Einsichten Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016

Nummer 2 / 2016

Der Wert des Schreibens

Gesund trotz HIV Immunsystem: Die feinen Unterschiede . Das Forschungsmagazin Einsichten . Das Forschungsmagazin Entscheidung für den Eingriff

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin Editorial

Der Wert des demokratischen Korrektivs: Journalisten im Gespräch mit Politikern, hier im August 2016 mit Pedro Sanchez, damals Chef der Sozialisten, über die Regierungskrise in Spanien. Foto: Gerard Julien/AFP/Getty Images

Liebe Leserinnen, liebe Leser, der Wert des Schreibens: Wer auf die prekäre Lage für kritische unterschiedlichen Blickwinkeln. Die Literaturwissenschaftlerin Inka Journalisten in der Türkei schaut, um nur ein extremes Beispiel zu Mülder-Bach analysiert Prosa als Ausdruck und Formgeber der nennen, dem dürfte der Wert eines demokatischen Korrektivs un- Moderne, als Begriff für einen „Weltzustand”. Die Kulturwissen- mittelbar einleuchten. Doch auch dort, wo Regierungen Verfassung schaftler Jens-Uwe Hartmann, Andreas Kaplony und Walther Salla- und Zivilgesellschaft nicht demontieren, gerät der Journalismus berger gewinnen aus alten Handschriften tiefe Einblicke in Struktur unter Druck. Manche sehen ihn sogar in Gefahr, wenngleich dies na- und Alltag früherer Gesellschaften. Schreiben und veröffentlichen, türlich nicht eine Bedrohung für Leib und Leben seiner Protagonis- das ist der Nachweis wissenschaftlichen Erfolges: Wie könnte die- ten bedeutet. Romy Fröhlich, Thomas Hanitzsch und Neil Thurman ses Bewertungssystem in einer neuen Publikationskultur funktio- analysieren die Herausforderungen für den Journalismus hierzu- nieren, die vornehmlich auf setzt, den freien Zugang lande – angesichts des digitalen Wandels und ökonomischer Umbrü- zu allen Veröffentlichungen im Netz? Darüber diskutieren der Mole- che. Die Kommunikationswissenschaftler sehen das Bewusstsein da- kularbiologe Peter Becker, der Physiker Jan Lipfert und der Volks- für schwinden, dass es ein „wichtiges Kulturgut“ wie guten Journa- wirt Joachim Winter in dieser Ausgabe des LMU-Forschungsmaga- lismus nicht auf Dauer „zum Nulltarif im Netz“ geben kann. zins. Und der Biochemiker Roland Beckmann schließlich untersucht Den Wert des Schreibens – und nicht nur des journalistischen Schrei- die Mechanismen, mit denen molekulare Maschinen den geneti- bens – untersuchen auch andere LMU-Wissenschaftler, aus ganz schen Text lesen und danach Proteine in hoher Auflage fertigen.

Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen Ihre Einsichten-Redaktion

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 3 Aktuelles aus der Forschung

Dunkle Materie im Universum: Die Galaxien sind ungleichmäßig verteilt und von Hohlräumen umgeben. Die großflächigen Strukturen ähneln einem kosmischen Netzwerk. Abbildung: Nico Hamaus, LMU

Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Lehren aus der Leere

Das Universum besteht zum großen Teil aus Antworten: Es liegt an der Dunklen Energie, Leere, den sogenannten kosmischen Hohl- die fast 70 Prozent unseres Universums räumen (Cosmic Voids). Sie dehnen sich im- ausmacht und der eine Art Anti-Gravitati- mer weiter aus, da die wenige in ihnen ent- onskraft zugeschrieben wird, oder Einsteins haltene Materie aufgrund der Schwerkraft Allgemeine Relativitätstheorie ist nur einge- an ihre Ränder strebt. So ähnelt das Univer- schränkt gültig und muss durch eine neue sum einem kosmischen Netzwerk mit gro- Theorie der Schwerkraft ersetzt werden. ßen weitgehend leeren Blasen, die mit Fila- „Falls es im Universum Abweichungen von menten von Materie verbunden sind, auf der Allgemeinen Relativitätstheorie gibt, denen sich die Galaxien verteilen. Ein For- wäre dies insbesondere in den Hohlräumen scherteam um Physiker Dr. Nico Hamaus der Fall. Wir haben in unserer Analyse aber von der Universitätssternwarte (USM) der keine signifikanten Abweichungen festge- LMU hat nun auf Basis von Daten des Sloan stellt“, sagt Hamaus. Das Ergebnis bestätigt Digital Sky Surveys (SDSS), bei dem For- also die vorherrschende Vorstellung von scher mit einem Teleskop die Struktur des Gravitation im Universum, die bislang in Universums kartieren, Aufbau und Geome- Bezug auf die Hohlräume nicht geprüft wor- trie der Hohlräume berechnet. den war, und unterstützt die Annahme einer Das Forscherteam, dem auch Professor Dunklen Energie in Form einer kosmologi- Jochen Weller (USM) angehört, zeigt in sei- schen Konstante. „Unsere Studie zeigt, dass nen Analysen, mit welcher Dynamik sich die wir durch die Analyse kosmischer Hohl- Hohlräume ausdehnen, und gibt wichtige An- räume noch viel über den Ursprung und die haltspunkte dafür, warum das Universum Entwicklung unseres Universums lernen immer schneller expandiert. Bislang gibt es können.“(nh) in der Kosmologie darauf zwei mögliche Physical Review Letters, August 2016

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin Aktuelles aus der Forschung

Ein positives Ergebnis ist in aller Regel ein Verdikt: Kind bei HIV-Schnelltest, Makurdi, Nigeria. Foto: K. Buus/In Picture Ltd./Corbis via Getty Images

Gesund trotz HIV

Millionen Menschen Unlängst hat Maximilian Münchhoff Schlag- inzwischen an die LMU gewechselt ist. Als zeilen gemacht – mit einer guten Nachricht, Postdoc war er im Team des Immunologen weltweit leben mit HIV, obwohl sein Forschungsthema dafür nicht Philip Goulder von der University of Oxford fast alle entwickeln die eben prädestiniert ist. Der Mediziner forscht vor Ort, um eine besondere Gruppe Betrof- Immunschwächekrankheit über Aids, woran bisher weltweit 35 Millio- fener zu untersuchen: Kinder, die nicht an nen Menschen starben. Ausgelöst wird die Aids erkranken, obwohl sie mit dem Virus Aids. Maximilian Münch- Krankheit durch HIV, ein Virus, das das Im- infiziert sind. „Es war gar nicht einfach, diese hoff sucht nach den mo- munsystem angreift. Doch das gilt nicht für Kinder zu finden“, erzählt Münchhoff. Zu lekularen Ursachen der alle Menschen, die sich mit HIV infizieren. Hilfe kam den Forschern der Zufall: Die HIV- In den vergangenen vier Jahren hat Münch- Ansteckung kam meistens erst bei Routine- Immunreaktionen, die das hoff in verschiedenen Kliniken in Durban an untersuchungen ans Licht, als bei ihren Müt- Virus auslöst. Die Ergeb- der Ostküste Südafrikas gearbeitet. Die Stadt tern Aids ausbrach und sie deshalb behandelt nisse des Mediziners sind liegt in der Region KwaZulu-Natal. „Sie gilt wurden. Bei Eintritt in die Studie waren die als Epizentrum der weltweiten Aids-Pande- Kinder im Schnitt acht Jahre – und gesund. auch für die Impfstoff- mie. Bis zu 30 Prozent der Bevölkerung sind Es ist ein Ausnahmeschicksal. In der Regel forschung relevant. dort mit HIV infiziert“, sagt Münchhoff, der erkranken mehr als 99 Prozent aller Men-

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schen, die mit HIV infiziert sind, ohne The- aktion zwischen Virus und Wirt bei HIV, etwa ändert sich mit jeder Übertragung und auch rapie an Aids. Bei Kindern verläuft die Er- die sogenannten Restriktionsfaktoren. Diese im Körper des Infizierten, vor allem in Reak- krankung besonders heftig und schnell. Bei Zellbestandteile zeigen eine Aktivität gegen tion auf die Immunantworten. Bei einer An- einer HIV-Infektion integriert sich das Virus HIV, sodass sich das Virus schlechter ver- steckung wird das Virus in dieser veränder- in das Genom menschlicher Immunzellen mehren kann. „Es ist eine interessante Frage, ten Form weitergegeben. Im Jahr 2013 war und wird Teil ihres Erbguts. Dadurch persis- ob die gesunden HIV-infizierten Kinder Be- Maximilian Münchhoff an einer Studie betei- tiert das Virus im Körper. Das Immunsystem sonderheiten bei diesen Faktoren haben“, ligt, die nachwies, dass der Aids-Erreger da- versucht sich gegen die Infektion zu wehren, sagt Münchhoff. durch über die Jahre sogar schwächer, also indem CD4 T-Zellen aktiviert werden. Diese Momentan leben weltweit 36,7 Millionen weniger ansteckend wird – noch so eine gute aktivierten Zellen werden jedoch leichter Menschen mit HIV. Inzwischen gibt es über Nachricht. Doch weiterhin gilt: HIV ist le- von HIV infiziert, sodass es zu einer weite- bensgefährlich und Aids eine Krankheit, die ren Ausbreitung des Virus und einem Verlust lebenslange Therapie erfordert. dieser wichtigen Immunzellen kommt – ein Fast alle erkranken In Ländern, in denen die Therapie nicht breit Teufelskreis, durch den das Immunsystem verfügbar ist, bedeutet das Virus den siche- so geschwächt wird, dass Betroffene schließ- ren Tod. Maximilian Münchhoff hat auch lich an Erregern erkranken, die Gesunden ohne Therapie – Kinder wissenschaftlich begleitet, die an nichts ausmachen: Sie leiden an „Aids“, dem Aids erkrankt sind. Unter anderem hat er „Aquired Immuno-Deficiency Syndrom“. diese Kinder nicht untersucht, wie Mangelernährung in Kom- Bei den allermeisten Menschen vermehrt bination mit HIV das Immunsystem beein- und verbirgt sich das Virus in langlebigen trächtigt. „Viele der Kinder sind trotz Thera- Immunzellen, den sogenannten viralen Re- 20 hochwirksame Medikamente gegen Aids. pie gestorben. Das war schlimm zu sehen.“ servoiren. „Bei den gesunden HIV-infizier- Manche Betroffene können jahrzehntelang Auch bei den gesunden HIV-infizierten Kin- ten Kindern dagegen findet die Infektion mit dem Virus leben, auch wenn die heuti- dern können die Forscher nicht ausschlie- vorwiegend in kurzlebigen Zellpopulationen gen Medikamente nicht heilen, sondern die ßen, dass sie später einmal Aids entwickeln. statt, die aus den langlebigen entstehen“, Viruslast nur verringern können und Neben- „Das Immunsystem ändert sich in der Puber- erklärt Münchhoff. Dadurch behalten die wirkungen haben. Doch nicht in allen Län- tät. Dadurch könnte es zu einer verstärkten Kinder einen Vorrat an gesunden langlebi- dern ist die Therapie breit verfügbar, inzwi- Immunaktivierung kommen.“ Seit feststeht, gen Zellen, aus dem sie immer Nachschub schen haben etwa 16 Millionen Betroffene dass sie das Virus im Blut haben, werden an funktionierenden kurzlebigen Immunzel- weltweit Zugang zu Medikamenten, schät- die Kinder alle paar Monate untersucht. „Vor len schöpfen können. So bleibt ihr Immun- zen die Vereinten Nationen. zehn Jahren gab es in Südafrika häufig noch system trotz einer sehr hohen Viruslast voll Bereits während seines Medizinstudiums keine Therapie. Deswegen sind diese Kinder funktionsfähig. Die Mechanismen ihrer Im- arbeitete Münchhoff in der Therapie von überhaupt in ihrem Alter angekommen, munantwort ähneln jenen der Mangaben, Aids-Patienten. Während seines Praktischen ohne jemals entsprechende Medikamente einer Affenart, die der natürliche Wirt des Jahrs war er vier Monate als Kinderarzt in erhalten zu haben. Mittlerweile werden alle Simian Immunodeficiency-Virus (SIV) ist, Kapstadt. „Damals ist mein Interesse an In- Kinder in Südafrika unter fünf Jahren, bei von dem HIV abstammt. Auch die Manga- fektionskrankheiten und dem Schicksal von denen HIV diagnostiziert wird, sofort thera- ben leben weitgehend unbeschadet mit dem Kindern mit HIV entstanden.“ Seine For- piert. Die gesunden Kinder der Kohortenstu- Virus, ohne zu erkranken – trotz starker Vi- schung ist nun an der Schnittstelle zwischen die würden heutzutage also alle behandelt rusreplikation. Die Ergebnisse der Studie, Labor und Patient angesiedelt. Die HIV-infi- werden“, sagt Münchhoff und nennt ihr be- die Münchhoff diesen Herbst als Erstautor zierten gesunden Kinder jedenfalls, so ent- sonderes Schicksal ein „Glück im Unglück“, in der Fachzeitschrift Translational deckte er, entwickeln hochpotente Antikör- für die Kinder und die Forscher – auch das Medicine veröffentlichte, sorgten weltweit per. „Um zu finden, was dazu führt, müssen eine gute Nachricht. für großes Medieninteresse. wir ihr Immunsystem mit Blick auf die B-Zel- (Nicola Holzapfel) Seit April ist der Nachwuchsforscher Mit- len, die diese Antikörper bilden, weiter un- glied der Arbeitsgruppe von Oliver Keppler, tersuchen”, sagt Münchhoff. „Das wäre auch dem Inhaber des Lehrstuhls für Virologie spannend für die Impfstoffentwicklung.” Dr. Maximilian Münchhoff am Max von Pettenkofer-Institut der LMU. Breit neutralisierende Antikörper sind bei arbeitet am Lehrstuhl für Virologie des Keppler untersucht insbesondere die Inter- HIV nötig, da das Virus stark mutiert. Es Max von Pettenkofer-Instituts der LMU.

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 9 Aktuelles aus der Forschung

Die Temperatur zählt

Die meisten Gehölze der gemäßigten Zone richten sich beim Zeitpunkt ihres Austriebs nicht nach der Tageslänge, sondern nach der Temperatur und der Zahl der vorangegan- genen Kältetage. Das zeigt eine Studie von LMU-Botanikern um Professor Susanne Ren- ner. Eine solche Anpassung an die klimati- schen Bedingungen sichert, dass Pflanzen nicht zu früh austreiben, wenn trotz deutlich steigender Tageslängen noch Nachtfröste auftreten können. Nur in Regionen mit mil- den Wintern besteht diese Gefahr nicht, dort sind eher Gehölze heimisch, bei denen das Austreiben an die Länge der Photoperiode gekoppelt ist. Was aber, wenn sich mit dem Klimawandel solche Pflanzen nach Norden ausbreiten? Dann könnte die Tageslänge womöglich, meinen die Forscher, auch dort den Austrieb beeinflussen.(göd) Climate Change, Oktober 2016

Gene in der Zange

LMU-Physiker um Professor Tim Liedl ha- ben eine Methode entwickelt, mit der sich Biomoleküle einfach und effizient auf ihre mechanischen Eigenschaften untersuchen lassen. Dabei werden mithilfe der DNA-Ori- gami-Technik zunächst aus vielen künstli- Die Tage werden länger, die Temperaturen steigen. Welche Signale brauchen Bäume zum chen DNA-Strängen nanometergroße, mo- Austreiben im Frühjahr? (Siehe Meldung links oben). Foto: Franz Pritz/pa/AP/picturedesk.com lekulare Klammern so konstruiert, dass sie selbstständig Kräfte ausüben können. Damit lassen sich gezielt unvorstellbar kleine Kinder suchen übereifrig nach sozialen Regeln Kräfte zwischen 0 und 15 Pico-Newton aus- üben, das sind Billionstel Newton. Im Zell- Dreijährige lernen soziale Normen nicht nur, schnell als verallgemeinerbar, regelgeleitet inneren wirken Kräfte genau in dieser Grö- wie klassisch angenommen, durch direkte und verbindlich“, sagt Schmidt. Der Psycho- ßenordnung auf die Proteine oder Gene ein. Anweisung und Verbote, sondern suchen loge ließ Dreijährige zufällig beobachten, Die Möglichkeiten der neuen Methode eigenständig nach Normen und unterstellen wie Erwachsene spontane Handlungen mit haben die Forscher am Beispiel eines wich- diese sogar dort, wo Erwachsene gar keine nutzlosen Gegenständen durchführten. Egal, tigen Faktors in der Genregulation gezeigt, sehen. Das zeigt eine Studie des Psycholo- was die Kinder sahen: Sie beurteilten singu- dem sogenannten TATA-Binding-Protein: gen Dr. Marco F. H. Schmidt, der an der LMU läres, spontanes und scheinbar zweckloses Es kann nicht mehr effizient arbeiten, wenn die Forschergruppe „Developmental Origins Verhalten als verallgemeinerbar und unbe- die Zielsequenz mit mehr als sechs Pico- of Human Normativity“ leitet. „Vorschulkin- dingt richtig, solange es ihrer Beobachtung Newton gespannt wird. (huf) der verstehen individuelle Verhaltensweisen nach nicht unabsichtlich war. Sie erwarteten Science, Oktober 2016 und spontane Handlungen anderer sehr sogar, dass ein anderer es genauso machen

10 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Aktuelles aus der Forschung

HIV: Wurminfektion verdoppelt Ansteckungsrisiko

Seit Beginn der HIV-Epidemie wird darüber löst eine Erkrankung der Lymphgefäße aus, spekuliert, warum das Virus und die von ihm die im schlimmsten Fall zu elefantös ver- ausgelöste Immunschwächekrankheit Aids formten Gliedmaßen führt. Die bislang gän- in Afrika stärker verbreitet sind als in ande- gige Medikamentenkombination wirkt nur ren Ländern. Professor Michael Hölscher gegen die von den Würmern produzierten und Dr. Inge Kroidl aus der Abteilung Infek- Mikrofilarien, die ins Blut wandern. Der er- tionserkrankungen und Tropenmedizin am wachsene Wurm bleibt hingegen oft jahre- Klinikum der LMU konnten nun zeigen, dass lang im Lymphsystem lebendig. Therapie- eine Infektion mit dem Fadenwurm Wuche- möglichkeiten gegen den adulten Wurm reria bancrofti das Risiko, sich mit HIV anzu- werden derzeit untersucht und könnten die stecken, um das Zwei- bis Dreifache erhöht. Erkrankungen mit W. bancrofti wie auch die Vermutlich verändert die chronische Wurm- Neuinfektionen mit HIV reduzieren. (nh) infektion das Immunsystem. W. bancrofti Lancet, August 2016

Signale für die molekulare Giftspritze

LMU-Wissenschaftler haben ein Molekül- zellen passgenau andockt. Dieses Tandem paar identifiziert, das entscheidend daran vermittelt dann die pathogene Wirkung der beteiligt ist, dass Helicobacter pylori Gas- Bakterien: Krankheitsauslöser ist das Pro- tritis, Magengeschwüre und gar Krebs aus- tein CagA, das besonders pathogene H.-py- lösen kann. Das Bakterium heftet sich dazu lori-Stämme über einen nadelartigen Fort- an bestimmte Rezeptoren von Epithelzellen satz in die Epithelzellen injizieren. Dieses der Magenschleimhaut an. Forscher um Pro- molekulare Injektionssystem wird aber erst fessor Rainer Haas vom Max von Pettenko- durch das Andocken von H. pylori an die fer-Institut der LMU haben nun entdeckt, Rezeptoren in Gang gesetzt. Offenbar löst dass das Bakterium mithilfe seines Oberflä- das Bakterium eine Signalkaskade in den chenproteins HopQ an ein Glykoprotein Wirtszellen aus. (göd) (CEACAM) an der Oberfläche der Epithel- Nature Microbiology, Oktober 2015

Zerfall an der Geburtsstätte würde und protestierten, wenn dieser gegen Eine Scheibe, leicht psychedelisch ange- dafür, dass ein solcher Exoplanet erdähnlich die von den Kindern unterstellte „soziale haucht in fettem Rot und Orange – die Bilder sein könnte. Ein Team um Barbara Ercolano, Norm“ verstieß. Schmidt: „Vorschulkinder des Radioteleskops ALMA machten Furore. Professorin an der Universitätssternwarte erliegen dem Trugschluss, dass das, was ist, Eine solche protoplanetare Scheibe aus Gas der LMU, hat die Beobachtung nun mit der auch so sein soll. Das gilt auch, wenn sie und Staub rund um einen jungen Stern – das Theorie abgeglichen. Das Fazit: Die promi- eine einfache Handlung zufällig und nur ein- ist der Ort, an dem Planeten entstehen. Mehr nente innere Lücke ist nicht durch die Flug- mal beobachtet haben.” Diese frühe Nei- noch: In den Aufnahmen zeigen sich ring- bahn eines Planeten entstanden, sondern gung von Kindern, die soziale Welt als inhä- förmige Lücken rund um den Stern TW Hy- durch sogenannte Photoevaporation: Die rent normativ und regelgeleitet zu sehen, drae. Die könnten in der Tat junge Planeten starke Röntgenstrahlung, die der Stern aus- könne Ausdruck ihrer Motivation sein, sich in die Staubwolke gepflügt haben, mutmaß- sendet, lässt die Materieteilchen der Wolke mit einer Gruppe zu identifizieren und kul- ten Experten. Bei der inneren dieser Lücken regelrecht verdampfen und sorgt am Ende turelles Wissen zu erwerben. (nh) zudem in einer Entfernung, die dem Abstand für die Auflösung der Scheibe.(math) Psychological Science, September 2016 unserer Erde zur Sonne entspricht – ein Indiz MNRAS, September 2016

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 11 Aktuelles aus der Forschung

müssen dann deren Lautkontraste erst wie- Unterhaltung mit: der lernen. Dabei überprüfen Fremdspra- Eva Reinisch chenlerner unbewusst, wo der neue Laut ins System der muttersprachlichen Laute hin- einpasst. Gibt es einen ähnlichen Laut in der Muttersprache? Wenn das der Fall ist, wird einfach dieser Laut benutzt. Häufig ist es je- doch so, dass der gefundene Laut nur ähn- lich, aber nicht identisch ist. Zum Beispiel ist es für einen deutschen Muttersprachler schwierig, im Englischen den Unterschied zwischen „pan“ (Pfanne) und „pen“ (Stift) zu hören. Wenn Lerner nun für beide Wörter „pen” sagen, klingt das für Muttersprachler der Zielsprache falsch, also mit deutschem Akzent gesprochen. Vor allem als Anfänger hört man bestimmte Lautkontraste der Fremdsprache nicht so gut. Mit der Zeit kann man aber kleine Unterschiede erkennen und diese auch produzieren, wenn auch selten so gut wie ein Muttersprachler.

Sollte man also am besten schon als klei- nes Kind mehrere Sprachen lernen? Reinisch: Früher nahmen die Wissenschaft- ler, die den Fremdsprachenerwerb erforsch- ten, an, dass es eine kritische Periode gibt, in der man eine Fremdsprache lernen müsse, Eva Reinisch: „Das Gehirn ist sehr anpassungsfähig – auch beim Hören von Akzenten.“ Foto: LMU damit man sie akzentfrei beherrscht. Zuerst hieß es, das sei um die Pubertät, später, das ideale Alter wäre bis fünf oder sechs Jahre. Aber inzwischen gilt diese Hypothese der kritischen Periode als widerlegt. Es gibt Kin- „Happy Birsday – das sind wir gewohnt“ der, die sehr früh eine zweite Sprache ge- lernt und trotzdem einen Akzent haben, und Beim Lernen einer Fremd- Wir lernen Englisch und andere Sprachen, es gibt Menschen, die erst mit 30 eine Spra- sprache kommen wir an der bei der Aussprache tun sich jedoch viele che lernen und sie quasi akzentfrei sprechen. Muttersprache nicht vorbei: schwer. Warum ist es so schwierig, akzent- Im Mittel gilt aber tatsächlich, dass man eine frei eine Fremdsprache zu erlernen? Sprache umso besser lernt, je früher man Wir passen die unbekannten Reinisch: Im Laufe der ersten Lebensjahre damit beginnt. Es hängt jedoch viel davon Laute an die gewohnten an. optimieren Kinder ihre Wahrnehmung für ab, wie gut der Input ist. Es nützt nichts, Warum wir manche Laut- ihre Umgebungssprache – das können auch wenn Eltern mit starkem deutschem Akzent unterschiede gar nicht erst mehrere Sprachen sein. Das macht durch- mit ihrem Kind Englisch sprechen – das wird hören und wie daraus ein aus Sinn, geschieht aber auf Kosten der Fä- dann später tendenziell genauso sprechen. higkeit, Lautkontraste wahrzunehmen, die Das liegt daran, dass die Repräsentation Akzent entsteht, erklärt die für die Muttersprache nicht relevant sind. eines Wortes, also, wie das Kind glaubt, dass Sprachwissenschaftlerin Eva Das heißt jedoch nicht, dass wir Fremdspra- es ausgesprochen werden soll, nicht der Reinisch. chen nicht später lernen könnten, aber wir Zielsprache entspricht.

12 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Aktuelles aus der Forschung

Scheitern deswegen so viele Deutsche am Anpassungsfähigkeit gibt es in der Mutter- paar spanischen, manchmal gemischt mit th-Laut, etwa bei „birthday“? sprache – englische Muttersprachler gewöh- deutschen Akzentmerkmalen spricht. Reinisch: Womöglich ja. „Bir[s]day“ haben nen sich an unseren deutschen Akzent – wie wir schon so oft gesagt und gehört, dass es auch in der Fremdsprache. Wir verstehen Würde es helfen, im Sprachunterricht nur für uns ganz normal klingt. Ich denke im Ge- also einen deutschen Akzent im Englischen Muttersprachler unterrichten zu lassen? burtstagslied wird das Wort gar nicht mehr meist gut. Wir können uns aber auch an an- Reinisch: Ich denke, das kann man so pau- als Englisch wahrgenommen, wie auch an- dere Akzente gewöhnen. Auch die Intona- schal nicht sagen. Zum Fremdsprachenun- dere englische Wörter, die wir inzwischen tion hat einen großen Einfluss darauf, wie terricht gehört viel mehr als nur die Ausspra- in den deutschsprachigen Alltag integriert stark wir einen Akzent wahrnehmen. Wir che. Und um gut zu sprechen, braucht es haben – zum Beispiel „Handy”, was im Eng- müssen uns dann erst durch die ungewohn- mehr als nur den formalen Unterricht. Mehr lischen ja übrigens „praktisch” und nicht „Mo- ten Intonationsmuster „durchhören“. Die Angebote an Filmen und Fernsehen in der biltelefon” bedeutet. Um zu Birthday zurück- Anpassung dauert umso länger, je stärker Fremdsprache könnten auch schon helfen. zukommen, für das „th“ im Englischen gibt der Akzent ist. Unverständlich wird es für In diesem Zusammenhang finde ich es zum es unterschiedliche Substitutionen. Für uns, wenn das Lautsignal zu stark verzerrt Beispiel schade, dass deutsche Fernsehsen- Deutsche ist das „s” am häufigsten, aber es ist und sich nicht mehr rekonstruieren lässt, der nicht häufiger im Zweikanalton senden, gibt auch „t” und „f”. Das „f” wird interes- sei es durch falsche Aussprache oder Into- sodass man sich aussuchen kann, ob man santerweise auch in einigen englischen Dia- nation oder fehlenden Kontext. Auch die die deutsche Version oder den englischen lekten benutzt. Der Laut „f” ist akustisch ge- Grammatik spielt hier natürlich eine Rolle. Originalton hören möchte. Wenn man sich sehen dem „th” am ähnlichsten. Weshalb Für die Verständlichkeit ist auch die Tatsa- auf die Aussprache im Sprachunterricht be- Deutsche selbst „s” benutzen, obwohl sie che wichtig, dass es innerhalb einer Sprache schränkt, würde ich sagen, dass eine gute meist auch wissen, dass dies ein Merkmal viel Variation gibt. Sowohl im Deutschen als Aussprache der Lehrenden schon wichtig des typisch deutschen Akzents ist, ist Teil auch im Englischen gibt es Varietäten und ist, denn selbst bei Muttersprachlern nimmt meines Forschungsprojektes. Dialekte, die für bestimmte Hörer mehr oder man Wörter wie „pan“ und „pen“ als nicht weniger verständlich sind, oder die wir mehr so unterschiedlich wahr, da man sie durch Vielleicht weil man das in der Schule so oft oder weniger gut kennen. Daher kann es den Filter der eigenen Sprache hört. Aus von seinem Englischlehrer gehört hat? auch gut sein, dass der Akzent von Fremd- eigener Erfahrung kann ich sagen, dass das Reinisch: Nicht nur vom Lehrer, aber ja, das sprachenlernern nicht als Akzent, sondern Aussprachetraining häufig vernachlässigt ist eine meiner Hypothesen. Bei einem Wort als eine unbekannte Varietät der Zielsprache wird. Das liegt vielleicht auch daran, dass wie „Birthday“, das so viele auch mit „Happy wahrgenommen wird. einen Akzent zu haben nicht heißt, dass man Bir[s]day“ singen, spielen sicher Gewohn- nicht verständlich wäre. Es gibt innerhalb heit und die Tatsache, dass man es so oft Fällt das Erlernen einer korrekten Ausspra- jeder Sprache viele Variationen, und es ist hört, eine Rolle. Studien zeigen, dass man che leichter, je mehr Sprachen man lernt? gar nicht so genau zu definieren, was man Varianten von Wörtern, die man sehr häufig Reinisch: Das ist eine gute Frage, ob man können muss, um keinen Akzent zu haben. hört, besser versteht. Lerner einer Fremd- etwa die sechste Sprache leichter lernt als Und auch wenn man lange darüber disku- sprache verstehen Wörter, die mit dem die dritte. Es ist schwierig, das objektiv mit tieren kann, weil dabei viele soziale Aspekte Akzent ihrer Muttersprache gesprochen sind, gut kontrollieren Experimenten zu untersu- ins Spiel kommen: Solange man sich ver- oft genauso gut wie Wörter von Mutter- chen. Es gibt aber inzwischen mehr und ständlich machen und kommunizieren kann, sprachlern der Zielsprache. mehr Studien über den Erwerb einer dritten ist doch die Frage, wie wichtig es überhaupt Sprache und darüber, welchen Einfluss die ist, dass man spricht wie ein Muttersprach- Wann ist ein Akzent so stark, dass wir eine Zweitsprache auf das Lernen der neuen ler. Sprache nicht mehr verstehen? Sprache hat. Danach überträgt man tatsäch- Interview: Nicola Holzapfel Reinisch: Unser Gehirn ist sehr anpassungs- lich manchmal Gelerntes aus der Zweitspra- fähig, was das Hören betrifft, und das gilt che, eher als aus der Muttersprache. Es kann auch für das Hören akzentuierter Sprache. passieren, dass ein deutscher Muttersprach- Wenn jemand eine Sprache mit Akzent ler, der als zweite Sprache Spanisch lernt Dr. Eva Reinisch leitet am Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung der LMU die spricht, ist diese Person zunächst schwer zu und als dritte Portugiesisch, Teile seiner spa- Emmy-Noether-Gruppe „Der Einfluss von verstehen, aber sobald man sich ein wenig nischen Aussprache ins Portugiesische auditivem Feedback auf Fehlererkennung und daran gewöhnt hat, geht das leichter. Diese überträgt und dann Portugiesisch mit ein Lautpräsentation in einer Fremdsprache“.

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 13 Der Wert des Schreibens

Der Schwerpunkt

Klick und weg Digitaler Wandel: Was bleibt vom Journalismus?

Im Modus der Moderne Prosa – weit mehr als nur ein Gattungsbegriff

Im Spiegel der Schrift Wie die Wissenschaft historische Dokumente zum Leben erweckt

Die Kultur des Austauschs Open Access: Über frei zugängliche Publikationen im Netz

Aus dem Eiweiß-Drucker In hoher Auflage: Wie aus dem genetischen Text Proteine werden

14 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Arbeit mit den Quellen: Bibliothek des Historicums der LMU. Foto: C. Olesinski/LMU

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 15 „Leser, die von Print zu Online wechseln, verbringen weit weniger Zeit mit einer Medienmarke“, sagt Neil Thurman: Zeitungsdruckerei in Zürich. Foto: Erik Tham/Getty Images

16 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Klick und weg Was bleibt vom Journalismus im digitalen Zeitalter? Die Kommunikationswissen- schaftler Romy Fröhlich, Thomas Hanitzsch und Neil Thurman über kurze Auf- merksamkeitsspannen, Gratismentalität im Netz und das Vertrauen in die Medien Moderation: Nicola Holzapfel und Martin Thurau

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 17 Der Wert des Schreibens: Klick und weg

Am Abend des Amoklaufs im Münchner gegenseitig. Diese Form der Berichterstat- Olympia-Einkaufszentrum räumten die eta- tung ist also mehr diskursiv als faktenbasiert. blierten Medien ihr Programm für vierstün- Die Öffentlichkeit ist dann nicht besser in- dige Sondersendungen frei, auch wenn der formiert, die Informationen zirkulieren nur Nachrichtenwert zwangsläufig eher gering mehr, auch über die sozialen Medien. war. Warum haben die Medienhäuser an Fröhlich: Wir haben eine völlig neue Sicher- diesem 22. Juli so entschieden? heitslage, die ein besonderes Informations- Hanitzsch: Es ist eine ganz typische Er- scheinung, dass gerade in solchen Momen- ten die Medien gemeinsam auf ein Thema anspringen. In der Bevölkerung gibt es auch Alle sind »on eine gewisse Erwartung, darüber etwas zu erfahren. Ich bin an diesem Abend in Mün- alarm«, anders chen unterwegs gewesen. Auf dem Weg zum Kino blieben mit einem Mal alle Ver- als vor 15 Jahren kehrsmittel stehen. Natürlich sucht man dann nach Informationen darüber, was los ist. Gerade zu diesem Zeitpunkt, als noch bedürfnis weckt. Es gab in Deutschland ja gar nicht klar war, was genau passiert war, schon öfter Amoktaten, wenn auch, Gott sei verstand ich sehr gut, dass die Medien in- Dank, nicht so oft wie in den USA. Neu ist tensiv darüber berichten. aber, dass alle sofort denken: Das ist jetzt ein großer Terroranschlag und gleich wird Die Süddeutsche Zeitung hat ausgewertet, es wie in Brüssel an mehreren Plätzen hoch- wie an diesem Abend über Twitter aus ei- gehen. Das antizipieren natürlich auch die nem einzelnen Tatort 67 Gefahrenzonen in Medien. Alle sind „on alarm“. Das war vor der ganzen Stadt wurden. Haben die sozi- zehn, 15 Jahren anders. alen Medien zu einer gewissen Hysterie Hanitzsch: Ich glaube nicht, dass die Men- beigetragen? schen prinzipiell hysterischer sind. Der ent- Thurman: Es ist ein bekanntes Phänomen, scheidende Unterschied ist, dass diese dass nach Ereignissen wie einer Schießerei Gerüchte sich durch die sozialen Netzwerke Thurman: Die Zeitungen haben einen Groß- oder auch bei Umweltkatastrophen falsche so schnell verbreiten und ein Echo in den teil der Einnahmen aus dem Anzeigenge- Gerüchte über Twitter verbreitet werden. Communities finden, in denen sich- Men schäft an den digitalen Bereich verloren. Die Für Journalisten ist das eine Herausforde- schen mit Gleichgesinnten umgeben. Da- Verlage sind daran interessiert, auch dort rung. Aber mit bestimmter Software lässt durch entsteht subjektiv ein Gefühl von Ge- ihre redaktionellen Inhalte zu platzieren, um sich erkennen, ob die Personen, die twittern, fahr. Ich glaube, die Wahrnehmung der Welt eine größere Öffentlichkeit zu erreichen. ​ tatsächlich an dem Ort sind, an dem sie hat sich durch diese sogenannten Echokam- Facebook versucht so viele Inhalte wie mög- behaupten zu sein. Bei den Rezipienten ist mern fundamental verändert: Wir alle leben lich auf seine Plattform zu bekommen, um die Erwartung gestiegen, bei solchen Ereig- in Blasen, weil wir, zum Teil gesteuert durch ein „One-Stop-Shop” zu werden. Es bietet nissen in möglichst kurzen Zeitabständen Algorithmen etwa bei der Googlesuche, vor- Verlagen daher an, ihre Inhalte zu veröffent- auf den neuesten Stand gebracht zu wer- wiegend mit den Informationen konfrontiert lichen und die Anzeigeneinnahmen zu tei- den. Das liegt sicher an einer veränderten werden, die wir zu erwarten scheinen. Dann len. Das ist gut für Facebook, aber nicht un- Mediennutzung: Viele lesen heute Nach- entsteht der Eindruck, dass hinter dem eige- bedingt für die traditionellen Medien. richten am Smartphone und sind daran ge- nen Ereignishorizont, außerhalb der eige- Hanitzsch: Es findet im Augenblick eine wöhnt, immer auf dem Laufenden zu sein. nen Blase sozusagen, irgendetwas Schlim- fundamentale Umwälzung statt. Wir, die wir Die Nachrichtenmedien haben dafür inzwi- mes passiert. alle hier am Tisch sitzen, gehören ja nicht schen neue Formate wie Live Blogs entwi- zu den sogenannten „digital natives“, son- ckelt. Dort gibt es dann zwar viele Updates, Wie ist denn generell das Verhältnis zwi- dern haben im Laufe der Zeit gelernt, mit aber häufig zitieren sich die Medien nur schen Social Media und etablierten Medien? den neuen Medien umzugehen. Meine Kin-

18 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Das rechte Maß: Der Maßstab der Moral

Am Abend des Münchner Amoklaufs berichteten die Medien in stundenlangen Sondersendungen – trotz noch unklarer Nachrichtenlage. Foto: STR/AFP/Getty Images

der leben in dieser neuen Medienwelt und journalistisch recherchierten Inhalts einer- Seit dem Ausbruch des isländischen Vul- für sie macht es überhaupt keinen Unter- seits und einem Blogeintrag. kans Eyjafjallajökull, der den internationalen schied, ob Informationen über Social Media Flugverkehr lahmlegte, ist das anders. Aber transportiert werden oder über die klassi- Wir sehen uns alle ja heute einem Überfluss es ändert sich gerade etwas bei der Perso- schen Medien, die ja mittlerweile auch auf an Informationen gegenüber. Wie gehen nalisierung, weil immer mehr Informationen sozialen Netzwerken aktiv sind. die Medien damit um, um überhaupt noch über die sozialen Netzwerke gelesen wer- Fröhlich: Für mich ist es eben nicht egal, Aufmerksamkeit zu bekommen? Ist die Per- den. Facebook personalisiert diesen Nach- über welchen Kanal eine Nachricht kommt. sonalisierung von Nachrichten eine Lösung? richtenstrom und beeinflusst damit, was bei Es gibt den professionellen Journalismus, Thurman: Die Medien versuchen schon seit den Nutzern ankommt. Erinnern Sie sich an der aus guten Gründen unter einer ganzen Jahrzehnten, Inhalte für ihre Leser oder Zu- den Skandal, als herauskam, dass Facebook Reihe von Schutzrechten steht, etwa dem schauer zu personalisieren. Das baut nor- in die Themenauswahl eingreift. Zeugnisverweigerungsrecht. Und es gibt malerweise auf den Interessen der Empfän- Fröhlich: Ich stelle mir manchmal die Frage Blogger, Privatpersonen, die sich mitunter ger auf. Das klappt gut bei Musik, Filmen, nach der Henne und dem Ei: Ist der soge- Journalist nennen – der Beruf ist ja nicht ge- beim Online-Shopping. Aber es ist schwie- nannte Information Overkill natürlicher- schützt ist, und die verbreiten können, was rig vorherzusagen, welche Nachrichten je- weise da, weil sich die Welt globalisiert und sie wollen. Das Problem ist, dass unbedarfte manden in der nächsten Woche interessie- durch die digitalen Technologien der Nach- Rezipienten, dazu zählen zunehmend auch ren werden. Wenn Sie vor ein paar Jahren richtenfluss beschleunigt hat, oder gibt es Erwachsene, keinen Unterschied ma-chen die Frage gestellt hätten: „Interessieren Sie ein Geschäftsmodell dahinter? Wenn ich zwischen der Qualität eines professionellen sich für Vulkane?”, hätten viele Nein gesagt. personalisierte Nachrichten anbieten möch-

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 19 Der Wert des Schreibens: Klick und weg

te, was mittlerweile auch der Bayerische Wenn Medienkompetenz in unserer Welt Rundfunk und sehr viele Online-Zeitungen jemals wichtig war, dann heute. machen, dann muss ich ja eine viel größere Hanitzsch: In guten Redaktionen gibt es Bandbreite an Informationen haben, um ganze Heerscharen von Journalisten, die damit diese ganzen unterschiedlichen Pro- nur damit beschäftigt sind, zu verifizieren, file von Nutzern bedienen zu können. Wer ob das Material authentisch ist. Gerade im treibt da eigentlich wen? Syrienkonflikt wurde den Medien sehr häu- Hanitzsch: Man kann natürlich argumen- fig von beiden Seiten Filmmaterial- zuge tieren, dass sich das Wissen über die Welt spielt, auch im israelisch-palästinensischen insgesamt in gewissen Zeitabschnitten, die, Konflikt gibt es das sehr oft. Ich glaube, das glaube ich, bei sieben Jahren liegen, ver- ist eine Kompetenz, die wir von Journalisten doppelt. Der entscheidende Unterschied ist noch stärker einfordern müssen, weil das aber, dass wir heute relativ schnell auf ein der normale User nicht leisten kann. umfangreiches Arsenal von Informationen Fröhlich: Das kostet aber Geld. Zugriff haben. In den guten alten Zeiten wa- Hanitzsch: Deswegen ist natürlich die ren die Journalisten diejenigen, die uns ge- Erwartung verkehrt, dass man einen guten sagt haben, wie die Welt funktioniert. Heute Journalismus im Netz zum Nulltarif be- haben wir aber oft dieselben Informationen kommt. Ich fand das schon immer sehr ei- wie sie. Das hat natürlich zur Konsequenz, genartig, dass ausgerechnet bei einem so dass sich ihre Tätigkeitsbeschreibung ver- wichtigen Kulturgut wie Journalismus, von ändern muss und zum Teil schon stark ver- dem es heißt, Demokratie könne ohne ihn ändert hat. Oft wird über „Journalisten als nicht funktionieren, verlangt wird, es solle Kuratoren“ diskutiert, wo es eher darum sich irgendwie selbst finanzieren. geht, Informationen zu ordnen. Insofern ist der Journalist oder die Journalistin jemand, Einige Zeitungen haben nach einer langen der einem die Welt erklärt und das Gesche- Phase der Unentschlossenheit auf ihren hen in einen größeren Kontext einordnet, Onlineseiten Bezahlschranken errichtet und der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verkaufen einen Teil des Contents. Wird sich gut zurechtkommen. Auf der Ebene der lo- einschließt. Gute Journalisten sind heute das jetzt doch noch etablieren? kalen Medien macht es wenig Sinn. Der po- diejenigen, die das gut können. Thurman: Wer eine Zeitung liest, nimmt tenzielle Einzugsbereich ist klein und man Fröhlich: Außerdem darf man nicht verges- sich dafür im Schnitt etwa eine halbe Stunde kann keinen Geldwert generieren, der ver- sen, dass die Informationsfülle gerade im am Tag Zeit. Wer online die Webseite einer gleichbar wäre mit dem traditionellen Abo Internet auch eine positive Seite hat. Mich Zeitung aufruft, bleibt höchstens zwei Minu- hat schon immer beeindruckt, wie schnell ten oder vielleicht sogar nur eine halbe Mi- Falschmeldungen im Netz korrigiert wer- nute, weil das Angebot im Internet so groß Höchstens zwei den. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe jun- ist und man schon mit einem Klick anderswo ger Menschen, die sich im Rahmen des Netz- ist. Ich glaube daher nicht, dass die Pay Wall werks „Cooperation and Development Net- den traditionellen Medien eine spürbare Er- Minuten auf einer work Eastern Europe” um den Ukrainekon- leichterung bei ihren finanziellen Proble- flikt herum gegründet hat. Sie hat die Pres- men bringen wird. Leser, die von Print zu Zeitungs-Website sefotos, die beide Seiten von Panzerbe- Online wechseln, verbringen weniger Zeit wegungen in die Welt gesetzt haben, mit mit einer bestimmten Medienmarke und ganz besonderer Technik untersucht und daher sind auch die Anzeigen weniger wert. oder der Kaufzeitung. Aber ganz entschie- nachgewiesen, dass die Bilder teilweise 15 Wer ist schon bereit, für etwas Geld auszu- den ist diese Diskussion noch nicht. Es Jahre alt waren und aus völlig anderen Kon- geben, dem sich Leser vielleicht gerade mal hängt viel davon ab, ob es gelingt, die Idee flikten stammten. Das zu erkennen oder zu- 40 Sekunden am Tag widmen? zu kultivieren, dass hochwertiger Journalis- mindest damit zu rechnen, fordert von den Hanitzsch: Ich glaube, vor allem die natio- mus kostenintensiv ist, und der Erwartung Nutzern mittlerweile ein hohes Know-how. nalen Leitmedien werden mit der Pay Wall entgegenzuwirken, dass man tolle Bericht-

20 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Der Wert des Schreibens: Klick und weg

Ein Verlust des Vertrauens in die Medien? „Nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung, der sich jetzt allerdings sehr laut artikuliert“, sagt Thomas Hanitzsch (links) im Gespräch mit Romy Fröhlich und Neil Thurman. Fotos: LMU

erstattungen über Auslandskorresponden- Dazu gibt es Überlegungen in skandinavi- Welt findet durchaus ein Vertrauensverlust ten vom anderen Teil des Planeten erwarten schen Ländern; in Frankreich gibt es das in die Medien statt. Warum, darüber kann kann, ohne dafür zu bezahlen. schon länger. Wir haben in Deutschland nur man nur spekulieren. In den meisten Län- Fröhlich: Ich glaube, diese Einsicht, dass indirekte Subventionen für die Presse und dern im kontinentalen Europa nimmt das man guten Journalismus nicht zum Nulltarif direkte im öffentlich-rechtlichen Bereich. Es Vertrauen aber eben nicht ab. In Deutsch- bekommt, muss sich erst durchsetzen bei gibt auch andere Möglichkeiten wie Crowd- land ist es im Zeitverlauf nach Studien des den Verlegern, bei den Medienpolitikern finanzierung, eine Idee aus den USA, bei World Value Survey sogar gestiegen. Ein und natürlich auch beim Publikum. Aber der mehrere Menschen bestimmte Projekte ähnliches Ergebnis erbrachte auch eine Stu- das gilt auch für die Einsicht, dass wir den gemeinsam finanzieren. Das klassische Bu- die vom Allensbach Institut für Demoskopie Journalismus überhaupt brauchen. Wenn sinessmodell werden wir möglicherweise vom Dezember letzten Jahres. Demnach ist dieses Bewusstsein verlorengeht, dann wer- nicht halten können. einerseits eine Mehrheit unzufrieden mit den auch die Geschäftsmodelle nicht tragen. der Flüchtlingsberichterstattung, weil da Die allergrößte Gefahr sehe ich momentan Ökonomische Verluste in der Branche sind der Eindruck bestand, sie sei etwas tenden- darin, dass immer mehr Menschen glauben, das eine. Aber hat der Journalismus auch ziös. Gleichzeitig besteht aber ein ungebro- sie brauchen keine Journalisten mehr, weil an Glaubwürdigkeit verloren? Wie steht es chenes Grundvertrauen in die Medien. Der ja ohnehin die ganze Welt twittert. um das Vertrauen in die Medien? Wutbür- Vertrauensverlust trifft nur auf einen kleinen Hanitzsch: Ich glaube, der entscheidende ger hantieren ja gerne mit dem belasteten Teil der Bevölkerung zu, der sich jetzt aller- Punkt ist, dass wir bereit sein müssen, über Begriff „Lügenpresse“. dings sehr laut artikuliert und der schon Alternativen nachzudenken. Das könnte be- Hanitzsch: Ich finde es überraschend, dass immer ein manchmal latentes, manchmal deuten, dass man auch andere Teilbereiche die Journalisten sich diesen Schuh immer sehr deutliches Misstrauen gegenüber allen des Journalismus öffentlich subventioniert. wieder anziehen. In der angelsächsischen Institutionen hatte.

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 21 Der Wert des Schreibens: Klick und weg

Thurman: Umfragen zeigen, dass das Ver- trauen in alle Institutionen abnimmt, und das ist, denke ich, ein Anzeichen für größere gesellschaftliche Veränderungen. Dieser Vertrauensverlust betrifft natürlich auch die Medien. In Großbritannien gibt es große Unterschiede, wie sehr die Menschen öf- fentlich-rechtlichen Angeboten – etwa dem Rundfunk – trauen oder der Tabloid-Presse, die in den vergangenen fünf Jahren sehr viele Skandale hatte. Hanitzsch: Das Vertrauen in Institutionen schwindet schon seit ungefähr den späten 1960er-Jahren kontinuierlich, insbesondere in politische Institutionen, aber auch in Fa- milie, Kirchen und Schulen. Offenbar findet ein Kulturwandel statt und die Bevölkerung emanzipiert sich immer stärker von staatli- chen und institutionellen Autoritäten. Jetzt kann man natürlich argumentieren, dass ein prinzipieller Skeptizismus eine gute Eigen- schaft einer Demokratie ist. Gefährlich wird es aber, wenn das ins Gegenteil umschlägt, wie es jetzt zum Teil in Ostdeutschland zu beobachten ist, wo sich Menschen komplett abgelöst fühlen und prinzipielles Miss- trauen entwickeln.

Sie haben eine Studie zum Journalismus in Großbritannien gemacht. Ein Ergebnis war, dass Onlinejournalisten nahezu dreimal so viele Texte produzieren wie ihre Printkol- legen. Woran liegt das? Hanitzsch: In der Studie von Neil Thurman und mir ging es um jede Form von Material, das veröffentlicht wird. Onlinejournalisten produzieren in der Regel viel kürzere Be- richte und können Texte aus den Mutter- häusern übernehmen. Ich glaube, die Zahl für sich genommen ist jetzt nicht so drama- tisch, aber in derselben Studie haben die meisten Journalisten gesagt, dass sie immer mehr produzieren müssen und immer weni- ger Ressourcen dafür haben – unabhängig davon, ob sie online oder offline arbeiten. Das bedeutet, dass Journalisten immer we- Recherchefeld Ukrainekonflikt: Welchen Bildern kann man trauen, welchen nicht? „Beeindru- niger Zeit haben, sich einer Geschichte zu- ckend, wie schnell Falschmeldungen im Netz mitunter korrigiert werden“, sagt Romy Fröhlich. zuwenden. Dann passieren natürlich Fehler Soldat der ukrainischen Armee, Region Donezk, Juni 2016. Foto: Anatolii Stepanov/Getty Images

22 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Der Wert des Schreibens: Klick und weg

und dann können Geschichten nicht ausre- man nicht unterschätzen, da Zeitungen tra- Beispiel wird von einem bestimmten Mo- cherchiert werden, weil man nur eine Quel- ditionell sehr viel regionale Informationen ment an problematisch, nicht nur für die le benutzen und Informationen oft nicht ve- produziert haben. Das Fernsehen wird da- Journalisten und die Rezipienten, sondern rifizieren kann. gegen kaum betroffen sein. Sicher wird es auch für die PR selbst, die ja ein glaubwür- mehr interaktive Möglichkeiten geben. Es diges Umfeld braucht, damit sie funktioniert. Wagen Sie einen Blick in die Zukunft: Wie wird ja viel über neue Technologien wie Vir- Auf der anderen Seite gibt es Entwicklun- wird der Journalismus in zehn Jahren sein? tual Reality gesprochen, und bestimmt wird gen, die vor einigen Jahren niemand vor- Hanitzsch: Ich glaube, dass der Journalis- damit weiterhin experimentiert, aber auf- hergesagt hätte, etwa dass in Großbritan- mus sich gar nicht so stark verändern wird. grund der hohen Produktionskosten wird nien neue Printzeitungen auf den Markt Wenn wir heute zehn Jahre zurückschauen, sich das eher auf wenige ausgewählte kommen. Jetzt gibt es die Zeitung The New sehen Redaktionen eigentlich immer noch Geschichten beschränken. Ich bin also eher European, die nach dem Brexit-Referendum so aus und Journalisten arbeiten immer skeptisch, was diese neuen Technologien gegründet wurde und sich zu halten scheint. noch so, wie sie es früher gemacht haben, betrifft, von denen es heißt, dass sie den Ich glaube, Entwicklungen sind häufig zy- nämlich überwiegend mit dem Telefon. Na- Journalismus revolutionieren werden. klischer als angenommen wird. türlich wird stärker mithilfe von Suchma- Fröhlich: Die größte Veränderung für den schinen recherchiert, was zur Konsequenz Journalismus ergibt sich dadurch, dass er hat, dass durch die Trefferauswahl alle zu sein Selektions-, Analyse- und Einordnungs- denselben Ergebnissen kommen. Sicherlich monopol verloren hat und noch stärker ver- Prof. Dr. Romy Fröhlich wird sich auch die Zusammenführung ver- lieren wird. Die Frage ist, ob der Journalis- ist Professorin für Kommunikationswissen- schiedener Tätigkeitsbereiche noch verstär- mus etwas Neues erfinden wird, das ihn schaft an der LMU. Fröhlich, Jahrgang 1958, studierte Kommunikationswissenschaft, ken. Früher gab es Layouter, heute bauen unverzichtbar macht. Und wird es auf einem Neuere Deutsche Literatur und Theaterwis- Redakteure ihre Seite am Bildschirm zusam- gesamtgesellschaftlichen Level gelingen, senschaft an der LMU und promovierte an den Menschen klarzumachen, dass es gut der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. 1998 wurde sie auf eine Professur ist, wenn der professionelle Journalismus für Journalistik und Öffentlichkeitsarbeit an Die Zahl der sein Monopol hat, weil eben auch Scharla- der Universität Bochum berufen. Im Jahre tane unterwegs sind? Ein zweiter Trend 2000 wechselte sie an die LMU. wird darin bestehen, dass die Möglichkeiten Prof. Dr. Thomas Hanitzsch Journalisten wird ist Professor für Kommunikationswissen- für Public Relation, die öffentliche Meinung schaft mit Schwerpunkt Journalismus an der zu beeinflussen, noch besser werden. Vor LMU. Hanitzsch, Jahrgang 1969, studierte weiter sinken allem dann, wenn der Journalismus weiter Journalistik und Arabistik/Orientalische prekarisiert, wenn es zum Beispiel noch Philologie an der Universität Leipzig und an der Universitas Gadjah Mada in Yogyakarta, weniger Ressourcen gibt, eine dritte oder Indonesien. Er promovierte an der TU men. Ich glaube, die Personalisierung wird vierte Meinung einzuholen. Auf der anderen Ilmenau, wo er auch Wissenschaftlicher auf jeden Fall zunehmen. Das hat allerdings Seite hat in der PR in den letzten 15 Jahren Mitarbeiter war. Er war Oberassistent an der Universität Zürich, bevor er im Jahre 2010 auch schon vor zehn Jahren angefangen, als eine Professionalisierung stattgefunden, die nach München wechselte. vor allem in Ostasien sehr viel damit expe- atemberaubend ist. Für gut gemachte PR Prof. Dr. Neil Thurman rimentiert wurde. Es ist auch nicht zu erwar- stehen die Redaktionstüren zurzeit sperr- ist Professor für Kommunikationswissen- ten, dass technische Kompetenzen wichti- angelweit offen. Ich habe schon vor Jahren schaft mit Schwerpunkt Computational Journalism an der LMU. Thurman, Jahrgang ger werden, denn die Arbeitsweise mit den gesagt, dass das für die PR nichts ist, wor- 1970, studierte Communication and Image üblichen Softwareprogrammen hat sich über sie sich freuen kann, denn PR braucht Studies an der University of Kent, Großbri- auch nicht verändert in den letzten 20 Jah- einen gut aufgestellten Journalismus auf Au- tannien, und machte seinen Ph.D. in ren. Ich schätze aber, dass die Zahl der Jour- genhöhe, weil sie sonst ihrerseits an Glaub- Journalism Studies an der City University London. Er war Visiting Lecturer an der nalisten weiter rückläufig sein wird. würdigkeit verliert. University of Kent, arbeitete bei Interactive Thurman: Die Einnahmen der traditionellen Thurman: Wir gehen oft davon aus, dass Learning Productions, Newcastle, als Medien werden weiter zurückgehen und sich einmal eingeschlagene Trends beliebig Design and Production Manager bei das wird Folgen haben für den Umfang an fortsetzen. Aber von einem gewissen Punkt Yorkshire International Thomson Multime- dia, Newcastle, und war zuletzt Associate Nachrichten. Ich denke, die regionale Be- an wird das nicht mehr der Fall sein. Der Professor an der City University London, richterstattung wird abnehmen. Das darf Einfluss der PR als Nachrichtenquelle zum bevor er 2015 nach München wechselte.

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 23 Im Modus der Moderne Prosa – weit mehr als nur ein Gattungsbegriff: Die Literaturwissenschaftlerin Inka Mülder-Bach über eine sprachliche Ausdrucksweise als Spiegel und Formgeber der Wirklichkeit, über literarische Traditionsbrüche und die Entzauberung der Welt Von Klaus Uhrig

24 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Mammutwerk als Bühnenstoff: Der flämische Regisseur Guy Cassiers hat Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften aufgeführt – unter anderem auf dem Theaterfestival in Avignon, mit Tom Dewispelaere als Ulrich. Foto: Anne-Christine Poujoulat/Getty Images

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 25 Der Wert des Schreibens: Im Modus der Moderne

chreiben Sie das bitte nicht“, lacht Inka Mülder-Bach, auf eine außerge- Swöhnliche Auszeichnung angespro- chen, eine Ehrung, die bisher nur wenige Literaturwissenschaftler erhalten haben. Das sei ihr zugestanden. Nur so viel: Wer an hochdekorierte Forscher denkt, hat im Normalfall nicht sofort die Literaturwissen- schaft im Blick. Das ist ein Fehler. Inka Mülder-Bach ist eine geisteswissen- schaftliche Spitzenforscherin: Professorin in München, Gastprofessorin an der US-Elite- Universität Princeton und Autorin von viel- beachteten literaturwissenschaftlichen Wer- ken. Gerade erst hat sie einen neuen For- schungsschwerpunkt am Center for Ad- vanced Studies der LMU mitbegründet: „Prosa schreiben“ – ein Projekt, an dem ne- ben Literaturwissenschaftlern auch Histori- ker und Juristen beteiligt sind. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde Inka Mülder-Bach spätestens durch ihre mehr als 500 Seiten starke Studie zu einem der bedeutendsten und schwierigsten Wer- ke der deutschsprachigen Literatur: Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. „Das war das größte intellektuelle Abenteuer mei- nes Lebens”, sagt sie. „Auch, weil ich lange nicht wusste, ob ich das tatsächlich schaffe.“ Der Mann ohne Eigenschaften ist so etwas wie das deutschsprachige Pendant zu James Joyces Ulysses: Ein Werk, dessen literari- sche Qualität unbestritten ist und das trotz- dem seine Leser reihenweise in die Ver- zweiflung treibt. Es ist ein sperriger, aus- ufernder und bei genauerer Lektüre doch ungemein befriedigender Text. Und Inka Mülder-Bachs Musil-Studie ist ein hervor- ragendes Beispiel dafür, was Literaturwis- senschaft kann. Nicht vereinfachen – „Musil light geht nicht“, hat Mülder-Bach in einem Interview mal gesagt –, sondern erklären, er-läutern, Lesarten aufzeigen. Das öffentli- che Interesse nach der Veröffentlichung war groß: „Wir haben viele Veranstaltungen zum Musil-Buch gemacht, wo jemand aus dem „Das größte intellektuelle Abenteuer meines Lebens“, nennt Inka Mülder-Bach die Arbeit an Roman gelesen hat und ich dann kommen- ihrer Studie über Robert Musil (Aufnahme um 1930). Foto: akg-images/Imagno tiert habe. Und die Literaturhäuser waren

26 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Der Wert des Schreibens: Im Modus der Moderne

immer voll“, sagt Mülder-Bach. Viel Auf- merksamkeit gab es auch für ihre nur halb scherzhaft gemeinte Forderung, man solle analog zum „Bloomsday“, an dem die Joyce- Anhänger jedes Jahr den Protagonisten des Ulysses feiern, einen „Ulrichtag“ für Musil- Verehrer einführen. Doch dazu ist die Fan- gemeinde dann wohl doch etwas zu klein gewesen. „Über dem Atlantik befand sich ein barome- trisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, die- sem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit.“ Mit diesen Sätzen beginnt Der Mann ohne

Simplifizieren? »Musil light geht nicht«

Eigenschaften. Es ist eines der berühmtes- ten Anfangskapitel der Literaturgeschichte. Nicht nur wegen des barometrischen Mini- mums, sondern auch wegen des „kleinen Unglücksfalls“, der hier passiert, an diesem „schönen Augusttag des Jahres 1913“: Eine „querschlagende Bewegung“, ein Lastwa- gen strandet, ein Mann bleibt wie tot am Bordsteinrand liegen. Für Inka-Mülder Bach ein geradezu paradigmatischer Anfang für einen modernen Roman, ein, wie sie sagt, „Anfang der Anfänge“. Lange Zeit hat die Literaturwissenschaftlerin zusammen mit einer Forschergruppe solche Anfänge ana- lysiert: „Es ist der virulenteste Punkt des Textes. Also der Punkt, an dem der Text sich abschneidet von allen anderen Kontexten und seinen Einsatz macht. Und da war unter anderem die Frage: Wie macht man das?“ Frappierend oft beginnen moderne Romane und Erzählungen mit etwas, das Inka Mül- Auch über den Kulturtheoretiker Siegfried Kracauer (Porträt hinter zersprungenem Glas, um der-Bach „Fälle“ nennt. Das kann ein Unfall 1930) hat Inka Mülder-Bach gearbeitet und eine Werkausgabe mit herausgegeben. Foto: akg

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 27 Der Wert des Schreibens: Im Modus der Moderne

sein, wie bei Musil, oder eine andere Zäsur, che Begriffe sind. Das liegt möglicherweise Merkmale und formative Ef-fekte nicht ins ein Bruch, etwas, das eine Differenz markiert einerseits daran, dass die Lyrik ausgewi- Auge springen. Doch obwohl Gesetztes- und aus der Sphäre des Alltäglichen heraus- chen ist, in den Popsong. Eine Vermutung, texte, historische Werke und mo-derne reißt. „Schon bei Heinrich von Kleist gibt es die nicht erst seit der Vergabe des Literatur- Romane nicht in gebundener Form mit Vers überhaupt keine Anfänge, die nicht Fälle Nobelpreises an Bob Dylan naheliegt. Doch und Metrum abgefasst sind, folgen sie trotz- sind“, sagt Mülder-Bach, ob es nun eine es gibt noch eine andere Erklärung: Die dem bestimmten sprachlichen und forma- Naturkatastrophe ist wie beim Erdbeben in Prosa ist so dominant, weil sie so gut geeig- len Konventionen. Auch literarische Prosa Chili oder die mysteriöse Schwangerschaft net ist, unsere Welt zu beschreiben, da un- mag manchmal zunächst geradezu natür- der Novelle Die Marquise von O.... sere Welt selbst und unser Blick auf sie lich wirken, vor allem, wenn sie nahe an der Auch bei den Erzählungen Franz Kafkas ebenfalls prosaisch sind. „Prosa ist seit dem Alltagssprache abgefasst ist. Doch Inka Mül- steht am Beginn fast immer ein „Fall“: eine 18. Jahrhundert ein Begriff, in dem eine der-Bach gibt zu bedenken: „Es ist tatsäch- Verhaftung, ein Urteil oder der verstörende Schreibweise enggeführt wird mit einem lich keinesfalls eine natürliche Sprache. Es Anfang seiner Erzählung Die Verwandlung: ,Weltzustand‘ oder einer Wirklichkeitsver- sieht nur zunächst so aus. Deshalb geht es „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unru- fassung: Mit der Moderne, mit den moder- uns in dem Forschungsschwerpunkt unter higen Träumen erwachte, fand er sich in nen Wissenschaften, dem modernen Staat anderem darum, Aufmerksamkeit dafür zu seinem Bett zu einem ungeheueren Unge- schaffen, wie Natürlichkeitseffekte entste- ziefer verwandelt.“ hen. Also um etwas, das unkonstruiert Doch warum beginnen viele moderne Texte Ein Begriff erscheint, aber in höchstem Maße konstru- mit solchen Brüchen, mit Zäsuren, die gera- iert ist.“ dezu einen traumatischen Charakter haben Einen solchen interdisziplinären Schwer- können? „In vielen dieser Anfangskonstruk- für einen punkt findet Inka Mülder-Bach sehr auf- tionen“, so Inka Mülder-Bach, „verhandelt schlussreich, da die unterschiedlichen Per- die Moderne den Traditionsbruch, der sie »Weltzustand« spektiven der beteiligten Forscher wichtige selber ist oder sein will. Aus dem Bruch er- Anstöße für die weitere Arbeit geben. Doch wächst die Notwendigkeit und Möglichkeit diese findet dann wieder, ganz klassisch, vor eines Erzählens, das seinen eigenen Anfang und seiner Verwaltung, der an ökonomi- allem durch die eigene Lektüre statt. Denn nie einholen kann.“ schen Zwecken ausgerichteten bürgerli- so interdisziplinär und kollaborativ die Lite- Eine ähnliche Doppelbedeutung liegt auch chen Gesellschaft und den sachlich-nüch- raturwissenschaft inzwischen auch aufge- dem neuesten Forschungsprojekt Mülder- ternen Routinen des Allags. Und diese Eng- stellt ist, kann doch nichts die eigene Be- Bachs zugrunde: Dem Schwerpunkt „Prosa führung ist das Interessante.“ Prosa, so Mül- schäftigung des Forschers mit dem Text schreiben“ am Center for Advanced Studies. der-Bach, ist Zustand und Sprache der ent- ersetzen. „Man kann es nicht abkürzen, und Hier untersucht die Münchner Literaturwis- zauberten Welt. Einerseits ist sie seit der man kann es auch nicht kollektivieren. Das senschaftlerin zusammen mit einer inter- Aufklärung Ausdruck der Emanzipation von Buch muss ich selber lesen.“ disziplinären Arbeitsgruppe „Prosa“ nicht traditionalen Bindungen, andererseits ist Diese Praxis der literaturwissenschaftlichen nur als Gattungsbezeichnung, sondern als sie auch ein Narrativ des Banalen, Alltägli- Forschung bleibt sich über die Ländergren- Begriff für einen „Weltzustand“, wie es bei chen, Bürokratischen. zen hinweg gleich. Seit sie regelmäßig auch Hegel heißt: „Einerseits meint Prosa eine Um diesem Phänomen aus verschiedenen an der amerikanischen Universität Prince- Sprachform, die metrisch nicht gebunden Perspektiven auf den Grund zu gehen, arbei- ton forscht, hat Inka Mülder-Bach aber in ist. Und andererseits hat das Wort sich im ten die Literaturwissenschaftler mit Kolle- anderen Hinsichten etliche Unterschiede 18. und frühen 19. Jahrhundert als ein Leit- gen aus anderen Fachbereichen zusammen: festgestellt. So sind deutsche Literaturwis- begriff durchgesetzt, in dem die Moderne „Mit Prosatexten haben es nicht nur Litera- senschaftler in der Regel breiter aufgestellt ihre eigene Verfassung beschreibt. Sie turwissenschaftler zu tun, sondern auch als ihre amerikanischen Kollegen, die sich beschreibt sich selbst als Prosa.“ Juristen. Juristische Prosa bestimmt ja unser häufig auf ein Forschungsgebiet fokussie- Prosa ist überall. Zunächst natürlich in der Leben in hohem Maße. Und auch Historiker ren: „In den USA können Sie gut damit Literatur. Dort hat sie spätestens in der zwei- sind schon von alters her mit Prosa befasst.“ durchkommen, dass Sie sich Ihr Leben lang ten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Lyrik so Was viele dieser Prosaformen vereint, ist nur mit einer Epoche oder einem Autor be- weit zurückgedrängt, dass Literatur und ihre relative Unauffälligkeit. Sie wirken wie schäftigen. Man wird manchmal geradezu Prosa inzwischen fast schon deckungsglei- natürliche Redeformen, deren formale ein bisschen seltsam angeguckt, wenn man

28 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Der Wert des Schreibens: Im Modus der Moderne

Die Arbeit am Text „kann man nicht abkürzen, nicht kollektivieren“, sagt Inka Mülder-Bach. „Das Buch muss ich selber lesen, selber darüber nachdenken.“ Foto: LMU

mehrere historische Schwerpunkte hat. Als schen Abhandlungen bis hin zu seinen Film- Prof. Dr. Inka Mülder-Bach ob man nicht auf die 1920er Jahre speziali- schriften und geschichtsphilosophischen ist seit 2002 Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine siert sein und gleichzeitig zur Aufklärung Studien reicht. Und neben dem 20. Jahrhun- Literaturwissenschaft an der LMU. arbeiten könnte.“ dert arbeitet die Literaturwissenschaftlerin Mülder-Bach, Jahrgang 1953, studierte an Sie selbst hat hingegen zu den unterschied- auch in komparatistischer Perspektive über den Universitäten Tübingen, Oslo und Berkeley, promovierte an der Universität lichsten Themen geforscht. Und dabei hat die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Tübingen und habilitierte sich an der Freien sie schon früh über den Tellerrand der klas- Was sie dabei antreibt, ist ein Erkenntnisin- Universität Berlin. Sie lehrte und forschte sischen Literaturwissenschaft hinausge- teresse, das über alle Forschungen hinweg an der FU Berlin und am Zentrum für blickt. Eines ihrer größten Projekte war die im Grunde das gleiche geblieben ist: Was Literaturforschung in Berlin, bevor sie 1998 als Professorin an die LMU berufen wurde. neunbändige Edition der Werke des Kultur- Literatur eigentlich ist. Was das Literarische Mülder-Bach war Sprecherin der DFG-For- theoretikers Siegfried Kracauer, die sie ge- eigentlich literarisch macht. „Geisteswis- schergruppe „Anfänge (in) der Moderne“ meinsam mit ihrer Kollegin Ingrid Belke senschaften“, sagt Inka Mülder-Bach, „sind, und ist Sprecherin des Schwerpunktes herausgegeben hat. Eine Mammut-Ausga- wenn man sie richtig betreibt, kulturelle „Prosa schreiben“ am Center for Advanced Studies (CAS) der LMU. Seit 2012 ist sie au- be, die von Kracauers Feuilletons und Kri- Grundlagenforschung. Sprache und Litera- ßerdem Permanent Visiting Fellow an der tiken über seine Romane und soziologi- tur sind Grundlagen unserer Kultur.“ Princeton University, USA.

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 29 Im Spiegel der Schrift Dokumente gesellschaftlicher Dynamik: Kulturwissenschaftler der LMU untersuchen historische Schreiben als Zeugnisse von Lebensrealität und Sozialstruktur – und damit auch die Wechselbeziehung von Wort und Wandel. Drei Beispiele

„Keilschrift ist dreidimensional“, sagt Walther Sallaberger, deswegen genügen Fotos allein nicht, es braucht den Augenschein und präzise Umzeichnungen. Foto: Jan Greune 30 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Der Wert des Schreibens: Im Spiegel der Schrift

Im Anfang war die Schrift: Die Texte und Fragmente, oft nur Notate oder gar prosaische Alltagszeugnisse, gehören in vergangene Zeiten, sie entstammen ganz unterschiedlichen Kulturen. Manche Schreiben sind öffentlich, manche privater Natur. Sie spiegeln Herrschaftsverhältnisse, Glaubensgrundsätze, Geschäftsbeziehungen, Familienstruk- turen. Diese Schriftstücke haben die Zeiten überdauert, LMU-Wissenschaftler erwecken sie nun zu einem zweiten Leben: Die Experten entziffern, übersetzen, deuten und kommentieren sie. Sie analysieren das Umfeld, in dem sie entstanden sind. Und machen sie nutzbar für die Wissenschaft – in Sammlungen, die die technischen Möglichkeiten moderner Datenverarbeitung ausschöpfen und so wertvolle Hilfsmittel für die kommende Generation kultur- und sprachwissenschaftlicher Forschungsvorhaben sind.

Das Geschäft mit der Gerste Die Vergangenheit neu entdecken: Keilschrift-Funde erhellen das Wirtschaftsleben Mesopotamiens

„Ein Foto lügt immer!“ Walther Sallaberger Professorin der angesehenen Bagdader lieferungen an den Šara-Tempel von Um- ist ein sehr zurückhaltender Wissenschaft- Universität und hat unter schwierigsten ma. Das Getreide war in der Bronzezeit ler, der sorgfältig abwägt und vorsichtig Umständen im antiken Umma, dem heuti- Hauptnahrungsmittel und bei Bierbrauern formuliert. Wenn es jedoch um die Veröf- gen Djokha, gegraben, einer sumerischen beliebt. In diesem speziellen Fall diente es fentlichung von Keilschrift-Texten geht, ar- Stadt in der heutigen Wüste des südlichen aber auch der Schafzucht. Sie wurden als gumentiert der Professor für Assyriologie Irak. Für Sallaberger ist die Kooperation Opfertiere gehalten für Šara, den Haupt- sehr bestimmt: „Ein Foto lügt immer, weil mit Mahmood ein großes Glück, denn gott Ummas. Auf den ersten Blick mutet es nur eine Beleuchtung hat. Die Keil- westliche Forscher können seit Jahrzehn- Mahmoods Fund also wenig spektakulär schrift aber ist dreidimensional – und des- ten in dem durch drei verheerende Golf- an, schließlich sind mehrere Zehntausend halb sind die Umzeichnungen so wichtig“, Kriege und dem Erstarken der Terrororga- Keilschrift-Funde aus Mesopotamien be- Skizzen, die die Struktur der Zeichen exakt kannt; die frühesten sind fast 1500 Jahre wiedergeben. Die Tiefe der rund 3000 Jah- älter als Mahmoods Tafeln aus Umma. re alten mesopotamischen Schriftzeichen, Vor allem Verwaltungstexte haben die seit die im Zweistromland zwischen Euphrat Lebensmittel über 100 Jahren stattfindenden Raubgra- und Tigris mit spitzen Holzgriffeln in etwa bungen, die im Übrigen enorme Schäden handtellergroße Tontäfelchen geritzt wur- für das verursachen, zutage gefördert. Und doch den, lässt sich am besten durch kunstvolles ist das Projekt von Sallaberger und Mah- Abpausen und Abzeichnen darstellen, sagt Tempelpersonal mood einmalig, denn die von Archäologen Sallaberger. Um die Schrift entziffern zu ausgegrabenen Schriftstücke stammen al- können, braucht es abgesehen von speziel- le aus einem einzigen Raum und umfassen lem Fachwissen also neben qualitativ hoch- nisation IS gebeutelten Land kaum mehr nur etwa vier Jahre. Sie bilden also ein ge- wertigen Fotos idealerweise auch gute Um- arbeiten. „Auf einmal wird das ganze Den- schlossenes Korpus, das einen tiefen Ein- zeichnungen. ken anders“, fasst Sallaberger den intensi- blick in das alltägliche Wirtschafts- und So- In einem kleinen Büro beugt sich neben ven Austausch mit seiner irakischen Kolle- zialleben dieser frühen Hochkultur ge- Walther Sallaberger auch Nawala al-Muta- gin zusammen: „Gerade in schwierigen währt. Damit können die Forscher auch walli Mahmood über einen Laptop. Ge- Zeiten ist es enorm wichtig, dass der Kon- den Alltag ganz gewöhnlicher Menschen meinsam entziffern die beiden Altorienta- takt aufrechterhalten wird.” nachvollziehen. Denn die Schrifttafeln do- listen in einer „echten wissenschaftlichen Gut 200 Tontafeln aus dem frühen 19. Jahr- kumentieren vor allem Lebensmittelzuwei- Kooperation“, wie Sallaberger mehrmals hundert vor Christus, der Zeit der ersten sungen für das Tempelpersonal. Sie beant- ausdrücklich betont, die Keilschrift-Funde Dynastie von Isin, hat Mahmood entdeckt. worten also die Frage: Wer hat wann wel- der Forscherin aus dem Irak. Mahmood ist Die Dokumente belegen vor allem Gerste- che Leistung wofür erhalten?

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 31 Der Wert des Schreibens: Im Spiegel der Schrift

Normalerweise nutzt Sallaberger - kischen Studenten an den Erkenntnissen lange niemand mehr gesehen hat – und sie schrift für Assyriologie und Vorderasiati- über die Frühgeschichte ihres Landes teil- dann veröffentlichen“. sche Archäologie, die er herausgibt und haben zu lassen, haben sich Mahmood und Maximilian Burkhart die für ihn „vor allem ein Wissensarchiv“ Sallaberger für die Publikation der Umma- ist, um derartige Funde der Fachwelt be- Urkunden in Englisch und Arabisch ent- kannt zu machen. Beteiligt ist sein Lehr- schieden. Denn der Antrieb der Archäolo- Prof. Dr. Walther Sallaberger ist Inhaber des Lehrstuhls für Assyriologie an der LMU. Die stuhl auch an digitalen Projekten. Um al- gin Mahmood und des Philologen Salla- „Publikation frühaltbabylonischer Bullen aus lerdings nicht nur die westliche Wissen- berger ist der gleiche: Sie wollen „Dinge den Grabungen von Umma (Djokha)“ wird schafts-Community, sondern auch die ira- aus der Vergangenheit neu entdecken, die von der Gerda-Henkel-Stiftung gefördert.

Die Typfrage Rekonstruktion einer Zeitenwende: LMU-Forscher sichten Dokumente aus der Frühzeit des Islam

Vergleichsmieten, Staffelklauseln – solche fähr die Größe einer heutigen Briefkarte. unter dem „heißen Wüstensand“ verbor- Klügeleien des heutigen Mietrechts kann- Diese Angaben lassen sich wie auch der gen, sagt Andreas Kaplony, Inhaber des te man im arabischen Alltag vor gut einem Inhalt in der Arabic Papyrology Database, Lehrstuhls für Arabistik und Islamwissen- Jahrtausend wohl kaum. Schriftliche Miet- kurz APD, nachlesen, einer bislang einma- schaft an der LMU. Sein Team pflegt und verträge dagegen waren ganz offensicht- ligen Datenbank für historische Schriftstü- erweitert die Datenbank zur arabischen lich bereits Standard. Abadar b. Istafan je- cke aus dem arabischen Raum. Mehr als Papyrologie ständig, in Zusammenarbeit denfalls schließt in seiner Heimatstadt 1500 Dokumente sind darin bereits regist- mit den Universitäten Zürich und Wien. al-Ushmunayn in Oberägypten einen um- riert, übersetzt sowie mit Kommentaren Alle bislang gefundenen Papiere, Perga- fangreichen Kontrakt ab. Die Lage der und Suchfunktionen versehen. Sie stam- mente und Papyri auszuwerten, dürfte ei- Wohnung ist darin genauestens beschrie- ne wahre Sisyphosarbeit sein. Publiziert ben. Sie liegt „im Stadtteil westlich vom sind weltweit jedenfalls bislang nur etwa großen Markt“, unweit der Moschee. Die Wohnung 3500 Dokumente. Die Wissenschaftler Auch der Mietzins ist festgelegt, drei Vier- wollen nun Instrumente dafür entwickeln, tel eines Hakimi-Dinar, einer damals gän- dass sich die Schriftstücke erst einmal gigen Goldwährung, muss Abadar für ein ist besenrein sichten und schneller einordnen lassen. Jahr zahlen, ein Viertel hat er schon begli- Dafür definieren sie Typen von Dokumen- chen, zwei weitere Viertel werden noch zu übergeben ten, denen sich bislang noch nicht unter- fällig. Und nach Ablauf des Jahres soll er suchte Fundstücke nach möglichst einfa- die Wohnung besenrein übergeben, „leer chen Kriterien zuordnen lassen. Zehn gro- von Bewohnern und frei von Staub“, wie men allesamt aus der Frühzeit des Islam. be Kategorien haben sie bislang aufge- es im Vertrag heißt, und „mit ihren hölzer- Es sind Erlasse, Verträge, Briefe, Notizen macht, jede soll noch in Untergruppen dif- nen Türen und ihren Schlössern“. Es fol- und schlichte Quittungen: Dokumente des ferenziert werden. Woran lassen sich zum gen die Unterschriften von Vermieter und Alltags, mal hochoffiziell, mal geschäftlich, Beispiel Steuerquittungen auf den ersten Mieter sowie einer Reihe Zeugen. Die Ein- mal privat. Blick erkennen? Wie kann man, auch ohne gangsformel „Im Namen Gottes, des Doch bislang ist nur ein Bruchteil der ver- das Dokument zu übersetzen, mit einfa- Barmherzigen und Gnädigen“ darf nicht fügbaren Schriftstücke ausgewertet und chen Mitteln feststellen, ob es sich um ei- fehlen, im Jahr 403 d.H., nach unserer Zeit- katalogisiert. Gut 200.000 sind in Ägypten nen Kaufvertrag oder um etwa einen Hei- rechnung im Jahr 1012. Weder bei Chris- zutage gefördert worden, sozusagen als ratsvertrag handelt? ten, noch bei Juden, noch bei Muslimen. eine Art Beifang von Grabungen an der Insgesamt eine Arbeit, die sich aus Sicht Geschrieben ist der Vertrag auf Arabisch, Wende zum 20. Jahrhundert. Sie lagern in der Wissenschaftler unbedingt lohnt. In auf einem Stück Papier, wie es damals aus Archiven vor allem in Berlin und Wien. der Summe eröffnen die Dokumente „ei- Lumpen hergestellt wurde, es hat unge- Vermutlich sind noch unzählige weitere nen Reichtum an Quellen, die bislang na-

32 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Der Wert des Schreibens: Im Spiegel der Schrift

hezu unbekannt sind“, sagt Kaplony. Die Forscher versprechen sich davon einen tiefen Einblick in die Alltagsgeschichte in der Frühzeit des Islam zwischen dem 7. und 16. Jahrhundert. Sie wollen damit ein Bild vom Leben auch der einfachen Bevöl- kerung zeichnen, das die bekannteren und bislang besser untersuchten literarischen Quellen nicht geben. Wie waren Eigentum und Einkommen in den Städten verteilt, wie auf dem Lande? Welche Rechte hatten Frauen in der Gesellschaft und welche Stellung in der Familie? Es waren Zeiten des Übergangs: Mitte des 7. Jahrhunderts wurde Ägypten von den Arabern erobert, die Phase der Islamisie- rung begann. Zuvor, als Ägypten zum Ost- römischen Reich gehörte, war das Chris- tentum die dominierende Religion, die Bevölkerung sprach Koptisch. Unter der neuen Herrschaft war es zunächst nur eine kleine Oberschicht, die Arabisch schrieb. Mit der Zeit aber setzte sich das Arabische als die Handels- und Kommuni- kationssprache durch, „so wie es heute weltweit das Englische ist“, sagt Kaplony. Eine kulturelle Blüte setzte ein, die Schrift- lichkeit etwa war weit verbreitet „und die Alphabetisierungsrate sicher größer als in Europa zu dieser Zeit“, erklärt der LMU- Forscher. Die Aussagen der Alltagsdoku- mente, so hoffen die Wissenschaftler, sol- len sich wie Mosaiksteine zu einem mög- lichst vollständigen und lebendigen Bild fügen. Sie sollen Auskunft geben über die gesellschaftliche Dynamik, über Herrscher und Beherrschte, über alte und neue Eliten sowie den Wandel des Rechtssystems, der Sozialstrukturen und die Entfaltung einer neuen Kultur. Martin Thurau

Prof. Dr. Andreas Kaplony ist Inhaber des Lehrstuhls für Arabistik und Islamwissen- schaft an der LMU. Die Arabic Papyrology Database (www.naher-osten.lmu.de/apd) Zeugnisse der Zeitenwende: Die Alltagsdokumente offenbaren einen „Reichtum an Quellen“, wird von der Andrew W. Mellon Foundation sagt Andreas Kaplony, hier an einer Schreibmaschine mit arabischen Lettern. Foto: J. Greune gefördert.

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 33 Der Wert des Schreibens: Im Spiegel der Schrift

Glaube auf Reisen Als der Buddhismus nach China kam: Edition der ältesten bekannten Handschriften Indiens

„Vom Geist geführt sind die Dinge, vom senschaften (BAdW), das am Institut für In- raums zu rekonstruieren. Radiokarbon- Geist beherrscht, aus Geist gemacht ...“ – dologie und Tibetologie der LMU angesie- Analysen haben gezeigt, dass das älteste mit diesen Worten beginnt eine der wich- delt ist, werden die Handschriften nun Schriftstück aus dem ersten Jahrhundert tigsten buddhistischen Vers-Sammlungen. ediert, im ursprünglichen Wortlaut rekons- vor Christus stammt. Gandhara lag an der Ein Stück Birkenrinde, handschriftlich mit truiert und übersetzt. Eine wahre Detektiv- Seidenstraße, die den Westen mit Indien Tinte beschrieben, zeugt von ihrer frühen arbeit, denn die Texte liegen nur fragmen- und China verband. Archäologische Funde Verbreitung. Es wurde im Nordwesten des tarisch vor. Selten lassen sich ganze Zeilen und Kunstwerke belegen, welch wichtige heutigen Pakistan gefunden und ist etwa erkennen, selbst Sätze und einzelne Wör- kulturelle Impulse von der Region ausgin- 2000 Jahre alt. Damit reicht das Schrift- ter sind auseinandergerissen. gen. Die Handschriften zeigen nun die reli- stück nah an den Anfang der schriftlichen Die Forscher nutzen die Möglichkeiten mo- gionsgeschichtliche Bedeutung Gandha- Überlieferungen in der Region heran, die derner Technologien. Sie erstellen Text- ras, das eine Schüsselrolle für die Ver- damals Gandhara hieß. „Schrift war eine ausgaben in einer digitalen Forschungs- breitung des Buddhismus nach Zentral- sehr späte Erfindung in Indien“, sagt Jens- umgebung und aktualisieren laufend ein asien und China hatte. Offenbar begaben Uwe Hartmann, Inhaber des Lehrstuhls für Online-Wörterbuch, das mit einem Katalog sich die Händler und Kaufleute unter den Indologie an der LMU. Eingeführt wurde aller Schriften verlinkt ist. „Nach Jahren Schutz der neuen Religion und brachten sie vermutlich aus bürokratischen Grün- der Materialsammlung gibt es nun 7000 den Buddhismus nach Osten. Inzwischen den im ersten indischen Großreich, das Wörterbuchartikel, die alle bislang veröf- lässt sich belegen, dass frühe chinesische sich über das heutige Pakistan und Afgha- fentlichten Handschriften abdecken“, sagt Übersetzungen buddhistischer Texte auf nistan sowie Nordindien erstreckte. Dr. Stefan Baums, Arbeitsstellenleiter des Fassungen in Gandhari basieren. Das Schriftstück zeugt von einer Zeit, als Projekts und Herausgeber des Wörter- Die Sprache Gandhari ist schon lange aus- Gandhara eine Hochburg des indischen buchs. Die digitale Infrastruktur des Pro- gestorben, ebenso die Schrift Kharosthi, Buddhismus war. Es stammt aus einer Fol- jekts erleichtert zudem die Zusammenar- die nur über einen Zeitraum von 600 Jah- ge von Handschriftenfunden, die erst seit beit mit internationalen Partnern und Spe- ren geschrieben wurde. Schrift und Spra- den 1990er-Jahren nach und nach der Wis- zialisten, unter anderem an Universitäten che gerieten über mehr als 1000 Jahre in senschaft zugänglich wurden. Inzwischen in Lausanne, Seattle und Sydney. Vergessenheit, bis Inschriften auf archäo- sind etwas mehr als 100 Birkenrinden- Die ersten drei Handschriften haben die logischen Funden auftauchten. Die Vermu- handschriften und ein Vielfaches an Frag- Forscher inzwischen entziffert und veröf- tung, dass es sich dabei um eine buddhisti- menten bekannt. Sie sind in Gandhari- fentlicht, darunter eine religiöse Spruch- sche Literatursprache handelte, bestätigte Sprache und Kharosthi-Schrift verfasst. sammlung und eine Abhandlung aus dem sich aber erst mit den neuen Birkenrinden- Buchstabe folgt auf Buchstabe, es gibt kei- Kontext einer Neuerungsbewegung des in- funden und deren Auswertung. Heute er- ne Wortabstände. Geschrieben wurde von dischen Buddhismus, Mahayana genannt. zählen die Handschriften von einer Aus- rechts nach links. Einzelne Rindenblätter Die Vielfalt der literarischen Formen der prägung des Buddhismus, die seit Langem wurden zu Schriftrollen aneinandergeklebt Texte, die sich grob in Lehrreden, Dich- verschwunden ist, und sie zeugen von ei- oder geheftet. Doch das Material ist brü- tung, Kommentare, religiöse Erzählungen ner Zeit, die entscheidend dafür war, dass chig. Beim Entrollen gehen unweigerlich und Säkulares unterteilen lässt, hat die der Buddhismus zur Weltreligion wurde. Textstellen verloren. Die Originale muss- Wissenschaftler überrascht. „Die ersten Nicola Holzapfel ten erst aufwendig restauriert werden und Editionen zeigen, dass sich die verschiede- lagern seither zwischen Glasplatten fixiert nen Gattungen gegenseitig intensiv beein- in eigens klimatisierten Räumen, unter an- flusst haben“, sagt Baums. Prof. Dr. Jens-Uwe Hartmann ist Inhaber des derem in der British Library in London. Für Ziel des Projekts ist es, auf Grundlage der Lehrstuhls für Indologie an der LMU und Leiter die Forschung wurden sie digital fotogra- Textausgaben eine Geschichte der Litera- des Projektes „Buddhistische Handschriften aus Gandhara“ der BAdW. Dr. Stefan Baums fiert – ein Vorteil, denn so lassen sich Text- tur und des Buddhismus in Gandhara zu er- ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut stellen vergrößern. Im Rahmen eines Pro- arbeiten und dazu beizutragen, die Genea- für Indologie und Tibetologie der LMU und jekts der Bayerischen Akademie der Wis- logie der Schriften des indischen Sprach- Arbeitsstellenleiter des Gandhara-Projekts.

34 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 „Freude – auch wenn man sie sich nicht wünscht, gibt es doch Freude. Nachdem man alles aufgegeben hat, das untauglich, leidbringend und unangenehm ist, wie sollte da keine Freude entstehen?“, so heißt es auf einer der beiden Textrollen (unten), die eine scholastische Diskussion zu Fragen eines buddhistischen Heilsideals wiedergeben. Sie stammen aus der antiken Region Gandhara, erstes oder zweites Jahrhundert nach Christus. Leiter des Gandhara-Forschungsprojektes ist Jens-Uwe Hartmann (oben). Fotos: Andrea Schlosser/LMU (2), Jan Greune

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 35 Experiment auf Experiment: Nur wer Ergebnisse publiziert, kann wissenschaftliche Erfolge vorweisen. Foto: Jan Greune

36 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Die Kultur des Austauschs Open Access: Der Molekularbiologe Peter Becker, der Physiker Jan Lipfert und der Volkswirt Joachim Winter über die Maßstäbe wissenschaftlichen Erfolgs, frei zugängliche Publikationen im Netz und die Probleme eines Systemwechsels Moderation: Martin Thurau

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 37 Der Wert des Schreibens: Die Kultur des Austauschs

Die freie Zirkulation des Wissens, ein unge- veröffentlichen im Jahr zwischen 20 und 30 in der die Frage nach Open Access Journals hinderter Austausch von Forschungsergeb- Arbeiten, etwa ein Fünftel in Open-Access- deshalb nicht so drängend ist. Wenn wir nissen und Erkenntnissen – ohne Bezahl- Publikationen. dort veröffentlichen, dann meistens, weil schranken: Die Idee vom offenen Zugang Lipfert: Meine Gruppe in der Physik ist klei- die Geldgeber in den USA oder Großbritan- zu wissenschaftlichen Publikationen im ner, wir veröffentlichen sieben oder acht Pa- nien das schon erwarten. Netz verknüpfen die Anwälte des Open Ac- per im Jahr, davon zwischen 20 und 30 Pro- cess mit großen Hoffnungen. Und die Po- zent in Open-Access-Journalen. Vielleicht Und in anderen Fächer? litik hat sich offenbar bereits darauf festge- zur Begriffsklärung: Diese Magazine funk- Lipfert: Das ist abhängig von der Fachge- legt: Alle mit EU-Geldern geförderten For- tionieren im Grunde wie die gängigen Fach- meinde. In den Computerwissenschaften schungsarbeiten sollen vom Jahr 2020 an blätter, sie haben einen Herausgeber, haben im Internet frei verfügbar publiziert werden, vor allem ein , in dem andere so will es der EU-Rat „Wettbewerbsfähig- Wissenschaftler vorab die Qualität der Ar- keit“. Eine ähnliche Linie verfolgt auch Bun- beiten beurteilen. Dazu gehören zum Bei- Eine ungefähre desforschungsministerin Johanna Wanka. spiel die Journale PLOS One oder PLOS Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Biology, in denen ich als Biophysiker auch Maßzahl Max-Planck-Gesellschaft, die Helmholtz- öfter Arbeiten habe. In den verschiedenen Gemeinschaft und die Leibniz-Gemein- Subdisziplinen der Physik aber haben sich für die Qualität schaft haben sich wie die Hochschulrekto- sehr unterschiedliche Publikationskulturen renkonferenz (HRK) ebenfalls für den ausgebildet. In der Astronomie, der Kosmo- Umstieg ausgesprochen. logie oder etwa der Theoretischen Teilchen- beispielsweise ist es eher irrelevant, ob Sie Doch wie ist die Stimmung unter den Wis- physik laden die Wissenschaftler ihre Arbei- Publikationen in Journalen vorweisen kön- senschaftlern? Immerhin ist es ein vertrack- ten zunächst immer auf arXiv hoch, einen nen, da zählen Konferenzbeiträge auf den tes Beziehungsgeflecht, das Forscher und sogenannten Preprint-Server, der öffentlich wichtigen Fachtagungen. Und auch in wei- Fachblätter zusammenhält: Wer nicht veröf- zugänglich ist und der Debatte von Ergeb- ten Bereichen der Physik etwa machen sich fentlicht, kommt in der Wissenschaft nicht nissen dient. Früher hat man dem Kollegen Wissenschaftler mitunter schon gar nicht weiter – dieser Grundsatz kennzeichnet ei- auf Konferenzen in der Kaffee-Ecke das Ma- mehr die Mühe, die Arbeiten bei einem nen gewissen Druck, unter dem Forscher ste- nuskript zur Vorabkritik zugesteckt, jetzt ist Fachblatt einzureichen, nachdem sie als hen, wenn sie ihre Arbeiten zur Publikation Preprint veröffentlicht sind. einreichen. Die Verlage verdienen damit Becker: In den Lebenswissenschaften sind Geld, und sie stehen umso besser da, je be- Vorabkritik wir noch eher dem traditionellen Modell gehrter ihre Magazine sind. Ihr Renommee verhaftet. Wir selbst laden zwar auch immer beruht auf der Auswahl möglichst besonders öfter unsere Arbeiten bei BioRxiv hoch, interessanter Arbeiten, nicht zuletzt durch in der einem auf die Lebenswissenschaften spezi- die Begutachtung, die Wissenschaftler un- alisierten Preprint-Server, und finden den tereinander im sogenannten Peer Review Kaffee-Ecke Austausch, der so parallel zum eigentlichen vornehmen. Mit den Möglichkeiten des Veröffentlichungsprozess entsteht, extrem Internets ist dieses Konstrukt ins Rutschen hilfreich. Doch für unsere Erfolgsbilanz, das geraten, nicht zuletzt wegen der Preispolitik der Austausch viel leichter und umfassender muss man klar sagen, spielen die sogenann- der mächtigeren der Verlage. In laufenden möglich. ten Impact-Faktoren der Zeitschriften eine Verhandlungen fährt die HRK nun mitunter Winter: Ganz ähnlich in der Volkswirt- entscheidende Rolle. Diese Zahl gibt an, wie einen härteren Kurs. Wie also sieht die Zu- schaftslehre: In meiner Gruppe veröffentli- oft die darin veröffentlichten Arbeiten in der kunft des Veröffentlichens aus? chen wir im Jahr zwischen fünf und zehn Fachwelt im Schnitt zitiert werden. Arbeiten, davon rund 20 Prozent in „echten“ Lipfert: Man nimmt diesen Wert, meist über Open Access Journals. Gleichzeitig ist es zwei Jahre gemittelt, als Näherungswert für Wie weit hat sich Open Access in Ihrem Um- aber so, dass die meisten Volkswirte ihre die Qualität des Magazins – und damit na- kreis schon durchgesetzt? Ergebnisse in der Regel zunächst in Pre- türlich auch für die Qualität der Arbeit, wenn Becker: Ich leite einen relativ großen Lehr- prints, als sogenannte Working Papers ver- sie dort angenommen und veröffentlicht ist. stuhl am Biomedizinischen Centrum. Wir öffentlichen. Das ist eine Publikationskultur, Doch es werden eben nicht alle Artikel

38 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Der Wert des Schreibens: Die Kultur des Austauschs

gleich gut wahrgenommen und gleich oft ser gerankten Zeitschrift auch von besserer schriften unterzukommen, wird immer grö- zitiert. Qualität sind. ßer. Insbesondere sind die Revisionszyklen Becker: Ja, das System hat deutliche Schwä- sehr lange – eine Frage, die uns mehr be- chen, weil es das Journal bewertet, nicht je- Wie schwer ist es denn, eine Arbeit bei Sci- schäftigt als die nach Open Access. Oft dau- doch die Qualität der einzelnen Arbeit. Wir ence oder Nature unterzubringen? ert es zwei bis drei Jahre von der ersten Ein- ermutigen jeden, Open-Access-Angebote Becker: In der Regel sehr schwer. Und es reichung an, bis die Arbeit letztendlich wahrzunehmen. Aber wenn dann einer in gibt mehrere Erfolgsfaktoren, die nicht un- angenommen ist. Sicher hängt auch einiges Nature veröffentlicht hat, macht das schon bedingt mit der Qualität einer Arbeit zu tun davon ab, wie gut man in den wichtigen Zir- einen Unterschied. haben. Es ist zum Beispiel nicht unerheblich, keln vernetzt ist, im Kern aber ist es tatsäch- wie gut man vernetzt ist. Sehr wichtig ist es lich ein Qualitätssignal, dort zu veröf- Warum ist es so wichtig für Wissenschaftler, diesen Zeitschriften auch, dass es um ein fentlichen. in guten Zeitschriften zu publizieren? Und brandaktuelles Forschungsgebiet geht. Eine Becker: Aber es gibt eben nicht nur die fünf woran bemisst sich, ob eine Zeitschrift als hervorragende Arbeit zu einem Thema, das allerbesten Zeitschriften in einem Fach, gut gilt? schon lange im Gespräch ist, erscheint den auch wenn man sich auf die fokussiert. In Becker: Ein Wissenschaftler wird an seinem Magazinen als nicht so attraktiv. sehr vielen, sehr guten Fachblättern kann Publikationserfolg gemessen: Je mehr er Lipfert: Bei Nature und Science lehnen be- man deutlich leichter publizieren. veröffentlicht und je besser die Arbeiten, reits die Herausgeber, die Editors, acht oder Lipfert: Wer Top-Ergebnisse hat, will sie in desto größer die Leistung. Doch wie misst gar neun von zehn Arbeiten ab. Wenn man Top-Magazinen veröffentlichen, nicht in man die Qualität der Veröffentlichungen? bedenkt, wie sehr Förderentscheidungen einem Open-Access-Blatt. Idealerweise liest man sie, ließe sich einfach und Berufungen von den Erfolgen in beson- Becker: Ja, wir Wissenschaftler sind noch behaupten. Gutachter allerdings bei Beru- ders renommierten Fachblättern abhängen, ein wenig wie die Junkies, wir sind immer fungsverfahren oder Evaluationen von For- könnte man zugespitzt sagen: Am Ende ent- noch von den besonders guten Zeitschriften schungseinheiten beispielsweise können scheidet eine profitorientierte Firma, ein und dem damit verbundenen Bewertungs- schlicht nicht die vollständige Publikations- Verlag, darüber, was mit Steuergeldern ge- modell abhängig. Wenn wir die Möglichkeit liste abarbeiten und alle Paper lesen. So hat forscht wird. Da sehe ich schon die Gefahr, haben, in einem chicen Journal zu publizie- sich in den letzten Jahrzehnten dieses Be- dass wir Wissenschaftler uns das Heft aus ren, dann machen wir das auch. wertungssystem ausgebildet, in dem die der Hand nehmen lassen. Lipfert: Das setzt sich nach unten fort. Es Verlage mit ihren Zeitschriften um die bes- Winter: In der Volkswirtschaft gibt es fünf dauert in dieser festgefügten Qualitätspy- ten – und potenziell meistzitierten – Publi- führende Zeitschriften. Darin zu veröffent- ramide lange, bis neu gegründete Open-Ac- kationen konkurrieren und ein hoher Im- cess-Journale tatsächlich Chancen haben. pact-Faktor das Renommee steigert. Winter: Auch in der Volkswirtschaftslehre Das zeigt sich ja auch innerhalb des Hauses ist das Ranking der Zeitschriften von emi- Abhängig . Das Mutterblatt Nature nenter Bedeutung. Das gründet sich bei uns hat einen von 42,3, das Open- allerdings nicht nur auf die Impact-Faktoren, von den Access-Journal Nature Scientific Reports sondern auch darauf, wie die Qualität in der einen von 5,2. Fachcommunity wahrgenommen wird. Sol- Top-Journalen Becker: Ja, aus diesem Gefälle haben die che Einschätzungen ändern sich sehr lang- Verlage im Übrigen auch eine neue Strate- sam, ein Impact-Faktor muss sich erst lang- gie entwickelt: Sie sind bestrebt, alle Manu- sam aufbauen. Neue Journale haben es an- lichen ist von eminenter Bedeutung. Den skripte in ihrem Portfolio zu halten. Wenn gesichts dessen schwer, Fuß zu fassen. Ich meisten gelingt das ein- oder zweimal in es für Nature nicht reicht, gibt es zunächst möchte aber noch einmal die wichtige Rolle ihrer Karriere, nur ganz wenigen Stars in die spezialisierten Ableger, in unserem Fall betonen, die der Review-Prozess ganz all- Deutschland regelmäßig. Und für einen Nature Structural & Molecular Biology. gemein in diesem ausdifferenzierten Feld Nachwuchsforscher ist die Karriere gesi- Danach folgen das „bessere“ Open-Access- spielt: Die Gutachter übernehmen im Grun- chert, wenn er schon früh dort veröffentli- Journal und am de bereits vorab die Qualitätsbewertung. chen kann, vielleicht auch mit Koautoren in Ende Nature Scientific Reports. Und zumindest im Mittel kann man sich größeren Gruppen. Der Aufwand aber, den Lipfert: In der Tat aber sind ganze Commu- darauf verlassen, dass Artikel in einer bes- man betreiben muss, um in diesen Zeit- nities schon umgeschwenkt, da hängen eine

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 39 Der Wert des Schreibens: Die Kultur des Austauschs

Berufung oder eine Auszeichnung nicht Paper nicht so viel. Zu mehr habe es wohl mehr von Veröffentlichungen in Top-Jour- nicht gereicht, heißt es dann. nalen ab. Vielleicht ein spektakuläres Bei- Winter: Für jüngere Wissenschaftler bei spiel: Als der exzentrische russische Mathe- uns ist das in der Tat ein wichtiger Grund, matiker Grigori Perelman die Poincaré- nicht in Open-Access-Zeitschriften zu ver- Vermutung bewiesen hat, hat er das einfach öffentlichen oder erst dann, wenn es an- bei arXiv hochgeladen. Das war offenbar derswo nicht geklappt hat. Die neue Publi- genug, um ihm letzten Endes die Fields- kationskultur ist schwer mit einem System Medaille, eine Art Mathematik-Nobelpreis, zu vereinbaren, das auf eher träge Rankings zuzusprechen. Als ich in Stanford promo- von etablierten Fachzeitschriften abgestellt viert habe, saß eine Tür weiter der Bioche- ist. miker Patrick Brown, der zu den Gründern Becker: Für die Biomedizin und die Lebens- der Public Library of Science, PLOS, gehört. wissenschaften gibt es seit wenigen Jahren Diese Gruppe hat um 2000 herum angefan- das Open-Access-Journal eLife. Dahinter gen, ein Open-Access-Journal mit Peer Re- steht ein Zusammenschluss großer Wissen- view aufzubauen. Ihr Flaggschiff PLOS Bio- schaftseinrichtungen: Das Howard Hughes Medical Institute, die Max-Planck-Gesell- schaft und der Wellcome Trust sind dabei. Das Journal hat beispielsweise hochkarätige Extragebühren Editoren und ist der Versuch, einen höheren Standard mit Open Access zu etablieren. für farbige Jedenfalls ist es nicht ganz einfach, dort eine Arbeit unterzubringen. Es bildet sich also Abbildungen derzeit unter den Open-Access-Journalen eine neue Hierarchie aus.

logy ist noch nicht ganz Nature, hat aber Einen gewissen Handlungsdruck, das beste- einen Impact Factor von ungefähr 20. 2006 hende System zu verändern, hat ja womög- bestellt werden kann, nicht aber mehr die hat sie dann ihr Mega-Journal PLOS One lich auch die Preispolitik der großen Verlage der Ableger. gestartet, das alle Wissensbereiche abdeckt, erzeugt. Lipfert: Auch wenn man nicht die Open- mit einem abgespeckten Peer Review, das Becker: Ja, sicherlich. Die großen Verlage Access-Option zieht, entstehen Kosten nicht auf Plausibilitätskontrolle und Originalitäts- haben jeweils Hunderte von Zeitschriften nur über die Abonnement-Pakete, sondern nachweis abzielt. Die Forscher bezahlen für im Angebot und haben längst begonnen, sie auch für jede Veröffentlichung, das kann je die Veröffentlichung, dann sind die Arbeiten gebündelt zu vertreiben. Wer das Flagg- nach Journal deutlich über 1000 Euro hin- online für jedermann frei zugänglich. PLOS schiff-Magazin vornedran abonnieren will, ausgehen. Da fallen dann ganz altmodisch ist rasant gewachsen in den vergangenen muss die, sagen wir, 20 anderen Blätter, die Extragebühren beispielsweise für Farbab- zehn Jahren und mittlerweile ein wichtiger eigentlich keiner lesen will, auch nehmen. bildungen an. Meine Güte! Player. Im Grunde hat das Projekt die gro- Das macht diese Verträge für die Universi- Becker: Für eine Publikation muss man des- ßen Verlage inspiriert und motiviert, ähnli- täten und ihre Bibliotheken sehr kostspielig. halb mit 2500 Euro rechnen. Die DFG sieht che Modelle nachzubauen, seien es das Und dieses Monopol, das die Handvoll rich- in ihren Budgets üblicherweise 750 Euro an schon erwähnte Nature Scientific Reports, tig großer Verlage derzeit weidlich ausnutzt, Publikationskosten jährlich vor. Damit kann oder Science Advances von der lässt natürlich unweigerlich die Diskussion man nicht so viel und so hochrangig publi- US-amerikanischen Wissenschaftsorgani- aufkommen, ob man sich das alles noch leis- zieren, sonst geht das vom Material für die sation AAAS, die auch Science heraus- ten können muss. Selbst finanzstarke Insti- Forschung ab. bringt. tute und Universitäten haben zunehmend Winter: Immerhin lässt sich das in den ver- Becker: Wir publizieren in Open-Access- Schwierigkeiten, all die Zeitschriften zu gleichsweise teuren Experimentalfächern Journalen, weil wir es persönlich gut finden. abonnieren. Da gibt es dann Anordnungen, noch darstellen, da die Publikationskosten Aber unter Gutachtern gilt ein PLOS-One- dass nur noch das Nature-Paket selbst dort nur einen relativ kleinen Anteil der Bud-

40 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Der Wert des Schreibens: Die Kultur des Austauschs

Die Abonnement-Pakete der großen Verlage? „Extrem kostspielig“, sagen Peter Becker (links), Jan Lipfert (Mitte) und Joachim Winter. Fotos: LMU

gets ausmachen. Disziplinen etwa in den Becker: Man muss sich mal überlegen: Die tungen, die Verlage bieten können, war Geisteswissenschaften, in denen die Etats allermeisten dieser Arbeiten sind mit Steu- klassischerweise die Verbreitung. Mit dem nicht so groß sind, kommen da schon in ergeldern gefördert. Die Autoren schreiben Internet hat sich das praktisch erledigt. Die Schwierigkeiten. sozusagen selbst, die Arbeiten werden von andere ist die Qualitätszertifizierung, also Lipfert: Das größere Problem liegt jedoch den Peers ehrenamtlich begutachtet. Mit- die Organisation des Review-Prozesses. unter leisten die Zeitschriften noch eine Auch das lässt sich mittlerweile zu wesent- qualitätvolle Editionsarbeit. Aber alles in lich geringeren Kosten machen, womöglich allem ist das für die Verlage ein fantasti- non profit. Trotzdem sind die Gewinne der Arbeitsintensive sches Modell, etwas zu verkaufen, das sie Verlage in den vergangenen Jahren drama- nicht selbst produziert haben. Die wiederum tisch gestiegen, denn die Kosten sind dras- Korrekturphase rechtfertigen sich damit, dass die Produkti- tisch gesunken durch den technologischen onskosten so hoch sind, besonders wenn Fortschritt, den die großen Verlage massiv in Indien sie auf Hochglanzpapier drucken. Deswe- ausnutzen. So verlagern sie arbeitsintensive gen sind alle Modelle, die Zukunft haben, Prozesse in Billiglohnländer. Zum Beispiel reine Online-Zeitschriften, weil deren Pro- findet das Proof Reading, die Korrekturpha- mit Sicherheit bei den Subskriptionspreisen. duktionskosten tatsächlich deutlich gerin- se, mittlerweile oft in Indien statt. Denken Sie an kleinere Universitäten, Hoch- ger sind. Becker: Ich finde es schon bezeichnend, schulen in Entwicklungsländern, an kleine Winter: Es spricht nichts dagegen, dass dass ohne Ausnahme alle Förderinstitutio- Start-up-Firmen, die haben ganz andere Dienstleistungen, die einen Wert haben, von nen, von der Deutschen Forschungsgemein- Probleme, an Fachzeitschriften heranzu- gewinnorientierten Unternehmen angebo- schaft über die Max-Planck-Gesellschaft kommen. ten werden. Die wichtigste der Dienstleis- und die Helmholtz-Gemeinschaft bis hin zur

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 41 Fachblätter über Fachblätter – mitunter auch noch ganz klassisch in der Printversion. Foto: LMU

42 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Der Wert des Schreibens: Die Kultur des Austauschs

Leibniz-Gemeinschaft, sich zum Ziel gesetzt Die Arbeiten werden nach unserer Erfah- rationswechsel an. Ich selbst kann die Zeit haben, das System zu reformieren. So kön- rung immer besser in den Peer-Review-Ver- nicht aufbringen, ständig irgendwelche Pu- nen die Universitäten beispielsweise bei der fahren, auch wenn es mitunter einen riesi- blikationen mit Kommentaren zu versehen. Deutschen Forschungsgemeinschaft Geld gen Aufwand bedeutet. Aber einige jüngere Kollegen sind extrem beantragen, um eigene Publikationsplatt- Winter: Eine Transformation wirft Über- versiert darin. Und sie twittern auch sofort, formen zu betreiben. gangsprobleme auf. Innerhalb der einzel- da bauen sich richtige Tweet-Wellen auf, Winter: Dieses Programm ist aber nur als nen Fächer geht es vor allem darum, wie was dann auch ein Indiz dafür sein kann, Starthilfe gedacht, die Plattformen zu unter- wichtig noch die traditionellen Veröffentli- dass es sich um eine wichtige Publikation halten soll schon mittelfristig Aufgabe der chungen in Top-Journalen sind. Wie schnell handeln könnte. Universitäten sein. Vom Grundsatz her geht man aus einem Gleichgewicht ausbrechen Winter: Auch das ist wieder ein Problem die Vorstellung derjenigen, die die Trans- kann, das sich über viele Jahre eingestellt des Übergangs. Im Moment investiere ich formation zu Open Access propagieren, da- hat, lässt sich schwer vorausbestimmen. viel Zeit als Gutachter in das Peer Review. hin, die Budgets, die im Moment in die Wenn ich das nicht machen müsste, könnte Abonnements fließen, in Publikationsbud- ich auch online Artikel kommentieren. Viel- gets umzuwandeln. Damit sollen dann die leicht wäre ein solches Verfahren am Ende Autoren oder die Institutionen, für die sie Große Probleme sogar effizienter. arbeiten, die Veröffentlichungsgebühren bezahlen. in der

Prof. Dr. Peter Becker Und das ginge auf? Übergangsphase ist Inhaber des Lehrstuhls für Molekular- Winter: Die Vertreter der Open-Access- biologie am Biomedizinischen Centrum der Bewegung sagen: Ja, es würden sogar noch LMU. Becker, Jahrgang 1958, studierte Kosten eingespart. Man könne das vorhan- Das andere Problem des Übergangs besteht Biologie in Heidelberg und promovierte am Deutschen Krebsforschungszentrum. Nach dene Budget einfach anders einsetzen. Ob zwischen den Fächern. Denn selbst wenn Stationen am National Cancer Institute das funktionieren wird, lässt sich aber kaum die Budgets im Großen und Ganzen gleich (USA) und am European Molecular Biology vorhersagen – dafür gibt es zu viele Betei- blieben, müssten sie zwischen publikations- Laboratory (EMBL) in Heidelberg ist Becker seit 1999 Ordinarius an der LMU. Becker ligte auf diesen Märkten, die Interessenla- starken Fachgruppen, die dann naturgemäß wurde 2005 mit dem Leibnizpreis der DFG gen sind zu komplex. einen größeren Bedarf haben, und den an- ausgezeichnet, 2011 mit einem Advanced deren Fächern neu aufgeteilt werden. Das Grant des Europäischen Forschungsrates Aber wäre es realistisch, dass die Seite der ist noch nicht ausdiskutiert. (ERC). Prof. Dr. Jan Lipfert Verleger sich überhaupt auf ein solches Lipfert: Es hat sich schon viel getan in ist Professor für Molekulare Biophysik an Spiel einließe? Sachen Open Access. Die Politik kann das der LMU. Lipfert, Jahrgang 1977, studierte Winter: Wenn alle Drittmittelgeber sich unterstützen, aber getrieben und getragen Physik an den Universitäten Heidelberg koordinierten, dann wäre es auch für die ist diese Bewegung von der Forschungs- und Uppsala, Schweden, sowie an der University of Illinois at Urbana-Champaign, marktmächtigeren Verlage schwer, sich Community selbst. Und die ist global wie- USA. Er machte seinen Ph.D. an der dem zu entziehen. derum dominiert von der US-amerikani- Stanford University, USA, und war Becker: Aber sie sträuben sich. Und in schen Wissenschaft. Wenn es jetzt plötzlich Postdoktorand an der Delft University of Technology, Niederlande, bevor er 2013 an einer Übergangsphase würde es viele Wis- hieße, in Deutschland darf man nur noch in die LMU kam. senschaftler beschädigen, wenn es einen Open-Access-Journalen publizieren, wären Prof. Dr. Joachim Winter Zwang zur Transformation gäbe, gleichzei- die eigenen Leute im weltweiten Wettbe- ist Lehrstuhlinhaber am Seminar für tig aber noch das alte Ranking der Journale werb schlechter gestellt, weil sie nicht mehr empirische Wirtschaftsforschung der LMU. Winter, Jahrgang 1967, studierte Volkswirt- zählte. Ich glaube, es geht nur über Anreize, die vollständige Auswahl an Journalen schaftslehre an der Universität Augsburg dass sich bei einer dann steigenden Zahl hätten. und an der London School of Economics. von Open-Access-Publikationen wieder Becker: Viele Fach-Communities lernen ge- Promotion und Habilitation an der eine Art Qualitätsranking einstellen kann. rade, dass sich Manuskripte auch über Kom- Universität Mannheim. Er forschte am Mannheimer Forschungsinstitut Ökonomie Ich glaube, wir brauchen einen solchen mentare in den sozialen Medien bewerten und Demographischer Wandel (MEA), Wettbewerb, den Ehrgeiz, uns einer beson- lassen, nicht nur über Zitationen. Offenbar bevor er 2004 als Professor an die LMU ders kritischen Bewertung auszusetzen. steht auch unter Wissenschaftlern ein Gene- kam.

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 43 Um die Arbeit riesiger molekularer Maschinen in bester Auflösung abzubilden, braucht es Rechnerleistung. Roland Beckmann (links) im Serverraum. Foto: Jan Greune

44 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Aus dem Eiweiß-Drucker Ribosomen arbeiten wie riesige molekulare Maschinen und machen aus dem genetischen Text ein Produkt: ein dreidimensional aufgefaltetes Protein. Strukturbiologe Roland Beckmann untersucht, wie sie konstruiert sind. Von Hubert Filser

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 45 Der Wert des Schreibens: Aus dem Eiweiß-Drucker

enn man Roland Beckmann ei- menspiel im Inneren einer Zelle, einem tes Triplett oder Kodon, an der jeweiligen nen Grundlagenforscher nennt, ausgeklügelten System, in dem alle mögli- Kombination liest das Ribosom ab, welche W trifft das wohl in einem doppel- chen Kräfte und Signalstoffe das Zusam- Aminosäure es als Nächstes in die entste- ten Sinne zu. Er untersucht Prozesse, wie menspiel regeln. Zellen bestehen jeweils hende Kette aus Eiweißbausteinen einbau- sie zu jeder Zeit in jeder einzelnen Zelle aus der Zellmembran, dem Zellkern und en soll. Nach diesem Prinzip wäre es mög- jedes Lebewesens ablaufen. Und er analy- den Organellen im Inneren, die für wichtige lich, 64 verschiedene Aminosäuren zu ko- siert sie und die daran beteiligten Bioma- Aufgaben zuständig sind. Der Zellkern ent- dieren, da es vier verschiedene Basen gibt schinen bis in kleinste Details von Aufbau hält das Erbgut und steuert alle Funktionen und damit vier mal vier mal vier Kombina- und Funktion. Berichtet der Strukturbiolo- einer Zelle, die Mitochondrien produzieren tionsmöglichkeiten für ein Triplett. Proteine ge davon, beginnt eine gedankliche Reise Energie, die Ribosomen bauen Proteine. sind aber nur aus 20 verschiedenen Amino- tief hinein in das Innere des Körpers, in Im Prinzip haben die Wissenschaftler gut säuren aufgebaut. Daher gibt es für einige einen Mikrokosmos von biologischen Ma- verstanden, wie Ribosomen arbeiten. In den von ihnen mehr als ein Kodon, zudem erhält schinen und ganzen Fertigungsstraßen im molekularen Maschinen werden aus den das Ribosom auch ein Start- und Stoppsig- Nanomaßstab, von komplexen Riesenmo- Informationen, die dem Erbgut, dem Genom, nal über eigene Basenkombinationen. Das lekülen, die ihrerseits Moleküle fertigen, eingeschrieben sind, Proteine gebaut. Das Ribosom arbeitet die Aminosäure-Codes verpacken und versenden. Genom könnte man mit einer Textsamm- einen nach dem anderen ab. Beckmann, Biochemie-Professor am Gen- lung, einem Buch oder einer detaillierten Die Proteinmaschinen fügen manchmal zentrum der LMU, hat sich auf die Untersu- Bauanleitung, vergleichen, es erhält letzt- Tausende Aminosäure-Bausteine Stück für chung sogenannter Ribosomen spezialisiert, lich erst einen Sinn, wenn es jemand her- Stück aneinander. Und am Ende wird das die bereits Schulbücher als die „Orte der Ei- ausnimmt, liest und den Inhalt oder Teile Eiweiß über einen zehn Nanometer, also ein weißsynthese“ klassifizieren. Doch längst Milliardstel Zentimeter, langen Kanal in der nicht alle Strukturdetails sind bekannt, im- großen Untereinheit des Ribosoms heraus- mer wieder entdecken Wissenschaftler Ein- geleitet, je nach Verwendungszweck als be- zelheiten zur Steuerung und Dynamik der Information aus reits dreidimensional gefaltetes Molekül Prozesse. Die Protein-Produktion indes ist oder noch als ungefaltete Kette. „Es ist fas- ein echtes Massenphänomen: Hefezellen der genetischen zinierend zu sehen, dass alle Organismen, können bis zu 200.000 Ribosomen enthal- egal ob Mensch oder Mikrobe, diese Ma- ten, menschliche Leberzellen sogar mehr Textsammlung schinen haben“, sagt Beckmann. „Alle Le- als eine Million. Wenn man sich vor Augen bewesen bedienen sich im Prinzip dersel- führt, dass erwachsene Menschen aus mehr ben genetischen Sprache und derselben als einer Billion Zellen bestehen, kann man dessen zu etwas Brauchbarem verarbeitet. Schriftcodes. Es sieht so aus, als habe sich ermessen, welche Präsenz und Vordring- Genau das tun Ribosomen: Nach den Buch- dieser Code schon sehr früh in der Evolu- lichkeit die Eiweißproduktion in jeder Se- staben des genetischen Textes fertigen sie tion ausgebildet“, sagt Beckmann. „Im Lauf kunde unseres Daseins in unserem Inneren Proteine, die der Körper für vielfältige Auf- der Zeit sind die Ribosomen dann allmäh- hat. Und damit nicht genug: „Was die Ribo- gaben braucht: als Enzyme und Funktions- lich immer komplexer geworden.“ somen leisten, ist wahre Fließbandarbeit“, eiweiße, die an der Abwehr von Feinden, Strukturbiologen weltweit haben in den letz- sagt Beckmann, dem Aufbau der Zelle oder am Stoffwechsel ten beiden Jahrzehnten herausgearbeitet, Doch wie genau baut eine Zelle nach dem beteiligt sind. Die Ribosomen drucken diese dass die Ribosomen sich im Wesentlichen genetischen Bauplan, der in ihrem Erbgut Moleküle sozusagen im 3-D-Format. aus zwei Untereinheiten zusammensetzen, gespeichert ist, aktive Proteine? Das ist die Im Detail ist das natürlich komplizierter. Die einer kleinen und einer großen. Je nach eine zentrale Frage, die der LMU-Forscher Gene übertragen ihre Informationen auf die Lebewesen sind sie leicht unterschiedlich ins Zentrum seiner Forschung stellt. Bio- sogenannte Boten-RNA (mRNA). Dieser Ein- aufgebaut. Dass die Wissenschaftler gerade chemiker wie Roland Beckmann erarbeiten zelstrang, der die kodierte Erbinformation in jüngster Zeit so rasant vorankommen, neue Verfahren, wie sie solche genregula- enthält, fädelt in die kleine Untereinheit des verdanken sie der sogenannten Kryo-Elek- torischen Prozesse messen, analysieren und Ribosoms ein, sie legt sich dabei wie eine tronenmikroskopie. „Technologie ist für uns modellieren können. Sie wollen so die Kom- Kette in einen Radkranz. Das Codesystem entscheidend“, sagt Beckmann. Die Metho- plexität biologischer Systeme besser erfas- ist raffiniert und effektiv zugleich. Drei Ba- de habe er während seiner Postdoc-Zeit an sen, insbesondere das komplexe Zusam- sen der mRNA bilden jeweils ein sogenann- der Rockefeller University in New York im

46 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Das rechte Maß: Der Maßstab der Moral

„Ribosomen sind superschlaue Maschinen, nicht perfekt, aber unglaublich vielseitig“, sagt Roland Beckmann, mit Doktorandin Alexandra Knorr am „Titan Krios“-Mikroskop. Foto: Jan Greune

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 47 Der Wert des Schreibens: Aus dem Eiweiß-Drucker

Labor von Günter Blobel kennengelernt, nen enormen Schub gegeben. Forscher klären. Das Ribosom dockt offenbar direkt nicht aber beim späteren Nobelpreisträger sprechen von der „Resolution-Revolution“, an das in der Membran sitzende Translokon selbst, sondern bei Joachim Frank, einem einer Revolution also, was die Auflösung an und schleust die Proteine über den Kanal Pionier der Technik, der damals in Albany angeht. Mittlerweile liegt die Auflösung bei in die Membran hinein oder durch sie hin- Strukturuntersuchungen damit machte. wenigen Ångstrom, Zehntel Nanometern. durch. Um die genauen Abläufe zu verste- „Die Kryo-Elektronenmikroskopie war Neu- Wer Roland Beckmann im Genzentrum in hen, untersucht der Biochemiker diesen land“, sagt Beckmann, sie sollte die Basis Großhadern besucht, kann nicht nur die Vor- Ribosom-Translokon-Komplex in möglichst für sein heutiges Forschungsfeld werden. bereitungen zu den Versuchen im Labor se- vielen verschiedenen Funktionzuständen. Bei der Kryo-Elektronenmikroskopie wer- hen, es gibt auch einen Raum, in dem Mit- Für die Eiweiße, die auf diese Weise direkt den die Proben zunächst schockgefroren. arbeiter die laufenden Aufnahmen des Mi- in die Membran gelangen oder die Zelle Die Forscher bringen die zuvor aufwendig kroskops überwachen. Über die Bildschirme verlassen, brauchen die Ribosomen eine laufen Zahlenkolonnen, einige Forscher Strategie, um sie zu ihrem Einsatzort zu diri- sind mit der Auswertung der Bilder beschäf- gieren. Günter Blobel hatte entdeckt, dass Eine Art tigt. Man könnte direkt auf die Detektoren die Eiweiße am Anfang ihrer Aminosäure- schalten, das Bild wird sonst sogar auf einen abfolge eine Art Postleitzahl erhalten, einen großen Bildschirm in die Küche der For- für andere Moleküle ablesbaren Code. Er von schergruppe übertragen. Aus den hochauf- lotst die Proteine an die richtigen Zielorte gelösten, aus verschiedenen Blickwinkeln in der Zelle. Blobel, einer der „original zellulärer App aufgenommenen 2-D-Bildern entstehen im gangsters“ der Disziplin, wie Beckmann ihn Rechner dreidimensionale Ansichten, in die nennt, behielt mit seiner zunächst kontro- die Wissenschaftler regelrecht hineinzoo- vers diskutierten Theorie recht. Das Prinzip im Labor aus Zellen oder Bakterien isolier- men können, um Details zu studieren. erwies sich als allgemeingültig und funkti- ten Ribosomen oder Ribosom-Komplexe auf Vor allem mit einem bestimmten Bestand- oniert auf die gleiche Weise in Hefe-, Pflan- ein feines mit einem hauchdünnen Kohle- teil in Zellen höherer Lebewesen beschäftigt zen- und Tierzellen. Blobel erhielt 1999 da- film überzogenes Kupfernetz auf, das sie sich Beckmann, dem Sec61-Komplex oder für den Nobelpreis. Beckmann, zu der Zeit anschließend mit verflüssigtem Ethangas Translokon, an das Ribosomen direkt ando- Postdoc im Labor, erlebte die Preisverlei- schlagartig herunterkühlen. Es entsteht ein cken können. Dieses Translokon spielt als hung mit. „Das war wie ein Tsunami, der dünner, glasartiger Festkörper, in dem die proteinleitender Kanal eine Schlüsselrolle, über das Labor hinwegfegte“, sagt er. Ribosomen in großer Menge eingefroren wenn Proteine durch eine Membran hin- Die Ribosomen-Forschung hatte in den letz- sind – und zwar in allen möglichen Stadien durch oder in eine Membran hinein trans- ten Jahrzehnten einen regelrechten Boom, der Proteinproduktion. Sogenanntes vitrifi- portiert werden. Rund ein Drittel aller her- doch noch immer gibt es viele Funktionen, ziertes Eis bildet im Gegensatz zu normalem gestellten Proteine werden später entweder die nicht verstanden sind. Beckmann etwa Eis keine Kristalle. Die Forscher können die etwa als Signalrezeptoren in eine Zellmem- will herausfinden, wie die Proteinfabriken Maschinen der Proteinfertigung so ohne Ver- bran eingebaut, erklärt Beckmann, oder gar ihre Qualitätskontrolle machen. Offenbar ge- zerrung mitten in Aktion festgehalten beob- aus der Zelle ausgeschleust, weil sie bei- hört es zu ihrer Aufgabe, die Bauanleitung, achten; die Aufnahmen sind wie Schnapp- spielsweise als Antikörper oder Verdau- also die Boten-RNA, und auch die herge- schüsse von dem Prozess. So lässt sich nicht ungsenzyme fungieren. Beckmanns Gruppe stellten Proteine schon während der Produk- nur die fragile und hochkomplexe Architek- hat hierzu Strukturen entschlüsselt, die zei- tion auf ihre Sinnhaftigkeit und Funktions- tur der Ribosomen abbilden, die Forscher gen, wie die beiden Maschinerien zusam- fähigkeit abzuklopfen. „Für den Organis- können auch alle Stadien der Proteinproduk- menarbeiten: Der sogenannte Ribosom- mus gibt es kaum Schädlicheres als viele de- tion untersuchen, den Ablauf rekonstruie- Translokon-Komplex ist entscheidend daran fekte Proteine als Folge schlechter Bau- ren und später wie im Zeitraffer anschauen. beteiligt, die Proteine noch während ihrer pläne“, weil dann womöglich lebenswichti- „Dieser Prozess kann je nach Protein und Le- Fertigstellung durch Membranen von Zellen ge Funktionen ausfallen, sagt Beckmann. bewesen wenige Sekunden bis einige Minu- hindurchzuschleusen. Dafür enthält er ei- Solche Fehler können Ribosomen erkennen, ten dauern“, sagt Beckmann. „Wir wollen nen molekularen Kanal, in den die Riboso- weil sie nach nackten Enden der Boten-RNA die Schlüsselmomente beobachten.“ men die frischen Eiweiße gleich beim suchen, die zu unfertigen Proteinen führen Neuartige Pixel-Detektoren vor allem haben Zusammenbau hieven. Dessen Struktur würden. Dann werden vom Ribosom ent- der Kryo-Elektronenmikroskopie jüngst ei- konnte Beckmann im vergangenen Jahr auf- sprechende Aufräumfaktoren rekrutiert, die

48 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Das rechte Maß: Der Maßstab der Moral

Botschaften aus dem vitrifizierten Eis: Doktorandin Hanna Kratzert (vorne) mit einem Molekülmodell am Bildschirm. Foto: Jan Greune

sowohl die fehlerhafte Boten-RNA als auch Zellbestandteile wirken, und die Konzen- Möglicherweise wird sich in Zukunft daraus die defekten Proteinprodukte beseitigen. tration von Aminosäuren oder Antibiotika noch eine völlig neue Sicht auf die Mecha- Seit fast zwei Jahrzehnten beschäftigt sich feststellen.“ Die Bandbreite ist enorm und nismen der Proteinsynthese ergeben, Über- Beckmann mittlerweile mit Ribosomen. variiert von Organismus zu Organismus. raschungen inklusive. „Oft rennen wir auf Und es schwingt fast eine Art von Respekt Beckmann interessiert aber nicht nur, wie ein Ziel zu und sehen dann etwas ganz ande- mit, wenn er von den für molekulare Ver- die Proteinmaschinen arbeiten. Aktuell res, dem wir nachgehen müssen“, sagt Beck- hältnisse riesigen Maschinen spricht. Man- forscht sein Team daran, was mit den Ribo- mann. Es sieht so aus, als hätte er für die che dieser Komplexe sind bis zu 35 Nano- somen eigentlich nach getaner Arbeit pas- kommenden Jahre genügend neue Spuren, meter groß. „Ribosomen sind superschlaue siert. Sie werden dann recycelt, ihre Unter- die er mit seinen Mitarbeitern verfolgen Maschinen“, sagt Beckmann. „Nicht perfekt, einheiten werden getrennt und stehen für kann. Die Ribosomen jedenfalls dürften, so aber unglaublich vielfältig.“ Erst in jüngster eine neue Syntheserunde zur Verfügung. mutmaßt der LMU-Forscher, noch einige Zeit haben Forscher erkannt, dass sie neben „Erst seit Kurzem weiß man, dass in euka- Überraschungen bereithalten. ihrer Hauptaufgabe noch zahlreiche Neben- ryotischen Zellen das Enzym ABCE1 diesen jobs wie die oben erwähnte Qualitätskon- Vorgang maßgeblich beeinflusst“, sagt trolle erledigen. An ihrer Oberfläche docken Beckmann. Es bricht die Ribosomen mit nämlich eine Reihe von Hilfsmodulen an, einer Art Hebel auf, da in ABCE1 auch Prof. Dr. Roland Beckmann die das Lesen und Übersetzen der RNA und Eisenkomplexe an wichtigen Funktionsein- ist Professor für Biochemie am Genzentrum den Bau von Proteinen ergänzen und über- heiten enthalten sind, nennt es Beckmann der LMU. Beckmann, Jahrgang 1965, studierte Biochemie an der Freien wachen. „Man kann sich das jeweils wie ei- die „stählerne Faust“. In seiner Gruppe ar- Universität Berlin, promovierte und ging ne App vorstellen, die gemeinsam mit dem beiten die Wissenschaftler gerade daran, 1995 als Postdoc an die Rockefeller Ribosom ganz verblüffende Dinge erledigt“, diesen essenziellen Schritt in der Protein- University, New York. Danach leitete er eine Arbeitsgruppe an der Charité der sagt Beckmann. „Ribosomen können eine synthese zu visualisieren und so besser zu Humboldt-Universität Berlin, bevor er 2006 Reihe von Spezialaufgaben ausführen, etwa verstehen. „So eine Arbeit kann Monate bis auf einen Lehrstuhl an der LMU berufen physikalische Kräfte messen, die auf die Jahre dauern“, sagt Beckmann. wurde.

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 49 Die feinen Unterschiede LMU-Forscher Veit Hornung untersucht, was das angeborene Immunsystem in die Lage versetzt, zwischen körpereigenen Strukturen und denen von Eindringlingen zu differenzieren. Von Hubert Filser

Vielfältige molekulare Muster, dicht geknüpfte funktionale Netzwerke, komplexe Signalwege: Neue Techniken wie Pipettierroboter erleichtern die Suche nach den Feinheiten des Immunsystems. Foto: Jan Greune

50 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 51 Die feinen Unterschiede

as Leben ist ein immerwährender Schädigungen früh erkennt. Hornung, Arzt den Ernüchterung Anfang des Jahrtau- Kampf. Zumindest drängen sich und Immunologe, will herausfinden, wie sends war es fast ein Jahrzehnt lang eher Dsolche Kategorien von Angriff und es die körpereigene Abwehr in Zusammen- still geworden um mögliche maßgeschnei- Verteidigung auf, wenn man den zellulä- arbeit mit dem erworbenen Immunsystem derte Impfstoffe mit spezialisierten Eiwei- ren Mikrokosmos und die Funktionen organisiert und koordiniert. Dabei interes- ßen, die gegen Krebsgeschwüre ankämp- des menschlichen Immunsystems in den sieren ihn gerade auch die molekularen fen können, indem sie die körpereigene Blick nimmt. Der Körper geht rund um die Details. Sie helfen verstehen, wie die Im- Immunabwehr mobilisieren. Als zu trick- Uhr gegen unzählige Bakterien und Viren munabwehr zum Beispiel fremde Erbsub- reich zeigten sich die Krebszellen, sie täu- vor, die sich andernfalls dort ausbreiten, stanz aufspürt und warum sie manchmal schen die Immunabwehr, indem sie Sig- Krankheiten auslösen und manchmal le- doch körpereigene Substanzen als gefähr- nale aussenden, die sie fälschlicherweise bensbedrohlich sein können. lich einstuft. als „befreundet“ auswiesen. Zwei große Verteidigungssysteme haben Die neuesten Erkenntnisse aus der Immu- Da die Forscher aber die Signalwege bes- sich in der Evolution des Menschen ent- nologie sind umso wichtiger, als mittler- ser verstehen, gelingt es ihnen mittlerweile wickelt, mit denen sich der Körper zur weile klar ist, dass das angeborene Immun- bei manchen Krebsarten, die Eiweißmole- Wehr setzen kann: das angeborene und system nicht nur beim Erkennen von Viren, küle an der Oberfläche der Tumorzellen zu das adaptive beziehungsweise erworbe- Bakterien und Schadstoffen eine zentrale blockieren, die diese Tarnsignale aussen- ne Immunsystem. Beide zusammen ha- Rolle spielt, sondern wohl auch bei Krank- den. Ein nicht unbedeutender Fortschritt, ben eine Aufgabe zu bewältigen, die zu- heiten wie Gicht, Typ-2-Diabetes („Alters- der im Kampf ums Leben die Verteidigung nächst einfach klingt, sich im Einzelnen zucker“), Alzheimer oder Arteriosklerose. stärkt. jedoch als überaus kompliziert erweist: Bei diesen Erkrankungen kommt es zu Ent- Auch wegen dieser ermutigenden Ergeb- Sie müssen zwischen eigen und fremd zündungsprozessen, die teilweise durch nisse aus der Immuntherapie erfährt die unterscheiden, also zwischen Molekülen Immunologie derzeit einen regelrechten und Stoffen, die natürlicherweise im Kör- Boom, und hier vor allem die Forschung per vorkommen, und solchen, die von au- zum angeborenen Immunsystem. Im Fokus ßen kommen und Schaden verursachen Hereingefallen standen in den vergangenen Jahren vor können. allem Rezeptoren, die darauf spezialisiert Das angeborene Immunsystem ist dabei auf die falschen sind, quasi als wachsame Detektive rasch die erste Bastion. „Lange hat man seine Teile fremder Mikroorganismen zu erken- Bedeutung unterschätzt“, sagt Veit Hor- Freunde nen. Für grundlegende Erkenntnisse, wie nung, Professor für Immunbiochemie am etwa über sogenannte Toll-ähnliche-Re- Genzentrum der LMU. „Als zentral galt das zeptoren (TLR) die angeborene Immunab- erworbene Immunsystem mit seinen spe- eine fehlgeleitete Aktivierung des angebo- wehr aktiviert wird, erhielten die Forscher ziell trainierten B- und T-Zellen, die gezielt renen Immunsystems bedingt sind. Hier Jules Hoffmann und Bruce Beutler vor fünf Antikörper produzieren oder als Killerzel- wären Medikamente, die das angeborene Jahren den Medizin-Nobelpreis. „Unter an- len in Aktion treten können. Doch tatsäch- Immunsystem inhibieren können, von Vor- derem durch ihre Arbeiten wurde erstmals lich sind beide Systeme eng verzahnt, wo- teil. bewiesen, dass das angeborene Immun- bei dem angeborenen Immunsystem eine Andererseits kann man das Immunsystem system Rezeptoren besitzt, die tatsächlich wichtige Steuerungsfunktion zukommt.“ auch gezielt gegen körpereigene Zellen in der Lage sind, mikrobielle Fremdmole- Wie sie genau zusammenwirken und mit- scharf machen, indem man ihm vorgaukelt, küle im Körper zu erkennen“, sagt LMU- hilfe welcher molekularen Mechanismen dass eine Infektion vorliegt. So hoffen die Forscher Hornung. die menschliche Immunantwort funktio- Forscher, dass sich manche Erkenntnisse Solche Mustererkennungs-Rezeptoren zu niert, ist in vielen Details aber immer noch der angeborenen Immunität im Kampf entdecken und ihre Signalwege zu ent- ein Rätsel. gegen bestimmte Krebsarten einsetzen las- schlüsseln ist dank neuer molekularbiolo- Hornung und seine Arbeitsgruppe stellen sen könnten. Die Erkenntnisse der Immu- gischer Methoden einfacher geworden. insbesondere das angeborene Immunsys- nologen aus der jüngsten Zeit verhelfen Mittlerweile haben Immunologen mehrere tem in den Fokus ihrer Arbeit. Sie wollen der Immuntherapie insgesamt wieder zu Familien solcher Mustererkennungs-Re- die Strategien untersuchen, mit deren Hilfe mehr Aufmerksamkeit. Nach der ersten zeptoren aufgespürt. Es sieht so aus, als es Gefahren für den Körper und mögliche Phase der Euphorie und der anschließen- hätten die Immunologen weltweit in den

52 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Anhaltspunkte bei der Suche nach den Abwehr- mechanismen: Veit Hornung (links) mit Doktorand Thomas Ebert. Foto: Jan Greune

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 53 Die feinen Unterschiede

vergangenen Jahren praktisch alle relevan- weise sehr wandelbaren Erreger nicht so eigenen Substanzen ausgelöst und dann ten Rezeptoren zumindest kartiert. Auch leicht verändern können, da sie wichtige erkannt. Hornungs Team hat Rezeptoren wie zum Funktionen ausüben. Zum Beispiel sind Evolutionär hat diese indirekte Art der Ge- Beispiel AIM2 entdeckt, die Fremd-DNA dies bestimmte Zellwandbestandteile wie fahrenerkennung den Vorteil, dass sie nicht im Zellinneren erkennen können. Nicht zu- Lipopolysaccharide, die wichtig für die so leicht durch Bakterien oder Viren aus- letzt wegen solcher Fortschritte ist Hor- „Fitness“ der Erreger sind. getrickst werden kann. Sobald Erreger in nung mittlerweile einer der meistzitierten Selbst einfachste Organismen haben sol- Zellen eindringen, müssen sie früher oder deutschen Forscher. che gespeicherten Suchraster. Es ist ein später bestimmte Barrieren durchbrechen, „Derzeit sind sechs oder sieben solcher Abwehrprinzip aller Lebewesen vom Ein- was wiederum verräterische Schäden an Mustererkennungs-Rezeptor-Familien zeller bis zum hochentwickelten Säugetier Zellbestandteilen hinterlässt und damit das und dem Menschen, das seit Jahrmilliar- angeborene Immunsystem alarmiert. Die den existiert. Da die bewährten Suchbilder molekulare Beschaffenheit der Erreger ist Ein Suchbild der mittels der entsprechenden Rezeptoren bei dieser Art der Erkennung zweitrangig, weitervererbt werden, spricht man von da Fremdmoleküle hier nicht unbedingt einem angeborenen Immunsystem. Das erkannt werden müssen. Lange Zeit glaub- unveränderlichen Immunsystem sortiert lediglich alte, nicht ten die meisten Immunologen, dass das mehr gebräuchliche Fremdbilder aus. Das angeborene Immunsystem darauf gar nicht Merkmale Grundmuster, nach dem der Organismus geeicht sein könne, weil das dem Dogma nach dem Erkennen reagiert, ist ebenfalls der Fremderkennung widersprach, aber in überall ähnlich. Erkennt der Rezeptor ein den vergangenen Jahren häufen sich die bekannt“, sagt er. Man kann sie nach der fremdes Muster, bindet er an den Eindring- Studien, die hierfür eindeutige Beweise lie- Lokalisation, danach also, ob sie beispiels- ling und löst so Alarm aus. fern können. weise in der Zellmembran oder im Zyto- Die initiale Immunantwort erfolgt in der Hornung will sich in Zukunft noch mehr plasma exprimiert werden, nach ihrem Regel sehr schnell, ist aber oft nicht beson- auf diesen neuen Aspekt der Schadenser- groben Bauplan oder nach ihrer Funktions- ders spezifisch. Werden die eindringenden kennung durch das Immunsystems fokus- weise unterscheiden. Aber nicht von allen Mikroorganismen von der ersten Verteidi- sieren. Es zeigt sich nämlich, dass diese kenne man die zentralen Signalwege im gungslinie, den Fresszellen, zwar erkannt, Art der Immunaktivierung auch im Rahmen Detail, man wisse nicht genau, wie sie das können aber nicht zerstört werden, ent- von Erkrankungen zum Tragen kommt, bei Immunsystem aktivieren und welche Rolle steht eine lokale Entzündung; der Körper sie genau im Rahmen von Infektionen oder aktiviert in der Folge über eigens freige- entzündlichen Erkrankungen spielen, sagt setzte Botenstoffe das erworbene Immun- Schadensspuren Hornung. Auch ist bei manchen dieser Re- system. Beide Systeme arbeiten Hand in zeptoren nicht klar, welche Strukturen sie Hand. eigentlich erkennen. „Mich treibt der Ge- Im Lauf der letzten Jahre hat sich Hornung verraten danke an zu verstehen, wie diese Systeme in seiner Forschung auf ein ungewöhnli- auf molekularer Ebene funktionieren und ches Phänomen der Körperabwehr spezi- den Eindringling wie sie in der Zelle verschaltet sind”, sagt alisiert. Das Immunsystem reagiert näm- Hornung. lich nicht nur direkt auf Eindringlinge von Dem Prinzip nach funktioniert das Erken- außen, sondern auch auf die Schäden oder denen keine mikrobiellen Erreger im Spiel nen fremder Strukturen nach einem einfa- Veränderungen, die diese in Zellen anrich- sind. Hier handelt es sich teilweise um chen Schema. Jeder Rezeptor verfügt of- ten. „Das ist so, als würde man einen Ein- überaus häufige Volkserkrankungen wie fenbar jeweils über ein Suchbild, fahndet brecher nicht direkt an seinen Fingerab- Gicht oder Diabetes. „Wir sprechen dann gezielt nach einem spezifischen molekula- drücken erkennen, sondern indirekt an von sterilen Entzündungsprozessen“, er- ren Muster, das auf fremdes Material hin- dem aufgebrochenen Türschloss oder dem klärt Hornung. „Die Entzündungsreaktion, weist. Dabei suchen die Rezeptoren in der kaputten Fenster, das er bei seiner Tat hin- die hier durch das Immunsystem ausgelöst Regel nicht nach ganzen Viren oder Bak- terlässt“, sagt LMU-Wissenschaftler Hor- wird, muss bei diesen Erkrankungen gar terien, sondern nach speziellen, charakte- nung, schließlich werden Schäden bezie- nicht im Vordergrund stehen, auf den ristischen Bestandteilen, die die normaler- hungsweise Veränderungen an körper- Krankheitsverlauf hat sie aber langfristig

54 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Die feinen Unterschiede

einen negativen Einfluss.“ Das angeborene nen man gezielt Eingriffe in das Genom Hornung hofft, dass seine neue Methode Immunsystem spürt hier offenbar auf, dass vornehmen kann. hilft, die zellbiologischen und molekularen der Stoffwechsel aus dem Gleichgewicht Mithilfe dieser Systeme haben die Forscher Grundlagen von Immunerkrankungen bes- geraten ist und untypische Veränderungen ein Verfahren entwickelt, mit dem sie ein- ser zu verstehen. Möglicherweise lassen an körpereigenen Molekülen oder Schäden zelne Gene in Zellen, die menschlichen sich so auch neue Angriffspunkte für The- an Zellen aufgetreten sind. Hornung nennt Monozyten sehr ähnlich sind, ausschalten rapien finden. Das NLRP3-Inflammasom diese charakteristischen Signale DAMPs können. Damit haben sie ein ideales Modell, wäre ein solcher Kandidat. „Wir arbeiten (damage associated molecular patterns). denn dieser Zelltyp spielt eine zentrale im Moment mit Hochdruck daran, diese Diese molekularen Muster werden durch Rolle bei der Steuerung der Immunantwort wichtige Schaltstelle des angeborenen Im- die gleichen Mustererkennungs-Rezepto- im Körper. So können sie an menschlichen munsystems zu verstehen. Im Moment ist ren detektiert, die bei der Erkennung von Zellen die Wirkung der genetischen Ver- uns jedoch nicht klar, wie NLRP3 genau Bakterien oder Viren zum Einsatz kommen. änderungen beobachten und im Detail ver- aktiviert wird. Wir wissen nur, dass jegli- „Wir wollen verstehen, wie Rezeptoren die stehen lernen, welche Komponenten bei cher Stress, der die Zellmembran durch- Muster hinter bestimmten Zellschäden der Signalübertragung eine entscheidende lässig macht, NLRP3 anschaltet.“ Rolle spielen. Und sie können vor allem Für die Entwicklung eines Wirkstoffes wäre auch untersuchen, wie die Rezeptoren es jedoch wichtig, die genaue Funktions- eigentlich aktiviert werden. „Wir sind weise dieser Kaskade zu verstehen. Die Knotenpunkte dabei nicht mehr allein auf das Mausmo- Forscher planen, Schritt für Schritt jedes dell, das klassische Tiermodell der Immu- Gen in humanen Monozyten auszuschalten, in funktionalen nologie, angewiesen“, sagt LMU-Forscher um so dem genauen Mechanismus auf die Hornung. Spur zu kommen. „Der Aufwand ist immens, Netzwerken Erst vor Kurzem konnten Hornung und sein aber das ist es uns wert, zumal wir diesem Team so im Detail analysieren, wie der Mechanismus eine zentrale Bedeutung in Botenstoff Interleukin-1 (IL-1) von Mono- sterilen Entzündungsprozessen zuordnen“, erkennen und warum das angeborene Im- zyten ausgeschüttet wird. IL-1 spielt eine sagt Hornung. munsystem dabei manchmal überreagiert“, wesentliche Rolle, wenn wir Fieber bekom- Die Vorgänge rund um die Schadenserken- sagt Hornung. men oder ein Entzündungsprozess im Kör- nung zu verstehen könnte in Zukunft bei Im Detail sind die Signalwege meist extrem per stattfindet. Die Forscher entdeckten einer Reihe von klassischen Wohlstands- komplex aufgebaut. Oft sind mehrere Re- dabei einen bis dahin unbekannten Signal- krankheiten zu neuen Therapien führen. zeptoren gleichzeitig daran beteiligt, Bak- weg, der bei vergleichbaren Mauszellen Kennt man die Signalwege und beteiligten terien oder Viren oder Zellstress aufzuspü- nicht aktiv ist. Die LMU-Forscher konnten Botenstoffe, könnte das möglicherweise ren. Im Verlauf der Signalübertragung ent- mit nur einem Stimulus das sogenannte ein neuer therapeutischer Ansatz zur Be- steht zudem eine Reihe von Zwischenpro- NLRP3-Inflammasom aktivieren, einen handlung von Erkrankungen wie Gicht, Dia- dukten, manche davon sind wichtiger, an- Rezeptor, der eine Schlüsselrolle bei ent- betes oder Arteriosklerose sein. dere weniger. Die Forscher suchen nach zündlichen Erkrankungen wie Gicht, Typ- den jeweiligen zentralen Knotenpunkten 2-Diabetes oder Arteriosklerose spielt. Im in den funktionalen Netzwerken. „Manch- Mausmodell wurde dieser Signalweg nur mal steht man Jahre vor einem System und nach der gleichzeitigen Gabe von zwei Sti- Prof. Dr. Veit Hornung ist Inhaber des Lehrstuhls für Immunbio- versteht es einfach nicht, weil ein entschei- muli aktiv. „Wir glauben, dass dieser neu chemie am Genzentrum der LMU. Hornung, dender Baustein fehlt“, sagt Hornung. „Ist skizzierte Signalweg eine entscheidende Jahrgang 1976, studierte Medizin an der er gefunden, sieht alles plötzlich ganz Rolle in Entzündungsprozessen beim Men- LMU, leitete eine Nachwuchsgruppe in der leicht aus.“ schen spielt“, sagt Hornung. „Menschliche Abteilung für Klinische Pharmakologie am LMU-Klinikum und war Postdoktorand an Mithilfe neuer Technologien kann Hor- Zellen zeigen in manchen Bereichen offen- der University of Massachusetts Medical nungs Gruppe mittlerweile komplexe bio- bar ein ganz anderes Verhalten als Maus- School in Worchester, USA. 2008 wurde logische Systeme als Ganzes betrachten, zellen. Womöglich sind einige der bisher Hornung zum Professor für Klinische Biochemie am Universitätsklinikum Bonn immer öfter auch in menschlichen Zellen. etablierten Mausmodelle zur Entstehung berufen, danach war er dort Direktor des Hierbei helfen unter anderem hochmo- von Entzündungen nur bedingt auf den Instituts für Molekulare Medizin, bevor er derne Gene-Editing-Technologien, mit de- Menschen anwendbar. im Jahre 2015 an die LMU kam.

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 55 Entscheidung für den Eingriff Die Chirurgie und ihre Chancen: Der Gynäkologe Sven Mahner über die Bedeutung innovativer Operationsmethoden im Kampf gegen Krebs Von Hubert Filser

56 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 „Man muss gründlich arbeiten“, sagt Sven Mahner. „Es ist enorm wichtig, den Krebs vollständig zu entfernen.“ Foto: Jan Greune

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 57 Entscheidung für den Eingriff

ohl nur Mediziner können die das ein Markt für die Pharmaindustrie ist. liegt, wenn der Tumor vollständig entfernt Welt und ihr Tun so griffig be- „Hier profitieren wir inzwischen von den und dann chemotherapiert wurde, aber nur W schreiben. Sogar, wenn es um so Fortschritten der evidenzbasierten Medizin, bei 25 Prozent, wenn Reste im Körper blie- ernste Dinge wie den Kampf gegen Krebs die ein realistisches Bild der Erfolgsaussich- ben – ein dramatischer Unterschied also. geht. „Stahl, Strahl und Medikamente, auf ten zeichnet“, sagt Mahner. Doch als Chi- Es ist im Gespräch schnell zu spüren, wie diesen drei Säulen beruhen unsere Strate- rurg weiß er nicht zuletzt aufgrund der sehr Mahner auf die Möglichkeiten der Chi- gien“, sagt Sven Mahner. Der Gynäkologe Daten aus Operationszentren weltweit, wie rurgie setzt und überzeugt ist, dass man leitet am Klinikum der LMU seit September wichtig auch die Tumor-OP ist. Und schon auch hier höchste Qualitätsstandards etab- 2015 die Klinik und Poliklinik für Frauen- ist man mittendrin in der Diskussion, die lieren muss. So dauert es nicht lange, bis er heilkunde und Geburtshilfe. Mahner ist Spe- Mahner mit seinen Arbeiten vorantreiben auf Operationen selbst zu sprechen kommt zialist für die Therapie gynäkologischer möchte: Wie lassen sich die Teile der Stra- und fragt, ob man so einen Eingriff schon Krebserkrankungen wie Eierstockkrebs, tegie kombinieren? In welchem Verhältnis einmal gesehen habe. Der 40-jährige Gynä- Brust- und Gebärmutterkrebs. „Stahl“, er- zueinander sollten „Stahl, Strahl und Medi- kologe holt seinen Laptop und zeigt Bilder klärt Mahner, stehe für den „chirurgischen kamente“ stehen? Was ist richtig für welche aus einer Vorlesung, die er vor seinen Stu- Part“, also das Operieren der Tumoren. Patientin und für welches Stadium der denten hält. Auf solchen Aufnahmen sind „Strahl“ sei die Bestrahlung der Krebszel- Erkrankung? Und welche zusätzliche medi- im Bauchraum klein die Eierstöcke mit den len mit Röntgenstrahlen und eine weitere kamentöse Therapie bietet sich an? Es ist Wucherungen zu sehen. Aber nicht nur dort Säule die Therapie mit Medikamenten. eine Diskussion, die um Wahrscheinlichkei- hat sich der Krebs ausgebreitet, auch Gebär- Das ist das Arsenal gegen Krebs. Und ten und Überlebensraten, nüchterne Maß- mutter, Bauchfell, Milz und Teil von Darm vielleicht braucht es diese Art von nüchter- zahlen also, kreist, um die Fragen zu präzi- und Leber sind befallen. Man erkennt kleine ner Beschreibung, um sich den Forschungs- sieren und die Antworten zu fokussieren. Verkrustungen und weißliche Knoten. In je- fragen zu nähern, die Mahner in der Sorge „Den Krebs möglichst vollständig zu entfer- der Region sieht der Tumor anders aus, mal um die Patientinnen umtreiben. Was die Be- nen ist enorm wichtig“, sagt Mahner, egal knollig wuchernd, mal verästelt, mal punkt- handlungsstrategien angeht, spricht Mah- förmig und weißlich, mal im gut durchblu- ner gar von einem „Dreiklang“. Dieser Aus- teten Darmgewebe versteckt. Chirurgen druck lässt erahnen, dass Mediziner wie Die Güte der OP können oft erst während der Operation ent- Sven Mahner tagtäglich den Spagat zwi- scheiden, was sie entfernen. „Keine Sorge“, schen klinischem Alltag und medizinischer kommentiert Mahner die Bilder, „der Pati- Grundlagenforschung bewältigen müssen. bestimmt die entin geht es gut.“ Solche Eingriffe dauern Mahner behandelt Frauen mit gynäkologi- bis zu acht Stunden, und es sei gerade bei schen Krebsleiden, berät sie, operiert und Überlebensrate solch aufwendigen Operationen wichtig, muss zudem die neuesten Fortschritte et- dass man dafür wirklich die Zeit hat, sagt wa in der Immuntherapie im Blick behal- Mahner. Ein Chirurg müsse „fit und moti- ten, ganz abgesehen davon, dass er auch um welche der Krebserkrankungen es geht. viert“ sein. „Und er muss an den Erfolg sei- noch lehrt. „Ich empfinde das nicht als Spa- Das ist die erste Botschaft, die einem der nes Tuns glauben.“ Das Ganze stelle auch gat“, sagt Mahner. „Eher als Chance, neue Krebsmediziner mitgibt: Man muss „gründ- keine Einzelleistung dar, sondern erfordere Erkenntnisse schnell im Alltag umzusetzen lich“ arbeiten, wie er sagt, sonst hat man ein erfahrenes interdisziplinäres Team. „Ein und den Patientinnen besser zu helfen.“ gegen diesen Feind keine Chance. Gerade guter Operateur alleine nützt den Patientin- Jede Krebserkrankung, jede Patientinnen- beim Eierstockkrebs hänge die Überlebens- nen wenig“, sagt Mahner, nur im Team mit geschichte sei anders, auch diese Erkennt- rate der Frauen entscheidend von der Ope- Anästhesiologen, Urologen und Viszeralchi- nis reife im Zusammenspiel aus Forschung ration ab. Es geht darum, auch die oft weit rurgen, aber auch erfahrenen Pflegekräften und klinischer Versorgung. Je enger die ausgebreiteten Tumorabsiedlungen kom- ließen sich bei entsprechend guter techni- Verzahnung, sagt Mahner dezidiert, umso plett zu entfernen, sagt der Gynäkologe. Un- scher Ausstattung, „zuverlässig optimale besser sei es für die Patientinnen. tersuchungen aus Operationszentren welt- Ergebnisse für die Patientinnen” erzielen. Meist werden in der Krebsmedizin in auf- weit und große Metaanalysen von Che- Mahner will nun in einer Forschungsarbeit wendigen randomisierten Studien die Chan- motherapie-Studien zeigen, dass die Wahr- die Qualität der Chirurgie mehr in den Mit- cen untersucht, die sich durch neue Wirk- scheinlichkeit, mehr als fünf Jahre mit dem telpunkt rücken. Soeben ist die neue, inter- stoffe eröffnen können, nicht zuletzt, weil Krebs zu überleben, bei knapp 70 Prozent nationale TRUST-Studie zur Therapie des

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fortgeschrittenen Eierstockkrebses ange- logie (AGO) brachte mit ihrer Studiengruppe ausreichend auf Schäden in der zelleigenen laufen, an der weltweit knapp 700 Frauen TRUST (für „Trial on Radical Upfront Sur- DNA reagieren können. An dem Reparatur- teilnehmen. Sie soll klären, ob es besser ist, gery”) trotzdem auf den Weg. Bis man be- prozess in intakten Zellen sind auch zahl- den Tumor zunächst zu operieren und dann lastbare Ergebnisse habe, werde es wohl reiche Enzyme beteiligt, etwa die sogenann- mit einer Chemotherapie zu behandeln oder zehn Jahre dauern. Aber man könne ver- ten PARP-Enzyme 1 und 2. Sie werden nor- nünftige Leitlinien zur Behandlung eben nur malerweise bei Zellschäden aktiviert und an methodisch einwandfreien Studien aus- helfen bei der Instandsetzung. Sind jedoch richten. Zehn Jahre – ist das nicht zu lang? die Reparaturmechanismen in einer Tumor- Zwei Stunden? „Theoretisch kann ein Medikament auf den zelle nicht mehr intakt, ist es hilfreich, die Markt kommen, das besser wirkt als jede PARP-Enzyme zu blockieren und so die Zel- Für komplizierte Operation“, sagt Mahner. „Dann würden wir le in den kontrollierten Zelltod zu treiben. die Studie natürlich sofort beenden.“ „Hemmt man den Reparaturmechanismus, Eingriffe zu kurz Krebsforscher hoffen nach wie vor, dass stirbt die Krebszelle ab“, sagt Mahner. neue Medikamente künftig eine wichtigere Eine internationale Forschergruppe konnte Rolle bei der Heilung von Krebs spielen wer- unter Beteiligung der AGO-Studiengruppe ihn zunächst mit einer Chemotherapie zu den, denn Immunologen beispielsweise ver- erst im Oktober dieses Jahres eine Phase- behandeln, dann zu operieren und noch mal stehen immer besser, die Mechanismen sei- III-Studie vorstellen, bei der Patientinnen eine Chemotherapie zu machen. ner Entstehung zur Bekämpfung zu nutzen. mit Eierstockkrebs nach einer erfolgreich „Eigentlich sollten wir die Studie gar nicht In der Vergangenheit gab es vor allem bei verlaufenden Chemotherapie von einem neu- machen müssen“, erzählt Mahner. „Denn es Immuntherapien immer wieder ernüchtern- en Medikament profitierten. Das Mittel Ni- gab schon zwei große internationale Unter- de Rückschläge. „Was im Labor fantastisch raparib, das die PARP-Enzyme hemmt, ver- suchungen zu dieser Frage.“ Die Ergebnisse aussah, hat nur wenigen Frauen geholfen“, längerte die progressionsfreie Zeit deutlich. waren ernüchternd, vor allem aufgrund der sagt Mahner. Doch das lag, wie man heute Mit dem Medikament kam der Krebs erst niedrigen Überlebensrate. Das habe viele weiß, oft nicht daran, dass die Erkenntnisse nach 21,5 Monaten wieder, bei der Placebo- zum Nachdenken gebracht, ob nicht andere der Grundlagenforscher falsch waren; sie Kontrollgruppe bereits nach 5,5 Monaten. Faktoren eine Rolle gespielt haben könnten, galten aber offenbar nur unter bestimmten „Die Ergebnisse haben uns überrascht“, sagt eine schlechte Auswahl der Patientinnen Voraussetzungen. Jeder Mensch ist gene- Mahner, der die im renommierten Fachblatt etwa oder eben auch eine mangelnde Qua- tisch anders, so wie jeder Krebs anders ist. New England Journal of Medicine publi- lität der Operationen. Im Mittel operierten „Wir müssen schauen, dass wir die Gruppen zierte Studie in Deutschland leitete. „Die die Kollegen nur gut zwei Stunden, berichtet an Patientinnen erkennen lernen, für die ein Zeit bis zum Fortschreiten der Erkrankung Sven Mahner. „Meines Erachtens lassen sich Medikament oder eine Therapie wirksam vervierfacht sich mit dieser Therapie – eine komplizierte Eingriffe beim Eierstockkrebs ist, auch wenn es nur wenige sind“, sagt enorme Verbesserung. Durch solche ope- in dieser Zeit nicht durchführen.“ Nur wenn Mahner. „Bei anderen könnten wir direkt rativen und medikamentösen Fortschritte”, der Krebs ausreichend gründlich operiert auf eine belastende Chemotherapie verzich- sagt Sven Mahner, „wird das Arsenal der werde, könne man die Therapien verglei- ten, wenn wir erkennen, dass die geneti- Waffen gegen die gynäkologischen Krebs- chen. Ein Qualitätskriterium für die neue schen Faktoren nicht dafür sprechen.“ erkrankungen deutlich aufgestockt.“ TRUST-Studie ist daher, dass jedes der betei- Mitunter müssen sich die Ärzte auch damit ligten Behandlungszentren mindestens 36 begnügen, den Krebs nicht heilen, sondern solcher Operationen pro Jahr durchführt. nur eine Weile aufhalten zu können. Da-bei Prof. Dr. med. Sven Mahner Wer nicht Experte ist, kann die unterschied- kommt den Medizinern zugute, dass sie ist Direktor der Klinik und Poliklinik für liche Qualität medizinischer Studien oft immer mehr über die Beteiligung bestimm- Frauenheilkunde und Geburtshilfe des schwer erkennen. Der Bedarf an hochwer- ter Gene an Krebserkrankungen wissen. Trä- Klinikums der LMU, Campus Großhadern und Campus Innenstadt. Mahner, Jahrgang tigen Studien in diesem Bereich jedenfalls gerinnen einer Reihe von Varianten der Ge- 1975, studierte Medizin an der Universität ist groß, wenngleich sie oft nur schwer zu ne BRCA 1 und 2 haben ein erhöhtes Risiko, Heidelberg, machte seinen Facharzt für finanzieren sind. Pharma-Firmen haben an Brust- oder Eierstockkrebs zu erkranken. Gynäkologie und Geburtshilfe am Universi- naturgemäß wenig Interesse, Untersuchun- Lange wusste man nicht, warum das so ist. tätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Er war Oberarzt, Leitender Oberarzt und gen zu Operationsstrategien zu fördern. Die Jetzt liefern Immunologen Antworten, etwa schließlich kommissarischer Klinikdirektor Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onko- die, dass Zellen mit BRCA-Mutationen nicht am UKE, bevor er 2015 nach München kam.

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 59 Aufgeopfert für Gleichheit und Freiheit? Ganz so eindeutig und ruhmreich sieht Michael Hochgeschwender die Amerikanische Revolution nicht. Foto: akg-images/De Agostini Picture Lib.

Büchertisch

Großbritannien ist nach gewonnenem sie- dem frühneuzeitlichen, partikularistischen It‘s Tea Party Time benjährigem Krieg nahezu pleite und will und rückwärtsgewandten Denken verpflich- die Kolonien an den immensen Militäraus- tet“, wie der Umgang mit Sklaven und Indi- gaben zur Sicherung der Siedler beteiligen. anern und frühe militärische Abenteuer – Doch die wollen lieber in ihrem Steuerpara- etwa 1812 in Tripolis – zeigen. dies bleiben – dies ist der Anfang der Ame- Hochgeschwender legt dar, wie sich aus rikanischen Revolution, die in die Unabhän- 13 überseeischen Kolonien schnell eine mit gigkeitserklärung von 1776 mündet. Zum missionarischem Furor ausgestattete demo- ersten Mal in der Geschichte bekommen kratisch-imperiale Supermacht entwickelt: Gleichheit und Freiheit Verfassungsrang. „Aus der Union sich unterdrückt wähnender Ganz so eindeutig und glorios ist die Ge- ehemaliger Kolonien wurde binnen kurzer schichte aber nicht, wie Michael Hochge- Zeit, im Grunde bereits 1812, eine expansive schwender in seinem neuen Buch schreibt: Macht.“ So wundert es nicht, dass sich die „Die einfache Geschichte von den Amerika- Rechte, die Amerika vorgeblich wieder groß nern als freiheitsliebenden, patriotischen machen will, auf die Gründerväter beruft: Helden auf der einen Seite und den Briten Der Wahlsieg des populistischen Außensei- Am 16.12.1773 löschen als Irokesen verklei- als korrupten, arroganten und despotischen ters Donald Trump mag in Europa verstören, dete Siedler die Ladung von drei Teefrach- Schurken auf der anderen Seite lässt sich doch ist er so gesehen nur der jüngste Sproß tern der East India Trading Company direkt heute nicht mehr erzählen”, sagt der Mün- der Amerikanischen Revolution. (mbu) ins Bostoner Hafenbecken. Hintergrund des chener Amerikanist. „Janusköpfig“ sei die Vorfalls, der als Boston Tea Party in die Ge- Amerikanische Revolution gewesen, eben Michael Hochgeschwender: Die Amerika- schichtsbücher einging, ist die sogenannte nicht nur den Geist der Aufklärung atmend nische Revolution; Verlag C.H. Beck, München Stamp-Act-Krise, ein Zoll- und Steuerstreit. und der Zukunft zugewandt, sondern „ganz 2016, 512 Seiten, 29,95 Euro

60 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Büchertisch

Spielstätte der Großen Der Wille zum Wissen Hundewelt

Ibrahim Edhem, geboren auf der griechi- Erforschung der ersten Ursachen – so defi- Es ist ein kleines Rechenexempel, nicht mehr schen Insel Chios, wurde 1822 als Sklaven- niert Aristoteles Philosophie. Der griechi- als eine statistische Fußnote, die griffig wie junge in Istanbul verkauft. Eine solche Ent- sche Denker, der vor 2400 Jahren geboren kaum eine andere die globale Ungleichheit wurzelung war Schicksal vieler Südost- wurde, sieht den Gegenstand möglichen beschreibt, ein wenig zynisch vielleicht, aber europäer. Die Region, ihrer Lage wegen stra- Ursachenwissens anders als sein Lehrer Pla- durchaus erhellend. Stephan Lessenich be- tegisch wichtig, war vielen Imperien unter- ton nicht nur im Unveränderlichen, sondern richtet ganz nüchtern davon: Setzt man den worfen. Völker wurden vertrieben oder ver- auch in der Natur als einem Bereich ständi- Geldbetrag, den der Durchschnittsamerika- sklavt, flüchteten oder arrangierten sich mit ger Veränderung: Die Metaphysik setzt die ner für seinen Hund ausgibt, als Pro-Kopf- neuen Herrschaftsverhältnissen. Bei Edhem Physik voraus. Innerhalb der Naturwissen- Einkommen eines fiktiven Staates, so gehört wendete sich alles zum Guten, als ihn ein schaft hat er vor allem eine systematische, dieses „Dogland“ im Weltmaßstab zu den Län- Großwesir adoptierte. Doch nur selten nah- auf umfassenden empirischen Forschungen dern mittleren Einkommens – oberhalb von men Lebenswege einen „so glücklichen Ver- beruhende Biologie begründet: An die Stelle Paraguay oder Ägypten etwa. lauf“, schreibt Marie-Janine Calic in ihrem von Platons „Ideen“ treten bei ihm die Gat- Die Welt teilt sich in Arm und Reich, provo- neuen Buch, das in Österreich auf der Short- tungen und Arten der Lebewesen. Er hat kant erzählt der Soziologe diese „Doppelge- list zum Wissenschaftsbuch des Jahres steht. eine Argumentationslehre entworfen, die schichte“ der westlichen Moderne, berichtet Darin erzählt sie die „Weltgeschichte“ der die formale Logik ebenso umfasst wie die ganz „unironisch“, wie er bekennt, vom „bit- Region. Transnationale Verbindungen führ- Theorie des wissenschaftlichen Beweises teren Beigeschmack der bestehenden Pro- ten vereinzelt zu frühen „globalen Lebens- und die Rhetorik. Und er ist bis heute eine duktions- und Konsumverhältnisse“. Und läufen“ wie bei Edhem, der im Osmanischen Autorität auf den Gebieten der politischen rechnet vor, was Wohlstand und Fortschritt Reich gar zum hohen Würdenträger aufstieg. Theorie, der Ethik und der Poetik. des Nordens am anderen Ende der Welt kos- Mit dem Zerfall des Imperiums nahmen nati- Angesichts von Umfang, Gewicht und Wir- ten: Er beklagt die „Schmutzarbeit in den onalistische Bestrebungen zu. Versuche, kungsmacht des Aristotelischen Werkes Werkhallen des globalen Südens“, Umwelt- ganze Volksgruppen zu vernichten, standen brauche es Orientierung, sagen Gräzist Oli- zerstörung, dramatische Folgen des Klima- in unrühmlicher Kontinuität zu vergangenen ver Primavesi und Philosoph Christof Rapp. wandels sowie die Vertreibung durch Öko- Jahrhunderten. Zuletzt lösten das Ende des Sie haben eine schlanke Einführung ge- desaster und Ressourcenkonflikte. Lessenich Kommunismus und des Vielvölkerstaats schrieben, in der sie die Hauptgedanken des bringt das Wesen dieser „Externalisierungs- Jugoslawien ethnisch motivierte Kriege aus. Philosophen über die einzelnen Schriften gesellschaft“ auf eine einfache Formel: „Wir Endgültig abgeschlossen, so schreibt Calic, hinweg verdichten und den geschichtlichen leben nicht über unsere Verhältnisse. Wir sei dieser Prozess bis heute nicht. (nh) Kontext seines Lebens neu bewerten. (mbu) leben über die Verhältnisse anderer.“ (math)

Marie-Janine Calic: Südosteuropa. Welt- Oliver Primavesi, Christof Rapp: Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die geschichte einer Region; C.H. Beck, Aristoteles; C.H. Beck Wissen, München Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis; Han- München 2016, 704 Seiten, 39 Euro 2016, 128 Seiten, 8,95 Euro ser Verlag, München 2016, 224 Seiten, 20 Euro

Nummer 2 / 2016 Einsichten. Das Forschungsmagazin 61 Ressentiments in Reinkultur: Im Trump-Lager, am Abend der Wahlparty. Foto: Andrew Harrer/Bloomberg via Getty Images

Die Zukunftsfrage Wohin führt der weltweite Populismus?

Karsten Fischer, Professor für Politische Theorie an der LMU: „Popu- Martin Schulze Wessel, Professor für Geschichte Ost- und Südost- lismus ist nicht neu, sondern nur eine spezifische Spielart der die europas an der LMU: „Populisten neigen nicht nur zu einfachen Menschheitsgeschichte begleitenden Verschwörungstheorien. Heu- Lösungen. Sie beanspruchen vor allem, für das ,wahre Volk‘ zu spre- te richtet sich der Verdacht gegen Experten, Eliten und Entschei- chen. Dieser Alleinvertretungsanspruch trennt sie im Übrigen von dungsträger. Dabei provoziert und stimuliert er bewusst jene Res- den Protagonisten einer nur populären Politik. In der Tat handelt es sentiments, die er anschließend als authentisch behauptet und bloß sich beim Populismus um ein universales Phänomen, das besonders zu repräsentieren vorgibt. Wenn Eliten wie dem Milliardär Trump nach einschneidenden Transformationserfahrungen an Boden und den Berufspolitikern der AfD, des ,Front National‘, der UKIP und gewinnt – wie es in den Staaten Osteuropas nach dem Zusammen- anderer populistischer Parteien ihre ressentimentbeladene Elitenkri- bruch des Sowjetimperiums der Fall ist. In Polen beispielsweise gab tik geglaubt wird, zeigt das die Frustration größerer Teile der Bevöl- es Anfang der 1990er-Jahre eine Art Schockliberalisierung, die in kerung, stellt aber auch deren politische Rationalität infrage. Inso- der Folge links- und rechtpopulistische Parteien hochspülte. Ähnli- fern fordert der Populismus auch unser Demokratieverständnis ches gilt für Ungarn, die Slowakei und andere Staaten. Russland heraus: Soll der politische Wille des Volkes stets unbedingt zur Gel- und sein Präsident Wladimir Putin nutzen das aus und schmieden tung kommen, oder soll er weiterhin unter dem verfassungsrechtli- derzeit eine europaweite Allianz populistischer Strömungen.“ chen Vorbehalt stehen, Freiheit und Menschenwürde zu wahren?“ Protokolle: math

Lesen Sie im nächsten Heft ein ausführliches Gespräch über die Herausforderungen des Populismus

Impressum Design Distribution Christoph Olesinski Mathias Schiener Herausgeber Online-Redaktion Redaktionsadresse Präsidium der Ludwig-Maximilians-Universität Thomas Pinter Geschwister-Scholl-Platz 1 (LMU) München Auflage 80539 München Konzept und Redaktion 9000 Exemplare Tel.: 089 2180 3808 Kommunikation & Presse LMU Erscheinungsweise E-Mail: [email protected] Luise Dirscherl (verantwortlich) halbjährlich Martin Thurau (federführend) Druck www.lmu.de/einsichten Autoren dieser Ausgabe Kriechbaumer Druck GmbH & Co. KG, Maximilian Burkhart (mbu), Hubert Filser (huf), München Unter dieser Adresse können Sie Monika Gödde (göd), Nicola Holzapfel (nh), Martin Einsichten. Das Forschungsmagazin wird auf Einsichten. Das Forschungsmagazin Thurau (math), Klaus Uhrig Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft gedruckt. auch kostenlos abonnieren.

62 Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016 Nummer 2 / 2016 . Das Forschungsmagazin Einsichten . Das Forschungsmagazin www.lmu.de/einsichten

Einsichten. Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2016