa Solarthermie, Verdrängung und verschärfen den Mangel an Wärmepumpen, Geothermie, Power-to-Heat bezahlbarem Wohnraum. Zudem bietet dieses oder Biomasse. Ihr Einsatz ist vom Standort Modell den Eigentümer*innen wenig Anreize, und Zustand der Gebäude abhängig. hochwertige und energieeffektive Maß- Die Nutzung von Wärme aus regenera- nahmen zu ergreifen: Ob die Maßnahmen tiven Energieträgern setzt aber technische tatsächlich Energie einsparen oder nicht, spielt Umstellungen und somit Baumaßnahmen für die Mieterhöhung keine Rolle und muss voraus. So benötigen etwa Heizsysteme, die auch nicht im Nachhinein überprüft werden. erneuerbare Wärme nutzen, ein niedrigeres Dass energetische Sanierung als Mittel Temperaturniveau als solche, die fossile zur Profitsteigerung missbraucht wird, ist Brennstoffe verwenden. Darum muss bei also nicht nur sozial ungerecht, sondern auch einer Umstellung baulich in die Gebäudehülle destruktiv für den Klimaschutz. Nicht zuletzt eingegriffen werden. Eine angemessene Ge- deshalb, weil es in den Augen vieler Betrof- bäudeeffizienz ist notwendig, um die Palette fener das wichtige Anliegen der Gebäude­ sanierung diskreditiert und ökologische und GRETA PALLAVER ist Politikwissenschaftlerin und soziale Frage in einen Gegensatz bringt. Dies Geografin und beim Berliner Energietisch aktiv. ist fatal – denn klimagerechtes Wohnen ist ein zentrales Element einer solidarischen Stadt, gerade angesichts der Energiearmut vieler an verschiedenen, insbesondere dezentralen einkommensschwacher Haushalte. Damit ist Technologieoptionen für erneuerbare Wärme die Gebäudesanierung ein Feld, wo exempla- einsetzen zu können (vgl. ifeu et al. 2018). Die risch Ansätze entwickelt werden können, die Energiewende ist folglich ohne Änderungen zeigen, dass Klimaschutz und soziale Gerech- im Gebäude- und Wohnungsbereich kaum tigkeit zusammengehören. denkbar. Es müssen jedoch sozialräumliche Folgen und Dimensionen sozialer Ungleich- WARUM ENERGETISCH SANIERT WERDEN MUSS heit mitgedacht werden. Die Energiewende Dass Gebäude dringend energetisch saniert kann und muss auch mit der Bekämpfung werden müssen, gilt nicht nur aufgrund der von Energiearmut einhergehen. hohen Einsparpotenziale. Alle anderen Elemen- te der Energiewende sind eng damit verbun- GEBÄUDESANIERUNG UND ENERGIEARMUT den, allen voran der Ausstieg aus der Kohle, Energiearmut betrifft Haushalte, die einen perspektivisch aber auch der Ausstieg aus dem zu hohen Anteil ihres Einkommens für den Gas. Das betrifft vor allem die Umstellung der Bezug von Energie (Wärme, Warmwasser Wärmeversorgung von fossilen auf regenerative und Licht) ausgeben müssen. Energiearmut Energieträger. Erneuerbare Alternativen zu kann zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen Heizöl und Gas für den Wärmebereich gibt es und Krankheiten führen, vor allem in den

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 81 Wintermonaten, wenn die Wohnung nicht die Frage, wer für die Kosten der Maßnahmen ausreichend beheizt wird. Die Heizkosten verantwortlich ist und wer davon profitiert: werden oft »zweite Miete« genannt, denn die Vermieter*innen, denen die Wohnung allein für ­Raumwärme müssen private gehört, oder die Mieter*innen, die darin leben? Haushalte ­ungefähr eine 13. Monatsmiete Aktuelle gesetzliche Grundlage ist Paragraf zahlen (vgl. Michelsen/Ritter 2017). Je nach 559­ des Bürgerlichen Gesetzbuches, wonach Berechnungen sind in Deutschland zwischen Vermieter*innen bzw. Eigentümer*innen bis 7,7 und 25,1 Prozent der Haushalte von zu 8 Prozent (bis Dezember 2018 waren es bis Energiearmut betroffen. Dabei handelt es sich zu 11 Prozent) der anfallenden Kosten bei Mo- fast ausschließlich um Menschen, die zur dernisierungen auf die Miete umlegen dürfen. Miete wohnen (BPIE/RAP 2018). Die man- Sanierungsmaßnahmen zählen zu solchen gelnde Energieeffizienz von Gebäuden zieht (energetischen) Modernisierungen. steigende Energieausgaben nach sich und Die Umlagefähigkeit wurde in den 1970er ist eine wichtige Ursache von Energiearmut. Jahren eingeführt, als die Zinsen viel höher Ein sanierter Gebäudebestand schützt vor waren. Heute sind die Zinsen sehr niedrig, steigenden Energiepreisen. Aktuell sind die die Umlage ist jedoch weiterhin sehr hoch. Erdgaspreise (und 50 Prozent der Haushalte Das Modell der Modernisierungsumlage heizen mit Gas) eher niedrig, doch sie sind wird durch die Annahme gerechtfertigt, dass Schwankungen ausgesetzt (Stede et al. 2018). Sanierungen dank der sogenannten Warmmie- Die energetische Gebäudesanierung ist tenneutralität zu keiner zusätzlichen Belastung also nicht nur ein wichtiger Pfeiler für die von Mieter*innen führen. Durch die einge- Wende in der Klimaschutz- und Energiepo- sparte Energie, so das Versprechen, würden litik. Sie reduziert zusätzlich die Energieaus- in der Zukunft geringere Nebenkosten (Heiz- gaben und die Risiken von Energiearmut für und Warmwasserkosten) anfallen, was die Mieter*innen und sorgt für einen höheren Mieterhöhung ausgleichen würde. Schlussend- Wohnkomfort. Zumindest in der Theorie. In lich, so das Argument, würden Mieter*innen der Umsetzung zeigen sich allerdings große von höherem Wohnkomfort und geringeren Diskrepanzen zu diesem Anspruch. Heizkosten profitieren und Vermieter*innen würden zum Sanieren motiviert. MOTOR DER VERDRÄNGUNG? Die Rechnung der Warmmietenneu­tralität Dass die Gebäudesanierung in ihrer jetzigen geht in den meisten Fällen allerdings nicht auf, Form weder sozial noch klimagerecht ist, liegt vor allem dann nicht, wenn die Umlagemög- an den wirtschaftlichen und wohnungspoliti- lichkeit voll ausgeschöpft wird (Wissenschaftli- schen Rahmenbedingungen und der Art ihrer che Dienste 2018). In vielen Fällen stehen die Ausführung. Das zeigt sich bei der Verteilung Mieterhöhungen in keinem Verhältnis zu den der Kosten, die oft unter dem Schlagwort »Ver- eingesparten Nebenkosten (Berliner Mieter- mieter-Mieter-Dilemma« oder »Investor-Nut- verein e. V. 2017). Denn die Kosten können zer-Dilemma« diskutiert wird. Zentral ist dabei unabhängig von den erwarteten oder tatsäch-

82 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN lichen Energieein- sparungen umgelegt werden. Das bedeu- tet, dass selbst bei schlecht gemachten Maßnahmen, die kaum Energieein- sparungen bringen, die volle Umlage bezahlt werden muss. Durch diese mietrechtlichen Rahmenbedin- gungen werden keine Anreize für sinnvolle und gut ausgeführte Maßnahmen was zu einer weiteren Reduktion des ohnehin © Oliver Feldhaus geschaffen. Stattdessen werden aus Gründen knappen preiswerten Wohnungsbestands der Wirtschaftlichkeit gern die teuersten Mittel führt. ergriffen. Für die Mieterhöhung spielen die Diese rein profitorientierte Form von energe- tatsächlichen Einspareffekte von Modernisie- tischer Sanierung ist aber nicht nur unsozial, rungsmaßnahmen keine Rolle – eine Kontrol- sondern auch problematisch für den Klima- le der Durchführung oder eine Beurteilung schutz. Selbst höhere Sanierungsraten sagen der Maßnahmen nach Fertigstellung ist noch nichts über die Qualität der Sanierung gesetzlich nicht vorgeschrieben. Außerdem aus, wenn diese nicht geprüft wird. Es bleibt die Mieterhöhung auch dann beste- herrscht ein enormer Mangel an empirischen hen, wenn die Baukosten längst amortisiert Daten und Auswertungen zur Anzahl und wurden. Qualität von Gebäudesanierungen. Die Mietererhöhungen verschärfen Die Liste der Probleme ließe sich weiter besonders in städtischen Ballungsräumen fortsetzen: Vermieter*innen versäumen mit angespannten Wohnraumsituationen die jahrelang die Instandsetzungen der Gebäude Wohnungsnot. Viele Menschen können sich (die sie selbst bezahlen müssten), um dann weitere Mietsteigerungen nicht leisten und aufwendig zu modernisieren und alle Kosten sind gezwungen auszuziehen. Die Wohnun- auf die Miete umzulegen, und sie nehmen gen werden dann teurer neuvermietet. Ein Luxussanierungen vor, die mit Klimaschutz von vielen Vermieter*innen gewünschter nichts zu tun haben. Zusätzlich fehlt es an Effekt. Auf diese Weise erhöhen sich zudem Fachkräften zur qualitativen Ausführung von die Durchschnittsmieten und der Mietspiegel, Sanierungen. Hinzukommen eine unüber-

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 83 sichtliche Förderlandschaft und komplexe nahmen wie Sanierungen oder Grünflächen- ordnungsrechtliche Anforderungen. management mit negativen sozialen Folgen Es gibt durchaus auch Positivbeispiele: werden als »ökologische« bzw. »grüne« gut ausgeführte energetische Sanierungen Gentrifizierung bezeichnet. Im Falle von mit erwiesenen Energieeinsparungen und Gebäudesanierung wird von einer »energie- Umrüstungen auf erneuerbare Wärmetechno- bedingten« oder »energetischen« Gentrifi- logien, die Bestandsmieter*innen weiterhin zierung gesprochen: Die Mieterhöhungen zu angemessenen Mieten wohnen lassen. nach einer Sanierung können sich tendenziell Sie werden oft von Genossenschaften und nur einkommensstärkere Haushalte leisten. öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften als Selbst von der Energieeinsparung profitie- Modellprojekte umgesetzt. Dabei wird auf die ren finanziell schwächere Haushalte am volle Umlage auf die Miete verzichtet, zudem wenigsten: Sie haben in der ­Regel niedrigere werden öffentliche Fördergelder eingesetzt. Energieausgaben, aber müssen insgesamt Eine solche Form der energetischen Sanierung mehr bezahlen, als sie durch den geringeren und Instandhaltung zu verallgemeinern und Energiebedarf einsparen. Wenn sie durch die zu verstetigen, verlangt jedoch eine gesell- Gebäudesanierung gezwungen sind, in eine schaftliche Umverteilung von Einkommen und billigere, unsanierte Wohnung zu ziehen, Ressourcen. Sie ist damit Teil einer weiterrei- trägt diese direkt zum Austausch von Bevölke- chenden sozialökologischen Transformation. rungsgruppen bei (Großmann et al. 2014). Andrej Holm (2011) hat dieses Phäno- EIN ÖKOSOZIALES PARADOX men ein »ökosoziales Paradox« genannt. Dass ein klimapolitisches Instrument, Er bezieht sich auf umweltpolitische und das die Energiearmut bekämpfen und die vorgeblich »nachhaltige« Maßnahmen, die Energiewende stützen soll, solche negativen durch ihre Einbettung in die kapitalistische Folgen hat, kann nur im Kontext aktueller Logik des Immobilienmarktes soziale Phänomene wie Gentrifizierung und Ver- Ungleichheiten in der Stadt verstärken. drängung verstanden werden. Gentrifizierung Verdrängungseffekte werden im Namen des bezeichnet die Verdrängung einkommens- Klimaschutzes legitimiert und Kritik wird mit schwächerer durch wohlhabendere Haushalte Verweis auf den Umweltschutz abgewiesen. in meist innerstädtischen Stadtteilen. Sie Gesellschaftliche Verantwortung wird somit beschreibt einen Aspekt sozialer Ungleichheit abgegeben, soziale Härten werden auf »den im Rahmen der neoliberalen Stadtentwicklung Klimaschutz« geschoben. und der Verwertungslogik. Aber nicht die Klimaschutzmaßnahmen Klima- und umweltpolitische Instrumen- an und für sich verursachen die Verdrän- te, die gewollt oder ungewollt Konsequenzen gungseffekte, sondern ihr marktwirtschaft- für die sozialräumliche Zusammensetzung licher Rahmen und ihre Einbettung in die von Stadtteilen haben, können als eine Form neoliberale, profitorientierte ohnungspo-W der Gentrifizierung gedeutet werden. Maß- litik. Denn auch ohne Sanierung kommt es

84 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN zu Mietsteigerungen und Gentrifizierung positiver Nebeneffekt von wertsteigernden (vgl. Holm 2016). Untersuchungen legen Maßnahmen gelten. Deshalb ist es notwen- nahe, dass Sanierungen an Orten ohne dig, Klimaschutz und das Recht auf Wohnen starken Wohnungsmangel nicht zu großen zusammenzudenken und für eine sozial und Mieterhöhungen und Verdrängungen führen ökologisch gerechte Stadt zu kämpfen. (Hentschel/Hopfenmüller 2014). Vor allem LITERATUR dort, wo Wohnraum ohnehin schon knapp Berliner Mieterverein e. V., 2017: Mieterhöhungen nach ist, zeigen sich Verdrängungseffekte. So gibt Modernisierung und Energieeinsparung, www.berliner- mieterverein.de/downloads/pm-1725-modernisierung- es umgekehrt in Gebieten mit genügend bmv-kurzstudie.pdf erschwinglichem Wohnraum auch weniger Buildings Performance Institute Europe (BPIE)/Regulatory Assistance Project (RAP), 2018: Energetische Mindest- Sanierungen, da die Möglichkeiten zur wirt- standards für eine sozial gerechte Wärmewende. Policy schaftlichen Ertragssteigerung fehlen. Hier Factsheet, www.bpie.eu/wp-content/uploads/2018/09/ Fuel-Poverty-DE_05_Final.pdf zeigt sich wieder: Es geht in vielen Fällen gar Deutsche Umwelthilfe (DUH), 2014: Energetische Gebäudesa- nicht um den Klimaschutz. Wo der profitable nierung – Wider die falschen Mythen (Teil 2), www.duh.de/fileadmin/user_upload/download/Projektin- Anreiz fehlt, wird kaum saniert. formation/Energieeffizienz/Gebaeude/Mythen_Energe- Es besteht die Gefahr, dass soziale und tischeGebäudesanierung_201014.pdf Großmann, Katrin/Bierwirth, Anja/Bartke, Stephan/Jensen, ökologische Argumente gegeneinander Thorben/Kabisch, Sigrun/von Malottki, Christian/Mayer, ausgespielt werden – auf Kosten vieler und Ines/Rügamer, Johanna, 2014: Energetische Sanierung: Sozialräumliche Strukturen von Städten berücksichtigen, im Interesse weniger. Doch klimagerechtes in: GAIA 23/4, 309–312 Wohnen ist wichtig und gehört genauso zu Hentschel, Armin/Hopfenmüller, Julian, 2014: Energetisch modernisieren bei fairen Mieten? Ein Gutachten von einer sozial gerechten Stadt wie das Recht auf Armin Hentschel und Julian Hopfenmüller, Band 37 der Wohnraum für alle. Die Gebäudesanierung Schriftenreihe Ökologie, hg. v. d. Heinrich-Böll-Stiftung, www.boell.de/sites/default/files/endf_energetisch_moder- als ein notwendiger Schritt für den Kohleaus- nisieren_bei_fairen_mieten-web.pdf Holm, Andrej, 2011: Ein ökosoziales Paradoxon. Stadtumbau stieg und die Wärmewende darf daher nicht und Gentrifizierung, in: politische ökologie (Post Oil City) abgeschrieben werden. Positive Beispiele 124, 45–52 Ders., 2016: Gentrification und das Ende der Berliner Mi- zeigen: Gebäudesanierungen sind machbar, schung, in: von Einem, Eberhard (Hg.), Wohnen. Markt finanzierbar und bringen reale Einsparungen. in Schieflage – Politik in ot.N Wiesbaden: Springer VS, 191–231 Um das zu erreichen, muss die Gebäudesa- ifeu/Fraunhofer IEE/Consentec, 2018: Wert der Effizienz im nierung aber von immobilienwirtschaftlichen Gebäudesektor in Zeiten der Sektorenkopplung. Studie im Auftrag von Agora Energiewende, www.agora-energie- Mechanismen entkoppelt werden. wende.de/presse/neuigkeiten-archiv/klimafreundlich-hei- Neben der Streichung des § 559 BGB zen-warum-es-ohne-daemmen-nun-mal-nicht-klappt-2/ Michelsen, Claus/Ritter, Nolan, 2017: Wärmemonitor 2016: müssen dringend alternative Konzepte Die »zweite Miete« sinkt trotz gestiegenem Heizenergie- erarbeitet werden, die zeigen, wie qualitativ bedarf, in: DIW: Wochenbericht 38, 777–785 Stede, Jan/Michelsen, Claus/Puja, Singhal, 2018: Wärmemo- hochwertige Gebäudesanierungen finanziert nitor 2017: Heizenergieverbrauch stagniert, Klimaziel und sozialverträglich umgesetzt werden kön- wird verfehlt, in DIW Wochenbericht 39, 832–840 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundes- nen. Dabei müssen Klimaschutz und soziale tags, 2018: Energetische Gebaudesanierung und Gerechtigkeit Priorität haben und dürfen Warmmietenneutralitat. WD 5 - 3000 - 020/18, www. bundestag.de/resource/blob/551618/1c6039c9cc6028681 nicht weiterhin als ein – im besten Fall – 076321bc292d214/wd-5-020-18-pdf-data.pdf

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 85 FRIEDE DEN HÜTTEN KLEINGARTENBEBAUUNG IST KLASSENKAMPF VON OBEN

KATALIN GENNBURG Man müsse bauen, bauen und nochmals bauen, um das Wohnungsproblem unserer Zeit zu lösen, heißt es seitens der Konservati- ven und der Immobilienlobby landauf, landab. Insbesondere Kleingärten und städtische Grünflächen geraten dabei unter Druck. Sie sollen Platz machen für fehlenden Wohn- raum. In dieser Logik erscheinen Kleingärten und Stadtgrün als ein schier unvertretbarer Luxus, den sich eine Stadt wie Berlin ange- sichts der dramatischen Wohnungsnot nicht mehr leisten kann. Und sie kommen als egoistisches Partikularinteresse einiger weni- ger – dazu noch spießiger – Laubenpieper und Öko-Fanatiker daher. Die Geschichte lässt sich aber auch anders erzählen. Der Mangel an bezahlbaren Wohnungen ist Teil einer Auseinandersetzung um städtischen Raum, innerhalb dessen die Spekulation mit Wohnungen und entspre- chend mit Grund und Boden den treibenden Widerspruch bildet. Schaut man so, ordnet sich das Konfliktfeld etwas anders an: Wir

86 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN haben es mit einem Wohnraumversorgungs- konzernen und Grundbesitzer*innen anle- problem inmitten einer weltweiten Finanzkri- gen – nicht mit den Lohnabhängigen auf ihrer se zu tun, in der fehlende Verwertungsmög- gepachteten Scholle. lichkeiten des Kapitals Immobilien zu einem zentralen Anlagefeld gemacht haben. Die BAUEN, BAUEN, BAUEN UND Renditeerwartungen von Geldanlegern – zu- LUXUSBUTZEN FIRST?! meist weltweit agierende Investitionsfonds – Kommunale Bauplanungsbehörden ächzen sind die Ursache für rasant steigende Mieten. unter Bauanträgen, während der weltweite Sie machen aus dem Grundrecht auf Wohnen Kiesvorrat zur Neige geht. Investoren von ein Luxusgut. Gleichzeitig öffnet die »Erschlie- Kapital aus Steueroasen mahnen schnellere ßung« neuen Baugrunds die Perspektive auf Bearbeitungszeiten für Bauanträge an. Nicht ein erweitertes Terrain der Kapitalverwertung selten handelt es sich dabei um Briefkastenfir- (vgl. Trautvetter in diesem Heft). men aus Luxemburg, die sich über sogenann- In vielen Kommunen steht deshalb die te Thinktanks oder lokale Rotary Clubs ihren Frage an, ob Flächennutzungspläne Kleingar- Weg zu Stadtoberhäuptern bahnen und so an tenflächen in Bauland umwidmen können, sollen oder dürfen. In Berlin heißt es, der KATALIN GENNBURG ist Urbanistin, Stadtforscherin Zuzug sei so stark, dass wir #bauenbauenbauen und Berlinerin. 2016 hat sie mit engagiertem Haus- müssen. Keine Parzelle scheint zu klein und türwahlkampf im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick kein Standort zu laut. Der irre gewordene Markt ein Direktmandat für die LINKE gewonnen und ist seitdem Sprecherin für Stadtentwicklung, Touris- treibt die Bodenpreise von Herne bis Berlin in mus und Smart City im Berliner Abgeordnetenhaus. schwindelerregende Höhen und mit ihnen die Mietpreise. Tourismusorte sind Hotspots der Immobilienspekulation ebenso wie Städte zum oberster Stelle für ihre »Stadtbauvisionen« Altwerden oder zum Studieren. Inmitten dieser werben. Obwohl die Planungsbehörden rund Neusortierung des Raums, mithin des Grund um die Uhr arbeiten, entsteht bezahlbarer und Bodens, und im Zeitalter neuer kapitalisti- Wohnraum nur in homöopathischen Dosen. scher Raumaneignungen durch Menschen mit Gilt also das Mantra bauen, bauen, bauen nur Kapital (Stichwort »neue Erbengeneration«) für Luxusbutzen?! braucht es nicht nur Beton und Kies, den man Während Denkmal-, Natur- und Milieu­ verbauen kann, sondern eben auch ausreichend schutz als angebliche Baubehinderungs- Boden (vgl. Heinz in diesem Heft). programme in Verruf geraten, werden von Angesichts dieser Konstellation ist Klein- Kommunalparlamenten beschlossene Bebau- gartenbebauung Klassenkampf von oben. Und ungspläne wie Gold gehandelt. Investoren linke Kommunalpolitik darf sich gerade nicht kaufen Grundstücke, kämpfen um Bebau- zum Anwalt der Bebauung von Grünflächen ungsrechte, und sobald der Bebauungsplan im Namen der sozialen Wohnraumversorgung fertig ist, wird das »Projekt« weiterverkauft. In machen, sondern muss sich mit Immobilien- Berlin sind gegenwärtig etwa 60 000 Wohn-

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 87 einheiten genehmigt, aber noch nicht gebaut. das Staatseigentum verließen, auch die Dies bedeutet einen kommunalen Planungs- Bundesbahn verhökert nach wie vor alte Gleis- aufwand, Abstimmungsprozesse und politi- anlagen und aufgegebene Bahnstandorte. Im sche Diskussionen um Baukapazitäten, die Berliner Bezirk Charlottenburg wurde eine der denen einer mittelgroßen Stadt entsprechen. größten und traditionsreichsten Kleingarten- So erwirtschaften kommunale Planungsbe- anlagen verschachert und trotz erfolgreicher hörden Milliardenrenditen für Spekulanten, Bürgerbegehren, aber dank einer standhaften die mit Bauland und Baurechten handeln. Koalition aus SPD und Grünen mit Luxus- Zeitgleich fehlt Raum zum Leben für diejeni- wohnungen bebaut. Kleingartenbebauung ist gen, die die öffentliche Ordnung organisieren: Klassenkampf von oben, weil sich hier einmal Feuerwehrleute, Krankenschwestern, Erzieher mehr die Verfügungsgewalt über die Produkti- und Politessen. Nicht selten wird angesichts onsmittel manifestiert. Wer hat, der kann, und dessen um Bebauungspläne hart gerungen, wer nicht hat, der muss runter von der Scholle wenn Bürgerinitiativen Alarm schlagen und desjenigen, der »kann«. sich Parlamente trotzdem auf die Bebauung, Es ist so einfach und fast schon billig, beispielsweise von Kleingärten, festlegen – in Kleingärten zu bebauen. Einfach ist es, weil der teils irrigen Hoffnung, gegen alle Wider- es beispielsweise deutlich mehr Anstrengung stände Sozialwohnraum schaffen zu können, kostet, eine Bundeswehrkaserne aus der Stadt für den sonst ja der Raum fehle, wie es heißt. zu werfen und folglich die Arbeitsplätze neu zu strukturieren, um den dringend notwendigen LANDNAHME UND KAPITALAKKUMULATION Platz zu gewinnen. Auch ist es deutlich schwie- IN RAUM UND ZEIT riger und teurer, eine lärmende und stinkende Um Raum ringend kannibalisiert sich derweil Straße zu überbauen und darauf Wohnraum zu der Staat mit seinen Bürger*innen und schaffen. Dass es möglich ist, zeigt die Schlan- deren Gemeingütern selbst, während der genbader Straße in Berlin Charlottenburg, die Handel mit Boden große Flächen an Bauland inzwischen unter Denkmalschutz steht und in faktisch dem staatlichen Wohnraumversor- den 1970er Jahren in Westberlin umgerechnet gungsauftrag entzieht. Wurden nach 1990 458 Millionen Euro gekostet hat. Heute ist »die im Deregulierungswahn massenhaft Flächen Schlange« ein autofreier Ort auf dem Rücken privatisiert und im Lichte des Sparzwangs der Autobahn am Rande des Rheingauviertels, insbesondere im Osten die klammen Kassen ein beliebtes Wohngebiet und überwiegend in durch Liegenschaftsverkäufe aufgebessert, landeseigenem Besitz. fehlen heute Flächen für Schulen, Kitas und Dieses Beispiel gibt viel her. Einerseits zeigt Schwimmhallen – selbst Verwaltungsgebäude es, wie teuer die Flächenverschwendung durch müssen angemietet werden. Autobahnbau in einer Stadt ist, für die dann Man muss sich klarmachen, dass mit der bebaubarer Raum aufwendig zurückgewonnen Liberalisierung der Post etliche Liegenschaften werden muss. Und es zeigt, was alles möglich bundesweit in sogenannten Paketverkäufen wird, wenn Raum knapp ist, wie in der ehemals

88 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN geteilten Stadt Berlin und dem ummauerten West-Berlin. Das Paradoxon Berlins nach 1990 in puncto Liegenschaftspolitik ist: Erst hatte man zu wenig Raum, dann fiel die Mauer und es schien schier unbegrenzt Platz für all Ideen in der sich neu erfindenden Hauptstadt zu geben. Dann kam der Ausverkauf, und heute wo Berlin zum »place to be« nicht nur für Künstler*innen und Kreative, sondern für allerhand Risikokapi- Demo gegen Mietenwahnsinn, April 2019 in Berlin ekvidi tal avanciert, da wird es insbeson- dere für jene »enge«, die entweder schon lange dere Rentner*innen mit geringen Einkom- hier sind oder die neu ankommen – aber eben men –, auch wenn die Kleingartenordnung ohne Kapital im Rucksack. dies eigentlich nicht vorsieht. Die Mieten sind aber unerschwinglich geworden. GÄRTNERN NUR FÜR REICHE?! Schließlich sind die innerstädtischen Den Gürtel enger schnallen immer nur dieje- Kleingärten Urlaubsorte und Räume der Erho- nigen, die eh nicht viel haben. Wo kommt ei- lung. Insbesondere für jene, die sich Urlaube gentlich die Vorstellung her, Kleingärten seien immer weniger leisten können. Kleingärten verzichtbarer Luxus? Viele Kleingärtner*innen gehören zu den noch verbliebenen Orten bauen Obst und Gemüse an und leben davon. nicht nur der Reproduktion, sondern auch der Auch heute noch. Kleingärtner*innen sind oft Produktion und des Selbstbaus. Egal ob mittel- Mieter*innen, die auf kleinem Raum leben alterliche Kartoffelsorte oder die eigene Hütte und sich hier – außerhalb ihrer Kleinstwoh- zu bauen – der Kleingarten ist das, was Michel nungen – verdingen und ganz nebenbei noch Foucault als Heterotopie bezeichnet hat. Hier die Biodiversität der Stadtnatur in Zeiten des sind auf begrenztem Raum die Utopien, die Klimawandels und des Artensterbens berei- Möglichkeit gedanklicher Gegenräume und chern. Auch das ist tatsächlich eine Klassen- Grenzenlosigkeit zuhause. Außer dem vorge- frage: Wer Geld hat, gärtnert selbstverständ- gebenen Grundstück wird die urbane Selbst- lich auf dem eigenen Grundstück und nicht produktion nur von »Umwelt« und Nachbarn auf einer landeseigenen Parzelle. Oder wer begrenzt, nicht aber von Eintrittspreisen, wollte sich jetzt über die Platzverschwendung Verzehrregeln oder Kleiderordnungen. Und ja, der Villen in Grunewald, Blankenese und alle 15 000 Schrebergartenvereine unterliegen Schwabing aufregen? Auch leben inzwischen dem Bundeskleingartengesetz und jeweils nicht wenige in ihren Datschen – insbeson- regional unterschiedlichen Gartenordnungen.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 89 Wer daraus eine antiaufklärerisch markierte suggeriert. Dass ausgerechnet der Volks- Spießigkeit ableiten will, der und die müsste entscheid zur Freihaltung des Tempelhofer es ebenso für spießig halten, sich an die Flugfeldes der erste erfolgreiche Volksent- Straßenverkehrsordnung zu halten. Dass scheid Berlins war, sollte Anlass sein, diesen Regeln gelten, ist ja nicht in erster Linie denen Pfad weiterzuverfolgen. Nicht zu vergessen: vorzuwerfen, die diesen unterworfen sind. der ebenfalls erfolgreiche Bürgerentscheid zur Und Regeln lassen sich bekanntlich ändern. Freihaltung der Spreeufer in Friedrichshain In einer Kleingarten-Großstadt, wie Ber- und Kreuzberg: »Mediaspree versenken!«. lin sie mit etwa 70 000 Parzellen ist, bedeutet Eine Mehrheit der Städter*innen will dem linke Sozialpolitik auch die Versorgung mit flächenpolitischen Irrsinn endlich Einhalt Erholungs- und Reproduktionsräumen. Wie gebieten. dies auszusehen hat, berührt ein weiteres Die Entscheidung, ein Flugfeld so Mal die Klassenfrage. Linke Stadtpolitik muss groß wie die Träume aller internationalen gezielt Löcher schneiden in den städtischen Immobilieninvestoren nicht zu bebauen, Verwertungsteppich aus Zerstreuungs- und gibt Aufschluss über den Zustand der liegen- Vergnügungszauber, der die Stadt als soziales schaftspolitischen Debatte in der Hauptstadt. Gewebe zunehmend überlagert. Linke Stadt- Umso befremdlicher erscheinen die nicht politik muss Stadt als selbstbestimmten und enden wollenden Versuche insbesondere der als kollektiv organisierten Ort der Produktion SPD und der Parteien rechts der Mitte, dieses und des Lebens jenseits von Konsumräumen Bürgervotum infrage zu stellen. Und das mit denken und deshalb Gegenorte zu dieser der immer gleichen Behauptung, man könne Verwertungsmaschinerie sichern. Kleingärten sich diesen Freiraum in Zeiten der Flächen- sind einer davon. knappheit nicht länger leisten. Nicht ganz Die Stadt als Konsumraum zu imagi- zufällig wird jede erneute Feldbebauungsde- nieren, voll mit Shoppingmalls, Autobahnen batte verknüpft mit dem feuilletonistischen für die individualisierte Zurschaustellung Schwadronieren über Sinn und Unsinn von des eigenen Blechreichtums, und mit Innen- Kleingärten in einer Metropole. städten, wo königliche Gärten mit allerhand Worum geht es nun in Zeiten des Häuser- Verbotsschildern und kaum weniger Nutella- kampfes, des Kampfes gegen den Mietenwahn- Läden zum »Verweilen« einladen, ist ohne sinn und inmitten des politischen Verspre- unser Zutun längst Auftrag aller anderen. chens »Wir geben Euch die Stadt zurück!«? Die politische Linke muss mehr ökologische WIDER DIE LANDNAHME UND Stadtentwicklungspolitik wagen. Wir brauchen KAPITALAKKUMULATION IN RAUM UND ZEIT eine politische Antwort auf das Mantra der Eine linke und ökologische Liegenschaftspo- Baulobby »Bauen, bauen, bauen«, und die litik in Berlin kann sich durchaus auf breite kann nicht lauten »mehr bauen!«. Die Versor- Zustimmung der Bevölkerung stützen, auch gung breiter Schichten der Bevölkerung mit wenn der mediale Diskurs oft das Gegenteil Wohnraum als einen politischen Auftrag ernst

90 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN zu nehmen ist die Differenz zwischen reiner nahme in Zeiten der Flächenknappheit nach. Baupolitik und sozialstaatlichem Wohnraum- Sie nutzt das Vorkaufsrecht, um Flächen und versorgungsauftrag. Staatliche Wohnungspo- Häuser aus den Händen von Spekulanten zu- litik muss beides organisieren und dies mit rückzugewinnen, schafft ein Gesetz zur neuen nachhaltiger Stadtökologie verbinden. Sonst Wohngemeinnützigkeit (vgl. Kuhn in diesem ist die Stadt irgendwann so zugeschüttet mit Heft) und stellt Baugebote auf, um Bodenspe- Beton, dass wir sie nicht zurückhaben wollen! kulation und Flächenhandel zu unterbinden Ja, der Staat kann und muss für den Bau und um Kleingärten als historisch gewachsene leistbaren Wohnraums sorgen. Hierzu gehören Räume zu erhalten. enteignungsgleiche Eingriffe wie die treuhän- Ich selbst besitze keinen Kleingarten, aber derische Verfügung über Leerstand und die ich habe den Kampf um das Berliner Stadt- Bereitstellung leerstehender Wohnungen an grün zu meiner politischen Mission gemacht, Bedürftige, was auf Ebene der Bundesländer weil die Inwertsetzung des Stadtgrüns massiv über das Zweckentfremdungsverbot-Gesetz er- voranschreitet – sei es durch kommerzielle möglicht wird. Auch Enteignungen von Grund Massenevents in Gartendenkmälern oder und Boden gelten laut Grundgesetz nicht nur durch Eintrittspreise in landeseignen Parks. für Autobahnvorhaben, wie das international Solange wir die Unterbringung von Menschen beachtete Volksbegehren zur Vergesellschaftung gegen die Grünversorgung ins Feld führen von Wohnraum in Berlin derzeit deutlich macht und nicht beides zusammendenken, können (vgl. Prey/Sahle in diesem Heft). Hier gilt es wir nur verlieren. Zum Kampf für einen anzuschließen und den Diskurs der Investoren, Mietendeckel (vgl. Gottwald auf LuXemburg- Spekulanten und Projektentwickler*innen zu Online) gehört es auch, für Freiräume, für den durchkreuzen. Ein Beispiel: Dass die einen öffentlichen Raum und für die unbestimmten vier Wohnungen besitzen und für ihr fünftes Orte in einer Stadt in Zeiten der kapitalis- Domizil aktuell eine Räumungsklage gegen tischen Raumverwertung zu kämpfen. Das eine 80-jährige Omi führen und den anderen betrifft freie Ufer, Parks ohne Zäune, Wagen- gerade der Kleingarten gekündigt wird, weil burgen und eben Kleingärten – jene Orte, die dort notwendiger Wohnraum entstehen soll, ist auf der roten Liste des Kapitals stehen, weil ein und dieselbe Rechnung. sie angeblich Platz verschwenden und man sie Es geht darum, die Omi in ihrem Zuhau- sich in Zeiten der akuten Wohnraummangel- se zu lassen, Eigenbedarfskündigungen abzu- lage nicht mehr leisten könne. schaffen, Zweitwohnungen hart zu besteuern Tatsächlich können wir uns all die Shop- und die kommerzielle Umwidmung von pingcenter, unterbelegten Hotels, Autobahnen, Wohnraum in Ferienwohnungen konsequent Schlösser und Luxuslofts – kurzum: die riesigen zu untersagen. Linke Wohnraumversorgungs- Profite der Eigentümer und privaten Rauman- politik beschlagnahmt leerstehende Woh- eigner – nicht mehr leisten und zwar solange, nungen und denkt über Regeln für maximale bis alle gut und sicher leben können; am besten Wohnungsgrößen als soziale Ausgleichsmaß- mit Gärtchen in Wohnortnähe, wenn sie wollen!

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 91 ... DA, WO ES BRENNT DIE LINKE ALS ORGANSISIERENDE PARTEI VOR ORT

CHRISTINA KAINDL UND Es ist Januar, es regnet draußen, und im Kleinen SARAH NAGEL Saal des Gemeinschaftshauses Gropius­stadt gehen langsam die Stühle aus. Mehr als 150 Mieter*innen sind zur Einwohnerversamm- lung des Bezirksamts Neukölln gekommen. Der Bezirksbürgermeister ist da, auch der Baustadtrat und weitere Verwaltungsleute. Sie zeigen Folien und stellen Pläne für eine sogenannte Umstrukturierungssatzung vor. Ein Instrument, um Bauanträge zurückzu- stellen und damit ein Druckmittel, um die Eigentümer*innen an den Tisch zu bekom- men. Dass dies diskutiert wird, ist ein Erfolg der Mieter*innen, die sich hier seit über einem Jahr organisieren. Denn viele der Anwesenden haben ein drängendes Problem: steigende Mieten durch energetische Sanierungen. Mieter*innen aus dem Viertel waren schon zweimal mit ihren Fragen und Forderungen im Rathaus Neukölln, eine Mieterin hat die Ein- wohnerversammlung selbst beantragt. Gemein- sam haben sie eine Kundgebung und weitere Aktionen organisiert, um auf ihre Situation

92 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN aufmerksam zu machen. Unterstützt wurden sie Auf die Jahre der Proteste gegen die Agenda von Anfang an durch Aktive der LINKEN. 2010 und Wirtschaftskrise folgten die Jahre 2016 hat DIE LINKE Modellprojekte für der asymmetrischen Demobilisierung unter Organisierung in einkommensarmen Nachbar- Merkel. Jahre, die im Alltag für viele Men- schaften – sogenannten sozialen Brennpunk- schen von kommunaler Austerität geprägt ten – gestartet. Gropiusstadt ist eines davon. waren, also durch die Erfahrung, dass ihre Das Ziel: Linke laden die Anwohner*innen ein, Interessen unter den Bedingungen ständigen sich zu einem Thema, das ihnen unter den Nä- Sparzwangs nur gegen andere durchzusetzen geln brennt, zusammenzuschließen. Dahinter waren. Dass sie vielleicht von Erwerbslosigkeit steht die Erkenntnis, dass sich die soziale und in prekäre Jobs wechseln, aber aus der Mühle politische Ausgrenzung von Menschen mit der Alltagssorgen nicht herauskommen. Die geringem oder gar keinem Einkommen in den Strategie der LINKEN zielt darauf, nicht nur zu letzten Jahren verfestigt hat. Viele Menschen und mit den Menschen zu sprechen und ihren haben sich von ›der Politik‹ enttäuscht abge- Erfahrungen eine Stimme zu geben, sondern wendet. Sie erleben ihre Lebensverhältnisse als unsicher und können ihre Zukunft nicht planen. Wahlauswertungen zeigen, dass CHRISTINA KAINDL ist Leiterin des Bereichs Strategie Menschen in ärmeren Vierteln und solche, die und Grundsatzfragen in der Bundesgeschäftsstelle ihre soziale Lage als schlecht bis sehr schlecht der Partei DIE LINKE in Berlin. einschätzen, zwar halb so oft wählen gehen, SARAH NAGEL ist Mitarbeiterin im Bereich Strategie und Grundsatzfragen in der Bundesgeschäftsstelle aber doppelt so oft für linke Parteien stimmen. der Partei DIE LINKE in Berlin und engagiert sich in Bei den letzten Wahlen hat allerdings die AfD der Mieter*innenorganisierung in Gropiusstadt. überdurchschnittlich stark in sozialen Brenn- punkten abgeschnitten. Katja Kipping und Bernd Riexinger schrieben 2016: »Wir nehmen auch die Erfahrung zu ermöglichen, dass die die Herausforderung an. Der Erfahrung von Verhältnisse zum Besseren verändert werden Machtlosigkeit, in der viele Menschen sich nur können. Wenn wir es selber tun. noch als Spielball ›fremder Mächte‹ erleben, Die Ansätze der Organisierung von unten wollen wir die Erfahrung entgegensetzen, dass sind Teil der Antwort auf die Frage, welche sich nicht durch Ausgrenzung der Schwächs- Aufgaben eine linke Partei heute hat und wie ten, sondern nur durch Solidarität und gemein- die Arbeit an der Basis aussehen kann. samen Kampf die eigene Lage verbessert.« (vgl. Am Anfang stehen dabei nicht Antwor- Kipping/Riexinger 2016). ten, sondern Fragen. Beim Organizing geht Die Modellprojekte sind der Versuch, an es darum, am Alltag anzuknüpfen, daran, was konkreten Problemen anzusetzen und diese Menschen tatsächlich bewegt. Nicht immer Erfahrung zu organisieren. Sie sind Teil der sind das die Themen, die wir erwarten. Weil Strategie, die Partei zu »verbreitern« und zu nur die wenigsten Menschen von sich aus »verbinden« (vgl. Kipping/Riexinger 2013). auf eine Organisation zugehen – und noch

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 93 weniger diejenigen, die es aus ihrer sozialen sich in der Gropiusstadt engagieren. »Linke Stellung heraus nicht gewohnt sind für müssten wirklich noch viel mehr da hingehen, ihre Interessen einzutreten – werden in den wo Leute Sorgen und Nöte haben, und ihnen Modellprojekten Methoden direkter Anspra- vorschlagen: Lasst uns einen Plan machen che ausprobiert, etwa Haustürgespräche und und das zusammen angehen«, sagt sie (vgl. Telefonate. Die Treffen verlaufen anders als Steinborn auf LuXemburg-Online). Sie und die die übliche Parteiversammlung oder das linke Gruppe setzen in Gropiusstadt darauf, direkt Plenum. Es gibt oft Tee und Kekse und immer ins Gespräch zu kommen. Es geht darum, viel Platz für die Anliegen und Erfahrungen gemeinsam Druck aufzubauen, um Erfolge zu der Teilnehmenden. Was ist seit dem letzten erzielen. Treffen passiert? Hat sich der Vermieter Gropiusstadt ist nicht das Neukölln, das gemeldet? Wie geht es in den nächsten viele im Kopf haben, wenn der Name des Wochen weiter, welche Verabredungen werden Stadtteils fällt. Hier gibt es keine Altbauten, getroffen? Manchmal geht es auch um die keine hippen Cafés und Restaurants. Die Reparatur von Fenstern oder Dreck im Trep- Gropiusstadt ist in den 1960er und 70er penhaus. Was hier besprochen wird, ist sehr Jahren gebaut worden und besteht über- konkret und manchmal kleinteilig, weil ein wiegend aus Hochhäusern. Hier gibt es das konkretes Problem im Mittelpunkt steht. Es größte Einkaufszentrum Berlins, aber auch ist nicht »unpolitisch«, sondern stellt den Pro- viel Grün. Rund 37 000 Menschen leben hier, blemrohstoff des Alltags in den Mittelpunkt viele davon seit Jahrzehnten. Seit den 1980er der politischen Arbeit. Die Beteiligten haben Jahren gilt die Gropiusstadt als sozialer Brenn- häufig wenig oder keine Erfahrung damit, punkt. Fast doppelt so viele Menschen wie im sich zu organisieren. Und für die Mitglieder Berliner Durschnitt beziehen Transferleis- der LINKEN heißt es zum Teil, die alltägliche tungen, fast jede*r vierte Erwerbstätige muss Praxis der Parteiarbeit auf den Kopf zu stellen. aufstocken. Auch die Wahlergebnisse sehen Die wird häufig von langen Sitzungen domi- anders aus als im Neuköllner Norden. DIE niert, von Infoständen, Veranstaltungen und LINKE hat bei der Bundestagswahl 2017 mit gelegentlichen Mobilisierungen. Nichts davon 18,3 Prozent der Zweitstimmen in Neukölln ist falsch, aber mit allem werden vor allem die- das beste Ergebnis aller Westbezirke erreicht, jenigen erreicht, die ohnehin schon überzeugt aber das liegt vor allem an den Kiezen im sind oder zumindest einen starken Bezug zu Norden. Während sich dort DIE LINKE und die dem haben, was üblicherweise unter Politik Grünen oft ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern, verstanden wird. Nicht politisch organisiert schneidet in der Gropiusstadt die SPD besser zu sein bedeutet aber längst nicht, unpolitisch ab, aber auch die CDU und die AfD, die bei der zu sein. Für die Gewerkschafterin Susanne Bundestagswahl bis zu 20 Prozent geholt hat. Steinborn liegt auf der Hand, was nötig ist. Sie DIE LINKE lag bei 9,3 Prozent. Die Mehrheit ist kurz vor der Bundestagswahl 2017 in DIE stellen allerdings diejenigen, die gar nicht LINKE eingetreten und eine derjenigen, die wählen gehen.

94 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN WIE ALLES BEGANN Die ersten Haustürgespräche in Gropiusstadt führten die Aktiven im Sommer 2017. Dass es bald Treffen mit Mieter*innen aus mehreren Häusern geben würde und sie auf eine erste er- folgreiche Kundgebung sowie weitere Aktionen zurückblicken können würden, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen. Eine Hand- voll Mitglieder der LINKEN Neukölln, mit kon- zeptioneller und praktischer Unterstützung der Parteizentrale, klopften an den Türen, fragten wo der Schuh drückt, kamen ins Gespräch mit Anwohner*innen. Viele machen sich Gedan- ken über die steigenden Mieten, das war am Ende des Tages klar. Zur ersten Veranstaltung wenige Tage später, bei der es genau darum ge- hen sollte, kam trotzdem niemand – einer von vielen Rückschlägen, die zum Ausprobieren Mieter*innen-Protest in der Karl-Marx-Allee in Berlin, dazugehören. Es war wohl doch zu unkonkret. Uwe Hikisch Was wäre den Anwohner*innen so wichtig, dass sie es nicht nur benennen, sondern sich Bald darauf unterschreiben 85 Bewohner*in­ dafür engagieren würden? Die Antwort darauf nen einen Brief mit Forderungen an das kam im Herbst vor dem U-Bahnhof Lipschitzal- Bezirksamt. Überall klopfen Anwohner*innen lee an einem kleinen Infostand mit einer und das Team der LINKEN Neukölln an den Tü- großen Karte der Umgebung. Passant*innen ren. Viele Nachbar*innen wollen unterschrei- konnten darauf markieren, ob ihre Miete in der ben, aber nicht alle wollen sich einbringen. 20 letzten Zeit gestiegen ist und wie stark. Viele sind dabei, als im Januar 2018 eine Mieterin machten mit. Zwei Leute erwähnten dabei die im Rathaus Neukölln steht und in der Bezirks- energetischen Sanierungen, die in Gropiusstadt verordnetenversammlung spricht. Oben auf die Mieter beunruhigen, weil sie bedeuten, der Tribüne sitzen die Hausbewohner*innen, dass die Mieten teils drastisch erhöht werden. sie haben ein Transparent gemalt und hängen Wenig später finden wieder Haustürgespräche es von der Tribüne, werden ermahnt, rollen statt, diesmal in zwei betroffenen Häusern und es erst wieder ein, schauen sich an und rollen mit einer Einladung zum Mietencafé. Dorthin es dann wieder aus: Jetzt erst recht, soll das kamen neun Mieter*innen. Sie alle hatten bedeuten. Zu diesem Zeitpunkt verstehen sie kurz zuvor eine Modernisierungsankündigung sich nicht mehr als einzelne Mieter*innen, erhalten und sollen bald bis zu 170 Euro mehr sondern als Mieterinitiative. Das ist etwas Be- pro Monat zahlen. sonderes, weil ihr Haus das letzte in der Straße

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 95 ist, das saniert wird. Mehrere Häuser waren es wagen und stell den irgendwo in Brandenburg vorher, aber nirgendwo hat es zu Protest oder hin«, witzelt eine Mieterin. Einige lachen. Aber Organisierung geführ. Sie sind die ersten und die Lage ist ernst, und alle hier wissen es. haben damit einen Stein ins Rollen gebracht, Mittlerweile gibt es Erfolge zu verbuchen. denn Tausende sind im Viertel entweder Es gibt nun zwei Mieterinitiativen und weitere bereits von Mieterhöhungen betroffen oder Mieter*innen, die sich in ihren Häusern zu- befürchten, dass es bald so weit sein könnte. sammengeschlossen haben. Einmal monatlich Viele derjenigen, die sich engagieren, sind treffen sich alle zum ietentisch,M um gemein- schon älter und leben seit Langem hier. Die sam zu beraten. Auf der Demonstration gegen Gropiusstadt sei »ein wunderschöner Wohnbe- Mietenwahnsinn am 6. April 2019 haben sie reich«, erzählt ein Anwohner. Er lebt seit über einen kleinen Block gestellt, für viele war es 50 Jahren hier und will bleiben. So denken die erste Demo. Und in Gropiusstadt werden viele, aber das wird immer schwieriger. Die Unterschriften für die Kampagne »Deutsche Eigentümer sanieren systematisch ein Haus Wohnen & Co. enteignen« gesammelt. Für nach dem anderen, die Mieter*innen können einige wurden durch den Protest die Mietstei- sich ungefähr ausrechnen, wann sie dran sind. gerungen gedeckelt, die geplante Umstruktu- Es liegt nahe, dass die energetischen Sanierun- rierungssatzung ist ein Schritt nach vorn und gen nicht in erster Linie dazu dienen sollen, der öffentliche Druck führt dazu, dass es den Energie einzusparen. Die tatsächliche monat- Eigentümern hier dauerhaft schwerer gemacht liche Einsparung liegt meist weit unter der wird, einfach zu machen was sie wollen. Mieterhöhung (vgl. Pallaver in diesem Heft). Die meisten Häuser in der Gropiusstadt waren ÜBER DAS ZIEL HINAUS früher städtischer, sozialer Wohnungsbau und Doch so wichtig konkrete Erfolge sind, sie sind die Mieten erschwinglich. Doch dann wurden nicht alles. Zwar ist es selbst für kleine Schritte viele Häuser privatisiert. Seitdem steigen die notwendig ein Thema zu finden, für das Mieten schneller. Die neuen Eigentümer, Menschen sich einsetzen wollen, aber dabei darunter Deutsche Wohnen und Gropiuswoh- kann eine linke Organisierung nicht stehen- nen, hatten die im Rahmen des Mietspiegels bleiben. »Es ist verführerisch zu glauben, dass möglichen Mietsteigerungen irgendwann die Lösung dieses Problems als Ziel genügt«, ausgeschöpft. Da kommen die energetischen schreibt der Organizer Steve Williams (2013, 5). Sanierungen ins Spiel. Sie ermöglichen es, elf Doch wenn es nicht nur um kleine Reformen, Prozent der Modernisierungskosten auf die sondern eine langfristige Verankerung gehen monatliche Miete umzulegen, und zwar für soll, reicht das nicht aus. Hier unterscheiden immer. Für die Mieter*innen in Gropiusstadt sich verschiedene Ansätze des Organizing. bedeutet das Mietsteigerungen, die sich viele Williams steht für transformatives Organizing, nicht leisten können. Was sich in den letzten also eine Organisierung, die nicht nur »auf Jahren verändert hat: Sie können sonst nir- Sicht« fährt, sondern bei der die Vision für eine gendwo mehr hin. »Ich kauf‘ mir ’nen Wohn- andere Gesellschaft mitgedacht wird.

96 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN »Transformativem, auf gesellschaftliche Die Modellprojekte laufen noch in drei ande- Umgestaltung ausgerichtetem Organizing ren Orten. Im Hamburger Stadtteil Steilshoop geht es demgegenüber um einen Erfolg auf arbeiten die Aktiven ebenfalls erfolgreich in lange Sicht. Es basiert auf der Annahme, dass einer Mieterinitiative mit Anwohner*innen. alle gesellschaftlichen Probleme strukturelle, Gerade sind zwei weitere Modellprojekte globale und historische Wurzeln haben. in Kleinstädten gestartet, um auch dort Selbst wenn wir also mit unserer Kampagne Erfahrungen zu sammeln. Und Mitglieder erfolgreich sind und ein bestimmtes Problem der LINKEN haben mittlerweile in mehreren ansprechen können, so müssen wir doch Städten Projekte initiiert, die auf transfor- erkennen, dass die strukturellen Ungleich- mative Organisierung von unten setzen. Die heiten, die dieses Problem hervorgebracht Bundesgeschäftsstelle unterstützt sie dabei haben, auch künftig Probleme hervorbringen mit Seminaren und Angeboten zur Vernet- werden – es sei denn, wir beseitigen deren zung. Die Aktiven tauschen sich bundesweit Ursachen ein für alle Mal. Deswegen zielt aus, lernen voneinander und machen vor, wie transformative organizing auf nicht weniger als Organisierung in einer modernen sozialisti- die Abschaffung der Ursachen der Probleme, schen Mitgliederpartei aussehen kann. die wir tagtäglich erleben. Es fährt deswegen Der Ort der LINKEN ist an der Seite im Grunde zweigleisig: Da wir noch nicht der Menschen, die unter dem neoliberalen die Macht besitzen, die Kräfteverhältnisse Kapitalismus, unter der Austerität in den Kom- grundlegend zu ändern, müssen unsere munen, unter der Privatisierung und Profitori- Kampagnen mit Blick auf ein größeres Ziel entierung der öffentlichen Daseinsvorsorge am geführt werden. Transformatives Organizing meisten zu leiden haben. Dafür muss sie sich muss mit Weitsicht kämpfen.« (ebd.) tatsächlich an ihre Seite begeben – nicht nur Es geht also darum, über die Lösung mit ihren Forderungen, nicht nur mit verständ- konkreter Probleme hinauszugehen. Sich einen licher Sprache, sondern ganz praktisch. Das Blick zu erarbeiten, in dem sich die Betroffe- Gewebe einer neuen Organisierung von unten nen als Teil von gesellschaftlichen Kräftever- zu schaffen, die Kräfteverhältnisse im Alltag zu hältnissen erleben. Ihr Problem als verbunden verschieben, wird billiger nicht zu haben sein. mit anderen, ein Verständnis für die Ursachen und die politischen Entscheidungen dahinter bekommen und damit auch, wie sie sich LITERATUR Kipping, Katja/Riexinger, Bernd, 2016: Revolution für soziale ändern lassen. Und darum, nicht nur auf kurz- Gerechtigkeit und Demokratie, www.die-linke.de/start/ fristige Mobilisierungen zu setzen, sondern nachrichten/detail/revolution-fuer-soziale-gerechtigkeit- und-demokratie/. auf langfristige Verankerung und gemeinsame Dies. 2013: Verankern, verbreiten, verbinden, www.die-linke. Erfahrungen. Dadurch verändern sich alle, die de/partei/ueber-uns/parteientwicklung/verankern-ver- breiten-verbinden/. daran beteiligt sind. Das gilt für diejenigen, die Williams, Steve, 2013: Fordert alles. Lehren aus dem Trans- sich das erste Mal organisieren und ebenso für formativen Organzizing, www.rosalux.de/fileadmin/ rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/williams_transfor- die, die das schon seit Langem tun. matives_organizing_mrz13.pdf.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 97 »WENN WIR MEHR WERDEN, Wann hast du beschlossen, dass du etwas BRINGT ES WAS« gegen die erneute Mieterhöhung tun willst? Eigentlich sofort, aber wir waren anfangs GESPRÄCH ÜBER MIETENWAHNSINN UND DIE verhindert. Wir haben aber mitbekommen, GRÜNDE, SICH ZU WEHREN dass sich Mieter aus dem Haus zusammenge- MIT ILONA VATER schlossen haben, und sind dann hingegangen, sobald es ging.

Wie war das für dich, als der Brief mit der Wie hast du die Treffen erlebt? Modernisierungsankündigung kam? Zuerst war ich erschrocken, dass so wenige Mein erster Gedanke war: Oh Schreck, Leute aus dem Haus dabei waren. Wir sind 170 Euro Mieterhöhung. Ein richtiger Ham- 99 Mietparteien, aber es waren nur ungefähr mer. Dazu kommt: Die regulären Mieter- 15 Leute bei den Treffen. Trotzdem haben wir höhungen werden nicht gestoppt, sondern gemeinsam verschiedene Sachen organisiert. gehen weiter. Dadurch steigt der Mietspiegel unheimlich an. Die Eigentümer können Was sind für dich die größten Erfolge, die ihr dann immer noch sagen, dass sie sich an den bisher erreicht habt? Mietspiegel halten, und das finde ich nicht Gropiuswohnen hat auf unseren Druck hin eine richtig. Das Haus, in dem ich wohne, gehörte Fachfirma für die Asbestsanierung engagiert, früher dem öffentlichen Wohnungsunterneh- was leider nicht selbstverständlich war. Das war men GEHAG, wurde aber verkauft. Dann kam ein großer Erfolg. Bei der jährlichen Gropius- prompt die erste Mieterhöhung. Die Besitzer städter Kaffeetafel waren wir außerdem als Mie- haben mehrfach gewechselt und die Miete terinitiative mit einem eigenen Tisch vertreten, stieg immer weiter. Mittlerweile gehört das haben Kaffee und uchenK angeboten und über Haus dem Unternehmen Gropiuswohnen. die Situation informiert. Wir waren auch im Rathaus Neukölln, um darauf aufmerksam zu Was bedeutet die Mietsteigerung für dich? machen. Und wir haben ein eigenes Asbest- Die größte Angst habe ich, dass mein Mann gutachten in Auftrag gegeben und dafür Geld und ich hier rausmüssen. Was mache ich zum eingesammelt. Im Herbst haben wir dann eine Beispiel, wenn ich mal allein übrig bleibe? Kundgebung organisiert: »Mietenwahnsinn Noch können wir uns die Wohnung leisten, stoppen – Für ein gutes Leben in Gropiusstadt.« weil ich nebenbei arbeite. Ich mache das, um Es waren mehr als 150 Leute da, das war gut. unter Leuten zu sein, und für unseren Lebens- standard. Wenn eine weitere Mieterhöhung Was ist die größte Herausforderung für die kommt, muss ich arbeiten. Wir können auch Mieterinitiative? nicht einfach woanders hinziehen. In anderen Dass sich nicht so viele beteiligen. Wir waren Stadtteilen und im Umland sind die Preise ja zum Beispiel an den Haustüren und haben auch gestiegen. mit Nachbarn gesprochen und sie zu Treffen

98 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN eingeladen. Es gab viele Zusagen, aber dann waren doch nicht so viele da. Manche haben ILONA VATER ist Rentnerin und lebt seit fast 20 Jahren in der Berliner Gropiusstadt. Als sie wahrscheinlich das Geld, es stört sie also weni- Ende 2017 eine Modernisierungsankündigung ger. Ich würde mir wünschen, dass sich noch bekam, hat sie beschlossen, gemeinsam mit mehr beteiligen. Aber man muss auch dazu anderen die eigenen Interessen zu vertreten. sagen: Wir sind von sieben Häusern in der Straße das letzte, das saniert wird. Die Mieter in den Häusern vorher haben sich gar nicht dass sie jetzt die Wohnungen zurückkaufen zusammengetan. wollen, die sie früher verscherbelt haben. Die kosten mittlerweile aber Milliarden. Das kann Was würdest du mit der Mieterinitiative gern nicht alles sein. Es bräuchte etwas wie ein noch erreichen? Recht auf Wohnen und verschiedene Maßnah- Für mich wäre es ein großer Erfolg, wenn men, um das umzusetzen. die von Gropiuswohnen mal mit uns reden würden. Und dass sie den Rahmen nicht Gleich gehst du zur Einwohnerversammlung, ausschöpfen. Die brauchen doch die elf die du selbst beim Bezirksamt beantragt hast. Prozent, die sie laut Gesetz auf die monatliche Was willst du den Verantwortlichen sagen? Miete draufschlagen dürfen, gar nicht. Die Ich will Öffentlichkeit schaffen und von energetische Sanierung ist außerdem nach unserer Situation berichten. Wir haben die zehn Jahren längst bezahlt, und wir zahlen Abgeordneten gewählt und ich erwarte von trotzdem weiter. Ich erwarte, dass sie uns ihnen, dass sie was Sichtbares für uns tun. entgegenkommen, kompromissbereit und Wir wollen Druck aufbauen und die Vermieter sozial sind. Leerstand darf nicht mehr belohnt an den Tisch holen. werden, da könnte man Fristen setzen. Mittlerweile schließen sich auch Mieter*innen Was sollte sich für die Mieter*innen ändern? in anderen Häusern zusammen. Die Gesetze müssen für die Mieter ertragbar Ja, das ist gut. Nur unsere Mieterinitiative sein. Was mich sehr stört, ist die Tatsache, dass allein hätte nicht so viel gebracht. Aber wenn die Industrie eine Lobby hat, die so mächtig wir mehr werden, bringt es was. Mieterinitia­ ist, dass sie praktisch entscheidet, was passiert. tiven müssen einfach sein. Solange es mit Die Regierung macht nichts und erlaubt es unserer Mieterinitiative läuft, werde ich auch den Vermietern, die Gesetze auszunutzen. Ich dabei sein. Und für das Frühjahr stelle ich mir frage mich ganz ernsthaft: Wo wollt ihr mit den eine große Demo in Berlin vor. Mietern hin, die ihre Miete nicht mehr zahlen können? Ich stelle mir das so vor, dass wir eine Das Gespräch führte Sarah Nagel. Sie ist aktiv in Grundmiete haben, die für jeden erschwinglich einem Organizing-Projekt der Partei DIE LINKE ist. Jeder sollte vom Staat einen Zuschuss krie- in Gropiusstadt. Darüber hat sie Ilona Vater gen. Berlins Bürgermeister Müller hat gesagt, kennengelernt.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 99 STADTPOLITIKEN DES WILLKOMMENS KONFLIKTE UM NEUEN WOHNRAUM FÜR GEFLÜCHTETE

ULRIKE HAMANN Mit der Frage, wie Geflüchtete in Städten ankommen können, in denen ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum herrscht, müs- sen sich Stadtregierungen spätestens seit 2015 intensiv beschäftigten. Welche Art von Wohnraum in kurzer Zeit wo gebaut werden kann, ist umkämpft. Neubauvorhaben treffen vielfach auf Widerstände von lokalen Nachbar- schaften. Darin werden neue Konfliktkonstel- lationen sichtbar, in denen sich gegensätzliche Interessen, aber auch ein wachsender Ver- drängungsdruck in den Kiezen abbilden.

WOHNRAUMKRISE FÜR GEFLÜCHTETE Die Wohnungskrise ist in vielen Städten Folge einer neoliberalen Stadtpolitik, die riesige kommunale Wohnungsbestände privatisiert sowie soziale Absicherungen und städtische Verwaltungen so geschrumpft hat, dass auch Regulierungen wie Mietpreisbremsen nicht mehr durchgesetzt werden können. Auf dem Mietmarkt finden Menschen, die keine Spitzen- gehälter verdienen, derzeit kaum Wohnraum.

100 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Die Lage von Geflüchteten ist noch prekärer: Wohnraum Autonomie und Normalität ermög- Viele sitzen auch aufgrund des Mangels an licht und ein Grundbedürfnis von Geflüchteten Wohnraum nach wie vor in Gemeinschaftsun- ist, haben auch andere Untersuchungen terkünften fest. Die dort herrschende Enge und festgestellt (vgl. z. B. Vertovec et al. 2017). die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten erzeugen Das zeigt, wie wichtig es ist, dass möglichst Konflikte, die durch die Profitorientierung man- schnell möglichst viele Menschen aus den cher Unterkunftsbetreiber und die Reglemen- Sammelunterkünften ausziehen können. Es ist tierung durch Security-Firmen weiter verschärft die zentrale Weichenstellung und entscheidet werden. Die Lager entfalten eine »gefährliche mit darüber, ob das Ankommen gelingt. Doch soziale Wirkung« (Lebuhn 2016) und die allein in Berlin fehlen nach den Berechnungen psychosoziale Situation ist für Menschen mit des Senats rund 19 000 Wohnungen für woh- und ohne posttraumatische Belastungen pro- nungslose Menschen, zu denen Geflüchtete blematisch. Wann und wie (schnell) Menschen gezählt werden. Es müssen also sehr schnell aus den Lagern herauskönnen, wird durch eine sehr viele Wohnungen errichtet werden. Vielzahl von Gesetzen auf Bundes-, Landes- und lokaler Ebene reguliert (El-Kayed/Hamann 2018). In den Lagern leben Menschen zum ULRIKE HAMANN ist Sozialwissenschaftlerin am Ber- Teil seit 2015 unter Wohnbedingungen, die für liner Institut für empirische Integrations- und Migra- den Ausnahmefall gedacht waren. Es werden tionsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität und aktiv in stadtpolitischen Bewegungen. abhängig vom Bundesland Wohnflächen zwi- schen 4 und 7,5 Quadratmetern zugestanden, in geteilten Zimmern, in denen keine Privatsphäre herrscht. Allein in Berlin sind derzeit knapp MÖGLICHKEITEN DES NEUBAUS 22 000 Menschen in Unterkünften statt in VON WOHNUNGEN Wohnungen untergebracht und jeden Monat Für den beschleunigten Neubau wurden zwei kommen 650 Geflüchtete neu an.1 wesentliche gesetzliche Änderungen vorge- Die Aussagen von Geflüchteten zu ihrer nommen. Erstens wurde 2014 im Baugesetz- eigenen Lage finden nur selten den Weg in buch eine befristete Änderung eingeführt die öffentliche Debatte. In Berlin wurden in (§ 246 Absatz 10 BauGB), die es ermöglicht, Expertengesprächen mit Geflüchteten unter der auch Flächen zu bebauen, die nicht für Leitung der Senatsverwaltung für Integration, den Wohnungsbau ausgewiesen sind, wie Arbeit und Soziales Eckpunkte für eine »gelun- etwa Gewerbegebiete. Hier dürfen aber nur gene Integration« festgelegt. Der lange Verbleib »Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschafts- in den Unterkünften und die Schwierigkeiten, unterkünfte oder sonstige Unterkünfte für eine Wohnung zu finden, wurden darin als Flüchtlinge oder Asylbegehrende« entstehen. das zweitwichtigste Integrationshindernis Dieses sogenannte Flüchtlingsbaurecht schafft genannt (noch vor der Arbeitssuche und nach beschleunigte Baumöglichkeiten für eine dem unklaren Aufenthaltsstatus)2. Dass eigener spezifische Personengruppe. Richtige Woh-

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 101 Some human nungen auch für andere Personengruppen den jeweiligen Nachbarschaften von staatli- können erst entstehen, wenn die Bebauungs- chen Stellen übergangen werden können. pläne geändert werden (Berliner Morgenpost, Eine zweite Gesetzesänderung beeinflusst 10.9.2018). die Qualität der neuen Unterkünfte. Die Von Bedeutung sind hierbei zwei Rah- Änderung im Bundeshaushaltsgesetz sieht menbedingungen: Erstens gilt diese Änderung verbilligte Baumöglichkeiten nur für ganz der Baugesetzgebung nur bis Ende 2019. bestimme Formen der Nutzung vor: wenn Zweitens ist sie im Sinne der »öffentlichen für Geflüchtete gebaut wird sowie wenn Belange« durchsetzbar, die mit »nachbarlichen es sich um sozialen Wohnungsbau oder Interessen« vereinbar sein sollen. Jedoch wird soziale Infrastruktureinrichtungen handelt. auch hier gewichtet: »Angesichts der nationa- Die Neubauten für Geflüchtete, bekannt als len und drängenden Aufgabe bei der Flücht- »Modulare Unterkünfte für Flüchtlinge« lingsunterbringung ist Nachbarn vorüberge- (MUF) oder MUF 2.0, entsprechen dem Sozi- hend auch ein Mehr an Beeinträchtigungen alwohnungsstandard. Viele Architekt*innen zuzumuten (OVG Hamburg, Beschluss vom und wohnungspolitische Akteure kritisieren 12.1.2015 – 2 Bs 247/14)« (Bunzel 2015). Das trotzdem eine Substandardisierung, in der bedeutet, dass Wünsche oder Forderungen aus Bauweise, der mangelhaften Ausstattung und

102 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN den Grundrissen (vgl. Berner 2018). Zudem ist angesichts der Wohnungs- knappheit unklar, wer von der Errichtung der zentral geplanten Bauten profitiert. oS waren etwa in Berlin die ersten MUFs auf »scheinbar unerklär- liche Weise [...] teurer als reguläre Neubauwohnun- gen« (ebd.). Es geht also einer- seits um eine Frage, die sich Stadtregierungen schon länger stellen müs- sen: Wie entsteht in den Großstädten schnell Interessen übertrumpfen. Es stellt sich ekvidi preiswerter, guter Wohnraum? Eine zweite jedoch die Frage, welche Konflikte vor Ort wesentliche Frage, die sich daran anschließt, entstehen, wenn die Nachbarschaft gegen den richtet sich an die gesamte Stadtgesellschaft: Bau einer Unterkunft für Geflüchtete ist. Um Wo ist Platz für neue Wohnungen für Geflüch- gegenwärtige und zukünftige Konflikte zu tete? Die Anzahl städtischer Grundstücke ist verstehen, ist es hilfreich, sich anhand zweier auch durch die neoliberale Privatisierungs- Fallbeispiele die Gründe näher anzuschauen, welle der 1990er und 2000er Jahre minimiert die von Nachbar*innen genannt werden, die worden. Die verbleibenden Freiflächen sind sich gegen die Art oder Größe einer neuen umkämpft und selten ungenutzt. Unterkunft für Geflüchtete aussprechen. Dabei wurde bewusst kein Beispiel aus einer KONFLIKTE IN DEN NACHBARSCHAFTEN kleineren oder mittelgroßen Stadt ausge- Die Neubaupläne treffen auf lokale Nachbar- wählt, wo der Druck auf dem Mietmarkt oft schaften, für die die schnelle Unterbringung geringer ist und sich die Proteste häufigerin möglichst vieler Menschen in möglichst rassistischen »Nein-zum-Heim«-Kampagnen kurzer Zeit nicht unbedingt Priorität hat. äußern, sondern mit Berlin und Hamburg Für die Nachbar*innen ist zentral, welche zwei Großstädte mit sehr angespanntem Verdrängungsprozesse ohnehin schon Wohnungsmarkt. stattfinden und auf welche Weise sich die In Hamburg hat sich 2016 ein Dach- Nachbarschaft durch ein solches Vorhaben verband der Initiativen für erfolgreiche verändern wird. Zwar kann der öffentliche Integration (IFI) gegründet. Darin haben sich Versorgungsauftrag die nachbarschaftlichen Initiativen aus überwiegend wohlhabenden

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 103 Stadtvierteln wie Klein Borstel, Eppendorf geplanten Bau von 500 Wohneinheiten für oder Neugraben-Fischbeck zusammengetan, Geflüchtete. Eine Anwohnerinitiative hat sich die sich gegen die geplante Errichtung von in einem offenen Brief gegen die Errichtung Unterkünften für Geflüchtete wehren. Ihre der Wohnungen gewandt und nennt dafür Argumente sind: der Wunsch nach dem Erhalt wie in Hamburg vielfältige Gründe. Es wird von Naherholungsflächen, fehlende Infra- der Wunsch formuliert, die Integration von struktur für die plötzliche Aufnahme so vieler Geflüchteten in den Kiez zu ermöglichen, Menschen und die mangelnde Bürgerbeteili- zugleich aber auf die Gefahr der Verdrängung gung bei der Flächenauswahl sowie eine ge- des ansässigen Gewerbes und den Verlust von nerelle Intransparenz des Auswahlverfahrens. Grünflächen hingewiesen. Zudem wird eine Die Initiativen forderten als Konsequenz, wei- Umweltverträglichkeitsstudie eingefordert. tere »Unterbringungsalternativen zu suchen« Zentraler Kritikpunkt ist jedoch, dass bei der und »statt Provisorien [...] die Angebote an geplanten Anzahl von 500 Wohnplätzen von preiswertem Wohnraum in öffentlicher Hand einer Doppelbelegung der Zimmer auszuge- [zu] erweitern und in Zukunft zu sichern«.3 In hen sei, also eine Gemeinschaftsunterbrin- ihrem Protestschreiben fordern sie, Lösungen gung statt »Wohnraum für Geflüchtete und zu finden, »die von den Bürger*innen des Verdrängungsgefährdete« (Offener Brief 2019) Stadtteils und den Institutionen der Zivilge- geschaffen werde. Es wird gefordert, eine am sellschaft getragen werden«. Der Verband Bedarf der Geflüchteten orientierte Infrastruk- plante 2016 einen Volksentscheid gegen den tur aufzubauen und die Anwohner*innen an Bau von Großsiedlungen für Geflüchtete. Als der Planung zu beteiligen. Der zuständige Reaktion handelte die Stadt Hamburg mit ihm Bezirk gab daraufhin eine Machbarkeitsstudie sogenannte Bürgerverträge aus,4 in denen in Auftrag, die in einem für die Nachbarschaft ein Mindestabstand zwischen den Bauten transparenten Verfahren zwei Varianten der sowie eine Obergrenze von 300 Personen für Bebauung vorschlägt, wobei jedes Gebäu- die Unterkünfte festgelegt wurden. Zudem de Platz für 250 Menschen bieten würde konnte der Verband mit den Spitzen der (Heiglmeir/Rock 2019). Diese Zahl ist jedoch Regierungsparteien aushandeln, wie viele weiterhin nur mit einer Doppelbelegung von Unterkünfte pro Stadtteil gebaut werden Zimmern zu erreichen, die dem Unterbrin- und wie transparent und partizipativ dieser gungsstandard des Senats entspricht. Prozess vonstattengehen soll. Der Vertrag ist zwar nicht bindend für die Verwaltung, es KONFLIKTKONSTELLATIONEN muss jedoch jährlich im Stadtparlament über In Hamburg hat sich das Bündnis Recht auf die Umsetzung berichtet werden. Stadt zu dem drohenden Volksentscheid der In einer Nachbarschaft in Berlin, die Initiativen für erfolgreiche Integration (IFI) weniger wohlhabend und wesentlich reicher kritisch positioniert. Es greift dabei einerseits an Migrationsgeschichten ist, gibt es einen den »Notstandsurbanismus« der Stadt an, gänzlich anders gelagerten Streit um den die Containerdörfer zur Unterbringung von

104 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Geflüchteten errichtet. Zugleich kritisiert das zum Beispiel Ausbildungsplätze für das Bündnis aber, dass der Volksentscheid Geflüchtete anbieten soll. Diese Pläne liegen unter dem Anschein direkter Demokratie jedoch auf Eis. Die Senatsverwaltung für genau diejenigen ausschließe, die am meisten Finanzen will nun das Grundstück von seiner betroffen sind: die nicht wahlberechtigten landeseigenen Immobilienfirma, der Berlinovo Geflüchteten. In zehn Punkten argumentiert Grundstücksentwicklungs GmbH (BGG), das Bündnis, dass die »Not der Geflüchteten entwickeln lassen – eine Ankündigung, die die [...] keinen Aufschub« dulde, sondern »so Sorge der Anwohner*innen vor einer Verdrän- schnell, so viel, so zentral, so hoch wie eben gung des Gewerbes durch hohe Pachtpreise nötig und möglich« gebaut werden müsse. verstärkt (vgl. Jensch 2019). Die genannten Vorschläge der IFI seien dazu Aus den beiden Fallbeispielen Hamburg keine Alternative und ein Referendum würde und Berlin, wo um den Neubau für Geflüch- lediglich »die deutsche Notstandshysterie tete gerungen wird, lässt sich vor allem eins anheizen«. Zudem zögen solche Kampag- schließen: Es ist nicht einfach. Die Debatte nen Rechtspopulisten und Rassisten an. Es verläuft quer zu den traditionellen politischen gebe schließlich kein »Flüchtlingsproblem«, Lagern. Während die Anwohnerinitiativen in sondern ein Wohnungsproblem, und auch Hamburg von dem bewegungslinken Recht- Geflüchtete hätten ein »Recht auf Stadt«. auf-Stadt-Bündnis kritisiert werden, das für Eine »lokale Obergrenzen-Diskussion« sei das möglichst schnelle Bauen von möglichst zu vermeiden, da es, egal wo gebaut werde, vielen Wohnungen eintritt, kommt die Anwoh- immer Anwohner*innen geben würde, »die nerinitiative in Berlin aus einem ähnlichen das für unzumutbar halten« (Recht auf Stadt Spektrum wie das Hamburger Recht-auf- Hamburg, 2016). Stadt-Bündnis und wird von der FDP für In Berlin wurde der Anwohnerinitiative seine Abwehrhaltung kritisiert. Jenseits von in der Bezirksverordnetenversammlung von politischem Lagerdenken zeigt sich, dass Nach- der FDP entgegengehalten, eine solidarische barschaften in Städten, die seit Jahrzehnten Nachbarschaft könne auch 500 Menschen auf- den neoliberalen Stadtumbau erleben, unter nehmen. Die Anwohner*innen entgegneten, starkem Verdrängungsdruck stehen. Entspre- dass sie nicht bereit seien, weiter ehrenamt- chend haben sie wenig Ressourcen, darüber lich staatliche Integrationsaufgaben zu über- zu sprechen, wie sich »so viel und so hoch wie nehmen. Derzeit werden weitere Standorte nötig« bauen ließe. In den Stadtteilen, wo die im Bezirk geprüft; jeder Berliner Bezirk muss Gewinner*innen des neoliberalen Stadtum- 1 000 Unterbringungsplätze schaffen. Das von baus leben, werden Unterkünfte für Geflüchte- den Bewohner*innen vertretene Baukonzept te womöglich auch als Bedrohung der Grund- sieht Platz für 125 Geflüchtete vor, dafür aber stückswerte angesehen, was jedoch nicht laut Wohnungen für Menschen mit verschiedenen geäußert wird. In anderen Nachbarschaften, Hintergründen und eine Einbindung des von wie im Berliner Beispiel, wird um solidarische Verdrängung bedrohten lokalen Gewerbes, Lösungen für alle gerungen. Die Kontroverse,

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 105 wo neuer Wohnraum für Geflüchtete entste- Anleger mit riesigen Steuersubventionen für hen soll, zeigt eine komplexe Gemengelage die Schaffung von temporär bezahlbarem von zum Teil entgegengesetzten Interessen Wohnraum zu belohnen (siehe Holm in und es entstehen Konkurrenz und Konflikte diesem Heft), sollten die Förderprogramme um die Nutzung geschrumpfter Ressourcen. vor allem kommunale Wohnungsbaugesell- Wer sich am Ende durchsetzt, hängt von den schaften stützen bzw. sollte die Mittelvergabe jeweiligen Machtverhältnissen ab. zumindest an die Gemeinwohlorientierung der Bauträger geknüpft sein. Staatliche WILLKOMMENSBEDINGUNGEN Fördergelder sollten immer zu dauerhaften Doch wie ließe sich das Problem angehen? Belegungsbindungen führen. Welche juristischen, wohnungspolitischen Auf der Landesebene müssen Alternati- und stadtgesellschaftlichen Bedingungen ven zum »Notstandsurbanismus« entwickelt wären wichtig, um die urbanen Kieze unter werden. Denn die Menschen können nicht den jetzigen Bedingungen willkommensfähig wirklich ankommen, wenn ihre Wohnsitua- zu machen? tion immer nur temporär ist, zugleich aber Es ist notwendig, den »Notstandsur- ihr Recht auf Mobilität und freie Ortswahl banismus«, der seit 2014 Konzepte für die durch die sogenannte Wohnsitzauflage Unterbringung Geflüchteter leitet, hinter sich eingeschränkt ist (vgl. El-Kayed/Hamann zu lassen und die damit geschaffenen ohn-W 2016). Umzäunte Unterkünfte, Wachschutz bedingungen zu kritisieren. Auf Bundesebene und Pförtner*innen, die Bewohner*innen im müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen schlimmsten Fall reglementieren und terro- so verändert werden, dass beschleunigte risieren, verschärfen diese Sondersituation Baurechtsverfahren nicht nur für standardi- (vgl. Flüchtlingsrat Berlin e. V. 2018, 11). Von sierte Unterkünfte, sondern auch für guten daher braucht es staatliche Wohnkonzepte, Wohnraum möglich sind. Kommunen, die die reguläre Mietverträge auch für geflüchtete Wohnungen für Geflüchtete schaffen, müssen Bewohner*innen vorsehen, statt neue Ver- beim Ausbau ihrer Infrastruktur unterstützt träge für Betreiber von Gemeinschaftsunter- werden. Selbstverständlich benötigen mehr künften. Nur so erhalten Geflüchtete gleiche Menschen auch mehr Kita-, Schul- und Mieterrechte und sind nicht der Willkür von Ausbildungsplätze. Sie erhöhen zudem den Betreiberunternehmen ausgeliefert. Bedarf an medizinischer Versorgung, einem Um in den Nachbarschaften Bedingungen gut funktionierenden öffentlichen Personen- zu schaffen, die ein gutes Ankommen der nahverkehr sowie an sozialen Begegnungsor- Geflüchteten ermöglichen, müssen Stadtregie- ten und Gewerberäumen. Dies erfordert ein rungen den Verdrängungsdruck ernst neh- Ende der Austeritätspolitik und eine staatliche men, der auf den Anwohner*innen lastet, und Förderung der sozialen Infrastrukturen. Um dürfen das »Recht auf Stadt« der einen nicht nicht die Fehler des sozialen Wohnungsbaus gegen das der anderen ausspielen. Sie sollten der 1970er Jahre zu wiederholen und private vielmehr die Bereitschaft zur Solidarisierung

106 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN fördern. Gleichwohl sind in den Debatten mit dem keine Verdrängung einhergeht, aber nicht alle Akteure gleich(-berechtigt). Die durchaus eine Veränderung des nachbar- schon sichtbaren Akteure in Kiezen und Kom- schaftlichen Lebens. munen können versuchen, den Kreis der Be- teiligten zu erweitern, die Geflüchteten selbst LITERATUR Berner, Laura, 2018: Teure Zwischenlösung MUF. Gute als Akteure ernst nehmen und ihre Stimmen Wohnungen für alle statt neuer Substandard und Wohn- heime, in: MieterEcho 396, www.bmgev.de/mieterecho/ stärker einbeziehen: Welche Wünsche haben archiv/2018/me-single/article/teure-zwischenloesung- Menschen nach der Flucht an ihre Wohnsitua- muf.html Bunzel, Arno, 2015: Erleichtertes Baurecht für Flüchtlingsun- tion? Wie können geflüchtete Bewohner*innen terkünfte, Difu-Berichte 4/2015, https://difu.de/publika- frühzeitig in die Planung einbezogen werden? tionen/difu-berichte-42015/erleichtertes-baurecht-fuer- fluechtlingsunterkuenfte.html Das erfordert auch einen (selbst-)kritischen El-Kayed, Nihad/Hamann, Ulrike, 2016: Wohnsitzauflage Blick auf die Beteiligungsprozesse: Wer kann fördert nicht die Integration, in: Mediendienst Integrati- on, 5.7.2016 partizipieren (und wer nicht?) Wer gilt als El-Kayed, Nihad/Hamann, Ulrike, 2018: Refugees’ Access to Akteur, wer als Betroffene? Wer kann wie Housing and Residency in German Cities: Internal Border Regimes and Their Local Variations, in: Social Inclusion die eigenen Interessen artikulieren? Welche 6(1), 135–146 Berücksichtigung finden der Zeitdruck und die Flüchtlingsrat Berlin e. V., 2018: Wohnungen für alle statt immer neuer Obdachlosenunterkünfte, Berlin Notsituation von Geflüchteten? Heiglmeier, Anna/Rock, Frieder, 2019: Ratiborareal Kreuz- Schließlich ist es wichtig, nach Wohn- berg. Kooperative Machbarkeitsstudie, Berlin Jensch, Nele, 2019: Unterkünfte für Geflüchtete: Initiative formen und Lösungen zu suchen, die den Ratibor 14 ist »sauer und enttäuscht«, in: Der Tagesspie- unterschiedlichen Bedürfnissen Rechnung gel, 21.2.2019 Kasparek, Bernd/Speer, Marc, 2015: Of Hope. Ungarn und der tragen. Welche Art des Wohnens schafft neue lange Sommer der Migration, https://bordermonitoring. eu/ungarn/2015/09/of-hope/ Stigmatisierungen und schlimmstenfalls Lebuhn, Hendrik, 2016: Gemeinschaftsunterbringung Traumatisierungen? Kann es, wie in den Geflüchteter? Eine falsch gestellte Frage, in: LuXemburg- Online, April 2016, www.zeitschrift-luxemburg.de/ Debatten vielfach behauptet, zu viel Mi- gemeinschaftsunterbringung-gefluechteter-eine-falsch- gration für einen Stadtteil geben, und wenn gestellte-frage/ Offener Brief, 2019: Offener Brief an den Bezirksstadtrat von ja, wie viel ist zu viel und wer bestimmt Friedrichshain-Kreuzberg Florian Schmidt bezüglich der das? Müsste nicht viel eher gefragt werden, Bebauung des Areals Ratiborstraße 14 in 10999 Berlin Recht auf Stadt Hamburg, 2016: Migration findet Stadt. welche zusätzliche Infrastruktur Menschen Gegen die Hysterie – für eine andere Planung, www. mit Fluchterfahrung brauchen und ob die gwa-stpauli.de/fileadmin/img/dokumente/Migration_fin- det_Stadt.pdf bestehenden Angebote dies leisten können Vertovec, Steven et al., 2017: Addressing the diversity of asy- oder aufgestockt werden müssen? lum-seekers’ needs and aspirations, Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity, Göttingen Letztlich stellt sich nicht mehr die Frage, ob sich die Städte und Nachbarschaften nach 1 Vgl. www.berlin.de/laf/wohnen/allgemeine-informatio- dem »Langen Sommer der Migration« 2015 nen/aktuelle-unterbringungszahlen/artikel.630901.php 2 (Kasparek/Speer 2015) verändern werden oder 2 Vgl. www.berlin.de/koordfm/assets/newsletter/newslette rfluchtlingsmanagementnr.2koordfmsenias.pdf, S. 11. nicht, sondern die Frage, welche Bedingungen 3 Vgl. Eppendorfer Konzept zur Flüchtlingsunterbringung geschaffen werden müssen, um ein gutes unter www.gute-integration.de/. 4 Vgl. www.gute-integration.de/b%C3%BCrgervertr% Ankommen zu ermöglichen. Ein Ankommen, C3%A4ge/.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 107 BLÜHENDE LANDSCHAFTEN UND WOLFSERWARTUNGS- GEBIETE WAS ES HEISST, IN RECHTEN RÄUMEN POLITIK ZU MACHEN

KERSTIN KÖDITZ Gelegentlich verfestigt sich mein Verdacht, im Navi sei eine geheime Zusatzfunktion installiert worden, ein Tool, ausgerichtet darauf, in unregelmäßigen Abständen zu überprüfen, ob ich als Fahrerin noch auf- merksam genug bin, meinen Weg fortzuset- zen. Ohne ersichtlichen Grund fordert mich es mit freundlich-ruhiger, aber entschiedener Stimme auf: »Drehen Sie, wenn möglich, um!« »Ja«, seufze ich dann oft, »umdrehen wäre eine Option. Möglich ist es aber gerade nicht.« Und sinnvoll auch nicht, wenn das Ziel gerade in jener Richtung liegt, vor der mich das Navi eindringlich warnt. Es könnte allerdings auch sein, dass es sich bei dem Phänomen lediglich um eine akustische Halluzination, um eine Art Fata Morgana des Gehörs handelt. Denn beson- ders oft tritt es auf, wenn mein Ziel in der sogenannten Pampa liegt – in jenen Gegen- den also weit ab von den Leuchttürmen, die auf das Land ausstrahlen und es erhellen sollen, wo die Landschaft im ewigen Vorfrüh-

108 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN ling verharrt und einfach nicht zu blühen tatsächlich alles Männer, sind ein Immobili- beginnen will. Wenn ich zum Beispiel in enmakler, der durch die Parolen der Reichs- Dörfer will – oder genauer und ehrlicher: bürger auffällt, und ein ehemaliger Gastwirt, muss –, die demnächst wegen der Kohle im ein stadtbekanntes Original, der regelmäßig doppelten Sinne des Wortes abgebaggert zum »Tag der Republik« die DDR-Fahne an werden sollen – dorthin, wo sich der Wolf seinem Haus hisste und von dem inzwischen wieder prächtig vermehrt. neben Klagen über seine soziale Misere vor Dabei komme ich selbst aus ebendieser allem rassistische Hetze zu vernehmen ist. Pampa. Konkret: aus einer ehemaligen Kreis- stadt am Rande des Speckgürtels von Leipzig, LINKE GEHEN, RECHTE BLEIBEN die nach zahllosen Eingemeindungen heute DIE LINKE ist, was ihre Wahlergebnisse rund 30 000 Einwohner*innen zählt. Damit angeht, stabil. Überall im ländlichen Raum gehört sie noch zum privilegierten Teil der von Sachsen liegen diese leicht unter dem sächsischen Pampa. Zwei Jahrtausendhoch- Landesdurchschnitt. Noch bedeutet das den wasser hat der Ort innerhalb von nur zehn Jahren überstanden. Sogar ein Kino gibt es noch, vor nicht allzu langer Zeit erfreuten KERSTIN KÖDITZ ist seit 2001 Mitglied des sich die Bewohner*innen auch noch an Sächsischen Landtages und dort Sprecherin einer gut funktionierenden Innenstadt mit der Fraktion DIE LINKE für antifaschistische Politik. vielen kleinen Geschäften. Heute nimmt der Leerstand rasant zu. Viele der Läden konnten nur existieren, weil die Inhaber zugleich die zweiten Platz hinter der CDU. Kommunal Hausbesitzer waren und keine Miete zahlen befinden wir uns Kopf an Kopf mit der mussten. Inzwischen sind viele alt, haben die CDU, was wenig Aussagekraft hat, da drei Geschäfte aufgegeben und Nachfolger finden verschiedene, inhaltlich allerdings ähnlich sich nicht. ausgerichtete Wählergemeinschaften zusam- Es handelt sich, wie erwähnt, um die men fast über eine Zweidrittelmehrheit im sächsische Pampa. Politisch heißt das, dass Stadtrat verfügen. Der Oberbürgermeister ist die CDU zu allen Wahlen seit der Wende ein im Landesverband der Freien Wähler, die es Stück Kohle hätte aufstellen können. Es wäre in den Landtag zieht und die sich als Kraft direkt gewählt worden. Heute, kurz vor der zwischen CDU und AfD profilieren wollen. Landtagswahl 2019, hat die CDU Konkurrenz Sie betreiben Propaganda mit der populisti- bekommen, die ihre Hegemonie ernsthaft schen Verdammung von denen »da oben«, bedroht. Die AfD kann jetzt das ernten, was den Parteien, »der Politik« ganz allgemein die NPD in zehn Jahren Landtagsarbeit gesät und initiieren eigene Kampagnen mit hat. Ihr schadet es nicht, dass sie vor Ort so rechten Inhalten, etwa für den Pegida-nahen gut wie gar nicht präsent ist. Ihre bekann- Schauspieler Uwe Steimle oder gegen den testen Kandidaten für die Kommunalwahl, UN-Migrationspakt.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 109 Das Wort Zivilgesellschaft ist hier ein bleiben sie und der alte braune Mief. Aber Fremdwort. Die Einzelgewerkschaften wer will es jenen, die gehen, auch verden- haben sich mit ihren Geschäftsstellen schon ken, dass sie gehen? Gerade in Sachsen gilt vor mehr als zehn Jahren aus der Region noch immer der Spruch aus Feudalzeiten: zurückgezogen. Gruppen wie Amnesty oder Stadtluft macht frei. In den größeren Attac sind vor Ort nicht vorhanden. Ein Städten locken Viertel mit alternativer Kultur Eine-Welt-Laden als Anlaufstelle? Fehlan- und Mobilität, in denen es sich (relativ) zeige! Was bleibt, ist ein mehrfach ausge- sicher ohne Angst vor Naziübergriffen leben zeichnetes selbstverwaltetes Jugendprojekt: lässt. Wer will es jungen Menschen verden- das »Dorf der Jugend«, dem vom Jugendamt ken, dass sie das Problem eines Lebens ohne des Kreises ebenso hartnäckig wie boshaft schnelles Internet eintauschen gegen das bürokratische Knüppel zwischen die Beine Problem eines Lebens mit Gentrifizierung? geworfen werden. Und die Kirche. Gerade Wer würde es nicht genießen, plötzlich sie ist ein unverzichtbarer Bündnispartner mehr oder minder rund um die Uhr einen im Kampf gegen die extreme Rechte, fällt funktionierenden öffentlichen Personen- aber in der konservativ-pietistisch geprägten nahverkehr nutzen zu können, während sächsischen Landeskirche nur allzu häufig im ländlichen Raum der letzte Bus in die als solcher aus. Betätigen sich die jungen Nachbarstadt oft schon um 19 Uhr fährt? Leute des Jugendzentrums gegen rechts, Gerade weil auf dem Land die kritische intervenieren die Behörden gewöhnlich Masse fehlt, um die Verhältnisse dort zum im vorauseilenden Gehorsam gegenüber Tanzen zu bringen oder zumindest in der AfD mit ansonsten ungekannter Ge- einigen Bereichen positiv zu verändern, schwindigkeit. Sie greifen zur stärksten zur stellen wir als Partei vor Ort die linke Verfügung stehenden Waffe: dem Neu- Sammlungsbewegung dar. Wir führen keine tralitätsgebot. Auch auf das Landesamt für Strategiedebatten darum, ob eher die sozial Verfassungsschutz ist Verlass: Regelmäßig Ausgegrenzten in prekären Verhältnissen warnt es, der Demokratie drohe Gefahr, oder die hedonistisch orientierten, urbanen wenn »Linksextremisten« an einer Podiums- Bildungseliten unsere Zielgruppe sind. Man- diskussion teilnähmen. gels Masse. Jeder, der oder die in der Provinz Trotzdem sind wir privilegiert mit dem (und das ist in Sachsen der gesamte Frei- »Dorf der Jugend«. Der Normalfall für die staat außerhalb der drei Großstädte Leipzig, Linke und DIE LINKE in der sächsischen Chemnitz und Dresden) politisch aktiv ist, Pampa sieht eher so aus, dass junge Leute weiß, dass Widerstand nur bei Bündelung eine Zeitlang für ein Projekt oder gegen die aller vorhandenen Kräfte möglich ist. Und rechte Hegemonie aktiv sind, dann Abitur dass wir für jede Hilfe dankbar sein müssen, machen und zum Studium in die Großstadt die wir von außen bekommen können. gehen. Jene, die zurückbleiben, sind im Aber es wäre zu schön, wenn nicht auch Wortsinn die Zurückgebliebenen. Zurück das mit Problemen verbunden wäre. Denn

110 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN natürlich ist es problematisch, wenn das Kultur- und Politikveranstaltungen stattfin- örtliche Zentrum für demokratische Kultur den. Aber selbst wenn dessen finanzielle und dank entsprechender staatlicher Förderung personelle Ausstattung inzwischen nicht über einige bezahlte Stellen verfügt, die dort mehr prekär ist, ist das alles keine Garantie Beschäftigten jedoch verständlicherweise dafür, dass der Wind nicht plötzlich wieder nicht vor Ort, sondern in der nahegelegenen umschlägt und die politischen Angriffe Großstadt leben. Und natürlich macht es nunmehr durch Akteure erfolgen, die bisher uns, den Zurückgebliebenen, Mut, wenn im örtlichen politischen Leben keinerlei Rolle nach etlichen militanten Übergriffen auf gespielt haben. Geflüchtete von außen eine Solidaritätsde- mo organisiert wird – trotz massiver Hetze WURZEN IST ÜBERALL vonseiten vieler Kommunalpolitiker*innen Ich will es konkret an einem Beispiel aufzei- und der Medien und eines martialischen gen: Wurzen mit seiner ebenso bekannten Polizeiaufgebots. Aber wenn diese Soli- wie unrühmlichen Vergangenheit als darität übenden Menschen, die sich ins »national befreite Zone« ist glücklicherweise sogenannte Wolfserwartungsgebiet gewagt nicht mehr das Wurzen von damals. Das dort haben, wieder zurück in ihren Großstädten ansässige Netzwerk für demokratische Kultur sind, dann sind die wenigen Ansässigen, die (NDK) ist heute sachsenweit eine der bekann- sich mit ihnen auf die Straße getraut haben, testen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen. noch immer vor Ort. Mit dem Wissen, dass Heute wird es von der Stadtverwaltung nicht sie von den Nazis ausgiebig gefilmt worden mehr als Gegner oder als Nestbeschmutzer sind, dass sie selbst das nächste Angriffsziel gesehen, sondern als Partner, auch und sein können. gerade bei der Arbeit mit Geflüchteten. Und Alle, die geblieben sind, leben mit dem trotzdem steht das NDK unter Dauerbe- Wissen, dass es eines sehr langen Atems schuss. Dazu bedarf es noch nicht einmal bedarf, wenn man in der Kleinstadt oder der AfD, die in der Region bei Wahlen zwar gar auf dem Dorf die Verhältnisse und das auf rund 30 Prozent der Stimmen kommt, politische Klima verändern will. Manchmal aber vor Ort personell kaum vertreten ist. gibt es Lichtblicke, wenn es zum Beispiel Die Rolle des Angreifers hat eine aus dem gelingt, die rechte Hegemonie in einem Nichts aufgetauchte Bürgerinitiative nach Kommunalparlament zu brechen und ein dem Vorbild von Pegida übernommen, an offenes Stadtoberhaupt zu installieren; wenn deren ersten Veranstaltungen in der Klein- es gelingt, die über lange Jahre im Stadtrat stadt bereits mehrere Hundert Menschen vertretene NPD so sehr zu schwächen, dass teilnahmen. Hauptfeindbild war von Anfang sie noch nicht einmal mehr zur Kommunal- an das NDK, gegen das eine Massenpetition wahl antritt; oder wenn es gelingt, die Arbeit initiiert wurde. Keine der bisher bekannten des lokalen Demokratiezentrums so zu Führungspersonen dieser Initiative war bis verstetigen, dass dort regelmäßig alternative zu ihrer Gründung in der Stadt politisch

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 111 hervorgetreten. Motor ist ein Mann aus dem feste Gefahr von rechts ging. Irgendwann kirchlichen Spektrum, der in den Vorwen- aber setzte sich sogar in Teilen der CDU die dezeiten in Leipzig bei der damals entste- Erkenntnis durch, dass wir überall in Sachsen henden Sozialdemokratischen Partei aktiv ein Problem mit der extremen Rechten ha- war. Die Gruppe nennt sich »Neues Forum ben. Spätestens nach der Landtagswahl 2004, für Wurzen« und tritt mit einer Liste aus als die NPD in den Landtag einzog und fast so neun Personen in Konkurrenz zur ebenfalls stark wurde wie die SPD, konnte das eigent- kandidierenden AfD zur Stadtratswahl an. Die lich niemand mehr leugnen. Die Landkarte Mehrheitsverhältnisse könnten also wieder sprach eine deutliche Sprache: In fast der kippen, die Stellung des NDK wieder einmal Hälfte aller Wahlkreise hatte die NPD besser bedroht sein. als die SPD abgeschnitten. Es handelt sich All dies wäre nur für Wurzen von Belang, ausnahmslos um Wahlkreise im ländlichen wenn Wurzen ein Einzelfall wäre. Aber Raum, also jene Gebiete, die eigentlich durch Wurzen ist überall. Es sind nicht vorrangig die Leuchttürme – die Großstädte – erhellt die schlechten sozialen Verhältnisse, die werden sollen, die aber tatsächlich unter hier diesen Backlash eingeleitet haben. Die Abwanderung und massiver Ausdünnung Arbeitslosigkeit ist in Wurzen im Vergleich der Infrastruktur zu leiden hatten. Vor allem zu den vergangenen finsteren Zeiten spürbar aber, und das wird gern vergessen, handelt zurückgegangen. Es gibt Firmenansiedlun- es sich um Regionen, in denen es nicht nur gen im nennenswerten Umfang und sogar keine Kneipe und keine Sparkasse mehr gibt, Einpendler*innen, begünstigt durch eine gute sondern zudem keinerlei Zivilgesellschaft. ÖPNV-Anbindung an die Großstadt Leipzig. Es sind leider die Nazis in der Oberlausitz, Kommunaler Wohnraum steht ausreichend die dafür einen treffenden Slogan gefunden und zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung. haben: »Der Mensch geht, und die Wölfe Bei weiterhin vorhandenen Problemen wie kommen.« Überalterung und einer negativen demo- Diejenigen, die vor den Folgen dieser grafischen Entwicklung unterscheidet sich Entwicklung warnten, wurden lange Zeit Wurzen nicht erheblich von vergleichbaren als Nestbeschmutzer gebrandmarkt und sächsischen Städten. Was hier vor allem geächtet, aus der Stadt- bzw. Dorfgemein- blüht, sind autoritäres und undemokratisches schaft ausgeschlossen. Es bedarf wohl keiner Denken, offen zur Schau gestellter Rassis- Erläuterung, weshalb ein solcher Ausschluss mus, Vorurteile gegen Lesben und Schwule in der Provinz problematischer ist als in der und natürlich der Hass auf die immer und Großstadt. Oft blieb es nicht bei dieser Form überall viel zu wenigen, die sich dagegen des Angriffs, oft gesellte sich körperliche engagieren. Gewalt hinzu. Die politische Dimension Ja, Wurzen ist überall. In früheren Tagen dieser Gewalt wurde notorisch verdrängt. Es war stets von Wurzen und der Sächsischen handele sich, so die beliebte These, lediglich Schweiz zu hören, wenn es um die mani- um Auseinandersetzungen zwischen unter-

112 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN schiedlichen Jugendgruppen. Nichtrechte war es ihr erklärtes Ziel, »Ausländer und Jugendliche waren die wichtigste Opfer- Zecken« zu vertreiben. Der Druck wuchs gruppe der Nazischläger, die gerade in der und wuchs. Natürlich ist es müßig, in dieser Provinz häufig die egemonieH innehatten. Situation auf Blauhelmeinsätze der UN Damals wäre noch ausreichend Polizei zum zu hoffen. Hoffnung konnten wir uns nur Eingreifen vorhanden gewesen. Aber auch gemeinsam geben, wir mussten solidarisch wenn die Zahl der Polizist*innen seitdem zusammenstehen, alle hinderlichen Unter- deutlich abgenommen hat, unterscheiden schiede ignorierend. Die Navi-Aufforderung sich die Erfahrungen jener Zeit nicht von den »Drehen Sie, wenn möglich, um!« hilft nicht, Zuständen von heute. Es ist deutlich, dass wenn man sich schon an dem Ort befindet, es in der Polizei ein strukturelles Problem den man eigentlich meiden soll. In solchen mit Rassismus gibt, ebenso deutlich sind die Fällen ist eine Intervention von außen Sympathien einer nennenswerten Zahl von unverzichtbar. Dann ist »die Antifa« das Polizist*innen mit dem Gedankengut der Blauhelmkontingent. Und wenn dann, wie extremen Rechten. Es ist auffällig, dass diese in Mittweida damals geschehen, fast 1 500 Affinität in bestimmten Einheiten wie Bereit- Antifaschist*innen am Sammelpunkt der schaftspolizei, den »Beweissicherungs- und Demo stehen, dann kann es passieren, dass Festnahme-Einheiten« (BFE) oder den »Spe- der über 70-jährigen Genossin, die ansons- zialeinsatzkommandos« (SEK) ausgeprägter ten immer »Keine Gewalt!« fordert, fast die zu sein scheint als bei Streifenpolizist*innen. Tränen in den Augen stehen, wenn über Verlässliche Zahlen oder wissenschaftliche die Lautsprecher der Chumbawamba-Song Erhebungen dazu fehlen jedoch. Unabhängig »Enough ist enough« mit der Textzeile »Give davon aber besteht auf dem Land ein zusätz- the fascist man a gunshot« erklingt. liches Problem, das die Lage verschärft. Der »Ach, wenn mir’s nur gruselte!«, Personalabbau bei der Polizei und die langen wünscht der Held in dem »Märchen von Anfahrtswege führen zwangsläufig dazu, dass einem, der auszog, das Gruseln zu lernen« lediglich die Opfer vernommen werden kön- inständig. Doch aller Bemühungen zum nen, es bei der Strafverfolgung aber hapert. Trotz will sich bei ihm das Gruseln nicht Die Täter können sich so sicher fühlen. einstellen. Ich hätte ihm vorgeschlagen, zu uns in die sächsische Provinz zu kommen. WIDERSTAND IM WOLFSLAND Er hätte es schnell gelernt. Im Märchen Auch dieses Problem mit der Polizei macht bekam er, nachdem er sich gegruselt hatte, es immer wieder möglich, dass Regionen im die Königstochter und das halbe Königreich. ländlichen Raum innerhalb weniger Monate In Sachsen bekäme er irgendwann eine zu Schwerpunkten politisch motivierter solidarische Gesellschaft der Freien und Kriminalität von rechts werden. Als die Gleichen, wenn er nur lange genug kämpft. Kameradschaft »Sturm 34« im Kreis Mittwei- Keine leichtere Aufgabe, aber doch das da und darüber hinaus ihr Unwesen trieb, lohnenswertere Ziel.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 113 DIE SEHNSUCHT NACH DER STADT UND DIE FURCHT VOR DER NICHT-STADT WAS SCIENCE-FICTION MIT URBANER REALITÄT ZU TUN HAT

CHRISTOPH SPEHR Städte sind ein zentrales Element von Science-Fiction, insbesondere im Film. Es sind Orte dunkler Faszination und spekta- kulärer Ästhetik. Manchmal ist die Stadt der Schauplatz von autoritärer Kontrolle und so- zialem Zusammenbruch. Dann wieder ist sie eine Maschine der Veränderung, eine Fabrik der Kreativität und Subversion, eröffnet neue Möglichkeiten. Aber immer ist die Stadt der Ort, wo man sein muss, wo »es« passiert. Die wirkliche Dystopie ist die Welt außerhalb der Stadt. Die Nicht-Stadt ist die am meisten beunruhigende und verstörende Zukunftsvision in der heutigen Science-Fic- tion. Jenseits der Tore der Stadt liegt einfach nichts. Da sind keine Dörfer, da gibt es kein ländliches Umland, keine verheißungsvolle Wildnis, nur Wüste und Ruinen. Die Nicht- Stadt ist eine endlose, lebensfeindliche, gesichtslose Einöde. So wird sie gezeigt in »Land of the Dead« (2005), »Mockingjay« (2014) und »Blade Runner 2049« (2017). Sie bildet den äußeren Rahmen der Handlung in

114 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN »I, Robot« (2004) oder »Aeon Flux« (2005). gegen das Land: weg von Repression und In »Equilibrium« (2002) heißt die Gegend Konsumwahn, hin zu alternativen Lebens- außerhalb der Stadt «Nether« – ein Wort für formen. Aber seit den 1990er Jahren gehört Unterwelt oder Hölle. all das der Vergangenheit an. Das Landleben In der Nicht-Stadt kann man nicht leben. ist verschwunden. Die Stadt ist seither der Die Umwelt ist zerstört, es gibt keinen Schutz einzige Ort in der Science-Fiction. vor Gewalt, keine Hilfe, keine Versorgung. Es ist, als ob die Stadt alle Luft an sich gezogen DIE FUTURISTISCHE STADT: VON METROPOLIS hätte, wie ein Feuerball, neben dem man BIS ZUR DESURBANISIERUNG erstickt. Die Stadt hat das Land ausgesaugt, Die Geburtsstunde der futuristischen Stadt ist ihm alle lebensnotwendigen Ressourcen »Metropolis« von Fritz Lang (1927). Der Film entzogen. Die hohen Mauern und überwöl- basiert auf dem zwei Jahre zuvor erschiene- benden Glaskuppeln der Städte markieren die nen gleichnamigen Roman von Thea von Grenze von Gesellschaft. Draußen kann man Harbou. Zwischen 1920 und 1933 waren sich mit Glück eine kurze Zeit durchschlagen, mehr nicht. Das war nicht immer so. In vielen CHRISTOPH SPEHR ist Politiker und Autor. Bis 2015 Science-Fiction-Filmen und Romanen der war er Sprecher des Bremer Landesverbandes der 1960er und 1970er Jahre fand das gute Leben LINKEN. Von ihm erschien unter anderem »Die Aliens sind unter uns!« sowie »Volks-Autos und außerhalb der Stadt statt. Die Vorstellung Kollontai-Höfe? Einstiege in einen grünen Sozialis- eines modernen Arkadiens, einer antiurbanen mus 2030«. Gegenwelt zu den Zwängen und der Enge einer selbstzerstörerischen Zivilisation ist ein wiederkehrendes Motiv dieser Zeit, von Harbou und Lang ein kreatives Traumpaar »Flucht ins 23.Jahrhundert« (1976) bis zu der deutschen Kulturszene. Dann ging Lang Margaret Atwoods »Geschichte der Dienerin« nach Amerika. Harbou, erklärte Anhängerin (1985, 1990 verfilmt). In Doris Lessings »Die des NS-Regimes, blieb. Die visuelle und Memoiren einer Überlebenden« (1974) treibt erzählerische Vision von Metropolis prägte der Zusammenbruch der Zivilisation die die Vorstellung von der Science-Fiction-Stadt Menschen aufs Land. »Ökotopia« von Ernest für lange Zeit. Callenbach (1975) ist die Utopie einer de- Metropolis ist vertikal. Der Bruch mit zentralisierten Gesellschaft, die keine Städte der horizontalen Dimension von Siedlung mehr kennt. Carl Amerys »Der Untergang erschafft eine übersteigerte Version von New der Stadt Passau« (1975) lässt die nomadische York, mit einem düsteren Flair von »Gothic«. Zivilisation über die Stadt triumphieren. All Auch die Sozialstruktur ist vertikal: Die das spiegelte reale Tendenzen der damaligen Reichen wohnen in Hochhäusern, während Zeit. Viele Progressive, enttäuscht von der die Arbeiter unter Tage arbeiten und leben, Entwicklung nach 1968, tauschten die Stadt wo riesige Maschinen die Stadt am Laufen

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 115 halten. Dem Film wurde kommunistische platz der Handlung, ist allerdings kein Ort der Propaganda vorgeworfen, weil er die Grau- Freiheit. Sie ist ein Experiment in Verhaltens- samkeit der Klassengesellschaft vorführte und kontrolle, in Social Engineering. Everytown einen Aufstand der Arbeiterklasse zeigte. Die ist eine Erziehungsdiktatur, geleitet von politische Botschaft von Metropolis ist aber der selbsternannten Avantgarde-Elite der mehr faschistisch als sozialistisch. Lang zeigt »Airmen«. Erst nach hundert Jahren Erzie- die Revolte als ein unverantwortliches, fehlge- hungsdiktatur sind die Menschen in der Lage, leitetes Unterfangen. Die gespaltenen Klassen aus eigenen Stücken friedlich, aufgeklärt und werden von einem »Mittler« versöhnt. Adolf fortschrittlich zu leben, und der Staat »stirbt Hitler bewunderte Langs Film. ab«. Es ist eine staatssozialistische Utopie. Die Stadt ist in Metropolis ein unheiliger Das Versprechen der futuristischen Stadt ist Ort, ein neues Babel. Der Film zeigt die nicht Selbstbestimmung, sondern autoritär Moderne als Zerfall, als Verlust der natürli- kontrollierter Wohlstand. chen Ordnung, als Absturz in den Materia- In den 1930er Jahren prägten die Pulps, lismus, in Gier und Aggression. Damit steht billig und massenhaft produzierte Sience- Metropolis in einer langen Tradition von Fiction-Magazine, das Bild der futuristischen »Urbophobie«. Seit es Städte gibt, wurden Stadt, allen voran das Monatsheft Amazing sie dämonisiert und für jede gesellschaftliche Stories. Stromlinienform, glänzendes Chrom Veränderung verantwortlich gemacht, mit und jede Menge technische Gimmicks machen der die Autor*innen nicht übereinstimm- die Stadt der Zukunft aus, vermischt mit einer ten. Die Linie des Anti-Urbanismus reicht Prise Art Déco. nannte diese von der Zerstörung Sodoms in Bibel und Ästhetik »das Gernsback-Kontinuum« (nach Tanach bis zur Stadtfurcht der konterrevo- Hugo Gernsback, dem Gründer der Amazing lutionären französischen Aristokratie, vom Stories) oder »Raygun Gothic« und beschrieb US-amerikanischen Frontier-Mythos bis zum sie als bis heute wirksamen Traum von »einer heutigen Rechtspopulismus, der die städti- Zukunft, die es nie gab«. Der Gernsback-Stil schen Metropolen für ihre Libertinage und schuf das Chrysler Building (1932) und eine Diversität ebenso hasst wie deshalb, weil das Reihe von kurvigen, metallglänzenden Tank- »Establishment« dort wohnt. stellen und Kinos mit überkragendem Flach- Aber es existiert auch eine parallele dach, die in den 1930er und 1940er Jahren Tradition in der modernen Science-Fiction. überall in den USA entstanden. Aber es gab nie In ihr erscheint die futuristische Stadt als eine Stadt, die in diesem Stil erbaut worden Leuchtturm des Fortschritts: technologisch wäre. Glücklicherweise. Die Gernsback-Stadt hoch entwickelt, vernünftig geplant und ist ein ökologischer Albtraum in Sachen Ener- verantwortlich gemanagt. Als klassischer gieverbrauch, Ressourcenverschwendung und Bezugspunkt dieser Traditionslinie gilt H.G. motorisiertem Individualverkehr, ob rollend Wells' »The Shape of Things to Come« (1933, oder fliegend. ieS gehört in eine Zukunft, die verfilmt 1936). Die Stadt Everytown, Schau- heute unglaublich von gestern ist.

116 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Bereits in den 1950er Jahren kam die futuristi- perschlange« (1981), zeichnete das Manhattan sche Stadt aus der Mode. Die Stadt überhaupt der Zukunft als riesigen Hochsicherheitstrakt. kam in Verruf, sie galt zunehmend als über- Nur in der feministischen Science-Fiction holt. In Clifford Simaks Roman »City« (1952) der 1960er und 1970er Jahre herrschte eine haben intelligente Hunde die Erde übernom- gewisse Ambivalenz und Balance vor, was men, nachdem die Menschen sie verlassen die Stadt betraf. Ursula Le Guins »Planet der haben, und rätseln über die archäologischen Habenichtse« (1974) zeigt die kapitalistische Zeugnisse dieser Kultur: »Kein Wesen, das je- Stadt als Ort der Ungleichheit, der Gewalt ne Stufe nervlicher Reizbarkeit entwickelt hat, und der Unterdrückung. Aber sie ist auch ein die notwendig ist, um eine Kultur entstehen Ort des Wunderbaren, in einer sinnlichen zu lassen, hätte in einer derartigen Enge über- Weise attraktiv mit ihrer Ansammlung von leben können.« Die Stadt bei Simak ist »tot«, Zivilisation. Sie ist auf politische Weise inter- »gescheitert«, »ein Anachronismus«, »ein essant und verführerisch, weil dort Konflikte unmögliches Konzept«. In Simaks Zukunfts- sichtbar werden und Individualität möglich vision ist sie verschwunden, dank fortschrittli- wird. chen Transportmitteln und Automatisierung. Es gibt einfach keinen Grund mehr dafür, DIE BEGEHRTE STADT: irgendjemand oder irgendetwas physisch in VON »BLADE RUNNER« ZU DEN »FREE TOWNS« ständiger Nähe zu haben. Nach »Blade Runner« (1982) war nichts mehr Die Urbanisierung verlangsamte sich tat- wie vorher. Ridley Scotts Adaption des Ro- sächlich in den 1960er Jahren. Um 1980 kam mans von Philip K. Dick veränderte das Bild sie buchstäblich zum Erliegen, zumindest der Stadt in der Science-Fiction von Grund fast. Abwanderung in die Vorstädte, Zerfall auf. Der Film schrieb die visuelle Grammatik der Innenstadt, das Ende des wirtschaftlichen der futuristischen Stadt neu und holte die Expansionszyklus nach dem Weltkrieg, die Stadt zurück ins Zentrum der Science-Fiction. politischen Auseinandersetzungen und Eine Vision in Nacht und Neon, düster und Straßenschlachten der 1968er-Revolte, die glänzend im ständigen Regen, inspiriert nicht Rezession nach der Ölkrise 1973, Aufrüstung mehr von New York, sondern von Los Ange- und Delegitimierung der politischen und öko- les, Hongkong und Tokio. Ein dystopischer nomischen Eliten und ihrer innerstädtischen und faszinierender Ort, der unbestimmter Symbolbauten: All das waren Bausteine einer bleibt und sich gleichzeitig viel realer anfühlt realen Abkehr von der Stadt. Konservative als die klinische Optik der futuristischen und Alternativkultur waren sich einig, dass Stadt der 1930er Jahre. Ein Mix verschiede- die Stadt irgendwie unten durch war. Lou ner Kulturen, ein Labyrinth mit überfüllten Reed träumte sich 1967 in »Heroin« »weg Straßenszenen, extremer Dichte und kurz von der großen Stadt/wo ein Mensch nicht dahinter verlassenen Blocks und vergessenen frei sein kann«. John Carpenter, in »Die Klap- Gebäuden.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 117 »Blade Runner« war maßgeblich vom Städte gleichermaßen alt und neu aus. Es sind Cyberpunk beeinflusst, der wiederum faszi- keine utopischen Planstädte, sondern lebende niert war von unkontrollierten, unregierbaren Organismen. »Dark City« (1998), wo sich die Städten wie der »Walled City« in Kowloon, der Stadt über Nacht umbaut, ist die unheimliche William Gibson in »« (1996) ein Denk- Version. In »Inception« (2010) dagegen ist die mal setzte. Die andere Quelle war der Film Möglichkeit, einen bestimmten Ort in der Stadt Noir der 1940er Jahre mit seiner radikalen zu verändern, damit zu spielen, ein Akt der Kre- Konfrontation von Existenzialismus und Poli- ativität, eine sinnliche Versprechung. Die Stadt tik, von Kontrolle und leiser Aufkündigung der ist der Schauplatz von Machtkämpfen, sozialen Loyalität. »Blade Runner« übersetzte den Film Kämpfen und neuen Trends. Sie ist der Sitz von Noir in die Science-Fiction. Seither ist die Stadt Macht und Gegenmacht, der Ort von Kontrolle wieder die Zukunft. Sie ist der Ort, wo über die und der Möglichkeit, sich dieser zu entziehen. Zivilisation entschieden wird, so oder so. Sie macht soziale Beziehungen sichtbar. In der Die Frage, warum es um die Städte Stadt kann man Gesellschaft und ihre Machtver- herum so trostlos aussieht, wird im aktuellen hältnisse anfassen, man kann sie sehen. Sience-Fiction-Film meist mit dem Hinweis auf »Blade Runner« ist eine Geschichte ökologische Krise und Staatszerfall beantwortet. über illegale Migration. Die »Replikanten«, Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Es ist das gentechnisch hergestellte Androiden, sind gesellschaftliche Begehren, das sich in neuer Arbeitssklaven ohne Rechte, eingesetzt in den Ausschließlichkeit auf die Stadt richtet. Die äußeren Kolonien. Sie fliehen in die Stadt, um Stadt ist wieder attraktiv, trotz all ihrer Proble- unterzutauchen. Sie folgen der Verheißung der me. Sience-Fiction markiert diese Verschiebung Anonymität, die Baudelaire und Benjamin in genauso wie die Bewegung des New Urbanism der industriellen Urbanisierung entdeckten. im Städtebau. Sie entfaltet eine Qualität von Seither macht Stadtluft frei, ohne dass jemand Gesellschaftlichkeit, die zwischen der engen die Erlaubnis dazu geben müsste. sozialen Kontrolle, die mit dem Land assoziiert Marge Piercy durchbricht die Alternativ- wird, und der totalen Anonymität liegt. In der losigkeit der einen Stadt in »Er, Sie und Es« Stadt kann man sich treffen und für sich sein (1991). Neben Megalopolis gibt es die Free und alles dazwischen. Der Essenshändler mit Towns, die Freistädte: kleiner, unabhängig, seinem fliegenden Food Truck, bei dem Korben technologisch entwickelt. In dem Sience-Fiction- Dallas in »Das fünfte Element« (1997) sein Comic »Trees« (2015) nehmen Warren Ellis und Mittagessen kauft und sich aus dem Fenster Jason Howard den Faden auf mit Shu, einer heraus mit ihm unterhält, ist eine Hommage an chinesischen Freistadt, einem Ort für künstle- den Barmann des Film Noir: jemand, mit dem rische Freiheit, fließende Geschlechterrollen man reden kann, weil er außerhalb des eigenen und persönliche Heilung. Visionen von Freiheit sozialen Netzwerks steht. und Freiraum, von selbstbestimmten sozialen Wie die am meisten begehrten Städte der Netzwerken und der freien Wahl individueller wirklichen Welt sehen die neuen fiktionalen Lebensweisen sind zentral für die Idee der Stadt

118 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN in der derzeitigen Sience-Fiction – in völligem Belt der USA oder die ostdeutschen Regionen Gegensatz zur aktuellen städtebaulichen Ent- mit Bevölkerungsschwund, Gegenden, die wicklung, die sich dafür überhaupt nicht interes- von der allgemeinen Entwicklung zurückge- siert. Die Stadt in der aktuellen Sience-Fiction lassen werden. Die Nicht-Stadt breitet sich in ist ein umkämpfter Raum: zwischen Dystopie der Stadt aus. Als Verlust von Urbanität, wo und Begehren, Kontrolle und Anarchie, Unter- die Straße durch die Mall ersetzt wird, der drückung und Ermächtigung. Der blinde Fleck öffentliche Raum durch Privatisierung, die aber ist die Nicht-Stadt. Und hier gibt es keinen städtische Toleranz durch den neuen Irratio- Unterschied zur raumplanerischen Realität. nalismus. Warum sollen jene Qualitäten, die das Zwischen beidem besteht eine Verbin- Versprechen der Urbanität ausmachen, die in- dung. Die Freiheit der Stadt und der Export dividuelle und kollektive Sehnsucht nach der von Urbanität hängen eng zusammen. In Stadt, auf ein paar Riesenstädte beschränkt den USA wird offen darüber diskutiert, ob sein? Die Entwicklung der Kommunikations- es eigentlich noch Dörfer und Kleinstädte technologien und der Übergang zur globalen geben soll. Paul Krugman sagt, nein: »Es Netzwerkproduktion verweisen darauf, dass war einmal eine Zeit […], da waren Klein- diese extreme urbane Konzentration alles städte zentrale Orte, die eine überwiegend andere als selbstverständlich ist. Der neue ländliche Bevölkerung versorgten« (New York Run auf die Stadt ist nicht zuletzt Ausdruck Times, 30.12.2017) mit Information, Bildung, einer neuen kollektiven Armut. Das »Nether« qualifizierter Arbeitskraft und Marktplätzen. ist gemacht. Wir können oder wollen es uns Aber »in der modernen Ökonomie, die keine nicht leisten, das öffentliche Gut »Urbanität« Verbindung zum Land mehr hat, existieren breiter zur Verfügung zu stellen als nur in kleine Städte nur noch aufgrund von histo- einigen wenigen hochverdichteten Zonen. rischer Kontingenz, die über kurz oder lang Wir investieren nicht in die breite Verteilung ihre Bedeutung verliert.« (ebd.) Henry Grabar von Infrastruktur, Verkehr, Dienstleistungen, erinnert daran, dass Theodore Roosevelt 1908 Produktion, Verwaltung und Kultur. Nicht die Revitalisierung der ländlichen Gebiete zur weil es nicht möglich wäre, sondern weil es nationalen Aufgabe machte, mit viel Geld und Investition und Anstrengung erfordern würde. letztlich erfolgreich. Der einzige Unterschied Die Stadt ist alternativlos, weil der politische zu heute ist, dass sich kaum jemand für ein Mut fehlt, privatisierten gesellschaftlichen derartiges Projekt starkmacht. Die wachsende Reichtum anzutasten, um dezentrale Urbani- Stadt-Land-Spaltung ist ein globales Problem, tät zu finanzieren. dem man sich nicht zuwendet. Die Mega- Die Angst vor der Nicht-Stadt ist dort citys horten Urbanität und behalten sie für besonders stark, wo die Stadt verloren geht. Es sich, was alle anderen als eine neue Form der geht nicht nur um die Ruinen von Aleppo und Ausbeutung sehen. Damit haben sie Recht. Mosul. Es geht genauso um Flint nach dem Die nächste Welle der Science-Fiction wird das Wegzug von General Motors, um den Rust thematisieren.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019 119 WER SCHREIBT

GESCHICHTE?

RÜCKBLICKE

AUF DIE WENDEZEIT GESCHICHTE?

SCHREIBT WER 1989/90 war eine Zäsur in der deutschen Geschichte. Die Hoffnun- gen auf eine Demokratisierung und Erneuerung des Sozialismus in der DDR wurden schnell von den Ereignissen überrollt und gerieten in ein neues Fahrwasser. Der Mauerfall, Wahlen, der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik, eine vorzeitige Währungsunion, die Privatisierung der volkseigenen Betriebe, ein bis dato unbekann- ter Anstieg der Massenarbeitslosigkeit sowie die Übernahme von Führungspositionen durch Westdeutsche haben die (ost-)deutsche Geschichte und die Biografien der in der DDR aufgewachsenen Menschen nachhaltig geprägt und beschädigt. Die Wunden sind kaum vernarbt und werden erst langsam anerkannt. Aber auch die alte BRD, die manchen Ostdeutschen mit ihrer Rei- sefreiheit und ihrem hohen Konsumniveau als Sehnsuchtsort galt, veränderte sich. Der Neoliberalismus, entstanden aus der Krise des Fordismus in den 1970er Jahren, entfaltete nun, wo er sich ungehindert globalisieren konnte, seine volle Dynamik und setzte die alte Wohlfahrtsstaatlichkeit der BRD massiv unter Druck. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hat diese Zäsur(en) in sich aufgenommen und gespiegelt, ver-spiegelt oder zerr-spiegelt ästhetisch verhandelt und die subjektive Seite der Ereignisse von 1989/90 nachgezeichnet. Zahlreiche Romane haben die Einzelgeschichten und Schicksale, die doch immer auch Typen reflektieren und Allgemeines aussagen, erinnerlich gemacht: In- go Schulze, Annett Gröschner, Regina Scheer, Clemens Meyer, Jenny Erpenbeck, Erasmus Schöfer, Reinhold Andert, Christoph Hein, Manja Präkels, Peter Richter, um nur einige zu nennen. Was denken diese Schriftsteller*innen heute über die Ereignisse von damals? Bewerten sie sie neu? Was hat sich damals eigentlich verändert? Was ging zu Ende und was begann? Und was ist für sie das Allgemeine hinter ihrem konkreten Schicksal? Die Zeitschrift LuXemburg wirft einen Blick auf 30 Jahre seit der Wende und die Folgen und beginnt ab diesem Heft mit einer Reihe, in der Künstler*innen sich mit der Zäsur 1989/90 ausei­ nandersetzen.

121 NEUNUNDACHTZIG NEUNZIG INGO SCHULZE

Je unsicherer die Gegenwart, desto drängender das Bedürfnis, sich in der Vergangenheit des eigenen Herkommens zu vergewissern. Um das dreißigjährige Jubiläum der Friedlichen Revolution vom Herbst 1989 zu feiern, gibt es grob gesagt zwei unterschiedliche An- sätze. Der eine reduziert alles auf den 30. Jahrestag des Mauerfalls, der andere begreift den Herbst als Prozess, in dem die Öffnung der Westgrenze ein Meilenstein war, aber nicht der einzige. Ich halte den zweiten Ansatz für den angemessenen. Die Ereignisse der Friedlichen Revolution/des Umbruchs/des Herbstes 89 auf den Mauerfall zu konzentrieren, ist allerdings das herrschen- Wer vom Mauerfall spricht, de Deutungsmuster, nicht nur, weil ein Datum, ein Er- hat den Westen schon im Boot. eignis griffiger ist als ein Prozess, es für den »Mauerfall« Denn dorthin strömten die Menschen – Bilder und Reportagen gibt und der Begriff »Mauer« die auch wenn der Großteil Qualität eines mythischen Elementes besitzt, also über nach einigen Stunden wieder sich hinausweist. Zudem: Wer vom Mauerfall spricht, hat nach Hause in den Osten zurückkehrte. den Westen schon im Boot. Denn dorthin strömten die Menschen – auch wenn der Großteil nach einigen Stun- den wieder nach Hause in den Osten zurückkehrte. An den Mauer- fall lassen sich folgerichtig die späteren Stationen des Beitritts wie an einer Perlenschnur reihen: Die Parteien im Osten treten den ent- sprechenden Westparteien bei (die CDU mit erheblicher Verspätung, aber umso effektiver, nur die SED-PDS blieb sitzen), man wählt die Stellvertreter Kohls im Osten und wählt sie wieder und wieder. Die D-Mark wird eingeführt und gefeiert, der politische Beitritt ist nur ein lauer Nachvollzug der wirtschaftlichen Übernahme des Ostens durch die Währungsunion. Den Rest erledigt die Treuhand. Es wird Bedauern geäußert, vielerorts sei es hart gewesen, was aber der Verweis auf die »marode« Wirtschaft im Osten und die Zwänge der Marktwirtschaft entschuldigt, was ebenfalls stimmig ist, solange man die Unvermeidlichkeit der Einführung der D-Mark samt ihres Umtauschkurses voraussetzt. Damit ist das Geschehen abgehakt,

122 historisch eingeordnet und für die Gegenwart nach dreißig Jahren nicht weiter relevant, schon gar nicht, wenn man im Westen aufge- wachsen ist und gelebt hat. Der Mauerfall als das Ende eines Irrweges im östlichen Deutschland, der sich an die Staunend und fast ungläubig zwölf Jahre des Tausendjährigen Reiches anschloss. Die habe ich im Herbst 89 Begleitmusik dazu lieferte leider Willy Brandt mit seinem die Veränderungen wahrgenommen, schiefen Satz, dass nun zusammenwachse, was zusam- denn was da Tag für Tag geschah, mengehöre, als wäre die deutsche Teilung eine Frage war schöner und befreiender und der Natur und keine politische, soziale, ökonomische, weitreichender als alles, was ich kulturelle. Einen noch fragwürdigeren Ausdruck fand zu träumen überhaupt gewagt hatte. diese Ideologie im Abriss des »Palastes der Republik« – ein genauso unsouveräner Akt wie der Abriss des zerbombten Schlosses – und im Bau der Schlossattrappe in Berlins Mitte, die nun Humboldt-Forum genannt werden will. Es ist der Sprung aus Kaiserzeit und Weimarer Republik in die Gegenwart. Die andere Geschichte ist meine Geschichte und die vieler anderer – ob wir die Mehrheit bilden, weiß ich nicht. Das käme auf den Zeit- punkt der Befragung und deren Formulierung an. Ich selbst musste mir diese Geschichte erst erarbeiten, sie unter der Marmorplatte des offiziellen Geschichtsbildes hervorzerren, wie etwas, das ich einmal verloren und dann vergessen hatte, weil es nicht mehr sichtbar ge- wesen war. Staunend und fast ungläubig habe ich im Herbst 89 die Die Freiheit und Souveränität haben Veränderungen wahrgenommen, denn was da Tag für wir Ostdeutsche, die sich damals noch Tag geschah, war schöner und befreiender und weitrei- nicht so nannten, selbst erobert und chender als alles, was ich zu träumen überhaupt gewagt sie mit großer demokratischer Mehrheit hatte. Der Weg in einen demokratischen Sozialismus in Windeseile an die Bonner Regierung schien unvermeidlich, selbst für jene, die ihn nicht für weitergereicht. möglich gehalten hatten. Dementsprechend schockar- tig wirkte der Abbruch dieses Prozesses auf mich. Eben hatten wir noch darüber diskutiert, wie die Betriebe von den dort Arbeiten- den übernommen werden könnten, als es mit der Einführung der D-Mark nur noch darum ging, einen westlichen Partner zu finden, um wenigstens einer Rumpfbelegschaft die Weiterbeschäftigung zu

123 ermöglichen. Die Freiheit und Souveränität haben wir Ostdeutsche, die sich damals noch nicht so nannten, selbst erobert und sie mit großer demokratischer Mehrheit in Windeseile an die Bonner Re- gierung weitergereicht. Das bedeutete: Eine Volkswirtschaft wurde innerhalb weniger Monate auf den Markt geworfen. Das war, wie vorauszusehen gewesen war, ihr Ende. Das Territorium der DDR wurde zu einem staatlich hochsubventionierten Absatzmarkt, ohne dass Konkurrenz hinzugekommen wäre. Vier Aspekte sind mir heute besonders wichtig, wenn ich an die Zä- sur von 89/90 denke. Zunächst die internationale Wirkung und die teilweise unmerkliche Veränderung von Selbstverständlichkeiten in jedem von uns, womit ich keinesfalls nur die Deutschen oder Euro- päer meine. Betrachtet man Asien, insbesondere China, Das Verschwinden einer sozialistischen Indien oder Vietnam, die arabische Welt, die afrikanischen Alternative aus vielen Köpfen Staaten, die Amerikas, insbesondere Südamerika und die aufgrund der 89er-Ereignisse Karibik – überall hat 89/90 auf eigene Art und Weise statt- habe ich an mir selbst miterlebt, obwohl gefunden oder wurde reflektiert. Das Verschwinden einer es mich von heute aus sehr verwundert. sozialistischen Alternative aus vielen Köpfen aufgrund Denn die Austreibung des Stalinismus war der 89er-Ereignisse habe ich an mir selbst miterlebt, ob- ja überhaupt erst die Voraussetzung für wohl es mich von heute aus sehr verwundert. Denn die einen demokratischen Sozialismus. Austreibung des Stalinismus war ja überhaupt erst die Voraussetzung für einen demokratischen Sozialismus. Zweitens konnte erst nach dem Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation der Kapitalismus tatsächlich global werden. Drittens wird nicht nur der Widerspruch zwischen privaten Besitz- verhältnissen und gesellschaftlicher Produktion immer deutlicher, sondern auch die Unangemessenheit einer technologischen Ent- wicklung, die wenige Eigentümer hat, aber alle betrifft. Google, Amazon, Facebook, Microsoft etc. wie auch die avanciertesten Technologien (Quantentechnik, Künstliche Intelligenz) werden pri- vatwirtschaftlich betrieben und sind damit demokratischer Kontrolle entzogen. Viertens war der Osten dem Westen in einem überlegen: Er lebte nicht vom Süden. Im real existierenden Sozialismus wurde die Umwelt im Vergleich zum europäischen Westen eher mehr als

124 weniger ruiniert. Den Dreck, den die Herstellung unserer Produkte verursachte, mussten wir selbst schlucken. Als Otto Schily nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit einer Banane in der Hand vor die Kamera trat, wollte er klarmachen: Die Ostdeutschen haben sich für den entschieden, von dem sie sich den größten Wohlstand versprechen. Ganz gleich, ob man ihn dafür kritisierte oder lobte, alle taten so, als würden die Bananen an Rhein und Mosel wachsen. Dass sie zu Preisen importiert werden, die denjenigen, die auf den Plantagen arbeiten, kaum ein menschenwürdiges Dasein ermögli- chen, spielte damals und spielt heute keine Rolle oder ist bestenfalls eine Fußnote wert. Einerseits habe ich die fatalistische Hoffnung, dass die Zuspitzung der Verhältnisse ein Handeln bei Strafe des Untergangs erzwingt – oder eben den quälenden Untergang in Raten. Anderer- seits gibt es eine unbegründete, wilde, schöne Hoffnung, ... alle taten so, als würden die Bananen die glauben möchte, der sanfte Zwang des besseren an Rhein und Mosel wachsen. Arguments könnte sich auch gegen übermächtige Inte- ressengruppen und ihre militärische und zivile Lobby durchsetzen. Ein scheinbar abseitiges Pflänzchen dieser Hoffnung ist die Prove- nienzforschung, die in den 1980 Jahren schon einmal in der Öffent- lichkeit präsent gewesen ist, aber mit 1989 wieder verstummte. Sie rekonstruiert die Umstände und Wege, unter denen die Kunstwerke in unsere bewunderten Museen gelangten – um sie gegebenenfalls an ihre alten Eigentümer zurückzugeben. Es ist das Eingeständnis von Unrecht und Schuld und der Versuch, der eigenen Verantwor- tung gerecht zu werden und zu heilen, was noch zu heilen ist. Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass sich zumindest in diesem Bereich ein Umdenken andeutet, das als Vorbild dienen und damit ein Muster für die ganze Gesellschaft abgeben könnte. Dass die schärfste Aus- einandersetzung zu diesem Thema in Deutschland ausgerechnet das Humboldt-Forum betrifft, gibt der Reanimation der Schlossfassade doch noch einen Sinn: Stellvertretend für ihre einstigen Bewohner muss sie mit ansehen, wie deren Untaten der Prozess gemacht wird. Ihr Inneres wird so schnell nicht zur Ruhe kommen.

125 DIE ZERFETZTE FAHNE ERASMUS SCHÖFER

Als die beiden damals mächtigsten Männer der Welt, Gorbatschow und Bush, 1990 sich auf Malta lachend die Hände schüttelten, weil sie das Ende der gegenseitigen Untergangsdrohung mit Atomraketen beschlossen hatten, dachte ich, dass der Russe endlich den infernali- schen Wettlauf um das höhere Vernichtungspotenzial zwischen Kapi- talismus und Sozialismus durchbrochen hatte. Beide Mächte vernich- teten in den folgenden Jahren einen großen Teil ihrer Atomraketen. Mir schien meine lebensalte existenzielle Hoffnung auf den Sieg der humanistischen Vernunft durch den Kommunisten erfüllt worden zu sein. Ich wollte mit Gorbatschow glauben, dass der Kapitalist durch dieses Friedensangebot vom Nutzen eines Die hoffnungsvolle Sympathie, friedlichen Wettstreits zwischen den Staaten die dem russischen Kommunisten bei den überzeugt worden sei. antikommunistisch indoktrinierten Westdeutschen Die hoffnungsvolle Sympathie, die dem entgegengebracht wurde, bekundete sich russischen Kommunisten bei den antikom- am klarsten in der Koseform seines Namens. munistisch indoktrinierten Westdeutschen Kein nordamerikanischer Präsident, nicht einmal Kennedy, entgegengebracht wurde, bekundete sich erwarb je eine solche Zuwendung der deutschen am klarsten in der Koseform seines Namens. Bevölkerung und ihrer politischen Öffentlichkeit. Kein nordamerikanischer Präsident, nicht einmal Kennedy, erwarb je eine solche Zu- wendung der deutschen Bevölkerung und ihrer politischen Öffentlich- keit. Die Mehrheit der Menschen in der DDR allerdings glaubte lieber Kohl und seinen Versprechungen, verwarf ihr sozialistisches Eigentum und huldigte dem Gott Konsum. Aber der trunkene Jubel der Massen Silvester 89 am Brandenburger Tor war schon der Vorbote des Untergangs, den wir sahen im Rhein- hausener Stahlwerk an der Flimmerkiste. Sie stiegen mutlos auf den gelöschten Hochofen in der Nacht zu den Sternen – so endet mein Roman von den »Kindern des Sisyfos« nach vier Bänden Kämpfen und Niederlagen seit 68: »Manfred Anklam wies mit dem Strahl seiner star- ken Lampe nach oben, zu der Kranhütte, über der tatsächlich der rote

126 Fetzen flatterte. Und lachte mit ihnen.« Der Trotz der Verzweiflung? Das war geschrieben fünfzehn verstummte Jahre nach dem Ausverkauf der zerfetzten sozialistischen Realität in der DDR und der Sowjetunion. Da war für mich geklärt, dass die Kommunisten noch nicht ihren eignen Idealen vom freundlichen solidarischen Menschen entsprachen und ihre Gegner Flotten mit noch gefährlicheren Flugzeugträgern auf die Weltmeere schickten. Asche im Kopf, war das existenziell deprimierende Gefühl des Autors. Aber die Not der nicht gewendeten Verhältnisse peinigte mich zu mei- ner erneut schreibenden Suche nach Glut unter aller Asche. Asche im Kopf, war das existenziell Dietmar Dath, der helle Kopf, fordert heute deprimierende Gefühl des Autors. mutig mit Lenin die neue kommunistische Aber die Not der nicht gewendeten Verhältnisse Formation, die allein in der Lage sei, mit den peinigte mich zu meiner erneut schreibenden revolutionären Massen die Eigentumsord- Suche nach Glut unter aller Asche. nung des Kapitals umzustürzen. Wenn ich die unheimliche militärische Hochrüstung der Machtha- benden gegen uns sehe und die verblödende Uniformierung der herr- schaftstragenden Medien, dann kann ich die gewaltsame Umwälzung der Gesellschaft mit der Kraft der Schwachen nicht für möglich halten. Und die Chinesen mit ihrem strategischen Selbstbewusstsein und ihrer semikommunistischen Macht? Können sie die Weltrettung bewirken? Darauf haben wir Europäer keinen Einfluss. Vielleicht verzehrt sich der wölfische Kapitalismus, da er von Krise zu Krise taumelt, auf einer Resultante des historischen Fortschritts wie das Feuer, das verlischt, wenn sein Brennstoff verbraucht ist? Einen Weltbürgerkrieg kann kein Mensch wünschen. Was ich beobachte, ist, dass ein friedliches solidarisches Leben mitei- nander an vielen noch unscheinbaren Orten der Gesellschaft ohne rote Fahnen geübt wird. Auch wächst neu der Widerstand in den Köpfen und Körpern gegen die naturzerstörenden Kräfte des kapitalistischen Wirtschaftens. Bei der Bahnfahrt der Fünfzigtausend in den Hambacher Forst steckten wir wenigen Grauköpfe in einer atemberaubenden Men- ge entschlossen fröhlicher junger Frauen, Männer und Kinder.

127 VERGEIGT REINHOLD ANDERT

Von einem meiner Philosophiedozenten hörte ich, er sei in den Wirren des Jahres 1990 in die Alpen gefahren und hätte auf einem hohen Berg stundenlang mutterseelenallein über das Leben nachgedacht. Zu jener Zeit saß ich gemütlich am Frühstückstisch. Das Einzige, was sich in meinem Leben verändert hatte, war, dass ich nun wählen konnte zwischen einem weißen und einem braunen Frühstücksei. Mein Berg lag nämlich schon zehn Jahre zurück. Damals bekam ich eine Auffor- derung der SED-Kreisleitung Berlin-Mitte, Das Einzige, was sich in meinem Leben mein »Dokument«, meinen SED-Mitglieds- verändert hatte, war, dass ich nun wählen konnte ausweis, abzugeben. Man hatte mich aus zwischen einem weißen und einem braunen Frühstücksei. den stolzen Reihen der Partei entfernt. Mein Berg lag nämlich schon zehn Jahre zurück. Wer sich von so einem glühenden Sozia- listen wie mir trennt, der wird, dachte ich damals, unsere Sache vergeigen. Meine Lieder wurden melancholisch und die seltenen Auftritte fanden nur noch in kulturpolitisch verwahr- losten Gegenden statt. Mit dem Vergeigen behielt ich Recht. Was ich nicht ahnte, weil es allen bisherigen Abläufen der deutschen Geschichte widersprach, war die Schnelligkeit und Brutalität, mit der das Ende der DDR inszeniert wurde. Und die ungeheure Naivität, mit der die meisten unserer Leute den falschen Parolen hinterherliefen. Besingen konnte man so etwas nicht. Also legte ich die Gitarre beiseite und setzte mich an die Schreibmaschine. Das erst Buch hieß »Die VIPs der Wende«. Die neuen Politiker aus dem Osten, die Kollaborateure, hatten für die Broschüren der Landtage und des Bundestages ihre Biografien abgeben müssen. Nach der Geburt folgte bei ihnen ihr Wirken im Herbst 89. Dazwischen war nichts. Ich füllte ihr Dazwischen auf, und dieses Büchlein musste sechsmal nach- gedruckt werden. Das nächste Buch hieß »Rote Wende«. Die grenzenlose Dummheit, mit der die vermeintlichen Sieger ihre Beute behandelten, war ja nicht lustig. Trauriges aber wollte ich nicht schreiben. Also drehte ich die Sache um.

128 Die DDR hatte gewonnen und stülpte der alten BRD ihr System über. Zwei Beispiele: In der Hamburger Rosa-Luxemburg-Allee, der ehemaligen Reeperbahn, gab es am Wochenende in der einzigen Nachtbar – ein Zugeständnis an In der Hamburger Rosa-Luxemburg-Allee, ausländische Matrosen – eine Unterwäsche- der ehemaligen Reeperbahn, gab es am Wochenende Modenschau aus Limbach-Oberfrohna. In in der einzigen Nachtbar – ein Zugeständnis Marburg nahm Margot Honecker eine Um- an ausländische Matrosen – eine Unterwäsche-Modenschau benennung einer Schule vor. Das ehemalige aus Limbach-Oberfrohna. Elisabeth-Lyzeum bekam den Namen einer polnischen Widerstandskämpferin der BRD: »10. EOS Teresa Orlowsky«. Damals verloren fast neun Millionen über Nacht ihren Arbeitsplatz. Heute, fast dreißig Jahre danach, steht die Quittung dafür auf ihrem Rentenbescheid. Bei vielen reicht das Geld nicht, um in die Alpen zu fahren. Sie suchen andere Alternativen. Dass sie wiederum falschen Pa- rolen hinterherlaufen, kann man bedauern. Aber man beginnt, öffentlich wieder über das Leben nachzudenken. Den Begriff »sozial« hört man jetzt öfter. Vielleicht auch irgendwann wieder »sozialistisch«.

INGO SCHULZE, Jg. 1962, arbeitete nach seinem Studium der klassischen Philologie in Je- na bis 1990 als Dramaturg am Landestheater Altenburg und war anschließend journa- listisch tätig: 1990 begründete er die »unabhängige Zeitung« Altenburger Wochenblatt mit, die bis Herbst 1991 erschien. Seit Mitte der 1990er Jahre lebt Schulze als freier Schriftsteller in Berlin. Seit 2006 ist er Mitglied der Akademie der Künste Berlin sowie des PEN-Zentrums Deutschland. Von ihm erschien zuletzt »Peter Holtz. Sein glückliches Leben von ihm selbst erzählt« (2017).

ERASMUS SCHÖFER, Jg. 1931, wurde 1970–1973 als Mitgründer und Sprecher des Werk- kreises Literatur der Arbeitswelt bekannt. Als sein Hauptwerk gilt die zwischen 2001 und 2008 erschienene Romantetralogie »Die Kinder des Sisyfos«, in der Schöfer in Form eines Zeitromans die Geschichte der westdeutschen 68er-Bewegung erzählt und, aufge- hängt an den Biografien der Romanfiguren, durch die politischen und sozialen Kämpfe der 1970er und 1980er Jahre hindurch weiterverfolgt.

REINHOLD ANDERT, Jg. 1944, war von 1966 bis 1973 Mitglied des Oktoberklubs. Nach seinem Ausschluss aus der SED 1980 waren seine Auftrittsmöglichkeiten in der DDR eingeschränkt. Seit Beginn der 1990er Jahre ist er vor allem als Autor satirischer Texte tätig. Von ihm erschien u.a. »Unsere Besten. Die VIPs der Wendezeit« (1993), »Rote Wende« (2002) und »Heilige Lanzen« (2013).

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Was sind die Anforderungen an linke Politik für eine Gesellschaft der Vielen? Auf der Migrationskonferenz »Haymat« wurde im April in Hannover darüber diskutiert. Foto: RLS Nachzuhören unter: www.rosalux.de/dokumentation/id/40504/

»HISTORICAL MATERIALISM« tentas (Katalonien) und Panagiotis Sotiris (Griechen- RÜCKBLICK AUF DIE KONFERENZ IN ATHEN land). Der Ort war gut gewählt für eine Reflexion Vom 2. bis 5. Mai fand zum ersten Mal eine dieser Themen, hat doch die erzwungene Kapitu- Konferenz von »Historical Materialism« in Athen lation der SYRIZA-Regierung gegenüber der Troika- statt. Seit 2003 werden die Jahreskonferenzen Politik fundamentale strategische Fragen für die dieses internationalen Netzwerkes marxistischer gesamte europäische Linke aufgeworfen. Gleichzei- Wissenschaftler*innen immer im November in tig lassen sich an Griechenland die verheerenden London abgehalten. Zusätzlich gibt es Veranstal- Auswirkungen der ökonomischen Krise, aber auch tungen in anderen Ländern und Städten, darunter der Niedergang antineoliberaler Widerstandsbewe- New York. Nun also tagte »Historical Materialism« gungen in den letzten Jahren exemplarisch nach- unter dem Titel »Rethinking Crisis, Resistance and vollziehen. Auffallend war die breite Beteiligung von Strategy« erstmals in Griechenland und erstmals in Wissenschaftler*innen aus dem Balkan und aus offizieller Kooperation mit einem Regionalbüro der Osteuropa, für die ein Visum für Großbritannien oft Rosa-Luxemburg-Stiftung. schwer zu bekommen oder schlicht zu teuer ist. Über 700 Menschen folgten der Einladung in die Insofern hat die Athener Konferenz die Reichweite Athener Panteion-Universität, um über Krise und von »Historical Materialism« vergrößert und mehr Widerstand zu diskutieren. Auf einer der zentralen Stimmen aus der ›europäischen Peripherie‹ in inter- Plenumsveranstaltungen »For a Strategy of Revolu- nationale Debatten involviert. tion We Need a Revolution of our Strategies« spra- In den insgesamt 128 Panels mit über 400 chen unter anderem Catarina Príncipe (Portugal), Referent*innen spiegelte sich die ganze Band- Ines Schwerdtner (Deutschland), Josep Maria An- breite zeitgenössischer marxistischer Forschung

130 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN

WAS WAR

zu Politik, Geschichte, Philosophie, Kunst und lichen Events entwickelt, die sich mit Fragen eines Kultur. Es waren vor allem Jüngere, die ihre politischen Marxismus befassen, sowie zu einem Forschungsergebnisse vor- und zur Diskussion wichtigen Ort für den Austausch marxistischer stellten. Vielen von ihnen bot die Konferenz eine Wissenschaftler*innen. Die 16. Jahrestagung wird wohl einzigartige Möglichkeit, sich mit ähnlich vom 7. bis 10. November unter dem Motto »Thun- gesinnten Wissenschaftler*innen aus aller Welt der Claps: Disaster Communism, Extinction Capita- auszutauschen. Eine prominente Rolle spielte der lism, and How to Survive Tomorrow« an der School griechische Ökonom Costas Lapavitsas, dessen of Oriental and African Studies der University of polemische ­EU-Kritik für viele Kontroversen sorgte – London stattfinden, wieder mit reger Beteiligung wiederum ein Ausdruck der strategischen Krise der aus dem Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Linken. Die mehrtägigen Historical-Materialism-Konferen- Florian Wilde und Loren Balhorn zen haben sich zu den international wohl bedeu- tendsten regelmäßig stattfindenden wissenschaft- Mehr Infos: www.historicalmaterialism.org/

»ALLES FASCHISMUS ODER WAS?« AUFSTIEG UND FALL DISKUSSIONSREIHE, 7.–21. MAI IN BERLIN DER BOLIVARISCHEN REVOLUTION Die Neue Rechte reklamiert für sich einen Bruch mit »LUXEMBURG LECTURE« dem historischen Faschismus. Kann man dennoch MIT STEFAN PETERS IN BERLIN von einem ideologischen Kern von Mussolinis Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ruhten die Hoff- italienischen Schwarzhemden über die AfD und die nungen der Linken auf Lateinamerika. Mit dem Identitäre Bewegung bis hin zu Salvini, Duterte und Rückenwind kräftig steigender Rohstoffpreise ver- Bolsonaro sprechen? Sind die klassischen Faschis- zeichneten Venezuela und andere Länder nicht nur mustheorien tauglich, um die heutigen »Faschis- viel beachtete soziale Entwicklungserfolge, sondern men« zu beschreiben? Mit dem Faschismusforscher auch ein hohes Wirtschaftswachstum. Doch bald Roger Griffin aus Oxford und einem der besten wurden die Erfolgsmeldungen spärlicher, der Mo- Kenner der europäischen Neuen Rechten, Volkmar dellcharakter wurde durch Korruptionsvorfälle und Wölk, diskutierten zwei ausgewiesene Schwer- autoritäre Tendenzen infrage gestellt. Spätestens gewichte diese Fragen am 14. Mai im Salon der mit dem Tod von Hugo Chávez und dem Einbruch Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. Die Veranstaltung der Erdölpreise begann der Niedergang der Boli- war Teil der dreiteiligen Reihe »Alles Faschismus varischen Revolution. Der Friedensforscher Stefan oder was?«, zu der die Stiftung gemeinsam mit dem Peters lieferte in seiner Lecture am 1. April im Karl Dietz Verlag Berlin und dem Willi Münzenberg Salon der Stiftung eine materialistische Analyse des Forum eingeladen hatte. Ziel war es, mehr Klarheit Scheiterns des Chavismus. In der Diskussion stellte in die Begrifflichkeiten zu bekommen und Faschis- sich angesichts der gewaltförmigen Zuspitzung der muskonzepte auf ihre Anwendbarkeit auf heutige Widersprüche auch die Frage nach Szenarien für Phänomene hin zu diskutieren. die Zukunft.

Videodoku: www.rosalux.de/dokumentation/id/40479/ Videodoku: www.rosalux.de/dokumentation/id/40296/

WAS WAR | LUXEMBURG 2/2019 131 Paul Mason stellte im Kino Babylon in Berlin-Mitte sein Buch »Klare, lichte Zukunft« vor, Foto: RLS Videodoku: www.rosalux.de/dokumentation/id/40562

DEN HUMANISMUS RADIKAL VERTEIDIGEN Frage, wie eine Erneuerung linker Politik aussehen DISKUSSION MIT PAUL MASON UND KATJA KIPPING, kann. Mason verwies auf Marx‘ frühe Schriften und 6. JUNI IN BERLIN schlug vor, den Klassenkampf neu zu denken – als Wie noch an die Zukunft glauben angesichts von verbindendes Element zwischen unterschiedlichen Klimakatastrophe und Krisenkapitalismus? Und Positionen wie etwa denen von prekär Beschäf- wie an die Menschheit? Der britische Autor und tigten, Migrant*innen, Frauen oder Transgender- Wirtschaftsjournalist Paul Mason ruft in seinem neu Aktivist*innen. Zugleich gelte es, weiter die Fragen erschienenen Buch zur »radikalen Verteidigung des nach sozialer Gerechtigkeit zu stellen und Eigen- Humanismus« auf und nimmt im Titel »Klare, lichte tumsverhältnisse zum Thema zu machen. Kipping Zukunft« Bezug auf ein Zitat Leo Trotzkis: »Meine verlangte, auch die feministische Forderung nach Lebenserfahrungen haben meinen Glauben an die Verfügung über die eigene (Lebens-)Zeit ins Zen- klare, lichte Zukunft der Menschheit nicht zerstört, trum linker Politik zu rücken. Neue soziale Bewe- sondern im Gegenteil gefestigt.« Im Kino Baby- gungen für eine bessere Zukunft wie »MeToo«, lon in Berlin-Mitte diskutierte Mason Anfang Juni »Fridays for Future« oder die Wohnungskampagne mit Katja Kipping über eine Rückkehr zum linken »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« machten Humanismus in einer Zeit, in der Ressentiment und Mut. Ein »Red Green New Deal« könne ein Projekt Nationalismus Konjunktur haben und digitale Al- sein, das unterschiedliche Kreise, Forderungen und gorithmen die Kontrolle in vielen Lebensbereichen Kämpfe zusammenführt. Veranstalter waren die übernehmen. Masons Thesen boten viel Stoff für Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Suhrkamp-Verlag eine angeregte Diskussion, unter anderem über die und das Kino Babylon in Berlin.

132 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN MIT WEM

REVOLTE ODER RESSENTIMENT? Berlin. Einmal mehr wurden die unterschiedlichen PODIUMSDISKUSSION, 28. MAI IN BERLIN politischen Ansätze deutlich, wenn es um die Revolte oder Ressentiment – vor dieser Wahl sieht Frage geht, wie linke Kräfte an politischem Einfluss der Soziologe Éric Fassin den Widerstand gegen gewinnen können. Fassin vertritt dabei die Haltung, die Verheerungen des Neoliberalismus mit dem dass es Alternativen zum Neoliberalismus und ihrer Aufziehen eines »populistischen Moments«. Dass klaren Artikulation bedarf, ohne in einen Populismus der Populismus dabei der Rechten nützte, aber zu verfallen und durch einen verstärkten Bezug auf für Linke nicht zu gebrauchen sei, ist der zentrale das Nationale einen Teil der Gesellschaft der Vielen Befund seines Essays von 2017, der im Mai 2019 auszuschließen. Linke Parteien sollten sich stärker in deutscher Übersetzung erschienen ist. Ange- auf das den Nicht-Wähler*innen innewohnende Po- sichts der Proteste der Gelbwesten in Frankreich, tenzial konzentrieren, anstatt auf eine Wählerwande- des Chaos um den Brexit in Großbritannien und der rung von rechts nach links zu setzen. Wer von dem jüngsten Wahlen in Europa wirft sein Buch Fragen Abend eine Klärung entscheidender Strategiefragen auf, die auch weiterhin zu beantworten sind. Die erwartet hatte, mag enttäuscht gewesen sein. Einen Podiumsdiskussion mit Éric Fassin und der Politik- Denkanstoß hat die Diskussion des Fassin-Buches wissenschaftlerin Ines Schwerdtner im Südblock allemal gegeben. in Berlin war eine Kooperationsveranstaltung des Franziska Albrecht Europareferats der Stiftung und des ­August Verlags Weiterlesen: www.zeitschrift-luxemburg.de/interview-fassin/

GLEICHHEIT UND BEFREIUNG TOUBABESSE KEEANGA-YAMAHTTA TAYLOR IN BERLIN POSTKOLONIALISMUS FEMINISTISCH REFLEKTIERT Die Bewegung #BlackLivesMatter macht den anhal- Die Aneignung formaler Bildung wird auch im tenden Rassismus in der US-Gesellschaft sichtbar, Senegal als Chance gesehen, fortbestehende der sich unter Präsident Trump wieder verschärft. Ungleichheiten zu überwinden. Die ehemalige Was sind die Hintergründe der Bewegung, was ihr Stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Céline Verhältnis zu anderen sozialen Kämpfen? Welche Barry analysierte in ihrer Doktorarbeit die Erfahrun- Chancen bietet der Aufstieg von demokratischen gen Schwarzer Frauen in Dakar, mit verschiedenen Sozialist*innen wie Sanders und Ocasio-Cortez? Bildungs- und Berufskarrieren. Diese verweisen Wie lässt sich umfassende Gleichheit für Schwar- auf die rassifizierende Gewalt der Bildungssysteme ze Menschen in den USA erkämpfen? Darüber sowie auf die Komplizenschaft gebildeter Frauen mit sprach Dr. Keeanga-Yamahtta Taylor, Professorin für postkolonialen Machtverhältnissen in Dakar, Berlin African-American Studies, am 5. Juni im Haus der und anderswo. Was bedeutet das für das Projekt Kulturen der Welt in Berlin. Es wurde über die Ver- eines transnationalen Feminismus? Am 13. Juni bindung von Klassenkämpfen und Antirassismus so- stellte Barry im Salon*Bildung der Rosa-Luxemburg- wie die Erneuerung linker Politik diskutiert. Taylor ist Stiftung ihr Buch »Toubabesse oder Wie Bildung eine zentrale Stimme der neuen US-amerikanischen Frauen koloniale Macht verleiht« vor und diskutierte Linken und Autorin des Buchs »Von #BlackLives- mit dem Publikum darüber, welche Bildung es aus Matter zu Black Liberation«. linker emanzipatorischer Perspektive braucht.

Info: www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/KYPST/ Info: www.edition-assemblage.de/buecher/toubabesse/

MIT WEM | LUXEMBURG 2/2019 133 AKTUELLE PUBLIKATIONEN

ANALYSEN Christoph Trautvetter, GESELLSCHAFT MIGRATION ALS Adrian García-Landa MENSCHENRECHT?

WEM ZAHLE ICH THEORETISCHE UND POLITISCHE DEBATTEN IN EUROPA

EIGENTLICH MIETE? STEFANIA MAFFEIS Den finanzialisierten Immobilienmarkt verstehen: Ein Recherchehandbuch für Mieter*innen 68 Seiten, Broschur, 2. Auflage März 2019 ISBN 978-3-9818987-8-1 Download und Bestellung unter: www.rosalux.de/publikation/id/40038

Stefania Maffeis MIGRATION ALS MENSCHENRECHT? Tilo Giesbers, Anita Taschke Theoretische und politische RÄT*INNEN Debatten in Europa GEGEN RECHTS Analysen 56 Umgang mit Rechten in 44 Seiten, Mai 2019 kommunalen Gremien ISSN 2194-2951 112 Seiten, Broschur, April 2019 Download und Bestellung unter: ISSN 2193-5831 www.rosalux.de/publikation/id/40439 Download und Bestellung unter: www.rosalux.de/publikation/id/40148

Weitere Publikationen unter www.rosalux.de GERECHTE ARMUT? Mythen und Fakten zur Ungleichheit in Deutschland

Ann-Katrin Lebuhn, Vanessa Höse (Hrsg.) Stephan Kaufmann, Eva Roth PERSPEKTIVEN GERECHTE ARMUT? EMANZIPATORISCHER Mythen und Fakten zur JUGENDBILDUNG Ungleichheit in Deutschland Bildungsmaterialien Nr. 7 luxemburg argumente Nr. 11 48 Seiten, Mai 2019 48 Seiten, 2., aktual. Aufl. 2019 ISSN (Print) 2513-1222 ISSN 2193-5831 Download und Bestellung unter: Download und Bestellung unter: www.rosalux.de/publikation/id/40408 www.rosalux.de/publikation/id/9150

134 LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN Das Argument Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 320 Ethik im Kapitalismus als Arbeit an der Utopie Z 118 DASV.Braun ARGUMENT: Morgen der Migranten 331 FORUM WISSENSCHAFT 1/2019 Aktuelle Analysen R.Schultz: Kuba nach Fidel P.Eisenberg: Leichte Sprache HEGEMONIEVERSCHIEBUNGEN IN DER DEBATTEM.Kessler: Nach ZUM den US-Wahlen:KONZEPT Ein Brief MOSAIK-LINKE aus New York DIGITALISIERUNG WELTWIRTSCHAFT – NEUE KONFLIKTFELDER Hans-JürgenEthik im Kapitalismus Urban Vorlauf zu einem Rima-Maria Rahal/Johanna Havemann Mitmenschliche Praxis und politische Ethik heute. Editorial Dieter Boris Auf- und Abstiegsprozesse HKWM-ArtikelS.Plonz: Zum Verhältnis von›Mosaik-Linke‹ Ökonomie und Moral Wissenschaft in der Krise E.Conradi: Verteilungsgerechtigkeit oder achtsame Zuwendung? und Machtverschiebungen in der NorbertF.Haug: Das Schneider Ethische aus dem Mosaik. Himmel der Werte Zur holen Funktion Ines Langemeyer Statt innovative J.C.Tronto: »Sorgende Demokratie« als Transformationsprojekt? Weltwirtschaft undC.R.Klugbauer Vorgeschichte: Die Grenzen des einer demokratischen politischen Sorgebegriffs Lehr-Lernformen *** Thomas Sablowski Geopolitische MetapherW.F.Haug: Karl Marx‘ Metakritik der Religion Marcus Lamprecht Lehre first,

Konflikte und Machtverschiebungen in KlausChristel HartingerDörre 1941–2016Mosaik-Linke (E.Laudan & G.Oechelhaueser)und demokrati- Digitalisierung auch! Einzelheft 13€ (im Abo 10€, zzgl. Versand) der kapitalistischen Staatenwelt sche Klassenpolitikwww.inkrit.org/argument – (un)vereinbar? Redaktion Das Argument Abo & Versand Ines Schwerdtner [email protected] BILDUNG UND WISSENSCHAFT Peter Wahl Hegemonieverschiebungen BerndKontakt: [email protected] Röttger Gegenmacht?Tel: 030 Gegenhe- - 611 -3983 in der Weltwirtschaft Politischw-ökonomi- gemonie? Die Mosaik-Linke zwischen Michael Klundt Wertfreiheit und sche Folgen Phrase und ›antagonistischer Logik Waffengang? Franz Garnreiter Anmerkung zum Brigitte Aulenbacher There is no alternative Interview mit Wilhelm Achelpöhler »Niedergang der USA« und zur Armut … Über den Rahmen und die Farben des Auf die Couch, Herr Spahn! in peripheren Ländern linken Spektrums Andrés Musacchio Die Formen des Nora Räthzel Mosaik-Linke, Hegemonie INTERNATIONALES Neoliberalismus und die Entwicklungs- und die Frage von Arbeit und Natur Alice von Bieberstein / Steffen Käthner / problematik Jan Rehmann ›Multitude‹, ›Mosaik-Linke‹ Corinna Trogisch Was kommt danach? Stephan Krüger Weltwirtschaft und und die Aufgabe politischer Bündelung Asli Telli Aydemir Crlminalizing Hope Aufstieg der Schwellenländer Peter Jehle Was die Mosaik-Linke vom for Peace Rainer Falk Das Verschwinden der Neuen Konzept der Volksuni und der Regina Hagen Kontrolle der nuklearen Weltwirtschaftsordnung: Alte Regeln trotz strukturellen Hegemonie lernen kann Rüstung vor dem Ende? neuer Akteure? Simone Claar Aufstieg der Schwellenländer KRISE DES POLITISCHEN GESELLSCHAFT und sozial-ökologische Transformation IN FRANZÖSISCHEN FARBEN Kai Mosebach Ein unvollendetes Projekt Werner Ruf Die Unwägbarkeiten einer Richard Gebhardt Die AfD, die soziale (Teil 2) multipolaren Welt und der Aufstieg Frage und das ›Mosaik‹ der Rechten Meinhard Creydt Pseudokritik, Fehler Deutschlands Étienne Balibar Die Revolte der Gelbwesten und Bluff Félix Boggio Éwanjé-Épée Die gelbe Weste Claudia Bölling/Rolf Horst »Wurde denn KAPITALISMUSTHEORIE als leerer Signifikant überhaupt Theorie gemacht?« Jürgen Leibiger Eigentum, Macht und Jean Quétier Die Bedeutung der Richard Albrecht Der verpasste Frühling Governance im Gelbwesten für die Krise des Politischen des 20. Jahrhunderts Rainer Rilling Enrichissement – Ökonomie der Bereicherung Andreas Wehr Die These vom »Absterben des Staates«

KLASSEN – ARBEITSKÄMPFE Thomas Goes Klassen im Kapitalismus – aber warum und wie viele? Dirk Müller/Juri Kilroy Streikmonitor: Arbeitskonflikte im Jahr 2018 Raina Zimmering Deutsche Venezuela-Politik Holger Czitrich-Stahl/Rainer Holze 100 Jahre Novemberrevolution – Ein Literaturbericht Dieter Kramer: Kulturprozesse und Gemeinschaftsbildung

Z 118, Juni 2019, 240 S., 10 Euro Das Argument 329, Juni 2019, 14 Euro Forum Wissenschaft 1/2019, 8 Euro ISSN 0940-0648 ISSN 0004-1157 ISSN 0178-6563 www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de www.inkrit.org/argument www.bdwi.de

ZEITSCHRIFTENSCHAU | LUXEMBURG 2/2019 135 IMPRESSUM

LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1/2019 ISSN 1869-0424

Herausgeber: Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung V.i.S.d.P.: Barbara Fried, [email protected], Tel: +49 (0)30 443 10-404 Redaktion: Harry Adler, Lutz Brangsch, Michael Brie, Mario Candeias, Judith Dellheim, Alex DemiroviĆ, Barbara Fried, Corinna Genschel, Christiane Markard, Miriam Pieschke, Katharina Pühl, Rainer Rilling, Thomas Sablowski, Hannah Schurian, Ingar Solty, Stefan Thimmel und Moritz Warnke

Kontakt zur Redaktion: [email protected] Redaktionsbüro: Harry Adler, [email protected] Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin Telefon: +49 (0)30 443 10-157 Fax: +49 (0)30 443 10-184 www.zeitschrift-luxemburg.de Join us on Facebook: http://www.facebook.com/zeitschriftluxemburg Twitter: http://twitter.com/luxemburg_mag

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136 LUXEMBURG 2/2019 | IMPRESSUM 1/2019 EUROPA – TROTZ ALLEDEM Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise. Fliehkräfte und Gegensätze nehmen zu, ein EinE ZEitschrift dEr rosa-LuxEmburg-stiftung 1 19 das LinkE diLEmma mit Europa 13 autoritärEr konsEns: das Eu-sichErhEitsrEgimE GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 20192015 Fortbestehen der Union ist nicht gesichert. Zugleich festigen und vertiefen die Politiken der EU monstEr und gEspEnstEr momEntum für Ein Europa dEr ViELEn EinE fEministischE intErnationaLE im WErdEn globale Ungleichheiten. Die real existierende EU repräsentiert nicht in Ansätzen das Europa, Europa – trotZ aLLEdEm stuart haLL | kathrin röggLa | Lukas Was ist dEmokratischEs charisma?

mbURG obErndorfEr | fLorian WEis | kErstin WoLtEr | max LiLL | aLEx

rEproduktiVE gErEchtigkEit E X WischneWski | hannah schurian | andrej hunko | Beppe caccia | das wir uns wünschen. Doch wie lässt sich der europäische Horizont im Blick behalten, ohne

issn 1869-0424 LU WEnkE christoph | stEfaniE krohn | sandro mEZZadra u.a. die neoliberalen Institutionen der EU als Geschäftsgrundlage zu akzeptieren? Wie lassen sich solidarische Antworten finden auf transnationale Herausforderungen? Wie lässt sich Europa anders machen: solidarisch und demokratisch und im Interesse der Vielen?

BEITRÄGE VON Beiträge von Stuart Hall, Kathrin Röggla, Lukas Oberndorfer, Florian Weis, Kerstin Wolter, Max Lill, Alex Wischnewski, Hannah Schurian, Andrej Hunko, Beppe Caccia, Wenke Christoph, Stefanie Kron, Sandro Mezzadra u.a.

April 2019, 136 S.

3/2018 ICH WERDE SEIN

eine Zeitschrift der rosa-luxemburg-stiftung 3 Rosa Luxemburg steht für eine Haltung, in der Entschiedenheit im politischen Kampf und »weit- 18 »wer weitergeht, wird erschossen!« 3 luxemburg als soZialistische feministin GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 20182015 wie kritisiert man revolutionen? herzigste Menschlichkeit« ein Ganzes bilden. 100 Jahre nach ihrer Ermordung ist sie zur Ikone care als feld neuer landnahme lehren und lernen mit luxemburg ich werde sein Drucilla cornell | Gal Hertz | tove SoilanD | 15 tage, die die welt erschütterten geworden, doch die Beschäftigung mit ihrem Werk bleibt oft oberflächlich. Die Jubiläumsausgabe

mbURG Jörn schütrumpf | uwe sonnenberg | w alter baier | miriam

ernst bloch mit gramsci lesen E

X pieschke | Judith dellheim | michael löwy | Janis ehling |

issn 1869-0424 LU Kate evanS | Jan reHmann | HolGer Politt u.a. fragt nach der Bedeutung ihres Denkens und Tuns für heute: Wie dachte Luxemburg das Verhält- nis von Partei und Bewegung? Wie hielt sie es mit dem Internationalismus? Wie können wir uns als Feminist*innen auf sie beziehen? Wie ging sie mit dem Widerspruch zwischen Reform und Revolution um? Und was können wir von ihr über Strategien der Organisierung lernen?

BEITRÄGE VON Drucilla Cornell | Michael Brie | Alex Demirović | Judith Dellheim | Janis Ehling | Gal Hertz | Michael Löwy | Miriam Pieschke | Holger Politt | Ingo Schmidt | Tove Soiland | Jörn Schütrumpf, Ingar Solty & Uwe Sonnenberg u.a.

Januar 2019, 176 Seiten

2/2018 AM FRÖHLICHSTEN IM STURM: FEMINISMUS Der Wind weht scharf. Autoritarismus und Rechtsradikalismus gewinnen an Zustimmung. eine zeitsChrift der rosa-luxeMBurg-stiftung 2 18 von #Metoo zu #WestriKe 23 einstiege in eine feministische trAnsformAtion GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 20182015 Aber auch der Feminismus ist zurück. Er bildet die einzige transnationale Bewegung, die gender als syMBolisCher Kitt transfeMinisMus und neue KlassenpolitiK faMilien- und gesChleChterpolitiK á la afd einen sicht­baren Gegenpol zur Rechten und zum Neoliberalismus markiert und den Aufbruch Am fröhlichsten im sturm: feminismus Margarita tsoMou | Kinder, KüChe, KlassenKaMpf

mbURG Kate Cahoon | atlanta ina Beyer | WeroniKa grzeBalsKa | lia

leBensWeise als frage gloBaler gereChtigKeit E X BeCKer | Melinda Cooper | liz Mason-deese | eszter Kováts | in eine bessere Zukunft verkörpert. Sie ist sozial heterogen und thematisch vielfältig – AM

issn 1869-0424 LU andrea pető | alex WisChneWsKi | stefanie hürtgen u.a. ­FRÖHLICHSTEN IM STURM! Wie kann ein inklusiver Feminismus aussehen? Wie lässt er sich von den Rändern her entwickeln? Und wie kann eine feministische Klassenpolitik entstehen, die auch die Klassenanalyse auf die Höhe der Zeit bringt?

BEITRÄGE VON Margarita Tsomou | Kate Cahoon | Atlanta Ina Beyer | Weronika Grzebalska | Lia Becker | Melinda Cooper | Liz Mason-Deese | Eszter Kováts | Andrea Pető | Alex Wischnewski | Stefanie Hürtgen u.a.

Demonstration »Stoppt den Mietenwahnsinn« in Berlin, April 2019 September 2018, 144 Seiten Foto: Umbruch Bildarchiv 1/2018 ERST KOMMT DAS FRESSEN Das globale Ernährungssystem scheitert nicht nur an dem Anspruch, die Welt satt zu machen. EiNE ZEiTSchRiFT DER ROSA-luxEMBuRg-STiFTuNg 1 18 hARTZ-iV-MENü uND FEiNKOSTThEKE 31 AuFSTAND iN DER liEFERKETTE GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 20182015 Es schafft auch neue Abhängigkeiten und untergräbt die Selbstbestimmung von Staaten und AlTERNATiVEN jENSEiTS DER NiSchE POPuliSMuS FüR DEN läNDlichEN RAuM? DEN BODEN NEu VERTEilEN lokalen Gemeinschaften. Es sind die Bewegungen von Landlosen und Kleinbäuer*innen im ERST KOMMT DAS FRESSEN PhiliP McMichAEl | STEPhANiE WilD | iMPERiAlE lEBENSWEiSE MEETS KlASSE

mbURG chRiSTA WichTERich | KAlyANi MENON-SEN | KiRSTEN TAcKMANN |

WAS BlEiBT VON 68? E X SATuRNiNO M. BORRAS | liNDA REhMER | BENjAMiN luig | STEFFEN globalen Süden, die sich seit Jahrzehnten für »Ernährungssouveränität« stark machen. Für sie

iSSN 1869-0424 LU KühNE | ulRich BRAND | MARKuS WiSSEN | RhONDA KOch u.A. ist der Kampf gegen das Ernährungsregime der Konzerne ein Kampf um Demokratie. Auch hierzulande regt sich Widerstand gegen die Nahrungsmittelindustrie, nicht erst seit den »Wir haben es satt«-Demonstrationen. Wie lässt sich diese Kritik von links aufgreifen und zuspitzen?

BEITRÄGE VON Philip McMichael | Stephanie Wild | Christa Wichterich | Kalyani Menon-Sen | ­Kirsten Tackmann | Saturrnino M. Borras | Linda Rehmer | Benjamin Luig | Steffen Kühne | Markus Wissen | Ulrich Brand | Rhonda Koch | Michael Bättig u.a.

Juni 2018, 132 Seiten EINE ZEITSCHRIFT DER ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG 2 19 ENTEIGNUNG ALS GESCHÄFTSMODELL 23 SOZIALEN WOHNUNGSBAU ANDERS MACHEN GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 20192015 KLEINGÄRTEN UND KLASSENKAMPF WIE LEBEN IN RECHTEN RÄUMEN? MIETER*INNEN GEGEN IMMOBILIENKONZERNE SCHÖNER WOHNEN MARGIT MAYER | ANDREJ HOLM | INGO SCHULZE SCIENCE FICTION UND URBANE REALITÄT KATALIN GENNBURG | KNUT UNGER | GRETA PALLAVER | ARMIN KUHN

WENDEZEIT – WER SCHREIBT GESCHICHTE? EMBURG

X ULRIKE HAMANN | REMZI UYGUNER | BEA FÜNFROCKEN | CHRISTOPH

ISSN 1869-0424 LU TRAUTVETTER | ERASMUS SCHÖFER | MARIEKE PREY | JAN SAHLE U.A.