Musik im Zusammenhang Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag

Festschrift Revers LAYOUT.indd 1 5.4.2019. 08.28.30 Peter Revers (© Alexander Wenzel, Kunstuniversität Graz)

Festschrift Revers LAYOUT.indd 2 5.4.2019. 08.28.30 Musik im Zusammenhang Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag

herausgegeben von Klaus Aringer, Christian Utz und Thomas Wozonig

Festschrift Revers LAYOUT.indd 3 5.4.2019. 08.28.30 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz

und des Land Steiermark, Referat Wissenschaft und Forschung

Klaus Aringer, Christian Utz und Thomas Wozonig (Hg.): Musik im Zusammenhang – Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag Wien, HOLLITZER Verlag, 2019

Layout, Satz und Umschlag: Nikola Stevanović Graphikbearbeitung/Register: Dieter Kleinrath Englisches Lektorat: Laurence Willis, Jennifer Ronyak

Hergestellt in der EU

Alle Rechte vorbehalten © Hollitzer Verlag, Wien 2019 www.hollitzer.at

ISBN 978-3-99012-554-0

Festschrift Revers LAYOUT.indd 4 5.4.2019. 08.28.30 Wolfgang Gratzer

Inhalt

Barbara Boisits, Geleitwort 11

Klaus Aringer / Christian Utz / Thomas Wozonig, Einleitung 13

Schriftenverzeichnis Peter Revers 23

Querschnitte

Wolfgang Gratzer In vollen Zügen Über einige Weichenstellungen zwischen Bahn- und Musikgeschichte 37

Jörg Rothkamm Zur Dramaturgie der Musik im Musiktheater von Gluck bis Cage Mit einem Gattungsvergleich zur Theatertanz-Musik dieser Zeit 51

Robert Klugseder / Agnes Seipelt Digitale Musikanalyse auf Grundlage von MEI-codierten Daten 69

Silke Kruse-Weber / Maximilian Gorzela Herausforderungen musikpädagogischen Handelns in einer diversifizierten Gesellschaft. Zur theoretischen Fundierung eines Begriffs künstlerischer Praxis am Beispiel des offenen Ensembles Meet4Music an der Kunstuniversität Graz 89

Ernest Hoetzl Auf der Suche nach dem richtigen Ton Gedankensplitter zum Musizieren im 21. Jahrhundert 109

Klaus Hubmann „… mit eben so leichtem Odem“ Bemerkungen zur Frühgeschichte des klassischen Wiener Kontrafagotts 121

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Festschrift Revers LAYOUT.indd 5 5.4.2019. 08.28.30 In vollen Zügen

Musik vor 1700

Franz Karl Praßl Der Salzburger Liber Ordinarius (1198) als musikhistorische Quelle 133

Stefan Engels Die Handschrift Michaelbeuern A-MB Man. cart. 1 und die mensurierten Hymnen der monastischen Liturgie in Salzburg im 15. Jahrhundert 157

Laurenz Lütteken Musik in emblematischer Denkform. Bibers „Rosenkranzsonaten“ 177

Wolfgang Amadeus Mozart

Rainer J. Schwob Mozarts Lieder – stilbildende Gelegenheitswerke? 189

Elisabeth Kappel „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ Körperliche Elemente in Zornarien, betrachtet mit Friedrich von Hausegger 205

Harald Haslmayr „Nun wohlan! Es bleibt dabei …“ Zur Rekontextualisierung einiger Walzertakte in der Zauberflöte 215

Musikalische Lyrik

Ulf Bästlein „Es ist nichts geringes, durch eine sehr einfache und kurze Melodie, den geradesten Weg nach dem Herzen zu finden“ Musikalische Lyrik als Aufklärung 225

Marie-Agnes Dittrich Schubert und Heine im großen preußischen Waffenlager Zum „verdächtigen Untertitel“ des Gemäldes Im Etappenquartier vor Paris (1894) von Anton von Werner 237

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Festschrift Revers LAYOUT.indd 6 5.4.2019. 08.28.31 Wolfgang Gratzer

Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts

Ingeborg Harer Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten (1811–1872) – „eine der ersten Klavierspielerinnen Wiens“ 257

Joachim Brügge Carl Dahlhaus und das „Symphonische Loch“ im 19. Jahrhundert im Spiegel der Romantheorien von Bruno Hillebrand 279

Dieter Gutknecht Die Orchester Richard Wagners Von der Schauspielergesellschaft zur „polyphonische(n) Symphonie“ („Gemeinschaft“) und ihrem „Sprachvermögen“ 293

Eckhard Roch Erlösung dem Erlöser! Zur Dialektik des Symphonischen in Richard Wagners Spätwerk 307

Gustav Mahler und Richard Strauss

Christoph Flamm Not oder Tugend? Mahlers Klavierquartettsatz 329

Stephen E. Hefling Two Early ‘Programmatic’ Interpretations of Mahler’s First Symphony That Were Approved by the Composer 355

Karol Berger The Breakthrough Once Again. On Mahler’s First Symphony 369

Elisabeth Schmierer Humor in Beethovens Pastorale aus der Sicht von Gustav Mahler 379

Eveline Nikkels Faust vertonen: eine Herausforderung Die Schlussszene aus Faust II bei Robert Schumann, Franz Liszt und Gustav Mahler 389

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Federico Celestini Fremdheit im Lied von der Erde 403

Michael Walter „Sieh’ die Mondscheibe, wie sie seltsam aussieht“ Zum Mond in Strauss’ Salome 413

Klaus Aringer „große Erfahrung in Allem, was das Orchester betrifft“ Richard Strauss über Instrumentation 423

Stationen der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts

Alberto Fassone Die Idee der Transkription in Ferruccio Busonis ästhetischem Denken 439

Thomas Wozonig „Es ist daher Unsinn zu glauben, daß ich für alle die Werke, die ich mache, mich einsetze“. Wilhelm Furtwängler als Sibelius-Dirigent 453

Tomi Mäkelä Musik der Sphären. Der dänische Sinfoniker Rued Langgaard zwischen regionalen Bindungen, „Sendungsbewusstsein“ und der Weltgeschichte der Kunstmusik 473

Christian Glanz Hanns Eisler – Spartakus 1919. Zeitgeschichtliche und andere Kontexte 487

Carmen Ottner „…eine neue Art von opera buffa“. Wilhelm Grosz: Achtung Aufnahme! 503

Claudia Maurer Zenck „… furchtbar viel zu tun …“. Ernst Kreneks Kasseler Episode 517

Hartmut Krones Egon Wellesz: Lieder aus Wien auf „wienerisch“ und „cockney“ 545

Jean-Jacques Van Vlasselaer Music in the Nazi Concentration Camps 569

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Festschrift Revers LAYOUT.indd 8 5.4.2019. 08.28.31 Wolfgang Gratzer

Mathias Hansen Sinfonie 1 von Friedrich Goldmann 581

Oliver Korte Klanggestalten und Klanggesten bei Luigi Nono 593

Susanne Kogler Gedächtnis und Erinnerung im Œuvre Gösta Neuwirths Anmerkungen zu Literatur und Musik nach 1945 613

Petra Zidarić Györek Transformation und Polyphonie in Klaus Hubers Die Seele muss vom Reittier steigen 629

Margarethe Maierhofer-Lischka Mit den Ohren sehen, mit den Augen hören Annäherung an Klaus Langs Musiktheater 641

Interpretationsforschung

Lars E. Laubhold Arthur Friedheims Einspielung von Ludwig van Beethovens Diabelli-Variationen für das Philipps-Klavierrollensystem Duca Eine interpretationsanalytische Studie anhand der Variation III 651

Wolfgang Hattinger The Music in the Body – the Body in Music Vom Körperausdruck des Dirigenten 671

Christian Utz Form und Sinn in Gustav Mahlers Abschied Konkurrierende Deutungen in der Geschichte der Mahler-Interpretation 685

Sprechtheater, Ballett, Medien

Dietmar Goltschnigg Karl Kraus’ Weltkriegstragödie Die letzten Tage der Menschheit auf der Bühne im Spiegel der Tagespresse bis zum Weltkriegsgedenkjahr 2014 723

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Oliver Peter Graber Ballett in Serie TV-Produktionen als Indikatoren des Stellenwerts einer Kunstform 739

Cornelia Szabó-Knotik Heimkehrer. Ein zeit- und mediengeschichtlicher Blick 751

Jazz und Popularmusik

André Doehring „’T Ain’t What You Do, It’s The Way That You Do It“ Zur Geschichtsschreibung in der Jazz- und Popularmusikforschung 763

Gerd Grupe Jazz ‚meets‘ India. Über die Schwierigkeiten musikalischer Begegnungen 777

Charris Efthimiou The IRON MAIDEN Gallop 791

Musikhören und Musikästhetik

Janina Klassen In und auf dem Strom von Empfindungen. Wilhelm Heinrich Wackenroders immersive Hörerfahrung und der Hörwandel um 1800 805

Rudolf Flotzinger Dichter als Musikästhetiker? Die österreichischen Beispiele Franz Grillparzer und Adalbert Stifter 813

Robert Höldrich Horizonte des Hörens Betrachtungen zur Akustischen Ökologie und zum Sounddesign 829

Andreas Dorschel Starke Einbildungskraft. Gespräch über Chatwin 845

Autorinnen und Autoren 857 Personen- und Werkregister 875

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Festschrift Revers LAYOUT.indd 10 5.4.2019. 08.28.31 Janina Klassen

In und auf dem Strom von Empfindungen Wilhelm Heinrich Wackenroders immersive Hörerfahrung und der Hörwandel um 1800

Janina Klassen

„Wenn ich in ein Konzert gehe, find’ ich, daß ich immer auf zweyerley Art die Musik genieße“,1 lautet eine oft zitierte Selbstbeobachtung Wilhelm Heinrich Wa- ckenroders (1773–1798) im Briefwechsel mit Ludwig Tieck (1773–1853) von 1792. Ihm gelinge die „aufmerksamste Beobachtung der Töne u[nd] ihrer Fortschrei- tung; in der völligen Hingebung der Seele, in diesen / fortreißenden Strohm von Empfindungen; in der Entfernung und Abgezogenheit von jedem störenden Ge- danken und von allen fremdartigen sinnlichen Eindrücken.“ Wacken­roder skiz- ziert die erste als eine Art sinnlich geschärften ‚Flow‘, in dem er die Aufmerksam- keit auf den performativen Prozess der Musik so fokussiert, dass er in eine andere Sphäre eintritt. Sein „geizige[s] Einschlürfen der Töne“ steht für die körperliche Intensität der Wahrnehmung in Rausch und wachem Mitvollzug zugleich, eine Grunderfahrung immersiven Hörerlebens. Diese Involvierung ist „mit einer ge- wissen Anstrengung“ verbunden. Man könne „höchstens eine Stunde lang Musik mit Theilnehmung […] empfinden.“2 „Die andere Art, wie mich Musik ergötzt“,3 dokumentiert einen Aufmerksamkeitswechsel hin zu dem, was während der Mu- sik in den Vordergrund seines Bewusstseins drängt. Das sei „gar kein wahrer Ge- nuß, kein passives Aufnehmen des Eindrucks der Töne, sondern eine gewisse Thä- tigkeit des Geistes, die durch die Musik angeregt und erhalten wird.“ In diesem zweiten Modus, in dem die „eigenen Gedanken und Phantasieen […] gleichsam auf den Wellen des Gesangs entführt“ werden, könne er „am beßten über Musik als Aesthetiker nachdenken.“ Auch hierbei erlebt Wackenroder die musikalische als eine von der realen abweichende Zeit, dieses Mal im Fluss eigener Ideen, der synchron zur Musik läuft. Seine Position ist fluide, indem die Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Hörhaltungen und -positionen oszilliert. Wackenroder schildert ein multimodales Hören, so meine Lesart, mit senso- rischen, affektiven und kognitiven Komponenten. Präsenzerfahrung, Erinnerung und private Hörgeschichte sowie kommunikative Interaktion beeinflussen das

1 Alle Zitate dieses Absatzes nach Wilhelm Heinrich Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe. His- torisch-kritische Ausgabe, hg. von Silvio Vietta und Richard Littlejohns, Bd. 2, Heidelberg 1991, 29. 2 Ebd. Diese Erfahrung beschreibt Wackenroder auch an anderer Stelle (ebd., 91). 3 Ebd., 29.

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Konzerterlebnis, aus dem Wackenroders grundsätzliche Gedanken hervorgehen. So tragen zu seinem Kunstgenuss die positive Prädisposition – er hört das Instru- ment, eine Glasharmonika, „(zum 3ten Mal) mit sehr vielem Vergnügen“4 –, seine musikalische Vorbildung und die soziale Konstellation bei. Von 1786 bis 1792 war Carl Friedrich Fasch (1736–1800), der damalige Leiter der Berliner Singakademie, sein Musiklehrer. Darüber hinaus verkehrt Wackenroder im Haus von Johann Friedrich Reichardt und dessen Familie.5 Wenn er jemanden neben sich habe, „von dem ich weiß, daß er alles so tief fühlt als ich […], dann ists mir immer so wohl, und ich finde mich in dem Gewühl der Menge Zuschauer so glücklich, als wäre ich allein auf meiner Stube mit einem Freunde.“6 Das Konzerterlebnis teilt Wacken- roder sympathetisch mit seinem ehemaligen Lehrer August Ferdinand Bernhardi (1769–1820). Dieser Bericht bezieht sich auf einen Auftritt der Glasharmonika- Virtuosin Marianne Kirchgessner im damaligen Berliner Nationaltheater. Die dargebotenen Stücke werden nicht erwähnt.7 Gleichwohl geht es um Musik, die gerade eine Aufwertung von einer heteronomen zur autonomen Kunst erfährt. Als ungewöhnlich aus der Perspektive späterer ästhetischer Diskurse, in denen zwischen Objekt- und Subjektstandort, zwischen „logisch“ und „pathologisch“,8 vernunftbetonter und gefühlsgeleiteter Rezeption streng getrennt wird,9 möch- te ich zwei Dinge hervorheben, nämlich die Ganzheitlichkeit des Kunstgenusses und die dabei ausgelösten Impulse. Beide Modi sind nach Wackenroder mit Ak- tivität verbunden. Der erste Modus erfolgt in „aufmerksamste[r] Beobachtung der Töne“,10 eine Aktivität, die dem Objekthaften der gehörten Musik gilt und dabei, in völliger Hingabe an den Empfindungsstrom, ein die subjektive Positi- on bezeichnender Akt ist. Wackenroders erster Modus enthält aktive wie passive

4 Ebd. 5 Vgl. die Chronik, in: ebd., 468. 6 Ebd., 64. 7 Kirchgessner (1769–1808) führte neben dem für sie komponierten Quintett für Glasharmonika, Flöte, Oboe, Bratsche und Cello KV 617 und dem Solo-Adagio KV 617a von Mozart Werke von Johann Evangelist Brandl, Joseph Haydn, Paul Wranitzky, Johann Rudolf Zumsteeg und ver- schiedene eigene Kompositionen, Arrangements und Improvisationen im Repertoire; vgl. Mela- nie Unseld, „Marianne Kirchgessner“, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, , ab 2003, http://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Marianne_Kirchgessner (4.2.2019). 8 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Aufsätze, Musikkritiken, hg. von Klaus Mehner, Leip- zig 1982, 41. 9 Den theoretischen Ausgangspunkt bildet Eduard Hanslicks Schrift Vom Musikalisch-Schönen von 1854; vgl. zur Radikalisierung der Positionen Bernd Sponheuer, „Der ‚Gott der Harmonien‘ und die ‚Pfeife des Pan‘. Über richtiges und falsches Hören in der Musikästhetik des 18. und 19. Jahr- hunderts“, in: Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, hg. von Hermann Danuser und Friedhelm Krummacher, Laaber 1991 (= Publikationen der Hochschule für Musik und Theater Hannover 3), 179–191, hier 184–185. 10 Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 29.

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Komponenten, während der zweite Modus nach späteren Kategorien in der Folge Eduard Hanslicks von der ästhetischen Rezeption ausgeschlossen wird. Wacken- roder begreift ihn ein, nicht etwa weil er auf den musikalischen Wellen gleitend unkontrolliert abschweift, sondern weil er seine Aufmerksamkeit dabei auf ästhe- tische Reflexion fokussieren kann. Zeitgleich mit Wackenroders Briefen formuliert Friedrich Schiller11 ästheti- sche Positionen, die diese Art der Kunstrezeption theoretisch konzeptualisieren. Eine zwischen Aufmerksamkeit und Hingabe beschriebene Hörposition wie die Wackenroders wird von Schiller in den 1795 veröffentlichen Briefen Über die äs- thetische Erziehung des Menschen als „mittlerer Zustand“ „zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und Tätigkeit“ gefasst, in den „uns die Schönheit“12 idea- lerweise versetze. Der Kunstgenuss ermögliche dem Menschen, seine unterschied- lichen Vermögen in einem ausgeglichen Zustand zu vereinen. „Das Schöne“, notiert Schiller in der Nachschrift der ästhetischen Vorlesung vom Wintersemester 1792/93, „beschäftigt und kultiviert Vernunft und Sinnlichkeit, befördert durch Verengung ihres Bundes die Humanität, stiftet Vereinigung zwischen der physi- schen und moralischen Natur des Menschen.“13 Jede Neigung zu einem der Extre- me, entweder nur Sentiment oder bloße Vernunft, verfehle nicht allein die wahre Kunstrezeption, sondern verzerre das menschliche Dasein. Ein Philosoph gilt in Schillers eigener Positionierung 1795 daher als „Caricatur“,14 verglichen mit dem Dichter. „Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuß verschafft. Der höchste Genuß ist aber die Freiheit des Gemüthes in dem lebendigen Spiel al- ler seiner Kräfte“,15 heißt es im Vorwort zu Schillers Drama Die Braut von Messina. Dementsprechend umfasse auch der Kunstgenuss beides, wache Zuwendung und Hingabe zugleich. Hier liegt ein vom rein sinnlichen abweichendes Konzept von Genuss zugrunde, das beim „nutzen dessen man […] genieszt“16 auch das abstrakte gedankliche Mitvollziehen einbegreift.

11 Schillers ästhetische Hauptschriften werden zwischen 1792 und 1796 veröffentlicht; vgl. die Nachweise in Friedrich Schiller, Erzählungen, Theoretische Schriften, hg. von Wolfgang Riedel, München 2004 (= Sämtliche Werke 5), passim. 12 Ebd., 624. 13 Ebd., 1041. 14 Holger Dainat, „Wo spielen die Musen? Medientheoretische Überlegungen zu Schillers ästheti- scher Theorie“, in: Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker, hg. von Georg Bollenbeck und Lothar Ehrlich, Köln 2007, 177–190, hier 187. 15 Friedrich Schiller, „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“, https://www.friedrich- schiller-archiv.de/die-braut-von-messina-oder-die-feindlichen-brueder/ueber-den-gebrauch- des-chors-in-der-tragoedie (4.2.2019). 16 Jacob und Wilhelm Grimm, „genusz“, in: dies., Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, 1891, Sp. 3518– 3524, hier 3518; vgl. zum „aufsteigen und verinnerlichen des begriffs“ Sp. 3521,http://woerter - buchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GG08070# XGG08070 (4.2.2019).

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Schillers wie Wackenroders Reflexionen erfolgen inmitten der langen Entste- hungsphase des modernen Konzerts vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbruchssituation von einer ständischen zu einer funktionalen Gesellschaft. Auf der Ebene des Kunstgenusses bildet das aus allen Ständen gemischte Publikum, das im modernen Konzert zusammenfindet, eine derartige Gemeinschaft. Die Einrichtung öffentlicher Konzerte ist eine Folge der Aufwertung von Musik im Kanon der Künste und bedingt sie zugleich mit. Das Publikum, einschließlich der rezensierenden medialen Multiplikatoren, gewinnt als Adressat wie als Urteilsin- stanz eine wirksame Rolle. Sein Einfluss auf die künstlerische Produktion wie auf den sich wandelnden Musikmarkt sind hochbrisante Themen. Angestachelt durch die Pluralität der Meinungen widmet sich Friedrich Rochlitz 1799 zentralen Brennpunkten des zeitgenössischen Hörerdiskurses, so etwa der Urteilsfähigkeit des Publikums, und entwirft zur Strukturierung der anonymen Gemeinschaft eine Hörertypologie nach vier Kategorien. Die am meisten geringgeschätzte unterste Klasse füllen die „jämmerlichen, die nur aus Eitelkeit und Mode Musik hören.“17 Sie verurteilt moralisch, dass sie mehr profitieren könnten, es aber gar nicht wollen. Diese Art finde man häufig unter den „Grossen und Vornehmen beyder Geschlechter.“ In die zweite Klasse grup- piert Rochlitz einseitig rational und regelfixiert hörende „Kunstkenner“. Solche Traditionalisten beanspruchten die Urteilsinstanz für sich allein. Sie stehen auf gleichem Niveau mit den nur „Hexereyen“ vollführenden Virtuosen. Eine Stufe höher rangieren jene, „welche blos mit dem Ohre hören – gute Leute beyderley Geschlechts.“ Dieser Teil des Publikums liebe Musik, tanze gern und wolle musi- kalisch unterhalten sein. Ihr Urteil sei „gar nicht zu verachten […], denn sie hän- gen wirklich an Etwas.“ Sie artikulierten die „rauschende Stimme des Publikums“, die das „Schicksal“ von Kunstwerken, Künstlern und den „Glanz der Kunstkultur selbst“ beeinflusse. Zur höchsten Klasse zählt, wer „mit ganzer Seele“ hört und Kunst als Mittel zur „Vervollkommnung und Veredlung des Geschlechts“ begreift. Vertraut mit ästhetischen Grundsätzen ebenso wie mit musiktheoretischen erken- nen sie die Freiheit der „Kunst überhaupt – so auch der Musik“. Rochlitz’ vierter Typus spiegelt modellhaft die mit der grundlegenden Trans- formation des Gesellschaftssystems im Laufe des 18. Jahrhunderts als Ideal etab- lierte moralisch fundierte ‚natürliche‘ Kunstkommunikation, in der an die Stel- le „affectirte[r] Empfindsamkeit“18 und rhetorischer Dekoration der aufrichtige Ausdruck innerer Empfindungen rückt. Die Einübung des damit einhergehenden

17 Alle Zitate im folgenden Absatz nach Friedrich Rochlitz, „Die Verschiedenheit der Urtheile über Werke der Tonkunst“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 32 (1799), Sp. 497–506, hier 500–505. 18 Ludwig Tieck, Brief vom 10. Mai 1792, in: Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 26. Diskutiert wird zwischen Tieck und Wackenroder, „warum das Angenehme u. Rührende auf ungleich mehrere Gemüther wirke, als das Grosse u. Erhabene“? (Ebd.)

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Abbildung 1: Daniel Chodowiecki, „Empfindung [natürlich]“ (links), „Empfindung [affektiert]“ (rechts).19

verfeinerten Verhaltens ohne „Symptome der Affektation“20 demonstrieren an- schaulich Daniel Chodowieckis populäre Kupferstichserien Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens,21 die für Georg Christoph Lichtenbergs Goettinger Taschen- Calender (1779/80) entworfen wurden. Beim Thema „Empfindung“ (Abb. 1) zeichnet sich die vorbildliche ,natürliche‘ Haltung durch Selbstbescheidung aus, ablesbar an der Rücknahme raumgreifender Körperlichkeit zugunsten einer Verinnerlichung des Ausdrucks. Die Doppeldarstellung „Kunstkenntnis“ (Abb. 2) „konfrontiert alte

19 Chodowiecki, Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, Stiche 3/4, http://ds.ub.uni-biele- feld.de/viewer/image/2235093_005/43/LOG_0011 und http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/ image/2235093_005/49 (4.2.2019). 20 Ebd., 35. 21 Daniel Chodowiecki, „Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens“, in:Göttinger Taschen Calender, hg. von Georg Christoph Lichtenberg, Göttingen 1779/80, http://ds.ub.uni-bielefeld. de/viewer/image/2235093_005/43/LOG_0011 (4.2.2019).

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Abbildung 2: Daniel Chodowiecki, „Kunstkenntnis [natürlich]“ (links), „Kunstkenntnis [affek- tiert]“ (rechts).22

und neue Formen der Kunstrezeption.“23 Beide wirken wie Vorlagen zu Rochlitz’ zweiter und vierter Klasse. Während die affektierten Connaisseurs sich in einem gestikulierenden Disput kenntnisreich auf Details aufmerksam machen, spiegeln die körperrhetorischen Zeichen24 der Kenner neuen Schlages die Wirkung der Kunst in ihrem Innern, in stiller Versenkung und andächtiger Demut, sogar mit abgezoge-

22 Ebd., Stiche 7/8, http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/2235093_005/67; http://ds.ub. uni-bielefeld.de/viewer/image/2235093_005/73 (4.2.2019). 23 Werner Busch, „Daniel Chodowieckis ‚Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens‘“, in: Daniel Chodowiecki (1726–1801). Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann, hg. von Ernst Hinrichs, Tü- bingen 1997, 77–99, hier 96. 24 „Die Zeichen des Körpers gelten als ,präsemiotische‘ Garanten der Wahrheit, […] als Spiegel der Seele.“ Ursula Geitner, „Die ‚Beredsamkeit des Leibes‘. Zur Unterscheidung von Bewußtsein und Kommunikation im 18. Jahrhundert (Neuerscheinungen und Desiderate)“, in: Das achtzehnte Jahrhundert, Bd. 14/2: Die Aufklärung und ihr Körper. Beiträge zur Leibesgeschichte im 18. Jahrhundert, hg. im Auftrag des Vorstands vom Sekretariat der Gesellschaft, Redaktion Carsten Zelle, Wol- fenbüttel 1990, 181–195, hier 182.

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nem Hut. Nicht die ständischen Umgangsformen (beide Gegensatzpaare tragen die gleiche zeitgenössische Mode), sondern die gekünstelten des Ancien Régime gegen normierende sublimere Verhaltensmuster einer programmatisch verstandenen mo- dernen „Bürgergesellschaft“, deren „Daseinsentwurf […] auf Arbeit, Leistung und Bildung (nicht auf Geburt)“25 fußt, werden hier vorgeführt. Rochlitz’ Typologie26 bietet in der Allgemeinen musikalischen Zeitung spezifische Verhaltensmuster zur Abschreckung und Identifikation. Indem sich die Leserschaft in den Typologien erkennt, verifiziert sie das hypothetische Konstrukt. Der Au- tor, mit dreißig Jahren ein Vertreter der jüngeren Generation, nutzt die Diskurs- macht seiner Zeitschrift. Er verhält sich wie sein Idealtypus, nämlich ästhetisch gebildet, tolerant und verständnisvoll, fächert die im 18. Jahrhundert konstruierte bipolare Achse „Kenner – Liebhaber“ in ein differenzierteres Modell auf und bin- det damit die vermutete Zielgruppe dieser Zeitung, Fachleute wie Musiklieben- de unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedenen Interessen,27 ein. Rochlitz’ Idealtypus verfügt über ausgewogene Anteile von beidem, Gefühl wie Vernunft. Indem Schiller den anthropologischen mit dem ästhetischen Diskurs verbindet,28 gewinnt die Kategorie der Freiheit auch eine politische und soziale Dimension, die mit der ästhetischen Bildungsoffensive verknüpft wird und in musikalischen Vorschlägen zur Hörerziehung weiterwirkt.29 Diese Neukonzeptualisierung des Hörens braucht das ganze 19. Jahrhundert, um sich durchzusetzen. Die Diskussion zwischen Wackenroder und Tieck nimmt dabei eine spezielle Richtung. Tieck gegenüber erhebt Wackenroder den Anspruch: „Nur die eine Art des Genußes ist die wahre“,30 nämlich die zielgerichtete Schärfung des auf Musik gerichteten Gehörsinns. Was wie ein Vorgriff auf das strukturelle Hören anmutet,31 erfolgt hier auf der Grundlage einer Empfindungsästhetik. Es geht darum, auch dann Empfindungen zu haben, wenn kein Text oder Titel die Richtung steuert,

25 Vgl. Jürgen Kocka, „Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel I“, in: Bürger – Bürgertum – Bürgerlich- keit, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 2008, http://www.bpb.de/apuz/31372/ buerger-und-buergerlichkeit-im-wandel?p=all (4.2.2019). 26 Vgl. die Auswertung mit etwas anderem Schwerpunkt in Daniel Fuhrimann, Herzohren der Ton- kunst. Opern- und Konzertpublikum in der deutschen Literatur des langen 19. Jahrhunderts, Freiburg 2005 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 134), 47–55, 159–166. 27 Vgl. Ulrich Tadday, Die Anfänge des Musikfeuilletons. Der kommunikative Gebrauchswert der musikali- schen Bildung in Deutschland um 1800, 1993, 65–66. 28 Vgl. Dainat, „Wo spielen die Musen?“, 187. 29 Eine im Sinne spätaufklärerischer musikalischer Allgemeinbildung prominente Schrift sind Hans Georg Nägelis Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten [1826], Hildesheim 1980. 30 Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 29. 31 Vgl. in diesem Sinne Alexandra Kertz-Welzl, Transzendenz der Gefühle. Beziehungen zwischen Musik und Gefühl bei Wackenroder / Tieck und die Musikästhetik der Romantik, St. Ingbert 2001 (= Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 71), 58–60.

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sondern die Musik sich vom konkreten Anlass löst,32 wie etwa beim Hören reiner Instrumentalmusik. Diese Dekontextualisierung der Empfindung ist vor dem Hin- tergrund des Diskurses um eine „differenzierte Erziehung der Sinne“ im „Rahmen einer sich verfeinernden Körperbeherrschung“33 zu lesen. Sobald der Mensch an- fange, „mit dem Auge zu genießen, und das Sehen für ihn einen selbständigen Wert erlangt, so ist er auch schon ästhetisch frei, und der Spieltrieb hat sich entfaltet“,34 verspricht Schiller. Wackenroder sucht diese Freiheit für das Ohr. Beim Hören von Sinfoniesätzen, die als Zwischenaktmusik erklingen, drängt sich ihm die Thea- terinszenierung mit ihren visuellen und verbalen Eindrücken derart in den Vorder- grund, dass die Musik Wackenroder dann „nur als eine Leinwand dient, worauf ich mir die Scenen des vergangenen Aktes noch einmal vormale.“35 Der Vorrang der Bühnenperformance verhindert ein Umschalten auf autonomes Hören. In ihrer literarischen Fantasie lassen Tieck und Wackenroder den fiktiven Künstler Joseph Berglinger sich vom allgemeinen Publikum absondern, um mög- lichst ohne visuelle Reize und soziale Angebote andachtsvoll allein der Musik lauschen zu können. „Wenn Joseph in einem großen Concerte war, so setzte er sich, ohne auf die glänzende Versammlung der Zuhörer zu blicken, in einen Win- kel und hörte mit eben der Andacht zu, als wenn er in der Kirche wäre, […] mit so vor sich auf den Boden sehenden Augen.“36 Am Ende verliert sich der Künst- ler einsam in der inneren Welt der Musik und findet nicht in ein soziales Leben zurück. Die Gefährdung durch die „eskapistische Weltflucht“37 bleibt indes ein literarisches Thema. In den neuen Sinfoniekonzerten spielt dagegen der gesellige Anteil beim Musikgenuss bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine tragende Rol- le. Die rein ästhetische Fokussierung auf das autonome Hören erscheint dagegen wie eine idealisierte Fiktion musiktheoretischer Diskurse. Sie betrifft auch die verkürzende Rezeption von Hanslick, dessen Theorie vom Hörenden zwischen Ratio und Sinnlichkeit ein drittes fordert, nämlich „das bewußte reine Anschauen eines Tonwerks“.38

32 Vgl. Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik. Eine Diskursgeschichte von 1800 bis 1900, a. M. 2008, 50–51. 33 Peter Utz, Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, 7–17, 186. 34 Schiller, Erzählungen, Theoretische Schriften, 657. 35 Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 29. 36 Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, 133. 37 Vgl. die Aufsätze von Jörg Krämer („Geselligkeit als romantisches Problem der Musikästhetik“) sowie Melanie Wald-Fuhrmann („Die Gefährdung der Geselligkeit durch Musik. Weltflucht, Entrückung und absolute Musik“), in: Riskante Geselligkeit. Spielarten des Sozialen um 1800, hg. von Günter Oesterle und Thorsten Valk, Würzburg 2015 (= Stiftung für Romantikforschung 59), 311–336, hier 319, sowie 293–310. 38 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 119.

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