Feministische Gesellschaftskritik in Friederike Roths

Dramen Ritt auf die Wartburg. Krötenbrunnen. Die einzige

Geschichte. Das Ganze ein Stück und Erben und Sterben.

DISSERTATION

Presented in Partial Fulfillment of the Requirements for

the Degree of Doctor of Philosophy

in the Graduate School of The Ohio State University

By

Rosalinde Girtler, H.A.

* * * * *

The Ohio State University

1995

Dissertation Committe: Approved by

Dagmar C. G. Lorenz

Leslie Adelson Va a m &J Adviser Helen Fehervary Def&rtment of Germanic Languages and Literatures UMI Number: 9533975

Copyright 1995 by Girtler, Rosalinde All rights reserved.

UMI Microform 9533975 Copyright 1995, by UMI Company. All rights» reserved.

This microform edition is protected against unauthorized copying under Title 17, United States Code. UMI 300 North Zeeb Road Ann Arbor, MI 48103 Copyright by Rosalinde Girtler 1995 To my parents

Berti and Giovanni

ii ACKNOWLEDGEMENTS

I wish foremost to thank Dr. Dagmar C. G. Lorenz for guiding

and encouraging me through this project and for her consistent

promptness in returning draft chapters with critical and

insightful comments. Thanks go also to the other members of my

dissertation committee, Dr. Helen Fehervary and Dr. Leslie

Adelson for their reading and encouragement.

I would also like to thank all of my friends and roommates who were there when I needed them, helping me keep my confidence

and perspective. VITA

May 7, 1 9 6 1 ...... Born— Br ixen, Italy

1983-1986 ...... Study of German, English, and American Literature, University of Innsbruck, Innsbruck, Austria

1986 ...... 1. Diplomprüfung (B.A.), University of Innsbruck, Innsbruck, Austria

1986-1992 ...... Graduate Associate, Department of Germanic Languages and Literatures, The Ohio State University

1988 ...... M.A., Department of Germanic Languages and Literatures, The Ohio State University

1993 ...... Instructor, Earlham College, Richmond, Indiana

1993-Present ...... Graduate Associate, Department of Germanic Languages and Literatures, The Ohio State University

FIELDS OF STUDY

Major Field: Germanic Languages and Literatures INHALT

WIDMUNG ...... ü

DANKSAGUNG ...... iii

VITA ...... iv

INHALTSVERZEICHNIS ...... V

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ...... vii

KAPITEL SEITE

I. FRIEDERIKE ROTHS WERK UND THEMATIK ...... 1

Einführung ...... 1 Untersuchungsgegenstand ...... 24 Überlegungen zur feministischen Theater/Dramen­ kritik und zur Möglichkeit einer "feministischen" Ä s t h e t i k " ...... 32

II. RITT AUF DIE WARTBURG ...... 52

Entstehungsgeschichte: Wirklichkeit und Fiktion . 52 Rezeption (Presse-, Literaturkritik) ...... 57 Ein feministisches Stück? ...... 68 Einstellung der Frauenbewegung gegenüber ...... 78 Frauen und ihr Selbstverständnis ...... 91 Die vier Frauen als Gruppe: Frauen unter sich . . 106 Frauen und Wirklichkeitserfahrung ...... 117 Frauen und Männer: Verhältnis zueinander ...... 119 Frauen und ihr bundesrepublikanischer Alltag . . . 135 Frauen und ihre Erwartungen ...... 142 Frauen und Kultur (Institutionen/Traditionen) . . 146 Kirche ...... 150 F r i s e u r ...... 157 'Die Wartburg' ...... 166

v III. KRÖTENBRUNNEN. DIE EINZIGE-,gEBCHIÖHTE , DAS GANZE EIN STÜCK und ERBEN UND BTERBEH ...... 174

Einleitung ...... 174 Rezeption (Presse-/Literaturkritik) ...... 175 Feminismus und Patriarchatskritik ...... 176 Frauen und ihr Verhältnis zu sich selbst: Die einzige Geschichte ...... 181 Frauen und Wirklichkeitserfahrung im Patriarchat: Die einzige Geschichte ...... 199 Beziehungen (Liebe/Sexualität): Die einzige Geschichte ...... 205 Kröt enbrunnen ...... 214 Frauen und K u l t u r ...... 233 Das Ganze ein S t ü c k ...... 234 Erben und Sterben ...... 270

SCHLUSSBETRACHTUNG ...... 301

BIBLIOGRAPHIE ...... 309

A. Dramen von Friederike R o t h ...... 309

B. Aussagen von Friederike Roth zu ihrem Werk.... 309

C. Rezensionen aus der Tages-, Wochenpresse..... 310

D. Sekundärliteratur zu Friederike Roths Dramen . . . 312

E. Sonstige Literatur ...... 313

vi ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Es folgt eine Liste mit Abkürzungen für die im Dokument wiederholt zitierten Primärwerke. Die Liste ist nach Ab­ kürzungen alphabetisch geordnet.

DeG = Friederike Roth, Die einzige Geschichte. /M: Suhrkamp, 1985.

DGeS = Friederike Roth, Das Ganze ein Stück. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1986.

EuS = Friederike Roth, Erben und Sterben. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1992.

K = Friederike Roth, Krötenbrunnen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1984.

RaW = Friederike Roth, Ritt auf die Wartburg. Frankfurt/M: Verlag der Autoren, 1981.

vii KAPITEL I

FRIEDERIKE ROTHS WERK UND THEMATIK

Einführung

Gegenstand dieser Untersuchung sind vier der bislang

sechs vorliegenden Dramen der 1948 in Sindelfingen geborenen

Autorin Friederike Roth, die sich in den achtziger Jahren zu

den bekannteren, zeitgenössischen Dramatikerinnen im gesamten

deutschen Sprachraum avancierte, obwohl sie mit nur sechs

bisher aufgeführten und publizierten Stücken (Klavierspiele.

1980; Ritt auf die Wartburg. 1981; Krötenbrunnen. 1984;, Die

einzige Geschichte, 198 5; Das Ganze ein Stück, 198 6; Erben und

Sterben, 1992) eigentlich immer noch als Neuling in der

Theaterszene gelten muß. Ihr dramatisches Werk brachte sie ins

Kreuzfeuer der Kritik1, aber zugleich wurden ihr dafür

•ln der Rezeption von Roths Stücken wird immer wieder auf die Schwäche ihres dramatischen und die Stärke ihres lyrischen Talents hingewiesen. So überschreibt z. B. Klaus Wagner seine Rezension zu Klavierspiele in der FAZ (21.02.1981) "Bebilderte Lyrik” und spricht von dem "zartbesaitete(n) Bühnenerstling". Rolf Michaelis bemängelt die Abwesenheit von Dialogen, die "nach einem dramaturgischen Gesetz geführt und gebaut sind,” und beurteilt Krötenbrunnen als auf "dramaturgisch wackligen Beinen" stehend ( 02.11.1984). Auch Georg Hensel urteilt in seiner Rezension zu Die einzige Geschichte, "das ist zwar Bewegung, aber noch keine Dramatik. ... Es sind die universalen lyrischen Themen" (FAZ, 19.06.1985).

1 angesehene Literaturpreise, wie z. B. der Gerhart-Hauptmann-

Preis2, verliehen, bzw. ihr zweites Drama Ritt auf die

Wartburg wurde zum "Stück des Jahres 1983"3 gewählt. Ihr

literarisches Talent und ihr unkonventioneller Umgang mit der

traditionsschweren Institution Theater4 reflektiert sich in

ihrem lyrischen, ungezwungenen, ja oft scheinbar alltäglichen

Sprachstil, dem ihr Interesse für das Einfache, Klare und

Ausdrucksstarke in der Sprache anzusehen ist.

Roths Weg zur Literatur und zum Theater erfolgte nicht

direkt, sondern über ihr Interesse für Sprache und

Philosophie. In ihrem Studium an der Universität Stuttgart

spezialisierte sie sich auf ästhetische Theorie und

Texttheorie und entfaltete dabei ein frühes Bewußtsein für

literarische Sprache und Texte, als ein besonderes System mit

eigenen Regeln und Innenleben.5 Hervorgerufen durch ihre

ausführliche Beschäftigung mit Semiotik, kam es dann zur

ersten Produktion eigener literarischer Texte, denn, so Roth

in einem Interview mit Elisabeth Heinrichs, " (n)ach ein paar

2 Stuttgarter Literaturpreis (1982); Villa-Massimo- Stipendium (1983); Gerhart-Hauptmann-Preis (1983).

^Theater heute führt jährlich bei den Kritikern eine Umfrage durch: Den Titel erhält das Stück mit den meisten Stimmen. 1983 war es Ritt auf die Wartburg trotz der eher negativen Reaktionen in den Presserezensionen.

4E s wird auch traditionell von Männern (Autoren/ Intendanten, etc.) dominiert.

sElisabeth Heinrichs, "Sätze bauen, Herzen ausreißen, Köpfe abschlagen: ein Gespräch mit der Dichterin Friederike Roth." Theater heute März 1981: 39. Semestern analytischer Arbeit hatte ich einen großen Drang,

synthetisch zu werden, damit meine ich: ich hatte das Gefühl,

ich will jetzt selber Sätze machen."6 Der daraus Ende der 60er

Jahre zustandegekommene und 1970 in der rot-Reihe veröffent­

lichte Text, war die minimal-erzählunaen7. eine Sammlung von

5 Erzählungen, die in der Tradition der Konkreten Poesie und

aus ihrer eigenen linguistischen Arbeit heraus entstanden.

Obwohl dieser Erzählband vorerst die einzige Publikation

blieb, weist der darin gezeigte experimentelle Umgang mit

Sprache schon auf ihr späteres Werk hin. Die Faszination mit

Sprache verlegte sich im Laufe der Zeit von einer zuerst nur

konkreten Ebene auf eine Ebene, wo kommunikativer Wert und

Austausch im Mittelpunkt stehen, wie Roth in einem Interview

mit Elisabeth Heinrichs in Theater heute bemerkte". Nach ihrer

Promotion im Jahre 1975— mit einer Dissertation zum Thema

"Semiotische Analyse der ästhetischen Untersuchungen Georg

Simmels"— und während ihrer Tätigkeit als Lehrbeauftragte für

Anthropologie und Soziologie an der Fachhochschule in

Esslingen (1976-79) betätigte sie sich wieder verstärkt

literarisch und schrieb Gedichte, die 1978 bei Luchterhand als

6Heinrichs 39.

7Dieser Text ist mittlerweile vergriffen, und wird nicht mehr neu aufgelegt.

"Heinrichs 39. Gedichtband "Tollkirschenhochzeit"9 veröffentlicht wurden.

Durch diese Publikation machte Roth auf sich als ernstzu- nehmende Lyrikerin aufmerksam und das Echo, das ihre ersten gedruckten Gedichte bei den Kritikern auslösten, war über­ wiegend positiv und voller Hoffnung auf ein neues Talent.

Schon in diesem Erstlingswerk thematisiert Roth, wie Rita

Mielke bemerkt, die "sich in den unterschiedlichsten menschlichen Lebensbereichen wiederholende Erfahrung der

Diskrepanz zwischen dem, was der einzelne als Realität erlebt, und dem, was er dieser Realität an Wünschen, Träumen und

Idealen entgegenstellt"lu.

Ungefähr zur selben Zeit entstanden auch ihre ersten

Mundarthörspiele— "Wenn d'Thea nalangt, no gibts a Stick" und

"Mr sen net heimlich uf dr Welt"— die vom Süddeutschen

Rundfunk11 ausgestrahlt wurden. 1979 wurde auch

"Ordnungsträume", eine längere Erzählung, bei Luchterband publiziert. Diese diversen, literarischen Versuche machen auf das Talent dieser jungen Autorin aufmerksam, das sich nicht auf ein Genre einschränken läßt, sondern mit den formalen

Aspekten verschiedener Gattungen spielt, experimentiert und sie verbindet, wobei die Sprache, die bewußte Verwendung

9Dieser Gedichtband enthält das Gedicht 'Schwäbisch Gmünd', wofür Roth 1977 mit dem "Leonce-und-Lena-Preis" ausgezeichnet wurde.

l0Rita Mielke, "Friederike Roth," KGL Vol. 5 (Stand 1.8.1986): 3.

nBeide unter der Regie von Alfred Kirchner: "Wenn d'Thea ..." am 18.9.1977 und "Mr sen net ...... " am 4.6.1978. derselben, die Form als auch die Thematik beeinflußt. Trotz

ihrer Experimentiertreudigkeit im formalen Bereich— sie

versucht sich in diesen verschiedenen Genres mit Erfolg, sie

wird von Kritikern als talentierte Erzählerin, Lyrikerin und

Dramatikerin gelobt— durchzieht eine zentrale Grundfrage,

nämlich die nach dem Verhältnis von Sprache und Realität, und

der Schwierigkeit etwas mit Sprache wirklich zu erfassen und

wiederzugeben in unterschiedlichen Variationen ihr ganzes

Werk. Sie beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern Sprache

die alltägliche, erlebte Wirklichkeit der/des einzelnen

wiedergeben— d. h. reproduzieren— kann, ohne diese Wirklich­

keit durch das 'Aus/Besprechen' derselben (oder auf einer

anderen Ebene durch 'Schreiben') immer wieder neu zu

(re)produzieren. Dazu sagte Roth:

schreiben ist, es zum zweitenmal sagen, und das zweitemal ist etwas anderes als das erstemal, und deshalb hilft es auch nicht weiter, wenn man sätze, die zu einem bestimm­ ten ereignis gehörten, wiedergibt, um dieses ereignis zu beschreiben, denn ein ereignis wird dadurch, daß ich seine spräche reproduziere, um nichts wirklicher, (...), und das ereignis, das ich durch seine sätze reproduzieren wollte, wird zu einem neuen ereignis, nämlich zu einem ereignis aus spräche, und deshalb ist das zweite ereignis immer ein anderes ereignis als das erste ereignis.12

Zwischen der Realität, wie sie der/ie einzelne erlebt ("erstes

ereignis"), und wie er/sie diese Realität durch Sprache ver­ mittelt und dabei gleichzeitig wieder neu kreiert ("zweites

ereignis"), gibt es keine eins zu eins Übereinstimmung. Daraus

entstehen Konflikte, da 'Wirklichkeit' nicht 'Wirklichkeit'

12Rita Mielke, "Friederike Roth" 3. 6

ist, jede/r sie aus seiner/ihrer Perspektive— also anders—

erfährt. Diese Perspektive ist bei jedem Menschen eine andere,

zumal sich in ihr die ganz persönliche Geschichte summiert.

Bestimmte Gruppen leben— um die größten zu nennen, Männer auf

der einen und Frauen auf der anderen Seite13— unter ähnlichen

Bedingungen in einer bestimmten— in den meisten Fällen einer patriarchalischen— Gesellschaft, zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Man gehört entweder zu den Frauen oder

Männern, was sich entscheidend auf die alltägliche Wirklich­ keit, die man lebt, und auf die Perspektive, aus der man sie wahrnimmt, auswirkt. Das Erfassen der einen umgebenden Wirk­

lichkeit wird weiters durch Klischeedenken und Erwartungen, die man an die eigene, in der Wirklichkeit innehabende Rolle stellt, entschieden beeinflußt. "Pure" Wirklichkeit, die von allen gleich erfaßt und interpretiert werden kann, existiert nicht, denn durch die Interaktion mit anderen Menschen, seien dies nun Fremde oder nahestehende Menschen, wie z. B. Lebens­ partner, stoßen mindestens zwei verschiedene "Wirklichkeiten" aufeinander, die sich gegenseitig modifizieren, bestätigen oder ausschließen. Die gelebte "Wirklichkeit" der einzelnen

Individuen bleibt letztendlich immer nur ein Kompromiß; daraus wiederum entsteht ein Mangelempfinden, eine Unzufriedenheit.

13Diese Unterscheidung der Menschen nach ihrem Geschlecht (Männer/Frauen) ist für eine patriarchale Gesellschaft wohl die ausschlaggebendste, da sie die Menschheit in zwei große Gruppen teilt. Diese beiden Gruppen werden auf horizontaler Ebene noch in viele Subgruppen unterteilt, die der herrschenden Gesellschaftsgruppe gegenüberstehen. Bei einem Kompromiß gibt es Gewinner und Verlierer, darin

spiegeln sich die Machtstrukturen einer gegebenen Gesell­ schaft- Im Falle einer patriarchalen Gesellschaft, werden die

"Wirklichkeit" und die darin geltenden Normen, Bestimmungen und Denkmuster, sowie das Medium Sprache, mittels dessen sie vermittelt werden, zugunsten der "männlichen" Perspektive gebraucht und gedeutet, sodaß jeder Kompromiß auf Kosten der

"schwächeren, unterdrückten"Gruppen— z.B. Frauen— eingegangen wird, und diese sich immer weiter von einer eigenen Perspek­ tive in dieser "Männerwirklichkeit" entfernen, und eine der

"männlichen" ähnliche Perspektive übernehmen. Daraus entsteht ein Mangel und ein Bedürfnis eine eigene "Realität" zu inszenieren, was durch zur Hilfenahme von verschiedenen

Taktiken, wie z.B. die Flucht in Träumereien, Phantastereien

(drittes "neues ereignis") ermöglicht wird. Diese Flucht wird jedoch zur Falle, da dadurch zum einen nicht in die sie unterdrückende "Wirklichkeit" eingegriffen wird, und zum anderen diese Selbsttäuschung eine Negierung der eigenen

Bedürfnisse zur Folge hat. Diese Diskrepanz, die zwischen der existierenden "Wirklichkeit", der Erfahrung dieser "Wirklich­ keit" durch die Einzelne, und was die Einzelne dieser Wirk­ lichkeit an Träumen, Wünschen und Phantasien entgegenstellt, entsteht, wird bei Roth auf der Sprachebene reflektiert und wiedergegeben. Das dritte "neue ereignis", das Flucht aus den und Reaktion auf die zwei vorhergehenden "ereignisse/n" ist, trägt bei Roth den Charakter des Eingesperrtseins, denn (d)ie schönsten Träume scheitern am schrecklichsten, und unsere Träume, unsere Wünsche, unsere Hoffnungen sind Klischees. Selbst die zartesten Träume, ein "Kommunions­ kindtraum", um ein Wort zu erfinden, ein Traum, der unbe­ rührt ist, rein, ganz echt und wahrhaftig, ist auch schon abgestanden.14

Vor allem in der Darstellung von Liebesbeziehungen thema­

tisiert Roth Versuche der Auseinandersetzung mit diesen

Konflikten aus der Perspektive von Frauen. Das Besondere dabei

ist die Darstellung der Realität als ein "Dazwischen", d.h.

als "Zwischenform zwischen äußerer und innerer Realität"15,

wobei die erlebte Wirklichkeit der "äußeren" und die Träume

der "inneren" Realität entsprechen. Diese Zwischenform

dominiert auch die verschiedenen Sprachebenen, in denen man

das ständige Nebeneinander von trivialen Bildern, Redensarten

und Banalitäten mit märchenhaften, mythischen Metaphern

findet, "die zur Demaskierung der 'un-realistischen' Träume

und zur Desillusionierung über die wirklichen Verhältnisse des

l4Anke Roeder, "Jedes Scheitern der Liebe ist ein Tod oder Die schönsten Träume scheitern am schrecklichsten." Autorinnen; Herausforderungen an das Theater Hrsg. diess. (Frankfurt am Main; Suhrkamp, 1989) 45.

l5Roeder 43. Die Bezeichnung "Dazwischen" verwendet Roth in diesem Interview im Zusammenhang mit ihrer Art von Dramaturgie; "Mit der Sehnsucht nach der einen Geschichte verbindet sich die Erkenntnis des Disperaten und Gesprengten. Auf der Bühne entwickelt sich eine Zwischenform zwischen äußerer und innerer Realität, die sich aus dem Spiel mit der Strenge der klassischen Dramaturgie ergibt. Es ist die Dramaturgie des Dazwischen." Dieses "Dazwischen" kennzeichnet in vieler Hinsicht Roths Schaffen, und hier verstehe ich es als ein ständiges Ineinanderübergehen von Wirklichkeit und gewünschter Wirklichkeit, sodaß die Grenzen zwischen den beiden nicht mehr klar sind. Nur durch Roths Verwendung von Sprache wird auf solche Brüche verwiesen. 9

Lebens führen."16

Klavierspiele (1980)17 war Roths erster Bühnentext. Den

Drang zum Stückeschreiben beschrieb Roth in einem Interview

mit Elisabeth Heinrichs18:

Mir war immer klar, daß ich Dialoge schreiben möchte. Ich hab ja auch früher schon ein paar Hörspiele gemacht. Das hängt mit der Art meines Kopfes zusammen, mit der Art, wie ich Sätze höre und speichere. Was mich gereizt hat, war der Versuch, Dialoge in sichtbare Bewegungen umzusetzen.

Aus diesem Talent, sich an stattgefundene Dialogabläufe zu

erinnern ("Plötzlich liegt mein Ohr auf dem anderen Tisch, und

ich hör den Leuten zu. Es gibt Sätze, ganze Dialoge, die mir dann im Kopf hängen bleiben und die ich mir aufschreibe

zuhause."19), zog Roth Nutzen und begann fürs Theater zu schreiben. Roths Stücken geht oft eine Handlung an sich ab, denn was sich abspielt, ereignet sich in der Sprache, in den

Dialogen. . In fünf ihrer sechs Stücke20 tragen die Figuren keine individuellen Namen; sie sind Typen, die 'lediglich'

16Rita Mielke, "Friederike Roth" 4-5. (Ein gutes Beispiel dafür in Die einzige Geschichte der Gebrauch des Wortes Konfitüre anstatt Marmelade: "DIE ANDERE FRAU [•••] Ich sag Konfitüre, wir haben immer Konfitüre gesagt. Er sagt, es heißt Marmelade, wirft das Besteck hin und läuft aus dem Zimmer und brüllt, nicht schon am Morgen, nicht schon am Morgen, dieses Konfitürengeschwätz, laß mich damit in Ruhe." 24-25)

l7Am 30.9.1980 wurde Klavierspiele beim Westdeutschen Rundfunk unter der Regie von Jörg Jannings als Hörspiel gesendet.

l8Heinrichs 40.

l9Heinrichs 39.

20Nur in Ritt auf die Wartburg zeigt Roth vier einzelne Frauenfiguren: Anna, Ida, Lina und Thea. durch das Geschlecht unterschieden werden (z. B. ER/SIE,

MANN/FRAU), oder durch allgemeine Berufsbezeichnungen, wie in

Krötenbrunnen (Produzent, Bildhauerin) oder in Erben und

Sterben (Alte, Komponistin etc.)- Da Roth die Beziehungen und

Konflikte zwischen den Geschlechtern thematisiert, die sich

aus den gegensätzlich konstruierten Männlichkeits- und

Weiblichkeitsbildern konstituieren, bietet sich eine solche

Typisierung an, denn es soll auf den Dualismus der patriar­

chalen Geschlechtercharakterisierung hinweisen. Diese durch

die Sozialisierung der einzelnen Individuen erworbene,

geschlechtliche Markierung steht thematisch im Mittelpunkt und

ist die grundlegende Hürde, die Beziehungen zwischen den

Geschlechtern erschwert.

In Roths ersten Dramen zeigen sich schon bestimmte

thematische und strukturelle Tendenzen, die in den späteren

Dramen noch mehr ausgearbeitet und vertieft werden. Z. B.

lösen sich ihre Theaterstücke formal immer mehr auf, und

verbunden damit verzichtet Roth auf einen linearen

Handlungsverlauf.21 Zum Mittelpunkt wird die Thematik, die

durch stellvertretende und übergreifende Figuren in locker

aneinandergereihten Szenen verschieden variiert wird22. Die

21z. B. Die einzige Geschichte und Das Ganze ein Stück.

22Z. B. die vier Männer--Adolf, Adam, August, Anton— und "Die eine Frau" und "Die andere Frau" in Die einzige Geschichte: oder "Die Frau" und "Der Mann" in Das Ganze ein Stück. Die Figuren stehen nicht für einen bestimmten Charakter, von dem man sich am Ende ein abgerundetes "Bild" machen kann, sondern sie repräsentieren verschiedene "Abzüge" von Männern und Frauen, schlüpfen ständig in andere Rollen, Thematik, die sich verschieden von Stück zu Stück, nicht immer

prompt und klar ablesen, noch auf einen Nenner bringen läßt23,

da sie im ganzen zu kompliziert und umfassend ist, ist ebenso

entindividualisiert, wie die dramatischen Personen. Keines von

Roths Stücken kann ein eigenes, diesem Stück allein gehöriges,

unverwechselbares Thema für sich beanspruchen. So erscheinen

zwar jeweils andere Begebenheiten, Personengruppierungen und

Probleme, doch formuliert jedes Stück im Kern eine Spielart,

eine Variante der Grundthematik: Die Diskrepanz zwischen

Realität und Vermittlung der Realität und wie sich dies auf

die zwischengeschlechtlichen Beziehungen auswirkt. Verschie­

dene Einzelthemen, wie z. B. das deutsch-deutsche Verhältnis

in Ritt auf die Wartburg. Alter und Sterben in Die einzige

Geschichte. oder die Sinnkrise der Kultur in Das Ganze ein

Stück, stehen nicht für sich, können nicht unabhängig vom

Grundthema existieren, sondern zeigen dieses in einer anderen

Variante. Diesen Befund bestätigt auch ein Blick auf Roths

Gesamtwerk, stellt man bei genauer Beobachtung die Aus­

tauschbarkeit mancher Dialoge fest; verschiedene Figuren

sprechen nicht nur in verschiedenen Stücken nahezu gleich­

präsentieren das Thema aus verschiedenen Perspektiven.

23Ritt auf die Wartburg ist ein gutes Beispiel dafür, denn bezüglich der Thematik gibt es unter den Rezensenten Meinungs­ verschiedenheiten: Ist es über die Frauenfrage? Über die deutsch-deutsche Beziehung? Oder einfach über Reiselust und Fernweh? 12 lautende Sätze24, die Autorin übernimmt auch bestimmte Bilder und Metaphern aus ihren eigenen Gedichten und fügt sie in ein

Stück ein.25

Roths Anwendung von Montage- und Collagetechniken26 und ihr bewußter Einsatz von Sprachmustern und -floskeln aus der

Alltagssprache, als auch von Zitaten und poetischen Versen dienen dazu, die Brüche und Kämpfe in den Beziehungen, Roths

Urtrauma "die Unmöglichkeit, Liebe zu leben, sie in Partner­ schaft zu verwandeln"27 auf der sprachlichen Oberfläche der

Stücke in einem leichtgewichtigen Ton darzustellen, und die

Problematik, die von den Figuren nicht in Sprache gefaßt werden kann, sondern nur in Form von einem Unbehagen, einem

Gefühl vorhanden ist, auf eine tiefere Ebene zu verlegen.

Beide, die Oberflächenstruktur und die Tiefenstruktur sind wichtig, da sie sich ergänzen und Ausdruck des anderen

Undefinierbaren sind, das durch die Sprachkompetenz der

Figuren nicht schilderbar ist, doch daraufhin verweist. Bei den Interpretationen und Aufführungen von Roths Stücken neigt man aber gern dazu, wie Hajo Kurzenberger bemerkt, diese

24Einzelne Passagen aus Das Buch des Lebens. Ein Plagiat (1983) kommen wortwörtlich in Die einzige Geschichte vor.

25z. B. die auf dem Sterbebett liegende alte Frau, um die sich alle versammeln, die nicht stirbt: "Die schöne Leich" Tollkirschenhochzeit (Darmstadt: Luchterhand, 1978); Die einzige Geschichte.

26Besonders in Das Ganze ein Stück, aber auch schon in Die einzige Geschichte.

27Werner Schulz-Reimpell, "Die Unmöglichkeit, Liebe zu leben", FAZ 11.2.1986. Oberflächenstruktur zugunsten der Tiefenstruktur zu vernach­

lässigen, und die Bedeutung aus der Tiefe herauszuspielen und

dabei die angewandten Sprach- und Bühnentechniken (besonders

Lichteffekte), zu unterschätzen. Denn gerade "die Vielfalt der

Redeformen, Tonfälle, die Choreographie von Gesten und Auf­

tritten, ist nicht nur der Reichtum seiner szenischen

Realität, sondern für den Schauspieler auch die Grundlage, die

tiefere Bedeutung darstellen und sichtbar machen zu können"28.

Daran scheitern viele Aufführungen dieser "Sprachstücke"29,

wie Rita Mielke Roths Theaterstücke klassifiziert. Die Ober­

fläche, d. h. das 'rein' Sprachliche, ihrer Stücke wird oft

wegen der schweren Darstellbarkeit Angriffspunkt vieler

Kritiker, die ihre Stücke als auf "dramaturgisch wackeligen

Beinen"30 stehend bezeichnen, da sie den "dramatischen Dialog,

der den Körper des Schauspielers fordert" nicht beherrscht31,

die Dialogführung im Vordergrund zu stehen scheint32, diese

28Hajo Kurzenberger, "Friederike Roth: 'Ritt auf die Wartburg,' Deutsche Geaenwartsdramatik. Hrsg. Lothar Pikulik (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1987) 94.

29Rita Mielke, "Sprachstücke. Friederike Roth als Theaterautorin," Schreiben 29/30 (1986): 60-67.

30Rolf Michaelis, "Ist es gut? Es ist bös," Die Zeit 2.11.1984 .

31Georg Hensel, "Der Frauen blonder Wanderpreis," FAZ 24.10.84.

32So z. B. Rolf Michaelis in einer Rezension zur Uraufführung von Roths Krötenbrunnen und Enzenbergers Menschenfreund in : "Sie sind dialogisch nur in dem Sinn, daß ein Partner (und beidemal sehen wir fast immer nur zwei Personen auf der Bühne) bloß als Stichwort-Geber oder als Echowand für die gerade zum Lautsprecher der Dramenschreiber keinen dramaturgischen Gesetzen mehr folgt und inhaltlich banal erscheint, aneinander abprallt, nicht aufeinander eingeht und zu einem Zick-Zack von Stichwörtern wird. Doch hinter dieser scheinbaren Orientierungslosig- und Zufälligkeit der Gesprächsfetzen verbirgt sich die Not und Hilflosigkeit der sprechenden Personen, und diese läßt sich nicht in dramaturgische Gesetze zwängen, nur um bestimmten ästhetischen

Regeln zu entsprechen. Auf ihre Sätze, ihren Sprachgebrauch und ihre teilweise eher monologischen Dialoge, die Ausdruck

äußerster Kommunikationstörung und Entfremdung zwischen den

Dialogpartnern sind, geht man bei den Inszenierungen und

Interpretationen ihrer Stücke zu wenig ein, denn wo Roth mit

"Sätzen arbeitet", wollen die Kritiker das Einhalten von dramatischen Regeln und die Theaterleute "Bilder auf die Bühne bringen", anstatt "die Sätze hörbar" zu machen11, gerade so wie sie intendiert waren.

So endete die Uraufführung14 ihres Erstlingsstückes

Klavierspiele in Hamburg mit einem Eklat, da vom ursprüng­ lichen Text, wenig auf der Bühne zu hören war, denn "mehr als

ernannte Person gebraucht wird. Einige der schönsten, amüsantesten, nachdenklichsten Sätze beider Stücke, die eher Reihungen von Monologen, eher Hörspiele sind als dramaturgisch schlüssig gebaute, in dialogen sich entwickelnde szenische Aktionen, könnten wir auch in den Poesie- oder Prosa-Büchern von Roth oder Enzensberger lesen." in "Die Zeit" (2.11.1984)

33Heinrichs 42.

^Klavierspiele Uraufführung: Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 12.01.1981. Regie: Christof Nel. 15

die Hälfte des sowieso schon kurzen 'Klavierspiele' Textes"35

wurde von den Verantwortlichen gestrichen, und durch die dem

Text fehlenden, szenischen Mittel nach freier Interpretation

ergänzt. Karl-Heinz Braun vom Verlag der Autoren erklärte dem

Publikum, "(d)as, was Sie heute gesehen haben, ist nicht das

Stück von Friederike Roth. Es ist die Paraphrase von einem,

der im Programm nicht genannt ist, vom Regisseur Christoph

Nel."36 Daraufhin kam es zu Handgreiflichkeiten: Christoph Nel

verabreichte K. H. Braun eine Ohrfeige und verließ das

Theater. Ursprünglich hatte man "dies lohnende, schwierige,

verquere Frauenstück"37 einer Frauengruppe mit Gabriele Jacobi

als Regisseurin übertragen, aber kurz vor der Premiere reiste

Jacobi ab, oder "sie wurde abgereist, wer weiß das schon"38,

wie es Benjamin Heinrichs ausdrückte. Regisseur Christoph Nel

übernahm das Stück, was zu viel Kritik und Unbehagen führte,

da seine Regie den literarischen Text von Roth völlig

3SJürgen Holwein bemerkte in seiner Rezension in den Stuttgarter Nachrichten vom 14.2.1981, daß etwa zwei Drittel des Materials rausflogen. Klavierspiele war ursprünglich ein Hörspieltext und wurde vom Westdeutschen Rundfunk (3 0.9.1980) ausgestrahlt. Es mag wohl daran liegen, daß ein Großteil des Textes für die Aufführung am Theater gestrichen wurde, da das Theaterstück zuviel mit Sprache arbeitete.

36Werner Burkhardt, "'Klavierspiele' enden handgreiflich. Friederike Roths dramatischer Erstling im Hamburger Schauspielhaus" SZ 14./15. 2. 1981

37Benjamin Heinrichs, "Frauenphantasie - Männersachen. Statt einer Uraufführung: ein Eklat." Die Zeit. 20. 2. 1981. (Die Dramaturgin war Brigitte Landes und die Hauptdarstellerin Rotraud de Nerve.)

38Benjamin Heinrichs, "Frauenphantasie - Männersachen." 16 beherrschte. Jedem dramatischen Text, der inszeniert wird, kann eine eigenwillige Interpretation des Regisseurs auf­ gedrängt werden, die sich von der ursprünglichen Intention der/s Autorin (soweit eine solche vorhanden und ersichtlich ist) beträchtlich unterscheidet; doch scheinen Autorinnen diesem Phänomen öfters ausgeliefert zu sein als ihre männlichen Kollegen.39 Mag dies an der Barriere zwischen den

Geschlechtern liegen, oder daran, daß Männer die Sprache und

Thematik nur aus ihren männlichen Perspektiven heraus zu verstehen und in diese umzusetzen vermögen.41'

Am 4.10.1982 wurde in Stuttgart bei der Uraufführung von

Roths zweitem Stück Ritt auf die Wartburg wieder "etwas anderes als was Friederike Roth geschrieben hat"41 von

Regisseur Günter Krämer auf die Bühne gebracht. In diesem

Stück präsentiert Roth die Thematik der 'weiblichen Selbst­ findung' aus einem anderen Blickwinkel als in Klavierspiele.

39s. Kathleen Betsko, Rachel Koenig, Interviews with Contemporary Women Plavwr icrhts, (New York: Beech Tree Books, 1987). In den Interviews weisen die Dramatikerinnen immer wieder auf die Schwierigkeiten hin, denen sie mit männlichen Regisseuren bei den Inszenierungen ihrer Stücke begegnen.

4üDa wie schon erwähnt, sich die Ereignishaftigkeit dieser Stücke nicht so sehr in der Handlung oder Geschichte abspielt, sondern in der Sprache, und dem was diese Sprachäußerungen, sei es in Monologen oder Dialogen über die einzelnen Personen, und damit dann wieder über das jeweilige Geschlecht enthüllen, werde ich mich in erster Linie nur mit den Texten auseinander­ setzen und die Aufführungen, da diese sehr oft nicht unbedingt im Interesse des Textes folgten, außer acht lassen, ein Ver­ gleich von beiden wäre zwar interessant, würde aber den Zweck dieser Arbeit weitaus überschreiten.

4lWinfried Roesner, "Uraufführung in Stuttgart: 'Ritt auf die Wartburg' Vier Frauen unterwegs" Basler Zeitung 12.10.1982 17

Sie zeigt Frauen in einer Form der Auseinandersetzung mit

ihrem Alltag (Flucht daraus), und verzichtet dabei in der

Darstellung weitgehend auf szenische Mittel, bzw. wählt vage,

oft schwer realisierbare Bühnenanweisungen42 und verläßt sich

ganz auf den Ausdruck der Sprache, darauf was durch sie ver­

mittelt werden kann.43

Darin liegt überhaupt der Reiz ihrer Stücke, daß man

zuhören muß, aber wohl auch das Problem, das Theaterleute

damit haben. Auf dem ersten Blick wirken die Stücke für

manchen banal, ohne große Handlung und Inhalt, zu leicht und

ohne klar definierbaren Konflikt, der sich am Ende auflöst.

Roth bricht mit bestimmten Regeln und Normen des ästhetischen,

dramatischen Diskurses, weil sie sich mit der traditionellen,

dialogischen Grundstruktur des Genres, die auf jeder Ebene

antithetische Positionen zum Ausdruck bringt und eindeutig

männlich konnotiert ist, nicht identifizieren kann. Daher

spielt sie in bewußt ironischer Form mit klassischen,

mythologieschen, als auch formalen Aspekten; in einem

Interview mit Anke Roeder äußert sich Roth dazu:

Das liegt an meiner Haltung. Einerseits liebe ich die klassischen Figuren und Geschichten, andererseits muß ich immer über sie lachen. Das ist furchtbar. Wenn ich selbst so schreiben würde, müßte ich mich totlachen über mich selbst. Damit ich mich nicht totlache, breche ich das

42z. B. die Regieanweisungen zur 8. Szene von Ritt auf die Wartburg: "Großer Tanzabend. Dieser Abend sollte in seiner Wirklichkeit sich doch vermitteln wie ein Traum." (35)

43Dies trifft vor allem auf Klavierspiele zu, SIE ändert ihr Sprachverhalten, ihren Sprachgebrauch: je mehr sie sich vom Mann (ER) distanziert, desto selbständiger sie wird. 18

klassische Element.44

Um mit einem Element, einer Tradition brechen zu können, ist es notwendig dieselben zu durchschauen, und zu erkennen, wofür sie stehen: "klassisch" steht für die dominante, weiße, patriarchale, bürgerliche Perspektive. In dieser Aussage spricht Roth diesen "double-bind" an, in dem sich Frauen immer wieder finden, zum einen haben sie diese alten Figuren und

Geschichten, die ein Produkt männlicher Imagination sind, so internalisiert, daß sie an ihnen Gefallen finden, sich in ihnen wiedererkennen, zum anderen aber sind sie ihnen fremd und sind der Inbegriff der Unterdrückung, der sie als Frauen ausgesetzt sind.

Friederike Roths bewußter Gebrauch von Sprache und Form zur Vermittlung der Inhalte und Themen in ihren Stücken, der sich nicht an den gängigen dramatischen Diskursen und Dialogen messen läßt, bringt eine neue Herausforderung an das Genre; ihre Sprache und Dialoge, die von Kritikern sehr oft als zu

"lyrisch" und "poetisch" für ein Drama abgetan, und im

Negativen mit ihrem "Frausein"45 verbunden werden, ist meiner

Meinung nach, eine bewußte Brechung mit tradierten Normen. Es ist eine Strategie, um aus der seit Jahrhunderten exi­

^Roeder 44.

45Wenn männliche Kritiker bestimmte von Frauen angewandte Strategien oder Techniken nicht einschätzen können, wenn sie gegen ihre ästhetischen Forderungen verstoßen, gemessen natürlich an ihrem präskriptiven Kodex, dann wird das oft mit ihrem "Geschlecht", dem "Frausein" in Verbindung gebracht, und zwar in einer negativen Konnotation, und danach bewertet. 19

stierenden Tradition auszubrechen, um mit der Gattung auf ihre

Art umgehen zu können.

Roth setzt sich mit der patriarchalen Perspektive im dramatischen Diskurs auseinander, hinter dem sich ideologische

Aussagen verbergen, die von bestimmten Voraussetzungen bezüglich gesellschaftlicher und zwischengeschlechtlicher

Beziehungen ausgehen, und diese Voraussetzungen als natürlich und universal betrachten und vermitteln, obwohl sie konstruiert sind und einem bestimmten Zweck dienen. Die

"klassischen Figuren und Geschichten" sind Konstrukte, die eine patriarchale, männliche Perspektive reflektieren, solche

Geschichten und Figuren zu erfinden,46 würde bedeuten, eine männliche Perspektive einzunehmen. Das kann (oder besser will)

Roth nicht, denn sie schreibt aus einer anderen Perspektive, bewußt als Frau.

Mit dieser Untersuchung möchte ich aufzeigen, daß und wie

Roth aus einer feministischen Perspektive heraus schreibt und sich ständig mit der dominanten Perspektive auseinandersetzt, indem sie Figuren (vor allem Frauenfiguren) darstellt, die diese dominante Perspektive verinnerlicht haben, diese aber

46Roth hat einen kurzen Text, "Der Figurenf inder", verfaßt, in dem sie die Aufgaben des "Figurenfinders" (des Autors) darlegt, aber diese am Ende des Textes zugleich wieder auf hebt, denn "der Figurenerfinder, von dem bis jetzt die Rede war, bzw. der bis jetzt von sich redete, ist eine so redend erfundene Figur. Denkbar sind noch ein paar ganz andere Figurenerfinder; die würden ganz andere Dinge sagen." Friederike Roth, "Der Figurenfinder," Schreiben. Frauen Literatur Forum 29/30 (1986): 59. zugleich auch ablehnen, weil sie einen Interessenkonflikt,

einen Widerspruch in sich selbst wahrnehmen und auf der Suche

sind nach etwas Anderem, nach einer neuen Wirklichkeit. Ein

Bereich, in dem Roth ohne Frage mit jeder Tradition bricht,

ist die Anzahl und Wichtigkeit der Frauenfiguren in ihren

Stücken. Sehen wir auf die dramatische Tradition zurück, in

welcher der prozentuale Anteil von Frauen- gegenüber Männer­

charakteren ausgesprochen klein war47, dann stellen Roths

Stücke im Vergleich, in denen keine männlichen Protagonisten

und auch ansonsten wenige Männerfiguren Vorkommen, einen

revolutionären Schritt dar. In Roths gesamtem, dramatischem

Werk stehen Frauen im Mittelpunkt; ihre Perspektiven werden

dargestellt und gleichzeitig werden die Brüche, die Schäden

und Widersprüche in diesen Darstellungen offengelegt. Würde

man aus Roths Stücken die Frauenrollen streichen, dann bliebe

nichts, man könnte nicht rekonstruieren, worum es geht, da die

Hauptrollen von Frauen besetzt werden, die Perspektive ein­

deutig eine von Frauen ist, die zentrale Thematik sich im

Leben von Frauen abspielt und Fragen bezüglich weiblicher

Selbstfindung, Selbstverwirklichung und Auseinandersetzung mit

Weiblichkeitsbildern unter Bedingungen der zeitgenössischen

Wirklichkeit Ende der 70er und in den 80er Jahren aufwirft.

Roth verfolgt damit, wie andere zeitgenössische Drama­

47Natürlich soll man hier nicht die ganzen von männlichen Autoren geschaffenen "großen" Frauenfiguren vergessen, aber diese geben wenig Einblick in die Erfahrungen, die von Frauen alltäglich gemacht werden. 21 tiker innen48, ein Anliegen und Interesse, das man als feministisch auffassen kann, obwohl sich Roth dazu nicht spezifisch äußert, d. h. sich nicht als Dramatikerin mit feministischer Perspektive definiert, wie es z. B. Elfriede

Jelinek tut. Auf jeden Fall sind Einflüsse aus der Frauen­ bewegung und den feministischen Diskussionen in Roths Dramen erkennbar. In einem Interview mit Anke Roeder erklärt Roth ihren Standpunkt bezüglich der Aufgabe der Schriftsteller:

Ich kann doch als Schriftstellerin nicht mit dem Zaunpfahl winken und die Welt ernst über ernste Themen aufklären. Ich würde über mich selbst lachen. Deshalb muß ich ironisieren und spielen, wobei unter dem Spiel natürlich der Ernst versteckt ist. Spiel ohne Einsatz ist kein Spiel.49

Theater ist Theater, es ist ein Spiel mit Figuren, Geschich­ ten, Wirklichkeiten, das sich um ein Thema (oder mehrere) windet und als Unterhaltung konsumiert werden kann, gleich­ zeitig aber gesteht Roth ein, daß Theater natürlich immer mehr als nur bloße Unterhaltung ist, daß (Gesellschafts)Kritik verschleiert vorhanden ist, und sie als Dramatikerin doch mit dem "Zaunpfahl** winkt--d. h. ihre Stücke einen politischen

Standpunkt vertreten. Gegeben durch die Auswahl der Thematik, der Protagonistinnen, und des bewußten Rollenspiels in einzelnen Stücken kann man in ihrem gesamten, dramatischen

Werk eine feministische Tendenz verfolgen.

48z. B. Elfriede Jelinek, Gerlind Reinshagen, Ursula Krechel; alle befassen sich hauptsächlich mit Frauen und ihrem Dasein, Alltag und Perspektive in einer patriarchalischen Realität.

49Roeder, 47. 22

Dies trifft auf alle Stücke von Roth zu, denn ihre

fiktiven Frauen leben in einer Zeit des gesellschaftlichen

Umbruchs, der zum Teil durch den Einfluß der ersten Welle der

Frauenbewegung hervorgerufen wurde, und dieser wirkt sich auf das Verlangen nach Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit aus, aber zugleich sitzen die Fesseln des Patriarchats, die dadurch auferlegten Einschränkungen und Rollenzuteilungen doch noch sehr tief. Die gegenseitige Abhängigkeit voneinander (bei

Frauen ausgeprägter dargestellt) in der Mann/Frau Beziehung wird von Roth auf einen sexuellen Kern reduziert, der letzt­ endlich die Beziehungen motiviert und an dem sie auch scheitern bzw. der Frustration und Konflikt hervorruft, weil

Frauen bei Roth letztlich doch immer mehr als nur sexuelle

Befriedigung wollen, sie sich nach Wärme und Sicherheit, d. h.

Liebe sehnen.50 Die Suche nach Liebe und Harmonie sind Teil der unbewußten Suche nach Selbstverwirklichung und -findung.

Im Titel seiner Rezension "'SIE' weder mit noch ohne"51 drückt

Jürgen Schmidt das Verhältnis der Frauen zu den Männern in

Roths Stücken trefflich aus, und verweist damit auf die

Position des "Dazwischen", die man bei Roth in allen Formen

5UZ. B. IDA in Ritt auf die Wartburg; SIE in Klavier­ spiele ; in Krötenbrunnen suchen alle nach anhaltender Liebe, die Bildhauerin, die Schauspielerin— aber sie kommen nicht über den kurzen sexuellen Kontakt hinaus; in Die einzige Geschichte sind es beide, die "eine" und die "andere" Frau, die sich in verschiedenen Verkörperungen von Frauen nach Liebe s e h n e n .

s,In:Jürgen Schmidt, "'SIE' weder mit noch ohne" Stuttgarter Nachrichten 18.2.1981. 23

und immer wieder antrifft. Die Frauen fühlen sich in den

konstruierten Weiblichkeitsbildern, die sich in den

Positionen, die sie in ihren Beziehungen einnehmen, wider­

spiegeln, gefangen und wollen daraus ausbrechen. Dieses oft

unterbewußt empfundene Verlangen auszubrechen, offenbart sich

auf unterschiedliche Weise. Das naheliegenste, das sich

bietet, sind Träumereien, Sehnsüchte, Phantasien und

idealisierte Alternativen, die im extremen Gegensatz zu ihren

alltäglichen, gelebten Beziehungen, zu ihrem Leben stehen,

aber doch daraus entstehen— als Fluchtpunkt52. Sie selbst

befinden sich ständig in diesem "Dazwischen", zwischen alten,

traditionellen und neuen, für sich selbst noch nicht ent­

worfenen Rollen. Das alte, traditionelle Rollenverständnis,

das die Frauen zu einem bestimmten Grad noch "verkörpern", da

sie durch ihren Körper nach außen hin kulturelle Bedeutungen

und sexuelle Objektivierung repräsentieren und diese auch

internalisiert haben, kommt ins Wanken und löst neue Impulse

aus, die gleichzeitig auf das Dilemma, in dem sich die Frauen

befinden, verweisen. Roth entwirft keine utopischen Rollen,

sie stellt nicht dar, wie es sein könnte, das ist zu diesem

Zeitpunkt noch nicht möglich. Ihre Frauenfiguren sind noch viel zu sehr mit der Vergangenheit und in ihrer Gegenwart verstrickt, in der an der Oberfläche scheinbare Gleichbe­

52Dies kommt besonders in Ritt auf die Wartburg zum Ausdruck, und wird von den Figuren artikuliert. "ANNA ich hab bis jetzt geglaubt, diese Reise gäbs immer nur als Planung. THEA Als Wunsch. Genau." (10) Die Phantasien, Wünsche werden in die Wirklichkeit umgesetzt. rechtigung praktiziert wird, die jedoch versteckt dazu benutzt

wird, Frauen an Männer anzupassen, sie zusätzlich zu belasten

und jede freie Entfaltung zu unterminieren. Viele Frauen­

figuren bei Roth sind irritiert, konfus und auf der Suche nach

neuen Bestimmungen und Rollen; was jahrhundertelang eingeprägt

wurde, die Unterdrückung und das Inferioritätsgefühl kann

nicht plötzlich abgelegt werden, da es vor allem noch keine wirklichen Alternativen gibt. Die Frauen sind Gefangene in

ihren geschlechtsspezifisch konnotierten Körpern und dem

teilweise noch fremdbestimmten Denken, bei jedem Ausbruchs­ versuch aus ihrer unterdrückenden Umgebung nehmen sie diese mit Einschränkungen besetzten Körper und ihr gegen sich selbst gerichtetes Denken mit.

Untersuchunascreaenstand

Anhand von Ritt auf die Wartburg. Krötenbrunnen. Die einzige Geschichte. Das Ganze ein Stück und das vorerst letzte

1992 erschienene Stück Erben und Sterben möchte ich in dieser

Arbeit Friederike Roths Darstellung der Frauen, ihre Erfah­ rungen in Beziehungen und im Prozeß der Selbsterkenntnis (bzw. die Vermittlung dieses Versuchs) untersuchen. Damit zusammen­ hängend und ineinander übergehend fällt die Analyse der Weib­ lichkeitskonstruktionen und der speziellen Techniken (z. B.

Sprache, Montage, Bruch mit dem linearen Fortschreiten von

Geschehen, als formalen Widerstand gegenüber dem Schaffen von dominanten Subjektpositionen), die Roth anwendet, um eine/n kritische/n, distanzierte/n Leserin/Zuschauerin zu schaffen, die/der für sich Schlüsse aus dem Präsentierten zieht. Werden im traditionellen Theater den Frauenfiguren ganz bestimmte

Rollen zugeteilt, z. B. als das Zentrum, um das herum das männliche Subjekt sein sexuelles Begehren organisiert, oder ganz einfach zur Ergänzung des männlichen Charakters, so kann man sagen, daß in Roths Stücken, die Zentralität der Frauen, ihre Belange, die Bedingungen ihrer Realitäten und die

Perspektive davon Priorität hat. Es sind die kleinen all­ täglichen Leiden und Verstümmelungen, der unbewußte Haß gegen eine manipulierende, diskriminierende männliche Realität und gegen sich selbst, die im Mittelpunkt stehen. Die Frage nach der Möglichkeit von weiblichen Identitäten und Subjekt­ positionen steht im Vordergrund ihrer Stücke, und dem, wie

Roth dies thematisiert, gilt mein Interesse.

Themen wie Macht, Feminismus, Klasse, Sexualität, Weib­ lichkeitskonstrukte, Kultur, West/Ost-Beziehungen werden aus der Perspektive und den Erfahrungen von Frauen dargestellt, und damit bewußt in Beziehung zum "Geschlechtersystem" gesetzt. Dieses manifestiert sich in allen sozialen Bezieh­ ungen (Klasse, Arbeit, Rasse, Sex, Religion), denn Frauen und

Männer nehmen in diesen sozialen Beziehungen unterschiedliche

Positionen ein, bzw. werden bedingt durch ihr Geschlecht in verschiedene Positionen gedrängt. Frauen (dasselbe gilt für

Männer) nehmen jedoch nicht nur einfach dieselbe Position ein 26

(das setzte voraus, alle Frauen wären gleich), sondern ihre

Erfahrungen und ihre Positionen in den diversen, sozialen

Beziehungen werden durch ihr Geschlecht, aber auch durch andere Faktoren wie Klassenzugehörigkeit, Rasse, sexuelle

Orientierung, ethnische und religiöse Zugehörigkeit beeinflußt.

Dieser Arbeit liegen zwei Ziele zugrunde: Über Friederike

Roth, eine der wenigen deutschsprachigen Dramatikerinnen, deren Stücke in den 80er Jahren an größeren Theatern53 in der

BRD uraufgeführt wurden, und der für ihr zweites Stück Ritt auf die Wartburg 1984 der renommierte "Gerhart-Hauptmann-

Preis" verliehen wurde, kann man in deutschsprachigen Theater­ zeitschriften54, regionalen und überregionalen Zeitungen

Berichte lesen. Die germanistische und literaturwissenschaft­ liche Forschung hat sich bis jetzt sehr zurückhaltend gegen­

über Roth verhalten, gibt es soweit nur einen ausführlicheren

Literaturlexika-Artikel55, ein Essay56, 5 längere Artikel57,

“Hamburger Schauspielhaus; Württembergischen Staatsschauspiel in Stuttgart, am Stuttgarter Kleinen Haus; Bremer Schauspielhaus und im Werkraumtheater "Concordia"; Düsseldorf, an den Kammerspielen des Kölner Schauspiels.

Mz. B. Mehrere Interviews, Rezensionen und Artikel in Theater Heute und in der TheaterZeitSchrift (siehe Biblio­ graphie) .

5SVgl. Rita Mielke, "Fiederike Roth" in : Heinz Ludwig Arnold (Hg.) KLG. Bd. 5, München (Stand: 1.8.1986)

56Vgl. Marion Fiedler, "Friederike Roth", in: Heinz Puknus (Hg.) Neue Literatur der Frauen. Deutschsprachige Autorinnen der Gegenwart (München: 1980) 249-251. 27

Interviews58 und mehrere Erwähnungen in allgemeineren Artikeln

zu "Frauen und Theater"59. Überraschend scheint mir, daß die

feministische Literaturwissenschaft sich noch kaum mit

Friederike Roths Dramen befaßt hat, obwohl gerade im letzten

Jahrzehnt ein verstärktes Interesse für "Frauen im Theater"60 zu bemerken war. Diese Untersuchung ist motiviert durch den

Umstand, daß Friederike Roth in der wissenschaftlichen

57Vgl. Edith Wack, "Kein Grund zur Freude. Über die Rezeption von Friederike Roths 'Ritt auf die Wartburg'", TheaterZeitSchrift 9 (1984): 40-56; Rita Mielke, "Sprach­ stücke. Friederike Roth als Theaterautorin", Fürs Theater schreiben: Über zeitgenössische deutschsprachige Theater­ autorinnen (Bremen: Frauen + Spuren, Frauenliteraturverlag, 1986) 60-67; Hajo Kurzenberger, "Friederike Roth: 'Ritt auf die Wartburg'", Deutsche Geoenwartsdramatik. Hrsg. Lothar Pikulik (Göttingen: Vandenhöck und Ruprecht, 1987) 7 0-97; Lucinda Rennison, "'Dramatisches Talent hat sie nicht, doch viele schöne Worte'— Friederike Roth as a Playwright", A Radical Stage: Theatre in Germanv in the 1970s and 1980s. Hrsg. W. G. Sebald (Oxford: Berg Publishers Ltd., 1988) 52-63; Renate Becker, "'Liebe ist Mode' Friederike Roths 'Das Ganze ein Stück'", Deutsches Drama der 80er Jahre. Hrsg. Richard Weber (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992) 234-249.

58Vgl.: Elisabeth Heinrichs, "Sätze bauen, Herzen ausreißen, Köpfe abschlagen: ein Gespräche mit der Dichterin Friederike Roth", Theater heute 3 (1981): 39-42; Uschi Schmitz, "'Schreiben ist mir wichtiger als die Realität' Ein Interview mit Friederike Roth", TheaterZeitSchrift 7 (1984): 17-20; Anke Roeder, "Friederike Roth: 'Jedes Scheitern der Liebe ist ein Tod oder Die schönsten Träume scheitern am schrecklichsten'", Autorinnen: Herausforderungen an das Theater (Frankfurt/M: Suhrkamp, 1989) 39-51.

59Vgl.: Ursula Dubois, "Strukturen von Sprache und Dramaturgie deutschsprachiger Autorinnen", Frauen im Theater. Dokumentation 1986/87 (Berlin: Papyros-Druck-GmbH, 1988) 8-20.

“im März 1980 fand in Köln ein internationales Frauen- Theater-Festival statt, dem folgte im Mai 1984 in Berlin die Konferenz "Frauen im Theater" (FiT), die in der gleichnamigen Publikation dokumentiert ist. (siehe dazu: Sue-Ellen Case und Ellen Donkin, "FIT: Germany's First Conference for Women in Theatre" Women and Performance 2, Nr. 2 (1985): 64-73) 28

Sekundärliteratur bislang noch kaum Beachtung fand, obwohl sie

dies in mehrerer Hinsicht verdiente. Diese Arbeit soll dazu

beitragen, durch detaillierte Analysen einzelner Dramentexte,

Roths Standpunkt in Bezug auf theoretische Fragen, wie z. B.

die Repräsentation von Frauen in der dominanten Kultur und im

dramatischen Genre, zu beleuchten und den Einfluß zu zeigen,

den die Frauenbewegung und die feministischen, theoretischen

Ansätze, die den historischen Hintergrund zu ihrem Werk

bilden, auf ihr Schaffen hatten. Obwohl sich Roth selbst von

jeder feministischen Intention, die man in ihrem dramatischen

Werk suchen und finden könnte, distanziert, möchte ich mit

dieser Arbeit versuchen, eine feministische Grundhaltung der

Autorin und wie sich diese in ihren Texten reflektiert, zu

zeigen. Dabei werden die fünf ausgewählten Dramen61 in chrono­

logischer Reihenfolge untersucht, da so formale Entwicklungen

und wiederkehrende Themenkomplexe in ihrer Variation besser

gezeigt werden können. Meine Analyse und Interpretation konzentriert sich auf die veröffentlichten Dramentexte und

theoretischen Reflexionen der Autorin. Bemerkungen zur

Literatur, zum Theater, zum eigenen Schreiben und Überlegungen

zur "weiblichen Ästhetik", wie sie in Interviews dargelegt wurden, fließen in die Interpretation ein und werden dort nach

Bedarf eingehender erläutert.

6I1. Ritt auf die Wartburg (1982); 2. Krötenbrunnen (1984); 3. Die einzige Geschichte (1985); 4. Das Ganze ein Stück (1986); 5. Erben und Sterben (1992). Obwohl ich Roths Stücke als "feministische Dramen" verstehe und interpretiere, bin ich mir zugleich bewußt, daß

ich mit dieser Kategorisierung bei vielen Kritikern auf

Widerstand stoße, da man allgemein davon ausgeht, daß politische Aussagen62 nicht einzelnen literarischen Werken innewohnen, sondern nur im Zusammenhang mit dem sozio- historischen Moment ihrer Produktion und Rezeption als solche entziffert werden können. Sicherlich gibt es mehrere Faktoren, die dazu beitragen, daß man in literarischen Werken bestimmte politische Tendenzen erkennen kann. Von entscheidender

Bedeutung ist dabei der historische Kontext, in dem die

Autorin lebt und ihre literarischen Werke schreibt, und dem

Verständnis, das der/ie Leserin davon hat. Ein literarischer bzw. dramatischer Text ohne Leserin/Zuschauerin hat keine

Funktion, deshalb ist die Rezeption eines Kunstwerkes von entscheidender Bedeutung. Der/ie Rezipientin ist beim Lesen genauso wie der/ie Autorin beim Schreiben kulturellen, historischen, geschlechtsspezifischen Codes ausgesetzt, welche sich im literarischen Werk thematisch aber auch formal nieder- schlagen, und sich auf die jeweilige Interpretation auswirken.

So gesehen hat jedes Kunstwerk eine politische Aussage, wenn man es im soziohistorischen Kontext seiner Entstehung sieht, da es immer (bewußt oder unbewußt) im Sinne einer Ideologie verfaßt wird, und entweder zur Aufrechterhaltung der

“Dasselbe Argument spricht auch gegen eine sozialistische Literatur. 30 dominanten Ideologie beiträgt, oder aus einem anderen

ideologischen Standpunkt heraus diese angreift.

Feminismus ist keine monolithische Ideologie, und vertritt keinen einheitlichen Standpunkt, sondern eine

Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven, welche verschiedene

Maße von Radikalität demonstrieren. Allen feministischen

Theorien ist der Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen gemeinsam, und die Frage wie die Befreiung daraus erreicht werden soll, und worin letztlich die Ursachen dieser jahr­ hundertelangen Unterdrückung gründen. In Bezug auf die zwei letzten Punkte scheiden sich die Ansichten der diversen

T h e o r i e n .

In den letzten zwei Jahrzehnten wurde von vielen unter dem Einfluß der Frauenbewegung stehenden Autorinnen--u. a. auch Friederike Roth— Literatur verfaßt, in der Fragen mit politischem, feministischem Inhalt angesprochen wurden. Werden solche literarischen Werke als Reaktion auf ihren historisch­ kulturellen Kontext gesehen, dann berechtigt dies, sie als feministische Literatur zu klassifizieren, da sie sich an der

Diskussion feministischer Ideen wohlwollend beteiligen. Da die

Kategorie 'feministische Literatur7 eine große Anzahl von zeitgenössichen Texten mit einer Vielfalt feministischer

Standpunkte umfaßt, erschwert dies das Festlegen von

Kriterien, die feministische Literatur definieren. Verbunden mit den diversen, ideologischen Standpunkten ist auch die

Schwierigkeit, eine Trennungslinie zwischen feministischen 31

Texten und Texten, in denen Frauen nur als Protagonistinnen

Vorkommen, festzusetzen. Während feministische Texte immer das

Leben, die Probleme und Situationen von Frauen zum Gegenstand haben und meistens Frauen als Protagonistinnen haben, muß ein

Text mit z. B. weiblichem Protagonisten nicht unbedingt feministisch sein.

Meine Definition von feministischer Literatur/Dramatik ist deshalb eine relativ allgemeine, welche alle jene Texte einschließt, die ein kritisches Bewußtsein bezüglich der

Unterdrückung der Frauen, und der damit eng in Verbindung stehenden Geschlechtskategorien, die die Aufrechterhaltung dieser Unterdrückung begünstigen, bzw. immer wieder neu reproduzieren, erkennen lassen. Wichtig ist die kritische

Auseinandersetzung mit feministischen Ideen; wie sich diese dann in den einzelnen Werken manifestieren— das kann variieren. Anhand der Diskussion einzelner Dramen von

Friederike Roth möchte ich darlegen, wie die Autorin die

Situation und den Kampf der Frauen darstellt, und inwiefern ihre Stücke die Möglichkeit einer "feministischen Ästhetik" unterstützen. "Feministische Ästhetik" bei Roth könnte man auch als eine "Ästhetik des Mangels" bezeichnen, und es ist der Mangel, der in jeder Hinsicht die ganzen Theatertexte

Roths miteinander verbindet: Mangel der Ausdruckskraft, Mangel an Liebe, Nähe, Identifikationsmöglichkeiten, Sprache, Origi­ nalität etc. . Mangelgefühle beherrschen jeden einzelnen Sektor der "weiblichen" Lebensumstände, und es sind diese Verlustge­ 32 fühle, aus denen heraus die patriarchale Umgebung und Wirk­ lichkeit erfahrbar gemacht werden.

Überlegungen zur feministischen Theater/Dramenkritik und zur Möglichkeit einer "feministischen Ästhetik".

Theater von Frauen ist das Genre, das trotz des

Aufblühens63 während der 80er Jahre am wenigsten wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhielt, vergleicht man es mit den zahlreichen kritischen Veröffentlichungen zur Prosa und Lyrik von Frauen, die in den letzten zwei Jahrzehnten erschienen. Während sich die feministische Literaturwis­ senschaft in den USA und in Großbritannien schon seit Ende der

70er Jahre mit der Verbindung von Theater und Feminismus64 beschäftigt, und sich daraus überaus wertvolle Beiträge wie z.

B. Jill Dolans The Feminist Spectator as Critic (1988), Sue-

Ellen Cases Feminism and Theatre (1988) und Lynda Harts (Hg.)

63Man kann wirklich von 'Aufblühen' sprechen, vergleicht man die 8 0er Jahre mit vorhergehenden Jahrzehnten. Stücke von Gerlind Reinshagen, Elfriede Jelinek, Friederike Roth, Ursula Krechel, Maja Beutler, Monika Maron, Jutta Heinrich u. a., die sich mit Frauen und ihren Erfahrungen befassen, werden aufgeführt.

MBei den ersten Veröffentlichungen handelte es sich um Anthologien wie z. B. Helen Krich Chinoys und Linda Walsh Jenkins Women in American Theatre (Crown, 1981) oder Michelene Wandors Plavs bv Women Vol. 1-4 (Methuen, 1982) und um Interviewsammlungen wie Kathleen Betskos und Rachel Koenigs Interviews with Contemporary Women Plavwrights (Beechtree Books, 1987). Andere Veröffentlichungen aus dieser Zeit: Karen Malpede, Women in Theatre: Compassion and Hope (Drama Book Specialists, 1983); Helene Keyssar, Feminist Theatre (Grove Press, 1985); Janet Brown, Taking Center Stage: Feminism in Contemporary U. S. Drama (The Scarecrow Press, 1991). Makinq a Spectacle; Feminist Essays on Contemporary Women's

Theatre (1989) entwickelten, sieht die Situation in der

feministischen Germanistik in dieser Hinsicht düster aus. Seit

November 1983 gibt es die Initiative "Frauen im Theater"

(FiT), die sich jährlich trifft und dieses Treffen in dem eigens dafür gegründeten Journal FiT65 dokumentiert. In diesem

Forum diskutieren Regisseurinnen, Dramatikerinnen und Produ­

zent innen die Schwierigkeiten, mit denen Frauen im Mainstream

Theater konfrontiert werden, und sie setzen sich mit der Frage auseinander, inwieweit und wie es möglich sei, feministische

Perspektiven ins Theater einzubringen. Neben diesem Journal gab es in den letzten Jahren noch zwei sehr allgemeine Buch­ veröffentlichungen zum Thema Frauen und Theater, die beide bei

Suhrkamp erschienen: 1987 Spetaculum. eine Anthologie von

Theaterstücken von sieben Autorinnen66 des zwanzigsten Jahr­ hunderts; 1989 Autorinnen: Herausforderungen an das Theater, eine Interviewsammlung von Anke Roeder. 1986 hat die

Literaturzeitschrift Schreiben eine Ausgabe unter dem Titel

Fürs Theater schreiben. Über zeitgenössische deutschsprachige

Theaterautorinnen herausgebracht; die Auswahl der darin abgedruckten Artikel verweist auf die Fülle und Vielfalt dieses noch relativ neuen Untersuchungsgegenstandes. Andere

65In FiT werden die Referate, sowie die wesentlichen Punkte in den Podiumsdiskussionen abgedruckt.

“Jeweils ein Stück von Else Lasker-Schüler, Marieluise Fleißer, Nelly Sachs, Gerlind Reinshagen, Friederike Roth, Marguerite Duras und Dunja Barnes. 34

Untersuchungen von Karin Wurst67, Dagmar von Hoff68 und Renate

Möhrmann befassen sich mit Dramatikerinnen aus vergangenen

Jahrhunderten, bzw. mit der allgemeinen Situation der Frauen

im Theater.

Von allen literarischen Gattungen ist die dramatische die traditionellste, diejenige, die am strukturiertesten und präskriptivsten ist, und in Form und Inhalt Objektivität und

Darstellung des Allgemeingültigen, Universalen beansprucht und

fordert. In den an das Genre gestellten und als normativ angesehen, ästhetischen Forderungen und Ansprüchen69 spiegeln sich noch Ideen einer vor zweitausend Jahren in Griechenland dominierenden, patriarchalen Kultur, die Frauen den Zugang zu allen öffentlichen Institutionen, darunter auch das Theater, versperrte. In ihrem Buch Feminism and Theatre70 legt Sue-

Ellen Case den Zeitpunkt, zu dem Frauen aus dem Theater

67Frauen und Drama im achtzehnten Jahrhundert (Köln: Böhlau Verlag, 1991).

68Pramen des Weiblichen. Deutsche Dramatiker innen um 1800 (Opladen, 1989).

69Diese Forderungen und Ansprüche wurden im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich interpretiert, daher kann man eine Entwicklung sehen, trotzdem wurden sie immer als Basis akzeptiert.

70Sue-Ellen Case, Feminism and Theatre (New York: Methuen, 1988) . Im ersten Kapitel "Traditional History: A Feminist Deconstruction" gibt Case einen ausführlichen Überblick über die Rollen und Repräsentationen von Frauen im griechischen und elizabethanischen Theater. verbannt wurden, auf das 5. Jh. v. Ch. fest71, und seitdem

nahm die Institution Theater aktiv an der Marginalisierung und

Unterdrückung der Frauen teil, nämlich Mby creating the new

gender role of 'Woman', which served to privilege the

masculine gender and oppress the feminine one."72 Forderungen

nach Objektivität und Universalität in jeder Art von Kunst­

produktion einer bestimmten Kultur werden von der dieser

Kultur zugrundeliegenden Ideologie beeinflußt, gleichzeitig

wird aber von der domininaten— z. B. patriarchalisch

organisierten— Kultur der Einfluß und Status einer möglichen

Ideologie vereitelt, sie wird als Nicht-Ideologie naturali­

siert, d. h, als natürliche, universale Perspektive konzi­

piert. Genauso wird Repräsentation im Theater durch eine

zugrundeliegende Ideologie manipuliert, und beteiligt sich

dadurch an der Schaffung neuer bzw. an der Aufrechterhaltung

alter, sogenannter 'natürlicher', gesellschaftlicher Ordnun­

gen. Jill Dolan faßt in ihrem 1988 erschienenen Buch The

Feminist Soectator as Critic73 die feministische Einschätzung

des dominanten, scheinbar neutralen Darstellungsapparates

7l,,In the sixth Century, both women and men participated in them, but during the fifth Century, when the ceremonies were becoming what is known as theatre, women disappeared from the practice." Case, Feminism and Theatre 7.

72Case, Feminism and Theatre 9.

73s. Jill Dolan, The Feminist Spectator as Critic (Ann Arbor, Michigan: UMI Research Press, 1988). In diesem für die feministische Theaterkritik aufschlußreichen Buch untersucht Dolan verschiedene feministische Ideologien (radikaler, liberaler und sozialistischer Femismus) und deren kritische Perspektiven dem Theater gegenüber. 36

bündig zusammen:

One of the basic assumptions of feminist criticism is that all representation is inherently ideological. Since dominant cultural meanings both constitute and are reconstituted by representation, deconstructing perfor- mance from a feminist perspective entails uncovering the ideological determinants within which performance works. Ideology defines a way of thinking, a particular set of worldviews that works as its own hermeneutics. No one is without ideology; people are raised with and cultivate certain ways of thinking and seeing that help them make sense of their culture. Ideology is based on assumptions about how the culture operates and what it means. 4

Die "männliche" Perspektive, das "männliche" Maß, das sich

allgemein unter dem Deckmantel "universal" verbirgt, geht von

einer dem Patriarchat inhärenten Ideologie75 aus, mit dem sich

Kritiker, welche die "Universalität" bestimmter von Frauen

bevorzugter Themen oder neuer, dramatischer Formen in Frage

stellen, genauso identifizieren. In deren Rezensionen und

kritischen Besprechungen kommen daher oft tiefliegende Vorur­

teile gegen das weibliche Geschlecht zum Vorschein, indem auf

typisch weiblichen Stil und Formen (was man/n auch immer

darunter versteht!) verwiesen wird, obwohl bei männlichen

Autoren nie Bemerkungen über ihren männlichen Stil fallen.

Das dramatische Genre war und ist das der Öffentlich­

keit76 am meisten zugewandte, dies zeigt sich auf verschiedene

74Dolan, The Feminist Spectator as a Critic 41.

75Zu jedem x-beliebigen, historischen Zeitpunkt haben wir es mit einem Konglomerat von ideologischen Einflüssen zu tun, die sich gegenseitig ergänzen und zur Aufrechterhaltung der dominaten Kultur beitragen.

76Aus historischer Sicht wurde die Öffentlichkeit in einem patriarchalen Kontext vor allem mit männlichen Zuschauern/ Lesern assoziiert, da diese die Ideologie der dominaten Kultur 37

Weise: sei es durch die Thematik, die in erster Linie allge­ mein menschliche— "männliche”— Probleme anspricht, sei es durch die Repräsentation des "männlichen" Subjekts, das sich erst durch Objektivierung der Frauen differenziert und artiku­ liert77, als auch durch die geschlechtsspezifische, d. h. nur dem männlichen Zuschauer und Leser Identifikationsmöglich­ keiten anbietende Perspektive.7* Die Institution Theater weist eine lange männliche Tradition auf, die in der patriarchalen

Gesellschaft der Antike wurzelt, und den Frauen durch ihren rechtlichen Status jeden Zugang versperrte.79 Drama war weiters eine Gattung, die Agressivität, Präzision in der

repräsentieren. Die Reaktion/Kritik dieser Öffentlichkeit bestimmt die Einstufung eines dramatischen Textes. "Männliche" Kritiker kommen mit Texten von Frauen nicht zurecht, wenn sie nicht in einer "männlichen" Manier geschrieben sind.

77s. Jill Dolan, The Feminist Soectator as Critic 2. Sie beschreibt die Identifikationsschwierigkeiten wie folgt: "Finding her positon compromised if she allows herseif to identify with these women, the feminist spectator contemplates the option of participating in the play's narrative from the hero's point of view. She empathizes with his romantic exploits, or his activities in a more public sphere, but has a nagging suspicion that she has become complicit in the objectification or erasure of her own gender dass."

78s. Sue-Ellen Case, Feminism and Theatre (New York: Methuen, 1988). 1. Kapitel "Traditional History: A Feminist Deconstruction" (5-27) . Case weist daraufhin, wie sich der Ausschluß der Frauen aus der Öffentlichkeit auf die Darstel­ lung des Konzeptes "Frau" im Theater auswirkte, und wie sich das Theater als kulturelle Institution dadurch an der Unter­ drückung der Frauen beteiligte. In ihrem Artikel "Visual Pleasure and Narrative Cinema" Screen 16, Nr. 3 (Autumn 1975) erörtet Laura Mulvey das Problem, daß ein Film den Zuschauer immer als Mann anspricht, ihm Identifikationsmöglichkeiten anbietet. Das gilt auch für das Theater.

79Sue-Ellen Case, Feminism and Theatre 18. 38

Dialogführung und sprachliche Virtuosität forderte. Die

meisten Frauen wurden bis herauf ins 20. Jahrhundert dazu

erzogen, sanftmütig, still und häuslich zu sein. Eigenschaften

also, die nicht auf das Schreiben von Dramen vorbereiteten.

Bis in unsere Gegenwart herauf hatten Frauen mit dieser

literarischen Gattung immer besondere Probleme,80 weil sie

sich hier mehr anpassen mußten, als in allen anderen

literarischen Genres, um akzeptiert und aufgeführt zu werden, um vor der Öffentlichkeit zu bestehen,*1 oder vielleicht auch

aus Mangel an Vorbildern, die es zwar gab— Hroswith von

Gandersheim, nur um die früheste anzuführen— aber nicht im männlichen Kanon aufgenommen wurden. Jede Art von Innovation

oder Abweichung, die bei männlichen Kollegen begrüßt und teils wohlwollend unterstützt wurde, stieß— und stößt auch heute

8UNachdem sich Frauen in den letzten beiden Jahrzehnten im Theater in den verschiedensten Funktionen verstärkt bemerkbar machten, zeigten feministische Literaturwissenschaftlerinnen vermehrtes Interesse für die im Theaterkanon "abwesenden” Dramatikerinnen. Dieser Mangel an einer für alle zugänglichen "weiblichen" Tradition hat zu Recherchen angespornt, und zu verblüffenden Ergebnissen geführt: Es gab sie immer schon, angefangen bei Hroswith von Gandersheim im 9. Jh., wenn auch nur vereinzelt: Heike Klapdor-Kops, "Dramatikerinnen auf der deutschen Bühne. Notwendige Fortsetzung einer im Jahr 1933 unterbrochenen Reflexion," Theaterzeitschrift 9 (1984); Michaela Giesing, "Theater als verweigerter Raum. Dramati- kerinnen der Jahrhundertwende in deutschsprachigen Ländern," FrauenLiteraturGeschichte (1985) 240-260; Dagmar von Hoff, Dramen des Weiblichen. Deutsche Dramatikerinnen um 1800 (Opladen, 1989); Karin Wurst, Frauen und Drama im achtzehnten Jahrhundert (Köln/Wien, 1991).

8lMichaela Giesing schildert in ihrem Artikel "Theater als verweigerter Raum" einige der Schwierigkeiten, mit denen Dramatikerinnen konfrontiert wurden, wollten sie ihre Stücke aufführen. 39 noch— von Frauen kommend sehr oft auf Ablehnung und Kritik, und wird mit ihrem Geschlecht in Verbindung gebracht. So hat mann— der am männlichen literarischen Diskurs teilnehmende

Kritiker— vorgefaßte Vorstellungen darüber, wie ein dramatisches Werk funktionieren und aussehen sollte, und an diesen tradierten Modellen wird alles gemessen und gewertet, damit es in den präskriptiven Raster "Drama" paßt. Stücken von

Frauen widerfährt öfters das Urteil, daß sie nicht "drama­ tisch" seien, ihnen ein "Kern", ein Konflikt abgehe, im

Vergleich mit denen von Männern.

Daß Frauen "andere" Stücke schreiben, es einen Unter­ schied in den Themen, den Subjekt/Objektpositionen und - konstruktionen gibt, Inhalt anders gestaltet und organisiert wird, sie Sprache anders verwenden, das zeigt sich in ihren

Texten. Da Frauen, sowohl durch materielle Bedingungen als auch in und durch soziale/n Beziehungen unterdrückt werden82, bedingt dies eine anders verlaufende Sozialisierung und

Sensibilisierung, eine eigene erworbene "weibliche" Per­ spektive. Hineingeboren in ein System, das Geschlechter­ trennung und -polarität zum Vorteil des biologisches männ­ lichen Geschlechts praktiziert, werden Frauen durch verschiedene, oft sehr subtile Unterdrückungspraktiken zum

"weiblichen", "sexualisierten" Geschlecht (Produkt) erzogen und dem herrschenden Wertsystem entsprechend degradiert.

82Die Beziehungen zum herrschenden System können für Frauen zusätzlich von der Klassen- und Rassenzugehörigkeit sowie von der sexuellen Orientierung beeinflußt werden. "Weiblichkeit" und "Männlichkeit" sind kulturell-soziale

Konstrukte, die dem biologischen Geschlecht (Frau/Mann) eine bestimmte Rolle in der Gesellschaft zuweisen. Nicht nur

Frauen, auch Männer sind Opfer dieser Geschlechterpolarisa­ tion, da, so sieht es Wartmann schon 1979, auch "Männer selbst nicht frei über ihre männliche Rolle verfügen können und ebenfalls gefangen sind in ein System von Denkmustern, das sie sich weder ausgesucht haben, noch über das sie überlegen verfügen könnten." Dennoch besteht zwischen dem Gefangensein in einer "männlichen bzw. weiblichen" Rolle ein Unterschied und zwar in dem Maße, "wie Männer nicht mit der bestehenden

Ordnung in Konflikt kommen müssen, wie Frauen das qua

Geschlechterzugehörigkeit 'angeboren7 ist," und Männer haben

"weitaus mehr als Frauen die Möglichkeit, sich mit der bestehenden Ordnung zu identifizieren.1,83

Daß Frauen diese anerzogene, "weibliche" Perspektive haben, sich ihrer bewußt bedienen und sie in ihre literarische

(künstlerische) Arbeit einbringen, um dadurch die verinner­ lichte Bezogenheit auf den Mann und die Identifikation mit ihm, sowie das Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Frauen und zum dominanten System kritisch zu beleuchten, und Kritik an den Unterdrückungsmechanismen des Systems zu üben,84 ist

83Brigitte Wartmann, "Schreiben als Angriff auf das Patriarchat," Literaturmaaazin 11 (Hamburg: Rowohlt, 1979): 117 .

^Dabei geht es nicht nur um Unterdrückungsmechanismen, die sich gegen Frauen, sondern auch um solche, die sich gegen eine Rasse bzw. Klasse, oder andere Minderheiten richten. mittlerweile— unter feministischen Literaturwissenschaft-

lerinnen— ein Allgemeinplatz. Diese "weiblichen" Erfahrungen

und Perspektiven, die durch die Geschlechtszugehörigkeit

bedingt werden, und Denken und Handeln beeinflußen und

bestimmen, da Frauen ständig in ihren Rahmen zurück verrückt

und verwiesen werden, spiegeln sich nicht nur in der Thematik

(das wäre der erste Schritt), sondern zeigen sich auch in der

bewußten Auseinandersetzung mit traditionellen Formen85, die

den Diskurs, durch den patriarchale Kultur konstiutiert wird,

bewahren. Spiegeln sich diese "weiblichen", reflektierten

Erfahrungen in dem Inhalt, der Form, der Sprache und dem Stil

eines Kunstwerks (was in unserer patriarchalen Gesellschaft

über Jahrhunderte hin mittels Ausschluß der Frauen aus der

Sphäre der künstlerischen Produktion zu verhindern versucht

wurde, um den universalen Anspruch der existierenden Kunst­

theorien nicht zu gefährden) , dann spricht man in femi­

nistischen Kreisen von einer "feministischen (weiblichen)

Ästhetik".86

85Dieser Wunsch nach Formbrechung und -Veränderung, nach alternativen Formen ist nicht nur ein Bestreben, das Frauen haben, sondern seit jeher und besonders im 20. Jh. gab es avantgardistische Gruppen, die Formexperimente durchführten.

86Im Dictionary of Feminist Theory (New York: 1989) findet sich folgende Definition von Ästhetik: "Literally, the school of philosophy which analyses the forms, values, and experience of art. Since this activity concerns the relationship between a works moral, psychological and social content and the work's production, form, function and effect, aesthetic questions are particularly relevant to feminism." (3-4) 42

Die Frage nach der Möglichkeit einer "feministischen

Ästhetik"87 beschäftigt die feministische Literatur-, Theater-

und Filmkritik schon seit Anfang der 70er Jahre. Einer der

frühesten Beiträge zum Thema, der in vielerlei Hinsicht

richtungsweisend war und auch heute noch in der Diskussion

Relevanz hat, kam von Silvia Bovenschen. In ihrem Aufsatz

"Über die Frage: Gibt es eine weibliche Ästhetik?"88 antwortet

Bovenschen auf die Frage, nach eingehender Untersuchung alter

und neuer Formen der Einschätzung weiblicher artistischer

Kompetenz, "(g)anz gewiß, wenn die Frage das ästhetische

Sensorium und die Formen des sinnlichen Erkennens betrifft;

sicher nicht, wenn darunter eine aparte Variante der Kunst­

produktion oder eine ausgeklügelte Kunsttheorie verstanden

wird."89 In der Auseinandersetzung mit dieser Frage gibt es

87Viele sprechen von "weiblicher" oder "feministischer" Ästhetik in einem Atemzug. Zu Beginn der Diskussion hat man die erste Bezeichnung der zweiten gegenüber vorgezogen. Ich bevorzuge die Bezeichnung "feministische Ästhetik", da femi­ nistisch eine bewußte Reflexion über das Geschlechtsspezi­ fische impliziert, und über das in unserer Sprache schon reichlich mit Konnotationen versehene "Weibliche" hinausführt. Auch bedeutet feministisch in diesem Zusammenhang nicht einfach das Schaffen einer "Gegen-Ästhetik", die nur in Relation zum bereits Vorhandenen stünde, sondern das Ziel ist es, feste, scheinbar unerschütterliche, traditionelle Normen und Regeln aufzubrechen, zu kritisieren und sie mit ihrem Wahrheitswahn vom hohen Sockel zu stoßen und zu einer neuen Ästhetik beizutragen.

88Bovenschens Aufsatz wurde ursprünglich in Ästhetik und Kommunikation 25 (1976) veröffentlicht und im Laufe der Jahre in mehreren Anthologien und Aufsatzsammlungen nachgedruckt.

89Silvia Bovenschen, "Über die Frage: Gibt es eine weibliche Ästhetik?" Die Überwindung der Sprachlosigkeit 112- 113. unter Feministinnen einen wachsenden Konsensus, der mit

Bovenschens Antwort vergleichbar ist. Man ist sich darüber einig, daß “weiblich" im Zusammenhang mit Ästhetik gebraucht werden kann, um auf die aus der Geschlechterassymetrie heraus entstandenen spezifisch weiblichen Wahrnehmungen und

Erfahrungen hinzuweisen, die es ohne Zweifel gibt, weil den

Frauen das "Weibliche" in einer patriarchalen Welt anerzogen und zur "ersten" Natur gemacht wird, sodaß "auch die einzelne nicht mehr unterscheiden kann, was an ihr 'erste' oder

'zweite' Natur ist."90 Es kann gar nicht genug betont werden, daß diese anderen Wahrnehmungen und Erfahrungen aber nicht von einer angeborenen, weiblichen Essenz ableitbar, also biologisch vorbestimmt sind, sondern das Ergebnis einer geschlechts-spezifisch orientierten und organisierten Kultur und Gesellschaft sind, in die jedes Kind hineingeboren und dadurch zur Frau oder zum Mann erzogen wird, mit den ganzen

Implikationen. Der Unterschied zwischen biologischem

Geschlecht und anerzogenem Geschlecht ist von entscheidender

Bedeutung, denn "gender"91, betont de Lauretis "is not sex, a state of nature, but the representation of each individual in terms of a particular relation which pre-exists the individual and is predicated on the conceptual and rigid (structural)

^Bovenschen 93.

9IDie englische Sprache drückt den Unterschied zwischen biologischem Geschlecht (sex) und dem anerzogenen Geschlechts­ verhalten (gender) durch verschiedene Wörter aus, während es im Deutschen nur das Wort "Geschlecht" gibt, das für beides steht. 44

Opposition of two biological sexes." 92

Die Debatte darüber, ob Männer und Frauen Kunst unter­ schiedlich voneinander produzieren, geht auf eine lange

Tradition zurück. Bis vor nicht allzu langer Zeit äußerten hauptsächlich Männer die Vermutung, daß sich das künstlerische

Potential der Frauen von dem der Männer unterscheide, und benutzten dies, um von Frauen geschaffene Kunst abzuwerten, bzw. aus ihrem Kanon auszuschließen. In der heutigen

Diskussion dieser Frage unter radikalen Feministinnen findet man diesen im Ton ähnelnde Äußerungen, die den Standpunkt vertreten, daß Frauen zwangsläufig ein anderes Verhältnis zur

Kunstproduktion haben, das sich aus der Biologie des weib­ lichen Körpers ableiten lasse. Diese Theorie, daß Frauen Kunst anders schaffen, da sie ihren Körper und ihre Sexualität anders erfahren und wahrnehmen, und auch Sprache anders erlernen, sodaß sie ihren Körpern näher verbunden bleibt, trägt zur weiteren Aufrechterhaltung der Polarisierung

"männlich/weiblich" bei, die den Frauen nur schadet,93 denn

"weiblich" wurde immer in Relation zu "männlich" gesehen und definiert. Jede neue Idealisierung von "Weiblichkeit", des

wTeresa de Lauretis, "The Technology of Gender," Technologies of Gender (Bloomington: Indiana UP, 1987): 5.

93Diese Theorie wird von radikalen Feministinnen vertreten, die an die Superiorität von Frauen glauben, und an einen essentiellen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Sowohl Sue-Ellen Case als auch Jill Dolan diskutieren in ihren Büchern die verschiedenen politischen Gruppierungen von Feministinnen in Bezug auf Theater. Siehe Case, Feminism and Theatre: Jill Dolan, The Feminist Soectator as Critic. weiblichen Körpers und einer weiblichen Sexualität birgt die

Gefahr in sich, und hat auch oft den Zweck, einen essentiel­

len, sexuellen Unterschied zwischen den Geschlechtern zu evozieren, und das biologisch weibliche dem männlichen

Geschlecht als Überlegen gegenüberzustellen.94 Damit wird nicht der Ausbruch aus männlichen Denkmustern erreicht, sondern die Bestätigung derselben dadurch, daß die

Geschlechtspolarisierung weiterhin aufrechterhalten wird, nur in verkehrter Hierarchie. Den biologisch "weiblichen” Körper in seiner Neutralität gibt es nicht mehr (oder noch nicht, oder hat ihn gar nie gegeben), sondern er ist ein Ort, an dem

"Weiblichkeit" inskribiert ist; "the female body" ist immer noch, so drückt es Dolan aus, "a sign which, when placed in representation, participates in a male-oriented signifying practice"95, deshalb kann dieser Körper nicht das rein authentisch "Weibliche" darstellen, ohne dies in Beziehung auf die bereits bestehenden, geschlechtsspezifischen Bedeutungen zu tun. Ob es überhaupt etwas authentisch "Weibliches", oder auch "Männliches", gibt, gab oder je geben wird, können wir zu diesem historischen Zeitpunkt nicht beurteilen.

MBei den Vertreterinnen des Programms der "ecriture feminine", Kristeva, Cixous, Irigaray, gewinnt das "Weibliche" eine zusätzlich neue Dimension, indem es zum Träger von utopischen Visionen des Semiotischen (Imaginären) wird, das die "symbolische" Ordnung durchbricht und (zer)stört. Das "Weibliche" steht für das Unterbewußte, das Unterdrückte, das Vorsymbolische, das sowohl in Frauen als auch in Männern existiert.

95Jill Dolan, The Feminist Soectator as Critic 83. 46

Diese Überlegungen müssen auch berücksichtigt werden,

wenn man von "weiblicher Ästhetik" spricht, wenn auch einige

(radikale) feministische Gruppen bewußt an eine der Frau

wesenseigene, intuitive Art des Kreierens und der Gestaltung

festhalten. Traditionelle Ästhetiktheorien96 wurden aus der

männlichen Optik konstruiert, die ebensowenig intuitiv und

wesenseigen ist, sondern die Theorien basieren auf ästhe­

tischen, ideologischen Standards, denen dieselben patriar­

chalen Vorurteile zugrunde liegen, welche auch die materielle,

wirtschaftliche und soziale Ordnung einer ganzen Kultur

organisier(t)en. Feministische, ästhetische Ansätze97 gehen—

^Natürlich hat ein Wandel innerhalb der ästhetischen Theorien stattgefunden, der durch neue, soziohistorische, materialistische Impulse und Theorien, wie z. B. den Marxismus, oder avangardistische Kunst, herbeigeführt wurde. Von marxistischer Seite gab es Angriffe auf die traditionellen Werte und Normen, sowie die Funktion von Kunst; das Verstehen und Auslegen der Welt aus der Perspektive des Proleteriats ermöglichte neue Einschätzungen der Ideologie der Bourgeoisie, und hat Veränderungen mit sich gebracht. Aber trotz neuer Erkenntnise blieben diese Theorien und Ideologien in ihrer männlichen Perspektive stecken.

^Da Frauen, unabhängig von Klasse, Rasse, Nation und sexueller Präferenz, ihr Frausein und daraus entstehende Erfahrungen und Unterdrückungen gemeinsam ist, ist es ange­ bracht von eigenen ästhetischen Ansätzen zu sprechen, wenn sich in ihren Kunstwerken diese Perspektive zeigt. Unter Frauen gibt es aber weitere Aufspaltungen und Minoritäten, wie z. B. farbige Frauen, lesbische Frauen usw., die in unserer patriarchalen/rassistischen/homophoben Gesellschaft einer "simultaneity of oppressions" ausgesetzt sind. [Barbara Smith zitiert in Teresa de Lauretis, "Eccentric Subjects: Feminist Theory and Historical Consciousness," Feminist Studies 16, no. 1 (Spring 1990) 134] Diese Bedingungen sensibilisieren die Frauen und ihre Erfahrungen auf eine besondere Weise, so daß sich dies auch in ihrer Kunstproduktion artikuliert und wir von besonderen ("lesbischen"... usw.) Ästhetiken sprechen können. Dies läßt sich natürlich auch auf die Minoritäten unter den Männern ausweiten. 47 wie feministische Kritik im allgemeinen— von der Voraussetzung aus, daß jedes Kunstwerk implizit einer Ideologie dient, und eine geschlechtsspezifische Perspektive enthält. Folglich schaffen Frauen— mit einem feministischen Bewußtsein9®— Kunst, die sich von männlichen Kunstproduktionen unterscheidet, aber zugleich auch auf Traditionen zurückgreift, da es noch unmög­ lich scheint, die bestehende Kulturwelt und -tradition völlig auszublenden. Sigrid Weigel beschreibt den Ort, den Frauen in der Kultur einnehmen, wie folgt:

Indem Frauen teilhaben, teilnehmen an der herrschenden Sprache, sich ihren 'Zugang zur zeitlichen Bühne' erobern, sind sie an der bestehenden Ordnung beteiligt; sie benutzen dann eine Sprache, Normen und Werte, von denen sie zugleich als 'das andere Geschlecht' ausge­ schlossen sind. Als Teilhaberin dieser Kultur dennoch ausgegrenzt oder abwesend zu sein, das macht den spezifischen Ort von Frauen in unserer Kultur aus.99

Das Bewußtsein dieses doppelten/dreifachen etc. Ortes, d. h. gleichzeitig innerhalb und außerhalb zu stehenluu, ermöglicht eine neue Perspektive und kritische Auseinandersetzung mit diesen gegenüber Frauen voreingenommenen Normen und Werten.

"Ein feministisches Bewußtsein ist nicht etwas Universales, das Frauen automatisch durch ihr Frausein besitzen, sondern es ist eine politische Einstellung und Perspektive, die nur über Reflektion und durch Auseinandersetzung mit den historischen, gesellschaftlichen Beziehungen erlangt werden kann.

"Sigrid Weigel, Die Stimme der Medusa (Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenburch Verlag GmbH, 1989) 8-9.

100Auch Teresa de Lauretis sieht die Position der Frau immer als "inside and outside" der Kultur, Geschlechter­ ideologie, der Sprache, der theoretischen Diskurse. [s. Technologies of Gender: "Eccentric Subjects: Feminist Theory and Historical Consciousness" Feminist Studies 16, Nr. 1 (Spring 1990).] Eine feministische Perspektive entwickelt neue, ästhetische

Ansätze, die den Anspruch traditioneller, ästhetischer

Prinzipien auf Universalität relativieren und ideologische

Faktoren entblößen. Das heißt, es geht nicht darum, konven­ tionelle Gattungen und damit einhergehende Vorschriften und

Normen auch für Frauen und andere Minderheiten zugänglich zu machen, sondern sich ihrer durch eine feministische Perspek­ tive zu bedienen, und sie zu transformieren, damit sich in ihnen die Widersprüche und Vieldeutigkeiten der Geschlechts­ konstruktionen zeigen, sie offen dargelegt werden, im Gegen­ satz zur Verschleierung und einseitigen Darstellung. So gesehen ist feministische, ästhetische Produktivität als

Praxis in Entwicklung zu verstehen, die erst am Anfang steht und nicht nur für Frauen, sondern für die Menschheit neue gesellschaftliche und literarische Ausdrucksformen erarbeitet, bzw. die traditionellen auf deren Einseitigkeit und ideolo­ gischen Charakter hin prüft und dekonstruiert.

Obwohl Frauen nicht aktiv an der Kulturtradition101, wie sie heute noch allgemein akzeptiert und gelehrt wird, beteiligt waren, nimmt die "Frau", d. h. die über sie entworfenen Bilder und Weiblichkeitsmuster, darin einen wesentlichen Platz ein. So wurde "Frau" in ihr stets repräsentiert, als Objekt männlicher WunschvorsteHungen,

10lIch beziehe mich hier auf die Kulturtradition, wie wir sie heute kennen, als das Ergebnis von männlichen Über­ lieferungsverfahren, die weibliche Kultur, die es zu jeder Zeit gab, konsequent ausschlossen. zugleich idealisiert und erniedrigt. Diese Repräsentation der

"Frau" in der Kunst hat sich natürlich auf die gesellschaft­ lichen Lebenszusammenhänge der empirischen "Frauen"102 ausge­ wirkt, denn die Konstruktion des kulturellen Geschlechts

"Frau" war beides Produkt und Prozeß ihrer Repräsentationen in der Kultur,103 (d. h. beide beeinflussen sich gegenseitig) und

Frauen waren in ihrer passiven Funktion als von Männern ima- ginierte Repräsentationen an der Konstitution dieser Kultur und den Weiblichkeitsentwürfen beteiligt. De Lauretis stellt

1984 in ihrem Buch Alice Doesn't abschließend dazu fest, "(i)t is a real contradiction— women continue to become woman."IM

Mit diesem Widerspruch müssen sich Frauen besonders in ihrer künstlerischen Produktion auseinandersetzen, denn ihnen, sowie der feministischen Theorie, kommt die Aufgabe zu, die Trans­ formation der Kultur aus einer feministischen Perspektive heraus zu profilieren.

Wenn eine Auseinandersetzung mit diesem Widerspruch in einem künstlerischem Werk vorhanden ist, dann ist es, meiner

‘“"Frau" vs. "Frauen": Der Singular steht für das Image, die Repräsentation, für die Kategorie und die dieser zuge­ teilten Eigenschaften; der Plural steht für die historischen, empirischen Frauen, für die Unterschiede. "Frauen" kann man aber nicht (noch nicht) losgelöst von dem Image "Frau" sehen. Siehe dazu: Teresa de Lauretis, Alice Doesn/t (Bloominigton: Indiana UP, 1984) 5-6. De Lauretis geht auf den Unterschied zwischen den beiden Termini ein, und auf den Widerspruch der für Frauen daraus entsteht.

103s. de Lauretis: "The construction of gender is both the product and the process of its representation." Technologies of Gender 5.

lwde Lauretis, Alice Doesn't 186. Meinung nach, angebracht von "feministischer Ästhetik" zu sprechen. Was sind aber die Merkmale, die Charakteristiken, die Bilder; wie ist die Form, die Sprache; was ist der Stoff, die Thematik? Sicherlich gibt es Merkmale und Charakteristi­ ken, die wir bei mehreren Autorinnen finden könnten, aber deshalb sollen wir daraus keine voreiligen Schlüsse ziehen, und diese Merkmale usw. als distinkte, feministische Formen des Ausdrucks fest legen.105 Darum geht es nicht. Gerade solche präskriptive Normen der traditionellen Ästhetik und des dominanten, literarischen Diskurses haben dazu geführt, ein bestimmtes System, eine Tradition, einen Kanon106 zu schaffen und aufrechtzuhalten, an der/dem nur ein Teil der Gesellschaft aktiv beteiligt war. Daher kann es nicht unser Ziel sein, dasselbe in einer anderen Variante zu fordern. Vielmehr müssen wir die Diskussion um eine "feministische Ästhetik" (die in sich eine Vielfalt von Ansätzen birgt und wir sie daher nur im

Plural, nicht als monolithische Theorie sehen können) zugleich als Ausgangspunkt und als Phase im Prozeß des Ausbruchs aus jeder Art von präskriptiver, normativer Kunst- und Ästhetik­

,05lm Bezug auf "Filme von Frauen" warnt Teresa de Lauretis vor jeder Art von Generalisierung und Normierung: ". . . to say: This is the look and sound of women's cinema, this is its language— finally only means complying, accepting a certain definition of art, cinema, and culture, and obligingly showing how women can and do 'contribute,' pay their tribute, to 'society.'" "Rethinking Women's Cinema," Technologies of Gender 131.

l06Jede Art von System, Tradition und Kanon basiert auf Regeln und Normen, beansprucht Allgemeingültigkeit und impliziert den Ausschluß anderer Perspektiven. 51

auffassung sehen. Konzepte wie Kanonbildung, rigide Genrevor­

schriften müssen eingehend betrachtet und neu eingeschätzt

werden. Überhaupt muß die Relevanz solcher Kategorisierungen

(wofür/für wen sind sie gut?) überprüft werden. Kategori­

sierungen und Kanonisierungen sind von vornherein nur durch

Abgrenzung und Ausschluß, also als Werturteile möglich.

Frauen haben immer schon, wenn auch nur vereinzelt,

Literatur geschaffen, aber in ihrer Position als Schrift­

stellerin waren sie vom dominierenden System vollkommen

abhängig, und sie mußten sich, sei es thematisch oder auch

formal, so gut wie möglich assimilieren, um in ihrem historischen Kontext akzeptiert zu werden. Erst im Laufe unseres Jahrhunderts und vor allem durch die Errungenschaften der Frauenbewegung der letzten Jahrzehnte haben Frauen als

Autorinnen einen neuen Weg eingeschlagen, indem sie daran arbeiten, den Inhalt im allgemeinen und die Repräsentation der

"Frauen" in der Literatur zu problematisieren, zu ändern, bzw. neue Formen der Darstellung zu finden. Frauen werden in ihrem entfremdenten Alltag, mit ihren Problemen und Erfahrungen gezeigt, sie stehen im Mittelpunkt und versuchen Subjekt­ positionen einzunehmen, obwohl sie noch auf der Suche nach sich selbst sind. KAPITEL II

RITT AUF DIE WARTBURG

Entstehungsgeschichte: Wirklichkeit und Fiktion

Genauso wie Klavierspiele und Die einzige Geschichte

wurde auch Ritt auf die Wartburg zuerst als Hörspiel'

konzipiert und dann zum Theaterstück umgeschrieben. Der

Entstehungsgeschichte des Stückes kam in der Sekundärliteratur viel Aufmerksamkeit zu, denn in ihr spiegelt sich das stete

Hin und Her, die gegenseitige Beeinflussung von theatralischem

Vorhaben und tatsächlich durchgeführtem Reiseplan wider. In

einem Interview mit Uschi Schmitz wies Friederike Roth auf die

Probleme hin, die sie während der anfänglichen Arbeit an Ritt auf die Wartburg hatte. Es zeigte sich, daß sie aus ihrem groben Plan kein Stück, keinen treffenden Dialog entwickeln konnte und daraufhin beschloß Roth, den Grundplot des Stückes-

-Reise von vier Frauen nach Eisenach auf die Wartburg— mit drei Freundinnen in die Tat umzusetzen:

Da habe ich befreundete oder bekannte Frauen in Stuttgart gefragt, ob sie Lust hätten, eine Reise mit mir zu machen, und die haben gesagt: 'Ja klar. Wohin?' Ich habe dann die DDR vorgeschlagen, aber nicht gesagt, daß ich ein Stück machen möchte. Ich hatte drei Vorschläge, die für mich reine Theatervorschläge waren: zum Frisör gehen,

'Uraufführung des Hörspiels beim Süddeutschen Rundfunk am 19.12.1981. 53

eine Predigt in der Kirche hören und auf Eseln auf die Wartburg reisen. Das Merkwürdige war, daß sie von diesen Vorschlägen, die ich nur wegen des geplanten Stückes gemacht hatte, weil ich sie dramaturgisch wichtig fand, unheimlich begeistert waren. Dieses Wechselspiel fand ich sehr spannend.2

Das "Wechselspiel" zwischen Fiktion und Realität— die fiktive

Idee zum Stück war Ausgangspunkt für die Reise, und aus der

Reise gewonnene und reflektierte Erfahrungen wirkten sich wiederum auf das endgültige Stück aus— war der Antrieb für das

Stück sowie für die Dynamik der Figuren. In ihrem theoretisch­ fiktiven Text "Der Figurenfinder" schreibt Roth über das

Erfinden von Figuren:

Die Figuren, die man erfindet, sind ja nicht die Figuren dieser Welt; das weiß wirklich jeder. Sie sind Figuren einer vollkommen erfundenen Welt, und daß erfundene Welten natürlich nicht vom Himmel fallen, sondern— wie kompliziert auch immer— aufsteigen und auferstehen aus dieser Welt, (...), das ist so banal wie alles.3

Fiktion und Wirklichkeit werden bei Roth nicht getrennt voneinander gesehen, da sich beide stets in einem "Wechsel­ spiel" aufeinander beziehen und ineinander übergehen; beim

Verfassen von Ritt auf die Wartburg wurde dieses Wechselspiel von Roth bewußt herbeigeführt. Das erfundene dramaturgische

Modell wurde in der Realität nachvollzogen und die daraus gewonnenen Erfahrungen in die endgültige 'Wirklichkeit des

2Schmitz 17.

3Friederike Roth, "Der Figurenfinder," Fürs Theater Schreiben (Bremen: Zeichen + Spuren Frauenliteraturverlag, 1986): 57. 54

Stückes' eingearbeitet4, so daß es sich bei Ritt auf die

Wartburg um ein "Dazwischen" handelt, weder ganz Kopfgeburt

noch pure Nachbildung, dies gilt für die Figuren, genauso wie

für den Ablauf der Reise.5 Gegenüber Schmitz bemerkte Roth,

daß es ihr beim Schreiben nicht darum gehe "alles zu

erfinden", denn "das wäre ja alles irgendwo meine Sprache, das

halte ich für falsch."6 Schreiben sei für sie ein Versuch, die

Substanz des Erlebbaren und der Erfahrungen so durch Sprache

einzufangen, daß sie später beim Lesen oder Hören etwas über das Gefühl, die Erfahrung aussagen.7

Roths Reisebegleiterinnen waren— so wie die Figuren im

Stück auch— mit dem Reiseprogramm vertraut. Vom Reiseplan— zum

Friseur zu gehen, in der Kirche eine Predigt zu hören und mit

Eseln auf die Wartburg zu reiten— waren sie "unheimlich

4"Roth: Die Fahrt mit den Frauen habe ich gemacht, weil ich das schreiben wollte. (...) Wenn ich ehrlich bin, habe ich die Fahrt nur gemacht, um zu prüfen, wie die Situation in Eisenach ist, um zu prüfen, wie vier Frauen miteinander fahren, damit mein Stück einigermaßen in die richtige Richtung geht, damit das Stück nicht komplett nur eine Kopfgeburt wird." Schmitz 18.

5Roth erklärt das in einem Interview: "Als wir dann dort waren, lief alles sehr anders als geplant. Das waren Erfahrungen, die dazu geführt haben, daß ich das Stück total umgeschrieben habe." Schmitz 17-18.

6Schmitz 1 8 .

7"Roth: Und wenn ich mich ganz glücklich fühle, dann interessiert es mich, warum das so ist, wie sich etwas aufschreiben läßt, wie es sich festmachen läßt. Und dann probier ich es so lange aus, bis ich mich schlecht fühle, weil es sich nicht aufschreiben läßt." Schmitz 19. 55

begeistert".8 Dagegen spielte für LINA, IDA und THEA (drei der

vier Figuren im Stück) weder Plan noch Ziel eine Rolle: "LINA

.. . Leute, wollen wir nicht doch lieber nach Hamburg? ...

Paris war nicht das Schlechteste." (RW 15-16) Über die der

Reise zugrundeliegende Motivation scheinen weder Roths9 noch

ANNAs (die treibende Kraft im Stück) Freundinnen informiert zu

sein. Die Reise wird im Stück zur vorübergehenden, schon lange herbeigesehnten Chance ihrem (Frauen)-Alltag zu entfliehen:

"IDA Diese Reise wird eine ganz andere Reise. ... Ohne den heillosen Alltag. ... Einfach weg." (RW 12-1); "THEA Haupt­ sache fahren. Und weg." (RW 18). Erst im "Interzonennachtzug"

(zwischen den Zonen, fort aus dem Alltag, aber auch noch nicht am neuen Ziel) sprechen die Frauen über Eisenach und das von

ANNA erstellte Reiseprogramm:

LINA kauend versonnen Jetzt sagt mir doch endlich: Wieso fahren wir wirklich nach Eisenach? {••.) Wieso denn Eisenach? ANNA Mußt du denn immer alles wissen wollen? (...) Wiesowiesowieso. Wieso denn nicht. Müd und mürrisch. Wie oft soll ichs noch sagen: wir gehen zum Frisör, und in die Kirche, und reiten auf Eseln zur Wartburg. Ist das denn so schwer zu begreifen? (RW 18)

Am Anfang ihrer Reise steht vor allem der Wille und die

Hoffnung auf einen Neuanfang, das Verlangen drückt IDA aus:

8Schmitz 17.

9Roths Freundinnen wußten nichts von ihrem Plan die gemeinsame Reise als Basis für einen Dramentext zu verwenden, was schließlich zu Betroffenheit und Problemen führte. Vgl. Schmitz 18. "Wir gehen dorthin mit ohne was von uns." (gw 11) Sie bezieht sich zwar auf Zigaretten und "Stoff", aber die Äußerung kann auch in Verbindung mit "... keinem darf was am Hals hängen" gelesen werden: wir lassen "uns" und alles, was uns im Westen als Frauen definiert und unseren Wirkungsbereich auf bestimmte

Bereiche einschränkt, zurück. Im räumlichen und zeitlichem

Vakuum des Zugabteils— im "Dazwischen"— wird für die

Leserinnen das minimal Notwendige über die einzelnen Figuren exponiert, um sich ein Bild davon zu machen, woraus die vier

Frauen auszubrechen versuchen, was außerhalb des Dargestellten liegt.

Diese "ganz andere Reise" in das "andere" Deutschland

(DDR) wird in 16 Einzelszenen— 5 größere Abschnitte10— unter­ teilt. Die ersten vier Szenen (1. Abschnitt) zeigen die

Abfahrt von einem unbekannten, westdeutschen Bahnhof und die feuchtfröhliche Fahrt gegen Osten. Der 2. Abschnitt zeigt die frischangekommenen Frauen im "trostlos regnerischen Morgen­ grauen" Eisenachs (RW 24) und beim Kirchenbesuch, einem

Vorhaben auf ihrer Reiseagenda. Im 3. Abschnitt steht die

Teilnahme der Frauen an einem "ostdeutschen" Tanzabend im

Mittelpunkt, ein nicht geplantes Ereignis, das zum zentralen

Erlebnis dieser Reise wird. Der vierte Abschnitt hat das böse

Erwachen nach der Tanzveranstaltung und den Gang zum Frisör

'“Jeweils drei Szenen pro Abschnitt, außer der erste Abschnitt (Abfahrt und Anfahrt) umfaßt 4 Szenen. Die Einteilung des Stückes in 5 größere Abschnitte (Akte) kann als ironische Anspielung auf die klassische Dramatik gesehen werden, von der Roth ansonsten sei es in Bezug auf Handlung, als auch im Aufbau dieser Akte abweicht. 57

(zweites geplantes Vorhaben) zum Gegenstand. Im letzten

Abschnitt wird dann der ''Wartburg-Ritt" (dritter Programm­

punkt) und die Abfahrt— zum Anfang/Ausgangspunkt hin—

dargestellt.

Der Ablauf der Reise orientiert sich an ihrer Reise­

agenda, doch gibt es unvorhergesehene Änderungen, d. h. der

Plan wird zwar durchgeführt, aber nicht so wie im voraus

festgelegt, sondern die Frauen lassen sich ständig auf

Kompromisse ein, da sich die Durchführung ihres Planes als zu

schwierig und langwierig erweist.

Rezeption fPresse-, Literaturkritik)

Ritt auf die Wartburg ist Roths zweites Theaterstück und

wurde am 04.10.1982 am Württembergischen Staatstheater Stutt­

gart unter der Regie von Günter Krämer als "Stuttgarter

Fassung"11 uraufgeführt. Diese Fassung wich in manchen Teilen wesentlich vom Orginaltext ab,12 was überwiegend negative

Rezensionen zur Folge hatte,13 im Gegensatz zu Roths

"Henning Rischbieter, "Wie Günter Krämer Friederike Roths 'Ritt auf die Wartburg' als Parforce-Revue inszenierte," Theater heute 11 (1982): 30.

,J"Günter Krämer inszenierte die Uraufführung, doch auf der Bühne sah man szenenlang etwas anderes als was Friederike Roth geschrieben hat. Eine Verbesserung war es nicht, eher eine Verfälschung." Winfried Roesner, "Vier Frauen unterwegs," Basler Zeitung 12.10.1982.

l3Henning Rischbieters Rezension war eine der bissigsten: "Der Friederike Roth gehts mit ihren Stücken wie der Chorsän­ gerin in ihrem Stück 'Klavierspiele': Männer (Regisseure) ver­ 58

Dramentext, den man vis-ä-vis Krämers Inszenierung verteidigte

und lobte. Nach der mißlungenen Uraufführung wurde Ritt auf

die Wartburg in Düsseldorf14, Münchenls, Berlin16 und Wien17

mit mehr Erfolg inszeniert. Für die Düsseldorfer Aufführung,

die Heinz Klunker mit "Endlich die Uraufführung!1,18 begrüßte,

waren die Reaktionen im Vergleich relativ positiv.

In ihrem 1984 erschienenen Artikel "Kein Grund zur

Freude"19 gibt Edith Wack einen sehr ausführlichen Überblick

über die bis dahin in regionaler und überregionaler Presse

veröffentlichten Rezensionen zu den diversen Aufführungen, und

sie selbst äußert sich kritisch zur Wahl zum "Stück des

Jahres". An der Umfrage von Theater heute nahmen 15 Kritiker-

Innen teil, und Wack bemerkt, "(e)s ist vielleicht interes­

sant, daß das vermeintliche 'Frauenstück7 von den drei (!)

gewaltigen sie mit einem Zugriff, dem sie sich nicht zu ent­ ziehen vermag." Theater heute 11 (1982): 30.

14Premiere war am 24.06. 1983 im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspiels, Regie führte Wolf Seesemann.

,5Premiere am 06.10.1983 im Modernen Theater unter der Regie von Ingrid Ernst.

16Premiere am 02.07.1984 in der Werkstatt des Schiller Theaters unter der Regie von Dietmar Pflegerl.

17Österreichische Premiere am 14.04.83 im Frauentheater Drachengasse unter einer kollektiven Regie.

18Heinz Klunker, "Endlich die Uraufführung!" Theater heute 8 (1983): 45.

l9Edith Wack, "Kein Grund zur Freude. Über die Rezeption von Friederike Roths 'Ritt auf die Wartburg'," TheaterZeitschrift 9 (1984): 40-56. befragten Kritikerinnen nicht genannt wird."20 Wacks Verdacht,

Roths Stück wurde ausgezeichnet, da es ein "Frauenstück" sei,

und der durch sorgfältige Untersuchung der Rezensionen21 zu begründen gilt, ist zum Teil vertretbar. In ihrer Kritik gibt

sie an, Roths Ritt auf die Wartburg sei von männlichen

Kritikern zum "Stück des Jahres" gewählt worden, da es sich als Alibistück eigne, um den von feministischer Seite kom­ menden Angriffen gegen die auf allen Ebenen hauptsächlich von

Männern dominierte Institution Theater entgegenzuwirken.

Weiters erfüllten sie durch diese Anerkennung ein längst

fälliges Soll— nämlich die Leistungen von Frauen ernst zu nehmen— , und trugen so ihren Teil zur 'Frauenbewegung' bei.

Ob Roths Stück um des Stückes Willen, oder vielleicht doch nur der Autorin der Kategorisierung 'Frauenstück' wegen ausge­ zeichnet wurde, ist schwer nachweisbar. Zu Beginn der 80er

Jahre ist auf den Spielplänen staatlich subventionierter

Theater in der BRD die Präsenz von Stücken zeitgenössischer

Dramatikerlnnen rar.22 Die Hervorhebung von Roths Stück könnte

20Wack 43. Daß die drei einzigen Kritikerlnnen nicht für das Stück stimmten, muß natürlich nichts besagen, sondern kann z. B. Ausdruck dafür sein, daß Frauen an Frauen größere An­ sprüche stellen, oder daß sie beherrscht von traditionellen Maßstäben andere Anforderungen stellen.

2lZu den Rezensionen meint sie folgendes: "Die positiven Reaktionen sind trotz der zahlenmäßigen Unterlegenheit längst meinungsbildend geworden, obwohl deren argumentative Qualität, von wenigen Ausnahmen abgesehen, diesen Bezug nicht recht­ fertigt." Wack 53.

22Sue-Ellen Case geht im Vorwort ihres Buches The Divided Home/Land (Ann Arbor: The University of Michigan Press, 1992) 3, einer Anthologie von ins Englische übersetzten Dramen deut­ 60 daher auf verschiedene Motivationen zurückgeführt werden, wovon jene das Stück als Alibistück zu instrumentalisieren nur eine unter anderen darstellt.

Ob es sich bei Ritt auf die Wartburg um "ein Stück für

Frauen", "ein burleskes Spiel über Frauenfragen"23, ein Stück mit feministischer Perspektive oder um nichts von alledem handelt, darüber scheiden sich die Meinungen der Kritiker, die mit einem Urteil schnell zur Hand das Stück einer für sie passenden Kategorie zuteilen, und es dann durch die mit dieser

Kategorie assoziierten Konnotationen ab- bzw. aufwerten. Dabei bedeutet "Frauenstück" nicht "Frauenstück", denn die dieser

Kategorie zugeteilte Bedeutung ändert sich mit der Perspek­ tive, dem ideologischen Hintergrund aus der bzw. dem die

Zuweisung vorgenommen wird.24 Die Rezensenten— vorwiegend scher Frauen des 20. Jh., kurz auf die Situation der Frauen an den staatlichen Theatern in der BRD ein. Sie weist darauf hin, daß ein Zusammenhang zwischen der Abwesenheit der Frauen und der staatlichen Subventionierung bestünde, da die staatliche Unterstützung den Theatern einen offiziellen und öffentlichen Charakter verleihe, und aufrechterhalte: "The male ownership of the public realm in the theater, linked directly to primarily male governmental agencies, has created in that public and state-supported stage a male preserve that was, until the 1980s, almost completely closed to women."

23Günther Schloz, "Esel gibt es nur bis vier," Frankfurter Rundschau 13.10.1982. Die Doppeldeutigkeit seines ausgewählten Titels für die Rezension verrät seine Einstufung der vier Frauenf iguren.

24Die Kategorie "Stück für Frauen" hat analog zu Begriffen wie "Literatur für Frauen" etwas Negatives an sich, da diese Begriffe besonders zu Beginn der Frauenbewegung, Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre geschaffen wurden, um die vermehrte Literaturproduktion von Frauen zu klassifizieren, unter einen Nenner zu bringen und von der "Männerliteratur", die niemals so genannt wurde, abzugrenzen. Die Bezeichnung "Frauenlitera­ 61

männlich25— machen es sich relativ einfach, Ritt auf die

Wartburg. wie Hans Jansen, als "ein Stück nämlich vor allem

von einer Frau über Frauen" abzutun.26 Davon zeugen auch die

auf die scheinbar so verstandende Albernheit und Trivialität

des Stückes hinweisenden Titel27 der Rezensionen. Arrogant

sexistische Einstellungen vis-ä-vis den im Stück gezeigten

Vorgängen verhindern bei den meisten eine tiefere inhaltliche

Auseinandersetzung. Bei den meisten Kritikern bemängelt Wack den einseitigen, problematischen Blickwinkel, durch den "die

Frauen des Stückes zu Witzfiguren (geraten), die während der

Reise auch noch das dümmste männliche Vorurteil über Frauen

tur/Frauenstück" ist nach wie vor für viele ein Wertmaßstab und steht für Minderwertigkeit und Einseitigkeit, da sie sich mit harmlosen, banalen "Frauenproblemchen" auseinandersetzt. Zur Problematik der Definition und Kategorisierung, siehe Sigrid Weigel, Die Stimme der Medusa 7-47.

25Die Theaterkritiker besprechen die Aufführungen von Ritt auf die Wartburg, und implizit beurteilen sie auch Roths Stück, den Dramentext, ohne unbedingt damit vertraut zu sein, und die von der Regie vorgenommenen Anpassungen, den freien Umgang mit dem Dramentext zu erkennen.

26Hans Jansen, "In Eisenach zum Friseur," Westdeutsche Allgemeine Zeitung 27.6.83.

27Z.B.: Jürgen Diesner, "Vier kaputte Westweiber auf Ost­ trip," Heimatzeitung Kreis Groß-Gerau 4.10.82; Günther Schloz, "Esel gibt es nur bis vier," Frankfurter Rundschau 13.10.1982; Hans Jansen, "In Eisenach zum Friseur," Westdeutsche Allge­ meine Zeitung 27.6.83; Dieter Westecker, "Nach Eisenach zum Friseur," Düsseldorfer Nachrichten 27.6.83; Michael Skasa, "Vier Frauen fallen vom Pferd," Süddeutsche Zeitung 8./9.10.83; Friedrich Luft, "Übermütiger Damenausflug auf Martin Luthers Spuren," Berliner Morgenpost 4.7.84; Dana Horakova, "Frauenstück stimmt bis ins kleinste Detail," Bild- München 14.10.83. bestätigen dürfen."28 Der Themenkomplex Emanzipation,

Feminismus, Frauenfragen wird von Rezensenten2’ zwar erwähnt,

doch wird er nicht weiter analysiert, vielmehr oberflächlich

und teilweise wortwörtlich ausgelegt und zitiert. Kritisiert

LINA die "Frauenfrauen" vom Frauenzentrum, dann akzeptiert man fn) das nur zu gern als Kernaussage des Stückes zum Thema

Frauenbewegung (bzw. zur Praxis von Feminismus), gegen die

Kritiker "aus der sicheren Position einer 'sachlichen'

Auseinandersetzung" her zu Felde ziehen.3" Dazu muß erwähnt werden, daß sie LINAs Äußerungen zur Frauenbewegung ohne weiteres und ohne nähere Untersuchung beistimmen, obwohl die

Frauen im Stück sonst anscheinend "um nichts reden"31 und

"dummes Zeug sinnlos dahinschwätz (en) "32. So trifft ein, wovor

Hajo Kurzenberger in dem bisher einzigen, ausführlicheren,

literarkritischen Artikel zum Dramentext warnt, nämlich daß

Ritt auf die Wartburg vielen nur "als 'Frauenstück' zweifel­ hafter Art dien(t), das die gängigen Vorurteile über Tratsch-

28Wack 54.

29Interessant ist, daß vor allem männliche Kritiker darauf hinweisen, weibliche Kritiker (Wack, Rennison) hingegen das Stück davon distanzieren möchten. Das mag damit Zusammenhängen, daß Männer als Leser/Zuschauer in diesem Stück niemanden haben, mit dem sie sich identifizieren können und die Perspektive des Stückes eine von Frauen ist.

30Wack 54.

31Heinz Klunker, "Endlich die Uraufführung!" Theater heute 8 (1983): 45.

32Hans Jansen, "In Eisenach zum Friseur," Westdeutsche Allgemeine Zeitung 27.6.83. 63

sucht und Schnatterverhalten befestigt."33 Diese Gefahr laufen

Stücke, die 'Frauen/Frausein' thematisieren und ihre Perspek­ tive zeigen, oft. Trotz kritischer Darstellung werden 'Frauen­ bilder ' immer wieder (re)produziert, besonders in den Augen jener, die sich weder mit Frauen, noch ihren Belangen identi­ fizieren wollen.

Im Unterschied zu den vielleicht vorschnellen, da nicht begründeten Urteilen ihrer Kritikerkollegen von der Presse, vertritt Wack die Meinung, daß Roth "sich in diesem Stück mit

Feminismus oder Emanzipation (wie andere ihre geheime Angst benennen) überhaupt nicht auseinandergesetzt" hat.34 Wie

Ingrid Ernst,35 so glaubt auch Wack, daß Roth in ihrem Stück vor allem "eine allgemein menschliche Erfahrung formuliert", die "ausnahmsweise - an Frauen abgehandelt wird".36 Versteht man Ritt auf die Wartburg als ein "Frauenstück", so handle es sich dabei— wie Wack meint--um einen Rezeptionsirrtum, denn

(d)aß 'allgemein menschliche' Probleme beispielhaft an Frauen aufgezeigt werden, ist für die Dramatik, das Theater absolut nicht selbstverständlich. Sicher, Frauen kommen vor - als gegenüber von Männern, als deren Projek­ tion, aber nicht stellvertretend für Menschen. Diese Rolle ist ausschließlich Männern Vorbehalten. Das Stück stellt einen Bruch mit dieser Tradition dar. Und wie unerhört Männer einen solchen Schritt finden, drückt sich

33Hajo Kurzenberger, "Friederike Roth: 'Ritt auf die Wartburg'" 94-95.

M Wack 53.

35Ingrid Ernst ist die erste Regisseurin, die Ritt auf die Wartburg im Modernen Theater, München (Premiere war am 6.10.1983) inszeniert hat.

36Wack 53. 64

in dem - unbegründeten - Verdacht aus, hier könnte Emanzipation oder Feminismus thematisiert werden.37

Ähnlich argumentiert auch Lucinda Rennison in ihrem Artikel38

über die Dramatikerin Roth; sie vertritt ebenfalls die

Meinung, daß Ritt auf die Wartburg kein Stück über Frauen,

Emanzipation und weibliche Selbstfindung sei, sondern über

"the desire to escape everyday existence, ... to realise a

dream and experience at close hand something which has always

appeared distant and exotic", denn dies sei "a human desire,

by no means confined to women."11' Beide, Wack und Rennison,

legen großen Wert darauf, Roths Stück unter einem "allgemein

menschlichen", "universalen" Aspekt zu interpretieren, völlig

ignorierend, daß scheinbar geschlechtsneutrale Begriffe wie

"allgemein menschlich" und "universal" immer eine männliche

Perspektive implizieren, sich dahinter eine männliche Realität

verbirgt.40 Obwohl Wack und Rennison durch ihre hartnäckige

37Wack 53.

38Lucinda Rennison, "'Dramatisches Talent hat sie nicht, doch viele schöne Worte'— Friederike Roth as a Playwright," A Radcial Stage: Theatre in Germanv in the 1970s and 1980s. Hrsg. W. G. Sebald (Oxford/New York: Berg Publishers Limited, 1988) 52-63. Rennison äußert sich nur in einem kurzen Abschnitt zu Ritt auf die Wartburg.

39Rennison 59.

40"Universal" und "allgemein menschlich" sind keine neutralen, wertfreien Begriffe, die man aus ihrem diskursiven, gesellschaftlichen Kontext ihrer Entstehung isolieren kann. Diese Begriffe, so wie wir sie heute kennen/verstehen, sind das Produkt historischer, kultureller und sozialer Momente, die das männliche Prinzip als einzig Erstrebenswertes begünstigten, und dies beeinflußte die Bedeutung dieser Begriffe. 65

Verfechtung der "allgemein menschlichen" Probleme, die sie in

Ritt auf die Wartburg angesprochen sehen, das Stück vor

Marginalisierung, der es durch die Kategorisierung als

"Frauenstück" ausgesetzt wäre, retten wollen, tragen sie mit ihren Argumenten zur Aufrechterhaltung der Marginalisierung und negativen Bewertung von Stücken bei, die sich "nur" mit

Erfahrungen von Frauen und "Frauenfragen"41 im allgemeinen beschäftigen. Wack verlangt, Theater solle "universale" Fragen und Probleme der Menscheit ansprechen, dies sieht sie in Roths

Stück gegeben.42 Zugleich bemängelt sie, daß die Rolle des

"Menschen" im Theater aber "ausschließlich Männern Vorbe­ halten" sei, und Frauen nur als "Gegenüber von Männern, als deren Projektion, aber nicht stellvertretend für Menschen"

Vorkommen. Hier hat Roth, Wacks Meinung nach, mit der

Tradition gebrochen, denn sie zeigt "allgemein menschliche

4l"Frauenf ragen", wie sie in Ritt auf die Wartburg Vorkommen, sind für Wack kein Indiz für ein feministisches Stück, denn sie werden von Kritikern als "bloßer Sammelbegriff für eine Anzahl von Themen, die die Frauen während ihrer Gespräche streifen" verwendet. (53) Ich glaube, daß diese Themen aus der Perspektive von Frauen "über die Männer nicht - oder zumindest nicht so - reden würden"— dies gibt Wack auch zu (53)— geradezu verlangen, aus einer feministischen Perspektive interpretiert zu werden. Die Angst vor einem erneuten Ghetto darf nicht dazu führen, die angesprochenen Belange der Frauen zu ignorieren.

42Wack weist auf die ganzen Themen hin, die ihrer Meinung nach fälschlicherweise von Rezensenten zum Thema des Stückes ernannt wurden, wie z. B. Emanzipation, Feminismus, Ost-West- beziehung; sie versäumt aber den Zusammenhang dieser Themen mit dem als "allgemein menschlich" klassifizierten Motiv "der Reise als Versuch der Selbsterfahrung, des sich-Findens, als Suche auch nach der eigenen Identität" zu sehen. (46) Probleme beispielhaft an Frauen" auf.43 Die Positionen werden verkehrt: Frauen repräsentieren nun "den Menschen" und kon­

frontieren "allgemein menschliche Probleme". Die Reise der

Frauen versteht sie als Versuch des Sich-Findens, der Selbst­ erfahrung und Identitätssuche, so wie es in Tausenden von

Männerrollen thematisiert wird. Aber der Begriff "Mensch" ist problematisch, da der "Mensch" in Roths Dramenkontext kein geschlechtsneutrales Wesen ist. Repräsentieren nun Frauen "den

Menschen", was bedeutet das dann für ein Stück, dessen

Thematik und Interpretation? Wird die Reise als Versuch des

Sich-Findens, der Identitätssuche am Beispiel von Frauen gelesen, so kann der sozio-historische Lebenszusammenhang der

Frauen nicht unberücksichtigt gelassen, sondern muß gezwungenermaßen anders behandelt werden.

Die Behandlung von 'weiblichen7 Erfahrungen, die Ausein­ andersetzung mit Emanzipation und "Frauenfragen" sind nicht so nebensächlich und unwichtig, wie es Wack haben möchte, sondern von zentraler Bedeutung für das Stück. Wacks Vorwürfe gegen­

über den Rezensionen ihrer männlichen Kollegen, nämlich daß sie das Stück zum Paradestück für etwas, was es nicht ist, machen, um es durch die Kategorisierung zu entschärfen, treffen in umgekehrter Form auch auf ihre eigene Einstufung von Ritt auf die Wartburg zu.

Hajo Kurzenbergers Artikel "Friederike Roth: 'Ritt auf die Wartburg'", der im 1987 von Heinz Pikulik herausgegebenen

43Wack 53. Buch Deutsche Gecrenwartsdramatik erschien, ist soweit die

einzige ins Detail gehende literaturkritische Auseinander­

setzung mit Roths Stück. Kurzenberger konzentriert sich in

seiner Interpretation vor allem auf das ständige Wechselspiel

zwischen "Realität und Illusion", und wie die Frauen in dem

Experimentierfeld DDR "ihre Träume zum aktiven Prinzip" machen, Realität inszenieren und sich damit für ihre Alltags­

zwänge kompensieren. Kurzenberger geht darauf ein, wie Roth

"ihr Verfahren, beim Schreiben Wirklichkeit zu erfahren"44 auch im Stück zum Ausdruck bringt: wie auch bei den vier

Frauenfiguren "die erfundene Realität und die sogenannte wirkliche kaum zu trennen sind, sondern wechselweise in ein

Spannungsverhältnis gebracht werden müssen, um überhaupt

Realitätserfahrung möglich zu machen."46 Kurzenberger kann die

Reise als "ganz andere Reise", als "Selbsterfahrungsnummer" akzeptieren, "die Spielmöglichkeiten (eröffnet) , die nicht nur in der Außensicht, sondern auch den Frauen selbst zuweilen närrisch erscheinen", er warnt aber zugleich davor, vor­ schnelle Schlüsse über eine feministische Kernaussage des

Stückes zu ziehen.46

Sowohl von Seiten der Pressekritik, die sich auf die jeweiligen Inszenierungen, als auch der Literaturkritik, die sich auf den Dramentext bezieht, wird vor allem die Zuteilung

^Kurzenberger 87.

45Kurzenberger 90.

46Kurzenberger 83. des Stückes in eine vorhandene Kategorie diskutiert. Roths

Schwerpunkt, die Reise ihrer vier Frauenfiguren, sowie ihre

Perspektive als Frau sind ausschlaggebend dafür, daß dieses

Bedürfnis bei den Kritikern vorherrscht. Obwohl weder

Struktur, noch Methode, noch Thematik— abgesehen von vier

Frauen als Hauptfiguren— sich radikal von anderen zeitge­

nössischen Dramen unterscheiden, bzw. absetzen, scheinen

Kritiker nicht so recht zu wissen, wie man dieses Stück der

jungen Nachwuchsdramatikerin einschätzen soll.47 Roth und ihre

Stücke sind kein Einzelfall, anderen zeitgenössischen Drama­

tiker innen, die wie sie aus der Perspektive von Frauen

schreiben, wie z. B. Gerlind Reinshagen, Ursula Krechel,

Elfriede Jelinek um nur einige zu nennen, ergeht es genauso.

Diese Frauen bilden in den 80er ein neues Phänomen in der

Theaterwelt, dem die größtenteils männlichen Kritiker hilflos

gegenüberstehen, da sie sich als Männer nicht angesprochen,

sondern höchstens angegriffen fühlen.

Ein feministisches Stück?

In Ritt auf die Wartburg stehen vier Frauen im Mittel­

punkt und bestimmen den Lauf der dargestellten Geschichte.

47Auch bei Klavierspiele. Roths 1981 uraufgeführtem Erstlingsdrama, das die unglückliche Liebesbeziehung einer Frau zu einem verheirateten Mann, sowie die Auflösung derselben und das Bemühen der Frau, die vergangene Liebesbeziehung zu bewältigen, aus der Perspektive der Frau thematisiert, sahen sich die Kritiker demselben Problem gegenüber. 69

Sowohl die Gespräche als auch die ausgewählten Reisestationen angefangen mit dem Reiseziel Eisenach, eine Stadt in der DDR, sowie die drei geplanten Reisevorhaben, nämlich der Besuch einer katholischen Kirche, eines Friseursalons, und der Ritt auf die Wartburg, der Bastion des Protestantismus, so albern sie für manchen Kritiker auch scheinen mögen, müssen im

Zusammenhang mit der in diesen Institutionen (Religion/Kultur) praktizierten Unterdrückung der Frauen in Form von den darin imaginierten und konstruierten Weiblichkeitsbildern gesehen werden.

Die vorherrschende Perspektive des Stückes ist die einer

Frauengruppe, die sich als solche ohne politischen Zweck ver­ steht und rein freundschaftlich verbunden ist. Obwohl bei

Roths Frauengruppe der Einfluß der Frauenbewegung nicht zu

übersehen ist, sind LINA, THEA, IDA und ANNA keine Parade­ muster von emanzipierten Frauen, keine feministischen Vor­ bilder. Vielmehr manifestieren sich in Roths ironischer

Präsentation der Frauenfiguren die Widersprüche und

Frustrationen, mit denen Frauen in verschiedenen "männlichen'*

Realitäten48 zu leben gezwungen sind. Mittels Gegenüber­ stellung zweier gegensätzlicher politischer Systeme, kapitalistisch und sozialistisch (West- und Ostdeutschland),

48Ich benutze den Plural, da die "Realität" gleichzeitig durch mehrere Institutionen und Praktiken wie z. B. die Kirche, das politische System, die Familie, usw. strukturiert wird. Die diesen Institutionen zugrundeliegenden Ideologien nehmen in der Auslegung der Realität einen jeweils anderen Stellenwert und Gesichtspunkt ein, so daß das Realitätsverständnis immer vom unmittelbaren Kontext abhängt. 70

demonstriert die Autorin unter anderem, wie die im jeweiligen

System strukturierte Realität entscheidend die männlichen

Bürger priviligiert, und wie beide Systeme die Emanzipation

der Frau, ihre Gleichstellung dem Mann gegenüber in gewissen

Bereichen (z. B. Recht auf Arbeit, auf Kinderbetreuung) so

einzusetzen verstehen, daß sie die "männlich" dominierte und

gestaltete Realität nicht gefährden und weiterhin beibehalten.

Vergleicht man die Situation der Frauen in beiden Systemen, so

gibt es zwar Unterschiede4*, aber Sue-Ellen Case und andere

Kritikerlnnen50 weisen immer wieder auf die Ähnlichkeiten in

der Asymmetrie der Machtverteilung zwischen den Geschlechtern

hin, die in den zwei so unterschiedlichen Systemen

vorherrschen:

Yet, inspite of those differences, the stability of the patriarchy manifested itself, rendering gender a visible site of oppression within contrasting economic and state structures. The legal, political, domestic, and cultural Position of women in the two Germanies illustrates the peculiar way in which patriarchal structures intertwine

49Der Anteil der arbeitenden Frauen z. B. ist in den kapitalistischen Ländern viel niedriger als in sozialistischen: "The right to work is one of the cultural givens in socialist countries, and determines the identities of women— this has been so for more than forty years in East Germany (...) That female employment is a precondition for their emancipation has been a staple item of progressive politics in the workers' movement .... In all socialist countries the right to work was a given (...), and there was a corresponingly high rate of female employment (over 90 percent). "Frigga Haug, Bevond Female Masochism (London: Verso, 1992) 258.

50z. B.: Susan Bassnett, Feminist Experiences (London: Allen & Unwin, 1986); Frigga Haug, Bevond Female Masochism: Klasse und Geschlecht. IMSF; Eva Kolinsky, Women in Contemporary Germanv: Life. Work, and Politics (Oxford: Berg Publishers, 1993). 71

with state ideology— even in seemingly contrasting Systems .5I

Indem Roth die vier Frauenfiguren auf diese "ganz andere

Reise"52 in das "andere" Deutschland schickt, und sie aus

ihrer gewohnten Umgebung, dem bundesrepublikanischen (Frauen)

Alltag herausholt und in ein anderes politisch/ideologisches

System versetzt, zeigt sie, daß beide Systeme auf patriar­ chalen Strukturen basieren, daß hier wie dort, trotz Emanzi­ pation in privaten und öffentlichen Bereichen geschlechts­ spezifische Differenzen im Verhalten zutage treten,53 und sich an den dominanten Frauenbildern und Weiblichkeitsvorstellungen nicht viel geändert hat. Die Frauenbewegung und die daraus erwachsenen feministischen Konzepte, die das Unbehagen der

Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft ansprechen, werden von den Frauen zum Teil auch als Zwangsjacken im neuen ideologischen Muster empfunden. Sie stehen also zwischen althergebrachten männlichen Strukturen und den relativ radikalen Forderungen der damaligen Frauenbewegung. Durch die

Reise in den Osten veranschaulicht Roth, wie die Frauengruppe durch das Übertreten der Grenzen in eine für sie neue Rolle

5lSue-Ellen Case, The Divided Home/Land (Ann Arbor: University of Michigan Press, 1992) 8.

52In der 1. Szene weist IDA auf die Besonderheit dieser Reise für sie hin, indem sie verlangt: "Diese Reise wird eine ganz andere Reise." (RW 12)

53s. Frigga Haugs 12 Kapitel "The End of Social ism in Europe: A New Challange for Socialist Feminism?" in Bevond Female Masochism. 255-268. In diesem Kapitel geht die Autorin auf die "paradoxe" Situation der Frauen in der Ex-DDR ein: die enge Verkettung von Emanzipation und Unterordnung. schlüpft: Die Frauen entpuppen sich als Komplizinnen ihres eigenen politischen Systems, indem sie Züge von Imperialisten und Kolonialherren an den Tag legen, sich den DDR-Bürgern gegenüber überheblich benehmen (z. B. beim Tanzabend mit den

Soldaten und beim Frisör den DDR-Frauen gegenüber). In ihrem

Verhalten reproduzieren die Westfrauen Unterdrückungs­ mechanismen, denen sie in ihrem westdeutschen Alltag selbst ausgesetzt sind. Bereitwillig schlüpfen sie durch den ihnen zuerkannten Weststatus in die Machtposition und verhindern dadurch eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Osten; IDAs

Forderung zu Beginn des Stückes "Wir gehn dorthin mit ohne was von uns." (RW 11) erweist sich als große Illusion,

Am Beispiel der drei Reisestationen— katholische Kirche,

Frisörsalon, Wartburg— und an der Teilnahme an einem lokalen

Tanzabend wird demonstriert, daß solche Stätten, die am

Schaffen imaginierter, idealer Frauenbilder beteiligt sind/waren, auch in einem nicht-kapitalistischen System dominant sind, weil sie männlichen Interessen dienend die gängigen, einander ergänzenden Weiblichkeits- und Männ­ lichkeitskonstrukte immer wieder aufs neue reproduzieren. Das sozialistische Ostdeutschland, von dem ANNA, IDAs Meinung nach, zu viel erwartet ("Wieso verlangst du dauernd von den

Leuten, sie sollen andere sein. Unmenschlich ist das." RW 69), eliminierte zwar die Diskriminierung der Frauen in öffent- 73

liehen Bereichen,54 die Zuständigkeit der Frauen für Haushalt

und Familie wurde aber auch in der DDR nicht wirklich ange-

zweifelt. Es ergab sich hier genauso eine Doppelbelastung für

Frauen, woraus sich das geschlechtliche Unterdrückungsver­

hältnis im Privaten konstituierte. ANNA wird sich dessen beim

Frisör bewußt, wo zwei DDR-Frauen neben ihr warten:

1. WARTENDE FRAU Die machen sich einen Spaß. Ich muß doch weiter. 2. WARTENDE FRAU Ich will bloß nachschneiden lassen. Mein Mann kommt heut nach Haus über Mittag. Die hier blockieren alles. Ich geh nicht fürs Vergnügen zum Frisör.

Anna versucht, so zu tun, als gehe der Ärger der Frauen sie nichts an; man spürt aber, daß ihr unbehaglich zumute ist. (RW 63)

ANNA ist sich ihres überheblichen und anmaßenden Benehmens den

Ostfrauen gegenüber bewußt, und darüber wie sehr sich die

Realität von Frauen in Ost- und Westdeutschland ähnelt, und daß sich Frauen unabhängig von politischen Systemen überall in

ähnlichen Situationen befinden. Von diesem Moment an verliert

ANNA ihren Enthusiasmus und der Ritt auf die Wartburg mit

Eseln, der als Höhepunkt und symbolische Attacke auf die patriarchale Kultur und Religionsideologie gedacht war, wird zum Antiklimax und Ausdruck der Hoffnungslosigkeit. Das

^Obwohl ungefähr 90% der Frauen in der DDR einer bezahlten Arbeit nachgingen, waren Frauen im Vergleich zu Männern in minder bezahlten Arbeitsplätzen beschäftigt. Im sozialistischen— genauso wie im kapitalistischen— System wurde die geschlechtliche Arbeitsteilung sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich nicht in Frage gestellt. Ebensowenig sind Frauen, sei es in sozialistischen, als auch in kapitalistischen Systemen, kaum in führenden Rollen zu finden, (s. Haug 258; Case, Divided Home/Land 10) 74

Tableau am Ende der Szene kann symbolisch für ANNAs

Ernüchterung gelesen werden: "Anna beugt sich ins Waschbecken vor. Wenn das Wasser über Annas Kopf fließt, macht Ida ein

Foto." (RW 64)

ANNAs Erwartungen an das sozialistische System haben sich nicht bewährt; genauso wie ihre Begleiterinnen kam ANNA mit fixen Vorstellungen in die DDR. Offensichtlich hatte sie sich die Situation der Frauen anders vorgestellt: "Die Frauen beim

Frisör heut morgen harn mich erschreckt." (RW 69) Näheres er­ fahren wir von ANNA nicht. Es bleibt der/m Leserin überlassen zu ergänzen, was ANNA erwartete und letztendlich deprimierte.

Genauso verhält es sich mit anderen Kommentaren und

Geschichten über Frauen und LlNAs Kritik an den "Frauen- frauen". Zu näheren Erklärungen oder Grundsatzdebatten kommt es in den Gesprächen der Frauen nicht: Verschiedene Stand­ punkte werden aufgeworfen, aber nicht diskutiert. Die Dialoge bieten zwar Ausgangspunkte für tiefere Diskussionen an, aber die Figuren ergreifen die Gelegenheit nicht, zu sehr sind sie darin selbst verwickelt; ihr geographisches und zum Teil geschlechtliches Displacement gibt ihnen noch nicht genügend

Distanz. Daß es keine Diskussion über die Frauenzentren und die Situation der Frauen gibt, wird von Edith Wack als Indiz dafür gesehen, daß Feminismus und Frauenbewegung nicht thematisiert werden:

(...) eine Anzahl von Themen, die die Frauen während ihrer Gespräche streifen: der Wunsch nach Kindern etwa, die Sorgen, wenn man dann welche hat, das Problem, mit dem (wenigen) Geld auszukommen, die Flirterei während des 75

Tanzabends oder die schon erwähnten Äußerungen über Frauenzentren. Das sind zwar sicher Themen, über die Männer nicht - oder zumindest nicht so - reden würden, macht das Stück aber bestimmt nicht zu einem über Emanz ipat io n .55

Oder ein anderer Kritiker, Hajo Kurzenberger, bemerkt

11 (s)icherlich wird in diesem Dialog zwischen den Frauen nicht die Frauenemanzipation 'thematisiert', 'ausdiskutiert' und

'hinterfragt'. Zu spontan und augenblicksbestimmt, zu pointiert und kurzatmig ist die Auseinandersetzung."56

Feminismus und Frauenemanzipation werden in Ritt auf die

Wartburg bestimmt nicht "ausdiskutiert", aber sie schweben von

Anfang an über dem Stück. Die Äußerungen der Frauenfiguren sind von einem feministischen Standpunkt aus nicht befriedi­ gend, aber hier muß unbedingt auf die Begrenztheit des Sprach­ gebrauchs von z. B. IDA und THEA verwiesen werden. Sie bewegen sich in einem sprachlich begrenzten Raum, das Über-sich- selbst-reden steht im Mittelpunkt, im Miteinanderreden drückt sich eine Herrschaftsstruktur aus, der zum Teil ausgewichen wird.

Die vier Frauen sind unterwegs, auf der Flucht und auf der Suche, im Prozeß einer Entwicklung und in diesem Kontext können ihre Äußerungen als Einladung zum Weiterdenken, zum

Überdenken der Situation der Frauen im allgemeinen gesehen werden. Insofern könnte man das Stück als eine Art "utopische

55Wack 53.

S6Kurzenberger 83. 76

'CR' Gruppe"57 verstehen. Die Leserinnen bzw. Zuschauerinnen

sehen die "Geschichten" der vier Frauen, deren Dilemma und

Unsicherheiten aus der Distanz und sie erkennen überall den

Einfluß der männlichen Beherrschung auf das Bewußtsein der

Frauen, da die Frauen ihre Erfahrungen aus ihrer Perspektive

darstellen.

Roth schreibt aus einer feministischen Perspektive und

Ritt auf die Wartburg ist meiner Ansicht nach ein politisches

Stück im Sinne des feministischen Grundsatzes "das Persönliche

ist politisch." Roths Zweck bei der Darstellung der persön­

lichen Erfahrungen und Frustrationen der Frauen sehe ich darin

zu zeigen, daß Probleme, die von einzelnen Frauen als indivi­ duelles Dilemma gesehen werden, aus einer sozialen Zwangslage heraus erwachsen, der ein Muster zugrundeliegt, das auch das persönliche Leben anderer Frauen charakterisiert und deshalb

über das Persönliche hinausgeht und zu einem politischen

Problem wird.

(W)omen's distinctive experience as women occurs within that sphere that has been socially lived as the personal- -private, emotional, interiorized, particular, indivi- duated, intimate— so that what it is to know the politics of woman's Situation is to know women's personal lives.5“

57Der Begriff und das Konzept "utopian CR group" stammt von Sue-Ellen Case. Im abschließenden Kapitel "Towards a New Poetics" ihres Buches Feminism and Theatre geht Case darauf ein, wie ein feministisches Theater in der Zukunft aussehen könnte, wie durch Theater ein feministisches Bewußtsein erweckt werden könnte. (113)

5®Catherine A. MacKinnon, "Feminism, Marxism, Method, and the State," Feminist Theorv: A Criticme of Ideoloay, Hrsg. Nannerl O. Keohane, Michelle Z. Rosaldo, Barbara C. Gelpi (Chicago: University of Chicago Press, 1981) 21. Die Auswahl des Reiseziels und die Erstellung des Plans

verraten etwas über das persönliche Leben der Frauen, das

durch ihre Beziehung zu Männern entscheidend geprägt ist. Die

Inszenierung der eigenen Wirklichkeit im politischen Kontext

der DDR, in welchem die Frauen wie in einem Vakuum exisitieren

möchten, wo sie ihre Wünsche und Vorstellungen ausleben

wollen, ist nicht unproblematisch und kann nur aus ihrem

bundesrepublikanischen Frauenalltag heraus verstanden werden.

Die Unzufriedenheit und Frustration der Frauenfiguren, der

Konflikt liegt außerhalb des Stückes. Die Reise wird zum

aktiven Prinzip, bringt Bewegung in ihr Dasein, und zwar im

wörtlichen Sinn, sie verlassen die gewohnte Umgebung und

erfahren (bzw. besetzen) neue Gebiete, inszenieren ihre eigene

Wirklichkeit. Insofern ist das ganze Unternehmen ein Schritt

vorwärts in ihrer Entwicklung und Selbsteinschätzung; das

Bedürfnis etwas zu tun, neue Horizonte zu erschließen, weist

auf eine noch vorhandene Hoffnung hin, wenn auch der Kontakt mit dieser neuen sich selbst zugestandenen Freiheit vorerst in der Nachahmung verabscheuter Umgangsweisen steckenbleibt und

scheitert. Die Ernüchterung und Frustration am Ende der Reise, am Vorabend der Rückfahrt resultieren aus der Erkenntnis, daß es notwendig ist, an sich selbst zu arbeiten, da nur dadurch

Veränderungen erwirkt werden können. 78

Einstellung der Frauenbewegung gegenüber

Im Stück finden sich zwei Textstellen, die Frauenbewegung

und organisierte Frauengruppen direkt ansprechen. In der

elften Szene, am Morgen nach dem Tanzabend, bringt LINA

witzig-zynische Bemerkungen über die "Frauenzentrumsfrauen"

(RW 58-9) ins Gespräch, und zu Beginn der achten Szene— der

"Tanzabendszene"— läßt ANNA LINA gegenüber eine Bemerkung über

Frauengruppen fallen,59 die mehr nach Phrase klingt. Diese

Aussagen dürfen nicht schlechthin als Absage an die Frauen­

bewegung verstanden werden, obwohl linguistische Formulier­

ungen wie "Bleib mir mit Frauenfrauen bloß vom Leib" (RW 58)

dazu verleiten mögen. Vielmehr kann man sie als Kritik an der

institutionalisierten Frauenbewegung sehen, so wie sie sich zu

einem bestimmten, historischen Zeitpunkt profilierte, gewisse

dogmatische Grundsätze vertretend und getrieben von Harmonie­

wahn und Kritikverbot, um die Unterschiede unter Frauen, sei

es sozialer, kultureller, politischer, sexueller Natur zu­ gunsten der heterosexuellen, gutsituierten, der Mittelklasse

angehörenden Frauen zu verwischen und zu unterdrücken.

LINAs Bemerkungen zu diesen Frauengruppen werden von den

Kritikern, soweit sie kommentiert werden, auf zweierlei Art ausgelegt: Zum einen ablehnend, wie z. B. bei Edith Wack, die bemängelt, daß die vier Figuren, allesamt keine Feministinnen,

59"LINA Wieso schminkt ihr euch überhaupt? // ANNA Gott, tret doch inne Frauengruppe ein." (RW 37) 79 sich auf Kosten von "Frauengruppen" über den sogenannten Femi­ nismus lustig machen und ihn ohne "Basis für eine kritische

Auseinandersetzung"60 in Verruf bringen. Zum anderen gibt es

Kritiker, die nur zu gerne bereit sind, LINAs Kommentar zu

Frauengruppen und implizit zur Frauenbewegung wortwörtlich zu verstehen, und sich dadurch bestätigt fühlen, die Frauen­ bewegung auch nicht ernst nehmen 2U müssen, sie der Lächer­ lichkeit preisgeben zu dürfen.61 Dabei wird von den Kriti- kerlnnen weder LINAs Perspektive als berufstätige, geschiedene

Frau mit Zwillingen und starkem Klassenbewußtsein, noch die

Ironie, hinter der LINA ihre eigene Verwirrung und Unsicher­ heit verbirgt, berücksichtigt.

Ob es sich bei den vier Frauen um Feministinnen handelt, kann nicht so voreilig beurteilt werden, da die Bezeichnung

Feministin keine politisch monolithische Position beschreibt.

LINAs Kritik an bestimmten Frauengruppen und deren Praxis von

Feminismus genügt nicht, um sie als anti-feministisch zu klassifizieren.

60Wack 54 .

6lDies zeigt sich in den teilweise abwertenden Titeln der Rezessionen und in den unterschiedlichsten Benennungen, die Kritiker für die Frauen fanden, und die Edith Wack in ihrem Artikel zusammenfaßte: "'trunkene Weibsbilder' - 'meschuggene Weiber' - 'farbiges, komischer Frauenkleeblatt' - 'vier Damen' - 'handfeste Frauenpersonen' - 'Roth-Mädels' - 'westliche Wohlstandsdamen, unbefriedigt, mit anklingenden lesbischen Beziehungen' - 'weibliches Selbsterfahrungsquartett' 'Reisedamen' - 'Mini-Frauengruppe' - 'gemischter Doppel­ vierer' - 'Emanzenquartett' - 'vier Damen mittleren Alters' - 'fidele Damen' - 'vier Weiber'". (53) LINA Bleib mir mit Frauenfrauen bloß vom Leib. Schau sie dir an. Jahrelang sitzen sie da mit blassen Ärmchen und dünnen Gesichterchen und jammern sichs gleiche Leid von der Seele. Wenns hoch kommt, richten sie Lektürekurse ein und rollen das Problem mit Literatur seit Adam und Eva auf. Dann kommt die Selbsterfahrungsnummer. Schon sind zwei Jahre rum. Zu Haus herrscht nach wie vor dasselbe Elend. Solln sie doch abhaun, wenn der Alte wirklich ein Giftzwerg ist. THEA Das kann nicht jeder. Wenn Kinder ... LINA Wennkinderwennkinder! Meine Zwillinge waren sechs Monate alt bei der Trennung. Ich hab von dem Witz an Sozialhilfe und vom Adressentippen gelebt. Einfach ist Weggehen nie. Aber besser. (RW 58)

Das ausführliche Zitat belegt auf anschauliche Weise zwei

Punkte die LINA in ihrer Kritik aufgreift. In ihrer zynisch­

gehässigen Beschreibung der schwachen "Frauenfrauen" und der

"Dozentengattin" (RW 59) malt sie zwar ein einseitiges und

stereotypes Bild der Frauenbewegung, aber sieht man LINAs

Beschreibung im historischen Kontext und durch ihren persön­

lichen Background, der von ihrer Geschlechts- und Klassen­

zugehörigkeit entscheidend geprägt und beeinflußt wurde/wird,

dann erscheint LINAs Verärgerung und Frustration mit solchen

"Frauenfrauen", mit denen sie nur durch ihr Geschlecht ver­ bunden ist, verständlich. LINA kritisiert den von vielen

Frauengruppen nicht eingestandenen Seperatismus, der von der

Gemeinsamkeit des Geschlechts ausgehend, andere maßgebliche

Unterschiede innerhalb der Klasse Frauen ignoriert— wie z. B.

Klassenzugehörigkeit— aber im Interesse aller Frauen zu 81

sprechen vorgibt.62 LINAs Äußerung kann so verstanden werden,

daß einzelne Frauengruppen beschränkte Interessengruppen

verkörpern, die zwar auch auf Grund ihres Geschlechtes unter

Diskriminierung leiden, zugleich aber ihre priviligierte

Klassenlage durch ihre Verbindung mit einem sie (unter­

drückenden) Mann nicht aufgeben wollen, da diese Verbindung

sie auf anderer Ebene 'bemächtigt/, sie in die Unterdrückung

anderer (Frauen und Männer) einbezieht.

Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre wurde das Problem,

daß Frauen nicht nur Unterdrückung und Diskriminierung er­

fahren, sondern diese auch auf verschiedenen Ebenen selbst

praktizieren, in den feministischen Diskussionen aufge-

griffen.63 Für ökonomisch schwache Frauen, das wird aus LINAs

Angriff klar, ist von solchen Frauengruppen keine Hilfestel­

lung zu erwarten, da sie "ihnen in Wirklichkeit nur eine

“LINAs ironisch verniedlichende Beschreibung der körperlichen Erscheinung ("blasse Ärmchen", "dünne Gesichterchen" und "Birkenblätteraugen" RW 58-59) situiert diese Frauen auf eine andere Ebene in der sozio-ökonomischen Hierarchie. Klassenspezifische Unterschiede unter Frauen resultieren in Interessenskonflikten und das führt zu erneuter Unterdrückung. Sue-Ellen Case bemerkt, "that there are crucial differences between upper-middle-class women and working- class-women— not only are all women not sisters, but women in the privileged dass actually oppress women in the working dass." Feminism and Theatre 83.

63Vor allem Frauen aus dem nicht westlichen Kulturbereich, oder afro-amerikanische Feministinnen haben den "weißen" Feminismus angegriffen und auf die Diskriminierung und den Seperatismus hingewiesen. Z. B. : Angela Davis, Women. Race and Class (New York: Random House, 1981). In Europa hat sich Anja Meulenbelt in ihrem Buch Scheidelinien. Über Sexismus. Rassismus und Klassismus (Reinbek, 1988) mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. 82

weitere Rolle mit festqelegten Verhaltensnormen aufzwingen und

das Problem der individuellen weiblichen Selbstfindung nur

verlagern".64 Durch übermäßiges, abstraktes Theoretisieren

lenken sie sich von den unmittelbaren, den individuellen

Alltag beherrschenden Problemen ab und schaffen keine un­

mittelbare Abhilfe für das "Elend" zu Hause. Implizit

kritisiert LINA auch das Auseinanderklaffen von feministischer

Theorie und Praxis. Sie sieht manche Frauengruppen als

Zufluchtsort, um sich nicht mit dem alltäglichen Elend zu

Hause auseinandersetzen, bzw. Entscheidungen für ihr persön­

liches Leben treffen zu müssen.

LINAs Vorwürfe an den Frauengruppen müssen als Kritik an

der Situation in den 70er Jahren gesehen werden: Feministische

Gruppen tendierten dazu, die unterschiedlichen Lebensbedin­

gungen und -Zusammenhänge der Frauen auszublenden— z. B. in

LINAs Fall ihre Klassenlage, ihren zivilen Status, ihre

Kinder. Gegen Ende der 70er und besonders zu Beginn der 80er

Jahre argumentierten feministische Wissenschaflterinnen, daß

jeder einzelne Mensch Schnittpunkt verschiedener Formen von

Unterdrückung sei, und jede dieser Formen ihre besonderen

Aspekte habe, die sich auf die allgemeinen Lebensbedingungen

auswirken. Die Zentrierung auf eine Form der Unterdrückung—

z.B. als Frau in der Geschlechterbeziehung— führt dazu sich

nur als Opfer zu sehen. Elly Bulkin schreibt dazu:

MRita Mielke, "Sprachstücke. Friederike Roth als Theaterautorin" 64. 83

"How much easier it is for someone to say simply that she is oppressed— as a woman, a Native American, a Jew, an older woman, an Arab-American, a Latina— and not to examine the various forms of privilege which so often co-exist with an individual's oppression. Essential as it is for women to explore our particular oppression, I feel keenly the limitations of stopping there, of not filling in the less comfortable contours of a more complete picture in which we might exist as oppressor, as well as oppressed.1,65

Die geschlechtsspezifische Unterdrückung wurde ohne Rücksicht auf die diversen Manifestationen, die ein und dieselbe Art von

Unterdrückung in jeweils verschiedenen Kontexten annehmen kann, gesehen. Frauen, die durch ihre politische und sozio-

ökonomische Position einer priviligierten Gruppe angehören, und sich "nur" mit Geschlechtsdiskriminierung abfinden müssen, nehmen durch ihre gesellschaftliche Position an anderen

Unterdrückungsformen teil. Am Beispiel einer Dozentengattin veranschaulicht LINA ihren Begleiterinnen gegenüber diese

Position:

LINA Eine Dozentengattin. Die hat, und ohne was zu tun, im Monat vielviel mehr Geld zur Verfügung als ich mit meinen gefräßigen Monstern. Und beschwert sich, weil ihr Guter nie Zeit für sie hat und sogar abends noch liest. Das schadet ihrem Selbstwert, hat sie mir lang und breit erklärt. Dann tu doch was für deinen Selbstwert, sag ich. Und was? fragt sie und guckt mich an mit ihren Birkenblätteraugen. Arbeiten, hab ich gesagt. Schon keift sie los, ich war dogmatisch ... Da schnapp ich mir liebern knackigen Lehrling. Mit dem verbindet mich mehr. (RW 59)

In LINAs Kritik an und Reaktion zur Situation der Dozentenfrau

65Elly Bulkin, "Hard Ground: Jewish Identity, Racism, and Anti-Semitism," Yours in Struggle. Elly Bulkin, Minnie Bruce Pratt, Barbara Smith (New York: Long Haul Press, 1984) 99. zeigt sich ihre eigene Identifikation mit dem Opferstatus auf

ökonomischer Ebene— sie macht also genau dasselbe, was sie bei der Dozentengattin kritisiert. Dieser scheinbar nebenbei subtil dargestellte Vergleich weist auf das Gegeneinander- ausspielen von Unterdrückungsformen, auf eine Konkurrenz um den wahren Opferstatus hin, was für sich problematisch ist.

Loyalität der eigenen Klasse gegenüber ist für LINA bindender als die zu ihrem Geschlecht. Den von der Dozentenfrau ein­ genommenen Opferstatus empfindet LINA nicht als unüberwind­ bar: "Einfach ist Weggehen nie. Aber besser." (RW 58) Frauen sind nicht nur Opfer patriarchaler Unterdrückung, sondern auch

Mittäterinnen in ihrer eigenen Unterdrückung, wenn sie in ihrer Situation verharren.66 Frauen wie der Dozentengattin mangelt es an persönlicher Initiative konkrete Veränderungen in ihren Verhältnissen herbeizuführen. LINA fühlt sich solchen

Frauen gegenüber überlegen. Eine solche Überlegenheit, bemerkt

Ute Osterkamp, die sich "gegen die jeweils anderen richtet, deren Zurückbleiben hinter dem ' feminisistischen Entwicklungs­ stand/, den man selbst zu verkörpern scheint, mit mangelnder persönlicher Initiative oder menschlicher Substanz erklärt wird," verkehrt sich in eine "weitere Form der Diskriminierung und Unterdrückung der Frauen, indem diese unmittelbar für ihre

“Die Auffassung, daß Frauen nicht nur Opfer der Machenschaften anderer sind, sondern für ihre eigene Unterdrückung mitverantwortlich sind, wird von mehreren feministischen Wissenschaftlerlnnen vertreten. Ute Osterkamp setzt sich in ihrem Artikel "Frauenunterdrückung - Betrof­ fenheit, Parteilichkeit" mit den Selbstunterdrückungsthesen auseinander. In: Klasse und Geschlecht 35-59. 85

Unterwerfung verantwortlich gemacht werden."67 LINAs Kritik an den Frauen ist letztlich auch Selbstkritik, nur faßt sie sie

nicht als solche auf.

Genauso wie LINA die "Frauenfrauen11 kritisiert, die durch bloßes Demonstrieren ihres Opferstatus sich nicht daraus befreien, sondern die bestehenden Unterdrückungsverhältnisse weiter reproduzieren (da sie sich damit arrangieren), kann

LINAs "Weggehen" nicht nur als Widerstand, als Absage an die patriarchale Familie und Beziehung zwischen den Geschlechtern verstanden werden, sondern als Flucht. IDAs Kommentar dazu:

"Es gibt auch Momentanes. Und das muß ausgefochten werden.

Weggehen geht immer." (RW 58) IDA verteidigt zum einen ihre eigene Position gegenüber LINA, zum anderen weist sie darauf hin, daß Flucht allein die Verhältnisse auch nicht ändert, das

System sich weiterhin fortsetzt.

LINA versteht ihre Haltung als aktiven Widerstand gegen die in Beziehungen praktizierte Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen, sie erwartet von anderen Frauen dieselbe Haltung:

LINA Frauen gibts, denen mußt du einfach eine schieben. ANNA Und Männer erst. Mein lieber Schwan! LINA Stimmt. Immerhin — denen kannst du in den Hintern treten. Aber Frauen? Irgendwo, schließlich und endlich, bin ich auch eine. (RW 59).

LINA fühlt sich auf horizontaler Ebene68, ihrer Klasse

67Osterkamp 40.

68Meine Definition von horizontaler und vertikaler Ebene: Unter horizontalen Ebenen verstehe ich die Hierarchie der sozio-Ökonomischen Klassen, wo sich Frauen und Männer 86

verbunden— trotz Aufrechterhaltung des sexistischen Dominanz-

und Unterordnungsverhältnisses— und sie ist sich bewußt, daß

sie sich auf vertikaler Ebene mit Frauen solidarisieren

sollte, da sie durch ihr biologisches und kulturell erworbenes

Geschlecht der Klasse "Frauen" angehört. Diese Klasse stellt

eine in sich politisch, ökonomisch, ethnisch, rassisch

differenzierte Klasse dar, deren einziger Berührungspunkt in

der sexuellen Unterdrückung liegt. Die Klassen "Frau" und

"Mann" sind keine von Natur aus gegebenen— genauso wenig wie

die sozio-ökonomischen Klassen--, sondern gesellschaftlich

konstruierte Klassen.61' Das Verhältnis zwischen den beiden

Klassen wird durch "Sexualität" bestimmt. Catharine MacKinnon,

wie auch andere feministische Wissenschaftlerlnnen, sieht

Sexualität als bestimmenden Faktor für die Unterdrük-

kung/Unterordnung der Frauen:

Sexuality, then, is a form of power. Gender, as socially constructed, embodies it, not the reverse. Women and men are divided by gender, made into the sexes as we know them, by the social requirements of heterosexuality,

gleichzeitig auf einer Ebene befinden. Vertikal durch die Hierarchie der horizontalen Ebenen sind Frauen und Männer vertreten, die mit den anderen Ebenen jeweils ihre Geschlechtszugehörigkeit teilen. Man kann insofern in dieser ganzen Hierarchie auch von vertikalen Klassen sprechen, wie in diesem Fall von Frauen und Männern.

69s. Monique Wittig, "One is Not Born A Woman," Feminist Issue Vol. I, No. 2 (Winter 1981): 47-54. "Thus it is our historical task, and only ours, to define what we call oppression in materialist terms, to make it evident that women are a dass, which is to say that the category 'woman' as well as the category 'man' are political and economic categories not eternal ones. (...) Once the dass 'men' disappears, 'women' as a d a s s will disappear as well, for there are no slaves without masters." (50) 87

which institutionalizes male sexual dominance and female sexual Submission.70

Unabhängig davon, welcher ethnischen, sozialen oder kulturel­ len Gruppe Frauen in der Gesellschaft angehören, haben sie etwas gemeinsam: sie sind das sexuelle 'Andere', das Objekt des Mannes und seiner Aktionen; sie werden durch ihre

Sexualität, durch ihre Beziehung zu einem Mann definiert.71 Es ist dieser Zustand, der die ungleichen Kategorien "Frauen” und

"Männer" konstituiert, und der beseitigt werden muß.

Für Frauen wie LINA ist es schwerer sich mit Frauen aus anderen sozio-ökonomischen Gruppen zu identifizieren als mit

Männern der eigenen sozialen Klasse. Nancy Cott schreibt über die Identifikation von Frauen mit anderen Frauen, daß die

Bereitschaft "wir" zu sagen, am leichtesten von jenen Frauen kommt, die der dominanten Gesellschaftsgruppe angehören:

The woman's right tradition was historically initiated by, and remains prejudiced toward, those who perceive themselves first and foremost as 'woman,' who can gloss over their dass, racial and other Status identifications because those are culturally dominant and therefore relatively invisible.72

Dies trifft auf die "Frauenfrauen" vom Frauenzentrum zu, deren

Programm LINA als wertlosen Zeitvertreib sieht, und mit denen sie sich nicht identifizieren kann. Frauen wie LINA, die im

70MacKinnon 19.

7ls. Wittig: "For what makes a woman is a specific social relation to a man, a relation that we have previously called servitude, a relation which implies personal an physical Obligation as well as economic Obligation ..." 53.

72Nancy F. Cott, The Groundina of Modern Feminism (New Haven: Yale University Press, 1987) 9. 88 dominanten sozialen System mehreren marginalen Gruppen ange­ hören, sehen ihre Geschlechtszugehörigkeit und die daraus resultierende Diskriminierung nicht als wichtiger als andere

Diskriminierungen, denen sie ausgesetzt sind, in dem z. B.

Geschlecht mit religiöser Gesinnung, politischer Meinung,

Klassen-Background oder anderen "diversen" Charakteristiken verstrickt ist.73 Sich nur mit einer Gruppe zu identifizieren, ein Gruppenbewußtsein, ein "wir" innerhalb der Gruppe "Frauen" zu entwickeln,74 deren besonderes Charakteristikum Diversität ist, ist ein anspruchsvolles Unterfangen.

LINA erwartet von Frauen mehr als von Männern: aufgrund ihrer sexuellen Präferenz ("Mir machen Männer im Prinzip nämlich Spaß." RW 59) kann sie sich mit bestimmten, sexistisch repressiven Aspekten in der Beziehung zu Männern engagieren, nicht aber mit bestimmten oppressiven, nicht-sexistischen

73Cott 9.

74Elly Bulkin spricht in "Hard Ground: Jewish Identity, Racism, and Anti-Semitism" das Problem des "Wir-Sagen-Könnens" mit Bezug auf die jüdische Identität aus ihrer Perspektive als Frau, Lesbe und Jüdin an, und die Schwierigkeiten, die ein solches "wir" impliziert, da es immer andere Gruppen ausschließt, obwohl es viele "wir"-Positionen gibt, mit denen sich ein Individuum identifizieren kann. "As a woman, a lesbian, a Jew, I know that the division (between 'we' and 'they'-RG) expresses both the joy and strength of who 'We' are and the justified fear and mistrust of a dominant society which views us with hostility, a society which places us outside the boundaries of what it values, even when we are temporarily safe from its violence. At the same time, (...) I also see other 'We's' with whom I identify. In each instance, I feel bound by our shared identity and oppression, but also find that, where political views and actions diverge significantly, I experience little sense of commonality." (102) 89

Komponenten in der Beziehung zu anderen Frauen. In Männern

sieht sie potentielle Feinde ("Immerhin— denen kannst du in

den Hintern treten." RW 59), da sich Männer und Frauen in

heterosexuellen Beziehungen als Gegner gegenüberstehen und

sich Konflikte aus der Machtverteilung, bzw. der Infrage­

stellung derselben ergeben. Das Verhältnis zu Männern wird von

sexuellen Faktoren bestimmt und Frauen können— laut LINA— die

ausbeuterischen Beziehungen verlassen und sich als Klasse

etablieren um die Beziehung zu Männern zu verändern.

Das Verhältnis von Frauen zu Frauen sieht LINA durch

andere Faktoren bestimmt; "Aber Frauen? Irgendwo, schließlich

und endlich, bin ich auch eine." RW 59. Von ihrem Selbstver­

ständnis ausgehend legt LINA andere Maßstäbe an, und ihre

Kritik gilt vor allem dem internen Machtkampf unter Frauen.

Der Faktor, der Frauen verbindet, sind die Erfahrungen des

"Frauseins" in einer frauenfeindlichen Gesellschaft und die

gegenseitige Identifikation— sei es im Negativen oder

Positiven— basiert auf gemeinsamen Geschlechtsrollen— wie z.

B. Hausfrau, Ehefrau, Mutter. In der Beurteilung von Männern und Frauen wendet LINA einen "Double,,-Standard an; von Frauen erwartet sie mehr und verurteilt ihre Handlungen bereit­ williger, bzw. sie zeigt wenig Verständnis: "Und Frauen gibts, denen mußt du einfach eine schieben." (RW 59) Ihre hohen

Ansprüche an Frauen verhindern eine wirkliche Auseinander­ setzung mit ihren Problemen. Nur durch Toleranz kann ein stärkeres Geschlechtsbewußtsein, ein politisiertes Bewußtsein 90

innerhalb der Klasse "Frauen" entstehen; beides Voraus­

setzungen, um die gegenwärtigen Zustände zu ändern. Die

Absicht diskriminierende Lebensbedingungen nur im eigenen

Privatleben zu beseitigen, ändert wenig an den dominierenden

Strukturen der Gesellschaft. Durch den Ausschluß des

dominierenden (Ehe)Mannes im eigenen Leben werden die

patriarchalen Strukturen der Kultur keineswegs beseitigt; wenn

auch die einzelne Frau damit einen Schritt zur individuellen

Befreiung unternimmt.

LINAs Kritik ist gut angebracht, aber ihre eigene

Position zeigt dieselben Schwächen, die sie so bereitwillig

bei den "Frauenfrauen" angreift. Auch sie ist dogmatisch,

verlangt von anderen ein bestimmtes Handeln, das sie aus ihrer

eigenen Situation und Erfahrung ableitet. Sie ist nicht bereit

die "Frauenfrage" zu diskutieren, ist an anderen Standpunkten

nicht interessiert und erstickt IDAs und THEAs Versuche einer

Verteidung der "Frauenfrauen" im Keim.

Die Darstellung dieser vier Frauen, verweist auf das problematische Verhältnis zueinander, das von Mißtrauen bestimmt, zu Beginn der 80er Jahre eine neue Aera für die

Frauenbewegung einleitete, die viel von ihrem Einfluß einbüßte. Frauengruppen, die während der 70er Jahre überall auftauchten und eine Vielzahl von Initiativen einführten und die Situation von Frauen zu ändern beabsichtigten, verloren nun an Boden und führten letztendlich zu Aufsplitterungen. 91

Frauen und ihr Selbstverständnis

ANNA, LINA, THEA und IDA stehen im Mittelpunkt von Ritt

auf die Wartburg. Daß sie nur bei ihren Vornamen genannt

werden, im Gegensatz zu den generischen Namen der SOLDATEN,

signalisiert in diesem Kontext ihre Autonomie als Individuen,

losglöst vom Nachnamen, dem Patronymikon, der sie in Beziehung

zu einem Mann (Vater/Ehemann) definiert. Obwohl die vier

Frauen als Gruppe das Stück tragen (während des ganzen

Stückes— abgesehen vom tableauartigen Szenenbild zu Beginn—

befinden sich die Frauen immer gleichzeitig auf der Bühne), wird durch die Darstellung der Interaktionen und Gespräche miteinander abwechselnd eine der Frauen in den Mittelpunkt

gerückt. Die Details und Informationsfetzen, die ihnen über

ihren Alltag entschlüpfen sowie andere situationsbedingte

Äußerungen, erlauben einen mosaikartigen Einblick in die

Selbsteinschätzung und das -Verständnis der Frauen.

Von den vier Frauen ist LINA die lautstärkste, über sie wissen wir am meisten, da sie sich, ihre Meinungen und ihre

Errungenschaften gern ins Licht stellt. LINA spielt nach außenhin die unabhängige, emanzipierte Frau und genießt die

Bewunderung, die ihr dafür von THEA und IDA entgegengebracht wird:

THEA seufzt bewundernd Zwillinge. Menschenskind. LINA Was sonst. Wenn ich was mach, dann gründlich. THEA Und alles ohne Mann. LINA Was ohne Mann? THEA Ich denk du lebst allein? 92

LINA Ich versorg uns allein. Wenn du das meinst. THEA Mit den» bißchen Sekretärinnengehalt? LINA Undn bißchen Sozialhilfe undn bißchen Alimente undn bißchen Organisationstalent. (ßW 12)

Sie ist stolz auf ihre Entscheidungen und hat wenig Ver­ ständnis für die Lebenswirklichkeiten anderer Frauen. Die

Institution Ehe, die obligatorische Heterosexualität, in der letztendlich Unterdrückungsverhältnisse immer wieder repro­ duziert werden, stellt sie genausowenig in Frage. Männer sind austauschbar für sie, aber am Szenario der Beziehungen ändert sie nichts.

Als Familienoberhaupt genießt sie ein gewisses Maß an

"patriachaler" Autorität, welche sie aber nur auf Kosten eines niedrigeren Lebensstandards und doppelter Arbeitsbelastung erreicht. Die Freiheit und Unabhängigkeit eines weiblichen

Familienoberhauptes ist im Vergleich zum männlichen Gegenstück beschränkt und sehr illusorisch. Im Prinzip leben nämlich alleinerziehende Mütter lediglich getrennt vom männlichen

Nutznießer, der sich indirekt (z. B. durch ihre Kinderer­ ziehung) ihre Arbeit als Mutter aneignet. Finanzielle Selbst­ ständigkeit bedeutet für LINA Freiheit und ist die einzig erstrebenswerte Position für eine Frau, die sie persönlich durch “ein bißchen Organisationstalent11 erreichte. Mit dem

Ausbruch aus dem unterdrückenden Geschlechterverhältnis, welches sie vor allem in der ökonomischen Abhängigkeit sieht, 93 assoziert sie Unabhängigkeit und Emanzipation.75

Die diversen Formen psychologischer Unterdrückung, die in den (Macht)Beziehungen zwischen Männern und Frauen präsent sind, werden von LINA ignoriert und bagatellisiert, obwohl auch sie darunter leidet. Eine Art solcher subtiler Kontroll- mechanismen sowie den dahinter verdeckten Sexismus, denen

Frauen ständig ausgesetzt sind, veranschaulicht LINA scheinbar ganz nebenbei anhand einer Geschichte über ihren "Aktuellen":

LINA Der ist schon gut. Manchmal geht er mir auf die Nerven. Pause Irgendwann gab es im Fernsehen diese Serien nach Romanen irgendeiner— ich weiß den Namen nicht mehr; wo immer eine ganz Arme mit einem reichen Baron oder Grafen. Ich guck mir das an, denke, mein Dicker schläft lang. Pfeif ich also auf die intellektuelle Distanz und leide mit der Armen. Und fühl mich auch so verkannt und getreten und heul synchron mit der Armen im Fernsehen. Anna wird wieder aufmerksam. Aber auf mirakulöse Weise war die dort immer schon reich oder adelig. Das macht natürlich alles noch schlimmer: dort eine Feine, und du hockst im Elend, bist in das Elend jetzt so richtig eingestiegen und fühlst dich ja schließlich auch irgendwie edel, wirst aber nicht reich. Klar heulst du da Rotz und Wasser. Plötzlich geht die Tür auf, mein Dicker steht da, wirftn müdn Blick aufn Fernseher, ich reib mirn Rotz ausm Gesicht, muß er ja nicht unbedingt sehen.

7SDie traditionell unterdrückte Stellung der Frau im privaten Bereich der Familie, d. h. die ungleichen Macht­ verhältnisse in den Geschlechterbeziehungen wiederholen sich auf anderer Ebene, in den Produktionsverhältnissen, wo Frauen als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden (dies gilt für LINA, IDA und die arbeitslose THEA). Siehe Alma Steinberg, "Frauen in den Klassenverhältnissen," Klasse und Geschlecht. 15-33. Shulamith Firestone war eine der ersten Theoretiker- innen, die in ihrem Buch The Dialectic of Sex (New York: William Morrow, 1970) eine Theorie des Patriarchats entwarf, welche als Ursache der Unterdrückung der Frau ihr biologisches Geschlecht und die Fähigkeit zur Reproduktion sieht, was sich auf die patriarchale Organisation der Gesellschaft auswirkt. 94

Der erfaßt aber die Lage sofort, schüttelt den Kopf, murmelt Gottdieseweiber und verschwindet. Erschlagen hätt ich ihn können, erwürgen mit bloßen Händen. (£W 73)

Dieses ausführliche Zitat veranschaulicht, wie LINA mit

bestimmten Widersprüchen in sich umgeht, und wie sie sich und

ihr "Elend" sieht, aus dem sie sich durch den Film entreißen

läßt, an das sie aber gerade durch den Film erinnert wird. Sie

genießt den Film, der ihr die imaginäre Teilnahme am Leben der

"Armen" durch Identifikation mit ihr erlaubt. Aber durch das

Happy-End der romantischen Liebesgeschichte im Film, das der

"Armen" letzlich den gewünschten Ausgang versichert, wird LINA daran erinnert, daß ihre eigenen Beziehungen nie so zufrieden­ stellend und harmonisch verlaufen wie die idealisierten, ein­

fachen Beziehungen in solchen Geschichten. Durch das gemur­ melte "Gottdieseweiber" ihres Partners wird sie abrupt in die

Misere und Komplexität ihrer eigenen Beziehung zurückgeworfen.

Dadurch daß LINA diese Geschichte mit der Bemerkung ein­

leitet, daß sie sich diesen Film nur ansah, weil ihr Partner schon schlief, gibt sie zu verstehen, daß sie in seiner Gegen­ wart bestimmte Wünsche/Interessen unterdrückt, um als eben­ bürtige Partnerin akzeptiert zu werden. Durch die Identifi­ kation und das Mitleiden mit der "Armen" im Fernsehen erlaubt

LINA einem Gefühl Raum, das ihr Partner und deshalb auch sie, mit "Weiblichkeit" im Negativen assoziiert und für minder­ 95

wertig hält.76 Mit solchen Widersprüchen setzt sich LINA nicht

auseinander, sondern sie unterdrückt jene Charakterzüge, die

dem Image, das sie verkörpern will, nicht entsprechen. Das

Zurückfallen in das "weibliche" Rollenverhalten des leidenden

Opfers, paßt nicht zum nach außen hin portraitierten Image,

und sie erlaubt es sich nur in ihrer ganz privaten Sphäre,

denn sie sieht darin etwas Verbotenes, einen Teil ihrer

Identität, den sie leugnet. LINA heult und leidet, weil sie

sich auch "verkannt und getreten" fühlt, und in einem unbe­

obachteten Moment ("mein Dicker schläft lang") kontrolliert

und unterdrückt sie ihre Gefühle nicht. Ihre Scham vor und der

Ärger auf ihren "Dicken", der sie in dieser Situation ertappt

und verächtlich "Gottdieseweiber"77 murmelt, bezeugt, wie sehr

sie unter solchen Bemerkungen leidet, die darauf verweisen,

daß Frauen einer unterlegenen, minderwertigen Gruppe angehören

und diesem Status nicht entweichen können. Um dieser Art von

psychologischer Unterdrückung, die gegen sie als Frau

76Die unterschiedlichen Aspekte, die eine individuelle "Identität" konstruieren, entstammen keiner essentiellen Natur, sondern bestimmten Sozialisierungen, die durch Geschlechts-, Klassenzugehörigkeit usw. geprägt werden und jeweils im historischen und geographischen Kontext gesehen werden müssen. Die Positionen widersprechen sich oft gegenseitig, da sie sich aus verschiedenen historischen Erfahrungen in einer bestimmten Gesellschaft entwickelt haben. Identität, so argumentiert de Lauretis, "is a locus of multiple and variable positions, which are made available in the social field by historical process." "Eccentric Subjects: Feminist Theory and Historical Consciousness" 137.

^ANNA benützt "Gottdieseweiber" noch in derselben Szene in einem anderen Kontext IDA gegenüber, von der sie beim Schlafen gestört wird. (RW 75) gerichtet ist, aus dem Weg zu gehen, überwacht LINA ihr

Verhalten und unterdrückt Teile ihrer Identität, die sie als

"weiblich" und daher minderwertig einstuft. LINA wird selbst

zur Unterdrückerin des vermeintlich "Weiblichen" in sich, um

keine Bloßstellung erfahren zu müssen. Diese Art der Unter­

drückung stellt LINA nicht in Frage, sondern sieht in ihrer

Assimilierung an das männliche Geschlecht die einzige Möglich­

keit einer freien Existenz. LINA hat von Frauen im Allgemeinen

und der Frau in sich ein negatives Bild, sie kann/will sich

nicht mit ihnen identifizieren, und unterdrückt die Frau in

sich (d. h. was von der Sozialisierung als Frau noch vorhanden

ist), da sie/die Frau ihre schwer erkämpfte Autonomie/Anpas­

sung gefährdet. Nur ANNA gegenüber läßt sie ihre Frustration und Unzufriedenheit mit sich und der Situation der Frauen im deutschen Kontext zum Ausdruck kommen: "LINA Hier wie dort, sag ich dir. Du kannst bloß explodieren oder abfaulen

langsam." (RW 72)

Bei IDA und THEA verhält es sich anders, da keine von beiden sich über Frauenbilder und Weiblichkeitskonstrukte bewußt Gedanken macht. Ihre Frustration stammt aus dem mit

Haushalt, Familie und Arbeit gefüllten Alltag, und drückt sich in Larmoyanz über die Zustände bis hin zum Selbsthaß aus.

Beide gehen mit ihrer Frustration auf selbstzerstörerische

Weise um: sie widersetzen sich ganz passiv der Ausweglosigkeit ihres Frauendaseins, das sich in der Doppelbelastung von

Lohnarbeit außerhalb und unbezahlter, nicht anerkannter Arbeit 97

in der Familie, sowie in den von ihnen erwarteten, fürsorg­

lichen Qualitäten als Ehefrau, Hausfrau und Mutter mani­

festiert, indem sie sich in andere (körperliche) Abhängig­

keiten flüchten, und kompensieren damit für ihre Unzu­

friedenheit. THEA ißt zuviel, weil sie "so Lust auf viel" hat,

und sie diese Lustgefühle nicht kontrollieren will, denn durch

Essen kompensiert sie für andere Einschränkungen und Kontrol­

len in ihrem Frauenalltag. Aufgrund ihrer Eßsucht leidet ihre

Erscheinung ("THEA traurig Mir schaun die Leute hier genauso

nach, weil ich so dick bin." RW 76) und ihre Figur verursacht

Unsicherheiten, die sie durch ihr "Make-up" (Frisur, Schminke,

Kleidung) zu retuschieren versucht. An THEAs Körper ist der

Widerspruch zwischen den herrschenden Frauenbildern und der

Realität zu betrachten; an ihrem Körper zeigt sich die Ent­

täuschung, und durch ihn macht sie auf sich aufmerksam, aber

zugleich leidet sie unter den Blicken, da diese ihrer Körper­

fülle und nicht ihr als "Frau" gelten. Deshalb versucht sie

durch Frisur, Schminke und Kleidung für die "Weiblichkeit", die ihr figurloser Körper nicht mehr vermittelt, zu kompen­

sieren.78

78s. Sigrid Weigel, Die Stimme der Medusa 115. Weigel spricht davon, wie "die herrschenden Frauenbilder und Weib­ lichkeitsmuster (...) in einem eklatanten Widerspruch zur sozialen und psychischen Realität von Frauen" stehen und wie sich diese Widersprüche auf den Körpern von hysterischen, magersüchtigen Frauen einschreiben. Ähnlich verhält es sich bei übergewichtigen Frauen, die an ihrem Körper auch die schöne, weibliche Form zerstören und durch ihre Größe unbewußt mehr Raum beanspruchen, auf sich aufmerksam machen wollen. 98

IDA dagegen versucht der Unzufriedenheit, den Ent­ täuschungen und Frustrationen im täglichen Dasein durch

Alkohol zu entkommen:

Zu Haus, das ist was anderes. Da kipp ichn Schnaps rein und denk, der Kopf wird mir freier. Und noch ein und noch ein und fühl mich schließlich abgeschunden und mein Hirn wie verrückt. Am nächsten Tag bin ich bloß schrecklich ruiniert und stier vor mich hin und denk, so geht es nicht weiter. (RW 44)

Trotzdem ändern IDA und THEA nichts an den frustrierenden

Zuständen zuhause.79 Die patriarchalen Unterdrückungs- und

Machtverhältnisse, die im Privaten wie im öffentlichen Bereich trotz gesetzlicher Gleichberechtigung beibehalten werden, und in denen der Ursprung für das unbefriedigende Dasein der

Frauen zu suchen ist, werden weder von IDA, THEA noch LINA direkt angegriffen, alle drei arrangieren sich mit den

Verhältnissen, sie können sich nicht aus dem patriarchalen

Strukturen herauslösen.*1’

19Z. B. IDAs stiller Protest— "ANNA ... Die Ida hat dem Witbold zwei halbe Hosen zum Geburstag geschenkt. Weil sie ihn liebt." (RW 73)— deutet den Locus ihrer Unzufriedenheit, die Schrecken ihres Eheverhältnisses nur an.

*uDer Gebrauch des Adjektivs "patriarchal" bzw. des Substantivs "Patriarchat" ist problematisch und muß näher definiert werden, da seine Bedeutung keine ahistorische ist. Im Kontext der 70er/80er Jahre kennzeichnet "patriarchal" primär eine Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, die sich in allen Lebensbereichen manifestiert, trotz Gleichstellung der Geschlechter vor dem Gesetz. Alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, inklusive Familie, Wirtschaft, Religion, Sexualität, Psychologie, Kultur usw. tragen weiterhin zur Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen und Interessen bei. Der Staat unterstützt patriarchale Verhältnisse direkt durch bestimmte veraltete Gesetze, die Regelung der heterosexuellen Ehe, die Akzeptanz diskriminierender Lohnarbeit. 99

Ritt auf die Wartburg ist ein Produkt der Frauenbewegung

und der feministischen Diskussionen, wie sie sich Ende der

70er und Anfang 80er Jahre in Deutschland manifestierten.

Meiner Ansicht nach kommentiert das Stück eine Serie von

äußerst wichtigen Momenten in der Entwicklung der westlichen

feministischen Theorien, in denen vor allem die bis dahin

vorherrschende Position, die Frauen nur als Opfer sah,

verkompliziert wurde. In der Darstellung der vier Frauen­

figuren wird gezeigt, welche Widersprüche aus dem Verhältnis

empirischer Frauen zum Image "Frau" und zur patriarchalen

Gesellschaft resultieren, und welche Implikationen der Umgang

damit auf eine feministische Politik hat. Durch den Versuch

verschiedene Unterdrückungsmechanismen aufzuzeigen (den Umgang

bzw. das Ausweichen einer Auseinandersetzung der Frauenfiguren

damit, oder das Zurückgreifen auf dieselben Strategien an

anderer Stelle zum eigenen Vorteil), wird die Aufmerksamkeit

der Leserin auf die unbewußte Internalisierung und Reproduk­

tion patriarchaler Strukturen gelenkt. Dadurch daß der Text

diese Frage aufgreift, konfrontiert er die/en Leserin mit dem

Problem der Komplizenschaft.

IDA und THEA z. B. haben den Objektstatus und den auf sie

gerichteten "männlichen Blick", der sie in bestimmte Rollen

und Weiblichkeitsmuster drängt, internalisiert; sie richten diesen internalisierten "männlichen" Blick auf sich, betrach­ 100

ten sich selbst und werden zum eigenen Objekt.81 Frauen

objektieren sich selbst und nehmen in Beziehungen zu Männern

die Objektrolle ein. In einer patriarchalen Gesellschaft, wie

sie Roth darstellt, sind Frauen das Objekt des "männlichen

Blickes"82: Frauen werden beobachtet, definiert, objektiviert

und sexualisiert. Dieser Akt der Objektivierung— ein Akt der

Kontrolle— -resultiert in einem ungleichen Machtverhältnis

zwischen den Geschlechtern und bestimmt die Frau als das

"andere Geschlecht", als das "Objekt" im Gegensatz zum männ­

lichen "Subjekt".83 Frauen werden als das "andere Geschlecht"

konstituiert, wobei "das 'andere7 nicht im Sinne eines Ver­ gleiches bzw. einer Nebenordnung verstanden (wird), sondern

als Unterordnung: Die Männer sind das erste, das eigentliche

Geschlecht",84 und die Frauen werden mit all jenen Qualitäten ausgestattet, die Männer in der Definition von sich selbst

8,Der Teil der Frau, der sich selbst als Frau betrachtet, ist der internalisierte, männliche Blick, und übernimmt dem betrachteten, weiblichen Teil (Objekt) gegenüber die Subjekt­ rolle ein. Siehe: Catharine A. MacKinnon 26.

82In der ersten Szene wird darauf durch das Bühnenbild hingewiesen, das tableauartig die Situation der Frauen in der BRD darstellt. (RW 9) (Mit dieser Szene befasse ich mich später noch näher.)

*3s. dazu: Teresa de Lauretis, "Eccentric Subjects: Feminist Theory and Historical Consciousness" 119.

MSigrid Weigel, "Der schielende Blick," Die verborgene Frau (Argument-Sonderband AS 96) 84. 101 ausgrenzen.85 Die Frauen werden zum Objekt, indem sie diese

Qualitäten zu verkörpern versuchen und sich durch die Über­ nahme der männlichen Subjektperspektive selbst kontrollieren.

Die Frustration und Unzufriedenheit der Frauen und ihr

Wunsch nach einem Aufbruch rührt in Ritt auf die Wartburg aus diesem Dilemma her. Besonders IDA und THEA harren bedingt durch materielle Abhängigkeit und Orientierung an Weiblich­ keitsbildern in Objektpositionen aus, was in Widerspruch zu ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit steht. Den Wunsch nach

Unabhängigkeit drückt ANNA in der Bedingung für die Teilnahme an der Reise aus, "keinem darf was am Hals hängen" {RW 12), und IDA im Entschluß diese einzuhalten: "Wir gehen dorthin mit ohne was von uns." (RW 11)

Die vier Frauenfiguren haben ein unterschiedliches

Bewußtsein vom Ausmaß der Abhängigkeiten und Unterdrückungs­ arten, die den Prozeß des Selbstverständnisses und der -

Verwirklichung der Frauen in einer von Männern dominierten

Gesellschaft beeinträchtigen. IDA, z. B. , übt nicht bewußt

Kritik an den bestehenden Weiblichkeitsbildern und -mythen, denen sie ja entsprechen will, sondern an der Doppelbelastung, der Frauen ausgesetzt sind. Das Bewußtsein der Verkettung der beiden fehlt IDA. Sie genießt die Tänze mit "ihrem Soldaten", dessen totale Hingabe ihrem Selbstwertgefühl als Frau schmeichelt, das bei ihr (wie bei THEA) von der Akzeptanz und

Beachtung der Männer abhängt: (zu Anna und Lina, die kichern)

85Vgl. Sue-Ellen Case, Theatre and Feminism 120. 102

"IDA Ihr lacht. Dabei bin ich wirklich nicht die Jüngste. Ich

kam ihm aber jünger vor." (RW 41). Sigrid Weigel bemerkt zum

Selbstverständnis von Frauen, daß die Frau "sich selbst

betrachtet, indem sie sieht, daß und wie sie betrachtet

wird;"86 dies trifft auf IDA zu, deren Selbstimage darauf

beruht, wie sie von Männern gesehen wird. Ihr Versuch

internalisierte Weiblichkeitsbilder zu repräsentieren,

bestimmten Frauenrollen zu entsprechen, löst Depressionen aus

und führt zu Alkoholmißbrauch.

Die "Tanzabendwirklichkeit" (weg von zuhause, Familie und

Arbeit) stellt die Beziehung zwischen den Geschlechtern— im

übertragenen Sinne auch zwischen Ost und West87— in den

Mittelpunkt und macht für IDA plötzlich alles durchschaubarer:

"IDA Hier ist alles viel klarer. Hier fragen sie zuerst, wie

alt du bist." (RW 41). Obwohl die "Tanzabendwirklichkeit" im

Osten zwar genauso eine männlich dominierte Realität wieder­

spiegelt, versteht IDA diesen Kontext auszunutzen, um ihre

romantisch-regressiven Träume auszuleben, doch zugleich auch eine ihr sonst unzugängliche Machtposition— ihre westliche

Herkunft— einzunehmen, und so "die Realität in Bewegung, sich und die Umwelt auf Trab zu bringen."88 Das Tanzen, die

86Weigel, "Der schielende Blick," 85.

87Im Verhältnis zwischen Osten und Westen wird der Osten als weiblich und der Westen als männlich dargestellt, was die Kategorien "weiblich/männlich" als Machtpositionen unabhängig von der Biologie veranschaulicht.

88Kurzenberger 84. 103

Flirterei mit dem "kleinen Soldaten" scheinen die Erfüllung

einer langgehegten Phantasie zu sein, deren Ablauf und

Rollenverteilung sie kontrolliert, ebenso wie die von ihr darin verkörperte Objektposition. IDAs "heilloser" Alltag89 wird von mehreren Abhängigkeiten dominiert: ihr Gebundensein an die Familie, ihren monotonen Job und die sexuell-ökono­ mische Beziehung zum Ehemann. Diese Abhängigkeiten lähmen IDA, die Aussichtslosigkeit ihrer Situation stürzt sie in eine

Apathie, aus der sie Alkohol befreien soll. Diese Probleme werden in IDAs realisierter Phantasie entweder ignoriert oder umgekehrt: Beim Flirt mit dem "kleinen Soldaten" deuten sich erstens IDAs Wünsche und Erwartungen für eine Beziehung an, und zweitens daß sie sich gegen die machtlose und abhängige

Position in der Mann/Frau Beziehung sträubt. Zugleich sieht sie aber die Frau auch immer noch als sexualisiertes Objekt, sie kann sich offensichtlich das Verhältnis nicht anders vorstellen. Den "kleinen Soldaten" beschreibt sie als einen mit Verständnis, der wußte, "wos langgeht", (RW 41) und "was los ist mit uns" (RW 50) . Durch seine Verliebtheit ist er psychisch und körperlich von IDA abhängig, und so verkehrt sich das Machverhältnis zwischen den beiden. Als Westfrau ist sie hier (in seinen Augen) auch ökonomisch unabhängig, und gegeben durch diese Verschiebungen, die sie in Kontrolle über

89IDA beschreibt diesen so: "Einmal ohne den nächsten Tag mit Kindern, Schule, Mann, alter Wäsche und Auto in die Werkstatt bringen. Und ohne Gardinenfabrik mit Vorhänge nähn Vorhänge nähn Vorhänge nähn und Polster beziehn für die feinen Ärsche der ändern. Einfach weg. Ohne nähen." (RW 12) 104 dieses Verhältnis setzen, fühlt sie sich zufrieden. In der

Flirterei mit dem Soldaten bestimmt sie "wos langgeht", und was sie will: (zu LINA)

IDA Meine Laune machst du mir nicht mies. Ich fühl mich w o h l . Pause. Gespielt beiläufig. Wundert euch nicht, wenn ich nachher eine Zeitlang verschwinde. ANNA Wieso? Wohin? Und mit wem? IDA Die Straße rauf und runter ein bißchen. Pause. Dann ablenkend. (RW 44)

Was später "die Straße rauf und runter" passiert, dieser

Höhepunkt der Affäre bleibt verborgen, IDAs Kommentar dazu—

"kichert ablenkend / Ich glaub, ich hab mich wie mit vierzehn benommen." (RW 58)— verweist auf die Verkörperung einer bewußt gespielten, den besonderen Reiz ausmachenden Unschuld.90 In dieser Affäre spielt IDA mit bekannten Vorstellungen von

Weiblichkeit, probiert sie aus. Über den Klimax, den Spazier­ gang zu zweit, spricht IDA nicht, denn er ist zugleich Er­ füllung und Abschluß ihrer Sehnsucht, es gibt kein danach:

"IDA Ich hab ihm gesagt, drei Tage lang noch denk ich an ihn."

(RW 51) Diese abschließende Bemerkung zum Soldaten konsti­ tuiert zwischen den beiden ein letztes Mal IDAs Autorität in dieser Situation und dadurch über den Soldaten. IDAs Kommen­ tare den kleinen Soldaten, bzw. den gemeinsamen Flirt betref­ fend, klingen wie sentimentale Phrasen und Klischees, so als seien sie bewußt zur Beschreibung gewisser Momente ausgewählt

ws. Sigrid Weigel, "Frau und 'Weiblichkeit'— Theoretische Überlegungen zur feministischen Literaturkritik, " Feministische Literaturwissenschaft Hrsg. diess. und Inge Stephan (Berlin: Argument-Verlag, 1984) 105. 105

worden, schon bevor sich diese Momente überhaupt realisierten,

in tagtäglichen Träumereien und Phantasien. Obwohl sich in

IDAs realisierter Phantasie Momente finden, in denen IDA die

Dynamik der traditionellen Mann/Subjekt und Frau/Objekt

Positionen verkehrt und kompliziert, indem sie sich sowohl die

autoritäre Subjektposition als auch die submissive Objekt-

positon zuteilt, paßt sie sich traditionellen Geschlechter­

rollen an, kann sie dem Reiz dieser Rollen nicht widerstehen.

Die männlichen und weiblichen Geschlechterrollen, die den

jeweiligen Geschlechtskategorien entspringen, beziehen sich in

verschiedenen Bereichen wie Öffentlichkeit, Familie und

Sexualität gegenseitig aufeinander, und diese Beziehungen sind

keine symetrischen, sondern, wie kann man es in einer patriar­

chalen Gesellschaft anders erwarten, ungleich. Die Ge­

schlechtskategorien sind nicht machtblind, vielmehr ist es

gerade die darin praktizierte Dominanz und Macht, was diese

Kategorien weiterhin definiert und aufrechterhält. Machtbe­

ziehungen sind unterschiedlich motiviert, im Kontext der

Geschlechter in der westlichen Welt ist das mit Macht assoziierte Geschlecht •'männlich", während das der Macht gegenüber submissive Geschlecht "weiblich" ist.91 Die Ge­ schlechtlichkeit dieser Machtkategorie läßt sich nicht nur in

"privaten" Beziehungen zwischen den Geschlechtern beobachten, sondern überträgt sich auch auf "öffentliche" Beziehungen. Im

9lVgl. Nancy C. M. Hartsock, Monev. Sex, and Power (Boston: Northeastern UP, 1985) 150 ff. 106

Verhältnis zwischen Osten und Westen wird der Osten als weib­

lich und der westen als männlich dargestellt, was die Kate­

gorien "weiblich/männlich" als Machtpositionen unabhängig von

der Biologie veranschaulicht. Machtbeziehungen setzen immer

voraus, daß es eine Beziehung mit anderen gibt und Kommuni­

kation geschaffen wird. Nancy Hartsock behauptet,

(p)ower irreducibly involves guestions of eros. I put this Claim forward both as a logical point (eros and power both involve questions about fusion and community) and a commonplace Observation (many social scientists have noted that power is linked with notions of potency, virility, and manliness). (...) Like power relations, relations structured by eros involve the establishment of relations with others. (...) To the extent that either sexual relations or other power relations are structured by a dynamic of domination/submission, (...) the community as a whole will be structured by domination.92

Dominanz/Macht müssen genauso wie Geschlecht/Sexualität als

kulturell und historisch konstruiert gesehen werden. Weder

Geschlecht, Sexualität, noch Macht sind Kategorien, die auf

einer natürlichen Essenz basieren, sondern sind konstruierte

"menschliche Natur" und ergänzen sich in den unterschiedlich­

sten Kategorien, bestimmen die Art der Beziehungen, sowie das daraus abgeleitete Selbstverständnis.

Die vier Frauen als Gruppe; Frauen unter sich

Frauen unter sich, zusammen auf und außerhalb ihrer gewohnten Umgebung sowie ihr Verhältnis zueinander und als

^Hartsock 155. 107

Gruppe unterwegs ist eines von Roths Hauptthemen in Ritt auf die Wartburg. Die vier Frauen kommen aus verschiedenen sozio-

ökonomisehen Lebenskontexten, ihnen hängen eine Vielfalt von

Problemen nach, aber trotzdem gibt es etwas, was sie alle vier verbindet, was sie gemeinsam aufbrechen läßt.

ANNA und LINA haben sich außerhalb der Gruppe durch ihre finanzielle Unabhängigkeit und berufliche Autorität ("mit

Universität und Wissenschaft") Subjektpositionen gesichert, die sie auch in der Frauengruppe behaupten. IDA und THEA hingegen sind außerhalb der Gruppe in ihrem Frauenalltag in abhängigen Positionen fixiert, und die Frauengruppe ist

Zufluchtsort und Experimentierfeld zugleich, zum Ausprobieren neuer Erfahrungen, zur Inszenierung der eigenen Wirklichkeit und Subjektpositionen.

Diese Frauengruppe kann mit Einschränkungen als "CR group"93 verstanden werden, denn die vier Frauen können sich in der Gruppe mit einer Freiheit bewegen und ausdrücken, die sie im täglichen Leben nicht zu haben scheinen. Die Details der persönlichen Erfahrungen und Probleme sind von Bedeutung und transzendieren das Persönliche, obwohl sich ANNA, IDA,

93Die Frauen in der Gruppe sprechen viele Themen an, wenn auch in die Tiefe gehende Diskussionen fehlen, und meistens nur rein gefühlsmäßige Reaktionen zum Ausdruck kommen. Am Ende des Stückes sind die Frauen nicht mehr dieselben vom Anfang. "Consciousness raising" in der Form wie Catharine A. MacKinnon es definiert, als "the collective critical reconstitution of the meaning of women's social experience, as women live through it" (MacKinnon 29), findet in Roths Frauengruppe nicht bewußt statt, aber der dramatische Text als ganzer in Verbindung mit der Rezeption kann als "consciousness raising" gelesen werden. 108

LINA und THEA nicht als "CR-Gruppe" definieren würden, kann

der dramatische Text als ganzer als "consciousness raising"

für die Leserinnen/Zuschauerinnen gesehen werden. Die im Stück

angesprochenen Probleme und Erfahrungen verlieren ihren

idiosynkratischen Charakter, denn sie entsprechen einem

Muster, welches das Leben anderer Frauen (außerhalb des

Stückes) genauso charakterisiert. In diesem Kontext verweist

Roth durch ihre Frauengruppe auf vorher nicht bewußt

wahrgenommene Auswirkungen einer patriarchalen Gesell­

schaftsordnung .

Es gibt Ansätze zu Gesprächen und Diskussionen, die aber

sofort abgebrochen werden, wenn sie zu persönlich werden; sie

verbleiben immer im Allgemeinen, obwohl alle— außer ANNA—

Bemerkungen über ihr Privatleben in die Gespräche einfließen

lassen. Nur gegen Ende der Reise (14. Szene) gibt es von IDAs und LINAs Seite aus ein Bedürfnis mit ANNA zu sprechen, Uber die Reise, die DDR, sich selbst, aber ANNA distanziert sich, bricht die Diskussion ab. Die Beziehungen der Frauen zuein­ ander sind nicht symetrisch. ANNA nimmt eine Sonderstellung ein, die ihr auch von ihren Freundinnen zugestanden wird: sie hat die Reise geplant, sie motiviert die anderen Frauen. Was wir über sie wissen, kommt von den Begleiterinnen, von ihr selbst erfahren wir nichts: sie ist wie ein Magnet, das die anderen anzieht und veranlaßt sich zu Öffnen, während sie sich verschließt.

An Hand des Verhältnisses der vier Frauen zueinander, 109

zeigt Roth wie Machtstrukturen und Autoritätsverhältnisse nicht nur Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sondern auch Kontakte von Frauen zueinander entscheidend beeinflußen.

Ständig ergeben sich untereinander und im Zusammentreffen mit

DDR-Bürgern Situationen, in denen es gilt, die Stärke/Über­ legenheit einer einzelnen Frau (meistens ANNA oder LINA) gegenüber den anderen Frauen, oder der Frauengruppe gegenüber den DDR-Bürgern geltend zu machen. Vis-ä-vis den Soldaten vertritt die Frauengruppe eine westliche, bevormundende

Gesinnung, denn primär identifizieren sie sich mit ihrem

Status als Bürgerinnen der BRD, und sekundär mit dem von

Frauen in der BRD zum gegebenen historischen Zeitpunkt. Das

Bedürfnis Überlegenheit auszuüben, (dem die vier Frauen innerhalb der Gruppe, genauso wie gegenüber den Soldaten verfallen), wird in seiner Vermessenheit dargestellt und kritisiert, da es ungleiche Verhältnisse bedingt; ein Zustand, dem sie in der BRD selbst ausgesetzt sind.

Der/m Leserin zeigt sich sofort die scheinbar ungleiche

Konstellation der Gruppe, denn die einzelnen Frauen befinden sich auf verschiedenen Ebenen im Prozeß der Identitätsent­ wicklung. Gemeinsam ist allen vier Frauen, daß sie mit ihrem

Frauendasein in der Gesellschaft unzufrieden sind, und als

Leserin fragt man sich, ob diese Frustration das einzige sie verbindende Glied ist, oder in welchem Verhältnis die Frauen zueinander stehen? Wie tief bzw. oberflächlich ihre Be­ ziehungen zueinander sind? Wodurch die Dynamik innerhalb der 110

Gruppe bestimmt wird?

Nach außen hin treten die Frauen geeinigt auf— z.B. den

Soldaten gegenüber: "LINA (...) Außerdem sind wir eine Gruppe.

Wir verlassen uns nicht." (EH 47)— doch innerhalb der Gruppe

ist dieser nach außen vermittelte Konsensus nicht gegeben.

Zugunsten der Gruppe wird das von ANNA im Alleingang und nach ihren Interessen erstellte Projekt von den anderen Frauen gezwungen akzeptiert und zum gemeinsamen Programm ("LINA "Und das ist alles?" £W 18). Das Verhalten der Frauen in gruppen­ internen Konflikten und beim Treffen von Entscheidungen verrät viel Uber ihren Hintergrund, Durchsetzungsvermögen, Selbst­ bewußtsein und Auffassung von Autorität, die in einer bestimmten Umgebung konditioniert wurden und jetzt automatisch durchbrechen. Es kommt in der Gruppe zu Sticheleien; "ein labiles Gleichgewicht", wie es Kurzenberger beschreibt, ist bemerkbar, denn

(z)usammenzukommen, miteinander und gemeinsam etwas zu tun, macht Schwierigkeiten. Das wird von Anfang an nicht verhohlen. Immer ist es eine der Frauen, die sich isoliert und den Gruppenkonsens in Frage stellt. (...) Einzel- und Sonderinteressen, persönliche Eigenheiten und Ansprüche sind nicht nur zugelassen, sondern Garant für die widersprüchliche Lebendigkeit dieser Fahrgemein­ schaft. Die auseinanderstrebenden Kräfte machen den Reichtum und die Stärke des Quartetts aus.94

Bestimmte Umgangsweisen, denen sie z. B. durch Männer ausgesetzt sind, werden in der Gruppe nicht gebilligt, sie

wKurzenberger 86. 111 wollen sich als gleichberechtige Mitglieder verstehen9*: Zum einen bezeugt das, wie Frauen für sich und für Männer unter­ schiedliche Standards gebrauchen, und zum anderen wie sie in den Mann-Frau-Beziehungen dem Bewußtsein der Abhängigkeit und

Machtlosigkeit ausgesetzt sind. Die Gruppe gewährt einen Ort, wo Selbstbewußtsein wachsen kann, was der erste Schritt in

Richtung eines positiven Selbstverständnisses, einer Subjekt­ position ist.

Beim Tanzfest treten IDA, ANNA, LINA und THEA in der

Rolle als "West-Frauen" auf; dadurch gelingt es ihnen in der

Präsenz der Soldaten, um die Subjektposition zu konkurrieren.

Unter normalen Umständen wäre diese Subjektposition96 von

Männern besetzt, aber dadurch, daß die vier Frauen in der DDR nicht nur Frauen, sondern Westfrauen repräsentieren, gesteht man ihnen zu, in das System als "männlich-identifiziertes

9iZ. B: "THEA Ich glaub, der Zug hat Verspätung./IDA Werd bloß nicht hysterisch./THEA Red du nicht mit mir, als wärst du der Arno./IDA Ich will nicht die Rumunkerei schon am Anfang. Was ich nicht leiden kann, sind hysterische Weiber." (EW 15) IDAs frauenfeindlicher Kommentar könnte ohne weiteres von einem Mann stammen. THEA assoziiert IDAs Bemerkung mit der eines Mannes, ihres Mannes, dem sie wohl erlaubt wäre. Einer Freundin gesteht sie solche abwertende Bemerkungen nicht zu. IDA und THEA haben Äußerungen wie diese internalisiert, gelernt damit etwas zu verknüpfen: Überlegenheit und Macht.

“Das Konzept "Subjekt" entstammt der abendländischen, männlichen Denkgeschichte, die Mensch mit Mann gleichsetzt, die Welt nach seinem Maß auslegt, und die Frau in die ihr zugewiesene Objektposition verweist, die traditionell mit "Frau" gleichgesetzt wurde/wird: "(G)ender is the crucial encoding of the subject that has made it historical ly a Position unavailable for women to inhabit. The traditional subject has been the male subject, with whom everyone must identify." Sue-Ellen Case, Feminism and Theatre 121. 112

Subjekt" einzutreten, das sich zugleich seines "Frauseins" bewußt Ist. Sue-Ellen Case beschreibt diese Position so:

She acts ln the system in the male position, but she also marks that position with her own female action. (...) She cannot appear as a single, whole, continuous subject as the male can because she senses that his story is not her story. Yet she entered the doors of discourse in male drag.1,97

In der Tanzabendszene treten die Frauen als westliche Gruppe im östlichen Kontext auf, wobei sich Westen zu Osten wie Hann zu Frau verhält, d. h. die beiden in einer Machtbeziehung zueinander stehen. Die Gruppe muß hier ihr "Frausein" nicht verleugnen, ganz im Gegenteil, dieses wird durch Äußerlich­ keiten, wie Make-up und Kleidung betont; ihre "abenteuerliche"

Gesellschaftskleidung ist einziger Hinweis auf ihre westliche

Herkunft: "Uns ausm Westen traun die alles zu." (£W 35). Als

Vertreterinnen der BRD gebührt ihnen in der DDR eine Autori­ tät, die ihnen als Frauen allein nie zukäme, und die den

Soldaten die Subjektposition strittig macht. Die von den

Frauen repräsentierte Autorität existiert in dieser Form auf westdeutschem Boden weder für Frauen noch für Männer, sie kommt nur exportiert für Frauen zustande. Die Rolle der arroganten und überheblichen "Westdeutschen" und die damit verbundene Subjektposition gelingt ihnen am besten kollektiv als Gruppe, als "kollektives Subjekt"98; gemeinsam sind sie

^Sue-Ellen Case, "From Split Subject to Split Britches," Feminine Focus. Hrsg. Enoch Brater (New York, Oxford: Oxford University Press, 1989) 131.

98Das Konzept des "kollektiven Subjekts" erläutert Sue- Ellen Case in "From Split Subject to Split Britches" 141-145. 113

Protagonistin und Differenzen innerhalb der Frauengruppe

spiegeln die "heterogeneity in the female social subject"99

wieder. Keine der Frauen ist Protagonist in, oder wichtiger als

die andere; sie bringen in sich gegenseitig die Differenzen und Ähnlichkeiten heraus, entlarven gegenseitig Selbst­ täuschungen. Die Frauen fühlen sich in der Gruppe wohl, sie sind frei von Alltagszwängen, und in dieser Atmosphäre enthüllen sich Hoffnungen und Sehnsüchte, die in Spielversuche mit der eigenen Wirklichkeit umgesetzt werden.

In der ersten der zwei aufeinanderfolgenden Konver­ sationen mit dem Swinger vertreten die Frauen eine vereinte

Position: ANNAs Plan wird zum gemeinsamen Plan, der Reise wird ein Zweck gegeben, obwohl ihnen ursprünglich der Plan gleich­ gültig war:

DER SWINGER (...) Was macht ihr wirklich hier? LINA schnell Wir wollen morgen zum Frisör. Der swingende Soldat ist irritiert. IDA Und auf die Wartburg. THEA Mit Eseln. DER SWINGER Eseln? LINA Was sonst. (£W 45)

Daß es keine Esel mehr geben soll, ist nebensächlich; jetzt bestehen sie gemeinsam auf ihren Plan, auf die Verwirklichung desselben, sie übernehmen Kontrolle über ihre Wirklichkeit:

"IDA (...) wir reiten morgen auf Eseln zur Wartburg. THEA eifrig Und auch, wenns keine Esel gibt." (RW 45) Besonders IDA

"Teresa de Lauretis, "Aesthetic and Feminist Theory: Rethinking Women's Cinema," Female Soectators. Hrsg. E. Deidre Pribram (London, New York: Verso, 1988) 186. 114 und THEA sprechen beim Kontakt nach außen für die Gruppe, während sich ANNA und LINA zurückhalten. Die Gruppe im

Hintergrund zu wissen, gibt den beiden ein sonst nicht gekanntes Selbstbewußtsein und dadurch öffnen sich ihnen neue

Perspektiven und Positionen. Hier in der DDR bestimmen sie,

"wos langgeht.11 Die Autorität wird ihnen als Westdeutschen von den Soldaten zugestanden, gegen die sie diese Autorität ausspielen.1“ Vereint gehen sie auf das "falsche Bild" los, das der Swinger von ihnen und vom Westen hat und machen sich darüber lustig. Den Frauen (besonders IDA und THEA) gefällt es hier, sie fühlen sich freier als zuhause, aber sie scheinen den Ursprung dieser Freiheit nicht sehen zu wollen. Durch ihren Weststatus wird ihnen Narrenfreiheit gewährt, nicht durch ihr Frausein— "Uns ausm Westen ..." davon profitieren sie. Den Soldaten gestatten sie nicht, die von ihnen ver­ körperte Freiheit als im westdeutschen System verankert zu sehen, da sie dieses System für sich selbst als unterdrückend und ihre Freiheit einschränkend empfinden:

IDA den Swinger mit den Augen festnagelnd Ihr habt für Angola Schichten geschoben, da waren wir schon längst auf Großwildjagd in Kenia, mein Lieber. Ist das nicht toll? Wie kannst du dich da wundern über unsere dritte oder vierte Flasche Sekt? ANNA Oder Welt? (BS 47)

Obwohl ihnen im Osten nur ihr Weststatus die Autoritäts­ position einräumt, distanzieren sie sich durch Kritik an der

■“Ähnlich verhält es ich in allen Machtverhältnissen, besonders auch zwischen Männern und Frauen; niemand ist mit Macht ausgestattet; sie wird einem/r zugestanden. 115

westlich kapitalistischen Perspektive von diesem Status,

obwohl gerade diese Perspektive ihre Beziehung zum und ihr

Benehmen im Osten bestimmt. Konsumrausch, Kapitalismus und

damit zusammenhängend Imperialismus werden von IDA ange­

griffen.

ANNAs unabhängige Position außerhalb der Gruppe

verschafft ihr Autorität— um die sie sich nicht bemtihen muß—

in der Gruppe. Die nach außen hin einig und unhierarchisch

erscheinende Frauengruppe, weist intern eine Rangordnung auf,

die auf dem sozio-ökonomischen Unterschied der Frauen in ihrem westlichen Kontext basiert: ANNA, an einer Universität beschäftigt, ist die Intellektuelle; LINA bringt sich und ihre

Zwillinge als Sekretärin durch; IDA, verheiratet und Mutter, näht in einer Fabrik Vorhänge; THEA ist arbeitslos und "nur"

Hausfrau und Mutter. Der im westlichen Alltag eingenommene

Platz wird durch die Verkörperung einer übernommenen bzw. zugeteilten Rolle charakterisiert. In "Der Figurenfinder" weist Roth auf das Spielerische aber gleichzeitig auch auf das

Riskante von Rollen hin:

Wann fangen sie an, eine Rolle zu spielen, und wann und warum fangen sie an, sich selbst diese Rolle, die sie bloß spielen zu glauben, und was passiert, wenn diese Rolle ernst wird, wenn die Realitäten zu wackeln beginnen und ineinander kippen und die Rolle des unglücklich Liebenden beispielsweise nicht mehr abzulegen ist, weil man sich schon tief so tief ins schöne Unglück begab, daß es zu einer Wirklichkeit geworden ist.101

Die Rollen, die sie im Alltag in Beruf und Familie übernommen

101Roth "Figurenfinder" 57. 116 haben, die sie zurUcklassen und von denen sie sich erholen wollen, verfolgen sie bis in die Gruppe, weil sie "tief so tief" sitzen, und produzieren anfangs ähnliche Verhältnisse, wie jene vor denen sie flüchten. So wiederholt sich die scheinbar "natürliche" Rangordnung im Verhältnis der Figuren zueinander, das anfangs noch eine Herrschaftsstruktur durch­ scheinen läßt: ANNA, der Gebildeten, wird automatisch

Autorität zugestanden— dies gilt vor allem für die erste

Hälfte des Stückes. IDA, THEA und vor allem LINA nörgeln zwar an ANNAs Entscheidungen, aber sie stellen den EntScheidungs­ prozeß an sich nicht in Frage, nämlich daß ANNA allein für alle die Reise geplant hat. Auf LINAs Frage "Wieso fahren wir wirklich nach Eisenach?" reagiert ANNA unwirsch mit "Mußt du denn immer alles wissen wollen? Les lieber deinen Krimi weiter und sei still." (EW, 18) LINA will auch nicht in eine katho­ lische Kirche, aber auch hier entscheidet ANNA: "Achwo. Du kommst halt mit und Schluß," (EH, 19) ANNA ist nicht bereit ihre Motive zu diskutieren und sie erwartet, daß die anderen, nachdem sie ihr die Entscheidungen überließen, sich auch damit abf inden.

Doch im Verlauf der Reise/des Stückes manifestieren sich mehr und mehr Momente der Einsicht, des gegenseitigen Ver­ stehens und der Unterstützung: z. B. am Morgen nach dem Tanz­ abend, nachdem IDA während der Nacht in ihrer Verwirrtheit und

Not das mit ANNA geteilte Zimmer durch Kot verschmutzte. Oder auf dem Weg zur Wartburg, als ANNA plötzlich zum Auf geben 117 bereit, sich von LINA, THEA und IDA zum Durchhalten überreden

läßt. ANNA rafft sich für die anderen auf ("Gut. Also weiter."

RW 66), und bei der Imitation des Ritts beteiligt sich auch

ANNA, indem sie "sorgfältig Ausschnitt und Entfernung prüfend-

-eine Fotografie der drei auf einer Heggeländerstange zur

Wartburg reitenden Frauen" (EH 68) macht. Hier heben die

Frauen die selbst kreierte Hierarchie in der Gruppe zugunsten des gemeinsamen Erlebnisses auf.

Frauen und Wirklichkeitserfahruna

Hand in Hand mit dem Umbruch in der Gesellschaft, der durch die Frauenbewegung der späten 60er Jahren ausgelöst wurde, geht eine neue Entwicklung in der Dramatik von Frauen:

Frauen rücken Frauen in den Mittelpunkt, entwerfen Bilder von

Frauen, die Subjektpositionen einnehmen und Stücke tragen.

Demgegenüber steht in der Darstellung der Männerfiguren eine bewußte Parteilichkeit: Männer erreichen selten Individuali­ tät, werden an den Rand geschoben; ihre "Männlichkeit" wird karikaturenhaft dargestellt, ihre ansonsten so sichere

Position wird entidealisiert, sie sind nur noch Requisiten in einer von Männern geschaffenen Welt. In diesen Stücken wird

Wirklichkeit nicht mehr nur von Männern produziert.

Friederike Roth zeichnet in ihren Stücken die

Männerfiguren eindimensionaler als die Frauenfiguren, von den

Soldaten in Ritt auf die Wartburg. Über den Blondschopf in 118

Krötenbrunnen. bis zu den vier alten Männern in Die einzige

Geschichte.1” Ihre Frauenfiguren, die den bis dahin haupt­

sächlich "männlichen" Platz, den Mittelpunkt besetzen, sind

keine Heldinnen. Somit unterscheiden sie sich auch von den von

Männern entworfenen Projektionen, den Wunschbildern von

Frauen. Erfahrungen von Frauen liegen der sie umgebenden

"Wirklichkeit" zugrunde, die statisch erscheint, da Vor­

stellungen der Veränderbarkeit derselben enttäuscht werden.

Die Erfahrung der "Wirklichkeit" hängt vom jeweiligen Lebens­

kontext ab, der nicht unveränderbar ist, aber oft als unver­

änderbar— da sich ständig wiederholend— empfunden wird. Die

"Wirklichkeit", die Beziehungen in denen sie besteht, werden

nicht genommen, wie sie sind, um sie dann nach Wünschen und

Vorstellungen zu verändern, sondern im Gegenteil, durch die

Flucht in die Vorstellungswelt werden sie noch gefestigt.

l02Roth sagt dazu in einem Interview mit Anke Roeder: "Das liegt daran, daß ich ironisch bin. Die Figur des Blondschopf in 'Krötenbrunnen' zum Beispiel, der alle Wünsche der Frauen erfüllt, ist zwar Projektionsfläche und Sehnsuchtspunkt, besonders aber eine Ironisierung des dummen Blondchens. Ich wollte nur mal ein männliches dummes Blondschöpfchen in die Gegend setzen, nicht ein weibliches dummes Blondchen." In: Roeder 44. 119

Frauen und Männer: Verhältnis zueinander

Im dritten Abschnitt, genau in der Mitte103 von Ritt auf

die Wartburg, stellt die "Tanzabendszene" den Höhepunkt104 der

Reise dar, obwohl das ursprüngliche Programm dieses Vergnügen

gar nicht vorsah. Dieser Tanzabend fördert bei den Frauen das

erste Mal ein Gruppenbewußtsein: LINA, THEA und IDA akzep­

tieren ANNAs Plan, während sich ANNA davon distanziert.

Roths Forderung für dieses Mittelstück, "(d)ieser Abend

sollte in seiner Wirklichkeit sich doch vermitteln wie ein

Traum," (EH 35} bezieht sich auf einen gegenseitigen Einfluß

von Traum und Wirklichkeit. Tagträume, Wünsche oder Phantasien

sind bewußt konstruierte Vorstellungen einer anderen, kontrol­

lierbaren Realität.105 Sie entstammen der Unzufriedenheit mit

der Vorgefundenen und gelebten Wirklichkeit, und sind vorüber­

gehende Ausbrüche, Fluchtversuche, ohne die Verhältnisse der

103Im dritten von fünf Abschnitten, in der achten und längsten von sechzehn Szenen findet der Tanzabend statt.

104Eigentlich sollte ANNAs Plan nach, der "Ritt auf die Wartburg" der Höhepunkt der Reise sein, doch nimmt dieses Vorhaben einen anderen Lauf, wie der restliche, vor der Reise erstellte Plan.

,05Roth bemerkt zum Thema Frauen/Träume/Phantasien: "Ich glaube schon, daß es wirklich daran liegt, daß Frauen stärker sensibilisiert sind dafür. Und der Grund ist wahrscheinlich darin zu sehen, daß sie sich jahrhundertelang Auswege, Schleichwege, Umwege suchen mußten, weil sie die wirklichen Möglichkeiten nicht leben konnten, und immer sind die Auswege, die Mauselöcher, die Schleichwege die phantasievollsten. Wer viel lügt, braucht viel Phantasie. Deshalb, denke ich mir, mußten die Frauen Lügen erfinden, und das sind oft Phantasiewege. Es sind die geträumten Wirklichkeiten, die erträumten Leben, die Frauen leben." Roeder 45. 120

Wirklichkeit tatsächlich zu verändern. ln einem Interview mit

Anke Roeder bemerkte Roth, "unsere Träume, unsere Wünsche, unsere Hoffnungen sind Klischees. ",06 Klischees sind nichts

Neues, sondern Abgestandenes, Produkte sozialer Verhältnisse.

Patriarchale Strukuren werden darin verschönert reproduziert und zeigen den konformen Zustand des Denkens. Die Frauen funktionieren den Tanzabend zum Schauplatz um, wo solche

Phantasien, Träume und Klischees verwirklicht werden können: er soll etwas Besonderes werden— "ANNA Ich lad uns heute zum

Sekt ein, ja?" (EH 36)— , langgehegte Wünsche erfüllen— "IDA

Dann eß ich doch glatt eine Ente und Schluß. Das wollt ich schon lang. Hier richtig Ente essen." (EH 36).

Das zwischen erfundener und wirklicher Realität (zwischen

Fiktion/Traum und Wirklichkeit) entstehende Spannungsver­ hältnis, ist ein Hauptanliegen Roths, das in der Tanzabend­ szene thematisiert wird107. Während des Tanzabends, dessen

Ablauf sich an den "Rhythmus einer Tanzabendwirklichkeit" (EH

35) halten soll, welcher dem eines "wirklichen Tanzabends" entspricht, nehmen die Frauen jede mögliche Gelegenheit wahr, das darin vorgegebene Rollenspiel, die ganze "Tanzabendwirk­ lichkeit" zu kontrollieren, und einer Phantasie entsprechend zu genießen.

Hajo Kurzenberger bezeichnet die von Roth kreierte "Tanz­ abendwirklichkeit" als ein "Wirklichkeitskonstrukt", und als

,06Roeder 45.

l07Vgl. Kreuzenberger 90. 121 solches funktioniert es "als 'szenische(s) und ideologische(s)

Orientierungsmuster' und zugleich als Katalysator, der nicht nur die Erwartungen, Haltungen und Verhaltensweisen der

Figuren, sondern auch die der Zuschauer stimuliert und zu­ gleich produktiv zersetzt."1“ Den Begriff "Wirklichkeits-

Konstrukt" Übernimmt Kurzenberger von Volker Klotz, der ihn für Horväths Volksstücke prägte.109 Der Begriff "signalisiert, daß es auch außerhalb der erfundenen Wirklichkeit der fiktiven

Literatur fiktive Muster gibt, 'vorgeprägte Wirklichkeits­ konstrukte', die als 'Konstrukte der gesellschaftlichen

Wirklichkeit' fungieren und zugleich als 'szenische (...)

Grundriss(e)' tauglich sind.""0 Roths Bemerkungen zu Beginn der Tanzabendszene weisen auf ein solches "Wirklichkeits-

Konstrukt" hin:

Großer Tanzabend. Dieser Abend sollte in seiner Wirklichkeit sich doch vermitteln wie ein Traum. Ein Wechsel von Helligkeit und Dunkelheit bestimmt die Szenerie/ dieser Hell-Dunkel-Wechsel kann Zeiten verkürzen oder abschneiden oder verlängern. Es ist beispielsweise bei solcherlei Veranstaltungen üblich, daß es erschreckend hell wird, wenn man nach einer Tanztour wieder zurück zu den Tischen kommt. (EH 35)

Ein "Wirklichkeits-Konstrukt", in diesem Fall der Tanzabend, liefert bestimmte Geschehensabläufe, Interaktionen zwischen den Geschlechtern, Rollenverteilungen, Raumverhältnisse, an deren Ablauf die Figuren im Stück, sowie die Zuschauerinnen

'“Kurzenberger 89.

‘“Volker Klotz, Dramaturgie des Publikums (München/Wien: 1976) 207 ff.

ll0Kurzenberger 89. 122

bestimmte Vorstellungen/Erwartungen haben. So ein Tanzabend

funktioniert wie ein Ritual, das auf einer fixen Rollenver­

teilung zwischen den Geschlechtern beruht und durch Musik,

Tanz und Alkohol Erholung und Entspannung vom Alltag ver­

spricht. Allgemein kann man den Tanzabend als ein Bild für die

gesellschaftlichen Gegebenheiten, für verordnete Lustbarkeit,

für gebastelte, bestimmten Gesetzen folgende Illusion sehen,

in die Teilnehmer eintreten und eine (durch ihr Geschlecht

bestimmte) Rolle übernehmen, und diese durchspielen (wie z. B.

die Soldaten), oder wie die Frauen damit brechen (bzw.

spielen).

Erwünschtes und Erträumtes soll realisiert werden: Das

Verhältnis zwischen Ost/West, Männer/Frauen rückt in den

Mittelpunkt der Szene und die Frauen kontrollieren den Ablauf des Abends, trotz des Verbleibens in traditionellen Rollen.

Denn unumstößlich scheint das Rollengesetz: verketten sich in

einer Figur mehrere Rollen (Frauen/Westen, Männer/Osten), so

spiegelt sich im dargestellen "östlichen Tanzabendkontext" die herrschende Hierarchie wieder, die jedem noch etwas Spielraum

zum Herrschen über andere läßt (Mann über Frau, Westen über

Osten), neben dem Widerstand, den sie dem in der Hierarchie

über ihnen Stehenden entgegensetzen (Mann/Westen, Frau/Mann).

Die Szene des "großen Tanzabends" kann man wie ein "Stück

im Stück" sehen: die Eingangstür, die "vordergründig sichtbar sein" sollte, (BSä 35) markiert den bewußten Eintritt in das nach eigenen Regeln ablaufende Tanzabendritual. Der dritte 123

Abschnitt wird vom Rest des Stückes abgesetzt, einmal durch die Bühnenanweisungen, in denen Roth fordert, "(d)ieser Abend

sollte in seiner Wirklichkeit sich doch vermitteln wie ein

Traum" (EH 35), was auch durch den Einsatz von Lichteffekten unterstrichen wird, und zum anderen durch die ihn umgebenden

Szenen. So endet die letzte (7.) Szene des zweiten Abschnitts damit, daß ANNA, angeregt durch das Lesen einer Broschüre Uber die Wartburg, Überlegungen Uber den Zeitvertreib der Menschen in einem solch geschichtsträchtigen Ort anstellt, und implizit bestimmte Erwartungen an die Realität der DDR-Bürger stellt:

"Ich bin ganz aufgeregt. Hier müssen die doch anders leben.

Wir fahren ja in den Süden sonst und schauen lang und bedeutend aufs Mittelmeer. Hier schlagen sie die Zeit doch sicher anders tot. Oder?" (EH 33) Auch IDA hat bestimmte

Vorstellungen und Hoffnungen:

ANNA Mach schnell. Ich bin gierig auf draußen. IDA Und ich erst. Wir kaufen uns ein Eis. Ich hab so Lust auf Eis. Hier gibts bestimmt noch Tüteneis. ANNA Kinderträume hier einlösen wollen. IDA Wenn nicht, dann nicht. Die lange Fahrt und kein Schlaf. Da kommt halt Altes wieder hoch. (£H 34)

IDA erwartet bzw. hofft, daß die Zeit hier stehenblieb, und sie sich alte Wünsche erfüllen kann. Die auf diese Szene folgende Tanzabendszene kann für IDA wie ein Wunschtraum, oder für ANNA als ernüchternde Antwort auf die Vorstellungen gesehen werden. Der auf die Tanzabendszene folgende vierte

Abschnitt (11. Szene) beginnt ganz nüchtern mit den Frauen unter sich im Frühstücksaal, wo die Spuren der "nächtlichen 124

Ausgelassenheit" fast gänzlich verschwunden sind, nur "abge­

deckte Musikinstrumente lassen es aber dennoch ahnen." (BE 57)

Das Gesprächsthema ist, trotz einiger ironischer Bemerkungen,

nicht der gemeinsame Tanzabend, sondern die Frauenzentrums­

frauen. Die Nüchternheit dieser Szene in Thematik und Szenen­

anweisung steht im Kontrast zur Verspieltheit, dem Chaos und

Durcheinander der drei Szenen des vorherigen Abschnitts,

dessen abschließende Bemerkung von ANNA zu IDA "Hör auf mit

dem Gewimmer. Passieren kann alles." (BW 56) wie ein Kommentar

zum ganzen Abschnitt zu verstehen ist.

Die "Tanzabendwirklichkeit" wird durch geschlechtsspezi­

fische Rollenvorstellungen und Verhaltensweisen reglementiert,

denen sich die vier Frauen nach außen hin, den Soldaten gegen­

über anpassen, aber sich doch gleichzeitig auch davon distan­

zieren, indem sie die Rollen parodieren. Durch Kleidung und

Schminke repräsentieren die vier Frauen das mit dem weiblichen

Geschlecht assoziierte Image, die dem weiblichen Körper aufge­

zwungene Sexualität, aber gleichzeitig brechen sie dieses

Image zum einen dadurch, daß die Kleidung nicht paßt— zu groß

ist, da von THEA ausgeliehen— und zum anderen durch ihr

Gruppenverhalten. Bevor Roth die vier "abenteuerlich gewandeten" Frauen in das Tanzvergnügen schickt, läßt sie diese an der Eingangstür ihre Kostümierung kommentieren, und ob diese wohl dem zu präsentierenden Image (Westfrauen) entspräche:

IDA Glaubt ihr, die halten diesen Krimskrams wirklich für Gesellschaftskleidung? 125

ANNA Wir strahlen doch regelrecht. LINA Uns ausm Westen traun die alles zu. ANNA Mensch Thea, wasn das fürn Stoff, diese Bluse. Ich komm mir jetzt schon vor wie eingedünstet. LINA Mach keine Zicken. Mir ist der Thea ihr Rock auch zu lang. Dauernd steh ich auf mir rum. ANNA Was für ein Glück, daß die so viel Kleider mithat. (BH, 35-36)

Die provisorische Verkleidung wird zur Maskerade, zur bewußt eingesetzten Kostümierung, mit der Funktion die repräsentierte

Rolle als solche deutlich zu veranschaulichen.111 Besonders

ANNA und LINA haben Probleme mit der von THEA ausgeliehenen

Kleidung, sie paßt nicht, sie empfinden sie als einengend und behindernd, genauso wie die Rolle, die sie durch die

Kostümierung nach außen hin übernehmen, und die ihre

Bewegungsfreiheit einschränkt. Obwohl sich die beiden anpassen und das Rollenspiel mitmachen, fühlen sie sich innerhalb der

Gruppe, den anderen Frauen gegenüber, befangen. Sie nützen jede Gelegenheit, auf das "Rollenhafte" hinzuweisen: Diese

"Tanzabendwirklichkeit" mit ihren ganzen Riten und Gesten plazieren sie außerhalb ihrer persönlichen Wirklichkeit, da sie sich entweder ans Kino (ANNA) oder die Tanzschule als

Teenager (LINA) erinnert fühlen. Beide, ANNA und LINA, nehmen in ihrem Alltag relativ unabhängige Subjektpositionen ein, die sie sich durch ihre ökonomische Unabhängigkeit zugesichert haben. Das submissive Image der Frau als begehrtes, passives

n,s. Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters Bd. 1, Kap. 2 (Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1983) 120ff. "Um innerhalb einer Gesellschaft eine bestimmte Rolle spielen zu können, bedarf es einer besonderen Kleidung, welche ihren Träger als Spieler dieser Rolle ausweist (...)." 126

Sexobjekt, auf das die männlich konstruierte "Tanzabendwirk- lichkeit" Frauen beschränkt, steht im Widerspruch zu ihrem

Ausbruchsbewußtsein, da die Frauen in ein bestimmtes Rollen­ verhalten gezwängt werden, das ihren Bewegungsraum ein­ schränkt. ANNA und LINA versuchen mit diesem Widerspruch, dieser Inadäquanz zurechtzukommen, indem sie diese "Tanz- abendwirklichkeit", und besonders das darin reproduzierte

Rollenverhalten ironisch kommentieren und lächerlich machen, und sich gegenseitig (auch IDA und THEA) teils spielerisch, teils kritisch zurechtweisen und kontrollieren, und so die inszenierte Wirklichkeit, die Einheit zwischen Rolle und

Kostüm brechen:

ANNA schniefend Die machens noch mit Eins-zwei-Wechselschritt. LINA Und Körperschluß voll Innigkeit, was! Ich hab dich nicht aus den Augen gelassen. ANNA Gräßlich, ja. Ich schwitz immer so. LINA Das Feuchtwarme macht doch den Reiz. Gemeinsam geschwitzt, schon ist der erste Schritt geritzt, (gg 40)

In diesem gesellschaftlichen Rahmen des Tanzabends findet das einzige Zusammentreffen zwischen Ostdeutschen (Männer) und

Westdeutschen (Frauen) statt, und über traditionelle Paar­ tänze, wie Walzer, Foxtrott und Chachacha ("kapitalistische"

Tanzmusik) , bei denen der Mann führt und die Frau sich führen läßt, kommt der Kontakt zwischen den beiden zustande. Roth macht dieses deutsch-deutsche Zusammentreffen simultan zu einem zwischen den Geschlechtern. Der Auftritt der Soldaten­ gruppe, deren Uniform schon im äußeren jeden Ausdruck von 127

Individualität verhindert,112 aber sie sofort als Vertreter einer hierarchisch strukturierten Organisation, die dem männ­ lichen Geschlecht Vorbehalten ist, identifiziert, steht im

Kontrast zum zögernden und unsicheren Auftritt der Frauen, die schon durch die Kleidung individuell differenziert werden. Der

Auftritt der Soldaten ist energischer und zielbewußter:

Zwei Soldaten setzen sich zum Frauentisch. Ihr Verhalten signalisiert deutlich, daß sie— zunächst jedenfalls— ein Gespräch mit den Frauen vermeiden wollen. Dennoch geben sie Feuer, gießen Sekt nach, stapeln die leeren Teller und schieben Aschenbecher zurecht. Dies alles mit gut erlernter Höflichkeit, aber wortlos. Die Frauen sind beeindruckt. (BW 37-38)

Die Soldaten bewegen sich in diesem öffentlichen Raum frei und ihr Verhalten den Frauen gegenüber, ihre Aufdringlichkeit und die Verletzung derer privaten Sphäre durch "Höflichkeiten" spiegeln die patriarchale Ordnung der Kultur wieder, und wie darin das unterschiedliche Raumverhalten von Männern und

Frauen (auch im Sinne von körperlicher Distanz und Berührung) als Stätte der Unterdrückung und Machtausübung zum Vorteil der

Männer ausgenützt wird. Die übertriebene Höflichkeit und hastige Gestik macht sie zu lächerlichen Karikaturen von

Soldaten/Männern, über die sich die Frauen lustig machen

("Jesses, sind die höflich." BSi 38). Die Soldaten legen den

Frauen gegenüber stereotypisch maskulines Benehmen an den Tag:

ll2Roth differenziert sie nur durch vorangesetzte Nummern (1. Soldat, usw.), oder durch besondere Merkmale, wie z. B. "der kleine Soldat", "der Swinger" und reduziert sie auf ihren Beruf und ihr Geschlecht, spricht ihnen dadurch jedliche Individualität ab— was an sich nicht neu ist, man schon z. B. bei Brecht u. v. a. mehr findet. 128

sie sind aktiv, Initiieren den Kontakt mit den Frauen, stellen

die Fragen, führen beim Tanzen, machen Besitzansprüche

geltend, indem sie die miteinander tanzenden Frauen trennen,

bzw. sich auf drängen113:

Es wird für kurze Zeit hell. Die Paare bleiben stehen und klatschen. Anna will zum Tisch zurück. 1. SOLDAT hält Anna lachend fest Halthalthalt. So leicht kommst du nicht weg. Da kommt noch was. (EH 39)

l. SOLDAT Eigentlich seid ihr unser Feind. Gut. Aber wenigstens weißt du, wie man tanzt. Er will Anna küssen, Anna wendet sich weg. (RW 46)

Die Soldaten treten als namenlose, anonyme, aber nicht zu

übersehene Gruppe auf, die durch ihre äußere Erscheinung, ihre

Gebärden, ihre Gestik und später ihre sprachlichen Äußerungen

ihre Rollenfigur auf zweifache Weise etablieren: als Männer und als ostdeutsche Soldaten.

Während des Ablaufes des Tanzabends ergibt es sich, daß die Frauen und Männer/Soldaten Uber das Paartanzen immer wieder miteinander in Kontakt kommen, und dieser Kontakt sich von den anfänglichen Tänzen zu zweit (Mann/Frau), zu gemein­ samen Gesprächen am Frauentisch (Osten/Westen) entfaltet. Die ersten paarweisen Annäherungen zwischen den einzelnen Frauen und den Soldaten in ihrer Rolle als Männer finden "Im

Dunkeln", beim Tanzen, statt. Die Paartänze (Walzer, Foxtrott,

,13Zum Beispiel wie sie 'Objekte' (Teller, Aschenbecher, Sekt und beim Tanzen Frauen) zurechtrücken und so den Raum "be-herr-schen". 129

Chachacha) und die Musik,114 zu der sie tanzen, stammen aus den 50er/60er Jahren und setzen damit die Atmosphäre, die an vergangene Zeiten erinnert, denen solche "Tanzabendwirklich- keiten" angehören. Die Kontaktaufnahme zwischen Osten und

Westen basiert auf den geschlechtsspezifischen Anforderungen der Tänze, während derer die Männer ohne Zweifel die aktive, dominierende Subjektposition einnehmen, der sich die Frauen scheinbar fügen, indem sie ein "typisch" weibliches Rollen­ verhalten demonstrieren und sich gegenseitig kontrollieren und austricksen.115 Diese gegenseitige Kontrolle kann man auf zwei

Ebenen verstehen: als Teil der Rolle, die sie in dieser "Tanz­ abendwirklichkeit" spielen, oder als Bruch mit dieser Rolle, als ironische Bemerkungen, die immer wieder auf das Rollen­ spiel verweisen.

Während der Tanzszenen wird die Frauengruppe aufgelöst, und die Frauen stehen für sich allein, in Konkurrenz zuein­ ander, an der Seite eines Mannes, der sie in einen Tanzstil

ll4Musik und Tanz haben hier eine praktische und symbolische Funktion, indem sie auf eine historische Situation/Zeit verweisen, als sich in Musik und Tanz die Beziehungen zwischen den Geschlechtern reflektierte. Die "Tanzabendwirklichkeit" im DDR-Kontext verweist auf einen Entwicklungsstand in den Geschlechterbeziehungen, der wie die Musik und der Tanz der Vergangenheit angehört, gleichzeitig aber noch Teil der DDR-Wirklichkeit ist. Vgl. Erika Fischer- Lichte 168-179.

IlSZ. B. ANNAs Verhalten LINA gegenüber scheint unfair, da sie dem Soldaten Informationen über LINAs Alter und Privatleben gibt, der Soldat aber die Motivation dafür nicht kennt. "ANNA liebenswürdig vorbei tanzend zum zweiten Soldaten Lina ist unschätzbar. Zehnjahrealte Zwillinge hat die. Sollte man kaum glauben. Oder? (...) LINA Anna nachrufend Warts ab, altes Biest." (EH 39-40) 130

zwingt. Die Paartänze, in denen die Männer führen, stehen

symbolisch für das Machtverhältnis und den Bewegungsraum in

der Beziehung der Geschlechter.1,6 Nach dem ersten Tanz kommen

die Soldaten immer wieder auf dieselben Frauen zurück, stellen

Besitzansprüche ("Ida und Anna werden schon nach ein paar

Takten von 'ihren' Soldaten getrennt" EH 43), denen die Frauen

nachgeben, und sich dementsprechend auf die Soldaten mit den

Possessivpronomen "meinen/deinen" beziehen. (RW 41-42)

In den Tanzpausen aber, während die Musik verklingt und die Dunkelheit von grellem, "erschreckend hell(em)" Licht abgelöst wird, lösen sich die Paarkonstellationen auf und die

Frauen formieren sich als Gruppe, das Tanzgeschehen reflektierend bzw. mockierend distanzieren sie sich von ihrem

Verhalten.117

In den Bühnenanweisungen verlangt Roth, daß ein "Wechsel von Helligkeit und Dunkelheit" die Szenerie bestimmt, "dieser

I16"LINA muffig ... Mit Verbeugen vorher und nachher und einer riesen feuchten Hand im Kreuz." (EH 41) Diese feuchte Hand im Kreuz kontrolliert die Bewegungen der Frau, führt sie. An anderer Stelle beschreibt Roth in den Bühnenanweisungen die verschiedenen Tanzstile der Frauen und die Kompromisse, auf die sie eingehen, bzw. wie sie sich führen lassen: "Anna tanzt bald schon engumschlungen innig auf der Stelle tretend. Ida und ihr kleiner Soldat reden unaufhörlich während des Tanzes. Lina zieht, soweit dies bei dieser gepflegten Tanzmusik möglich ist, eine Art Disco-Tanzshow im Alleingang ab; ihr uniformierter Partner hopst etwas überflüssig neben ihr herum. Thea wird wieder zum korrekten, langschrittig-raumgreifenden Gesellschaftstanz gezwungen." (BE 43)

inMit Ausnahme von IDA, die jeden Moment genießt (vor allem das Tanzen: "IDA ungeduldig Wieso tanzt hier denn keiner. Tanzen. Ach will ich tanzen." BW 42) und sich immer wieder selbst versichert, wie schön es hier sei, und um glaubhaft zu wirken, stellt sie Vergleiche mit zuhause an. 131

He11-Dunkel-Wechsel kann Zelten verkürzen oder abschneiden oder verlängern." (RW 35) Der "Wechsel von Helligkeit und

Dunkelheit" hat noch eine andere Funktion: Mit dem jeweiligen

Lichtwechsel ändert sich die Position, in der sich die Frauen befinden. Wird es dunkel und spielt die Musik, sind sie die

Verkörperung dessen, was das männliche Subjekt in ihnen sieht: das Objekt, des Begehrens. Gängige Weiblichkeitsimagen also, die mit Körper und Sexualität assoziiert werden und für das männliche Subjekt bestimmt sind. Mit Ausnahme von LINA, die als einzige ständig jede aufkommende Begeisterung von seiten der drei anderen Frauen durch zynisch böse Kommentare zu dämpfen versteht, sehen sich die Frauen in diesem Kontext gegenseitig durch die "männliche Brille" als Objekt, als

Körper: "ANNA wie schön geschminkt die Thea ist. IDA Ja.

Wirklich schön sieht sie aus." (JW 37) Ist es dunkel, so bleiben die Frauen in diesen männlichen Entwürfen gefangen, auch dann wenn sie durch ihre verkörperte "Weiblichkeit" Macht

Uber die Männer ausüben, wie z. B. IDA, denn im Grunde ist das auch ein männlicher Entwurf von "Weiblichkeit".

Zu Beginn der "Tanzabendszene" alternieren die "hellen" und "dunklen" Szenen schnell, sie sind kurz und kompakt und voller Bewegung. Im Vordergrund der montagehaft gegenüber­ gestellten Kurzszenen stehen die üblichen Tanzgespräche, die ein solches gesellschaftliches Ereignis begleitenden Regle­ ments. (EH 36-40) Ab ungefähr der Mitte der "Tanzabendszene" dominieren die Szenen, in denen es "ganz hell" ist. Diese 132

"erschreckende" Helligkeit ist wie Röntgenstrahlen, die alles durchleuchten, alles zum Vorschein bringen. In diesen hellen

Szenen sehen wir die Frauen als Gruppe untereinander, und als

Gruppe den Soldaten gegenüber. Sind die Frauen untereinander, dann unterhalten sie sich— reflektieren sie— Uber die

"dunklen" Szenen, in denen sie tanzen, und machen sich Uber den rigiden Tanzstil, die Konversationen mit den Männern lustig und wird in den Bühnenanweisungen als "begeistert",

"leicht überdreht und konfus" beschrieben, während die anderen

Frauen nach dem Tanzen einen beschwerenden Ton anlegen, der als "schniefend" und "muffig" beschrieben wird. Beim Tanzabend amüsiert sich nur IDA wirklich, ANNA und LINA machen den

"Spaß" mit, und THEA freut sich für IDA: ufast mütterlich herzlich So ist es recht. Sei du nur glücklich." (EH 41) LINA hingegen macht keinen Hehl daraus, daß das Ganze bloß ein vorübergehender Ausstieg ist, ein momentan realisierter Traum:

"Und hier fühlst du dich wohl, und es geht doch so weiter."

(EH 44)m

Im Verhältnis der Frauen zu den Soldaten drückt sich eine

Herrschaftsstruktur aus, die vom Gebrauch der Sprache gestützt

"®Hajo Kurzenberger bemerkt zum Tanzabend folgendes: "Dieser 'große Tanzabend' ist schön und ein Traum, weil die Frauen auf sich und ihren nicht vorprogrammierten Wünschen hier nicht nur bestehen, sondern sie als erfüllten Augenblick verwirklichen und erleben. (...) Daß sie nichts wollen, außer frei zu sein von den Alltagszwängen und den zu Hause verordneten Bedingungen macht diesen Abend für die Frauen zu einer zumindest punktuell realisierten Utopie." (75-76) Dies trifft meiner Meinung nach nur für IDA zu, sie genießt den Abend— mit Hilfe von Sekt— sie findet alles schön und klar. 133 wird. Durch das Benutzen einen Jargons (Frauen sowohl als auch

Soldaten) tritt ein Verlust der Verständigung mit den Soldaten

ein, ein Ausschluß der anderen: die Ernsthaftigkeit des

Gemeinten bzw. des Gesagten hat nicht immer den Wert, der ihm

beigemessen wird und darin liegt eine Quelle des Mißverständ­

nisses. Auf der einen Seite wird mehr gesagt als gemeint wird, und auf der anderen Seite wird mehr gemeint als gesagt wird.

DER SWINGER plötzlich und grundlos amerikanisierend cheers. Darf ich die Damen einladen? LINA Was sonst. DER SWINGER Spazierfahrt durch Eisenach. Cheers. Sozialismus bei Nacht. Cheers. IDA Kommkommkomm mir nicht so amerikanisch. Hier muß ich das nicht hören mlisssen. DER SWINGER Ich zeig euch, wie es wirklich ist. THEA ruhig und gelassen Ohne Moos ist nichts los. Müßtest du doch wissen. DER SWINGER ZU Thea Darüber könnten wir reden, zum Beispiel. Kommst du? THEA Und ne Briefmarkensammlung hast du wohl gar nicht? Junge, was erwartest du. Glaubst du, ich setz mich in deinen Trabant? ... Paßt es so in dein falsches Bild? LINA fürsorglich Außerdem sind wir eine Gruppe. Wir verlassen uns nicht. Sie bietet ihm Kaugummi. Hier — kriegstn Chewinggum. THEA wirft ihm eine Zigarette zu Ich schenk dir noch ne Marlboro. ANNA Wenn ich Seidenstrümpfe hätte, ich würde sie dir dazulegen. Ehrlich. IDA den Swinger mit den Augen festnagelnd Ihr habt für Angola Schichten geschoben, da waren wir schon längst auf Großwildjagd in Kenia, mein Lieber. Ist das nicht toll? Wie kannst du dich da wundern über unsere dritte oder vierte Flasche Sekt? ANNA Oder Welt? Der Swinger verdrückt sich. (EW 47-48)

Dieses ausführliche Zitat belegt auf anschauliche Weise, wie 134 sich die Figuren (hier die Frauen) durch die Flucht in einen

Jargon, in bestimmte assoziative Klischees zu retten wissen, und dadurch Sprache zu ihrem Vorteil nützen, und mit ihrer

Hilfe Denkvorgänge von anderen (hier den Soldaten) in ihrem

Sinne beeinflußen und gebrauchen. In dieser Szene ist es "ganz hell" und die Frauen und Soldaten stehen sich hier als Westen und Osten gegenüber, deshalb übernehmen die Frauen den Diskurs und machen sich über den zurückgebliebenen Osten lustig.119

Dieser Dialog zwischen den Frauen und den Soldaten (hier symbolisch zwischen Westen und Osten) markiert das Ende des

Tanzabendvergnügens und die Niederlage der Soldaten. Der

SWINGER gibt sich geschlagen, wird kleinlaut und verdrückt sich. Vergleicht man den Anfang dieser Szene mit dem Ende so ist offensichtlich etwas passiert; der unsichere Auftritt der

Frauen als Frauen verwandelt sich hin zu einem selbstsicheren

Abtritt der Frauen als Westdeutsche. Diese Transformation ist natürlich problematisch, da die Frauen eine Rolle übernehmen, sich in diese Rolle der überheblichen Westdeutschen flüchten, um in diesem Kontext zu bestehen, die Machtposition für sich zu beanspruchen. Die Frauen erobern sich sozusagen den Platz im Scheinwerferlicht durch Selbstbetrug, indem sie Partei für die westliche Seite ergreifen. Die Parteinahme zeigt sich im

Gebrauch der Sprache, in der Übernahme vorgeprägter Klischees,

,19Di e Andeutungen der Frauen bringen Nachkriegsdeutschland in Erinnerung, die amerikanische Besetzung, die überhebliche Haltung gegenüber einer zurückgebliebenen Nation. 135

die zwar mit Ironie benutzt werden aber nichtsdestotrotz die

Funktion haben den SWINGER zum Schweigen zu bringen, ihn zu

erniedrigen.

Frauen und ihr bundesrepublikanischer Alltag

Oer bundesrepublikanische Alltag, den die vier Frauen

zurücklassen, wird in den ersten fünf Szenen auf zwei Ebenen

exponiert: Zum einen werden im Dialog aus der Perspektive der

Frauen die nötigen biographischen Informationen gegeben, sowie

ihr soziales Umfeld besprochen, und zum anderen wird durch das

tableauhafte Bühnenbild der 1. Szene und den dazu entsprechen­

den Anweisungen auf den gesellschaftlichen Kontext hinge­

wiesen, in dem sich die Frauen bewegen.

Das Bild des zurückgelassenen Frauenalltags, den sie im

Gespräch miteinander fast wetteifernd schildern und aus dem

sie nichts als wegwollen ("THEA Das Geld für die Reise hab ich

geliehen. Mir war die Reise wichtiger. ... IDA Einfach weg.

Und ohne Stoff. Da brauch ich kein Stoff." ßW 12-13), läßt die

frauenfeindliche, ausbeutende Umgebung und die Doppelbe­

lastung, der sie durch Kinder, Haushalt und Arbeit ausgesetzt

sind, ahnen:

IDA (...) Anna, das hast du doch gesagt: keinem darf was am Hals hängen. Das war doch die Bedingung. Ich hab mich nicht mal von den Röteln meiner Tochter halten lassen. LINA zu Thea Der Tobi hatte prompt heute morgen Fieber. Ich hab das einfach ignoriert. Obwohl mit Sicherheit der Dani morgen mit derselben Geschichte kommt. 136

Bel Zwillingen kannste wirklich draufgehen. IDA Ohne den heillosen Allhag. Das hat mich gepackt. Einmal ohne den nächsten Tag mit Kindern, Schule, Hann, alter Wäsche und Auto in die Werkstatt bringen. Und ohne Gardinenfabrik mit Vorhänge nähn Vorhänge nähn Vorhänge nähn und Polster beziehen für die feinen Arsche der ändern. Einfach weg, ohne nähen. (BW 12)

ANNA teilt mit den anderen diesen "heillosen Alltag" nicht, da sie weder Mann noch Kinder, sondern "nur" eine Karriere hat.

Sie entwarf das Reiseprogramm, stellte die Bedingungen, denen sich die anderen anfangs bedenkenlos fügen, da die Details der

Reise vorerst nicht wichtig waren:

LINA (...) Ich hab ihr gesagt, vonnem ganzen Schlammassel— kriegen wirs Visum, ja nein doch jetzt wieder nicht vielleicht aber doch— will ich nichts hören und sehen. Ruf mich einen Tag vorher an. Wenns soweit ist, bin ich dabei. So dahin daher. Davon hab ich tagaus tagein genug. (EW 10)

Die Bedeutsamkeit dieser kollektiven "Traumreise", von der sie bis zuletzt glaubten, sie "gäbs immer nur als Planung", als

"Wunsch", sodaß "man immer was zum Vorbereiten hat und zum

Bereden" (RW 10) und die aufgekratzte, hysterisch-euphorische

Stimmung kurz vor dem Aufbruch verweisen auf die Unzufrieden­ heit und Frustation mit ihrem Leben, als auch auf die Erwar­ tungen und Hoffnung auf etwas Neues, die mit dieser Reise verbunden werden.

Diese Frauenfiguren, ihre Erwartungen, Ängste, Reak­ tionen, Träume, Phantasien und ihre 'weibliche' Sicht der sie umgebenden Wirklichkeit und die damit verbundenen 'weiblichen'

Erfahrungen stehen im Mittelpunkt des Stückes und sie sprechen in ihrer Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit. Die repräsen­ 137

tierten 'Frauen'-Rollen werden nicht durch 'familiäre oder

sexuelle' (=patriarchale) Kategorien definiert— als Mutter/

Ehefrau/Tochter oder Prostituierte/Heilige. Diese Klassifi­

zierungen von 'Weiblichkeit' werden nur in dem Maß ange­

sprochen, als daß auf die Enge und Begrenztheit dieser Rollen

verwiesen wird, auf die beschränkten Möglichkeiten, die sie

Frauen bieten. Der zurückgelassene Alltag wird als nicht

veränderbar empfunden, als einem kaum zu entkommenden

Gefängnis. Dies wird in der Passivität der Frauen (außer ANNA,

die die Reise organisiert), im Fehlen augenfälliger Handlung

offensichtlich— IDA, THEA und LINA wollen nichts mit der

Planung zu tun haben, sie sind mit ihren Rollen (als Mutter/

Ehefrau) überbelastet. Der Ausflug in den Osten schildert die

Erfahrungen, welche die Frauen durch das Engagement mit der

sie umgebenden Wirklichkeit machen und spiegelt darin das

Gefühl des Ungenügens, das sich bei den Frauen mehr und mehr

bemerkbar macht, da der Ausflug/die Flucht in den Osten "ihre

Wirklichkeit" und "ihren darin gelebten Alltag" nicht ändert.

"Wirklichkeit" und "Alltag" sind Reflektionen der Denkweise, des Bewußtseinszustandes und eine Änderung derselben muß jeder

Umgestaltung vorausgehen.

Die Hintergrundinformationen bezüglich der einzelnen, privaten 'Alltagsrealitäten' der Frauen vermittelt durch ihre

Gespräche, werden auf der Ebene der Bühnenanweisungen ergänzt, indem der die Frauen umgebende, gesellschaftliche Rahmen eine besondere Art der Objektivierung der Frauen— durch die 138

Darstellung des 'voyeuristischen Blickes'120, Männer als

Träger des Blickes und Frauen als Empfänger desselben "to-be- looked-at-ness"121 (sexuelle Objekt) darstellen— visuell veranschaulicht, und wie diese Objektivierung von Frauen (hier

THEA) erfahren bzw. darauf reagiert wird.

Jn einer Bahnhofshalle vor einem Bahnhofsbuffet. Der Buffeteingang ist offenbar auch der Eingang zum Bahnhofs- Nonstopkino; jedenfalls hängen rechts und links neben und über dem Eingang Szenenfotos - teilweise zugebalkt - aus PornofUrnen. (...) Thea steht neben ihrem Gepäck ein bißchen verloren mit dem Rücken zu den Fotos. Sie hat sich bei Arno untergehackt, der den Fotos zugewandt und diese ausführlich betrachtend dasteht, während sich die vorbeikommenden Männer Thea ansehen, die deshalb ihrerseits nicht so recht weiß, wohin sie selbst schauen soll. (ES2, 9)

So beginnt das Stück und der Aufbruch der Frauen aus ihrem

Alltag: Die Bahnhofshalle— mit Nonstopkino, Pornoplakaten und der Präsenz scheinbar aus dem Kino kommender Männer— steht symbolisch für eine frauenfeindliche, auf "männliche"

Bedürfnisse ausgerichtete Gesellschaft und Wirklichkeit. Einen besonderen Platz nimmt in dieser Wirklichkeit— wie in der

Bahnhofshalle— das Kino122 ein, das durch spezielle cinema-

120Vornehmlich Gastarbeiter und Ausländer, die hier für eine 'andere, noch viel patriarchalere Kultur' stehen, aber jetzt in einem Land leben, wo sie selbst Unterdrückung und Diskriminierung ausgesetzt sind. Trotzdem oder gerade deshalb sehen sie in Frauen nun verstärkt ein Objekt ihrer Unterdrückung. Später zeigt sich, daß die vier Frauen dem Osten gegenüber in ein ähnliches Schema verfallen.

l21Vgl. Laura Mulvey, "Visual Pleasure and Narrative Cinema," Screen 16 (1975).

,22In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die feministische Filmtheorie mit der Frage befaßt, wie Filme die konstruierten Geschlechtsrollen darstellen und zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen, indem sie von den einzelnen 139 tographische Kode Frauen als "Image” konstruiert, "as the

object of the spectator's voyeurist gaze" und dadurch dazu

beiträgt, die Objektivierung der Frauen aufrechtzuerhalten und

immer wieder neu zu reproduzieren.123 Die Pornoplakate134, vor

denen THEA ' verloren' und eingehackt bei Arno als einzige

Frau— abgesehen von den Frauen auf den Pornoplakaten— steht,

sowie die von vorbeigehenden Männern auf Thea gerichteten

Blicke, versinnbildlichen die Sexualisierung und Hand in Hand damit die Objektivierung des weiblichen Körpers, wie sie von

Männern im Kontrast zu und im Bezug auf ihr Verständnis von

Sexualität definiert wurde.125 THEA ist— wie die Frauen auf

angesprochenen Individuen unbewußt absorbiert werden. Wichtige Beiträge dazu sind: Laura Mulvey, "Visual Pleasure and Narrative Cinema," 6-18; Teresa de Lauretis, Alice Doesn't: Feminism. Semiotics. Cinema: Teresa de Lauretis, Technologies of Gender: Judith Mayne, The Woman at the Kevhole. (Bloomington: Indiana UP, 1990).

I23de Lauretis, Technologies of Gender 13.

,24Monique Wittig beschreibt die Unterdrückung, die vom Diskurs der Massenmedien ausgeht, anhand des Beispiels von Pornographie: "Pornographie images, films magazine photos, Publicity posters on the walls of the cities, constitute a discourse, and this discourse covers our world with its signs, and this discourse has a meaning: it signifies that women are dominated." "The Straight Mind," Feminist Issues l, Nummer 1 (Sommer 1980): 106.

123Im Sinne von Teresa de Lauretis: "I am speaking here of sexuality as a construct and a (seif-) representation; and that does have both a male form and a female form, although in the patriarchal or male-centered frame of mind, the female form is a projection of the male's, its complementary opposite, its extrapolation ..." Technologies of Gender 14. Dies ist de Lauretis Erwiderung auf Foucaults Theorie der Sexualität, der das Geschlecht nicht in Betracht zieht, sondern davon ausgeht, daß es nur eine Sexualität gibt, die dann impliziert natürlich männlich ist. 140

den Plakaten— den "aktiven", voyeuristischen Blicken ausge­

setzt, denen gegenüber sie sich nur "passiv" zu verhalten

weiß, aufgrund des Mangels an Bewußtsein, darauf "aktiv" zu

reagieren.126 Ihre Unsicherheit verleitet sie, sich auf ARNO

zu verlassen, der sich von den anderen Männern nicht unter­

scheidet. THEAs alleinige Präsenz als Frau im von Männern

dominierten Umfeld zeigt die Machtverhältnisse besonders

deutlich; diese Konstellation charakterisiert den alltäglichen

Kampf, die Möglichkeit und gleichzeitig Unmöglichkeit als

handelndes Wesen für sich zu entscheiden. Eine Kostprobe der

Stärke und Sicherheit, die von den Frauen als Gruppe ausge­

strahlt wird, bekommt man auch schon in dieser ersten Szene,

nämlich im lauten Auftritt von IDA und ANNA. (BW 9-10) THEA,

erleichtert durch die Verstärkung, schließt sich sofort den

Frauen an, die nun in der Überzahl auf Kosten von ARNO Witze

machen, der nun kleinlaut und defensiv beigibt.

Von der Reise erwarten die Frauen— wenn auch nur

momentan— eine Erlösung aus dem Trancezustand, dem

'Dazwischen', womit sie ihr Dasein assoziieren. In einem neuen

Kontext können andere Möglichkeiten zum Handeln, zum Ändern

des eigenen Verhaltens ausprobiert werden, ohne größere

,26Das Verhalten von Frauen (Menschen im allgemeinen) muß immer dem Verhalten zugrunde liegenden Kontext gesehen werden. THEAs Verhalten, ihr Schutz suchen bei Arno, ihrem Mann, ist weder heroisch noch selbstständig, sondern im Gegenteil sehr hilflos. Aber trotzdem zieht sie dieses Verhalten anderen Verhaltensmöglichkeiten vor. Ihre Einschätzung der äußeren Umstände, die sie nicht kreiert hat, aber die sie ständig konfrontieren muß, tragen dazu bei, daß sie sich in 'weiblich­ passives' Verhalten flüchtet. 141

Konflikte zu riskieren. Kinder und Partner werden— trotz

Komplikationen— zurückgelassen, denn die Notwendigkeit dieser

Reise ist dringend, die Erwartungen an sie sind hoch. Der

Aufbruch allein zählt und ist für LINA, IDA und THEA dringender, als Überlegungen zum darüber und danach, damit wird ANNA vertraut, deren Profil sich vom Rest deutlich unterscheidet.

Im räumlichen und zeitlichen Vakuum des Zugabteiles, im

"Dazwischen"— nicht mehr im Westen aber auch noch nicht im

Osten127— diskutieren die Frauen ihr Reiseprogramm, und impliziert sich selbst, und welche Erwartungen sie an diese

Reise, bzw. sich selbst stellen. Den mit ihrem 'Frauenalltag' frustrierten Frauen bietet das "Er-fahren neuer Wirklich­ keiten"128 die Gelegenheit sich mit gängigen Männlich- und

Weiblichkeitsbildern und der Dekonstruktion derselben ausein­ anderzusetzen. An diesen Bildern orientiert sich ihre Sicht vom Mann und zusammenhängend damit von sich selber, inwieweit sie zum Beispiel ihre eigene Abhängigkeit und die Überlegen­ heit des Mannes reproduzieren, und wie sie ihre Identität

I27Osten/Westen steht zwar für zwei unterschiedliche politisch-ideologische Systeme; im übertragenen Sinne kann man darin aber auch die Gegenüberstellung von Norm und Alternative aus der Perspektive der Frauen sehen. Das Erfahren der Alternative scheitert aber letztendlich an den Vorstellungen und Erwartungen, die zu sehr an die Normen gebunden sind.

128Vgl. Kurzenberger 73. 142 entwickeln können ohne Männer oder mit ihnen.129

Frauen und ihre Erwartungen

Die DDR wird zum Experimentierfeld, und im Umgang mit der

DDR-Realität kommt das Verhältnis zum eigenen Alltag und sich selbst zum Vorschein. Diese 'andere' Wirklichkeit der DDR existiert einmal in der "alltäglichen" Wirklichkeit der DDR, wie sie auf vielfache Art aus der Perspektive von DDR-Bürgern erfahren wird. Sie existiert aber auch als imaginierte

(sozialistische) Wirklichkeit in den Köpfen der West-Frauen, und beeinflußt bzw. schränkt als solche sowohl ihr (der

Frauen) eigenes Erleben, als auch die Wahrnehmung von der tatsächlich in der DDR gelebten Wirklichkeit ein. Vorurteile,

Klischees, stereotype Bilder bestimmen den Umgang mit der realen DDR, obwohl diese nicht unüberlegt reproduziert, sondern äußerst ironisch eingesetzt werden: Ironie erlaubt den

Frauen sich von den Klischees zu distanzieren, sich über den defizienten Inhalt derselben lustig zu machen, ohne sie wirklich in Frage zu stellen.130 Durch Vorurteile und

lw»'Sie' Weder mit noch ohne" ist auch der Titel einer Rezension von Jürgen Schmidt, Stuttgarter Nachrichten 18.02.1981.

I30z. B. auf der Zugfahrt: "ANNA Glaubst, drüben gibts keine Korkenzieher? LINA ironisierend Ich hab heut mittag auch schnell noch gebadet. Wer weiß, ob die dort warmes Wasser kennen. Gelächter ANNA Und ich hab Handtücher eingepackt. Es ist zum Kotzen. Man fragt sich allen Ernstes, obs Handtücher gibt dort im Hotel. IDA So fährste hin und denkst, die ham nichts Besseres zu tun, als unsere Vorurteile aus der Welt zu 143

Klischees wird im Text etwas über Vorurteile, Klischees und konstruierte Images im Allgemeinen ausgesagt: Diese beeonflus- sen das Image einer Wirklichkeit negativ oder positiv und sind von authentischen Aussagen über die Wirklichkeit weit ent­ fernt. Roth begründet die Wahl der DDR damit, daß sie "Distanz

in der Nähe" zeigen wollte, und "wie die Köpfe schon mit

Vorurteilen behaftet sind. Die DDR ist ein Land, von dem man ein Bild zu haben glaubt, aber es ist ein falsches Bild."131

Eine solche "Distanz in der Nähe" zeigt sich auch in der

Beziehung der Geschlechter, im gegenseitigen Mißverständnis, das durch Männlich- und Weiblichkeitsbilder, Vorurteile und

Klischees gefördert wird.

Die Frauenfiguren im Stück wollen "dorthin mit ohne was von uns" (EH 11), um sich das Erfahren dieser 'anderen' Wirk­ lichkeit nicht durch unnötigen Ballast zu versperren. Gerade das gelingt nicht: Annehmlichkeiten wie die obligate Plastik­ tüte, Feuerzeug, oder bessere Zigaretten scheinen unentbehr­ lich, ebenso unmöglich ist es, Vorstellungen und Erwartungen nicht zu fixieren. Trotz nur drei- bis viertägiger Reise finden sich die vier am Bahnhof "gepäckbeladen" und "schlep­ pend" ein, und beim Umsteigen (3. Szene) im stürmischen Regen-

-unter erschwerten Umständen— zeigen sich die Belastungen, das ganze wird wie ein Spießrutenlauf beschrieben: schaffen." (EH 2)

,3,Zitiert aus Kurzenbergers Artikel (S. 90) Orginalzitat aus dem Programmheft des Schiller-Theaters Berlin ("Ritt auf die Wartburg"). Werkstatt Spielzeit 1983/84. 144

Blitze. Stürmische Regennacht. Die vier Frauen rennen mit ihrem klappernden Gepäck Uber die Bühne. Sie werden dabei von aus dem Dunkeln auf tauchenden Männern (Gastarbeitern, Betrunkenen, Verlorenen) angequatscht, oder zu größerer Schnelligkeit angestachelt oder aufgehalten. Die dicke Thea erweist sich als die Schnellste. Die kleine Anna kann mit ihren Stöckelschuhen nicht rennen. (BW 17)

Die Überbelastung durch das Gepäck, das sie fast den Anschluß verpassen läßt, die Stöckelschuhe, die schneller Weiterbe­ wegung entgegenwirken, die plötzlich auftauchenden Männer, durch die sie belästigt und behindert werden, stehen sym­ bolisch für alles, was verhindert, daß Frauen sich frei und unabhängig bewegen können. Die Frauen werden behindert, aber sie sind nicht nur Opfer dieser Behinderung, sondern auch

Mittäter, weil sie selbst dazu beitragen: z. B. Vorstellungen und Ansichten über Weiblichkeit, die sie immer wieder neu reproduz ieren.

In der ersten Hälfte des Stückes, bis nach dem Tanzabend, versuchen die vier Frauen im Umgang miteinander und beim

Zusammentreffen mit dem "Fremden/Anderen" (DDR), in die Rolle der Überlegenen zu schlüpfen; d. h. sie identifizieren sich mit ihrem patriarchalischen Unterdrücker, ohne diese

Verschiebung selbst wahrzunehmen. Denn genauso wie Männer

Frauen als das "Fremde/Andere" ansehen, sie "nicht an sich, sondern in Beziehung auf sich1,1,2 selbst definieren, so sehen die Frauen den Osten, nicht an sich, sondern in Beziehung zum

Westen. Eingedeckt mit einem fixen DDR-Bild, das ihre Wahr-

,32Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht (Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1968) 10. 145 nehmungen bestimmt, wird der DDR-Realität keine Chance gegeben

"an sich" zu existieren. Die Frauen genießen Freiheiten, die

DDR-Bürgern unerreichbar sind, aber IDA scheint diese Tatsache

zu übersehen: "Worüber ihr jammert! Uns hat man das an der

Wiege gesungen. Ihr hättet keine Freiheit." (EW 46). Die

"Unfreiheit" ist für IDA nicht sichtbar. Über das "falsche

Bild" vom Westen der Soldaten ärgern sich die Frauen, ohne ihr

"falsches Bild" vom Osten wahrzunehmen, und IDAs Bemerkung

" (u)ns gefällts hier. Das ist alles. Wieso geht das denn nicht in eure Köpfe? (...) Daß wir nichts wollen" (RW 45) ist ignorant, denn so wie sich die Frauen benehmen— mondän, Ente essend und Sekt trinkend— wollen sie wirklich nichts von der

DDR, sondern sie verfolgen nichts als subjektive, egoistische

Interessen und steuern dabei zum (West-)Bild bei, gegen das sie sich sträuben. Erst am Abend vor der Abreise kommt die verspätete Einsicht von LINA: "Wenn wir DDR-Bürger wären, hätten sie uns längst ausm Hotel geschmissen, wie wir uns aufführen." (RW 77)

Eine Auseinandersetzung der Frauen mit der ' realen, gelebten' DDR wird durch ihr 'konstruiertes, falsches' DDR-

Bild und durch die Verdrängung ihres BRD-Alltags verhindert.

Ihre Unfähigkeit mit der DDR-Wirklichkeit umzugehen, wird ihnen letztendlich unabhängig voneinander und im unter­ schiedlichen Ausmaß bewußt, und damit zusammenhängend erkennen sie ihr Dilemma: sie leben in der DDR "bloß als ob", "betrügen die Welt" (ESj 72, 79) und sind, in IDAs Worten, nichts als 146

"ein verlorener Haufen" (EH 78), weil sie sich vor Ausein­ andersetzungen jeder Art drücken und lieber zu Mitteln der

Verdrängung, wie z. B. Alkohol, Drogen (oder auch diesen

Ausflug) greifen, um nur nicht ihre Frustrationen konfron­ tieren zu müssen.

Frauen und Kultur (Institutionen/Traditionen!

Die Etappen des Reiseplans scheinen zufällig gewählt133, doch folgt ANNAs Programm einer Logik, in der Hajo Kurzen­ berger "ein Experiment, zugleich aber auch eine Reise ins Land der Poesie und in die Vergangenheit" sieht. Der Eselsritt auf die Wartburg stellt für ihn den "poetischen Programmteil" dar und der Kirchenbesuch "hat was mit Erinnerung zu tun,"

mit der eigenen sowohl als auch der Erinnerung an die Geschichtlichkeit des Ortes. Der Plan, schließlich in Eisenach zum Friseur zu gehen und sich die Haare färben zu lassen, gerät den vier Frauen unter der Hand zum Spielversuch mit der eigenen Zukunft.134

Die Wartburg, die Kirche und der Friseursalon stehen stell­ vertretend für Institutionen, die durch disziplinäre Praktiken und Vorschriften, die Abhängigkeit, Unterdrückung und "Körper­ lichkeit" der Frauen, ihren sekundären Status gegenüber

Männern Uber Jahrhunderte hin definierten. Sie stehen für den patriarchalen Rahmen, für die patriarchale Kultur und die

l33Zumindest wenn man einige der Rezensionen liest, in denen die Örtlichkeiten als bloße Gags gesehen werden, ohne jeden symbolischen Wert.

,34Kurzenberger 71. 147

repressiven Auswirkungen derselben auf Frauen.

Im symbolträchtigen Eisenach können charakteristische

Ausprägungen der deutschen Geschichtsentwicklung nachvollzogen

werden: Religiöse und soziale Kämpfe, Einheitsstreben und

Gelehrsamkeit fanden im Laufe der Geschichte an diesem Ort

statt. Die Wartburg setzte in der deutschen (Kultur)Geschichte

wesentliche Akzente: Anfang des 13. Jahrhunderts war sie eine

Stätte der Künste, des Minnesangs135, der höfischen Epik und—

so will es die mittelhochdeutsche Dichtung— einer berühmten

Auseinandersetzung, dem "Sängerkrieg"136; im 16. Jahrhundert

wurde sie zur Fluchtburg für Martin Luther, der dort seine

Bibelübersetzung schrieb137; Anfang des 19. Jahrhunderts war

sie Schauplatz des "Wartburgfestes" der Burschenschaftler138.

Im 13. Jahrhundert lebte auf der Wartburg die Landgräfin

135Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide hielten sich zeitweise auf der Wartburg auf. Roth setzt dem Stück ein Zitat von Walter von der Vogelweide voran: "Wer in den Ohren krank an Süchten ist, das ist mein Rat, der bleibe dem Hofe zu Thüringen fern. Denn kommt er dahin er gerät wahrhaftig von Sinnen. Ich habe mich in den Trubel gestürzt, bis ich es nun nicht mehr kann...".

136Walter von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach und der 'sagenhafte' Heinrich von Ofterdingen traten hier scheinbar zum "Sängerkrieg" an.

l37Martin Luther versteckte sich auf der Burg (1521/22) vor dem Bann des Papstes.

i3Sl817 versammelten sich Studenten aus allen Teilen des Landes auf der Wartburg, um für die politische Einheit Deutschlands zu demonstrieren. Studenten verbrannten Schriften unter anderem von Kotzebue, der 1819 von einem Burschenschaftler ermordet wurde. Diese Bücherverbrennung belastete die Einheitsbewegung in der Folgezeit und ließ den Fanatismus erkennen, der seit Beginn des Jahrhunderts im Anwachsen gewesen war. 148

Elisabeth, die ihrer Nächstenliebe wegen heiliggesprochen wurde: Fresken in der Burg erzählen von ihren Hilfeleistungen, darunter das "Rosenbrotwunder"139, das ANNA unbedingt sehen will.

Betrachtet man den "kulturellen" Wert der Wartburg und

Eisenachs, so kann man deren Einfluß auf die (deutsche)

Literatur, Religion und politische Entwicklung140 nicht

Ubersehen. Besonders Literatur und Religionen vergangener

Jahrhunderte waren für die Schaffung fixer "Geschlechtsrollen" verantwortlich, die auf "Weiblich-" und "Männlichkeits­ konstrukte" basierten, die man als "natürlich", bzw. von "Gott gegeben" verstand und die bis in die gegenwärtige Zeit existieren. Angefangen bei den Minnesängern, deren Dichtung die Idealisierung von Frauen zugrunde lag, Uber Luthers

Schriften, in denen er explizite Forderungen an Frauen, ihren

l39Die Landgräfin Elisabeth war das enthaltsame Gegenbild zum prunkvollen höfischen Treiben auf der Wartburg. Ihr Drang zu Mildtätigkeit und Nächstenliebe veranlaßten sie Arme und Waise zu sich in den Burgbereich zu holen, um sie einzukleiden und zu versorgen. Ludwig, ihr Gemahl, unterstützte sie nicht darin, vielmehr verbot er ihr den Kontakt mit den Armen. Eines nachts, so erzählt eine Legende, war Elisabeth mit einem Laib Brot auf dem Weg zu den Armen als Ludwig sie aufhielt und sie nach dem Zweck ihres nächtlichen Ausflugs ausfragte. Er forderte sie auf zu zeigen, was sie unter ihrem Mantel verborgen hielt. Elisabeth öffnete den Mantel, und anstatt des Brotlaibes zeigte sich ein Strauß Rosen. ANNA wollte Moritz von Schwinds Gemälde "Das Rosenbrotwunder" sehen, das diese Szene darstellt. Die Landgräfin Elisabeth und ihr Wirken, das sie trotz des Verbots des Landgrafen Ludwig durchführte, war ANNAs Motivation auf die Wartburg zu reiten.

1401869 wurde in Eisenach August Bebels Sozialdemo­ kratische Arbeiterpartei gegründet. August Bebel ist auch der Autor eines der bedeutendsten frühen feministischen Manifeste, "Die Frau und der Sozialismus". 149

Dienst Männern gegenüber stellt, läßt sich in unserer

"Kulturgeschichte"— "Wartburg" steht als Symbol dafür— die

Tendenz erkennen, Frauen zu objektivieren und disziplinieren.

Oberflächlich hat das mit dem Kirchenbesuch verbundende

Interesse mit Neugierde und Melancholie zu tun: selbst aus der

Kirche ausgetreten, erhoffen sich die Frauen eine besondere

Vorstellung, denn hier im Osten ist die Kirche selbst

"gräßlich unterdrückt" (ES? 19) und deshalb muß mehr geboten werden als anderswo.141 Durchdringt man die Oberfläche, dann wird klar, daß es in dieser Episode um mehr geht, besonders wenn man sie in Gegenüberstellung zum Friseurbesuch analysiert.142 Die Macht und Wichtigkeit der Kirche als primärer Produzent von und Wache über "Weiblichkeit" hat sich im Laufe der Jahrhunderte stetig vermindert. Das heißt nicht, daß "Weiblichkeit" zu existieren aufhörte, im Gegenteil: Hand in Hand mit der Verringerung des Einflußes der Kirche ging die

Entwicklung der Schönheits- und Modebranche, die mittlerweile die ursprüngliche Rolle der Kirche in Bezug auf Produktion und

Überwachung des "Weiblichkeitsmythos" Übernommen hat. Anhand der Gegenüberstellung des Kirchen- und Friseurbesuches wird

141Deutlich wird hier auch die Parallele zwischen Theater und Kirchenvorstellung. Das Theater verfolgt ein Ziel, beabsichtigt eine Reaktion beim Zuschauer, während es bei einer Messe eigentlich keine Zuschauer, sondern nur Teilnehmer gibt. Beide basieren auf einen Text und können unendlich oft "vorgeführt" werden.

l42Der Kirchenbesuch findet im zweiten Abschnitt statt und der Friseurbesuch im vierten, und als Brücke fungieren die Tanzabendszenen. 150

diese Entwicklung subtil angedeutet.143

Der letzte Abschnitt enthält den "Ritt auf die Wartburg",

der dem Stück den Titel verleiht, obwohl er nicht wie geplant

auf Eseln— die es tatsächlich gibt— sondern nur imaginär

stattfindet. Den "Ritt auf dem Zaun" lese ich als symbolische

Attacke auf diese Institutionen und als möglichen Neuanfang.

Kirche

Bei ihrer Ankunft im frühen Morgengrauen im regnerischen Eisenach ist der Enthusiasmus der erschöpften

Frauen schon etwas ermattet. Während IDA und ANNA das Beste aus der Situation machen wollen, und die frühe Ankunft primär als Zeit- und Geldeinsparung planten ("ANNA Jetzt sind wir da." Diesen Auspruch wieder holt sie gleich zweimal! Oder:

"IDA Leute, wir sind da. Die Zeit geht rum." EW 24-25), meckern THEA und LINA: "LINA ... Grau ist das alles. THEA Und müde bin ich." (BW 24) Wegen der Müdigkeit und des Wetters wird der Kirchenbesuch vorgezogen.

Die Kirche wird durch eine Vorhalle angedeutet und "sie sollte eine Mischung aus Geschichtsträchtigkeit, Totenkult und

Moder vermitteln." (BW 27) Auf die Institution der Kirche, deren Dogma, Macht und Tradition in der Vorhalle durch Grab­ platten symbolisiert werden, reagieren die einzelnen Frauen unterschiedlich. Beim Eintritt zeigen sich an ihren Bemer-

143Näheres dazu unter Friseur. kungen die konträren Einstellungen. ANNA z. B. murmelt beim

Eintritt die Namen auf den Grabplatten vor sich hin ("Ludwig der Springer Ludwig Landgraf zu Thüringen Ludwig Sohn Ludwigs

..." BH 27), die den Nachweis für eine patriarchale Tradition liefern, und ANNA durch ihre humanistische und geschichtliche

Ausbildung bekannt sind.144 Die Tradtionsbeladenheit dieses

Ortes wird ironisiert und verliert an Ernsthaftigkeit durch die "erschreckt-ehrfürchtig-komischen Seitenhopser" (BW 27) der Frauen, die sich dazu veranlaßt sehen, wollen sie den

Grabplatten auf dem Boden ausweichen. LINA wollte ursprünglich nicht in die Kirche, sieht den Kirchenbesuch jetzt von der praktischen Seite: "(w)enigstens trocken ist es. Und Bänke sind da. Setzt sich auf eine Bank. Wenn sie jetzt noch Kaffee ausschenken würden, glatt würd ich in die Thüringer Landes­ kirche eintreten." (RW 27) Sie macht sich Uber das Ganze lustig, ("Da kommt doch keiner. Ich lach mich ja kaputt. Die

Show geht ab, und vier kaputte Westweiber sind die einzigen

Freaks." EH 28), um ihre Ablehnung dieser Institution laut kundzutun und ihre Anwesenheit zu bagatellisieren: "Sagt bloß zu Haus niemand, daß ich in der Kirche war." (BH 28) Sie nimmt aus Bequemlichkeit— dies in doppelter Hinsicht, nämlich einmal wegen des schlimmen Wetters und zum anderen weil sie ihre persönliche Haltung in der Gruppe nicht durchzusetzen ver­ mochte— und doch gegen ihre Überzeugung teil und sie kann

144Die Geschichtsträchtigkeit von Eisenach und der Wartburg waren offensichtlich für ANNA ein Grund, diese Stadt als Ziel auszusuchen. 152

damit leben, jedoch nicht damit, daß andere davon zuhause

erfahren. Auch THEA transformiert den Kirchenbesuch eigenen

Bedürfnissen entsprechend zu einem Ort, wo sie sich von ihrer

Erschöpfung ausruhen kann: «Glaubt ihr, ich könnt mich noch

kurz langlegen?" (EH 28) Sie ist dann auch die erste, die

einschläft. IDA, als einzige, zeigt das meiste, wenn auch

distanzierte Interesse, da sie die Messe als Vorstellung und

sich als Zuschauerin, nicht Teilnehmerin sieht. Sie nimmt die

Vorstellung ironisch-ernst, übernimmt gegenüber ihren Reise­

gefährtinnen die befehlende Rolle: "IDA Ruhe. (...) gibt Thea

einen Rippenstoß Los gehts. Guck doch." (gw 28) Aber auch sie macht sie über die Messe herablassend lustig:

Vom "eigentlichen", aber unsichtbaren Ort des Geschehens aus hört man einen Kinderchor das Lied singen "Wohlauf in Gottes schöne Welt ..."

ANNA irritiert zu Ida Das ist doch abern Wanderlied. Oder? IDA Von wegen Wanderlied. Aufforderung zur Republikflucht ist das.

Die Frauen kichern. (RW 29)

Doch endlich beim Höhepunkt der Messe, der Predigt, angelangt, schlafen die vier Frauen ein: zuerst THEA, dann LINA, ANNA und zuletzt IDA. Das Thema der Predigt, das sie verschlafen, handelt aber über 'die Frau', ihre Rolle in der Familie, in der Beziehung zu ihrem Mann. Das Bild der 'starken Frau' aus der katholischen Perspektive beschreibt der Priester:

Eine starke Frau, (...) (e)s vertraut auf sie das Herz ihres Mannes, und an Gewinn wird es nie fehlen. Sie erweist ihm nur Gutes, nie Böses, alle Tage ihres Lebens. Sie trägt Sorge und schafft mit kundiger Hand. Sie gleicht dem Handelsschiff: von 153

fern bringt: sie ihr Brot herbei ... (...) . . .Noch ist es Nacht, da steht sie auf, gibt Nahrung ihren Hausgenossen und Speise ihren Mägden. Sie gürtet mit Kraft ihre Lenden und stärkt ihre Arme. Sie merkt und sieht, wie gut ihr Werk gedeiht. Selbst des Nachts erlischt nicht ihre Leuchte. Sie öffnet ihre Hand dem Armen und streckt dem Dürftigen ent­ gegen ihre Arme. Angesehen ist ihr Mann, Kraft und Anmut sind ihr Kleid, am letzten Tag noch wird sie lachen. In ihrem Munde wohnet Weisheit, und das Gesetz der Milde ist auf ihrer Zunge. Sie wacht Uber den Wandel ihres Hauses, ihr Brot ißt sie nicht müßig. Ihre Söhne kommen hoch und preisen sie selig; es rühmt sie auch ihr Mann. Viele haben sich Reichtümer gesammelt: sie hatte sie alle über­ troffen. Trügerisch ist Anmut, die Schönheit eitel. Ein Weib, das den Herrn fürchtet, wird gepriesen. Man kündet das Lob ihrer Werke ... (RW 30)

In dieser Passage zeigt sich ein "Weiblichkeits-/Frauenbild",

das sich über Jahrhunderte hin nicht weiter entwickelt hat,

sondern beharrlich aufrechterhalten wurde, und heute

anachronistisch ist. In seinem Diskurs bezieht sich der

Pfarrer auf die zwei konträren "Frauenbilder": das "Ideal"

Maria (Mutter/Ehefrau/Milde/Weisheit) und die "dämonische

Verführerin" Eva ("trügerisch ist Anmut, die Schönheit

eitel"), die heute noch Metaphern der "Weiblichkeit" sind.

Sandra Lee Bartky beschreibt in ihrem Artikel "Foucault,

Femininity, and Patriarchal Power"145 die Rolle der Kirche bei

der Einschränkung von Frauen:

In important ways, a woinan's behavior is less regulated now than it was in the past. She has more mobility and is less confined to domenstic space. She enjoys what to previous generations would have been an unimaginable sexual liberty. Divorce, access to paid work outside the home, and the

I45Sandra Lee Bartky, "Foucault, Femininity, and Patriarchal Power," Feminism & Foucault. Hrsg. Irene Diamond und Lee Quinby (Boston: Northeastern University Press, 1988). 154

increasing secularlzation of modern life have loosened the hold over her of the traditional family and (...) of the church. Power in these institutions was wielded by individuals known to her. Husbands and fathers enforced patriarchal authority in the family. (...) the Divine Individual decreed that her desire be always "unto her husband," while the person of the priest made known to her God's more specific intentions concerning her place and duties.144

In der Predigt und in der (abwesenden!) Präsenz der vier

Frauen, werden die "moderne" Frau, wie sie Bartky beschreibt,

und die von der Kirche ausgehende und mittlerweile abge­

schwächte Macht einander gegenübergestellt. Obwohl die Frauen

die "unterdrückte" und "unterdrückende" Kirche sehen wollten,

verschlafen sie die Predigt, in der sie indirekt persönlich

angegriffen werden. Mit ihrem Trip und ihrer Präsenz in

"dieser" Kirche mockieren sie, was der Pfarrer einer "starken

Frau" zuschreibt, und darin zeigt sich ihr Widerstand, der

wenn auch nur passiv vorhanden ist. Weder für Mann noch Kind

(die sie zurücklassen) opfern sie sich, im Gegenteil, sie

flüchten aus dieser selbstlosen Rolle, in der Mann/Kind immer

zuerst kommt, ohne Rücksicht darauf, was sie/die Frau will.

Der Ausbruch und ihr "selbstsüchtiges" Verhalten— wie es der

Pfarrer interpretieren würde— plaziert sie nach dessen

Verständnis in die andere "Kategorie von Frau", die Eitle, deren Anmut und Schönheit trügt. Diesen Effekt unterstreicht

Roth noch insofern, daß sie die Frauen kurz vor Beginn der

Predigt ein Schminkdöschen mit Spiegel von Frau zu Frau

144Bartky, "Foucault, Femininity, and Patriarchal Power" 80. 155 passieren läßt:

ANNA kramt ein Schminkdöschen mit Innenspiegel aus der Tasche Hai sehn, was noch zu retten ist. Anna fummelt sich mit dem Schminkdöschenschwämmchen im Gesicht herum. THEA Gibst du mir auch einmal den Spiegel? LINA (...) Kann ich den Spiegel auch mal haben? Die Schminkdose wandert von Frau zu Frau.

■ • • LINA gibt Anna die Dose zurück Den Teufelsdreck! Anna— stecks weg! (RW 28)

Die Ironie dieser Szene liegt darin, daß die Frauen sich zwar durch das Nickerchen und die saloppen Sprüche den Macht­ interessen und Vorschriften der Kirche, was deren Idee von

'Verkörperung der Weiblichkeit' betrifft, widersetzen, aber der unbedachte Umgang mit dem Spiegel— der von Frau zu Frau gereicht wird— läßt neue disziplinäre Machtinteressen (z.B.

Kosmetikindustrie) vermuten, deren Urheber anonym bleiben, denn "there are no individuals formally empowered to wield it; it is (...) invested in everyone and in no one in parti- cular.1,147 Bartky stellt in diesem Zusammenhang— und dies kann man auch in Ritt auf die Wartburg sehen— folgendes fest:

Women are no longer required to be chaste or modest, to restrict their sphere of activity to the home, or even to realize their properly feminine destiny in maternity: normative femininity is coming more and more to be centered on woman's body— not its duties and obligations or even its capacity to bear children, but its sexuality, more precisely, its presumed heterosexuality and its appearance. ... Images of normative femininity, it might be ventured, have replaced the religiously

,47Bartky, "Foucault, Feminininity, and Patriarchal Power" 80. 156

oriented tracts of the past. New too is the spread of this discipline to all classes of wonen and its deployment throughout the life cycle.14®

Dieses Ereignis in der Kirche, das Verhältnis der Frauen zum Diskurs des Pfarrers, den man nicht sieht, sondern nur hört (steht für die allgegenwärtige Macht der Kirche und ihre

Dogmen) , kann man als Paradigma— darin sehe ich Roths Kritik— für das Verhältnis der Frauen zu den Dogmen patriarchalischer

Institutionen im Allgemeinen sehen. Das Schlafen während der

Predigt verulkt zwar die Glaubwürdigkeit derselben, aber kann ebenso als Kritik an der Apathie der Frauen gegenüber dieses

Diskurses gelesen werden. Solange Frauen solche Diskurse, wie die Predigt, passiv über sich ergehen lassen, ist keine

Änderung der Verhältnisse in Sicht. Die Gleichgültigkeit einer verpaßten Predigt gegenüber, läßt uns aufhorchen, denn wir kennen den Inhalt derselben.

ANNA Ich bin völlig kaputt. Gut aufgedreht aber. Bloß verschwitzt. Wie war die Predigt eigentlich? Was hat er denn gesagt? Erzähl! IDA Die Predigt. Richtig. War denn eine? ANNA Irgendwann war ich wohl eingeschlafen. IDA Wenn eine war, ham wirse allesamt verschlafen. Ist ja nicht grad das Leben. Eine Predigt. (RH 31)

Diese Predigt steht für mehr als eben eine Predigt, sie steht für den traditionellen patriarchalischen Diskurs, der für das

Dasein von Frauen/Männern, die Rollenzuschreibung und -bilder immer noch mitverantwortlich ist: gerade deshalb ist es das

l4*Bartky, "Foucault, Feminininity, and Patriarchal Power" 81. Leben. weil sie zur Gestaltung dieses Lebens führte. Sicher­ lich kann der alte religiöse Diskurs nicht mehr alles allein leisten, d.h. er ist nicht mehr allein verantwortlich für die männlichen/weiblichen Rollenkategorien, aber die dahinter ver­ borgene Ideologie steuert immer noch dazu bei, und weist den

Weg für den Diskurs der neuen kommerziellen Mächte, wie z. B. der Schönheitsindustrie. Will man Veränderungen, so muß dieser

Diskurs und die potentielle Gefahr, die davon ausgeht, ernst genommen werden. Mit ihrer Reise brechen die Frauen aus ihrem

'zurückgelassenem Dilemma" vorübergehend aus, in das sie wieder zurückkehren, wenn sie die aufgesuchten Orte bloß als

Pseudo-Podien zur Attacke auf herrschende Institutionen ohne wirkliches, konkretes Ziel sehen. Die Reise ist kurz und hektisch mit vollem Programm: die Frauen, die schon im Westen ständiger Doppelbelastung durch Arbeit und Familie ausgesetzt sind, entrinnen auch nicht im Osten dem sich hier freiwillig ausgesetzten Streß, was auch hier Müdigkeit und Apathie bewirkt, und wirklichen Auseinandersetzungen im Wege steht.

Friseur

Die Schönheitsindustrie hat im Laufe der Geschichte immer mehr an Boden gewonnen und es sind vor allem Frauen und ihre an ihrem brüchigen Selbstwertgefühl schuldigen Körper, die ihr 158 eine blühende Existenz garantieren.149 Der Frauenkörper, der bestimmten Maßen und Formen entsprechen soll, wird zur verzier- und formbaren Oberfläche, zur "Weiblichkeit"150 per se, die nur durch Rituale erreicht werden kann, welche

'imaginierte' Mängel beseitigt. Der Körper badet aus, was der

Psyche angetan wird, er ist schuld an der permanenten Schwäche des SelbstwertgefUhls. Haarfarbe, Frisur und Make-up sind nicht zweckentfremdet— genauso wie bestimmte Kleidung. Weib­ lichkeit ist ein Artefakt, der "ideale, weibliche" Körper existiert als Konstrukt: Make-up, Frisur und 'feminine'

Kleidung sind Tarnung und Verkleidung, voraussetzend daß ein ungeschminktes Gesicht, nicht gestyltes, gefärbtes Haar

149Sicherlich, Schminke gab es schon im alten Ägypten, Griechenland oder es gibt sie bei Urvölkern. Schminke dient/e als Körperdekoration, aber auch um fixe Hierarchien sei es in Bezug auf Klasse und Geschlecht festzulegen. Die Funktion von Mode und Schminke hat sich im Laufe der Geschichte verlagert: Mode und Schminke dienen mehr und mehr dazu einem bestimmten sich immer ändernden Ideal anzupassen, das in Modejournalen dargestellt wird: "The fantasies generated by fashion magazines (or Videos) do not confine themselves to the page (or screen). They are actually acted out by readers on their own bodies. Imitated from magazines, movies, or viedeos, and worn in daily life, fashion erases the boundary between the 'real' and the 'fantastic,' between the private escape of fantasy and publick intercourse." Leslie W. Rabin, "A Woman's Two Bodies," On Fashion. Hrsg. shari Benstock und Suzanne Ferriss (New Brunswick: Rutgers UP, 1994) 63. Der Mode- und Schönheitsindustrie geht es darum, Frauen zu überzeugen, daß sie das ideale Aussehen für sich erreichen kann, wenn sie nur lernt, mit Schminke und Kleidung subtile Illusionen zu kreieren, die "Mängel" zu übertünchen.

1S0Im Kontext der Schönheitsindustrie, der Mode ist "Weiblichkeit" natürlich kein monolithischer Begriff, vielmehr einer der sich ständig verschiebt und ändert, die kulturellen Vorstellungen und Ideen darüber reflektierend. 159

fehlerhaft und unattraktiv sind.151 Verachtet wird der Körper aber in erster Linie von den Frauen selbst, denn an dieser

HUlle machen sich Frauen den 'männlichen Blick' zu eigen und praktizieren so Kontrolle Über sich.

Der Friseurbesuch paßt gut in das Programm, denn

Bemerkungen zu Aussehen, Kleidung, Make-up und Frisur fallen in Ritt auf die Wartburg oft, und handelt es sich um

Bemerkungen über das eigene Aussehen, dann sind diese negativ.

Frauen lernen sich selbst und ihr Aussehen einzuschätzen, sich als beobachtendes Subjekt und beobachtetes Objekt zugleich zu verstehen. Unsere Identität als Frauen, argumentiert Bartky,

can no more be kept separate from the appearance of our bodies than they can be kept separate from the shadow-selves of the female stereotype. (...) There is something obsessional in the preoccupation of many women with their bodies, although the magnitude of the Obsession will vary somewhat with the presence or absence in a woman's life of other sources of self-esteem and with her capacity to gain a living idependent of her looks.152

IDA und THEA sind dazu mehr geneigt als ANNA und LINA, denn die beiden ersteren stammen aus einem sozio-Ökonomisch schwächeren Milieu. Die von ihrem Aussehen abgeleiteten

Unsicherheiten beeinträchtigen ihr Auftreten und ihr

Selbstbewußtsein. THEAs extra-teurer, 'IN' Haarschnitt und ihr modischer "Krimskrams" sollen über andere Mängel hinwegweisen,

l51Vgl. Bartky, "Foucault, Femininity, and Patriarchal Power" 71.

152Sandra Lee Bartky, "On Psychological Oppression," Femininity and Domination (New York: Routledge, 1990) 28. 160 z. B. Gewicht.153 THEAs Bedenken einfach eine radikale, ihr wahrscheinlich nicht schmeichelnde Frisuränderung vornehmen zu lassen, wird von den Freundinnen überstimmt. Der Entschluß, die Haare grau zu färben, wird schnell gefaßt, ohne wirklich das "warum" zu besprechen.

LINA (...) Mit Dauerwellen hab ich übrigens auch nichts am Hut. Wollen wir uns nicht lieber färben lassen? ANNA Färben - darüber läßt sich reden. LINA Ganz anders natürlich. Nicht wie sonst. Pause Zum Beispiel Grau. IDA Grau? ANNA kichernd Liebergott, wenn wir alle grau zurückkommen ... THEA Grau ... Genau. (£W 20)

Haarstile und -färben varieren von Zeit zu Zeit und von einer

Kultur zur anderen: in ihnen reflektieren sich kulturelle

Obsessionen, die als disziplinäre Praktiken554 "in the light of the modernization of patriarchal domination" gesehen werden müssen.155 Weißes, bzw. graues Haar wurde in verschiedenen

l53Ein guter teurer Haarschnitt und modische Kleidung verleihen IDA trotz ihres Gewichts den Anschein, mit den Images aus Illustrierten und Filmen spielen zu können, Fantasien leben zu können, zu imitieren.

,54Disziplinäre Praktiken sind meistens verschleiert und nicht als solche erkenntlich, und sehr oft sind es die Frauen selbst, "who practice this discipline on and against their own bodies." Weiters bemerkt Sandra Lee Bartky dazu, "(t)here is, of course, nothing new in women's preoccupation with youth and beauty. What is new is the growing power of the image in a society increasingly oriented toward the visual media. Images of normative femininity, it might be ventured, have replaced the religiously oriented tracts of the past." "Foucault, Femininity, and Patriarchal Power" 81.

,55Bartky, "Foucault, Femininity, and Patriarchal Power" 64. 161 historischen Kontexten unterschiedlich ausgelegt und bewertet.156 Unter der seit Jahrzehnten andauernden "Tyrannie der schlanken Figur und der ewigen Jugend" ist es besonders

Frauen untersagt bestimmte Körpermaße zu Ubertreffen und das

Alter zu zeigen. Gegenmaßnahmen wie chirugische Eingriffe und kosmetische Veränderungen werden Überall angeboten.157 Der

Drang zur Veränderung, wenn auch vorerst nur "äußeren" ist vorhanden, und als Gruppe fällt es leichter radikale Eingriffe vorzunehmen. Sie wollen ein Statement machen— mit grauen

Haaren gelänge das, denn welche Frau läßt sich ihr Haar grau färben, normalerweise verläuft es umgekehrt, denn grau assoziert mann mit unattraktiv, alt etc. Für LINA, THEA und

ANNA ist diese radikale Änderung ein provozierender Akt, denn sie sind noch jung und die graue Haarpracht fällt auf, sieht

"künstlich" aus, und erzielt damit ihren Zweck: Kritik und bewußtes Schockieren. Für IDA, die Älteste, bietet "grau" keine Alternative: "IDA sieht bekümmert in die Nacht hinaus

Ihr habt gut lachen mit euren jungen Köpfen. Wenn ich mit meinen vierzig aufm Buckel und den Falten im Gesicht auch

,s6Z.B. waren die Nazis der Ansicht, eine deutsche Frau schminke oder färbe sich nicht das Haar, auf "Natur" wurde Wert gelegt, die geschminkte Frau als "Vamp" und bedrohlich empfunden.

157"In contemporary patriarchal culture, a panoptical male connoisseur resides within the conssciousness of most women: they stand perpetually before his gaze and under his judgement. Woman lives her body as seen by another, by an anonymous patriarchal Other." Bartky, "Foucault, Femininity, and Patriarchal Power" 72. Dies trifft besonders auf THEA, IDA und auch LINA zu, aber durch den Wunsch nach einer Veränderung brechen sie damit zum Teil. 162

nochn grauen Kopf nach Hause bring - den Witold bin ich los."

fRW 21) Grau wird bei ihr mit Alter assoziert und nicht mit

einem besonderen Akt des Aufbegehrens.

"Grau" ist nicht "grau", es gibt eine Vielfalt von

Grautönen und die Frauen beschließen, kein "Einheitsgrau" zu

wählen:

ANNA Macht nichts, dann ziehn wir halt zusammen mit unseren grauen Köpfen. THEA Silbergrau vielleicht für mich mit einer lila Strähne. ANNA Nix Strähne! Kein mondänes Gezwitscher! Grau. Einfach grau. LINA Kein Einheitsgrau aber. Wir treten sonst ja auf wie die vier Hengste. ANNA Ich denk an gediegenes Mausgrau für mich. LINA Aschgrau würde mir sicher stehen. Die Thea brauch schon aber silbergrau— schimmernd so. IDA Und ich? LINA Eisgrau, Ida. Ab vierzig trägt die Dame Eisgrau. Gelächter (...) LINA Anthrazit gäbs noch, oder schwarzgrau meliert. ANNA Du mußt dich nur dazu bekennen. Dann haben graue Haare Schmelz. (RW 21)

Es geht darum das eigene Image zu bestimmen und diktieren,

nichts ist unmöglich, alles ist relativ. Die Frauen sehen vom

Einheitsgrau ab, die Farbe soll ihren Persönlichkeiten

entsprechen, dies wiederum unterstreicht, daß die Frauen die gegenseitigen Differenzen, die Individualität der einzelnen nicht ignorieren wollen, sondern herausheben. Mit dem festen

Entschluß sich grau färben zu lassen, finden sich die vier dann beim Frisör ein, wo sie auf der Wartebank sitzend sich

"Kopfatrappen mit aufgedrehten Perücken" gegenüber befinden, 163

welche einmal mehr auf die grotesken Vorgaben der Mode­

industrie verweisen, und durch das gerade Gegenüber auf die

Parallelität und Spiegelhaftigkeit verweist (Hülle als Image,

Frau ist gleich Attrappe). Auf den Wunsch der Frauen reagiert

die Frisöse erstaunt, und erklärt das ganze Unterfangen als zu risikoreich:

DIE DREI ANDEREN FRAUEN Ja. Grau. Wir wollens alle grau. FRISÖSE Das geht nicht. ANNA Wieso denn nicht. Grau ist doch eine Farbe wie jede andere. Oder? FRISÖSE mustert die Haare Idas, dann die der Frauen, dann die Frauen selbst Sie sind zu dunkel. Man müßte die Eigenfarbe erst herausbleichen. ANNA Gern. Gut. FRISÖSE Wenn das frisch ausgebleicht ist, dieses Haar, nimmt es nicht ohne weiteres die neue Farbe an. (...) FRISÖSE überlegt Das geht nicht. Frisch ausgebleichtes Haar reagiert ganz unberechenbar. Wenn ich ein Grau draufsetze, kann es sein, daß Gelblichgrün rauskommt. Ihr Haar kann kaputtgehen sogar. Das geht an die Substanz, (fig 61)

Den Wunsch nach gründlicher Änderung, der hier mit Bezug auf die Haarfarbe veranschaulicht wird, kann man auch im Kontext nach grundsätzlicher Erneuerung der eigenen Identitäten verstehen, die voller Widersprüche sind und daher alles verkomplizieren. Die Frauen möchten dieser ganzen Körper­ ideologie, die eine Ideologie des Mangels ist, total den

Rücken kehren, jedoch möchten sie dem ganzen keine Zeit und keinen Aufwand widmen. Genauso wie "grau werden" ein Prozeß ist, ist sich ändern ein Prozeß, der nicht übersprungen werden 164 kann, da sonst das Resultat nicht voraussehbar ist. Je bewußter und langsamer Veränderungen vorangetrieben werden, desto weniger wird das Ergebnis zur Überraschung. Bezüglich der Änderung der Haarfarbe sind die vier Frauen recht energisch, auch wenn das Haar dabei kaputt ginge: "ANNA

Bleichen Sie halt kräftig raus." oder "LINA Und dann die neue

Farbe nichts wie drauf", "THEA Wir riskieren das. Mein Haar ist kräftig." (£W 61) Sie wollen es riskieren, bis die Frisöse daraufhinweist, daß " (e)indeutig grau schafft man im ersten

Anlauf nicht. Das wär schon eine lange Prozedur ..." (EW 61, m. Hervorheben), woraufhin die Frauen für Dauerwellen und Rot färben optieren, ein längerer Prozeß fordert zu viel Geduld, entweder gleich oder gar nicht— diese Eile und Ungeduld steht auch auf übertragener Ebene einer Veränderung im Weg, auf einen qualvollen Prozeß wollen sie sich nicht einlassen, dafür sind sie zu bequem. (Bedeutend ist auch, daß die ganze Haar­ prozedur von einer Frisöse gemacht wird, d. h. die Frauen nur ihre Zustimmung geben müssen, für eine bestimmte Zeit passiv dasitzen und damit äußerliche Veränderung garantiert wird, während bei sich selbst, die Initiative von innen kommen muß; eine solche Veränderung kann nicht in Auftrag gegeben werden.)

Durch den Entschluß als Gruppe einen äußerlichen, von der

Norm abweichenden Wandel vorzunehmen, schützen sie sich vor

Isolation und Einzelkämpfertum, denen sie wohl ausgesetzt 165

wären, unternähme eine einzelne den Versuch.158 Frigga Haugs

Kommentar zu solchen Angriffen auf die Körperideologie zeigt

das Problem, das ihnen innewohnt, genau auf:

Spontan erfassen sie in dieser Körpernormalitäts­ aufgabe einen wesentlichen Punkt ideologischer Vergesellschaftung der Frauen. Sie arbeiten gegen Vereinzelung, gegen das Geheimnis, für das kollek­ tive Nicht-Einhalten von Maßstäben. So fordern sie die Körperideologie heraus, stellen aber nicht die gesamte Existenz solcher Herrschaft in Frage, weil sie die Körperzentrierung in der Vergesellschaftung unangetastet lassen.159

Schließlich entscheiden sie sich für Dauerwelle und Rot,

eine/n Haarstil/-farbe also, den Millionen von Frauen

tragen.160 IDA dokumentiert mit ihrem Fotoapparat diese

Veränderung, sie hält das "Vorher" und "Nachher" fest, wie es

in Frauenmagazinen an vielen Frauen beispielsweise praktiziert

wird. Altes und neues "Ich", vor der Reise und nach der Reise,

etwas muß sich ändern: die Reise mußte etwas zum Vorzeigen

bewirken, denn sonst wäre sie nicht vertretbar. Um das

Schuldbewußtsein den Zurückgelassenen gegenüber loszuwerden,

um den hohen Erwartungen, die sie selbst an die Reise hatten, gerecht zu werden, muß etwas geschehen.

,S8s. bei Frigga Haug, "Die Moral ist zweigeschlechtlich wie der Mensch," Weiblichkeit oder Feminismus? Hrsg. Claudia Opitz (Weingarten: Drumlin Verlag, 1984) 112-113.

159Haug, "Die Moral ist zweigeschlechtlich wie der Mensch" 113 .

160Krauses, aus der Kontrolle geratenes, rotes Haar wurde zwar früher als ein Hinweis auf die Beschäftigung mit Hexerei verstanden, und da Roth die Frauen auch auf dem Zaungelände reiten läßt, darf man die Symbolhaftigkeit der Farbe und der Dauerwellen nicht außer acht lassen. 166

Der Besuch einer katholischen Kirche und der Wartburg, beides Institutionen, die traditionell Frauen ausschlossen und mysogene Tendenzen verkörperten, wird durch den Besuch eines

Friseursalons ergänzt, die Institution der Schönheitsindustrie repräsentierend, die in unserer Zeit mehr denn je vorher

Schablonen der perfekten Frau propagiert, die so nicht existieren und erst geschaffen werden müssen, durch die Wunder der Industrie, meistens gesteuert von Männerhand. Dadurch daß

Frauen dem Ideal nicht entsprechen, wird ständig auf ihre

Mängel aufmerksam, das Äußere ihrer Erscheinung zum Zentrum ihres Lebens gemacht und so automatisch Druck ausgeübt, sodaß sie sich ständig unperfekt fühlt.

Die Wartburg

Die Wartburg, der Ritt auf Eseln dorthin, ist die letzte

Station dieser Reise, jene welche die Frauen überhaupt nach

Eisenach brachte. Aber wie es schon mit dem Kirchen- und

Friseurbesuch nicht gelang, das Programm wie ursprünglich geplant durchzuführen, so scheitert das Unterfangen der Frauen auch hier. ANNA gibt als erste auf, als sie von weiten die entfernte Wartburg sieht:

ANNA bleibt keuchend zurück Die Wartburg ... Mensch ... ist die weit oben. (...) Mir reichts. Ich will nicht weiter. (EH 65)

Die anderen geben auf, weil sie auf der Eselstation keine Esel 167 vorfinden. Das Ziel, die 'Wartburg' scheint "weiter weg als je" (EH 65), und das nicht nur geographisch. Wofür auch immer die Wartburg für sie symbolisch stehen mag, ANNA gibt lieber auf, als enttäuscht zu werden, daß sich ihre Erwartungen nicht erfüllen.

ANNA mit ihren Zweigehen beschäftigt Eine Ameisenstraße, siehst du. Irgendwo muß der Bau sein. LINA sieht jetzt die Ameisen Wie viel das sind. ANNA Denen blockier ich jetzt den Weg. (...) Die klettern einfach drüber.

Den Ameisen ist kein Mühsal zu streng, keine Hürde zu groß um zum Ziel zu kommen, schnell unterwegs klettern sie überall drüber, aber ANNA kommt nicht weiter, ihr fehlt der Ehrgeiz und die Kraft. Beim bloßen Anblick der Wartburg zeigen sich

Zögern, Ängste, Bedenken— denn ANNA verbindet mit der Wartburg eine Illusion; die Angst davor, daß sich in Wirklichkeit die

Wartburg anders präsentiert, als ANNA will, hält sie zurück, während die anderen drei Frauen keine zu enttäuschenden

Erwartungen an die Wartburg stellen. Sie wissen, wo der Weg verläuft und psychisch hält sie nichts zurück.

Für ANNA ist der Ritt auf den Eseln nicht das

Wesentliche, für sie zählte ursprünglich der Besuch der

"Wartburg", der damit verbundene "Gral- und Wartburggedanken".

Den anderen Frauen geht es aber in erster Linie um den mit dem

"Eselsritt"1*1 verbundenen Scherz ("THEA ... Auf den Eselsritt

,6lDie Esel gibt es auch in Wirklichkeit, damit Touristen den weiten anstrengenden Weg nicht zu Fuß zurücklegen müssen. 168 hab ich mich so gefreut." EH 66), nicht um die Wartburg: "IDA

Das laß ich mir nicht bieten. Die Esel gibts. (...) Ich laß mir die Esel nicht nehmen." (EH 67) ANNA ist nun vorsichtig, der ganze Aufenthalt folgte seinem eigenen Lauf, nichts war, wie es sein sollte, Erwartungen haben sich nicht bewährt, das

Ganze wurde zum Spaß: "ANNA Wir sind noch hier und betrügen die Welt." (EH 79) Sie betrügen sich selbst, indem sie sich vormachen, wie frei und glücklich sie hier sind (besonders

IDA), aber dann doch mit Grauen in ihr altes Leben zurückkehren, denn sie leben hier nur "als ob", "wie es ihnen paßt". Die Erwartungen und Vorurteile, die sie auf bzw. gegen die DDR hatten, haben den Ausgang und die Wahrnehmung dieses

Aufenthalts mitbestimmt, wobei die negativen Einflüsse mehr

Gewicht hatten. Das Bild der DDR, das aus der Ferne intakter und theoretisch akzeptabler schien, ist nun zerbröckelt, die

Illusionen sind zerplatzt und nun hat ANNA Angst, dasselbe könnte mit ihrer Sicht der Wartburg passieren.

ANNA Von hier aus eine wunderschöne Burg. Die Schönste. Vielleicht. Und oben bröckelnde H a u e r n . Ich warte lieber hier und denk sie mir. Zu Ida. Mach mir ein schönes Foto vom Rosenbrotwunder. Es ist da oben angemalt. P ause . Ein fotografiertes Wunder harn wir dann immerhin. (EH 66)

ANNA möchte das vielleicht "falsche, aber doch bekannte Bild", von der Wartburg— und wofür sie steht, nämlich Sinnbild für die deutsche Kulturgeschichte— nicht gefährden, denn sie weiß, daß sie/es aus der Nähe betrachtet, ihrer Musterung nicht 169

standhält:, was eine notwendige Auseinandersetzung mit der

eigenen humanistischen Ausbildung bedeutet. Aber die

'•Wartburg1', der unsichtbare Rahmen der patriarchalen Kultur

ist überall, IDA weist ANNA eifernd darauf hin: "Und hier—

dort— da ... siehst du doch die Wartburg." (gW 66) IDA bezieht

sich zwar auf die Lokalität, die Aussicht, aber im

Übertragenen Sinne kann ihre Äußerung auch als Kommentar

verstanden werden. Unser reales Leben, die darin dominanten

Diskurse sind eingebettet in dieser Kulturgeschichte, es

bedarf keiner expliziten Untersuchung die Brüche und Schäden

zu entdecken.

ANNA möchte das Rosenbrotwunder, ein Fresko von Moritz

von Schwind, sehen, das eine Episode aus dem Leben der

Landgräfin Elisabeth erzählt. Die nach ihrem Tode heilig

gesprochene Elisabeth, verbrachte ihr Leben mit Nächstenliebe

und Armut; daß ihre guten Taten Eingang in die Geschichte der

Wartburg fanden, ist fast schon ein Wunder, betrachtet man den

Werdegang dieser Burg, der von einflußreichen Denkern,

Dichtern, Studenten und Landesherren geprägt wurde. ANNA möchte ein Foto von dem Fresko, ein "fotografiertes Wunder", wenn sie das echte schon nicht sieht, genauso wie das Foto, das sie von THEA, IDA und LINA macht, einen "fotografierten

Ritt" darstellt, der imaginär bleibt, obwohl das Foto das

verbirgt. Sie will auf den Fotos das Undarstellbare dar­

stellen, den Prozeß, aber sie bekommt nur das Resultat oder

friert einen Moment des Prozesses ein. 170

Enttäuscht über die Abwesenheit der Esel ist IDA die erste, die sich fängt und auf keinen Fall auf den Ritt verzichten will. Auch ist sie die einzige, die diese ganze

Reise und die DDR anders als die anderen drei Frauen wahrnimmt, sie lebt ihre Illusionen aus, verwirklicht sie, ohne darauf zu achten, wie sie in das "große Bild", die "DDR-

Realität" passen.

IDA plötzlich Das laß ich mir nicht bieten. Die Esel gibts. Ich komm hier her von weiß der Teufel wo. Da laß ich nicht mit mir um Zeiten rechten. IDA Ich laß mir die Esel nicht nehmen. Wütend besteigt sie das Weggeländer und ahmt, den Riemen ihrer Handtasche wie Zügel haltend, Reitbewegungen nach. Wir reiten auf die Wartburg, Leute, Los. Auf Hansl! Lauf! Zur Wartburg! Los! (EH 67)

Wütend und trotzig führt sie ihren Plan aus, LINA und THEA machen es ihr nach, erfüllen sich den Wunsch durch einen imaginären Ritt, der für sie in diesem Moment gleichbedeutend mit einem wirklichen Ritt ist. ANNA beteiligt sich nur indirekt am Ritt, indem sie "sorgfältig Ausschnitt und

Entfernung prüfend— eine Fotografie der drei auf einer

Weggeländerstange zur Wartburg reitenden Frauen" (EH 68) macht. Dieses Festhalten des Moments auf einer Fotografie dokumentiert die selbstinszenierte Realität und mockiert die

Geschichtsträchtigkeit, den patriarchalen Rahmen dieses Ortes.

Am Ende der Szene erstarren die Frauen "augenblicklich zu

Figuren einer Fotografie" (EH 69) , die wie ein abschließendes, allegorisches Tableau der Szene nachgeschickt wird und die vorherige Redeszene durch ein visuelles Beispiel ergänzt und 171 dargelegt. Das Bild der auf dem Zaungeländer sitzenden Frauen mit ihrem "auffallend gedauerwellten bzw. leuchtend roten

Haar", (EH 65) "erregt reitend und ausgelassen kreischend",

fRW 67) was auf dem Foto wohl durch eine gewisse Wildheit und

Chaos gezeigt wird, läßt Erinnerungen an Hexen auf Besen fliegend/reitend aufkommen.162 In diesem imaginären Ritt zeigt sich Albernheit, Stärke und Gemeinsamkeit zugleich, negative

Frauenbilder werden aufgegriffen und umfunktionalisiert.

Bei diesen vier Frauen ist alles möglich: Ihr Blick ist nicht so sehr auf Sehenswürdigkeiten gerichtet, sie versuchen nicht einen fremden Lebensraum in seiner Fremdheit wahrzu­ nehmen, sondern ihr Blick geht nach innen und Assoziationen zu

Situationen des eigenen Lebens überwuchern das Erleben können der Außenwelt. In allen Szenen zeigt sich die Gewalt der traditionellen Muster und Klischees, wie sie sich Uber die

Individuen legen und sie in ein Spiel verketten, um eigene

Aktivität zu verhindern. Das Innen wird nach außen gestülpt, die kulturelle Kodierung der Rollen kommt zum Vorschein und wird nicht befürwortet. Die Rollen erscheinen als eine Viel­ falt merkwürdiger und oft widersprüchlicher Bilder, die sich so dargestellt selbst in Frage stellen.

Während beim Aufbruch noch Zuversicht und Erwartung die vorherrschenden Gefühle sind, wird das Ende von Enttäuschung

l62Eine für Weiblichkeit stehende Metapher ist die der Hexe, ihre Wild- und Ausgelassenheit, die nicht kontrollierbar ist und daher eine bestimmte Unabhängigkeit genießt und so Einschränkungen entkommen kann. und Verzweiflung beherrscht. So gesehen gibt es eine Entwick­

lung bei den Frauen, denn ein 'anderes' Sehen von sich selbst,

das die eigene Existenz problematisiert ist möglich. Genauso

wie ANNA, LINA und THEA über das graue DDR Alltagsdasein

enttäuscht sind, das sie sich anders vorstellten ("IDA ...

Ganz ausgerechnet hier verlangt ihr von den Leuten alles." Eg

70) , sind sie auch über sich, über ihren Versuch aus ihrer

Rolle zu schlüpfen und die damit zusammenhängenden Erkennt­

nisse enttäuscht. Dieser 'andere' Ausflug hat nur die "Misere"

ihres Daseins klarer ersichtlich gemacht. Wenn LINA auf ANNAs

Frage "Würdest du hierbleiben wollen?" mit "Ich? Nicht

geschenkt. (...) Obwohl mirs jetzt schon vor der Rückfahrt

graust. (...) Hier wie dort, sag ich dir. Du kannst bloß

explodieren oder abfaulen langsam." (RW 71-72) reagiert, dann

bezieht sich diese Aussage auch auf die zwei Staaten, aber in

erster Linie bezieht sie sich auf die Situation der "Frauen",

die überall zu wünschen läßt. Die Reise hat, wenn auch unter­

schiedlich bei den Frauen einen Bewußtseinsprozeß in Gang gesetzt, der ihnen das Fluchtartige dieser Reise klar machte, und daß diese Flucht nicht nur eine Flucht vor Familie/

Partner/Arbeit usw. war, sondern auch in erster Linie vor sich

selbst.

Die letzte Szene zeigt die Frauen auf dem "plakatlosen"

Eisenacher Bahnhof. Dieses Szenenbild steht in starkem

Kontrast zur ersten Szene auf dem geschäftigen Westbahnhof.

Die Frauen sitzen "Rücken an Rücken" vor sich hinstarrend: 173

THEA Jetzt, heißt es: ade, leichtes Leben. LINA Morgen geht alles wieder los von vorn. Stille. ANNA Heut nacht um zwölf sind wir schon angekommen. LINA Hierbleiben wollt ich trotzdem nicht. IDA leise Ich will gar nicht nach Haus. (BW 82)

Alle vier Frauen sprechen für sich, voneinander wegsehend in andere Richtungen, es gibt kein eindeutiges "wohin". Es geht zurtlck zum Ausgangspunkt und was dort passiert, liegt bei den

Frauen, sie sind nicht mehr diesselben Frauen von der ersten

Szene, etwas hat sich getan, es hängt von den Frauen und indirekt auch Zuschauerinnen ab, etwas damit zu tun. KAPITEL III

KRÖTENBRUNNEN. DIE EINZIGE GESCHICHTE. DAS GANZE EIN STÜCK und ERBEM UND STERBEN

Einleitung

Im vorherigen Kapitel wurde Roths Ritt auf die Wartburg im Detail besprochen und dies aus mehrfachen Grtinden: Zum einen basiert Roths Prominenz in Theaterkreisen auf diesem

Stück, da sie damit in der Pressekritik die unterschied­ lichsten Reaktionen auslöste. Zum anderen hat Ritt auf die

Wartburg durchaus exemplarischen Charakter für Roths dramatisches Werk, denn in diesem Stück spricht sie eine

Vielzahl von Themen (Geschlechter- und Machtverhältnisse,

Realitäten vs. Illusionen von Frauen, Liebe vs. Sexualität) an, auf die sie in später folgenden Stücken immer wieder zurück kommt.

In diesem Kapitel möchte ich anhand der vier Stücke—

Krötenbrunnen (1984), Die einzige Geschichte (1985), Das Ganze ein Stück (1986) und Erben und Sterben (1992)— zeigen, in welcher Hinsicht und in welchem Kontext sich ihre Themen wiederholen, entwickeln bzw. wie sie in ihren letzten vier

Stücken variiert werden und inwiefern eine Radikalisierung ihres Standpunktes beobachtet werden kann.

174 175

Rezeption (Presse-ZLiteraturkritik)

Schon Ritt auf die Warbura. Roths bekanntestes Stück,

wurde in der Literaturkritik fast völlig übersehen,1 und nur

in der Pressekritik wurden die Aufführungen ohne großen Lärm

rezensiert. Dasselbe wiederholte sich für die späteren Stücke,

die abgesehen von Rezensionen in Tageszeitungen nur spärliches

Interesse bei Literaturwissenschaftlerlnnen weckten. Besonders verwundert, daß bis heute Interesse feministischer Literatur-

bzw. Theaterkritikerinnen fehlt. Obwohl Friederike Roth unter

anderem Teilnehmerin der Podiumdiskussion der "Frauen im

Theater" (1984) Konferenz in Berlin war, blieb neben einigen

Erwähnungen ihrer Dramatik in allgemeinen die Dramatik von

Frauen umfassenden Artikeln2, eine kritische Auseinander­ setzung mit ihrem dramatischen Werk aus. Rita Hielkes Artikel

"SPRACHSTÜCKE. Friederike Roth als Theaterautorin,1,3 Renate

Neumanns "KOMMENTAR ZUR BREMER AUFFÜHRUNG VON 'DAS GANZE EIN

STÜCK',"4 Renate Beckers "'Liebe ist Mode' Friederike Roths

*Vgl. Kapitel 2.

2Ursula Dubois, "Strukturen von Sprache und Dramaturgie deutschsprachiger Autorinnen," Frauen im Theater. Dokumen­ tation 1986/87 8-20; Renate Neumann, Sonia Nowoselsky, Vorwort, Fürs Theater schreiben. Über zeitgenössische deutschsprachige Theaterautorinnen. (Bremen: Zeichen und Spuren, Frauenliteraturverlag, 1986) 6-12.

3Fürs Theater schreiben 60-67. Rita Mielke ist auch die Verfasserin des Eintrags zu Friederike Roth im KGL Vol. 5.

4Fürs Theater schreiben 68-73. 176

'Das Ganze ein Stück',"5 Heike Klapdor-Kops' "Friederike Roth:

'Krötenbrunnen.' Anmerkungen zum Verhältnis von Thema und

Variation,"6 und Lucinda Rennisons "'Dramatisches Talent hat

sie nicht, doch viele schöne Worte'— Friederike Roth as a

Playwright,"7 sind bislang die einzigen literaturwissen­

schaftlichen Besprechungen von Roths Theaterstücken. Dazu gibt

es noch mit der Autorin geführte Interviews, in denen sie sich

speziell zu ihren Stücken äußert.8

Feminismus und Patriarchatskritik

Friederike Roth ist eine Feministin: Die Patriarchats­

kritik, in die sie feministische Gesellschafts- und Ge­

schlechtskritik einbindet, wird von ihren Rezensenten oft

übersehen, obwohl sich ihre politische Haltung vor allem in

ihrer Dramatik zeigt: Frauen stehen in all ihren Stücken im

Mittelpunkt, aber weder im Inhalt noch in der Form sind ihre

Stücke wirklich radikal (wie dies z. B. auf Elfriede Jelineks

Dramatik zutrifft). Daß Kritiker gegenüber ihrem dramatischen

sRenate Becker, "'Liebe ist Mode' Friederike Roths 'Das Ganze ein Stück'," Deutsches Drama der 80er Jahre. Hrsg. Richard Weber (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992) 234-249.

^heaterZeitSchrift 14 (1985): 120-127.

7A Radical Stage: theatre in Germanv in the 1970s and 1980s. Hrsg. W. G. Sebald (New York: Berg Publishers Limited, 1988) 52-63.

*Roeder, "Meine Bühne ist nicht viereckig," in Autorinnen und veröffentlicht in Theater Heute 8 (1989): 28-30. 177

Werk Ihr persönliches Unbehagen nicht unterdrücken können,

liegt wahrscheinlich an der Abwesenheit männlicher (aber auch weiblicher) Identifikationsfiguren bzw. die überaus ironische,

ja schon karikaturhafte Darstellung der Männerfiguren. Ohne

Zweifel, Roths Anliegen ist weder die einfache Darstellung,

noch eine Utopie oder Weiblichkeitsverklärung: der ganze gesellschaftliche Apparatus, der nicht nur den Bezug der

Images zu sozialen Rollen sondern auch zur Struktur der

jeweiligen Kultur und deren Machtdivisionen konzipiert, wird einbezogen. Die Darstellung von "Frauen" ("Männern") auf der

Bühne ist ein politischer Akt: "weibliche" (und auch "männ­

liche") Körper auf der Bühne sind Bedeutungsträger mit politischer Tragweite. Es geht ihr nicht darum, positive oder negative Frauenimages zu protegieren, sondern eher darum,— wie es Sue-Ellen Oase auch für das Theater fordert— eine 'neue

Poetik' zu entwerfen:

For theatre, the basic theoretical project for feminism could be termed a 'new poetics', borrowing the notion from Aristotle's Poetics. New feminist theory would abandon the traditional patriarchal values embedded in prior notions of form, practice and audience response in order to construct new critical models and methodologies for the drama that would accomodate the presence of women in the art, support their liberation from the cultural fictions of the female gender and deconstruct the valorisation of the male gender.9

Inhalt und Form sollen revidiert werden, indem sie sich den

Differenzen und der Vielfältigkeit von Frauen anpassen und diese zum Ausdruck bringen, und zugleich sollen die Macht­

9Case, Feminism and Theatre 114-115. 178 mechanismen, die sich besonders im Geschlechterverhältnis

zeigen, offengelegt werden. Roths Stücke kritisiert man in puncto Inhalt und Form und stuft sie als ,,undramatisch,, ein.10

Widersprüche bestimmen die Form und den Inhalt: Roth unter­ streicht z. B. ihre Machtanalyse in den Geschlechterver- hältnissen zum einen durch dramaturgische Techniken wie die

Lichtmetaphorik (helles, grelles grünes Licht wird dann eingesetzt, wenn patriarchale sexuelle Macht und Gewalt benannt werden soll), zum anderen dadurch, daß z. B. Figuren durchwegs paarweise11 auf treten, bzw. Gruppen von Männer­ figuren mit Frauenfiguren polarisiert werden (wie in Die einzige Geschichte), oder die Gegenüberstellung bestimmter gegensätzlicher Szenen (wie in Erben und Sterben, wo jeweils eine Szene mit der Alten einer Szene mit den Frauen des

Kunstverbandes gegenübergestellt wird). Der Einsatz gewisser

Beleuchtungseffekte— besonders der grellen Lichter12— verweist

10z. B. Georg Hensel über Die einzige Geschichte: "Suff aus der Schnapsflasche, eine freigelegte Brust, ein aufgehobener Rock, ein Vergewaltigunsversuch, über dem der Mann einschläft,— das ist zwar Bewegung, aber noch keine Dramatik. Zu einem dramatischen Dialog kann es nicht kommen, (...). Friederike Roth läßt auf der Bühne nicht andere Personen sprechen, sie spricht durch andere Personen mit sich selbst: (...)." FAZ 19.6.1985; oder Rolf Michaelis, der Krötenbrunnen als "verplauderte(s) Stück," das "zwischen Kabarett, Boulevardstück und elegischem Prosa-Gedicht (...) balancier (t)" und "Klipp-Klapp-Dramaturgie von 'Tür auf - Tür zu'" zeigt. Die Zeit 2.11.1984.

"Das paarweise Auftreten kann auch als Betonung der homosozialen Strukturen dienen, die oft ignoriert werden.

l2Das grelle, stechende alles durchleuchtende Licht erinnert an die expressionistischen Maler Grosz und Dix, die Realität entblößend, sowie an die filmische Technik des am 179 auf das Spiel mit "Realitäten": Theater spiegelt nicht nur

'eine' Realität, da die jeweilige Realität des Dargestellten und deren Wahrnehmung bzw. Einschätzung vom Publikum und deren

Kontext mitbestimmt wird. Auf Anke Roeders Frage, ob Theater für Friederike Roth ein Medium sei, die Gespaltenheit, den

Ernst und die Ironie gleichzeitig sichtbar zu machen, erwiderte die Autorin,

(d)as Theater ist, wenn man so schreibt wie ich, fast das ideale Medium dafür. Man kann die Ironie ausstellen — das ist in Gedichten schwieriger— , man kann zwischen mehreren Ebenen springen. Im Todesernst der 'Einzigen Geschichte' kann ich Liebesszenen spielen und offen lassen, ob sie ernst gemeint sind oder nicht. Am Schluß wird sogar fraglich, ob die Sterbende nur eine Folie ist oder ob sie in der Tat stirbt. Wenn man gerne heraus- hüpft aus einer Wirklichkeit in die andere, ist Theater eigentlich ideal.13

Hinter jeder dargestellten "Realität" dominiert eine

Ideologie. Insofern ist es von Bedeutung die dominante

Ideologie hinter der Repräsentation aufzudecken und die

Konstruktion jeder Realität sichtbar zu machen, dies erreicht

Roth einmal durch die Szenenfolge, aber auch durch die

Darstellung von Bildern vor allem durch die Sprache. Rita

Mielke bemerkte dazu folgendes: "Bei allen fünf bislang vorliegenden Stücken (...) handelt es sich aber auch um Spiele mit der Sprache, mit den in ihr liegenden, häufig unerkannten

Expressionismus orientierten Filmes von Rosa von Praunheim "Anita. Tänze des Lasters." Cf. Gabriele Weinberger, Insiders and Outsiders. Hrsg. Dagmar Lorenz und Gabriele Weinberger (Wayne State University Press, 1994).

,3Roeder 47. 180

Möglichkeiten, persönliche ebenso wie gesellschaftliche

Verhältnisse zu entlaren oder, umgekehrt, zu verhüllen.1,14

Roths letztere Stücke sind oft non-lineare und bewußt unrealistische Aneinanderreihungen von Bildern: "Ich stelle mir die Landschaften auf der Bühne vor, ganz naiv, aber auf einer inneren Bühne. Ich habe eine Kopfbühne. Sie ist äußerst beweglich. Nicht viereckig."15 Einzelne Szenen hängen lose aneinander, verbunden einzig durch die Thematik, die— da ihre

Protagonistlnnen immer Frauen sind— geschlechtsbezogen behandelt wird.16 Der Dialog ist oft stakkato und schematisch, oft nicht zusammenhängend und ab und zu gebrochen durch poetische Einsätze. Die Figuren sind sprachliche Abziehbilder, sie sind, was sie sprechen: es ist keine individuelle lebendige Sprache, nur gestanzte Sprachformeln, oft kühl und karikaturenhaft skizzierte Abziehbilder der Geschlechter, allgemeine Bilder über die Mentalitätsstruktur der Gesell­ schaft, vertraut genug, um sie zu dekonstruieren. Die diese

Figuren formende und dominate Ideologie zeigt sich symbolisch in den verschiedenen Institutionen, bzw. Traditionen und

Ritualen, und nicht zu unterschätzen in den Mythen. Insofern bewirkt die Imitation bestimmter "realistischer" Situationen

I4Mielke, "Sprachstücke" 69.

lsRoeder 48.

l6Mit Ausnahme von Krötenbrunnen. abgesehen davon, daß der Blondschopf ein Mann ist, und sie damit ein Klischee auf den Kopf stellt, kann man in diesem Stück keinen Unterschied zwischen den Männer- und Frauenfiguren feststellen. 181 und Bilder (Mimesis) Reflektion beim Publikum, da die dominate

Ideologie, die sich in den Images auf der Bühne zeigt, nicht verdeckt wird.

Frauen und ihr Verhältnis zu sich selbst: Die einzige Geschichte

Die Ausgangssituation in Die einzige Geschichte ist im

Gegensatz zu Ritt auf die Wartburg in mancher Hinsicht eine andere: während im letzteren der beiden Stücke noch eine, wenn auch beschränkte Entwicklung des Selbstverständnisses der

Frauen zu verfolgen ist, sie noch als "Individuen" gesehen werden können, was sich durch die unterschiedliche "Erfahrung" der Reise und der Kontakte mit dem "anderen Deutschland" fast aufdrängt, so verhält es sich im ersten der beiden Stücke anders. Deuten die vier Frauenfiguren in der letzten Szene in

Ritt auf die Wartburg ihren Mißmut mit der Situation im Westen an, wohin sie nicht zurückkehren wollen, so zeigt sich darin zugleich ein winziger Hoffnungsschimmer, eine Restutopie: nämlich daß es nicht mehr genauso weitergehen kann, wie früher. Eine positive Veränderung fand insofern statt, daß sie durch den Rollentausch in der DDR zu einem neuen Verständnis ihrer Rollen in der BRD gelangten. Obwohl sie zu dieser

Erkenntnis auf Kosten der DDR-Bürger gelangten, war es ein legitimes Unternehmen, da es zur Bewußtmachung— der erste

Schritt hin zu einer möglichen Veränderung— der Zustände 182

führte, und Emotionen in dem Sinne weckte, daß die Frauen17

gar nicht nach Hause wollen, da sich etwas an diesen rohen

Zuständen ändern muß.

Obwohl auch in Die einzige Geschichte Frauen die

Protagonistinnen sind, unterscheidet sich die Darstellung der

Frauenfiguren im wesentlichen. Die EINE und ANDERE FRAU zeigen

keine individuellen Merkmale, die Identitäten sind unwichtig,

vielmehr repräsentieren sie Prototypen von Frauen: der erste

Hinweis dafür ist die Abwesenheit von Namen. Männer und Frauen

werden als herrschende/beherrschte Trägerinnen von Genitalien

vorgestellt, die die Zuteilung der Rollen bestimmen.18 Das

ständige Hinein- und Herausschlüpfen aus stereotypischen

Frauenrollen im Kontext des "Geschlechterkampfes" deutet

außerdem darauf hin, daß die Autorin nicht die psychologisch

nachvollziehbare Entwicklung der Figuren anstrebt, bzw. eine

kritische Auseinandersetzung der Figuren mit der "eigenen"

Identität, dem geschädigten Selbstbewußtsein bzw. dem

Selbstwert. Vielmehr gilt ihr Interesse dem "prototypischen

|7D a es am Ende des Stückes ist, erreicht natürlich auch das Publikum diesen Aha-Effekt, denn auch die Zuschauerinnen gehen nach Hause zurück in die gewohnten Verhältnisse.

18Die vier Männerfiguren tragen Namen, die alle mit "A" beginnen: Adolf, Adam, Anton, August. "A" verweist auf Anfang, zumal es der erste Buchstabe im Alphabet ist, aber auch, weil "Adam" als die erste von Gott geschaffene männliche Figur in die christliche Religionsgeschichte Einlaß fand. Mit den vier Männerfiguren, die abwechselnd alt und jung sind, wird angedeutet, daß "Männer Männer sind,"— nicht in einem essentiellen Sinne— d. h. in einer patriarchalischen von Männern für Männer gegründeten Gesellschaft bedurfte es keiner Änderungen für die Männer, sie haben sich kaum verändert. 183

Frausein", das nur ln bezug auf das "prototypische Mannsein"

ln einer patriarchalisch gefärbten Ideologie gesehen werden kann. Ihre "weiblichen Prototypen" sind geschädigt, da sie

sich gemäß gesellschaftlicher Bedingungen— d. h. dem psychologischen und sozialen Einfluß— zur Frau mit bestimmten

Rollen entwickelt haben. Roth zeigt die beiden Frauen in den diversen Facetten zwischengeschlechtlicher Beziehungen19, in denen sie gemäß eingeprägter kultureller Erwartungen funktionieren und wie sie dadurch dieses "Frauendasein" immer perpetuieren und kultivieren, und umgekehrt, wie das

"Frauendasein" immer wieder denselben sozialen Kontext, dieselben Beziehungskonstrukte mitkreiert.20 Individuelle

Schicksale und Leben werden nicht erörtert, im Gegenteil eine

Vielzahl von Verhaltensweisen werden abgebildet, aneinander gereiht, um auf einen Zustand, auf ein Bild aufmerksam zu machen. Die Determiniertheit21 dieser Rollen wird angedeutet,

l9Man könnte hier eine Anzahl von "Beziehungs-Konstrukten" aufzeigen, die nach bestimmten Mustern funktionieren, Grundrisse von zwischengeschlechtlichen Verhältnissen sind, die aus einer patriarchalischen Tradition abgeleitet werden.

20Hinter dieser kritischen Darstellung sehe ich aber nicht den Wunsch nach Individuationsmöglichkeiten, eher scheint mir Roth damit sagen zu wollen, daß gerade Individualität nicht mehr möglich ist. Das 'Frauendasein' ist zwar facettenreich, aber immer nur im patriarchalischen Kontext möglich, genauso wie die Werte und Konzepte von "Individuum" der patriarchalischen Tradition entstammen.

2lIn einer patriarchalen Gesellschaft hatten Männer in ihren unterschiedlichen privaten und öffentlichen Rollen als Oberhaupt, Mentor, Kulturschaffender etc. bestimmt, was Weiblichkeit bedeutete, und was das "Wesen" der Frau ausmachte. Das größte "weibliche" Problem liegt immer noch darin, dem von Männern vorgeschriebenen Bild der Frau 184

Persönlichkeitsentfaltung wird als Illusion entlarvt, genauso wie die Liebe, denn beide werden durch sozio- ökonomische

Wirklichkeiten geprägt. Das Alltäglich-Exemplarische des

"Frauseins11 wird im Kontext der Geschlechterverhältnisse und

in bezug auf das Sterben, den Tod ("der einzigen Geschichte") erörtert. Die Perspektiven der Frauenfiguren stehen stets denen der Männer gegenüber, die "befangen in den zweifelhaften

Werten und Idealen einer— typisch— männlichen Existenz, jede kritisch-distanzierte Haltung, jeden Blick auch für die eigentlichen, existenziellen Fragen des Daseins verloren haben," und ihr Imponiergehabe jederzeit zur Schau stellen.72

In Die einzige Geschichte treten drei Frauenfiguren auf, und um sie gegeneinander abzugrenzen, wird der Bezeichnung

Frau entweder ein unbestimmtes Pronomen (im Falle von DIE

EINE/DIE ANDERE FRAU) oder ein Adjektiv (DIE FREMDE FRAU) vorausgestellt. Die beiden unbestimmten Pronomen deuten eine

Polarisierung der beiden Frauen (EINE vs. ANDERE) an, während das Adjektiv "fremde" die dritte Frau den beiden anderen gegenüberstellt, bzw. darüber, hierarchisch gesehen.23

Vergleicht man die EINE und ANDERE FRAU, so erkennt man— grob gesehen— zwei gegensätzliche Extreme von "Weiblichkeitsproto­ typen", die nicht frei von Widersprüchen sind. Sei es in nachzuleben.

wMielke, "Sprachstücke" 65.

MDie Bedeutung von "fremd" in diesem Kontext muß noch näher untersucht werden. "Fremd" heißt "nicht bekannt/sein; jemandem fernstehen, nicht kennen." 185

Sprache, Verhalten und Anpassung dem "Mann" gegenüber, gibt es

zwischen den beiden eindeutige Kontraste: Während die EINE

FRAU sensibel, unaufdringlich und fast schon zurückhaltende

Rollen verkörpert, was sich in ihrem Sprachverhalten genauso

wie in ihrem Umgang mit Männern vermittelt, das nichts

Forderndes, Agressives an sich hat, sondern im Gegenteil weich und poetisch wirkt, hinter läßt die ANDERE FRAU in ihren Rollen den konträren Eindruck.

In den Beziehungen zum "anderen" Geschlecht verkörpert die ANDERE FRAU die agressiven, fordernden, "weiblichen"

Stereotypen, die die Hoffnung auf "Liebe" noch nicht aufgegeben haben, und in diesem Prozeß trotz wiederholter

Enttäuschungen zur leichten "Beute" von Männern, deren physischen als auch psychologischen Unterdrückung werden.

Das Frauenideal hat sich über die Jahrhunderte hin verändert, was Hand in Hand mit der Entwicklung hin zur sexuellen Revolution gegen Ende der 60er Jahre ging. Obwohl vor allem Männer von der sexuellen Revolution profitierten, hat sie für Frauen keine besonderen Verbesserungen bedeutet.

Nach wie vor wurden Frauen als Besitz betrachtet, nur sollten sie jetzt auch noch jederzeit für sexuelle Begegnungen zur

Verfügung stehen, d. h. man könnte sagen, daß die Frau vom

Privatbesitz zum öffentlichen Besitz überging. Das neue Ideal der jederzeit sexuell verfügbaren Frau brachte Frauen keine sexuelle Freiheit, vielmehr nur für Männer. Diese neue sexuelle Freiheit wurde zum Teil als Emanzipation mißver­ 186 standen, bzw. von Männern als solche gepriesen, um die daraus entstandenen Frustrationen der Frauen zu bagatellisieren. In

The Dialectic of Sex (1970) geht Shulamith Firestone auf die

'sexuelle Revolution' der 60er Jahre ein, und kommt zum

Schluß, daß

under the guise of a 'sexual revolution', presumed to have occured (...), women have been persuaded to shed their armour. (...) But the rhetoric of the sexual revolution, if it brought no improvements for women, proved to have great value for men. By convincing women that the usual female games and demands were despicable, unfair, prudish, old- fashioned, puritanical, and self-destructive, a new reservoir of available females was created to expand the tight supply of goods available for traditional sexual exploitation, disarming women of even the little protection they had so painfully acquired.24

Die "sexuelle Revolution", auf die die ANDERE FRAU zum

Teil in den von ihr dargestellten Rollen abgefahren scheint, ohne sich bewußt zu sein, daß diese sexuelle Befreiung wenig mehr als die Befreiung von mehr Körper zum männlichen Gebrauch bedeutet. Der "Liebe" versucht die ANDERE FRAU in ihren Rollen nämlich über ihren Körper, d. h. durch "Sex" auf die Spur zu kommen: "Sex" und "Liebe" setzt sie gleich, doch an ihrem

Körper erfährt sie, daß diese Gleichung nicht aufgeht. Ihren

Körper benutzt, mißbraucht und nützt man aus, da sie körperliche Nähe und Wärme als "Liebe" mißdeutet. "Sex" im

Sinne der "sexuellen Revolution" kann nach wie vor nur im

Kontext von "Macht" verstanden werden, denn in einem ansonstem noch unterdrückten "Frauendasein" kommt dem "Sex" eine andere

“Firestone 135-136. 187

Wichtigkeit zu. "Sex per se" kann in einer sexistischen

Gesellschaft nicht existieren. Obwohl die ANDERE FRAU Männern nicht kleinlaut beigibt, sondern sie bis aufs Äußerste reizt und herausfordert, verliert sie, wenn es um "Sex", d. h. die

Ausbeutung ihres Körpers geht, ihre Sprache:

DIE ANDERE FRAU (...) Er frißt Pistazien, seelenruhig, während ich in den Nachrichten Kriege verfolg: er ist so schön dabei, er sieht aus wie ein Prinz, lach nicht, er läßt mich reden und reden und sieht mir ruhig zu. Ausbeutung und Korruption — immer schon, sagt er und lacht: Komm, zieh dich aus. DIE EINE FRAU Und dann ziehtst du dich aus? DIE ANDERE FRAU Ja, was soll ich denn machen? (DeG 70)

Der Diskurs Uber Sex— implizit über Liebe— der nach Roth immer patriarchaler, also einem Herrschaftsverhältnis dienender Sex ist, hat eine Funktion, die nicht von anderen patriarchalen

Diskursen (wie bürgerliche Ideologie, Religion, Trivialmythen) losgelöst werden kann. Die Herrschaft des Mannes über die Frau und seine Aneignung von Sexualität wird gezeigt, nicht in der scheinbaren Unschuld belassen, das Herr/Knecht-Verhältnis zwischen Männern und Frauen wird offen präsentiert.

Der körperliche sexuelle Kontakt steht für die ANDERE

FRAU im Mittelpunkt und fasziniert sie. Das "unstillbare

Verlangen"25 begehrt und geliebt zu werden, wird zum Motor ihres Daseins, und ist sie nicht das Objekt des Begehrens, wird sie zur Voyeurin: sie kennt das Ritual bis ins Detail,

“Unstillbares Verlangen, weil die Bedürfnisse nie vollkommen gedeckt werden, bzw. mehr Bedürfnisse schaffen. Ein Bedürfnis der ANDEREN FRAU ist sich selbst zu akzeptieren und zu lieben, was aber bei ihr von der Akzeptanz und Liebe eines Mannes abzuhängen scheint. 188 durchschaut es aus der Distanz, aber findet sich selbst wiederholt in der hilflosen Position der bloßgestellten und submissiven Frau, wie sie ANTOM in der Beschreibung seines sexuellen Tßte-ä-tßtes mit einer älteren Frau schildert. Die

ANDERE FRAU kann ihre Neugierde nicht zurUckhalten, wird zur

"zuhörenden" Voyeurin und identifiziert sich zugleich mit der

Frau und mit ANTON, der Position des Mannes:

DIE ANDERE FRAU Für ihre sechzig Jahre ist sie aber noch ganz knackig. (...) Und du hast Sie? (...) Du weißt schon. Erzähl mir. Ich will alles wissen. (...) Alles will ich wissen. Du weißt das. Von Anfang an. Du bist mit zu ihr in die Wohnung? (...) Und dann? Fing es gleich an? (...) U n d . Hast du es g e s a g t . (...) Das mit der Liebe. (...) Sehr s c h ö n . (...) Wie sieht sie aus ohne Kleider? (...) Du hast die Augen zugemacht? Ich hätte sie offen behalten, gnadenlos offen, ich schwör es dir. (...) Mir wird vom Zuhören schon schlecht. (DeG 79-81)

Sie steigert sich mehr und mehr in diese Geschichte hinein, stochert weiter, will alles wissen und objektiviert dadurch die Frau abermals sexuell, und genauso wird das Publikum zum

Voyeur von Vorgängen und Geschichten, die niemand auf hält. Die

Vorgänge (z. B. auch die versuchte Vergewaltigung) werden gezeigt, weil es immer Zuschauer gibt— auch auf der Bühne— die ihre Augen nicht abwenden, die wissen wollen, wie es weiter geht, was als nächstes passiert, die Abläufe aber schon kennen, weil sie sich immer wieder wiederholen. Die

Liebeszugeständnisse offenbaren sich in dieser Situation als pure Redefloskeln, sie gehören zum Ritual, sind Mittel zum 189

Zweck für den Hann, ohne Näheres zu bedeuten. Redefloskeln, wie 'ich liebe dich' werden zu Sedativa oder auch zu

Tauschmitteln, deren Funktion darin liegt, an den Körper der

Frau zu kommen, sie sexuell auszubeuten.

Die EINE FRAU hingegen versucht sich keine Illusionen mehr Uber die Liebe zu machen und ist deshalb den Männern in puncto "Sex" nicht so ausgeliefert, sondern eher überlegen.

Ihre Angst vor Verwundbarkeit, die durch die Einseitigkeit von

Gefühlen, bzw. zwischen zwei ungleichen Partnern gegeben ist, bestimmt ihre Beziehungen zu Männern. Zu ihrem Körper, den sie nicht als Tauschmittel für "Liebe" einsetzt, hat sie ein anderes Verhältnis, da sie den sexuellen Akt nicht als etwas

Emotionelles verstehen will, sondern nur als körperlichen

Genuß:

ADAM Wir sollten es einfach tun. DIE EINE FRAU Eine Bedingung. ADAM Jede. DIE EINE FRAU Nur eine. ADAM Sie machen es spannend. DIE EINE FRAU Sagen sie weiterhin Sie zu mir. Duzen Sie mich um Gottes willen dabei nicht plötzlich. Und sagen Sie auch danach Sie. Es gibt weder vorher noch während noch danach auch nur den geringsten Grund für Vertraulichkeit. ADAM Ich seh es zwar anders. Aber ich akzeptiere. (...) DIE ANDERE FRAU Es gibt nichts Schrecklicheres, als wenn einen ein wildfremder Mensch mittendrin duzt, fDeG 34)

DIE EINE FRAU testet in diesem "Rollenspiel" eine Haltung, die sie dem sexuellen Partner gegenüber gleichstellen würde, aber noch im Laufe des Spielens dieser "neuen Rolle" drängt sich, bzw. fällt sie zurück in die "alte Rolle" und hebt dadurch den 190

ersten Standpunkt auf; das Körperliche wird erneut dem

Gefühlsvollen, d. h. der Liebe gleichsetzt. Doch ist sie

vorsichtig und sich der Gefahr der Abhängigkeit bewußt, die

ein "Ich liebe Sie" für sie bedeuten würde. Sie spricht es

zwar aus, um es unverzüglich zu widerrufen, es kein zweites

Mal auszusprechen:

ADAM Das gehört doch dazu. Sagen Sie es noch einmal. Trotzdem. Pause Bitte. DIE EINE FRAU Das wäre dann wie wirklich. (...) Es könnte ... in jedem Fall könnte es — (...) Es könnte auch Einbildung sein. Oder ein Spiel. Das muß man bedenken. ADAM Sagen Sie es nocheinmal. Bedenkenlos. Ich bitte Sie. DIE EINE FRAU Bedenkenlosigkeit, jaja. Jeder sucht sie, keiner hat sie ... (DeG 35-36)

Die Angst vor Liebe und vor Gefühlen ist aus der Perspektive der Frauen berechtigt, da Liebe und Liebeserfüllung

Vorstellungen des Patriarchats sind, die einzig Frauen und

Dichtern zugeschrieben worden sind und auf die Verhinderung der Emanzipation der Frauen abzielen. Sie gewähren die

Abhängigkeit der Frau, gerade weil sich Liebe und Gefühle bei

Männern anders offenbart und nicht dasselbe bedeutet. Wenn

Frauen die Gefühle ablehnen, lehnen sie auch die ihnen aufgezwungenen Rolle ab.

In den Interaktionen zwischen der EINEN und der ANDEREN

FRAU, zeigen sich die Entäuschungen und Frustrationen, denn unabhängig davon wie sich die EINE und ANDERE FRAU im

Geschlechterverhältnis geben, so sind beide unzufrieden und 191

letztlich allein. Darunter leiden sie, obwohl sie weder mit

noch ohne männlichen Partner glücklich sind. Ständige

Mangelgefühle zeugen von internalisierten Normen und der

Vergesellschaftung des Menschen, die jedem Abweichen im Wege

stehen, bzw. immer das für erstrebenswert halten, was man nicht hat.

DIE ANDERE FRAU Entsetzlich. Jeden Morgen wach zu werden neben demselben Gesicht. Entsetzlich. DIE EINE FRAU (...) Es muß schön sein, jemanden neben sich zu haben, wenn man wach wird. Schön muß es sein, zusammen zu sein. DIE ANDERE FRAU Vorsichtshalber lebst du allein. DIE EINE FRAU Ich lebe allein. Ja. DIE ANDERE FRAU Und es geht dir nicht schlecht. DIE EINE FRAU lacht: Bis eben ging's mir schlecht. Jetzt bin ich wieder ganz vergnügt. (DeG 73-74)

In den Gesprächen der beiden Frauen miteinander— auch sie treten nicht allein auf, sondern wenn nicht mit Männern, dann zusammen als Frauen— geht es entweder um gewisse

Rollenverhältnisse zu Männern, oder um das Sterben der Frau im

Hinterzimmer. Beide vertreten in allem gegensätzliche

Ansichten, wobei keiner der Vorzug gegeben wird. Die

Aussprachen hören sich auch wie Zwiegespräche an, d. h. es wird angedeutet, daß die EINE und die ANDERE FRAU trotz der

Widersprüche in einem "ich" vorhanden sein könnten. In einem

Interview bemerkte Roth über sich als Figurenfinderin, daß

"Figuren, die mit sich identisch sind, die planen, berechnen, vorherschauen, kann ich nicht erfinden. Interessant finde ich

Menschen, die ihre Gesichter wechseln. Das Ich ist aus vielen 192

Personen zusammengesetzt.24 Davon ausgehend kann man die EINE

und die ANDERE FRAU zugleich als Verkörperung eines Prototyps

"Frau" sehen, d. h. weder die Rollen der EINEN noch der

ANDEREN Frau sind je für sich allein in einem "ich" präsent,

sondern existieren nebeneinander und gehen ineinander Uber,

ohne sich gegenseitig auszuschließen. Die Kommentare der

Frauen lassen sich weder an individuelle Figuren festbinden,

noch mit Hilfe von bestimmten Rollen interpretieren, vielmehr

sind sie wie sprachliche Zustands-, Bildbeschreibungen, die

von den szenischen Vorgängen abgekoppelt sind.

Anke Roeder hat die drei Frauen (EINE/ANDERE/FREMDE) als

"Figurationen einer Frau, der Sterbenden" interpretiert.27

Meiner Ansicht nach, kann man die diversen "Facetten" der

EINEN und ANDEREN Frau als Figurationen der FREMDEN FRAU, d.h. der sterbenden Frau verstehen. Diese ist abwesend von der

Bühne, nur ihr Schreien, das den Prozeß ihres Sterbens begleitet, vernimmt man vorne auf der Bühne des Lebens. Wer sie ist, was sie denkt etc. , weiß man nicht, doch trotzdem wird immer wieder Uber sie gesprochen, besonders über das

Aussehen ihrers Körpers, ihre Konturen sozusagen und zwar vonseiten der Männer: "Wasser in den Beinen, sagen sie. Mehr weiß ich auch nicht. Mächtige Schenkel, sagen sie, und ein

26Vgl. Roeder 44.

^Roeder 44. 193

Ballonbauch." fDeG 53) .2S Die Hartnäckigkeit mit der sie am

Leben hängt und sich vergrößert, ist als Trotz den Männern

gegenüber zu verstehen, als letztes Aufbäumen gegen sie:

"Wahrscheinlich lacht sie sich ins Fäustchen. Macht

ausprobieren, bis das Arschloch zuschnappt." fDeG 57) Die

Frauenfiguren dagegen sprechen über das Verlangen der

sterbenden Frau zu sprechen, sich auszudrücken, trotz des

augetrockneten Mundes, der es fast unmöglich macht. Mit

Butterflöcklein versuchen sie zu helfen.

Kurz vor dem Ende des Stückes, zu einem Zeitpunkt nachdem

beide DIE EINE und ANDERE FRAU in ihren Rollen den äußersten

Tiefpunkt im Stück erreicht haben und beide eigentlich nur noch ganz für sich alleine bzw. in sich versunken neben­ einander dahinreflektieren, zeigt die EINE FRAU Neugierde bezüglich der Gedanken, Ansichten und Einschätzungen, die man wohl am Ende des hinter einem liegenden Lebens hat:

DIE EINE FRAU (...) Die Welt kommt mir sehr komisch vor. Aber ich kann nicht über sie lachen. Pause Ich gäbe vieles drum, wenn ich jetzt wüßte ... DIE ANDERE FRAU Was? DIE EINE FRAU Was sie denkt? Was sie fühlt? Ob sie alles, was war, für wert hält ... jetzt. Vor der allerletzten Geschichte. DIE ANDERE FRAU Das Sterben ist ja keine Geschichte. DIE EINE FRAU Es ist die einzige Geschichte. Sie scheinen zu erstarren, fDeG 84)

28 Diese Darstellung paßt auf die Wandzeichnungen und Ton- /Bronzefiguren aus den Urzeiten der Menschheit, die Urmutter, die Fruchtbarkeit der Frau symbolisierend, in einer Zeit als das Patriarchat noch nicht existierte sondern das Matriarchat. 194

Im Erstarren endet Ihr "Spielen der Rollen,"29 d. h. das

variantenhafte Wiederholen des Gleichen, und mit dem Hinweis

darauf, daß das Sterben die einzige Geschichte sei, und der

ganze Rest, d. h. die Geschichten, die sich im Vorzimmer des

Todes (= die Bühne) abspielen und das Leben nichts anderes als

Sterben seien: "DIE EINE FRAU [...] Und um mich rum steht

alles still; wie's wuselt und wogt und webt und weht, wie's

lebt, sich bewegt: so still steht das alles." fDeG 41) Trotz des ganzen Auf und Abs im Leben, ist es ein einziger sich wiederholender Stillstand, denn der Zweck der Herrschafts­ verhältnisse besteht nur darin, die Welt in Unbeweglichkeit zu halten. Der Tod wird zur Utopie, weil er die Erlösung aus diesem Zustand in Aussicht stellt: "DIE EINE FRAU Der Tod hat

überhaupt kein Leben. Stell dir das vor. Kein Herzrasen mehr und keine Sehnsucht. Kein Wort mehr. Kein Gezwinker. Kein

Nichts, kein gar Nichts." fDeG 84-85) Diese negative Sicht des

Lebens ergibt sich aus der Gegenüberstellung mit dem Tod, wobei das Negative als "Herzrasen," "Sehnsucht"— zwei die

Liebe bzw. den Mangel derselben beschreibende Zustände— genannt wird. Diese Zustände haben ein Ohnmachtsgefühl zur

Folge, das es unmöglich macht, aus dieser einen umgebenden

Wirklichkeit auszubrechen: Sinnliches Begehren, Liebe— das

Leben überhaupt— sind absolut von Bildern, Trivialmythen

wZu diesem Zeitpunkt haben die Männer entweder schon die Bühne verlassen, bzw. sind eingeschlafen, da sie das Sterben der Frau nicht mehr erwarten ("Heut stirbt die nicht mehr." DeG 83) . 195 abhängig, deren Dominanz besonders in Geschlechterverhält- nissen deutlich zutage tritt. Diese Bilder und Mythen des glücklichen Lebens in heterosexuellen Paarkonstellationen werden unaufhölich reproduziert und an sie knüpfen sich imaginäre nicht einholbare Verheißungen, die für das ohnmachts- und Mangelgefühl mitverantworlich sind. Der

Versuch, sie ins konkrete Leben umzusetzen, scheitert.

Erst in der letzten Szene tritt die FREMDE FRAU— die dritte Frau im Stück— auf, und in den Bühnenbemerkungen verlangt Roth, daß sie nur steht, ohne Interaktion mit der

EINEN und ANDEREN FRAU: "Dunkelheit— zerrissen durch das grüne

Licht. Plötzlich steht die fremde Frau zwischen der einen und er anderen Frau, die beide nach rückwärts sehen." fDeG 85) DIE

FREMDE FRAU, d. h. die sterbende Frau, hat das letzte Wort und sieht ins Publikum (in die Zukunft), während DIE EINE und DIE

ANDERE FRAU nach rückwärts sehen (in die Vergangenheit). Ihren anklagenden Monolog richtet die FREMDE FRAU an die zwei Frauen oder auch an das (weibliche?) Publikum. Veränderungen können nur von Frauen erwartet werden, denn Männer profitieren zu sehr in diesem System. Verschiedene Belange greift sie in dem

Monolog auf, das Dasein und die Geschlechterverhältnisse kritisierend, indem sie im ersten Teil das Leben der (beiden)

Frauen— "ihr"— mit dem alternativen Standpunkt (Sterben) des

"ichs" kontrastiert.

Der schönste Traum, daß nichts sich wiederhole. Im Sterben träumst du ihn. Ich sterbe. Warum lebt ihr weiter? fDeG 85) Das "ihr" steht, hier für die beiden Frauen, das Publikum, und

sie stellt das Leben, bzw. die Art dieses Lebens, in Frage:

"Ihr schlachtet euch // und bringt euch immer selbst zur

Welt." fDeG 85) "Ihr schreit nach Linderung mit geblähtem Hals

// und schreilos neben euch verenden eure Kinder." fDeG 86)

Ein Leben, das sich immer wieder neu reproduziert und wieder­

holt, von Generation zu Generation, von Beziehung zu

Beziehung, gegeben durch Passivität, Ausharren und Hoffnung.

Dem Leben setzt sie das Sterben gegenüber, welches mit

"Träumen" assoziiert wird: im Sterben wird der "schönste

Traum" aber auch "geträumt", d. h. ein Ende ist in Sicht, aber

inwiefern sich der Traum erfüllt, weiß man noch nicht.

Zumindest ist es ein Schritt ins Unbekannte, Fremde, eine

Unterbrechung des ewig gleichen sich wiederholenden Kreises,

denn "(m)it der Liebe hängt das Scheitern der Liebe zusammen, mit dem Scheitern der Liebe hängt der Tod zusammen. Jedes

Scheitern der Liebe ist ein Tod."30 Jedes Scheitern ist ein

Sterben, das sich aber unaufhörlich wiederholt. Das Leben und

die darin vorkommenden Widersprüche beschreibt sie zum einen

negativ ("Ich seh Unglaubliches, das ich nie glaubte: bloß unser Leben." fDeG 86]), und dann doch wieder positiv wehmütig, die Naivität und Verzweiflung zugleich andeutend:

"Und doch; es ist schon schön. // Wie ihr die Röckchen hebt, die Beinchen zeigt: der Hoffnungsschimmer, eingetrocknet in den Lack // am kleinen Zeh. Ich kenne die Geschichten." (DeG

30Roeder 46. 197

86). Der Liebesmythos wird zugleich als Motor des Lebens und

patriarchalischer Tyrann entlarvt, der die Lebensumstände der

Frauen determiniert. In einer Beziehung, in der es nicht zwei

gleich starke Kerne gibt, sondern eine Rangordnung nach der

Geschlechtszugehörigkeit, kann sich die unterlegene

beherrschte Hälfte nicht frei entfalten, sondern konzentriert

sich auf die überlegene herrschende Hälfte, die zum Gegner

wird: "und schlürft aus der Schädeldecke des Gegners: sein

Hirn." Durch die Identifikation mit dem Gegner und durch das

Aufgeben bzw. Unterordnen der eigenen Identität wird ein

solches Geschlechterverhältnis möglich.

Wach, voller Kummer heuchelt ihr Mitleid und schlürft aus der Schädeldecke des Gegners: sein Hirn.

Und doch: Ich hör die schönen Lieder. Schwer und schrill schrein sie vom ganz alleine Sein. Der Wind weht weiter, still.

Und doch: es gibt die Lieder in den dunklen Farben. Es gibt die Sonnenuntergänge und die Regenbogen die Wüstenweiten und die Wellen und das unverwüstliche Gras gegen den dunkelnden Himmel den einzelnen schwarzen Baum. fDeG 86-87)

"Die schönen Lieder" beschreiben das Alleinsein: "schwer,"

"schrill" und "schrein", damit wird es assoziiert, negative

Konnotationen aus der Perspektive des Zusammenseins (Mann und

Frau als gegenseitige Ergänzung) gesehen. Das Alleinsein wird als "schöne" Alternative verstanden, als wenig begangener Weg, d. h. der einzelne für sich allein. Das Gegenteil zu den

"Liedern in den dunklen Farben," den Sonnenuntergängen, 198

Regenbogen etc.— triviale Muster— die der Inbegriff romantischer Liebe bzw. Sehnsucht sind.

Ein im Laufe des Stückes immer wieder aufgegriffenes

Motiv sind nachts schreiende Katzen. Die schreienden, da läufigen Katzen stellt Roth den Männern und Frauen gegenüber; weibliche und männliche Katzen brauchen einander nur für die

Fortpflanzung, ansonsten gehen sie getrennte Wege und klammern sich nicht aneinander,31 ganz im Gegenteil, die weibliche

Katze nimmt eine durchaus aggressive und proroiskuöse Rolle ein. Das Dilemma des menschlichen Geschlechterverhältnisses wird als im Glauben an die "Liebe" als verbindendes Band basierend dargestellt, was Abhängigkeiten schafft, da "Liebe" für Frauen und Männer etwas anderes zu bedeuten scheint:

Aufstürmend Vogelscharen hinein in den Wind der weht und weht gleich gültig drüber. Dunkel fDeG 87)

"Liebe" bindet Frauen an Männer, wiegt sie in der Annahme,

Männer beeinflussen, sogar ändern zu können, und darauf wird viel Energie verloren (wie die "aufstürmenden Vogelscharen" die gegen den Wind fliegen); Männer hingegen benutzen "Liebe" als Mittel zum Erreichen bestimmter Ziele, Annehmlichkeiten

(Männer und das von ihnen geschaffene System sind wie der grausame, gleichgültige Wind).

3,Weibliche sind mehrere Male im Jahr— aber nicht das ganze Jahr hindurch— läufig, während Kater sich den weiblichen Katzen anpassen, indem sie den abgegebenen Geruchstoffen folgen. 199

Die FREMDE FRAU und ihre Anklage am Ende des StUckes

gegen das vorher Dargestellte propagiert eine sexuelle

Endzeitstimmung, die anbrechen muß, um sich voneinander zu

befreien. Insofern repräsentiert die FREMDE FRAU zugleich das

Ende und den Anfang, der Tod muß hier symbolisch gesehen

werden und "fremd" im Sinne von noch nicht bekanntem,

unergrilndetem Potential, vielleicht eine Frau, die für sich

allein, selbst steht, denn nur unter diesen Umständen kann

eine Selbst-/Persönlichkeitsentwicklung erfolgen. Durch diesen

Abschluß verneint die Autorin die Möglichkeit einer auf Liebe

basierenden Geschlechterbeziehung, und ebenso die Möglichkeit

der Selbstverwirklichung in derselben. Der Gegenentwurf, den

sie andeutet, die einzige Alternative ist die Absage an die

Liebe, so wie wir sie kennen, denn diese steht im Wege hin zu

einem gleichberechtigten Dasein.

Frauen und Wirklichkeitserfahrunq im Patriarchat

Der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft ist als

Thematik alt. Das Individuum entwickelt sich nicht 'frei',

sondern gemäß gesellschaftlicher Bedingungen, d. h. dem

sozialen und psychologischen Einfluß zu einem Menschen mit

bestimmten Rollen. Dies ist ein Allgemeinplatz und wurde in

seinen Varianten schon vielfach diskutiert. Mit dem Aufkommen des Feminismus wurde dieser Allgemeinplatz aufgebrochen und nun ist es ein Allgemeinplatz, daß dies unterschiedlich auf Menschen zutrifft und von der Geschlechts-, Klassen- und ethnischen Zugehörigkeit der jeweils Betroffenen abhängt— wer

immer sich auf der 'falschen' Seite der Macht befindet ist noch weniger frei. Menschen treffen Entscheidungen gemäß den ihnen eingeprägten kulturellen Erwartungen, und dieser Prozeß sieht für Frauen und Männer anders aus. Die Wirklichkeits­ erfahrung, das Dasein der Frauen wird also nicht nur von den eigenen Erwartungen geprägt und eingeschränkt, sondern konkurriert ständig mit den Erwartungen des männlichen

Geschlechtes/der männlichen Gesellschaft. Gesetzliche, psychologische und klassenbedingte Abhängigkeiten— vom Mann— durch Jahrhunderte prägten das Selbstbewußtsein und das

Selbstwertgefühl der Frauen, und sie verinnerlichten das

Fehlen eines Eigenwerts. Selbstbewertung wird aus der

Perspektive des Mannes betrieben. Frauen scheitern an den

Klischeevorstellungen von Glück und Liebe, die— vor allem in den Medien— perpetuiert werden, aber nicht realisierbar sind.

Die Aggressivität, der Sarkasmus und Zynismus, die Roths

Frauenfiguren eigen sind, folgen aus den Frustrationen einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft. Die

Unmenschlichkeit und Lieblosigkeit in den Beziehungen wird sehr zynisch und kalt dargestellt, romantische

Liebesbeziehungen werden entlarvt, da die Voraussetzungen solcher Beziehungen auf männlicher Macht basieren:

Wunschvorstellungen und Phantasien erweisen sich als pure

Konstrukte, da sie in der Realität die dahinterstehenden 201

Mechanismen ans Licht: bringen, und den Zauber verlieren, da sie auf Kosten der Frauen gehen. Die zwischenmenschlichen

Begegnungsformen werden durch das kalte Licht beleuchtet:

Kälte, die von Frauen verspürt wird, da sie nach dem

Gegenteil, der Wärme, suchen. Wird der Frauenkörper begehrt oder mißbraucht, beides geht oft Hand in Hand, dann wird die

Bühne mit grünem Licht überflutet, Kälte ausstrahlend:

Dunkelheit— zerrissen durch ein grünes Licht. Die andere Frau jagt schreiend und aufgelöst über die B ü h n e . DIE ANDERE FRAU Ja. Zieh die Lederstiefel an. Ja. Hol die Peitsche. Ja. Ja. Ja. Plötzlich steht Adolf auf und jagt ihr— jung und brutal geworden— hinterher. ADOLF Wieder! Wieder betrunken am heilichten Tag. Dich schlag ich tot. DIE ANDERE FRAU Schlag zu. Ja. Schlag doch zu. ADOLF schlägt. Hier. (...) Dich schlag ich eines Tages tot. Dunkel Die andere Frau sitzt aufgelöst, kaputt und fertig am Boden; die alten Männer sitzen unter fürchterlichem Gelächter da, oder fast schunkelnd- singend, jedenfalls schrecklich vergnügt. (DeG 10- 11 ) Der Körper ist der Ort, an dem sich der Geschlechterkampf abspielt: die Frauen werden von den Männern auf ihre Körper und Sexualität reduziert, sie werden zu Körperteilen. Die scheinbare RUckwendung auf nur eine, nämlich die eigene Frau hat nichts mit Treue, Liebe etc. zu tun, sondern impliziert in

Wahrheit die Konzentration der sexuellen Verausgabung auf einen Frauenkörper.

ADAM Seit wir verheiratet sind...fast... lieber Himmel... fast vierzig Jahre...ist es vielleicht so an die fünfzehnmal passiert. (...) Das ist jetzt vorbei. ANTON Ein für allemal? endgültig aus? ADAM Anwandlungen gibt es natürlich. Immer. Aber daheim 202

ist daheim. (...) Sich an neue Marotten gewöhnen. Lieber Himmel. Die ganzen Umstände noch einmal von vorn. ADOLF Es kann schon reizvoll sein: nach einer vollen Brust mal eine ganz schlappe. Jahrelang ein flacher Bauch, da macht dich so ein richtig runder weicher Bauch verrückt. Dauernd lange Beine neben dir, wenn sich dann kurze Beinchen an dich klammern, das ist der Himmel. fDeG 39-40)

Die sexuellen und sozialen Konnotationen der Paarkon­

stellationen bilden eine schier unerschöpfliche Quelle für

direkte, rohe sprachliche Kommentare, die sich selbst

sprechen, sich nicht an Figuren festmachen lassen, sondern wie

purer Textvortrag klingen und auf einen Zustand verweisen. Die

Unmöglichkeit für Frauen, in den Besitz eines Bildes von sich

selbst zu geraten, wird immer wieder durchlebt und kommen­

tiert. Die Paarkonstellationen auf der Bühne sind visueller

Hinweis auf diese Problematik: nämlich, es sieht sich die Frau als jemand, die mann ansieht, von der mann ein Bild hat, aber außerhalb des Paares hat sie kein Bild, bzw. Spiegelung desselben in der anderen Frau. Frauen brauchen eine Spiegelung von sich um ein Bild von sich zu haben. Der von den Männern auf die Frauen gerichtete Blick gilt nicht ihrem "Selbst" sondern bloß der Kontur, der Hülle: über die Kontur sprechen die Männer, der Blick bleibt an der Oberfläche hängen, und deshalb bleibt dieses Bild für die Frauen immer korrekturfähig und mangelhaft.

ADOLF schüttelt lachen den Kopf. Du bist keine Schönheit, hab ich gesagt, das weißt du. Aber du hast etwas, hab ich gesagt. Für mich hast du etwas. Ich weiß nicht, was es ist. Aber es ist was dran an dir, das ich ANTON Du hast ihr gesagt, sie sei keine Schönheit? 203

ADOLF Ich hab ihr gesagt, sie sei keine Schönheit. Ja. Sie weiß das doch selbst. Sie ist keine Schönheit. ADAM Das würd ich nicht unbedingt sagen. ADOLF ich meine, was man so unter einer Schönheit v e r s t e h t . ADAM Sie ist nicht ohne. ADOLF Genau das habe ich doch aber gesagt. fDeG 55-56)

Es sind solche leere Redefloskeln, die nichts Konkretes aussagen, aber worauf das Patriarchat seine MachtausUbung gründet. Die Männer können als Abzüge, Verdoppelungen der anderen gesehen werden, sie unterscheiden sich nicht voneinander, bloß der Name (Adam, Adolf, August, Anton angefangen ganz vorne im Alphabet) ansonsten können sie ad infinitum weiter verdoppelt werden, als Ausdruck für ihr

Geschlecht— nicht aber für eine Identität.

Die Männer haben auch eine chorische Funktion, die an das antike Drama erinnert, aber Roth bricht mit der Tradition:

Roth läßt die ALTEN MÄNNER im Chor die kleinbürgerliche, faschistoide Mentalität parodieren, sie legt den ALTEN MÄNNER

Redewendungen in den Mund, die an die nazionalsozialistische

Zeit erinnern und voller Vorurteile sind. Die Funktion des

Chores ist den ideologischen Hintergrund sichtbar zu machen, gegen den die Geschlechterverhältnisse gesehen werden müssen.

Die Männer haben bestimmte Diskurse— des Krieges/der

Sexualität— usurpiert, dies zeigt sich in ihren chorähnlichen

Auftritten. Sprache haben, bedeutet in der Position der Macht zu sein, die Sprache zu beherrschen, heißt andere zu beherrschen, d. h. Frauen nacheinander zu verbrauchen, sie abzutöten. In Die einzige Geschichte legt Friederike Roth 204 nahe, daß die Vernichtung der Frau in den gleichen Macht- und

Gewaltzusammenhang wie der Faschismus gehört: das Weiterwirken des Krieges, der Folter, der Vernichtung der Gesellschaft zeigt sich in den Beziehungen zwischen Mann und Frau.

Authentischer Ausdruck und Handeln ist auch fUr Männer nicht mehr möglich, ihr Handeln und ihr Sprechen erfolgt im

Trancezustand, sie sind selbst Marionetten in einem sich verselbständigendem Spiel:

DIE ALTEN MÄNNER (...) Wir zucken und zappeln und zeugen fort und fort mit uns unsere Geschichten. (...) DIE ALTEN MÄNNER marschierend: Wir töten. Danach tanzen wir. Wir tanzen wie die Engel. Wir schreiten ein und weiter. Sie maschieren im Stechschritt. Weiter. Weiter. (...) weitermarschierend: Bald machen wir noch einmal so ein Fest. Nach diesen beiden Festen noch ein drittes. Dann wieder eines; noch und noch. fDeG 52-53)

Bei diesen Karikaturen von Männern liegt die Macht, die sich demselben "Marsch' folgend immer wieder neu reproduziert und wiederholt, die Wirklichkeit als Farce enthüllend. fDeG 42)

Marsch und Stechschritt verweisen auf den Takt und Rhythmus, auf die ständige Wiederholung desselben und die Monotonie, dem blinden Folgen eines Kommandos, der Hypnose unter der die

Figuren stehen. Dem ersten Fest (1. Weltkrieg) folgt ein zweites, ein drittes usw., ohne Hoffnung auf Veränderung, nur

Zerstörung und Vernichtung um stets dasselbe zu wiederholen. 205

Beziehungen fLiebe/Sexualität!; Die einzige Geschichte

Liebe und Sexualität als aneinander gekoppelte aber nicht wechselseitig bedingte Voraussetzungen im Verhältnis zwischen

Männern und Frauen, darauf richtet sich Roths Blick in Die einzige Geschichte. Dabei werden die Lebenszusammenhänge und

Verhaltensweisen der Frauen hinsichtlich ihrer Beziehungen zu

Männern ebenso ironisch präsentiert wie die überzeichneten und karikaturhaften Männerfiguren. Sowohl die vier Männer- als auch die zwei Frauenfiguren repräsentieren im stereotypischen

Denken gefangene Figuren, und sie bringen dadurch grundliegende Denkmuster der dominanten Ideologie zum

Vorschein, die zugleich desillusioniert und als gelebte

Stereotypen aufgedeckt werden. Das Interesse gilt den Frauen, die nicht nur an den Männern sondern den gesellschaftlichen

Verhältnissen zugrunde gehen, die wiederum durch die auf die

Spitze getriebene Männerherrschaft bestimmt werden, und Männer genauso zu Marionetten macht, die aber gegeben durch ihre

Machtposition um vieles gefährlicher sind.

Die ersehnten, glücklichen Liebesgeschichten entblößen sich als gesteuertes Wunschdenken, das die verborgenen

Schrecken alltäglicher Beziehungen um so krasser erscheinen läßt. Vor allem die Frauen scheitern an den Klischeevor­ stellungen von Glück und Liebe, von der kleinbürgerlichen

Häuslichkeit, die sie sich selbst nicht erfüllen können, die

Männer werden durch diese "Klischeewahrheiten" weniger in 206

ihrem Handeln geleitet. Oie Enttäuschten sind bei Roth die

Frauen, aber sie sind nicht nur pure Opfer, sie sind mit

schuld an ihren Enttäuschungen, da sie sich Illusionen

hingeben, an idealen Bildern festhalten, die sich realen

Verhältnissen entgegensetzen:

Die eine und die andere Frau ganz allein in einem kalten, hellen Licht. DIE ANDERE FRAU (...) Wir haben jeden Tag gestrit­ ten. Schon morgens. Abends hab ich mich vorm Ein­ schlafen gefürchtet, weil ich wußte, wenn ich wach werde, morgen früh, geht es weiter. Nur Streit, nur Streit, und es könnte so schön sein. Den Früh- stückstisch hab ich gedeckt, eine weiße Decke und schönes Geschirr, ich will doch, daß wir es schön haben, {...). Ich hab mich geschminkt, grün um die Augen, und einen ganz roten Mund, und Ohrringe hab ich mir angesteckt, mich richtig geschmückt und ihm den Kaffee eingegossen und gefragt, ob er lieber Wurst oder Konfitüre aufs Brot will. Es heißt Marmelade, schnaubt er mich an, hör auf mit dem Getue und mal dich nicht morgens schon an. Ich sag Konfitüre, wir haben immer Konfitüre gesagt. Er sagt, es heißt Marmelade, wirft das Besteck hin und läuft aus dem Zimmer und brüllt, nicht schon am Morgen, nicht schon am Morgen, dieses Konfitüren- geschwätz, laß mich damit in Ruhe. fDeG 24-25).

DIE ANDERE FRAU veranschaulicht hier, indem sie ihre Ängste und Bemühungen beschreibt, welche Art von Beziehung sie

anstrebt. Es ist das kleinbürgerliche Zweierverhältnis, nach

dem sie sich sehnt: Sie erhofft sich durch korrektes Verhalten reibungslose Interaktionen mit ihrem Partner— sie schminkt

sich für ihn, bedient ihn, übernimmt die kleinbürgerliche

Ausdrucksweise. Der Mann tut diese realisierte Phantasie­ vorstellung und die daran geknüpften Verheißungen als

"Konfitüregeschwätz" ab, und die ganze Episode endet zwingend katastrophal, genau was die Frau zu verhindern suchte. Aber 207 trotzdem kann es DIE ANDERE FRAU nicht unterlassen, eine andere Realität für sich und ihren Partner schaffen zu wollen, obwohl sie weiß, wie es ausgehen wird. Diese Hartnäckigkeit ist lobenswert, obwohl, was sie dadurch erreichen will, nämlich eine in den Medien angepriesene familiäre Idylle, nur ein abgebrauchtes Klischee ist. Aber in ihrer Hartnäckigkeit ist eine bestimmte Resistenz erkennbar ist. Ihre Verbissenheit nimmt eine tragisch-komische Dimension an: denn sie geht nämlich der Trennung auf dem Weg entgegen, der Veränderung bzw. Rettung ihre Beziehung bringen soll. Voller Verzweiflung versucht die ANDERE FRAU in dieser Rolle dem Streit, Konflikt mit dem Mann aus dem Weg zu gehen, ihn bei guter Stimmung zu halten, um sich vor Beschimpfungen und verbalen Mißbrauch zu schützen, anstatt ihn zu verlassen, so ist der Mann derjenige, der aus der Beziehung flieht, weil die Frau nicht vermochte, ihn richtig zu entziffern.

In den Geschlechterverhältnissen, die im Laufe des

Stückes Revue passieren, verkörpern die EINE und die ANDERE

FRAU diverse Rollen, die Frauen vis-ä-vis Männern einnehmen.

Die Kategorien 'Männlichkeit/Weiblichkeit' nehmen einen fixen

Platz in den Geschlechterverhältnissen ein, denn der geschlechtlich konstruierte Gegensatz dient als Grundlage für die dargestellten heterosexuellen Beziehungen. Die Frauen repräsentieren entweder das passive Objekt der Begierde,

Demütigung und Unterdrückung, oder die Verkörperung

'perverser,' aggressiver Sexualität, wie zum Beispiel in der Rolle der Domina. Aufgrund der verschiedenen Sozialisierung

von Frauen und Männern sind die Erwartungen, die jeweils an

das Geschlechterverhältnis gestellt werden, anders motiviert.

'Weiblichkeit' ist ein Artefakt, eine List, die von Frauen

unbewußt internalisiert wird, um der vorgeschrieben "Norm"

Frau zu entsprechen. Sexuelle Normen findet man in einer

Vielzahl kultureller Formen eingebettet, unter anderem in der

Religion, in Familien, Büchern, Filmen, populärer Musik,

Trivialliteratur und Fernsehen. Die Gesellschaft bestärkt das

Individuum in der Nachahmung vorgegebener sexueller Normen und

Praktiken, und verurteilt jedigliche Überschreitung als

Perversion.32 Sandra Lee Bartky drückt diesen Zustand treffend aus: "The masters of patriarchal society make sure that the models set before us incorporate their needs and preferences:

All other possibilities become unspeakable or obscene."33 Auf dem heterosexuellen Modell haben sich im Laufe der Geschichte eine Serie von Liebesmythen entwickelt, denen vor allem Frauen

zum Opfer fallen, und sie dienen dazu, Stereotypen Uber Frauen

zu verstärken: Liebe, Sex, Gewalt und Abhängigkeit gehen dabei

Hand in Hand. Schließlich ist es um der Liebe willen, dem größten Mythos aller Zeiten, daß sich Roths Prototyp von Frau immer wieder auf Beziehungen mit Männern einläßt. Schließlich ist dann die Entzauberung und Banalisierung solcher Liebesver­

32Bartky, 'Feminine Masochism and the Politics of Personal Transformation,' Femininitv and Domination. (New York: Routledge, 1990) 55.

33Bartky, Femininitv and Domination 56. 209 hältnisse automatisch die Folge.

Ein geläufiges Motiv, das in den skizzenhaften

Darstellungen der verschiedenen Aspekte der "Beziehungskiste" immer wieder auftaucht, ist die Diskrepanz zwischen den weiblichen Sehnsüchten und Vorstellungen von Liebe und den männlichen Verhaltensweisen. Die Liebesfähigkeit und das

Liebesverhalten von Männern und Frauen grenzt gegeneinander ab, wofür die unterschiedliche Vergesellschaftung der beiden

Geschlechter als Ursache zu sehen ist. Wonach vor allem Frauen bei Roth suchen, nämlich die eigentliche, 'richtige' Liebe, das entfernt sich bei jeder körperlichen Annäherung mehr.

Während bei den Männern in Die einzige Geschichte erotisches

Begehren und unbekümmerte Liebesspiele mit Frauen (d. h. es beschränkt sich nicht auf eine Frau) vorherrscht, also

Liebesstile, die oft ein aggressives und dominierendes Gehabe voraussetzen und den Selbstwert bzw. die -achtung steigern, verfolgen Frauen eher praktische auf einen Mann konzentrierte

Liebesintentionen, die in Abhängigkeit und einem Verlust des

Selbstwertes münden.

DIE ANDERE FRAU immer noch am Boden; sehr allein, sehr zerstört: Ich liebe überhaupt keinen, sagt er, als ich ihn frage, ob er mich liebt. Wo gibt's das denn, wie geht das denn, überhaupt keinen lieben, kann es denn so etwas geben? fDeG 12)

Die Männer üben Macht über die Frauen aus, sie gehen auf keine

Verpflichtungen ein, ihre Art der Liebe basiert mehr auf das

Ausnützen der Abhängigkeit der Partnerin sowie auf der körperlichen Anziehung. Männer legen mehr Wert auf das 210

Aussehen und die Attraktivität der Frauen, benutzen es in

Machtkampf und um ihre Überlegenheit zu etablieren. Die Frauen werden begehrt als Gebieterin, als Hure, als Domina, etc. aber nicht als gleichgestellte Geliebte: das Zusammensein hat für sie nichts mit "Liebe" sondern alles mit sexueller Lust zu tun, die eigentlich auf Gewalt basiert, und so gesellschaftlich akzeptabel ist. Über "Liebe", die

Unmöglichkeit und gleichzeitig Angst vor derselben wird nur gesprochen, sie wird in den Boden gesprochen, jedes mögliche

Gefühl im voraus diskutiert und interpretiert. Das Alltägliche der "Liebe" wird als das Grauenvolle gezeigt: Schrecken wie

Vergewaltigung, Mißbrauch und Schläge sind in das Stück eingeflochten, gehen in einem Kontinuum, die Freuden,

Phantasien und Schrecken der alltäglichen Beziehungen zeigend ineinander über. Das Geschlechterverhältnis wird als ein Kampf der Geschlechter dargestellt, in denen die fast ununter­ scheidbare Gleichförmigkeit der Männer deren Macht gewähr­ leistet, da sie wie eine Mauer ihr Terrain verteidigen und letztlich wenn auch als lächerliche, doch immerhin als Sieger hervortreten. Roths Diskurs Über die "Liebe" weicht von den herkömmlichen Liebesmythen ab, obwohl diese auch die Basis für die geschlechtsspezifische Rollenverteilung in Die einzige

Geschichte sind. Das Gefangensein in den Rollen steht stets im

Vordergrund, da die Beziehungen zwischen Männern und Frauen durch ein fixes Rollenverhalten geregelt sind. Es gibt

Variationen des Rollenverhalten, aber diese geschlechts­ 211

spezifischen Rollen verhindern letztendlich, wonach sich vor

allem die Frauen sehnen, nämlich "Liebe". Die Frauen sprechen

Uber "Liebe", suchen sie, aber scheinen sie nicht zu finden.

Trotzdem wird dieses Konzept nicht in Frage gestellt. "Liebe"

ist genauso wie "Sexualität" ein jeweils historisch und

soziologisch festgelegtes Ideologem, das den Zweck hat/hatte

die Körper und psychologischen Abhängigkeiten von Menschen,

vor allem Frauen zu kontrollieren. Die dargesteIlten, hetero­

sexuellen Beziehungsformen sind Schauplatz von Machtkämpfen,

in denen Gewalt und Unterwerfung ein Allgemeinplatz sind. Die

Tatsache, daß viele Frauen ihre Bedürfnisse zugunsten derer

der Männer zurückstecken, der masochistische Zug, der bei

Frauen gepflegt wird, wird bei Roth nicht verklärt, sondern unter dem Aspekt "Liebe" beleuchtet, was das Ausmaß der

Ungleichheiten zwischen "Liebenden" in den Mittelpunkt stellt.

Liebesmythen und Weiblichkeitsmythen gehen Hand in Hand. Die

Liebesmythen werden ersehnt aber die jeweils aktuelle

Beziehung steht im Weg, in der "Sexualität" den Platz der

"Liebe" einnimmt.34 Die Diskrepanz zwischen den Sehnsüchten und Empfindungen der Frauen und den Verhaltensweisen der

Männer sind Ursache für das Nebeneinander von Täuschung und

Enttäuschung. Die Liebessehnsucht ist ständig präsent und für das ganze Dilemma verantwortlich, Sehnsucht nach dem Zu-zweit-

Sein wird an die Spitze getrieben, nur um wieder

^"Sexualität" und "Liebe” sind beides Konstrukte eines männlich dominierten Diskures zur Aufrechterhaltung der ungleichen Verhältnisse. 212 desillusioniert zu werden:

OIE A N D E R E FRAU (...) Diese Bilder, ln denen der Mann auf dem Bett sitzt, abgewendet von der Frau, die hinter ihm liegt, oder die Frau auf dem Bett sitzt, abgewendet von dem Mann, der hinter ihr liegt... fDeG 82)

Das fundamentale Alleinsein wird in dieser Bildbeschreibung angesprochen, es geht um eine grundsätzliche Kritik an der bestehenden Konzeption der Geschlechterverhältnisse. Die den

Alltag nicht überstehende Liebe wird zum GlUcksmoment hoch stilisiert, und auf solche Augenblicke richtet sich die

Sehnsucht; der Alltag, das ständige Beieinander tötet die

Liebe ab, läßt nur noch Raum für die sexuellen Begegnungen.

"Liebe” enfernt sich weiter und weiter aus der sozialen

Existenz, wird zum erdrückenden Konzept, nach dem sich alle verzehren, ohne darüber zu reflektieren, ob "Liebe" so wie sie in der Kunst und in den Medien präsentiert wird, überhaupt existieren kann. "Liebe" wird gleichgesetzt mit Mangel, der nur von außen gestillt werden kann, darin liegt das Problem, die Abhängigkeit von einem anderen. "Liebe" kann verglichen werden mit einem kapitalistischen Genußprodukt, das ständig neu konsumiert werden muß, da die Wirkung nicht dauerhaft ist, aber eine Sucht schafft. Dies wiederum trägt dazu bei, daß die

Erwartungen immer mehr steigen, und die Enttäuschungen immer größer werden. Die Gleichzeitigkeit von Sehnsucht nach und

Angst vor der Begegnung, von Distanz in der Nähe, die vor

Enttäuschungen schützt und gleichzeitig einer Phantasie gleichkommt, ist präsent. Z. B. wird Alleinsein im Beisam­ 213 mensein bewußt verdeutlicht, wenn die Frau dem sexuellen

Kontakt mit dem Hann, das Beisammensein und die eigene sexuelle Befriedigung vorzieht, sich Uber das Alleinsein also nicht hinwegtäuschen will:

ADAM Laß es uns tun. DIE EINE FRAU Ich will es lieber hören. Pause Ich will es nur hören. ADAM Du sitzt vor mir und du bist nackt. Auch ich bin nackt. Du streichelst dich. Pause Die eine Frau rückt— im Schneidersitz— ein wenig nach hinten und sieht ihn aufmerksam an. Auch ich streichle mich. Pause Ich seh dir zu, wie du dich streichelst. Du siehst mir zu. Natürlich will ich dich anfassen. Das geht aber nicht. Wir sehen uns nur. Pause Und wir sehen uns zu. Aber wir bleiben jeder allein. DIE EINE FRAU Ja. fDeG 61)

Es ist hier eine Steigerung des Moments und des Gefühls der

Liebe, denn der Enttäuschung wird vorgebeugt. Liebe, sexuelle

Erregung wird gemeinsam erlebt— über die/den anderen hin, sozusagen durch die andere Person hin angeregt— indem sie nicht miteinander erlebt wird.

Die Entzauberung trivialer Mythen erfolgt durch die

Demonstration der Kehrseiten der Liebesmythen, und trotzdem können sich die Frauenfiguren, diesen Mythen nicht entziehen.

Die Protagonistinnen eignen sich nicht zur Identifikation, die tagtägliche Entmündigung der Frauen durch das Herrschafts­ gebaren der Männer wird als Zustand auf der Bühne kommentiert. 214

Krötenbrunnen

Friederike Roths drittes Stück, Krötenbrunnen. stellt die

Liebe und die damit zusammenhängenden Illusionen, sowie die

Wirklichkeit und zugleich Unmöglichkeit der Liebe, in den

Mittelpunkt. In den Presse- und Literaturrezensionen sah man

dieses Stück in Anlehnung an Vorgänger wie Arthur Schnitzlers

Reigen und Ödön von Horväths Don Juan kommt aus dem Krieg,

beides Stücke, in denen Liebesverlangen und die Situation der

Liebe im jeweiligen historischen Kontext thematisiert wird.35

Was Günther Schloz in bezug auf Friederike Roths Das Buch des

Lebens. Ein Plagiat bemerkte, trifft auch auf Krötenbrunnen

zu:

Friederike Roth zitiert und parodiert und variiert, was Literatur und Kunst Uber Liebe und Tod, die Erkenntnistheorie über Empfindung und Wahrnehmung, die Zeichentheorie über Zeichen, die Gesellschafts­ lehre über Sein und Bewußtsein, Linguistik über Sprache und Bewußtsein, Poetik Uber Bilder und Metaphern an Einsichten, Formeln und Sprüchen bereitgestellt haben."34

Variationen sexueller Begegnungen, sowie die Dynamik Kunst und

Liebe werden präsentiert, wie sie sich im historischen Kontext

der 70er/80er Jahre zeigen. Roths Kommentar zu Das Buch des

Lebens— "

33Heike Klapdor-Kops, "Friederike Roth: 'Krötenbrunnen' Anmerkungen zum Verhältnis von Thema und Variation," Theater Zeitschrift Heft 14 (1985): 120-127; Rita Mielke, "Friederike Roth" K G L .

“Günther Schloz, "Die Schlüssel sind immer weg," Süddeutsche Zeitung 8.10.1983. geschrieben, was seih ewigen Zeiten Uber die Liebe gedacht und geredet wird"37— paßt genauso zu Kr ötenbrunnen. dessen

Gegenstand Liebesverlangen und -begehren von KUnstlerfiguren

ist. Sowohl die Schauspielerin ("Dauernd sage ich nur das, was andere schon gesagt haben." £ 36) als auch die Enttäuschte

("Ihr habt da eine gute Nummer drauf. Woher ist das? Bitte

leiht mir den Text. Ich würde gern das Ganze lesen." £ 55)—

Figuren aus Krötenbrunnen— weisen darauf hin, daß alles schon gesagt, in der Literatur bzw. Kunst thematisiert wurde, und nichts mehr wirklich neu ist. "Leben und Kunst, Realität und

Fiktion, das Leben als 'Plagiat' der Literatur, die Literatur als 'Plagiat' des Lebens— das sind die Pole, zwischen denen

Friederike Roth sich schreibend bewegt, (. . .) "3Ä und darin sind auch die Hauptfiguren in Krötenbrunnen gefangen, allesamt mit 'Kunst' verbunden— der Produzent, die Bildhauerin, die

Schauspielerin— suchen sie nach dem Ideal der Liebe im Leben und versuchen das abstrakte Konzept Liebe in ihrer Wirklich­ keit nachzukreieren bzw. zu leben. Aber genauso wie Weiblich- keits- und Männlichkeitsbilder konstruierte, nicht auf der

Wirklichkeit basierende, sondern lebensfremde Ideale sind, so trifft dies auch auf das Konzept der Liebe zu, denn dieses basiert gerade auf diese wirklichkeitsfremden konstruierten

Geschlechtermythen. "Liebe", wie wir sie im abstrakten Sinne kennen, ist nicht realisierbar, kann so nicht erfüllt werden,

37Zitiert in Heike Klapdor-Kops 120-121.

3®Mielke, "Friederike Roth" 13. 216

sondern muß gezwungenermaßen ein GefUhl der Mangelhaftigkeit

auslösen, und die Sehnsucht dieses zu stillen. Das Bild, das

sich die Geschlechter von der Liebe machen, ist lebens- und

glücksfeindlich und endet in Enttäuschung und Leiden, das ewig

gleiche Geschlechterverhältnis reproduzierend.39

Der Produzent, die Bildhauerin, die Schriftstellerin, der

Blondschopf und das Mädchen sind die Protagonistinnen in

diesem 'Liebesreigen': der Blondschopf dient als Projektions­

fläche, auf die sich das Liebesbegehren und die Sehnsucht des

Produzenten, der Bildhauerin und der Schauspielerin richten.

Der Blondschopf, den Roth als Ironisierung des dummen

'weiblichen' Blondchens40 beabsichtigte, erfüllt dem- bzw.

derjenigen das Begehren, die sich die Liebessehnsucht am

meisten kosten läßt. Liebe wird zum Tauschgeschäft, und die

Sehnsucht nach Liebe übersetzt sich als Sehnsucht danach

begehrt zu werden. Das Liebesobjekt hat die Funktion, das

Liebessubjekt sich selbst näher zu bringen, sich selbst zu

lieben, d. h. sich seiner eigenen Existenz zu versichern.

39In Krötenbrunnen behandelt Roth Frauen und homosexuelle Männer gleich, beide leiden und sind Opfer ihrer Sehnsüchte. In anderen Stücken sind es meistens nur Frauen, die der Liebe bzw. der Sehnsucht nachjagen. Die Männer, die in diesem Stück auftreten, unterscheiden sich in jeder Hinsicht von den Männern in Roths anderen Stücken: der Blondschopf, der Produzent, der Himmelsmaler und der Weggetauchte. Die ersten drei verbindet das homoerotische Begehren, und der letzte ist ein untergetauchter Terrorist (RAF ?). Alle vier widersetzen sich bis zu einem bestimmten Grad mit ihrem Handeln gegen das patriarchale System. Zugleich gelingt die Abkapselung nicht wirklich.

B o e d e r 44, 217

Wonach die Bildhauerin und die Schriftstellerin sich sehnen,

ist daß der Blondschopf ihr Begehren wie ein Spiegel mühelose

reflektiert:

DIE BILDHAUERIN (...) Aber du weißt doch: wer liebt, der wartet halt immer auf irgendwie irgend etwas; ich weiß auch nicht auf was. Der Blondschopf schweigt. Oder nicht? DER BLONDSCHOPF Wenn du mich liebst, dann lieb mich doch einfach. Erwarte nicht dauernd, daß ich dir dankbar bin deswegen. DIE BILDHAUERIN Das erwarte ich nicht. Dankbarkeit, bei Gott, wäre das Letzte! DER BLONDSCHOPF Aber was willst du? Etwas erwartest du doch. Wie du mich ansiehst! Dauernd stehst du hinter mir, als müßte ich dir Trinkgeld geben, (ß 22)

Liebe wird als bloße Sehnsucht entlarvt, als das Verlangen

nach etwas, was in Bildern, in der Kunst aufs Vielfache

beschrieben aber nicht mehr erlebt werden kann, ohne daß der ganze kulturelle Ballast in dieser Liebessehnsucht gezwungen mitschwingt. Heike Klapdor-Kops drückt Roths Obsession mit der

Liebe treffend aus:

Als ob sie (die Liebe, RG) zeit-, geschichts- und bedingungslos wäre, als ob sie ein archaisches, stummes Wesen treibe mit den Männern und Frauen, erzwingt die Liebe Interpretationen, Bilder, Sprache, die sie und ihre Kraft fassen könnten. Wieviel Macht über den Lebensentwurf hat die Liebe, denn sie verdichtet die Empfindungen authentischer, einmaliger Gefühle und nährt die Gewißheit von der Einmaligkeit der eigenen individuellen Existenz. Doch auch hier fällt der Verdacht, etwas Angelesenes zu wünschen, etwas Gewünschtes zu spüren, etwas aus zweiter Hand für die eigene Phantasie zu halten, wie ein Schatten auf den Liebenden.41

Insofern zeigt sich darin auch die Trauer und Enttäuschung

4IKlapdor-Kops 121. über die Unfähigkeit zu einer Liebe und Sehnsucht, die

wirklich orginal ist, sondern immer nur das Abbild eines

Klischees bleibt. Der Blondschopf wird von einer Person zur

anderen weitergereicht, was nicht ganz freiwillig geschieht

("Er hatte auch die Hase voll von uns, der Arme. Wir wollen

alle immer einen Gegenwert." £ 57): Die Sehnsucht des

Produzenten, der Bildhauerin und der Schauspielerin bleibt

unerfüllt, weil der Blondschopf sie nicht erfüllen will bzw.

kann. Die Sehnsucht und Begierde der anderen ist für ihn ein

Geschäft, es finanziert ihm sein Leben— die Abhängigkeit

anderer von der Liebe gewährt ihm begrenzte Unabhängigkeit. Er

ist der bloße Körper, die Hülle, auf die Phantasien projeziert

werden können, aber die von ihm nicht zurückreflektiert

werden. Er personifiziert die Leere des Konzepts, an dem sich

aber trotzdem alle festhalten wie an einem "Schopf". Geht er weiter zum nächsten, dann ist es nicht der Verlust der Person,

unter dem sie leiden, "sondern die plötzliche Begegnung mit

der eigenen Sehnsucht nach etwas, das sie Liebe nennen und das

ein Bild ist."42 Der Blondschopf findet bei diesen drei

Figuren immer wieder dasselbe: es gibt weder Verführer noch

Verführte, Begehren und Liebe werden gleichgesetzt mit Leiden

und Illusion, die nicht realisierbar ist, da die Erwiderung des Begehrens ausbleibt. ("BLONDSCHOPF Ich habe mit jedem von euch gemacht, was jeder von euch von mir wollte." £ 49)

42Klapdor-Kops 124. 219

Der Blondschopf, schon sein Name setzt sich von den anderen ab, da er einen bestimmten Teil seines Äußeren beschreibt, wird wegen seiner Käuflichkeit und seines

Aussehens— er ist jung und schön— ausgesucht. (Liebesmythen basieren auf Jugend, Schönheit, genauso Naivität) Beides erlaubt es ihm seinen Status als Objekt der Begierde auszukosten und Distanz zu bewahren. Er ist wie ein

"dressierter” Hund, der nur macht, was man von ihm verlangt, aber nichts von sich alleine aus. (Blondschopf zur Bild­ hauerin: "Und noch viel mehr und noch viel mehr: du willst immer nur mehr. Aber was denn? Was?" g 23) Er ist wie ein kleines "Hündchen", das von einem Schoß in den nächsten hüpft und mit sich spielen läßt. Und wer immer sein Spielpartner ist, wird von den ändern beneidet: "DER PRODUZENT Hündchen sind Hündchen. Sie laufen weg, sie heben irgendwo ein Bein, sie schnüffeln ein bißchen. (...) Sie kommen wieder, wenn sie fressen wollen." (g 46) An ihn klammern sich diejenigen, die um jeden Preis die Sehnsucht nach Liebe brauchen, denn er verkörpert diese, er bietet sich an, und die Nachfrage nach

Liebe ist groß. Das Gequake der Kröten im Hintergrund verweist auf den gefühlslosen sexuellen Akt: "Den Kröten kommt es ja, wenn sie sich paaren, auf das Geschlecht und auf den Partner nicht an: sie klammern sich zur durablen Kopulation an allem fest, was sich bewegt, und wenn's ein Fisch ist oder nur ein 220

Stück Treibholz.1,43 Zur Liebe gehört das Leiden, eins kommt ohne das andere nicht aus, man möge nur an die ganzen

Dreigroschenromane denken, und gerade deshalb eignet sich der

Blondschopf, seine Rolle ist die des unbeteiligten Geliebten:

"Wäre der Blondschopf allerdings das liebesfähige Subjekt, das tatsächlich den Liebenden suchte, die Künstlerfiguren im

• Krötenbrunnen' würden den jungen Mann abweisen, (...) ”** denn ihr bedingungsloses Lieben kreiert diese Rolle, der Geliebte ist nur solange interessant, solange er sich nicht unterwirft und und von sich aus nicht begehrt:

DIE BILDHAUERIN (...) Er liebt mich nicht. Dabei gebe ich mir solche Mühe. DIE SCHAUSPIELERIN Das ist der Fehler. Himmel, Liebste, das weiß doch aber jedes Kind. Wenn du ihm zeigst, daß du ihn brauchst, dann läuft er weg. Wenn du ihn von dir jagst, wie einen Hund, kommt er zurück. DIE BILDHAUEREIN Ich will ihn nicht wie einen Hund be­ handeln. DIE SCHAUSPIELERIN Dann macht er dich zum Hund. Wirklich: das ist so einfach und so berechenbar. (K 37)

Die Schauspielerin scheint das Spiel zu kennen, zumindest theoretisch vermag sie das Machtspiel zu durchblicken. D. h. sie nimmt wahr, daß es in den Liebesspielen nur eine/n geben kann, der/die Regie führt. Aber sich selbst in dieser

Situation befindend, folgt sie ihren eigenen Ratschlägen nicht, auch sie wird abgewiesen und versucht dann mit allen

Mitteln den Blondschopf bei sich zu halten. Sie, die ständig

43Georg Hensel, "Der Frauen blonder Wanderpreis," Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.10.1984.

"Klapdor-Kops 127. 221 in Rollen verfällt, kann auch hier diese Rolle nicht abschtltteln, obwohl diese Rolle dem widerspricht, was sie theoretisch vertritt. Sie haben alle ihre Illusion von Liebe auf den Blondschopf projeziert und dieser realisiert diese

Illusion vorübergehend, dann paart er sich mit dem-

/derjenigen, die ihm mehr für die Realisierung der Träume bieten. Beide sind— der Liebende und der Geliebte— voneinander abhängig, denn einer setzt den anderen voraus.

Das hier beschriebene Machverhältnis ist ein komp­ liziertes, und zeigt sich als solches besonders durch das

Auftauchen des Mädchens, dessen Erscheinen alles auf den Kopf stellt, denn plötzlich wird der Geliebte (Blondschopf) zum

Liebenden: "BLONDSCHOPF (...) Um dich / wenn ich könnte / würde ich wickeln die Welt. / Für mich bist du nämlich ihr

Kern." (K 49) Dieser Beziehung wird genauso wie allen anderen von vornherein die Existenzbasis entzogen, denn es gibt für diese Liebe keinen Präsens: der Blondschopf spricht nur in hypothetischen Sätzen, er ist sich seiner Machtlosigkeit als

Liebender bewußt, vor allem da ihm das nötige Geld fehlt, das er mit dieser Rolle assoziiert. Außerdem hat er von der Liebe und dem Mädchen (und das Mädchen auch von ihm) ein ganz bestimmtes Bild. Das Bild des Geliebten (eine Rolle, die er nur zu oft spielte und zu kennen glaubt) hält ihn gefangen, deshalb vermag er nicht seine Imaginationen in Realität umzusetzen. "Er liebt überhaupt nicht aus Liebe" sondern wie das Mädchen erkennt, "(e)r streichelt jeden, von dem er was 222

für sich erwartet." (J£ 57) Sein Narzißmus macht es für ihn

unmöglich gleichzeitig Liebender und Geliebter zu sein, er

kann seine Gefühle nicht nach außen, auf eine andere Person

richten, er ist zu sehr von narzißtischem Begehren besessen.

Und es ist diese Selbstbezogenheit, die ihn so anziehend

macht. Die Bildhauerin faßt diese Selbstsucht zusammen: "Er

mag selbst die strahlende Sonne nur, weil sie ihm seine Haare

so kinderhell macht und seine Haut so allesversprechend

dunkelt. Die Frauen— ach ja, auch die Männer— fangen an, ihn

zu begehren; und das ist wirklich alles, was er will von den

Leuten." (K 54) Die anderen sind wie die Sonne für ihn, und

die Metapher, der sich paarenden Kröten, paßt daher genau auf

den Blondschopf, denn er paart sich mit jedem, der bereit ist,

ihn zu begehren, aber er ist nicht gewillt, dieses Begehren zu

erwidern:

DIE SCHAUSPIELERIN mit der ihr äußerst möglichen Einfachheit: Ich habe gedacht, so eine ganz normale Liebe wäre schön, hab ich gedacht, daß es in seinen Augen leuchten soll, wenn er mich ansieht, hab ich gewünscht, daß ich bloß einmal spüren könnte: einem tut meine Nähe gut. DIE BILDHAUERIN Dann fing er sogar an, sich damit abzu­ finden, daß man nicht alles haben kann. Es hat mir fast das Herz zerrissen. Ich wäre doch so gern, so gern wäre ich alles gewesen für ihn. (K 54)

Beide wünschen sich vom Blondschopf, was er auf das Mädchen

richtet. Aber auch zwischen dem Mädchen und dem Blondschopf

scheitert die "Liebe" schon aus Vorsicht, bevor sie überhaupt realisiert werden kann. Das Mädchen verbindet mit Liebe 223

Bedingungslosigkeit und Ausschließlichkeit,43 die ihr der

Blondschopf nicht geben kann, auch dies sind vorgefaßte

Klischees Uber Gefühle, die analysiert, interpretiert und

imaginierten Bildern zugeordnet werden.

DAS MÄDCHEN Ihr habt ihn mir so sehr verdorben. Sehr verloren: Und alles war Betrug von Anfang an. Jetzt will ich nur noch, daß er weiß, daß ich es weiß. Ach— eigentlich will ich nicht einmal das mehr. Pause Er hat mich so vorsichtig an der Schläfe berUhrt. Das schien zu reichen für fünf Leben— oder wieviel gibt man den Katzen. Ich sah mich schon in diesem Kleid: Gold auf Gold mit Gold bestickt, mit Gold umsäumt, darüber ein krauses Gold wieder mit Gold durchwirkt und mit einem gewissen Golde vermischt. (K 57-58)

Es ist die Geste, an die sich ihre ganze Hoffnung und Liebe

klammert, da sie einem Bild entspricht, das für sie Liebe

bedeutet, und eine Kette von Bildern auslöst. Das erwähnte

Kleid ist ein "wertvolles" Hochzeitskleid, ein aus Märchen

entliehenes Bild, das der Inbegriff von Liebe und Reichtum

(den Tauschwert implizierend) ist.

"Liebe" ist kein ideologiefreies Wort, das scheinbar essentielle Gefühle beschreibt, die nicht rational erfaßt werden können. Vielmehr entstammt das Konzept der "Liebe" und der "Gefühle" als intuitive und nicht rationale Fähigkeit patriarchalen Denk- und Handlungskategorien. Liebesgefühle kann man nicht gänzlich ohne Zusammenhang mit dem Verstand, dem Intellekt sehen. "Liebe" existiert nur noch in der Welt

45Georg Hensel, "Der Frauen blonder Wanderpreis. Friederike Roth: 'Krötenbrunnen'— Uraufführung in Köln," FAZ 24.10.1984. 224

der Sprache und der Bilder: sie ist ein sprachliches Konstrukt

und kann der Realität nicht mehr standhalten, genausowenig wie

das entworfene Konstrukt des Geliebten dem realen Hann. Die

Offenheit der Sprache der Roth-Figuren enthüllt mit Zynismus

die Probleme mit der Liebe, analysiert die Mechanismen nach

denen sie funktioniert, aber läßt die Figuren immer wieder

diesselben Fehlentscheidungen treffen. Veränderungen, sogar

Ausbrüche scheinen nicht möglich: Die Villa, der Garten des

Produzenten befindet sich irgendwo im warmen Süden, abseits

von der Welt ("Das ist ja ganz aus der Welt." £ 24), aber auch hier lösen sich nicht die Abhängigkeiten von der Welt: die

Bildhauerin hat einen Mann, der ihr die Anwesenheit

finanziert, die Schauspielerin schleppt ihre Rollen mit; die

Frauen gehen hier genauso an den gesellschaftlichen

Vorstellungen Uber Liebe zugrunde. Es sind die Bilder der perfekten Liebe und die hohen Erwartungen, die der

Realisierung im Wege stehen. Aber die Liebe scheint nur in der

Sprache zu existieren, findet auf der Sprachebene statt, was

Friederike Roth an diesem Thema so interessiert:

Für mich ist die Liebe, das Scheitern einer Liebe mein Hauptthema. Das hängt mit der Sprache zusammen. Hich interessiert das Entstehen von Sprachwelten, das Setzen von Sprachwelten, und da ist die Liebe eine der treibendsten Kräfte, um Sprachwelten zu erfinden. Natürlich sind es auch hier wieder klischierte Welten, aber was erfindet man nicht alles an Wörtern, wenn man verliebt ist. Was sagen sich Verliebte nicht für unmögliche Dinge.44

B o e d e r 46. In Krötenbrunnen geht es gerade darum, daß diese Sprachwelten

immer einseitig sind und daraus resultieren Frustrationen,

Eifersüchteleien und Leiden. Denn der Blondschopf nimmt an

dieser "Sprachwelt" nicht teil, er spricht nicht über Liebe,

äußert sich nicht verbal dazu, sondern läßt sich nur auf den

sexuellen Akt ein. Aber als Verliebter— in das Mädchen— teilt

er plötzlich diesen Sprachfluß, aber das Mädchen hält sich nun

zurück. "Die schlechtere Karte hat immer, der der liebt,"

(Bildhauerin in £ 23) und dies bewahrheitet sich jetzt auch

für den Blondschopf vis-ä-vis des Mädchens, denn sein plötzlicher Sprachfluß stößt auf taube Ohren, da sie ihn anders will; seine Vergangenheit, sein Gigolo-Dasein hat ihn

für sie verdorben. Sie ist zwar auch verliebt, aber nicht wirklich in den Blondschopf, denn je mehr sie Uber ihn erfährt, desto enttäuschter ist sie; sie ist genauso wie alle anderen "verliebt in die Liebe" und projeziert ihre Träume auf den Blondschopf. Der Blondschopf, der hier selbst verliebt ist

(Produzent zum Mädchen: "Dich, glaub ich, liebt er aus Liebe, wie du so sagst. Dich liebt er sozusagen ohne Absicht." £ 57) , reflektiert Gefühle, aber nicht die sie sich wünscht und umgekehrt. Die "Liebe" unterscheidet sich in dieser

Paarkonstellation darin von den anderen, daß es sich von außen gesehen hier um "Liebe zwischen den beiden" (£ 55) handelt, und wie ein Wunder betrachtet wird: "Der Liebe, wenn sie irgendwo passiert, kann man doch nichts als staunend Zusehen.

Oder?" (£ 55) Die Sehnsucht nach "ursprünglicher" Liebe, nach 226

der sich die Bildhauerin, Schauspielerin und der Produzent

verzehren, "nicht als sexuellem Akt, sondern als emotional-

zwischenmenschlicher Begegnung, sowie die Trauer Uber das

gleichzeitige Gefühl einer unwiderruflichen Unfähigkeit zu

einer derartigen Liebe" sehen sie in der Paarkonstellation

Blondschopf-Mädchen. Obwohl das Mädchen auch hohe anspruchs­

volle Forderungen an die Liebe stellt, konfrontiert sie die

anderen Figuren, indem sie deren Liebessehnsucht als ver­

zweifelte Angst vor dem Unbekannten enthüllt:

DAS MÄDCHEN [zur Bildhauerin] Sie haben gut reden - Sie - mit Ihren kühlen Fingern. (...) Ich sehe einen Glanz in Ihren müden Augen, wenn er auftaucht. Pause. zur Schauspielerin: Ach. Pause Wissen Sie was? Sagen Sie, was Sie wollen! Ich will Ihnen sagen und das sage ich Ihnen: Sie können mir alles erzählen, aber Sie wissen so wenig wie ich. Mit Alter hat das nichts zu tun. Ihnen blästs doch genauso Sehnsüchteleien im Kopf hin und herum nach, weiß ich nicht. Glück, überhaupt Glück rundherum. Mit Alter hat das nichts zu tun. DIE SCHAUSPIELERIN Das kann ich erklären ... DAS MÄDCHEN Ihr könnt alles erklären und habt keine Ahnung. Ihr erklärt und erklärt und habt dabei bloß Angst vor dem, was euch fremd ist. Mit Alter hat das nichts zu tun. (K 53-56)

Der dreifache Refrain "Mit dem Alter ..." bezieht sich darauf, daß wenn es um Liebe und Sehnsucht geht, das Alter und die

Erfahrungen keine Rolle spielen, als Mädchen weiß sie genauso viel bzw. wenig wie die älteren Figuren im Stück, weil diese immer wieder dasselbe wiederholen, aus Angst vor sich selbst und dem Alleinsein. Die Jugend und Schönheit des Blondschopfs sind nicht nebensächliche Attribute, sondern wesentlich für 227 die nostalgische Sehnsucht der Bildhauerin.

Der Weggetauchte, der Himmelsmaler, die Schrottfrau und die Erschöpfte stehen den anderen Figuren des Stückes gegenüber, und ihre Funktion kann nicht anderes als chaotisch bezeichnet werden. Sie leben am Rande der "Villagesellschaft" in den Büschen— außer die Erschöpfte— und kommentieren indirekt aber durchgehend die Verhältnisse der anderen. Obwohl diese Figuren sich von den anderen klar absetzen und von ihnen wie "Verlierer", die an der Welt zugrunde gingen, behandelt werden, scheinen diese ein klareres— negatives— Bild von dem zu haben, was sie umgibt. Besonders der Weggetauchte, der

Himmelsmaler und die Schrottfrau brechen durch ihre Auftritte die vorgespielte Harmonie, hinter der sich Eifersüchteleien und Mißtrauen verbergen.

Die Erschöpfte bildet in dieser Vierergruppe eine

Ausnahme, da sie sich in beiden Gruppen zu bewegen versteht, und sieht sich nur noch als Zuschauerin, " (i)ch bin erschöpft und will nichts mehr. Das macht mich erträglich." (£ 19) Das

Leben liegt hinter ihr, sie erwartet für sich nichts mehr, denn "(g)enaugenommen war alles Prügelei, das Gerenne um

Arbeit und das Gerenne nach Liebe." (K 19) Ihr einziges

Interesse gilt hier der Inszenierung der "Gartenwirklichkeit", indem sie durch die Hinzufügung ihrer Nichte— das Mädchen— , die Konstellation der Figuren verändert und mit Genuß zur außerhalb stehenden, kommentierenden Voyeurin wird, sich Über 228

die anderen, deren Leiden und Sehnsüchte amüsierend.47 Ihr

Zynismus und ihre gefühlslose Distanz verunsichert die anderen, da sie diese immer wieder auf deren Verhaftet-Sein in

Rollen aufmerksam macht. Das Leiden und die Sehnsucht nach

Liebe findet sie höchstens komisch und unterhaltend: "Ich finde, wir alle sind eher eine Operette." (£ 20) Jedes Glück, jede Liebe ist von kurzer Dauer, in jedem Anfang steckt schon das Ende, insofern gibt es keine Illusionen mehr. Die

Enttäuschte ist die eine Figur in Krötenbrunnen. die Roths

Grundsatz am offensten vertritt: "Mit der Liebe hängt das

Scheitern der Liebe zusammen, (...) wenn man einen Punkt erreicht hat, an dem man in die Liebe ihr Scheitern einbezieht und weiß, wenn die Liebe anfängt, ist ihr Ende auch schon mitgesetzt, dann sind es tödliche Spiele, die man treibt, wenn man sich verliebt."4* Für sie ist das ganze ein Spiel, in dem alle Rollen haben; und ihr Interesse gilt allein der Intrige, um Bewegung ins Spiel zu bringen. Das zeigt sich auch in ihrer

Beschreibung der Villengesellschaft gegenüber dem

Himmelsmaler:

DIE ERSCHÖPFTE (...) Wir sind eine lustige Gesellschaft. Für jeden gibt es Platz. Und ein offenes Ohr. Und Verständnis. Und Zuwendung.

47Georg Hensel dazu: "'Die Erschöpfte' scheint zu erschöpft, um sich selbst zu beteiligen. So bringt sie, als Stellvertreter in gewissermaßen, ihre junge, hübsche Nichte wie eine neue Kugel ins Spiel," FAZ 24.10.1984.

4*Roeder 46. 229

Und Liebe. Jeder ist da für jeden. (£ 28)

Nur ganz oberflächlich trifft dies zu, denn genaueres

Hinschauen ergibt genau das Gegenteil. Jeder interessiert sich nur dann für den nächsten, sollte dies von Belang für sich selbst sein, sonst herrscht völlige Gleichgültigkeit,

Rivalität (um das Lustobjekt) und Ablehnung vis-ä-vis den anderen, wie z. B. für den Weggetauchten, die Schrottfrau und den Himmelsmaler. Während man jene, die genauso um die Gunst des Blondschopfs konkurrieren, zu kontrollieren versucht, geschweige denn aus Kameraderie füreinander Verständnis zeigt, bzw. ein offenes Ohr hat.

Die Erschöpfte spielt die Rolle der Unbeteiligten, die die Gesellschaft des Produzenten sucht, weil sie wie er nicht allein sein kann. Für den Blondschopf, den "blonden

Nichtsnutz" zeigt sie bis zum Ende kein persönliches

Interesse, außer daß sie in ihm die ständig spielbereite

Marionette sieht. Aber am Ende ist sie an der Reihe und über die anderen sagt sie, "Sie werden alle vor einem erleuchteten

Fenster stehn. Heulend noch heute nacht." (£ 59) Das erleuchtete Fenster steht im Gegensatz zu den dunklen

Fenstern, die die Bedeutung von Alleinsein haben.

DIE ERSCHÖPFTE Irgendwann kommt er ... Pause wieder hierher. (...) Der ... Pause blonde Nichtsnutz. Und darauf will ich warten. DER PRODUZENT Liebe, du wartest, sag ist das Liebe. Pause. Ach ja: ich begreife. DIE ERSCHÖPFTE Was gibt es denn zu begreifen daran? (...) 230

Hier weht keine Luft mehr und nichts mehr bewegt sich, OstwestkonfÜktundNordsüdriß und ständig Gelächter und Schlaf oder Rausch. (£ 59-60)

Sie will Bewegung in die Gesellschaft bringen, die zum

Stillstand kam, und während sie wartet, und der Produzent sich

mit dem Blondschopf vergnügt, zerren "furios und aufgelöst"

die Bildhauerin und Schauspielerin "mit schrillem, spitzem

Geschrei" das Mädchen in Richtung des Blondschopfs und des

Produzenten. Das Stück endet, indem man nur noch den "Schrei"

des Mädchens hört— wahrscheinlich von hinten, ohne zu wissen,

was die Ursache für den Schrei ist.49 Da sie in die Richtung

des Produzenten und des Blondschops gehen, ist anzunehmen, daß

sie auf die beiden stoßen, der Schrei des Mädchens dem Bild

der beiden gilt. Die Erschöpfte hat keine Energie mehr für ihr

eigenes Leben, aber nimmt um so begeisterter als Intrigantin

teil, wodurch sie eine gängige Rolle aus Dramen mit

Liebeshandlungen Übernimmt, mit dem Unterschied, daß sie

keinen anderen Zweck verfolgt, als bloße Neugierde, wie sich

die anderen verhalten werden, bzw. wie durch das Auftreten

49Ulrich Schreiber deutet in seiner Rezension des Stückes der Kölner Uraufführung an, daß so wie die beiden Frauen das an Stricken festgemachte Mädchen über die Bühne zerren, dies vermuten läßt, daß sie die Konkurrentin "so zerreißen wie einst die Bakchen den Pentheus. In Umkehrung des Mythos bestrafen sie nicht den heimlichen Beobachter fremder Lust, sondern die Nutznießerin einer Lust, der sie selbst von fern zugeschaut hatten.” Der Schrei wir von ihm als Todesschrei des Mädchens interpretiert. "Nochmals: Paare und Passanten. Friederike Roths drittes Bühnenstück 'Krötenbrunnen' urauf- geführt," 25.10.1984; auch Gerhard Stadelmaier vermutet einen Mord: "In ihrem Stück Krötenbrunnen tötet (vielleicht) die Bildhauerin einen blonden Jungen." Stuttgarter Zeitung 24.10.1984. 231

einer zusätzlichen Person die Konstellation sich verändert.

Was die Schrottfrau, eine der Nebenfiguren, mit der

Erschöpften teilt, ist daß auch ihr jegliche Illusion fehlt

und daher in dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr

enttäuscht werden kann: "Wohin Sie sehen, was Sie auch hören:

Schrott Schrott Schrott." (K 34) Schrott bezieht sich für sie

auf alles, was man sieht und hört, also visuelle und

auditative Bilder, Metaphern und Symbole. Das Kind ohne After

ist für sie eine Metapher für den Zustand der Welt: "man muß

sich das vorstellen, dieses Kind kriegt seine eigene Scheiße nicht los," {K 36) übertragen auf den Menschen bedeutet dies, daß auch der Mensch mit allem, was er produziert leben muß, daß Kultur, Träume, Illusionen etc. letztendlich nichts als

Schrott sind, die das Leben verbauen und die Authentizität von allem, sei es Erlebnissen oder Gefühlen unterminieren.

Der Weggetauchte weist in seiner Kritik in eine ähnliche

Richtung, nämlich attackiert er die Kategorie des Rationalen, des Berechnenden und Logischen, das Handeln bestimmt: "Ich setze meinen Kopf durch. Alles am Ende, und die sitzen und schwitzen und stöhnen. Und haben Rechenmaschinen im Hirn. Ich hau meinen Kopf durch." (K 44) Die Rechenmaschinen deuten das festgefahrene, automatische Funktionieren an, das dem

Impulsiven im Wege steht, und den einzelnen zum gutfunk- tionierenden Mitglied einer verdorbenen Gesellschaft macht:

"zur Schauspielerin: Ich habe damals nur zu spät geschossen.

Wir hätten die Bank geknackt, hätte ich bloß den Mut gehabt. 232

Und die Bewegung braucht Geld. (...) Ihr könnt vielleicht noch gut, was alle immer können. Aber ihr habt keinen Kopf mehr, der euch gehört. Eure Köpfe sind gestört. (£ 44) Der aus der

Terroristen-Szene Wegtauchte, der an einem Auftrag Geschei­ terte, weil sein Kopf zu gut funktionierte, wiederholt nun diese Vorwürfe während des ganzen Stückes hindurch und macht die Gesellschaft für sein Scheitern verantwortlich.

Auch der Himmelsmaler ist einer von diesen Nebenfiguren, die nicht mehr funktionieren kann. Er interessiert sich zwar für den Blondschopf doch genauso wie mit dem Malen fehlt jeder

Ansatz zur Initiative. Seinen Willen zu etwas unterdrückt er von vornherein, da er die Unmöglichkeit der Durchführung sieht, da alles schon irgendwo bzw. irgendwie sich ereignete:

Alles erinnert ihn an etwas, und deshalb kann man "das alles nicht mehr malen":

DER HIMMELSMALER Eigenartig Es ist so eigenartig: die brennende Sonne und dieses seltsame Paar. Wenn man das alles malen könnte. Aber wie soll man das alles malen? (...) Aber wie, aber wie? Diese ganze längst angebahnte Tragödie - ja wirklich, sehen Sie denn nicht, daß hier, hier unter Ihnen, eine Tragödie liegt? (K 20)

Ein Moment ist nicht mehr darstellbar, denn im Anfang ist schon das Ende impliziert. Der blaue Himmel ist endlos bzw. immer gleich und kann noch gemalt werden, während die "Liebe" zwar stets diesselbe aber dennoch ein Prozeß, bzw. die

Variation eines Prozeßes ist, und deshalb nicht im Bild festgehalten werden kann. 233

Ganz am Ende bilden der Himmelsmaler, die Schrottfrau und der Weggetauchte einen Chor:

DER HIMMELSMALER Das alles erinnert mich. Wenn man das alles malen könnte. DIE SCHROTTFRAU Schrott alles nur Schrott. DER WEGGETAUCHTE Ich habe nur zu spät geschossen. Sie wiederholen sich und wiederholen sich, und sich wiederholend reden sie ineinander und bilden einen ebenso langweiligen wie grausigen Chor. (£ 60-61)

Gemeinsam kommentieren sie in den ihnen eigenen Phrasen die letzte Szene, sich wiederholend, gleichzeitig erkennend und monoton. Das vorausprogrammierte Leiden wird durch den Schrei des Mädchens kundgetan, und darin zeigt sich auch die ständige

Wiederholung (Tragödie) derselben Liebeserlebnisse, der sich wiederholende, langweilige und grausige Chor spiegelt dieses

Dilemma des ewig gleichen wider. Diese Nebenfiguren unterscheiden sich von den Hauptfiguren auch darin, daß sie am

Liebesdiskurs nicht teilnehmen, sich jenseits davon befinden, andere Obsessionen zu ihrem Lebensinhalt gemacht haben, die sie als Außenseiter brandmarken. Ihr Blick richtet sich nach außen im Gegensatz zu den Nebenfiguren, die Uber die "Liebe" sich einzig mit sich selbst beschäftigen, nur durch sie

Existenzberechtigung zu haben scheinen.

Frauen und Kultur

In ihren letzten beiden Stücken Das Ganze ein Stück

(1986) und Erben und Sterben (1992) thematisiert Friederike

Roth den Kulturbetrieb, stellt die Funktion der Kunst als Ort 234

der Kommuniktation und Deutung der Welt in Frage. Kunst und

Realität werden dargestellt als ineinander übergehend und so

sehr verkettet, daß man nicht mehr weiß, wo das eine aufhört

und das andere beginnt. Dies trifft vor allem für Das Ganze

ein Stück zu, während es in Erben und Sterben um eine

Frauengruppe geht, die zusammen ein 'Universalkunststück'

schaffen will.

Das Thema Kunst, Kultur und Tradition wirft Roth in ihrem

Werk immer wieder auf, das Verhältnis von Realität und Fiktion

von Kunst und Leben hat sie auch in ihrem fiktiv-theoretischen

Aufsatz "Der Figurenfinder1,50 behandelt. Auch in den früheren

Stücken war dieses Thema schon von Belang, jedoch konzentrierte sich ihr Interesse mehr darauf, wie Kunst und

Kultur das Leben vorbestimmen, besonders die Rollen und

Weiblichkeitsbilder, denen Frauen zu entsprechen versuchen, die ihr Leben so entscheidet beeinflussen und vorschreiben.

Das Ganz& ein Stück

Wie schon bei Die einzige Geschichte kann man auch bei

Das Ganze ein Stück von keiner logisch fortlaufenden

Geschichte oder einem nacherzählbaren Plot sprechen, es handelt sich nur mehr um lose miteinander verbundene Szenen.

Das Ganze ein Stück hat Roth im Rahmen der Inszenierung am

MFürs Theater Schreiben. Über zeitgenössische deutschsprachige Autorinnen. 57-59. 235

Bremer Concordia-Theater mit Günter Kramer, der schon die

Inszenierung von Ritt auf die Wartburg in Stuttgart und die

Uraufführung von Die einzige Geschichte in Bremen leitete,

f ertiggestel lt .51

Trotz der vielen scheinbar losen Einzelszenen gibt es in

Das Ganze ein Stück eine Struktur, die das stück vorerst in

drei größere Teile zerlegt: Vorspiele (1., 2. und 3.

Vorspiel), Zwischenstücke (1, und 2.) und das "Kulturfest"

(das Hauptstück) .S2 Die Szenenfolge verbindet kein logischer

Realitätsablauf als solcher, gemeinsam sind den Szenen

Figuren, wie DIE FRAU, DER MANN, DER GESICHTSLOSE, die durch

die zeitgeraffte Erdgeschichte wandeln; jedoch sind diese

keine naturalistischen Figuren, die eine Handlung mit Anfang,

Höhepunkt und Schluß vorantreiben würden, vielmehr sind sie

Textkonstrukte, denen Roth ihrem Geschlecht und ihrer Rolle

gemäß Aussagen zuordnet; Aussagen, die sie sich aus dem

gesamten Arsenal von Redewendungen aussucht und gegeneinander montiert.53 Es geht ihr dabei, um das Zeigen der Wiederholung

51Rieta Mielke, "Sprachstücke" 66.

52Renate Becker hat die Struktur des Stückes so beschrieben: 1. Vorspiel: Eros entfesselt = Polygamie; 2. Vorspiel: Eros in Ketten = Monogamie; 3. Vorspiel: Genese einer Liebesbeziehung (kleines Mädchen und Vater/Mann/Gott); l. Zwischenstück: Initiation = Aufgabe des eigenen Entwurfs und Anpassung; 2. Zwischenstück: Sich-Fügen in die gesellschaftlich zugeteilte (weibliche) Rolle und deren Kritik; Kulturfest: Das Unbehagen in der Kultur = Stillstand = Tod. In: "Liebe ist Mode" 234.

HRoth: "Alle Figuren sind bei mir eine merkwürdige Mischform von realen und irrealen Figuren. Das liegt daran, daß ich im Theater Theater sehen möchte, nicht Wirklichkeit. 236 des immer Gleichen, des von Grund auf bestehenden Widerspruchs

zwischen Hann und Frau, der durch den Kulturwust aufrechter­ halten wird. Der Text, die Sprache avancieren zum Mittelpunkt des Stückes, denn die Sprache wird in Szene gesetzt, ein

Sprachbild zieht ein anderes mit sich, und es ist die Spannung zwischen der Sprachebene einerseits und andererseits der daraus geschaffenen "Handlungsebene", die zum formalen

Grundprinzip des StUckes werden.

Die Vorspiele setzen die Stimmung, die auch noch das

"Kulturfest" unterschwellig im Bann hält— darauf verweist der

Nebentext— aber die äußerlich durch das Kultur-Make-up einer

Metamorphose unterlag. Bei den Vorspielen handelt es sich um tableuartige Szenen, da es darum geht eine Stimmung, einen

Zustand zu zeigen, der seit ewig sich aufrechterhält und wiederholt, nur unter anderen Vorzeichen: Kultur, Tradition,

Religion etc. So beginnt das Stück mit einer Beschreibung der

Vorzeit, mit Text, der nicht einfach darstellbar ist.54 Es ist eine Raffung der Menschheitsgeschichte, so wie sie uns vermittelt wurde, voller Aktion und Unterwerfung:

Die Kneipe auf dem Theater darf nicht die Kneipe sein, in die ich im Anschluß an das Theater gehe. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich Figuren weder ganz real noch irreal mache. Ich möchte weder ein reines Traumstück noch die platte Wirklichkeit." Roeder 44.

MRoth dazu: "In 'Das Ganze ein Stück' sind es Landschaften ohne Menschen, die ganz untheatralisch sind. Man muß sich etwas einfallen lassen, ob und wie man sie realisert." (Roeder 48). Der Text und die Darstellbarkeit des Textes wird zu einer neuen Herausforderung an das Theater; überhaupt ist das oft in ihren Nebentexten so, sie sind nicht einfach Beschreibungen, sondern Reflexionen. 237

Zuerst vielleicht zum Beispiel die Erde, wie sie einst jung war und ohne Menschen. fDGeS 8)

Später zum Beispiel dann eine Landschaft, die ein Geschenk der Eiszeit sei (bringt man uns später bei). Damals fuhr der Fischer im Einbaum am See setzte der Mensch der Vorzeit die Tat und erschlug mit List und Gewalt das Untier, das Fremde. Graues bis heute graues Geheimnis. fDGeS 9)

Der Kampf gegen das "Fremde", die Vernichtung desselben verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der

Menschheitsgeschichte: das Fremde, das ursprünglich noch im

Untier bekämpft wurde, wird zum 'anderen Geschlecht', der

Frau— der Zustand dieses Kampfes wird in einem anderen Tableau beschrieben:

Lautes Geschrei, Gelärm, Geheul und Gelächter.

Ein Durcheinandergewirbel von Menschen: alten jungen dicken dünnen Männern, Frauen und Kindern; lachend, weinend, kreischend— oder ins Gebet versunken.

Mütter sitzen im Nacken von Töchtern, Söhne im Nacken der Väter, Greisinnen klammern sich an Greise, die nach kleinen Mädchen grapschen; sie werfen dabei jungen Männern sehnsüchtige Blicke zu. Eine junge Frau hängt sich ans Bein eines Mannes, ängstlich gänslige junge Mädchen werfen sich älteren Herren an die Brust: ein einziges Abschüttelanklammergezappel.

Unter Geheul, Gekreisch, Gelächter, Gejammer schwingen Mütter sich von Töchtern umklammern Söhne Mutterhälse umwürgen die Kehlen junger Frauen, die ihnen den Fuß auf die Brust setzen, während alte Männer sich auf Kinder oder Greisinnen legen. Herrische Behauptungsgesten, demütige Unterwerfungen. Würgegriffe, Haargezerre. Wehgeschrei und Gelächter. fDGES 12)

Dieses "Abschüttelanklammergezappel" faßt den Kern, beschreibt ziemlich genau, wie Roth das Verhältnis zwischen den 238

Geschlechtern sieht, und weshalb Liebe unmöglich ist. Es sind

die Frauen, die sich anklammern und an Männern festhalten,

während die Männer sich von den Frauen loslösen wollen, aber

sie auch wieder "erwürgen", d. h. einschränken, ihnen nicht

genug Luft zum Atmen lassen. Mütter und Väter setzen Beispiele

für Töchter und Söhne, und so geht es unendlich weiter, mit

dem Unterschied, daß die Mütter im Leben der Töchter ihre

eigenen Erfahrung wiedererkennen, ihr Leben nochmals vor sich

ablaufen sehen, und der Tochter nur zum Selbstmord raten

können, um sie davor zu schützen, so zu werden wie sie: "DIE

MUTTER Sieh mich an. Sieh mich genau an. Töte dich. Oder:

Werde wie ich." fDGeS 74) Während die Söhne über die Väter

hinauswachsen, ihnen "im Nacken sitzen", denn aufgrund ihrer

Geschlechtszugehörigkeit sind sie alles in einem: Subjekt und

Motor, Nachfolger und ideologische Repräsentanten der Kultur­

geschichte .

Das Tableau zeigt ein einziges Wirrwarr unterschiedlicher

Beziehungen, die durch ein ungleiches auf Alter (Greis/junge

Mädchen), Geschlecht (Mann/Frau) und Familienbande {Mutter/

Sohn) basierendes Machverhältnis geregelt werden. Aus diesem

Tableau des "Körpergewabergewirrs" der Beziehungen und

Einflüße lösen sich dann ein Mann und eine Frau: "Sie gehen aufeinander zu, umarmen sich, küssen sich, versinken inein­ ander und werden für den Blitz einer Sekunde zum Bild des ineinander verschlungenen, ewig in Liebe versunkenen Paares."

fDGeS 12) Um sich dann zu trennen, zu streiten und für den Rest des Stückes nicht mehr zu vereinen, denn wie DIE FRAU erkannte "'Ach', werde ich sagen, 'ach, in unserer glück­ seligen Blindheit war doch immer ein Riß'." (DGeS 11) Die

Illusion der ewigen Liebe wird nur angedeutet, sekundenweise, denn sie bleibt Illusion. Das Jahrhunderte zusammenraffende

Zeitmaß gibt dem umschlungenen Paar "den Blitz einer Sekunde", während die Tücken der Liebe und des Machtkampfes Gegenstand vieler Szenen sind, die Roth in "der lächerlichen

Choreographie aus Anklammern Abschütteln, Beherrschung und

Unterwerfung" spiegelt und ins vielfache verdoppelt. Auf der

Ebene der Sprache wird das Immergleiche durch die Leere der

Sprachfloskeln weitergegeben, und das Geplapper des kleinen

Mädchens, das Fragen sinnlos aneinanderreiht, verweist einerseits auf das Potential der Sprache, Dinge zu benennen, die vielfache Bedeutung von Wörtern, jeweils abhängig vom

Kontext: z. B. "Brauner": "(...) da vorne das Braune bist du weil nämlich der Abel sagt immer dein Vater das war ein

Brauner sagt meine Mutter mein Brauner mein Guter hat die Oma gesagt das war mir der Liebste im Stall (...)." (DGeS 27)

"Brauner" einmal als Hinweis auf die Zugehörigkeit des Vaters zu den Nazionalsozialisten und dann als Pferd im Stall.

Zugleich verhindert dieses leichtfertige Geplapper an die

Möglichkeit der Sprache, Realität zu erfassen, zu glauben, stellt sie vielmehr in Frage. Schließlich ist es die Sprache, die durch ihre Vieldeutigkeit zum einen, aber dann auch durch die Leere der Floskeln, die vor Konfrontationen bewahren, die 240

Kommunikation unmöglich macht, denn Phrasen folgen auf andere

Phrasen, es ist schon immer ein im voraus festgesetztes und

eingespieltes Sprachritual. ln den Vorspielen werden also

Fragen aufgeworfen und Anspielungen gemacht, die im

"Kulturfest" konkret gespiegelt werden.

Die beiden Zwischenstücke liegen eingerahmt zwischen den

Vorspielen und dem "Kulturfest”. Ihnen gebührt eine besondere

Stellung im "Ganzen", da hier Frauen zu Wort kommen, die in

der patriarchalischen Kulturgeschichte in fixe Positionen

gedrängt und auf gewiße Funktionen reduziert wurden. In einer

Kultur und Gesellschaft, in der "Frau" nur in Relation zu

"Mann" gesehen und Weiblichkeit in Relation zu Männlichkeit

festgelegt wird, muß das Verhältnis gezwungenermaßen gestört

sein. In einer Kultur, in der Gesellschaftlichkeit den Maximen

der Männlichkeit enspricht, und Frauen der Eintritt in diese männliche Gesellschaft erschwert bzw. nur durch die Hintertür

ermöglicht wird, bleiben Frauen notgedrungen das

"Andere/Fremde", das dem Mann untertan bleiben mußte.

Im 1. Zwischenstück fängt DIE FRAU an— auch in Das Ganze

ein Stück verwendet Roth nur generische Bezeichnungen für ihre

Figuren— vis-ä-vis dem "gesichtlosen Menschen", der sie "an wen? an was?" erinnert, in halbfertigen Sätzen wehmütig in

"Erinnerungsresten" kramend zu sprechen. Der Gesichtslose

erhält "unter ihrem Blick wechselnde Gesichter: Großvater-,

Vater-, Liebhabergesichter: schließlich das Gesicht der Frau."

(DGeS 35) Männergesichter also, in variierter Gestalt, die der 241

Frau als "Mächtige" in einem hierarchischen Schema gegentibertreten, und das Bild, das die Frau von sich hat, entschieden beeinflußen, ihr Image, dem sie zu entsprechen versucht und das ihr fremd, da fremdbestimmt ist, entwerfen.

Im 1. Zwischenstück wird die Frau in Beziehung und

Abhängigkeit vom Mann gezeigt, während das zweite Zwischen­ stück Gruppen von Frauen (CHOR DER FRAUEN) zeigt, sie vis-ä- vis von drei Sphinxen (Sphinx als Symbol des Konglomerats von

Frau und Tier, Frau und Animalische, Frau und Natur) stellt; und alles ereignet sich in der kargen Wüste, was im krassen

Kontrast zur üppigen Urwelt steht, die sich der Mensch (=

Mann) schon untertan gemacht hat.

Eine Gruppe von Frauen kommt— wie vom Himmel gefallen— in die Wüste. Die Frauen wirken gelegentlich wie aus alten vergangenen Zeiten, manchmal wie aus anderen, vielleicht erträumten, verboten Welten, gleichzeitig irritierend gegenwärtig. (DGeS 41-42)

Die Frauen sind gleichzeitig in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so wie die Sphinxe, d. h. seit Jahrhunderten immer dasselbe ohne wirkliche Veränderung: "EINE SPHINX: Ich liege hier schon immer. // Erinnere mich und schaue voraus. //

Aus der Erinnerung les ich die Zukunft." (DGeS 43) Der Chor und die einzelnen Frauen beklagen sich über die "Wir-machen- die-Welt-neu-Geschichten", über ihre "verschmähte Liebe", ihr

"Hoffen", "Locken" und "Werben", kurzum über ein Hauptmotiv

Roths, den "Frau-Mann-Gegensatz"; und dies im Vordergrund 242

eines Hochzeitzuges, was in grobem Kontrast steht.55 Sogar in

der Wüste, abgekapselt vom männlichen Kontext, steht der Mann

und die Unmöglichkeit einer Beziehung zu ihm im Mittelpunkt

der Klagen. Und dieser Gegensatz, so wie er in der Literatur-

und Kulturgeschichte von Männern kreiert und immerfort

reproduziert wurde, ist Gegenstand der Kulturdiskussion, an

der sich nur Frauen beteiligen:

Entschlossen und geschäftig begehen sich in Seide, Leder, Samt, kindhaft verschleift und verrilscht, oder streng in grau, sportlich, oder elegant gewandete, ausgesucht beschuhte, kostbar duftende Frauen ans Werk— an die Konferenztische im Sand. (...) 1. FRAU Zum Thema: Bild, Funktion und Rolle der Frau in unserer gegenwärtigen Kultur. 3. FRAU Ausgehend von Bild, Funktion und Rolle der Frau in Beruf und Alltag. 1. FRAU Speziell aber wollen wir heute nur uns beschränken auf Frau und Kultur. (DGeS 44-45)

Sicherlich, man kann nicht umhin diese Szene, wie Wend Kässens es ausdrückt, als eine "Ironisierung gängiger Diskussions­ runden und Schuldzuweisungen" zu sehen,56 zumal den Anfang der

Szene, die Beschreibung der Frauen, sowie das leere Sprach- gehabe. Bei den Frauen handelt es sich offensichtlich um

Akademikerinnen, die sich in einem männlich dominierten Feld bewähren, sich dem Kleidungscode der Akademie im ent­

55Roth: "Menschen wissen aus der Geschichte, was Kriege bedeuten, sie machen sie dennoch wieder, so meine ich auch, zwei Leute wissen, was Liebe bedeutet, was Trennung bedeutet, und sie machen es wieder. Das hat etwas gleichzeitig Verzweifeltes und Hoffnungsvolles." Roeder 47.

“Wend Kässens, "Aus dem Leben der Monster," Deutsches Allaemelnses Sonntaasblatt 16.2.1986. 243 sprechenden femininen Stil anpassen, und die (männliche)

Kultur und das Bild, die Funktion und Rolle der Frau darin diskutieren. Die Ironie besteht darin, daß die Frauen über

Frau und Kultur reden wollen, obwohl man immer nur über die

Frau in der Kultur reden kann, da die Frau nur als Produkt des

Mannes in der Kultur existiert und nicht an der

Kulturproduktion beteiligt ist. Ausgehend vom Bild, der

Funktion und den Rollen der Frauen in der Kultur wird dann ihr

Bild etc. in ihrem Alltag und Beruf geprägt und nicht umgek e h r t .

Jedoch bricht sie diese Ironisierung, denn indem die 4.

Frau gleich eine Antwort auf diese Fragestellung parat hat, deutet sie die tiberflüßigkeit dieser Diskussion an, da die

Antworten klar auf der Hand liegen, da sich Frauen durch diese

Diskussion nur weiterhin mit der Kunst und Literatur von

Männern beschäftigen, obwohl der Zweck dieser Kultur klar ist:

4. FRAU herablassend, trotzig und fast angewidert Erstens: Das Bild der Frauen ist von Männern längst fix und fertig gemacht. Zweitens: Die Funktion der Frau besteht neuerdings im Bewundern der gewaltig erzählten Untergangsvisionen der Männer, die aber noch am Rand ihres so blumig beschworenen Abgrunds vital genug bleiben, um die eine oder andere Frau zu besteigen. (...) Seniles Schadronieren über Gott und Welt und Abgrund, Liebe, Tod und Weibchen im Regen— nennen sie meisterhaftes Erzählen. Und schließlich drittens: die Rolle der Frau besteht darin, den Künstler zu verehren, seine Liebe zu begehren, seine Phantasie zu bewundern, seine Verzweiflung zu lieben: ihn aber nie— zu besiegen. Das wars. Für mich ist dieses Thema abgehakt. fDGeS 45-46) 244

Damit endet diese Szene und dem ganzen folgt der Kommentar einer Sphinx ("Ich weiß oft nicht mehr, wo ich bin. // Ich bin traurig und mehr, als ich sagen kann, gelangweilt. // Ich weiß nicht mehr, woran ich bin. DGeS 47), deren Einsicht, daß alles nur um den Hann sich dreht, sich in Beziehung zu ihm setzt, auch Ansatz für die Kulturkritik ist. Dieser Szene wird eine

Gruppe Frauen, "blonde vollbusige Idole, Straßenmädchen, in

Wermut verlorene Jammergestalten, verhuscht vom Künstlerdasein träumende Dämchen, kokette Weibchen, anschmiegsame Mädchen" gegenübergestellt, alles was die "Herren der Kultur" sich wünschen, und doch gelingt es der FRAU nicht, den MANN zu verführen, wenn er getrieben und gezielt etwas gesellschaftlich Wichtigeres verfolgt. Besonders auf den in dieser Szene angesprochenen Widerspruch paßt Renate Beckers sehr prägnante Beschreibung: "Man sieht Mann und Frau in einem unterschiedlichen Verhältnis zur Zeit stehend: Den Mann drängt und drückt die Zeit, sie hingegen verschläft sie, so als hätte sie alle Zeit auf der Welt."57

Die Frauen am Konferenztisch im Sand, "sagen wir: törichten? sagen wir: klugen? sagen wir: Damen," "sinnen und planen" Uber die Probleme der Welt, indem sie sich in

Opposition zu dem, was die Männer tun, stellen. Dadurch daß sie im Nebentext "Damen" genannt werden, stellt sie das mit den "Herren" der Kultur gleich. Die Bezeichnungen "Damen" und

"Herren" haben eindeutig einen negativ ideologisierten

57Becker 237. 245

Beigeschmack, denn was die "Damen" machen, ist letztendlich

genauso verfahren, wie alles was die "Herren" machen und

verläuft im "Sand".

Diese Zwischenstücke, die sich sozusagen auf die FRAU und

ihren Platz in der Kultur vis-ä-vis dem Hann konzentrieren,

bieten einen Ausgangspunkt dafür, zu zeigen, wie sehr

verflochten Kulturgeschichte und Wirklichkeit sind, ineinander

übergehen und sich ständig, unaufhörlich gegenseitig unter

denselben Vorzeichen reproduzieren. sie fungieren als

Positionbestimmungen, als Ausgangspunkte für Reflexionen zum

Thema Liebe, der Liebe zwischen den Geschlechtern, der Liebe

in Gestalt von Kultur und Gesellschaft. DIE SPHINX:

Ich habe keine Chance mehr. Ich bin hier und will weg. Aber wohin? Man kann nicht wie man will und noch weniger wie man sollte. Ich habe hier mehr ausgehalten als ich sagen kann. Ich fühle mich elend vor Kummer und vor Langeweile. Meine Geduld ist am Ende. Ich bleibe hier. Ich liege hier schon immer. Ach— ich will doch noch sehn, wie alles weitergeht und schlimmer wird. (DGeS 52)

Die Gefühlslage der Sphinx, die Ausweglosigkeit und

Festgefahrenheit ihrer Situation steht stellvertretend für die

Frau, die Wüste steht für ihre Kultur, die praktisch nicht existent ist. Das patriarchalische Subjekt, das die Kultur produziert, kennt neben sich nur das Objekt, die Natur, mit der die Frau gleich gesetzt wird, und damit aus dem kulturellen EntwicklungsprozeS ausgeschlossen wird. Das

"Kulturfest" zeigt den bis an die Spitze getriebenen 246 oberflächlichen Kulturbetrieb, dem Substanz abgeht und der nur mehr zu "Schachtel-in-der-Schachtel" Konstruktionen fähig ist.

Das "Kulturfest" und die ganze "Kulturgesellschaft" stehen abwechselnd im Vorder- und Hintergrund der zweiten

Hälfte von Das Ganze ein Stück. Die Protagonisten sind die

Frau und der Hann, die sich vor dem Hintergrund des

"Kultur festes'1 begegnen, und sie "vollziehen die ausschnitthaft veranschaulichten Stationen von Annäherung und

Abkehr, Nähe und Distanz;"5® Stationen also, in denen die

Unmöglichkeit der Liebe sich immerzu bestätigt, da "Mann und

Frau"— wie es Renate Neumann präzise formuliert— "fest eingewachsen in ein Rollenkorsett dargestellt" werden, d. h. beide sind in ihren Geschlechtsrollen fest eingeschlossen, da das automatische und mechanische Verhalten sie voneinander entfernt:

Der Mann ist als Vertreter des zweifelhaften Kunst- und Kulturbetriebs im Machertum befangen wie die Frau in einer angewiesenen, von Liebesschwärmerei getragenen Haltung, in der die Liebe zum Selbstzweck wird, um die Löcher und Untiefen zwischen erlebter Enttäuschung und aktueller Leere zu stopfen. Das Dilemma zwischen beiden wird als Mangelzustand der heutigen Kultur ausgewiesen, in der die Liebe im Theater und die Kunst im Kunstgeschäft leer laufen.59

Obwohl der Mann und die Frau des "Kulturfestes" im ganzen

StUck die am individuell gezeichnetesten Figuren sind, täuscht diese Annahme, denn sie spielen dieselben Rollen weiter, die

58Mielke, "Sprachstücke" 67.

59Renate Neuman, "KOMMENTAR ZUR BREMER AUFFÜHRUNG VON 'DAS GANZE EIN STÜCK'" 68. 247

sie schon im Vorspiel hatten, der Mann ("Wir sollten absehen

von uns.") immer in Opposition zur Frau: "Ich denk nicht

daran. Ich bin ein lebendiger Mensch und sinke jedem, jedem,

der meine Lebendigkeit mir nur warm hält, in die Arme." fDGeS

11) Dieser grundsätzliche Unterschied im Denken bedingt die

Unmöglichkeit der Nähe der Geschlechter, was im StUck auch

noch durch fünf Szenen zwischen Mann und Frau veranschaulicht wird: Diese Szenen zeigen eine karge, kahle Umgebung mit Berg, der Mann und die Frau anfangs noch weit voneinander entfernt aber im Laufe der Szenen beim Aufstieg auf den Berg sich nähernd, doch je näher sie sich kommen, desto anstrengender wird das Unternehmen:

Eine kahle Gegend.

Mitten drin, wie aus dem Boden gewachsen, ein Berg, der an eine Pyramide erinnert, sanft ansteigend von unten, dem hohen Gipfel zu steiler werdend. Auf dem Gipfel scheint etwas zu leuchten. Der Mann besteigt den Berg von der einen, die Frau von der anderen Seite. Beide scheinen unten, am Fuß des Berges, schon am Rand der Erschöpfung zu sein. Sie setzen sich immer wieder, ruhen sich aus und reden dabei miteinander, als wären sie sich ganz nahe, dabei liegt doch ein Berg zwischen ihnen. Jeder schleppt einen Sack voller Briefe und Zettel mit sich. Immer wieder lesen sie in den Briefen, auf den Zetteln, was sie längst auswendig wissen. Es schneit ein wenig zu Beginn, später fällt der Schnee immer dichter. Als sie sich dem seltsamen Leuchten auf dem Gipfel zu nähern scheinen, hüllt ein Schneesturm sie ein. Das seltsame Leuchten, der Mann, die Frau und all ihre Zettel und Briefe— alles liegt dann unterm Schnee. fDGeS 62)

Diese Szenenanweisung ist typisch für Roth, da sie nicht nur sehr detailliert, sondern vor allem ziemlich klar in Bezug auf die gewünschte Interpretation ist. Was sie hier beschreibt 248

wird erst in den verbleibenden "Berg-Szenen” dargestellt. Das

die Sicht versperrende Schneetreiben, das automatisch auch mit

Kälte assoziiert wird, steht gleichzeitig für die Nähe und

Distanz zwischen den Geschlechtern, die Zettel und Briefe, aus

denen sie lesen, die sie auswendig kennen, symbolisieren die

Sprache der Liebe vielleicht, die Klischees, die echte Gefühle

normieren.

Die erste dieser Szenen— das Paar ist noch weit

voneinander getrennt— leitet das Stück im l. Vorspiel ein

(obwohl sie nicht der absolute Anfang ist, der Szene geht ein

epischer Nebentext voraus, der den "Anfang der Zeiten"

beschreibt), während die anderen vier über das "Kulturfest" verteilt sind, wobei die letzte dieser Szenen— die noch näher

zu besprechen bleibt— zugleich das Ende des ganzen Stückes darstellt. Diese meistens sehr kurzen aber trotzdem prägnanten

Szenen stehen im Kontrast zu denen des "Kulturfests", in denen vor allem der Mann äußerst wortreich und geschwätzig,

fortdauernd über seine Dienste für und seine Rolle in der

Kultur prahlt, währenddem die Frau zur aufmerksamen, ihn in vieler Hinsicht unterstützenden Zuhörerin wird. In den "kahlen

Bergszenen" dagegen sind die Texte der beiden Rollen eher ausgeglichen, d. h. trotz der Zuteilung auf das Geschlecht, scheinen beide auf der Suche nach etwas Gemeinsamem, nach einer anderen möglichen Nähe. Der Mann und die Frau aus diesen

Szenen sind derselbe Mann und dieselbe Frau, die sich auf dem

Kulturfest kennenlernen, bzw. in anderen Szenen Momente und 249

Variationen des Geschlechterverhältnisses darstellen. Insofern

ist es eine Vielzahl und -falt von Rollen, die sie spielen,

aber trotzdem binden sie diese Rollen immer an ihr Geschlecht, das auch ihre Rollen determiniert. Aber in erster Linie werden die beiden vor dem Hintergrund des "Kulturfests" gezeigt, an dem sie als Geladene teilnehmen. Ein Hinweis darauf, daß

"Kultur" und "Leben" Hand in Hand gehen, eines mit dem ändern verbunden ist, indem eines das andere produziert, wird an den beiden Protagonisten, dem Mann und der Frau, gezeigt, die in der "Wirklichkeit" außerhalb des "Kulturfests" sowie in der

Kulturtraditon und in der Kunst immer im Mittelpunkt stehen.

Die gewohnten Denkweisen, die sich in der Sprache äußern und die verborgene ideologische Sichtweise zu Tage bringen, werden in der Kultur immer wieder aufs Neue reproduziert, indem

Sprache das verbindende Glied zwischen Kultur-/Literatur-

Produktion und der sogenannten Realität, die zwar außerhalb liegt aber genauso Teil dieser Produktion ist, darstellt.

Diesen Zirkel, daß "die Denkweise die Folge von Handlungs­ weisen und umgekehrt die Handlungsweisen Folgen von Denkweisen sind"60 zeigt Roth auf der Ebene der Kunst- und Kultur­ produktion, indem sie im "Kulturfest" Kunst und Realität so darstellt, daß zum Teil verwischt wird, wo das eine anfängt und das andere aufhört. Durch das Verwischen dieser Linien, das sie— man kann schon sagen— ad absurdum führt, veran-

60Brigitte Wartmann, "Schreiben als Angriff auf das Patriarchat," Literaturmaaazin 11, (Rowohlt 1979) 121. schaulicht sie die Leere bzw. Rollenhaftigkeit und Reduziert-

heit des realen Lebens bzw. der Wirklichkeit, die zum "Stück"

wird, bzw. ein Teil davon ist, was die Sinnlosigkeit, sei es

in dieser Art von Leben, als auch dessen Spiegelung in der

Kultur viel klarer zeigt, und somit beides, so wie es sich

präsentiert, in Frage stellt. Mittels der dramatisch­

literarischen Produktion, der Darstellung dieses Ineinander-

Übergehens unternimmt die Autorin einen Versuch, auf diesen

Zirkel hinzuweisen, ihn vielleicht zu unterbrechen: nicht

indem sie eine Lösung anbietet, aber indem sie diesen Zirkel

darstellt.61 Das verbindende Glied ist hier der Mann, der

"Darsteller und Stücke" vermittelt, der in allen Menschen nur

zu gebrauchende Statisten62 sieht, die einerseits bestimmten

äußerlichen Anforderungen entsprechen, wie z. B. "Schauspieler

// männlich weiblich alt jung dick dünn mit Gehschaden ohne

Haare Fistelstimme Krähstimme erotisches Timbre unkontrol­

lierte Zuckungen unmotivierte Lachausbrüche jederzeit Tränen

Bucklige Verwachsene RUckgratverkrümmte {...)" fDGeS 65) etc.,

Menschen also, die sich selbst und ihr körperliches Aussehen

bzw. ihre persönlichen "Handikaps" zur Schau stellen, als

Rolle darstellen. Anderseits sucht er auch Leute, die bewußt

in andere Rollen schlüpfen, da sie mit den ihnen zugeteilten

6IVgl. Wartmann, "Schreiben als Angriff auf das Patriarchat" 121.

“Statisten im Theater sind Figuren, die nicht wirklich spielen aber im Bild sind und den Anschein einer dargestellten Wirklichkeit erwecken. nicht zufrieden sind, z. B. "Schauspieler, die Laien darstellen, und Laien, die Schauspieler darstellen, Männer, die als Frauen auf treten, und Frauen, die als Männer auf- treten, und Männer als Frauen, die Männer sein wollen, und

Frauen als Männer, die Frauen sein wollen." fDGeS 66) Das

Leben ist ein Rollendasein, es gibt nur Rollen, zwar eine

Vielfalt davon, aber letztlich nur "Rollen", genauso wie auf der BUhne, im Theater. Bestimmte einem zugeteilte Rollen können zwar aufgebrochen, ja ergänzt werden, aber sie bleiben trotzdem "Rollen". Dieses Rollendenken ist Teil einer

Kulturtradition, in der Kategorisieren, Fragmentieren,

Rangordnen usw. Hilfsmittel sind, um Kontrolle und Übersicht zu gewahren. Dies zeigt sich auch im "Einaktler", der einen

Einakter nach dem anderen schreibt, "(j)edes Problemchen, jedes Wehwehchen: alles Einakter. In Stapeln // gebündelt geordnet, alles alphabetisch geordnet, (...)" fDGeS 67) es handelt sich um das totale Sezieren und Fragmentieren zur

Bewahrung der Übersicht. Während der Mann diese Obsessionen rigider Ordnungsversuche und Zuteilungen beschreibt, tauchen im Hintergrund "lautlos— wie vom Himmel gefallen— (tauchen) all diese auf; bedrängend, wild, teils obszön gestikulierend," was das Ganze Sprechen über Kategorisieren usw. durch die

Darstellung desselben, ins Verrückte, ja Absurde treibt. Und im Mittelpunkt der ganzen Rollespiele stehen der Mann und die

Frau, eingewachsen in ihren "Geschlechterrollen", die sich nicht zu ändern scheinen. 252

Der Auftakt des "Kulturfests" verweist sofort auf Roths

Sicht der Dinge, auf den Kulturwust, der nicht mehr ernst zu

nehmen ist, auf die sogenannten "KulturDamenHerren," die der

gutsituierten bürgerlichen Klasse angehören und sich die

"Kultur" aneignen und deren leeres phrasenhaftes Geplapper

einzig die Funktion hat, auf den Sinnverlust aufmerksam zu machen, oder wie Becker den Bezug auf die Liebe herstellend meint, das "stereotype Wiederkäuen im Rederitual entspricht den neurotisch fixierten Wiederholungen im Liebesritual.1,63

Auf dem Theater in einem Stück zweifelt Roth die ursprüngliche

Funktion des Theaters nämlich als "Ort der Weltdeutung und

Kommunkation" an,64 denn Kommunikation ist nicht mehr möglich, da das Grundprinzip in der Kunst die Variation der

Wiederholung zu sein scheint. Genausowenig ist zwischenmenschliche Kommunikation noch durchführbar, da "jeder immer wieder die gleiche Geschichte erzählt, an der nur der

Erzähler selbst noch Interesse hat; die ändern warten, wie immer, bloß auf das Ende der Geschichte, um endlich anfangen zu können mit der eigenen Geschichte." (DGeS 91) Kommunikation ist kein Miteinander, sondern ein Nacheinander. Die Szenen­ anweisungen zum "Kulturfest" setzen einen kritischen voller

Angriffswitz ironischen Ton:

Festliche Abendatmosphäre.

Aus allen Löchern sollen Geschmack, Gehobenheit,

63Becker 240.

“ Neumann 68. 253

Kulturkultur und Zivilisationskronenstimmung die Gäste anwehen. Eine Kulturgesellschaft findet sich zusammen. An einem auf Bühnen wie im Lehen allüberall dann doch zu findenden Seitenein- oder -ausgang werden so bemüht, so diskret, daß neugierige Aufmerksamkeit entsteht, die Einladungen der Gäste überprüpft. fDGeS 55)

Es bedarf eines bestimmten Ambiente für so ein Fest, und einer

Einladung, um an diesem Festakt teilnehmen zu dUrfen, denn hier trifft sich eine ausgesuchte Gesellschaft. Der Vergleich

zwischen Bühne (Theater) und Leben wird gleich zu Beginn angestellt, und dieses Motiv liegt dem ganzen "Kulturfest-

Abschnitt" zugrunde. Durch das erste Tableau, das die Leute starr und steif, paarweise oder in kleinen Gruppen in kultivierter Umgebung zeigt, soll sich das Publikum "ans

Gekreisch Gezapel Gezucke des Anfangs" fDGeS 57) erinnert fühlen. Die gepflegten und kultivierten Körper dienen mittlerweile als eine zweite Natur, im Gegensatz zum Tableau im Vorspiel, das der ersten Natur entspricht, da es die ungepflegten, ineinander verschlungenen Körper als obszön und tierisch und nicht "kultiviert" andeutet.*5 Den "kultivierten"

Akteuren des Festes, die sich den Ernst ihrer Existenz und damit deren Sinn durch ihre Kultiviertheit vormachen, um die

Sinnfrage bzw. Existenzängste gar nicht im persönlichen Leben durchkommen zu lassen, wird in den "Bergszenen" das Paar als

Gegenpol gegenübergestellt. Diese Ängste verdeckt das Paar

“Vgl. Frigga Haug, "Die Moral ist zweigeschlechtlich wie der Mensch. Zur Theorie weiblicher Vergesellschaftung," Weiblichkeit oder Feminismus?. Hrsg. Claudia Opitz (Weingarten: Drumlin Verlag, 1984) 111. 254 nicht mehr länger, die Kälte und Distanz zwischen den

Geschlechtern wird nicht durch die Pseudo-Härme der Kunst vereitelt, die die Illusionen der Nähe immer weiter füttert.

Die Mechanismen werden angesprochen, nicht übertüncht, die

Frau und der Mann sprechen ehrlich und offen in derselben

S p r a c h e :

DIE FRAU Warum bleiben wir nicht einfach sitzen? DER MANN Wir wollen uns treffen. Das wissen Sie doch. DIE FRAU Ja. Und dann, lassen Sie mich dann auch wieder dieselben Kapriolen schlagen? Für nichts? DER MANN So wird es wohl kommen. DIE FRAU Lassen Sie mich ganz lächerlich und ganz überflüssig drehen und drehen ... (...) Und mich mit Herzklopfen und atemlos fragen: Mach ich es richtig so? Gefällt es dir so? Oder soll ich mich vielleicht doch etwas öfter überschlagen? (...) DER MANN Warum fragen Sie immer noch, wenn Sie es doch längst wissen. fDGeS 94)

Der Ablauf wird durchschaut, weder wird das Wissen um die

Machtmechanismen in den Beziehungen verdrängt, noch werden leere Versprechungen gemacht. Aber auch hier wird nicht etwa eine Lösung angeboten oder auch nur angedeutet, aber das

Erkennen und Darstellen dessen, was sich sonst verbirgt, trägt dazu bei, das reduzierte bürgerliche Weltbild aufzubrechen, hinter die Kulissen zu schauen. Daß die beiden sich in diesen relativ kurzen Szenen mit "Sie" ansprechen, erstaunt, da es sich hier um ein "Paar" handelt, das gemeinsam das Unternehmen einer Beziehung angeht, aber es entspricht der Distanz und

Kälte und drückt die Angst vor Gefühlen und vor Nähe aus. 255

Beim "Kulturfest" versammelt Friederike Roth

Kulturmenschen, und der Mann beschreibt indirekt den Zweck und

Sinn des Festes, indem er der Frau, die Idee eines Stückes präsentiert, dessen Inszenierung er beabsichtigt und das genau

dem stattfindenden "Kulturfest" entspricht. Die hier Anwesen­ den sieht er nur als mögliche "Statisten" seines Stückes, was

zur Folge hat, daß er das Stück, an dem er jetzt teilnimmt, durch das Beschreiben des Stückes, das er plant,

interpretiert.

DER MANN Im Mittelpunkt des Ganzen steht ein Fest zur Rettung und Ehre unserer Kultur. Abendländische Kunst im bengalischen Feuer. Auf diesem Fest wird nämlich gleichzeitig das Erscheinen eines Buches, eine Theaterpremiere, die Fertigstellung eines dreiteiligen Tafelbildes und die Uraufführung eines Streichquartetts gefeiert. Die Idee soll wohl sein, daß die Vorführung all dieser Einzelstücke eine Art Ubergreifende Neukunststück ergeben soll. An diesem Fest nehmen vierzig bis fünfzig Leute teil. Die müssen sich dauernd bekanntmachen, dabei kennen sich alle schon, jedenfalls müssen sie so tun und sich begrüßen, als wär es erst gestern gewesen, (...) und müssen sich so verhalten, wie man sich so verhält. fDGeS 80-81)

Das "Kulturfest" ist also gleichzeitig Stück und Beschreibung des Stückes, sowie Teil des Stückes, das zur Uraufführung kommt, ohne daß die daran teilnehmende Kulturgesellschaft

Notiz davon nimmt, noch das Publikum, denn die Szenen werden nicht als solche beschrieben, nur der Mann weist auf die

Tatsache hin. Abgesehen vom Tafelbild und dem Streichquartett, zwei Genres der Kunst, die sich nicht durch "Sprache" an sich vermitteln, da sie andere Sinne ansprechen (Gehör-, Sehver­ mögen) und gewißermaßen einer eigenen "Sprache" folgen, ist es 256 weder für die Kulturgesellschaft noch das Publikum nachvoll­ ziehbar, ob und wann die Lesung bzw. die Theaterpremiere stattfindet. Literatur und Theater arbeiten mit Sprache, einem

Mittel, das Kunst und Leben verbindet. Daß eines vom ändern nicht mehr zu unterscheiden ist, gefangen ist im anderen und beide unmittelbar ineinander übergehen, ohne auf Grenzen zu stoßen, zeigt die Festgefahrenheit der beiden, und beide als ein inszeniertes Spiel, das Rollen und Regeln folgt, die auf den Mechanismus und Automatismus der Sprache hinweisen, und wie durch Sprache dieser Mechanismus und Automatismus das

Rollenhafte immer neu reproduziert wird.

DER MANN (...) wobei ein Teil dieser Szenen, was aber keiner merken soll, und natürlich merkt es auch keiner, die Wiederholung von Szenen der an diesem Abend gefeierten Theaterpremiere sein soll. Kurz und gut: die alte Schachtel-in-der Schachtel- Konstruktion. fDGeS 81)

Fiktion und Realität lösen sich ineinander auf, jeder inszeniert sich selbst, spielt Rollen. Kunst und Leben stehen in einem Verhältnis zueinander, das sich verselbständigt, d. h. eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Das eine unterscheidet sich kaum noch vom anderen: beide, Theater und

Realität, verlaufen sich in Oberflächlichkeit und spiegeln diese gegenseitig, was zu einem endlosen Verwirrspiel führt.

Das ganze, auf die Bühne gebrachte ''Kulturfest11 könnte man auch als pure Imagination des Mannes sehen, sozusagen als

Darstellung dessen, was sich in seiner "Kopfbühne'' abspielt.

Obwohl der Mann auch "eine Rolle" im Ganzen spielt, sieht er als einziger das rollenhafte, marionettenhafte Verhalten der Gesellschaft. Die Starr- und Steifheit der Figuren, ln denen

sich ab und zu Brüche zeigen— z. B. die verhärmte Dame— sowie

die ständigen Anspielungen auf das Theater (auch im Titel)

sind Aspekte der Rothschen Ironie. Es obliegt dem Mann "die

Frau zu definieren, ihr ihren Platz im Spiel des Lebens

zuzuweisen," "gottgleich kommt ihm zu, das Ganze zu konzipieren, zu besetzen und nach seiner Vorstellung allein zu

inszenieren."®6 Der Raum, indem sich diese Kulturgesellschaft

trifft, ist geschlossen, und die räumliche Enge korrespondiert mit den beschränkten Möglichkeiten, und spiegelt sich auch in

ihrer Sprache, der Art der Wiederholung bestimmter Floskeln, genauso wie in bestimmter Gesichtsraimik (wie z. B. das ständig bereite Lächeln) wider. Der abgesteckte Sprach-, Denk- und

Kulturraum entspricht den Begrenzungen innerhalb einer

Wirklichkeit, die nichts anderes zuläßt als die eigene

Reproduktion, was Ausdruck eines in feste Bahnen geleiteten

Denken ist. Die Abgeschlossenheit der dargestellten Wirk­

lichkeit, bzw. die Unausweichbarkeit daraus deuten das

Gefängnishafte an, das hier an diesem Platz durch die Kultur

überall ausgestrahlt und unterstützt wird. Auf das Draußen, außerhalb des Kulturfests verweisen einzelne Szenen, die verdeckte Grausen aufdecken, was vis-ä-vis der feinen

Gesellschaft besonders prägnant wirkt: diese Szenen sind eingebettet in das "Kulturfest11, wie z. B. die Szene über den

Kindes- und Frauenmißhandler, sowie das Bekenntnis des

®®Becker 242. 258

Leichenschänders: Hier werden die perversen, unter der

Oberfläche schlummernden, unterdrückten Leidenschaften und die

körperliche Brutalität nur angedeutet, die die sexuellen

Verhältnisse der Geschlechter hinter dem schönen Schein des

"Kulturfests" verbergen.

Das Paar wird abwechselnd entweder mitten im Kulturfest

oder ganz abseits als wären sie allein auf der Welt gezeigt:

es ist wie der Effekt eines Zoomobjektivs, das das Paar den

Hintergrund ausblendend ganz nahe heranholt, bzw. die Distanz

zum Paar hält, wodurch auch der Hintergrund wieder sichtbar

wird. Diese Technik ermöglicht es für Roth, die fast immer

gleichen oder zumindest ähnlichen Grundbedingungen für das

Leben ihrer Figuren— die repräsentativ für Menschen stehen—

darzustellen, d. h. die Beziehungsproblematik vor dem

Hintergrund der "Kultur" kritisch zu beleuchten, da das

"Kulturfest" auf den kulturellen Hintergrund hindeutet, der die Existenz der Figuren einschränkt, die Grenzen zieht,

innerhalb derer sich die Figuren bewegen. Die Lächerlichkeit und Komik entspringt dann der Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Kunst, obwohl genau diese aufgehoben werden will. Den

Bezug zwischen den beiden stellen die Statisten dar: Statisten

sind jene Figuren auf der Bühne, die eine ganz bestimmte

Funktion erfüllen, nämlich das Erwecken der Illusion, daß auf

"wirkliches Leben" außerhalb der Bühne verwiesen wird.

Statisten werden dafür auf ganz bestimmte äußerliche Züge reduziert, um auf einen ganz bestimmten realitätsgetreuen 259

Kontext zu verweisen, aber der Mann in Das Ganze ein Stück sucht sich die Statisten nach deren jeweiligen Besonderheiten, so daß sie sich selbst als Statist spielen, was auf die totale

Reduktion verweist. Die ganze Kulturgesellschaft gibt sich wie eine große Statistengesellschaft, die Kunst als Realität und als Ersatz lebend, und die Mängel und Vorzüge einer Realität aus zweiter Hand in der Kunstlektüre und -betrachtung propagierend.67

1. HERR Lesen. Lesen. Schön und gut. Ich lese gern. Ich lese mit Freude, ich les und vergeß Frau und Kind und Haus und bin der Einsame Alte auf dem verlassenen Hof, bin ein Gipfelstürmer, wie er im Buch steht, bin der Mächtige oder Machtlose, bin Frauenheld und verlassene Frau, ein freches Kind, (...), wies eben kommt in den Büchern, den guten— versteht sich. Ohne lesen wäre ich nicht, was ich bin. Ich bin nicht ich ohne das Buch. Und ich bin gern, was ich bin. Also ist Lesen, wenn ich mich mal so pathetisch ... Lesen ist Leben. (DGeS 89)

Stellt man sich nun die Frage, auf welchen konkreten

Ausschnitt aus der "Wirklichkeit" Roth mit diesem Stück verweist, so gibt es nur dürftige Hinweise bezüglich Zeit, Ort und Gesellschaft, die außerhalb des Dargestellten liegt. Die

Kulturgesellschaft ist kein wirklicher Anhaltspunkt, da die

Welt außerhalb des "Kulturfests" bzw. unter dessen Oberfläche als auf allgemeine Bedingungen und Abläufe beschränkt ange­ deutet wird, die die Menschen als unfrei und im ständigen

Kampf miteinander in einer sysiphusartigen Ewigkeit zeigt; unter der delikaten beleuchteten Oberfläche zeigen sich die

67Vgl. Becker 243. dunklen erotischen Kräfte und Verbindungen, zeigt sich "wer wem schon untern Rock oder in die Hose griff." fDGeS 87). Han kann sagen, Roth arbeitet mit fragmentierten "Wirklichkeiten", d. h. sie präsentiert Teile, die alle irgendwo zum "Ganzen" gehören; die Fragmente stellen Epochen und Geschichte (Anfang der Zeiten genauso wie Hinweise auf die Zukunft) in Augen­ blicken dar, was wiederum auf die Über Zeitlichkeit und

Zeitlosigkeit einer ereignislosen angehaltenen Geschichte hinweist. Diese sich immer wieder aufs neue wiederholenden

Lebensbedingungen verweisen auf die absurde Existenz, die dieser Existenz durch und in der Kunst einen Sinn setzen will, und dadurch aber erst recht auf diese Absurdität verweist.

Hatte das "Spiel im Spiel" bzw. "die Rolle in der Rolle" traditionell im Theater noch die Funktion, ein Thema zu wiederholen, die theatralische Illusion durch das Hinweisen auf dieselbe aufzulösen, so ist die Funktion bei Roth eine andere, das "Spiel im Spiel" wird zum Indiz für den Zustand des Theaters und der Wirklichkeit, die zwangshafte

Selbstinszenierung und -darstellung, die es nicht mehr erlaubt die beiden auseinanderzuhalten. Der Hinweis darauf, daß eine

Theaterpremiere zur Aufführung kommen soll, die man aber vom

Rest nicht unterscheiden kann, da alles ineinander übergeht, kündigt die Doppelbödigkeit, die zu erwarten ist, an. Es geht dabei aber nicht darum, den trügerischen Schein des Theaters zu entlarven, ganz im Gegenteil, das "Spiel im Spiel" ist nur mehr Plattform für die Darstellung der Fragmentierung der 261

Erfahrungen, wozu auch Erfahrungen von Literaturgeschichte,

Kunstgeschichte und Geschichte zählen, wo das Theater nicht

mehr als solches erkennbar ist: die beiden, das Theater und

die Wirklichkeit sind so heterogen, daß das erstaunlich

Ähnliche und Verschiedene so ineinander Ubergeht, daß es nicht

voneinander unterscheidbar ist. Dies zeigt sich auch im

Sprachmaterial, das Roth verwendet: anhand der Diskussion des

Mannes und der Frau über die Funktion des "Vorspiels" zeigt

sich das erstaunlich Ähnliche des so Verschiedenen und

umgekehrt:

DER MANN (...) Allerdings ist dem Ganzen, und das hab ich vergessen. Ihnen zu erzählen, etwas vorangeste11t- -früher nannte man es das "Vorspiel". (...) DIE FRAU Ach gute GUte, bloß das nicht. Stundenlang sichs Knie kitzeln den Nacken kraulen sich diese Stellen, die empfindlichen, oder wie man sagt, erregbaren, damals in unserer forschen, was das eine Zeit, als wir für alles den passenden Namen, damals sagten wir Zonen, die Ansprechpunkte, mach ich hier piep machst du da fiep, sich absuchen lassen mUssen. Alles, alles, bloß das nicht. Vorspiel— von mir aus, bloß ohne mich. DER MANN Auf dem Theater. Vorspiel auf dem Theater. DIE FRAU Stimmt. Stimmt genau. Die ganze Vorspielerei: nichts als Theater. Bei Liebhabern obendrein die, keine Ahnung vom Handwerk, ganz routiniert, ganz professionell tun mUssen, die Ärmsten, runter die Wirbelsäule und wieder rauf, (...) fDGeS 95-96)

Die Struktur und der Ablauf des Theaters wird hier mit dem

Aublauf der sexuellen Begegnung verglichen: beide teilen diesselbe Terminologie, beide sind traditionell und

geschichtlich verankert. Das "Vorspiel" wird von der Frau als

Handwerk kritisiert, da es bestimmten Regeln folgend mechanisch, allzubekannt und ohne Spontanität abläuft, eine Verzögerung des sexuellen Aktes bewirkt. Dadurch wird der

"Theater-Ton" gebrochen, auf die Heterogenität der Sprache und

Konzepte hingedeutet, ln diesem Gespräch, das auf Mißver­

ständnis beruht, werden zwei Diskurse zusammengerissen,

nämlich der Liebes- und Theaterdiskurs. Dadurch werden

konventionelle Erfahrungen und Sprachäußerungen aufgebrochen,

die Vielschichtigkeit angedeutet. Die Rollenspiele dienen auch

dazu, diese Vielschichtigkeit bestimmter bekannter Realitäten

zu repräsentieren, und weiters wird dadurch ermöglicht,

bestimmte tabuisierte Rollen, besonders in den Geschlechter­

beziehungen freizulegen. Der Mann und die Frau spielen

genaugenommen mehrere Figurendarstellungen: zuerst sich selbst

(Frau und Mann, die über das "Stück" und die "Liebe"

sprechen), dann sich in Rollen (Frau und Mann in Augenblicken

im "Stück" am Kulturfest teilnehmend, z.B. die wiederholte

Begegnungsszene, bzw. das Spielen des vorgesehenen

"Vorspiels"), sowie Frauen und Männer in anderen Rollen der

sexualisierten Geschlechterbeziehungen, die oft tabuisiert w e r d e n .

Die Kulturisierung der Menschheit reflektiert sich in der

Normierung der Sexualität: Sexualität wird eingegrenzt, erlaubte von unerlaubten Praktiken getrennt, was bedeutet, daß die letztgenannten nicht verschwinden, sondern nur verdrängt und unterdrückt werden, um dann irgendwann in Gestalt von

Aggression oder Perversion wieder zu kommen, wie in den

Szenenfragmenten des Frauen- und Kindmordes und des 263

amputierenden Fetischisten angedeutet wird. Beide schlummern unter der kulturisierten und normierten Realität und evozieren

die verborgenen Ungeheuer. Bestimmte Fragmente der Kultur­ gesellschaft werden hier also seziert und offengelegt, aber

Rezepte für die Lösung der inhärenten Probleme werden nicht

bereitgestellt.

Der klassischen Dramaturgie, ihren Regeln und ihrer

Funktion widersetzt sich Roth in vieler Hinsicht: keine durchgehende Handlung, Fragmentierung der Fabel sowie

Auflösung der Figuren, Gleichzeitigkeit verschiedener Ebenen sei es im dargestellten Spiel als auch in der dargestellten

Wirklichkeit, sowie die Zeitlosigkeit in der angeführten

Geschichte. Zugleich wird aber auch die Funktionslosigkeit des zeitgenössischen Theaters thematisiert, die Leere und

Abgegriffenheit der tradierten Forderungen werden ironisiert, das Theater hat seine Authorität verloren, hat keine Lehre, keine klar erkennbare Moral.

DER MANN (...) Man muß etwas tun, und jeder kann etwas tun, also auch wir das Theater wir sind bestürzt und in Angst Uber die schlimmen Zeichen, die in den letzten Jahren immer deutlicher werden. Solche Sätze muß er (der Schauspieldirektor, RG) dauernd sagen, der Ärmste. (...) Jetzt haben wir die Pflicht, halt zu rufen und Widerstand zu leisten, muß er sagen. Wir haben Macht. Wir sollten sie benützen, muß er, fast wörtlich, sagen, sagen, das Theater... DIE FRAU Ist die moralische Anstalt. Die Kunst ist eine starke Waffe. (DGeS 108)

Die Anspielungen auf Schiller und die 68er Bewegung des politischen Theater verweisen darauf, daß gerade das vom

Theater verlangte Aufrütteln, nicht machbar ist. Es ist nur

mehr der Schauspieldirektor in seiner Rolle, der über die

Funktion des Theaters im Theater spricht, das Theater selbt

kann diese nicht mehr erfüllen, worin sich ein Paradox zeigt.

Die Funktion des Theaters wird zum Diskurs auf dem Theater,

verselbständigt sich in der Sprache, während ansonsten jeg­

liche Essenz verlorengeht, da nur mehr Zustände abgebildet

werden, d. h. Zustände, die verdeckt sind aber doch zum

Vorschein kommen, das Chaos, das hinter der Ordnung steckt.

Darüber was Friederike Roth als Aufgabe der Dramatikerlnnen

sieht, sagt sie, "(i)ch kann doch als Schriftstellerin nicht

mit dem Zaunpfahl winken und die Welt ernst über ernste Themen

aufklären. Ich würde über mich selbst lachen. Deshalb muß ich

ironisieren und spielen, wobei unter dem Spiel natürlich der

Ernst versteckt ist."68 Es ist nicht die "Rolle" der/s

Dramatikerin/s zu moralisieren, zugleich wird das Schreiben

fürs Theater durch etwas motiviert, das Spiel ist nicht nur

Spiel, Strukturen werden freigelegt, Klischees und

Verdrängungen zerstört. Die Sinnfrage hat nicht nur das

Theater ergriffen, sondern auch die anderen Künste, die

Erkenntlichkeit des Dargestellten ist nicht mehr unmittelbar

gegeben, sowenig wie ein intendierter Sinn oder Zweck, was

sich anhand der Betrachtung des Gemäldes zeigt:

HANN sind Sie sicher, daß das Ganze richtig hängt?

“Roeder 47. 265

Daß, was hier oben ist, auch wirklich nach oben gehört? Nicht daß die ganze Angelegenheit womöglich auf dem Kopf steht. FRAU Ich bitte Sie, man sieht doch auf den ersten Blick... MANN Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, daß dieses Bild... FRAU Ich bitte Sie, das ist Malerei, da hinten, eindeutig ist das ein Stall, hinter das Blaue bin ich bisher auch nicht gekommen, aber das Braune da vorne soll wohl ein Mensch... MANN Ich tippe eher auf die Erschaffung der Welt; oder auf ihren Untergang. fDGeS 105)

Einigung darüber, was dargestellt bzw. gesehen wird, ist nicht mehr möglich, vielmehr hängt es vom psychologischen Zustand der interpretierenden Person ab, was Kunst zu bieten scheint, womit Kunst zum 'Medium' wird, wie die Psychoanalyse, um sich selbst, den eigenen Ängsten näherzukommen— also keinen politischen oder gesellschaftlichen Wert mehr hat. Der

Gesichtslose beschreibt die Situation treffend, "Was wir auch tun, ist lächerlich und leer. Jede Verbesserung hier stiftet ungeahntes Unheil dort. Ineins gefallen sind Fortschritt und

Rückschritt, Sprachlosigkeit und Geschwätz." fDGeS 104)

Erschaffung der Welt und deren Untergang, Sprachlosigkeit und

Geschwätz, Gegensätze fallen ineinander und verhindern jede

Entwicklung bzw. Bewegung, der Stillstand zeigt sich auch in der Kunst, sie bewirkt nichts mehr.

Das Rollenspielen dient dazu, einerseits eine bekannte

Realität auf bestimmte Weise zu repräsentieren, und anderer­ seits ermöglicht sie freies Ausprobieren und das Spiel mit den verschiedensten Realitätsmöglichkeiten. Im Spielen derselben

Rolle, dem ewigen Wiederholen drückt sich nicht aus, was 266

ausgedrückt werden sollte, die Motivation wird zum ent­

scheidenden Faktor, die jedem Rollenspiel zugrunde liegt, und

dieses nicht festlegen können der Motivation wird zum Problem.

Denn in einer Motivation drückt sich immer ein Zusammenhang,

eine Beziehung zwischen einer Handlung und der nächsten aus.

Dieses Verlangen nach Kontext und Verhältnis ist in einer

fragmentarischen Wirklichkeit nicht immer gegeben, umsoweniger

in fragmentierten Teilen eines Stückes. Das Problem der Frau,

"die immer sollte, was sie nicht wollte" fDGeS 97) im ge­

planten Vorspiel, ist, daß ihr Auftritt ohne Zusammenhang aber

doch in einem größeren Kontext stattfindet:

DER MANN Da tritt zum Beispiel, schnell und entschlossen heißt es im Text, tritt eine Frau aus einem Haus, das im Bühnenhintergrund riesig keine Tür blinde Fenster hat dieses riesige, riesige Bühnenhintergrundhaus. (...) Soll aus dem Haus also treten und auf dieses Fest, mit dem das Stück mit dem gehörigen alten Geknatter, Geplapper, dann eigentlich erst, also hineintreten in den Anfang des Stücks soll sie wollen; soll also die Frau soll auf dieses Fest wollen und zwar so soll sie wollen, daß jeder spürt: dahin, wo sie wollen soll, hinein in den Anfang, will die doch nie und nimmer und nicht. (DGeS 96-97)

Dieses "Wollen-ohne-zu-wollen" soll im Auftritt gezeigt

werden, d. h. die Negierung des Vorhabens soll anhand von

Gestik und Körperspräche, nicht aber "Sprache" vermittelt

werden. Gerade daran scheitert dann die Frau, es ist unmöglich körperlich eine Überzeugung ganz pur und bewußt darzustellen,

ohne das "warum" zu kennen: "Ich aber fing an mich zu fragen: wie trete ich aus dem Haus und warum überhaupt trete ich aus dem Haus, denn die Art und Weise meines Aus-dem-Haus-Tretens

würde bestimmt werden vom Grund meines Weggehens und dieser

Grund wiederum so dachte ich, (...) dieser Verlassensgrund

liege im Ziel meines Gehens," fDGeS 99) es ist die Reflektion,

die der Unmittelbarkeit im Wege steht, die Rollen zu Rollen

macht. Die Frau wird nun zur Schauspielerin, die den Stückent­

wurf, das vom Mann skizzierte Vorspiel spielt. Dieses Vorspiel

ist das ursprüngliche Vorspiel, der Anfang, der nicht statt­

findet, da die Frau daran scheitert, aber dieses Mißglücken

wird gezeigt, die Schwierigkeit der Frau, das tun zu wollen,

was sie wollen soll. "Frauenentwürfe" von Männern, die wie im

Vakuum existieren, abgetrennt von jedem Zweck, und Frauen, die

versuchen diese Images zu verkörpern, die natürlich nicht

wirklich verkörperbar sind, worin sich dann das Unbehagen und

Mangelgefühl der Frauen ausdrückt. Die Unmöglichkeit des "Aus-

dem-Haus-Tretens" ist im Bezug auf die Frau symbolisch zu

verstehen: Das Haus, aus dem sie treten soll, ist ein

"riesiges Haus. Keine Tür. Blinde Fenster. Die Klappläden

verrottet." fDGeS 98) Man sieht weder hinein in dieses Haus,

noch gibt es wirklich einen Ausgang daraus, und dieses steht

wohl für das unergründliche aber auch verdrängte und auf immer

verlorene Potential der Menschen. Der Verlust des unmittel­

baren Sinns ist an die Fragmentierung und Zusammenhangslosig­ keit gebunden, wie sie sich auch in der Kunst zeigen. Mit­ teilung, Ausdruck und Kommunikation sind nicht mehr möglich,

Sprache versagt. 268

Das Ende des Stückes, das der Hann inszeniert und von

Roths Stück fallen fast zusammen, und drücken den Übergang zu

einer anderen Art von Kommunikation aus, die nicht mehr wirklich auf jemanden gerichtet ist, sondern sich selbst genügt und wenn man so will, mit den Schwingungen in der Luft und in der Natur korrespondiert; diese Art von Kommunikation genügt sich selbst, ist "absichtslos, stumm, lächelnd und ohne

Blick" fDGeS 120): Die Frau arbeitet mit einer "Taubstummen­ tanzgruppe, " einer Gruppe also, die nicht via Sprache kommuniziert, sondern durch Bewegung und Gestik. "Die fangen zu reden an mit dem Körper und schließlich sprechen die regelrecht," (ßGeS 119) so beschreibt die Frau die tanzenden

Taubstummen, denn sie macht genau das, was der Mann in seinem

Stück braucht:

DER MANN Sie passen genau in das Stück. Dort muß nämlich die Frau genau das alles sagen, was sie gerade gesagt haben. Ein bißchen anders vielleicht, aber so ähnlich, Körper und Schwingung und Haut und Berührung, Lufthauch, Bewegung und Spannungkommt alles vor, und Mitteilung, dauernd nur Mitteilung, und Ausdruck vor allem, dauernd und unentwegt Mitteilung Ausdruck und Eindruck und wo man geht wo man steht Zussamengehörigsein, Mitleid Mitteilung Ausdruck. (DGeS 119)

Die Taubstummen tanzen auf einer spiegelnden Eisfläche, zusammen aber dadurch, daß sie ihre Augen schließen und sich ganz den Schwingungen hingeben, doch nicht in Beziehung zueinander. In diesem Tanz wird die im Raum ohne Sinn und Ziel verfolgte Bewegung zelebriert. Dadurch daß die Tänzer, taub und stumm sind, also sich im herkömmlichen Sinn nicht durch

Sprache mitteilen und ausdrücken können, grenzen sie sich von 269 allem vorher Gezeigtem, nämlich der Kulturgesellschaft ab, die sich nur durch Sprache mitteilen kann, obwohl Sprache jeden

Ausdruckswert verloren hat. Dazu kommt noch, daß die

Taubstummen, ihre Augen schließen, und damit den letzten

Kontakt zur Außenwelt, jeder Beziehung abbrechen und sich völlig isolieren. Jede Verbindung zum anderen reißt ab, und in bestimmter Hinsicht kann man auch sagen, daß durch das

Schließen der Augen sogar das eigene "Spiegelbild", das sich auf der "spiegelnden" Eisfläche reflektiert, ausgeschlossen wird. Der hier angestrebte Zustand, diese Rückkehr zu sich selbst, wo das selbst gar nicht definierbar ist, da es außer­ halb der Sprache liegt, verhindert auch eine Liebesbeziehung zum anderen, da jeder Bezug fehlt:

DER MANN (...) Und alle tanzen mit geschlossenen Augen. Tanzen bloß tanzen schnaufend, absichtslos, stumm, lächelnd und ohne Blick. Er sieht zu, und auch er schließt die Augen. DIE FRAU ... Daß sie sich lieben am Schluß, aber daß das nicht geht. fDGeS 120)

Dieser letzten Szene im Stück des Mannes setzt Roth ihre letzte Szene in der Reihe "Kahle Gegend mit Berg" gegenüber, in der das undurchdringlich gewordene Schneetreiben Kälte und

Distanz symbolisieren, die auch in der Beziehung des älteren

Paares dominieren, das zurückblickt und sich nichts mehr zu sagen hat. Sie sprechen über den gegenseitigen Verfall, über die äußeren Mängel, die den Gegenstand der ursprünglichen

Liebe verdecken. Erben und Sterben

In Friederike Roths soweit letztem Stück69 wird die

Hoffnungslosigkeit und Unmöglichkeit einer gesellschaftlichen

Veränderung erneut und in radikalisierter Form angezeigt.

Einerseits wird der gängige Kunstbetrieb, die Stagnation desselben, das leere Gerede über Kultur sowie die

Selbstgenügsamkeit und Wichtigtuerei von Leuten in der Kultur- und Medienbranche thematisiert und ironisiert, und zwar dadurch daß die Kultur- und Kunstproduktion als "Betrieb"70 dargestellt wird, der— wie alles andere in einer kapitalistischen Gesellschaft— von Kapital abhängig ist.

Andererseits benützt Roth ihre "komischen", ja schon

"peinlichen" Künstlerinnen, um bestimmte feministisch orientierte Frauengruppen satirisch zu kommentieren, was von

Sigrid Löffler bemängelt wird, da das natürlich leicht mißverstanden wird: "Die Autorin denunziert ihre Künstlerinnen als hysterisch-schrillen und unfähigen Lesben-Zirkel, womit sie sich viel Beifall von Macho- und Banausenseite holen

^Erben und Sterben wurde 1992 bei den Wiener Festwochen unter der Regie von Günter Krämer uraufgeführt und ab September war es im Schauspiel Köln auf dem Spielplan.

70Schon in den ersten Szenen wird das Schaffen von Kunst entmystifiziert, da es in den Kontext von Produktion gestellt wird, das verschiedener Geräte und Voraussetzungen bedarf. "DIE KOMPONISTIN (...) Ihr könnt alles haben. / Ich will nichts. Ich brauche auch nichts. Bloß meine Ruhe, die will ich haben. Und einen großen Raum für meine Geräte. Am besten, man schlägt eine Zwischenwand raus. Ein großer Raum, ein Studio eben, das reicht mir." (EuS 21) 271 dürfte."71 Fragen den Feminismus betreffend und implizit, was durch die Frauenbewegung erreicht wurde, und was sich durch sie für die Lebensverhältnisse von Frauen verbesserte bzw.

änderte, ist Erben und Sterben soweit Roths kritischstes

Stück.

Erben und Sterben ist in vier Abschnitte unterteilt, die alle von unterschiedlicher Länge nochmals in Szenen aufgebrochen werden. Im Groben kann man in diesem Stück eine

Handlung— im Sinne einer chronologischen Entwicklung— erkennen: Die Künstlerinnen versuchen als Kollektiv zusammen zu leben und an einem Gesamtkunstwerk zu arbeiten, und dieses

Unternehmen wird vom Anfang an verfolgt, wobei nicht das

Zusammenleben so sehr von Bedeutung zu sein scheint, als die

Isolation von der Außenwelt und die alternativen

Arbeitsbedingungen:

DIE KOMPONISTIN (...) Wenn wir erst arbeiten können... DIE LIBRETTISTIN Leicht und heiter und ohne Druck, kreativ und phantasievoll... DIE KOMPONISTIN Unter Druck kreativ sein und spielerisch oder heiter ist doch wohl... (EuS 14)

Der erste Abschnitt zeigt die vier Künstlerinnen—

KOMPONISTIN, LIBRETTISTIN, MALERIN, PIANISTIN— und die alles organisierende und finanzierende MEDIENFRAU beim Einzug in ein altes Gebäude, das ursprünglich ein Gasthaus/Bauernhof war und von der ALTEN nach dem Tod ihres Ehemannes allein geführt wurde. Während das Gebäude im Laufe des Stückes einer

71Sigrid Löffler, "Frau, schau wem ..." Theater heute 7 (Juli 1992): 19. 272

radikalen Modernisierung unterliegt und Zeit vergeht, steht

die ALTE statisch am Rand, das Geschehen indirekt durch ihre

Monologe und Selbstgespräche ergänzend und kommentierend.

Diese Strategie zeigt, daß sich bestimmte Dimensionen der

Standorte und Positionen der Frauen innerhalb kapita­

listischer, patriarchalisch gesellschaftlicher Arrangements

änderten, aber gleichzeitig zeigt sich auch, was immer noch

gleich ist. Die Präsenz der ALTEN kann man als Verkörperung

der "verdrängten Vergangenheit" verstehen, von der sich die

Künstlerinnen so gut wie möglich distanzieren und nichts damit

zu tun haben wollen, obwohl das Wissen um diese Vergangenheit

sehr tief sitzt. In den Vorbemerkungen zum Stück verlangt Roth

Folge n d e s :

An einem äußeren Band geschoben, murmelt unentwegt, unermüdlich und unbeeindruckt "Die Alte", Vorbesitzerin des Gebäudes, in dem "Erben und Sterben" von Anfang bis Ende sich abspielt. Sie beherrscht das Geschehen, an dem sie aktiv längst nicht mehr teilnimmt, auf eine Weise, wie uralte Ängste und ewige Hoffnungen dies angeblich tun. (EuS 8)

Jeder Szene des ersten, zweiten und vierten Abschnitts mit den

Künstlerinnen steht eine Szene mit der ALTEN gegenüber. Im

dritten Abschnitt, der zum "Stück im Stück" wird und die

Szenen der LIBRETTISTIN beinhaltet, hat die ALTE nur vier von

dreizehn Szenen und in der sechsten Szene nimmt sie direkt am

"Spiel im Spiel" teil. Im zweiten Abschnitt ist die

Kunstproduktion bzw. die damit zusammenhängenden Probleme der

Hauptgegenstand, wobei der Einfluß von Geld, Muse und Zeit auf die Produktion in den Mittelpunkt rückt. Das ersehnte Kollektiv erweist sich als von Emotionen und Eifersüchteleien

beherrschtes Unternehmen, das die Konkurrenz auf das

persönliche Leben ausweitet, anstatt eine alternativ

friedliche Frauen-Künstlerinnen-Kommune zu schaffen. Während

im Kern des zweiten Abschnitts die KOMPONISTIN steht, ihre

Komposition, Geliebte, und die von ihr getragene

Figurenkonstellation im Stück, stehen im dritten Abschnitt die

künstlerischen Produkte der Librettistin ("Stück im Stück")

und der Malerin (von der erst "kahlo-artige" Titel für ihre

Szenarios existieren, aber noch nicht das Werk) im Zentrum des

Interesses. Das geplante Gesamtkunstwerk zeigt sich in

fragmentarischen Teilen— darüber kommt es auch nicht hinaus— , was durch gegenseitiges Unverständnis und hämische Kritik gefördert wird. Die MEDIENFRAU, die das Ganze finanzierte und vermarkten wollte, ist finanziell ruiniert und desil-

lusioniert. Die Opportunität zum alternativen künstlerischen

Schaffen hat sich als Illusion entlarvt, die unter den gegebenen Umständen nicht durchführbar ist, da die Frauen in dieser alternativen Umgebung bloß die vorherrschenden

Paradigmen zur Kunstproduktion neu arrangierten, ohne sie zu hinterfragen:

DIE MEDIENFRAU Um es präzise zu sagen: Ich sehe kein Land. Klavierkonzert - Krise. Szenisches Werk - verrutschte Passion - Krise. Malerei - Krise im Embryonalstadium. Damit sind wir wieder da, von wo wir angefangen haben. Nur stehen uns Raten ins Haus. Und die Leihgebühren für die technischen Geräte. Genaugenommen bin ich bankrott. (EuS 71) 274

Geld, genaugenommen "ein paar Herren mit Geld und Engagement

für die Kunst" (EuS 71) werden gebraucht. Dieser Aktion der

Mäzenensuche ist der größte Teil des letzten Abschnitts

gewidmet. Die MEDIENFRAU gibt ein Fest für "potentielle

Kunstmäzene", die— wie kann es anders sein— ausschließlich

Männer sind. Das Stück endet mit dem Selbstmord der bankrotten

TIERÄRZTIN— Geliebter und Gönnerin der KOMPONISTIN— und einer

Art Nachwort der MEDIENFRAU.

Eine ständige Konfrontation zwischen den Lebensumständen

zweier verschiedener Frauengenerationen wird durch die

Gegenüberstellung der "post-emanzipierten" Künstlerinnen mit

der "prä-emanzipierten" Alten bewirkt. Die ALTE ist bereits

tot und ihre Rede dokumentiert ihr Leben, ihre Ängste und

ihren Kampf ums Überleben in einer misogynen Gesellschaft.

Ihre Existenz, ihre Geschichte überschattet die (scheinbar)

emanzipierte Existenz der Frauen im Kunst-Verbund, die durch

diesen Kontrast in erster Linie als komische, nicht ernst­

zunehmende Figuren erscheinen, da sie trotz ihres alter­

nativen, zum Teil unabhängigen Lebensstils, sich in einer

immer noch patriarchalischen Gesellschaft bewegen. Sie haben

sich durchgesetzt und machen, was sie wollen, aber dies

geschieht in einem Vakuum. Die Ironie, mit der die

Künstlerinnen dargestellt werden, wird durch die ALTE

durchbrochen und Szene nach Szene wird die Erfahrung ihrer

ganzen Frauengeneration den oberflächlichen und exaltierten

Künstlerinnen gegenüberstellt. Weder die ALTE noch die 275

Künstlerinnen werden wirklich bevorzugt, da beide vor dem

Hintergrund ihres sozio-kulturellen Kontext gesehen werden müssen. Aber vergleicht man die Anzahl der Szenen, den Anteil

des Gesagten der einzelnen Figuren, so schneidet die ALTE bei weitem besser ab, was darauf verweist, daß, was sie sagt, von

Bedeutung ist. Die Szenen der ALTEN und der Künstlerinnen

spiegeln und kommentieren sich gegenseitig. Während das

epische Erzählen der ALTEN introspektikv und ernst klingt— auf

ein schweres Leben zurückblickend— haben die Szenen der

Künstlerinnen den konträren Effekt. Die Künstlerinnen werden als "zänkischer Lesbenzirkel"— was aufgrund der konzipierten

Lesbenbilder problematisch ist— dargestellt, in dem Eifersucht und Konkurrenzdenken das alltägliche Miteinander bestimmt. Die

Frauen machen sich ihr Leben zusammen schwer, denn

Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung finden nicht statt. Im Gegenteil, trotz des Kommunencharakters ihres Wohn- und Arbeitsverhältnisses scheinen die einzelnen Frauen wie

"fixe" Identitäten aufeinanderzustoßen, die letztlich nicht

über sich hinaus wollen, und erst gar nicht mit anderen

Zusammenarbeiten können, die Isolation voneinander wird bevorzugt, ein Gesamtkunstwerk soll entstehen, aber der Prozeß ist kein gemeinsamer.

Der Bezug zu der ALTEN wird durch das Gebäude hergestellt: "Das Gebäude verwandelt sich im ersten Teil des

Stückes nach und nach in eine tonstudioähnliche, technikbestückte, telexratternde, synthesizerpiepsende und unablässig telefonbimmelnde anonyme Angelegenheit. Nur herumstehende Flaschen, Notizblöcke, Zeitschriften u. ä. deuten in Richtung Chaos." IEuS 8) In diesem high-tech steril anmutenden Vakuum wird alles, was die Frauen machen, wie unter einer Lupe gezeigt, wodurch die Umgangsweisen, die Mechanismen des Miteinander erst richtig deutlich werden. Die äußerliche

Veränderung des alten Landgasthauses in eine von Frauen geführte High-Tech Medien-Firma weist auf die Differenz im

äußeren Make-up der ALTEN und der Künstlerinnen hin. Der

Wunsch nach einem eigenen Ort, an dem man selbst bestimmen kann, und der sozusagen als partieller Fluchtpunkt fungiert, verbindet die ALTE und ihre Nachbewohnerinnen. Aber diese

Idylle nützt wenig, wenn die althergebrachten Machtspiele mit einziehen. Die Künstlerinnen sind Lesben, und ihr sich

Absondern in dieses spezielle Künstlerkollektiv muß man aus dieser Perspektive betrachten. Fixe Erwartungen werden an diese Kommune gestellt, was die Struktur derselben anbelangt.

Das Bedürfnis sich Kommunen bzw. Gemeinschaften anzuschließen, bzw. eigene zu gründen und sich so von einer feindlichen

Außenwelt abzukapselen, da durch sie ein Dazugehörigkeits­ gefühl gehegt wird, ist nichts Neues, sondern kann durch die

Menschheitsgeschichte verfolgt werden.72

^Es gibt eine Vielzahl von Definitionen für "Kommunen" oder "Gemeinschaften", je nachdem aus welchem Gesichtspunkt sie gesehen werden. In vielen dieser Definitionen wird "Gemeinschaft" durch gemeinsame Charakteristiken bezeichnet, die eine gemeinsame Identität kreieren. Siehe dazu: Shane Phelan, geling Specific. Postmodern Lesbian Politics (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1994) 76ff. Eine Kommune definiert sich nicht nur durch Inter­ aktionen, Verbindungen usw., sondern man kann darin auch eine

Art von Versuch einer "autonomen" Kultur sehen, die sich von der Mainstream-Kultur abzweigt und absetzt, da sie in und von dieser marginalisiert wird.73 Aber damit sich eine Gemein­ schaft bildet, ist es von Nöten, daß versucht wird, eine Art kollektives Bewußtsein zu erreichen. Aber gerade das erweist sich in der Frauengruppe als schwierig. Bei dieser Gruppe kann man aus zwei Grtlnden von einer "natürlichen" Kommune74 sprechen: Erstens alle sind Lesben, und zweitens haben sie alle mit Kunst zu tun. {Als einzige hat die TIERÄRZTIN nichts mit Kunst zu tun, weshalb sie von den anderen nicht akzeptiert wird.) Diese Qualifikationen gehen der Gründung der

Gemeinschaft voraus, aber genügen nicht, um eine voll entwickelte Kommune zu gewähren. Dies ist ein gemeinsamer

Prozeß, an dem die einzelnen Frauen aber wenig Interesse zeigen. Bei dieser Kommune handelt es sich um eine freiwillige

Verbindung, umso unverständlicher ist daher das Verhalten der

Frauen. Lesbische Gemeinschaften sind— so Julia Stanley—

"composed of individuals who have many ideas and experiences of our lives that we share." Weiters sagt sie, "one joins a community because she finds companionship, support, and

73Phelan 79.

74A1 s "natürliche" Kommune bezeichnet man eine Gemeinschaft, der bestimmte Charakteristiken vorausgehen, und bei den Mitgliedern vorhanden sein müssen, um in die Kommune zu passen. (Phelan 79) 278 commitment to common Ideals within that community."75 Dies trifft alles auf die Künstlerinnen zu, d. h. die Ausgangs­ situation war wohl diese, wie die MEDIENFRAU in ihrem Nachwort verlauten läßt:

DIE MEDIENFRAU Das alte Haus, die alten Räume und die verstorbene Alte— damals begann es, oder wann war es... Ich ahnte ja nichts. In diesem Gewimmel aus “Warum ich und nicht du, weshalb mir und nicht dir“. Schluß machen mit dem Alten und anfangen mit dem Neuen, was sonst, war die alte Parole, und keine Falschheit mehr, das hieß aber auch, niemals mehr Trost. Ich ging auf mein Zimmer, öffnete ein Buch, das wieder mal mit den Sätzen begann... Also las ich gar nicht erst weiter. Unten und auf der Treppe streiten wir seither um Schuld oder Nicht-Schuld, um Prioritäten, Machbar­ keiten oder Visionen, ins Herz diese Stiche, die falschen Küsse, unser Passionen, Gott... es gibt solche und solche. Bleib mir vom Leib, halt mich fest. Ein Grabraum mit Engeln... Im Haupteingang vorne steht die Tatsache mittlerweile: Wir können uns nicht mehr sehen, und wir sind pleite und können nicht gehen. Pause Es war ja nicht ich oder du oder die oder sie, wir alle waren ja nicht das Problem, bloß daß es uns gab, wie wir waren, und schließlich ist jeder ja, wie er ist, bloß daß wir es zusammen so wollten, jeder so, wie er ist, das machte die Umstände doch; und Umstände, mein Gott, denen geht jeder gern aus dem Weg, und das war das Problem. Wir sind uns dauern dabei begegnet, wie wir uns aus dem Weg gehen wollten. fEuS 93)

Die Gemeinschaft wurde als Möglichkeit eines Neuanfanges, einer Chance gesehen, aber die Hoffnungen und Erwartungen erfüllen sich nicht, denn die Kommune wurde als eine Position bzw. Möglichkeit verstanden, die schon existieren sollte. Aber was es gibt, ist eben nur das Alte, Bekannte (was mit der

73Julia Stanley, “Lesbian Relationships and the Vision of Community," Feminary 9, Nr. 1 (1978): 6-7. 219

Präsenz der ALTEN angezeigt wird), das dann immer mächtiger

wird, wie die Vergangenheit— die von Jahrhundert zu Jahr­

hundert zunimmt, während die Zukunft immer gleich unfaßbar,

nicht festlegbar bleibt. Kommunen und Gemeinschaften sind

insofern Stätten mit größtem Potential, da sie ftir die Zukunft

stehen, aber genauso wie die Zukunft sind sie unbekannt und

beinhalten ein Moment des Neuen, noch nicht Dagewesenen, der

Veränderung. Teresa de Lauretis sagt dazu Folgendes: "The

community has become a place that is unknown and risky, that

is not only emotionally but conceptually other; a place of

discourse from which speaking and thinking are at best

tentative, uncertain, ungaranteed.1,76 Aber diese Komponente

wird von den Frauen nicht wahrgenommen.

Die ALTE wurde durch den Tod ihres Mannes zur Besitzerin

des Gasthauses, das daraufhin zu ihrem Lebensinhalt wurde,

obwohl sie noch zu seinen Lebzeiten über die Wirtschaft sagte:

"Jedenfalls in meinem Traum das Glück ist bestimmt keine

Wirtschaft." (EuS 53)

DIE ALTE (...) Der Kronenwirt hat seinerzeit gottlob alles mir und keinen Pfennig seiner Verwandschaft, für die war ich doch nie eine Kronenwirtin, ich war halt vom Kronenwirt eine Schwäche, die er geheiratet hat anno sechs - aber die Kronenwirtin war ich dann doch, als der Kronenwirt tot war und das Testament vor der Verwandtschaft - von meiner Seite aus war das nur ich und mindestens über zwanzig alle von seiner Seite, die Schwägerinnen natürlich mit Kindern und Enkeln und bis zum vierten Grad die Vettern und Basen mit Kindern

7#Teresa de Lauretis, "Eccentric Subjects: Feminist Theory and Historical Consciousness," 138. 280

und Enkeln und was weiß ich nicht alles. Pause. Das war meine richtige Hochzeit: Gasthof zur Krone - und ich allein die Wirtin. fEuS 11)

Dafür hat sie gelebt, unabhängig von ihrem Hann den Gasthof zu

leiten. Nach und nach setzt sich durch ihre Monologe eine

Biographie zusammen, die sich für eine ältere Frau als gar

nicht ungewöhnlich erweist. Als erstes teilt sie den Tod ihres

Mannes und ihre Übernahme des Gasthauses mit und bezeichnet

dieses Ereignis als "richtige Hochzeit", als entscheidendes

Moment für ihre Befreiung und Selbständigkeit. Sie gewährt

Einblick in das Leben einer verstorbenen Frauengeneration, die

an der Seite ihrer Ehemänner erstickten, da ihr Leben durch

Bestimmungen und Regeln eingeschränkt wurde, was sie in

Unwissenheit und Abhängigkeit hielt:

War immer und alles verboten: Du weißt nichts von der Wirtschaft, nichts vom Speiseplanmachen, vom Einkäufen nicht, nichts über die Preise, nichts über die Wünsche der Stammkundschaft und wie man mit Laufkundschaft umgeht, nichts über die Herren von der Gemeinde und wie man Gäste, die einmal über den Durst, und wer aus dem Stadtkreis und wer aus dem Landkreis und immer so fort das ewige: Kronenwirtin wirst du nie sein. Pause Und dann war er gestorben und Kronenwirtin war ich: (...) (ins 12)

Das Gebäude, das die Künstlerinnen vorfanden und von Grund auf veränderten, war einziger historischer Hinweis auf die

Existenz der ALTEN. Durch den völligen Umbau und das

Verschwinden der sichtbar hinterlassenen Spuren der ALTEN wäre

ihre Existenz vollkommen ausgelöscht worden. Ihre "Geschichte" wird nun durch "ihre" Präsenz am Rande der Bühne, und durch ihr Erzählen dokumentiert. In den Vorbemerkungen zum Stück fordert Roth, daß die "Alte" während der Verwandlung des

Gebäudes mehr und mehr zuwächst. "Später überwuchert das von

'der Alten' ausgehende Wachstum auch die Künstlerinnen samt

zugehöriger Technik." (EuS 8) Nur das Publikum sieht das ständige Hin und Her zwischen der Geschichte der ALTEN und den

Künstlerinnen, beide sind gleichzeitig auf er Bühne, was gezwungenermaßen zu Vergleichen anstößt. Das simultane Ansehen und Beobachten zweier "Stücke"— könnte man fast sagen— führt dazu, daß sich Differenzen und Unterschiede zwischen den beiden herauskristallisieren. Die Präsenz der ALTEN symbolisiert das Anhören und die Relevanz einer historischen

Perspektive, was beim Publikum zum Erkennen von Ähnlichkeiten als auch Unterschieden zwischen den Unterdrückungsformen führt. Die Verletzungen, Verwirrungen und Überreste einer verstorbenen Frauengeneration werden durch die ALTE in

Erinnerung gebracht, sie bekommen eine Stimme. Die Rede der

ALTEN übernimmt in der Atmosphäre des Umbaus die Funktion der

Befreiung, die der Raum/Gasthof für sie hatte, und auch jetzt wieder für eine neue Frauengeneration hat. Durch die ALTE werden die Lebensumstände von Frauen in der Vergangenheit vergegenwärtigt. Die Zeit dazwischen wird nicht gezeigt, aber hat zu Veränderungen geführt.

Wie schon der Titel andeutet, so handelt es sich bei

Erben und Sterben zum einen um die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens (Sterben) und zum anderen darum, was davon 282

zurückbleibt (Erben) . Durch den Tod der ALTEN und ihre verbale

Präsenz wird auf einen Aspekt von Tradition und Geschichte

hingewiesen, der besonders im Bezug auf Frauen übergangen

wurde. Die uns vertraute von Männern dominierte "Geschichte"

wurde aus der Perspektive der Mächtigen und Priviligierten,

also von "oben herab" auf gezeichnet, was auf den Ausschluß von

Frauen und die Herrschaft von Männern verweist. Durch Oral

Hlstory77, wie sie hier durch den Monolog der ALTEN

eingebracht wird, zeigt sich ein persönlicheres und

authentischeres Bild der Vergangenheit, zumindest was das

Leben von Frauen78 anbe-langt. Dies wird besonders da wichtig,

wo sich die äußerliche, physische Umgebung radikal verändert

(wie z. B. im Falle des totalen Umbaues des Gasthofs, der

absoluten Technologisierung desselben) , oder wenn sie relative

Unabhängigkeit (wie z. B. die der Frauen zum gegenwärtigen

historischen Zeitpunkt) erreichen. Geschichte soll nicht

ignoriert werden,79 sondern historisches Hissen und Vergleiche

^Glenn Jordan und Chris Weedon, Cultural Politics. Class. Gender. Race and the Postmodern World (Oxford: Blackwell, 1995) 65-112.

7BDie ALTE spricht und steht hier natürlich nicht für "Frauen" im Allgemeinen, sondern für eine ganz bestimmte Generation, aus einem spezifischen sozio-ökonomischen Hintergrund.

^Die gegensätzliche Einstellung gegenüber dem Vergangenen, dem Tod zeigt sich zwischen der LIBRETTISTIN und der KOMPONISTIN schon in der ersten Szene. Während die LIBRETTISTIN begeistert das Gasthaus und seine Vergangenheit erkundet, ist die KOMPONISTIN irritiert, weiß sie nicht, was damit zu tun: "Wirf das Zeug raus. / Raus, raus. Alles raus hier. Das ist doch— das reinste Totenhaus ist das hier. / Ich kann das alles nicht mehr sehen, und dein ewiges 'Sieh-doch- 283 sind von Belang, da die gegenwärtige Situation das Resultat bzw. der Teil eines Prozesses ist. Zugleich demystifiziert

Oral History Geschichte, denn was mitgeteilt wird, ist die

Wiedergabe von Ereignissen aus persönlichen Leben, in einem sehr indivi-duellen Stil. Diese Art von Geschichtswiedergabe-- besonders zum Zweck der Gegenüberstellung verschiedener historischer Zeitpunkte— dient als eine Art von epischer

Verfremdung, da Veränderung sichtbar gemacht wird, was bedeutet, daß Veränderung möglich aber ein langwieriger Prozeß ist. Die Gegenwart, so wie sie gezeigt wird, wird als veränderbar dargeste11t.

Vis-ä-vis dem Leben der ALTEN wird die Gegenwart der sechs Frauen gezeigt, wobei das verbindende Glied das Gebäude ist. Der Erwerb des Gebäudes ftir die Künstlerinnen wird von der MEDIENFRAU gehandhabt, die für die Vermarktung des hier zu schaffenden Frauenkunstprojekts zuständig ist. Die Situation der sechs Frauen scheint auf dem ersten Blick so sehr ver­ schiedenen von der der ALTEN zu sein: Sie sind Lesben80, die

ALTE war verheiratet; sie arbeiten im Kunstbereich, haben selbst gewählte Karrieren, während die ALTE durch ihren

Ehemann zur Gastwirtin wurde; die sechs Frauen verwirklichen für sich einen alternativen Lebenstil, die ALTE hingegen geht mal-alles-wie-früher' hängt mir zum Hals raus. / Wahrscheinlich liegt sogar noch ihre Unterwäsche oben im Schrank. / Mir wird ganz schlecht. / Wo war das Klo?" (EUS 9)

*°Sie sind nicht in einer Ehe festgebunden und schon in dieser Hinsicht unabhängiger und freier, obwohl ihre Sexualität natürlich durch Heterosexualität definiert wird. darin auf, es allen recht zu machen, da sie nur durch das

Geschäft Überleben kann, das von der Anerkennung und Akzeptanz anderer abhängt. Gemeinsam aber ist beiden, daß ihre Unab­ hängigkeit und ihr Überleben zu den verschiedenen historischen

Zeitpunkten vom Kapital bestimmt wird. Das Kapital verbindet sie mit der Außenwelt und diese Abhängigkeit vom Kapital verhindert letztendlich radikale Veränderungen, dies müssen sowohl die Künstlerinnen ("Also wir sollen wie überall sonst immer auch hier termingerecht brav unsere Eierchen legen." EuS

14) als auch die ALTE feststellen ("Hier war ja immer alles beim alten, und das war auch gut so, das Neue wird auch wieder alt. Hier hab ich gelebt und bin immer älter geworden, aber doch immer voll Hoffnung, immer in einer Art von Erwartung, noch bis zum Schluß." EuS 15). Die Hoffnung auf radikale

Veränderung wird enttäuscht, da alternative Lebensweisen immer in einem sozio-historischen Kontext stehen, der sich nicht so schnell ändert, in dem sie aber existieren müssen.81 Während die ALTE ihre Wirtschaft nur führen kann, indem sie ihre

Selbständigkeit und Unabhängigkeit zum Teil durch Kompromisse und Balanceakte beibehält, da sie ständig mit der Außenwelt in

Kontakt ist, sind die Künstlerinnen sich in ihrer alternativen

8,Obwohl die Gemeinschaft für die einzelen Mitglieder unterschiedliche Vorteile hat (z. B. können sie ihre Sexualität leben, oder mit der Unsichtbarkeit von Lesben und Künstlerinnen brechen), muß die Kommune in einem größeren gesellschaftlichen Kontext existieren. Dieser Kommune fehlt jede Basis, die in einer politischen Mobilisierung resultieren könnte, d. h. daß die Kommune einen Einfluß auf das hegemone kulturelle System haben könnte. 285

Kommune durch Konkurrenz und Eifersucht selbst im Weg, was sie

dann wiederum von der Außenwelt abhängig macht.

Es ist Konkurrenzdenken, Verweigerung von Konsens und

individueller Egoismus, an dem das gemeinsame Unternehmen

scheitert— sei es das Kunstwerk als auch als Kommune.

Konkurrenzdenken ist der eigentliche Hovens für wesentliche

Konflikte in patriarchalisch strukturierten Systemen. Dadurch

wird unter anderem eine patriarchalische Gesellschaft in ihrer

Gesamtheit geprägt, und sämtliche Lebensbereiche werden davon

durchdrungen. Aber Konkurrenzdenken wird nicht nur aus­

schließlich von männlichen Repräsentanten der Gesellschaft

betrieben, sondern in gleicher Weise werden auch Frauen durch

das Konkurrenzdenken deformiert. Die lesbischen Künstlerinnen,

die sich aus der Gesellschaft zurückziehen, stecken so tief

drinnen in den Mechanismen des Ganzen, daß ihr Rückzug nichts

bewirkt. Als Künstlerinnen schaffen sie für und brauchen sie

ein Publikum, und sie sind genauso wie die ALTE von der Außen­

welt abhängig, wollen sie überleben. Sie sind auf die die

KulturIndustrie fördernde Gesellschaft um sie herum ange­

wiesen, was im Stück durch die Party für potentielle Mäzene

zum Ausdruck gebracht wird. Die wichtigen Vertreter und

Repräsentanten der offiziellen Kulturgremien sind Männer, die darüber entscheiden, wohin die finanziellen Mittel fließen sollen, welche Projekte unterstützt werden sollen etc. Dadurch wird auf die bestehende Hierarchie und die geradezu feudale

Allmacht von Kulturreferenten hingewiesen, die Abbilder für 286

die Strukturen dieser Institutionen sind. In einer von Männern

dominierten Kulturszene werden Frauen wegen ihres Geschlechts

ausgeschlossen, was sie zwingt eigene Kunstgemeinschaften zu

gründen. Dies deutet einerseits auf die speziellen impliziten

Mitgliedsanforderungen der "dominanten" Kunstgemeinschaft hin

und kritisiert diese, andererseits verweist es auf die

allgemeine Akzeptanz von Subkulturen, da diese von der

Mainstream-Kultur aus definiert und als "Subkultur"

stigmatisiert werden, was deren Existenz, insofern sie

finanziell von dem "dominanten" Kulturapparat unterstützt

werden, einschränkt und kontrolliert. Der KULTURBEAUFTRAGTE,

der die Institution Kultur vertritt, spricht über den

Stellenwert der Kultur:

Um die Veränderungen unserer Lebenswelt verstehen zu können, müssen wir offensiv die kulturellen Verständigungsprozesse fördern. Nur die Künste, die Literatur, der Film, das Theater, eben kulturelle Prozesse bringen dieses Vorstellungs- und Beur­ teilungsvermögen hervor und reagieren oft Seismo­ graph isch darauf. Je komplexer die gesellschaftlichen Entwicklungen sind, desto mehr brauchen wir eine starke kulturelle Öffentlichkeit und künstlerische Herausforderung. Das ist einer der Gründe, weshalb wir hier sind. Was hier geschieht, läßt sich nicht mit wenigen Sätzen umschreiben. Indem wir künstlerische Initiativen ernst nehmen... (EuS 74)

"Was hier geschieht..." ist ironisch, denn er weiß gar nicht, was geschieht, insofern bleibt es für ihn unbeschreibar, denn die hier produzierte Kunst wird vor den Mäzenen absichtlich verborgen. Der KULTURRFERENT vertritt die offizielle

Kunstauffassung, und deshalb wird die PIANISTIN vorgeschickt, denn als interpretierende Künstlerin ist sie die einzige, die 287

jederzeit etwas bieten kann, und sie wählt Chopin um ganz

sicher zu gehen.'2 Der Rest ist nicht präsentabel. Kunst­ produktion wird durch staatliche Gelder und Zuschüsse beeinflußt und in eine Richtung gedrängt, denn letztlich

entscheidet ein ideologischer Hintergrund, was als Kunst gilt.

Innerhalb der Kunstproduktion wird weiterhin eine Hierarchie

auf erhalten, wo bestimmte Kunstrichtungen über anderen stehen.

Der MANN, der auch für den KULTURREFERENTEN sprechen könnte, da dieser durch seine Geldzuteilung über die Zukunft der Kunst entscheidet, spricht die Arbitrarität des ganzen Vorgangs an:

MANN Wir befassen uns ministriell derzeitig ganz gezielt mit dem Thema "Kulturhorizont 2000— Kunst und Gesellschaft im Licht der Jahrhundert- und Jahrtausendwende." Ich frage mich ernsthaft: Wenn ich hier sitze, warum sitze ich hier? Was wird einst Kunst sein? Über Zuschüsse entscheiden heißt doch: Verantwortung übernehmen. Wie soll ich Verantwortung tragen für etwas, das ich nicht kenne? Und wenn man es kennt, ist es immer zu spät. (EuS 79)

Letztendlich wird dann das unterstützt, was schon bekannt ist, da dies eventuelle Risiken ausschließt. Menschen, die sich mit

Kunst beschäftigen, bzw. sie schaffen, unterscheiden sich nicht so wesentlich von anderen sozialen Branchen: Konkurrenz- und Hierarchiebewußtsein ist hier genauso vertreten wie sonst, denn es wird um den "Platz an der Sonne" und um die beschränkten finanziellen Mittel gefochten:

'2,iDIE KOMPONISTIN Setzte ein paar Chopin-Abende ein. Danach reißen sich immer alle. / Als Interpret ist man gut dran. Schwer hat es nur die wirklich kreative Natur." (EuS 41) 288

Erregte Gegenrede. (zum SCHWEIGENDEN GAST, RG) - Alles, was ich hier sehe, was ich hier höre, ist viel zu amorph, viel zu unstrukturiert, verläuft, gemessen am Anspruch, so haarsträubend regellos, daß es nur im Chaos enden kann. Jeder Mensch wird— jedenfalls solange er aktiv im Leben steht, und dies gilt erst recht für Künstlerinnen und Künstler— , jeder wird doch versuchen, eine bessere Rolle zu spielen, Rangordnungen zu verändern, sein Ansehen zu erhöhen. Jeder will Prestige. Er verschafft es sich mehr durch sein Verhalten als durch sein Können. Er muß nicht nur etwas können, sondern die anderen müssen sein Können wahrnehmen, ihn respektieren. Aber Prestige verlangt Respekt, und Respekt setzt Gefolgschaft voraus. Wie erkämpft man sich eine Führungsrolle im Rudel? Man steht Führertum nur den Erfolgreichen zu. Erfolg muß man haben, und zwar immerfort. Ein einmaliger Erfolg verblaßt schnell. (EuS 82-83)

Diese Hierarchie zeigt sich auch in der Künstlerinnen-Gruppe: auch hier nimmt sich eine wichtiger als die andere, geht es darum, sich den anderen gegenüber durchzusetzen. Die

MEDIENFRAU und die KOMPONISTIN konkurrieren am stärksten und versuchen sich gegenseitig zu blamieren und auszustechen, was

in Eifersucht begründet sein mag (die beiden waren zu einem früheren Zeitpunkt romantisch liiert), aber auch darin, daß beide um die Mitte d.h. die Macht in dieser Gruppe kämpfen.

Die KOMPONISTIN steht eindeutig im Mittelpunkt, um sie dreht sich alles, ihre Gefühle und Aufmerksamkeit sind die

Ursache für die Eifersüchteleien der anderen, alle rivalisieren um sie und demütigen sich gegenseitig. Das

Gesamtkunstwerk, das die Frauen schaffen wollen, soll auch auf der originalen Komposition der KOMPONISTIN basieren. Dadurch daß die KOMPONISTIN im Mittelpunkt steht, sich in den

Mittelpunkt schiebt, gibt es auch hier in dieser alternativen 289

Kommune wieder ein "Zentrum", von dem aus marginalisiert wird.

Dieses Zentrum wird durch Vergleiche, Gegenüberstellungen und

Differenzierungen gewonnen und von den anderen gebilligt.

DIE HALERIN (...) Die Raumaufteilung ist aber wirklich der erste Schritt. Und deshalb möchte ich, falls niemand sonst und es möglicherweise finanziell im Rahmen... DIE KOMPONISTIN Seit wann ist entschieden, daß du dich hier fest und für immer... DIE MEDIENFRAU Ich denke, sie macht diese herr­ lichen Räume, die ihr für euer nächstes Projekt... DIE PIANISTIN Projekt - schon dieses Wort. Wieso brauchen wir Bilder und Räume für unser Klavierkonzert? DIE LIBRETTISTIN Fürs Klavierkonzert nicht. Für unsere Szenarios schon. DIE KOMPONISTIN Und wo soll dann bitteschön meine Freundin... ich habe ihr längst versprochen... DIE MEDIENFRAU Noch gehört alles hier mir. Du kannst ohne mich nichts versprechen. Hier sollen Kunststücke entstehen. Hier lasse ich keinen Weiberpuff zu. DIE KOMPONISTIN Ich habe es gewußt: Es ist hier wie sonst auch, (EuS 17)

Schon ganz zu Beginn in der 5. Szene sind die Spannungen auf

den unterschiedlichen Ebenen sichtbar. Obwohl hier ein

gemeinsames Projekt entstehen soll, sehen die einzelnen

Künstlerinnen nur sich selbst, ihr eigenes Schaffen bzw. ihre

Interpretation. Sowohl die Bilder, die Szenarios als auch das

interpretierende Spiel der Pianistin bedürfen als Ausgang die

Komposition der KOMPONISTIN. Daß sie für das gemeinsame

Projekt das Gerüst mit ihrer Komposition bieten soll, ist für

die LIBRETTISTIN Ursache von Ressentiments. Die PIANISTIN

hingegen hat eine andere Einstellung dazu, da sie ja nur

interpretiert und insofern nicht kreativ tätig ist, was sie macht ist ein Handwerk, etwas Erlerntes. Diese gegenseitige 290

Abhängigkeit schafft Hierarchien und Zänkeleien, zugleich ist

die MEDIENFRAU durch ihre finanzielle Kaufkraft sowie durch

ihre Beziehungen zur Kulturindustrie in einer besonderen

Machtposition, die sie ausspielt wenn nötig, um ihre Autorität

zu bewahren.

DIE LIBRETTISTIN Wer zieht eigentlich endgültig hier ein? DIE MEDIENFRAU Du, sie, und sie, und ich noch natürlich, und sie - oder die Hundeheilerin. Aber dann ohne mich. DIE KOMPONISTIN (...) Ich hör wohl nicht recht: Wenn sie, dann ich nicht; wenn aber ich, nur ohne sie. Kindergarten ist das. (...) DIE MEDIENFRAU Ich muß wissen, mit wem ich hier was und wofür und warum. Wenn hier nicht, dann da, wenn da nicht, dann dort, bin ich es, bist du es, das geht nicht. Ich will präzise wissen, wer und wie lang... (EuS 18-19)

Die Kommune muß zusammenwachsen um zu funktionieren, d. h. ein

gemeinsames Ziel bzw. eine gemeinsame Identität müßte

hervorgebracht werden, ansonsten funktioniert nichts. Aber das

Problem liegt darin, daß die MEDIENFRAU und die KOMPONISTIN

alles auf ihre Art machen und erreichen wollen, d. h. eine gemeinsame Identität auf ihrer eigenen basieren wollen.

Persönliche Interessen spielen bei den Entscheidungen die größte Rolle, da letztlich diejenige sich behauptet, die ihre

Interessen durchsetzt. Die KOMPONISTIN sieht sich in der

Gruppe als die Vertreterin der kreativen Künstlerin, da sie noch nicht Dagewesenes, noch nicht Gehörtes schaffen will.

Aber genau das gelingt ihr nicht, denn ihre große Komposition, 291 die sie bei Champagner und Kerzenlicht vorführt, hält der

Kritik der anderen Frauen nicht stand. Abgesehen von der

Kürze, die von der HEDIENFRAU bemängelt wird, da sechs Minuten keinen Abend ausverkaufen, wird von der LIBRETTISTIN die

Komposition selbst abgewertet, da sie darin etwas "Brahms- artiges" gehört haben will, und somit das Prinzip des "nie

Gehörten", des absolut Kreativen kritisiert. Zum einen ist alles immer neu, aber zugleich wird auch alles von etwas anderem abgeleitet, durch etwas motiviert usw. und ist

insofern nie völlig neu.

DIE KOMPONISTIN Sofort, sofort, Liebste, sofort. Gleich wirst du bisher nie Gehörtes hören! DIE LIBRETTISTIN Liebe Güte, ist das alles? Das bekommst du doch täglich umsonst. Ho ich geh, wo ich steh, höre ich alles neu; sehe ich alles neu; der Hahn auf Nachbars Mist kräht jeden Morgen gleich und doch nicht gleich. Und wenn ich gut gelaunt bin, klingts vielversprechend, und wenn ich schlecht gelaunt bin, klingts nach Unheil. Und Mozarts d-moll Konzert klingt in Chicago anders als in Berlin, und überhaupt: Solang die Zeit vergeht, klingt immer alles anders und wie neu. (...) Musik. - Es handelt sich um wDie große Komposition". Lange Pause. Fang nochmal an. Ich hab nur halb zugehört. Kann es sein, daß ich was Brahms-artiges gehört... DIE KOMPONISTIN Was - was gehört? fEuS 24)

Die TIERÄRZTIN— die Außenseiterin— ist die einzige, der die

Komposition gefällt, aber ihre Reaktion verrät, daß sie gar nichts versteht, keine Ahnung hat, und nur sehr oberflächliche

Bemerkungen machen kann: "Mich hat das berührt, angerührt richtig, ich habe so viel gespürt. / Das waren doch Töne, das war so ein Klang, das war, ja was war es? Es war so anders. Das war es." (EuS 25) Sie ist aber auch die Amateurin unter den Künstlerinnen, sie ist unsicher und will in erster Linie die KOMPONISTIN verteidigen und ihr schmeicheln, weshalb sich die LIBRETTISTIN und auch die MEDIENFRAU ständig Uber sie, ihre Reaktionen und ihre Tierklinik für Dalmatiner lustig machen. Die TIERÄRZTIN und ihr Geld wird zum Spielball in der

Frauengruppe, durch und Uber sie verletzen und beleidigen sich die Frauen gegenseitig, wobei die Präsenz der TIERÄRZTIN keine

Rolle spielt, auch in ihrer Gegenwart wird sie als

Streitobjekt benutzt. Für die KOMPONISTIN ist sie nicht nur ihr größter Fan, sondern sie lebt von ihrem Geld auf großem

Fuß, was schließlich den Bankrott und den Selbstmord der

TIERÄZTIN verursacht. Die MEDIENFRAU und die LIBRETTISTIN nehmen jede Gelegenheit wahr, um die KOMPONISTIN zu kompromittieren, ihr parasitäres Dasein zu entblößen.

Eifersucht und Konkurrenz— beides Gefühle, die von einem gemeinsamen Nenner, nämlich Mangel an Selbstsicherheit, ausgehen— mag bei beiden das leitende Motiv sein, da die eine schon früher eine Liebesbeziehung mit der KOMPONISTIN hatte, die von dieser aus Mangel an finanzieller und emotionaler

Unterstützung abgebrochen wurde, und die LIBRETTISTIN sich wohl selbst für die KOMPONISTIN interessiert, was ihre

Neugierde für die Beziehung zwischen der MEDIENFRAU und der

KOMPONISTIN begründen würde:

DIE LIBRETTISTIN Wie war sie? Hat sie dich umworben. DIE MEDIENFRAU Das weißt du doch. Tu nicht so vom Himmel gefallen. DIE LIBRETTISTIN Warst du geschmeichelt? 293

DIE MEDIENFRAU Wieso geschmeichelt? Von diesem Möchtegern-Juan! DIE LIBRETTISTIN Wieviel hast du bezahlt? DIE MEDIENFRAU Auf jeden Fall weniger als unser mieses Viehdoktorchen. DIE LIBRETTISTIN Hat sie so gut geküßt wie ich? DIE MEDIENFRAU Woher soll ich wissen, wie du küßt? DIE LIBRETTISTIN Ich könnte es dir ja zeigen. fEuS 36-37)

Trotzdem fühlen sich beide von ihr angezogen, obwohl gerade sie durch ihre Schaffenskrise und ihren hohen Kapitalbedarf, den Abschluß des Frauenprojektes hinauszögert und schließlich verhindert.

Obwohl bei oberflächlicher Betrachtung lesbische Liebe nicht im Zentrum des Interesses zu stehen scheint, sondern nur als nebensächlicher aber ganz normaler Begleitumstand, erscheint es mir als unerläßlich die vorliegende Konstellation der Frauenfiguren nicht nur in Bezug auf ihr künstlerisches

Schaffen, sondern auch auf ihre lesbische Präferenz hin zu untersuchen. Die Möglichkeit der alternativen Frauenbeziehung wird ständig— sei es in Szenen mit der ALTEN oder durch die

Szenen des "Stücks im Stück"— mit der "alten Ordnung", d. h. heterosexuellen Beziehungen kontrastiert. Die gesellschaft­ liche Normierung heterosexueller Beziehungen wird von Roth in ihrem dramatischen Werk wiederholt aufgezeigt und kritisiert, aber in Erben und Sterben83 basiert sie diese Kritik das erste

Mal auf der Darstellung lesbischer Beziehungen, worin sich der

Wunsch bzw. die Utopie nach der Überwindung konventioneller

83In Krötenbrunnen gibt es zwar den homosexuellen PRODUZENTEN und den bisexuellen BLONDSCHOPF, aber die Frauen waren soweit bei Roth alle heterosexuell. 294

Liebesbeziehungen erkennen läßt. Das Phänomen "Liebe" taucht

als Grundmotiv auf und in Erben und Sterben wird die

Thematisierung von Frauenbeziehungen als mögliche Alternative

zur Befreiung aus traditionell-konventionellen Rollenbildern

gesehen. So wie Roth die gleichgeschlechtliche Liebeskonstel-

lation darstellt, dient sie ihr aber eher als Kritik am

Konzept von Beziehungen und Liebe im allgemeinen, denn als

quasi Alternative, die allein dadurch schon grundlegende

Veränderungen zur Folge hätte. Die konkrete lesbische

Beziehung zwischen der KOMPONISTIN und der TIERÄRZTIN wird von

Roth funktionalisiert, um lediglich die Reproduktion einer

asymetrischen Rollenverteilung zu konzipieren, wie sie sich in

konventionellen heterosexuellen Beziehungen (z. B. der ALTEN

und ihrem Mann) auch zeigen. Roths Frauen— heterosexuelle wie

lesbische— vermögen sich letztendlich nicht von den

bestehenden konventionellen Rollenbildern zu lösen, da sie in

ihren Beziehungen auf nichts anderes zurtlckgreifen können als

auf bereits Vorhandenes. Roth bietet keinen praktischen Ausweg

aus den durch Dominanz und Unterwerfung charakterisierten

Strukturen menschlicher Liebesbeziehungen. Die patriarchalen, heterosexuellen Beziehungen werden als Kerrschaftsverhältnisse

aufgedeckt, in denen Männer den dominierenden, bestimmenden

Part innehaben, und diese Herrschaftsverhältnisse werden oft von Frauen (z. B. der KOMPONISTIN) durch einen Rollenwechsel umgekehrt, indem sie in Beziehungen zwischen Frauen reproduziert werden, sie die Machtposition einnehmen. Die 295

KOMPONISTIN schafft sich durch ihren "kreativen"

Künstlerinnenstatus eine besondere Position, die mit der

Position von Männern, die umgeben von helfenden und liebenden

Frauen ihre Existenz sichern können, vergleichbar ist.

Konventionelle Frauenrollen werden zwar durchbrochen, aber an den konventionellen Liebesbeziehungen ändert sich nichts. Das

Muster der heterosexuellen Liebesbeziehung, sowie der stets sich abspielenden Dreiecks-Geschichten, das die LIBRETTISTIN zum Thema ihres Stückes macht, spiegelt sich auch im

Haupttext. Verletzte Gefühle, Eifersucht und Kontrolle liegen den Interaktionen zugrunde. Während im Stück der LIBRETTISTIN der Mann im Zentrum steht, den Frauen gegenüber eindeutig

überlegen ist, da sie sich um seine Liebe und Anerkennung reißen,84 ist es im Haupttext die KOMPONISTIN, die diese

"wünschenswerte" Position einnimmt, um welche sich alles d r e h t .

Roth läßt in Erben und Sterben die Frauenkommune als mögliche Alternative, als positiven Gegenentwurf zu

84,1 FRAU Wer war denn die Dame im schwarzen Samt? Pause Und warum knöpfte sie die Bluse zu, als ich ins Zimmer trat? Du wolltest mit ihr Weggehen. MANN Das kann ich nicht behaupten. FRAU Machs nicht so spannend. Du bist der Mann, das weißt du doch, dem mein Herz und nicht nur das gehört. Warum knöpfte sie ihre Bluse wieder zu? MANN Du solltest doch für deine Nerven etwas tun. Fahre in Urlaub. FRAU Ist das dein Ernst? Sie geht, die andere Frau kommt. Im schwarzen Samt. Sie bewegt ständig die Finger, als spiele sie auf einem Klavier. MANN Du bist eine Frau, wie jeder Mann sie sich erträumt: schön, elegant, begehrenswert. FRAU Und du bist das, was man einen blendend aussehenden Mann nennen kann. Deine Männlichkeit und dein Charme... MANN Du treibst mich eines Tages noch zur Scheidung. FRAU Du weißt, daß dir mein Herz..." fEus 54) heterosexuellen Beziehungen als auch konventionellen Formen

des Kunstschaffens scheitern, indem sie die Frauen als

letztendlich dem traditonellen Rollendenken verhaftete Figuren

darstellt, die genauso von den Mechanismen der Dominanz und

Unterwerfung bestimmt werden, sowohl in ihren Liebesbe­

ziehungen als auch in ihrem künstlerischen Schaffen. Sowohl

die Frauenbeziehungen als auch die Kunstproduktion vollziehen

sich im Rahmen eines durch geschlechtsspezifische Unter­

drückung von Frauen gekennzeichneten patriarchalen Gesell­

schaftssystems, deshalb sind diese nicht frei von den in

heterosexueller Praxis ausgeübten Unterdrückungsmechanismen.

Die von Roth dargestellte Frauenkommune ist keine im

politischen Sinne zu verstehende Alternative, denn zu sehr ist

sie damit beschäftigt vom Mainstream akzeptiert und unter­

stützt zu werden, besonders nachdem die eigenen finanziellen

Mittel erschöpft sind. Und doch möchte ich Roths Entwurf als grundlegende Kritik an den einer patriarchalen Gesellschaft

immanenten Gewalt- und Machtstrukturen verstehen.

Die eigentliche Leistung der Konstruktion der sich in den

Frauenfiguren widerspiegelnden Frauen-, Lesben- und Künst­ lerinnenbilder ist darin zu sehen, daß Roth diese Bilder als in Abhängigkeit einer patriarchalen Kultur- und Zivilisations­ geschichte zeigt, und sie als Konstrukte enthüllt. Besonders vis-ä-vis der ALTEN ist eine Kritik an den institutionalisier­ ten heterosexuellen Beziehungen enthalten: In der Ehe hat sie erfahren müssen, daß diese aufgrund der dort praktizierten Geschlechterrollen, nur eine Einrichtung ist, um sich einer

billigen Arbeitskraft zu versichern. Dadurch daß Roth ihre

Frauenfiguren im Haupttext nicht in heterosexuellen Be­

ziehungen zeigt und die ALTE den Tod ihres Hannes als

Befreiung versteht, demonstriert sie letztlich eine kritisch­ distanzierte Haltung zu den konventionellen Beziehungs­

strukturen und Frauenbildern, die in solchen Beziehungen wie nach Schablonen gepreßt werden. Obwohl die Darstellung der

lesbischen Beziehung zwischen der KOMPONISTIN und der

TIERÄRZTIN (oder der MEDIENFRAU) alles andere als positiv ist, da es sich um eine Kopie gängiger Klischees über Liebes­ beziehungen handelt, wird deutlich, daß sie nicht das

Lesbischsein, die lesbische Liebe in Frage stellt oder sogar verurteilt, vielmehr kritisiert sie die internalisierten

Beziehungsmechanismen, die sich in lesbischen/homosexuellen als auch heterosexuellen Liebesbeziehungen ständig perpetuieren. Dies wird besonders im vierten Abschnitt des

Stückes— bei der "mäzenatisches Abendgesellschaft— klar. Aus den zerstückelten Gesprächsfetzen zeigt sich, daß es sich hier um eine Gruppe handelt, die sich aus jungen, flexiblen, alternativen Leuten zusammensetzt, die sich alle entweder mit

Kunst, den Medien oder Ähnlichem befassen. Die exaltierte

Karrieregruppe, die sich wie im Schnellablauf über den neuesten Klatsch, Beförderungen, Karrierewechsel und

Beziehungen unterhält, und sich selbst den Anschein einer jungen progressiven Gruppe gibt, entpuppt sich als künstliches 298

Abbild des immer schon Dagewesenen.

DIE LIBRETTISTIN Das könnte ich im Traum nicht erfinden. DIE PIANISTIN Ich begreif Überhaupt nichts. DIE LIBRETTISTIN Wir sollten die ganze Heute auf eine Bühne setzen und einfach bloß zusehen und zuhören. DIE KOMPONISTIN Eine Art neuafterpostmoderne Tafelmusik vielleicht... DIE MALERIN Und das ganze Ambiente noch konsequenter durchgestylt... Die mäzenatische Abendgesellschaft verwandelt sich langsam in ihr eigenes Objekt. Sie stellt selbst dar, was sie zu unterstützen beabsichtigt. (EuS 77)

An dieser Stelle stimmen die Künstlerinnen das erste Mal darin

Überein, wie ein Gesamtkunststück aussehen könnte. Auf jeden

Fall wäre oder müßte es eine Farce sein. Die anwesenden Männer

(MANN, ERSTER und ZWEITER MANN) sprechen mit den Frauen Uber ihre Probleme mit anderen Männern und wie sie unter Stereo­ typen leiden, aber nichts wirklich dagegen unternehmen. Die

Frauen arbeiten allesamt bei stereotypen Frauenmagazinen wie

"Mädchen", "Elle", "Miss Vogue", die weiterhin ganz bestimmte

Weiblichkeits- und Männlichkeitsmythen propagieren, ein ganz bestimmtes Frauenbild produzieren, nämlich das hetero­ sexueller Frauen, die sich Uber Männer definieren, ohne die politischen Implikationen ihrer Mitarbeit zu verstehen. Die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse, die sich in der

Geschlechterrollenhierarchie zwischen Männern und Frauen spiegeln, zeigen sich dann auch auf anderen Ebenen von zwischenmenschlichen Beziehungen, wie in homosexuellen, lesbischen Liebesbeziehungen, wo sich trotz gleichgeschlecht­ licher Paarkonstellation eine Geschlechterrollenhierarchie 299 zeigt.

Ausgehend von der Kritik an der patriarchalen

Gesellschaft und Kunstproduktion ziehen sich die Frauen zurück in eine abgeschlossene Kommune, um einen Neuanfang, eine

Utopie zu leben, nur um festzustellen, daß der bloße Rückzug zur Überwindung dieser männlichen Machtverhältnisse und den darin verzweigten Geschlechterrollen nicht genügt. Die

Verweigerung der tradierten sowie die Suche nach neuen

Frauenbildern führt fast zwangsläufig zur Übernahme von männlichen Rollenverhalten, was sich am Beispiel der lesbischen Beziehung zwischen der KOMPONISTIN und der

TIERÄZTIN, sowie der geschäftlichen Beziehung zwischen der

MEDIENFRAU und der Künstlerinnen zeigt. Lesbische Liebe ist zwar nicht negativ konnotiert, doch wird in ihrer

Konkretisierung am Beispiel der KOMPONISTIN/TIERÄRZTIN keineswegs eine selbsbewußte und gleichberechtigte Beziehung dargestellt, wird sie, so wie sie gezeigt wird, als keine

Alternative verstanden.

Gesellschaftliche Veränderungen können nur stattfinden, wenn sich alltägliche zwischenmenschliche Beziehungen ändern.

Dieses Verändern und Entwickeln ist ein Prozeß, der die

Vergangenheit mit der Zukunft verbindet, d. h. an einem

Nullpunkt kann nicht mehr begonnen werden, es muß mit dem gearbeitet werden, was vorhanden ist. Der Titel von Roths

Stück Erben und Sterben weist darauf hin, daß das nicht passiert, sondern wir uns in einer ewigen Stagnation 300 aufzuhalten scheinen. Dadurch daß "Erben” hier im Titel dem

"Sterben" vorausgeht— normalerweise wäre die Reihenfolge umgekehrt— deutet das "Erben" auf die Vergangenheit hin, auf die Kultur, die bestehenden Gesellschaftssysteme, und das

"Sterben" benennt das von Generation zu Generation sich

Wiederholende, sich kaum Verändernde. Trotz dem Willen zur

Änderung, wie ihn die MEDIENFRAU am Ende beschreibt, bleiben die Frauen in den geerbten Strukturen stecken und sterben ab. SCHLUSSBETRACHTUNG

Friederike Roths Weg als Schriftstellerin kann nicht getrennt von ihrem Studium der Philosophie und der Lingustik an der Universität Stuttgart gesehen werden. Durch ihre linguistischen und philosophischen Studien— mit Max Bense und später einer Dissertation über die ästhetischen Theorien von

Georg Simmel--weckte sich schon früh ein Drang selbst mit

Sprache zu arbeiten, Sprache zu bearbeiten, was sich in ihren ersten Texten "minimal-erzählungen", die sich an der Konkreten

Poesie orientieren, manifestiert. In der Konkreten Poesie geht es nicht um die beschriebene gegenständliche Welt, sondern es geht um das Medium, um die Sprache und ihre Mechanismen.

Konkrete Texte sprechen nicht Uber etwas, sondern haben sich selbst, die sprachlichen Äußerungen und Konstellationen zum

Inhalt. Eine Intention dabei ist, sprachliche Mechanismen freizulegen, zu zeigen, wie unbebewußt sie gebraucht werden, wie sie unser Denken manipulieren. Diese Beschäftigung mit der

"puren" Sprache löste bei Roth— wie auch bei anderen zeit­ genössischen Autoren wie z. B. Peter Handke— eine Skepsis gegenüber der Sprache und ihrer Verwendung aus. Das Medium

Sprache wird als historisch und gesellschaftlich vorgeprägtes

System gesehen, das die Wirklichkeit und die Beschreibung derselben ("daß sich beim Schreiben das Beobachtete, Erfahrene

301 verändert."1), die Gesellschaft als auch die Literatur/das

Theater immer wieder auf das Bekannte reduziert. Roths Dramen-

-auch "Sprachstücke1,2 genannt— die Gegenstand dieser

Dissertation sind, leben von der durch die Gegenüberstellung von alltagsprachlichen Dialogen, Ellipsen und poetischen

Spracheinlagen resultierenden Spannung. Die Knappheit des elliptischen Satzstils beruht zum einen auf Alltagsimitation, aber zugleich stilisiert sie diese Verdichtung und Auslassung zu einer Kunstsprache. Die Sprache ist artifiziell, aber verweist durchaus auf die "außerhalb des Theaters liegende

Wirklichkeit". Dasselbe trifft auf die Verdoppelung,

Mehrfachwiederholung oder Paraphrasierung des schon einmal

Gesagten zu, die gekoppelt mit dem elliptischen Stil

Vorkommen, und die Wirkung des Auf-der-Stelle-Tretens, der

Stagnation haben. Autoren wie Bernhard, Krötz, Strauß und

Handke haben sich vor allem in ihren Stücken während der 70er

Jahre dieser künstlich stilisierten Umgangssprache bedient, während wir diesen Sprachgebrauch bei Roth und anderen

Dramatikerinnen (Jelinek, Krechel, Steinwachs) hauptsächlich in den 80er Jahren sehen. Das hängt damit zusammen, daß es in den 70er Jahren kaum einzelne Frauen gab3, die fürs Theater

■Rieschbieter, "Wie Friederike Roth schreibt und lebt" 30.

2Mielke, "Sprachstücke" 60-67.

3Neben Pina Bauschs Tanztheater gab es in den 70er Jahren im deutschsprachigen Raum vor allem kleinere Frauentheatergruppen, die jedoch nicht kontinuierlich, da nicht professionell und ohne künstlerische Ansprüche 303 schrieben,4 vielmehr haben sich diese Dramatikerinnen während der 70er Jahre unter anderem als Hörspielautorinnen etabliert, einem Genre, das einzig auf dem Medium Sprache basiert.

Als Reaktion auf die Frauenbewegung der 70er Jahre zeigte die von Männern dominierte Theaterinstitution in den 80er

Jahren verstärkt Interesse an Dramatikerinnen, denn es schien unvermeidlich, die "Frauenfrage" ins Theater zu integrieren.

Unübersehbar ist, daß in den 80er Jahren mehr Autorinnen fürs

Theater schrieben als in vorherigen Jahrzehnten,5 während die sich in den 70er Jahren etablierten Dramatiker wie Handke und

Strauß vom Theater distanzierten. Trotzdem wurden die Stücke der Frauen an den Rand geschoben und die Krise im Theater angesagt.

Dem Thema Frau in Geschichte/Gegenwart/Kultur/Sprache stellten sich nun die Dramatikerinnen und ihre Perspektive unterscheidet sich entschieden darin, daß sie die Frage nach dem Geschlecht und die daraus resultierenden Implikationen aufwerfen. Roths Figuren— meistens Frauen— sind auf der Suche

arbeiteten.

4Gerlind Reinshagen schreibt schon seit den 60er Jahren Dramen, die zwar aufgeführt wurden, aber neben ihren männlichen Kollegen kaum Beachtung fanden: Doppelkopf. Ein gPiei (Uraufführung, 22.2.1968); Leben und Tod der Marilvn Monroe (Uraufführung, 21.1.1971); Himmel und Erde (Uraufführung, 14.9.1974); Sonntagskinder (Uraufführung, 29.5.1976). Elfriede Jelinek hat ihr erstes Stück für das Theater erst gegen Ende der 70er Jahre geschrieben: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft (Uraufführung, 6.10.1979).

5Roeder 13. nach sich selbst und dabei steht nicht zuletzt die Sprache im

Wege, sie sind Gefangene in einem (beschränkten) Sprachgehäuse und stellen die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens, des

Todes, der Liebe, der Kultur, etc. in einer ihnen eigenen, belanglos anmutenden Alltagssprache, die innerhalb der

Bühnenkommunikation oberflächlich wirkt, aber auf einer tieferen Kommunikationsebene untersucht werden muß.

Entscheidend an der Dramatik der Frauen ist, daß vor allem

Frauenbilder in den Mittelpunkt gestellt und dekonstruiert werden. Die Gespaltenheit wird gezeigt, die Idee des Selbst als Ganzheit wird entidealisiert. Die Illusion einer einheit­ lichen Person, die Uber die eigene Wirklichkeit verfügt und bestimmt, wird gebrochen, indem eine Vielfalt von Rollen durchspielt werden. Zusammenhänge werden verwischt und lösen sich auf, was durch Montage und Kol läge, mit Zitaten und unterschiedlichen Diskursen erreicht wird. Die Darstellung der

Wirklichkeit wird gezwungenermaßen zur Darstellung von

Klischees, Konstrukten und internalisierten Umgangsformen, und diese eigenständige Wirklichkeit wird durch die Sprache ausgedrückt. Roths Figuren, die meisten namenlos bzw. auf generische Namen reduziert, spielen Rollen und entsprechen so den Voraussetzungen eines institutionalisierten Systems.

Dieses System konkretisiert sich in gewissen Sätzen, Phrasen,

Redensarten, Klischees und Wirklichkeitskonstrukten, die bestimmtes Verhalten, bestimmte Umgangsformeln verlangen.

Dadurch kommt der deutliche Kommunikationsmangel zum Ausdruck, 305

denn Kommunikation ist immer konditioniert, bestimmten Ord­

nungen entsprechend. Roths Figuren scheitern an der Sprache

und dadurch an der Wirklichkeit. Sprache fungiert nicht mehr

als Kommuniktationsmittel, sondern im Gegenteil, sie spricht

sich selbst, konditioniert, manipuliert und beherrscht die

Figuren. Deshalb der Rückzug in Phantasien, Träume und

Klischees, um sich den politischen Aspekten ihrer Existenz zu

entziehen.

Möchte man Friederike Roth dramatisches Werk in einen

Kontext stellen, so muß man mehrere Beziehungen berück­

sichtigen: Zum einen gibt es die äußerlichen Abhängigkeiten von anderen literarischen/dramatischen Texten, auf die sie

reagiert bzw. die sie in einen neuen historischen Kontext

stellt. Zitate und Anspielungen auf Vorgängiges aus Literatur,

Kunst, Philosophie und Wissenschaft werden verwendet. In dieser Hinsicht, als auch in Bezug auf die Thematik, die in szenisch gebündelten aber trotzdem fragmenthaften Ausschnitte und Situationen vermittelt wird, kann man eine Verwandtschaft zu Botho Strauß erkennen. Dann gibt es den gesellschaftlichen

Kontext, die politischen und gesellschaftlichen Einflüsse, denen die Dramatikerin in ihrem Werdegang ausgesetzt war, die sie mit anderen zeitgenössischen Autoren (wie Peter Handke,

Botho Strauß, Thomas Bernhard, Gerlind Reinshagen, Elfriede

Jelinek, um nur die wichtigsten zu erwähnen) teilt, wie z. B. die 68er Bewegung und die Frauenbewegung. Bemerkenswert ist, daß in der dramatischen Produktion seit den 60er Jahren der 306

Versuch vorherrscht, die "wirkliche Wirklichkeit" einzuholen,

bzw. zu durchschauen, was nur über Sprache erfolgen kann. Die

jeweiligen Einflüsse der politisch-gesellschaftlichen

Bewegungen, die sich durch Sprache kundtun können und wieder

durch Sprache artikuliert werden, führen dazu, daß sich die

Erfahrensweisen verändern. Diese unterschiedlichen und auch

neuen Sehweisen— z. B. von Frauen— führen dann dazu, daß alte

Ideen und Inhalte der Literatur, wie die Liebe, die Kunst usw.

neu bzw. anders wahrgenommen werden, und durch die Sprache wird versucht, diese neue Sehweise darzustellen. Die Eiszeit

im Gefühlsleben und in Beziehungen, die zerstörte Zwischen­ menschlichkeit und die wachsende Vereinzelung des Menschen, der Zitatcharakter aller Sprach- und Lebensformen, die

Gleichgültigkeit allem Tun gegenüber und die Bedeutungs­

losigkeit als Themen sind schließlich Gemeinplätze in der

Dramatik der 70er und 80er Jahre, doch wird der Ansatz durch einen klaren Unterschied gekennzeichnet, nämlich durch die feministischen Sehweisen der Dramatikerinnen. Immer wird das

Gesagte durch die Art des Sagens kommentiert. Humor und

Groteske, Übertreibung und Verdichtung, Spaß am Spiel und an bühnenwirksamen Effekten sind für die Stücke von Friederike

Roth und anderen Frauen ebenso konstitutiv wie der scharfe

Blick für die Kümmerformen der modernen zwischenmenschlichen

Liebesbeziehungen. Der Rückgriff auf alte Formtraditionen,

Zitate, kulturell Vorgeformtes und Vermitteltes etc. würde einen historischen Vergleich fordern, um zu zeigen wie Roth 307 mit dem Vorgefundenen Material umgeht, was aber in dieser

Arbeit nicht berücksichtigt werden konnte.

Der Blickwinkel bei Roth ist im Vergleich zu früherer

Literatur unseres Jahrhunderts insofern verengt, als ihre

Texte keine unmittelbaren gesellschaftspolitischen Ver­

änderungen ins Auge fassen, die praktische Zielsetzung, die

Gesellschaft zu verändern, nicht auf dem Theater selbst dargestellt wird, wie es z. B. Brecht machte. Festgefahrene

Denk- und Wahrnehmungsformen werden unterminiert und durch

Verfremdung entlarvt, indem scheinbar "Natürliches" als

Künstliches bewußt gemacht wird, was als Kritik der

Gesellschaft verstanden werden kann. Das Theater wird als

Theater bewußt gemacht ("Das liegt daran, daß ich im Theater

Theater sehen möchte, nicht Wirklichkeit."6) , also weg von der

Illusionsbühne, die die Bühne als Welt darstellt, vielmehr geht es ihr darum, die Welt als Bühne zu zeigen. Die Zuschauer werden bei Roth ins theatralische Geschehen mit einbezogen, sie müssen die Spielregeln des Theaters, die vor allem durch das "Spiel im Spiel" bloßgelegt werden, weiterdenken und auf das von Spielregeln beherrschte gesellschaftlichen Leben

übertragen, um dessen Regulierungen und Normierungen zu durchschauen, in denen er/sie selbst unbewußt teilnimrat, im

Glauben frei zu handeln. Die Theamtisierung des Theaters und der Kultur als Betrieb gibt Anlaß zur Reflexion, und Roth steht mit diesem dramaturgischen Mittel in einer langen

“Reeder 44. 3 08

Traditionskette der Theatergeschichte. Doch geht es bei ihr nicht darum bereits bekanntes Illusionstheater in ihr Drama einzuarbeiten, sondern ihr liegt daran, die Grenzen zwischen dem "Spiel im Spiel" und dem Stück aufzuheben, damit die

Unterschiede nicht mehr ersichtlich sind, eins ins andere

übergeht, ein endloses Rollenspiel sich manifestiert.7 Dadurch werden "natürlich" gewordene Rituale und Umgangsformen, internalisierte Rollen als sprachliche Manifestationen gesellschaftlich-patriarchalischer Ideologien problematisiert.

Aber utopische Weltbilder, die einen Ausweg oder eine

Alternative anbieten, dazu reicht es bei Friederike Roth nicht. Die Beschäftigung mit der Sprachproblematik und das

Bewußtmachen der Künstlichkeit bilden eine Basis für zukünftige Alternativen, die noch gedacht werden müssen.

7Das "Spiel" wird als "Spiel" gezeigt, es gibt Zuschauer auf der Bühne, aber das "Spiel" unterscheidet sich nicht von dem, was man sonst auf der Bühne sieht. Gäbe es nicht den bewußten Bruch, bemerkte man den Übergang nicht. BIBLIOGRAPHIE

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