Plenarprotokoll 16/179

Deutscher

Stenografischer Bericht

179. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Nina Hauer (SPD) ...... 18995 D neten ...... 18967 A Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 18997 B Wahl der Abgeordneten und zu Schriftführerinnen . . 18967 B Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18998 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 18967 B (SPD) ...... 18999 C Absetzung der Tagesordnungspunkte 14 b (CDU/CSU) ...... 19000 D und 35 ...... 18968 B Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 19001 B Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 18968 B Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19002 B Zusatztagesordnungspunkt 2: (Erfurt) (SPD) ...... 19003 C Abgabe einer Regierungserklärung durch den Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 19003 D Bundesminister der Finanzen: zur Lage der Finanzmärkte Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 19005 A Peer Steinbrück, Bundesminister BMF ...... 18968 D Tagesordnungspunkt 3: Dr. (FDP) ...... 18978 A a) Erste Beratung des von der Bundes- Dr. (CDU/CSU) ...... 18980 B regierung eingebrachten Entwurfs eines (DIE LINKE) ...... 18982 D Gesetzes zur arbeitsmarktadäquaten Steuerung der Zuwanderung Hochqua- (SPD) ...... 18986 C lifizierter und zur Änderung weiterer (BÜNDNIS 90/ aufenthaltsrechtlicher Regelungen (Ar- DIE GRÜNEN) ...... 18988 A beitsmigrationssteuerungsgesetz) (Drucksache 16/10288) ...... 19006 B Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 18989 B b) Antrag der Abgeordneten Brigitte Dr. (DIE LINKE) ...... 18991 A Pothmer, Rainder Steenblock, Manuel Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der DIE GRÜNEN) ...... 18991 B Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abschottungspolitik beenden – Volle Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 2009 her- (CDU/CSU) ...... 18991 C stellen Rainer Brüderle (FDP) ...... 18993 D (Drucksache 16/10237) ...... 19006 C Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18995 B in Verbindung mit II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. , Donnerstag, den 25. September 2008

Zusatztagesordnungspunkt 3: e) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Erste Beratung des von den Abgeordneten Änderung des Bundeszentralregisterge- Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Gisela Piltz, setzes Dr. , weiteren Abgeordneten und (Drucksache 16/4199) ...... 19020 A der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes f) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- zur Steuerung und Begrenzung der brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Zuwanderung und zur Regelung des Auf- Stärkung des Opferschutzes im Straf- enthalts und der Integration von Unions- prozess bürgern und Ausländern (Zuwanderungs- (Drucksache 16/7617) ...... 19020 A gesetz) (Drucksache 16/9091) ...... 19006 C g) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur In- in Verbindung mit tensivierung des Einsatzes von Video- konferenztechnik in gerichtlichen und Zusatztagesordnungspunkt 4: staatsanwaltschaftlichen Verfahren (Drucksache 16/7956) ...... 19020 A Antrag der Abgeordneten Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk h) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Niebel, weiterer Abgeordneter und der Frak- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re- tion der FDP: EU-Arbeitnehmerfreizügig- form des strafrechtlichen Wiederauf- keit sofort und unbeschränkt in der Bun- nahmerechts desrepublik Deutschland gewähren (Drucksache 16/7957) ...... 19020 A (Drucksache 16/10310) ...... 19006 C i) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- , Parl. Staatssekretär brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- BMI ...... 19006 D derung der Bundesnotarordnung und Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 19007 D anderer Gesetze (Drucksache 16/8696) ...... 19020 B (SPD) ...... 19009 D j) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 19011 B brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Änderung des Bundeszentralregisterge- DIE GRÜNEN) ...... 19013 A setzes (Drucksache 16/9021) ...... 19020 B (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 19014 D k) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Rüdiger Veit (SPD) ...... 19016 C brachten Entwurfs eines Gesetzes zur (CDU/CSU) ...... 19018 C Verbesserung des Schutzes der Opfer von Zwangsheirat und schwerem „Stal- king“ Tagesordnungspunkt 38: (Drucksache 16/9448) ...... 19020 B a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- l) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur derung des § 33 des Gerichtsverfas- Einführung einer Modellklausel in die sungsgesetzes Berufsgesetze der Hebammen, Logopä- (Drucksache 16/514) ...... 19019 D den, Physiotherapeuten und Ergothera- peuten b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- (Drucksache 16/9898) ...... brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- 19020 B derung des § 573 Abs. 2 des Bürger- m) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- lichen Gesetzbuchs brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- (Drucksache 16/1029) ...... 19019 D derung des Gesetzes über den Bau und c) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- den Betrieb von Versuchsanlagen zur brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Erprobung von Techniken für den derung der Verwaltungsgerichtsord- spurgeführten Verkehr nung (Drucksache 16/9899) ...... 19020 C (Drucksache 16/1345) ...... 19019 D n) Erste Beratung des von der Bundesregie- d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- brachten Entwurfs eines ... Strafrechtsän- zes zur Anpassung der Vorschriften des derungsgesetzes – § 21 StGB Internationalen Privatrechts an die Ver- (... StrÄndG) ordnung (EG) Nr. 864/2007 (Drucksache 16/4021) ...... 19019 D (Drucksache 16/9995) ...... 19020 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 III o) Erste Beratung des von der Bundesregie- w) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Dün- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- gegesetzes zes zu dem Vertrag vom 3. März 2008 (Drucksache 16/10032) ...... 19020 C zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und dem Zentralrat der Juden in p) Erste Beratung des von der Bundesregie- Deutschland – Körperschaft des öffent- rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- lichen Rechts – zur Änderung des Ver- ten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes trages vom 27. Januar 2003 zwischen über Meldungen über Marktordnungs- der Bundesrepublik Deutschland und waren dem Zentralrat der Juden in Deutsch- (Drucksache 16/10033) ...... 19020 D land – Körperschaft des öffentlichen q) Erste Beratung des von der Bundesregie- Rechts – rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 16/10296) ...... 19021 B zes zur Durchführung des Übereinkom- x) Erste Beratung des von der Bundesregie- mens vom 30. Oktober 2007 über die rung eingebrachten Entwurfs eines Drei- gerichtliche Zuständigkeit und die An- zehnten Gesetzes zur Änderung des erkennung und Vollstreckung von Ent- Luftverkehrsgesetzes scheidungen in Zivil- und Handelssa- (Drucksache 16/10297) ...... 19021 B chen (Drucksache 16/10119) ...... 19020 D y) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- r) Erste Beratung des von der Bundesregie- ten Gesetzes zur Änderung des Allge- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- meinen Eisenbahngesetzes zes zur Abwehr von Gefahren des inter- (Drucksache 16/10298) ...... nationalen Terrorismus durch das 19021 C Bundeskriminalamt z) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/10121) ...... 19020 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- s) Erste Beratung des von der Bundesregie- zes zur Veröffentlichung von Informa- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- tionen über die Zahlung von Mitteln zes zur Durchführung gemeinschaftli- aus den Europäischen Fonds für Land- cher Vorschriften über das Verbot der wirtschaft und Fischerei (Agrar- und Einfuhr, der Ausfuhr und des Inver- Fischereifonds-Informationen-Gesetz – kehrbringens von Katzen- und Hunde- AFIG) fellen (Katzen- und Hundefell- Einfuhr- (Drucksache 16/10299) ...... 19021 C Verbotsgesetz – KHfEVerbG) aa) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- (Drucksache 16/10122) ...... 19021 A Uhl, , Hans-Josef Fell, wei- t) Erste Beratung des von der Bundesregie- terer Abgeordneter und der Fraktion rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Grenz- setzes über das Personal der Bundes- werte bei Müllverbrennungsanlagen agentur für Außenwirtschaft (BfAI- dem technischen Fortschritt anpassen Personalgesetz – BfAIPG) und deutlich absenken (Drucksache 16/10293) ...... 19021 A (Drucksache 16/5775) ...... 19021 C u) Erste Beratung des von der Bundesregie- bb)Antrag der Abgeordneten Michael rung eingebrachten Entwurfs eines Fünf- Leutert, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika ten Gesetzes zur Änderung des Filmför- Knoche, weiterer Abgeordneter und der derungsgesetzes Fraktion DIE LINKE: Für die Durchset- (Drucksache 16/10294) ...... 19021 A zung von Mindeststandards humanen Arbeitens in der Volksrepublik China v) Erste Beratung des von der Bundesregie- eintreten – Menschenrechte und Sozial- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- standards bei Konzerngeschäften in zes zu dem Protokoll vom 15. Oktober und mit China durchsetzen 2007 zur Änderung des Abkommens (Drucksache 16/9413) ...... 19021 C zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Russischen Föderation zur cc) Antrag der Abgeordneten Irmingard Vermeidung der Doppelbesteuerung Schewe-Gerigk, (Köln), Kai auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- Gehring, weiterer Abgeordneter und der kommen und vom Vermögen vom Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 29. Mai 1996 und des Protokolls hierzu Grundrechte schützen – Frauenhäuser vom 29. Mai 1996 sichern (Drucksache 16/10295) ...... 19021 A (Drucksache 16/10236) ...... 19021 C IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 dd)Bericht des Ausschusses für Bildung, For- b) Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, schung und Technikfolgenabschätzung ge- Kerstin Müller (Köln), Winfried mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der nikfolgenabschätzung (TA) Potenziale Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: und Anwendungsperspektiven der Bio- Kontraproduktive US-Operationen in nik (Vorstudie) Pakistan sofort einstellen – Umfassende (Drucksache 16/3774) ...... 19022 A Strategie zur Stabilisierung Pakistans entwickeln ee) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- (Drucksache 16/10333) ...... 19022 D schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Technikfolgenabschätzung (TA) Politik- Tagesordnungspunkt 39: Benchmarking: Akademische Spin-offs in Ost- und Westdeutschland und ihre a) Beschlussempfehlung und Bericht des Erfolgsbedingungen Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag (Drucksache 16/4669) ...... 19022 A der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), , Jürgen Trittin, weite- ff) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- rer Abgeordneter und der Fraktion schung und Technikfolgenabschätzung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine mi- gemäß § 56 a der Geschäftsordnung: litärische Eskalation gegenüber dem Technikfolgenabschätzung (TA) Politik- Iran – Konflikt um das Atomprogramm benchmarking: Nachfrageorientierte mit Verhandlungen lösen Innovationspolitik (Drucksachen 16/4407, 16/7515) ...... 19023 A (Drucksache 16/5064) ...... 19022 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- gg)Bericht des Ausschusses für Bildung, For- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- schung und Technikfolgenabschätzung ge- ordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck mäß § 56 a der Geschäftsordnung: (Köln), , weiterer Abgeord- Technikfolgenabschätzung (TA) TA-Vor- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europol-Beschluss rechts- studie: Perspektiven eines CO2- und emissionsarmen Verkehrs – Kraftstoffe staatlich verbessern und Antriebe im Überblick (Drucksachen 16/7742, 16/9825) ...... 19023 B (Drucksache 16/5325) ...... 19022 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des In- hh)Bericht des Ausschusses für Bildung, For- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- schung und Technikfolgenabschätzung ge- ordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, weiterer Ab- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- geordneter und der Fraktion BÜND- nikfolgenabschätzung (TA) TA-Projekt: NIS 90/DIE GRÜNEN: Das Parlament Hirnforschung bei der Ausgestaltung des Einbürge- (Drucksache 16/7821) ...... 19022 C rungstests beteiligen ii) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- (Drucksachen 16/9602, 16/9945) ...... 19023 C schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Technikfolgenabschätzung (TA) Inter- Zusatztagesordnungspunkt 6: netkommunikation in und mit Entwick- Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses: lungsländern – Chancen für die Ent- Übersicht 12 über die dem Deutschen Bun- wicklungszusammenarbeit am Beispiel destag zugeleiteten Streitsachen vor dem Afrik Bundesverfassungsgericht (Drucksache 16/9918) ...... 19022 C (Drucksache 16/10321) ...... 19023 D

Zusatztagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 5: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Dr. Hermann Otto Solms, Jens nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- Ackermann, Dr. , weiteren neten Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, Ulla Abgeordneten und der Fraktion der FDP Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Frak- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes tion DIE LINKE: Entfernungspauschale zur Stärkung der Steuerautonomie in sofort vollständig anerkennen – Verfas- den Ländern (Erbschaftsteuerreform- sungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit gesetz) herstellen (Drucksache 16/10309) ...... 19022 D (Drucksachen 16/9167, 16/9569) ...... 19023 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 V

Florian Pronold (SPD) ...... 19024 A Zusatztagesordnungspunkt 7: Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) ...... 19024 D Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, , Birgit Homburger, weiterer Ab- Dr. (FDP) ...... 19026 A geordneter und der Fraktion der FDP: Novel- (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 19027 B lierung des Vergaberechts für Bürokratie- abbau nutzen – Bundesweit einheitliches (DIE LINKE) ...... 19029 B Präqualifizierungssystem für Leistungen einführen Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/9092) ...... 19045 D DIE GRÜNEN) ...... 19030 D Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin Otto Bernhardt (CDU/CSU) ...... 19031 C BMWi ...... 19045 D Paul K. Friedhoff (FDP) ...... 19046 C Namentliche Abstimmung ...... 19032 C Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 19047 D Ergebnis ...... 19035 C Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 19049 B (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 4: DIE GRÜNEN) ...... 19050 A Erste Beratung des von der Bundesregierung Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 19051 A eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuer- (SPD) ...... 19052 C gesetzes 2009 (JStG 2009) (Drucksache 16/10189) ...... 19032 C Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin Tagesordnungspunkt 8: BMF ...... 19032 D a) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 19033 D Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (CDU/CSU) ...... 19037 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gentech- nikfreie Regionen stärken – Bundesre- (FDP) ...... 19039 B gierung soll Forderungen aus Bayern Eduard Oswald (CDU/CSU) ...... 19039 C aufnehmen und weiterentwickeln (Drucksache 16/10202) ...... 19053 B Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 19039 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Ausschusses für Ernährung, Landwirt- DIE GRÜNEN) ...... 19040 D schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Gabriele Frechen (SPD) ...... 19041 D Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 19042 B Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rahmen- (CDU/CSU) ...... 19043 B bedingungen für Milchmarkt verbes- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 19044 C sern – Faire Erzeugerpreise für Milch unterstützen (Drucksachen 16/9601, 16/9869) ...... 19053 B Tagesordnungspunkt 7: Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19053 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (CDU/CSU) ...... 19054 D zes zur Modernisierung des Vergabe- rechts Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/10117) ...... 19045 C DIE GRÜNEN) ...... 19055 D b) Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Werner Dreibus, Dr. Diether Dehm, weite- DIE GRÜNEN) ...... 19056 C rer Abgeordneter und der Fraktion DIE Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ LINKE: Tariftreue europarechtlich ab- DIE GRÜNEN) ...... 19057 B sichern (Drucksache 16/9636) ...... 19045 C Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 19057 C Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜND- in Verbindung mit NIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 19058 B VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ Fraktion DIE LINKE: Riesterrente auf DIE GRÜNEN) ...... 19058 D den Prüfstand stellen Marianne Schieder (SPD) ...... 19059 A (Drucksachen 16/7177, 16/8495, 16/10356) . . . . 19080 B Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 19060 A Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 19080 C Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 19061 C Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 19081 D Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 19061 D Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 19082 A Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 19061 D Jörg Rohde (FDP) ...... 19082 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 19062 D Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 19084 A (SPD) ...... 19063 D Jörg Rohde (FDP) ...... 19085 A Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 19064 D Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) ...... 19086 B Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 19065 D Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 19066 B DIE GRÜNEN) ...... 19087 B Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) ...... 19067 A Lydia Westrich (SPD) ...... 19088 D Ulrich Kelber (SPD) ...... 19067 C Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) ...... 19090 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19068 A Max Straubinger (CDU/CSU) ...... 19091 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Dr. (DIE LINKE) . . . . . 19092 B DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) . . 19068 D Tagesordnungspunkt 9: Tagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Erste Beratung des von der Bundesregierung schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur und Entwicklung Verbesserung der Rahmenbedingungen für – zu dem Antrag der Abgeordneten die Absicherung flexibler Arbeitszeitrege- Dr. Christian Ruck, Dr. , lungen Hartwig Fischer (Göttingen), weiterer Ab- (Drucksache 16/10289) ...... 19070 B geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel , Bundesminister BMAS ...... 19070 B Kofler, Dr. , , Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 19072 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Förderung von Bildung und Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) ...... 19073 B Ausbildung – Entwicklungspolitischen Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 19075 A Schlüsselsektor konsequent ausbauen Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ – zu dem Antrag der Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 19076 C Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter Wolfgang Grotthaus (SPD) ...... 19077 C und der Fraktion DIE LINKE: Entwick- lung braucht Bildung – Den deutschen Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 19078 A Beitrag erhöhen Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 19079 A (Drucksachen 16/9424, 16/8812, 16/10360) . 19092 C Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 19093 A Tagesordnungspunkt 10: Hellmut Königshaus (FDP) ...... 19094 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Anette Hübinger (CDU/CSU) ...... 19096 A schusses für Arbeit und Soziales Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 19097 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Dr. Sascha Raabe (SPD) ...... 19098 D Addicks, weiterer Abgeordneter und der Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 19099 A Fraktion der FDP: Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 19099 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... Ernst, Dr. , Dr. Martina 19099 C Bunge, weiterer Abgeordneter und der Christel Riemann-Hanewinckel (SPD) . . . . . 19100 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 VII

Tagesordnungspunkt 12: – zu dem Antrag der Abgeordneten , Britta Haßelmann, Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter Dr. , Karin Binder, weiterer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: GRÜNEN: Barrierefreiheit und de- Keine Lobbyisten in den Ministerien mografischer Wandel – Auf die He- (Drucksache 16/9484) ...... 19101 D rausforderungen für den Tourismus (DIE LINKE) ...... 19102 A reagieren Ralf Göbel (CDU/CSU) ...... 19102 D (Drucksachen 16/8777, 16/9315, 16/10073) . 19107 B (FDP) ...... 19103 D d) Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Uda Carmen Freia Heller, Dr. Hans-Peter Peter Friedrich (SPD) ...... 19104 B Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ und der Fraktion der CDU/CSU sowie der DIE GRÜNEN) ...... 19105 C Abgeordneten Annette Faße, Engelbert Wistuba, Dr. Carl-Christian Dressel, wei- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 19106 C terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Reformationsjubiläum 2017 als welthistorisches Ereignis würdigen Tagesordnungspunkt 11: (Drucksache 16/9830) ...... 19108 A a) Beschlussempfehlung und Bericht des e) Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Ausschusses für Tourismus Anita Schäfer (Saalstadt), Dr. Hans-Peter – zu der Unterrichtung durch die Bun- Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter desregierung: Tourismuspolitischer und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Bericht der Bundesregierung – Abgeordneten Annette Faße, Gabriele 16. Legislaturperiode – Hiller-Ohm, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: – zu dem Entschließungsantrag der Ab- Bauernhofurlaub und Landtourismus geordneten Ernst Burgbacher, Jens weiter fördern – Ländliche Räume Ackermann, Christian Ahrendt, weite- nachhaltig stärken rer Abgeordneter und der Fraktion der (Drucksache 16/10320) ...... 19108 A FDP zu der Unterrichtung durch die f) Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Bundesregierung: Tourismuspoliti- Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weite- scher Bericht der Bundesregierung – rer Abgeordneter und der Fraktion DIE 16. Legislaturperiode – LINKE: Barrierefreier Tourismus für (Drucksachen 16/8000, 16/8194, 16/10187) . 19107 B alle in Deutschland (Drucksache 16/10317) ...... 19108 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundes- der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen regierung für Tourismus ...... 19108 C Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), Ernst Burgbacher (FDP) ...... 19110 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 19111 C Annette Faße, Brunhilde Irber, Renate Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 19112 D Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Messen und Ge- Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ schäftsreisen als Chance für den Touris- DIE GRÜNEN) ...... 19114 B musstandort Deutschland Brunhilde Irber (SPD) ...... 19115 A (Drucksachen 16/5958, 16/9255) ...... 19107 C Uda Carmen Freia Heller c) Beschlussempfehlung und Bericht des (CDU/CSU) ...... 19116 B Ausschusses für Tourismus Engelbert Wistuba (SPD) ...... 19117 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Bernward Müller (), Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), Tagesordnungspunkt 14: weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abge- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten ordneten Annette Faße, Renate , Volker Beck (Köln), Gradistanac, , weite- Monika Lazar, weiteren Abgeordneten rer Abgeordneter und der Fraktion der und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE SPD: Chancen des demographischen GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Wandels im Tourismus nutzen ... Strafrechtsänderungsgesetzes – Be- VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

stechung und Bestechlichkeit von Abge- terer Abgeordneter und der Fraktion ordneten – (... StrÄndG) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wissen- (Drucksache 16/6726) ...... 19118 D schaft als Beruf attraktiver machen – Den wissenschaftlichen Nachwuchs bes- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ ser unterstützen DIE GRÜNEN) ...... 19119 A (Drucksache 16/9104) ...... 19133 A Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) ...... 19120 A Tagesordnungspunkt 18: Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19121 B Antrag der Abgeordneten , Katrin Kunert, Klaus Ernst, weiterer Abge- Jörg van (FDP) ...... 19122 A ordneter und der Fraktion DIE LINKE: So- Joachim Stünker (SPD) ...... 19123 B zialticket für die AG (Drucksache 16/10264) ...... 19133 B

Tagesordnungspunkt 13: Klaus Hofbauer (CDU/CSU) ...... 19133 C Erste Beratung des von der Bundesregierung (SPD) ...... 19134 B eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Patrick Döring (FDP) ...... 19135 A Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanz- rechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG) Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 19135 D (Drucksache 16/10067) ...... 19125 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19136 B Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten , Tagesordnungspunkt 17: Dr. , , weiterer Unterrichtung durch die Bundesregierung: Abgeordneter und der Fraktion der FDP so- Nationales Reformprogramm Deutschland wie der Abgeordneten Jürgen Trittin, 2008 bis 2010 Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln), Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008 weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 16/10250) ...... 19137 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: NSG-Aus- nahmeregelung für Indien beschädigt das nukleare Nichtverbreitungsregime – Zu- Tagesordnungspunkt 20: stimmung der Bundesregierung ist Beleg einer falschen Abrüstungspolitik Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, (Drucksache 16/10355) ...... 19125 C Ekin Deligöz, , weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Elke Hoff (FDP) ...... 19125 D GRÜNEN: Diskriminierende Altersgrenzen (CDU/CSU) ...... 19127 A im Bereich des bürgerschaftlichen Engage- ments aufheben Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 19128 C (Drucksache 16/9630) ...... 19137 B Dr. h. c. , Staatsminister AA ...... 19129 C Tagesordnungspunkt 19: Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19130 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset- Eckart von Klaeden (CDU/CSU) ...... 19131 B zes zur Änderung des Energieeinsparungs- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ gesetzes DIE GRÜNEN) ...... 19131 C (Drucksachen 16/10290, 16/10331) ...... 19137 C (SPD) ...... 19131 D Tagesordnungspunkt 22: Tagesordnungspunkt 15: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gudrun Kopp, Martin Zeil, Rainer a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Bundesbericht zur Förderung des Wis- Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs senschaftlichen Nachwuchses eines Gesetzes zur Stärkung wettbe- (Drucksache 16/8491) ...... 19133 A werblicher Strukturen im Markt für b) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Postdienstleistungen (PostWettG) Priska Hinz (Herborn), , wei- (Drucksache 16/8906) ...... 19137 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 IX b) Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Tagesordnungspunkt 26: Rainer Brüderle, Martin Zeil, weiterer Ab- Antrag der Abgeordneten Volker Beck geordneter und der Fraktion der FDP: (Köln), Winfried Nachtwei, Wettbewerbsintensität im Binnen- (), weiterer Abgeordneter und der markt für Postdienstleistungen erhöhen Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für (Drucksache 16/8773) ...... 19137 D klare menschen- und völkerrechtliche Bin- (CDU/CSU) ...... 19138 A dungen bei Auslandseinsätzen der Bundes- wehr (SPD) ...... 19139 A (Drucksache 16/8402) ...... 19151 D Gudrun Kopp (FDP) ...... 19140 B Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 19152 A Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 19141 B Christoph Strässer (SPD) ...... 19153 A Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ (FDP) ...... 19155 A DIE GRÜNEN) ...... 19141 D Dr. (DIE LINKE) ...... 19156 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19156 D Tagesordnungspunkt 21: Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 19157 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Investitionszu- lagengesetzes 2010 (InvZulG 2010) Tagesordnungspunkt 25: (Drucksache 16/10291) ...... 19142 D Erste Beratung des von der Bundesregierung Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 19142 D eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Vorschriften auf dem Ge- Simone Violka (SPD) ...... 19143 C biet des ökologischen Landbaus an die Ver- Christian Ahrendt (FDP) ...... 19144 C ordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 über die ökologische/biologi- Roland Claus (DIE LINKE) ...... 19145 B sche Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnis- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ sen und zur Aufhebung der Verordnung DIE GRÜNEN) ...... 19146 B (EWG) Nr. 2092/91 (Drucksache 16/10174) ...... 19158 C Tagesordnungspunkt 24: (CDU/CSU) ...... 19158 C Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, (SPD) ...... 19159 C Dr. , Dr. Ilja Seifert, weiterer Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 19160 C Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Das Gesundheitssystem nachhaltig und pa- Dr. (DIE LINKE) ...... 19160 C ritätisch finanzieren – Gesundheitsfonds, Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ Zusatzbeiträge und Teilkaskotarife stop- DIE GRÜNEN) ...... 19161 D pen (Drucksache 16/10318) ...... 19147 A Tagesordnungspunkt 28: Dr. (CDU/CSU) ...... 19147 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Peter Friedrich (SPD) ...... 19148 B schusses für Menschenrechte und humanitäre Dr. (FDP) ...... 19149 B Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten , Hüseyin-Kenan Aydin, Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 19149 C Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für die soziale Re- (BÜNDNIS 90/ habilitation von Kindersoldaten eintreten DIE GRÜNEN) ...... 19150 C (Drucksachen 16/6358, 16/8789) ...... 19162 C Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . 19162 C Tagesordnungspunkt 23: Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 19163 B Erste Beratung des von der Bundesregierung Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) ...... 19164 A eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- Michael Leutert (DIE LINKE) ...... 19165 A zes zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/10145) ...... 19151 C DIE GRÜNEN) ...... 19165 D X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Tagesordnungspunkt 27: (CDU/CSU) ...... 19177 D Erste Beratung des von der Bundesregierung Angelika Krüger-Leißner (SPD) ...... 19178 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (FDP) ...... 19179 D Neufassung des Raumordnungsgesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 19180 C (GeROG) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 16/10292, 16/10332) ...... 19166 B DIE GRÜNEN) ...... 19181 A

Tagesordnungspunkt 29: Nächste Sitzung ...... 19182 C Antrag der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck (Köln), Kai Gehring, weiterer Berichtigung ...... 19182 A, C Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbot der Nazi-Jugendorganisation „Heimattreue Anlage 1 Deutsche Jugend e.V.“ prüfen Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 19183 A (Drucksache 16/9801) ...... 19166 C Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) ...... 19166 D Anlage 2 (SPD) ...... 19167 C Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung Christian Ahrendt (FDP) ...... 19168 C zu dem Antrag: Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmäßig- (DIE LINKE) ...... 19169 C keit und Steuergerechtigkeit herstellen (Ta- Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ gesordnungspunkt 5) DIE GRÜNEN) ...... 19170 B Dorothee Bär (CDU/CSU) ...... 19183 C Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 19171 A (CDU/CSU) ...... 19184 A Klaus Brähmig (CDU/CSU) ...... 19184 B Tagesordnungspunkt 30: Alexander Dobrindt (CDU/CSU) ...... 19184 D Antrag der Abgeordneten Rainder Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) ...... 19185 A Steenblock, Winfried Nachtwei, , weiterer Abgeordneter und der Frak- (CDU/CSU) ...... 19185 A tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: - Robert Hochbaum (CDU/CSU) ...... 19185 C bombe der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee entschärfen Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) ...... 19185 D (Drucksache 16/9103) ...... 19171 D Dr. (CDU/CSU) ...... 19186 A (CDU/CSU) ...... 19172 A Dr. Hans-Heinrich Jordan (CDU/CSU) . . . . . 19186 B Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) ...... 19173 C Dr. Karl A. Lamers () Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 19174 D (CDU/CSU) ...... 19186 C Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 19175 D (CDU/CSU) ...... 19186 D Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . 19187 C DIE GRÜNEN) ...... 19176 D (CDU/CSU) ...... 19187 D Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . 19188 A Tagesordnungspunkt 31: (CDU/CSU) ...... 19188 C Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- Anlage 3 trag der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Berlin), , Karl- NIS 90/DIE GRÜNEN: Arbeitslosengeld II Georg Wellmann und Monika Grütters (alle unbürokratisch berechnen und auszahlen – CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung Rechts- und Planungssicherheit für Leis- über die Beschlussempfehlung zu dem An- tungsbeziehende schaffen trag: Entfernungspauschale sofort vollständig (Drucksachen 16/7838, 16/8445) ...... 19177 C anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steu- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 XI ergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungs- Dr. Gerd Müller, Stefan Müller (Erlangen), punkt 5) ...... 19189 A Dr. Georg Nüßlein, Franz Obermeier, Eduard Oswald, Daniela Raab, Hans Raidel, Kurt J. Rossmanith, Dr. Christian Ruck, Albert Anlage 4 Rupprecht (Weiden), Christian Schmidt (Fürth), Dr. , Marion Seib, Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten , , Monika Brüning und Rita Pawelski (beide Max Straubinger, Dr. Hans-Peter Uhl, CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung Dagmar Wöhrl, Wolfgang Zöller und Carsten über die Beschlussempfehlung zu dem An- Müller (Braunschweig) (alle CDU/CSU) zur trag: Entfernungspauschale sofort vollständig namentlichen Abstimmung über die Be- anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steu- schlussempfehlung zu dem Antrag: Entfer- ergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungs- nungspauschale sofort vollständig anerkennen – punkt 5) ...... 19189 B Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtig- keit herstellen (Tagesordnungspunkt 5) . . . . . 19190 C Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Anlage 8 Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Dr. Klaus W. Lippold, Dr. Georg Nüßlein, Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgeset- Daniela Raab und Dr. Andreas Scheuer (alle zes – Bestechung und Bestechlichkeit von CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung Abgeordneten – (... StrÄndG) (Tagesord- über die Beschlussempfehlung zu dem An- nungspunkt 14) trag: Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steu- Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 19191 A ergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungs- punkt 5) ...... 19189 D Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Anlage 6 des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisie- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten rung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmoderni- , Dr. Carl-Christian Dressel, sierungsgesetz – BilMoG) (Tagesordnungs- Petra Ernstberger, Gabriele Fograscher, punkt 13) Günter Gloser, Angelika Graf (Rosenheim), Antje Tillmann (CDU/CSU) ...... 19191 D Frank Hofmann (Volkach), Brunhilde Irber, Dr. h. c. Susanne Kastner, Dr. Bärbel Kofler, (SPD) ...... 19194 A , , Heinz Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 19195 A Paula, , Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Marianne Schieder, Ewald Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 19196 A Schurer, Ludwig Stiegler und Jella Teuchner Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung DIE GRÜNEN) ...... 19197 B über die Beschlussempfehlung zu dem An- trag: Entfernungspauschale sofort vollständig Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steu- BMJ ...... 19198 A ergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungs- punkt 5) ...... 19190 A Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Anlage 7 – Unterrichtung: Bundesbericht zur Förde- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten rung des Wissenschaftlichen Nachwuch- Dr. , , Dorothee ses Bär, Alexander Dobrindt, Maria Eichhorn, , Dr. Hans-Peter – Antrag: Wissenschaft als Beruf attraktiver Friedrich (Hof), , Josef Göppel, machen – Den wissenschaftlichen Nach- Dr. Wolfgang Götzer, Dr. Karl-Theodor wuchs besser unterstützen Freiherr zu Guttenberg, , (Tagesordnungspunkt 15 a und b) Ernst Hinsken, Klaus Hofbauer, Bartholomäus Kalb, , Hartmut Marion Seib (CDU/CSU) ...... 19199 A Koschyk, Dr. Max Lehmer, Paul Lehrieder, Dieter Grasedieck (SPD) ...... 19199 D , Stephan Mayer (Altötting), Dr. h. c. , Marlene Mortler, (FDP) ...... 19200 C XII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. (DIE LINKE) ...... 19201 D Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) ...... 19217 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Rainer Fornahl (SPD) ...... 19218 B DIE GRÜNEN) ...... 19202 D Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 19219 C Andreas Storm, Parl. Staatssekretär Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 19220 A BMBF ...... 19203 D Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19220 D Anlage 11 Karin Roth, Parl. Staatssekretärin Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung BMVBS ...... 19221 D der Unterrichtung: Nationales Reformpro- gramm Deutschland 2008 bis 2010 Umset- zungs- und Fortschrittsbericht 2008 (Tages- Anlage 14 ordnungspunkt 17) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (SPD) ...... 19205 B des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- rung des Gesetzes gegen den unlauteren Wett- Rainer Brüderle (FDP) ...... 19206 D bewerb (Tagesordnungspunkt 23) Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 19207 C Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 19222 C Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ Dirk Manzewski (SPD) ...... 19223 D DIE GRÜNEN) ...... 19208 B Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin (FDP) ...... 19224 B BMWi ...... 19209 A Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 19225 B Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ Anlage 12 DIE GRÜNEN) ...... 19226 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär des Antrags: Diskriminierende Altersgrenzen BMJ ...... 19226 C im Bereich des bürgerschaftlichen Engage- ments aufheben (Tagesordnungspunkt 20) Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 19210 B Anlage 15 Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 19212 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung Sönke Rix (SPD) ...... 19213 C des Raumordnungsgesetzes und zur Ände- (FDP) ...... 19214 A rung anderer Vorschriften (GeROG) (Tages- ordnungspunkt 27) Elke Reinke (DIE LINKE) ...... 19215 A (CDU/CSU) ...... 19227 D Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Petra Weis (SPD) ...... DIE GRÜNEN) ...... 19216 C 19229 A Patrick Döring (FDP) ...... 19229 D (DIE LINKE) ...... Anlage 13 19231 B Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN) ...... 19232 D des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- derung des Energieeinsparungsgesetzes (Ta- Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär gesordnungspunkt 19) BMVBS ...... 19233 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18967

(A) (C) Redetext

179. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle- Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur ginnen und Kollegen! Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der In- Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, gibt es tegration von Unionsbürgern und Ausländern wieder einige Mitteilungen und Veränderungen. Ich (Zuwanderungsgesetz) beginne mit dem Hinweis, dass die Kollegin Ilse Falk am vergangenen Sonntag ihren 65. Geburtstag gefeiert – Drucksache 16/9091 – hat. Wir alle übermitteln ihr auf diesem Weg gute Wün- Überweisungsvorschlag: sche. Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss (Beifall) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (B) Nicht ganz so erfreulich ist, dass die SPD-Fraktion ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid (D) mitgeteilt hat, dass die Kollegin Gabriele Groneberg ihr Wolff (Rems-Murr), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk als Schriftführerin niedergelegt hat. Als Nachfolge- Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion rin wird die Kollegin Marianne Schieder vorgeschla- der FDP gen. Auch die Fraktion Die Linke bittet um einen Wech- sel bei den Schriftführerinnen und Schriftführern. Für EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und un- die Kollegin Sabine Zimmermann soll die Kollegin beschränkt in der Bundesrepublik Deutsch- Karin Binder das Amt der Schriftführerin übernehmen. land gewähren Ich stelle fest, dass wir außer dem allgemeinen Bedauern – Drucksache 16/10310 – über das Ausscheiden der Kolleginnen mit den vorge- schlagenen Veränderungen einverstanden sind. – Das ist Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) offenkundig der Fall. Dann sind die Kolleginnen Innenausschuss Marianne Schieder und Karin Binder zu Schriftführerin- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie nen gewählt. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die ver- ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste fahren aufgeführten Punkte erweitert werden soll: (Ergänzung zu TOP 38) ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion a) Erste Beratung des von den Abgeordneten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dr. Hermann Otto Solms, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und Pakistan stabilisieren – Völkerrecht beachten der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei- (siehe 178. Sitzung) nes Gesetzes zur Stärkung der Steuerautono- mie in den Ländern (Erbschaftsteuerreform- ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch den gesetz) Bundesminister der Finanzen – Drucksache 16/10309 – zur Lage der Finanzmärkte Überweisungsvorschlag: ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Gisela Piltz, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der Haushaltsausschuss 18968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Jochimsen und weiteren Abgeordneten einge- (C) Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Frak- Änderung des Betreuungsrechts tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/8442 – Kontraproduktive US-Operationen in Pakis- überwiesen: tan sofort einstellen – Umfassende Strategie Rechtsausschuss (f) zur Stabilisierung Pakistans entwickeln Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 16/10333 – Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Sind Sie mit diesen vorgeschlagenen Änderungen ein- Innenausschuss Verteidigungsausschuss verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe das so beschlossen. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Abgabe einer Regierungserklärung durch den ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- Bundesminister der Finanzen sprache zur Lage der Finanzmärkte (Ergänzung zu TOP 39) Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- Die Linke vor. ausschusses (6. Ausschuss) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Übersicht 12 die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- rung zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einver- ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- standen? – Darüber besteht offenkundig Einvernehmen. gericht Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung er- hält nun der Bundesminister der Finanzen, Peer – Drucksache 16/10321 – Steinbrück. ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (B) Brüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weiterer (D) Abgeordneter und der Fraktion der FDP Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Novellierung des Vergaberechts für Bürokra- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten tieabbau nutzen – Bundesweit einheitliches Damen und Herren! Immer mehr Unsicherheiten, ja Präqualifizierungssystem für Leistungen ein- Ängste machen sich bei den Menschen breit, nicht nur in führen unserem Land, sondern fast weltweit. Viele fragen sich: Stehen wir vor dem Kollaps des Finanzsystems? Folgt – Drucksache 16/9092 – aus der Krise an den Finanzmärkten eine globale Wirt- Überweisungsvorschlag: schaftkrise nach einigen guten Jahren? Was heißt das für Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss mich persönlich? Deshalb will ich am Anfang meiner Regierungserklärung zwei wichtige Feststellungen tref- Aufgrund der Aufsetzung der Regierungserklärung fen: Erstens. Bislang hat das internationale Krisenma- zur Lage der Finanzmärkte verschieben sich die übrigen nagement funktioniert. Es ist nicht zu einem Kollaps des Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen jeweils Weltfinanzsystems gekommen – und das, obwohl wir in nach hinten. Zusätzlich werden die Tagesordnungs- den letzten Wochen an den Finanzmärkten eine weitere punkte 6 und 7 getauscht. Die Tagesordnungspunkte 14 b Zuspitzung der schlimmsten Bankenkrise seit Jahrzehn- und 35 werden abgesetzt. Von der Frist für den Beginn ten erleben. Zweitens. Die Bürgerinnen und Bürger müs- der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen sen keine Angst um ihr Erspartes haben. werden. Ich möchte feststellen: Was wir erleben, ist ein Erdbe- Ich mache außerdem auf die nachträgliche Aus- ben in der internationalen Finanzarchitektur mit un- schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf- vorstellbaren Wertberichtigungen bei einer ganzen Reihe merksam: von Banken. Schätzungen gehen davon aus, dass bisher Der in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestages Wertberichtigungen oder Abschreibungen in der Dimen- überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- sion von über 550 Milliarden US-Dollar erfolgt sind. lich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Diesen steht eine Kapitalzufuhr von ungefähr 350 Mil- Hilfe (17. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen wer- liarden US-Dollar gegenüber. Einzelne Banken sind da- den. rüber in den Abgrund oder an den Rand des Abgrunds geraten. Bei einigen Banken wird schonungslos aufge- Erste Beratung des von den Abgeordneten deckt, dass sie keine tragfähigen Geschäftsmodelle ha- Joachim Stünker, , Dr. Lukrezia ben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18969

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Ich habe in einer Regierungserklärung zur Lage auf bank, die über 150 Jahre alte Bank Lehman Brothers, in (C) den Finanzmärkten am 15. Februar 2008 etwas gesagt, die Insolvenz. Wenige Tage später wird der zweitgrößte was ich gerne wiederholen möchte: Versicherer der Welt, die US-amerikanische AIG, mit 85 Milliarden US-Dollar ebenso quasi verstaatlicht wie Es ist richtig, dass wir es in weiten Teilen der Welt zuvor die beiden US-Hypothekenfinanziers Fannie Mae und zulasten weiter Teile der Welt mit einer ernst- und Freddie Mac mit 200 Milliarden US-Dollar. Als das haften … Finanzmarktkrise zu tun haben … Sie alles nicht ausreicht, legt die US-Regierung mit dem un- wird uns das ganze Jahr 2008 beschäftigen. Sie ist glaublichen Volumen von 700 Milliarden US-Dollar das kein deutsches Spezifikum. Sie birgt weitere, noch größte Rettungsprogramm in der Geschichte der interna- nicht behobene Risiken. Infektionsgefahren für die tionalen Finanzmärkte auf. Wir alle schauen gespannt in weltweite Konjunktur und die weltweite Wachs- die USA, um zu erfahren, wie die beiden Häuser des tumsentwicklung sind nicht zu übersehen. Kongresses mit diesem Vorschlag der amerikanischen Leider sind diese von mir damals beschriebenen Risi- Regierung umgehen. Die steht unter einem erheblichen ken eingetreten. Diese ernste globale Finanzmarktkrise Zeitdruck. Das letzte Mal in der laufenden Legislatur- wird tiefe Spuren hinterlassen. Sie wird das Weltfinanz- periode werden beide Häuser morgen tagen. system tiefgreifend umwälzen. Niemand sollte sich täu- Insgesamt tritt die US-Regierung mit über 1 Billion schen: Die Welt wird nicht wieder so werden wie vor US-Dollar ein, um die Finanzmarktkrise zu bewältigen. dieser Krise. Wir müssen uns in nächster Zeit weltweit Vieles habe ich noch gar nicht mitgezählt, nämlich wenn auf niedrigere Wachstumsraten und – zeitlich verscho- die amerikanische Regierung Hypotheken von Fannie- ben – auch auf eine ungünstige Entwicklung auf den Ar- Mae- und Freddie-Mac-Kunden aufkaufen sollte. Ich beitsmärkten einstellen. Die Fernwirkungen dieser Krise will darauf hinweisen, dass das ein ungeheures Ausmaß sind derzeit nicht absehbar, aber eines scheint mir ist, auch wenn Sie daran denken, dass es vor ungefähr höchstwahrscheinlich: Die USA werden ihren Status als zwölf Monaten noch 24 Institute in den USA gab, die in- Supermacht des Weltfinanzsystems verlieren, nicht ab- zwischen entweder pleitegegangen sind, aufgekauft wor- rupt, nicht plötzlich, aber erodierend. Das Weltfinanz- den sind, verheiratet worden sind oder schlicht und ein- system wird multipolarer. In der neuen Finanzmarktwelt fach verschwunden sind – 24 Finanzdienstleister. Bis vor werden Handelsbanken und Staatsfonds aus Asien, ins- einem halben Jahr gab es an der Wall Street fünf, viel- besondere aus der Golfregion, ebenso ihren Anteil haben leicht sechs große Investmentbanken; heute gibt es da wie europäische Banken mit ihrem Universalbankenmo- keine mehr. dell – übrigens ein Modell, das sich derzeit gegenüber dem amerikanischen Trennbankenmodell als sehr über- Der Blick darauf, was die Amerikaner an Steuergeld legen erwiesen hat. bereitstellen, darf gelegentlich auch einen Vergleich mit (B) (D) dem erlauben, was wir in Deutschland gemacht haben. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Wenn wir die 1 Billion Dollar, die der Steuerzahler in FDP) den USA aufbringen muss, in Bezug setzen zu den Seit dem Platzen der Immobilienblase – Sie erinnern 1,2 Milliarden Euro Steuergeldern aus dem Bundesetat sich an den Sommer letzten Jahres – sind vier Erschütte- für die IKB, dann gerät vielleicht manche Debatte, die rungswellen buchstäblich durch das Weltfinanzsystem wir in den letzten Monaten geführt haben, in eine grö- gerollt. Im Juli/August 2007 kam es ausgehend von der ßere Balance. US-Subprime-Krise zu massiven Verlusten bei Bear (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Stearns und der britischen Bank Northern Rock. Gleich- zeitig mussten in Deutschland Rettungsaktionen für die Ich darf auch daran erinnern, dass es die britische Regie- IKB und die Sachsen LB mit dem Ziel organisiert wer- rung im Fall von Northern Rock wahrscheinlich mit Be- den, einen weitergehenden Schaden auch für den Finanz- lastungen in der Größenordnung von 80 bis 100 Milliar- platz Deutschland zu vermeiden. Das ist uns gelungen. den Pfund zu tun haben wird. Ende 2007 meldeten US-Banken Milliardenabschrei- Trotz aller Vorhersagen, dass die Krise nicht rasch bungen. Zugleich ergaben sich ernste Liquiditätseng- vorüber sein werde, war ein solcher Reigen von Not- pässe für Banken, worauf Staatsfonds als Kapitalgeber übernahmen und Quasiverstaatlichungen – und das in einspringen mussten. Wir stellen plötzlich fest, dass sich den USA, dem Hort der Marktwirtschaft und einer laut- die Debatte über die Aktivitäten von Staatsfonds inner- stark vorgetragenen neoliberalen Grundüberzeugung – halb von zwölf Monaten ziemlich geändert hat. oder Insolvenzen nicht zu erwarten. Die USA – darauf (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) lege ich gesteigerten Wert – sind der Ursprung der Krise, und sie sind der Schwerpunkt der Krise. Es ist nicht Ohne die Bereitschaft dieser Staatsfonds, insbesondere Europa, und es ist nicht die Bundesrepublik Deutsch- Schweizer und amerikanische Banken zu rekapitalisie- land. ren, hätten wir es nicht mit einem Rand des Abgrunds zu tun, sondern wir wären tief drin. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Im März 2008 rettet die amerikanische Zentralbank, die Fed, Bear Stearns – nach den größten Marktpreisver- Dort wurden Hypothekenkredite an nicht kreditwür- lusten, die es je in einem Monat gab –, und in diesem dige Kreditnehmer ohne jegliche Sicherheiten vergeben. – ich nenne es so – schwarzen September 2008 geht Dort wurden die immensen Kreditrisiken anschließend schließlich die viertgrößte amerikanische Investment- durch Verbriefungsgeschäfte unkenntlich gemacht. Dort 18970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Bundesminister Peer Steinbrück (A) nahm das Rennen nach Rendite seinen Anfang. Von dort verschärfender Kreditkonditionen bisher nicht einer Kre- (C) aus hat sich die Finanzmarktkrise wie ein giftiger Öltep- ditklemme gegenübersehen. Das denke ich mir nicht aus. pich weltweit ausgebreitet, zunehmend auch in Richtung Wenn Sie den Eindruck haben, das sei die Passage, die Europa, wenngleich das Volumen der bislang bekannten meine Abteilung für Agitation und Propaganda aufge- Verluste in Europa in keiner Weise mit den Zahlen ver- schrieben hat, sage ich Ihnen: Dies ist die Einschätzung gleichbar ist, die ich, bezogen auf die USA, nur andeu- des Bundesbankpräsidenten, und dies ist auch die Ein- tungsweise schon genannt habe. schätzung des BDI-Präsidenten. Zumindest die beiden Koalitionsfraktionen konnten dies vor wenigen Tagen im Dennoch: Auch namhafte europäische Banken Originalton vom Bundesbankpräsidenten, Herrn Weber, mussten milliardenschwere Wertberichtigungen vorneh- hören. men, nicht nur in Deutschland, zum Beispiel Crédit Agricole in Frankreich, Société Générale in Frankreich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und – sehr stark getroffen – UBS in der Schweiz mit Ver- Dass es in Deutschland nicht zu einer Kreditklemme lusten von sage und schreibe 44 Milliarden US-Dollar. gekommen ist, haben wir – das will ich unterstreichen – Damit hat die UBS europaweit mit Abstand die größten wesentlich dem Sparkassensektor zu verdanken. Verluste. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Die Krise hat inzwischen Finanzdienstleister in ganz FDP sowie der Abg. Christine Scheel [BÜND- Europa erfasst. Das zeigen weitere Beispiele, die ich NIS 90/DIE GRÜNEN]) jetzt gar nicht benennen will. Dieser Sparkassensektor hat im ersten Halbjahr 2008 Was heißt das alles für Deutschland? Der deutsche mehr Kredite vornehmlich an den Mittelstand gegeben Bankensektor wird von den krisenhaften Entwicklun- als im ersten Halbjahr 2007. gen nicht verschont. Viele Institute sind betroffen, nicht nur die IKB, sondern auch eine Reihe von Landesban- In dieser größten Krise seit Jahrzehnten zeigt sich, ken. Aber es wäre ein Fehler, anzunehmen, dass aus- dass das zu unserem Wirtschaftsmodell der sozialen schließlich oder vornehmlich öffentlich-rechtliche Ban- Marktwirtschaft passende Universalbankensystem mit ken von dieser Entwicklung betroffen sind. Es sind alle seinen drei Säulen der privaten Geschäftsbanken, der drei Säulen betroffen, allerdings mit einem großen Un- kommunalen Sparkassen und der regionalen Genossen- terschied, nämlich dass es eine ganze Reihe privater Ge- schaftsinstitute wesentlich robuster ist, als es das anglo- schäftsbanken und auch anderer Banken, gerade unter amerikanische Trennbankensystem mit seiner überzoge- den Genossenschaftsbanken, gibt, die mit Blick auf ihre nen Renditefixierung war und ist. Ertragskraft und ihre Eigenkapitalbasis die Entwicklung (B) sehr viel besser verkraften können als die von mir zuvor (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der (D) genannten Institute. FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Die vergleichsweise breite geschäftspolitische Aufstel- lung bewährt sich in der Krise. Vor allem bewährt es Zum Glück halten sich die Engagements deutscher sich, dass wir in Deutschland nicht nur auf die kurzfris- Banken bei Lehman Brothers in einem überschaubaren tige Rendite geschaut haben. Wir haben uns der aus- Rahmen und sind nach Aussage der BaFin und auch schließlichen Fixierung auf kurzfristige Renditen und nach Aussage der Bundesbank verkraftbar. Ich füge al- auf immer weiter gesteigerte Quartalsgewinne in weiten lerdings hinzu: Wenn der zweitgrößte Versicherer in den Teilen unseres Bankensystems entzogen. USA, den ich schon genannt habe, die AIG, von der Gerade dies ist einer der Gründe, meine Damen und amerikanischen Regierung und der amerikanischen Zen- Herren, warum wir auch gegenüber der Brüsseler Kom- tralbank nicht stabilisiert worden wäre, dann hätten wir mission dieses Dreisäulensystem für den Fall verteidigen sehr viel düstere Zeiten, weil sich auch viele deutsche sollten, dass es dort andere ordnungspolitische Vorstel- und europäische Institute dort versichert haben. lungen gibt. Insgesamt zeigt sich, dass das deutsche Dreisäulen- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der system im internationalen Vergleich relativ robust ist. FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN Die deutsche Aufsichtsbehörde, die BaFin, ist sich si- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) cher, dass die in den letzten Jahren gesteigerte Risiko- tragfähigkeit der deutschen Institute ausreicht, Verluste Gelegentlich habe ich die Befürchtung, dass eines Tages auszugleichen und die Sicherheit der privaten Erspar- im Fokus dieser Brüsseler Kommission und der dortigen nisse zu gewährleisten. Deshalb sollten wir in diesem ordnungspolitischen Vorstellungen nicht nur das öffent- Bereich nicht durch eine falsche Wortwahl eine Panik lich-rechtliche Bankensystem, sondern auch der öffent- auslösen. lich-rechtliche Rundfunk und die Sozial- und Wohl- fahrtsverbände stehen könnten. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mit Blick auf die Realwirtschaft sind wir in Deutsch- der CDU/CSU) land in der vorteilhaften Lage, dass sich unsere Unter- nehmen, insbesondere der auf Kreditfinanzierungen an- Wenn nach den Ursachen der Krise gefragt wird, dann gewiesene Mittelstand, trotz Abschwungs und sich lautet die Standardantwort, die US-Hypothekenmarkt- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18971

Bundesminister Peer Steinbrück (A) krise, wie ich sie weiterhin nennen möchte, sei der klare sicht besteht, die jetzt von meinem amerikanischen (C) Ursprung der gesamten Entwicklung. Einige weisen Kollegen seit wenigen Monaten Gegenstand von sehr auch darauf hin, dass es nach den fürchterlichen An- ambitionierten Reformanstrengungen ist. schlägen vom 11. September 2001 eine Überversorgung mit Liquidität aufgrund der Zentralbankpolitik in den Dieses in weiten Teilen unzureichend regulierte Sys- USA gegeben habe. Vordergründig ist dies alles richtig. tem bricht gerade zusammen – nicht nur mit weitrei- Ich will aber darauf hinaus, dass die eigentlichen Ursa- chenden Folgen für den US-Finanzmarkt, sondern auch chen tiefer liegen: in einer aus meiner Sicht unverant- mit erheblichen Ansteckungseffekten für die übrige wortlichen Überhöhung des Laisser-faire-Prinzips ge- Welt. Einmal mehr scheint es in der Geschichte so zu rade im angloamerikanischen Bereich. sein, meine Damen und Herren, dass sich ein System, das maßlose Übertreibungen ermöglicht und geduldet (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat, letztlich seine eigene Antithese schafft. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mit dem Laisser-faire-Prinzip meine ich im Hin- der CDU/CSU) blick auf das Finanzmarktsystem ein von staatlichen Re- gulierungen möglichst vollständig befreites Spiel der Wie bei einem Patienten, der unter akuten Kreislauf- Marktkräfte. Die Argumentation der Laisser-faire-Ver- problemen leidet, kommt es auch bei einer Finanzmarkt- treter war genauso falsch wie gefährlich: Lasst den krise im Rahmen des akuten Krisenmanagements zual- Markt mal machen; er ist am effizientesten, wenn sich lererst darauf an, einen Kollaps zu verhindern. Dazu der Staat heraushält und auf Regulierungen vollständig müssen lebenserhaltende Prozesse und Funktionen stabi- verzichtet. – Der kurzfristige – vielleicht sollte ich bes- lisiert werden, die in Stresssituationen nur noch einge- ser sagen: kurzsichtige – Erfolg in Form zweistelliger schränkt oder gar nicht mehr ablaufen. Angesichts der in Renditen und milliardenschwerer Boni für Investment- den letzten Tagen zugespitzten Situation in den USA hat banker und -manager schien ihnen recht zu geben. Da- die US-Regierung eine Reihe von Stabilisierungsmaß- rauf wollte man weder in New York noch in London ver- nahmen beschlossen, die ich ausdrücklich begrüße – zichten. jenseits meines kritischen Blicks zurück, was in der Ver- Kritische Hinterfragungen dieses Systems sowie Lö- gangenheit versäumt worden ist. Diese waren richtig, da sungsvorschläge, wie sie die Bundesregierung maßgeb- sie das Ziel verfolgten, den Kollaps des US-Finanzmark- lich unter ihrer G-7-Präsidentschaft angestellt hat, wur- tes und damit Schlimmeres auch für andere Länder und den während dieser Präsidentschaft, aber auch während Regionen zu verhindern. unserer EU-Präsidentschaft gelegentlich müde belächelt, An oberster Stelle steht das bereits von mir erwähnte (B) wenn wir Glück hatten, ansonsten aber als typisch deut- 700 Milliarden Dollar schwere staatliche Rettungspro- (D) sche Regulierungswut abgetan. gramm. Es dient zum Aufkauf illiquider hypothekenbe- Von angloamerikanischer Seite wurde das dortige zogener Aktiva der Finanzinstitute. Wenn Sie so wollen, System mit einer Art Absolutheitsanspruch vertreten. ist das eine riesige nationale „Bad Bank“, die dort in den Noch vor kurzer Zeit wurde ziemlich vehement auf die USA eingerichtet worden ist. Jetzt muss allerdings der möglichst globale Übernahme dieses Modells gedrängt. amerikanische Steuerzahler dafür zahlen, dass das Fi- Verhängnisvolle Folge war, dass die USA bei der Imple- nanzmarktsystem trotz immer undurchsichtigerer Inno- mentierung der stabilisierenden Basel-II-Bankenregeln vationen nicht ausreichend reguliert wurde. Ich bin sehr sehr zögerlich vorgegangen sind, obwohl sie eigentlich froh, dass der deutsche Steuerzahler bisher deutlich das Copyright darauf hatten. niedriger belastet worden ist und auch belastet wird. Die Kosten, die bisher bei der Stabilisierung der in Schwie- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der rigkeiten geratenen Banken entstanden sind, sind weit- SPD und der CDU/CSU) aus niedriger als die Kosten, die für unsere Wirtschaft Die USA haben dies bis heute noch nicht umgesetzt, entstanden wären, während die europäischen Banken es zum 1. Januar die- (Widerspruch des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE ses Jahres taten. LINKE]) Eine weitere Folge war, dass die USA wegen ihrer langen Weigerung erst zehn Jahre nach Einführung der wenn wir diese Stabilisierung nicht vorgenommen hät- Financial-Stability-Assessment-Programme beim IWF ten. eine Untersuchung ihres Finanzsystems haben wollten. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Des Weiteren war die Folge, dass die USA anders als zum Beispiel Deutschland bislang die Investmentbanken Wie groß die Probleme in den USA aktuell sind, zeigt nicht ausreichend reguliert und beaufsichtigt haben. Dies ein Vergleich mit dem Programm zur Beilegung der sei- ändert sich jetzt gerade. nerzeitigen sogenannten Savings-and-Loans-Krise. Diese war Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre. Das (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie damalige Rettungsprogramm der amerikanischen Regie- bei Abgeordneten der FDP) rung hatte einen Umfang von 3 Prozent des amerikani- Schließlich war die Folge, dass, anders als in den meis- schen Bruttoinlandsproduktes. Das, was die jetzt ma- ten europäischen Ländern, in den USA keine Allfinanz- chen, verursachte bereits Kosten in Höhe von 5 Prozent aufsicht, sondern eine sehr stark zersplitterte Finanzauf- des amerikanischen Bruttoinlandsproduktes. 18972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Ich habe darauf hingewiesen: Die Wall Street wird nie Da werden im Fall der USA die milliarden- und billio- (C) wieder so sein, wie sie war. Bis vor wenigen Tagen gab nenschweren Rettungsaktivitäten der Regierung als Be- es noch diese zwei Mohikaner unter den Banken: die In- leg für Tatkraft, tüchtiges Regierungsmanagement und vestmentbanken Goldman Sachs und Morgan Stanley. Handlungsfähigkeit der Regierung gelobt. In Deutsch- Beide haben sich gerade zu Instituten gewandelt, die wir land werden dagegen die eingesetzten Steuergelder und als Universalbank bezeichnen würden. die Aktivitäten von Landesregierungen und der Bundes- regierung als Versagen des Staates beklagt. Meine Damen und Herren, die Entwicklungen bei den US-Investmentbanken Bear Stearns, Lehman Brothers, (Zurufe von der SPD: Sehr wahr!) bei den beiden großen Hypothekenfinanzierern Fannie Das ist eine gewisse Beliebigkeit. Mae und Freddie Mac und zuletzt bei dem Versiche- rungsunternehmen AIG spiegeln ein schwieriges Abwä- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gungsproblem wider, das auch wir in Deutschland ken- Da wird mein amerikanischer Kollege „Hank“ Paulson nen. Vor allem die staatlichen Autoritäten stehen vor der als „King Henry“ – ich gönne ihm das von Herzen – auf schwierigen Abwägung zwischen dem Erhalt der Funk- dem Titelblatt des Magazins Newsweek dargestellt. Da- tionsfähigkeit des Finanzmarktes auf der einen Seite und mit möchte ich nicht suggerieren, mir müsse Gleiches der Vermeidung einer Ausnutzung staatlicher Unterstüt- widerfahren. zung durch Marktteilnehmer auf der anderen Seite. (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Auf die Idee der CDU/CSU) wäre niemand gekommen!) – Ich würde es auch nicht ablehnen. Für Anhänger der sozialen Marktwirtschaft ist es selbstverständlich, dass der Marktmechanismus in beide (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der Richtungen greifen muss: den Tüchtigen und denjeni- CDU/CSU) gen, die schnell Innovationen umsetzen, ihre Pionierge- winne zu überlassen und eine gute Entwicklung zu er- Präsident Dr. Norbert Lammert: möglichen, aber diejenigen, die sich verzockt haben, Herr Minister, vielleicht kann ich Ihnen zwischenzeit- auch zu bestrafen. Die Abwägung beginnt dann, wenn lich mit einer Sonderausgabe der Zeitschrift Das Parla- diejenigen, die man gerne durch den Marktmechanismus ment weiterhelfen. bestraft sehen möchte, eventuell so laut umfallen, dass andere in Mitleidenschaft gezogen werden. Staatliche (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) (B) Autoritäten müssen immer abwägen, und zwar unter Un- (D) gewissheit und bei unvollständiger Informationsbasis. Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Es ist etwas anderes, ob man ein halbes Jahr später Dann müssten wir darüber diskutieren, Herr Präsi- schlau vom Rathaus herunterkommt oder ob man teil- dent, wie viel von der Auflage ich aufkaufen dürfte. weise innerhalb von 24 oder 36 Stunden, wie ich es er- (Heiterkeit im ganzen Hause) lebt habe, zwischen der Gefahr systemischer Krisen für den gesamten Finanzmarkt und der Gefahr, von Markt- Verstehen Sie mich jenseits dieses ironischen Ausflu- teilnehmern ausgenutzt zu werden, abwägen muss – von ges nicht falsch: Wir brauchen in der Tat keine Titelbil- solchen Marktteilnehmern, die darauf spekulieren, dass der. Was ich aber einfordere oder – das ist etwas beschei- der Staat mit Steuergeldern oder die Notenbanken mit dener – erbitte, sind etwas mehr Ausgewogenheit und frischem Geld schon bereitstehen und intervenieren etwas weniger Beliebigkeit in der politischen Diskus- – will sagen: das Schlimmste verhindern – und somit das sion. riskante Geschäftsgebaren dieser Marktteilnehmer quasi (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) im Nachhinein noch belohnen. Das, was die Amerikaner im Großen machen, haben (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wir, bezogen auf die Banken, die in Deutschland in Ver- legenheit gekommen sind, im Kleinen gemacht: die Lan- Ich kritisiere die staatlichen Stellen in den USA für desregierungen in ihren Verantwortungen, was die Lan- ihr spätes Vorgehen, aber ich begrüße ihr differenziertes desbanken betrifft, der Bund mit Blick auf seine Vorgehen. Staatliche Autoritäten in den USA haben indirekte, aber bestehende Verantwortung über die KfW nicht jedes Institut gerettet, aber sie haben dann einge- bei der IKB. Deshalb und weil die Verhältnisse bei uns griffen, wenn es nicht nur im US-Interesse notwendig anders sind, ist ein Programm, das dem ähnlich ist, das war, sondern auch um die Wahrnehmung von Verant- die Amerikaner aufgelegt haben, in Deutschland oder in wortung für das weltweite Finanzsystem ging. Europa nicht sinnvoll und auch nicht notwendig. Das ist der Grund dafür gewesen, warum wir im Namen der Dabei entbehren die Diskussionen um Rettungsaktio- Bundesregierung über dieses Wochenende – bis hin zu nen diesseits und jenseits des Atlantiks nicht einer ge- einer großen Telefonkonferenz der G-7-Finanzminister wissen Pikanterie; ich könnte auch sagen: Scheinheilig- und Notenbankgouverneure – für Deutschland die Über- keit. nahme eines solchen Programms und die Beteiligung ab- gelehnt haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE]) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18973

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Das bedeutet nicht, dass die deutsche Politik untätig lich oder sogar gleichgearteten Krise vermeiden – ohne (C) ist. Im Gegenteil: Das Bundesfinanzministerium, die genau zu wissen, wie diese aussieht. Aufsichtsbehörde BaFin und die stehen in einem sehr engen Kontakt mit ihren jeweiligen Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als die Fi- internationalen Partnerbehörden und den Spitzen der nanzmärkte sozusagen neu zu zivilisieren und auf die- deutschen Kreditwirtschaft. Das Krisenmanagement in sem Wege vergleichbare Krisen in Zukunft möglichst zu Deutschland hat bisher funktioniert. Ich wiederhole das, verhindern oder zumindest in ihrer Schärfe zu be- was ich in einer meiner beiden Haushaltsreden gesagt grenzen. Wie können wir das erreichen? Sicherlich nicht habe: Ich bedanke mich namentlich bei der Deutschen allein durch moralische Appelle gegen exzessive Über- Bundesbank und der BaFin – an ihrer jeweiligen Spitze treibungen und eine spekulative Zügellosigkeit. Eine bei Herrn Weber und Herrn Sanio – für das bisher ent- wirksame mittel- bis langfristige Antwort auf die Krise wickelte Krisenmanagement. kann deshalb nicht allein in erneuten Selbstverpflich- tungserklärungen oder Selbstregulierungen der Finanz- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) marktindustrie liegen. Das reicht nicht. Für den heutigen Nachmittag habe ich die wichtigsten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vertreter der deutschen Finanzwirtschaft zu einem Mei- nungsaustausch eingeladen. Ich möchte nicht, dass dies Die mir wichtige Antwort ist eine stärkere Regulierung zu einem Krisengipfel hochstilisiert – mein Sohn würde auf internationaler Ebene, weil sie sich weitgehend der „hochsterilisiert“ sagen – wird. Vielmehr ist es ein ganz nationalstaatlichen Reichweite entzieht. normales Gespräch, in dem es darum geht, wie die Lage (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist und welche Schlussfolgerungen wir zu ziehen haben. der CDU/CSU) Ich möchte mich in diesem Gespräch mit den Vertretern von Banken und Versicherungen insbesondere auf mei- Dabei müssen wir – das ist eine weitere häufig in Ver- nen wichtigen Termin am 10. und 11. Oktober in Wa- gessenheit geratene Nachricht – keineswegs bei Null an- shington vorbereiten; dann werden nämlich im Rahmen fangen, sondern wir können auf bereits erreichten Fort- des G-7-Finanzministertreffens und des IMFs all diese schritten aufbauen. Dies ist nicht zuletzt – das sei mit Themen auf der Tagesordnung stehen. einem gewissen Stolz, aber auch im Brustton der Über- zeugung gesagt – das Verdienst dieser Bundesregierung. Zum wirksamen aktuellen Krisenmanagement ge- hört auch, dass die BaFin ein Veräußerungs- und Zah- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lungsverbot zur Sicherung der Vermögenswerte gegen- über der Lehman Brothers Bankhaus AG hier in Ich will dabei nicht unerwähnt lassen, dass Bundeskanz- (B) Deutschland erlassen hat. Das ist konkretes Krisenma- ler Schröder damals bei dem Weltwirtschaftsgipfel in (D) nagement. Außerdem hat die BaFin in Abstimmung mit Gleneagles dieses Thema mit auf die Tagesordnung ge- anderen Aufsichtsbehörden einen sehr wichtigen Schritt setzt hat. vollzogen: Sie hat am vergangenen Freitag ein sofortiges (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Verbot von Leerverkäufen von Aktien führender Unter- nehmen der Finanzbranche erlassen. Aber wir waren es, unter unserer G-7- und EU-Präsi- dentschaft, die im ersten Halbjahr 2007 das Thema einer (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) stärkeren Regulierung der Finanzmärkte auf die interna- In meinem Schlussteil, in dem es darum geht, wie das tionale Agenda gesetzt haben, immerhin mit dem Erfolg, zukünftige Krisenmanagement aussieht, werde ich dass in einem mühsamen Lernprozess internationale meine Position dahin gehend erläutern, ob wir nicht ge- Gremien jetzt – natürlich in dem Entsetzen über die Fi- nerell ein solches Verbot von Leerverkäufen verabreden nanzmarktkrise – weitreichenden Maßnahmen zur Kri- sollten. senprävention zugestimmt haben und sehr zielstrebig auch die Umsetzung dieser Maßnahmen betreiben, um (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Krisen dieser Art zukünftig zu vermeiden. der CDU/CSU und der LINKEN) Weil das so ist, macht es überhaupt keinen Sinn, wenn Eines scheint mir völlig klar zu sein: Um das in den Experten oder diejenigen, die sich dafür halten, nun täg- und gegenüber den Finanzmärkten und ihren Akteuren lich eine Kakofonie an zusätzlichen Vorschlägen darüber massiv verloren gegangene Vertrauen wieder zurückzu- anstimmen. Es kommt auf die Umsetzung der Maßnah- gewinnen, wird es bei weitem nicht ausreichen, nur ein men an, die wir beschlossen haben. Das ist die Heraus- Krisenmanagement zu entwickeln. forderung. (Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) LINKE]) Ich höre jetzt, ich müsste mit Blick auf die Bewältigung Krise bewältigen und dann wieder zur Tagesordnung der derzeitigen Krise so schnell wie möglich die Eigen- übergehen – das wird nicht reichen. kapitalregeln verschärfen. Das kann jedoch absolut kon- traproduktiv sein, weil ich damit noch weitere Institute Es geht um zwei Seiten einer Medaille: Zum einen in den Orkus werfen würde. müssen wir jetzt Krisenmanagement betreiben. Zum an- deren geht es darum, wie wir eine Wiederkehr einer ähn- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 18974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Sauber wird die Treppe natürlich nur dann, wenn wir rierte Finanzprodukte und Liquiditätslinien an Zweckge- (C) sie mit dem regulatorischen Besen von oben nach unten sellschaften vorzulegen. Eine überarbeitete europäische kehren. Das heißt, zuallererst sind regulierende Maßnah- Bankenrichtlinie wird eines Tages von Ihnen beraten men notwendig, die weltweit gelten. Auf der nächsten werden müssen bei der Übertragung in nationalstaatli- Ebene brauchen wir ein gemeinsames Spielfeld in Eu- ches Recht. ropa. Dann erst steht an, dass wir das auf nationalstaatli- cher Ebene, kompatibel mit dem, was auf internationaler Verständlicher ausgedrückt: Was wir bisher erlebt ha- Ebene verabredet worden ist, auch in Rechtsetzungs- ben, ist, dass es viele Banken gibt, die sehr komplizierte schritten vollziehen müssen. Produkte außerhalb der Bilanzen geführt haben. Die Hauptanstrengung geht dahin – ganz banal ausgedrückt –, Bereits kurz nach Beginn der Finanzmarktturbulen- ihnen dies nicht mehr zu erlauben, sondern dieses zen hat Deutschland im September 2007 das Forum für Engagement in die Bilanzen zurückzuholen Finanzmarktstabilität – das ist das Financial Stability Forum – gebeten, nicht nur eine Analyse vorzunehmen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sondern Empfehlungen an uns zu adressieren, wie ähnli- mit der Anforderung, dass dann Eigenkapitalunterle- che Krisen in Zukunft verhindert werden können. Mir gungen notwendig sind. Das ist die disziplinierende war wichtig, dass es zu einer Stärkung der Eigenkapi- Klammer für Bankmanager, mit dem Geld vorsichtiger talanforderungen, einer Verbesserung des Liquiditäts- umzugehen. und Risikomanagements, einer Erhöhung der Transpa- renz sowie zu Reformen bei den Ratingagenturen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommt, die bei der Entstehung dieser Krise nun wahrlich der CDU/CSU) eine wenig rühmliche Rolle gespielt haben. Bei dem schon erwähnten nächsten Treffen in Wa- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie shington Mitte Oktober werden wir einen umfangreichen bei Abgeordneten der FDP) Bericht über den Stand der Umsetzung der Empfehlung des Financial Stability Forums erhalten, und gleichzeitig In meinem Schreiben an meinen japanischen - werden wir beraten, welche weiteren Maßnahmen ergrif- kollegen, der den Vorsitz der G-7-Finanzminister An- fen werden müssen, unter anderem durch eine verbes- fang dieses Jahres von uns übernahm, habe ich diese Be- serte Zusammenarbeit des Internationalen Währungs- reiche, in denen wir Verbesserungen brauchen, weiter fonds und des Financial Stability Forums im Sinne einer ausgeführt. Vor allem habe ich mehr generelle Eigenka- Art Frühwarnsystem, wie wir es jüngst vorgeschlagen pitalpuffer als Stoßdämpfer für das Finanzmarktsystem haben. Größe und Tiefe der Krise verlangen, nicht bei vorgeschlagen. In der Tat war ich angenehm überrascht, dem stehen zu bleiben, was wir bereits im Frühjahr rich- (B) dass im April 2008 unter dem Vorsitz des italienischen tig erkannt und beschlossen haben. (D) Notenbankpräsidenten Mario Draghi das Financial Sta- bility Forum bemerkenswerte Empfehlungen nicht nur Auch in der Europäischen Union setzt sich Deutsch- vorgelegt hat, sondern sie anschließend auch beschlos- land schon seit einigen Monaten energisch und erfolg- sen worden sind, unter Einbeziehung der angloamerika- reich für eine Stärkung der Finanzstabilität ein. Nach nischen Freunde. Ausbruch der Krise im Bankensektor vor einem Jahr hat der ECOFIN-Rat am 9. Oktober 2007 ein Arbeitspro- Inzwischen hat die Umsetzung der Empfehlungen gramm zur Stärkung der Effizienz und zur Stabilität be- gute Fortschritte gemacht. Die Bundeskanzlerin hat dies schlossen. Diese sogenannte ECOFIN-Roadmap ent- während des Weltwirtschaftsgipfels in Heiligendamm hält zahlreiche Maßnahmen, um Schwachstellen der weiter mit vorangebracht. Das ist eine Abfolge von Ter- internationalen Finanzmärkte zu beseitigen. Bei diesen minen gewesen. Die vom Financial Stability Forum aus- Maßnahmen geht es darum, die Aufsicht über die Finanz- gearbeiteten 100-Tage-Prioritäten sind weitgehend um- märkte und das grenzüberschreitende Krisenmanagement gesetzt. Sie umfassen wichtige Maßnahmen wie zum zu stärken, die Transparenz an den Finanzmärkten zu er- Beispiel die Offenlegung der Risiken durch die Banken, höhen, Aufsichtsregeln zu Kapitalanforderungen und das die Vorlage einer überarbeiteten Leitlinie für das Liqui- Risikomanagement zu stärken. Ich werde gerne über den ditätsmanagement durch den Baseler Bankenausschuss Finanzausschuss und den Haushaltsausschuss eine Vor- sowie die Überarbeitung des Verhaltenskodex für Ra- lage liefern, damit alle Parlamentarier in der Lage sind, tingagenturen durch eine Einrichtung, die IOSCO heißt. diesen Maßnahmenkatalog im Einzelnen nachzuvollzie- Aber die Umsetzung dieses Verhaltenskodex wird von hen. Externen zu überprüfen sein, nicht von ihr selber. Auch bei der Umsetzung dieser Roadmap gibt es (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Fortschritte. Einige grenzüberschreitende Gruppen der CDU/CSU) Aufsichtsbehörden sind bereits eingerichtet. Ein Memo- randum of Understanding zwischen den europäischen Auch mit der Umsetzung der übrigen Empfehlungen Aufsichtsbehörden, Zentralbanken und Finanzministe- geht es planmäßig voran. So hat beispielsweise der Ba- rien ist bereits unter der slowenischen Präsidentschaft seler Bankenausschuss ein Konsultationspapier zur Be- beschlossen worden. rechnung des spezifischen Risikos im Handelsbuch der Banken vorgelegt. Der Ausschuss hat zudem angekün- In Deutschland – um jetzt auf die nationale Ebene zu digt, noch in diesem Jahr eine Leitlinie für eine Stärkung kommen – hat das dreisäulige Universalbankensystem der Eigenkapitalanforderungen für bestimmte struktu- wichtige Stabilisierungsfunktionen übernommen; ich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18975

Bundesminister Peer Steinbrück (A) sagte es bereits. Je fragiler die Situation auf den interna- Um mehr Rationalität in den Finanzmarkt zu bringen (C) tionalen Finanzmärkten wird, desto mehr sollten wir und um den Risiken entgegenzuwirken, die mit Finanz- dankbar sein, dass wir im dreigliedrigen deutschen investitionen für Unternehmen und die Gesamtwirtschaft Bankensystem Sparkassen haben, die eben nicht, wie es einhergehen, meine Damen und Herren, hat die Bundes- Mark Twain einmal formuliert hat, bei schönem Wetter regierung vor einigen Monaten das sogenannte Risiko- Regenschirme ausgeben, die sie bei den ersten Regen- begrenzungsgesetz eingeführt. Ich erinnere daran: Dies tropfen wieder zurückhaben wollen. ist eine Reaktion auf das gewesen, was wir seit dem letz- ten Sommer erleben. Ich will das nicht im Einzelnen aus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten führen, weil mir die Zeit davonläuft, aber ich wäre sehr der CDU/CSU) dankbar, wenn mit Ihrer Unterstützung die wesentlichen Auch und gerade vor dem Hintergrund dieser wichti- inhaltlichen Bestandteile dieses Risikobegrenzungsgeset- gen realwirtschaftlichen Funktion der Sparkassen und zes noch einmal, und zwar im Sinne des Konsumenten- auch der Genossenschaftsbanken, die ich in diesem Zu- schutzes und übrigens auch des Arbeitnehmerschutzes sammenhang nicht vergessen will, als Stabilitätsanker sowie einer erhöhten Transparenz, an die Beschäftigten und angesichts der extremen Nervosität auf den Märkten und ihre Arbeitnehmervertreter in Form von Daten und kann ich der EU-Kommission nur dringend raten, das Informationen weitergegeben werden, die ihnen mehr laufende Beihilfeverfahren mit einer solchen Verantwor- Sicherheit für ihren Arbeitsplatz geben. tung zu führen, die die derzeitigen Schwierigkeiten auf den Finanzmärkten insgesamt berücksichtigt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, es gibt nichts zu beschöni- Das heißt nicht, dass bei den Landesbanken alles gen: Wir befinden uns mitten in der schwersten Finanz- beim Alten bleiben soll. Ich will das deutlich sagen. Wer krise seit Jahrzehnten, in der wir allerdings den Super- es bis heute noch nicht wahrhaben wollte, dem hat spä- GAU, den Kollaps des Weltfinanzsystems bisher verhin- testens die Finanzmarktkrise mit aller Wucht gezeigt, dern konnten. Niemand – kein Ökonom, kein Finanzmi- dass das traditionelle Geschäftsmodell der Landesban- nister, kein Zentralbankchef dieser Welt – wird Ihnen ken nicht mehr den Anforderungen der heutigen Zeit mit Bestimmtheit sagen können, wie lange wir noch mit entspricht. dieser Krise und ihren Begleiterscheinungen leben müs- Deshalb muss es jetzt darum gehen, für einen konsoli- sen. Wenn jemand behauptet, er sehe Licht am Ende des dierten Landesbankensektor neue Geschäftsmodelle zu Tunnels, dann kann es ihm passieren, dass es die Lichter definieren, mit denen die Landesbanken übermäßig hohe des entgegenkommenden Zuges sind. (B) (D) Risiken von hoch volatilen Kapitalmarktgeschäften ver- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der meiden – ich habe nie verstanden, warum das ihr eigent- CDU/CSU) liches Geschäft sein sollte –, nachhaltig angemessene Erträge erwirtschaften und die Sparkassen in ihrem Leis- Ich appelliere, auch angesichts des bislang erfolgrei- tungsspektrum für die Kunden wirksam unterstützen chen Krisenmanagements, an alle Verantwortlichen in können. der Politik und in den drei Säulen des deutschen Banken- systems: Dies ist nicht der Zeitpunkt für kleinliche Dis- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kussionen und kleinteilige Hakeleien, mit denen man Dazu bedarf es nicht sieben selbstständiger Landesban- versucht, auf Kosten des vermeintlichen Wettbewerbers ken in Deutschland. kurzfristige Geländegewinne zu erzielen. Schon seit langem sind hier die Bundesländer gefor- Ich bin sehr an einer geschlossenen Aufstellung des dert. Sie müssen regionale politische Egoismen überwin- deutschen Finanzsektors in Brüssel interessiert. den und sich endlich überregionalen Zusammenschlüssen öffnen, um den Verbund der Sparkassen-Finanzgruppe (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und damit das deutsche Bankensystem insgesamt nach- Es ist der Zeitpunkt, um gemeinsam, mit vereinten Kräf- haltig zu stärken. ten durch die Krise durchzukommen und gleichzeitig das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten globale Finanzsystem stabiler zu machen, nicht nur im der CDU/CSU) Interesse der Finanzwirtschaft, sondern viel mehr noch im Interesse der Verbraucher, der Wirtschaft, aller Men- Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Ich warne alle schen in unserem Land. Beteiligten vor Planspielen mit falschen Annahmen. Vom Bund ist bei der Bereinigung der Probleme im Lan- Eine Erkenntnis aus der Krise lässt sich jetzt ziehen: desbankenbereich keine finanzielle Unterstützung zu er- Die Wall Street, das Epizentrum dieser Krise, wird nicht warten. mehr das sein, was sie in den letzten Jahrzehnten war. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eine weitere Erkenntnis ist, dass wir nach der Bankrott- der CDU/CSU) erklärung des in weiten Teilen des Finanzmarktes in den letzten Jahrzehnten dominierenden Laisser-faire-Kapita- Die Hausaufgaben müssen diejenigen machen, die An- lismus neue „Verkehrsregeln“ brauchen, wie Helmut teilseigner oder – als Großväter – immer noch die Ge- Schmidt es jüngst formuliert hat. Er macht darauf auf- währträger dieser Institute sind. merksam, dass wir für den internationalen Luftverkehr 18976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Verkehrsregeln haben, aber für die internationalen Fi- Wir wollen, dass die Banken Risiken eingehen können (C) nanzmärkte nicht. – das ist prägend für das Bankengeschäft –, aber nur sol- che, die sie mit ausreichend Eigenkapital unterlegt und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) in der Bilanz aufgeführt haben. Nur solche Transparenz Diese neuen „Verkehrsregeln“, an denen wir im G-7- schützt vor Krisen wie der gegenwärtigen. Das bedeutet wie auch im europäischen Bereich intensiv arbeiten, nicht, in Zukunft Finanzinnovation zu verhindern, aber können nur handlungsfähige staatliche Institutionen es bedeutet, sie transparent zu machen, und zwar auch schaffen und durchsetzen, die sich international koordi- den Prozess ihrer Entstehung. nieren, und zwar zum Wohle aller, der strauchelnden Fi- nanzinstitutionen genauso wie der Privatanleger, die sich Zweitens. Wir brauchen höhere Liquiditätsvorsorge zu Recht nach mehr staatlicher Sicherheit auf den Fi- bei den Banken. Eines der Hauptprobleme ist der Man- nanzmärkten sehnen. gel an Liquidität gewesen. Diejenigen, die Liquidität ha- ben, sitzen darauf wie eine Glucke, und diejenigen, die Ich teile deshalb dezidiert die Auffassung von Herrn keine haben, japsen und kriegen kaum noch Luft, weil Röttgen, dass die Finanzmarktkrise die Idee der sozialen ihnen im Interbankenverkehr diese Liquidität nicht gege- Marktwirtschaft auf lange Sicht weltweit stärken ben wird. könnte. Drittens. Es muss internationale Standards für eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stärkere persönliche Haftung der verantwortlichen Fi- neten der SPD und der FDP) nanzmarktakteure geben. Auch ich sehe in den Turbulenzen auf den Finanzmärk- ten nicht das Ende der marktwirtschaftlichen Ordnung, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) aber die Krise zeigt eindeutig die Notwendigkeit und Viertens. Wir müssen wieder zu einem engeren Zu- Aktualität von staatlichem Handeln, das den Märkten sammenhang zwischen Risiko und Rendite kommen. Spielregeln geben und damit auch Grenzen setzen muss. Das heißt auch, es muss endlich Schluss sein mit dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wahnsinnigen Streben nach immer höheren Renditen – der CDU/CSU) ein Quartal nach dem anderen. Allen Beteiligten muss klar sein, dass sich Renditen von 25 Prozent nicht erzie- In den vergangenen Jahren wurde viel über Staatsver- len lassen, wenn nicht unverhältnismäßig hohe Risiken sagen geredet und geschrieben, manches zu Recht. Ich eingegangen oder andere Marktteilnehmer vorsätzlich weiß aus eigenem Erleben, dass staatliches Handeln kei- beschädigt werden. neswegs immer effizient abläuft. Aber es wurde zu we- nig über Marktversagen geredet. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ludwig Ein solches Renditerennen führt früher oder später zum Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) Zusammenbruch der Märkte, weil es nur auf Kosten an- Dass es dies real gibt, und zwar mit gravierenden Aus- derer geht. Es ist schizophren, wirkungen auf das Leben aller, erleben wir gerade. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Weder der bloße Ruf nach mehr Staat noch der simple wenn die Anreiz- und Vergütungssysteme der Banken Glaube an den wettbewerblichen Markt wird der Auf- die Jagd nach Umsatzvolumen und Renditen befeuern, gabe gerecht, vor der wir stehen, nämlich Wirtschaft so ohne die dabei eingegangenen Risiken zu berücksichti- zu gestalten, dass alle an einem stabilen, möglichst kri- gen. Das wollen wir ändern. Das ist auch eine Aufgabe senfreien Wachstum teilhaben können. der Beteiligten selbst. Solange weiterhin zunehmend Staatliche Institutionen müssen im internationalen variable Gehaltsbestandteile in Wirklichkeit das Volu- Verbund Rahmen setzen, Regeln definieren und für ihre men der Vergütung von Bankmanagern ausmachen, so Einhaltung sorgen. Die Marktteilnehmer müssen diesen lange wird die Jagd weitergehen, so lange werden sie Rahmen kreativ ausfüllen, nicht getrieben von Gier und weiter versuchen, so viel Volumen wie möglich zu ak- Kurzatmigkeit, sondern von Verantwortung für die Ge- quirieren, weil davon ihre Boni, ihre variablen Vergü- sellschaft. tungsbestandteile, abhängig sind, so lange werden sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Blick nicht darauf lenken, welche Risiken sie sich der CDU/CSU) damit gleichzeitig an den Hals ziehen. Das ist unser, das ist mein Verständnis von sozialer (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Marktwirtschaft. Das grenzt sich ab von jedem Neolibe- Fünftens. Wir brauchen eine deutlich engere Zusam- ralismus und jedem Neoetatismus. menarbeit zwischen dem Financial Stability Forum und Neue „Verkehrsregeln“ für den Finanzmarkt sind dem Internationalen Währungsfonds. In meinen Augen notwendig. Was heißt das konkret? Damit will ich mit sollte der IWF – er ist neben der Weltbank die letzte In- einigen Punkten zum Schluss kommen. stitution, die vom Bretton-Woods-System übrig geblie- ben ist – die Kontrollinstanz für die Einhaltung weltwei- Erstens. Wir müssen zukünftig verhindern, dass Risi- ter Finanzmarktstandards werden. Wir haben diese ken durch Finanzinnovationen außerhalb der Bilanz Institution. Vor dem Hintergrund des Rückgangs ihrer platziert werden können; davon sprach ich schon. traditionellen Aufgaben läuft sie zunehmend ein biss- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) chen ins Leere. Die Überwachung, die Kontrolle welt- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18977

Bundesminister Peer Steinbrück (A) weiter Finanzmarktstandards wäre eine neue Aufgabe In welchem Ausmaß die öffentlichen Haushalte da- (C) für diese bestehende, geachtete Institution. von betroffen sind, liegt allerdings an mehreren Fakto- ren. Es liegt weniger an der realen Wachstumsrate und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sehr viel mehr an der nominalen Wachstumsrate. Es liegt Sechstens. Im Sinne von mehr Transparenz und Stabi- vornehmlich auch an der Entwicklung des Arbeitsmark- lität auf den Finanzmärkten müssen wir gemeinsam auf tes. Davon ist abhängig, wie die tatsächlichen Steuerein- internationaler Ebene zu einem Verbot rein spekulativer nahmen sind. Ich darf Ihnen berichten: Bisher – jeden- Leerverkäufe kommen. falls im laufenden Jahr – sind diese Steuereinnahmen von diesen Abwärtsrisiken für die Konjunktur nicht be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der rührt. Es ist auch davon abhängig, wie die Elastizitäten CDU/CSU) sind. Es geht um die Effekte einer abnehmenden Wachs- tumsrate auf die staatlichen Einnahmen und auf die Ar- Siebtens. Um wieder ein nachhaltiges Risikobewusst- beitsmärkte. Wir sind dort als Volkswirtschaft in den sein bei den Banken zu erreichen, werde ich mich bei letzten Jahren besser geworden. Es liegt auch daran, wie dem bevorstehenden G-7-Treffen in Washington dafür flexibel wir sind, wieder Fahrt aufzunehmen, wenn sich einsetzen, dass Kreditrisiken, die die Banken eingehen, die Rahmendaten wieder etwas verbessern. von diesen nicht mehr zu 100 Prozent verbrieft und da- mit weitergereicht werden können. Wir sind immer noch, aber immer weniger von der Entwicklung in den USA abhängig. Andere dynamische (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Weltregionen tragen mehr und mehr dazu bei, dass die deutschen Exportaktivitäten sehr viel differenzierter in Das ist eine Maßnahme, die schwer zu erklären ist, die der Welt laufen und wir deshalb gegenüber den Ein- aber ihre Auswirkungen hat. Aus meiner Sicht sollte das schlägen, die über den Atlantik kommen, unabhängiger veräußernde Institut verpflichtet werden, zukünftig im- sind. mer bis zu 20 Prozent der eingegangenen Kreditrisiken in den eigenen Büchern zu führen, und nicht berechtigt Die neue Wachstumsprojektion der Bundesregierung sein, sie in Form von irgendwelchen Derivaten weiterzu- erfolgt Mitte Oktober. Die Steuerschätzung kommt An- reichen. fang November. Ich sage: Diese bleiben abzuwarten, ehe jemand versucht, mit eigenen Schätzungen Schlagzeilen Achtens. Ich werde mich bei den europäischen Part- zu machen. Die Bundesregierung wird ihren Kurs beibe- nern für eine weitere europäische Harmonisierung der halten, ihren Planungen keine zweckoptimistischen Eck- Aufsicht stark machen. Ich warne aber davor, zu glau- punkte zugrunde zu legen. Damit sind wir in den letzten ben, dass man mit einem riesigen Wurf, quasi mit einem drei Jahren gut gefahren. (B) Urknall eine europäische Aufsichtsbehörde schaffen (D) könnte, nach dem Motto: Wenn wir ein Problem haben, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gründen wir einen neuen Club. Das wird ein eher evolu- CDU/CSU) tionärer Vorgang sein müssen: ausgehend von dem, was Das wird natürlich Einfluss auf die Haushaltsberatun- wir schon in Gang gesetzt haben, über die Colleges of gen haben und auch manche Wunschzettel oder eil- Supervisors und die Gruppenaufsicht. Dass vielleicht in fertige Versprechen aushebeln. Der Kurs der Bundes- zehn Jahren eine gemeinsame europäische Institution regierung, die Konsolidierung fortzusetzen, die ähnlich der EZB steht, will ich nicht ausschließen. Ei- automatischen Stabilisatoren zur Geltung zu bringen, ge- nige in diesem Saal kommen vielleicht zu dem Ergebnis: genfinanzierte Entlastungen für die Bürgerinnen und Es ist die EZB. Bürger zu finanzieren und Zukunftsinvestitionen zu täti- ( [CDU/CSU]: Genau!) gen, bleibt richtig. Das könnte sein. Ich bitte aber darum, in dieser Situation Die Tugenden, die Max Weber vor hundert Jahren für nicht gleich wieder mit Vorschlägen zu kommen, die er- einen Politiker beschrieben hat, sind aktueller denn je: kennbar übers Knie gebrochen wurden. Leidenschaft, Verantwortungsbewusstsein und Augen- maß. Ich bin zuversichtlich, dass diese acht erwähnten Punkte, die im Wesentlichen „Verkehrsregeln“ enthalten, Vielen Dank für Ihr Zuhören. dazu führen können, dass zukünftige Finanzkrisen nicht (Anhaltender Beifall bei der SPD und der die Sprengkraft entwickeln, wie das aktuell der Fall ist. CDU/CSU) Lassen Sie mich abschließend einige Bemerkungen bezogen auf die deutsche Wirtschaft und die öffentlichen Präsident Dr. Norbert Lammert: Haushalte machen. In Übereinstimmung mit dem Bun- Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder wird für ange- desbankpräsidenten sehe ich keine Kreditklemme, aber messen halten, dass ich bei der außerordentlich kompli- ich sehe eine Verschärfung von Kreditkonditionen, die zierten und gleichzeitig besonders wichtigen Materie sich natürlich auch auf die Realwirtschaft auswirken erst gar nicht den Versuch unternommen habe, auf die werden. Die Bürger müssen keine Angst um ihr Erspar- Differenz zwischen der angemeldeten und der tatsächli- tes haben. Unsere Realwirtschaft wird in Mitleidenschaft chen Redezeit aufmerksam zu machen. Ich will darauf gezogen. Die Abwärtsrisiken für die Konjunktur sind hinweisen, dass ich das für die erste Runde der jeweili- nicht zu ignorieren. gen Fraktionsredner ähnlich halten möchte, mit der aus- 18978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) drücklichen Bitte, das jetzt nicht als Generalgenehmi- Was hat uns dann in diese Probleme hineingezogen? (C) gung für beliebige Festansprachen misszuverstehen. Man hat schöne Pakete, in denen schlechte Kredite mit guten Krediten vermischt worden sind, geschnürt. Die (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der amerikanischen Ratingagenturen – wir haben leider nur SPD) amerikanische Ratingagenturen – haben darauf Nun eröffne ich die Aussprache und erteile als Erstes „Triple A“ gestempelt. Dann sind diese Pakete den An- das Wort dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für die legern in der ganzen Welt angeboten worden, und die ha- FDP-Fraktion. ben natürlich zugegriffen. Wenn das im privaten Bereich geschehen ist, dann müssen sie dafür eben geradestehen. (Beifall bei der FDP) So ist das in Deutschland auch. Damit bin ich schon bei der deutschen Situation. Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Herr Präsident! Ich glaube, das Thema gibt keinen Wenn aber deutsche Staatsbanken dieses Geschäft be- Anlass zu Festansprachen; dazu ist es zu ernst. Deswe- treiben, dann haben wir als Opposition die Aufgabe, uns gen möchte ich sagen, Herr Bundesfinanzminister vor den Steuerzahler zu stellen, der da in Haftung ge- Steinbrück: Ihrer Analyse insbesondere im ersten Teil nommen wird. der Rede, aber auch Ihren Bemühungen, zu internationa- (Beifall bei der FDP) len Standards der Regulierung im Finanzmarkt zu kom- men, stimmt die FDP-Opposition ausdrücklich zu. Daran Herr Finanzminister, Sie betonen immer wieder, Ihr ist keine Kritik zu äußern. Haushalt sei bis jetzt nur um 1,2 Milliarden Euro belas- (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!) tet worden. Das ist zwar rechnerisch und buchhalterisch richtig; aber in Wirklichkeit haben Sie – das geben Sie Enttäuscht sind wir allerdings, dass Sie kein Wort der auch zu – einen Schutzschirm von mindestens Selbstkritik dazu geäußert haben, dass es auch hier Fehl- 10 Milliarden Euro aufgespannt, wofür der Steuerzahler verhalten und Staatshaftung gibt. geradestehen muss. (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) der CDU/CSU) Die spannende Frage, ob das nun eigentlich Staats- Weil Sie das nicht Ihrem Haushalt entnehmen wollen, versagen oder Marktversagen ist, beantworte ich völ- haben Sie mittlerweile buchhalterische Kunstgriffe vor- lig anders als Sie. Wenn Sie Ihre Analyse noch einmal genommen: Bei der KfW haben Sie etwas getan, was durchlesen würden, kämen Sie zu demselben Ergebnis nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung in (B) wie ich. Denn Sie haben gesagt, dass es gerade in den Deutschland überhaupt nicht zulässig wäre. Wenn ich (D) Vereinigten Staaten ein völlig unzureichendes Regulie- bei meiner Kaufmannsgehilfenprüfung als Bankkauf- rungssystem gegeben hat. Das ist ein Fehler des Staates mann 1964 das geraten hätte, wäre ich mit Pauken und und nicht des Marktes. Trompeten durchgefallen. Sie haben nämlich gesagt: Die (Beifall bei der FDP) jetzt eingetretenen Verluste werden mit möglichen Ge- winnen in der Zukunft verrechnet. Das widerspricht dem Wenn Sie sich anschauen, was die Ursache dieser Vorsichtsprinzip total. Das ist nicht zulässig. Das ist ein Krise in den Vereinigten Staaten – da liegt die Ursache – Buchhaltertrick, den Sie anwenden, damit Sie das alles war, dann erkennen Sie: Es war eindeutig Staatsversa- vorerst aus Ihrem Haushalt heraushalten können. gen. Das Wichtigste war, dass die amerikanische Zen- tralbank unter Greenspan zu lange zu viel zu billiges (Beifall bei der FDP) Geld zur Verfügung gestellt hat, sodass diese spekula- tiven Blasen finanziell überhaupt erst möglich geworden Nun will ich noch einmal auf die Punkte zu sprechen sind. kommen, bei denen die Bundesregierung in der Haftung ist. Angefangen hat es damit, dass sie die Beteiligung an (Beifall bei der FDP) der IKB überhaupt eingegangen ist. Das ist 2001 unter Ein Weiteres war, dass das Programm der amerikani- , Ihrem Vorgänger, geschehen. Damals ge- schen Bundesregierung unter Bush, Häuser für jeder- schah dies mit der interessanten Begründung, man wolle mann erschwinglich zu machen – es wurde angekurbelt abwehren, dass eine ausländische Bank die IKB in Be- durch Subventionen, durch Steuerbegünstigungen und sitz nehmen könne. Damals ging es um die Royal Bank durch den Zwang, Freddie Mac und Fannie Mae zu gro- of Scotland, immerhin eine europäische Bank. Im End- ßen Finanzierungskartellen zusammenzuschließen – erst effekt haben Sie doch – auch auf Druck aus dem Parla- dazu geführt hat, dass diese verrückte Finanzierungssitua- ment hin – die IKB verkaufen, das heißt quasi verschen- tion in den USA entstehen konnte: Menschen, die nie- ken müssen, und zwar an wen? An Lone Star, an eine mals in der Lage waren, auch nur 1 Dollar für ein Haus amerikanische Heuschrecke, und das, obwohl Sie nur zu bezahlen, geschweige denn Zinsen zu tilgen, wurden eine Woche vorher ein Gesetz erlassen haben, durch das Häuser übereignet. Das wäre in Deutschland, auch recht- die Beteiligung an solchen Fonds eingeschränkt werden lich, überhaupt nicht möglich gewesen. Was in den Ver- soll. Auch das ist ein Widerspruch, den der Betrachter einigten Staaten geschehen ist, war eindeutig Staatsver- überhaupt nicht auflösen kann. sagen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker (Beifall bei der FDP) Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18979

Dr. Hermann Otto Solms (A) 2005 hätten Sie die Chance gehabt, die IKB zu ver- doch nicht gut gehen. Diese Person überwacht sich ja (C) kaufen. Wir haben es Ihnen empfohlen. Sie hätten einen selbst. Sie kann ja gar nichts aufdecken. Wie soll sie das Milliardengewinn einstreichen können. Nun haben Sie machen? Das müsste dann ein Wunderkind sein. 10 Milliarden Euro Verlust gemacht. Die Frage ist: Was haben Sie in dieser Zeit getan? Ich (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Dirk habe darauf hingewiesen: Sie haben die IKB verkauft. Niebel [FDP]: Der Steinbrück hört gar nicht Sie haben nicht gesagt, was Sie mit der IPEX machen, zu!) mit der Sie die gleichen Probleme haben. Auch diese müsste privatisiert werden. Herr Präsident, ich bitte darum, dass diese Privatge- spräche auf der Regierungsbank aufhören. Wenn das (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) Parteipräsidium der SPD tagen will, dann kann es das Sie haben bis heute nicht gesagt, was Sie mit der KfW außerhalb des Parlaments machen. machen. Bleibt das eine Behörde, oder wird das eine (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bank, die der Bankenaufsicht – das wäre dringend not- der LINKEN) wendig –, insbesondere der unabhängigen Aufsicht der Deutschen Bundesbank unterstellt wird? Wie werden die Das ist hier ein Haus für alle Parteien. Aufsichtsstrukturen verändert? Die Antworten auf all (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nicht für alle!) diese Fragen sind Sie schuldig geblieben. Aber auch das gehört zur Abrechnung und zur Analyse. Deswegen sage Was haben Sie seitdem getan? Die Krise ist nicht erst ich: Da sind Fehler passiert, die nicht hätten passieren im Juni/Juli letzten Jahres aufgeschienen, sondern die dürfen und längst hätten korrigiert sein müssen. ersten Anzeichen dafür gab es schon im Februar 2007, als die HSBC-Bank – für die, die sie nicht kennen: (Beifall bei der FDP) Hongkong and Shanghai Banking Corporation – die ers- In der heutigen Ausgabe der FAZ schreibt Bettina ten Gewinnwarnungen herausgegeben hat. Es folgten je- Schulz aus London: den Monat weitere Warnungen. Ein vorsichtiger Banker und eine vorsichtige Aufsicht hätten natürlich schon in Aber die Kritik muss an der Aufsicht ansetzen. Das diesem Moment geschaut: Können auch wir betroffen ist für Politiker freilich ein brenzliges Thema: Die sein? – Erst im Juli 2007, als die Bude bereits gebrannt Banken- und Marktaufsicht hat an jedem einzelnen hat, sind Sie aufgewacht. Finanzplatz katastrophal versagt. Weder die deut- sche Bafin noch die britische FSA, die amerikani- Danach hat es verschiedene Abschirmungsrunden ge- sche Federal Reserve oder die SEC haben erkannt, geben. Nach jeder Runde war klar, dass man nicht dass es Geschäftsmodelle gab, die gefährliche (B) wusste, wie hoch das Risiko wirklich ist. Selbst bis heute (D) Schneeballeffekte auslösen könnten. weiß man das nicht richtig, sonst hätte nicht das eintre- ten können, was jetzt gerade in diesem Monat eingetre- Ich kann dem nur zustimmen. Das ist das Staatsversagen ten ist, nämlich die Überweisung an Lehman Brothers in der Bundesregierung und des Bundesfinanzministers, Höhe von 350 Millionen Euro, obwohl sie schon pleite der nach KfW-Gesetz im Benehmen mit dem Bundes- waren. Das sind doch ein drastisches Versäumnis und ein wirtschaftsminister für die Aufsicht der KfW zuständig Fehler der Aufsicht. ist. (Beifall bei der FDP) (Peer Steinbrück, Bundesminister: Ganz vor- sichtig, nur für die Rechtsaufsicht!) Ich habe bewusst den Bericht des Rechnungshofes nicht eingesehen, den wir Abgeordnete nur unter Auf- – § 12 des KfW-Gesetzes – ich zitiere –: sicht lesen dürfen. Ich möchte mir nicht vorwerfen las- Das Bundesministerium der Finanzen übt die Auf- sen, aus einem geheimen Bericht zu zitieren, und ich sicht über die Anstalt im Benehmen mit dem Bun- wusste: Am nächsten Tag steht es sowieso in der Zei- desministerium für Wirtschaft und Technologie aus. tung. Schauen Sie heute in die Zeitung, da steht alles drin. Der Rechnungshof hat schon im Jahre 2003 auf die (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Organisations- und Aufsichtsprobleme bei der KfW hin- Erwischt!) gewiesen. Diese Vorwürfe wiederholt er jetzt. Seit seiner Dies sind Sie bei Ihrer Arbeit schuldig geblieben. Warnung 2003 hat sich nichts geändert. Was aber viel schlimmer ist: Seit dem Eintreten der Krise – spätestens Ich will zum Abschluss noch etwas zur Verantwor- im Juli 2007 – hat sich ebenfalls nichts geändert. Die tung sagen. Einige Landesbanken und die dazugehörigen Aufsicht ist weiterhin so dilettantisch wie zuvor betrie- Regierungen haben in diesem Bereich drastisch versagt. ben worden. Sachsen hat dadurch einen Schaden von um die 5 Mil- liarden Euro verursacht. Als Folge sind immerhin der (Beifall bei der FDP) Finanzminister und schließlich auch der Ministerpräsi- Es sind immer dieselben Personen, die das machen. dent Milbradt zurückgetreten, nicht nur deshalb, aber Auch darauf weist der Rechnungshof hin. Da heißt es auch deshalb. Ein anderes Beispiel ist die Bayerische ganz klar: Gibt es keine Interessenkonflikte, wenn für Landesbank. In der Bayerischen Landesbank setzt sich die Aufsicht der KfW und für die Aufsicht der BaFin die Hälfte des Verwaltungsrates aus Mitgliedern der dieselbe Person aus dem Finanzministerium zuständig bayerischen Landesregierung zusammen. Der Kohorten- ist, die auch im Aufsichtsrat der IKB sitzt? Das kann führer ist Finanzminister . Vor der Kommu- 18980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Hermann Otto Solms (A) nalwahl hat er versucht, zu vertuschen, welcher Schaden In der Realwirtschaft macht man sich im Hinblick auf (C) im März dieses Jahres entstanden ist; die Kreditfinanzierungen von Unternehmen Sorgen. Ich stimme dem Finanzminister ausdrücklich zu, dass (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist leider wahr!) sich die Kreditversorgung unserer mittelständischen bei der Kommunalwahl hat er natürlich eine Niederlage Wirtschaft trotz Krise verbessert hat. erlitten. Jetzt, vor der Landtagswahl, wird wieder nicht klar gesagt, welche zusätzlichen Belastungen durch die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Beteiligung an Lehman Brothers auf die Bayerische der SPD) Landesbank zukommen werden. An dieser Stelle möchte ich den Akteuren in diesem Be- (Dirk Niebel [FDP]: Wo ist eigentlich Herr reich, die natürlich auch den Eigenkapitalvorschriften Seehofer?) Rechnung tragen müssen, dafür meinen Dank sagen. Am kommenden Sonntag muss er sich erneut dem Wäh- Da mit AIG auch ein großer Versicherer von der Fi- ler stellen. Warten wir einmal ab, welches Urteil die nanzkrise betroffen ist, will ich noch eine Bemerkung bayerischen Wähler sprechen werden. zur Altersversorgung machen. Möglicherweise werden nicht alle Renditeerwartungen erfüllt, die man in der (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist Vergangenheit hatte. Aber auch hier besteht kein Anlass aber sehr klein, Herr Kollege Solms! Sehr, zur Sorge. Wir können den Menschen sagen: Neben der sehr klein!) gesetzlichen Rente gibt es sowohl im betrieblichen als Schließlich frage ich die Bundesregierung: Wie ste- auch im privaten Bereich Altersvorsorgeinstrumente, die hen Sie zu Ihrer Verantwortung? Was sagen Sie dazu? auch in der Krise funktionieren. Diese Instrumente dür- Zumindest ein Wort der Entschuldigung beim Steuerzah- fen wir in der aktuellen Debatte nicht diskreditieren. ler wäre angemessen gewesen. Das erwarten wir von Ih- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- nen. wie des Abg. Ludwig Stiegler [SPD]) (Beifall bei der FDP) In der jetzigen Situation heißt es, wir müssten die soziale Marktwirtschaft hinterfragen. Ich glaube, dass Präsident Dr. Norbert Lammert: die soziale Marktwirtschaft durch diese Krise bestätigt Dr. Michael Meister ist der nächste Redner für die wird. Wir treten für Märkte ein, auf denen klare Rah- CDU/CSU-Fraktion. menbedingungen und Regelwerke gelten. Was wir nicht (Beifall bei der CDU/CSU) wollen, ist die Beseitigung der Märkte. Was wir auch nicht wollen, ist die Beseitigung der Regeln. (B) (D) Dr. Michael Meister (CDU/CSU): (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte für die Unionsfraktion zunächst einmal sagen: Vielmehr müssen wir über die Fragen diskutieren: Wie Ich halte es für richtig und begrüße es ausdrücklich, dass können wir diese Regeln vor dem Hintergrund der Pro- der Bundesfinanzminister heute Morgen für die Bundes- bleme, mit denen wir es jetzt zu tun haben, neu adjustie- regierung eine Regierungserklärung zu diesem Thema ren, und wie können wir die vorhandenen Regelwerke abgegeben hat und dass wir die Gelegenheit haben, über internationalisieren? Denn als nationaler Gesetzgeber diese wichtigen und bewegenden Ereignisse eine Aus- würden wir uns überheben, wenn wir versuchen würden, sprache zu führen. Ich halte es auch für richtig, dass wir diese Probleme allein zu lösen. das an diesem Ort und sehr zeitnah tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wie wir heute Morgen gehört haben, haben wir es mit neten der SPD) Sicherheit mit einer der größten Finanzkrisen der Welt- Ich plädiere dafür, dass wir versuchen sollten, unser geschichte zu tun. Wenn man sich andere Finanzkrisen Modell der sozialen Marktwirtschaft bzw. zumindest der vergangenen 400 Jahre vor Augen führt, wird aller- seine Grundprinzipien in andere Länder und internatio- dings deutlich, dass die Mechanismen, über die wir nale Organisationen zu exportieren, um im Hinblick auf heute verfügen, besser sind als in früheren Zeiten. Des- die Herausforderungen auf den Märkten ein etwas grö- halb können wir mit dieser Diskussion auf einem ganz ßeres Sicherheitsnetz zu schaffen. Insofern glaube ich, anderen Niveau starten, als man es in den 30er-Jahren dass in dieser Krise auch eine Chance zu sehen ist. – Stichwort: Schwarzer Freitag – oder in den 80er-Jah- ren hätte tun können. Das sollten wir zur Kenntnis neh- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) men, damit wir wissen, wovon wir bei dieser Diskussion Ich denke, heute diskutieren wir über die Herausfor- ausgehen. derungen der internationalen Finanzkrise unter wesent- Viele Menschen in unserem Land machen sich ver- lich besseren Konditionen, als es zu Beginn der Amtszeit ständlicherweise Sorgen, was mit ihren Spareinlagen dieser Bundesregierung möglich gewesen wäre. Wir ha- geschieht. Ich glaube, wir haben in allen drei Säulen un- ben ein deutlich größeres Wirtschaftswachstum als in seres Bankensystems Vorkehrungen getroffen, die ge- den Jahren zuvor. Wir haben eine deutliche Besserung währleisten, dass diese Sorgen unbegründet sind. Auch am Arbeitsmarkt zu verzeichnen. Wir haben eine viel das sollten wir klar und deutlich sagen, um nicht für Ver- entspanntere Haushaltssituation, wenngleich sie noch unsicherung zu sorgen. nicht in Ordnung ist. Und unsere Wirtschaft befindet Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18981

Dr. Michael Meister (A) sich in struktureller Hinsicht in einer deutlich besseren selbst fragen, ob wir dafür nicht ein paar Tage zu lang (C) Verfassung, als es früher der Fall war. gebraucht haben. Man muss sich einmal die Frage stellen, was gesche- (Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE hen wäre, wenn uns eine solche Krise im Jahre 2005 er- LINKE]) eilt hätte, als die Konditionen unserer Wirtschafts- und Arbeitsmarktverfassung noch anders aussahen. Ich Vor diesem Hintergrund will ich aber auch sagen, glaube, die Probleme und die Auswirkungen im Lande dass es eine ganze Reihe von Akteuren gibt – insbeson- wären wesentlich größer gewesen. An dieser Stelle sind dere in den USA –, die Basel II immer noch nicht umge- wir ein Stück weit besser geworden. setzt haben. Deshalb ist es dringend notwendig, dass da- rauf gedrungen wird, diese Regeln hinsichtlich der (Beifall bei der CDU/CSU) Anforderungen an das Eigenkapital umzusetzen und die Ich möchte auch ausdrücklich unterstreichen, dass wir Möglichkeit aufzuheben, etwas zu tun, was sich nicht in nicht erst nach Auftreten der Krise damit begonnen ha- der Bilanz niederschlägt. Auch dafür müssen wir diesen ben, über die Krise zu diskutieren, sondern dass wir vor- Anlass direkt nutzen. her gehandelt haben. Die Tagung in Heiligendamm und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Vorbereitungen dafür lagen vor Beginn der Krise. neten der SPD) Wenn wir uns das Hauptphänomen der Krise an- Ich will die Rolle der Europäischen Zentralbank schauen, dann stellen wir fest, dass es eine Vertrauens- ansprechen. Ich glaube, dass dort richtigerweise eine krise zwischen den Akteuren ist. Deshalb muss man Doppelstrategie verfolgt wird. Aus meiner Sicht blenden sich die Frage stellen, wie man neues Vertrauen erzeu- wir die Inflation gegenwärtig zu stark aus. Damit liegt gen kann. Das kann man durch Offenheit und Transpa- auch eine weltweite Herausforderung vor uns, weil es sie renz erreichen. Deshalb ist der Ansatz, für mehr Trans- nicht nur in einigen Ländern, sondern insgesamt – um parenz in den Märkten zu werben – das war der Ansatz den Globus herum – gibt und weil sie nicht mehr über der Bundesregierung, Herr Finanzminister und Frau niedrige Lohnangebote in einigen Entwicklungs- oder Bundeskanzlerin –, die zentrale Aussage, um neues Ver- Schwellenländern bekämpft wird. Deshalb werden wir trauen in den Märkten zu erzeugen und damit die Ak- uns mit der Herausforderung Inflation beschäftigen müs- teure wieder handlungsfähig zu machen. sen. Es ist hochgradig gefährlich, das Ziel der Inflations- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. bekämpfung in der Krise aufzugeben. Ludwig Stiegler [SPD]) Ich möchte ausdrücklich hervorheben: Die Europäi- Ich hoffe, dass durch diese Krise auch die Chance er- sche Zentralbank tut das nicht. (B) (D) öffnet wird, die Reserviertheit, die wir in Großbritannien (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) und den USA damals verspürt haben, ein wenig zu ver- ringern, damit wir damit vorankommen, das, womit da- Sie versucht, die Inflation zu bekämpfen und die Märkte mals begonnen wurde, dauerhaft zu implementieren und gleichzeitig mit der notwendigen Liquidität zu versor- damit mehr Transparenz und Vertrauen zu erreichen. gen. Diese Doppelstrategie – beide Ziele im Auge zu Ich will ausdrücklich sagen: Finanzmärkte sind für haben und zu verfolgen – ist zu loben. Deshalb unterstüt- sich genommen nichts Böses. Sie tragen wesentlich zum zen wir diese Strategie unserer Zentralbank ausdrück- Wohlstand unserer Gesellschaft bei: zum einen direkt lich. über diejenigen, die dort beschäftigt sind – wir reden im- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- merhin über 1,5 Millionen Menschen in Deutschland, neten der SPD) die in diesem Sektor beschäftigt sind; diese Arbeits- plätze und den Anteil am Bruttoinlandsprodukt können Ich möchte an dieser Stelle sagen: Wir möchten uns wir nicht einfach wegdiskutieren –, und zum anderen na- auch herzlich für den Rat und die Unterstützung unserer türlich, indem dadurch Geschäfte in der Realwirtschaft beiden Aufsichtsinstitutionen – Notenbank und BaFin – möglich sind und sich finanzieren lassen. Deshalb brau- bedanken. Man kann sehr wohl die Frage stellen, ob dort chen wir die Finanzmärkte, aber wir müssen aufpassen, im Detail alles richtig gemacht wird. Meine Erfahrung dass diese Finanzmärkte dauerhaft, nachhaltig und funk- ist: In dieser Krisensituation waren sowohl der Rat als tionsfähig sind. Darüber müssen wir diskutieren – und auch die Handlungsfähigkeit wertvoll. Dadurch wurde nicht gegen die Finanzmärkte. geholfen, die eine oder andere Verschlimmerung der Krise zu vermeiden. Das sollte man bei aller Kritik, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- an der einen oder anderen Stelle vorgetragen wird, auch neten der SPD) einmal positiv hervorheben. Eine Reihe von Schwächen sind erkennbar geworden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich will ausdrücklich darauf hinweisen: Es gäbe das Pro- blem mit der IKB nicht in dieser Weise, wenn Basel II Lieber Kollege Solms, ich schätze Sie im Finanzaus- bei uns in Deutschland nicht erst zum 1. Januar 2008 schuss sehr als Finanzfachmann. Ich rate aber sehr wohl umgesetzt worden wäre; denn das, was bei der IKB ge- dazu, die Frage zu stellen, wie die Rolle der KfW in macht wurde und keinen Niederschlag in der Bilanz ge- Deutschland in Zukunft aussehen wird. Was ist die Auf- funden hat, wäre nicht möglich gewesen, wenn Basel II gabe der KfW? Beschränkt sie sich auf das Förderge- schon gegolten hätte. Wir müssen uns dabei auch einmal schäft, oder gibt es noch weitere Aufgaben? 18982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Michael Meister (A) Wir müssen auch die Frage stellen, unter welchem Es sind auch Überlegungen notwendig – darin unter- (C) Aufsichtsregime die Aufgaben nach dem Kreditwesen- stütze ich Herrn Steinbrück ausdrücklich –, welche Rolle gesetz wahrgenommen werden. Wir müssen auch fragen, die Europäische Zentralbank in der Finanzaufsicht auf ob die derzeitigen Regelungen im KfW-Gesetz dem ent- europäischer Ebene spielen kann. Auch diese Aufgabe sprechen, was wir als künftige Rolle der KfW sehen. Das müssen wir lösen. ist aus meiner Sicht wichtig und richtig, und wir sollten Ich unterstütze für meine Fraktion ausdrücklich, dass es in Ruhe bedenken. Weil daraus neue Erkenntnisse er- wir beim Rating verbindliche Spielregeln brauchen. Es wachsen, wird es Veränderungen geben müssen. geht nicht an, dass jemand Produkte kreiert und gleich- Ich rate aber dringend dazu, nicht so zu tun, als hätten zeitig in diesem Bereich die Bewertungen vornimmt. die internationale Finanzkrise und ihre Auswirkungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nur mit der KfW zu tun. Wir werden dem Thema nicht gerecht, wenn wir es nur auf diesen einzelnen Punkt ver- Das ist nicht akzeptabel. Deswegen brauchen wir ver- engen. Ich bitte deshalb darum, dass wir die Aufgaben bindliche und überwachbare Kontrollmechanismen. lösen, uns aber gleichzeitig auch darum kümmern, wie Ich teile auch ausdrücklich die Auffassung in der wir die Finanzkrise insgesamt vernünftig aufarbeiten Frage der Eigenkapitalunterlegung: Es kann nicht sein, können. dass Finanzprodukte risikofrei gehandelt werden kön- Ich bin der Meinung – darin teile ich ausdrücklich die nen. Notwendig ist vielmehr eine Eigenkapitalunterle- Position von Herrn Steinbrück –, dass uns die Auswir- gung, durch die derjenige, der Finanzprodukte auf den kungen auf das Einlagensicherungssystem, auf andere Markt bringt, ein Eigenrisiko trägt. Banken, die dort Einlagen hatten, und auf die Finanzie- Insofern hoffe ich, dass wir heute die Chance nutzen, rung der Realwirtschaft deutlich mehr Steuergelder für unser System nicht kleinzureden. Wir sollten vielmehr die Rettungsaktion gekostet hätten, wenn wir die IKB die Chance nutzen, die in dieser Krise liegt, Erkenntnisse nicht in der jetzigen Form erhalten hätten. zu gewinnen, um die Märkte für die Zukunft weiter zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) stabilisieren. Ich würde mich freuen, wenn auch diese Debatte dazu einen Beitrag leisten würde. Deshalb ist in der Gesamtabwägung vielleicht ein einzel- ner Detailschritt kritikfähig, aber die gesamte Richtung Vielen Dank. ist aus meiner Sicht ausdrücklich zu unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das Thema Landesbanken ist bereits angesprochen Präsident Dr. Norbert Lammert: (B) (D) worden. Ich glaube, dass es für die Zukunft dringend Nächster Redner ist Oskar Lafontaine für die Fraktion notwendig ist, nachhaltige und tragfähige Geschäfts- Die Linke. modelle zu entwickeln, und dass es dazu anderer Struk- (Beifall bei der LINKEN) turen bedarf. Ich rate aber dazu, dass wir als Bundestags- abgeordnete und als Bund diesen Prozess dort, wo wir Oskar Lafontaine (DIE LINKE): gefordert sind, wohlwollend begleiten und unterstützen. Ich weise aber darauf hin, dass diese Institute keine Bun- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- desbanken, sondern Landesbanken sind. Deshalb sollten ren! Ich glaube, dass mit dem Wort „Finanzmarktkrise“ bitteschön zunächst einmal die Eigentümer ihre Verant- die Krise, über die wir heute reden, nicht ausreichend be- wortung wahrnehmen, bevor wir Fragen und Probleme schrieben ist. Nach unserer Auffassung geht es nicht um diskutieren, für deren Lösung wir gar nicht direkt zu- eine ökonomische Krise, sondern um eine Krise der geistigen und moralischen Orientierung der westlichen ständig sind, sondern bei denen wir höchstens Hilfestel- lung leisten können. Insofern sollten wir unsere Rolle an Industriegesellschaften. dieser Stelle richtig verstehen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Bettina Hagedorn [SPD]: Aber nicht so! Aber nicht finanziell!) Um verständlich zu machen, was ich damit meine, will ich zuerst darlegen, wie das Ganze begonnen hat und – Dieser Zwischenruf mag ein guter Beitrag zum bayeri- wie vor einigen Jahren die Auffassung der großen Mehr- schen Landtagswahlkampf sein. Ob er uns in der Krise heit derjenigen, die an der Diskussion teilgenommen ha- hilft, bezweifele ich. ben, war. Im Jahre 1996 hat der Bundesbankpräsident Ich will noch einmal die Frage der Bankenaufsicht Tietmeyer vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos ge- aufgreifen. Ich glaube, dass es richtig ist, dass wir eine sprochen. Dort sagte er, gerichtet an die Politiker und engere Zusammenarbeit der nationalen Aufseher brau- Wirtschaftsführer, die dort versammelt waren: Meine chen. An der Stelle müssen auch Vorkehrungen für Kri- Herren, Sie alle sind jetzt der Kontrolle der internatio- sensituationen getroffen werden. Wenn freitagnachmit- nalen Finanzmärkte unterworfen. – Wenn heute ein tags eine Krisensituation eintritt, dann geht es nicht an, Bundesbankpräsident so etwas sagte, würde er wahr- dass man erst montagmorgens beginnt, zu recherchieren, scheinlich gleich in eine Heilanstalt eingeliefert werden. wer die zuständigen Gesprächspartner sind. Es muss Aber damals wurde diese Aussage mit großem Beifall Pläne geben, wie man in solchen Krisenfällen vorzuge- von allen Versammelten aufgenommen. Sie fand auch hen hat. großen Anklang in der deutschen Öffentlichkeit. Man Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18983

Oskar Lafontaine (A) sieht: Die damalige Überzeugung und Auffassung war Nun stellt sich die Frage, wie man die geistig-morali- (C) tatsächlich, dass die internationalen Finanzmärkte alles sche Umorientierung der Gesellschaft – das ist immer richtig regeln, dass sie die richtigen Findungsprozesse in ein ganz schwieriger Prozess – überhaupt in Gang setzen Gang setzen werden, während die Politik nichts anderes kann. Niemand wird darauf eine Antwort geben können, zu tun hat, als diesen Findungsprozessen Rechnung zu die weiter trägt als von hier bis zur nächsten Festveran- tragen und ihnen zu folgen. staltung. Aber im Grunde genommen muss man zuerst die Frage aufwerfen: Ist beispielsweise die Forderung Wer ein Zeugnis von einem relativ kritischen Politiker nach Transparenz geeignet, den Prozessen zu begegnen? von der linken Seite haben will, dem möchte ich Joschka Ich sage: Transparenz hat nur dann einen Sinn, wenn aus Fischer zitieren, der in den damaligen Auseinanderset- ihr irgendwelche Konsequenzen abgeleitet werden. zungen gesagt hat: Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ihr Politik gegen die internationalen Finanzmärkte machen (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert könnt! – Wenn Sie nur diese zwei Aussagen als Beispiel Winkelmeier [fraktionslos]) nehmen, dann stellen Sie fest, in welchem Ausmaß man Wenn man feststellt, dass alles ganz schlimm sei, sich damals geirrt hat und wie sehr die Fehlorientierung dann mag Transparenz herrschen. Aber dann macht der Politik durch die internationalen Finanzmärkte er- Transparenz keinen Sinn. Man muss auch nicht die groß- zwungen wurde. Für uns war dies ein Prozess, den ich artigen Finanzinnovationen verstehen, um zu erkennen, wie folgt beschreiben möchte: Das war eine Verabschie- was eigentlich los war. dung von der Demokratie und vom Sozialstaat. Die Folgen tragen wir alle heute. Ganz zum Schluss haben Sie leise etwas zu den Ren- diteerwartungen gesagt. Aber wir alle wussten seit vie- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert len Jahren das, was fast täglich auf den Wirtschaftsseiten Winkelmeier [fraktionslos]) der Zeitungen stand: Wir, der Betrieb oder die Bank, Wenn ich von der Verabschiedung von der Demokra- wollen eine Kapitalrendite von 25 Prozent. – Sie haben tie durch die internationalen Finanzmärkte spreche, dann das jetzt als schizophren bezeichnet. Herr Bundesfinanz- will ich auf die Definition der Demokratie zurückkom- minister, Sie hätten früher sagen müssen: Das ist ver- men, die entscheidend ist, um das beurteilen zu können. rückt. Demokratie ist nicht nur ein formaler Prozess. Viele (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert glauben, es sei Demokratie, wenn man regelmäßig zur Winkelmeier [fraktionslos]) Wahlurne gehen könne. Ich wiederhole, dass die klassi- sche Definition der Demokratie von den Ergebnissen her Das einfache Beherrschen der Prozentrechnung hätte kam. Wir bezeichnen eine gesellschaftliche Ordnung zu der Überlegung führen können, dass dann, wenn der (B) dann als demokratisch, wenn die Entscheidungen so ge- ganze Kuchen nur um 2 bis 3 Prozent größer wird, nicht (D) troffen werden, dass die Interessen der Mehrheit bei den manche Kuchenstücke um 25 Prozent größer werden Entscheidungen berücksichtigt werden. Genau dies ist können. – nicht eingetreten, sondern das glatte Gegenteil. Deshalb ist die Demokratie nachweislich verabschiedet worden. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Dies ist das, was ich als geistig-moralische Dimension Winkelmeier [fraktionslos]) bezeichne und was hier eben sichtbar geworden ist. Dass Das glatte Gegenteil besteht in dem, was Sie, Herr man eine Elite hatte, die völlig durchdrehte, kann man Bundesfinanzminister, offensichtlich nicht zur Kenntnis sich an folgendem Beispiel klarmachen: Stellen Sie sich nehmen wollen, nämlich dass die Reallöhne, die Renten vor, ein älterer Mann oder eine ältere Frau wäre zu einer und die sozialen Leistungen – das ist ein einmaliger Vor- Bank oder Sparkasse gegangen, hätte gesagt, er bzw. sie gang – trotz einer wachsenden Wirtschaft und der Pro- habe 2 000, 3 000 Euro gespart und wolle jetzt 25 Pro- zesse, die ich hier nur kurz ansprechen kann, fallen. Ge- zent Zinsen. Die Bankangestellten hätten einen Knopf nau das ist eingetreten. Inhaltlich wird die große gedrückt und irgendeinen hilfreichen Geist aus dem Mehrheit der Menschen nicht mehr an der wachsenden Hause gebeten, diesem Mann bzw. dieser Frau zu helfen, Wirtschaft beteiligt. Wir haben aufgrund des Regimes weil er bzw. sie geistig verwirrt sei und nach Hause oder der internationalen Finanzmärkte keine soziale Markt- in ein Altersheim gebracht werden müsse. Wenn aber wirtschaft mehr. Herr Ackermann oder sonst jemand so etwas sagt, dann wird Beifall gespendet. Dies ist Ausdruck der morali- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert schen Verwerfung unserer Gesellschaft. Winkelmeier [fraktionslos] – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Dummes Zeug!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) – Jemand hat gerade „dummes Zeug“ dazwischengeru- fen. Am Schluss seiner Ausführungen hat der Bundes- Diese Verwerfung ist aber nicht nur festzustellen, son- finanzminister genau das, was ich beschrieben habe, dern sie hatte auch erhebliche Implikationen für die ge- gesagt. Das sei seine Vorstellung von sozialer Markt- sellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren. Die wirtschaft. Wenn das aber seine Vorstellung von sozialer gesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren habe Marktwirtschaft ist, dann müsste er zumindest zur ich doch beschrieben. Was bedeutete denn die Aussage Kenntnis nehmen, dass es ihm bisher nicht gelungen ist, „Sie sind alle der Kontrolle der internationalen Finanz- diese zu realisieren. märkte unterworfen, und wir haben keine Möglichkeit, 18984 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Oskar Lafontaine (A) irgendetwas dagegen zu tun“? Es wurde doch auch hier (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (C) in diesem Parlament immer wieder gesagt: Wer nicht so Winkelmeier [fraktionslos]) oder so handelt, den bestrafen die Märkte. – Man müsste einmal googlen, um herauszufinden, wie viele von Ihnen Genau diese fehlerhafte Philosophie ist die Ursache für oder wie viele frühere Kolleginnen und Kollegen immer diese schlimme Fehlentwicklung. wieder gesagt haben: Wer nicht Sozialabbau betreibt, (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wie war es in der den bestrafen die internationalen Finanzmärkte. – Das DDR? Nichts gelernt!) war die ständige Rede in vielen Parlamenten, auch im Deutschen Bundestag. Das Hauptproblem ist aufgrund des Imperativs der in- ternationalen Finanzmärkte die Privatisierung der So- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert zialversicherungssysteme. Ich wiederhole hier: Privare Winkelmeier [fraktionslos]) heißt berauben. Die Privatisierung der Sozialversiche- rungssysteme hat dazu geführt, dass die Arbeitnehmerin- Deshalb gibt es nicht nur Folgen für die Sicherheit nen und Arbeitnehmer und die Rentnerinnen und Rent- der Einlagen der Bankkundinnen und Bankkunden – ich ner erhebliche Verluste in Kauf nehmen müssen. Wie will gar nicht von der Immobilienentwicklung sprechen, man auf so etwas stolz sein kann, entzieht sich unserer übrigens auch der hier in Berlin –, von denen hier ge- Kenntnis. sprochen wird; vielmehr sind die Hauptbetroffenen die Bürgerinnen und Bürger, die Arbeitnehmerinnen und Ar- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert beitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner und die Emp- Winkelmeier [fraktionslos] – Klaus-Peter fänger sozialer Leistungen, die aufgrund dieser Unter- Flosbach [CDU/CSU]: Reden Sie mal von den werfung unter die internationalen Finanzmärkte mit positiven Dingen! – fallenden Löhnen, fallenden Renten und sinkenden so- [SPD]: Wer will die privatisieren?) zialen Leistungen bezahlen müssen. Das ist der gesell- schaftliche Zusammenhang. In dem gleichen Zuge hat man dann die Sicherheit, nach der jetzt wieder gerufen wird, nämlich die staatlich ga- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert rantierte Rente immer mehr in Misskredit gebracht und Winkelmeier [fraktionslos]) erzählt: Nur dann, liebe Rentnerinnen und Rentner, wenn ihr den internationalen Finanzmärkten vertraut und Dass Sie, Herr Bundesfinanzminister, immer noch wenn ihr euch privat versichert, werdet ihr die Kapital- keine Lehren daraus gezogen haben, haben Sie in Ihrer renditen haben, mit denen ihr euren Lebensabend gestal- Haushaltsrede zu Protokoll gegeben. Dort reden Sie in ten könnt. – Das war doch die Philosophie, nach der hier einer Situation – man fasst es nicht –, in der der amerika- die Rentengesetzgebung erfolgt ist. Sie wollen alles das (D) (B) nische Finanzminister – Sie haben das richtig dargestellt – heute nicht mehr wahrhaben, aber es ist eine Tatsache. 5 Prozent des Sozialproduktes einsetzen muss, um die Märkte zu stabilisieren, von einer weiter sinkenden (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Staatsquote. Man fasst es manchmal nicht! Winkelmeier [fraktionslos] – Thomas Oppermann [SPD]: Das haben wir gar nicht (Lachen des Bundesministers Peer Steinbrück – gemacht! Wovon reden Sie eigentlich?) Peer Steinbrück, Bundesminister: Doch! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie nicht!) Wenn Sie das nicht wahrhaben wollen, dann schauen Sie sich die Ergebnisse Ihrer Rentenformel an. Die Ergeb- – Das Lachen wird Ihnen noch vergehen, Herr Bundes- nisse Ihrer Rentenformel werden wir hier immer wieder finanzminister. Sie werden sich mit dieser Prognose lä- vortragen, bis Sie irgendwann einmal akzeptieren, dass cherlich machen. Das bitte ich zu Protokoll zu nehmen die Ergebnisse zum Handeln zwingen. Die Ergebnisse und dick zu unterstreichen. der Rentenformel sind, dass jemand, der 1 000 Euro im (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Monat verdient, also im Niedriglohnsektor beschäftigt Winkelmeier [fraktionslos]) ist – dieser wird aufgrund der Unterwerfung unter die in- ternationalen Finanzmärkte in Deutschland immer grö- Eine weiter sinkende Staatsquote – das ist die Sprache ßer; er ist mittlerweile der größte aller Industriestaaten –, der internationalen Finanzmärkte, die Sie in Ihrer Haus- eine Rentenerwartung von 400 Euro hat. Das ist eine haltsrede gebrauchten; denn deren Credo ist: Je weiter Schande. Diese Rentenformel darf nicht bestehen blei- die Staatsquote sinkt, umso besser geht es den internatio- ben, auch wegen der internationalen Finanzmärkte nicht. nalen Finanzmärkten. – (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Widerspruch bei der CDU/CSU) Winkelmeier [fraktionslos]) Das haben Sie jetzt selbst zu Protokoll gegeben. Sie ha- Der OECD-Durchschnitt ist nicht 400 Euro, sondern ben zu Protokoll gegeben, dass dann, wenn wir eine 730 Euro. In unserem Nachbarstaat Dänemark, der auch Staatsquote wie vor einigen Jahren hätten, die jährlichen auf diesem Globus liegt, also ebenfalls den Zwängen der Ausgaben 114 Milliarden Euro höher wären. Wissen Sie Globalisierung unterworfen ist, sind es 1 200 Euro. Man jetzt, warum wir andere Leistungen für Sozialhilfeemp- muss das dreimal lesen. Man glaubt es ja gar nicht. fänger haben, warum die Renten nicht steigen und wa- (Zuruf von der SPD) rum wir keine Investitionen in die öffentliche Infrastruk- tur tätigen? – Der Zwischenruf war richtig. Lest es nach! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18985

Oskar Lafontaine (A) Die Frage ist, warum wir in Deutschland eine solche Das Zweite ist die Regulierung des internationalen (C) Sonderentwicklung haben. Immer mehr Menschen mer- Kapitalverkehrs. Das hatte der Herr Schmidt gemeint, ken, dass das Unterwerfen unter die internationalen Herr Bundesfinanzminister. Er hat schon vor 20 Jahren Finanzmärkte ein Fehler war. Sie, meine sehr geehrten gesagt, dass man wie im Autoverkehr, wie im Schiffs- Damen und Herren, werden dafür bei den nächsten Wah- verkehr und wie im internationalen Flugverkehr Regeln len die Quittung bekommen. Warten Sie nur ab! braucht. Oder nehmen Sie einen Spekulanten wie Soros, der gesagt hat: Wenn schon das Kapital in wenigen Mo- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert naten in eine kleine Volkswirtschaft hineinfließen kann Winkelmeier [fraktionslos]) – das war damals die Krise in Thailand –, dann muss Dasselbe gilt natürlich auch für die Lohnentwick- man zumindest Ventile haben, damit das flüchtige Kapi- lung. Sinkende Löhne bei steigendem Sozialprodukt, tal nicht von einem Tag auf den anderen wieder abfließt das gab es noch nie. Die Unterwerfung unter die interna- und so die ganze Volkswirtschaft ruiniert. – Also, die tionalen Finanzmärkte mit dem Imperativ „Deregulie- Kontrolle des internationalen Kapitals ist die zweite For- rung, Flexibilisierung und Privatisierung“ führte dazu, derung, die ich hier vortragen möchte. dass die Löhne immer weiter ins Rutschen kamen. Wir (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert haben jetzt Leiharbeit: Deregulierung. Wir haben jetzt Winkelmeier [fraktionslos]) befristete Arbeitsverträge: Deregulierung. Wir haben jetzt Minijobs und Midijobs: Deregulierung. Wir fum- Die dritte Forderung ist das Austrocknen der Steuer- meln am Kündigungsschutz herum: Deregulierung. Wir oasen. Sie glauben doch nicht, dass Sie die Dinge in den fummeln an den Tarifverträgen herum: Deregulierung. Griff bekommen, dass Sie Ordnung in die internationa- Wir haben auch die Finanzmärkte dereguliert. Die Parole len Finanzmärkte bekommen, wenn sich viele Industrie- der Zeit ist nicht mehr Deregulierung – der Irrglaube des staaten augenzwinkernd weiter Steueroasen halten, in Neoliberalismus –, sondern ein Staat, der reguliert, im denen Geld gewaschen wird und sich nicht versteuertes Interesse der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger. Geld immer mehr anhäuft. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Kommunismus!) Winkelmeier [fraktionslos]) – Ach Gott, wie erbärmlich! Ich muss das wiederholen. Zu begrüßen ist, dass jetzt endlich erkannt ist: Man Hier schreit ein Kollege, Herr Hinsken, glaube ich, da- muss die Ratingagenturen zumindest kontrollieren. Wir zwischen, das sei Kommunismus. Gerade hat der sagen: Die Ratingagenturen gehören in gesellschaftliche Finanzminister doch gesagt, man müsse regulieren. Ja Verantwortung. So wie es nicht sinnvoll wäre, die Zulas- (B) sitzt denn ein Kommunist auf der Regierungsbank? sung von Medikamenten der Pharmaindustrie zu über- (D) (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie lassen, so wenig ist es sinnvoll, die Zulassung von des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Finanzprodukten der Finanzindustrie zu überlassen. Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Die ganze Welt (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert erkennt jetzt, dass Regulierung auf den internationalen Winkelmeier [fraktionslos]) Finanzmärkten notwendig ist, und Sie diffamieren oder diskreditieren die Forderung nach Regulierung als Kom- Das ist eine unmögliche Vorgehensweise. Es ist anerken- munismus. Man fasst es wirklich nicht mehr. nenswert, dass man das jetzt wenigstens erkannt hat. Zu der Frage, was zu tun ist, möchte ich jetzt einige Natürlich brauchen wir internationale Regeln der Punkte ansprechen. Bankenaufsicht. Die sind schon seit Jahrzehnten in Ar- beit. Es sind einige Verbesserungen erreicht worden. Erstens zu einem Punkt, von dem Sie, Herr Bundes- Aber sie haben offensichtlich nicht ausgereicht; sonst finanzminister, nicht gesprochen haben. Wir sind der hätten wir die Fehlentwicklungen jetzt nicht. Solche Re- Überzeugung – das möchte ich hier für meine Fraktion geln haben nur dann Sinn, wenn sich alle daran halten; noch einmal erklären –, dass das Wechselkursregime davon – das muss ich fairerweise sagen – war schon die heute völlig falsch ist, da es zu Spekulation verleitet, und Rede. dass daher ein seit 20 Jahren auf dem Tisch liegender Vorschlag aufgegriffen werden muss, nämlich die Stabi- Kommen wir zu der eigenen Verantwortung. Es ist lisierung der Wechselkurse der Leitwährungen, wozu immer wunderbar, dass man auf die internationale mittlerweile auch die chinesische Währung gehört. Es Finanzregulierung zeigt und die eigene Verantwortung geht um Zielzonen, die international bereits seit vielen nicht gelten lassen will. Da kann ich den Redner der Jahren gefordert werden. Der Nobelpreisträger Robert FDP unterstützen. Sie hätten einmal über Ihre eigene Mundell hat sie kürzlich in einem Interview der Frank- Verantwortung sprechen müssen. Ich möchte anführen, furter Allgemeinen Zeitung wieder gefordert. Solange dass im Koalitionsvertrag genau das gefordert worden Sie dazu nichts sagen, so lange werden Sie den ersten ist, was Sie hier kritisieren. Ich lese Ihnen einmal vor, Einbruch nach dem Zusammenbruch des Bretton- was im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SDP unter Woods-System nicht in Angriff nehmen. dem Stichwort Finanzmarktpolitik steht: (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Produktinnovationen und neue Vertriebswege müs- Winkelmeier [fraktionslos]) sen nachdrücklich unterstützt werden. 18986 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Oskar Lafontaine (A) Wenn man beim Geldhandel schon von Produktinnova- wir könnten nicht gegen die internationalen Finanz- (C) tionen spricht, dann ist höchste Vorsicht geboten. märkte regieren, umgedreht werden muss: Wir müssen gegen die internationalen Finanzmärkte regieren, um Dazu wollen wir die Rahmenbedingungen für neue endlich wieder Ordnung in das System zu bringen. Anlagenklassen in Deutschland schaffen. Hierzu gehören … der Ausbau des Verbriefungsmarktes … (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Lachen bei der LINKEN) Im Grunde genommen geht es bei dieser Fragestellung Das ist genau der Schrott, der bei der IKB gehandelt zunächst natürlich um die Stabilisierung der internatio- wurde, wo auch noch ein Staatssekretär dabei saß. Sie nalen Finanzmärkte. In Bezug darauf ist eine Reihe von haben es doch ermöglicht, dass dieser Schrott gehandelt Entscheidungen der letzten Zeit richtig gewesen; nicht wurde. alle, aus Zeitgründen kann ich darauf nicht weiter einge- hen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Das Thema, um das es hier geht, fasse ich in einem Satz zusammen: Es geht hier um die Wiederherstellung Das steht hier im Koalitionsvertrag. Wieso sagen Sie der Demokratie und des Sozialstaats. dazu nichts? Sie stehen hier völlig mit in der Verantwor- tung. (Anhaltender Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Dasselbe gilt natürlich für die Hedgefonds, die aller- dings unter der Vorgängerregierung zugelassen worden sind. Nachdem Sie die Folgen von Hebelwirkungen er- Präsident Dr. Norbert Lammert: kannt haben, hätten Sie längst etwas unternehmen müs- Der nächste Redner ist Ludwig Stiegler für die SPD- Fraktion. sen, um dieses Treiben zu beenden, dass man sich zu 1 Euro 40 Euro hinzu leiht und damit Finanzmärkte oder ganze Unternehmen in Unordnung bringt. Ludwig Stiegler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert jetzt diese Zelebration von Selbstgerechtigkeit erlebt ha- Winkelmeier [fraktionslos]) ben, Warum haben Sie nichts unternommen? Es ist ja jetzt so (Zurufe von der Linken: Oh!) passend, auf die USA zu zeigen und zu sagen, dort sei alles ganz schlimm gewesen. Nein, packen Sie sich an habe ich mir im Stillen gedacht: Oh, Oskar! (B) die eigene Nase; dann haben Sie genug in der Hand, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Oh, Ludwig!) (D) Herr Bundesfinanzminister! Stellen Sie sich einmal Ihrer eigenen Verantwortung! Denn der Herr war einmal ein mächtiger Mann in dieser Republik: Bundesfinanzminister und Parteivorsitzender (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert der SPD. Er hat damals schon Ansätze gehabt, sich um Winkelmeier [fraktionslos] – Zuruf von der die internationalen Märkte zu kümmern, und auch erste CDU/CSU: Das gilt auch für Sie, Herr Kol- robuste Gespräche geführt. Nachdem er nicht über Nacht lege!) zum Erfolg kam, ist er abgehauen. Was die Zweckgesellschaften angeht, ist es ja gut, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP dass über Basel irgendetwas gekommen ist. Sie saßen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu- die ganze Zeit über dabei, vertreten durch Ihren Staats- rufe von der Linken) sekretär, als die Risiken in den Zweckgesellschaften ver- Peer Steinbrück hat an Max Weber erinnert. Max steckt worden sind. Machen Sie deswegen hier nicht den Weber hat einmal gesagt, Politik ist das Bohren harter Clown, Herr Bundesfinanzminister. Sie tragen die Ver- Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. Oskar antwortung für diese Fehlentwicklung und können nicht Lafontaine hat damals geglaubt, es sei ein Soufflé. Als er immer so tun, als säßen Sie zwar dabei, hätten aber keine dann auf Granit oder auf hartes Holz gestoßen ist, ist er Verantwortung. Ihr Name ist doch nicht Hase; so viel ich geflüchtet. Der alte Cicero hätte gesagt: effugit, evasit, weiß, ist er immer noch Steinbrück. wie der alte Catilina, abgehauen. Aber hier jetzt selbst- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert gerechte Reden halten! Er hätte der Sankt Michael eines Winkelmeier [fraktionslos]) guten Finanzsystems werden können. Stattdessen ist er der Luzifer der PDS geworden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stellen (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/ jetzt fest, dass die Formel von der Überlegenheit freier CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE Märkte an die Wand gefahren wurde und dass wir jetzt GRÜNEN) nicht mehr der Kontrolle der internationalen Finanz- märkte unterworfen sind, sondern dass die internationalen Das ist wirklich schade; denn nur wenige hier in diesem Finanzmärkte uns zwingen, aufgrund der Fehlentwicklun- Hause hatten jemals eine solche Chance wie er, in Regie- gen Entscheidungen zu treffen, die kontraproduktiv sind rungsverantwortung die Welt so zu korrigieren, wie es und die wir gar nicht treffen wollten, weil sie mit großen dem eigenen Weltbild entspricht. Dazu gehören aber Verlusten verbunden sind, deren Ausmaß noch niemand Marathonqualitäten: Ausdauer, Geduld und die Fähig- absehen kann. Wir haben jetzt gelernt, dass die Aussage, keit, wieder aufzustehen, nachdem man, wie jetzt die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18987

Ludwig Stiegler (A) Amerikaner, ganz gewaltig auf die Nase gefallen ist. Wer Meine Damen und Herren, diese Eingeständnisse sind (C) aus der Verantwortung, die er übernommen hat, flüchtet hilfreich, wenn wir mit den Amerikanern darüber reden, – Gysi ist übrigens vom selben Typ –, sollte anderen in welcher Form die europäischen Banken, die in Ame- keine Predigten halten, meine Damen und Herren. rika aktiv waren, an der Rettungsaktion, die da jetzt ab- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP läuft, beteiligt werden. Ich denke, eine Regierung, unter und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) deren Augen sich die Subprime-Krise bis 2007 entwi- ckeln konnte und die zugeschaut hat, wie Betrüger Kre- Natürlich stimmt es auch mich heiter, wenn ich sehe, dite ausgegeben und dann gebündelt weiterverkauft wie hier in Deutschland manche Liberale in und außer- haben, sollte darüber nachdenken, wie alle Marktteilneh- halb der FDP mer in der Welt, die man so hinters Licht geführt hat, (Joachim Poß [SPD]: Auch der Union! – Dr. Karl entschädigt werden können. Das wäre die richtige Ant- Addicks [FDP]: Mancher Huber!) wort und nicht die Behauptung, es sei eine Gnade, dass die europäischen Banken mit Niederlassungen in Ame- vom Deregulierer zum Regulierer werden, wie plötzlich rika an der Bewältigung der Krise teilhaben könnten. die Bremser der Regulierung, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, vom Bremserhäuschen auf den Stichwort Ratingagenturen: Ich kann mich erinnern, Führerstand der Lokomotive drängen. Das erinnert mich welche Aufregung von gewisser Seite kam, als Joachim direkt an Bond-Filme; das ist Bond-like. Es passt auch Poß und Jörg-Otto Spiller dieses Thema hier im Parla- zu den Geschehnissen auf den Finanzmärkten, auf welch ment zur Sprache gebracht haben, und wie viele sich als abenteuerliche Weise hier versucht wird, sich an die Schirmherren für die Ratingagenturen aufspielten. Jetzt Spitze zu setzen. ist endlich klar, dass diese Position unhaltbar ist. Es waren Gerhard Schröder, Hans Eichel, Peer Oskar Lafontaine hat die Verbriefung angegriffen. Steinbrück, die letzte und die derzeitige Bundesregierung, Ich möchte ausdrücklich sagen, dass dies wieder so ein die im internationalen Gespräch mit den Engländern und Irrtum ist. Eine anständige Verbriefung wie zum Beispiel den Amerikanern auf die Probleme hingewiesen haben. der deutsche Pfandbrief oder die Standardisierung durch Nachdem Peer Steinbrück in der Haushaltsdebatte noch die TSI in , die es auf dem deutschen Banken- gemeint hat, ich hätte die Engländer vielleicht zu hart platz gibt, ist ein Segen für die Finanzindustrie, weil die angegangen, habe ich mich gefreut, dass er mir heute ein Menschen wissen, was sie einzahlen und zurückbekom- Vorbild gegeben hat, wie heftig man auftreten und zu- men. Es geht also nicht um die Verbriefung als solche, gleich auf dem internationalen Parkett verkehren kann. sondern um betrügerische Aktivitäten im Umfeld der Das hielt ich schon für eine tolle Sache. Verbriefung. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns Ge- (B) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der danken über ein deutsches Verbriefungsgesetz und eine (D) SPD) DIN-Norm über die Verbriefung machen, damit wieder Vertrauen in die Märkte zurückkehrt. Meine Damen und Herren, die Marktteilnehmer ha- ben versagt. Die Marktdisziplin war verschwunden. (Beifall bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele Oskar Lafontaine hat wiederum nicht recht, wenn er [FDP]: Das Gesetz gibt es schon!) sagt, Transparenz alleine würde nicht helfen. Vielmehr ist es so: Die Marktdisziplin hängt von der Transparenz Dieses Originate to distribute Model ist in der jetzi- ab. Wenn die Leute wissen, welche faulen Eier jemand gen Phase gescheitert. Es ist übrigens bereits 2007 ge- im Nest hat, dann werden sie zögern, ihm noch Geld für scheitert. Denn wer die Indizes betrachtet, stellt fest, den Kauf zusätzlicher fauler Eier zu geben. Deshalb ist dass erst die Vintage 2007 zu diesen Problemen geführt Transparenz das Erste und das Notwendigste. hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine Damen und Herren, der Finanzminister hat die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bilanzierungsregeln nicht angesprochen. Ich denke, Nun zur Regulierung: Ich war mit dem Kollegen Poß auch um die Bilanzierungsregeln werden wir uns zu seit etwa zehn Jahren jährlich bei der amerikanischen kümmern haben. Wenn die jetzige Situation unter dem Community. Wenn ich mir überlege, was die uns erzählt Bilanzregime des soliden HGB erfolgt wäre, dann hätte haben! Wenn wir schüchtern und diplomatisch zurück- die Beute in der Spitze nicht so groß und dann hätten die haltend Regulierungsprobleme angesprochen haben, Abschreibungen in der Flaute nicht so groß sein können. dann wurde uns entgegnet: Alles sei bestens. Ich habe mir nun gestern Nacht die Anhörung von Paulson und Das jetzige sogenannte Fair Value Accounting ist we- Bernanke vor dem Senat angetan. Da sagte der Paulson der fair noch beschreibt es einen Value. Es ist vielmehr plötzlich: Wir haben ein völlig überaltertes, kaputtes, mit das Ergebnis derer, die in Quartalen denken und schnelle vielen Löchern versehenes Regulierungssystem, das sei- Beute wegschaffen wollen. Darüber hinaus müssen wir ner Aufgabe nicht mehr gerecht geworden ist. Sie hatten uns darum kümmern, dass nicht private Standardsetzer aber damals die Macht, all dies zu vertuschen. Jetzt, die Buchführungsregeln bestimmen, sondern dass die nachdem sie auf die Nase gefallen sind, lassen sie end- Staaten da wieder ein maßgebliches Wort mitreden. lich die Hosen herunter. Was man da sieht, ist nicht sehr Auch die Europäische Union darf sich ihre Bilanzregeln schön. nicht von der Wall Street diktieren lassen, sondern muss eigene Bilanzregeln aufstellen. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) 18988 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Ludwig Stiegler (A) Meine Damen und Herren, zum Stichwort Markt und den US-Dollar, die jetzt zum Management der Finanz- (C) Staat. Hier haben wir eben gelernt, dass all die Heldin- marktkrise in den Vereinigten Staaten notwendig sind. nen und Helden, die in guten Zeiten keinen Staat sehen Ich glaube, dieses Verhältnis sagt alles: Wir bringen die wollen, in schlechten Zeiten in die sicheren Häfen flüch- 70 Milliarden US-Dollar für Afrika anscheinend nicht ten. Wenn bei ihnen die Angst die Gier verdrängt, dann auf – jedenfalls ist man nicht gewillt –, aber die 700 Mil- kaufen sie Dollaranleihen, selbst wenn diese nur Promil- liarden US-Dollar bringt man auf; man muss sie aufbrin- lesätze an Rendite abwerfen. Deshalb haben wir auf- gen, weil sonst alles zusammenbricht. Über dieses mora- grund dieser Krise das moralische Recht, dass wir eine lische Missverhältnis müssen wir in der Tat reden. klare Neuordnung auf den Märkten vornehmen. Schließ- lich hat bereits Kant gesagt, dass die Freiheit durch die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Grenze definiert wird. Diesen Auftrag lassen wir uns Gescheitert ist eine neoliberale Konzeption einer nicht mehr nehmen. Uns steht in Amerika, in England Marktwirtschaft, die staatliche Regeln als Wachstums- und überall da, wo die Deregulierer gesiegt haben, nun bremsen versteht. Ich finde es übrigens interessant, dass ein Fenster der Gelegenheit offen; selbst unsere Libera- sich zwei Parteien in Deutschland, nämlich die CDU und len und die Liberalen außerhalb der FDP sind regulie- die FDP, anschicken, die nächste Regierung zu bilden, rungsfromm geworden. Lasst uns dieses Fenster nutzen, die sich genau dieser Ideologie immer verschrieben ha- damit wir zu Finanzmärkten kommen, die der Realwirt- ben. Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt wer- schaft und nicht der Spekulation dienen! den. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU) sowie bei Abgeordneten der SPD) Früher war es, wenn es um Regeln oder gar Regulie- Präsident Dr. Norbert Lammert: rungen für die Märkte ging, bei der CDU üblich, zu sa- Das Wort erhält nun Fritz Kuhn für die Fraktion von gen, dies seien Fesseln für die Wirtschaft. Ich erinnere Bündnis 90/Die Grünen. an eine Situation im Jahr 2001, als die Riester-Rente eingeführt wurde, und zwar mit strengen Kriterien – wir Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): haben damals darüber gestritten – in Bezug auf Riester- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fähige Produkte, weil wir verhindern wollten – das hat Vorstellung, dass man ungezügelt Risiken eingehen Lafontaine gerade vor lauter Aufregung übersehen –, kann, um persönliche Gewinne zu erzielen und volks- dass das Geld der Leute, die für das Alter ansparen, in wirtschaftliches Wachstum zu erzeugen, also dieses ver- unregulierte, hochriskante Finanzanlagen gesteckt wird. (B) meintliche Perpetuum mobile einer finanzmarktgetriebe- Walter Riester hat damals Regeln und die entsprechende (D) nen Ökonomie unendlicher Renditen, ist gescheitert. Ich Zertifizierung gefordert, und wir haben das unterstützt. glaube, dass man das so nüchtern und klar sagen muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es ist natürlich nicht nur – das ist mir wichtig – ein tech- sowie bei Abgeordneten der SPD) nisches Problem von Regeln, sondern es ist auch ein mo- ralisches und grundlegendes Problem von Gesellschaf- Damals hat Frau Merkel, die jetzige Bundeskanzlerin, ten, die sich dieser Vorstellung und Ideologie die sich heute für Regulierungen einsetzt, im Bundestag verschrieben haben. gesagt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir werden durch Ihre Reform ein bürokratisches Monstrum erleben mit einem zusätzlichen Zertifi- Wenn Sie in der Realökonomie einer Industriegesell- zierungsgesetz, mit Kriterien, von denen noch nie- schaft zum Beispiel im Industriebereich im langjährigen mand weiß, wie sie erfüllt werden sollen, mit Schnitt Renditen zwischen 8 und 12 Prozent erreichen Fondsstrukturen, über die das „Wall Street Journal“ können, dann ist die Vorstellung, dass Sie auf den gestern nur einen einzigen Satz schreibt: „Die Aus- Finanzmärkten Renditen von 25 Prozent erreichen kön- gestaltung dieser Fonds geht in die total falsche nen, eine Illusion. Was geschehen wird, wenn man dies Richtung.“ Das ist die Bewertung der internationa- glaubt, ist, dass die Risiken zurückschlagen, und das ha- len Finanzwelt über das, was Sie hier vorgelegt ha- ben sie getan. Das eigentliche politische Problem besteht ben. allerdings darin, dass die Risiken nicht bei denen zu- rückschlagen, die sie eingegangen sind – jedenfalls nicht Das war Frau Merkel 2001: gegen den Versuch, privat in erster Linie –, sondern bei vielen Leuten, die mit den für das Alter angespartes Geld in Deutschland durch Risiken gar nichts zu tun hatten, zum Beispiel bei uns, klare Regulierung und Regeln zu schützen. Ich finde, den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen, die die Zeche Frau Merkel, da sollten Sie einmal einen Irrtum einge- zahlen müssen. stehen, denn da lagen Sie völlig falsch. Heute reden Sie von Regulierungen, wir haben sie schon damals notwen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) digerweise gefordert. Ich nenne einmal Zahlen, die die Dimension deutlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen: Gerade wird in den Vereinten Nationen darüber sowie bei Abgeordneten der SPD) diskutiert, dass zur Erreichung der Millennium Develop- ment Goals 70 Milliarden US-Dollar für ganz Afrika Ich finde aber, Herr Lafontaine, was Sie hier veran- notwendig wären, also 10 Prozent von den 700 Milliar- staltet haben, ist ein starkes Stück. Sie werfen alles in ei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18989

Fritz Kuhn (A) nen Topf. Das ist übrigens das Grundschema Ihrer politi- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) schen Rhetorik: Alles hängt mit allem zusammen, und Sie können sich wieder setzen; Ihre Frage ist schön, deswegen muss alles in einen Topf. aber sie hat mit meiner Rede und mit meiner Argumenta- tion nichts zu tun. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Lachen bei der LINKEN) Sie sagen, weil die Finanzmärkte – da sind wir nicht aus- Deswegen werde ich darauf nicht weiter eingehen. einander – jetzt versagt haben, sind auch alle anderen so- zialen Reformen einfach nicht richtig, und deswegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss man sie alle einkassieren. Was hat denn, bitte sowie bei Abgeordneten der SPD) schön, das Problem in unserem Rentensystem, das auch Man muss natürlich die Frage stellen – da höre ich ein Demografieproblem ist, da der Altersaufbau der Ge- von Herrn Steinbrück überhaupt nichts –, wer für die sellschaft die Rentensysteme in der Zukunft instabil Kosten, die im Zuge der Bewältigung der internationalen macht, mit der Finanzmarktkrise zu tun? Es hat gar Finanzmarktkrise auf uns zukommen, eigentlich auf- nichts damit zu tun! kommt. Die Antwort „Es kann nur der Steuerzahler (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Na, sein“ – der Steuerzahler ist nämlich Leidtragender der na, na!) Bankabschreibungen, weil dadurch die Steuereinnahmen des Staates zurückgehen – ist mir zu fatalistisch. Deswegen werden wir die private Säule der Alterssiche- rung in Deutschland nicht zurücknehmen, nur damit Sie Deshalb sagen wir Grünen: Jetzt ist die Stunde der Ihre billigen populistischen Reden halten können. Einführung einer Börsenumsatzsteuer oder Finanz- umsatzsteuer, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten SPD) (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Wir haben in Bezug auf den demografischen Wan- del – so der OECD-Bericht zur Rente, den Sie einmal weil wir die Finanzspekulationen damit begrenzen kön- zur Kenntnis nehmen müssten – in Deutschland viel er- nen und weil wir damit ein geeignetes Finanzinstrumen- reicht; aber was wir noch nicht erreicht haben, ist eine tarium für notwendige Maßnahmen haben. Prävention gegen aufwachsende Altersarmut. Da muss man tatsächlich etwas tun. Die richtige Antwort wäre ge- (Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE wesen, sich die Frage zu stellen, mit welcher weiteren LINKE]) Rentenreform wir es schaffen können, Renten über das – Herr Dehm, für Ihr Leiden gibt es in jeder Apotheke (B) Grundsicherungsniveau aufzuwerten; denn es kann in ein Zäpfchen mit Baldrian zur Beruhigung. Ich glaube, (D) der Tat nicht sein, dass jemand, der sein Leben lang voll die richtige Strategie für Sie wäre: Schicken Sie jeman- erwerbstätig war, nur das Grundsicherungsniveau der den hin, oder gehen Sie selbst! Rente erreicht. Es wird hier streitig darüber diskutiert, ob es Markt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) versagen oder Politikversagen ist. Ich finde diesen Streit, mit Verlaub gesagt, müßig. Marktversagen ist immer Präsident Dr. Norbert Lammert: auch eine Form von Politikversagen, Herr Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schui? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weil in einer funktionierenden Marktwirtschaft die Poli- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tik die Aufgabe hat, den Rahmen so zu setzen, dass die Ja. Finanzmärkte nicht so leicht versagen können, wie dies heute der Fall ist. Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Im Unterschied zu Herrn Lafontaine sagen wir: Da Herr Kollege Kuhn, ist Ihnen Folgendes bekannt: wir solide Finanzmärkte brauchen – ohne Finanzmärkte Wenn man 25 Prozent Rendite einfährt, dann steigt der sind keine Investitionen möglich; dieser Aspekt kam bei Gewinnanteil am Volkseinkommen. Wenn der Gewinn- Ihnen nicht vor und das scheint Ihnen schnurzpiepegal anteil am Volkseinkommen steigt, muss notwendiger- zu sein –, brauchen wir ein neues System klarer Regeln weise der Anteil sinken, der für soziale Zwecke ausgege- für diese Finanzmärkte, um ein Versagen, wie wir es ben wird, oder es müssen die Löhne sinken oder beides. jetzt erlebt haben, in der Zukunft ausschließen zu kön- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist so ein nen. Quatsch! So einen Quatsch haben noch nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einmal Sie gesagt, Herr Lafontaine!) Ich will es kurz machen. Dazu gehören eine effektive Infolgedessen muss man das eine mit dem anderen ver- Rahmenordnung für die Ratingagenturen, eine europäi- binden. sche Finanzkontrolle, die Unterlegung von Risiken bei (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) Verbriefungen mit ausreichendem Eigenkapital sowie die aufsichtsrechtlich und handelsrechtlich adäquate Er- Würden Sie mir da recht geben? fassung von Zweckgesellschaften, was heute noch nicht (Beifall bei der LINKEN) der Fall ist, und schließlich die Begrenzung der Anzahl 18990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Fritz Kuhn (A) der Aufsichtsratsmandate. Angesichts der Situation bei Die Landesbanken haben im Zusammenhang mit (C) der KfW und bei anderen haben wir schon den Eindruck, hoch spekulativen Finanzmarktprodukten ein viel zu dass zu einer Aufsichtsratkultur eine größere Qualifika- großes Rad gedreht. Ich finde, dass dies klar auf den tion, ein besserer Überblick und mehr Zeit für die Aus- Tisch muss, weil darin Risiken, übrigens auch für die übung des Mandates, als dies heute der Fall ist, gehören. Sparkassenwelt, die jetzt zu Recht so gelobt worden ist, verborgen sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein oder zwei Landesbanken sind nach unserer Über- Die Bundesregierung hat zwar wichtige Themen in- zeugung für die Bundesrepublik Deutschland ausrei- ternational auf die Tagesordnung gesetzt – Herr chend. Sie haben die Aufgabe, passgenaue Finanzpro- Steinbrück, das wollen wir nicht bestreiten –, aber mit dukte zu entwickeln, sodass die dezentrale Struktur der Blick auf KfW, IKB und die Landesbanken muss man Sparkassen ihnen im internationalen Finanzmarkt nicht sagen, dass sie auf nationaler Ebene die Finanzkontrolle zum Nachteil wird. Außerdem haben sie eine Zentral- nicht richtig koordiniert hat. Angesichts der Tatsache, institutsfunktion sowie eine Refinanzierungsfunktion, dass im Zusammenhang mit der IKB insgesamt und sie müssen gerade für den Mittelstand Währungs- 10,7 Milliarden Euro in den Sand gesetzt wurden, wer- risiken absichern können. Das entscheidende Problem, den Sie, Herr Finanzminister, verstehen, dass meine das wir haben, ist doch, dass mittelständische Unterneh- Fraktion genau untersuchen will, woran dies lag, wer da- men nicht ungeschützt in die Exporte und in die Globali- für die Verantwortung trägt und wie die Verantwortlich- sierung gehen können. keiten zwischen KfW, IKB, Wirtschaftsministerium, Finanzministerium, BaFin und Bundesbank hin- und Die sächsische Landesregierung, Herr Finanzminis- hergeschoben worden sind. Denn es ist kein normaler ter, hat sich bei der Aufklärung im Untersuchungsaus- Vorgang in einer Demokratie wie der unsrigen, dass ein- schuss und während der Krise bei der sächsischen fach 10,7 Milliarden Euro in den Sand gesetzt werden Landesbank darauf berufen, dass sie selbst nur die und dann nur gesagt wird, dass dies Gegenstand einer Rechtsaufsicht habe, aber die Fachaufsicht bei der BaFin Diskussion auf einem G-7-Treffen ist. und beim Bundesfinanzministerium liege. Diese Rechts- auffassung ist zwar umstritten, aber ich möchte schon (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Frage stellen: Warum hat eigentlich, als die BaFin in Herr Finanzminister, da der Leiter der Abteilung 7 Ih- der Kritik an der sächsischen Landesbank nicht weiter- res Hauses Mitglied im Verwaltungsrat der BaFin und im kam, niemand vom Bundesfinanzministerium eingegrif- Aufsichtsrat der IKB ist und er für die Rechtsaufsicht fen und klargemacht, dass das Gebaren der sächsischen über die BaFin, die Bundesbank und die KfW zuständig Landesbank nicht funktioniert? ist – er bereitet auch die Sitzungen des Verwaltungsrates (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) der KfW vor –, müssen wir uns fragen, ob da nicht eine sowie des Abg. Frank Schäffler [FDP]) systematische und organisierte Unverantwortlichkeit statt notwendiger Verantwortung vorliegt. Ich will damit sagen: Die Finanzmarktkontrolle in Deutschland ist insgesamt ein Problem, und deswegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwarten wir als produktives Ergebnis eines Untersu- sowie bei Abgeordneten der FDP) chungsausschusses auch, dass danach ein klares Obwohl die IKB ihre außerbilanzlichen Aktivitäten entsteht, wie die Instrumente zu schärfen sind und eine im Geschäftsbericht dargelegt hat, haben weder BaFin kluge Aufteilung der Finanzaufsicht in Deutschland noch Bundesbank noch BMF das davon ausgehende stattfindet, die wir bislang nicht haben. Risikopotenzial adäquat eingeschätzt. Ich stelle die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frage, ob sich diese Bundesregierung unter Ihrer Verant- wortung und auch unter der von Herrn Glos, der sich bei Damit komme ich zum Schluss, liebe Kolleginnen diesen Fragen immer verdrückt, der Verantwortung beim und Kollegen. Es ist ein schwieriges Thema, es ist ein Beteiligungscontrolling überhaupt bewusst war. Diese wichtiges Thema. Man darf durch die internationale Dis- Frage werden und müssen wir stellen. Wir hoffen darauf, kussion nicht von den Hausaufgaben ablenken, die man dass die FDP sich besinnt und einem Untersuchungsaus- in Deutschland machen muss. Deswegen werden wir das schuss zustimmt. Ganze untersuchen. Ich hoffe, die FDP kann sich noch dazu durchringen. Den Entwurf des Rechnungshofsbe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) richts werden Sie inzwischen gelesen haben. Auch die- Ich will zum Abschluss noch etwas zu der Rolle der ser macht deutlich, dass es ein Finanzaufsichtsproblem Landesbanken sagen. Es ist völlig klar, dass wir nach in Deutschland gab. der bayerischen Landtagswahl erneute Diskussionsrun- Deswegen sollte jetzt jeder an seiner Stelle die Haus- den und wahrscheinlich auch die entsprechenden Fi- aufgaben machen, und dann wird es in der Zukunft mit nanzprobleme bei einigen Landesbanken, vor allem bei mehr Regeln eine Erneuerung der sozialen Marktwirt- der bayerischen und bei der WestLB, erfahren werden. schaft geben können, aber nicht – das sage ich Ihnen vo- Ich finde, dass es notwendig ist, dass in diesen beiden raus –, wenn wir jetzt zwei Monate diskutieren. Dann in- Bundesländern dann die Verantwortung, zum Beispiel teressiert dieses Thema niemanden mehr. Es ist ein auch für unterlassene Reformen bei den Landesbanken, Problem, das wir oft in Deutschland haben, dass die The- offen auf den Tisch gelegt wird. men hochgehypt werden, und wenn es um neue Regeln (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geht, dann schwindet das Interesse. Arbeiten Sie deswe- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18991

Fritz Kuhn (A) gen alle daran mit, dass wir bessere Regeln bekommen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C) als wir sie in der Vergangenheit hatten. bei der CDU/CSU und der SPD – Widerspruch bei der LINKEN) Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. : Das Wort hat nun Kollege Hans-Peter Friedrich, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: CDU/CSU-Fraktion. Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen Diether Dehm von der Fraktion Die Linke. Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herr Kuhn, Sie haben eben gesagt, es sei jetzt an der Herren! Was Sie, Herr Lafontaine, hier abgeliefert ha- Zeit, zur Devisenumsatzsteuer zu kommen. Das ist si- ben, war ein Beweis für Ihre große rhetorische Fähigkeit, cher richtig, aber Sie hatten diese Devisenumsatzsteuer mit der Sie die Wahrheit konsequent verbiegen. – genannt Tobin-Tax, nach dem Nobelpreisträger James Tobin – vor Ihrer rot-grünen Koalition bereits gefordert, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Weil und Sie haben, als Sie in der Koalition waren, nicht das sie Ihnen nicht passt!) Mindeste dafür getan, dass eine solche Tobin-Tax, wie Sie haben vor allem bewiesen, dass Sie sich Ihrer Ver- von SPD und Grünen vor der vorletzten Bundestagswahl antwortung entziehen und das hinterher verschleiern gefordert, eingeführt und umgesetzt wird. können. Ich finde es schäbig, dass Sie 1999 nach sechs Monaten Amtszeit aus dem Amt geflohen sind und ge- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE sagt haben: Das ist mir alles zu schwierig. LINKE] – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Wenn ihr Anstand hättet, würdet ihr reihenweise zurück- Hätten wir die Tobin-Tax, wäre diese Krise nicht mit sol- treten!) cher Schwere über uns hereingebrochen. Es ist jetzt auch an der Zeit. Nachdem James Tobin die Devisenumsatz- Ich will aber auch etwas Inhaltliches sagen. Die Sach- steuer gefordert hat, wäre es aber schon damals und verständigen sind sich heute einig, dass der Auslöser für immer an der Zeit gewesen. Sie haben versagt und ver- die Finanzmarktkrise die seit 2003 in den USA betrie- suchen, mit wohlfeilen Phrasen darüber hinwegzutäu- bene Politik der niedrigen Zinsen ist. Ich möchte Sie da- schen. ran erinnern, dass Sie als Bundesfinanzminister damals (B) in mindestens jeder zweiten Rede nach einer Politik des (D) (Beifall bei der LINKEN) billigen Geldes gerufen haben. Sie haben gesagt: Die Zinsen müssen gesenkt werden. – Wären wir Ihnen ge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: folgt, wären wir heute arm dran. Kollege Kuhn, bitte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt! Das ist richtig, was Sie sagen!) Ich will es ganz kurz machen. Selbstverständlich ha- Die Finanzmarktkrise macht zwei Dinge deutlich: ben wir in der Koalition über die Tobin-Tax, die es in- zwischen übrigens in 25 Varianten in der internationalen Erstens. Finanzmärkte brauchen Spielregeln, um ihre Diskussion gibt, gesprochen. dienende Funktion für die Marktwirtschaft zuverlässig ausfüllen zu können. Damit ist noch nicht gesagt, wer (Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE diese Spielregeln aufstellt. Damit ist auch noch nicht ge- LINKE]) sagt, wie flexibel diese Spielregeln sind. Damit ist nur – Sie haben doch eine Frage gestellt, Herr Dehm. gesagt, dass sie gelten müssen und eingehalten werden müssen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich habe eine Kurzintervention gemacht!) Herr Kuhn, ich sage Ihnen eines: Völlig sinnlos ist es, die eigenen, die nationalen Akteure auf den Finanzmärk- Haben Sie ein Cholerikerproblem, oder was ist hier los? ten mit Fesseln zu belegen, sodass sie ihre internationale Hören Sie doch zu. Kurzinterventionen haben doch nur Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Was wir in der Vergan- einen Sinn, wenn einen auch die Gegenmeinung interes- genheit wollten und in der Gegenwart wollen, sind siert. Spielregeln für den internationalen Bereich. Mit Basel II Wir haben uns mit der Tobin-Tax beschäftigt. Ich will hat sozusagen eine Ausweitung auf die globalen Finanz- Ihnen aber eine Illusion nehmen: Zu glauben, mit der märkte begonnen. Wir wollen aber auch verhindern Einführung einer Börsenumsatzsteuer oder einer Tobin- – das wollten wir in der Vergangenheit, das wollen wir in Tax, egal nach welchem Modell, wäre die jetzige Fi- der Gegenwart und in der Zukunft –, dass unsere natio- nalen Finanzmarktakteure gegenüber den Wettbewer- nanzmarktkrise zu verhindern gewesen, ist einfach dum- bern in anderen Ländern benachteiligt werden. Dazu ste- mes Zeug und zeigt, dass Sie das Instrument, das Sie for- hen wir. dern, selbst überhaupt nicht verstehen. Sie sollten sich noch einmal darüber informieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 18992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) Ich denke, wir sollten der Bundesbank bei der Frage, Europäischen Kommission für diese drei Säulen der Sta- (C) wer die Einhaltung der Spielregeln überwacht, eine be- bilität unseres Finanzwesens zu kämpfen. sondere Bedeutung beimessen. Die Bundesbank hat in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der schwierigen Situation der letzten zwölf Monate im- mer wieder bewiesen, dass sie die Dinge mit sehr viel Das deutsche System der Universalbanken zeigt, dass Sachverstand und Expertise in den Griff bekommen in der Krise am Ende die Solidität entscheidend ist. Die kann. Ich denke, wir sollten unbedingt über eine Stär- Moden, die hin und wieder zu unsolidem Handeln verlo- kung der Rolle der Bundesbank nachdenken. cken mögen, wurden von dieser Bundesregierung in den letzten drei Jahren richtigerweise zurückgewiesen. Das Das Zweite, was die Finanzmarktkrise deutlich gilt im Übrigen auch, wenn ich das sagen darf, für das macht, ist, dass die deutsche Bankenlandschaft, die oft deutsche Versicherungswesen. Die deutschen Versiche- als renditeschwach, verstaubt und altmodisch verspottet rer haben traditionell einen Anlageanteil, der sehr wenig wurde – der Minister hat das heute Morgen sehr deutlich risikoreich ist. Insofern haben wir auch hier einen stabi- ausgeführt –, viel besser ist als ihr Ruf. Sie trägt dazu len Anker für die Finanzsituation in Deutschland. bei, dass wir heute, in dieser schwierigen Situation, bes- ser dastehen als andere Länder. Das kann aber nicht da- Dennoch hat die Eigenkapitalausstattung der deut- rüber hinwegtäuschen, dass die Finanzmarktkrise auf- schen Banken in den letzten Monaten gelitten. Mancher grund ihres Ausmaßes Auswirkungen auf die Wirtschaft, Banker in Deutschland hat sich von der Euphorie anste- auf die Konjunktur, auf die Situation in Deutschland ins- cken lassen und ist Risiken eingegangen, die er selber gesamt haben wird, und zwar in erster Linie über das nicht überblickt. Aber auch hier gilt: In jeder Krise liegt eine Chance. Diese Finanzkrise bietet die Chance, dass Nachlassen der Nachfrage aus dem Ausland, also über sich Banken in Deutschland auf die heimischen Kredit- den außenwirtschaftlichen Kanal. Denn diejenigen Im- märkte besinnen, auf die Märkte, die man überblicken mobilienbesitzer in den USA, in Spanien und in Groß- kann und denen die solide Substanz des deutschen Mit- britannien, die noch vor wenigen Monaten glaubten, sie telstandes zugrunde liegt. Jeder von uns hat in seiner seien reich, weil sie eine teure Immobilie haben, und Praxis als Abgeordneter schon erlebt, dass deutsche jetzt wissen, dass sie es nicht sind, fragen auch nicht Banken bzw. Kreditinstitute Mittelständlern Kredite ver- deutsche Produkte nach. Insofern werden wir natürlich weigert haben, weil sie nicht genügend Sicherheiten bie- eine Nachfragedelle bekommen. ten konnten. Dieselben Kreditinstitute haben sich nicht In dieser Situation ist es wichtig, dass die deutsche abhalten lassen, internationale Finanzprodukte zu kau- Wirtschaft in den letzten drei Jahren, in der Zeit der Gro- fen, deren Risiko sie aufgrund der Komplexität über- haupt nicht überblicken konnten. Der schnelle Gewinn ßen Koalition, gegen externe Schocks und gegen nach- (B) auf den anonymen Finanzmärkten war verlockender als (D) lassende Konjunktur widerstandsfähiger geworden ist. die mühsamen Kreditverhandlungen mit den mittelstän- Die Unternehmen haben zusammen mit den Arbeitneh- dischen Unternehmen. Das sollte Warnung und Lehre für mern ihre Hausaufgaben gemacht. Zum Teil waren unsere Banken in Deutschland sein. schmerzhafte Anpassungsprozesse notwendig, die jetzt von der Linken genutzt werden, um gegen die Markt- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wirtschaft zu agitieren. Ich sage aber: Diese Anpas- neten der SPD) sungsprozesse haben dazu beigetragen, dass die soziale Der Direktor des Instituts für Wirtschaft, Professor Marktwirtschaft gestärkt wird und dass unsere Wirt- Michael Hüther, hat dazu am 19. September im Handels- schaft heute diesen Herausforderungen der internationa- blatt geschrieben: len Krise wettbewerbsfähig und stark begegnen kann. Banken brauchen einen festen Anker im heimi- Insgesamt hat die gute Ertragslage in den vergange- schen Markt, das klassische Geschäft mit Privat- nen Jahren dazu beigetragen, dass die Eigenkapitalaus- kunden und Unternehmen wird seine Bedeutung si- stattung der Unternehmen, die notwendig ist, bis heute chern. Jeweils steht das hohe Gut Vertrauen im verbessert wurde, dass eine gewisse Innenfinanzierung Mittelpunkt, das eine Anonymisierung nur in Gren- der Unternehmen möglich wird und dass sie weniger auf zen verträgt. Kredite angewiesen sind als Unternehmen in Volkswirt- schaften anderer Länder. Dennoch bleiben Kredite in ei- Ja, das Risiko einer Kreditgewährung im eigenen ner Wirtschaft wichtig. Es ist erfreulich und erstaunlich Umfeld ist erfassbar. Es ist besser erfassbar als die zugleich, wie attraktiv die Kreditbedingungen für die anonymen Risiken irgendwo jenseits des Atlantiks, die Kreditnehmer trotz alledem in der aktuellen Situation in irgendwelchen Verbriefungen gebündelt werden und geblieben sind. Der Grund ist – auch ich möchte das deren Risiko überhaupt nicht mehr zuordenbar war. wiederholen, weil es wahr ist und nicht oft genug gesagt Es bleibt deswegen in der Krise die Hoffnung, dass werden kann –, dass wir ein Sparkassen- und Genos- die Banken an die Realwirtschaft in Deutschland wieder senschaftssystem haben, das stabil und gesund ist und näher heranrücken und sich auf die Solidität und die sich über Privateinlagen relativ leicht finanzieren kann. Substanz des deutschen Mittelstandes besinnen. Eines ist Die drei Säulen – private, öffentliche und genossen- klar: Kurzfristig mag man an den Finanzmärkten traum- schaftliche Banken – haben sich auch in turbulenten Zei- hafte und verlockende Gewinnchancen haben; aber lang- ten bewährt. Herr Minister, ich sage Ihnen unsere Unter- fristig zählt nur die Substanz dessen, was auf der Welt stützung zu, wenn es darum geht, in Brüssel bei der wirklich erwirtschaftet und erarbeitet wird. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18993

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir brauchen – auch das ist ein Appell vieler Sach- (C) der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Die Arbeit verständiger in dieser Frage und in dieser Zeit – mehr ist die Quelle allen Reichtums!) Langfristorientierung an den Finanzmärkten. Das Wort „Nachhaltigkeit“ aus dem Bereich des Umwelt- und Kli- Deswegen tun alle Akteure im Finanz- wie im Wirt- maschutzes muss, auch als Kategorie, noch mehr Ein- schaftsbereich gut daran, zwischendurch immer wieder gang in die Finanz- und Wirtschaftspolitik finden. einmal zu fragen: Wo ist eigentlich die Substanz all des- sen, was sich da an Gewinnen und Erträgen aufbaut? Langfristiges Denken hat in Deutschland, sowohl im Hätte man die Frage „Wo ist die Substanz?“ schon 2000/ Wirtschafts- als auch im Finanzbereich, Tradition. Den- 2001 in der Dotcom-Krise gestellt, wären so manche ken wir gemeinsam an den Mittelstand und die deut- Enttäuschung und so manches Desaster vielleicht ausge- schen Familienunternehmen: Sie denken langfristig, sie blieben. denken über Generationen, sie denken nachhaltig. Sie sind der stabile Faktor in unserem wirtschaftlichen Ge- Je komplexer die Finanzinstrumente werden, umso schehen. Ich appelliere an den Koalitionspartner, in die- mehr sind Aufklärung, Information und Vertrauen not- sem Zusammenhang bei der Diskussion um die Erb- wendig. Dennoch: Jedes Kreditgeschäft ist ein Risikoge- schaftsteuer schäft, und es muss auch Kreditgeschäfte mit hohen Ri- siken geben. Denken Sie an den jungen Mann, den (Ludwig Stiegler [SPD]: Mach keinen Wahlkampf! Existenzgründer, der eine Geschäftsidee, eine Innova- Ich habe mich auch zurückgehalten!) tion, eine Erfindung hat, aber kein Geld, kein Eigenkapi- diesen Gesichtspunkt nicht zu unterschätzen. tal. Er muss jemanden finden, der das Risiko eingeht, ihm dieses Geld zu geben, mit der Aussicht, entweder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mit ihm reich zu werden oder alles zu verlieren. Er findet Die Krise ist nicht ausgestanden. Aber Deutschland, nur dann jemanden, wenn der Betreffende in der Lage die deutsche Wirtschaft und die deutschen Finanzakteure ist, dieses hohe Risiko in kleine Scheiben aufzuteilen sind gut aufgestellt und können die Krise besser verkraf- und auf viele Schultern zu verteilen. ten als andere. Es besteht wahrlich kein Grund zum Ju- bel, aber auch kein Grund zum Pessimismus. Deswegen sind innovative, moderne Finanzinstru- mente an den Finanzmärkten notwendig, um Risiko zu Vielen Dank. streuen. Manches große Projekt ist nur realisierbar, wenn Risiken auf die Schultern vieler verteilt werden. Diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Spielräume müssen wir den Finanzmärkten lassen. Ich neten der SPD) sage das im Hinblick auf die Regulierungseuphorie, die (B) jetzt als Reaktion auf die Deregulierungseuphorie, die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D) wir vorher hatten – das Pendel schlägt sozusagen in die Das Wort hat nun Rainer Brüderle, FDP-Fraktion. Gegenrichtung aus –, folgt. (Beifall bei der FDP) Wir brauchen strengere Anforderungen an die Rating- agenturen, ohne Frage. Rainer Brüderle (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die dra- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) matische Entwicklung auf den internationalen Finanz- Es kann nicht sein, dass diejenigen, die Risiken beurtei- märkten hat gravierende Auswirkungen. Keiner kann sie len und Kategorien von Risiken bilden, auf die andere abschließend bewerten. Niemand hat angesichts der vertrauen, an den Finanzprodukten, die sie beurteilen komplizierten Lage einfache und perfekte Lösungen zur sollen, selber mitverdienen; deswegen müssen wir die Hand. Interessenkonflikte, die sich bei den Ratingagenturen Aber ganz so überraschend kam das alles nicht – außer aufbauen, beseitigen. Das ist eines der wichtigen The- für die Bundesregierung. Die internationale Finanzkrise men. musste erst deutliche Spuren in Deutschland hinterlassen, bevor auch der Finanzminister endlich aufgewacht ist. Aber täuschen wir uns nicht: Ein Kredit bleibt immer Als die Finanzmärkte beim G-7-Finanzministertreffen eine Frage von Risiko, von Vertrauen. Beide Kategorien, im Frühjahr letzten Jahres international zum politischen „Risiko“ und „Vertrauen“, können nicht durch Gesetze Thema wurden, war er auf Safari. Die Europäische Zen- und nicht durch Verordnungen ersetzt werden. Auch da- tralbank hat seit über einem Jahr vor dieser Entwicklung rüber sollten wir uns im Klaren sein. Deswegen wäre es gewarnt. Der Sachverständigenrat hat im letzten Jahr ein verheerender Fehler, wenn wir, wie das gefordert wird, den Risiken auf dem Finanzmarkt ein ganzes Kapitel ge- staatlich autorisierte oder staatliche Ratingagenturen ein- widmet. Nichts ist geschehen, um sich auf diese Risiken richten würden. Kein Mensch kann nämlich wirklich vorzubereiten. ernsthaft daran denken, dass wir mit solchen staatlichen Ratingagenturen, mit denen wir quasi ein Qualitätssiegel Aber Sie haben auch schon als Landesminister im für Finanzprodukte schaffen würden, den Managern, den Kreditausschuss der WestLB nicht an den Sitzungen teil- hochbezahlten Akteuren am Finanzmarkt, ihr Risiko und genommen und sich für derartige Fragen nicht besonders ihr Geschäft abnehmen. Dieses Risiko und dieses Ge- engagiert. Im Zusammenhang mit der IKB-Krise ist die schäft müssen sie schon selber betreiben; denn dafür Beförderung Ihres Stellvertreters im Aufsichtsrat zum werden sie gut und hoch bezahlt. Staatssekretär bemerkenswert. Es wird nicht genügen, 18994 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Rainer Brüderle (A) bei der KfW zwei Vorstände als Bauernopfer hinauszu- statt sie der Marktentwicklung zu überlassen, durch neue (C) werfen. Die KfW hat ein Strukturproblem. Die Struk- staatliche Behörden zu gestalten. Das wäre genau die tur ist nicht stimmig. Sie muss geändert werden. falsche Schlussfolgerung. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Ich sage hier nur: Wenn es dem Esel zu wohl wird, Die soziale Marktwirtschaft verträgt viele rostige Nä- geht er aufs Eis. Es ist fatal, wenn ein solches Institut an- gel. Man kann aber auch so viele in sie hineinschütten, fängt, Banker zu spielen. Der Einkauf bei der IKB und dass sie sich übergeben muss. Man muss die Grund- die Führung dieser Bank kennzeichnen eine Misere, für strukturen in Ordnung bringen. Das gilt nicht nur hier. die der Steuerzahler hart bezahlen muss. Der Unter- Man muss sich auch fragen, ob die Verfassung in den schied zwischen der Entwicklung in den Vereinigten Betrieben funktioniert, ob die Aufsichtsräte nicht zu Staaten und der in Deutschland ist: In den Vereinigten groß sind bzw. ob sie in der Lage sind, ihre Funktionen Staaten wurde auf den Finanzmärkten ohne Schiedsrich- auszuüben. Ich war immer für eine Begrenzung der Zahl ter gespielt. In Deutschland haben die Schiedsrichter der Mandate auf maximal fünf, wobei ein Aufsichtsrats- mitgespielt. Das ist das Fatale. vorsitz doppelt zählen sollte. Ich kenne niemanden, der (Beifall bei der FDP) nebenbei 20 Mandate wahrnehmen kann. Es ist auffällig, wie die Marktstrukturen verteilt sind. (Beifall bei der FDP) Die Sparkassen haben einen Marktanteil von 50 Prozent Früher wurde die Zahl der Aufsichtsratsmandate durch und die Genossenschaftsbanken von 15 Prozent: Zwei die Lex Abs begrenzt. Bis heute hat die Häufung von Drittel der deutschen Banken sind also staatlich oder Aufsichtsratsmandaten allerdings stark zugenommen. vergesellschaftet. Funktioniert denn die paritätische Mitbestimmung in den (Ludwig Stiegler [SPD]: Gott sei Dank!) Betrieben? – Dagegen habe ich nichts. Aber auffällig ist, dass bei (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ja! Gute Frage!) den Landesbanken, die politisch determiniert sind – die Stimmen die Verfassungen in den Betrieben? Ist das in Vorstände werden nicht nach Qualität, sondern nach der Ordnung? Farbenlehre rekrutiert – und deren Aufsichtsgremien po- litisch besetzt werden, der größte Mist geschehen ist. Es Wurde nicht auch in anderen Bereichen, etwa im wurde gestern von Frau Professor Müller auf einer Ta- Energiesektor, eine so große Konzentration zugelassen, gung in der Humboldt-Universität gesagt, dass an den dass man sagen kann: Auch hier funktioniert der Wettbe- internationalen Finanzmärkten die Regel galt: If you werb nicht richtig? Beispiele sind Eon Ruhrgas mit ei- (B) (D) can’t sell it, sell it to the Landesbank. – Das ist eine trau- nem Marktanteil von mehr als 80 Prozent, und die rige Entwicklung. Stromversorger, die quasi abgezirkelte Versorgungsge- biete haben. In all diesen Fällen handelt es sich um Ver- Die Konsequenz kann aber nicht sein, dass der Staat stöße gegen Prinzipen der sozialen Marktwirtschaft. sich noch mehr in das Bankengeschäft einmischt. Die geniale Lösung der sozialen Marktwirtschaft ist, den Ich bin dafür, dass wir auch wieder über die Grundla- Wettbewerb als Entmachtungsinstrument funktionsfähig gen von Wirtschaftsordnungen diskutieren. Diejenigen, zu halten. Es sind in der Tat keine entsprechenden Re- die immer wieder nach Gutsherrenart eingreifen wollen, geln geschaffen worden, und diejenigen, die es gibt, sind dürfen es nicht leicht haben. Denn solche Eingriffe sind nicht eingehalten worden. Grundlegende Prinzipien die rostigen Nägel, von denen ich eben sprach. Die Prin- müssen beachtet werden. Schon einer der Gründungsvä- zipien der sozialen Marktwirtschaft müssen wieder mehr ter, Walter Eucken, hat gewarnt, dass etwas schief läuft, beachtet werden, damit sie funktioniert und damit die wenn zwei Dinge eintreten: Kartellierung, sprich eine Feinde der sozialen Marktwirtschaft nicht die Oberhand ungesunde Konzentration, und Punktualismus, also das, gewinnen. Marktwirtschaft ist allemal besser als Plan- was die Amerikaner machen. Bei der einen Bank greifen wirtschaft. Wir dürfen nicht jeden Unsinn der deutschen sie ein, die andere lassen sie Konkurs gehen. Nach wel- Geschichte wiederholen! chen Kriterien das geschieht, ist nicht nachvollziehbar. (Beifall bei der FDP) Bei Bear Stearns übernimmt man einen Notenbankkredit von 35 Milliarden Dollar, also auf gut Deutsch: Man Meine Damen und Herren, der entscheidende Punkt druckt Geld. Die Lehman Brothers Bank lässt man in ist, dass jetzt auch die Politik Konsequenzen zieht. Wir Konkurs gehen. Wer entscheidet das? Der heilige Pries- müssen die Situation in Ordnung bringen. Der Staat terrat, der Senatsführer? Genau das ist der Verstoß gegen muss sich aus den Landesbanken zurückziehen. Dort die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. hat er nämlich nichts zu suchen. Sie haben kein Ge- schäftsmodell. (Beifall bei der FDP) (Joachim Poß [SPD]: Ihnen hat man heute Die Gegner der sozialen Marktwirtschaft von links wohl die falsche Platte eingesetzt!) außen wie von rechts außen wittern jetzt Morgenluft: Die Finanzmärkte sollen kontrolliert und Familienunter- – Meine Platte ist richtig, Herr Poß. Sie haben das nur nehmen verstaatlicht werden. – Ja, Kontrollen müssen noch nicht genug inhaliert. Seien Sie doch einmal ehr- sein, Regeln müssen verändert und auch strikter formu- lich! Auch Sie wissen doch, wie traurig die WestLB ist, liert werden. Es kann aber kein Ersatz sein, die Dinge, weil sie das Geld des Steuerzahlers verbrannt hat. In Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18995

Rainer Brüderle (A) Rheinland-Pfalz müssten Sie mir eigentlich ein Denkmal Rainer Brüderle (FDP): (C) setzen. Denn die Landesbank Rheinland-Pfalz habe ich Lieber Herr Kuhn, auch Ihnen wird nicht entgangen rechtzeitig verkauft. Sie hat sogar noch Geld einge- sein, dass die Geschehnisse bei der WestLB, das Fehl- bracht. verhalten und das Fehlsteuern, lange Zeit vor dem An- tritt der neuen Landesregierung stattgefunden haben. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der SPD Alle anderen Länder müssen jetzt Geld nachschießen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie müssen dafür zahlen, dass der eine oder andere, der Banker spielen wollte, unfähig war. Mit dem, was sie vorgefunden hat, musste sie ver- nünftig umgehen. Die vorherigen Landesregierungen in (Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das lieber mal NRW haben Industriepolitik gespielt und sich überall Herrn Rüttgers, aber nicht mir!) eingekauft. Das ging schief. Ich traue der neuen Landes- Dafür müssen die Steuerzahler, die für die Steuergro- regierung zu, dass sie dieses Problem bald löst und sich schen hart arbeiten, zahlen. endlich aus der Umklammerung befreit; denn alle müs- sen drauflegen. Es wird kein Geld verdient, sondern es (Beifall bei der FDP) wird Geld verbrannt. Dieses Geld könnten wir für Bil- Hier wurde Misswirtschaft betrieben. Es werden aber dung, für Schulen, für die Umwelt und viele andere Be- keine Konsequenzen gezogen. Ich frage mich manch- reiche sinnvoll verwenden. mal: Wie viele Milliarden muss man in Deutschland ei- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gentlich verdummbeuteln, bevor endlich Konsequenzen gezogen werden? Dem müssten selbst Sie zustimmen, auch wenn Sie jetzt schreien, weil Sie das nicht verstehen. (Beifall bei der FDP – Fritz Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rüttgers?) Die Partei, nach der ich gefragt habe, heißt üb- rigens „FDP“!) Es gibt weitere Maßnahmen, die ergriffen werden müssen. Die Ratingagenturen müssen unabhängig sein. – Wir stellen nicht den Wirtschaftsminister in NRW, was Wenn derjenige, der einen Test bestellt, dafür bezahlt, sicherlich ein Fehler ist. bekommt er das Ergebnis, das er bestellt hat. Ich frage (Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Aber den Zu- Sie: Wer hat die Banker daran gehindert, selbst zu den- kunftsminister!) ken, anstatt mechanisch nach Ratings vorzugehen? (B) Zurück zu den Kernpositionen. Wir müssen diese Ge- (D) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) legenheit ergreifen, eine Systemdebatte zu führen, damit In den Banken arbeiteten viele 30-Jährige – nichts ge- denjenigen, die, sich in einem Kostüm verbergend, et- gen 30-Jährige! –, die nicht viel Lebenserfahrung hatten, was anderes wollen, das Handwerk gelegt wird. Die die aber meinten, die Welt anhand von Computermodel- Schwachstellen müssen beseitigt werden, die Mechanis- len steuern zu können. Sie haben aber nur herumgespielt. men müssen wieder wirken können, und die Grundprin- Sie haben Casino gespielt. Die Vorstände der Banken ha- zipien müssen wieder beachtet werden. Dann funktio- ben sie spielen lassen, weil sich das lange Zeit rentiert niert das auch. hat. Es ist eine Frage des Formats der Führungspersön- Alles andere wäre eine schlechtere Lösung. Haben lichkeiten, wie sie ihre Aufgaben wahrnehmen. wir den Mut, diese Debatte offensiv zu führen! (Ludwig Stiegler [SPD]: Da sind übrigens (Beifall bei der FDP) auch viele Liberale dabei!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Nina Hauer für die SPD-Fraktion. Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhn? (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nina Hauer (SPD): Rainer Brüderle (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr gern; denn meine Redezeit ist fast abgelaufen. Lieber Herr Brüderle, aufgrund Ihrer Regierungszugehö- rigkeit in Nordrhein-Westfalen hatten Sie drei Jahre lang Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zeit, bei der WestLB aufzuräumen. Ich glaube, das ist Herr Brüderle, ich teile Ihre Auffassung zur rhein- Ihnen nicht mehr rechtzeitig eingefallen. Deswegen ha- land-pfälzischen Landesbank. Allerdings habe ich ge- ben Sie sich hier vergaloppiert. rade vergessen, wie die Partei heißt, die in Nordrhein- Westfalen gegenwärtig mit der CDU koaliert und dort et- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des was verändern könnte. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Carl- Ludwig Thiele [FDP]: Wer ist von der SPD? – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist ja unglaub- sowie bei Abgeordneten der SPD) lich!) 18996 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Nina Hauer (A) Ich sehe schon, dass Opposition für Sie ein schwieri- Ich erinnere einmal an die Umsetzung der Transpa- (C) ges Geschäft ist; denn sonst würden Sie hier ja nicht renzrichtlinie, mit der die Meldepflicht für Stimmrechte verzweifelt versuchen, eine Krise, die in den USA ent- ab einer Schwelle von 3 Prozent eingeführt wurde. Seit standen ist und dort ihre Auswirkungen hat, der Bundes- der Übernahme von Continental durch die Schaeffler- regierung in die Schuhe zu schieben. Sie erwecken damit Gruppe ist es in der FDP diesbezüglich ruhig geworden. bei den Menschen nicht nur den Eindruck, dass die Poli- Sie waren damals dagegen und haben gesagt, 3 Prozent tik das alles hätte verhindern können, sondern Sie lenken seien zu wenig. Heute sehen wir, dass wir mit 3 Prozent damit auch vom Versagen und von Fehleinschätzungen schon gut gefahren wären. Nachdem später das Risiko- der Bankmanager und einem Verhalten ab, mit dem ohne begrenzungsgesetz hinzugekommen ist, wäre eine sol- jedes Maß an Verantwortung Risiken eingegangen wur- che Übernahme zwar auch noch möglich gewesen, aber den. sie wäre viel früher deutlich geworden. Dadurch wäre dem Zielunternehmen die Chance gegeben worden, sich (Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: entsprechend dazu zu verhalten. Und von den eigenen Positionen! Die Könige des Neoliberalismus!) Die Berichtspflichten für börsenorientierte Unterneh- men haben wir durch die Umsetzung der Transparenz- Herr Minister, ich teile das, was Sie hier zu den Rating- richtlinie ebenfalls eingeführt. Diese gibt es in den USA agenturen gesagt haben. Man muss doch einmal sagen: zwar auch, aber nicht in dem Maße, wie es sie nach der Wenn ich jemandem Geld leihe, dann lasse ich nicht nur Umsetzung der europäischen Richtlinie hier in Deutsch- die Ausfallwahrscheinlichkeit des Kredits durch eine land gibt. Ratingagentur berechnen, sondern dann prüfe ich doch auch, wem, in welchem Marktumfeld und für was ich Durch das Risikobegrenzungsgesetz haben wir dafür ihm das Geld gebe. Deswegen ist ein Instrument wie das gesorgt, dass Aktien und vergleichbare Positionen hin- Votum einer Ratingagentur immer nur so gut wie der sichtlich der Meldeschwellen zusammengerechnet wer- Manager, der dieses Instrument nutzt. Da das in diesem den. Das heißt, wenn dieses Gesetz schon früher in Kraft Fall nicht geprüft wurde, finde ich, dass man schon sa- getreten wäre, dann wäre das, was die Schaeffler-Gruppe gen muss, dass in dieser Branche ein komplettes Versa- geplant hatte, klarer erkennbar gewesen. Das gilt auch gen vorliegt. Das ist dafür verantwortlich, dass wir jetzt für Fälle in der Zukunft. Das „acting in concert“ – also in dieser Situation sind. Wir können froh sein, dass wir Absprachen zum gemeinsamen Vorgehen von Aktionä- in Deutschland nicht in diesem Maße betroffen sind. ren – wird transparenter. Verbotene Absprachen werden leichter nachweisbar. Die FDP hat im Ausschuss mit der Der Minister hat ja einiges dazu gesagt: Das liegt an Begründung dagegen gestimmt, dass neue Transparenz- unserem Bankensystem und an unserem Wirtschaftssys- (B) regelungen zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vom Fi- (D) tem, aber auch daran, dass wir für mehr Transparenz nanzmarkt verkraftet würden. und Verantwortung auf den internationalen Finanz- märkten in den letzten zehn Jahren sozialdemokrati- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt scher Verantwortung in diesem Ministerium einiges er- hört’s auf! – Joachim Poß [SPD]: Brandstifter reicht und auf den Weg gebracht haben. geriert sich als Biedermann!) (Beifall bei der SPD) Dann sollten Sie aber jetzt nicht behaupten, dass der deutsche Gesetzgeber für das, was in den USA angerich- Einige Voten und Beiträge der Opposition dazu sind tet worden ist, irgendeine Verantwortung hat. mir noch gut in Erinnerung. Wir haben hier Basel II um- gesetzt; dazu gab es ja eine internationale Vereinbarung. (Beifall bei der SPD) Man sieht in den USA jetzt das Missverhältnis zwischen Dann hätten Sie sich an der Einführung von mehr Trans- dem Risiko, der Eigenkapitalunterlegung und der Er- parenz an den Finanzmärkten beteiligen müssen. Das tragslage. Die außerbilanziellen Geschäfte, die auch in hätte besser zu Ihrer Rolle gepasst. der IKB getätigt worden sind, sind mit Basel II nicht ohne Weiteres möglich. Diese Regeln waren damals aber Es ärgert mich, dass die Bürgerinnen und Bürger in noch nicht in Kraft. Es hat offensichtlich auch einen den USA, die ihre Kredite nicht zurückzahlen können, in Hintergrund, dass sich die USA bisher geweigert haben, der Debatte keine Rolle spielen. Auch das wäre bei uns Basel II in ihre nationale Gesetzgebung zu implementie- anders. Wir haben in den letzten Jahren einiges vorange- ren. bracht, damit sich auch private Anleger, die wenig Ka- pital am Finanzmarkt anlegen, darauf verlassen können, Die PDS hat sich damals übrigens enthalten. Ihnen dass klare Regeln gelten. Ein Beispiel ist die Haftung für geht ja immer alles nicht weit genug. Damit haben Sie falsche Wertpapierprospekte. Produkte, deren Zinsen aber nicht viel zu mehr Sicherheit, Stabilität und Trans- nach drei, vier Jahren ins Astronomische steigen, sind in parenz auf den Finanzmärkten beigetragen. Deutschland offenlegungspflichtig. Jeder, der in diese Produkte investiert, hätte das nachlesen können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Fritz Wir haben über die Verbriefungen gesprochen. Die Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gar Verbriefungen können von vielen Mittelständlern als nichts! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE Ausweg genutzt werden, wenn sie von den Banken keine LINKE]: Wenn Sie unsere Vorschläge nicht Kredite bekommen. Das betrifft übrigens nicht die Spar- zur Kenntnis nehmen, dann tut es mir leid!) kassen, sondern vor allem die vornehmen Geschäfts- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18997

Nina Hauer (A) banken – ich komme ja aus der Nähe von Frankfurt –, KWG-Novelle möglich wurde, dass bei einem Übergang (C) die lieber Investmentgeschäfte gemacht haben, als klei- der Grundschuld der Kreditnehmer nicht einmal mehr nen Mittelständlern Geld zur Verfügung zu stellen. Die informiert werden muss. Dass heute sogenannte faule Verbriefungen waren eine Chance, diese Situation zu än- Kredite – also aus irgendwelchen Gründen nicht mehr dern. Deswegen haben wir das vorangetrieben. Es ist rechtzeitig bediente Kredite – von der Bank einfach wei- vorhin kritisiert worden, dass das im Koalitionsvertrag tergegeben und die Kreditnehmer nicht einmal mehr in- vereinbart wurde. Dass das, was verbrieft wird – das gilt formiert werden, haben Sie zu verantworten. Auch das auch für das, was nicht in Aktien verbrieft wird –, offen- ist ein wesentlicher Bestandteil der Verbriefung, die Sie legungspflichtig ist und nicht am grauen Kapitalmarkt jetzt wieder loben. untergeht, verdanken Sie den Aktivitäten dieser Bundes- regierung. Damit sind wir, finde ich, für die kleinen An- (Beifall bei der LINKEN – Christian Lange leger auf unserem Finanzmarkt – nicht nur für die Ban- [Backnang] [SPD]: Wo ist eigentlich die ken – gut aufgestellt. Frage?) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Beim Investmentmodernisierungsgesetz haben wir Frau Kollegin, Sie wollten doch eigentlich eine Frage den Begriff des totalen Verlustes eingeführt, den es auf stellen. dem Finanzmarkt schon lange gibt. Das heißt, dass je- mand, der in ein Hebelprodukt, ein synthetisches Pro- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ob das dukt oder eine Option investiert, darüber informiert wird denn zutrifft!) – je nach seiner finanziellen Leistungskraft oder auch seinen Kenntnissen des Finanzmarktes –, wann ein To- Nina Hauer (SPD): talverlust eintreten kann. Diese Regeln gelten in Europa. Wir haben sie auf unsere Situation in Deutschland zuge- Frau Höll, was in Ihrer Fraktion konsequent geleugnet schnitten. Sie gelten nicht in den USA. Das Ergebnis se- wird, ist, dass das, was auf einem internationalen Markt hen wir jetzt. zu kaufen ist, nicht vor unseren Grenzen haltmacht. Was wir aber tun können, ist, dafür zu sorgen, dass hier Re- geln gelten, die nach unseren Kriterien aufgestellt wer- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: den. Dasselbe gilt auch für die Hedgefonds. Dass man Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der als Privatanleger hier nicht in Hedgefonds investieren Kollegin Höll? kann oder dass diese Fonds bestimmte Finanzierungs- instrumente nicht enthalten dürfen, haben Sie unserer (B) Nina Hauer (SPD): Gesetzgebung zu verdanken. Im Übrigen gilt das auch (D) Ja. für die Umsetzung der europäischen Richtlinie für Bera- tungsleistungen bei Finanzdienstleistungen insgesamt. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Wir haben diese zum Teil entsprechend unseren nationa- Kollegin Hauer, Sie haben eben die Verbriefung ange- len Gegebenheiten verändert. Aber Sie haben sich im sprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Finanzausschuss enthalten. Sie verweigern sich konse- Frage an Sie richten. quent und tun so, als ob man das, was es auf den interna- tionalen Finanzmärkten gibt, fernhalten könnte. Sie ha- Es ist von vielen neuen Instrumenten die Rede, deren ben nicht den Mumm, zu sagen: Wenn es das schon gibt, Einführung Sie für notwendig hielten. Ich zitiere aus ei- dann soll das hier in Deutschland nach unseren Regeln ner Ihrer Reden, und zwar aus der vom 19. Mai 2006: funktionieren. In diesem Zusammenhang sind die Bei- Wir haben die Hedgefonds vor einigen Jahren in spiele zu sehen, die Sie genannt haben. Deutschland zugelassen, weil wir deren Funktion (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wie für den Finanzmarkt kennen. Wir brauchen diese war das mit den Hedgefonds?) Fonds nicht nur im internationalen Vergleich und Wettbewerb, sondern auch, weil sie eine Rolle er- – Das habe ich eben gesagt. Sie müssen zuhören! füllen, die kein anderes Finanzprodukt übernehmen kann. Ähnlich war es bei der Finanzaufsicht. Wir haben nun eine Allfinanzaufsicht in Deutschland. Das war da- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Hört! Hört!) mals ein großer Schritt. Für manche ist dabei das Abend- Sie sind in der Lage, Währungsrisiken und Speku- land fast untergegangen. Aber es war richtig, die unter- lationsrisiken aufzufangen … schiedlichen Aufsichtsgremien zusammenzuschließen. Wir haben in regelmäßigen Abständen die Aufsicht den Ich glaube, wir wurden inzwischen eines Besseren be- Anforderungen der Finanzmärkte angepasst. Sie haben lehrt. sich daran nicht beteiligt. Ich finde, dass wir heute eine Aufsicht haben, die den Herausforderungen gewachsen (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert ist und in der Lage ist, die vorhandenen Risiken einzu- Winkelmeier [fraktionslos]) schätzen. Dem sind parlamentarische Prozesse voraus- Was die Verbriefung angeht, haben wir seit 2002 eine gegangen, die noch nicht zu Ende sind; denn wir sehen, sehr rege Gesetzgebung. Aber wir sollten ehrlicherweise wie innovativ und schnell die Finanzmärkte voranschrei- zur Kenntnis nehmen, dass es erst durch die letzte ten. Aber wir müssen uns nicht von anderen, erst recht 18998 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Nina Hauer (A) nicht von der Opposition, sagen lassen, dass unsere Auf- fen vor allem nicht Vorreiter sein, wenn es um eine Ver- (C) sicht in den zur Rede stehenden Fällen versagt habe. besserung der Regeln geht. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für die SPD-Fraktion sage ich, dass wir vielen Vor- Das ist genau die Argumentation, mit der Sie in zwei schlägen zur Deregulierung der Finanzmärkte in den Jahren wieder business as usual machen werden. Das, letzten Jahren widerstanden haben. Wir haben vielen von was aus früheren Reden von Frau Merkel zitiert worden Verbänden geäußerten Einwänden – die Aufsicht werde ist, charakterisiert das Programm, das ansteht, wenn den Markt kaputtmachen, oder die BaFin verursache Schwarz-Gelb nach der nächsten Bundestagswahl die eine Kreditklemme – widerstanden. Wir hatten dabei Mehrheit erhält. Ich bin dankbar für diese Hinweise. wenig Unterstützung von den Oppositionsfraktionen, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heute gern für sich in Anspruch nehmen, dass unser Fi- nanzmarkt so robust aufgestellt ist. Das heißt, nach dem Willen der Union soll es nach der aktuellen Krise, wenn alle Aufregung vorbei ist, weiter- (Joachim Poß [SPD]: Das war auch in der gehen wie bisher. Das ist nicht die Position von Bünd- Koalition nicht immer einfach!) nis 90/Die Grünen. Wir wollen andere Finanzmärkte. Ich denke, dass wir einen Erfolg erzielt haben. Deutsch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) land befindet sich aufgrund der internationalen Finanz- marktkrise zwar in einer schwierigen Situation. Wir kön- Schauen Sie sich doch die spanische Aufsicht an! Sie nen aber den Anlegern auf den Finanzmärkten, gerade hat es anders gemacht und ihren eigenen Akteuren einige denjenigen, die geringe Einkommen haben, sagen: Sie Fesseln mehr angelegt. Das Bundesfinanzministerium müssen sich nicht beunruhigen. Sie haben ihr Geld dort muss mir in einem Schreiben zugestehen, dass die spani- angelegt, wo Regeln gelten, die den Anleger schützen schen Banken besser dastehen, weil Spanien es anders und die Finanzmärkte stabil halten. gemacht hat. Eine jüngst veröffentlichte Studie über die City of London beklagt, dass der Nachteil des Finanz- Vielen Dank. platzes London ist, dass dort keine guten Regeln festge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten legt worden sind. Ich finde, diese Erkenntnis müssen wir der CDU/CSU) aus der Krise mitnehmen. Es lohnt sich, sinnvolle Re- geln im eigenen Land aufzustellen, selbst wenn nicht Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: alle anderen Länder mitmachen. Dazu haben Sie keiner- Das Wort hat nun Gerhard Schick, Fraktion Bünd- lei Vorschläge vorgetragen, nicht im Ausschuss und auch nicht hier im Plenum. (B) nis 90/Die Grünen. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich glaube, Sie ducken sich weg und versuchen, unter NEN): der Welle, die gerade die Finanzmärkte überspült, durch- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zutauchen, um nachher wieder an derselben Stelle aufzu- Wenn man sich die Geschichte der Finanzmärkte an- tauchen. Ich finde, das ist ähnlich fatal wie das, was Herr schaut, dann stellt man fest, dass es immer wieder große Lafontaine gemacht hat, der auf einer Welle surft, die die Krisen gab. Spekulationsblasen bauen sich auf. Dann, Menschen mitreißt, die Arbeitsplätze und Steuern der wenn sie platzen und die Vermögenswerte sinken, Menschen kosten wird, die nicht auf den internationalen herrscht große Empörung. Alle reden plötzlich von Re- Finanzmärkten spekuliert haben. Als Krisengewinnler gulierung. Zwei Jahre später ist dann wieder Sende- hier einfach eine Show abzuziehen, wird der Situation pause, und man hört dieselbe Argumentation wie zuvor. überhaupt nicht gerecht. Beide Verhaltensweisen sind (Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE falsch, Wegducken und Surfen sind gleichermaßen un- LINKE]) verantwortlich. Das können Sie an der Asien-Krise, der Krise des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hedgefonds Long Term Capital Management und dem In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Frage, Enron-Skandal beobachten. Die entscheidende Frage in die Frau Hauer aufgeworfen hat, eingehen. Was ist denn der aktuellen Krise ist: Schaffen wir es diesmal, dass es die Verantwortung hier vor Ort? Wir haben zu Maßnah- anders wird? men, die hier in Deutschland ergriffen werden könnten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und sollten, von den Regierungsfraktionen und auch von sowie des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ Herrn Steinbrück nichts gehört. Es wurde immer nur von CSU]) der internationalen Ebene und von Koordinierung ge- sprochen. Wunderbar: „King Henry“ als Vorbild, großes Die Äußerungen aus den Regierungsfraktionen waren Tanzen bei internationalen Verhandlungen. Ich möchte leider etwas ernüchternd. Herr Friedrich hat sich wieder ein konkretes Beispiel nennen, das zeigt, in welchem Be- mit dem ganz zentralen Satz geäußert: Aber unseren ei- reich man etwas hätte tun können; wir haben dazu Vor- genen Akteuren dürfen wir auf keinen Fall Fesseln anle- schläge unterbreitet: Ein Anleger oder eine Anlegerin in gen. – Das entspricht der Argumentation in jedem ande- Deutschland kauft im Juli 2008 ein Zertifikat, das ren Land: Wir schützen unseren Finanzplatz, beteiligen „Deutschland Garant“-Anleihe heißt, Emittent: Lehman uns deswegen nicht an internationalen Regeln und dür- Brothers. „Deutschland Garant“ klingt seriös. Aber Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18999

Dr. Gerhard Schick (A) nichts ist garantiert und nichts ist mit Deutschland; viel- Ortwin Runde (SPD): (C) mehr hat eine amerikanische Investmentbank, die heute Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und pleite ist, die Anleihe emittiert, und die Anleger haben Herren! Herr Schick, das Beispiel, das Sie gebracht ha- nichts davon. Das zu dem Wort von Herrn Steinbrück, ben, ist irgendwie unpassend. Wenn eine Unternehmens- die Ersparnisse in Deutschland seien sicher. Natürlich anleihe, für die viermal 6 Prozent Zinsen gezahlt wer- sind die Sparbücher sicher, aber viele Anleger haben den, unter dem falschen Siegel „Deutschland Garant“ Geld verloren. Nur 0,13 Prozent des Zertifikatemarktes vermarktet und verkauft wird, dann kann man doch nicht – das hört sich wenig an – hat Lehman Brothers, aber erwarten, dass jemand eintritt. Dass immer dann, wenn wenn Sie sich die Summe ausrechnen, dann stellen Sie jemand mit einer „Deutschland-Garantie“ wirbt, die fest, dass es sich um 100 Millionen Euro handelt, die Staatshaftung gegeben ist, ist das Ihre Vorstellung? Wie deutsche Anleger verloren haben, weil man nicht dafür wollen Sie dann mit Unternehmensanleihen insgesamt gesorgt hat, dass diese wissen, dass, wo „Deutschland umgehen? Garant“ draufsteht, keine Garantie des Kapitals drin ist. Es wurde nichts in Bezug auf das Bonitätsrisiko getan. (Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE Tun Sie etwas für den wirklichen Anlegerschutz! Dann GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- können Sie auch bei Krisen dafür sorgen, dass Menschen frage) nicht in die Röhre schauen. Da haben Sie versagt. – Die Frage können Sie nachher im Rahmen einer Kurz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) intervention stellen. – Wenn wir bei der Dimension sol- cher Unternehmensanleihen so diskutieren würden, wä- Eine weitere Frage betrifft die Finanzaufsicht – Fritz ren wir nicht auf der Höhe der Zeit. Kuhn hat für unsere Fraktion schon darauf hingewiesen –: Wenn Sie davon sprechen, dass 25 Prozent Rendite nicht Was wir gegenwärtig erleben, ist eine Feuerwehrak- möglich seien und das allen Beteiligten klar sein müsse, tion bei einem weltweiten Brand. Angesichts der atem- dann möchte ich Sie fragen, ob unter diesen Beteiligten beraubenden Zahlen – die Notenbanken geben Liquidität vielleicht auch die deutsche Finanzaufsicht ist, für die in die Finanzmärkte, sprich: an die Banken, in einer Grö- Sie verantwortlich sind. Offensichtlich nicht. Wenn die ßenordnung mal von 50, mal von 70, mal von 100 Mil- deutsche Finanzaufsicht als Letzte merkt, wo Schiefla- liarden Euro – habe ich schon aufgehört, auszurechnen, gen bestehen, dann möchte ich fragen, warum Sie heute wozu sich das insgesamt addiert. Weltweit sind sicher- nichts vorgelegt haben, was uns zeigt, wie Sie die deut- lich mehr als 2 Billionen an Liquiditätshilfe gegeben sche Aufsicht verändern wollen. Das hätten wir von Ih- worden. In den letzten Tagen haben wir miterlebt, wie rer Rede erwartet, aber Sie haben nichts Konkretes vor- wirklich die gesamten Investmentbanken an der Wall getragen. Street zusammengebrochen sind und die Amerikaner, (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nachdem sie für Fannie Mae und Freddie Mac Geld aus- sowie des Abg. Frank Schäffler [FDP]) gegeben haben, 200 Milliarden, für Bear Stearns, 70 Milliarden und dann weitere 30 Milliarden zur Verfü- Die Finanzaufsicht in Deutschland hat die Aufgabe, gung gestellt haben. Das bedeutet, sie haben dort insge- Missständen im Kredit- und Finanzdienstleistungswesen samt mit 1 Billion interveniert, feuerwehrmäßig. Ange- entgegenzuwirken, die erhebliche Nachteile für die Ge- sichts dessen unterhalten wir uns in der Debatte über samtwirtschaft herbeiführen können. Wir haben diese eine solche Regierungserklärung nur über Kleinigkeiten. erheblichen Nachteile für die Gesamtwirtschaft. Wir Das ist wirklich eine andere Dimension, um die es da werden das bei den Steuereinnahmen und bei den öffent- geht. lichen Haushalten erleben, und wir werden es bei den Arbeitslosenzahlen sehen. Trotzdem meinen Sie, Sie Es stellen sich natürlich Demokratiefragen bei dieser könnten sich hier hinstellen und nur die internationale Intervention im Bankensektor, bei der Art, wie amerika- Situation beschreiben, ohne einen eigenen konkreten nische Banken dort plötzlich nach ziemlichem Belieben Vorschlag zu machen. Wenn Sie, Herr Steinbrück, das verstaatlicht werden. Da gebe ich übrigens Herrn Beispiel von der Treppe nehmen, die von oben gekehrt Brüderle recht. Allerdings ist er wie ein alternder Kir- werden muss, dann möchte ich ganz klar sagen: Da Sie mesboxer aufgetreten und hat diesen Punkt genutzt, um nicht vor der eigenen Haustür kehren, sondern sich nur wieder seine Privatisierungsvorstellungen für den Be- international engagieren wollen, werden wir als Opposi- reich der Landesbanken an den Mann zu bringen und auf tion mit allen Instrumentarien, die dafür zur Verfügung die Planwirtschaft einzuschlagen. stehen, dafür sorgen, dass auch vor der deutschen Haus- tür wirksam gekehrt wird. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Danke schön. Das war schon richtig eindrucksvoll. Er kennt diesen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Step. Das sind die geübten Schritte des Kirmesboxers. – sowie des Abg. Frank Schäffler [FDP]) Das ging nur wirklich zu weit. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wahrscheinlich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: selbst Kirmesboxer!) Das Wort hat nun Ortwin Runde für die SPD-Frak- tion. Die Frage, vor der wir stehen, lautet: Befinden wir uns wirklich an einer Zeitenwende? Der Bundesfinanz- (Beifall bei der SPD) minister hat zu Recht gesagt, dass dies das Ende der 19000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Ortwin Runde (A) Dominanz der Amerikaner in der internationalen Zusammenhang haben wir lange tabuisiert; wir haben (C) Finanzpolitik sein wird. Man muss allerdings sagen: Es immer gesagt, es handele sich allein um eine Finanz- sind nicht allein die Amerikaner, sondern es ist der krise. Wir werden noch merken, wie das, was in den Ver- angloamerikanische Bereich, der da dominiert hat. Die einigten Staaten als Folge der jüngsten Ereignisse ab- Frage ist, wie wir nach den Feuerwehraktionen aus der läuft, auf die Realwirtschaft durchschlagen wird. Die Krise herauskommen. Amerikaner werden ihre Staatsverschuldung so aufblä- hen, dass sie Schwierigkeiten haben werden, sie zu fi- Die – das fällt mir gerade ein – hat in nanzieren. Sie werden sie nicht über Steuererhöhungen, den 90er-Jahren mit dem Spruch geworben: Vertrauen ist sondern über Inflation finanzieren, was dann Auswir- der Anfang von allem. – Wir haben erlebt, was gemacht kungen auf das Währungssystem haben wird. An dieser wurde, um Renditen von 25, 30 und mehr Prozent zu er- Stelle sind wir sehr schnell bei – mit zielen – Schnellballsysteme, Hütchenspielereien –, wir dem Abstand eines großen Staatsmanns kann er das am erleben jetzt, dass sich die Banken, weil die Märkte zu- allerbesten beurteilen –, der diese Zusammenhänge mit sammengebrochen sind, untereinander nicht mehr ver- dem Währungsbereich aufgezeigt hat. Wir werden erle- trauen, und da ist doch die Frage: Wie wollen wir in die- ben, dass sich dies auf das Wachstum der amerikani- sem System wieder Vertrauen herstellen? Wenn nach all schen Wirtschaft auswirken wird und dass uns diese den Aktionen an der Wall Street und in Amerika nie- Auswirkungen heftig treffen werden. Wir haben erlebt, mand zu sagen wagt: „Das ist der Boden, und von nun an welche Wachstumsbremse die deutsche Vereinigung geht es aufwärts“, dann ist wirklich die Frage: Was muss ausgelöst hat. Wenn man sich die Größenordnung vor- geschehen? Ich sage: Wir brauchen in der Tat eine neue stellt, dann ist klar: Das wird Auswirkungen auch auf internationale Finanzarchitektur. uns haben. Zur Verantwortung Einzelner kann ich nur sagen: Ich Deswegen kann ich nur sagen: Wir brauchen ein finde in dem gesamten System keinen, der nicht mit ver- Agieren auf der Ebene der Finanzminister. Dabei ist der antwortlich gewesen wäre. Angesichts dessen wäre es Finanzminister einer Volkswirtschaft, die Exportwelt- erstaunlich, wenn eine Ebene für sich sagen könnte, sie meister ist, auf der internationalen Bühne natürlich ge- habe nicht versagt und auch in Teilbereichen keine Feh- fragt. Träte er dort nicht auf, wäre es ein fundamentaler ler gemacht. Fehler. Wir brauchen Bemühungen im Rahmen der G 7 Die FDP müsste doch wirklich ihre gesamte finanz- plus Brasilien, Russland, China und die arabischen Län- politische Grundposition überprüfen. der. Sie können nicht nur mit ihren Staatsfonds unseren kollabierenden Banken zur Seite stehen, sondern werden (Beifall bei der SPD) dann auch bei der neuen multipolaren Ordnung gefragt sein. (B) Sie hat immer gesagt, wir müssten deregulieren, um (D) wettbewerbsfähig zu sein. Sie hat davon gesprochen, ein Danke schön. „level playing field“ sei im globalen Finanzkapitalismus nötig. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Ernst Burgbacher [FDP]: Das hat Ihnen Herr Brüderle gerade erklärt!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das heißt, dass man immer die unterste Form der Regu- Das Wort hat nun Kollege Otto Bernhardt, CDU/ lierung wählt, also die Deregulierung. CSU-Fraktion. Wenn wir Zweckgesellschaften und all diese ver- (Beifall bei der CDU/CSU) schiedenen Finanzinstrumente haben, dann deshalb, weil es die Angloamerikaner so bestimmt haben. Hier muss Otto Bernhardt (CDU/CSU): man sich aber selbst einen Vorwurf machen und fragen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ob man auf der eigenen Ebene genug Widerstand geleis- Herren! Herr Kollege Lafontaine, wir haben keine Krise tet hat. Wir können ein Stück weit in Analogie zu dem, der Demokratie, wir haben auch keine Krise der Markt- was in der Außenpolitik geschieht, darauf verweisen, wirtschaft, wir haben eine internationale Finanzkrise. dass das alte Europa und Deutschland eine Reihe von Dies sollte man zunächst einmal festhalten. Traditionen haben, auf denen wir aufbauen können. Si- cher sind die Bereiche, in denen wir ganz und gar tradi- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Beifall!) tionell geblieben sind. Dies gilt vor allem für den Bereich der Sparkassen und Volksbanken sowie für jene Wenn heute weltweit gefordert wird, man müsse bei Banker, die gesagt haben: Ich handle nur mit Risiken, den internationalen Finanzmärkten mehr Transparenz, die ich auch bewerten und beurteilen kann. – Auch aber auch mehr Regelungen schaffen, dann stellen wir Pfandbriefe und Verbraucherschutzmaßnahmen gehören fest, dass unsere Bundesregierung – die Bundeskanzlerin zu den Traditionen, auf denen man aufbauen kann. Dass und der Finanzminister – wir aber wegen der Wettbewerbsgleichheit mit ausländi- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Alles schen Banken auch Fehler bei der Deregulierung ge- Nötige getan hat!) macht haben, ist unabweisbar. Insoweit sind wir von die- ser Krise natürlich mit betroffen. dies bereits vor der Krise gefordert hat. Die Betroffenheit wird sich in dem Zusammenhang (Lachen des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE von Finanzwirtschaft und Realwirtschaft zeigen. Diesen LINKE]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19001

Otto Bernhardt (A) Sie sind aber an den Vorstellungen der Vereinigten Staa- – Entschuldigung! – Ich habe gesagt, dass diese Bundes- (C) ten und Großbritanniens gescheitert, die gesagt haben: regierung, die ja von einer Großen Koalition getragen Nein, das Ganze läuft am besten, wenn wir uns darum wird, also auch von den Unionsparteien, sich bereits vor nicht kümmern. dieser Krise international für mehr Transparenz und mehr Regulierung eingesetzt hat. Wenn Sie sich die Re- (Ernst Burgbacher [FDP]: Ja, ja! Alle anderen den, die die Bundeskanzlerin vor anderthalb Jahren auf sind schuld! – Frank Schäffler [FDP]: Alles internationalen Kongressen gehalten hat, noch einmal richtig gemacht! Keine Fehler gemacht!) anschauen, dann werden Sie feststellen: Wir haben dies Natürlich kann man solche Probleme, Herr Kollege gefordert. An der Haltung der Amerikaner ist die Umset- Schick, nur international lösen. Wir würden, wenn wir zung dieser Forderung im Wesentlichen gescheitert. Jetzt nur nationale Maßnahmen ergriffen, unseren eigenen kommt dort ein Umdenken in Gang. Und das ist gut so. Finanzplatz schwächen. Deshalb ist es richtig, wie es die Ich war gerade bei dem Hinweis, dass ich, wenn ich Bundesregierung macht, im Rahmen der G 7 und der EU Finanzpolitiker in den Vereinigten Staaten wäre, den für einheitliche neue Regelungen zugunsten von mehr 700-Milliarden-Dollar-Schirm mittragen würde. Der Transparenz und zum Teil auch mehr Regulierung zu Schaden für die amerikanische Volkswirtschaft, wenn werben. man nicht diesen Weg wählen würde, wäre nämlich noch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) viel größer. Man muss nur einmal daran denken, welche Folgen es für die Altersvorsorge in den Vereinigten Staa- Diese Krise – Herr Minister hat darauf hingewiesen – ten hätte, wenn die größte amerikanische Versicherungs- hat ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten, und die firma in die Insolvenz ginge. Vereinigten Staaten sind am härtesten betroffen. Ich sage ganz nüchtern Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten – ich will das in diesem Zusammenhang einmal sagen – ist nach wie (Frank Schäffler [FDP]: Die IKB nicht?) vor so stark, dass die gesamte Verschuldung der Verei- – ich komme auf die Probleme in Deutschland noch zu nigten Staaten im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt sprechen –: Wenn ich Finanzpolitik in den Vereinigten – auf dieses berühmte Verhältnis wird ja immer abgeho- Staaten hätte machen müssen, dann hätte auch ich mich ben – zurzeit immer noch um 65 Prozent liegt. Das ent- für den 700-Milliarden-Dollar-Schirm ausgesprochen. spricht dem Verhältnis in Deutschland. In Japan liegt es Ich sage Ihnen auch, warum. bei 170 Prozent, und dort lebt man auch noch ganz gut damit. Die amerikanische Wirtschaft kann dies also ab. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Jetzt zurück zu Deutschland: Es gibt eine ganze Reihe (B) Herr Kollege, gestatten Sie vorher eine Zwischen- von Gründen, warum Deutschland im Rahmen der Glo- (D) frage der Kollegin Höll? balisierung mit dieser Krise besser fertig wird als andere. Das Universalbankensystem ist schon erwähnt worden. Otto Bernhardt (CDU/CSU): Stellen Sie sich vor: Während in Amerika und Großbri- Gerne. tannien Banken Konkurs gehen, kaufen die beiden gro- ßen deutschen Privatbanken dazu: die eine die Dresdner Bank und die andere eine wichtige Beteiligung an der Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Postbank. Das unterstreicht die Finanzkraft, die sie ha- Herr Bernhardt, nur eine kurze Frage. Ich möchte mit ben. Erlaubnis des Präsidenten heute noch einmal zitieren, und zwar das, was der Vorsitzende des Finanzausschus- Natürlich ist es ein Vorteil, dass es bei uns 1 500 weit- ses, Herr Oswald, CDU/CSU, am 15. Februar 2008 gehend regional tätige Kreditinstitute gibt. Nur, all diese sagte: Fakten zur Heiligsprechung des Dreisäulensystems zu nutzen, dazu bin ich nicht bereit. Ich bin nämlich davon Zur Deregulierung der Finanzmärkte gibt es keine überzeugt, dass wir nicht nur Veränderungen innerhalb Alternative. Sie hat der Wirtschaft und den Bürgern der Säulen brauchen. Wir werden in Kürze sicherlich neue Anlage- und Finanzierungsmöglichkeiten er- auch über eine Veränderung der Grenzen der Säulen öffnet, und sie hat zur Risikostreuung beigetragen. sprechen. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob dies in mei- Ich gehe davon aus, dass, wenn der Finanzausschussvor- ner Fraktion mehrheitsfähig ist, aber in diese Richtung sitzende so etwas verkündet, auch Ihre Politik der letzten wird es mit Sicherheit gehen. Jahre darauf ausgerichtet war. So habe ich es auch erfah- Ein weiterer Vorteil bei uns ist die Langfristfinanzie- ren. Hat sich nun Ihre Haltung zur Regulierung der rungskultur. Alle Kolleginnen und Kollegen im Finanz- Finanzmärkte geändert oder nicht? ausschuss wissen, dass wir diese manchmal sehr massiv (Beifall bei der LINKEN) gegen die EU verteidigen müssen, die dies in der Ver- gangenheit nicht so gesehen hat. Ich glaube, diesen Kampf werden wir jetzt leichter führen können. Otto Bernhardt (CDU/CSU): Zunächst einmal sage ich: Sofern es sich um ein Zitat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- meines sehr geschätzten Kollegen Oswald handelt, soll- neten der SPD) ten Sie ihn fragen. Es gibt einen weiteren Punkt, der für die Stimmung (Lachen bei der LINKEN) im Lande sehr wichtig ist, und den sollte jeder Politiker 19002 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Otto Bernhardt (A) – auch der, der diese Bundesregierung vielleicht nicht bereit, den Prospekt zu lesen. Insofern bleibe ich dabei, (C) mag – parat haben: Wir haben die besten Einlagensiche- dass ich strengere Bestimmungen für diesen Bereich we- rungssysteme der Welt. Der EU-Standard schreibt vor, der national noch international für nicht erforderlich dass 90 Prozent einer Einlage gesichert werden; die halte. Höchstsumme der Sicherung beträgt aber nur 20 000 Euro. All unsere Bankensysteme in Deutschland sichern Pri- Ich komme jetzt dazu, wo unsere Schularbeiten lie- vatkonten hingegen in unbeschränkter Höhe ab. Das gen. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, wir hätten heißt, niemand braucht in Deutschland zur Bank zu ge- alles gut gemacht und dass es bei uns keine Probleme hen, um Geld abzuheben. gäbe. Herr Kollege Schick, Sie verlangen von uns, dass wir Das erste Problem ist angesprochen worden, nämlich den Anleger noch mehr schützen sollen als bisher. Wenn die KfW und die IKB. Natürlich war es ein Fehler, sich heutzutage jemand kritische Papiere kaufen will – ich an der IKB zu beteiligen. Aber es war die Politik, sage es etwas laienhaft –, dann muss er in einem Ge- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aha!) spräch darüber beraten werden. Er muss unterschreiben, dass man ihm gesagt hat, wie risikoreich sein Vorhaben die die KfW zu diesem Schritt gedrängt hat. Wir waren ist. Ich füge hinzu: Wer einigermaßen darüber nach- damals noch nicht so weit in unserem Bewusstsein, dass denkt, dem muss doch klar sein, dass ein Angebot mit 6, es eigentlich nicht schlimm gewesen wäre, wenn ein 7 oder 8 Prozent mit mehr Risiken verbunden ist, wenn Ausländer die IKB gekauft hätte. Damals wollten wir es auf dem Sparkonto nur 3 Prozent und für Festgeld nur dies aber nicht. 4 Prozent Zinsen gibt. Wenn man sich allerdings mit diesem Thema beschäf- (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE tigt, dann muss man auch ehrlich bleiben. Es ist zwar GRÜNEN]: Das müsste auch der Aufsichtsrat richtig, dass der gesamte Schirm für die IKB bei gut der IKB wissen!) 10 Milliarden Euro liegt; aber wir, die Steuerzahler, ha- ben nicht 10 Milliarden Euro, sondern erst 1,2 Milliar- Ich glaube, nirgendwo wird der Konsument so gut ge- den verloren. Es heißt ja nicht, dass wir das ganze Geld schützt wie in Deutschland. Von daher bin ich gegen brauchen; die Papiere, die man übernommen hat, haben noch mehr Vorschriften. Wir glauben an den selbststän- vielleicht in zwei oder drei Jahren einen Wert von dig denkenden Menschen. 50 oder 60 Prozent. Insofern sollte man hier fair vorge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hen. Ich sage auch ganz deutlich: Es war eine richtige neten der SPD) Entscheidung der Bundesregierung, die IKB nicht in die Insolvenz gehen zu lassen. Sonst wäre der Schaden für (B) die deutsche Volkswirtschaft viel größer ausgefallen. (D) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege Bernhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) des Kollegen Schick? Ich spreche eine zweite Baustelle an. Wir haben im deutschen Bankensystem eigentlich nur ein wirkliches Otto Bernhardt (CDU/CSU): Problem, und das sind die Landesbanken; vielleicht Aber selbstverständlich. muss ich gerechter sagen: einige Landesbanken. Der ge- nossenschaftliche Bereich hatte früher auch ein Dutzend Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Spitzenorganisationen und -verbände. Er hat sie der Zeit NEN): entsprechend aufgelöst. Heute hat er noch anderthalb; Herr Kollege Bernhardt, Ihr Kollege Meister hat vor- demnächst wird es nur noch einer sein. Zu meinen, wenn hin davon gesprochen, dass wir auf den Finanzmärkten wir die sieben Landesbanken zusammenschließen, sei mehr Transparenz brauchen. Würde es Ihrer Vorstel- das Problem gelöst, ist nicht richtig. Es ist nicht ihre lung von Transparenz widersprechen, wenn nur dort Ga- Aufgabe, Spitzeninstitut der Sparkassen zu sein, zumal rantie draufsteht, wo Garantie drin ist, und wenn das Bo- sie inzwischen alle schon sehr groß geworden sind und nitätsrisiko eines Emittenten klar ausgewiesen wird? vieles selber machen können. Das heißt, wir müssen ent- Würde es Ihrer Vorstellung von Transparenz widerspre- weder – ich sage das in dieser Brutalität – einen Teil still chen, wenn man gesetzliche Standards schafft, damit die liquidieren, oder wir müssen – auch wenn es der öffent- Anlegerinnen und Anleger auch wirklich wissen, was lich-rechtliche Bereich oder einige nicht hören mögen – sich hinter bestimmten Produkten verbirgt, sodass sie die Teile an den privaten Bereich verkaufen, der seine Auf- Risiken einschätzen können? Ist das nicht auch ein Teil gaben vielleicht damit verbinden kann. Wir stehen hier von Transparenz? allerdings unter einem ziemlichen Zeitdruck, um das klar zu sagen. Otto Bernhardt (CDU/CSU): Natürlich muss man über die zukünftige Organisation Herr Kollege, haben Sie schon mal einen Prospekt ge- der Bankenaufsicht nachdenken. Zweimal habe ich von lesen, den jemand herausgeben muss, wenn er ein Papier diesem Rednerpult gefordert – ich gebe zu, ich war da- auf dem deutschen Markt platzieren will? Diese Pros- mals in der Opposition und nicht in der Regierung –, pekte sind zum Teil mehrere Hundert Seiten dick; von dem Beispiel der Mehrzahl der Länder – nicht aller Län- ihnen gibt es sogar Kurzfassungen. Das Problem ist, dass der – zu folgen und die gesamte Bankenaufsicht auf die viele gar nicht geschützt werden wollen. Sie sind nicht Deutsche Bundesbank zu übertragen. Das war damals Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19003

Otto Bernhardt (A) unser Vorschlag. Die damalige Regierung unter Rot- Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): (C) Grün hat sich für ein anderes Modell entschieden, und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wir haben gesagt, wir warten ab. Nun sind fünf Jahre Über die globale Einordnung der aktuellen Finanzmarkt- vergangen, und ich würde die Bilanz ziehen: So schlecht krise ist schon viel gesagt worden. Ich unterstütze unein- ist das Ganze nicht. Aber angesichts der neuen Heraus- geschränkt die Erklärung des Bundesfinanzministers von forderungen stellt sich die Frage, ob wir nicht vielleicht heute Vormittag. Er hat im Hinblick auf diese Situation doch – ich persönlich tendiere zu dem Vorbild Irlands – auch im vergangenen Jahr einen sehr guten Job gemacht. beschließen, die BaFin unter die Hoheit der Bundesbank zu stellen und dort die Bankenaufsicht zu konzentrieren. Ich halte die Rettung der IKB für richtig, auch wenn Ich denke dabei natürlich auch an Folgendes: Wenn die sie mit erheblichen Steuermitteln verbunden ist. Bis auf Bankenaufsicht bei der Bundesbank konzentriert wird eine Ausnahme gibt es dazu im Hause keinen Dissens. und wir einmal europäische Aufsichtsorgane bekommen, Dadurch ist der Kelch einer Bankenpleite an unserem Fi- dann haben wir gute Chancen, dass die nach Frankfurt nanzmarkt vorbeigegangen. Die Ausfälle für den Staat kommen. Ich bitte, darüber einmal weiter nachzudenken. wären bedeutend höher gewesen, wenn wir die IKB nicht gerettet hätten. In Europa gibt es heute 27 nationale Bankenaufsich- (Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) ten. Wir haben aber 40 Banken in Europa, die in mehre- ren Staaten tätig sind. Vielleicht müssen wir hier als Ich unterstütze den Finanzminister auch in seinem Zwischenschritt eine Gruppenaufsicht einziehen. Aber heute hier vorgelegten Achtpunkteplan. Insbesondere ich schließe nicht aus, dass am Ende zumindest für die in unterstütze ich ihn in seiner klaren Ansage, keine Steuer- mehreren Ländern tätigen Banken doch eine europäische mittel des Bundes als Zuschuss an Landesbanken zu Aufsicht steht. geben. Dies muss deutlich sein. Die Landesregierungen, die die Aufsicht über ihre Landesbanken haben, müssen Ich will noch zwei Argumente nennen, die dafür spre- ihre Verantwortung wahrnehmen. Ich hoffe gleichwohl, chen, die Aufsicht bei der Bundesbank zu konzentrieren: dass es nicht zu dem schlimmsten Fall kommt. Wenn wir in einer Krise Geld brauchen, liquide sein müssen, kann das nur die Bundesbank machen. Die Bun- Es gab die Anfrage, ob sich die Bundesrepublik an desbank ist im Gegensatz zur BaFin mit den anderen No- dem Rettungspaket der Amerikaner beteiligen will. Es tenbanken vernetzt, insbesondere mit der Europäischen ist gut, dass es auch da eine klare Absage gab. Die Feh- Zentralbank. Auch hier haben wir also Schularbeiten zu ler sind in den USA gemacht worden. Letztendlich müs- machen, um das klar zu sagen. sen dort die Probleme gelöst werden. Ich will mich im Folgenden auf die Kreditanstalt für (B) Im Tagesgeschäft müssen wir allerdings erst einmal Wiederaufbau konzentrieren, für die das Parlament die (D) sehen, wie wir die aktuelle Finanzmarktkrise überwin- direkte Verantwortung trägt. Wir haben gestern im Haus- den. Auch ich wage nicht mehr die Prognose, dass wir haltsausschuss lange und intensiv mit dem neuen über den Berg sind und dass die Krise in Kürze beendet Vorstandsvorsitzenden diskutiert. Es geht um das Betei- sein wird; ich bin vorsichtig geworden. Ich wage auch ligungsmanagement und in diesem Zusammenhang ins- keine Aussage mehr darüber, wie groß die Verluste end- besondere um die Frage, wie es dazu kommen konnte, gültig sein werden. Wir haben festgestellt, dass es in der dass man die Risiken bei der IKB nicht gesehen hat. Welt zurzeit etwa – wir können es nicht nachrechnen – Dies ist aufzuklären. Vor allen Dingen muss es Verände- 400 Milliarden Euro, 550 Milliarden Dollar sind. Es rungen in der Struktur der Aufsicht geben, damit solche heißt, dass 10 Prozent, sprich: 40 Milliarden Euro, da- Mängel abgestellt werden können. von in Deutschland angekommen sein sollen. Aber – auch das gehört zur Argumentation – diese 40 Milliar- den Euro sind noch kein Ausfall. Es sind zurzeit zu ei- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nem erheblichen Teil Buchverluste. Wie groß die Aus- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des fälle sein werden, wissen wir nicht. Das sind Bereiche, Kollegen Schui von der Linksfraktion? wo wir unsere Schularbeiten machen müssen. Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Ich stelle abschließend fest: Das Zusammenspiel Ja, bitte sehr. zwischen Bundesregierung, Bundesbank und BaFin bei der Lösung der aktuellen Finanzkrise, die ihre Ursa- Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): chen nicht in Deutschland hat, war hervorragend. Wir sollten nicht so miesepetrig sein und nur kritisieren. Sie haben gesagt, dass Sie sich damit einverstanden Vielmehr glaube ich, die Bundesregierung, die Bundes- erklären, dass sich Finanzminister Steinbrück gegen eine bank und die BaFin haben von uns allen ein Danke- Beteiligung an dem amerikanischen Rettungspaket in schön verdient. Höhe von 700 Milliarden US-Dollar ausspricht. Ist Ih- nen bekannt, dass die US-Regierung einige wirksame (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Druckmittel hat, um Deutschland und andere Länder mit bedeutenden Zentralbanken an der Finanzierung der Kredite, die die USA aufnehmen müssen, zu beteiligen? Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Erstes Druckmittel: Wenn diese 700 Milliarden US-Dol- Das Wort hat nun Kollege Carsten Schneider für die lar auf den Markt gedrückt werden, kann das zu einer si- SPD-Fraktion. gnifikanten Abwertung des Dollars führen. Wer will das 19004 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Herbert Schui (A) schon? Zweites Druckmittel: Es ist durchaus möglich, gen und einmal zu schauen, was wir dort eigentlich im (C) dass deutsche Banken, die in den USA operieren und Obligo haben. Das ist nicht die Aufgabe von einzelnen faule Kredite im Portefeuille haben, keine Geschäfte mit Vorständen; das ist vor allen Dingen die Aufgabe des dieser 700-Milliarden-Agentur machen können. Was ge- Vorstandsvorsitzenden. denkt die SPD-Fraktion, was gedenkt der Bundes- minister der Finanzen dann zu tun? (Dirk Niebel [FDP]: Der ist doch erst seit drei Wochen im Amt!) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Für mich ist nicht abschließend geklärt, ob er nicht für Für den Finanzminister kann ich nicht sprechen. Aber das gute Geld, das wir ihm bezahlen, auch am Wochen- für meine Person kann ich Ihnen sagen, dass meine Aus- ende einmal in den Ticker schauen und seine Kollegen sage gilt: keine Steuermittel aus Deutschland zur Ret- anrufen kann, um eine Krisensitzung einzuberufen. Dies tung von amerikanischen Banken. Das ist doch logisch. gilt es noch aufzuklären. Ich sehe da insbesondere den Etwas anderes würde niemand goutieren. Jeder muss für Verwaltungsratsvorsitzenden Glos in der Verantwortung, seinen Bereich die Verantwortung wahrnehmen. der ja den Eindruck erweckt hat, als sei er für die Bank nicht zuständig, zumindest wenn man die Aussagen vom (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Richtig!) Unternehmertag der Union für voll nehmen soll. Die amerikanische Wirtschaft hat enorm davon profi- (Frank Schäffler [FDP]: Wer war davor Ver- tiert, dass in den letzten Jahren eine Blase aufgrund nied- waltungsratsvorsitzender?) riger Zinsen und laxer Kreditvergaben entstanden ist. Wir sind nicht bereit, dafür die Verantwortung zu über- Wir brauchen bei der KfW sicherlich Änderungen. nehmen. Das ist ganz klar. Ich rate aber dazu, die KfW als wichtige Förderbank des Bundes in ihren Festen zu erhalten und zu stärken; das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ist unabdingbar. Was die Kapitalmarktgeschäfte betrifft, Herr Lafontaine, zu unserer Verantwortung gehört na- so halte ich es für notwendig, diesen Bereich der Auf- türlich auch, die Rechte, die man als Parlamentarier be- sicht nach dem KWG, also der Bundesbank und der kommt – dazu gehört das Kontrollrecht als Mitglied des BaFin, zu unterstellen, aber nicht, wie es in Teilen der Verwaltungsrates der KfW; soweit ich weiß, sind Sie Unionsfraktion zu hören ist, das Fördergeschäft. Das dort Mitglied –, auch wahrzunehmen. würde zu einer deutlichen Beeinträchtigung des Förder- volumens, letztendlich unseres Geschäftes, wenn wir (Beifall der Abg. Nina Hauer [SPD]) Darlehen zur CO2-Gebäudesanierung und auch Global- Sie können ja einmal sagen, wie oft Sie an diesen Sitzun- darlehen an Banken geben, führen und findet nicht (B) gen teilgenommen haben. meine Unterstützung. (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (Beifall bei der SPD) Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]) Ich denke aber auch, dass wir als Parlament das Be- Sie nehmen dieses Recht nicht wahr. Herr Kollege teiligungscontrolling verbessern müssen. Eigentlich Stiegler hat eben schon darauf hingewiesen, dass Sie als sind wir im Haushaltsausschuss dafür zuständig. Oft- Finanzminister geflüchtet sind und jetzt als Parlamenta- mals bekommen wir aber gar nicht die erforderlichen In- rier Ihre Rechte nicht wahrnehmen, aber große Reden formationen, weil uns bei Beteiligungen an GmbHs oder schwingen. Das ist unsolide und – ich würde fast schon Aktiengesellschaften gesagt wird, dies sei aktienrecht- sagen – dreist. lich nicht möglich. Ich sehe das mitnichten so. Ich denke, wir müssen die Parlamentsrechte bei den Beteili- (Beifall bei der SPD) gungen, die wir kontrollieren, die wir besitzen und von Ich möchte auf die KfW zurückkommen und damit deren Erträgen und – im nicht zu wünschenden Fall – auf die nicht zu akzeptierende Panne – ich weiß gar auch deren Verlusten wir betroffen sind, noch stärker un- nicht, ob man es nur als Panne bezeichnen kann – bei der termauern. Ich denke, das sollten wir noch in dieser Le- Überweisung von etwa 350 Millionen Euro im Rahmen gislaturperiode regeln. eines Swap-Geschäfts an Lehman Brothers am Montag Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft vergangener Woche. Wir haben gestern in geheimer Sit- die Portfolios an Anlageprodukten, die es seitens des zung intensiv darüber diskutiert. Aber ich will zumindest Bundes gibt. Jeder Bürger kann in Bundesschatzbriefe meine Bewertung sagen. als einen sicheren Hafen investieren und beim Staat di- Wenn Sie die Presse in der Woche vom 8. bis rekt seine Gelder anlegen. Das ist sicher, das ist auch ei- 13. September verfolgt haben, so wissen Sie, dass zu Be- nigermaßen gut verzinst. Wir haben hier im Parlament ginn Lehman Brothers in großen Schwierigkeiten war. ein Gesetz verabschiedet, diese Privatkundenstrategie Dann sackte der Aktienkurs jeden Tag weiter ab, um der Finanzagentur auszubauen, zwar mit einem unter- 90 Prozent zum Schluss. Am Freitag war klar – ich habe durchschnittlichen Volumen, aber es ging darum, dies die Meldungen dabei –, dass es kein Rettungspaket und attraktiv zu machen. keinen Rettungsschirm der amerikanischen Regierung Nun haben wir einen Dissens mit der Unionsfraktion, geben wird. was insbesondere die Tagesgeldanleihen und andere Für mich ist unerklärlich, wie es in einer großen Punkte betrifft. Ich kann nicht erkennen, dass es ein Bank, einer Staatsbank nicht möglich ist, dies zu verfol- Nachteil für die Banken, geschweige denn für den Staat Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19005

Carsten Schneider (Erfurt) (A) ist, bei seinen Bürgern direkt die Kredite aufzunehmen, Das liegt nicht nur daran – das hat Herr Bernhardt ge- (C) die er in Form von Einlagen haben will. Auch für die sagt –, dass wir insgesamt solide aufgestellt sind, son- Bürger ist es kein Nachteil, einen sicheren Hafen zu ha- dern auch daran, dass wir Einlagensicherungssysteme ben, in dem sie ihr Geld investieren können und gute haben – Haftungsverbünde bei den Sparkassen und Ge- Zinsen bekommen. Ich hoffe, dass sich die Unionsfrak- nossenschaftsbanken sowie ein Einlagensicherungssys- tion hier noch bewegt, um diese guten Produkte, die si- tem bei den privaten Banken, die im Bundesverband cher sind und uns allen helfen, letztendlich auf den Weg deutscher Banken organisiert sind –, die alle weit über zu bringen, und sich nicht querstellt. das hinausgehen, was auf europäischer Ebene vorge- schrieben ist. Jeder, dessen Vermögen bei der Bank ein Das sind Punkte, um neben den Anmerkungen, die halbwegs normal hohes Vermögen nicht übersteigt, ist der Finanzminister heute gemacht hat, das Vertrauen in voll abgesichert. Bis zu 30 Prozent des haftenden Eigen- das Finanzsystem und seine Stabilität noch stärker zu kapitals der jeweiligen Bank sind für die Einlage eines befördern und die Regulierungsmaßnahmen, die bei den jeden Kunden zur Haftung da. Das heißt, selbst wenn Sie G-8-Gipfeln von Bundesminister Steinbrück angestoßen bei einer kleinen Bank, die nicht mehr als wurden, letztendlich auch umzusetzen. Die Chancen 5 Millionen Euro Eigenkapital hat, Kunde sind, sind sind heute wahrscheinlich so gut wie nie zuvor. Einlagen von bis zu anderthalb Millionen Euro für jeden Vielen Dank. einzelnen Kunden durch diesen Fonds abgesichert. Das ist in der Welt einmalig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich sage aber auch: Wir dürfen uns nicht damit begnü- gen, dass wir in Deutschland – zum Glück – einigerma- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ßen geschützt sind. Als Exportweltmeister, als eine Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem Volkswirtschaft, die wie keine andere mit dem Rest die- Kollegen Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion, das Wort. ser Welt verflochten ist, brauchen wir ein funktionieren- des internationales Finanzwesen. Deswegen ist es er- (Beifall bei der SPD) freulich, dass fast alle Fraktionen unterstützt haben, was der Bundesfinanzminister gesagt hat: Wir brauchen eine Jörg-Otto Spiller (SPD): Rückbesinnung auf Regeln, die den Markt regulieren. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Das heißt nicht, dass der Markt ständig eingeengt wird. Herren! Lassen Sie mich versuchen, am Ende dieser gut Bei jedem ordentlichen Spiel gibt es nun einmal Spielre- dreistündigen Debatte ein Fazit zu ziehen. Meine erste geln. Wer käme denn beim Sport auf die Idee, dass es Aussage ist: Ich bin froh, dass Peer Steinbrück unser nur die Regel „Catch as catch can“ gibt? Es muss doch (B) Bundesfinanzminister ist. ein Regelwerk geben, das für alle Teilnehmer gilt. (D) (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Er hat eine brillante, umfassende Analyse der internatio- Das meiste ist dazu schon gesagt worden. Produkt- nalen Finanzkrise gebracht, und er hat gezeigt, dass er transparenz gehört dazu. Herr Kollege Dr. Schick, es klare Positionen hat und dass er willens ist, auch in inter- hat mich ein bisschen gewundert, dass Sie sich für un- nationalen Verhandlungen verantwortungsvoll zu agie- durchsichtige Produkte starkmachen. ren. Ich unterstreiche: Er hat, wie die Bundesregierung insgesamt, gemeinsam mit der Bundesbank, mit der (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Europäischen Zentralbank und mit der BaFin Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich will sie durchsichtig machen, und (Dirk Niebel [FDP]: Schade, dass er das Lob Sie wollen das nicht! Das ist der Punkt!) gar nicht mitbekommt!) wesentlich dazu beigetragen, die Krise in Deutschland Ich finde, man kann den deutschen Anlegern nicht raten, zu begrenzen. Das war ein gutes Handeln. etwas zu kaufen, das kein Mensch versteht. Das ist schon für Banker nicht ratsam; aber dass Sie das auch noch (Beifall bei der SPD sowie des Abg. dem Publikum schmackhaft machen wollen, hat mich Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]) ein Stück weit gewundert. Auch wenn es das gute Recht der Opposition ist, an dem (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE einen oder anderen Punkt zu mäkeln, war das insgesamt GRÜNEN]: Offensichtlich hat Ihr Kollege das richtig. auch nicht verstanden!) Ich unterstreiche, was mehrere Vorredner gesagt haben, Zu diesem Thema gehört auch – das hat der Kollege zuletzt Otto Bernhardt: Das deutsche Bankensystem ist Stiegler angesprochen – ein Nachdenken über Bilanzie- insgesamt gesehen, so wie es aufgestellt, wie es konstru- rungsregeln. Ist es wirklich vernünftig, die bewährten iert ist, solide und steht sehr viel besser da als viele an- Regelungen, die wir seit hundert Jahren im Handelsge- dere. Mit Blick auf unsere Zuhörer in diesem Saal und die setzbuch haben, zum Beispiel das Niederstwertprinzip, Damen und Herren, die die Debatte im Fernsehen verfol- durch schwankende Bewertungen von Aktiva zu erset- gen, sage ich: In Deutschland braucht sich niemand Sor- zen? In der guten Phase würde dann doch alles nach gen zu machen um seine Einlagen bei einer Bank. oben und bei einer Verschlechterung alles nach unten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) übertrieben. Darüber muss man nachdenken. 19006 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Jörg-Otto Spiller (A) Ich bin auch froh – das ist hier noch nicht so zur Spra- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte (C) che gekommen; das will ich einbringen –, dass wir den Pothmer, Rainder Steenblock, , Euro haben. Ich möchte nicht wissen, wie sich die weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- internationale Finanzkrise auf Deutschland ausgewirkt NIS 90/DIE GRÜNEN hätte, wenn wir den Währungsverbund in Europa nicht Abschottungspolitik beenden – Volle Arbeit- hätten. nehmerfreizügigkeit ab 2009 herstellen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) – Drucksache 16/10237 – Wir hätten wilde Spekulationen gehabt, im Zweifelsfall Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) hätten wir uns an den Devisenmärkten riesige Probleme Ausschuss für Wirtschaft und Technologie geschaffen. Ich kann nur sagen: Europa steht auch des- Ausschuss für Bildung, Forschung und wegen besser da. Dies wird uns, finde ich, legitimieren, Technikfolgenabschätzung das europäische Gewicht in die neue internationale Re- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gelung von Finanzmärkten einzubringen, um das, was ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten auch der Bundesfinanzminister genannt hat, zu errei- Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Gisela Piltz, chen, nämlich die Finanzmärkte neu zu zivilisieren. Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der Eine letzte Bemerkung – Kollege Bernhardt hat das Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines schon angesprochen –: Natürlich müssen wir auch da- Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Steu- rüber nachdenken, wie wir die Bankenaufsicht im Zuge erung und Begrenzung der Zuwanderung und der Europäisierung besser aufstellen. Ich will allerdings zur Regelung des Aufenthalts und der Integra- auf Folgendes hinweisen: Die BaFin, die Bundesanstalt tion von Unionsbürgern und Ausländern (Zu- für Finanzdienstleistungsaufsicht, ist für das ganze wanderungsgesetz) Spektrum von Finanzmärkten einschließlich Versiche- – Drucksache 16/9091 – rungen zuständig; das ist bei der Bundesbank nicht so. Überweisungsvorschlag: Das würde ich nicht gering schätzen. Ich möchte darauf Innenausschuss (f) hinweisen, dass die Bundesbank schon heute an der Ban- Auswärtiger Ausschuss kenaufsicht stark beteiligt ist. Dazu sage ich nur: Beide Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend müssen stärker werden. Wir müssen uns überlegen, wie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe wir der Bundesbank und der BaFin helfen können, noch ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid effektiver zu werden. Denn eine wohlfunktionierende Wolff (Rems-Murr), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk und starke Finanzaufsicht ist ein Standortvorteil. Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (B) (D) der FDP (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und un- beschränkt in der Bundesrepublik Deutsch- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: land gewähren Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 16/10310 – Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Überweisungsvorschlag: Drucksache 16/10308 soll überwiesen werden zur feder- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) führenden Beratung an den Finanzausschuss und zur Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Mitberatung an den Haushaltsausschuss, den Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen ist die Überweisung so beschlossen. Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie tarischen Staatssekretär Peter Altmaier das Wort. die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:

3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär beim Bundes- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur arbeits- minister des Innern: marktadäquaten Steuerung der Zuwande- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Be- rung Hochqualifizierter und zur Änderung darf an gut ausgebildeten und gut qualifizierten Fach- weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen kräften ist in den letzten Jahren stetig gestiegen, und (Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz) zwar nicht zuletzt dank der guten Wirtschaftsentwick- lung seit Amtsantritt dieser Bundesregierung, lieber Herr – Drucksache 16/10288 – Kollege Wolff, wie jedermann anhand der Zahlen fest- Überweisungsvorschlag: stellen kann. Innenausschuss (f) Rechtsausschuss (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Dieser Bedarf an Arbeitskräften wächst weiter und Technikfolgenabschätzung wird auch unabhängig von konjunkturellen Schwankun- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19007

Parl. Staatssekretär Peter Altmaier (A) gen in Zukunft weiterwachsen, wie ein Blick auf die den und der Zugang zu einer sich daran anschließenden (C) demografische Entwicklung zeigt. Deshalb muss eine Beschäftigung ohne Vorrangprüfung ermöglicht wird. verantwortliche Bundesregierung vorausschauend die Sie können aus diesen Punkten ersehen, dass wir uns Weichen dafür stellen, dass die notwendigen Fachkräfte tatsächlich um maßgeschneiderte und differenzierte Lö- dem Arbeitsmarkt auch künftig zur Verfügung stehen. sungen bemüht haben. Die Politik der Bundesregierung beruht auf drei Säu- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len, nämlich erstens darauf, die einheimischen Arbeits- NEN]: Bürokratisch! Intransparent!) kräfte so zu qualifizieren und so weiterzubilden, dass sie von den großen Chancen, die sich bieten, besser profitie- Darüber hinaus ist uns wichtig, dass durch das vorlie- ren können. Das gilt zweitens auch für diejenigen, die gende Gesetz die allgemeinen ausländer- und migrations- schon lange hier sind und in vielen Fällen aufgrund man- politischen Ziele der Bundesregierung nicht konterkariert gelnder Bildungschancen und mangelnder Förderung werden. Wir waren in den letzten Jahren ausgesprochen nicht imstande waren, sich so in den Arbeitsmarkt einzu- erfolgreich bei der Bekämpfung der illegalen Migra- gliedern, wie dies im Interesse unserer wirtschaftlichen tion und des Asylmissbrauchs, sowohl im nationalen Entwicklung geboten ist. Drittens kann die Gewinnung als auch im europäischen und im internationalen Be- ausländischer Facharbeitskräfte Versäumnisse der inlän- reich. Aus Sicht des Bundesinnenministeriums ist es dischen Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen nie wichtig, dass dies auch in Zukunft so bleibt; denn es ist ganz ersetzen, sondern sie ist allenfalls eine wichtige Er- die Voraussetzung dafür, dass der Handlungsspielraum gänzung dieser Politik; nicht mehr, aber auch nicht weni- im Bereich der Migrationspolitik, den wir uns in den ger. letzten Jahren eröffnet haben, auch erhalten bleibt. Des- halb wollen wir alles vermeiden, was in Zukunft wie ein In diesen Gesamtansatz fügt sich der Entwurf des Pull-Faktor wirken könnte, was dazu beitragen könnte, Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzes ein. Es geht bei erfolgreiche Maßnahmen der Missbrauchsbekämpfung diesem Entwurf in erster Linie um die Bedürfnisse des aus der Vergangenheit zu konterkarieren. Daran muss Arbeitsmarktes und der Wirtschaft. Das unterscheidet sich auch die Regelung in dem in Aussicht genommenen ihn von früheren Vorhaben wie beispielsweise Bleibe- § 18 a Aufenthaltsgesetz messen lassen. rechtsregelungen oder Resettlementregelungen, über die (Beifall bei der CDU/CSU) bisweilen ebenfalls diskutiert wird. Aus diesem Grund sieht der Entwurf zum Beispiel Wir haben mit diesem Vorschlag eine umfassende, vor, dass eine Aufenthaltsverfestigung dann ausscheidet, eine maßgeschneiderte Lösung vorgelegt, die insbeson- wenn der Betreffende zuvor die Ausländerbehörden ge- (B) dere intelligent gestaffelt ist und sich möglichst passge- täuscht hat, wenn er Bezüge zu extremistischen Organi- (D) nau an den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes sationen hat oder wenn er substanziell strafrechtlich in orientiert. Das heißt, sie soll nicht auf Kosten der Be- Erscheinung getreten ist. All dies sind keine bürokrati- schäftigungsmöglichkeiten einheimischer Arbeitnehmer schen Spitzfindigkeiten; vielmehr ist es notwendig, da- gehen, sondern sich auf diejenigen Segmente im Ar- mit die neue Regelung trägt und auch gesellschaftliche beitsmarkt konzentrieren, in denen Bedarfslücken beste- Akzeptanz findet. hen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen die Position unseres Landes im weltwei- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf leisten wir ei- ten Wettbewerb um die besten Köpfe stärken. Dem nen besonnenen Beitrag zu einer besseren Deckung des wird der vorliegende Entwurf auch gerecht. Er sieht im Fachkräftebedarfs in Deutschland und damit auch zur Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz insbesondere folgende Nutzung von Wachstumspotenzialen und zur Schaffung Punkte vor: erstens: die Senkung der Einkommens- von weiteren Arbeitsplätzen. Es ist eine Regelung, die grenze für Hochqualifizierte, die eine Niederlassungser- nicht kurzfristig, sondern auf die Zukunft angelegt ist laubnis anstreben, von derzeit über 86 000 Euro auf rund und die eine positive Wirkung entfalten kann und soll. 63 000 Euro; zweitens: die verstärkte Nutzung im Inland Vielen Dank. vorhandener Qualifikationspotenziale durch Erteilung eines neuen Aufenthaltstitels, der beruflich Qualifizier- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ten einen sicheren Aufenthaltsstatus ermöglicht – ein wichtiger Schritt zu einer verlässlichen, berechenbaren Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kalkulationsgrundlage für viele Unternehmen in unse- Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Frak- rem Land. Drittens werden wir mit den begleitenden tion. Verordnungsänderungen des BMAS auch dafür sorgen, dass der Zugang für Akademiker aus den neuen EU- (Beifall bei der FDP) Mitgliedstaaten durch Verzicht auf den Vermittlungsvor- rang erleichtert wird. Wir werden ermöglichen, dass Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Akademiker aus Drittstaaten Zugang zum Arbeitsmarkt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zu- haben, soweit für die Beschäftigung keine inländischen wanderungspolitik der Bundesregierung aus CDU/CSU Arbeitssuchenden zur Verfügung stehen. Außerdem wer- und SPD ist Stückwerk. Die groß als Aktionsprogramm den wir sicherstellen, dass Absolventen deutscher Aus- angekündigte Initiative ist ein Flickenteppich. Sie haben landsschulen für jede Berufsausbildung zugelassen wer- es gerade gemerkt: Der Staatssekretär hatte schon ein 19008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) bisschen Schwierigkeiten, die einzelnen Punkte differen- dringend ablassen, bei der EU-Kommission eine erneute (C) ziert darzustellen. Verlängerung der Einschränkung bis 2011 anzumelden. (Dirk Niebel [FDP]: Er kennt sie gar nicht!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese Initiative wird den Bedürfnissen unseres Landes nicht gerecht. Wieso differenzieren Sie für diesen kurzen Zeitraum von zwei Jahren noch mal nach Akademikern und anderen? (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb Das schafft Bürokratie für Unternehmen, Unsicherheit [FDP]: Mutlos! Ohne Saft und Kraft!) bei den Arbeitnehmern und Unverständnis bei unseren Der vorliegende Gesetzentwurf zur Steuerung der Ar- Nachbarn. beitsmigration bleibt weit hinter der Faktenlage und dem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Diskussionsstand zurück. Die Bundesregierung bleibt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) halbherzig, wenn es um erhebliche Zukunftschancen für unsere Gesellschaft und auch für die deutsche Wirt- Vielmehr ist die Öffnung des deutschen Arbeitsmark- schaft geht. Die vorgesehene Öffnung des deutschen Ar- tes für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten erfor- beitsmarktes für Akademiker aus allen EU-Staaten, die derlich. Großbritannien, liebe Kollegen von der CDU/ Senkung der Mindesteinkommensgrenze und der verein- CSU, profitiert von der Öffnung mit einer niedrigen Ar- zelte Verzicht auf die Vorrangprüfung sind Minimal- beitslosigkeit. Auch Frankreich will diesem Vorbild fol- schritte, gen. Dagegen will unsere Bundesregierung eine falsche Regelung jetzt auch noch verlängern. Das ist grotesk. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!) (Beifall bei der FDP) die zwar in die richtige Richtung gehen, aber wenig brin- gen werden. Ich möchte ganz bewusst noch einen weiteren europa- (Beifall bei der FDP – Rüdiger Veit [SPD]: politischen Aspekt hinzufügen. Die Arbeitnehmerfreizü- Warten wir es doch mal ab!) gigkeit ist einer der Grundpfeiler der Europäischen Union. Gerade im Hinblick auf die europäische Ver- Lieber Herr Staatssekretär, mit dieser Aktion werden Sie ständigung ist deshalb diese Abschottungspolitik kon- wieder nicht die Fachkräfte und die Menschen bekom- traproduktiv. Eine Politik der guten Nachbarschaft und men, die wir in Deutschland dringend brauchen. Partnerschaft in Europa darf die Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten der EU nicht länger diskriminie- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren. (B) NEN]: Das stimmt leider!) (D) (Beifall bei der FDP) Die grundsätzliche Beibehaltung der bürokratischen Vorrangprüfung für Hochqualifizierte bleibt ein Pro- Wir sollten unseren neuen europäischen Partnern mit Of- blem. Einmal soll die Vorrangprüfung gelten, ein ande- fenheit begegnen, nicht uns von ihnen abschotten und ih- res Mal nicht. ren Bürgern misstrauen. (Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär: (Beifall bei der FDP) Maßgeschneidert!) Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wir Wie sollen gerade kleine und mittelständische Unterneh- uns weiterentwickeln können und hierfür die entspre- men so ihre Personalplanung betreiben? chenden Kapazitäten haben. Dazu müssen wir das Pro- blem des Fachkräftemangels dringend beheben. Das (Beifall bei der FDP) scheint bei der Bundesregierung zumindest tendenziell Sie sind in diesem Punkt von der deutschen Arbeitsver- angekommen zu sein. Gewerkschaften und Arbeitgeber- waltung abhängig. Herzlichen Glückwunsch! Freies Un- verbände sind sich aber einig, dass der stärkere Zuzug ternehmertum geht anders. von Fachkräften nach Deutschland über ein Punkte- system ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (Beifall bei der FDP) bei uns ist; Auch die nach wie vor zu hohen Einkommensgrenzen (Beifall bei der FDP) sind Hürden, die dem Hochtechnologiestandort Deutsch- land insgesamt und unserem Mittelstand schaden. Vor denn der Einsatz jeder weiteren Fachkraft zieht weitere allem aber werden die wenigen und unzureichenden Ver- Arbeitsplätze nach sich. besserungen durch eine geradezu reaktionäre Politik im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU konter- Gebraucht werden nicht nur Hochqualifizierte, wie es kariert. die Bundesregierung teilweise vorsieht, sondern auch Facharbeiter und Saisonarbeitskräfte. In der Landwirt- (Beifall bei der FDP) schaft beispielsweise trifft die weitere bürokratische Ver- schiebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf komplettes Eine weitere Beschränkung der EU-Arbeitnehmer- Unverständnis. Die Bundesregierung bedient hier ledig- freizügigkeit für Arbeitnehmer aus neu beigetretenen lich ungerechtfertigte Ängste. Mitgliedstaaten in die Bundesrepublik ist kontraproduk- tiv. Die Bundesregierung muss von ihrem Vorhaben (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19009

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) Die Erfahrungen aus den anderen EU-Staaten zeigen, Meine Damen und Herren, die demografische Ent- (C) dass eine überbordende Zuwanderung auf den deutschen wicklung lässt erwarten, dass wir unseren wirtschaftli- Arbeitsmarkt nicht erfolgen wird. Hier wäre die Bundes- chen Standard mittelfristig nicht werden halten können, regierung in der Pflicht, die Bevölkerung wahrheitsge- wenn wir uns nicht für die Zuwanderung qualifizierter treu aufzuklären, anstatt die Angstmache durch Verlän- Fachkräfte öffnen. Wie am Ausländerrecht nach wie vor gerung der Übergangsregelungen zu verstärken. Ohne deutlich wird, will die Bundesregierung eigentlich keine ein einheitliches System droht Deutschland den Wettbe- gesteuerte Zuwanderung. werb um die klügsten Köpfe zu verlieren. Dieses punk- Die FDP hat ein Gegenmodell zu dieser restriktiven tuelle Herumwursteln, Herr Staatssekretär, ist kein ein- Politik vorgelegt. Wir brauchen ein Punktesystem, mit heitliches System. Aber anstatt die bewusste Gestaltung dem die Zuwanderung nach klaren Kriterien gesteuert dieser Politik beherzt in die eigenen Hände zu nehmen, wird und mit dem auch unsere Interessen und unsere Er- wird ein Verschiebebahnhof nach Brüssel organisiert. wartungen an die Zuwanderer klar definiert werden. Die Idee, mit der Bluecard Hochqualifizierte nach Europa zu holen, ist grundsätzlich gut und richtig. Doch (Beifall bei der FDP) keine Initiative aus Brüssel entbindet uns von der Dabei spielen vor allem die Qualifikation, die berufliche Pflicht, zu Hause unsere Hausaufgaben zu machen. Erfahrung, das Alter und die Kenntnisse der deutschen (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Sprache eine große Rolle. Entscheidend sind die Fragen: Wen wollen wir nach Deutschland einladen? Wer kann DIE GRÜNEN) unsere Gesellschaft voranbringen? Durch europäische Regelungen wird der Wettbewerb Für die Menschen, auf die dies zutrifft, brauchen wir in Europa steigen. Mit den halbherzigen Vorschlägen der eine Willkommenskultur, die es Hochqualifizierten und Bundesregierung verlieren wir gerade gegenüber unse- Fachkräften aus dem Ausland erleichtert, sich für ren EU-Nachbarn weiter an Boden. CDU, CSU und SPD Deutschland zu entscheiden. Die Bundesregierung will vergießen allerdings Krokodilstränen, beklagen sich steuern. Sie steuert aber mit stotterndem Motor und fährt über die Eurokratie in Brüssel und schieben der EU den einen Zickzackkurs. Deutschland braucht nicht das Schwarzen Peter für eigene Versäumnisse zu. Das ist bil- angstgeleitete zuwanderungspolitische Stückwerk von lig. CDU, CSU und SPD, sondern eine moderne, klare und (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: nachvollziehbare Zuwanderungssteuerung aus einem Darüber kann auch kein Stoiber hinwegtäu- Guss. schen!) Vielen Dank. (B) Heute tagt der Rat der EU-Innen- und -Justizminister. (Beifall bei der FDP) (D) Es wäre gut, wenn aus Berlin ein klares Signal für eine kompetente nationale Zuwanderungssteuerung käme. Da Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: die EU-Minister auch die Flüchtlingspolitik beraten, Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Frak- möchte ich hinzufügen: Die Zuwanderung aus huma- tion. nitären Gründen muss im Fokus der Migrationspolitik bleiben. Wir werden nicht alle Probleme der Welt inner- (Beifall bei der SPD) halb unserer Landesgrenzen lösen können. Vor akuten Verfolgungsschicksalen dürfen wir aber nicht die Augen Josip Juratovic (SPD): verschließen. Im Einzelfall ist hier ein hohes Maß an Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen Verantwortungsbewusstsein erforderlich. Außerdem muss und Kollegen! Die aktuelle Entwicklung auf dem man viele Maßnahmen, manchmal auch gut gemeinte Arbeitsmarkt ist positiv. Die Arbeitslosigkeit ist mit Maßnahmen, kritisch hinterfragen, damit sie nicht kon- 3,2 Millionen arbeitslosen Menschen so gering wie seit traproduktiv wirken. 15 Jahren nicht mehr. Es ist ein großer Erfolg, dass wir die Arbeitslosigkeit durch die Arbeitsmarktreformen der (Beifall bei der FDP) Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder senken Ein erfolgreiches Instrument für die kritische Prüfung konnten. migrationspolitischer Maßnahmen ist die Härtefallkom- (Dirk Niebel [FDP]: Warum habt ihr sie dann mission. Die FDP hat die Aufhebung der Befristung der zurückgedreht?) Regelungen zu dieser Kommission gefordert. Leider ist die Zahl der Arbeitslosen aber immer noch (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das viel zu hoch, vor allem unter den Geringqualifizierten. passiert sowieso!) Wir Politiker stehen in der Pflicht, die Rahmenbedingun- gen zu schaffen, damit alle Arbeitsuchenden die Chance Ich begrüße nachdrücklich, dass sich jetzt auch die Bun- auf eine Arbeitsstelle bekommen. desregierung diesen Vorschlag zu eigen gemacht hat. Wir haben momentan wohl noch keinen flächende- (Beifall bei der FDP – Stephan Mayer [Alt- ckenden Fachkräftemangel zu verzeichnen. Klar ist aber: ötting] [CDU/CSU]: Der Antrag hat sich erle- Wir brauchen mehr qualifizierte und hochqualifizierte digt! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sollte Fachkräfte, um Wachstum und Beschäftigung auch die Regierung öfter tun!) für die Zukunft zu sichern. – Das ist richtig. (Beifall bei der SPD) 19010 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Josip Juratovic (A) Für uns Sozialdemokraten hat dabei die Ausschöpfung (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) des heimischen Arbeitsmarktes Vorrang. Große Poten- NEN]: Dann reden Sie einmal mit Ihrem ziale sehen wir bei der Jugend, bei den Frauen, den Älte- Koalitionspartner!) ren und den in Deutschland lebenden Migranten. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Weg ist frei (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dafür, diesen Menschen einen besseren Status zuzuer- NEN]: Die darf man aber nicht gegeneinander kennen. Wieso tun wir das? – Wir haben in diese Men- ausspielen!) schen investiert: in ihre Integration und ihre Bildung. Daher muss es auch selbstverständlich sein, dass sie hier Der Ausbildungsbonus, der Ausbau der Ganztagsbe- bei uns in Deutschland auch arbeiten dürfen. treuung und die Initiative „50 plus“ sind Maßnahmen, mit denen wir unseren Fachkräftebedarf decken wollen. Doch auch das Potenzial der bereits in Deutschland Diesen Maßnahmen werden weitere folgen. Wir werden lebenden Ausländer wird für uns nicht reichen, um den zum Beispiel das Recht auf das Nachholen des Haupt- Fachkräftebedarf der Zukunft zu decken. Deswegen ist schulabschlusses einführen und für eine größere Durch- es gemäß dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz unter lässigkeit des Hochschulsystems sorgen, damit auch ein verschiedenen Voraussetzungen möglich, hochqualifi- Handwerksmeister ein Studium beginnen kann. zierte Fachkräfte aus dem Ausland nach Deutschland zu holen: (Beifall bei der SPD) Erstens. Akademiker aus den neuen EU-Mitgliedstaa- Doch all das wird nicht reichen. Trotzdem wird es zu ten in Mittel- und Osteuropa erhalten einen uneinge- Engpässen kommen. Bereits ab Mitte des kommenden schränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Jahrzehnts kann dadurch unser Wirtschaftswachstum be- einträchtigt werden. Deswegen brauchen wir über das Zweitens. Akademiker aus den sogenannten Drittstaa- heimische Potenzial hinaus weitere Fachkräfte. ten erhalten einen Zugang mit Vorrangprüfung. Drittens. Einen uneingeschränkten Zugang zum Ar- Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung werden beitsmarkt erhalten hochqualifizierte Fachkräfte mit ei- die bereits in Deutschland lebenden Ausländer als Po- nem Einkommen von über 63 600 Euro. tenzial erkannt. Des Weiteren werden Möglichkeiten zur Einwanderung hochqualifizierter Fachkräfte aus den Viertens. Der Arbeitsmarkt wird für Absolventen der neuen EU-Beitrittsstaaten und aus Staaten außerhalb der deutschen Schulen im Ausland geöffnet. EU erschlossen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, gesetzliche Be- Für uns ist besonders das Potenzial interessant, das in stimmungen zur Zuwanderung sind die eine Seite der (B) den sogenannten Bildungsinländern steckt. Bildungsin- Medaille. Die andere Seite der Medaille ist jedoch die (D) länder sind zumeist junge Migrantinnen und Migranten, Akzeptanz der Zuwanderung. Die Bundesregierung die in Deutschland die Schule und die Universität be- will die Übergangsregelung zur Arbeitnehmerfreizü- sucht und abgeschlossen haben. Sie sind mit der deut- gigkeit für die neuen EU-Mitgliedstaaten aus gutem schen Sprache und der deutschen Kultur bestens ver- Grund bis zum 30. April 2011 verlängern. Diese Zeit traut, doch durch seinen unsicheren Aufenthaltsstatus ist müssen wir nutzen, um in unserer Gesellschaft eine Ak- dieser Personenkreis bislang chancenlos. Durch den Ge- zeptanz für die Zuwanderung aufzubauen. setzentwurf der Bundesregierung erhalten beruflich gut Die FDP spricht davon, den Ausbildungsmarkt für qualifizierte geduldete Migranten künftig eine Aufent- junge Menschen aus Mittel- und Osteuropa zu öffnen. haltserlaubnis und einen Zugang zum Ausbildungs- Das birgt sozialen Zündstoff. Wenn wir das tun, während und Arbeitsmarkt. Diese neuen Regelungen sind drin- momentan gerade einmal jeder Dritte oder Vierte einer gend notwendig. Abschlussklasse einer deutschen Hauptschule einen re- (Beifall bei der SPD) gulären Ausbildungsplatz erhält, dann gewinnen wir keine gesellschaftliche Zustimmung zur Einwanderung. Ich führe in meinem Bürgerbüro regelmäßig Gesprä- che mit Familien, die als Flüchtlinge nach Deutschland (Beifall bei der SPD) gekommen sind und nun abgeschoben werden sollen, Wir müssen zunächst alles daransetzen, dass unsere obwohl sie in unsere Gesellschaft integriert sind. Erst Jugendlichen eine reelle Chance auf einen Ausbildungs- gestern wurde entschieden, dass eine kurdische Familie platz bekommen. Außerdem müssen wir hierzulande ein aus in die Türkei abgeschoben wird, obwohl Bewusstsein dafür schaffen, dass die Zuwanderung für die Kinder in Heilbronn voll integriert sind. Sie sprechen uns alle eine Chance bietet. Es ist eine Tatsache, dass der Deutsch, engagieren sich in ihrem Stadtteil, und die äl- Zuzug von hochqualifizierten Fachkräften gerade für testen Kinder haben Angebote für eine Ausbildung. die Geringqualifizierten in Deutschland von Nutzen ist. Diese Kinder könnten unsere Fachkräfte von morgen Eine neue hochqualifizierte Fachkraft bedingt drei Ar- sein. beitsstellen für weniger qualifizierte Arbeitnehmer. Das ( [SPD]: Ja, richtig!) sichert Arbeit. Das schafft Arbeit. Deswegen ist es sinn- voll, dass wir unseren Arbeitsmarkt zunächst für die Durch dieses tragische Schicksal wird uns gezeigt: Es ist hochqualifizierten Fachkräfte aus den neuen EU-Mit- höchste Zeit, dass wir das Potenzial der unter uns leben- gliedstaaten öffnen, bevor ab 2011 unser Arbeitsmarkt den geduldeten Asylbewerber nutzen. allen neuen EU-Bürgern von Ungarn bis zum Baltikum Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19011

Josip Juratovic (A) offensteht. Durch diese Reihenfolge kann es uns gelin- trifft vor allen Dingen Akademikerinnen und Akademi- (C) gen, ein positives Klima für Zuwanderung zu schaffen. ker sowie Ingenieure bestimmter Fachrichtungen wie Maschinenbau-, Elektro- und Wirtschaftsingenieure. Deutschland hat mit ökonomischer Zuwanderung bereits seit über 50 Jahren Erfahrung. Wir wissen, dass Während die Bundesregierung vom Fachkräfteman- wir mit den Fachkräften, die zu uns kommen, nicht nur gel redet, gibt es über 3 Millionen Erwerbslose und über Arbeitskräfte, sondern vor allen Dingen Menschen er- 1 Million Langzeiterwerbslose; aber eine aktivierende warten. Ich selbst bin im Alter von 15 Jahren aus Kroa- Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung gibt es tien nach Deutschland gekommen. Seitdem habe ich nicht. viele Facetten der deutschen Migrationspolitik kennen- (Beifall bei der LINKEN) gelernt. Wir müssen die Ängste der Geringqualifizierten ernst Während die Bundesregierung den Forderungen der Wirtschaft reflexartig folgt, werden über 6,5 Millionen nehmen. Einwanderung darf nicht nur unter wirtschaftli- chen Aspekten geschehen, sondern muss den Bestand Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt, und des sozialen Friedens in Deutschland gewährleisten. 1,3 Millionen Menschen erhalten zusätzliche Hilfen, weil ihr Lohn nicht ausreicht. Beachtlich ist hierbei, dass (Beifall bei der SPD) inzwischen nicht mehr hauptsächlich Geringqualifizierte und Ungelernte von Niedriglöhnen betroffen sind. Viel- Deswegen müssen wir – entgegen den Forderungen von mehr haben derzeit circa 75 Prozent aller Beschäftigten FDP und Grünen – die Übergangsregelungen für die im Niedriglohnbereich eine abgeschlossene Berufsaus- neuen EU-Mitgliedstaaten bis 2011 fortführen. Vor al- bildung oder sogar einen Hochschulabschluss. Über lem brauchen wir bis dahin in Deutschland einen flä- 2 Millionen Beschäftigte gehen laut Verdi einem Zweit- chendeckenden Mindestlohn. job nach, um über die Runden kommen zu können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Während Sie den Mangel an qualifiziertem Personal Das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz ist ein ver- beklagen, haben selbst gut qualifizierte und motivierte nünftiger Ansatz. Es nimmt Rücksicht auf die Men- Berufsanfänger oft Schwierigkeiten beim Berufseinstieg schen, die hierzulande leben, und auf die, die zu uns und müssen etwa in gering oder gar nicht vergüteten kommen. Es zeugt auch von Wertschätzung für die Mi- Praktika versuchen, Anschluss zu finden. Andere granten, die ohne Bleiberecht bei uns leben; denn sie erhal- ackern, wie gesagt, im Niedriglohnbereich, addieren oft ten die Möglichkeit, unserer Gesellschaft etwas zurückzu- mehrere Tätigkeiten und kommen dennoch nicht über geben, statt nur aus humanitären Gründen auf unsere Hilfe die Runden. Von einer ausreichenden Vorsorge für das angewiesen zu sein. Integration hilft beiden Seiten. Mit Alter können junge Leute, die unter solchen Erwerbsbe- (B) (D) dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz zeigt die Bun- dingungen arbeiten, nur träumen. Die daraus abgeführ- desregierung, dass sie Einwanderungspolitik mit Augen- ten Minimalbeiträge führen direkt in die Altersarmut maß betreibt. unter dem schönmalerischen Titel „Grundsicherung im Alter“. All dies gilt es zu bedenken, wenn Nebelkerzen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. geworfen werden und gesagt wird, wir hätten einen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fachkräftemangel in Deutschland. der CDU/CSU) Die Bundesregierung hat bisher im Bildungs-, Ausbil- dungs- und Hochschulbereich komplett versagt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen (Beifall bei der LINKEN) für die Fraktion Die Linke. Der Bildungsbericht 2008 belegt dies schwarz auf weiß: (Beifall bei der LINKEN) die hohe Zahl von Schulabbrechern, das perspektivlose Lernen in Hauptschulen, die erschreckende soziale Un- gleichheit, die Ausgrenzung von Kindern und Jugendli- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): chen mit Migrationshintergrund oder Behinderung, die Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen chronische Unterfinanzierung aller Bildungsbereiche, und Herren! Glaubt man den Wirtschaftsverbänden, der die fehlenden Ausbildungsplätze und die sinkenden Stu- Bundesregierung oder der FDP – das sollte man aber lie- dienanfängerzahlen. ber nicht machen –, dann hat Deutschland einen drasti- schen Mangel an Fachkräften, der negative Folgen für Der OECD-Bildungsbericht zeigt, dass Deutschland die Volkswirtschaft hat. Damit die deutsche Wirtschaft im internationalen Vergleich jedes Jahr an Boden ver- keine allzu großen Nachteile im Wettbewerb hat, will liert. Angesichts der Einführung von Studiengebühren, nun die Bundesregierung den Zuzug von hochqualifi- von unzureichendem BAföG und verstärkten Zulas- zierten ausländischen Fachkräften nach Deutschland er- sungsbeschränkungen überrascht uns dies nicht wirklich. leichtern. Das erscheint irgendwie plausibel. Dennoch werden weder vermehrt Bildungsanstrengun- gen unternommen noch vorhandene Personalreserven Aktuell gibt es jedoch keine Anzeichen für einen all- ausgeschöpft. gemeinen Fachkräftemangel. Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung – IAB – Während die Verbände der Wirtschaft von Fachkräf- gibt es den beklagten Fachkräftemangel in der Form temangel reden, lebt nach Schätzungen des Leiters des nicht. Es deuten sich nur partiell Engpässe an. Das be- Oldenburger Interdisziplinären Zentrums für Bildung 19012 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Sevim DaðdelenDağdelen (A) und Kommunikation in Migrationsprozessen, Professor ein, damit Jugendliche nicht ohne Berufsausbildung da- (C) Dr. Rolf Meinhardt, etwa eine halbe Million zugewan- stehen! derte Akademikerinnen und Akademiker in Deutsch- land, deren Abschlüsse hierzulande nicht anerkannt (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) werden. Sie müssen in der Regel unqualifizierten Tätig- Erkennen Sie endlich die biografischen Lebensleistun- keiten nachgehen. So arbeiten häufig in Berlin russische gen der über 500 000 Menschen an, die einen im Aus- Ärztinnen als Putzfrauen oder Ingenieure als Taxifahrer. land erworbenen akademischen Abschluss haben, der Dazu haben wir Ihnen bereits im letzten Jahr einen An- bislang in Deutschland nicht anerkannt wurde! trag mit dem Titel „Für eine erleichterte Anerkennung von im Ausland erworbenen Schul-, Bildungs- und Be- (Beifall bei der LINKEN) rufsabschlüssen“ vorgelegt. Schaffen Sie Mindeststandards für Arbeitnehmerinnen (Beifall bei der LINKEN) und Arbeitnehmer, ob sie nun aus Deutschland kommen oder aus Europa! Es muss endlich dafür gesorgt werden, Sie sind weiterhin untätig und berauben diese halbe Mil- dass unter gleichen Arbeitsbedingungen am gleichen Ort lion Menschen ihrer Chance, qualifizierte Jobs auszu- und für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt üben. wird. Führen Sie somit endlich den gesetzlichen Min- destlohn ein, damit Beschäftigte nicht mehr gegeneinan- Fast könnte man glauben, dass die Bundesregierung der ausgespielt werden können! nun ihr Herz für Migrantinnen und Migranten oder Flüchtlinge entdeckt hat. Dem ist aber nicht so; denn die (Beifall bei der LINKEN) Bundesregierung hat nur ein Herz für die Nützlichen. Ratifizieren Sie endlich die Internationale Konvention (Andrea Nahles [SPD]: Es geht nicht darum, der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte aller ob wir ein Herz haben oder nicht!) Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen! So soll zwar Hochqualifizierten aus anderen EU-Staaten Ich sage Ihnen: Wenn Sie das alles beherzigen, wer- ab 2009 der Zugang zum Arbeitsmarkt durch die Sen- den Sie keinen Fachkräftemangel mehr in diesem Land kung der Mindestverdienstgrenze erleichtert werden. Für haben. die hier lebenden geduldeten Menschen bleibt es hinge- Übrigens fordern wir die letzten Punkte auch im Zu- gen bei den Arbeits-, Ausbildungs- und Studienhinder- sammenhang mit der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit. nissen. Eine Lohnspirale nach unten, die sich vermutlich die (Zuruf von der SPD) FDP mit ihrem Antrag für die deutschen Unternehmen (B) erhofft, (D) – Dann sagen Sie mir doch, warum Sie sie ausgeschlos- sen haben. Die Flüchtlingspolitik, die Sie seit Jahren be- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was Sie alles treiben, ist nichts anderes als blanker Zynismus. wissen!) (Beifall bei der LINKEN) wollen wir mit der Unterstützung des Deutschen Ge- werkschaftsbundes im Interesse der ausländischen wie Sie beweisen erneut, dass bei Ihnen Humanität und der inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Menschenrechte immer unter ökonomischem Verwer- verhindern. tungsvorbehalt stehen. Das ist die Leitlinie der Politik Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas sagen. der Bundesregierung. Selektionsmechanismen nach Schon Karl Marx wusste: „Die Arbeiter haben kein Va- Nützlichkeitskriterien lehnt die Linke generell ab. Be- terland.“ – Die Linke ist nicht gegen die Zuwanderung sonders perfide finden wir sie, wenn sie sich auf das hu- von Menschen nach Deutschland. Die Linke ist für Frei- manitäre Aufenthaltsrecht beziehen. zügigkeit mit globalen sozialen Rechten. Wir sind aber Damit es keinen Mangel an Fachkräften gibt, schlägt gegen eine neue Gastarbeiterpolitik und die Ausbeutung Ihnen die Linke Folgendes vor: Schaffen Sie die Arbeits- von Menschen, die in Deutschland leben oder aus und Ausbildungsverbote für Flüchtlinge endlich ab! Europa zu uns kommen. Die Linke ist für die Solidarität Schaffen Sie eine wirksame Bleiberechtsregelung, damit unter den Beschäftigten unterschiedlicher Länder, die erst gar keine Härtefälle entstehen und es einer Entfris- von denselben Konzernen und vom gleichen Kapital tung der Härtefallregelung nicht bedarf! Setzen Sie zu- ausgebeutet und ausgeplündert werden. sätzliche Mittel für Krippen, Kindergärten, Schulen, Hochschulen sowie berufliche Bildung und Weiterbil- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dung ein, wenn nicht der soziale Status über den Bil- Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. dungsweg und später über die Erwerbsbiografie ent- scheiden soll! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Hessen und schaffen Sie bundesweit alle Studiengebühren ab! Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Ja, ich komme zum Schluss. – Die Linke ist für Ar- (Beifall bei der LINKEN) beit, die ein Auskommen garantiert, und für gleiche Rechte für alle; sie ist gegen Lohndumping, das Sie zu Nehmen Sie endlich die Unternehmen der Privatwirt- verschärfen versuchen. schaft und den öffentlichen Dienst in die Verantwortung und führen Sie eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19013

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Problem an sich und dem Bewusstsein über dieses Pro- (C) Nun hat das Wort die Kollegin Brigitte Pothmer für blem gibt. die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist der Fach- kräftemangel, von dem wir immer reden!) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ich finde, Sie ignorieren die Fakten. Mit der Politik, die Dağdelen, ich habe Ihren Beitrag gerade so verstanden, Sie machen, hängen Sie Deutschland im internationalen dass Sie in Bezug auf die Zuwanderung von Fachkräften Wettbewerb um die klügsten Köpfe und die besten äußerst zurückhaltend sind. Sie hätten heute den Tages- Hände ab. Das ist nicht verantwortlich. spiegel lesen sollen. In dieser Zeitung hat der Wirt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaftssenator Harald Wolf anlässlich dieser Debatte die und bei der FDP) vollständige Freizügigkeit für Arbeitnehmer, und zwar sofort, gefordert. Auch das, was Sie jetzt wieder vorgelegt haben, be- wegt sich weiter im Klein-Klein. Ich will Ihnen sagen, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist interes- was Ihre bisherigen Bemühungen gebracht haben: Von sant! Da weiß die Linke nicht, was die Linke der Veränderung des Zuwanderungsgesetzes in 2005 ha- tut!) ben gerade 1 100 Menschen profitiert. Vielleicht unterhalten Sie sich einmal innerhalb der Lin- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das haben wir ken über die Frage, wie Sie sich positionieren wollen. damals schon vorausgesagt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die im letzten Jahr beschlossenen Erleichterungen haben und bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb bis Ende 2007 gerade einmal 19 zusätzliche Ingenieure [FDP]: Bingo! – Sevim Dağdelen [DIE aus Osteuropa nach Deutschland gelockt. LINKE]: Wir sind für Mindestlöhne!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist – Er hat von Mindestlöhnen nichts gesagt, Frau Symbolpolitik!) Dağdelen. Ich habe den Tagesspiegel hier. Lesen Sie das nach und besprechen Sie das miteinander! Sie schauen auf eine gescheiterte Zuwanderungspolitik. (Widerspruch bei der LINKEN) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die kann man mit Handschlag begrüßen!) Ja, das stimmt: Das Proletariat hat keine Heimat, aber wir sollten ihm wenigstens im Gastland angenehme Be- Das müssen Sie endlich zur Kenntnis nehmen. Hören Sie (B) dingungen bieten. Das wäre vernünftige Politik. auf, so weiterzumachen! (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) und bei der FDP) Ich habe Ihnen anlässlich der heutigen Debatte drei Mit diesem Gesetzentwurf wird aber genauso weiter- Zeitungsüberschriften mitgebracht, die ich kurz zitieren gemacht. möchte. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie müssen viel Zeit Auch jetzt heißt es wieder: ein bisschen für Hochqualifi- zum Zeitungslesen haben, Frau Pothmer!) zierte, ein bisschen für Geduldete und ein bisschen für – Zeitungslesen bildet, manchmal sollten auch Sie das osteuropäische EU-Mitgliedstaaten. Stattdessen sollten tun. Sie endlich Arbeitnehmerfreizügigkeit herstellen, die übrigens gerade von denjenigen Bundesländern gefor- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben einen Pres- dert wird, von denen Sie immer behaupten, Sie müssten sespiegel! Wir haben das konzentriert!) sie davor schützen. Berlin fordert sie, Mecklenburg-Vor- Am 11. September 2008 titelte die Welt: „Ausländer pommern fordert sie, fordert sie. Sie alle machen einen Bogen um Deutschland“. Der Anlass war wollen die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit, weil sie ge- die Vorlage des aktuellen OECD-Migrationsberichts. nau wissen, dass sie davon profitieren werden. Am 13. September 2008 legte die taz mit der Formulie- (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) rung nach: „Bund lässt Akademiker links liegen“. Bei der Politik, die Sie hier betreiben, nehmen Sie (Dirk Niebel [FDP]: Schon wieder links!) nicht zur Kenntnis, dass andere Länder qualifizierten Anlass dafür war die Untersuchung zur mangelhaften Zuwanderern längst den roten Teppich ausgerollt haben. Anerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsab- Sie glauben immer noch, der Dienstboteneingang sei für schlüssen. Aber schon am 1. September sagte Herr diese Gruppe allemal gut genug. Aber das wird nicht Scholz – das meldete die FA Z –, das Problem des Fach- funktionieren. kräftemangels sei gelöst. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Nichts kann doch deutlicher dokumentieren, dass es in Alle Fachleute nennen eine zentrale Voraussetzung dieser Regierung eine ungeheure Kluft zwischen dem dafür, dass Zuwanderung funktionieren kann, und das ist 19014 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Brigitte Pothmer (A) Transparenz. Dieser Gesetzentwurf ist intransparent bis Drittens. Ressourcen nutzen und nicht verplempern. (C) zum Gehtnichtmehr. Da haben Sie recht: Es ist doch absurd, dass ausgebildete Ärztinnen als Putzfrauen und Ingenieure als Hilfskräfte (Beifall bei der FDP – Hartfrid Wolff [Rems- arbeiten. Das ist eine ungeheure Verschwendung des Murr] [FDP]: Gewurschtel ist das!) Potenzials von Menschen, die in diesem Land leben. Wir Wir brauchen durchschaubare Regelungen, nicht nur für müssen die Abschlüsse, die in anderen Ländern erwor- Hochqualifizierte, sondern auch für Fachkräfte sowie ben worden sind, endlich in stärkerem Maße anerken- – da haben Sie recht – für Geringqualifizierte. Deswegen nen. ist die Idee des Punktesystems richtig. Viertens. Deutschland ist keine Insel. Deswegen brau- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen wir eine europäische Zuwanderungspolitik. und bei der FDP) Deutschland muss begreifen: Wir sind in einem gemein- samen Wirtschaftsraum, und deswegen müssen sich die Wir haben das schon vor Jahren auf die Tagesordnung Arbeitskräfte in diesem Wirtschaftsraum auch frei bewe- gesetzt, aber Sie verweigern sich da. gen können. Übrigens brauchen wir eine grundsätzlich andere Hal- Last, but not least: Migranten und deutsche Arbeits- tung in dieser Frage. Zuwanderung ist kein Gnadenakt. kräfte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir brauchen diese Menschen. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das sagt die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Linke auch!) und bei der FDP) Wir brauchen den Dreiklang. Wir brauchen die Fach- Die Wirtschaft braucht diese Menschen. Die Gesell- kräfte, die aus anderen Ländern kommen, aber nötig sind schaft wird durch diese Menschen bereichert. natürlich auch eine bessere Qualifikation und Integration derjenigen Gruppen, die bisher vernachlässigt worden (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Und den Rest sind, etwa der Frauen und Älteren. Wir können nicht lassen Sie ersaufen! – Gegenruf des Abg. Josef nach Zuwanderung rufen und dann für diese Menschen Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nichts tun. Wir brauchen sie alle. NEN]: Das muss man vom Asyl trennen!) (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Genau das Zuwanderung muss natürlich gestaltet werden. Ein wollen wir!) paar Leitlinien für die Gestaltung will ich Ihnen nen- nen: Die Politik muss aufhören, ängstlich und konfus zu (B) agieren. Mutig und klar muss sie sein; dann wird sie (D) Erstens. „Öffnung statt Abschottung“ muss eine der auch gelingen. Wir sind gern bereit, Ihnen dabei zur Parolen sein. Deswegen führt kein Weg daran vorbei: Seite zu stehen. Wir müssen, wie andere Länder auch, die volle Arbeit- nehmerfreizügigkeit herstellen. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und bei der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Aber natürlich haben Sie recht: Wir müssen mit der Ein- Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer für führung von Mindestlöhnen in allen Branchen die Vo- die CDU/CSU-Fraktion. raussetzung dafür schaffen. Dafür haben wir immer ge- worben. Ich verstehe einfach nicht, warum die SPD- (Beifall bei der CDU/CSU) Fraktion die Situation nicht nutzt, um den Mindestlohn durchzusetzen. Das wäre doch ein Argument. Sie könnte Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): der CDU/CSU an dieser Stelle sagen: Wenn ihr Arbeit- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten nehmerfreizügigkeit wollt, dann brauchen wir den Min- Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist mit Sicher- destlohn. – Aber stattdessen wird in dieser Frage weiter heit unbestreitbar, dass wir in der deutschen Wirtschaft blockiert. einen gestiegenen Fachkräftebedarf und in manchen Selbst die Bundesagentur für Arbeit, die lange vor- Wirtschaftsbranchen mittlerweile auch einen Fachkräfte- sichtig argumentiert hat, sagt seit August dieses Jahres: mangel haben. Unbestreitbar ist aber ebenso, dass es in Wir brauchen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Sorge, Deutschland nach wie vor über 3,2 Millionen offizielle dass der Arbeitsmarkt überschwemmt wird, ist unbe- Arbeitslose gibt. Die Große Koalition hat zwar viel dafür rechtigt. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit bringt mehr getan, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und die Rah- Vorteile als Probleme. menbedingungen so zu stricken, dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden konnten. Ich erinnere daran, dass wir Zweitens. Keine Migration ohne Integration. Die mit über 5 Millionen Arbeitslosen in die Große Koali- Gastarbeiterpolitik der vergangenen Jahre ist gescheitert. tion gestartet sind und jetzt bei 3,2 Millionen liegen. Deswegen müssen wir Migration mit Integrationsmaß- Aber es gibt nach wie vor arbeitslose Fachkräfte. Ich nahmen verbinden. Natürlich müssen alle Flüchtlinge zitiere nur einmal aus der Arbeitslosenstatistik vom und Geduldeten Zugang zu Ausbildung und Arbeit ha- August dieses Jahres: ungefähr 20 000 arbeitslose In- ben. genieure, über 20 000 arbeitslose Techniker, 3 600 ar- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19015

Stephan Mayer (Altötting) (A) beitslose Chemiker und Physiker und über 13 000 ar- Deutschland. Ich gehe auf einige Punkte detaillierter ein. (C) beitslose technische Sonderfachkräfte, insgesamt knapp Schon erwähnt wurde die geplante Absenkung der Min- 60 000. destverdienstgrenzen, denen in der Debatte aber eine zu hohe Bedeutung beigemessen wird, weil es schon heute Kernaufgabe der deutschen Politik muss es daher möglich ist, unterhalb dieser Mindestverdienstgrenze sein, dass wir uns um die arbeitsuchenden Menschen in von derzeit 86 600 Euro Nicht-EU-Ausländer nach Deutschland kümmern. Deutschland zu holen, wenn die Vorrangprüfung ergibt, (Beifall bei der CDU/CSU) dass es auf dem deutschen Arbeitsmarkt keinen ver- gleichbaren deutschen Arbeitslosen gibt und auch kein Die Menschen in Deutschland, vor allem die Arbeitslo- EU-Ausländer dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfü- sen, müssen ordentlich qualifiziert werden, damit sie auf gung steht. dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Für (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- uns als CSU und CDU ist eines klar: Bildung, Ausbil- NEN]: Was ist das für ein bürokratischer Auf- dung und Qualifikation gehen vor Zuwanderung. Ich be- wand!) grüße daher nachdrücklich die nationale Qualifizie- rungsinitiative der Bundesbildungsministerin Annette Dennoch ist es richtig, diese Absenkung vorzunehmen. Schavan. Es muss alles darangesetzt werden, dass wir Ich schließe nur die Frage an, was passiert, wenn diese unsere jungen Menschen dahin bringen, dass sie ordent- Absenkung der Mindestverdienstgrenze auch wieder liche Ausbildungsberufe ergreifen und ihre Ausbildung nicht den Erfolg zeitigen sollte, den wir uns alle davon erfolgreich abschließen, sodass sie dann auch einen er- erhoffen. folgreichen Weg im Arbeitsleben beschreiten können. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Machen Ferner müssen wir unser Bildungssystem insgesamt Sie sich mal Gedanken!) durchlässiger gestalten. Vorbildlich ist in diesem Zusam- menhang Bayern. An den bayerischen Hoch- und Fach- Bei dieser Gelegenheit weise ich auch noch darauf hochschulen haben 40 Prozent aller Studierenden ihren hin, dass es schon heute – dies ist in der Wirtschaft leider Zugang nicht über das Abitur genommen. Das verstehe zu wenig bekannt – die von uns gewünschten flexiblen, ich unter einem durchlässigen Bildungssystem. intelligenten Methoden gibt, um auch zielgerichtete Zu- wanderung nach Deutschland zu ermöglichen. Die Bedeutung des Ausländer- und Zuwanderungs- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das scheint ja rechts wird meines Erachtens bei der Frage, ob wir in eine Geheimgesetzgebung zu sein, wenn das Deutschland genügend Fachkräfte und Hochqualifizierte keiner kennt!) aus dem Ausland akquirieren können, überschätzt. Ich (B) glaube, dass andere Faktoren eine größere Rolle spielen, Die Bundesagentur kann zum Beispiel gemäß § 39 (D) beispielsweise die Möglichkeit, in Deutschland ordent- Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes sektoral, lich zu verdienen. Diese Spitzenkräfte, die wir nach also bei bestimmten Branchen und Wirtschaftszweigen, Deutschland holen wollen – der weltweite Kampf um die auf die sogenannte Vorrangprüfung verzichten. fähigen und intelligenten Köpfe ist schon angesprochen Ich möchte ganz deutlich daran erinnern, dass die worden –, können wir nur gewinnen, wenn die Wirt- Bundesregierung in Meseberg beschlossen hatte, ab dem schaft sie auch ordentlich bezahlt. Auch müssen wir die- 1. November letzten Jahres für Fahrzeugbauingenieure, sen Spitzenkräften aus dem Ausland entsprechende For- Elektroingenieure und Maschinenbauingenieure auf die schungs- und Entwicklungsmöglichkeiten in Deutschland Vorrangprüfung zu verzichten. Dies sind, meine lieben bieten. Diese Faktoren sind meines Erachtens bei wei- Kollegen von der FDP, meines Erachtens diese intelli- tem ausschlaggebender als das Zuwanderungs- und Aus- genten, flexiblen, passgenauen Methoden und Mittel, die länderrecht. wir brauchen, um eine gezielte, plangerichtete Zuwande- rung nach Deutschland zu erreichen. Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen für die deutsche Wirtschaft so zu gestalten, dass sie ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Hartfrid Wolff genüber der ausländischen Konkurrenz wettbewerbsfä- [Rems-Murr] [FDP]: Hört sich eher nach Bü- hig ist. Ich sage aber auch ganz deutlich, dass die Unter- rokratie als nach Intelligenz an!) nehmen nicht nur nach dem Staat rufen dürfen, sondern Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein weiterer auch selbst in der Verpflichtung sind, attraktive Rahmen- kritischer Punkt in diesem Gesetzentwurf ist mit Sicher- bedingungen zu bieten. heit die Frage, wie wir mit den geduldeten Personen in (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Der Staat Deutschland umgehen. Um eines von vornherein klarzu- darf es nur nicht verhindern!) machen: Mir ist es lieber, dass ein geduldeter Ausländer, der aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht ab- Sie müssen ordentliche Gehälter zahlen, aber auch da- geschoben werden kann, der rechtstreu ist, bisher nicht rauf achten, dass sie schon frühzeitig deutsche Nach- straffällig geworden ist und über ausreichend Wohnraum wuchskräfte ausbilden und damit die künftigen Füh- und ausreichende Deutschkenntnisse verfügt, rungskräfte in ihren Unternehmen heranziehen. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Hallo? Aus- Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Ar- reichend Wohnraum? Ein Hohn ist das! – beitsmigrationssteuerungsgesetz, das wir heute in erster Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lesung beraten, ist meines Erachtens ein zielführender NEN]: Wenn er eine kleine Wohnung hat, dann erster Beitrag zur Sicherung der Fachkräftebasis in nicht?) 19016 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Stephan Mayer (Altötting) (A) arbeitet, damit selber zu seinem Lebensunterhalt beiträgt Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vonseiten (C) und in Deutschland Steuern und Sozialversicherungsbei- der Union werden wir die Behandlung dieses Gesetzent- träge zahlt, wurfes sehr aufmerksam, sehr intensiv und sehr wohl- wollend verfolgen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wie viele Quadratmeter bräuchte er Herzlichen Dank. denn?) (Beifall bei der CDU/CSU – als dass er dem Staat auf der Tasche liegt und letztlich [SPD]: Donnerwetter! Da sind wir sehr ge- nur Empfänger von sozialen Transferleistungen ist. spannt!) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir werden bei der Behandlung des Gesetzentwurfes Nun hat das Wort für die SPD-Fraktion der Kollege peinlichst darauf achten, dass eines nicht ausgelöst wird, Rüdiger Veit. nämlich eine falsche Signalwirkung im Hinblick auf eine ungesteuerte und nicht gewollte Zuwanderung nach Rüdiger Veit (SPD): Deutschland. Dieser Pull-Effekt, den diese Regelung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auslösen könnte, muss auf jeden Fall vermieden werden. Unsere Republik wird immer leerer. In manchen Jahren (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Noch repres- sind mehr Personen aus Deutschland weggezogen als siver!) neu hinzugewandert. Bei der Geburtenrate liegen wir auf dem letzten bzw. vorletzten Platz in Europa. Wir sind da- Deswegen werden wir bei der weiteren Beschäftigung her – darin scheinen jetzt alle übereinzustimmen – zur mit diesem Gesetzentwurf darauf achten, dass hier kein Aufrechterhaltung unseres Wirtschaftssystems und unse- falscher Anreiz, meine liebe Kollegin Dağdelen, zum rer Sozialversicherungssysteme dringend gefordert, Zu- Missbrauch gesetzt wird. Genau dies wollen wir aus- wanderung zu organisieren bzw. dafür zu sorgen, dass drücklich verhindern. qualifizierte ausländische Mitbürger hier bleiben können (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – und nicht abgeschoben werden. Darin, lieber Kollege Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ihr wollt die Mayer, sind wir uns einig. Ich erlaube mir aber, gleich Leute noch mehr ersaufen lassen!) noch auf einen Widerspruch in Ihrer Argumentation ein- zugehen. Ich möchte deswegen zum Beispiel hinterfragen, ob eine Beschäftigung von zwei Jahren in Deutschland wirk- Wir als SPD-Fraktion haben übrigens diese Notwen- (B) lich ausreichend dafür ist, dass eine Person, die – wohl- digkeiten schon vor mehr als sieben Jahren erkannt und (D) gemerkt – an sich zur Ausreise verpflichtet ist, in damals mit Bündnis 90/Die Grünen ein Zuwanderungs- Deutschland in den Genuss einer allgemeinen Arbeitser- gesetz geschaffen und hier zur Beratung vorgelegt, laubnis kommen kann. Ich denke, über den Zeitraum, (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Das ist korrekt!) der erforderlich ist, um eine Arbeitserlaubnis zu bekom- men, müssen wir bei der Beschäftigung mit diesem Ge- in dem ein Punktesystem vorgesehen war, das es erlaubt setzentwurf noch einmal ganz vorurteilsfrei und offen hätte, flexibel auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes diskutieren. und der Wirtschaft auf der einen Seite und die menschli- chen Fähigkeiten auf der anderen Seite einzugehen. Ich möchte auch anmahnen, dass wir uns bei der Be- Auch die Zahl der Zuwanderer hätte man nach den ent- handlung des Gesetzentwurfes die Zeit und die Muße sprechenden Erfordernissen steuern können. Es war lei- nehmen, darüber zu diskutieren, ob es richtig ist, schon der die CDU/CSU sowohl hier im Bundestag als auch in jemanden als Fachkraft zu definieren, der nur eine drei- den Ländern, die dies nicht so gesehen hat und diese jährige Berufsausbildung absolviert hat. Punkteregelung gestrichen hat. Wir bedauern das sehr. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Heute besteht allgemeine Übereinstimmung darin, NEN]: Eine Schranke jagt die nächste!) dass wir handeln müssen. Wir sollten uns nicht über die Zuspätgekommenen, was die Einsichtsgewinnung an- Auch dies müssen wir mit Sicherheit bei der Behandlung geht, beklagen. Ich bin froh darüber, dass wir jetzt so des Gesetzentwurfes noch einmal besprechen. weit sind, dass wir darüber politisch im Wesentlichen An dieser Stelle möchte ich noch darauf hinweisen, unstreitig diskutieren können. dass es einen Antrag des Freistaates Bayern und des Nun ist dieser Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung Landes Niedersachsen im Bundesrat gibt, der meines Er- der Arbeitsmigration ein – erlauben Sie mir bitte, ihn so achtens sehr begrüßenswert und sehr bemerkenswert ist zu qualifizieren – kleiner, aber wichtiger Etappensieg und der mit Sicherheit auch in die Beratung hier im Bun- der Vernunft destag miteinbezogen werden sollte. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ein sehr Der Antrag der FDP auf Entfristung des § 23 a des kleiner!) Aufenthaltsgesetzes hat sich erledigt, weil er schon in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde. Ich würde Ih- und findet – von entsprechenden Details abgesehen, die nen, meine lieben Kollegen von der FDP, deswegen an- ich noch ansprechen werde – unsere ausdrückliche Zu- heimstellen, diesen Antrag zurückzuziehen. stimmung. Richtigerweise wird die Mindesteinkom- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19017

Rüdiger Veit (A) mensgrenze für Hochqualifizierte gesenkt. Kollege dass unsere Sozialversicherungssysteme nicht mehr (C) Mayer, Sie haben recht, wir wissen nicht genau, ob die funktionieren. Auf der anderen Seite schieben wir viele, 64 000 Euro die richtige Größenordnung sind. Wir ha- die nur geduldet sind und keinen gesicherten Aufenthalt ben schon in der Anhörung zum Zuwanderungsgesetz haben, notfalls sogar zwangsweise ab. Aus diesem – ich glaube, sie fand im Mai 2007 statt – von den Prak- Grunde haben die Große Koalition einerseits und die In- tikern gehört, dass die damals und auch heute noch gel- nenminister der Länder andererseits erfreulicherweise tende Grenze von 86 000 Euro viel zu hoch ist und in der eine Altfall- und Bleiberechtsregelung geschaffen, die Praxis ins Leere läuft. 50 000 Menschen eine Perspektive ermöglicht. Das reicht aber nicht aus. Es ist ziemlich kurios, dass man Wichtig ist der Schwerpunkt der neuen gesetzlichen auf der einen Seite denjenigen, die für unsere Wirtschaft Regelung. In der Begründung heißt es richtigerweise: in besonderer Weise nützlich sein könnten, die Tür weist Deutschland will vor allem die Potenziale derjeni- und auf der anderen Seite sagt, dass man neue Zuwande- gen jungen Ausländer und Ausländerinnen nutzen, rung qualifizierter Arbeitskräfte braucht. die durch Integration im Inland mit der deutschen Kultur vertraut sind und hier ihre Ausbildung absol- Jetzt können wir dieser Bevölkerungsgruppe, diesen vieren … ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, mögli- cherweise Rechtssicherheit bzw. einen gefestigten Auf- Weiter heißt es dann – dem stimme ich voll zu –, dass enthalt gewähren. Aber die Anzahl ist schwer zu bezif- die bisherige gesetzliche Altfallregelung und auch die fern. Ich jedenfalls sehe mich außerstande, zu sagen, wie von den Innenministern beschlossene Bleiberechtsrege- viele betroffen sind. lung manchmal viel zu hohe Hürden aufstellen. Insofern habe ich mich gefreut, von der Gesetzesbegründung in Es gibt in den Beiträgen der Opposition den Hinweis, meiner Einschätzung bestätigt zu werden. wir sollten am besten sofort volle Arbeitnehmerfreizü- gigkeit in der EU gewähren. Ich persönlich sage aus Die jetzige Neuregelung soll dem ein Stück weit ent- meiner eher ausländerrechtlichen Betrachtungsweise gegenwirken. Wir wollen vor allen Dingen denjenigen heraus: Vielleicht wäre es sinnvoller, bei denjenigen ein einen gefestigten Verbleib ermöglichen – das ist die wenig großzügiger zu sein, die zwar keine EU-Angehö- erste Gruppe –, die in Deutschland eine Berufsausbil- rigen sind, aber als ausländische Mitbürger hier inte- dung oder ein Studium erfolgreich absolviert haben. Die griert und ausgebildet worden sind. zweite Gruppe umfasst die hier anerkannten Hochschul- absolventen, die zwei Jahre lang durchgängig in ihrem (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das Beruf gearbeitet haben. widerspricht sich auch nicht!) (B) In diesem Zusammenhang – lassen Sie mich das sa- – Ich höre von Herrn Wolff, da sei kein Widerspruch. (D) gen – gibt es Übereinstimmung mit den Rednern der Op- position: Wir müssen aufpassen, dass wir bei der Ver- Wir werden aber an der einen oder anderen Stelle ein wendung der Terminologie „anerkannter ausländischer paar kritische Bemerkungen anbringen und das Gesetz- Hochschulabschluss“ die Kriterien nicht wieder so eng gebungsverfahren dazu benutzen müssen, in den Aus- fassen, dass dadurch im Ergebnis viel zu viele Menschen schüssen Vorschriften herauszunehmen, die nicht in das nicht berücksichtigt werden. Gesetz hineingehören. Ich nenne nur ein Beispiel für Überregulierung: Im Gesetzentwurf ist der Ermessens- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ausweisungstatbestand der Täuschung des Arbeitgebers NEN]: Richtig!) neu aufgenommen worden. Das ist erstens deswegen Vielmehr sollten wir uns folgender Terminologie annä- völlig überflüssig, weil es systemfremd ist; denn norma- hern: Wenn der ausländische Hochschulabschluss dem lerweise interessiert es die Ausländerbehörden und den deutschen in etwa entspricht, dann ist die Voraussetzung deutschen Staat überhaupt nicht, was im privaten Ver- erfüllt. hältnis geschieht, es sei denn, es ist strafbar. Die dritte Gruppe, welcher ein sicherer Verbleib er- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- möglicht werden soll, umfasst diejenigen Fachkräfte, die NEN]: Und warum steht das da drin?) zwei Jahre lang durchgängig in einer Beschäftigung tätig waren, die eine qualifizierte Berufsausbildung voraus- Zweitens ist es deswegen überflüssig, weil jeder auslän- setzt. Mit Blick auf diesen Vorschlag ist gefragt worden, dische Mitbürger, der seinen Arbeitgeber bei der Einge- ob wir dadurch vielleicht einen Pull-Effekt auslösen. hung eines Arbeitsverhältnisses über die Voraussetzun- Das, lieber Kollege Mayer, vermag ich beim besten Wil- gen täuscht, damit zugleich auch die Ausländerbehörde len nicht zu erkennen. Denn wir reden von denjenigen, täuscht, die darüber entscheidet, dass er aufgrund dieses die bereits langjährig hier leben, geduldet sind und im Arbeitsverhältnisses eine Aufenthaltserlaubnis oder Nie- Arbeitsmarkt integriert sind. Insofern kann man bei Aus- derlassungserlaubnis erhält. Deswegen ist das ein typi- ländern, die noch gar nicht in Deutschland sind, einen scher Fall von Überregulierung und kann aus dem solchen Sog oder Pull-Effekt nicht bewirken. Gesetzentwurf gestrichen werden. Diese Ermessensaus- weisungsmöglichkeit ist bereits nach anderen Vorschrif- Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass ich ten gegeben. mehrfach an dieser Stelle – aber nicht nur hier – folgen- den Widersinn beklagt habe: Auf der einen Seite jam- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mern wir über zu geringe Geburtenraten und darüber, NEN]: Sehr gut!) 19018 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Rüdiger Veit (A) Ich möchte an dieser Stelle im Rahmen der zur Verfü- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (C) gung stehenden Redezeit noch zwei andere Bemerkun- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – gen aus ausländerrechtlicher Sicht machen. Ich finde es Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Dafür haben erfreulich, dass die sogenannte Härtefallregelung des Sie letztes Jahr gestimmt!) § 23 a des Aufenthaltsgesetzes entfristet werden soll. – Das war damals ein schmerzhafter Kompromiss, liebe Mittlerweile haben alle Bundesländer Härtefallkommis- Kollegin Dağdelen. Wenn der Europäische Gerichtshof sionen geschaffen. Hinsichtlich der Zusammensetzung uns jetzt ein schlagendes Argument liefert, sodass wir der Kommissionen, ihrer Verfahren, ihrer Effektivität mit unserem Koalitionspartner über diesen Wertungswi- und in Bezug darauf, ob die Länderinnenminister auf die derspruch noch einmal reden können, dann werden wir Empfehlungen achten, gibt es erhebliche Unterschiede das gerne tun und das, wenn wir uns durchsetzen, im Ge- zwischen den Bundesländern. Trotzdem ist das vom setz entsprechend ändern. Prinzip her gut. Wir haben die Härtefallregelung seiner- zeit nicht nur deswegen befristet, weil man sehen wollte, Insgesamt also ein begrüßenswerter Gesetzentwurf, wie es mit der Einklagbarkeit ist, sondern auch deshalb, ein wichtiger kleiner Etappensieg; die Richtung jeden- weil wir der Auffassung waren, dass unser neues Aus- falls stimmt. Deswegen wird die SPD-Fraktion den Be- länder- und Zuwanderungsrecht nun so gut sei, dass in ratungsprozess sehr konstruktiv begleiten. Zukunft womöglich gar keine Härtefälle mehr entstehen Danke für die Aufmerksamkeit. könnten. Das ist aber leider ein Trugschluss, insbeson- dere aufgrund der auf Drängen der Union wieder einge- (Beifall bei der SPD) führten Duldung; hier gibt es das Problem der Kettendul- dung, und da sind wir wieder bei dem Thema Altfall- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und Bleiberechtsregelung, die lange nicht beseitigt sind. Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Selbst wenn wir mit diesem Arbeitsmigrationssteue- Michael Hennrich für die CDU/CSU-Fraktion. rungsgesetz einen Beitrag dazu leisten, dass die hier gut Integrierten bleiben können, sind damit immer noch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht alle Fälle gelöst, die in humanitärer Hinsicht hätten gelöst werden müssen. Michael Hennrich (CDU/CSU): Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Man hätte dieses Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir behandeln heute das Thema Gesetzgebungsverfahren aus der Sicht der meisten in der Steuerung der Arbeitsmigration nach Deutschland. Die SPD-Fraktion, auch aus meiner persönlichen Sicht, Probleme sind vielfältig und facettenreich. Die Bundes- durchaus zum Anlass nehmen können, noch einen ande- regierung hat hierzu einen umfassenden Maßnahmenka- (B) ren Punkt aktuell mit zu regeln. Ich meine die Vorausset- (D) talog vorgelegt, um die Fachkräftebasis in Deutschland zungen für den Ehegattennachzug. Wir haben im letz- zu sichern. ten Änderungsverfahren zum Aufenthaltsgesetz auf Drängen der Union Vorschriften mit aufgenommen, die Ich möchte einen Punkt gesondert behandeln, zu dem als Voraussetzung für den Nachzug beispielsweise den uns ein Antrag von den Grünen und ein Antrag von der vorherigen Erwerb von Sprachkenntnissen im Ausland FDP vorliegen. Es geht um die Beschränkung der Ar- verlangen. beitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den neuen Beitrittsstaaten in Ost- und (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das Mitteleuropa. hat sich sehr bewährt!) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nun hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom NEN]: Es geht nicht um die Beschränkung, 25. Juli dieses Jahres, also vor nicht allzu langer Zeit, sondern um die Aufhebung der Beschrän- entschieden, dass immer dann, wenn ein Staatsbürger kung!) aus der EU seinen Ehegatten aus dem Ausland nachzie- hen lassen will, nicht das nationale Recht bestimmen Wie Sie an dem Maßnahmenkatalog sehen, wollen darf, dass das an bestimmte Voraussetzungen gebunden wir die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit um zwei Jahre verlängern. Die Grünen und die FDP lehnen ist, also auch nicht, wie in unserem Fall, an den vorheri- dies ab. Sie verweisen auf Großbritannien, Irland und gen Erwerb von Deutschkenntnissen. Nun muss man Schweden, die von Anfang an keine Beschränkung hat- nicht über besonders viel logisches Denkvermögen ver- ten, sowie auf zahlreiche andere Mitgliedstaaten, die fügen, um festzustellen: Wenn ein EU-Staatsangehöriger mittlerweile angeblich von dieser Beschränkung abge- in Deutschland ohne jede Voraussetzung seinen auslän- rückt seien. Frau Pothmer, Sie verweisen auch auf die dischen Ehegatten nachziehen lassen darf, dann kann vielfältigen positiven Erfahrungen, die man insbeson- man schlecht von einem deutschen Staatsbürger, der hier dere in Großbritannien gemacht habe, und auf den kul- lebt und hier geboren ist, erwarten, dass er erst einmal turellen Austausch. dafür sorgt, dass die Ehefrau oder der Ehemann im Aus- land Deutschkenntnisse erwirbt. Das ist ein Wertungswi- In der Tat waren am Anfang die Erfahrungen positiv. derspruch und eine Inländerdiskriminierung, die nach Aber wenn Sie in den letzten Wochen und Monaten die meinem Dafürhalten nicht aufrechterhalten werden Medien verfolgt haben, dann wissen Sie, dass es zu einer kann. Deswegen rege ich durchaus an, dass man das in Veränderung der Sichtweise in Großbritannien gekom- einem solchen Gesetz aktuell regelt. men ist. Wenn Sie die Schlagzeilen britischer Tageszei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19019

Michael Hennrich (A) tungen lesen – Frau Pothmer, Sie sind ja belesen –, dann wesens tätig sind, und Ähnliches. Wir haben in Litauen (C) erfahren Sie etwas über die Ausbeutung der Arbeitneh- vor einem Jahr erlebt, dass auch dort eine umfassende mer und über die schlechte soziale Versorgung der Mi- Gesundheitsversorgung der Bevölkerung nicht mehr granten. Das alles geschieht trotz staatlichen Mindest- möglich war. lohnes. Selbst offizielle Stellen in Großbritannien räumen mittlerweile ein, dass sie mit der Migration über- Wenn Sie die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit einfüh- fordert sind. ren, hat dies zur Folge, dass Sie diese Länder ihrer Zu- kunftschancen berauben. Ich frage Sie, warum fast alle EU-Staaten die Arbeit- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: 2011 nehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien be- kommt sie sowieso!) schränken. Schweden ist das einzige Land, das für Men- schen aus Rumänien und Bulgarien die volle Was wir brauchen, ist eine kluge Migrationspolitik, Frau Arbeitnehmerfreizügigkeit garantiert. Alle anderen EU- Pothmer. Darauf hat die Bundesregierung eine Antwort Mitgliedstaaten machen von den Ausnahmeregelungen gegeben. Ihre Anträge lehnen wir ab. für die neuen Beitrittsstaaten Rumänien und Bulgarien Gebrauch. Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Grünen sprechen in ihrem Antrag vom Wettbe- neten der SPD) werb um die besten Köpfe aus Ost- und Mitteleuropa. In der Tat brauchen wir solche klugen Köpfe. Die Bun- desregierung hat darauf eine Antwort gegeben. Es lohnt Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sich, einmal die Statistiken aus Großbritannien anzu- Ich schließe die Aussprache. schauen. Wer ist zugewandert, und in welchen Tätig- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den keitsbereichen werden diese Migranten in Großbritan- Drucksachen 16/10288, 16/10237, 16/9091 und 16/10310 nien eingesetzt? Fabrik- und Lagerarbeiter, Verpacker an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und Beschäftigte im Transportwesen: 82 Prozent, Ser- vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich vicekräfte für Hotel- und Gaststättengewerbe: 11 Pro- sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- zent, Landwirtschaft: 4 Prozent. Das sind meines Erach- schlossen. tens keine Jobs, für die wir Hochqualifizierte brauchen. Der Kollege Mayer hat das schon ausgeführt. Wir kön- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 ii nen diese Stellen bei uns genauso gut mit heimischen sowie Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf: Arbeitskräften besetzen. 38 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten (B) Lassen Sie mich noch auf das Thema Saisonarbeits- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 33 (D) kräfte eingehen, das Sie in Ihrem Antrag ebenfalls er- des Gerichtsverfassungsgesetzes wähnen. Wir haben alle noch die Situation von vor zwei – Drucksache 16/514 – Jahren vor Augen, als die Ernte nicht eingefahren wer- den konnte. Aber dies war kein Problem der fehlenden Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Arbeitnehmerfreizügigkeit. Diese Saisonarbeitskräfte fehlten nämlich auch in Großbritannien. Wir haben vor b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten zwei Jahren einfach erlebt, wie Markt funktioniert. Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 573 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat eine Reise nach Rumänien unternommen. Die Grünen und leider – Drucksache 16/1029 – auch die FDP waren nicht dabei. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) (Dirk Niebel [FDP]: Wir müssen manchmal Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend arbeiten!) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Wenn Sie dabei gewesen wären, dann hätten Sie fol- c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten gende Erfahrung gemacht: Rumänen, Polen und Bulga- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Ver- ren gehen nicht nach Deutschland oder Großbritannien waltungsgerichtsordnung aus zwei ganz einfachen Gründen: Das Wetter in Spa- – Drucksache 16/1345 – nien und Italien ist besser, und bezahlt wird dort genauso Überweisungsvorschlag: gut wie in Deutschland. Deswegen kamen die Saisonar- Rechtsausschuss (f) beitskräfte nicht nach Deutschland. Unsere Landwirte Innenausschuss haben aber darauf reagiert. In diesem Jahr waren die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Probleme daher bei weitem nicht so groß wie vor zwei d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Jahren. Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgeset- Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt an- zes – § 21 StGB (… StrÄndG) sprechen, auf den Sie überhaupt nicht eingegangen sind, – Drucksache 16/4021 – Frau Pothmer. In Anträgen der Grünen zur Entwick- Überweisungsvorschlag: lungspolitik steht immer, dass wir für Afrika keine Fach- Rechtsausschuss (f) kräfte abwerben sollen, die im Bereich des Gesundheits- Innenausschuss 19020 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Modellklausel in die Berufsgesetze der Heb- (C) Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des ammen, Logopäden, Physiotherapeuten und Bundeszentralregistergesetzes Ergotherapeuten – Drucksache 16/4199 – – Drucksache 16/9898 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend m) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge- Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Op- setzes über den Bau und den Betrieb von Ver- ferschutzes im Strafprozess suchsanlagen zur Erprobung von Techniken – Drucksache 16/7617 – für den spurgeführten Verkehr Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/9899 – Rechtsausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten n) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung des gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas- Einsatzes von Videokonferenztechnik in ge- sung der Vorschriften des Internationalen Pri- richtlichen und staatsanwaltschaftlichen Ver- vatrechts an die Verordnung (EG) Nr. 864/2007 fahren – Drucksache 16/9995 – – Drucksache 16/7956 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Innenausschuss Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit h) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des straf- o) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- rechtlichen Wiederaufnahmerechts gebrachten Entwurfs eines Düngegesetzes – Drucksache 16/7957 – – Drucksache 16/10032 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: (B) Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (D) Innenausschuss Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten p) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Bundesnotarordnung und anderer Gesetze Änderung des Gesetzes über Meldungen über – Drucksache 16/8696 – Marktordnungswaren Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/10033 – Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Verbraucherschutz Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des q) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Bundeszentralregistergesetzes gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- – Drucksache 16/9021 – führung des Übereinkommens vom 30. Okto- Überweisungsvorschlag: ber 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit Rechtsausschuss (f) und die Anerkennung und Vollstreckung von Innenausschuss Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 16/10119 – k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Überweisungsvorschlag: Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Rechtsausschuss Schutzes der Opfer von Zwangsheirat und schwerem „Stalking“ r) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abwehr – Drucksache 16/9448 – von Gefahren des internationalen Terrorismus Überweisungsvorschlag: durch das Bundeskriminalamt Rechtsausschuss (f) Innenausschuss – Drucksache 16/10121 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss l) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Rechtsausschuss Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19021

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) s) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- y) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur führung gemeinschaftlicher Vorschriften über Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes das Verbot der Einfuhr, der Ausfuhr und des Inverkehrbringens von Katzen- und Hundefel- – Drucksache 16/10298 – len (Katzen- und Hundefell-Einfuhr-Verbots- Überweisungsvorschlag: gesetz – KHfEVerbG) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss – Drucksache 16/10122 – Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz z) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- t) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Veröf- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das fentlichung von Informationen über die Zah- Personal der Bundesagentur für Außenwirt- lung von Mitteln aus den Europäischen Fonds schaft (BfAI-Personalgesetz – BfAIPG) für Landwirtschaft und Fischerei (Agrar- und Fischereifonds-Informationen-Gesetz – AFIG) – Drucksache 16/10293 – – Drucksache 16/10299 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz u) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur aa) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Änderung des Filmförderungsgesetzes Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- – Drucksache 16/10294 – NIS 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien Grenzwerte bei Müllverbrennungsanlagen dem technischen Fortschritt anpassen und v) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- deutlich absenken gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- tokoll vom 15. Oktober 2007 zur Änderung – Drucksache 16/5775 – des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Überweisungsvorschlag: (B) Deutschland und der Russischen Föderation Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) (D) zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf Ausschuss für Wirtschaft und Technologie dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Ausschuss für Gesundheit vom Vermögen vom 29. Mai 1996 und des Pro- bb)Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael tokolls hierzu vom 29. Mai 1996 Leutert, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, – Drucksache 16/10295 – weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Für die Durchsetzung von Mindeststandards w) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- humanen Arbeitens in der Volksrepublik gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- China eintreten – Menschenrechte und Sozial- trag vom 3. März 2008 zwischen der Bundes- standards bei Konzerngeschäften in und mit republik Deutschland und dem Zentralrat der China durchsetzen Juden in Deutschland – Körperschaft des öf- – Drucksache 16/9413 – fentlichen Rechts – zur Änderung des Vertra- ges vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundes- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) republik Deutschland und dem Zentralrat der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Juden in Deutschland – Körperschaft des öf- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und fentlichen Rechts – Entwicklung – Drucksache 16/10296 – cc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Überweisungsvorschlag: Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), Innenausschuss (f) Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Rechtsausschuss Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Grundrechte schützen – Frauenhäuser sichern x) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Geset- – Drucksache 16/10236 – zes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) – Drucksache 16/10297 – Innenausschuss Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 19022 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) dd)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Ausschuss für Bildung, Forschung und (C) dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- Ausschuss für Tourismus nung hh)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Technikfolgenabschätzung (TA) (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- Potenziale und Anwendungsperspektiven der nung Bionik (Vorstudie) Technikfolgenabschätzung (TA) – Drucksache 16/3774 – TA-Projekt: Hirnforschung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 16/7821 – Technikfolgenabschätzung (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Technikfolgenabschätzung (f) Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ii) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- ee) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- nung nung Technikfolgenabschätzung (TA) Technikfolgenabschätzung (TA) Internetkommunikation in und mit Entwick- Politik-Benchmarking: Akademische Spin-offs lungsländern – Chancen für die Entwicklungs- in Ost- und Westdeutschland und ihre Erfolgs- zusammenarbeit am Beispiel Afrika bedingungen – Drucksache 16/9918 – – Drucksache 16/4669 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Überweisungsvorschlag: Entwicklung (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Auswärtiger Ausschuss Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (B) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (D) Ausschuss für Bildung, Forschung und ff) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Technikfolgenabschätzung dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- nung ZP 5a)Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Jens Ackermann, Technikfolgenabschätzung (TA) Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und der Politikbenchmarking: Nachfrageorientierte In- Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines novationspolitik Gesetzes zur Stärkung der Steuerautonomie in den Ländern (Erbschaftsteuerreformgesetz) – Drucksache 16/5064 – – Drucksache 16/10309 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag: Technikfolgenabschätzung (f) Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss gg)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Frak- nung tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Technikfolgenabschätzung (TA) Kontraproduktive US-Operationen in Pakis-

TA-Vorstudie: Perspektiven eines CO2- und tan sofort einstellen – Umfassende Strategie emissionsarmen Verkehrs – Kraftstoffe und zur Stabilisierung Pakistans entwickeln Antriebe im Überblick – Drucksache 16/10333 – – Drucksache 16/5325 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Verbraucherschutz Entwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19023

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein- Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- (C) fachten Verfahren ohne Debatte. fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Linke angenommen. überweisen. – Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Sie sind also damit einverstanden. Dann sind die Überwei- Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 c auf: sungen so beschlossen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 39 a bis richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu 39 c sowie zu Zusatzpunkt 6. Dabei geht es um die Be- dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra- Winkler, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, wei- che vorgesehen ist. terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 a auf: Das Parlament bei der Ausgestaltung des Ein- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- bürgerungstests beteiligen richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin – Drucksachen 16/9602, 16/9945 – Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Berichterstattung: weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Abgeordnete NIS 90/DIE GRÜNEN Rüdiger Veit Keine militärische Eskalation gegenüber dem Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Iran – Konflikt um das Atomprogramm mit Sevim Dağdelen Verhandlungen lösen Josef Philip Winkler – Drucksachen 16/4407, 16/7515 – Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/9945, den Antrag der Fraktion Berichterstattung: Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9602 abzu- Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Guttenberg Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Dr. Rolf Mützenich fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Dr. Werner Hoyer und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Frak- Dr. Norman Paech tion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Frak- Kerstin Müller (Köln) (B) tion der FDP angenommen. (D) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Wir kommen zum Zusatzpunkt 6: lung auf Drucksache 16/7515, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4407 abzu- Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – ausschusses (6. Ausschuss) Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist die Be- Übersicht 12 schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- tionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- Linke angenommen. gericht Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 b auf: – Drucksache 16/10321 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ist je- richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu mand dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang fehlung ist einstimmig angenommen. Wieland, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf: weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Europol-Beschluss rechtsstaatlich verbessern dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, – Drucksachen 16/7742, 16/9825 – Werner Dreibus, Ulla Lötzer, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE Berichterstattung: Abgeordnete Ralf Göbel Entfernungspauschale sofort vollständig aner- Wolfgang Gunkel kennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuerge- Gisela Piltz rechtigkeit herstellen Ulla Jelpke – Drucksachen 16/9167, 16/9569 – Wolfgang Wieland Berichterstattung: Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Abgeordnete lung auf Drucksache 16/9825, den Antrag der Fraktion Dr. Barbara Höll Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7742 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – (Beifall bei der LINKEN) 19024 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Ich will darauf hinweisen, dass wir über diese Be- sen habe. Damals sind Steuerersenkungen versprochen (C) schlussempfehlung später namentlich abstimmen wer- worden. Gleichzeitig wurde aber – auf Seite 17 – nicht den. nur die Abschaffung der Steuerfreiheit von Nacht- und Sonntagsarbeit, sondern auch die Kürzung der Pendler- (Dirk Niebel [FDP]: Schade, dass Herr Huber pauschale gefordert. Das kann mit der Haushaltsnotlage heute nicht da ist!) nicht begründet werden. Das war Programmatik der Zunächst kommen wir aber zur Aussprache. Nach einer CDU/CSU. interfraktionellen Vereinbarung ist dafür eine halbe (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Stunde vorgesehen. – Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. In den Koalitionsverhandlungen hat die SPD durchge- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- setzt, dass die Steuerfreiheit der Nacht- und Sonntagsar- ner das Wort dem Kollegen Florian Pronold für die SPD- beit erhalten bleibt. Im Gegenzug hat sich die CDU/CSU Fraktion. im Punkt „Kürzung der Pendlerpauschale“ durchgesetzt. (Gerd Andres [SPD]: Hört! Hört! So ist das!) Florian Pronold (SPD): Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens fand eine An- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und hörung im Deutschen Bundestag statt, bei der keiner der Kollegen! Zum wiederholten Male, aber dieses Mal zu Experten gesagt hat, dass der damals vorliegende Ge- prominenterer Stunde, setzentwurf, den die CDU/CSU wollte, verfassungskon- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- form ist. NEN]: Warum wohl?) haben wir das Thema Entfernungspauschale auf der Ta- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gesordnung. Dieses Mal hat die Linke einen Schaufens- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des terantrag zur bayerischen Landtagswahl gestellt, um die Kollegen Kalb? CSU vorzuführen. (Widerspruch bei der LINKEN) Florian Pronold (SPD): Da er Abgeordneter desselben Wahlkreises ist wie ich Diesen Antrag braucht man dafür aber nicht, weil sich – ich wohne in Deggendorf – und ich ihn sonst immer die CSU bei der Pendlerpauschale schon zur Genüge fragen muss, wenn ich etwas wissen will, gestatte ich das selbst vorgeführt hat. gerne einmal umgekehrt. (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Niebel [FDP]: Aber die SPD hat sie doch mit Herr Kollege, bitte sehr. abgeschafft, oder?) Das wird klar, wenn man das Hin und Her der letzten (Dirk Niebel [FDP]: Gut, dass das hier kein Monate zu dieser Frage betrachtet. Wahlkampf ist!)

Ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass meine Anre- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): gung, in dieser wichtigen Debatte nicht nur einen Abge- ordneten der CDU, sondern auch einen Abgeordneten Herr Kollege Pronold, würden Sie freundlicherweise der CSU sprechen zu lassen, dieses Mal aufgenommen und redlicherweise dem Hohen Haus mitteilen, dass in worden ist. Das ist erfreulich. dem Wahlprogramm der CSU seinerzeit eine Reduzie- rung der Pendlerpauschale von 30 auf 25 Cent als Bei- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- trag zur notwendigen Sanierung der Bundesfinanzen ent- NEN]: Dieses Mal trauen sie sich!) halten war? – Dieses Mal trauen sie sich. Florian Pronold (SPD): (Dirk Niebel [FDP]: Hat die SPD sie mit abge- Ich bin bereit – gleich, ob redlicherweise oder nicht –, schafft, oder waren Sie gar nicht dabei?) darauf zu verweisen, dass die CSU tatsächlich die Kür- – Ich komme gleich zu dem Thema, Herr Niebel. Wir zung der Pendlerpauschale im Wahlkampf gefordert hat, haben die Debatte schon zweimal geführt. Ich habe Ih- was von der CSU in meinem Wahlkreis allerdings be- nen das schon zweimal erklärt, werde es Ihnen aber auch stritten worden ist, als ich 2005 dieses Thema angespro- ein drittes Mal erklären. Ich befürchte nur, Sie wollen es chen habe. Ich weise darauf hin, dass die Kürzung, die gar nicht hören. Sie vorgeschlagen haben, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der finanziellen Wirkung her noch Wir haben folgende Genese des Vorgangs: Ich habe einschneidender gewesen wäre als das, was jetzt vor- gehört, dass es eine Erklärung der CSU-Landesgruppe liegt. Auch das gehört zur Redlichkeit. gibt, nach der sie der Kürzung der Pendlerpauschale nur zugestimmt habe, weil es im Jahr 2006 quasi eine Haus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – haltsnotlage gab. Das hat mich überrascht, weil ich das Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Völlig CDU/CSU-Wahlprogramm von 2005 aufmerksam gele- falsch!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19025

Florian Pronold (A) Ich fahre in der Betrachtung der Historie fort: Wir ha- Es geht darum, dass wir eine Regelung finden, die (C) ben uns bemüht, in der Großen Koalition einen gegen- den berechtigten Interessen der Arbeitnehmerinnen und finanzierten Vorschlag durchzusetzen, der die Pendler- Arbeitnehmer und vor allem der Pendlerinnen und Pend- pauschale ab dem ersten Kilometer erhalten hätte. Das ler gerecht wird. Wenn jetzt große Bereitschaft dazu im ist aber abgelehnt worden. Dann kam es zu dem Gesetz, Hause existiert, dann freue ich mich. Wir werden ein mit Zustimmung der SPD, wie Sie wissen. Das muss ich Verfassungsgerichtsurteil bekommen, das über span- hier nicht groß betonen. nende Fragen Auskunft geben wird, zum Beispiel darü- (Dirk Niebel [FDP]: Selber schuld!) ber, wie Werbungskosten zu behandeln sind, ob man eine Pauschalierung von Werbungskosten machen kann – Es gibt nun einmal Koalitionsverträge. Sie wissen viel- oder ob die kompletten Werbungskosten anzusetzen leicht noch aus den Zeiten, wo Sie regiert haben – das ist sind. Auch das könnte in diesem Urteil stehen. Deswe- Gott sei Dank schon lange her –, dass es Dinge gibt, auf gen wäre die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale zu- die man sich geeinigt hat und zu denen man dann auch mindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht hilfreich. Denn es stehen muss. Diese Dinge muss man klar benennen und ist durchaus möglich, dass das Bundesverfassungsge- sagen, wie sie entstanden sind und was man erreichen richt Hinweise gibt, die bei einer Neuregelung zu beach- wollte. ten sind. Daher sollten wir kurz vor der bayerischen Wir als SPD-Fraktion haben zum Beispiel – das ist Landtagswahl diesem Antrag der Linken nicht zustim- nachzulesen – im November 2007 eine weitere Initiative men, der, wie gesagt, ein Schaufensterantrag ist. unternommen, die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilo- Letzte Bemerkung. Nicht an ihren Worten, an ihren meter einzuführen. Dazu gab es eine Sitzung des Koali- Taten sollt ihr sie erkennen. Das gilt besonders in Bay- tionsausschusses, an der zum ersten Mal ein gewisser ern. Erwin Huber als CSU-Parteivorsitzender teilgenommen hat. Diese Initiative wurde dort abgelehnt. (Dirk Niebel [FDP]: Auch für die SPD!) (Zurufe von der SPD: Was? – Zurufe von der Wir haben nach Österreich geblickt. LINKEN: Hört! Hört!) (Dirk Niebel [FDP]: Ja! Die sind auch schon Auch das muss man in Erinnerung rufen. Deswegen ist die Große Koalition los!) es besonders pikant, dass derselbe Herr Huber in der letzten Sitzung des Bundesrates vor der Sommerpause In Österreich gibt es eine spannende Konstellation. Dort einen Antrag zur Wiedereinführung der Pendlerpau- gibt es auf der Bundesebene eine steuerliche Regelung schale zum alten Stand eingebracht hat. Denn er weiß, für Pendlerinnen und Pendler. Sie hat dasselbe Defizit dass das Gesetzgebungsverfahren, selbst wenn alles gut wie unsere, nämlich dass diejenigen, die kaum Steuern (B) gehen würde, niemals vor der bayerischen Landtagswahl zahlen, von einer Pendlerpauschale wenig haben, ob- (D) beendet sein wird. wohl auch sie weite Wege in Kauf nehmen. In Österreich gibt es aber sechs Bundesländer, die zusätzlich auf der (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Landesebene ein Pendlergeld zahlen, das auch denjeni- NEN]: Das stimmt!) gen zugutekommt, die nicht steuerpflichtig sind oder Deswegen braucht es keinen Vorführantrag durch die wenig Steuern zahlen. Wir haben uns gedacht: Wenn Linke gegenüber der CSU. Ich finde, die CSU hat sich Österreich schon einmal etwas Vernünftiges macht, an diesem Punkt selber mehr als vorgeführt. könnte man das in Bayern übernehmen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Besonders erschwerend kommt hinzu, dass Kollege Daher haben wir Erwin Huber vorgeschlagen, das auch Rupprecht hier schon das letzte Mal das „mea culpa“ im in Bayern einzuführen. Hierzu würden gerade einmal Namen der CSU erklärt hat. Ich hoffe, es fällt noch ein 400 Millionen Euro benötigt. Während aber verkündet bisschen deutlicher aus. Nicht über die Sünder ist Freude wird, man wolle aufgrund der Regelungen zur Erb- im Himmel, sondern über die reuigen Sünder. Das be- schaftsteuer 800 Millionen Euro den Villenbesitzern am deutet, man muss tätige Reue üben. Besonders pikant Starnberger See in Bayern schenken, war: Der Finanzminister von Bayern – er ist gelernter Finanzbeamter – hat vor den Werkstoren von BMW in (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Dingolfing Flugblätter gegen seine eigenen Sünden ver- hat derselbe Erwin Huber erklärt, er sei nicht bereit, teilt. diese 400 Millionen Euro für die bayerischen Pendlerin- (Dirk Niebel [FDP]: Da sollten wir die SPD nen und Pendler aufzubringen. zitieren!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es ging um eine Unterschriftenaktion der CSU zur Pend- der LINKEN) lerpauschale, unwissend, dass 80 Prozent der 22 000 Be- Deswegen gilt auch hier noch einmal: Nicht an ihren schäftigten bei BMW überhaupt keinen Anspruch auf Worten, an ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Leider sind die Pendlerpauschale haben, weil es dort ein Werkbus- wir jetzt auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts system gibt. Es ist nur absetzbar, was man dazuzahlt, angewiesen, um hier zukünftig für bessere Verhältnisse wenn man dort mitfährt. Ich dachte, der bayerische Fi- zu sorgen. Wenn die Erkenntnis bei allen im Haus ge- nanzminister wisse wenigstens das. wachsen ist und diese Meinung geteilt wird, dann freue (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) ich mich auf die Debatten nach der Landtagswahl. Ich 19026 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Florian Pronold (A) bin gespannt, ob alle dann noch dieselben Auffassungen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) vertreten wie vorher. der LINKEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Sie waren doch noch gar nicht in Bay- Herzlichen Dank. ern! Sie können das Wort gar nicht buchstabie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren!) der LINKEN – Zurufe von der LINKEN: Wir ja!) Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Ich habe hier ein Flugblatt, das Sie in Bayern verteilen. Damit sammeln Sie von redlichen Menschen Unterschriften und erklären Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – ich zitiere –: „Die heutige Regelung ist nicht verfas- Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege sungskonform.“ Sie fordern, dass die Politik handelt und Dr. Volker Wissing. die alte Pendlerpauschale wieder einführt. Ich war bei (Beifall bei der FDP) der Anhörung, die wir damals durchgeführt haben. Sie haben völlig recht, wenn Sie behaupten, dass damals alle Sachverständigen gesagt haben: Das ist nicht verfas- Dr. Volker Wissing (FDP): sungskonform. Die Sachverständigen haben sogar ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sagt: Das ist evident verfassungswidrig. Aber es gehört Die Große Koalition gleicht einem Auto, bei dem das doch ein Stück Dreistigkeit dazu, dass man, wenn man Gaspedal an die Bremse gekoppelt ist: Die eine Seite so etwas für verfassungswidrig hält, dafür dann im Deut- will Gas geben, die andere legt eine Vollbremsung hin. schen Bundestag seine Hand hebt. Hinten, auf der Hutablage dieses merkwürdigen Fahr- zeugs, sitzt ein Wackeldackel namens CSU, und der (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie nickt immer brav mit dem Köpfchen. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei GRÜNEN) Abgeordneten der SPD) So kann man in diesem Land doch nicht glaubwürdig Genau das ist der Zustand, in dem sich die CSU hier im Politik machen. Bundestag befindet: Es wird alles schön abgenickt. Diese angeblich so große Koalition hat unserem Land Sie spucken in Bayern große Töne, und hier in Berlin bisher nichts gebracht. Sie haben das Land keinen nen- machen Sie alles mit, was die Bundesregierung will. Das nenswerten Schritt nach vorne gebracht, weil Sie sich ist inzwischen die Arbeitsteilung: die CSU in München – auf Reformschritte, die unser Land braucht, nicht eini- Regierungspartei, die CSU in Berlin – Abnickpartei. Es (B) gen können. gab einmal eine Zeit, da haben Sie mit Ihrem Partner (D) CDU auf Augenhöhe gespielt. Inzwischen sind Sie der (Beifall bei der FDP – Florian Pronold [SPD]: verlängerte Wurmfortsatz der Großen Koalition. Bis jetzt war die Rede gut, jetzt wird sie schlecht!) (Beifall bei der FDP) – Hören Sie ruhig zu, Herr Kollege Pronold! – Sie haben In Bayern bläst Huber in die Tuba, in Berlin ist mit Glos das Land nicht nach vorne gebracht, weil Sie sich immer nichts los. Das ist der Zustand der Christsozialen im nur dann einig sind, wenn es zulasten der Bürgerinnen Deutschen Bundestag. und Bürger in diesem Land geht. Die Stillstandspolitik lassen Sie sich von den Menschen in Deutschland, die Welche Initiative ist denn von Ihnen, von der CSU, hart arbeiten, teuer bezahlen. gekommen? Sie wollen sich als Steuerentlastungspartei profilieren? Was haben Sie vorzuweisen? Einen ermä- (Beifall bei der FDP) ßigten Umsatzsteuersatz für Seilbahnen! Sie sind allen- Sie haben die Mehrwertsteuer erhöht, die Versiche- falls die Partei der Gondelpauschale, aber doch nicht der rungssteuer erhöht, Sie haben den Sparerfreibetrag ge- Pendlerpauschale. kürzt, Sie haben die Entfernungspauschale gekürzt. Ins- gesamt 19 Steuererhöhungen hat die Große Koalition (Beifall bei der FDP) zulasten der Bürgerinnen und Bürger beschlossen, und Die CSU in München beschließt ein großes Steuerkon- der politische Wackeldackel hat in jedem Einzelfall zept, und davon kommt in Berlin nichts an. schön mit dem Köpfchen genickt und brav zugestimmt. (Dirk Niebel [FDP]: Das ist ja auch ein weiter (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Weg!) der LINKEN) Das ist die Wahrheit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ihrem Engage- ment für die Rückkehr zur alten Entfernungspauschale Sie erzählen den Wählerinnen und Wählern in Bay- hätten Sie längst ernst machen können. Sie hätten Ihren ern, die CSU sei gegen die Kürzung der Pauschale gewe- Antrag einbringen können; aber natürlich haben Sie das sen. Ich meine, Sie müssen gespaltene Persönlichkeiten nicht getan. Es ist reines Wahlkampfgetöse in Bayern. sein, wenn Sie in Bayern gegen diejenigen Dinge sind, die mit Ihrer Stimme im Deutschen Bundestag den Weg (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Christine ins Bundesgesetzblatt gefunden haben. Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19027

Dr. Volker Wissing (A) Sie haben heute die Gelegenheit, Ihre Glaubwürdig- (Dirk Niebel [FDP]: Die sind natürlich im (C) keit unter Beweis zu stellen. Wahlkampf, damit Sie weniger Stimmen krie- gen!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Keiner. Keiner hat ein Interesse daran, heute hier im Wir lassen Sie nicht so einfach davonkommen, wenn Sie Bundestag zu sein. sagen: Das ist ein Spielchen der Opposition. So einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht das nicht. Wer in (Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk Bayern Klartext spricht, muss mit seiner Stimme auch in [CDU/CSU]: Die dürfen gar nicht hier rein!) Berlin Klartext sprechen. Die CSU wirbt, argumentiert und kämpft offensiv für (Beifall bei der FDP und der LINKEN) die Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ers- ten Kilometer; daran besteht überhaupt kein Zweifel. Sie müssen sich heute schon entscheiden. Dafür sind Sie hier, und dazu zwingt Sie die Opposition im Deutschen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bundestag. Lachen bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Oh doch!) Dann wird sich zeigen, ob Sie die Menschen in Bay- ern hinters Licht führen wollen oder ob Sie tatsächlich Der 30-jährige Mechaniker mit zwei Kindern, der hinter dem stehen, was Sie dort sagen. Es wäre interes- 80 Kilometer zu seiner Arbeit nach Regensburg fahren sant zu wissen, wie viele Menschen Ihnen in Bayern auf muss, stellt zu Recht die Frage, wieso er tagtäglich in der den Leim gegangen sind und dieses Flugblatt unter- Früh aufsteht und zur Arbeit fährt. Er rechnet mir und schrieben haben. Ich würde es wirklich gerne wissen; genauso Ihnen vor, dass er mit zwei Kindern fast das- aber das werden Sie uns nicht verraten. Eine Meldung selbe in der Tasche hätte, wenn er Hartz IV beziehen der CSU-Landesleitung besagt: würde und zu Hause bliebe. Deswegen muss sich Leis- tung lohnen. Eine umfassende Zwischenbilanz der CSU-Unter- schriftenaktion für die Wiedereinführung der alten (Dirk Niebel [FDP]: Sie haben 19 Steuererhö- Pendlerpauschale wird es vor der bayerischen hungen mitgemacht!) Landtagswahl am Sonntag nicht mehr geben. Wir als CSU stehen für eine steuerliche Entlastung für (Lachen bei der LINKEN – Dirk Niebel Arbeitnehmer, Mittelstand, Familien und Pendler um [FDP]: Das ist ja feige!) 28 Milliarden Euro. Das ist wirklich interessant. Das lässt hoffen, dass die (Dirk Niebel [FDP]: Hier die Hand heben und (B) (D) Bayern Ihnen inzwischen nicht mehr auf den Leim ge- in München rufen: Haltet den Dieb! – Bettina hen; denn offensichtlich haben Sie nicht viele Bürgerin- Hagedorn [SPD]: Warum steht es in Ihrem nen und Bürger hinters Licht führen und dazu verleiten Wahlprogramm ganz anders?) können, Ihre lächerliche Unterschriftenaktion in Bayern Wir stehen zudem für eine Senkung der Lohnnebenkos- zu unterstützen. Bekennen Sie doch Farbe, aber dafür ten bei der Arbeitslosenversicherung, um die Arbeitneh- sind Sie zu feige! Das, was Sie in Bayern vertreten, ist merinnen und Arbeitnehmer zu entlasten. nicht glaubwürdig. Die Menschen werden dafür der CSU ihre Stimme zu Recht verweigern. (Dirk Niebel [FDP]: Glaubt kein Mensch!) (Beifall bei der FDP und der LINKEN – Mehr Netto vom Brutto ist das Gebot der Stunde und die Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Beifall von Politik der CSU. der FDP und der Linken, Volksfront lässt grü- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ßen!) Deswegen stehen wir für die Wiedereinführung der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer. Wir als CSU haben das den Bürgerinnen und Bürgern versprochen. Nächster Redner ist der Kollege Albert Rupprecht für Wir werden nicht nachgeben, bevor dies umgesetzt ist. die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Beifall bei der LINKEN – Florian Pronold [SPD]: Mehr Applaus bei der Linken als bei Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): der CSU!) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir brauchen zur Umsetzung schlichtweg eine Mehr- Herr Kollege Wissing, Sie reden über den bayerischen heit in der Koalition im Deutschen Bundestag. Das heißt, Landtagswahlkampf. Ich frage Sie: Wo sind denn die wir müssen Überzeugungsarbeit leisten. bayerischen Kollegen der FDP? (Lachen und Beifall bei der LINKEN) (Dirk Niebel [FDP]: Wo ist eigentlich Herr Huber heute?) Die Lage ist, wie sie ist. Wir werden leider vor Dezem- ber keine Entscheidung bekommen. Wieso redet hier kein bayerischer Kollege? Ist heute ein einziger bayerischer FDP-Kollege anwesend? – (Zurufe von der FDP und der LINKEN: Oh!) 19028 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Albert Rupprecht (Weiden) (A) Anders als bei der CSU, wo es einen klaren und eindeu- – Die FDP macht bei diesem Trauerspiel auch noch mit. (C) tigen Beschluss der Partei und der Gremien gibt, gibt es bei der SPD diesen Beschluss, Herr Pronold, nicht. Es Sehr geehrte Damen und Herren, wir lehnen den An- spricht nichts dagegen, dass Sie sich heute hier hinstel- trag der Linken ab. Die Parlamentarier der CSU haben len und sagen: Wir warten das Urteil des Bundesverfas- dies in einer schriftlichen Erklärung nach § 31 der Ge- sungsgerichts ab, aber wir beschließen vonseiten der schäftsordnung begründet. SPD das, was wir wollen. Vonseiten der CSU gibt es die- (Lachen bei der LINKEN und der FDP – sen Beschluss: Wir werden die Pendlerpauschale wieder Florian Pronold [SPD]: Welch revolutionärer einführen. Akt!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ich erlaube mir, diese Erklärung in Auszügen vorzulesen Iris Gleicke [SPD]: Machtvolle Demonstra- – ich zitiere –: tion! – Florian Pronold [SPD]: Was sagt Frau Merkel zu der Frage?) (Dirk Niebel [FDP]: Jetzt wird es peinlich!) Ein Teil der CDU-Kollegen unterstützt den CSU-Vor- Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute schlag. zur Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sa- che, (Dirk Niebel [FDP]: Ist nicht wahr!) (Zurufe von der Linken: Natürlich geht es uns – In der Tat. Ein Teil der CDU-Kollegen will das Urteil um die Sache! – Oh doch! – Worum denn des Bundesverfassungsgerichts im Dezember abwarten. sonst?) Wir als CSU würden uns eine schnellere Entscheidung wünschen. Aber ich respektiere, dass Kollegen erst nach sondern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. dem Urteil entscheiden wollen. (Beifall bei der CDU/CSU – Hüseyin-Kenan (Dirk Niebel [FDP]: Nach der Wahl!) Aydin [DIE LINKE]: Ha, ha, ha! – Hartmut Ich hoffe natürlich, dass das Verfassungsgericht unsere Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Position stärkt und wir dann in der Regierung schnell zu Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- einer Lösung kommen werden. tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen … (Florian Pronold [SPD]: Das war die pein- haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle lichste Rede, die hier im Bundestag gehalten Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. worden ist!) (B) (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Oje!) (D) Lafontaine hat schon vor Wochen angekündigt, dass … Die Entspannung der Lage der öffentlichen er die CSU ärgern wird, indem er einen Antrag der Lin- Haushalte … macht aus unserer Sicht eine Rück- ken mit der Position der CSU zur Pendlerpauschale hier kehr zur alten Pendlerpauschale möglich. einbringen will. Nun liegt der Antrag der Linken vor. (Dirk Niebel [FDP]: Hat Ihnen das etwa Herr Erstens. Es ist festzuhalten, dass der Antrag nicht mit Huber aufgeschrieben?) dem CSU-Konzept identisch ist. (Dirk Niebel [FDP]: Es steht nämlich nicht CSU Diese Auffassung wollen wir in der Koalition mit drüber! – Zurufe von der Linken: Oh!) Nachdruck durchsetzen. Es fehlt zum Beispiel jeglicher Vorschlag zur Finanzie- (Dirk Niebel [FDP]: Oh ja! Ihren Nachdruck rung der Entlastung. sieht man!) (Lachen bei der LINKEN) … Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Zweitens. Es geht der CSU (Dr. Volker Wissing [FDP]: Und was ist mit (Dirk Niebel [FDP]: Um Wählertäuschung!) Ihrer Unterschriftenaktion? – Dirk Niebel um ein Gesamtpaket zur Entlastung bei Steuern und Ab- [FDP]: Ein Spektakel ist Ihre Unterschriften- gaben, das weit über das Thema Pendlerpauschale hin- aktion! Herr Kollege, Sie sind ein Wackel- ausgeht. dackel!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die programmatischen Eckpunkte der Linken for- dern eine Politik, die Deutschland international iso- Es ist offensichtlich, dass es Lafontaine und der Linken liert, die Fundamente des Rechtsstaats und der so- nicht um die Sache, sondern ausschließlich um medialen zialen Marktwirtschaft gefährdet Krawall im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl geht. (Widerspruch bei der Linken – Hartmut (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Koschyk [CDU/CSU]: Ich sage nur: Volks- Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die FDP front!) macht mit! – Dirk Niebel [FDP]: Das ist bei der CSU mit der Unterschriftensammlung und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bür- ganz anders!) ger Deutschlands massiv bedroht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19029

Albert Rupprecht (Weiden) (A) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die Vor dem Bundesverfassungsgericht haben Sie sich gegen (C) Volksfront lässt grüßen!) die Zahlung der Entfernungspauschale ab dem ersten Ki- lometer ausgesprochen. Wir grenzen uns eindeutig von dieser Partei ab. (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Nein! Wir nicht! Die SPD!) der LINKEN – Hartmut Koschyk [CDU/ CSU]: Sage mir, mit wem du abstimmst, und – Natürlich! Sie sind doch in der Regierung, oder etwa ich sage dir, wer du bist! Die FDP legt sich tat- nicht? Habe ich da etwas übersehen? Ich sage es noch sächlich gemeinsam mit den Linken ins Bett! einmal: Sie sind in der Regierung und kommen da auch Pfui Teufel! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Sind nicht heraus. Sie jetzt eigentlich für oder gegen die Pendler- pauschale? Sagen Sie dazu doch auch mal et- (Dirk Niebel [FDP]: Doch! Natürlich kommen was! Dazu hört man von Ihnen gar nichts!) die da heraus! Hoffentlich sogar schon bald!) Sehr geehrte Damen und Herren, diese Erklärung ha- Wir sind dagegen, dass ein Ehepaar mit zwei Kindern, ben CSU-Abgeordnete unterschrieben, die den Aufstieg das ein Haushaltseinkommen von 48 000 Euro hat, Bayerns vom Armenhaus Deutschlands an die Spitze 516 Euro zusätzlich zahlen muss. Bisher habe ich immer Deutschlands in ihrer Heimat erleben durften. Das ist gedacht, wir sind uns in diesem Hause einig, dass diese auch das Ergebnis der außerordentlich erfolgreichen Regelung geändert werden muss. Sie verlassen sich aber CSU-Politik in den letzten 60 Jahren. Vernünftige, bür- lieber auf das Bundesverfassungsgericht. Ich sage Ihnen: gernahe Politik hat die Kraft, zu gestalten und zu prägen, Wir sind das Parlament. Es gibt eine Regierung, keine wie es die CSU in Bayern und Deutschland seit nunmehr Appellierung. 60 Jahren macht. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Herzlichen Dank. Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wir sollten hier entscheiden und die Verantwortung Oskar Lafontaine [DIE LINKE] – Dirk Niebel nicht abschieben. [FDP]: Armer Kerl! Das wird nichts! Aber da müsst ihr jetzt durch! – Christine Scheel Meine Damen und Herren, die CSU hat im [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Vor- Jahre 2006 all diese Kürzungen mitbeschlossen. stellung war wirklich kabarettreif!) (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja!) (B) (D) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Überall war sie beteiligt. Natürlich haben Sie inzwischen von den Linken gelernt. Das freut mich. Macht das ruhig Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die öfter! Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Heiterkeit und Beifall bei der Linken) Winkelmeier [fraktionslos]) Denn dann lernt ihr, dass ihr auch das eine oder andere Gesetz von uns übernehmen solltet. Klaus Ernst (DIE LINKE): Jetzt ist die CSU plötzlich dafür, dass die Kilometer- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und pauschale wieder ab dem ersten Kilometer gezahlt wird; Herren! Um was es hier geht, ist inzwischen bekannt: das freut uns. Herr Huber hat in einem Sommerinter- Wir wollen, dass die Kilometerpauschale wieder ab dem view, auf einem Strohballen sitzend, ersten Kilometer gezahlt wird. Das sehen wir allerdings nur als ersten Schritt an. Natürlich wissen auch wir, dass (Heiterkeit bei der LINKEN) davon insbesondere die Leute, die nur wenig Steuern zahlen, nur sehr wenig haben. Deshalb muss dieser Weg gesagt: Die CSU wird darauf bestehen, dass wir die alte fortgeführt werden. Pendlerpauschale wiederbekommen. – Genau das steht in unserem Antrag. Er beinhaltet das, was auch Herr (Beifall bei der LINKEN – Christine Scheel Huber gesagt hat. Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Wie über unseren Antrag so sehr echauffieren. interessant! Haben Sie das auch schon ge- merkt? – Dirk Niebel [FDP]: Wie wäre es (Beifall bei der LINKEN – Hartmut Koschyk denn, wenn wir erst einmal alle Autos verstaat- [CDU/CSU]: Sie glauben doch wohl nicht im lichen, Herr Kollege?) Ernst, dass wir einem Antrag von euch Linken zustimmen!) Die Koalition hat die Regelungen zur Entfernungs- pauschale verschlechtert. Das gilt natürlich auch für die Außerdem hat Herr Huber gesagt: Die Fahrt zur Ar- SPD. Denn die Kollegen von der SPD waren daran kräf- beit ist keine Fahrt zum Golfplatz. – Das war übrigens tig beteiligt. Vor dem Bundesverfassungsgericht tritt die schon 2006 so, als Sie die Kürzung der Pendlerpauschale Bundesregierung übrigens geschlossen auf, und zur Re- mitbeschlossen haben. gierung gehören auch die SPD und auch die CSU. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der LINKEN) Winkelmeier [fraktionslos]) 19030 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Klaus Ernst (A) Aber vielleicht haben Sie das damals noch nicht be- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C) merkt. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Herr Ramsauer hat vorhin gesagt – jetzt wird es be- sonders interessant –, dass die CSU gegen unseren An- Herr Ramsauer, das bayerische Wappentier ist der trag stimmt, weil er ein durchsichtiges taktisches Manö- Löwe und nicht der flüchtende Hase. Das könnten Sie ver sei. sich vielleicht auch einmal merken. Beim Kilometer- geld, beim Rauchverbot und bei der Gesundheitsreform: (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ja, natürlich! Sie schlagen doch nur noch Haken. Das ist doch klar! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Natürlich ist das ein taktisches Manö- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir wollen ver! Die Gründe hat der Kollege Rupprecht Ih- das CSU-Wahlplakat noch einmal sehen!) nen eben vorgelesen! Aber Sie haben wohl wieder einmal nicht zugehört!) Mit Ihrem Verhalten machen Sie die CSU zum braven Dackel, der von Frau Merkel durch die politische Arena Herr Ramsauer, ich sage Ihnen, was ein taktisches Ma- geführt wird. Das ist die Wahrheit. növer ist: Es ist ein taktisches Manöver, dass Sie hier im Bundestag und in der Öffentlichkeit so tun, als sei die (Beifall bei der LINKEN) CSU auf Bundesebene in der Opposition. Sie regieren Stimmen Sie unserem Antrag zu, dann kann man Sie hier mit! Das ist ein taktisches Manöver. wenigstens wieder ein wenig ernster nehmen. (Beifall bei der LINKEN – Hartmut Koschyk (Lebhafter Beifall bei der LINKEN sowie des [CDU/CSU]: Wer schreit, hat unrecht!) Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Ich sage Ihnen: Es ist ein taktisches Manöver, wenn Sie ein Plakat wie dieses hier in Bayern plakatieren. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Der Redner hält ein Wahlplakat der CSU mit Das Wort hat nun die Kollegin Christine Scheel für der Aufschrift: „Pendlerpauschale jetzt“ hoch – die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Bravo!) (Dirk Niebel [FDP]: Jetzt bloß nicht sachlich – Ja, bravo! Darauf steht „Pendlerpauschale jetzt“. werden!) (Beifall bei der LINKEN – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut! Bravo!) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) Herr Ramsauer, ich frage mich, wann bei Ihnen eigent- Die Debatte nimmt teilweise kabarettistische Züge an. (D) lich „jetzt“ ist. Allerdings sind nicht alle Beiträge gutes Kabarett. (Beifall bei der LINKEN – Hartmut Koschyk Herr Wissing, Sie haben die CSU als Wurmfortsatz [CDU/CSU]: Sie haben nicht einmal ein sol- bezeichnet. ches Wahlplakat!) (Dirk Niebel [FDP]: Eigentlich wollte er Ist „jetzt“ vorgestern, weil Sie da gerade einen schönen „Wurm“ sagen!) Presseauftritt hatten? Ist „jetzt“ übermorgen? „Jetzt“ heißt jetzt! Ich würde das anders formulieren, weil ich eine andere Sprache spreche. Fakt ist aber doch, dass der Einfluss (Beifall bei der LINKEN – Der Redner hält der CSU in der Großen Koalition gegen Null gegangen das Wahlplakat der CSU falsch herum hoch – ist. Lachen bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – So könnte man es auch machen, weil diese Politik auf und bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gregor dem Kopf steht. Das ist das Problem. Gysi (DIE LINKE) – Dirk Niebel (FDP): Zum (Beifall bei der LINKEN – Dr. Peter Ramsauer Glück!) [CDU/CSU]: Wissen Sie eigentlich, wo oben Herr Rupprecht, das ist wohl doch der Grund dafür, und unten ist?) dass Sie hier eine Erklärung vorgetragen haben, die Ih- Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen: nen aber auch nichts nützen wird. Wir können nur hof- Gesetze werden hier und nicht durch Wahlplakate ge- fen, dass möglichst viele Zeitungen diese Erklärung ab- macht. Ich habe den Eindruck, dass Sie Politik beim Au- drucken. Damit würden sie nämlich dabei helfen, dass tofahren nach zwei Maß Bier machen. Das ist ein biss- die CSU am Sonntag mit Sicherheit unter 50 Prozent chen zu wenig. bleiben wird. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie reden so, als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, hätten Sie schon ein paar Maß Bier intus!) bei der FDP und der LINKEN) In aller Klarheit: Wenn Sie in Bayern für die Wieder- Herr Ramsauer hat auch in Bayern in verschiedensten einführung der Pendlerpauschale plakatieren und hier Äußerungen gesagt, dass bei diesem Thema ein Spekta- dagegen stimmen, dann ist das ein angekündigter Wahl- kel betrieben wird. Mit Blick auf den heutigen Tag ha- betrug. ben Sie auch wieder gesagt, dass die Linke hier ein Poli- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19031

Christine Scheel (A) tikspektakel betreibt. Ich möchte einmal wissen, was in tig. Jeder weiß, dass die Entscheidung des Bundesverfas- (C) Bayern abläuft. sungsgerichts erst nach dem 28. September erfolgt. Wir werden in den nächsten Tagen bis Sonntag alle in Bayern (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) auffordern, nicht auf Ihre Propaganda hereinzufallen. In jedem Bierzelt, auf jedem Stadtfest und bei jeder Danke schön. Wahlkampfveranstaltung in irgendeiner Stadthalle findet dort ein Politspektakel zur Entfernungspauschale statt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Letztendlich geht es darum, dass die CSU einen Be- der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Das hat sie gut schluss mitgetragen hat, von dem sie heute nichts mehr gemacht! Für eine Grüne gar nicht schlecht!) wissen will, weil sie gemerkt hat, dass er wohl verfas- sungswidrig ist, dass er bei den Stammtischen nicht an- kommt und sich die Leute tierisch darüber aufgeregt ha- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ben. Deswegen betreiben Sie dieses Spektakel, was dann Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege zu dieser Unterschriftenaktion geführt hat. Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion. (Dirk Niebel [FDP]: Aber nicht viele!) (Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Jetzt stell’ mal alles klar!) Der Kollege der FDP hat darauf hingewiesen. Sie sind aber zu feige, diese Unterschriften auch vorzulegen und Otto Bernhardt (CDU/CSU): zu sagen, wie viele am Ende wirklich dafür unterschrie- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ben haben, dass die Entfernungspauschale ab dem ersten Herren! Ich will versuchen, wieder etwas mehr Sachlich- Kilometer wieder eingeführt wird. keit in diese Debatte zu bringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Lachen bei der LINKEN) der FDP und den LINKEN) Die Große Koalition hat im Jahre 2006 ein umfassen- Ich kann Ihnen sagen: So blöd sind die Leute nicht. des Sanierungsprogramm für den Haushalt beschlossen. Die Menschen durchschauen dieses Manöver und wis- Das war damals dringend erforderlich. Ein Punkt waren sen, dass viele von der Wiedereinführung der alten Ent- die Änderungen bei der steuerlichen Absetzbarkeit der fernungspauschale überhaupt nicht profitieren. Die Pendlerpauschale. Ich finde es nicht gut, dass sich Mit- Leute wissen auch, dass man letztendlich den Arbeitneh- glieder der Großen Koalition heute von dieser Entschei- merpauschbetrag senken will. Davor haben die Leute dung verabschieden, die wir seinerzeit gemeinsam getra- Angst; denn genau das wäre der falsche Weg. gen haben. (B) (D) Sie sagen: Zurück zur Pendlerpauschale ab dem ers- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ten Kilometer, aber die Finanzierung muss stehen. – Die bei Abgeordneten der SPD – Dirk Niebel SPD sagt: Dann realisieren wir eben ein anderes Modell. [FDP]: Die CSU auch!) Wir schauen uns einmal an, was das Bundesverfassungs- gericht dazu sagt. – Die Leute wissen dann, dass eventu- Die Fakten haben sich inzwischen ein Stück weit ge- ell ein Modell Wirklichkeit wird, worunter andere als ändert. Zum Ersten sind wir auf dem Wege zur Sanie- diejenigen leiden werden, die heute darunter leiden. In- rung der öffentlichen Finanzen ein deutliches Stück vor- sofern sind die Sorgen der Menschen berechtigt. angekommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Sie sollten sich schämen, so zu tun, als könnten Sie Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der sich aus der Affäre ziehen. Wer hat denn zugestimmt? Es Kollegin Dr. Höll? ging doch nicht nur um den Koalitionsvertrag, der schon eine Weile zurückliegt und hoffentlich der letzte dieser Otto Bernhardt (CDU/CSU): Großen Koalition war, sondern auch um die Frage, wer Wenn ich den Gedanken zu Ende geführt habe, gerne. – im Bundesrat zugestimmt hat. Im Bundesrat hat auch die Zum Zweiten haben sich die Benzin- und Dieselpreise in CSU zugestimmt. Jetzt wollen Sie nichts mehr damit zu einem Ausmaß erhöht, das wir damals nicht absehen tun haben. Das ist Opposition gegen sich selbst. Das ist konnten. Diese Situation führt dazu, dass insbesondere eine Opposition, die die Menschen durchschauen und in den Flächenländern – ich komme aus Schleswig-Hol- nicht akzeptieren. stein – über eine Änderung der jetzigen Regelung nach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gedacht wird. bei der SPD, der FDP und der LINKEN – Dirk (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Niebel [FDP]: Die können halt nicht Opposi- tion!) Wir sind aber in der Großen Koalition gemeinsam mit der Regierung zu dem Ergebnis gekommen, zunächst die Wenn Sie eine neue Perspektive fordern, dann hätten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwar- Sie sich längst dafür einsetzen können. Wir haben mehr- ten; denn wir wissen nicht, ob die bestehende Regelung mals im zuständigen Finanzausschuss darüber gespro- verfassungswidrig ist. chen, wie wir diese Frage lösen wollen. Sie haben sich aber verweigert und wollen abwarten, wie das Bundes- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das haben die verfassungsgericht entscheidet. Das ist sehr durchsich- Sachverständigen doch alle gesagt!) 19032 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Otto Bernhardt (A) Wenn wir eine Neuregelung beschließen, dann wissen Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- (C) wir nicht, ob sie der Rechtsprechung des Bundesverfas- lung auf Drucksache 16/9569, den Antrag der Fraktion sungsgerichts entspricht. Es gilt also abzuwarten. Die Linke auf Drucksache 16/9167 abzulehnen. Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion Die Linke über (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schützenhilfe von der Küste!) Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Wir sollten aber die Möglichkeiten der Pendlerpau- Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen eingenommen? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann eröffne schale nicht überschätzen. Um eine Zahl zu nennen: Für ich die Abstimmung. den Bezieher eines Durchschnittseinkommens geht es um 5 Euro im Monat. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist offensichtlich (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Es gibt Leute, nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und für die das viel ist!) bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli- Deshalb sind wir entschlossen, die Bürger stärker zu ent- 2) lasten als nur durch diesen einen Schritt. Die Bundesre- chen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben . gierung bereitet ein größeres Entlastungsprogramm vor. Ich bitte Sie herzlich, Ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals zu führen, wenn Sie den Beratungen nicht (Dirk Niebel [FDP]: Davor graut es mir schon! – mehr folgen wollen, damit wir die Beratungen fortsetzen Dr. Volker Wissing [FDP]: Der Finanzminister und den Rednerinnen und Rednern in der anschließen- sagt aber, das geht nicht!) den Debatte konzentriert folgen können. Im Rahmen dieses Entlastungsprogramms werden die Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: hervorragenden Vorstellungen aus dem CSU-Steuerkon- zept eine sehr wichtige Rolle spielen. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – 2009 (JStG 2009) Lachen bei der SPD – Florian Pronold [SPD]: – Drucksache 16/10189 – Der war gut!) Überweisungsvorschlag: Innerhalb der Union sind wir uns über die Grundzüge Finanzausschuss (f) Sportausschuss eines solchen Konzeptes längst einig. Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Dirk Niebel [FDP]: Leipziger Parteitag!) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (B) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (D) Es gibt einen kleinen Unterschied, über den wir nach der Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diskutie- ren werden. In dieser Diskussion werden Sie erkennen, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die wie stark die CSU nicht nur innerhalb der Union, son- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver- dern auch innerhalb der Großen Koalition ist. fahren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Sie können sicher sein, dass die CSU ein wichtiges Wort nerin für die Bundesregierung der Parlamentarischen bei den Konsequenzen, die wir dann ziehen werden, mit- Staatssekretärin Nicolette Kressl das Wort. reden wird. Je stärker die CSU am Sonntag wird, desto (Beifall bei der SPD) mehr hat sie zu bestimmen. Herzlichen Dank. Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister der Finanzen: (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jahressteuergesetze gelten manchmal als Sammelbecken für die verschie- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: densten Maßnahmen, zum Beispiel um EU-Recht umzu- setzen oder kleinere Veränderungen, auch im redaktio- Ich schließe die Aussprache. nellen Bereich, vorzunehmen. Auch solche Regelungen Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss- sind in dem Entwurf zum Jahressteuergesetz, der Ihnen empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der heute vorliegt, enthalten, aber nicht nur solche. Sie kön- Fraktion Die Linke mit dem Titel „Entfernungspau- nen in diesem Gesetz eine durchgehende Linie erkennen; schale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmä- denn es enthält eine Reihe von Vorschlägen, die insge- ßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen“. Dazu liegt samt zu einer deutlichen steuerlichen Entlastung führen oder aber ehrenamtliches Engagement noch mehr als eine große Anzahl von persönlichen Erklärungen nach bisher unterstützen. § 31 unserer Geschäftsordnung vor1). Sie alle werden in den Stenografischen Bericht aufgenommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

1) Anlagen 2 bis 7 2) Siehe Seite 19035 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19033

Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl (A) Ich will Ihnen dafür einige Beispiele nennen. Die benordnung zu beseitigen. Ich halte das für eine Frage (C) Steuerfreiheit für Leistungen des Arbeitgebers zur Ver- der Steuergerechtigkeit. Dies ist eben nicht nur eine besserung des allgemeinen Gesundheitszustandes und technische Frage. Nach der Debatte, die wir in den letz- der betrieblichen Gesundheitsförderung mag technisch ten Monaten hatten, ist die Frage eben, ob Steuerhinter- klingen, ist aber, wovon wir überzeugt sind, eine wich- ziehung wie ein Kavaliersdelikt behandelt werden soll. tige Maßnahme im Interesse der Arbeitnehmer und der Mit der vorgeschlagenen Änderung bekennt sich die Po- Unternehmen; denn damit wird die Bereitschaft von Ar- litik ausdrücklich dazu: Steuerhinterziehung ist eben beitgebern erhöht werden, ihren Arbeitnehmern Dienst- kein Kavaliersdelikt und wird entsprechend langfristig leistungen zur Verbesserung des allgemeinen Gesund- verfolgt. heitszustands anzubieten. (Beifall bei der SPD) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) An diesen Beispielen wird deutlich, dass mit dem Jah- Wir finden, dass dies ein erster wichtiger Schritt ist. Wir ressteuergesetz, das natürlich eine ganze Reihe von Ein- wollen nicht nur über die Frage reden, wie die Bedin- zelregelungen enthält, den Menschen insgesamt ein gungen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit verbes- deutliches Signal der Entlastung, der Erleichterung für sert werden können, sondern auch im steuerlichen Be- Engagement im ehrenamtlichen Bereich und – siehe Ver- reich dazu eine erste wichtige Maßnahme einbringen. folgungsverjährung – ein Signal der Steuergerechtigkeit gegeben wird. Natürlich werden wir den Entwurf, wie Wir werden mit diesem Gesetz eine Erleichterung bei immer, in einer Anhörung ausführlich beraten. Aber ich der Haftung im steuerlichen Spendenrecht auf den Weg werbe schon jetzt ausdrücklich dafür, dem Gesetz am bringen. Ende im Parlament eine überzeugende Mehrheit zu ver- schaffen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vielen Dank. Es ist immer wieder diskutiert worden, inwieweit die In- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) anspruchnahme der Gesamtschuldner in diesem Bereich eine mögliche Hemmschwelle bei der Entscheidung ist, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sich ehrenamtlich zu engagieren. Wir wollen, dass die Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing handelnden natürlichen Personen, also diejenigen, die für die FDP-Fraktion. sich selbst persönlich engagieren, nur dann in Anspruch genommen werden, wenn die Inanspruchnahme der Kör- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) perschaft, in diesem Falle des Vereins, erfolglos geblie- (B) ben ist. Wir sind der Überzeugung, dass dies eine deutli- Dr. Volker Wissing (FDP): (D) che Erleichterung in diesem Bereich ist. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Jahressteuergesetz ist es so ähnlich wie mit dem (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Christkind: Es kommt alle Jahre wieder zu uns. Das Ent- Wir werden in diesem Gesetz auch festschreiben, dass lastungsvolumen von 220 Millionen Euro könnte durch- die Kommunen an ihrer bisherigen Verwaltungspraxis aus eine schöne Bescherung werden. Von den 220 Mil- zum steuerlichen Querverbund festhalten können. Auch lionen Euro Entlastung zahlt der Bund allerdings nur dieses mag technisch klingen, aber für uns ist es die Ba- 89 Millionen Euro; 131 Millionen Euro müssen die Län- sis dafür, dass die Kommunen auch in Zukunft die Ver- der und Gemeinden aufbringen. Es ist schon eine beson- antwortung für die Daseinsvorsorge für die Menschen dere Form der Großzügigkeit des BMF, hier zu verteilen besser übernehmen können, als es nach dem BFH-Urteil und andere die Rechnung bezahlen zu lassen. möglich gewesen wäre. Insofern ist das für uns eine ganz Die 220 Millionen Euro klingen nach viel Entlastung. wichtige Maßnahme in diesem Gesetz. Aber wenn man bedenkt, dass von der KfW an den Fi- (Beifall bei der SPD) nanzmärkten gerade fast das Doppelte versenkt worden ist, dann erkennt man, wie wenig Entlastung Sie hier tat- Wir nehmen mit diesem Gesetz eine Debatte auf, die sächlich gewähren. Eine spürbare Steuerentlastung ist es über die Frage gab, inwieweit die Lohnsteuerklasse V das nicht. Das verdient nicht, besonders gelobt zu wer- für die weniger verdienenden Partner und Partnerinnen den. in einer Ehe zu einem Hemmnis für die Aufnahme einer Beschäftigung werden kann. Wir schlagen dem Parla- (Beifall bei der FDP – Florian Pronold [SPD]: ment vor, sich für ein Faktorverfahren zu entscheiden, in Auch die Hälfte von viel ist viel!) dem zum Beispiel, um es konkret zu machen, in Zukunft Das Jahressteuergesetz, Frau Kressl, ist wieder einmal bei der Option für dieses Faktorverfahren im Vergleich ein Gesetz von der Verwaltung für die Verwaltung. Der zur bisherigen Lohnsteuerklasse V bis zu einem Monats- Bundesfinanzminister erfüllt wieder einmal die Wün- lohn von 900 Euro keine Lohnsteuer zu zahlen ist. sche seines Hauses und hat keine große Linie in seinem Gesetzentwurf. Im Grunde genommen werden hier die Wir schlagen auch vor, die bestehende Diskrepanz Schubladen des Bundesministeriums der Finanzen ge- zwischen der Steuerfestsetzungsverjährung und der leert. Ich sage Ihnen: Einiges wäre besser in diesen Strafverfolgungsverjährung in Fällen der Steuerhinter- Schubladen geblieben. ziehung durch eine Verlängerung der Verjährungsverfol- gungsfrist für Steuerhinterziehung in § 376 der Abga- (Beifall bei der FDP) 19034 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Volker Wissing (A) Nehmen wir die Begrenzung der Absetzbarkeit des Es gibt aber nicht nur das Problem mit den Privat- (C) Schulgeldes auf 3 000 Euro als Beispiel. Das ist für Sie schulen; in diesem Gesetz ist auch noch eine Reihe ande- von der SPD eine ideologische Frage. Sie haben ein Pro- rer Probleme enthalten. Ich nehme nur Ihre Vorschläge blem mit Privatschulen, es sei denn, Frau Ypsilanti zur Dienstwagenbesteuerung. Auch dies ist wieder ein schickt ihren Sohn auf eine solche Schule, dann ist das ganz ideologisches Thema für die Sozialdemokraten. nicht ganz so schlimm, Ein Dienstwagen ist per se etwas Böses, ein Privileg, ge- gen das Sie kämpfen müssen. Dabei vergessen Sie natür- (Jörg Tauss [SPD]: Was Sie hier immer plap- lich, dass ein Dienstwagen auch ein Arbeitsgerät ist. Das pern! – Gegenruf des Abg. Ernst Burgbacher ist innerhalb der Bundesregierung offensichtlich noch [FDP]: So ist es halt!) niemandem aufgefallen. Für Sozialdemokraten sind aber ansonsten ist Ihnen das immer ein Dorn im Auge. Dienstwagen nur so lange schlimm, solange sie nicht Dabei halte ich es für einen fatalen Fehler, Eltern zu ver- selber drin sitzen. teufeln, die ihre Kinder auf eine Privatschule schicken; (Beifall bei der FDP) denn sie entlasten damit, weil Plätze in den öffentlichen Schulen nicht benötigt werden, die öffentlichen Schulen. Es wäre gut, wenn Sie einmal die Finger davon lie- Somit kann dort besser unterrichtet werden. Mehr Kin- ßen, die Dienstwagenbesteuerung ständig zu ändern. In- der auf Privatschulen, das heißt auch: mehr Mittel für zwischen müssen bei der Besteuerung fünf verschiedene Kinder an den öffentlichen Schulen. Das klammern Sie Anschaffungszeiträume unterschieden werden. Jetzt bei Ihrer ideologischen Politik natürlich völlig aus. bringen Sie noch eine sechste Regelung. Das macht un- ser Land weder ökologischer noch sozial gerechter, ge- (Beifall bei der FDP) schweige denn, dass es irgendetwas im Steuerrecht ver- besserte. Im Gegenteil, Sie machen wieder alles Privatschulen sind nicht per se Luxusinternate für komplizierter und für die Menschen teurer. Das zieht Kinder, deren Eltern nicht wissen, wohin mit dem Geld. sich wie ein roter Faden durch Ihr Steuergesetz hindurch. (Jörg Tauss [SPD]: Nur noch gaga!) Es ist keine Systematik zu erkennen. Sie wissen nicht, wohin Sie in der Steuerpolitik wollen, Sie fummeln ein Ich verstehe vor allen Dingen nicht, warum Sie das nicht bisschen da und ein bisschen dort. Damit mögen die Be- besser wissen. Sie können ja einmal mit Frau Dieckmann amten im Bundesfinanzministerium zufrieden sein, aber sprechen oder sich von Frau Ypsilanti beraten lassen. Politik für die Menschen in Deutschland machen Sie mit Die haben gute Gründe dafür, ihre Kinder lieber auf eine diesem Gesetz wieder einmal nicht. Privatschule zu schicken. Das klammern Sie völlig aus. (Beifall bei der FDP) (B) Nehmen wir das Beispiel der internationalen Schule. (D) Der Finanzminister hat uns neulich gesagt, wie wichtig Sie haben vorhin über die Situation der Ehrenamtli- der Finanzstandort Frankfurt für die Bundesrepublik chen gesprochen. Es gibt erhebliche Haftungsrisiken, Deutschland ist. Damit hat er recht. Es ist wichtig, dass wenn man sich in Deutschland ehrenamtlich engagiert. es dort auch eine internationale Schule gibt, die nämlich Schon bei dem Gesetz zur Stärkung des bürgerschaftli- den ausländischen Fachkräften ermöglicht, für einen chen Engagements haben Sie angekündigt, dass Sie Zeitraum von zwei oder drei Jahren mit ihren Kindern nachbessern werden und die verschuldensunabhängige nach Deutschland zu kommen. Haftung beseitigen wollen. Das haben Sie wieder nicht gemacht. Sie sind rein fiskalisch gelenkt und schaffen (Jörg Tauss [SPD]: Niemand ist dagegen! – Florian den wirklich schlimmen Tatbestand einer verschuldens- Pronold [SPD]: Themaverfehlung!) unabhängigen Haftung für ehrenamtlich Engagierte in Deutschland nicht ab. Das ist eine nicht tragbare Lösung, Dort werden die Kinder so unterrichtet, dass sie später weshalb ich Ihnen jetzt schon prophezeien kann, dass mit ihren Eltern wieder in ihr Heimatland zurückgehen wir dies nicht mittragen. können. Deshalb werden dort bewusst nicht die Lehr- pläne von öffentlichen Schulen übernommen. Genau Sie beschränken die steuerliche Förderung von Tätig- diese Schule sanktionieren Sie, und das ist ein Wider- keiten gemeinnütziger Organisationen im Ausland. Auch spruch zu dem, was der Finanzminister angibt, nämlich dies ist ein Fehler. Das sind massive Eingriffe in die Zi- den Finanzplatz stärken zu wollen. Sie schwächen ihn vilgesellschaft, die rein fiskalisch motiviert sind und die mit diesem Gesetz. wir in Gänze ablehnen. (Beifall bei der FDP) Sie haben einige Steuerverschärfungen bei der Abgel- tungsteuer vorgesehen. Hier sind sehr problematische Deutschland braucht gut ausgebildete Fachkräfte, die Regelungen im Gesetzentwurf enthalten. Wir werden zu uns kommen. Wir wollen ihr Know-how in unsere das von den Sachverständigen im Rahmen der Anhörung Gesellschaft integrieren. Solche Menschen brauchen in- noch hören. – Da brauchen Sie nicht mit dem Kopf zu ternationale Schulen; sonst kommen sie nicht. Genau schütteln, Herr Tauss, das sind in der Tat sehr problema- diesen Menschen machen Sie das Leben schwer. Noch tische Vorschriften. schlimmer: Sie vergraulen sie mit unsinnigen Bestim- mungen in Ihrem Jahressteuergesetz. (Jörg Tauss [SPD]: Sie sind bei fast allen The- men so neben der Kappe! – Gegenruf des Abg. (Jörg Tauss [SPD]: Unsinnige Ausführungen, Ernst Burgbacher [FDP]: Herr Tauss, das sol- aber nicht unsinnige Bestimmungen!) len andere beurteilen!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19035

Dr. Volker Wissing (A) – Es ist gut, dass Sie noch die Kappe aufhaben. Deutschland keinerlei steuerliche Entlastung geben. (C) Jetzt legt er eine steuerliche Entlastung in Höhe von Sie haben ein großes Problem angesprochen, Frau 220 Millionen vor. Auch das ist ein absurdes Durch- Kressl, nämlich das Thema der Verlängerung der Verfol- einander; offensichtlich weiß in der Bundesregierung gungsverjährung bei Steuerhinterziehung von fünf Jah- niemand mehr, in welche Richtung er will. Sie haben ren auf zehn Jahre. Es ist natürlich ein Argument, wenn den totalen Stillstand in der Steuer- und Finanzpolitik er- die Finanzverwaltung und vor allen Dingen die Strafbe- reicht. Das muss auch zum Ende dieser Großen Koali- hörden sagen, sie schafften es nicht, Steuerstraftaten in- tion führen, weil sich dieses Land – wir haben heute nerhalb von fünf Jahren aufzuklären, und brauchten des- schon umfangreich darüber diskutiert, was sich inter- wegen eine längere Verjährungsfrist. Nur hat die national verändert – in Zeiten so großer Probleme im Be- Ermittlungsarbeit bei einem normalen Betrug nach § 263 reich der internationalen Finanzmärkte einen Stillstand StGB einen ähnlichen Umfang. Dort tun Sie nichts. Es auf diesem wichtigen Feld deutscher Politik nicht leisten stellt sich die Frage, warum das Steuerstrafrecht isoliert kann. geändert wird und warum man die hier bestehenden Pro- bleme nicht auf das allgemeine Strafrecht überträgt. Wir Ich danke Ihnen. könnten es dann nämlich einmal systematisch diskutie- (Beifall bei der FDP) ren. Die FDP lehnt ein Sonderstrafrecht im Bereich des Steuerstrafrechts ab. Wir sind der Meinung, dass Steuer- straftäter in Deutschland genauso behandelt werden Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: müssen wie andere Straftäter auch. Wir wollen hier kei- Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, nen Sonderweg. Mit diesem Jahressteuergesetz sind Sie komme ich zurück auf den Tagesordnungspunkt 5 und dabei, Sonderregelungen in diesen Bereich einzuführen. gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schrift- Dies halte ich für rechtspolitisch verfehlt. führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Finanzaus- Ihr Jahressteuergesetz ist kein anständiges Steuerge- schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem setz, wie es Deutschland braucht. Sie greifen die großen Titel „Entfernungspauschale sofort vollständig anerken- Themen nicht auf, die in unserem Land angegangen wer- nen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit den müssten. Sie haben eine lächerliche Entlastung und herstellen“ bekannt: abgegebene Stimmen 547. Mit Ja teilweise sogar Belastungen in diesem Gesetz. Im haben gestimmt 450, mit Nein haben gestimmt 96, Ent- Übrigen sagt der Finanzminister immer, es könnte in haltungen 1.

(B) (D)

Endgültiges Ergebnis Eberhard Gienger Hans-Werner Kammer Abgegebene Stimmen: 547; Klaus Brähmig Ralf Göbel Steffen Kampeter davon Josef Göppel Alois Karl Dr. Peter Götz Bernhard Kaster ja: 450 Monika Brüning Dr. Wolfgang Götzer Siegfried Kauder (Villingen- nein: 96 Cajus Caesar Schwenningen) enthalten: 1 Hermann Gröhe Volker Kauder Michael Grosse-Brömer Eckart von Klaeden Ja Markus Grübel Jürgen Klimke Alexander Dobrindt Julia Klöckner CDU/CSU Thomas Dörflinger Monika Grütters Marie-Luise Dött Dr. Karl-Theodor Freiherr Kristina Köhler (Wiesbaden) Maria Eichhorn zu Guttenberg Manfred Kolbe Ilse Aigner Dr. Stephan Eisel Holger Haibach Norbert Königshofen (Lübeck) Gerda Hasselfeldt Dr. Rolf Koschorrek Peter Altmaier Ilse Falk Uda Carmen Freia Heller Hartmut Koschyk Dorothee Bär Dr. Hans Georg Faust Michael Hennrich Thomas Kossendey Thomas Bareiß Enak Ferlemann Jürgen Herrmann Ingrid Fischbach Dr. Wolf Bauer Hartwig Fischer (Göttingen) Ernst Hinsken Dr. Günter Krings Günter Baumann Dirk Fischer () Dr. Martina Krogmann Veronika Bellmann Dr. Robert Hochbaum Dr. Hermann Kues Dr. Klaus-Peter Flosbach Klaus Hofbauer Dr. (Heidelberg) Otto Bernhardt Herbert Frankenhauser Franz-Josef Holzenkamp Andreas G. Lämmel Dr. Hans-Peter Friedrich Anette Hübinger Dr. Norbert Lammert (Hof) Hubert Hüppe Peter Bleser Erich G. Fritz Susanne Jaffke-Witt Jochen-Konrad Fromme Dr. Peter Jahr Dr. Max Lehmer Dr. Maria Böhmer Dr. Michael Fuchs Dr. Hans-Heinrich Jordan Paul Lehrieder Hans-Joachim Fuchtel (Konstanz) Ingbert Liebing Wolfgang Börnsen Dr. Jürgen Gehb Dr. Eduard Lintner (Bönstrup) Norbert Geis Bartholomäus Kalb Dr. Klaus W. Lippold 19036 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Max Straubinger Petra Ernstberger Helga Lopez (C) Dr. Michael Luther (Heilbronn) Karin Evers-Meyer Gabriele Lösekrug-Möller Stephan Mayer (Altötting) Lena Strothmann Annette Faße Dirk Manzewski Wolfgang Meckelburg Michael Stübgen Elke Ferner Lothar Mark Dr. Michael Meister Hans Peter Thul Gabriele Fograscher Antje Tillmann Rainer Fornahl (Hamm) Dr. Hans-Peter Uhl Gabriele Frechen Peter Friedrich Dr. h. c. Hans Michelbach Volkmar Uwe Vogel Petra Merkel (Berlin) Dr. Eva Möllring Andrea Astrid Voßhoff Ulrike Merten Carsten Müller Gerhard Wächter Iris Gleicke Dr. (Braunschweig) Marco Wanderwitz Günter Gloser Ursula Mogg Stefan Müller (Erlangen) Kai Wegner Renate Gradistanac Marko Mühlstein Dr. Gerd Müller Angelika Graf (Rosenheim) Detlef Müller (Chemnitz) Hildegard Müller Peter Weiß (Emmendingen) Dieter Grasedieck Michael Müller (Düsseldorf) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Gesine Multhaupt Dr. Georg Nüßlein Franz Müntefering Franz Obermeier Karl-Georg Wellmann Gabriele Groneberg Dr. Rolf Mützenich Eduard Oswald Anette Widmann-Mauz Achim Großmann Andrea Nahles Henning Otte Klaus-Peter Willsch Wolfgang Grotthaus Thomas Oppermann Rita Pawelski Elisabeth Winkelmeier- Wolfgang Gunkel Holger Ortel Ulrich Petzold Becker Hans-Joachim Hacker Heinz Paula Dr. Dagmar Wöhrl Bettina Hagedorn Johannes Pflug Sibylle Pfeiffer Wolfgang Zöller Klaus Hagemann Joachim Poß Willi Zylajew Alfred Hartenbach Christoph Pries Michael Hartmann Dr. Wilhelm Priesmeier SPD (Wackernheim) Florian Pronold Daniela Raab Dr. Lale Akgün Nina Hauer Gerd Andres Dr. Reinhold Hemker (Cottbus) Hans Raidel Rolf Hempelmann Maik Reichel Dr. Peter Ramsauer Ingrid Arndt-Brauer Dr. Barbara Hendricks Gerold Reichenbach Peter Rauen Gustav Herzog Dr. (Neuruppin) Petra Heß Christel Riemann- () Doris Barnett Gabriele Hiller-Ohm Hanewinckel (B) Dr. Hans-Peter Bartels Stephan Hilsberg Walter Riester (D) Dr. Klaus Barthel (Essen) Sönke Rix Franz Romer Sören Bartol Gerd Höfer René Röspel Johannes Röring Sabine Bätzing (Wismar) Dr. Kurt J. Rossmanith Frank Hofmann (Volkach) Karin Roth (Esslingen) Dr. Norbert Röttgen Uwe Beckmeyer Eike Hovermann Michael Roth (Heringen) Dr. Christian Ruck Klaus Uwe Benneter Klaas Hübner Ortwin Runde Albert Rupprecht (Weiden) Dr. Christel Humme Marlene Rupprecht Peter Rzepka Lothar Ibrügger (Tuchenbach) Anita Schäfer (Saalstadt) (Heidelberg) Brunhilde Irber Anton Schaaf Hermann-Josef Scharf Josip Juratovic Axel Schäfer () Dr. Johannes Kahrs Bernd Scheelen Dr. Andreas Scheuer Dr. Dr. h. c. Susanne Kastner Marianne Schieder Karl Schiewerling Klaus Brandner Ulrich Kelber Silvia Schmidt (Eisleben) Norbert Schindler Dr. Frank Schmidt Georg Schirmbeck Dr. Bärbel Kofler Heinz Schmitt (Landau) (Hildesheim) Walter Kolbow Carsten Schneider (Erfurt) Christian Schmidt (Fürth) Fritz Rudolf Körper Andreas Schmidt (Mülheim) Marco Bülow Karin Kortmann Reinhard Schultz Ingo Schmitt (Berlin) Rolf Kramer (Everswinkel) Dr. Martin Burkert Anette Kramme (Spandau) Dr. Ole Schröder Dr. Michael Bürsch Ernst Kranz Bernhard Schulte-Drüggelte Nicolette Kressl Marion Caspers-Merk Volker Kröning Dr. Angelica Schwall-Düren Wilhelm Josef Sebastian Dr. Angelika Krüger-Leißner Dr. Martin Schwanholz Kurt Segner Dr. Hans-Ulrich Krüger Marion Seib Martin Dörmann Jürgen Kucharczyk Wolfgang Spanier Thomas Silberhorn Dr. Carl-Christian Dressel Helga Kühn-Mengel Dr. Margrit Spielmann Johannes Singhammer Elvira Drobinski-Weiß Ute Kumpf Jörg-Otto Spiller Dr. Uwe Küster Dr. Ditmar Staffelt Detlef Dzembritzki Dieter Steinecke Christian Freiherr von Stetten Christian Lange (Backnang) Andreas Steppuhn Siegmund Ehrmann Dr. Rolf Stöckel Andreas Storm Hans Eichel Waltraud Lehn Christoph Strässer Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19037

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Dr. Peter Struck Priska Hinz (Herborn) Mechthild Dyckmans Dr. Diether Dehm (C) Joachim Stünker Ulrike Höfken Jörg van Essen Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Rainer Tabillion Dr. Ulrike Flach Klaus Ernst Jörg Tauss Bärbel Höhn Wolfgang Gehrcke Jella Teuchner Thilo Hoppe Paul K. Friedhoff Diana Golze Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ute Koczy (Bayreuth) Dr. Jörn Thießen Sylvia Kotting-Uhl Dr. Edmund Peter Geisen Lutz Heilmann Franz Thönnes Fritz Kuhn Dr. Hans-Kurt Hill Rüdiger Veit Renate Künast Hans-Michael Goldmann Cornelia Hirsch Simone Violka Undine Kurth (Quedlinburg) Joachim Günther (Plauen) Inge Höger Jörg Vogelsänger Markus Kurth Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Barbara Höll Dr. Marlies Volkmer Nicole Maisch Heinz-Peter Haustein Ulla Jelpke Hedi Wegener Jerzy Montag Elke Hoff Dr. Lukrezia Jochimsen Andreas Weigel Winfried Nachtwei Birgit Homburger Dr. Hakki Keskin Petra Weis Dr. Werner Hoyer Monika Knoche Gunter Weißgerber Brigitte Pothmer Michael Kauch (Augsburg) Dr. Heinrich L. Kolb Katrin Kunert (Wiesloch) Krista Sager Hellmut Königshaus Oskar Lafontaine Ulla Lötzer Dr. Manuel Sarrazin Gudrun Kopp Dr. Gesine Lötzsch Lydia Westrich Christine Scheel Jürgen Koppelin Ulrich Maurer Dr. Irmingard Schewe-Gerigk Heinz Lanfermann Dorothée Menzner Andrea Wicklein Sibylle Laurischk Dr. Gerhard Schick Kersten Naumann Engelbert Wistuba Harald Leibrecht Wolfgang Nešković Dr. Rainder Steenblock Michael Link (Heilbronn) Dr. Norman Paech Waltraud Wolff Markus Löning (Wolmirstedt) Dr. Wolfgang Strengmann- Patrick Meinhardt Elke Reinke Heidi Wright Kuhn Jan Mücke Paul Schäfer (Köln) Uta Zapf Hans-Christian Ströbele Burkhardt Müller-Sönksen Volker Schneider Manfred Zöllmer Dr. Harald Terpe Dirk Niebel (Saarbrücken) Jürgen Trittin Detlef Parr Dr. Herbert Schui Wolfgang Wieland Dr. Ilja Seifert BÜNDNIS 90/ Josef Philip Winkler Gisela Piltz Dr. Petra Sitte DIE GRÜNEN Jörg Rohde Frank Spieth Kerstin Andreae Nein Frank Schäffler Dr. Kirsten Tackmann (B) Marieluise Beck (Bremen) Dr. Konrad Schily (D) Volker Beck (Köln) SPD Dr. Max Stadler Jörn Wunderlich Cornelia Behm Florian Toncar Sabine Zimmermann Dr. Birgitt Bender Christoph Waitz Alexander Bonde Dr. Volker Wissing fraktionslose FDP Ekin Deligöz Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Abgeordnete Dr. Thea Dückert Jens Ackermann DIE LINKE Henry Nitzsche Dr. Uschi Eid Dr. Karl Addicks Gert Winkelmeier Hans Josef Fell Christian Ahrendt Hüseyin-Kenan Aydin Kai Gehring (Münster) Dr. Dietmar Bartsch Enthalten Katrin Göring-Eckardt Uwe Barth Karin Binder Britta Haßelmann Rainer Brüderle Dr. Lothar Bisky BÜNDNIS 90/ Bettina Herlitzius Eva Bulling-Schröter DIE GRÜNEN Winfried Hermann Ernst Burgbacher Roland Claus Peter Hettlich Patrick Döring Sevim Dağdelen Monika Lazar

Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. gen-, Omnibus- oder Lumpensammlergesetz bezeich- net. Das Wort Christkind würde ich ganz sicher bei solch Damit erteile ich als nächstem Redner dem Kollegen Eduard Oswald für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. einer Art von Gesetz nicht verwenden. Was immer Ein- zelne damit aussagen wollen, eines soll jedenfalls sym- (Beifall bei der CDU/CSU) bolisiert werden: Mit dem Jahressteuergesetz wird ge- wöhnlich in eine Vielzahl von Gesetzen ändernd Eduard Oswald (CDU/CSU): eingegriffen. Man muss sich in der Tat in jedem Fall an- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schauen, ob eine Änderung auch unbedingt notwendig Es ist ja schon eine Art Tradition, gemäß der die Bundes- ist. Man reagiert damit auf EU-rechtliche Vorgaben, regierung einmal im Jahr ein Jahressteuergesetz vorlegt. nimmt Anregungen aus dem Bereich der Verwaltung Kollege Wissing hat in diesem Zusammenhang vom auf, setzt Gerichtsurteile um, nimmt notwendige Korrek- Christkind gesprochen. Von vielen wird es als Besenwa- turen und auch so manche Optimierung vor. Deswegen 19038 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Eduard Oswald (A) führen wir ja auch eine mehrstündige Anhörung zu die- Das Jahressteuergesetz wird auch das im Koalitions- (C) sem Gesetz durch, um uns jeden einzelnen Punkt noch vertrag vereinbarte optionale Faktorverfahren bei der einmal anzusehen. Lohnsteuer von Ehegatten einführen; Frau Staatssekretä- rin, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf diesen Punkt Ich bleibe jetzt einmal beim Begriff „Besenwagenge- extra hingewiesen haben. Es schafft damit eine echte Al- setz“; er gefällt mir so gut. Das, was noch aufgekehrt ternative zur bisherigen Lohnsteuerklassenwahl und werden muss, muss also gewissenhaft und ordentlich be- sorgt dadurch für mehr Flexibilität. Künftig können die seitigt, im Sinne von erledigt, werden. Die Bezeichnung Steuervorteile für Ehepaare durch das Ehegattensplitting „Besenwagengesetz“ verdeutlicht aber auch: Dort, wo schon beim Lohnsteuerabzug entsprechend den Einkom- der Besen angesetzt wird, gilt es, sauber zu arbeiten. men verteilt werden. Trotz der Vielzahl von Gesetzen muss gelten: Gründlich- keit ist oberstes Handlungsgebot. Das gilt erst recht vor Bei manchen Vorschlägen, die uns hier vorgelegt wer- dem Hintergrund, dass in den vergangenen Jahren durch den, haben wir natürlich – dies sage ich für unsere Frak- die Jahressteuergesetze stets auch bedeutungsvolle Re- tion – noch erheblichen Beratungsbedarf; das hat bereits gelungen umgesetzt wurden. ein Durchgang im Finanzausschuss gezeigt. Unser Ziel im Bereich der Finanzpolitik muss es sein, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) überflüssige Bürokratie konsequent abzubauen. Eigent- lich jedes Gesetz muss man dementsprechend prüfen Bekanntlich haben wir schon im Vorfeld des Kabi- und schauen, ob das gelingt. Weil Steuergesetze erfah- nettsbeschlusses erfolgreich auf den einen oder anderen rungsgemäß als besonders bürokratieträchtig empfunden Punkt hingewiesen. So konnten wir die Pläne, die vorsa- werden, trägt natürlich das Bundesministerium der Fi- hen, die steuerliche Absetzbarkeit von Schulgeld voll- nanzen dabei eine besondere Verantwortung. Aber das ständig zu streichen, abwenden. gilt auch für uns Parlamentarier. Wir sind es ja, die letz- ten Endes die Verantwortung für jedes Gesetz tragen, das (Beifall bei der CDU/CSU) dieses Haus verlässt, und nicht der einzelne Ministerial- Von einer kompletten Streichung der Absetzbarkeit wä- rat, der aufgeschrieben hat, dass dieses und jenes noch ren rund 240 000 Schülerinnen und Schüler betroffen hinein soll, und wozu die Leitung des Hauses möglicher- gewesen. Es wäre natürlich ein Eingriff nicht nur in das weise sagt: Das machen wir halt, um diesem auch noch private Bildungssystem, sondern in das Bildungssystem einen Gefallen zu tun. – Wir tragen die Verantwortung. unseres Landes insgesamt. Wenn wir am Schluss sagen: „Das machen wir nicht“, dann wird es auch nicht gemacht. Natürlich wird der öffentliche Bildungsauftrag in Deutschland in erster Linie durch staatliche Schulen, (B) So muss es unsere Daueraufgabe sein, in dieses Steu- aber auch durch Schulen in freier Trägerschaft abge- (D) errecht Klarheit, Vereinfachung und Transparenz zu deckt. Das hat in unserem Land eine gute und große Tra- bringen und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bür- dition. In meinem Heimatland Bayern beispielsweise ger, Steuern zu zahlen, zu erhalten. Nun wissen wir alle, wurde bereits 1919 die anerkannte Privatschule mit An- dass abstrakt alle für Vereinfachung sind. Konkret natür- spruch auf öffentliche Finanzhilfe geschaffen. Viele Pri- lich versucht jeder, auch seine Einzelinteressen immer vatschulen insbesondere in den Großstädten und in der wieder durchzusetzen. Das uns vorliegende Jahressteu- Trägerschaft der Kirchen sind eben auch für Familien ergesetz 2009 – eine Drucksache mit 146 Seiten – ent- mit kleinem Einkommen erschwinglich. Mehr als hält natürlich bedeutsame politische Maßnahmen. Die 4 700 private Schulen gibt es in ganz Deutschland, Ten- Staatssekretärin hat schon auf einige hingewiesen. denz steigend. Man könnte eigentlich fragen, warum das Für mich steht an erster Stelle der Ausschluss extre- so ist, aber das ist eine andere Debatte, Kollege Wissing. mistischer Vereine von der Gemeinnützigkeit. Künftig gilt: Wenn eine politische Stiftung oder Körperschaft au- Aus Sicht unserer Fraktion muss auch über die im genscheinlich extremistisches Gedankengut fördert, Jahressteuergesetz 2009 enthaltene Maßnahme zur Stär- dann kann sie keine Steuervergünstigung erhalten. kung der privaten Altersvorsorge nachgedacht werden. Dies wäre durch eine Verbesserung der steuerlichen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Rahmenbedingungen bei langfristigen Sparplänen mög- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE lich. Zumindest beim langfristigen Sparen für das Alter GRÜNEN) ist nicht einzusehen, warum Fonds und Lebensversiche- rungen steuerlich auf solch erhebliche Weise unter- Wer gegen die Grundlagen unseres freiheitlichen demo- schiedlich behandelt werden. kratischen Rechtsstaates und das friedliche Zusammen- leben in unserem Lande arbeitet, der darf nicht hoffen, (Beifall bei der CDU/CSU) dafür in irgendeiner Weise auch noch vom Staat begüns- tigt zu werden. Hier gilt es, klare Regelungen zu schaf- Durch eine konsequente steuerliche Gleichbehand- fen. lung aller kapitalansparenden Vorsorgeprodukte sollten meiner Meinung nach Wettbewerbsverzerrungen, An- Ein weiterer Punkt ist – das ist wichtig und immer reize zu Ausweichreaktionen und Altersvorsorgestrate- wieder anzusprechen –: Durch die Klarstellung und Ver- gien, die allein aus steuerlichen Erwägungen getroffen besserung bei der steuerlichen Haftungsregelung für werden, abgewendet werden. Vereinsvorstände stärken wir das Engagement der ehren- amtlich Tätigen in diesem Lande. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19039

Eduard Oswald (A) Auch in Bezug auf die vorgesehene Änderung der Eduard Oswald (CDU/CSU): (C) Dienstwagenbesteuerung im Umsatzsteuerrecht haben Kollege Burgbacher, zunächst einmal ist die Frage die Länder im Bundesrat auf wichtige Punkte aufmerk- des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nicht Gegenstand sam gemacht. Durch die ursprünglich vorgesehene Än- dieses Jahressteuergesetzes. derung würde eine zusätzliche bürokratische Verkompli- (Ernst Burgbacher [FDP]: Doch! Im Bundesrat zierung geschaffen werden. Wir können schließlich nicht war der Antrag!) nur über Entbürokratisierung sprechen, sondern wir müssen auch dafür sorgen, dass bereits komplizierte – Im Bundesrat ja; aber in diesem Paket ist er nicht ent- Sachverhalte nicht noch komplizierter werden. Deswe- halten. – Zunächst einmal ist es so, dass wir, auch im Fi- gen müssen wir das Thema Dienstwagenbesteuerung ge- nanzausschuss, vereinbart haben, dass das Thema des er- nau betrachten. Mir wurde gesagt, davon wären mäßigten Mehrwertsteuersatzes auf der Tagesordnung 1,6 Millionen Betriebe betroffen. der Beratungen bleibt. Es wird in Kürze auch ein Be- richterstattergespräch stattfinden. Sie wissen doch, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) es zwei Bereiche gibt: Zum einen sind in der Tat Unge- Ich komme zum Schluss. – Wir haben noch einige in- reimtheiten zwischen ermäßigtem und vollem Mehr- tensive Beratungen vor uns. Diese finden natürlich erst wertsteuersatz vorhanden. Zum anderen gibt es große in der Koalition statt – das will ich gar nicht verschwei- Blöcke, zum Beispiel Gastronomie und Tourismus; aber gen –, dann im Finanzausschuss. Darüber hinaus veran- auch über viele andere Felder haben wir hier schon dis- stalten wir eine Anhörung. Wir wollen schließlich, dass kutiert, beispielsweise Arzneimittel. Wir sichern zu, dass unser Steuerrecht nicht nur für die Bürgerinnen und Bür- wir intensiv darüber beraten. Das ist im Augenblick ger, sondern auch für die Finanzverwaltung verständlich nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Aber wir müssen und einfach ist. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten. natürlich bei all diesen Punkten jeweils auch – da sind wir uns in der Koalition völlig einig – die Haushalts- Herzlichen Dank. situation im Auge behalten. Bei mancher Absenkung würden dem Haushalt Milliardenbeträge verlorengehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich nehme das sehr ernst, was Sie gesagt haben. Aber Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ein zweiter Punkt ist: Wenn wir den Mehrwertsteuersatz absenken, müssen wir auch sicher sein, dass diese Sen- Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen kung tatsächlich an die Verbraucher, die Bürgerinnen Burgbacher das Wort. und Bürger weitergegeben wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (B) Ernst Burgbacher (FDP): (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Oswald, es ist richtig, dass wir hier über Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ganz konkrete Dinge diskutieren. Es ist auch notwendig, Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll für dass man manches, was draußen diskutiert wird, dort die Fraktion Die Linke. diskutiert, wo es hingehört, nämlich hier im Parlament. (Beifall bei der LINKEN) Der Tourismusbeauftragte, Ihr CSU-Kollege Hinsken, fordert landauf, landab die Einführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes für die Hotellerie. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Bundesrat lag ein Antrag des Landes Baden- Angesichts des Wustes zum Jahressteuergesetz 2009 Württemberg vor, den Wirtschaftsminister Pfister dort fragt man sich als Abgeordneter doch: Ist da wirklich eingebracht hat. Im Wirtschaftsausschuss hat Bayern jede Änderung notwendig? Zum Gesetzentwurf haben diesen zunächst abgelehnt. Auf massiven Druck auch wir schon 13 Änderungsvorschläge, 24 Punkte haben der FDP hat Bayern am Freitag im Bundesrat dann zuge- wir zusätzlich für die öffentliche Anhörung, und der stimmt. Dieses Spiel ist für die Leute überhaupt nicht Presse kann man weitere Änderungswünsche entneh- mehr nachvollziehbar. Ich bin der Meinung, wir brau- men, zum Beispiel das Ansinnen der Union, nun die chen das. Alle Nachbarländer der Bundesrepublik außer hauswirtschaftliche Dienstleistung, also Putzfrauen, Dänemark haben den reduzierten Satz, wohingegen wir Gärtner usw., für Gutverdienende noch stärker steuerlich den vollen Satz von 19 Prozent verlangen. Ich meine, die zu subventionieren. Menschen haben ein Recht darauf, gerade von Ihnen als Sicher sind in dem Gesetzentwurf einige Punkte ent- Vorsitzendem des Finanzausschusses jetzt eine klare halten, über die es sich zu diskutieren lohnt. Mich Aussage zu bekommen: Unterstützen Sie die Forderung bewegt am heutigen Tag, gerade nach der morgendlichen nach Einführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes Debatte zur Finanzmarktkrise, die Frage: Wie wird das für die Hotellerie – das können wir national in Deutsch- konkret umgesetzt in der Gesetzgebung? Herr land machen –, oder unterstützen Sie das nicht? Konkret: Steinbrück hat heute früh gesagt, er wolle eigentlich, Werden Sie auch nach dem Sonntag dafür sein und einen dass die Leerverkäufe verboten werden. Man könnte ja Antrag einbringen, oder tun Sie das nicht? erwarten, dass im Jahressteuergesetz eine entsprechende Regelung enthalten ist, aber nein. Im Jahressteuergesetz Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: finden wir eine Regelung, die das Gegenteil bewirkt: Herr Kollege Oswald, bitte. Jetzt sollen die Verluste aus Stillhaltergeschäften steuer- 19040 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Barbara Höll (A) lich begünstigt werden. Das bedeutet, Verrechnungen Weil das öffentliche Schulwesen immer mehr unter den (C) von bis zum Jahr 2009 nicht genutzten Verlusten aus Finanzmängeln zu leiden hat. Das ist ein Ergebnis auch Stillhaltergeschäften sollen weiter geltend gemacht wer- der Finanzpolitik der Großen Koalition. Denn: Wenn es den können. Das ist ein weiterer Anreiz, spekulativ tätig weniger Steuereinnahmen gibt, ist weniger Geld für Bil- zu sein; denn es wird nicht eingedämmt, sondern sogar dung vorhanden. noch steuerlich belohnt. (Iris Gleicke [SPD]: Das ist mir neu, dass wir Gestern war in der Deutschland zu weniger Steuereinnahmen haben!) lesen, dass das aktuelle Leerverkaufsverbot der BaFin Das ist die Situation, vor der wir stehen. seine Wirkung verfehle: Die öffentlichen Schulen haben weniger Angebote, (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Haben Sie das selbst was Sprachausbildung und Spezialisierung betrifft. Es gelesen, oder haben es andere gelesen?) gibt vielfach die Kritik, dass der Schlüssel Lehrer/Schü- Im Grunde sei die Sperre „blödsinnig“, meinte ein ler nicht ausreichend ist. Deshalb suchen viele Eltern an- anderer Händler, der bei diesem heiklen Thema an- dere Möglichkeiten. Die Lösung sollte aber darin beste- onym bleiben wollte. Man könne trotzdem Aktien hen, dass das öffentliche Schulwesen gestärkt wird. leer verkaufen. Ich verstehe nicht, warum man nicht auf alle Fälle, Dann wird man noch belohnt. Das kann doch keine Poli- die mit dem Schulgeld vergleichbar sind, eingeht. Es tik sein, die wir hier im Hause anstreben sollten! gibt heute Bundesländer, in denen die Ausbildung für bestimmte Berufe nur noch von privaten Trägern für viel (Beifall bei der LINKEN) Geld angeboten wird. Die anfallenden Kosten kann man Bereits mehrfach erwähnt wurde der Aspekt des Ehe- aber nicht absetzen. Schauen Sie einmal nach Sachsen- gattensplittings. Sie unternehmen einen zweiten Ver- Anhalt! Die Regelungen für das Schulgeld müsste man such, die negativen Auswirkungen des derzeitigen Ehe- konsequenterweise auf diejenigen Kosten ausweiten, die gattensplittings meistens auf die Ehefrau, die in die bis zum ersten Berufsabschluss fällig werden. Prinzipiell Lohnsteuerklasse V geht und damit wesentlich höhere denke ich aber, dass es nicht notwendig ist, eine steuerli- Steuern zahlen muss, abzumildern Aber das ist doch nur che Förderung in diesem Maße aufrechtzuerhalten. ein Pseudoverfahren. Es ist nicht der einzige Kritikpunkt Ich danke Ihnen. zum Ehegattensplitting. (Beifall bei der LINKEN) Seien Sie endlich konsequent und nehmen Sie Ihre ei- genen Forderungen wieder auf! Gerade die Kollegen aus (B) der SPD waren jahrelang für die Abschaffung des Ehe- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D) gattensplittings bzw. für dessen Umwandlung, und zwar Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel so, wie wir es jetzt fordern, nämlich dass der nicht aus- für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. geschöpfte steuerliche Grundfreibetrag auf den Partner oder die Partnerin übertragen werden kann. Dann haben Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wir eine gerechte Lösung. Es würden dann tatsächlich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steuermittel frei, die aufgewendet werden können, um Eduard Oswald hat gesagt, dass Jahressteuergesetze Tra- das Kindergeld endlich in einem ersten Schritt auf dition haben. Das stimmt. Es ist aber leider auch diesmal 200 Euro und perspektivisch auf mindestens 250 Euro so, dass das Jahressteuergesetz sehr viele Regelungen anzuheben. beinhaltet, die nicht zu einem Abbau von Bürokratie im Steuerrecht führen. Es beinhaltet auch sehr viele Rege- (Beifall bei der LINKEN) lungen, die nicht zu einer signifikanten Entlastung von Ich möchte noch die von Ihnen angestrebte mögliche Bürgern und Bürgerinnen führen. Verlagerung der Buchführung ins Ausland ansprechen. Das Jahressteuergesetz umfasst 146 Seiten. Es gibt Letztendlich wollen Sie damit etwas legalisieren, was eine Vielzahl von Änderungswünschen, die vonseiten bisher im rechtlichen Graubereich schon gemacht wird. der Koalition eingebracht worden sind. Daran sieht man, Dieses Politikverständnis kann ich nicht nachvollziehen. dass es innerhalb der Koalition zu unterschiedlichen Bisher ist die Buchführung im Ausland aus gutem Punkten noch unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich Grunde nicht erlaubt. Denn es muss sichergestellt sein, bin gespannt, wie sich da die Diskussionen entwickeln. dass die Finanzverwaltung jederzeit einen Zugriff auf Auch Vorschläge vonseiten der Opposition werden wir die entsprechenden Unterlagen hat. Aber in dem Mo- im Finanzausschuss zu diskutieren haben. ment, in dem die Buchführung – auch unter gewissen Bedingungen – ins Ausland verlagert werden kann, wird Aufgrund der Tatsache, dass wir es mit diesem Jah- dieses Recht natürlich eingeschränkt. In diesem Zusam- ressteuergesetz mit einer sehr großen Anzahl von Rege- menhang sind wirklich eine ganze Reihe von Fragen zu lungen zu tun haben, möchte ich mich auf drei Punkte klären. konzentrieren. Lassen Sie mich noch einige Worte zum Schulgeld Der erste Punkt. Wie gehen wir in Zukunft damit um, verlieren. Man kann daraus leicht ein ideologisches dass wir für die gemeinsam veranlagten Ehepartner un- Thema machen. Aber es ist ein ganz irdisches Thema. terschiedliche Belastungseffekte bei der Lohnsteuer ha- Warum gibt es zum Teil diesen Run auf Privatschulen? ben? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19041

Christine Scheel (A) Sie haben jetzt zum zweiten Mal versucht, dieses mografischen Umbruchs gut ausgebildete und qualifi- (C) Thema anzugehen. Sie haben zum zweiten Mal ein Ver- zierte Bürger und Bürgerinnen haben wollen, wenn man fahren vorgeschlagen. Wir sagen allerdings, dass dieses Wohlstand und Wachstum erhalten will, ist es ein Muss, neue Faktorverfahren für den Lohnsteuerabzug nicht der dass man bestimmte Schulformen nicht ausschließt. richtige Weg ist. Zukünftig müssen bei den Finanz- Diese Regelung kritisieren wir, genauso, wie wir an- ämtern die voraussichtlichen Bruttolöhne der Eheleute dere Vorschläge kritisieren. Wir werden Ihnen das im ermittelt werden und auf das Jahr hochgerechnet wer- Verfahren im Einzelnen vorlegen, auch mit Änderungs- den. Dann muss die Gesamtsteuer ohne Splittingverfah- wünschen; das habe ich schon angekündigt. Wir sind da ren ermittelt werden. Dann muss die Gesamtsteuer mit sehr konstruktiv. Splittingverfahren ermittelt werden. Dann wird der Fak- tor ermittelt und eingetragen. Damit ist es aber noch Es gibt auch im Zusammenhang mit den Standorten nicht vorbei; denn dann müssen beide eine Steuererklä- von Windkraftanlagen und Solaranlagen einiges zu tun, rung ausfüllen. Das heißt, die Pflicht, eine Steuererklä- was die Gewerbesteuerzerlegung anbelangt. Ich hoffe, rung abzugeben, wird damit ebenfalls ausgelöst, was dass wir da zu einer gemeinsamen Lösung kommen. So, man an der einen oder anderen Stelle so auch nicht wie das Gesetz heute ist, verhindert es, dass sich manche brauchte. Da sage ich: Bürokratieabbau, verehrte Kolle- Bürgermeister und Gemeinderäte für einen Standort ent- gen und Kolleginnen, schaut anders aus. scheiden, weil die Gemeinden gewerbesteuerlich nichts davon haben. Ich frage mich, wer diese Regelung in Anspruch neh- men wird; denn sie bewirkt im Regelfall – es gibt ein Vizepräsidentin Petra Pau: paar positive Beispiele, die die Frau Staatssekretärin ge- Kollegin Scheel, achten Sie bitte auf die Zeit. nannt hat; das sind aber ganz wenige –, dass die Lohn- steuerzahlung über das Jahr hinweg höher ist als ohne diese Regelung. Trotzdem müssen die Unternehmen eine Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): neue Lohnsteuerabrechnungssoftware vorhalten. Das ist Letzter Satz, Frau Präsidentin: Denn die Steuern wer- ein Mehraufwand für nichts. den nicht am Standort gezahlt, sondern dort, wo der Sitz des Unternehmens ist. Das ist im Zusammenhang mit Das Verfahren, so finden wir, ist unverhältnismäßig der Entwicklung der regenerativen Energien ein steuer- und ungeeignet. Wir haben vonseiten der Grünen im Zu- politisch falscher Anreiz. Das gilt es zu ändern. Da wer- sammenhang mit dem Ehegattensplitting schon längst den wir unsere Vorschläge einbringen. bessere Vorschläge eingebracht. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) Auch datenschutzrechtlich ist die Regelung äußerst Vizepräsidentin Petra Pau: bedenklich. Sie sagen, das Ganze sei eine Option; aber Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen für die der erste Vorschlag, den Sie gemacht hatten, war auch SPD-Fraktion. eine Option. Damals haben Sie aufgrund der daten- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schutzrechtlichen Bedenken, die zu Recht vorgebracht der CDU/CSU) worden sind, Ihren Vorschlag zurückgezogen und Ihre Regelung ad acta gelegt. Jetzt haben Sie einen Vorschlag Gabriele Frechen (SPD): gemacht, der diese Problematik wieder beinhaltet. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Ein zweites Beispiel, bei dem wir glauben, dass die Kollegen! Ich bin Herrn Oswald dankbar dafür, dass er Regelung nicht so ist, wie sie sein müsste, ist das Schul- Herrn Wissing klargemacht hat, was ein Jahressteuerge- geld. Es wurde zu Recht gesagt, dass es gut ist, dass die setz ist. Offensichtlich hat Herr Wissing überhaupt nicht Regierung ihrer ursprünglichen Idee, das Schulgeld kapiert, was mit dem Jahressteuergesetz bezweckt wird. überhaupt nicht mehr vom Steuerabzug erfassen zu las- Herr Oswald, Kompliment zu Ihrer Einführung in dieses sen, durch die neue Vorlage nicht mehr nachgehen will. Thema. Das heißt, Sie haben jetzt eine Änderung vorgenommen. Von Herrn Dr. Wissing habe ich endlich erfahren, was Private Schulen erhalten – das wissen Sie – ein Vier- ich ideologisch zu denken habe. Ich muss ja richtig froh tel weniger staatliche Unterstützung als die öffentlichen sein, dass es Sie gibt. Sonst wüsste ich gar nicht, dass die Schulen. Der Rest muss von den Familien durch Schul- Privatschule für mich ein ideologisches Problem ist. geldzahlungen finanziert werden. Deswegen ist es rich- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sonst würden Sie tig, dass man aufgrund der Ungleichbehandlung von ja nicht so ein Gesetz unterstützen!) privaten Schulen und Schulen, die ganz vom Staat finan- ziert werden, einen Ausgleich schafft. Wir haben von Das ist es aber nicht. grüner Seite darauf hingewirkt, dass es zu der Streichung Ich möchte am Beginn meiner Rede auf das Thema der ursprünglichen Idee gekommen ist. Schuldgeld eingehen, weil es hier schon mehrfach ange- sprochen wurde. Die Damen Höll und Scheel kann ich Aber berufsbildende Ersatzschulen fallen aus dem beruhigen: Auch wir arbeiten an einer Änderung, damit Steuerabzug ganz heraus. Wenn wir alle der Meinung berufsbildende Schulen einbezogen werden können. – sind, dass Bildung ein ganz wichtiger Standortfaktor ist, Einverstanden! dass wir eine Vielfalt an Schulformen brauchen, dass wir in der globalisierten Wirtschaft und angesichts des de- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 19042 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Gabriele Frechen (A) Die Absetzbarkeit des Schulgeldes war immer auf in Steuerklasse V müssen selbstverständlich Steuern ge- (C) 30 Prozent begrenzt, ohne Deckel. Jetzt hat man in Brüs- zahlt werden. Wenn aber laut individueller Besteuerung sel festgestellt: Es widerspricht europäischem Recht, keine Steuern zu zahlen sind, sind auch nach dem Fak- wenn nur Schulgeld für Schulen in Deutschland steuer- torverfahren keine zu zahlen. Das ist der Vorteil für die lich geltend gemacht werden kann. Ich halte es für abso- Bezieher ganz geringer Einkommen. lut legitim, wenn wir überlegen, wie wir es schaffen, die Schulgelder für fast alle deutschen Schulen in das Gesetz (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf einzubeziehen. Das Schulgeld für Privatschulen in von der SPD: Das war ein kostenloser Infor- Deutschland liegt bei ungefähr 10 000 Euro pro Jahr. mationshinweis!) Wir decken also fast alle Schulen in Deutschland ab, ma- Lassen Sie mich ein Wort zum steuerlichen Querver- chen aber einen Deckel darauf. Ich habe mir sagen las- bund sagen. Ich denke, die Kommunalpolitiker unter uns sen, dass es im europäischen Ausland Privatschulen gibt, sind der Meinung, dass das ein richtig großer Wurf ist. die deutlich teurer als die in Deutschland sind. Das Wir sind alle sehr froh, dass das schon im Gesetz steht, Schulgeld für diese Schulen müssten wir komplett, ohne sonst hätten wir es nämlich selbst hineinschreiben müs- Begrenzung in Deutschland zum steuerlichen Abzug zu- sen. Aber es steht schon im Entwurf der Regierung. lassen. Das kann ja wohl nicht richtig sein. Deshalb diese Änderung im Gesetz, die ich sehr wohl unterstütze. Privat vor Staat – das ist ein Slogan der schwarz-gel- ben Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. Er stimmt Auch die Steuerklasse V war schon Thema. Die Frau nicht, und er nützt nie den Bürgerinnen und Bürgern, Staatssekretärin hat in dieses Thema eingeführt. Es sondern immer nur den Unternehmen. Deshalb bin ich stimmt: Wir wollen eine neue Besteuerung von Ehegat- froh, dass der steuerliche Querverbund bleibt und dass ten. Frau Dr. Höll, diese Form ist nicht nur ein bisschen die Daseinsfürsorge mit Gewinnen aus kommunalen Be- gerechter. Zum ersten Mal wird es mit diesem Faktorver- trieben weiter finanziert werden kann. Ich halte über- fahren gelingen, eine individuelle Besteuerung mit Split- haupt nichts davon, Kommunen in ihrer wirtschaftlichen tingvorteil hinzubekommen. Künftig werden die Ehegat- Betätigung einzuschränken, die Verluste aus dem ÖPNV ten, die Steuerklasse V haben, weil sie das niedrigere und der Daseinsfürsorge in der Kommune zu lassen und Einkommen beziehen, just das an Steuern zahlen, was in alles andere, was in der Kommune Gewinn bringt, zu der gemeinsamen Steuererklärung auf sie entfällt. privatisieren.

Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kollegin Frechen, gestatten Sie eine Zwischenfrage Diese Haltung habe ich im Übrigen auch zu den Spar- der Kollegin Höll? (B) kassen und zum Sparkassengesetz in Nordrhein-West- (D) falen. Auch da macht „Privat vor Staat“ überhaupt kei- Gabriele Frechen (SPD): nen Sinn. Ja. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Gutes Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Gesetz!) Frau Kollegin Frechen, stimmen Sie mir zu, dass ers- tens unser Vorschlag trotzdem wesentlich konsequenter Ich möchte zwei Punkte zur Gemeinnützigkeit an- ist und zweitens bei Ihrem Vorschlag das Einvernehmen sprechen. Ich unterstütze Herrn Oswald, wenn er sagt: beider Ehepartner Voraussetzung ist, Sie nach Aussage Es kann nicht sein, dass Vereine der Parlamentarischen Staatssekretärin selbst damit rechnen, dass nur etwa 5 Prozent aller Ehepaare Ihren (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir sind ein Vorschlag annehmen werden, und der von Frau Scheel gutes Team!) aufgeführte bürokratische Aufwand in keinem Verhältnis – habe ich jemals etwas anderes gesagt, Herr Kollege? –, dazu steht, insbesondere weil man eine einfache und die nicht auf dem Boden unserer freiheitlichen demokra- klare Lösung durchsetzen könnte? tischen Grundordnung stehen, begünstigt werden. Das ist zwar schon heute die geltende Verwaltungspraxis, Gabriele Frechen (SPD): aber es ist deutlicher, wenn es im Gesetz verankert ist. Was die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung an- Das machen wir jetzt. belangt, ist der bürokratische Aufwand bei der Lohn- steuerklassenkombination III und V genauso gegeben Weiter legen wir fest, dass gemeinnützige Vereine wie beim Faktorverfahren. Auch diese Paare sind ver- und gemeinnützige Stiftungen einen Bezug zum Allge- pflichtet, eine Steuererklärung abzugeben. meinwohl im Inland haben müssen. Eine italienische Stiftung, die in der Schweiz gemeinnützig tätig ist und in Gerechter ist das, was Sie vorschlagen, nicht. Auch Deutschland nur Vermietungseinkünfte hat, erfüllt diese nach Ihrem Vorschlag hätte jeder Ehegatte ab einem Ein- Voraussetzungen eindeutig nicht. Inländische gemein- kommen von 900 Euro unterjährig und nicht erst am nützige Vereine, die im In- und/oder Ausland Gutes tun, Ende des Jahres den auf ihn anfallenden Steueranteil zu sind von dieser Regelung überhaupt nicht betroffen. zahlen. Einer der Kernkritikpunkte am Anteilsverfahren Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt sind für war, dass auch bei einem Einkommen von weniger als uns Ehrensache. Deshalb versichere ich den gemeinnüt- 900 Euro Steuern hätten gezahlt werden müssen. Auch zigen Vereinen: Wir werden alle diesbezüglichen Beden- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19043

Gabriele Frechen (A) ken aufnehmen und gemeinsam mit Ihnen eine zweifels- ministerium sich ausgedacht habe, das im Sinne der Fi- (C) freie Formulierung finden. nanzbehörden sei, aber nicht im Sinne der Steuerpflichti- gen. Ich weiß nicht, mit welchem Finanzbeamten Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diese Meinung besprochen haben. Ich kann Ihnen an we- der CDU/CSU) nigen Beispielen aufzeigen, dass dieses Gesetz – ganz Außerdem – klein aber fein – werden wir den Arbeiter- im Gegenteil – viele Belastungen für die Finanzverwal- Samariter-Bund in den Katalog der Verbände der freien tungen bringt, um gerade Steuerpflichtige zu entlasten. Wohlfahrtspflege aufnehmen. Ich fange an mit dem Beispiel steuerliche Haftungsre- Frau Dr. Höll, Sie sprachen die Bedingungen an, un- gelungen für Vereinsvorstände. Sie können mir glauben, ter denen Buchführungen ins Ausland verlegt werden dass es wesentlich einfacher ist, einen Haftungsbescheid können. Ein bisschen stimme ich mit Ihnen überein. gegen eine natürliche Person zu erlassen als gegen einen Wenn es denn so ist, dass wir heute internationale Ver- Vorstand. Trotzdem waren wir uns einig, dass wir gerade flechtungen haben, dann darf es auf keinen Fall sein, wegen der ehrenamtlichen Tätigkeit vieler Menschen dass der, der seine Buchführung im Ausland macht, bes- diese Haftungsrisiken begrenzen wollen. Die Regelung, sere Bedingungen hat als der, der sie im Inland macht. die mittlerweile vorgeschlagen ist, wird in den allermeis- Es kann nicht sein, dass der Zugriff für die Finanzbehö- ten Fällen dazu führen, dass der Schatzmeister des riden nicht genau wie in Deutschland jederzeit gewähr- Sportvereins, des Kulturvereins eben nicht in die Situa- leistet ist. Deshalb werden wir uns diese Vorschrift ganz tion kommt, dass gegen ihn haftungsrechtlich ermittelt genau anschauen. werden muss Wir werden die Zusagen aus der Unternehmensteuer- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber eben nicht in reform für Leasing- und Factoringunternehmen und be- allen Fällen!) züglich der Aufhebung des Organschaftsverbots zwi- schen Kranken- und Lebensversicherungen erfüllen. und dass er tatsächlich Vermögensschäden hat. Dann gibt es noch einen für mich ganz wichtigen (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Volker Punkt, den wir in das Gesetzgebungsverfahren einbrin- Wissing [FDP]: Aber Sie behalten die ver- gen werden. Das betrifft die Besteuerung von Dividen- schuldensunabhängige Haftung bei!) den und Veräußerungserlösen bei Streubesitz. Derzeit gilt für Dividende, die ins europäische Ausland gezahlt Noch weiter gehende Regelungen halte ich insofern wird, eine abgeltende Steuer in Höhe von 20 Prozent. Im für bedenklich – auch das muss man sagen –, als jedem Inland ansässige Unternehmen können diese Kapital- Empfänger einer Steuerbescheinigung zu fast 50 Prozent (B) ertragsteuer hingegen mit der Körperschaftsteuer ver- allgemeine Steuermittel zukommen müssen. Deshalb (D) rechnen. Das wurde im Vertragsverletzungsverfahren sehe ich überhaupt keinen Sinn darin, dass das leichtfer- von der Europäischen Kommission als nicht europakon- tig gemacht wird. Wir müssen schon sicherstellen, dass form angesehen. Handeln wir nicht, steht uns eine Klage Spendenbescheinigungen ordnungsgemäß sind. vor dem EuGH ins Haus. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber da braucht Nach europäischem Recht haben wir zwei Möglich- man doch keine verschuldensunabhängige keiten: Wir stellen alle In- und Ausländer frei oder wir Haftung!) machen beide Gruppen steuerpflichtig. Der Unterschied beträgt rund 1,5 Milliarden Euro. Ich denke, angesichts Ich glaube, da haben wir einen guten Kompromiss ge- des guten Wegs der Haushaltskonsolidierung, auf dem funden. Die Finanzbehörde wird sich dem beugen, weil sich diese Große Koalition befindet, muss man sich nicht sie sieht, dass sie damit gemeinnützige Tätigkeit unter- lange fragen, wie wir uns entscheiden. Wir werden diese stützt. Steuerpflicht für Dividenden- und Veräußerungserlöse bei Streubesitz in diesem Gesetzgebungsverfahren ein- Das Faktorverfahren ist ein zweites Beispiel. Kein Fi- führen. nanzbeamter kann Interesse daran haben, dieses Verfah- ren einzuführen, weil der Beratungsaufwand in Zukunft Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. natürlich steigen wird. Trotzdem haben wir gesagt: Wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollen dieses Faktorverfahren. Dafür gab es zwei der CDU/CSU) Gründe: zum einen, weil wir die Erwerbstätigkeit von Frauen, die nur eine Halbtagstätigkeit aufnehmen möch- ten, erleichtern wollten, und zum anderen, weil die Wahl Vizepräsidentin Petra Pau: der Steuerklasse teilweise endgültige finanzielle Auswir- Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die kungen hat, zum Beispiel beim Arbeitslosengeld oder Unionsfraktion. beim Elterngeld. Auch hier ging es nicht um das Inte- (Beifall bei der CDU/CSU) resse der Finanzbehörden, sondern um das der Bürgerin- nen und Bürger, die mit diesen Problemen auf uns zuge- kommen sind und die deshalb gesagt haben: Sie müssen Antje Tillmann (CDU/CSU): das ändern. In diesem Sinne werden wir das Jahressteu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ergesetz 2009 ausgestalten. Lieber Kollege Dr. Wissing, Sie haben einleitend gesagt, dieses Jahressteuergesetz sei ein Gesetz, das das Finanz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 19044 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Antje Tillmann (A) Nächstes Beispiel: Auslandstätigkeit steuerbegünstig- keiner; das ist auch gar nicht vorgesehen. Ein Blick in (C) ter, gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Organi- das Gesetz, das wir heute beraten, hilft. Da steht nämlich sationen. Frau Frechen hat darauf hingewiesen, wie das ganz klar, dass eine solche Verlagerung nur zulässig ist Gesetz zu lesen ist. Trotzdem, liebe Kollegin Frechen, – ich zitiere –, wenn „der Datenzugriff … in vollem Um- müssen wir aufgrund dessen, dass Herr Dr. Wissing das fang möglich ist“. Ich denke, wir können Ihnen in der Ganze offensichtlich nicht verstanden hat, einmal über Anhörung die Gelegenheit geben, da nachzufragen. Ich die Formulierung nachdenken. Das meine ich jetzt gar bin gerne bereit, Ihnen den Passus zukommen zu lassen. nicht böse; die Vereine haben die Regelung schließlich teilweise auch nicht verstanden. Es geht eben nicht um Vizepräsidentin Petra Pau: die Fälle, die Sie hier aufgeführt haben, sondern es geht einzig und allein um den Fall, dass eine gemeinnützige Kollegin Tillmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Organisation mit Deutschland überhaupt nichts zu tun hat, weswegen wir keinen Anlass dazu sehen, eine Steu- Antje Tillmann (CDU/CSU): erbegünstigung durchzusetzen. Wir haben vom Finanz- Ja. ministerium schon das Signal bekommen, dass wir über die Formulierung nachdenken sollten. Ich bin sicher: Vizepräsidentin Petra Pau: Am Ende der Anhörung können Sie diesem Vorschlag, wenn Sie es wollen, zustimmen. Bitte.

Liebe Frau Kollegin Höll, was haben Sie für ein so- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): ziales Menschenbild? Ganz offensichtlich ist es für Sie besser, als Reinigungsfrau unversichert, ohne Kranken- Frau Tillmann, ich möchte nachfragen, welches Men- versicherung und ohne Rentenversicherung zu arbeiten schenbild Sie haben. Wenn jemand ein so hohes Einkom- als sozialversicherungspflichtig bei einem bösen Rei- men hat, dass er es sich leisten kann, eine Haushaltshilfe chen. zu beschäftigen, dann ist das gut. Aber haben Sie die Vorstellung, dass die Menschen, die viel haben und es (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wieso denn? sich sowieso leisten können, das nur machen, wenn wir Blödsinn! Ich muss es aber nicht steuerlich ihnen als Gemeinschaft einen Teil ihrer Lohnausgaben subventionieren!) steuerlich erstatten? Das ist das Prinzip „Haltet den Sie wissen doch, dass das Leben ganz anders ist, als Sie Dieb!“, aber gleichzeitig wirft man noch etwas hinterher. es sich theoretisch vorstellen. Die Situation ist doch so, (Beifall bei der LINKEN) dass in diesem Bereich die höchste Schwarzarbeitsquote (B) ist und dass Reinigungsfrauen tatsächlich schon heute Es geht nicht um die Schwarzarbeit der Putzfrau. Vo- (D) schwarz und ohne Unfallversicherung arbeiten. Wir wol- raussetzung ist aber, dass sie jemand anstellt, und genau len das nicht sehenden Auges hinnehmen. darum geht es. Wenn jemand sagt, er stellt die Putzfrau nur sozialversicherungsrechtlich abgesichert ein, dann (Beifall bei der CDU/CSU) ist das eine ganz andere Situation. Aber hier der Putzfrau Wir wollen, dass auch diese Reinigungsfrauen ein sozi- den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist eine Unver- alversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis haben. Wir schämtheit. sind bereit, dazu Anreize zu setzen, nämlich im Sinne dieser Frau, im Sinne des Gärtners, im Sinne der Kinder- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Das hat betreuerin, die selbstverständlich ein Recht darauf ha- sie doch gar nicht gesagt! – Otto Bernhardt ben, einen ordentlichen Arbeitsplatz zu haben und nicht [CDU/CSU]: Nicht verstanden!) in der Schwarzarbeit zu landen. Da habe ich ein anderes Menschenbild. (Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald (Beifall bei der LINKEN) [CDU/CSU]: Das sitzt! Das schreibt ihr euch hinter die Ohren! – Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]) Antje Tillmann (CDU/CSU): Ich habe niemandem den Schwarzen Peter zugescho- Stichwort „Verlagerung der elektronischen Buchfüh- ben. Ich habe vielmehr Sie gebeten, aus Sicht der Reini- rung“. Es ist immer gut, wenn man nach einer ersten Le- gungsfrau einmal zu überprüfen, welche Interessen sie sung – – hat. Ich glaube, der Reinigungsfrau ist es völlig egal, ob (Weiterer Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll ihr Arbeitgeber ein Unternehmen oder ein privater Haus- [DIE LINKE]) halt ist. Die Hauptsache ist doch, dass diese Reinigungs- frau eine sozialversicherungspflichtige Anstellung mit – Ich kann mich kaum konzentrieren, wenn Sie immer der Absicherung hat, die ich mir wünsche. Das werden dazwischenreden. Ich gebe Ihnen gern die Gelegenheit, wir fördern. etwas zu sagen, wenn ich meinen Gedanken zu Ende ge- führt habe. – Auch da ist es gut, dass wir uns in der An- Ich bin sicher, dass wir den guten Ansatz, der schon hörung das Gesetz noch einmal vornehmen. Sie haben sichtbar geworden ist, weiterverfolgen werden. Ich weiß, gesagt: Es kann nicht sein, dass bei einer Verlagerung dass wir da noch nicht ganz auf einer Linie mit dem Ko- der elektronischen Buchführung ins Ausland auf Daten alitionspartner sind. Die Gespräche hierüber werden wir nicht mehr zugegriffen werden kann. Das verlangt auch fortführen. Ich glaube, dass beide, SPD und CDU/CSU, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19045

Antje Tillmann (A) die Reinigungsfrau als Allererstes im Blick haben und Sportausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderwei- (C) dass wir für sie etwas erreichen wollen, tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Richtig!) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie damit sie eine Absicherung für die Zukunft hat, auch Zusatzpunkt 7 auf: wenn sie in einem privaten Haushalt arbeitet. 7 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Beifall bei der CDU/CSU) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder- Das Thema strafrechtliche Verjährungsfristen wird nisierung des Vergaberechts sehr kritisch diskutiert. Liebe Frau Kollegin Kressl, ich – Drucksache 16/10117 – stimme nicht ganz mit Ihnen überein, dass die fünfjäh- Überweisungsvorschlag: rige Verjährungsfrist ein Zeichen für ein Kavaliersdelikt Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) ist. Fünf Jahre sind ein langer Zeitraum. Aber wir sind Rechtsausschuss uns schnell wieder darin einig, dass es das allein sowieso Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und nicht bringen wird. Am besten hilft gegen Steuerhinter- Verbraucherschutz ziehung, wenn derjenige, der es tut, damit rechnen muss, Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung entdeckt zu werden. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Hier kämpfen wir gemeinsam in der Föderalismus- Entwicklung kommission darum, die Steuerverwaltung effektiver zu machen. Bund und Länder müssen hier zusammenarbei- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla ten. Gestern haben wir dabei die ersten Erfolge erzielt Lötzer, Werner Dreibus, Dr. Diether Dehm, wei- und erreicht, dass bei den Steuerhinterziehungstatbestän- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE den und auch bei den Betriebsprüfungen noch enger zu- Tariftreue europarechtlich absichern sammengearbeitet wird. Darauf sollten wir für die Zu- kunft einen Schwerpunkt setzen. – Drucksache 16/9636 – Überweisungsvorschlag: Es werden in der Anhörung noch einige andere Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Punkte zur Diskussion stehen, die heute noch nicht er- Ausschuss für Arbeit und Soziales wähnt worden sind. Frau Kollegin Kressl hat darauf hin- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gewiesen, dass wir auch das Engagement von Arbeitge- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union bern zur Gesundheitsfürsorge unterstützen wollen. Es ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer (B) gibt auch das Anliegen aus dem Bundesrat, Steuerfrei- Brüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weiterer (D) heit für Aufwandsentschädigungen für die dauerhafte Abgeordneter und der Fraktion der FDP Pflege von volljährigen Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Wir werden das diskutieren und die Auswir- Novellierung des Vergaberechts für Bürokra- kungen besprechen. tieabbau nutzen – Bundesweit einheitliches Präqualifizierungssystem für Leistungen ein- Weiterhin gibt es das Anliegen aus dem Bundesrat führen – das betrifft insbesondere die Kommunen –, bei struktu- rellem Leerstand die Voraussetzungen für einen Grund- – Drucksache 16/9092 – steuererlass zu schaffen. Dieses Problem führt bei Überweisungsvorschlag: manchen ostdeutschen Kommunen zu erheblichen Ein- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) brüchen. Hier müssen wir im Rahmen der Anhörung zu- Rechtsausschuss sammen mit den Kolleginnen und Kollegen nach Lösun- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gen suchen, um den Kommunen Sicherheit zu geben, Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich damit sie auf die Steuern, die sie eingeplant haben, tat- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. sächlich zurückgreifen können, um Leistungen wie Kin- derbetreuung, Schulverpflegung sowie die Sanierung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla- von Straßen und Jugendhäusern erbringen zu können. mentarische Staatssekretärin Dagmar Wöhrl. Ich freue mich auf die weitere Diskussion und sehe, Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- dass wir noch erheblichen Beratungsbedarf haben. minister für Wirtschaft und Technologie: Ich danke Ihnen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Gesetzentwurf zur Modernisierung des Vergabe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rechts liegt jetzt vor. Der Abstimmungsprozess war nicht neten der SPD) einfach. Es ging vor allem darum, unser komplexes Ver- gaberecht zu modernisieren und zu vereinfachen. Sehr Vizepräsidentin Petra Pau: wichtig war für uns, dass wir zu einer mittelstandsge- Ich schließe die Aussprache. rechten Ausgestaltung gekommen sind. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Es gab viele Diskussionen, vor allem im Zusammen- wurfs auf Drucksache 16/10189 an die in der Tagesord- hang mit den sogenannten vergabefremden Aspekten. nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ich glaube, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben 19046 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl (A) wir es geschafft, viele Unsicherheiten, die bis jetzt be- teil im Einzelnen beschrieben, welche Bedingungen er- (C) standen haben, zum Beispiel Unsicherheiten bei der füllt sein müssen, damit eine Tariftreueregelung zur An- Rechtsauslegung, zu beseitigen. Zudem erfordern die wendung kommt. europäischen Richtlinien bekanntlich weitere Anpassun- gen der deutschen Regelungen. Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist dieses Urteil zu begrüßen. Wie wir wissen, sind hier die Länder in der Wichtig war uns, dass wir bei der Vergabe öffentli- Pflicht und gefordert. Vergaberecht ist Einkaufsrecht; ich cher Aufträge ein transparentes Verfahren bekommen. glaube, das sollte uns allen klar sein. Es ist aber kein In- Wichtig war uns auch, dass die Wirtschaftlichkeit bei der strument, mit dem man versuchen sollte, Mindestlöhne Beschaffung gewährleistet und der Wettbewerb um die durch die Hintertür einzuführen. Aufträge gestärkt wird. Hier haben wir ein Gleichge- Liebe Kollegen, unser Gesetzentwurf enthält ausge- wicht hergestellt; das ist gut. wogene Regelungen. Er würdigt die Interessen der Ich möchte auf einige Kernelemente des Gesetzent- Marktteilnehmer auf beiden Seiten. Ich kann festhalten: wurfes eingehen. Ich glaube, eines seiner wichtigsten Die Bundesregierung hat ihren Teil dazu beigetragen, Elemente ist, dass eine gesetzliche Pflicht zur Aufteilung dass wir eine anwenderfreundliche Ausgestaltung der öf- der Aufträge in Lose vorgesehen ist. Eine Gesamtver- fentlichen Beschaffung erreicht haben. Jetzt sind die gabe soll zukünftig nur noch aus besonderen wirtschaft- Verdingungsausschüsse gefragt. Ich hoffe, dass diejeni- lichen oder technischen Gründen möglich sein. Somit gen, die die VOB und die VOL regeln, sich ihrer Verant- stärken wir die Mittelstandsklausel; das hatten wir von wortung dann auch bewusst werden. Anfang an vor. In Zukunft ist sie im Rahmen der Nach- In dem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. prüfung überprüfbar. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Die Vergabepraxis hat gezeigt, dass die Mittelstands- klausel bis jetzt nicht den gewünschten Effekt hatte. Nachfragen der öffentlichen Stellen werden immer häu- Vizepräsidentin Petra Pau: figer derart gebündelt, dass kleinere Betriebe keine An- Das Wort hat der Kollege für die FDP- gebote abgeben können, vor allem deshalb, weil sie nicht Fraktion. über dieselben Ressourcen wie andere, größere Unter- (Beifall bei der FDP) nehmen verfügen. Es ist richtig, dass im Koalitionsvertrag und in den Paul K. Friedhoff (FDP): Leitlinien der Bundesregierung explizit gefordert wurde, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (B) die Vergabe öffentlicher Aufträge zukünftig mittel- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlässlich der (D) standsfreundlich auszugestalten. Ein weiterer wichtiger ersten Beratung des Regierungsentwurfs werde ich mich Punkt war für uns, dafür zu sorgen, dass möglichst viele für die Bundestagsfraktion der FDP im Wesentlichen auf mittelständische Betriebe die Möglichkeit haben, sich die Perspektive der mittelständischen Unternehmen kon- um öffentliche Aufträge zu bewerben. zentrieren. Am Anfang meiner Rede habe ich bereits darauf hinge- Wir begrüßen zunächst die Klarstellung – das hat we- wiesen, dass die sogenannten vergabefremden Aspekte niger mit dem Mittelstand zu tun –, dass die Grund- ein großer Diskussionspunkt waren. Im Gesetzentwurf stücksverkäufe nicht dem Vergaberecht unterliegen sol- haben wir die wichtige Klarstellung getroffen, dass bei len, auch wenn sie mit städtebaulichen Auflagen an die der Vergabe öffentlicher Aufträge auch soziale, umwelt- Investoren verbunden sind. Das bedeutet ein Stück bezogene und innovative Aspekte berücksichtigt werden Rechtssicherheit und ist sicher auch angemessen. können; ich betone das Wort „können“. Ich denke, diese (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Georg Kriterien müssen in einem sachlichen Zusammenhang Nüßlein [CDU/CSU]) mit dem Auftragsgegenstand gesehen werden. Vor allem müssen sie allen bekannt sein. Die Formulierung des Ge- Die Mittelstandsklausel ist ein begrüßenswerter An- setzentwurfes knüpft an die gemeinschaftsrechtlichen satz zur beabsichtigten Stärkung kleiner und mittlerer Vorschriften an und entspricht somit dem europäischen Unternehmen. Die bisher im Gesetz enthaltene Auffor- Standard. Eine weitere wichtige Klarstellung ist, dass derung, mittelständische Interessen angemessen zu be- bestimmte städtebauliche Maßnahmen und bestimmte rücksichtigen, hat sich als nicht sehr wirkungsvoll erwie- Formen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit nicht sen, wie die Frau Staatssekretärin gerade auch mehr dem Vergaberecht unterliegen. festgestellt hat. Noch eine kurze Bemerkung zum Antrag der Fraktion Mit der verstärkten Aufteilung von Aufträgen in Teil- Die Linke. Frau Lötzer, Sie gehen in Ihrem Antrag expli- und Fachlose kann einem deutlich größeren Kreis von zit auf das Urteil des EuGH vom April dieses Jahres ein. Unternehmen die Möglichkeit der Teilnahme an Aus- In diesem Urteil des EuGH wird für die Auftraggeber schreibungen eröffnet werden. Deshalb ist diese Auftei- und die Auftragnehmer bei öffentlichen Bauaufträgen lung in Einzellose für uns als Regelfall vorzusehen. Klarheit geschaffen. Dieses Urteil besagt aber nicht, dass Wenn davon aus technischen oder wirtschaftlichen Tariftreueregelungen bei der Vergabe öffentlicher Auf- Gründen abgewichen werden soll, muss dies begründet träge unzulässig sind; ich weiß nicht, ob Ihnen dieser werden. Eine Einzelfallbetrachtung ist auf jeden Fall nö- Zusammenhang klar war. Vielmehr wird in diesem Ur- tig, da eine pauschale Aussage nicht möglich ist. Die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19047

Paul K. Friedhoff (A) unterschiedlichen Ausschreibungen sind einfach zu liegt, ein bundesweit einheitliches System der Präquali- (C) komplex. Ob nun Komplett- oder Teilvergaben günstiger fikation einzuführen. sind, muss im Einzelfall betrachtet werden. Aus Sicht der FDP-Fraktion soll der Auftraggeber, wenn er die Inhalt der Präqualifikation ist eine möglichen Aufträ- Ausnahme wählt, also komplett ausschreibt, dies immer gen vorgelagerte Prüfung der Eignung. Damit müssen konkret begründen müssen. Unternehmer nicht vor jeder Ausschreibung aufs Neue ihre generelle Eignung aufwendig nachweisen und wer- Einen entscheidenden Kritikpunkt am Gesetzentwurf den nicht im Hinblick auf den Nachweisaufwand von der sieht die FDP-Bundestagsfraktion in der Ausnahme für Teilnahme an Ausschreibungen abgeschreckt. die interkommunale Zusammenarbeit, also die soge- nannten Inhousevergaben. Durch die geplante neue Vor- Derartige Systeme gibt es auf Landesebene bereits in schrift wird den Kommunen viel Spielraum zu verstärk- fünf Bundesländern. Um einer Zersplitterung des öffent- ter Zusammenarbeit geboten. Sie können nach dem lichen Auftragswesens entgegenzuwirken, fordern wir, Entwurf andere Kommunen ohne Ausschreibung mit je- im Rahmen der anstehenden Novelle die Chance zu nut- der Art von Leistung beauftragen oder hierfür gemein- zen, ein leistungsfähiges System der Präqualifikation same Gesellschaften gründen. Das klingt für die Bürger- nun auf Bundesebene einzuführen. Kleinen und mittle- meister sicher attraktiv, aber dadurch wird der ren Unternehmen muss die Präqualifikation einheitlich Wettbewerb bei öffentlichen Aufträgen gefährdet. und flächendeckend ermöglicht werden. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Durch das Vergaberecht soll ein fairer Wettbewerb si- Die Bundesregierung begründet ihren Gesetzentwurf chergestellt werden, und es soll den Kommunen nicht mit der Absicht, eine mittelstandsgerechte Modernisie- etwa einfach gemacht werden, Wettbewerb auszuschal- rung des Vergaberechts vorzunehmen. Ich würde die ten und Aufträge nach Gutdünken zu vergeben. Nicht Bundesregierung gerne beim Wort nehmen und fordere umsonst ist die öffentliche Auftragsvergabe im Gesetz sie auf, unseren Kritikpunkten und denen der mittelstän- gegen Wettbewerbsbeschränkungen geregelt. dischen Wirtschaft die Beachtung zu schenken, die zur Erreichung dieses Zieles notwendig ist. Lassen Sie mich eines klarstellen: Wenn kommunale Unternehmen gut wirtschaften, dann brauchen sie den Ich danke Ihnen. Wettbewerb mit der Privatwirtschaft nicht zu fürchten. (Beifall bei der FDP) Deshalb gibt es auch keinen Grund, die städtischen Be- triebe von den Vergabevorschriften auszunehmen und so (B) vor dem Wettbewerb zu schützen. Vizepräsidentin Petra Pau: (D) Das Wort hat der Kollege Reinhard Schultz für die (Beifall bei der FDP) SPD-Fraktion. Meine Damen und Herren, bei allem dürfen die Grundzwecke des Vergaberechts nicht aus den Augen Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): verloren werden. Diese liegen zum einen darin, für die Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau öffentliche Hand einen wirtschaftlichen Einkauf von Präsidentin! Frau Staatssekretärin Wöhrl hat darauf hin- Leistungen zu gewährleisten. Zum anderen soll den po- gewiesen, dass es ein ziemlich langer und schwieriger tenziellen Auftragnehmern ein fairer und durchschauba- Prozess war, bis man sich auf diesen Kabinettsentwurf rer Bieterwettbewerb gesichert werden. geeinigt hat. Die Tatsache, dass zwischenzeitlich eine Diese grundsätzlichen Erwägungen zum Zweck des Kabinettsentscheidung gestoppt wurde, fanden zumin- Gesetzes müssen uns davon abbringen, Aufgaben und dest einige in diesem Hause merkwürdig. Immerhin liegt Ziele in das Recht der Auftragsvergabe einzubinden, die uns aber die auf Kabinettsebene vereinbarte Lösung, an- hiermit überhaupt nichts zu tun haben. So stehen etwa gereichert durch eine Reihe von Gesichtspunkten, die Anliegen der Sozial- und Umweltpolitik mit den eigent- vorab auf Berichterstatterebene besprochen worden wa- lichen Zielen des Vergaberechts meist in keinem Zusam- ren – zum Beispiel das Thema städtebauliche Verträge –, menhang und sollten auch nicht mit ihm vermischt wer- als Gesetzentwurf zur Beratung vor. Ich bedanke mich den. ausdrücklich auch bei Herrn Dr. Nüßlein. Wenn wir wei- terhin nahe beieinanderbleiben, dann werden wir trotz Durch vergabefremde Aspekte werden vielmehr In- der noch bevorstehenden Klippen, die es auch geben transparenz und Bürokratie gefördert und vor allem mit- wird, die Reform des Vergaberechts zu einem guten telständische Unternehmen diskriminiert, die sich geset- Ende bringen. zeskonform verhalten, also bereits Aufgaben wahrnehmen, die vom Auftraggeber vorgegebenen Motive der verga- Die Reform ist aus guten Gründen im Koalitionsver- befremden Kriterien nach dem Gesetz aber eben nicht trag vereinbart worden. Sie ging zum einen auf die EU- erfüllen und auch nicht erfüllen müssen. Vorgaben zurück, die zum Teil bereits 2006 umgesetzt wurden. Jetzt folgt sozusagen der freiwillige Teil, wei- Lassen Sie mich noch einen Punkt anführen, der für tere Regelungen der EU-Vergaberichtlinien in deutsches die beabsichtigte Vereinfachung und Entbürokratisie- Recht umzusetzen. Zum anderen verfolgen wir damit rung der Vergabeverfahren sehr wichtig ist. Wir fordern auch eigene Absichten im Hinblick auf Vereinfachung in unserem Antrag, der heute ebenfalls zur Beratung vor- und Mittelstandsorientierung. 19048 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland etwa zum einen um die vernünftige Bewertung menschlicher (C) 262 Milliarden Euro jährlich für öffentliche Aufträge an Arbeit und zum anderen um einen Wettbewerbsfaktor. Unternehmen gezahlt werden – das sind etwa 2,4 Millio- Wenn zwei Unternehmen gegeneinander antreten und nen einzelne Vergabevorgänge –, kann man ermessen, das eine als Subunternehmen mit Drückerkolonnen deut- wie kompliziert das ist, aber auch, welche große volks- lich unter Mindestlohn anbietet und das andere tariftreu wirtschaftliche Bedeutung das öffentliche Auftragswe- ist, dann gibt es eine Verzerrung. Wir können nicht daran sen hat. Jedem, der daran teilnehmen möchte, sollte dies interessiert sein, bei einem Volumen von mehr als einer ermöglicht werden. Das Vergabeverfahren sollte so Viertel Billion Euro an öffentlichen Vergaben in Deutsch- transparent, einfach und klar sein, dass jedes Unterneh- land dazu beizutragen, dass Arbeitnehmer, die für die men – auch kleine Unternehmen – die Möglichkeit hat, Durchführung öffentlicher Aufträge beschäftigt werden, daran teilzunehmen. Deswegen war die Reform erfor- in eine Rutschpartie geraten, die damit endet, dass sie derlich. Aufstocker im Rahmen des Arbeitslosengeldes II werden; denn dann zahlt die öffentliche Hand im Nachhinein die Die Intransparenz lag zum Teil an der Vielschichtig- Löhne, zumindest auf dem Niveau eines Mindestlohns. keit des Gesetzes und der darauf aufbauenden Verord- nungen, aber auch an der Zersplitterung der Vergabe- (Beifall bei der SPD) landschaft. Wir haben 8 000 Gebietskörperschaften und 30 000 Vergabestellen, die bundesweit tätig sind und Das müssen wir verhindern. Das ist eine Frage des An- täglich öffentliche Ausschreibungen vornehmen. Das ist standes, aber auch der ökonomischen Vernunft. Insofern für kleine und mittlere Unternehmen außerordentlich hat die Lohnfindung als ein soziales Kriterium – auch schwer zu handhaben. inhaltlich – unmittelbar etwas mit dem Vergaberecht und der Wettbewerbsgerechtigkeit zu tun und ist nicht etwa Wir haben seit langem beklagt, dass es gerade im Be- sachfremd. Deswegen habe ich Probleme mit den soge- reich des Bauwesens angeblich zugunsten der Vereinfa- nannten sachfremden Kriterien. Ähnliches gilt bis zu ei- chung die Tendenz gibt, alles aus einer Hand schlüssel- nem gewissen Grad für ökologische Tatbestände und in- fertig bei einem Generalunternehmer in Auftrag zu novative Belange. geben. Der Generalunternehmer übernimmt dann die Planung, er steuert das Projekt und kauft in der Regel bei Die entscheidende Frage ist, wie wir damit umgehen. Subunternehmen ein mit dem Ergebnis, dass die eigent- Der Gesetzentwurf sieht eine Eins-zu-eins-Übernahme liche Marge dort erwirtschaftet wird, wo man die mögli- der Formulierung aus den europäischen Richtlinien vor. chen Gewinne der Subunternehmer drücken kann. Das Danach könnte jeder, der öffentliche Aufträge vergibt, geht zulasten des Mittelstandes, aber auch der Qualität; die Lohnfindung, ökologische Kriterien und innovative Belange in seine Ausschreibungstexte einbeziehen. Das (B) denn manchmal kann das, was durch die Preisdrückerei (D) erforderlich wurde, durch Leistung gar nicht mehr er- wäre dadurch gedeckt und stellte im Vergleich zu dem, bracht werden. Damit entstehen Pfusch und als Folge was bundesweit gilt, einen Fortschritt dar. Ich gehe sogar vielerlei Gewährleistungstatbestände, die das Geschäft so weit und sage: Wenn das Gesetz schon gelten würde, für den Endabnehmer, die öffentliche Hand, außeror- hätten wir den skandalösen Vorgang bei der Vergabe des dentlich schwierig machen. Deswegen sind wir sowohl Fahrdienstes des Deutschen Bundestages nicht; denn das aus Wettbewerbsgründen als auch aus Qualitätsgründen wäre dann gedeckt. Trotzdem muss man sich die Frage dafür, dass in der Regel losweise vergeben wird, wenn es stellen, ob das weit genug geht. Soll man es in das Belie- um größere Ausschreibungen geht, und dass im Einzel- ben des jeweiligen öffentlichen Auftraggebers stellen, ob nen begründet werden muss, wenn man auf eine Gene- er die Fragen nach angemessenen Löhnen und Wettbe- ralunternehmerlösung zurückgreifen will. werbsgerechtigkeit ernst nimmt oder nicht? Es wird si- cherlich noch Diskussionen darüber geben, ob wir die Ich gehe sogar einen Schritt weiter. Ich glaube – da- Tarifbindung nicht deutlich besser verankern können, als rüber müssen wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren es bislang im Gesetzentwurf vorgesehen ist. Das geht noch diskutieren; ich bin beim Thema PPP darauf gesto- noch ein Stück weiter. Der Kollege Walter Riester wird ßen –, wir müssen darüber nachdenken, ob es sinnvoll gleich darauf seinen Schwerpunkt setzen. Aber ich will ist, dass ein Generalunternehmer, wenn er zum Zuge deutlich machen, dass ich ausdrücklich dazu stehe. kommt, nach den Kriterien des Vergaberechts transpa- rent ausschreibt. Es gibt internationales Recht, das, wenn es von Deutschland ratifiziert ist, in Deutschland verbindlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ist. Das sind beispielsweise die Normen der Internatio- Nach meiner Meinung wäre das eine Lösung zumindest nalen Arbeitsorganisation. 71 sind ratifiziert. Selbstver- für PPP, eventuell aber auch grundsätzlich für General- ständlich müssen diese bei öffentlichen Vergaben, so- unternehmertätigkeiten. Ich freue mich, dass eine ge- wohl bei der direkten Arbeit als auch bei der gesamten wisse Aufgeschlossenheit auch beim Koalitionspartner Wertschöpfungskette, berücksichtigt werden. Jeder von vorhanden ist; das habe ich an dem Beifall gesehen. Ihnen wird sagen: Es ist doch völlig selbstverständlich, dass sich die Unternehmen an geltendes Recht halten. – Das Thema der sogenannten vergabefremden Krite- Bei internationalem Recht ist das nicht so selbstver- rien hat die zweieinhalb Jahre dauernden Beratungen ständlich, vor allen Dingen nicht in den Köpfen. Wenn sehr verzögert. Man muss sich fragen, ob wirklich alles es aber für alle hier im Parlament selbstverständlich ist, vergabefremd ist. Bei der Lohnfindung in Unternehmen, dann wird auch nichts dagegen sprechen, das nicht nur in die sich an öffentlichen Aufträgen beteiligen, geht es der Begründung zu erwähnen – denn darin kommt es vor –, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19049

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) sondern diese Klarstellung auch im eigentlichen Geset- werb verhindern, dem Lohndumping entgegenwirken, (C) zestext vorzunehmen. An Selbstverständlichkeiten wird dem Erhalt wünschenswerter sozialer Standards dienen keiner Anstoß nehmen. Wenn aber einer das ablehnen und die Tarifautonomie stabilisieren. Das alles sind sollte, dann stellt sich die Frage, ob diejenigen, die das Gründe, mit einer bundesweiten Regelung für fairen ablehnen, versuchen, im deutschen Vergaberecht unter Wettbewerb und Rechtssicherheit zu sorgen und gleiche der Rechtsverbindlichkeit von internationalem Recht Bedingungen für alle zu garantieren. wegzutauchen. Wir werden diese Stunde der Wahrheit (Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: erleben, aber ich bin da außerordentlich optimistisch. Was hat eigentlich der EuGH dazu gesagt?) Ich will zu den Fragen der städtebaulichen Verträge – Ich komme dazu. – Sie, Herr Schultz, haben das Volu- und der kommunalen Zusammenarbeit aufgrund der be- men angesprochen, eine bedeutsame Marktmacht, mit grenzten Zeit, die ich hier habe, jetzt nichts sagen. Ich der man auch Normen für soziale und ökologische Ver- will nur darauf hinweisen, dass es Themen gab, die über antwortung von Unternehmen setzen kann. Sie haben es den Bundesrat oder auch über Parteien der Opposition an mit Ihrem Entwurf in der Hand, diese Normen zu setzen uns herangetragen worden sind. Der Einrichtung eines und festzulegen, ob in Zukunft der Anteil von Ökostrom Registers von Unternehmen, die sich im Rahmen der mehr als 0,5 Prozent betragen wird; Sie haben es in der Vergabe schwerste Verfehlungen haben zuschulden Hand, ob Produkte gekauft werden, für deren Herstel- kommen lassen – Korruption, Nichteinhaltung von Ge- lung Kinder in Steinbrüchen Indiens gearbeitet haben, setzen usw.; es handelt sich um die berühmten schwar- und Sie haben es in der Hand, ob zu Dumpinglöhnen ge- zen Schafe –, stehen wir ausgesprochen offen gegenüber. putzt oder Müll abgefahren wird. Wenn man diese Krite- Ich persönlich – das sage ich als Berichterstatter – rien anlegt, dann ist Ihr Entwurf allerdings beschämend. könnte mir auch vorstellen, dass man sich dem Thema der Vereinfachung durch die Präqualifizierung deutlich (Beifall bei der LINKEN) nähert, weil es wirklich eine Vereinfachung wäre, wenn die Qualifikation testiert würde und in einem Register Sie legen keine verpflichtenden Kriterien fest. Sie schie- stünde. Demjenigen, der 25 Ausschreibungen innerhalb ben diese Verantwortung auf die Kommunen und Länder einer Woche bearbeiten muss, könnte man sehr viel Ar- ab. Diese sollen das auftragsbezogen regeln. Das einzig beit ersparen. Auch in dieser Frage sind wir offen. Ich Positive bei Ihnen – das sehen wir anders als Sie, Herr würde mich darüber freuen, wenn wir am Ende zu einer Friedhoff – ist die Förderung kommunaler Zusammen- breit getragenen Vergaberechtsreform kommen würden. arbeit sowie die Mittelstandsklausel. Wir fordern Sie, Herr Schultz, deshalb auf, die Förderung von betriebli- Vielen Dank. cher Ausbildung, von Langzeitarbeitslosen, (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Dr. Rainer Wend [SPD]: Frauenförderung!) (D) die ökologische Beschaffung, die Gleichstellung von Vizepräsidentin Petra Pau: Frauen – genau – und den fairen Handel verbindlich in Das Wort hat die Kollegin Ulla Lötzer für die Frak- das Vergabegesetz aufzunehmen. tion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Kommen wir zur Tarifautonomie und dem EuGH- Urteil. Ja, der Europäische Gerichtshof hat nur allge- Ulla Lötzer (DIE LINKE): meinverbindliche Tarifverträge und einen gesetzlichen Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! 1999 Mindestlohn als Kriterium anerkannt. Das ist ein Urteil hat der Bundestag schon einmal ein Vergabegesetz ver- in einer Serie von Urteilen, in denen die sozialen und de- abschiedet, das die öffentlichen Aufträge an die Zahlung mokratischen Grundrechte niedriger bewertet werden als von Tariflöhnen gebunden hat. Dieses wurde im Bundes- die Binnenmarktfreiheit von Unternehmen, mit Dum- rat mit der Begründung blockiert, dass es Ländersache pinglöhnen Aufträge zu bekommen. Ein Skandal, wie sei. Acht Länder haben inzwischen Vergabegesetze be- wir meinen, Frau Wöhrl! schlossen. Entstanden ist ein Flickenteppich mit unter- schiedlichsten Regelungen: Die einen haben Kriterien (Beifall bei der LINKEN) nur für die Bauindustrie, die anderen für alle Branchen, Was machen Sie jetzt dagegen? Als Erstes wäre ein die einen haben Kontrollen eingeführt, die anderen keine gesetzlicher Mindestlohn fällig. Den führen Sie natürlich Kontrollen, die einen haben Kontrollen wieder abge- nicht ein. Stattdessen verstecken Sie sich im Entwurf zur schafft, bei den anderen gelten sie noch. Darüber hinaus Modernisierung des Vergaberechts in diesen Fragen hin- gibt es Kommunen, die auch sozial und ökologisch ver- ter dem EuGH. Der EuGH zwingt Sie auch nicht, die Ta- antwortlich einkaufen wollen, unter anderem Neuss und riftreue fallen zu lassen. Auf nationaler Ebene könnten Düsseldorf. Diese beiden Städte sind nicht gerade rot Sie die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen er- oder rot-grün regiert, erst recht nicht rot-rot. Sie kaufen leichtern. Dafür wäre es sowieso höchste Zeit. keine Produkte mehr, die mit Kinderarbeit hergestellt worden sind. Der rot-rote Senat in Berlin wollte alle Beim Europäischen Parlament regt sich endlich Wi- Unternehmen verpflichten, Tariflöhne einzuhalten. derstand. Gestern hat der Beschäftigungsausschuss be- Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht dazu 2006 schlossen, den Schutz der Tarifvertragsfreiheit in der ausdrücklich festgestellt, dass Tariftreueregelungen die europäischen Entsenderichtlinie zu verankern und dies Benachteiligung tariftreuer Unternehmen im Wettbe- demnächst im Europäischen Parlament zu behandeln. 19050 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Ulla Lötzer (A) Wir fordern Sie auf, dieses Anliegen im Europäischen keine Möglichkeit hat, in diesem laufenden Verfahren (C) Rat zu unterstützen. „Stopp!“ zu sagen, ist nicht mittelstandsfreundlich. Sie sollten überlegen, ob Sie nicht doch eine Möglichkeit se- (Beifall bei der LINKEN) hen, hier mehr Rechtsschutz zu schaffen. Das würden Der Europäische Gewerkschaftsbund tritt für eine so- wir befürworten. ziale Fortschrittsklausel in Form eines Protokolls zu den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) europäischen Verträgen ein, mit dem der Vorrang der Grundrechte und Grundwerte vor den Binnenmarktfrei- Im Übrigen unterstützen wir hier ausdrücklich die heiten von Unternehmen abgesichert wird. Werden Sie Position der FDP. Das Präqualifizierungsverfahren ist in diesem Sinne in Brüssel vorstellig! Gleicher Lohn für sinnvoll. Wir haben es auch in unserem eigenen Antrag gleiche Arbeit am gleichen Ort, das gehört auf der einen eingefordert. Seite verbindlich ins Vergaberecht und auf der anderen Seite in die europäischen Verträge. Nur so haben ein so- Jetzt möchte ich zu den sogenannten vergabefremden ziales Europa und eine Sozialunion Bestand. Kriterien kommen. Bei einem Auftragsvolumen von fast 300 Milliarden Euro im Jahr kann und darf sich der Ich danke für die Aufmerksamkeit. Bund nicht aus der Verantwortung stehlen. Vielmehr (Beifall bei der LINKEN) muss er an diesen Einkaufszettel, an diese Marktmacht Kriterien knüpfen und verlangen, dass nach diesen Kri- terien auch agiert wird. Vizepräsidentin Petra Pau: Nun hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Frak- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Aus Sicht einer Umweltpartei ist es enorm wichtig, dass der Bund hier als Vorbild vorangeht und im Bereich Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): seiner eigenen Beschaffungen klarstellt, welche ökologi- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und schen Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Herren! Auch ich begrüße, dass wir bei der Reform des angelegt werden. Der Bund soll sich bei seinen eigenen Vergaberechts jetzt doch einen deutlichen Schritt weiter- Aufträgen klar positionieren, welche ökologischen und kommen. Das ist nicht erst seit gestern ein Thema. Die sozialen Kriterien er zugrunde legt. Koalition hat es schon in ihren Koalitionsvertrag aufge- nommen. Jetzt, drei Jahre später, liegt uns ein Gesetzent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wurf vor. Die Europäische Union hat von uns verlangt, In Deutschland gilt das Subsidiaritätsprinzip. Damit zu handeln. Wir sind keineswegs das erste Land, in dem gehen wir konform, indem wir den Ländern und Kom- (B) eine solche Reform gemacht wird. munen die erforderliche Rechtssicherheit geben, wenn (D) Auf das Volumen der öffentlichen Auftragsvergabe von sie diese Kriterien anlegen wollen. Heute stehen wir vor Bund, Ländern und Kommunen ist eingegangen worden folgender Situation: Wenn eine Kommune entscheidet, sowie darauf, was der größte Einkaufszettel – darum dass sie ihren Marktplatz nicht mit Steinen aus ausbeute- handelt es sich quasi – bedeutet und welche Verantwor- rischer Kinderarbeit pflastern will, dann kann sie das tung dahintersteht. Auf diese Verantwortung möchte ich zwar in die Auftragsvergabe hineinschreiben, muss aber eingehen, weil sie für Bündnis 90/Die Grünen sehr wich- hoffen, dass niemand dagegen klagt. Diese Situation ist tig ist. unhaltbar, und deswegen ist es richtig, hier für den Auf- traggeber – in diesem Falle für die Kommune – Rechts- Vorab noch Folgendes. Das Grundproblem des Verga- sicherheit zu schaffen. berechts ist die enorme Zersplitterung, die enorme Kom- pliziertheit. Sowohl was den Rechtsschutz der Auftrag- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geber, zum Beispiel der Kommunen, als auch was den Dass das Billigste weder das Wirtschaftlichste und Rechtsschutz der Auftragnehmer, zum Beispiel der Mit- schon gar nicht das Beste ist und dass Billiges für andere telständler, angeht, bestehen Probleme. auch sehr teuer werden kann, liegt auf der Hand. Deswe- Im Hinblick auf den Mittelstand begrüßen wir die Re- gen halten auch wir es für sehr wichtig, künftig im gelungen, die für die Fach- und Teillose gefunden wor- Bereich der ILO-Kernarbeitsnormen, im Bereich der Ta- den sind. Es ist durchaus richtig, hier so zu handeln. riftreue und im Bereich der Entlohnung sehr genau hin- Aber Sie sollten sich noch einmal sehr genau anschauen, zuschauen, welche europakonformen Regelungen man was die Verbände in ihren Stellungnahmen im Hinblick finden kann, damit hier auch die soziale Verantwortung auf Rechtsschutz und Klarheit, Transparenz schreiben. wahrgenommen werden kann. Unserer Ansicht nach Dass der Rechtsschutz derzeit mangelhaft ist, haben wir müssen die ILO-Kernarbeitsnormen hier stärker berück- konstatiert; das ist auch von Ihnen beschrieben worden. sichtigt werden. In diesem Punkt sollten Sie den Entwurf Rechtsschutz bedeutet natürlich auch mehr Transparenz nachbessern. und Klarheit für die Unternehmen, die sich an solchen Da meine Redezeit abgelaufen ist, komme ich zu ei- Verfahren beteiligen wollen. nem letzten Punkt. Sie haben hier einen Gesetzentwurf Man kann unterhalb der Schwellenwerte zwar im auf den Weg gebracht, und dies ist heute die erste Le- Nachhinein klagen, aber dass es immer noch keinen Pri- sung. In der Anhörung werden wir im Hinblick auf den märrechtsschutz gibt, also dass ein Mittelständler, der Mittelstand, aber auch im Hinblick auf die Rechtssicher- sich in einem Verfahren nicht angemessen beteiligt fühlt, heit und die ökologischen und sozialen Kriterien noch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19051

Kerstin Andreae (A) sehr viele vernünftige und gute Anregungen bekommen. nachdem – vor sich sieht und der sich unter diesem Ge- (C) Ich hoffe sehr, dass Sie diesen Gesetzentwurf nachbes- sichtspunkt natürlich in einem sehr engen Korsett be- sern werden. Er ist nachbesserungsbedürftig. Das Verga- wegt, das wir nicht noch enger schnüren sollten. berecht muss insgesamt reformiert werden. Nutzen Sie Ich meine, dass wir die politische Verantwortung stär- die Chance, die Sie jetzt haben! ken sollten und eher die Frage stellen sollten: „Wer wird Vielen Dank. wie politisch kontrolliert?“, als die Frage: „Brauchen wir an der einen oder anderen Stelle zusätzliche Vorgaben?“ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diese Vorgaben wären ja dann wiederum einer juristi- sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. schen Kontrolle unterworfen. Bürokratieabbau in unse- Ulla Lötzer [DIE LINKE]) rem Land funktioniert nur, wenn wir einerseits politische Entscheidungsspielräume und Verantwortlichkeiten und Vizepräsidentin Petra Pau: zugleich die politisch-demokratischen Kontrollmecha- Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Georg nismen stärken, andererseits aber die Möglichkeiten zur Nüßlein das Wort. juristischen Nachprüfung da beschränken, wo sie nicht unbedingt notwendig sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir können in dem Verfahren, in das wir heute eintre- ten, gerne darüber diskutieren, ob an der einen oder an- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): deren Stelle mehr Transparenz geschaffen werden kann, Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! zum Beispiel indem im Anschluss an die Vergabe veröf- Wir werden das komplexe und unübersichtliche fentlicht wird, wer was zu welchen Konditionen bekom- deutsche Vergaberecht vereinfachen und moderni- men hat. Damit wäre teilweise dem Genüge getan, was sieren. Dabei werden wir auf die mittelstandsge- die Wirtschaft fordert. rechte Ausgestaltung, wie zum Beispiel die Auftei- Im Bereich von Vergaben, die über der Schwelle lie- lung in Lose, besonders achten. gen, wollen wir keinen Verhinderungsrechtsschutz, aber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch keine Rechtsschutzverhinderung. Deshalb überle- gen wir, wie man das Nachprüfungsverfahren entspre- – Der Kollege Lämmel klatscht. Das steht in unserem chend beschleunigen kann. Damit würde das ganze Ver- Koalitionsvertrag und ist nach wie vor richtig. gabeverfahren auf mehr Effizienz getrimmt. Für diese Novellierung des Gesetzes ist die Mittel- Wir müssen im Einzelnen auch noch einmal über das standsklausel, wie sie heute schon vielfach beschrieben Gebührensystem und über die Fristen, die in dem Zu- (B) wurde, die Conditio sine qua non, also das, was dieses sammenhang geändert werden sollen, diskutieren. Das (D) Gesetz ausmacht. Es ist entscheidend, dass wir gerade sollte, wie ich meine, in enger Abstimmung mit der dem Mittelstand die Chance geben, sich vermehrt und Wirtschaft geschehen, um abzuklären, was hier letztlich mit Aussicht auf Erfolg an Ausschreibungen zu beteili- sinnvoll und machbar ist. gen. Es geht also darum, in unserem Recht festzuschrei- Ich merke an der Debatte, dass die vergabefremden ben, dass die Aufträge so zu portionieren sind, dass nicht Kriterien auch hier im Plenum eine entscheidende Rolle nur die Großen sie schlucken können, sondern dass auch spielen. Ich gebe offen zu: In der Union gibt es darüber die Kleineren Happen davon abbekommen. Die Tatsa- eine heftige Diskussion. Man könnte es sich einfach ma- che, dass sich bei mir als Berichterstatter – dies gilt chen und unter Verweis auf die einschlägigen EU-Richt- sicherlich auch für den Kollegen Schultz – die Mittel- linien sagen: Das sind EU-Vorgaben. Aber auch das ständler mit positiven Reaktionen und die Industrie mit zieht bei uns nicht so einfach. Es ist bei uns nach den Er- eher ablehnenden Reaktionen melden, zeigt, dass wir fahrungen mit dem AGG natürlich die Befürchtung laut hier auf einem richtigen Wege sind. geworden, dass es sich hierbei um ein weiteres EU-Ok- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. troi eines ordnungspolitischen Sündenfalls handeln Dr. Rainer Wend [SPD]) könnte. Viele haben gefragt: Ist es denn ordnungspoli- tisch geboten, was hier gemacht wird? Ist das wirklich Eben hat die Kollegin Andreae das Thema Primär- ein Beitrag zur Entbürokratisierung, und wird dadurch rechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte angespro- mehr Transparenz hergestellt? Oder führt das nicht chen. Ich verstehe das Interesse, das es hier gibt. 90 Pro- schlussendlich zu mehr Willkür? Ich meine allerdings, zent aller Aufträge liegen in ihrer Größenordnung dass das Ganze so allgemein, wie es jetzt formuliert ist, unterhalb dieser Schwelle. Insofern ist hier durchaus als Kannvorschrift und beschränkt auf drei Kriterien, Verständnis für das Anliegen des einen oder anderen aus von uns akzeptiert werden kann. Ich rate nicht dazu, hier der Wirtschaft angebracht. noch weitere Konkretisierungen vorzunehmen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zu der Litanei an Einfällen, die Sie hier vorgetragen NEN]: „Des einen oder anderen“ ist aber ein haben, Frau Kollegin Lötzer, kann ich nur sagen: Gnade bisschen zurückhaltend formuliert!) uns Gott! Wenn wir all das aufnehmen, was Ihnen vor- schwebt und was der eine oder andere noch an Ergän- Ich sehe aber als aktiver Kommunalpolitiker auch die zungen wünscht, bekommen wir am Ende des Tages si- andere Seite, also die des Auftraggebers, der nach dem cherlich kein Gesetz hin. Haushaltsrecht ohnehin zur Sparsamkeit verpflichtet ist, der den sekundären Rechtsschutz hinter sich oder – je (Beifall bei der CDU/CSU) 19052 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Georg Nüßlein (A) Eine Kannvorschrift ist meines Erachtens nicht nur Walter Riester (SPD): (C) deshalb die richtige Lösung, weil sie sich in den EU- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Richtlinien wiederfindet, sondern auch, weil hierdurch gen! Natürlich muss eine Vergabeordnung Klarheit der Spielraum der Auftraggeber entsprechend größer schaffen; diejenigen, die ausschreiben, müssen davon wird. Die entsprechenden Auftraggeber sind ja vielfach ausgehen können, dass es Bestand hat. einer politisch-demokratischen Kontrolle unterworfen. Wenn nun eine Stadt längere Zeit nicht auf ihren Haus- Mehrere Redner haben darauf hingewiesen, dass einer halt aufpasst und nach anderen als nach Haushaltskrite- der zentralen Punkte der Auseinandersetzung die Frage rien entscheidet, dann haben am Schluss die Verantwort- war, ob vergabefremde Richtlinien Einfluss auf die Ver- lichen die Konsequenz zu tragen, indem sie zum gabeordnung haben sollen, und wenn ja, mit welcher Beispiel abgewählt werden. Qualität. Ich zitiere aus der Begründung zu dem vorlie- genden Gesetzentwurf, welche Lösung gefunden worden Bei den Themen Inhouse-Vergabe und interkommu- ist – die Minute gönne ich mir gerne –: nale Kooperation, Herr Kollege Friedhoff, schlagen auch in meiner Brust zwei Herzen; das gebe ich ganz offen zu. Gemäß § 97 Abs. 4 GWB sind zum Wettbewerb um öffentliche Aufträge alle Unternehmen zugelassen, (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- welche das nötige Fachwissen sowie die erforderli- NEN]: Ein bisschen anstrengend mit so vielen che wirtschaftliche und technische Leistungsfähig- Herzen!) keit mitbringen, um den vorgesehenen Auftrag zu Auf der einen Seite ist es natürlich schon problematisch, erfüllen, und insofern „geeignet“ sind. Hierzu zählt wenn es öffentlichen Auftraggebern durch Inhouse-Ver- insbesondere die Zuverlässigkeit, die davon aus- gaben oder interkommunale Kooperation möglich ist, geht, dass alle Unternehmen die deutschen Gesetze Aufträge vom Vergaberecht insgesamt auszunehmen. einhalten. Dazu zählen auch die für allgemein ver- Auf der anderen Seite gibt es aber das Organisations- bindlich erklärten Tarifverträge wie auch die Ent- recht der Kommunen. Vielleicht ist im Hinblick darauf, geltgleichheit von Männern und Frauen. Auch die dass es hier um Organisationsrecht geht, noch einiges zu international vereinbarten Grundprinzipien und verändern. So geht es hier in erster Linie darum, Bürger- Rechte wie die Kernarbeitsnormen der Internatio- meistern zu ermöglichen, miteinander interkommunale nalen Arbeitsorganisation zum Verbot der Kinder- Kooperationen einzugehen, und nicht darum, sich dem und Zwangsarbeit sind zwingender Bestandteil un- Wettbewerb zu verschließen und aus der Verantwortung serer Rechtsordnung und damit der Vergaberegeln. zu stehlen. Unter dem Gesichtspunkt sollte man noch In Deutschland agierende Unternehmen, die diese einmal über die entsprechenden Regelungen diskutieren. Grundprinzipien und Rechte nicht beachten, müs- Es ist wichtig, dass wir das im Verlauf des sich an die sen prinzipiell aufgrund fehlender Zuverlässigkeit (B) (D) heutigen Beratungen anschließenden Prozesses tun. vom Wettbewerb um öffentliche Aufträge ausge- Bei den städtebaulichen Gestaltungsverträgen haben schlossen werden. wir dem Anspruch der Kommunalpolitik Genüge geleis- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tet. Es kann nicht sein, dass städtebauliche Gestaltungs- NEN]: Gut!) verträge aufgrund eines schiefen, eines aus meiner Sicht – das ist meine persönliche Meinung – nicht korrekten Herr Nüßlein, Sie sind ja Doktor der Rechtswissen- Urteils plötzlich in ein rechtliches Umfeld geraten, in schaften. Es ist sicherlich kein vergabefremdes Krite- dem sie nicht mehr möglich sind. Damit würden wir den rium, deutsches Recht einzuhalten. Kommunalpolitikern ein wichtiges Instrument der Städ- tegestaltung aus der Hand nehmen. Das wäre falsch. Ich zitiere weiter: Deshalb ist es richtig, dass wir hier für Klarstellung sor- Im Rahmen der Wirtschaftlichkeit können weitere gen. soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte (Beifall bei der CDU/CSU) bei der Vergabe Berücksichtigung finden. Dazu ge- hört insbesondere der Klimaschutz – zum Beispiel Insgesamt ist es ein schwer erkämpfter, ausgewogener durch Beachtung von Lebenszykluskosten und Ener- Vorschlag, der uns vorliegt. Mit kleineren Nachbesse- gieeffizienz. rungen im parlamentarischen Verfahren können wir als Große Koalition auch und gerade für den Mittelstand, Jetzt schauen wir einmal, was dazu im Gesetzentwurf der es in diesem Land bitter nötig hat, etwas voranbrin- steht. Dort heißt es: gen. Aufträge werden an fachkundige, leistungsfähige Vielen herzlichen Dank. und zuverlässige Unternehmen vergeben. Für die Auftragsausführung können zusätzliche Anforde- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rungen an Auftragnehmer gestellt werden, die ins- neten der SPD) besondere soziale, umweltbezogene oder innova- tive Aspekte betreffen, wenn sie im sachlichen Vizepräsidentin Petra Pau: Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand ste- Das Wort hat der Kollege Walter Riester für die SPD- hen und sich aus der Leistungsbeschreibung erge- Fraktion. ben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nun habe ich darüber nachgedacht, warum diese der CDU/CSU) enorme Diskrepanz zwischen dem Text im Gesetzent- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19053

Walter Riester (A) wurf und dem offensichtlichen Willen des Gesetzgebers Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abge- (C) besteht. Als ich einen Abgeordneten dieses Hauses ges- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE tern gefragt habe, sagte er: Na ja, das kennen Sie doch. GRÜNEN Die Begründung geht unter; die liest niemand mehr. Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbes- Letztlich bleibt das Gesetz. – Das mag ich nicht glauben. sern – Faire Erzeugerpreise für Milch unter- Man könnte auch annehmen, dass die zwingende Einhal- stützen tung der Rechtsordnung bei der Frage der Kernarbeits- normen schlicht vergessen worden ist. Das mag ich, da – Drucksachen 16/9601, 16/9869 – Juristen daran beteiligt waren, eigentlich auch nicht Berichterstattung: glauben. Man könnte auch davon ausgehen, dass es ein- Abgeordnete Johannes Röring fach unterstellt wird. Das hielte ich für fahrlässig. Ich bin Dr. Wilhelm Priesmeier mir nämlich sicher, dass darüber jedes Ausschreibungs- Hans-Michael Goldmann verfahren gekippt werden kann, wenn wir als Gesetzge- Dr. Kirsten Tackmann ber dies so verankern. Ulrike Höfken Es gibt bloß eine Lösung: Nehmen wir doch bitte den Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Text der Begründung ins Gesetz auf! Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- GRÜNEN]) schlossen. Dann gibt es die notwendige Klarheit über das, was wir Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- wollen, und die Kommunen haben die Sicherheit. So gin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- einfach würde ich das als gelernter Fliesenleger machen. nen. Ich bin kein Jurist; aber ich denke, dann kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Bay- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ern tut sich was, und in Bayern liegen die Nerven blank. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dass die Nerven blank liegen, erkennt man daran, dass Bitte nehmen Sie – ich bin nicht in dem Fachausschuss – in Bayern munter gelogen wird, dass Agrarminister das, was wir wollen und was in der Begründung steht, Seehofer lügend durch das Bundesland Bayern zieht und ins Gesetz auf! Dann wissen es die Kommunen, die Auf- dort behauptet, nicht er habe Genmais MON 810 zuge- lassen, sondern die Grünen, dass munter Anträge gestellt (B) tragnehmer und die Bürger genau. Auch das gehört dazu, (D) wenn man den Verdacht, hier sei schlampig gearbeitet werden, man am Ende aber so feige ist, hier nicht einmal oder getrickst worden, was Politikverdrossenheit auslö- einen CSUler ans Redepult zu holen und reden zu lassen, sen würde, wegbekommen will. Herr Bleser. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Das lassen Sie mich gleich vorwegschicken. Ich weiß, die Nerven liegen bei Ihnen blank. Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Man sollte sich der Wahrheit wegen einmal ein paar Zitate anschauen. Wir haben diesen Antrag auch deshalb Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf hier eingebracht, weil wir meinen, dass die Leute ein den Drucksachen 16/10117, 16/9636 und 16/9092 an die Recht darauf haben, endlich zu erfahren, wozu die CSU in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- und die CDU eigentlich stehen. Zitat aus dem Februar schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der 2007 von Seehofer hier im Deutschen Bundestag: Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich habe noch keine einzige gentechnisch verän- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: derte Pflanze zugelassen. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Wahr ist: Ende 2005 hat dieser Agrarminister unter die- Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer ser Regierung MON 810, einen gentechnisch veränder- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ ten Mais, zum Anbau in Deutschland zugelassen. Daran DIE GRÜNEN gibt es nichts zu rütteln. Gentechnikfreie Regionen stärken – Bundes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – regierung soll Forderungen aus Bayern auf- Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt!) nehmen und weiterentwickeln Dazu können Sie gern etwas sagen, Herr Bleser, weil die – Drucksache 16/10202 – CSUler sich nicht trauen. Aber mich interessiert gar nicht, was Sie sagen wollen; b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist ein netter schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu Kollege, der Herr Bleser! Der Herr Bleser ist dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, gut!) 19054 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Renate Künast (A) mich interessiert, was der Minister und was die CSU an Ernte verhagelt wird, dann passiert das in allen 16 Bun- (C) dieser Stelle sagt. Sie haben MON 810 zum Anbau zuge- desländern der Republik. lassen; da können Sie noch so viel über diese oder jene Verordnung sagen. Ich weiß es genau; denn früher haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie und andere mich immer kritisiert, dass ich es hier Heute müssen Sie sagen, was Sie eigentlich wollen. nicht zugelassen habe. Sie werden ja wohl damals nicht In Bayern sprechen Sie von einer gentechnikfreien Zone. gelogen haben, Herr Bleser. Wir haben uns die Mühe gemacht, alle entsprechenden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zitate von Seehofer, Söder und Huber aufzuschreiben. Peter Bleser [CDU/CSU]: Ich lüge nie! Ich Sie finden sich in unserem Antrag wieder. Jetzt können werde Ihnen gleich das Gegenteil beweisen!) Sie hier sagen, ob Sie die gentechnikfreie Zone wirklich wollen. Es reicht nämlich nicht, dass Sie das nur in Bay- Zweites Zitat für die, die sich fragen, was nun eigent- ern beschließen. Wirklich Eindruck bei den anderen lich wahr ist. am 16. Dezember 2005, 26 Mitgliedstaaten der Europäischen Union und bei der also zu der Zeit, als er MON 810 zugelassen hat, in der Kommission in Brüssel machen Sie, wenn Sie hier : Manns und Frau genug sind, unserem Antrag, der Zitate von Ihnen enthält, zuzustimmen und nach Brüssel und in „Wir wollen die Gentechnik befördern.“ … „Das die anderen Hauptstädte die Botschaft zu schicken: Ja, muss auch in Deutschland zulässig sein“, sagte der … wir wollen, dass sich die Bundesländer zur gentechnik- Politiker. Bislang werde den Bauern der Anbau na- freien Zone erklären. Sagen Sie es hier, und ducken Sie hezu unmöglich gemacht. Deswegen werde er sich nicht weg! – Horst Seehofer – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das von Rot-Grün beschlossene Gentechnikgesetz Sagen Sie hier, dass Sie gentechnikfreie Zonen auch ändern. finanziell unterstützen wollen, damit dort regionale Tou- Daran kann man doch nichts deuteln: CSUler will Gen- rismus- und Wirtschaftskonzepte entwickelt werden technik fördern. können! Machen Sie es nicht wie Ramsauer und andere in Traunstein, die sich dort rühmen, was sie alles tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wissen Sie, was mir an Ihrer Zeitungsanzeige auffiel? Lassen Sie mich noch ein Zitat von Josef Miller, dem Erst wird ein bisschen an der SPD herumkritisiert – dazu bayerischen Landwirtschaftsminister, anführen, der ge- kann Herr Kelber selber etwas sagen –, und dann heißt sagt hat: Es war Frau Künast, die MON 810 in Deutsch- es: CSU – wir reden nicht, wir handeln. (B) land zugelassen und eingeführt hat. – Wahr ist: In der (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Jawohl, Frau (D) ersten Hälfte des Jahres 1998 hat in einem Gesundheits- Kollegin!) rat in Brüssel der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer dem Import von MON 810 als Lebensmittel Jedes darin enthaltene Datum ist aus dem Jahr 2008. Wa- und als Futtermittel nach Europa und damit nach rum? Weil Sie sich 2008 sozusagen an die Bürger mit Deutschland zugestimmt, weil er die Gentechnik fördern Lügen heranschleimen. Aus den Jahren 2005, 2006 und wollte. Wahr ist: Ende 2005 – zu diesem Zeitpunkt war 2007 können Sie vor dem Schließen der Wahllokale am er als Agrarminister dafür zuständig – hat Horst Sonntag keine Zitate nennen, weil Sie in Wahrheit auf Seehofer MON 810 als Saatgut zugelassen. Deshalb ha- dem Schoß der Gentechnikkonzerne sitzen. ben die Bauern landauf, landab – auch in Bayern – heute Wenn Sie wirklich der Meinung sind, dass es gentech- das Problem, dass ihre Äcker und ihre Ernten verunrei- nikfreie Zonen geben soll und wenn Sie die Bauern an nigt werden durch MON 810, CSU-Saatgut. der Stelle wirklich schützen wollen, dann stimmen Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dem Antrag, der auf Ihren eigenen Zitaten beruht, zu und eiern nicht herum! Ich kann Ihnen nur sagen: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Keiner glaubt Ih- Vizepräsidentin Petra Pau: nen!) Für die Unionsfraktion hat der Kollege Peter Bleser das Wort. Ich glaube, die CSU hängt dem Sankt-Florian-Prinzip an. Nach dem Interview von Horst Seehofer am Montag (Beifall bei der CDU/CSU) dieser Woche in der Süddeutschen Zeitung ist mir sofort folgender Spruch eingefallen: Oh heiliger Sankt Florian, Peter Bleser (CDU/CSU): verschon’ mein Haus, zünd’ andre an. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein, nein! wollte eigentlich am Anfang auf die Ausführungen von Sie haben das völlig falsch verstanden!) Frau Künast reagieren. Aber ich habe festgestellt, dass meine vorbereitete Rede exakt zu dem passt, was Frau Genau das hat Horst Seehofer gesagt: in Bayern nein, Künast gesagt hat. Deswegen kann ich auf den Beitrag woanders ja. Meine Damen und Herren, wenn etwas von Frau Künast im Rahmen meiner vorgesehenen Rede Schädliches auskreuzt und wenn dadurch den Bauern die eingehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19055

Peter Bleser (A) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- angehört haben, ist diese Freisetzungsrichtlinie damals (C) NEN]: Ich habe zu Ihrem Redebeitrag extra in Recht und Gesetz umgewandelt worden. schon etwas gesagt!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vorher möchte ich aber Bundesminister Seehofer ent- NEN]: Enthaltung! Das war keine Zustim- schuldigen, Frau Künast. Er hätte sich dieser Debatte ge- mung!) stellt, aber er ist in Meißen bei der Agrarministerkonfe- renz der Länder und debattiert dort über den Health – Sie haben es ermöglicht. Hätten Sie mit Nein ge- Check. Das ist sehr wichtig, deswegen kann er nicht an- stimmt, wäre die Richtlinie nicht gekommen. wesend sein. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nein! Stimmt nicht!) NEN]: Stimmt gar nicht! Das fängt erst heute Sie haben alle Rechtsetzungen vorgenommen, in Abend an! Jetzt fangen Sie nicht auch noch an Deutschland und in Europa, die Sie jetzt selber bekämp- zu lügen! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael fen. Goldmann [FDP]: Das ist aber wirklich unter Ihrem Niveau!) (Beifall bei der CDU/CSU – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist alles dokumentiert!) Jetzt aber zum Thema. Frau Künast, wir haben mona- telang um ein neues Gentechnikgesetz gerungen. Wir ha- Das ist scheinheilig, das ist unwahrhaftig. Das ist ein Be- ben mit allen interessierten Gruppen diskutiert und ihre lügen des Wählers. Das muss hier in aller Klarheit ge- Vorschläge geprüft. Wir haben auch die Wissenschaftler sagt werden. zurate gezogen. Wir haben dann ein Gentechnikgesetz (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast verabschiedet, Frau Künast, das alle diese Interessen be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen rücksichtigt. Dieses Gentechnikgesetz, das wir im Früh- Sie denn jetzt? – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ jahr dieses Jahres verabschiedet haben, ist eine Verbes- DIE GRÜNEN]: Sie wollen doch die Gentech- serung des Gentechnikgesetzes, das Sie 2004 unter Ihrer nik, Herr Bleser!) Federführung hinterlassen haben. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom Vizepräsidentin Petra Pau: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kollege Bleser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Dieses Gentechnikgesetz, Frau Künast – jetzt sollten Sie Kollegin Höfken? zuhören, denn Sie können etwas lernen; Sie haben ja ge- (B) rade von Verlogenheit gesprochen –, war die rechtliche Peter Bleser (CDU/CSU): (D) Grundlage für die zwingende Zulassung von MON 810. Natürlich. – Bitte schön. Das wissen Sie ganz genau. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): [SPD]: Das ist falsch! Das ist nicht zwingend! – Es ist die Unwahrheit, wenn Sie sagen, dass Sie die Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gesetze verbessert haben. Sie haben ganz im Gegenteil Das ist doch totaler Quatsch!) die gute fachliche Praxis nicht zugelassen; das können die Kollegen der SPD hier bestätigen. Ebenso wenig – Nein. – auch heute nicht – ist die Zulassung von MON 810 Warum machen Sie denn heute diesen Zirkus? Sie ha- zwingend gewesen; diese Sortenzulassung hat Minister ben es mehrfach gesagt: Es ist Wahlkampf. Zu Ihren Ver- Seehofer vielmehr als erste Amtshandlung erteilt. sammlungen in Bayern kommt niemand. Deswegen be- Ich möchte Sie fragen, ob Sie wissen, was ich hier in lästigen Sie den Bundestag mit solchen überflüssigen Händen halte. – Dies ist Honig aus der Gegend um Anträgen. Augsburg, wo der Freistaat Bayern den Honig „vergif- (Beifall bei der CDU/CSU) tet“, muss man sagen. Meine Damen und Herren, Sie fordern gentechnik- (Widerspruch bei der CDU/CSU) freie Zonen, aber Sie wissen genau, dass dies nach EU- Insofern muss man ganz klar sagen: Der Freistaat Bay- Recht nicht möglich ist. ern steht – – (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das können wir doch hier beschlie- Vizepräsidentin Petra Pau: ßen!) Kollegin Höfken, stellen Sie bitte Ihre Frage. In der EU-Freisetzungsrichtlinie heißt es, dass gentech- nisch veränderte Produkte national weder verboten noch Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): eingeschränkt werden dürfen. Diese EU-Freisetzungs- Wissen Sie, dass der Freistaat Bayern gegen die Im- richtlinie, Frau Künast – ich muss Sie noch einmal um ker und gegen diejenigen steht, die in der Landwirtschaft Aufmerksamkeit bitten –, haben Sie 2001 – da waren Sie auf die Befruchtungsleistung der Bienen angewiesen an der Regierung – in Brüssel auf den Weg gebracht. sind? Wissen Sie auch, dass der Freistaat Bayern diese Unter Stimmenthaltung der Bundesregierung, der Sie Imker verklagt und vertrieben hat? Das dokumentieren 19056 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Ulrike Höfken (A) sie mit ihren Demonstrationen in München oder in Jetzt kann jeder entscheiden, ob er die Kennzeichnungs- (C) . möglichkeit nutzt oder nicht. Damit kann wiederum der Verbraucher entscheiden, ob er solche Lebensmittel Peter Bleser (CDU/CSU): kauft oder nicht. Das ist demokratisch. Was kann man Meine liebe Frau Kollegin Höfken, wir haben uns an denn mehr tun? dieser Stelle schon des Öfteren darüber unterhalten, aber (Beifall bei der CDU/CSU) ich muss diese Frage – es war ja eher eine Wortmeldung – zurückweisen, weil Sie wissen, dass Gerichtsurteile vor- Vizepräsidentin Petra Pau: liegen, die genau festlegen, was von dem, was Sie ge- Kollege Bleser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der rade als Vorwurf vorgebracht haben, richtig ist und was Kollegin Kotting-Uhl? nicht. Diese Urteile haben klar belegt, dass hier die Rechtshandlung der bayerischen Landesregierung rich- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Die sehen wir tig war. auch nicht so oft im Ausschuss!) Im Übrigen passt auch Ihre Frage in meinen Redetext; ich habe das alles vorausgesehen. Sie haben gesagt, dass Peter Bleser (CDU/CSU): wir mit dem Gentechnikgesetz die gute fachliche Praxis Ja, bitte. festgelegt haben. Das stimmt. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Was für ein Herr Kollege, wollen Sie mir und den anderen Kolle- Glück!) ginnen und Kollegen in diesem Parlament bestätigen, Es gab bis zum Frühjahr dieses Jahres keine Abstandsre- dass Sie daran glauben, dass sich eine Biene freiwillig gelungen für Mais. auf ein Gebiet beschränkt, das durch einen Abstand von 150 Metern zum anderen Gebiet gekennzeichnet ist? (Beifall bei der CDU/CSU) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wenn sie intelli- Wir haben gesagt, dass wir die Forderung der Wissen- gent ist!) schaft nach 50 Metern Abstand, damit keine Vermi- schung stattfindet, um den Faktor drei erhöhen, und ha- Reicht dieser Abstand Ihrer Meinung nach aus, um dem ben dann 150 Meter für konventionellen Mais und Naturschutz Genüge zu tun? 300 Meter für ökologisch angebauten Mais vorgesehen. Peter Bleser (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, wir haben auch das Stand- Liebe Kollegin, ich glaube, ich muss doch ins Detail (B) ortregister beibehalten. Man kann durchaus fragen, ob gehen. Es ist erwiesen, dass Pollen, die von gentechnisch (D) dies unter Datenschutzgesichtspunkten richtig ist. Jeder veränderten Pflanzen stammen, inaktiv sind. Sie müssen kann heute im Internet sehen, wo gentechnisch veränder- nicht gekennzeichnet werden. tes Pflanzengut angebaut wird, sei es Mais oder anderes. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Und die Bienen?) NEN]: Das liegt ja nicht an Ihnen! Woran liegt das?) Insofern gibt es keinen Grund, diese Produkte auszu- grenzen. Aus und fertig! – Das liegt an einem Kompromiss, den wir gefunden ha- ben und den wir selbstverständlich mittragen. Ich habe (Beifall bei der CDU/CSU – Julia Klöckner [CDU/ aber auch gesagt: Man kann sich fragen, ob das in daten- CSU]: Wissenschaftlich erwiesen!) schutzrechtlicher Hinsicht richtig ist. Aber das ist Ge- Man muss diese neue Technologie einmal im Grund- setz; insofern kann das jeder erfahren. satz beleuchten. Bei der Roten Gentechnik hatten wir da- (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast mals eine ähnliche Situation: sehr viel Skepsis, sehr viel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie denn Angst und sehr viele Sorgen. Die Rote Gentechnik wird jetzt dafür oder dagegen?) heute von allen akzeptiert. Sie ist sehr segensreich, weil wir damit erblich bedingte Krankheiten entdecken und Wir haben die Haftungsregel nicht verändert. Wir ha- entsprechende Medikamente entwickeln können. ben es dabei belassen, dass nach BGB gehaftet wird. Aufgrund der Abstände sind wir aber sicher, dass es Vizepräsidentin Petra Pau: nicht zu einem Haftungsfall kommen wird. Kollege Bleser, es gibt weitere Wünsche nach Zwi- Wir haben auch die Möglichkeit zur Produktunter- schenfragen. scheidung eingeführt. Wer Lebensmittel mit dem Etikett „ohne Gentechnik“ kennzeichnen will, der kann das tun. Peter Bleser (CDU/CSU): Auch das war ein Kompromiss innerhalb der Koalition. Ich möchte den Gedanken gerne zu Ende führen; da- Wir wären viel schärfer vorgegangen. Wir hätten auch nach gerne. Zusatzstoffe wie Enzyme oder Vitamine ausgeschlossen. Wir haben die Weiße Gentechnik, die mittlerweile (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- selbst bei den Grünen Akzeptanz findet; von den Linken NEN]: Ja, ja! – Weitere Zurufe vom BÜND- habe ich noch nichts dazu gehört. Auch sie war umstrit- NIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) ten. Ich will es einmal auf den Punkt bringen: 95 Prozent Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19057

Peter Bleser (A) des Vitamin C, das in fast allen Nahrungsmitteln enthal- Das braucht man hier im Parlament nicht zu bewerten. (C) ten ist, ist gentechnisch erzeugt worden. Ich teile Ihre Auffassung zu diesem Thema überhaupt nicht. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Also sind Sie doch dafür!) Vizepräsidentin Petra Pau: 80 Prozent der Lebensmittel enthalten Substanzen, die Darf ich der Kollegin Happach-Kasan das Wort zu ei- aus der Weißen Gentechnik stammen. Das alles ist ak- ner Zwischenfrage geben? zeptiert. (Zuruf von der CDU/CSU: Davon gehen wir Man kann noch weiter gehen. Auch bei der Grünen aus!) Gentechnik können Sie die meisten Nahrungsmittel he- ranziehen. Im Produktionsprozess der meisten Nah- rungsmittel kommt Grüne Gentechnik zum Einsatz. Die Peter Bleser (CDU/CSU): Futtermittel aus den Vereinigten Staaten und Südamerika Ja. sind zu 80 Prozent gentechnisch verändert und werden seit zwölf Jahren in Deutschland, in Europa, überall ein- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): gesetzt. Sie alle essen diese Produkte ganz selbstver- Lieber Kollege Bleser, Sie haben ja schon dargestellt, ständlich, wenn Sie irgendwo im Urlaub sind, ebenso in dass die Züchtungsmethode Grüne Gentechnik weltweit Deutschland. auf 114 Millionen Hektar angewandt wird und dass wir Hier wird Panik gemacht. Das ist das Ziel dieser De- alle mit den Produkten der Grünen Gentechnik inzwi- batte. Das weisen wir zurück. schen vertraut sind. Vor diesem Hintergrund ist sehr wohl davon auszugehen, dass sich diese Züchtungs- (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast methode auch in Deutschland durchsetzen wird. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber der Mi- nister sagt doch auch, dass es in Bayern nicht Kollegin Höfken hat Ihnen den Fall eines Imkers aus angebaut werden soll!) Bayern vorgetragen, der jetzt seinen Honig entsorgen muss. Dem ist vorausgegangen – – Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Bleser, gestatten Sie weitere Zwischenfra- Vizepräsidentin Petra Pau: gen? Im Moment melden sich die Kollegin Höfken, die Kollegin Happach-Kasan, ich muss auch Sie bitten, Kollegin Happach-Kasan und die Kollegin Kurth. eine Frage zu stellen. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: (B) Machen wir doch einmal eine Arbeitsgruppe Frau Präsidentin, das ist falsch! In § 27 der (D) dazu!) Geschäftsordnung steht nicht, dass sie eine Frage stellen muss!) Peter Bleser (CDU/CSU): Frau Präsidentin, ich habe mir für heute Abend nichts Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): vorgenommen. Insofern bitte, gerne. Ich stelle auf jeden Fall eine Frage. Aber wenn Frau (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Höfken hier sozusagen Demonstrationsmaterial mitbrin- gen kann, dann darf ich vielleicht schlicht und ergreifend Vizepräsidentin Petra Pau: sagen, worauf es mir ankommt. Dann beginnen wir mit Frau Höfken. Sie haben zu Recht festgestellt, dass es zum Tatbe- stand „Pollen von gentechnisch veränderten Pflanzen in Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Honig“ verschiedene Gerichtsurteile gibt. In Branden- Ich denke, dass Sie bis heute nicht verstanden haben, burg sagt man, es sei unerheblich, und in Augsburg worum es bei der Agrogentechnik geht. Es geht nicht um kommt man zu dem Urteil, der Honig wäre nicht ver- geschlossene Systeme, sondern um Freisetzungen. kehrsfähig. Können Sie mir erklären, warum es in Augs- burg beispielsweise von der LfL, die ja den gentechnisch Wissen Sie, dass das Gericht in Augsburg entschieden veränderten Mais angebaut hat, keinen Widerspruch ge- hat, dass Honig aus dem Umfeld des Anbaufeldes von gen dieses Gerichtsurteil gegeben hat, das meines Erach- MON 810 nicht verkehrsfähig ist und auf die Sonder- tens inhaltlich in jedem Falle falsch ist? Das wird ja auch mülldeponie gebracht werden muss? Das gilt natürlich nicht nur für den Anbau in Bayern, sondern überall. Ist durch das Gerichtsurteil in Brandenburg bestätigt. Kön- es tatsächlich das Ziel Ihrer Politik, die Erzeugung des nen Sie mir erklären, warum auch der Imker, der genau Produktes Honig durch Imkereien in Deutschland völlig wusste, dass er, wenn dieses Gerichtsurteil Bestand hat, unmöglich zu machen? seinen Honig nicht verkaufen kann, keinen Widerspruch eingelegt hat? Könnte es sein, dass genau dieses de- monstriert werden sollte, was jetzt demonstriert wird? Peter Bleser (CDU/CSU): Das kann ich kurz beantworten – Sie wollen auf die- (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) sem Punkt bis zum Exzess herumreiten –: Es gibt Ge- Sind Sie mit mir der Auffassung, dass der Freistaat Bay- richtsurteile, die das Gegenteil aussagen. ern für diese zusätzlichen Kosten, die dem Imker ent- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) standen sind, aufkommen muss, weil der Freistaat Bay- 19058 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Christel Happach-Kasan (A) ern es versäumt hat, gegen das Urteil in Augsburg Peter Bleser (CDU/CSU): (C) Widerspruch einzulegen? Sie werden sich nicht wundern, dass ich auch diese Frage erwartet habe. Ich habe auch die Listen mitge- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Der bracht. In Bayern werden auf 9,92 Hektar 0,312 Prozent Freistaat Bayern ist für eine gentechnikfreie der gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland Zone!) angebaut. Insofern gibt es in Bayern de facto keine Grüne Gentechnik. Dass man dieses Thema in diesen Peter Bleser (CDU/CSU): Zeiten politisch aufgreift, kann ich verstehen. Wir sind Liebe Kollegin Happach-Kasan, Ihre Vermutungen aber hier im Deutschen Bundestag und haben eine Ver- kann man jetzt teilen oder nicht. Gerichtsurteile zu kom- pflichtung – – mentieren, ist nicht Aufgabe des Parlaments. Ihre Ver- mutungen könnten so zutreffen. Ob das dann im Einzel- (Marianne Schieder [SPD]: Hallo! Das heißt, fall so war, wage ich hier nicht letztlich zu bestätigen. Sie unterstützen die CSU nicht?) – Ich unterstütze die CSU sehr wohl im Wahlkampf. Ich kann nur eines sagen – das kann man, glaube ich, Aber ich sage Ihnen auch, dass ich die Bedürfnisse in auch an Ihrer Frage ablesen –: Die Grünen haben sich Bayern, diese Regelung anzustreben, für nicht sehr groß auf wenige Angstthemen beschränken müssen. Nach- halte. dem die Grünen die ersten Auslandseinsätze der Bundes- wehr mitbeschlossen haben, ist ihnen das Thema Frie- Ich glaube, wir dürfen uns auch nicht in die Situation denspolitik entglitten. begeben, dass wir hier auf Bundesebene und auf euro- päischer Ebene Recht setzen. Ich habe vorhin geschil- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dert, wer diese Rechtsetzung im Wesentlichen vorge- Bei der Kernenergie gibt es in der Bevölkerung eine Ver- nommen hat. Das waren Ihre Fraktion änderung der Meinung. Die Grüne Gentechnik ist das (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr einzige Thema mit Verängstigungspotenzial, das man Seehofer war das! Das wissen Sie doch!) noch hat und woraus man politisches Kapital zu schla- gen versucht. und der damalige Koalitionspartner. Wir müssen euro- päisches und deutsches Recht in der Gänze anwenden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – und nicht regional unterschiedlich. Das ist meine Posi- Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tion dazu. NEN]: Sind Sie also doch dafür?) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Jetzt ist aber gut Insofern ist das aus wahltaktischen Gründen sogar ver- mit Zwischenfragen!) (B) ständlich. (D) So, wir wollten in der Reihenfolge fortfahren. Vizepräsidentin Petra Pau: Die nächste Zwischenfrage könnte gleich die Kolle- Vizepräsidentin Petra Pau: gin Behm stellen, wenn Sie das zulassen. Kollege Bleser, ich habe jetzt noch zwei Zwischenfra- (Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Nein!) gen gesehen: die Kollegin Kurth und die Kollegin Behm. Lassen Sie diese Fragen noch zu? Peter Bleser (CDU/CSU): Ja, bitte, natürlich. Ich habe doch gesagt, dass ich Zeit Peter Bleser (CDU/CSU): habe. Ich hatte nur neun Minuten Redezeit, aber das macht ja nichts. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Bleser, ist Ihnen bekannt, dass der Mol- Vizepräsidentin Petra Pau: kereikonzern Campina für seine Milchprodukte der Inzwischen haben Ihnen die Kolleginnen fast zur Ver- Marke Landliebe zukünftig gänzlich auf Sojafett ver- doppelung Ihrer Redezeit verholfen. – Kollegin Kurth. zichten wird und die Futtergrundlage auf garantiert gentechnikfreies europäisches Futter umstellen wird? Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE Würden Sie mir zustimmen, dass es für deutsche Land- GRÜNEN): wirte ein großer Wettbewerbsvorteil wäre, wenn es in Herr Kollege, ich möchte Sie jetzt fragen – der Minis- Deutschland entsprechende gentechnikfreie Regionen ter kann ja nicht anwesend sein; Sie haben ihn entschul- geben würde? digt –, ob Sie mir, nachdem Sie dargelegt haben, dass die (Zuruf von der CDU/CSU: Die Landwirte sind Risiken der Grünen Gentechnik abschätzbar sind und wettbewerbsfähig!) dass man sie beherrschen könne, erklären können, wa- rum der Herr Minister dann vor wenigen Tagen in der Peter Bleser (CDU/CSU): Süddeutschen Zeitung verkündet hat, dass er durchaus für die Gentechnik sei, nur in Bayern möchte er sie nicht Frau Kollegin Behm, ich habe in meiner Rede vorhin anwenden. gesagt, dass wir diese Kennzeichnungsmöglichkeit ge- schaffen haben. Sie wäre noch schärfer abgegrenzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) worden, wenn es nur nach uns gegangen wäre. Diese Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19059

Peter Bleser (A) Möglichkeit haben wir ausdrücklich zu dem Zweck ge- ern richtet sich an die Europäische Union; dort soll eine (C) schaffen, dass sich am Markt herausstellt, welche Form andere Rechtsetzung vorgenommen werden. Es wird der Produktion Akzeptanz findet und welche nicht. Ich sich herausstellen, ob dies möglich ist oder nicht. Das habe auch gesagt: Das ist demokratisch. Insofern be- muss dann auf einer wissenschaftlich basierten Grund- grüße ich es, wenn Unternehmen diese Möglichkeiten lage geschehen. Insofern ist das kein Widerspruch. nutzen. Wir werden dann feststellen, wie die Produkte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – am Markt angenommen werden. Wir werden auch fest- Ulrich Kelber [SPD]: Den Antrag, den Sie er- stellen, wie Analysen die Wahrhaftigkeit solcher Kenn- wähnt haben, gibt es gar nicht!) zeichnungen bestätigen. Ich möchte die restliche Redezeit nutzen, um die Vor- (Beifall bei der CDU/CSU) teile der Grünen Gentechnik auch den Zuhörern draußen noch einmal zu vermitteln. Ich habe die Rote und die Vizepräsidentin Petra Pau: Weiße Gentechnik beschrieben. Es ist natürlich so, dass Kollege Bleser, ich hätte jetzt noch eine Wortmel- wir auch mit der Grünen Gentechnik, die sich erst im dung, nämlich der Kollegin Schieder aus der SPD-Frak- Anfangsstadium befindet, gewisse Erwartungen ver- tion. Sie müssen jetzt entscheiden. knüpfen. Da ist zunächst einmal die Erwartung, dass der (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Einsatz von Pflanzenschutzmitteln damit wesentlich ver- NEN]: Ich bitte um Gnade, Herr Bleser!) ringert werden kann. Wir haben Kartoffeln in der Zulas- sung, für die bei der Pilzbekämpfung bis zu acht Pflan- Ich bin geneigt, sie als letzte Zwischenfragerin aufzuru- zenschutzspritzungen in einer Vegetationsperiode nicht fen. mehr gebraucht werden. Bei uns werden Pflanzen entwi- ckelt, die mit wenig Wasser in Stressregionen, was Tro- Peter Bleser (CDU/CSU): ckenheit angeht, wachsen. Bei uns werden auch Pflanzen Wollen wir die Zwischenfragen danach beenden? entwickelt und schon angebaut, die höhere Erträge brin- Diese Zwischenfrage lassen wir noch zu. gen. Wenn Sie diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen Vizepräsidentin Petra Pau: nicht offen gegenüberstehen, dann muss ich Sie wirklich Kollegin Schieder, bitte. bitten, sich einmal die moralische Dimension vor Augen halten zu lassen. Marianne Schieder (SPD): (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Kollege Bleser, wie Sie wissen, komme ich aus NEN]: Fahren Sie mal nach Indien, Herr (B) (D) Bayern. Ich bin über Ihre Einlassungen ein bisschen ver- Bleser! Die Inder erzählen das Gegenteil!) wundert; denn in Bayern erzählt die CSU seit Monaten, dass sie die Bevölkerung vor der Grünen Gentechnik Wer diese Technologie für die Zukunft ausgrenzt, der schützen wird, dass man keine Grüne Gentechnik haben muss in Kauf nehmen, dass Hunger und Not in der Welt will und dass man die rechtlichen Voraussetzungen dafür in unteren Einkommensschichten weniger bekämpft schaffen will. Sie stellen es jetzt ganz anders dar und sa- werden können als möglich. gen: Dafür habe ich in Wahlkampfzeiten Verständnis. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Widerspruch bei der CDU/CSU) Ulrich Kelber [SPD]: Der Weltagrarrat hat ge- nau das Gegenteil gesagt!) – Das hat er gerade gesagt. Das muss man hier einfach offen sagen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das hat Seehofer am Montag doch Darf ich Ihre Einlassungen jetzt so interpretieren, dass auch gesagt, dass das gar nicht hilft!) sich die Bevölkerung in Bayern eben nicht darauf verlas- sen kann, dass die Union dafür sorgen wird, dass es ein Ich bitte Sie deshalb, wirklich zu überprüfen, wie Sie gentechnikfreies Bayern gibt? sich da positionieren. Wir wollen hier alle Risiken be- werten und bei der Zulassung entsprechend berücksichti- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gen. Aber wir sind nicht wie Sie immer nur auf die Risiken ausgerichtet; wir wollen auch die Chancen im Peter Bleser (CDU/CSU): Blickfeld haben. Diese Chancen sind gewaltig. Ich Ich habe dazu schon gesprochen. Ich habe gesagt, möchte Sie herzlich bitten, Ihre politischen Festlegungen dass die Anbaufläche in Bayern verschwindend gering nicht auf den Tag auszurichten, sondern weiter in die Zu- ist und dass sich das Problem dort insofern gar nicht kunft zu schauen. Denn spätestens Ihre Enkel werden stellt. Sie fragen, wie Sie sich bei diesem Thema positioniert haben. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja oder nein?) Herzlichen Dank. Ich habe auch gesagt – dabei bleibe ich –, dass wir die (Beifall bei der CDU/CSU – Waltraud Wolff Rechtsetzung auf europäischer und auf Bundesebene in [Wolmirstedt] [SPD]: Die Enkel werden sich allen Regionen zu befolgen haben. Der Antrag aus Bay- bedanken!) 19060 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Denn das – liebe Frau Künast, da brauchen Sie gar nicht (C) Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann zu lachen – für die FDP-Fraktion. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der FDP) Ich lache über etwas ganz anderes!) ist die Basis Ihrer Weichenstellungen. Hans-Michael Goldmann (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Die Regelungen bis 2013, die Sie mitgetragen haben, Kollegen! Ich frage mich: Was habe ich hier eigentlich basieren auf guter fachlicher Praxis. Wie Sie wissen, gerade erlebt? Ein Redner hat gesagt, der Minister sei sind die Cross-Compliance-Auflagen und die Bereitstel- ein Lügner, ein anderer hat gesagt, er sei scheinheilig, lung der Mittel über Direktzahlungen, für die Sie ge- die Große Koalition hat sich zerlegt, und Frau Schieder kämpft haben, dafür die Grundlagen. Deswegen ist es fragte nach der Position des Ministers, den sie sonst mit- völlig unangebracht, in dieser Diskussion darüber zu trägt. philosophieren, wer gute fachliche Praxis realisiert und wer nicht. Die Bauern in Deutschland praktizieren die (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist gute fachliche Praxis. Vielfalt der Meinungen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich finde, vor dem Hintergrund dessen, worüber wir hier der CDU/CSU) eigentlich zu diskutieren haben, ist das dramatisch. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Richtig!) Jetzt will ich den Milchbereich ansprechen. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir mit vielem, was Herr Die Grüne Gentechnik steht im Moment nicht gerade Seehofer macht, nicht einverstanden sind. Es gab eine im Brennpunkt der politischen Weichenstellungen im Vereinbarung, die besagte, dass die Mittel für die Land- Agrarbereich. Dennoch will ich Ihnen ganz kurz sagen, wirtschaft bis zum Jahre 2013 in dem Umfang bereitzu- wie wir zu diesem Thema stehen. Wir sehen den verant- stellen sind, der Vertragsbasis ist. Jetzt stellen wir fest, wortungsvollen Umgang mit der Grünen Gentechnik dass zum Beispiel bei der Modulation massiv eingegrif- und die Nutzung der Potenziale in diesem Bereich als fen wird. Hier wird ein Versprechen gebrochen. Das ist sinnvoll an. das genaue Gegenteil von Planungssicherheit. Das kön- nen wir überhaupt nicht akzeptieren. Frau Kollegin Schieder, ich war in Bayern, und zwar in der Region, aus der Sie kommen. Ich habe mir ange- Herr Minister Seehofer macht meiner Meinung nach (B) hört, welche Sorgen die Menschen, die dort leben, ha- einen großen Fehler. Es gibt eine Staatssekretärsverein- (D) ben. Dabei ging es zum Beispiel um Schäden durch den barung, aus der ich Ihnen gerne etwas vorlesen möchte Maiswurzelbohrer. Mir haben Bäuerinnen und Bauern – es geht um das Thema, über das wir diskutieren, näm- gegenübergestanden, die ihre gesamte Ernte verloren ha- lich um die Mittelbereitstellung –: ben. Sie werden diese Ernte auch in den nächsten zwei oder drei Jahren nicht einfahren können, weil diese Maß- Bei unserem gestrigen Gespräch zur Gesundheits- nahmen dort dann nicht zulässig sein werden. überprüfung der Gemeinsamen Agrarpolitik konn- ten die zwei noch offenen Punkte des Positions- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Gute papiers der Bundesregierung abschließend geklärt fachliche Praxis!) werden. Um die Ziele der Haushaltskonsolidierung – Die gute fachliche Praxis wenden sie schon an. Mach hinreichend zu berücksichtigen, müssen die gekürz- dir darüber keine Sorgen! ten Mittel vollständig im Mitgliedstaat verbleiben, und die zusätzliche Modulation darf nicht dazu füh- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Und ren, dass die Mitgliedstaaten mehr nationale Ko- Fruchtwechsel!) finanzierungsmittel als bisher bereitstellen müssen. – Ja, das musst gerade du als Abgeordnete eines Ostlan- Das heißt im Klartext: Die Bundesregierung signali- des sagen. Ihr seid ja die größten Fruchtfolgeexperten. siert ihre Bereitschaft, im Bereich der Modulation im Hinblick auf die Einkommen der Landwirte sehr große (Widerspruch bei der SPD – Renate Künast Einschnitte vorzunehmen. Das kostet jede Menge Bau- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit wann be- ern im Osten Deutschlands ihre Existenz. Das kostet schimpfen Sie denn den Osten? Das ist ja inte- einen ordentlichen landwirtschaftlichen Betrieb in Nie- ressant!) dersachsen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen Ich muss Ihnen wirklich sagen: Wenn sich die Landwirt- oder einem anderen Bundesland zwischen 4 000 und schaft im Osten und im Westen unseres Landes aufstellt, 5 000 Euro im Jahr. Das ist ein massiver Eingriff in die um größere Marktteilhabe zu erreichen – das fordern wir Leistungsfähigkeit dieser Betriebe. immer –, können wir davon ausgehen, dass der normale deutsche Bauer etwas von guter fachlicher Praxis ver- Die zusätzlichen Modulationsmittel müssen auch zur steht. Finanzierung von Milchbegleitmaßnahmen genutzt wer- den, sagt Herr Seehofer. Damit ist dem Vorhaben, im Be- (Lachen der Abg. Renate Künast [BÜND- reich der Modulation dramatische Einschnitte vorzuneh- NIS 90/DIE GRÜNEN]) men, Tür und Tor geöffnet. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19061

Hans-Michael Goldmann (A) Frau Künast, auch Ihre Kolleginnen Frau Höfken und nicht mit Modulationsmitteln finanzieren, sondern dafür (C) vor allen Dingen Frau Höhn werfen Herrn Minister müssen wir die eingesparten Mittel verwenden, die auf Seehofer hier Wortbruch vor. Frau Höhn, ich bin total europäischer Ebene im Moment nicht für die Agrarwirt- überrascht darüber, dass Sie sagen, er blockiere die Re- schaft zur Verfügung gestellt werden. Das ist der richtige form der Agrarhilfe zugunsten des Klimaschutzes. Weg. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der FDP) Ja!) – Nun einmal langsam. – Das heißt im Klartext, dass Sie Vizepräsidentin Petra Pau: im Grunde genommen einen Health Check, eine Agrar- Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Wolff das reform in Richtung von mehr Klimaschutz wollen. Die- Wort. sen Klimaschutz können Sie nur über Modulationsmittel finanzieren. Also lösen Sie Ihren Pakt auf, den Sie da- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): mals unter der Leitung von Frau Ministerin Künast ge- Sehr geehrter Herr Kollege Goldmann, Sie haben vor- schlossen haben. hin die ostdeutsche Landwirtschaft und insbesondere auch mich angesprochen. Ich möchte hier ganz deutlich (Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE machen, dass der Maiswurzelbohrer, den Sie hier ange- GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- sprochen haben, nicht vorrangig in Ostdeutschland, son- frage) dern im Süden der Republik, nämlich in Bayern und in Das wiederum bedeutet einen Eingriff in die erste Baden-Württemberg, zu finden ist. Säule; denn das steht im Moment zur Diskussion. Es (Beifall bei Abgeordneten der SPD) steht nicht zur Diskussion, ob die Gewichtung zwischen der ersten und der zweiten Säule irgendwann einmal ver- Ich finde, wenn Sie hier die ostdeutsche Landwirt- ändert worden ist. schaft diffamieren, dann ist das wirklich eine Kurzinter- vention wert. Lassen Sie mich noch etwas zur Milch sagen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Vizepräsidentin Petra Pau: bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Kollege Goldmann, das wird nicht mehr funktionie- GRÜNEN) ren. Ich kann auch die Zwischenfrage von Frau Künast nicht mehr zulassen, die sie inzwischen angemeldet hat, Vizepräsidentin Petra Pau: da Sie Ihre Redezeit zu dem Zeitpunkt bereits überschrit- Damit haben Sie die Gelegenheit, der Kollegin Wolff (B) ten hatten. Ich bitte Sie also, zum Schluss zu kommen. zu antworten. (D)

Hans-Michael Goldmann (FDP): Hans-Michael Goldmann (FDP): Ich hatte fünf Minuten Redezeit, allerdings wurden Liebe Kollegin Wolff, ich bin sehr überrascht darüber, hier nur vier Minuten angezeigt. dass du mich so bewusst missverstehen willst. (Ulrich Kelber [SPD]: Keine Verhandlungen (Zurufe von der SPD: Oh!) mit der Präsidentin!) Ich habe einen Zusammenhang zur guten fachlichen – Ich verhandle nie mit der Präsidentin, aber wenn man Praxis hergestellt. Es wurde hier zum Ausdruck ge- fünf Minuten Redezeit hat, dann sollten hier auch fünf bracht, dass großflächige Strukturen besonders angreif- Minuten und nicht vier Minuten stehen. bar sind, wenn sie nicht im Rahmen guter fachlicher Pra- xis realisiert werden. Deswegen habe ich gesagt, dass ich (Zurufe von der SPD: Oh!) der Auffassung bin, dass gerade für intensiv arbeitende – Das ist ja das Problem: Wir haben in dieser kurzen Zeit Betriebe mit großen Strukturen Gentechnik eine Pro- relativ viel Vernünftiges zu sagen. – Wird die Zwischen- blemlösung sein kann. frage jetzt noch gestellt? Dass der Maiswurzelbohrer, wie du ja weißt, nicht im Osten vertreten ist, der Maiszünsler, bei dem es im Vizepräsidentin Petra Pau: Grunde genommen genau die gleiche Problematik gibt, Kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz. Sie haben aber sehr wohl, wird dir sicherlich bekannt sein. Ihre Redezeit mittlerweile deutlich überschritten. Vizepräsidentin Petra Pau: Hans-Michael Goldmann (FDP): Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Elvira Ich komme zum Schluss. – Ich hätte die Frage von Drobinski-Weiß das Wort. Frau Künast, die sie stellen wollte, gerne noch beantwor- (Beifall bei der SPD) tet. Ich glaube, dass wir im Bereich der Milch auf dem Elvira Drobinski-Weiß (SPD): einzig richtigen Weg sind: rein in den Markt mit so vie- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und len Bauern wie irgend möglich. Von mir aus wird auch Kollegen! Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass ein Begleitprogramm erstellt. Dieses dürfen wir aber die Rahmenbedingungen für den Milchmarkt, um den es 19062 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Elvira Drobinski-Weiß (A) heute auch noch geht, verbessert werden müssen. Den- scheiden können, begrüßen wir ausdrücklich. Wir haben (C) noch lehnen wir die populistischen Forderungen ab; sie bereits im Juni in unseren Antragsentwurf „Für eine denn sie sind für die Weiterentwicklung des Milchsek- nachhaltige Weiterentwicklung des europäischen Gen- tors nur wenig hilfreich. Aus diesem Grunde lehnen wir technikrechts“ aufgenommen. auch den Antrag der Grünen ab. Welche konkreten Maß- Unser Antragsentwurf enthält Forderungen, mit de- nahmen hier im Einzelnen ergriffen werden müssen, nen die CSU Landtagswahlkampf betreibt. Ich nenne werden wir in den nächsten Wochen in der Koalition si- beispielsweise die Überarbeitung des EU-Zulassungs- cherlich diskutieren. verfahrens für gentechnisch veränderte Pflanzen. Wir Von der Milch ist der Weg zur Gentechnik nicht weit. wollen mehr Transparenz und Demokratie bei diesen Eines der größten milchverarbeitenden Unternehmen in Entscheidungen und eine stärkere Berücksichtigung Deutschland, nämlich die Campina GmbH, hat heute im auch von kritischen Stellungnahmen. Wir fordern ein Vorfeld der Internationalen Fachmesse für Molkereipro- Anbauverbot für nicht koexistenzfähige Pflanzen wie dukte für seine wichtigste Marke „Landliebe“ den Ein- Raps. Wir fordern die Kennzeichnung von GVO-halti- stieg in die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung ange- gem Saatgut ab der Nachweisgrenze von 0,1 Prozent. kündigt. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir begrüßen einen neuen großen Anbieter in diesem Segment. Im Rahmen der Fachkonferenz der SPD-Frak- Diese Forderungen waren auch schon von Herrn tion kündigte letzte Woche auch die mittelständische Su- Dr. Ramsauer, Herrn Minister Seehofer und anderen permarktkette tegut an, neben dem bereits bestehenden CSU-Politikern zu hören. Was hielt Sie also bisher da- Angebot an Molkereiprodukten auch beim Schweine- von ab, mit uns über unseren Entwurf zu diskutieren? fleisch in die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung einzu- steigen. Mehrere Anbieter haben auf unserer Konferenz Wenn wir den Antrag der Grünen nachher in die Aus- zur Kennzeichnungsregelung gezeigt, dass diese Kenn- schüsse überweisen, dann habe ich dabei Bauchschmer- zeichnung machbar ist. Das Interesse der Marktteilneh- zen. Ich hoffe auf ernsthafte Beratungen und auf die mer ist groß. Einige sind bereits auf dem Markt; bei an- Redlichkeit der CSU. Ich fordere Sie auf, gemeinsam deren steht der Einstieg unmittelbar bevor. Das ist, wie mit uns für die Einbringung und Umsetzung dieser For- ich finde, ein Vorteil für die Verbraucherinnen und Ver- derungen zu sorgen. Denn wenn sich Ihr Einsatz für die braucher, die durch die so entstehende Transparenz end- gentechnikfreien Regionen als Wahlkampfgetöse ent- lich auswählen können, Herr Kollege. puppt, dann fällt das nicht nur Ihnen von der CSU auf (B) die Füße, sondern die Menschen im Land verlieren ihr (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vertrauen in die Politik. Das schadet uns allen. Herr Minister Seehofer ist leider nicht da. Herr Staats- Vielen Dank. sekretär, bitte übermitteln Sie ihm unseren Dank, dass wir mit der „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wirklich gutes Vorhaben auf den Weg bringen können. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Umso empörender und unverständlicher ist der Eier- Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Eva kurs, den die CSU in Sachen gentechnikfreie Regionen Bulling-Schröter das Wort. eingeschlagen hat. Die Überschrift „In Bayern bin ich (Beifall bei der LINKEN) gegen Gentechnik“ aus der Süddeutschen Zeitung ist be- reits zitiert worden. In Bayern sind Sie also dagegen und in Berlin dafür? Bislang sind etwa 15 000 Mails bei Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Herrn Seehofer und Herrn Dr. Ramsauer eingegangen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie wurden von Bürgerinnen und Bürgern geschrieben, Warum soll nicht jede Region, jedes Bundesland und je- die genau wissen, dass es nicht reicht, in Bayern mehr der Mitgliedstaat selbst darüber entscheiden dürfen, ob Rechte für gentechnikfreie Regionen zu fordern, sondern Agrogentechnik genutzt wird oder nicht? Das würde ich dass man sich hier in Berlin und später auch in Brüssel begrüßen. dafür einsetzen muss, dass solche Forderungen ernst ge- (Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael meint sind. Goldmann [FDP]: Unmöglich ist das! Das ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten doch Enteignung!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dass solche Entscheidungen gegenwärtig von der EU Wir stehen bereit, um gemeinsam mit Ihnen den Wor- untersagt werden, finde ich fatal. ten Taten folgen zu lassen. Die Forderungen der CSU Unabhängig davon lehne ich die Grüne Gentechnik nach Verbindlichkeit für die gentechnikfreien Regionen grundsätzlich ab. Die Risiken sind nicht beherrschbar, und nach der Möglichkeit, dass Länder und Regionen und wir brauchen diese Technologie auch nicht. künftig selbst über den gewerblichen Anbau von gen- technisch veränderten Pflanzen oder die Forschung ent- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19063

Eva Bulling-Schröter (A) Wir sind auch dafür, MON 810 zu verbieten. Das läge Jetzt zur Milchwirtschaft. Beim Milchstreik in diesem (C) nämlich in der Kompetenz der Bundesregierung. Aber Sommer wurde von den Bauern zum ersten Mal in der Herr Bleser hat bereits gesagt, dass die Bundesregierung, Geschichte Milch in bislang unbekannten Größenord- zumindest CDU und CSU, dies nicht tun wird. nungen weggeschüttet. Das heißt, die Bauern sind ver- zweifelt. Das muss man ganz ernst nehmen. Es heißt im- Noch einmal zurück: Am letzten Dienstag musste ein mer, man bekomme keine drei Bauern unter einen Hut. bayerischer Imker seine gesamte Honigernte in der Doch offensichtlich hat man es angesichts dieser Ver- Müllverbrennungsanlage in Augsburg vernichten; das hältnisse doch geschafft. Es ist tatsächlich so, wie es mir Glas haben wir bereits gesehen. Sie war trotz aller Vor- Milchbauern aus meiner Region gesagt haben. Sie halten sichtsmaßnahmen mit Pollen von MON 810 des Vorjah- es für eine Unverschämtheit, wie man mit Menschen res belastet. Die Imker meinen, schon bei 2 Prozent umgeht, die 365 Tage zweimal am Tag ihre Tiere mel- Genanbaufläche in Bayern sei dort praktisch keine ken. Damit haben sie recht. Honigernte mehr möglich. Daher frage ich Sie, meine Damen und Herren von der CSU: Was sagen Sie denn (Beifall bei der LINKEN) den Menschen nun im Wahlkampf? Die wollen doch Für diese Menschen ist es absolut unverständlich, dass Antworten hören! jetzt die Milchquoten wieder erhöht werden sollen, wo- (Beifall bei der LINKEN) durch der Preis möglicherweise noch weiter in den Kel- ler fällt. Vielleicht nehmen Sie zur Kenntnis, dass nach einer ak- tuellen Emnid-Umfrage 80 Prozent der Bayerinnen und (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Bayern MON 810 verbieten lassen wollen. Sie sind doch Gleichzeitig fordert der Deutsche Raiffeisenverband als eine Volkspartei. Dann machen Sie das doch endlich! Vertretung der genossenschaftlichen Molkereien, die alte (Beifall bei der LINKEN) Exportsubvention für Molkereiprodukte wieder einzu- führen, um für Marktentlastung zu sorgen. Beides sind Es sieht aber so aus, als ob die CSU in Bayern Oppo- völlig falsche Politikansätze. sition gegen sich selber in Berlin machte. Das stellt man in vielen Fragen fest. Während sich die CSU-- (Beifall bei der LINKEN) fraktion dafür einsetzt, gentechnikfreie Zonen zu schüt- Wir unterstützen die Abkehr von der totalen Liberali- zen, hat Herr Seehofer seinerzeit fast als erste Amts- sierung der Milchwirtschaft, welche de facto durch die handlung für die bundesweite Zulassung von MON-810- Abschaffung der Milchquote stattfindet. Die Milchwirt- Genmais gesorgt. In der Süddeutschen Zeitung hat er schaft wird damit an vielen Standorten in Deutschland, wiederum in der letzten Woche erklärt: „In Bayern bin (B) in Ost und in West, nicht mehr im Kampf um die nied- (D) ich gegen Gentechnik.“ Vielleicht hat der Bischof von rigsten Erzeugerpreise mithalten können. Eichstätt jetzt doch gewirkt. Wir wünschen uns das je- denfalls sehr. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der LINKEN) Kollegin Bulling-Schröter, achten Sie bitte auf die Zeit. Zu Hause den Gentechnikkritiker und den Bewahrer der Schöpfung spielen, im Bundestag aber dafür sorgen, Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): dass das Teufelszeug auf die Felder und dann auf den Teller kommt, das ist scheinheilig. So nennt man das je- Letzter Satz. – Wir unterstützen Ihre Anträge, meine denfalls in Bayern. Damen und Herren von den Grünen. Wir halten sie für eine gute Diskussionsgrundlage. Ich wünsche, dass über (Beifall bei der LINKEN) diese Themen breit diskutiert wird. Herr Bleser, der weltweite Hunger wird nicht durch (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- die Gentechnik beseitigt oder zumindest gelindert. Das neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – sagen nicht wir, sondern der Weltagrarrat, Misereor und Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dann müs- „Brot für die Welt“. Zumindest diese müssten Sie ken- sen Sie in den Ausschuss kommen! Dann kön- nen. nen Sie mitreden!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Petra Pau: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPD- Aber vielleicht stehen bei Ihnen die großen Konzerne Fraktion. vor der Tür – Bayer, BASF, Monsanto – und flüstern Ih- (Beifall bei der SPD) nen ab und zu etwas ein.

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist ja lächer- Ulrich Kelber (SPD): lich!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Das könnte ja sein. Herren! Was passiert eigentlich, wenn man die CSU mit Karl May vergleicht? Als Erstes fallen einem Gemein- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie müssen Ihr Feind- samkeiten auf. Genauso wie Karl May schafft es die bild einmal ändern! Es ist überholt!) CSU, mit blumigen Worten über Dinge zu schreiben, bei 19064 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Ulrich Kelber (A) denen sie nie dabei war. Genauso wie Karl May schafft Wir müssen einen Nerv bei der CSU erwischt haben. (C) es die CSU, sich mit Pathos mit Taten zu brüsten, die sie Herr Staatssekretär, Sie sitzen nicht auf der Regierungs- nie begangen hat. bank, sondern in den Reihen der Abgeordneten und ver- treten wahrscheinlich Herrn Ramsauer, den Chef der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ CSU-Landesgruppe, der heute nicht da ist. In dessen DIE GRÜNEN) Wahlkreis ist heute eine Anzeige erschienen, in der sug- geriert wird, die SPD sei für die Grüne Gentechnik, die Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: Karl May CSU aber handele. Ein Antrag der SPD, Langzeitversu- wäre nie auf die Idee gekommen, andere Menschen mit che mit Genfutter durchzuführen, wird so interpretiert, juristischem Kleinkram daran zu hindern, das zu tun, mit als sei die SPD dafür, die Tiere in Deutschland mit gen- dem er sich gebrüstet hat und was er nie gemacht hat. technisch verändertem Futter zu versorgen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Zurufe von der SPD: Oh!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dies ist die Forderung der Gentechnikgegner, die end- Ich bin jetzt acht Jahre Mitglied des Deutschen Bun- lich wissen wollen, was mit den Tieren passiert, wenn destages, aber ein solches politisches Bubenstück wie sie nicht nur sechs Wochen, sondern zwei Jahre lang da- das Verhalten der CSU in der Gentechnik habe ich in mit gefüttert werden. diesen acht Jahren nicht erlebt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Oh je!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesem Deutschen Bundestag eine solche Menge an Lügen und Verdrehun- Dann gab es – das ist eine der dreistesten Geschich- gen kennenlernen müsste. Ich war das bisher von Sekten ten, die ich erlebt habe – im März 2008 eine Anzeige der und extremistischen Parteien gewöhnt, von sonst nie- CSU mit der Behauptung, die SPD-Bundestagsfraktion mandem. stimme für die Einfuhr von Genmais. Im März 2008 gab es einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem MON 810 in Deutschland nicht mehr anbauen zu dürfen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lebhafter Wi- In der gesamten Debatte haben sich die Redner der SPD derspruch bei der CDU/CSU – Hans-Michael für diesen Antrag ausgesprochen, aber unser Koalitions- Goldmann [FDP]: Was machen Sie da eigent- partner CSU hat die Karte des Koalitionsvertrags gezo- lich?) gen und gesagt: Wenn wir nicht zustimmen, dürft auch (B) ihr einem Antrag der Grünen nicht zustimmen. – Wir (D) Man muss die Fakten klarstellen: Die Zulassung für mussten mit Nein stimmen, um vertragstreu zu sein. Das den Genmais wurde von einem CSU-Minister angeord- in einer CSU-Anzeige zu finden, ist dreist bis zum Ab- net. Dieser CSU-Minister hätte den Anbau von MON 810 winken. in diesem Jahr auch stoppen können, und dann hätten wir die Probleme in Bayern und in anderen Teilen der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Republik nicht gehabt. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Kelber, gestatten Sie Zwischenfragen In den gesamten Verhandlungen der Jahre 2006 und der Kollegin Happach-Kasan und der Kollegin 2007 über das Gentechnikrecht in Deutschland haben Klöckner? sich CDU und CSU geweigert, die Forderung nach ver- bindlich gentechnikfreien Regionen zu erfüllen. Im Juni 2008 gab es einen Antrag der CSU im Bayerischen Ulrich Kelber (SPD): , dass sich Bayern im Bundesrat für die Einrich- Gerne, selbstverständlich. tung verbindlich gentechnikfreier Regionen einsetzen solle. Das wurde durch die CSU abgelehnt. Seit Juni Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: liegt CDU und CSU der Entwurf eines Antrags der SPD- Bitte schön, Frau Happach-Kasan. Bundestagsfraktion vor, dass sich der Deutsche Bundes- tag für verbindlich gentechnikfreie Regionen ausspre- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Stopft ihnen die chen soll. Das wurde mit Verweis auf den Koalitionsver- Genmäuler!) trag verweigert. Dadurch darf die SPD diesen Antrag nicht in den Deutschen Bundestag einbringen. Diese Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Parteien können nicht behaupten, sie seien für verbind- Herr Kollege Kelber, ich habe drei Fragen an Sie. lich gentechnikfreie Regionen, wenn sie jeden konkreten Geht das, Frau Präsidentin? – Nur eine, dann verbinde Beschluss dazu hintertreiben und mit juristischen Mit- ich sie. teln verhindern. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Ulrich Kelber (SPD): BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Machen Sie eine längere Frage daraus. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19065

(A) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): zogen – waren. Da wurde noch einmal gesagt: Wer in (C) Ja, ich mache eine längere daraus. – Mich würde inte- Deutschland gentechnikfreies Futter beziehen will, be- ressieren, ob Sie eigentlich wissen, in welchem Umfang kommt es im Rahmen von langfristigen Verträgen auf die Schweinehaltung, die Rinderhaltung und die Hüh- dem Weltmarkt zu den gleichen Preisen wie gentechnik- nerhaltung in der deutschen Landwirtschaft von der Ver- haltiges Futter. fütterung von gentechnisch veränderten Pflanzen, bei- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Die spielsweise aus Importen, abhängen. Können Sie dem Frage ist nicht beantwortet! – Peter Bleser zustimmen, was ein Leserbriefschreiber in der Süddeut- [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Nicht zu glei- schen Zeitung geschrieben hat, nämlich dass ursprüng- chen Preisen!) lich in Bayern der Anbau von gentechnisch verändertem Mais auf 116 Hektar angekündigt war, hinterher aber nur Es ist nicht schön, dass auf bestimmten Webseiten 9,9 Hektar tatsächlich angebaut worden sind? Wissen nicht darauf verwiesen wird, dass zum Beispiel Indien Sie, dass dieser Leserbriefschreiber, der Ihnen übrigens sich entschieden hat, seine boomende Sojaindustrie voll- nahesteht, ständig gentechnikfrei aufzubauen, und nur auf die Märkte in Europa wartet, um beliefern zu können. (Zuruf von der SPD: Woher wissen Sie das?) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem die Beobachtung gemacht hat, dass es Diffamierungen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Landwirte gegeben hat, die gentechnisch veränder- ten Mais anbauen wollten? Sie haben intensiv für gen- Ich meine den Raiffeisenverband Kehl. Lesen Sie das technikfreie Zonen geworben und wollen, dass die Re- auf der Webseite nach! Wenn Sie dort anrufen, wird Ih- gionen über deren Einrichtung entscheiden. Was in der nen das bestätigt werden, Frau Happach-Kasan. EU zugelassen wird, möchte man in der Kommune ver- bieten können. Wie sieht es denn eigentlich aus: Wollen (Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP] mel- Sie den Kommunen auch das Recht geben, über Kraft- det sich zu einer weiteren Zwischenfrage) fahrzeuge zu entscheiden, darüber, ob in einer Kom- mune in Schleswig-Holstein zum Beispiel BMW gefah- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ren werden darf? Frau Happach-Kasan, auch die Frau Kollegin Klöckner würde gern eine Zwischenfrage stellen, und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dann würde ich den Kollegen Kelber gern zum Schluss Frau Kollegin Happach-Kasan! kommen lassen.

Julia Klöckner (CDU/CSU): (B) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (D) Ich bin damit am Schluss meiner Zwischenfrage. Sehr geehrter Herr Kelber, mich irritiert die Sauber- manngeschichte, die Sie gerade betreiben, ein bisschen. Ich erinnere mich an unsere Debatte um die Kennzeich- Ulrich Kelber (SPD): nung „Ohne Gentechnik“. Uns als Union war es wichtig, Zum zweiten Teil – ich lasse den Teil, der natürlich für Wahrheit und Klarheit zu sorgen und den Verbrau- eine Meinungsäußerung von Ihnen war, beiseite –: Wie cherinnen und Verbrauchern auf den Etiketten von Pro- Sie wissen, können Kommunen darüber entscheiden, ob dukten mitzuteilen, ob sie gentechnisch veränderte Be- eine Umweltzone eingerichtet wird oder ob ein Kraft- standteile enthalten. werk gebaut wird. Nur da, wo Ihnen die Mehrheitsmei- nung der deutschen Bevölkerung nicht passt – Umfragen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – besagen: 80 Prozent wollen keine Gentechnik in Lebens- Widerspruch bei der SPD) mitteln und auf dem Acker –, Deshalb ist uns wichtig, dass bei einer Kennzeichnung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) „Ohne Gentechnik“ auch keine Gentechnik im Prozess verwendet worden ist. wollen Sie die Verantwortung nach Brüssel schieben, da- mit nicht vor Ort entschieden werden kann. Das sehen Aufgrund der SPD-Intervention ist ein Eintrag von wir anders. 0,9 Prozent während des Prozesses oder sind auch gen- technisch veränderte Futtermittel, Enzyme etc. zulässig. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie sind fehlinformiert! Geht es auch umgekehrt, dass (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Hört! Hört! die Kommune beschließt?) Herr Kelber!) Sie haben unsere Forderung nach verbindlich gen- Deshalb irritiert mich das etwas. technikfreien Regionen angesprochen. Wir wollen zu- dem kennzeichnen und keinen anderen Weg gehen. Meine Frage lautet: Ist Ihnen das klar? Wie machen Sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern klar, dass (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir wollen man es bei einer Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“ wissen: Wie viel gentechnisch veränderte Fut- durchaus mit einer gentechnischen Veränderung zu tun termittel?) haben kann. Die SPD-Fraktion hat noch in der letzten Woche eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Fachanhörung durchgeführt, in der auch Vertreter des Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja, Herr Raiffeisenverbands – auf den haben Sie sich indirekt be- Kelber! Aber jetzt nicht so laut!) 19066 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Ulrich Kelber (SPD): Eindruck erwecken wollten, die SPD sei schon immer (C) Ich hatte nicht mehr zu hoffen gewagt, dass diese gegen die Gentechnik gewesen, frage ich: Würden Sie Zwischenfrage kommt. mir bestätigen, dass gerade unter der rot-grünen Bundes- regierung die Gentechnik in Europa hoffähig gemacht (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Renate worden ist, Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt immer Grund zur Hoffnung!) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Genau!) Es ist eine relativ langwierige Debatte. Man kann sie ab- nämlich aufgrund der Beschlüsse der damaligen rot-grü- kürzen, indem man schaut, wer hinter welchem Vor- nen Bundesregierung mit der damaligen Ministerin schlag steht. Renate Künast, (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich stehe hinter (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- meinem Vorschlag! – Peter Bleser [CDU/ NEN]: Was wollten Sie damals eigentlich im- CSU]: Das ist keine Antwort!) mer?) Hinter Ihrem Vorschlag stehen der Bundesverband des dass zudem in Bayern nur auf 8 Hektar Genmais ausge- Deutschen Lebensmittelhandels, die großen Monopolis- sät worden ist, während in dem von Ministerpräsident ten, die großen Chemieriesen, die die Gentechnik los- Platzeck, SPD, regierten Brandenburg auf mehreren werden wollen. Tausend Hektar Genmais zur Aussaat gebracht worden (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Beantworten Sie ist? Wie lässt sich das mit den Grundsätzen vereinbaren, die Frage!) die Sie hier darlegen? Hinter dem Vorschlag der Kennzeichnung „Ohne Gen- technik“ stehen der Verbraucherzentrale Bundesverband, Ulrich Kelber (SPD): Zunächst zur zweiten Frage: Das Bundesrecht, das (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist aber wir im Deutschen Bundestag dahin gehend ändern wol- schlecht!) len, dass Regionen sich verbindlich als gentechnisch frei Greenpeace, BUND, NABU, die kleinen Betriebe der erklären können, wird in Bayern wie in Brandenburg ökologischen Lebensmittelwirtschaft gelten. Ich sage Ihnen voraus, dass dann auch in Bran- denburg zahlreiche Kommunen verhindern werden, dass (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist keine Lo- auf ihrem Gebiet Gentechnik auf die Äcker kommt. gik!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und alle die, denen die Verbraucherinteressen DIE GRÜNEN) (B) (D) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Was ist die Lo- Zu Ihrer ersten Frage, Herr Straubinger: Ich glaube, gik? – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Sie waren zu Beginn der Debatte noch nicht im Saal. Peinlich!) Ansonsten hätten Sie nämlich gehört, was die Kollegin und nicht die eigenen wirtschaftlichen Interessen am Künast erklärt hat. Ich kann Ihnen den Zeitplan bestäti- Herzen liegen. An den Freunden könnt ihr sie erkennen! gen: Die Zulassung von MON 810, dem einzigen in Deutschland in größerem Maßstab verwendeten Gen- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem mais, hat noch vor der Bundestagswahl 1998 in der EU BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stattgefunden. Zuständig war damals der Gesundheits- Das ist der beste Hinweis darauf, dass das, was Sie minister der Regierung Kohl/Westerwelle, der Horst gefordert haben, nicht Klarheit und Wahrheit war, son- Seehofer hieß. Über die Zulassung in Deutschland dern der Wunsch, es der Gentechniklobby zu ermögli- wurde kurz nach dem November 2005 entschieden. chen, weiterhin in allen Lebensmitteln sozusagen unter- Diesmal war der Landwirtschaftsminister zuständig, der zukommen und dabei nicht erkannt zu werden. wiederum Horst Seehofer, CSU, hieß. Sie sollten den ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Julia genen Anzeigen nicht glauben. Sie müssen ins europäi- Klöckner [CDU/CSU]: Null Argument! Pein- sche Gesetzblatt schauen. Dort finden Sie die Wahrheit. lich! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem eine Arbeitnehmerpartei sind Sie schon noch?) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist ein ganz wichtiges Signal. Man muss der CSU Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht glauben, wenn sie seit drei Monaten plötzlich ge- Herr Kollege Kelber, ich muss Sie fragen, ob Sie noch gen Gentechnik ist. Dies wird nach dem nächsten Sonn- eine Zwischenfrage, nämlich des Kollegen Straubinger, zulassen. tag alles vergeben und vergessen sein; dann werden sich wieder andere in der Partei durchsetzen, die diesen Kurs nie mitgetragen haben. Das Schöne aber ist, dass die Ulrich Kelber (SPD): Menschen das merken. Wenn sich die Menschen in Bay- Ja, natürlich. ern und in Deutschland, die uns heute zugehört haben, fragen, ob die Redner von den Grünen, von der Links- Max Straubinger (CDU/CSU): partei, von der FDP, von der CDU/CSU oder von der Herr Kollege Kelber, da Sie sich gerade als der Ober- SPD recht hatten, dann sollten sie auf die Webseiten kämpfer gegen die Gentechnik geriert haben und den vom BUND, von Greenpeace, vom Imkerbund, von der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19067

Ulrich Kelber (A) Aktion Zivilcourage, von Campact und all denen, die für cher, der zur Grünen Gentechnik Nein sagt, weil er sie (C) die Verbraucherseite gegen Gentechnik kämpfen, gehen. nicht will, geben wir durch die Kennzeichnung die Mög- Sie alle beginnen mit der gleichen Schlagzeile: Glaubt lichkeit, sich so zu entscheiden. Wenn der Bauer erklärt, dem Täuschungsmanöver der CSU nicht, sie meint es an er baue das nicht an, dann ist es in Ordnung. Wir machen dieser Stelle nicht ehrlich. keine Politik gegen Bauern, gegen Verbraucher, gegen die Bürgerinnen und Bürger. Das ist unsere Linie. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ neten der FDP) DIE GRÜNEN – Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Aber die SPD!?) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Kelber, bitte. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Ulrich Kelber (SPD): Kollegen Müller. Die Kurzintervention bestand ja aus drei Teilen. Ich (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gehe auf den dritten Teil zuerst ein; denn das, was Sie, NEN]: Ich stelle gleich einen Zitierantrag! Da Herr Müller – aha, Sie sind wieder auf die Regierungs- sitzt keiner vom Ministerium auf der Regie- bank gewechselt –, im dritten Teil gesagt haben, war rungsbank!) richtig. Sie haben sich da auf die Dinge bezogen, die wir gemeinsam gemacht haben: gute fachliche Praxis und Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Kennzeichnungspflicht. Ich freue mich, dass diese For- Lieber Kollege Kelber, die Debatte könnte man in derungen, die damals von der SPD in die Koalitionsver- weiten Zügen fast als oktoberfestreif bezeichnen, wenn handlungen eingebracht wurden – das ist nachlesbar –, es nicht so traurig wäre. Deshalb nenne ich als CSU-Po- heute gemeinsames Gedankengut der beiden Koalitions- litiker zur Klarstellung einige Fakten. partner sind. Die Grüne Gentechnik wird auf 120 Millionen Hektar (Beifall bei der SPD) in 25 Staaten der Welt angebaut. In Deutschland haben Zweiter Punkt. Bezüglich des Themas Freisetzungs- wir ungefähr 1 000 Hektar. In Bayern sind es 10 Hektar richtlinie haben Sie heute den Versuch unternommen, – das sind fünf Fußballfelder –, dieses in neuer Art und Weise darzustellen. Da muss man ja aufpassen. Sie sagten – komisch, dass ich jetzt (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Viel zu für die Opposition sprechen muss –, (B) viele!) (D) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- davon der wesentliche Teil für den Forschungsanbau. NEN]: Gerne!) Deshalb kam Minister Seehofer zu der Aussage, dass in Bayern die Grüne Gentechnik keine Rolle spiele. Künast habe die Freisetzungsrichtlinie umgesetzt. Ge- nauso war es zwar, aber die Freisetzungsrichtlinie wurde (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- unter der Regierung Kohl/Westerwelle beschlossen, mit NEN]: Sie können ja gar nicht für den Minister Seehofer als zuständigem Minister reden! Schiebung!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was soll das Das zweite Faktum: Die Freisetzungsrichtlinie zum denn mit „Westerwelle“?) Anbau von MON 810 hat Frau Renate Künast mit den Grünen umgesetzt. Dass diese Tür aufgestoßen wurde, Sie war danach bindend. Das europäische Recht musste ist die Basis für die Zulassung gewesen. danach verpflichtend in nationales Recht umgesetzt wer- den. Dass dieser Punkt zu bindendem europäischem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Recht wurde, dafür hat Ihr Minister Seehofer, der in ei- neten der FDP) ner Dreiviertelstunde auf der Ministerkonferenz sein Gefehlt hat die Festlegung klarer Grundsätze der muss, gesorgt. fachlichen Praxis. Hier haben wir vonseiten der CDU/ (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- CSU und dieser Koalitionsregierung gehandelt und SES 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] klare, strenge Regeln für die Freisetzung, unter anderem [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!) Abstandsregelungen, Letzter Punkt. Die Gentechniklobbyisten sprechen (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: immer gerne davon, auf soundso vielen Millionen Hek- Miniabstände!) tar in soundso vielen Staaten würden ihre Produkte ange- festgelegt. Auch dies war vorher nicht der Fall. Darüber baut. Das hört sich groß und bedeutend an. Wenn man hinaus haben wir die Kennzeichnung „Ohne Gentech- genauer hinschaut, stellt man fest, dass sich 95 Prozent nik“ eingeführt, was ebenfalls ein ganz entscheidender der Anbaufläche in drei Staaten befinden, nämlich in den Punkt war. USA, wo die Konzerne ihren Sitz haben, sowie in Ar- gentinien und Brasilien, wo dies mit Macht durchge- Warum haben wir das gemacht? Die Grüne Gentech- drückt wurde. Der ganze restliche Anbau ist unbedeu- nik wird sich durchsetzen oder auch nicht. Aber das ent- tend. Immer mehr Staaten versuchen sogar, aus dieser scheiden die Verbraucher und die Bauern. Dem Verbrau- Technologie auszusteigen. 19068 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Ulrich Kelber (A) Sie sind auf dem falschen Dampfer. Steigen Sie recht- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) zeitig aus! Herr Kollege Kelber möchte nicht antworten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Kollege Kelber, ich habe jetzt den Auszug des DIE GRÜNEN) Protokolls vor mir liegen. Sie haben gesagt: Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesem Deut- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schen Bundestag eine solche Menge an Lügen und Zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich das Wort Verdrehungen kennenlernen müsste. Ich war das der Kollegin Renate Künast. bisher von Sekten und extremistischen Parteien ge- wöhnt, von sonst niemandem. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ungeheuerlichkeit!) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ganz ruhig! Sie haben das eindeutig in Richtung CDU/CSU gesagt. Wir atmen tief durch!) Das ist wenig parlamentarisch. Es tut mir leid; das muss – Auch Sie bekommen noch einen Chauvi-Preis. – Ich ich rügen. Ich bitte doch, zu überdenken, ob Sie sich halte es, ehrlich gesagt, in dieser Debatte für eine Art nicht entschuldigen wollen. Missachtung des Parlaments, wenn diejenigen, um deren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Politik es heute geht, nicht auf der Rednerliste auftau- Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Wollen chen – phasenweise saß ja sogar niemand auf der Regie- Sie sich entschuldigen, Herr Kelber? – Renate rungsbank – und es nicht wagen, in der Debatte Ross Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die und Reiter zu nennen und ihre inhaltliche Position darzu- haben doch gelogen, Frau Präsidentin!) legen, aber am Ende im Rahmen einer Kurzintervention versuchen, noch einmal ein bisschen Klarstellung zu be- Ich schließe die Aussprache. treiben. Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Grünen auf Drucksache 16/10202. sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich erteile zunächst dem Kollegen Volker Beck für die Die Leute werden wissen, was das heißt. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort zur Ge- schäftsordnung. Ich meine, dass diese Debatte gezeigt hat, dass die (B) CSU und die CDU die Bürger, die Verbraucher und die (D) Bauern alleine lassen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – tragstellende Fraktion beantragt, den Antrag der Koali- Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ tion auf Überweisung zurückzuweisen und die Frage CSU) heute in der Sache zu entscheiden. Lassen Sie mich auch sagen: Der Beschluss der CSU, Worum geht es im Antrag? Es geht um zwei leicht zu den sie in Bayern gefasst hat, ist das Papier nicht wert, beantwortende Fragen. Erstens geht es darum, ob sich auf dem er gedruckt worden ist. Warum ist das so? Hier diese unsere Bundesregierung, die im Wesentlichen ab- wird zwar so getan, als wolle man auf europäischer wesend ist, in Brüssel – vielleicht ist sie gerade in Brüs- Ebene aktiv werden und für gentechnikfreie Zonen ein- sel – dafür einsetzt, treten, tatsächlich bietet er aber nicht einmal eine rechtli- che Grundlage dafür, um demnächst im Agrarrat in (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Zählen kann Brüssel in dieser Richtung tätig zu werden und auf diese er auch nicht!) Weise die Europäische Kommission, die ja das Initiativ- dass die Einrichtung gentechnikfreier Zonen von den recht hat, zur Abfassung einer entsprechenden Vorlage Gebietskörperschaften unseres Landes beschlossen wer- zu zwingen. Sie wollen das irgendwo im Europa der Re- den kann. Es geht also darum, ob sie die Entscheidungs- gionen zur Sprache bringen. Wenn Sie das aber wirklich hoheit darüber haben, ob bei ihnen gentechnisch verän- wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass das da zur derte Pflanzen angebaut werden oder eben nicht. Sprache kommt, wo wirklich Entscheidungskompetenz ist. Das wären der Agrarrat und die Europäische Kom- Zweitens geht es um ein Moratorium für weitere an- mission. zubauende gentechnisch veränderte Pflanzen. Ein Weiteres sage ich Ihnen: Sie haben jederzeit die Das ist exakt das, was die CSU in Bayern gerade Möglichkeit, MON 810 die Zulassung zu entziehen. Das landauf, landab in jedem Wahlkreis erklärt. Schauen Sie haben Sie, Herr Kelber, hier klar gesagt. Verstecken Sie sich einmal an, Herr Koschyk, was Ihr Landesgruppen- sich also nicht hinter irgendwelchen Dingen! Bringen chef Ramsauer gesagt hat: Sie notfalls alleine einen Antrag dazu ein! Wir würden dem zustimmen. Nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung kommen wir zu dem Ergebnis, dass es für einen Einsatz der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grünen Gentechnik in unserem Landkreis mit der sowie bei Abgeordneten der SPD) kleinteiligen Agrarstruktur und den empfindlichen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19069

Volker Beck (Köln) (A) und wertvollen Naturräumen zu viele offene Fragen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) und kaum abschätzbare Risiken gibt. Oh, Herr Kollege Beck! Deswegen ist er dagegen, dass gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut werden. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Recht hat er. Mit der Zustimmung zu unserem Antrag – Frau Präsidentin, dass es nicht okay ist, kann das jetzt Wirklichkeit werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen doch, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass die Präsidentin recht hat!) Allerdings ist es ein Bubenstück, dass Herr Seehofer ei- die Entscheidung in dieser Sitzungswoche zu vertagen nerseits erklärt, in Bayern wolle er keine Gentechnik. und den Antrag zu überweisen. Ich plädiere dafür, jetzt Andererseits sei er für Gentechnik in Brandenburg, wo über ihn zu entscheiden. sich die Bürger dagegen wehren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Zur und bei der LINKEN – Julia Klöckner [CDU/ Geschäftsordnung!) CSU]: Dann lassen Sie uns jetzt entscheiden!) Das ist natürlich nicht der Sinn einer solchen Regelung. Ich möchte etwas zur Intention derjenigen sagen, die Vielmehr sollen die Bürgerinnen und Bürger eines jeden nicht begründet haben, warum sie den Antrag überwei- Landkreises selber entscheiden, was dort gelten soll. sen wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Widerspruch bei der CDU/CSU) und bei der LINKEN – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Zur Geschäftsordnungsdebatte!) Das ist zulässig, und ich bitte, Frau Präsidentin, hier auch die unangenehmen Wahrheiten aussprechen zu dür- Meine Damen und Herren, Sie versuchen heute mit fen, ohne gegen eine solche Lärmwand anschreien zu diesem Überweisungsantrag – ich kann nicht verstehen, müssen. warum auch die SPD ihn gestellt hat –, der CSU den Of- fenbarungseid in der Frage der Gentechnik zu ersparen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Sitzungs- woche versuchen Sie mit allen Tricks, Entscheidungen (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Frau Präsi- zu vermeiden. Sie haben uns heute sogar im Ältestenrat dentin, er muss wirklich zur Geschäftsordnung verboten, sprechen!) (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) (B) Diese parlamentarische Woche ist – – (D) eine Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche zu be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schließen, weil Sie womöglich nicht eingestehen wollen, Herr Kollege Beck, Sie müssen, bitte schön, zur Ge- dass die CSU in der nächsten Sitzungswoche – ähnlich schäftsordnung sprechen. wie bei der Gentechnikfrage – bei der Debatte über die Erbschaftsteuerreform die Hosen runterlassen muss. Dies sollen die Wählerinnen und Wähler noch nicht er- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fahren. Ja, ich begründe gerade, warum – – (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den Mut, diese Frage jetzt zu entscheiden. Dann wird Nein, Sie begründen nicht. klar, wo die CSU steht. Ich glaube, wir haben hier im Hohen Haus eine Mehrheit dafür, dafür zu sorgen, dass in unserem Land keine gentechnisch veränderten Pflan- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zen in der Landwirtschaft mehr angebaut werden. Ver- Ich begründe gerade, warum – – helfen Sie der CSU-Politik zu einer Chance, wenn sie (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) ernst gemeint sein soll. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ihnen hört doch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: niemand mehr zu!) Nein, Herr Kollege Beck, Sie begründen nicht. Ansonsten sollen die Wählerinnen und Wähler erfahren, dass all das, was Sie den Bayerinnen und Bayern verkau- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fen, Wahlkampfgetöse, Ich begründe gerade, Frau Präsidentin, warum es nicht in Ordnung ist, zu überweisen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist ja ein aber keine inhaltlich ernst gemeinte Politik war. Bubenstück, was Sie hier machen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich spreche nicht zur Sache, sondern dazu, – und bei der LINKEN) 19070 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Im Hinblick auf die eine oder andere Wortmeldung, die (C) Wird das Wort zur Erwiderung gewünscht? – Das ist ich gehört habe, und auf das Beklagen darüber, dass die nicht der Fall. Regierung nicht ordentlich vertreten sei, möchte ich da- rauf hinweisen, dass, wenn der Bundesminister für Ar- Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Ab- beit und Soziales hier ist, immerhin 123 Milliarden Euro stimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU des Haushaltes repräsentiert werden. und der SPD wünschen Überweisung, und zwar feder- führend an den Ausschuss für Ernährung, Landwirt- (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb schaft und Verbraucherschutz und mitberatend an den [FDP]: Deswegen mussten wir das gestern in Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- anderthalb Stunden absolvieren!) heit. Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschuss- überweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage Zeit zu haben für das eigene Leben, für die privaten deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Belange, ist etwas Wichtiges, gerade wenn man bedenkt, Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist die dass Arbeit eine lange Zeit unser Leben bestimmt. Wer Überweisung so beschlossen. mit 16 die Schule verlässt, muss damit rechnen, 50 Jahre arbeiten zu müssen. Es können auch 40 Jahre sein; aber (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie hat jedenfalls sind es viele Jahrzehnte, in denen Arbeit das denn Herr Kelber abgestimmt? – Gegenruf des Leben begleitet. Das führt dazu, dass wir uns Gedanken Abg. Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie das darüber machen müssen, wie die Beschäftigten genü- nicht gesehen? – Dr. Martina Krogmann gend Souveränität erhalten können, um während des Ar- [CDU/CSU]: Das war wirklich ganz schwach, beitslebens über ihre Zeit zu verfügen. Sie brauchen Herr Kelber!) mehr Spielräume, wenn sie im Schnitt 46 Wochen im Jahr 40 Stunden in der Woche arbeiten. Ihnen diese Sou- Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksa- veränität zu geben, ist das, was wir mit diesem Gesetz che 16/10202 nicht ab. versuchen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh- (Beifall bei der SPD) rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel Wir haben im Hinblick auf die Souveränität der Be- „Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbessern – Faire schäftigten schon heute viele gesetzliche Ansprüche. Erzeugerpreise für Milch unterstützen“. Der Ausschuss Das gilt für die Möglichkeiten bei der Kindererziehung, empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache bei der Pflege und bei der Bildung. All das ist gegeben. 16/9869, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Wir haben in den letzten Jahren einen großen Fortschritt (B) auf Drucksache 16/9601 abzulehnen. Wer stimmt für mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz erreicht, das ei- (D) diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – nen Rechtsanspruch auf Teilzeit mit sich gebracht hat. Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Was fehlt, ist eine Regelung, die es dem einzelnen Be- Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstim- schäftigten gestattet, über das ganze Arbeitsleben hin- men von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die weg souverän über die eigene Arbeitszeit verfügen zu Linke angenommen. können. Das versuchen wir seit einigen Jahren mit einem Gesetz zu erreichen, das allerdings noch nicht richtig ge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: wirkt hat, nicht nur weil es einen komplizierten Namen Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- hat – Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen –, serung der Rahmenbedingungen für die Ab- sondern auch weil die gesetzliche Regelung, die wir seit sicherung flexibler Arbeitszeitregelungen etwa zehn Jahren in Deutschland haben, bislang nicht alle Anforderungen erfüllt hat. – Drucksache 16/10289 – Überweisungsvorschlag: Aber die Grundidee war richtig. Es geht darum, dass Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Arbeitszeit angespart werden kann, dass sie sogar vorge- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend spart werden kann, wenn man das richtig organisiert, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die dass die Arbeitszeit dann verbeitragt und mit Steuern be- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich legt wird, wenn sie zur Finanzierung des eigenen Le- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. bensunterhaltes eingesetzt werden soll. Ich gebe das Wort dem Bundesminister Olaf Scholz. Die Probleme des bisherigen Gesetzes haben dazu ge- führt, dass es bisher nicht ordentlich angewandt wurde. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zu den großen Problemen gehörte die Frage: Was ge- schieht eigentlich, wenn ein Arbeitnehmer den Arbeitge- Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- ber wechselt? Ob freiwillig oder unfreiwillig: Dies les: kommt häufiger im Leben vor. In diesem Fall, so haben Meine Damen und Herren! Nach der eben sorgfältig sich viele gedacht, muss es doch möglich sein, dass man geführten Debatte muss man sagen: Hier geht es jetzt um das bis dahin angesparte Arbeitszeitguthaben mitnehmen ein Erfolgsprojekt der Großen Koalition. kann. Das andere Problem ist die Frage, was geschieht, wenn der eigene Arbeitgeber insolvent wird. In dem Fall (Beifall bei der SPD) ist die über einen langen Zeitraum angesparte Arbeits- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19071

Bundesminister Olaf Scholz (A) zeit, die für den einzelnen Beschäftigten einen großen fung durch die Deutsche Rentenversicherung. Das ist (C) finanziellen Wert darstellt, plötzlich verloren. Beide Pro- übrigens ein hocheffizienter Insolvenzschutz; denn wenn bleme waren im Rahmen der bisherigen Regelung nicht die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass das Arbeitszeit- gut gelöst. Wir hatten darauf gesetzt, dass sie von den konto nicht insolvenzgesichert ist, dann werden Beiträge Tarifvertragsparteien gelöst werden. Sie haben dies aber und Steuern sofort fällig. Auf diese Weise haben wir ein nur in sehr wenigen Fällen getan. Darum ist aus einer ganz sicheres Instrument, mit dem in jedem Unterneh- guten Idee, die es vor zehn Jahren gab, noch nicht sehr men sichergestellt wird, dass der Insolvenzschutz auch viel entstanden. dort gewährleistet ist, wo bisher noch nicht dem Gesetz Aber wir müssen auf diesem Gebiet etwas erreichen. entsprechend gehandelt worden ist. Aufgrund der Tatsache, dass Arbeit eine so große Rolle Das Gleiche gilt für die Frage, wie man die Einlage in unserem Leben spielt, müssen wir die gesetzlichen absichert. Wir machen dazu Vorschriften, wie wir sie Voraussetzungen dafür schaffen, dass Arbeitnehmer von auch in anderen Gesetzen im Hinblick auf die Anlagesi- der Möglichkeit, ihre Arbeitszeit souverän über ihr Be- cherheit haben. Man muss nicht die Wirtschaftsteile der rufsleben zu verteilen, Gebrauch machen können. Das Zeitungen gelesen haben, um zu wissen, dass wir uns da- erreichen wir mit diesem Gesetz. rum kümmern müssen, dass das Geld der kleinen Leute (Beifall bei der SPD) nicht in hoch spekulative Anlagen und in Produkte von irgendwelchen Schnellversprechern gesteckt wird. Gute Gesetzgebung besteht darin – das ist meine feste Überzeugung –, dass man sich darauf verlassen kann, (Beifall bei der SPD) dass Gesetze funktionieren. In diesem konkreten Fall be- Im Übrigen regelt das Gesetz die Möglichkeit, sein deutet das, dass man nicht einen Steuerberater und einen Arbeitszeitkonto mitzunehmen. Rechtsanwalt braucht, um sich an die Idee zu wagen, ein Arbeitszeitkonto aufzubauen, und um für sich die rich- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tige Entscheidung zu treffen. Unsere Aufgabe ist es, da- NEN]: Aber nur, wenn der Arbeitgeber das ak- für ein gutes Gesetz zu schaffen. Wir tun das mit dem zeptiert!) heute zu debattierenden Gesetzesvorhaben. – Danke für den Zwischenruf. Das ist falsch! Wir definieren, was Wertguthaben sind, und unter- (Lachen bei der SPD und der CDU/CSU) scheiden auf diese Weise Langzeitkonten heute viel bes- ser von anderen Formen flexibler Arbeitszeitgestaltung, Das Gesetz regelt die Möglichkeit, das Arbeitszeit- die es auch in Form von Überstundenkonten und Ähnli- konto mitzunehmen. Wenn der neue Arbeitgeber es nicht für sich haben will – wir können es ihm schwerlich ok- (B) chem gibt. Diese Definition wurde sehr sorgfältig erar- (D) beitet. Zwar haben es die Tarifvertragsparteien nicht ge- troyieren, denn er hat mit dem bisherigen Arbeitsverhält- schafft, sich untereinander zu einigen, aber in nis ja nichts zu tun –, dann hat man die Möglichkeit, es Gesprächen mit uns sind sie sich einig, dass unser Vor- bei der Deutschen Rentenversicherung langfristig sicher schlag eine vernünftige Lösung darstellt, die allen fachli- festzulegen. chen Anforderungen entspricht. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD) Aber was ist bei einer Freistellung?) Wir schaffen die Möglichkeit, diese Wertguthaben, Dann kann es so eingesetzt werden, wie es auch geplant diese Langzeitkonten so einzusetzen, wie man es ist. Aber wenn man es mitnimmt, dann kann man auch möchte. Man kann dies natürlich dort tun, wo es gesetz- bei dem neuen Arbeitgeber ein solches Arbeitszeitkonto liche Freistellungsansprüche bereits heute gibt. Ich habe mit den weiteren Ansprüchen aufbauen. schon einige genannt. Aber man kann es auch in solchen (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fällen tun, die gesetzlich nicht geregelt sind, die das Er- NEN]: Aber es ist doch nicht falsch, was ich gebnis einer Vereinbarung von Tarifvertragsparteien gesagt habe!) oder einer individuellen Vereinbarung mit dem Unter- nehmen sind. Es ist also für jeden Beschäftigten möglich, ein Ar- beitszeitkonto über das ganze Leben zu verwalten und Es geht also darum, Zeit zu gewinnen, beispielsweise dann zu den Zeitpunkten einzusetzen, zu denen er es be- für die Betreuung von Kindern. Man kann auch ein Jahr nötigt. – ein Sabbatical – aussetzen. Es muss die Möglichkeit bestehen, den Akku neu aufzuladen und sich weiterzu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bilden. Es geht natürlich auch um die Möglichkeit, beim der CDU/CSU) Übergang in die Rente andere Gestaltungsmöglichkeiten Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf, über zu haben als heute. All das ermöglichen wir mit den den wir heute beraten, wird vielleicht zu einem der mo- Langzeitkonten. dernsten und wichtigsten Gesetze dieser Zeit. Ich bin (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ziemlich sicher, dass dieses Gesetzesvorhaben in zehn der CDU/CSU) Jahren wie eine Selbstverständlichkeit sein wird, weil es das Arbeitsleben fast jedes Einzelnen mit beeinflusst, Das Gesetz regelt den Insolvenzschutz. Diesen Schutz nämlich als Möglichkeit, aus eigener Perspektive souve- erreichen wir unter anderem durch eine sorgfältige Prü- rän mit der Arbeitszeit umgehen zu können. Das ist ein 19072 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Bundesminister Olaf Scholz (A) guter Fortschritt für ein Land, das auf gute Arbeit und Aber der im Entwurf des § 7 f SGB IV vorgesehene (C) auf gute Löhne setzt. Weg der Portabilität über die gesetzliche Rentenversi- cherung ist in der gegenwärtigen Fassung aus mehreren In diesem Sinne: Schönen Dank. Gründen für die Arbeitnehmer, wie ich finde, unattrak- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tiv. Zum einen wird ein Rückübertragungsanspruch des der CDU/CSU) Beschäftigten auf einen neuen Arbeitgeber ausgeschlos- sen. Unter Umständen steht der neue Arbeitgeber noch gar nicht fest; es gibt eine Lücke in der Erwerbsbiogra- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fie. Das wandert also zunächst zur Rentenversicherung. Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion. Nun wäre es ja sinnvoll, dass nach einer gewissen Zeit eine Übertragung auf den neuen Arbeitgeber statt- (Beifall bei der FDP) finden kann. Das ist bisher nicht vorgesehen. Es würde am Ende dazu führen, dass ein Arbeitnehmer mehrere Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Konten hat. Es ist nicht klar, warum eine Übertragung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ausgeschlossen sein soll. Im Gesetzentwurf wird dazu Herr Minister Scholz, Sie haben gestern im Ausschuss abstrakt von Gründen der Verwaltungssicherheit und Fi- für Arbeit und Soziales gesagt – Sie haben es heute wie- nanzierung gesprochen. Darüber sollten wir also reden. derholt –, dies sei das vielleicht wichtigste Gesetzge- Der andere Aspekt der Anlage der Arbeitszeitkonten bungsvorhaben dieser Legislaturperiode, das die Ar- bei der Rentenversicherung ist, dass der Arbeitnehmer beitswelt verändern werde. Das ist ein großes Wort. So, die Verwaltungskosten für das Wertguthaben tragen soll. wie sich der Gesetzentwurf bisher präsentiert, wird diese Zugleich gibt es konservative Anlagevorschriften ent- große Ankündigung jedenfalls noch nicht eingelöst. sprechend denen für öffentlich-rechtliche Sozialver- (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: sicherungsträger. Da muss man sich auch einmal an- Oh!) schauen, welche Renditeerwartungen ein Arbeitnehmer bei einer solchen Anlage und Führung des Kontos durch Die grundsätzliche Idee, die Arbeitszeit zu flexibili- die Rentenversicherung noch hat. sieren, ist richtig. Es war ja auch die FDP, die im April 1998 das Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung fle- Man könnte meines Erachtens darüber nachdenken, xibler Arbeitszeitregelungen mit in Kraft gesetzt hat. den Arbeitnehmern hier ein Wahlrecht zuzugestehen, welchen Risikograd sie bei der Anlage des Wertkontos (Detlef Parr [FDP]: Vor zehn Jahren!) haben möchten, was sich natürlich auch auf die Garan- tiesumme auswirkt. (B) Wir stimmen zu: Arbeitszeiten und Zeitmanagement sol- (D) len flexibel und für Arbeitgeber und Arbeitnehmer indi- (Beifall bei der FDP) vidueller gestaltbar sein. Wenn die Anlage aber unattraktiv ist, wird diese Mög- Ich darf auch sagen, weil Sie das Ende des Arbeitsle- lichkeit der Portabilität nicht genutzt werden. bens hier schon mit angeführt haben, dass die FDP-Bun- destagsfraktion den Gedanken eines selbstbestimmten Im Gesetzentwurf werden viele Gründe aufgezählt, Arbeitslebens mit dem Konzept eines flexiblen Renten- warum eine treuhänderische Übernahme der Arbeitszeit- eintritts ab dem 60. Lebensjahr – übrigens bei Wegfall konten durch private Anbieter nicht zulässig sein soll. aller Zuverdienstgrenzen – und Vorschlägen zur Stär- Dabei geht es aber mehr um fiskalische Interessen, wenn kung der betrieblichen und privaten Vorsorge konse- ich das richtig sehe, vor allem um den Schutz der Sozial- quent weitergedacht und weiterentwickelt hat. versicherungsbeiträge. Die Interessen der Arbeitnehmer treten demgegenüber in den Hintergrund. Diese Interes- (Beifall bei der FDP) sengewichtung muss man sich einmal genau anschauen Lassen Sie mich zunächst sagen, was an Ihrem Vor- und sich fragen, ob die Attraktivität des Gesetzes für Ar- schlag gut ist. Es ist gut und richtig, dass künftig auch beitnehmer durch diese Regelung nicht massiv beschnit- geringfügig Beschäftigte in den Genuss der Regelungen ten wird. über flexible Arbeitszeitgestaltungen kommen sollen. (Beifall bei der FDP) Sinnvoll ist ferner, klarzustellen, welche Formen von Arbeitszeitguthaben von dem Gesetz erfasst werden. Ich will auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Mit dem § 7 d SGB IV sollen die Wertguthaben während der Aber es gibt auch ein paar Punkte, die wir uns noch Ansparphase besser geschützt werden als bisher. Dafür einmal anschauen müssen und bei denen es aus unserer sollen die Vermögensanlagevorschriften der § § 80 ff. Sicht Klärungsbedarf gibt. SGB IV gelten. Das heißt, die Anlage in Aktien oder Erstens. Es wird von Ihnen zu Recht darauf verwie- Aktienfonds soll auf 20 Prozent begrenzt sein. Der eine sen, dass bisher bei einem Arbeitgeberwechsel die Wert- oder andere mag sagen, dass das angesichts der aktuellen Entwicklung auf den Finanzmärkten sinnvoll ist. Ich will guthaben meist aufgelöst werden und dann verbeitragt, darauf hinweisen, dass Beteiligungen am Kapitalmarkt versteuert und ausgezahlt werden. Das senkt die Attrak- in der mittel- und langfristigen Perspektive immer die tivität der Arbeitszeitkonten natürlich erheblich. Deswe- höchsten Wertsteigerungen geboten haben. gen sollte – da stimmen wir Ihnen zu – eine bessere Por- tabilität ohne diesen Zwang zur Auflösung hergestellt (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden. NEN]: Das sehen wir ja im Moment!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19073

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Man sollte deswegen prüfen, ob man nicht durch flexib- geben, Entscheidungen über Lebensarbeitszeiten zu- (C) lere Regelungen dem Einzelinteresse gerecht werden künftig besser steuern zu können, weitergehen. kann, etwa dadurch, dass man sagt: Jüngere Arbeitneh- mer, die noch ein langes Erwerbsleben vor sich haben, Ich möchte mich bei Ihnen von der Linken übrigens erhalten die Möglichkeit, einen höheren Aktienanteil zu entschuldigen: Wenn ich hier rede, erwarten Sie, dass ich wählen; sobald der Renteneintritt näher rückt, erfolgt auf Sie eindresche. Das kann ich heute nicht. Es geht um aber eine Umschichtung in sicherere Produkte. Das Inte- ein Sachthema, das wir nach vorne bringen wollen. resse des Einzelnen ist hier zu berücksichtigen. Ich sehe (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE keinen Grund, warum wir das nicht tun sollten. LINKE]: Ich dachte auch schon, heute kommt (Beifall bei der FDP) nichts mehr!) Der dritte und letzte Aspekt ist der Insolvenzschutz Deshalb halte ich mich ein bisschen zurück. der Arbeitszeitkonten. Es gab sicherlich manche Ar- Die Bedeutung flexibler Arbeitszeitregelungen hat beitszeitkonten, die nicht wirksam insolvenzgesichert allgemein zugenommen. Wir wissen, dass es Flexibilität waren. Man muss aber schauen, ob Sie mit dem, was Sie in der Arbeitszeit täglich gibt: bei Gleitzeit, bei der An- jetzt vorschlagen, nicht das Kind mit dem Bade aus- sammlung von Überstunden, bei Wochenarbeitszeiten. schütten, ob die Neuregelung nicht über das Ziel hinaus- Dazu sind längst Regelungen getroffen worden. Inzwi- schießt und Arbeitszeitkonten aus Arbeitgebersicht unin- schen gibt es aber auch Modelle und Entwürfe, die wei- teressant macht. Speziell die Regelung der Haftung des ter gehen, zum Beispiel Tarifvereinbarungen, bei denen Vorstandes bzw. Geschäftführers eines Unternehmens, längerfristige Vereinbarungen über Arbeitszeitkonten die zwar mit einer Escape-Klausel versehen ist, aber getroffen werden. Zum Teil werden dort Regelungen ge- dennoch eine Umkehr der Beweislast ist, wird aus mei- troffen, auch bei betrieblichen Abmachungen, die in ner Sicht dazu führen, dass viele Mittelständler diesen Grauzonen landen. Deswegen müssen wir ein paar Weg nicht beschreiten werden. Das kann nicht in unse- Dinge klarer regeln. rem Interesse sein. Warum ein neues Gesetz? Es gibt, wie gesagt, eine Man muss sich auch fragen, ob man zwingend vor- Vielzahl von Modellen zur Gestaltung der Arbeitszeit schreiben muss, dass diese Wertguthaben durch Dritte unabhängig von der Frage der Gleitzeit- und Kurzzeit- geführt werden, weil das gerade für kleinere Betriebe zu konten; Metall-, Elektro- und chemische Industrie sind einem hohen Abfluss von Kapital führen könnte. Es gibt auf diesem Gebiet sehr fortschrittlich. Diese Modelle ha- also viele Fragen, unter anderem auch die, warum Ar- ben die unterschiedlichsten Zielsetzungen, zum Beispiel beitszeitkonten künftig nur noch in Geldform und nicht die Freistellung von der Arbeitszeit während der Er- (B) mehr als Zeitkonten geführt werden können. Eine wirkli- werbszeit, den gleitenden Übergang in den Ruhestand (D) che Begründung liefert der Gesetzentwurf auch hierfür oder die Bereitstellung von Qualifikationszeiten. nicht. Gerade in dieser Zeit gibt es zwei Gründe, die es not- Im Ergebnis lässt sich feststellen: Die Richtung wendig machen, flexiblere Möglichkeiten zu haben, um stimmt. Wir sollten versuchen, mehr Flexibilität zu errei- etwas früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. chen, aber auf eine Art und Weise, die in der Praxis ak- Dazu leisten solche Lebensarbeitszeitkonten einen Bei- zeptiert wird; Herr Minister, Sie haben darauf hingewie- trag. Ein Grund ist die Gewissheit, dass wir irgendwann sen. Die Menschen müssen das Gesetz verstehen und einmal am Ende der 20er-Jahre dieses Jahrhunderts die anwenden wollen. Das ist im vorliegenden Fall nicht ge- Rente mit 67 haben werden. geben. Wir haben aber die Chance, im Ausschuss darü- ber zu beraten. Wir stehen für die Beratungen gerne zur (Beifall bei der CDU/CSU) Verfügung. Der zweite Grund ist, dass die Förderung der Altersteil- Ich bedanke mich. zeit durch die Bundesagentur für Arbeit auslaufen wird. Auch hier ist die Möglichkeit gegeben, entsprechende (Beifall bei der FDP) Vereinbarungen langfristig zu treffen und damit einen Ersatz dafür zu schaffen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir streben mit dem Gesetz also mehr Attraktivität Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang von Langzeitkonten an. Der Minister hat eben darauf Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion. hingewiesen, dass es schon länger Möglichkeiten gibt, (Beifall bei der CDU/CSU) aber Unsicherheiten vorhanden sind. Wir müssen dies at- traktiver gestalten. Das wird nur dann gelingen, wenn wir gemeinschaftlich einen Entwurf vorlegen, den die Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Menschen gut finden und verstehen. Wir müssen versu- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und chen, die rechtlichen Grauzonen zu beseitigen. Herren! Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absiche- Deswegen will ich auf drei Schwerpunkte eingehen, rung flexibler Arbeitszeitregelungen – wir nennen das in die in diesem Gesetzentwurf vorgesehen sind. Der erste der Kurzform Flexi II, weil es 1998 schon ein Flexi I gab – Punkt ist die Abgrenzung des Begriffs Wertguthaben. werden wir auf dem Weg, Arbeitszeitregelungen flexib- Wir müssen hier unterscheiden. Es gibt flexible Arbeits- ler zu gestalten und Arbeitnehmern die Möglichkeit zu zeitregelungen, die sich im kürzeren Bereich, im Bereich 19074 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Wolfgang Meckelburg (A) der werktäglichen, wöchentlichen Arbeitszeit zum Aus- ckere und freie Möglichkeit der Vereinbarung und Ge- (C) gleich eignen, zum Beispiel Überstunden, die angesam- staltung des Insolvenzschutzes hat oft dazu geführt, dass melt und wieder abgebaut werden. Diese helfen also, in- man auf Maßnahmen des Insolvenzschutzes gänzlich nerhalb des Betriebsablaufs zu Lösungen zu kommen verzichtet hat. Das kann nicht im Sinne der Betroffenen und die Arbeitszeiten flexibler zu machen. Dies ist einer- sein. Es darf nicht sein, dass man zum Teil über 30, seits im Sinne der Unternehmer, aber auch der Arbeit- 40 Jahre auf Lebensarbeitszeitkonten ansammelt und am nehmer. Um diese Regelungen geht es jetzt nicht. Ende feststellt, dass auf diesen Konten gar nichts mehr ist und dass man total benachteiligt ist. Das muss gere- Es geht bei Wertguthaben vor allem darum, dass län- gelt werden. Die Insolvenzschutzregelung ist wichtig. gerfristig Arbeitszeit und Arbeitsentgelt angesammelt werden. Dies geschieht immer mit dem Ziel, in der Zeit, Der Schutz vor Insolvenz war zwar vorgeschrieben, in der man sich freistellen lässt, formal im Betrieb be- wurde aber bei Nichteinhaltung der Regelung nicht schäftigt zu sein und eine Entlohnung zu bekommen, auf sanktioniert. Dies ist nach dem neuen Gesetzentwurf die Sozialabgaben und Steuern gezahlt werden müssen. möglich. Das heißt, die Entlohnung wird erst in dem Moment, in dem sie ausgezahlt wird, von der Versicherung verbei- Die Frage des Schadensersatzes habe ich gerade an- tragt und der Steuer unterzogen. Vorher wird sie auf ei- gesprochen. Da ich nur noch eine Minute Redezeit habe, nem Konto gesammelt. Das Ziel eines Wertguthabens ist gehe ich darauf nicht weiter ein. also nicht die flexible Gestaltung täglicher oder wö- chentlicher Arbeitszeiten, es dient nicht dem Ausgleich Ein weiterer Punkt dieses Gesetzentwurfs ist die be- von Produktions- und Arbeitszeitzyklen, gemeint sind grenzte Möglichkeit der Mitnahme von Lebensarbeits- also nicht Gleitzeit- und Kurzzeitkonten, sondern es geht zeitkonten. Herr Kolb, wir können gerne darüber reden. um angespartes Arbeitsentgelt, das man sozusagen in ei- Ich bin Gott sei Dank kein Jurist, wie ich manchmal nen Topf gibt und das der Freistellung von der Arbeits- sage. An dieser Stelle muss man wahrscheinlich ein fin- leistung dient, wenn man sie denn wünscht. diger Jurist sein, um eine Regelung zustande zu bringen. Ich habe die bisherigen Formulierungen im Gesetzent- Es gibt zwei Möglichkeiten. Zum einen gibt es ge- wurf so verstanden, dass es sehr schwer ist, da Portabili- setzliche Möglichkeiten, die immer wichtiger werden: tät in größerem Umfang herzustellen. Man muss wäh- Anspruch auf Freistellung bei der Elternzeit und bei der rend der Ausschussberatungen einmal austesten, was Pflege naher Angehöriger oder Anspruch auf Teilzeitar- geht und was nicht geht. Dabei müssen Juristen Formu- beit. Zum anderen gibt es die Möglichkeit, Freistellun- lierungshilfen geben. Einfach zu sagen: „Da muss mehr gen in Verträgen individuell zu vereinbaren. Auf gemacht werden“, ist zum jetzigen Zeitpunkt möglicher- (B) Deutsch: Man spart Arbeitsstunden, Geld, Urlaubstage weise verfrüht. (D) und was immer denkbar ist in einen Topf. Dieser Topf muss bis zu dem Zeitpunkt verwaltet werden, an dem (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Aus- man aus der Arbeit heraus will, während man formal nahmsweise könnte die FDP einmal Vor- weiter beschäftigt ist. Man bekommt dann auch ein Ge- schläge machen!) halt. In dem Moment werden erst die Sozialbeiträge und Steuern von dem Gesparten abgezogen, das in dem Topf Wir wollen jedenfalls erreichen, dass der Arbeitneh- enthalten ist. Es geht darum, dies sicherzustellen. Das ist mer bei einem Wechsel des Arbeitgebers die Möglich- ein Ziel dieses Gesetzes. keit einer begrenzten Mitnahme seines Lebensarbeits- zeitkontos hat. Es gibt die Möglichkeit, dass er mit dem Wertguthaben sollen in Zukunft nur noch als Arbeits- neuen Arbeitgeber eine Vereinbarung über eine Übertra- entgeltkonten geführt werden. Das bedeutet zwar immer gung trifft. Das ist natürlich der günstigste und beste noch, dass man Arbeitszeit einbringen kann, aber das Fall. Ich glaube, je attraktiver wir Lebensarbeitszeitkon- Konto muss als Arbeitsentgeltkonto geführt werden. ten gestalten, umso mehr werden wir bei Arbeitgebern die Bereitschaft finden, solchen Übertragungen zuzu- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum eigent- stimmen. lich?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Für die Arbeitgeber besteht die Pflicht, jährliche Konto- neten der SPD) auszüge zu erstellen. Das gibt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Sicherheit, weil sie dann wissen, Eine weitere Möglichkeit ist, dass dies von der Ren- was auf dem Konto ist. Es gibt auch die Möglichkeit, tenversicherung treuhänderisch übernommen wird. Das dies kontrollieren und prüfen zu lassen; darauf ist eben hat den Nachteil, dass es nicht richtig weiterentwickelt schon hingewiesen worden. Man hat einen Anspruch auf werden kann. Darüber muss man nachdenken. Wenn ich Entschädigung, wenn festgestellt wird, dass das Risiko es richtig verstanden habe, scheitert es bis jetzt an der nicht richtig abgesichert ist. fehlenden Arbeitgeberfunktion der Bundesagentur, die Führung der Wertguthaben generell durch Dritte: diese Funktion übernehmen müsste. Genauso gibt es bei Auch das ist in dem Gesetzentwurf vorgesehen. Privaten Schwierigkeiten mit der Definition. Da müssen Juristen heran. Bisher ist das nicht gelungen. Wenn es Insolvenzschutz ist der zweite zentrale Punkt. Bisher uns im Ausschussverfahren nicht gelingt, wäre ich auch haben die Vertragsparteien selber wählen können, wie nicht unglücklich; denn ich finde, wir kommen mit die- der Insolvenzschutz durchgeführt wird. Diese eher lo- sem Gesetzentwurf schon ein Stückchen weiter. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19075

Wolfgang Meckelburg (A) (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sehr (Zuruf von der CDU/CSU: Kann es sein, dass (C) richtig! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Sie das Thema verwechselt haben? – Frank Große Koalition der kleinen Schritte!) Schäffler [FDP]: Wer fragt sich denn noch ir- gendetwas?) Letztlich wäre es möglich, das Ganze wie bisher sozusa- gen als Störfall aufzulösen und an den Arbeitnehmer zu- Die Altenpflegerin fragt sich, wie sie mit 60 Jahren noch rückzugeben. die Kraft aufbringen soll, die schwere körperliche Arbeit zu bewältigen. Für viele wird aufgrund der Politik der Ich glaube schon, dass Sie recht haben, Herr Minister, Bundesregierung, aufgrund Ihrer Großen Koalition, nur dass wir mit diesem Gesetzentwurf etwas auf den Weg die Option des vorzeitigen Renteneintritts, allerdings mit bringen, was bei der Gestaltung von Lebensarbeitszeiten hohen Abschlägen bis zum Lebensende, bleiben. Das ist mittelfristig sicherlich eine Rolle spielen und die Freiheit das Hauptproblem. der Menschen erhöhen wird. (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Schönen Dank. Meckelburg [CDU/CSU]: Das, was wir heute beschließen, dient genau dem Gegenteil, Frau (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Kollegin!) Das Volumen der im Erwerbsleben zu leistenden Ar- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: beit hat sich erhöht. Das Arbeitstempo steigt stetig an. Für die Fraktion Die Linke gebe ich das Wort der Kol- Lebenslanges Lernen ist eine Voraussetzung, um am Ar- legin Dr. Barbara Höll. beitsmarkt bestehen zu können. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt müssen Sie aber langsam die Kurve zum vorliegenden Ge- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): setzentwurf kriegen! Sonst ist Ihre Redezeit Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gleich vorbei! – Dr. Stephan Eisel [CDU/ CSU]: Wie ist denn die Situation bei den Ur- Menschen in Deutschland arbeiten sehr viel – das sagte DGB-Chef Sommer am 15. September in der Süddeut- laubstagen im europäischen Vergleich? Kön- schen Zeitung. nen Sie dazu auch einmal etwas sagen?) In der beruflichen Praxis ist das aber noch nicht ange- (Jörg Rohde [FDP]: Dann muss es ja stimmen! – kommen. Im Gegenteil, die bisherigen Möglichkeiten Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wir zur Gestaltung der Lebensarbeitszeit waren im Wesentli- (B) brauchen keinen DGB-Chef, um das zu wis- chen auf die Altersteilzeitregelung beschränkt, die zum (D) sen!) 31. Dezember 2009 ausläuft und ersatzlos wegfällt. Sie arbeiten im EU-Vergleich sogar überdurchschnittlich (Frank Schäffler [FDP]: Ja! Gott sei Dank!) viel. Die tatsächliche Wochenarbeitszeit in Deutschland beträgt 41,1 Stunden. Dies ist nach einer europäischen Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf Studie zur Arbeitszeitentwicklung ein Spitzenplatz. Der (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha! Jetzt kom- Durchschnitt in den 27 EU-Staaten beträgt 40 Stunden men wir zum Thema!) Arbeit pro Woche. legt die Große Koalition nur eine billige Ersatzvariante Laut IAB leisteten jeder Arbeitnehmer und jede Ar- für das Auslaufen der Altersteilzeitregelung vor. beitnehmerin 2007 41,9 bezahlte Überstunden im Jahr. Das macht ein Gesamtvolumen von 1,45 Milliarden (Beifall bei der LINKEN – Frank Schäffler Überstunden aus. Erfahrungsgemäß fällt jedoch tatsäch- [FDP]: Wenn es wenigstens das wäre! Ist es lich die doppelte Anzahl an Überstunden an. Nicht aus- aber nicht! – Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: gezahlte Überstunden werden in der Regel in Gleitzeit- Ich bin begeistert! Kein einziger frei formu- oder Kurzzeitkonten geparkt, um kurzfristig Auftrags- lierter Gedanke! Wer hat Ihnen das nur aufge- lücken und Ähnliches zu überbrücken. schrieben? – Heiterkeit bei der CDU/CSU) Nicht zuletzt durch die Anhebung der Altersgrenze in Im Fokus hat sie dabei die Milderung der mit der Erhö- der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre sind hung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre verbundenen Modelle zur Arbeitszeitgestaltung wichtig. Probleme. Spätestens mit 40 Jahren fragt sich die Krippenerzie- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen in Zu- herin: Werde ich die Kleinen auch noch mit 60 Jahren so kunft Mehrarbeit leisten, die ihnen nicht unmittelbar be- locker hochheben können wie jetzt? zahlt wird. Stattdessen sollen ihre Arbeitszeitguthaben auf ein sogenanntes Wertguthabenkonto gelegt werden. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Denn die Der Gesetzentwurf sieht für die Arbeitnehmerinnen und sind dann 20 Jahre alt! – Heiterkeit bei der Arbeitnehmer nur eine begrenzte Nutzung ihres dadurch FDP) gewährten zinslosen Darlehens an die Arbeitgeber vor. Der Schweißer fragt sich, wie er das Dreischichtsystem (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE bewältigen wird. LINKE]: So ist das!) 19076 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Barbara Höll (A) Geregelt ist nur die Inanspruchnahme für Pflege, Kin- die bei der Deutschen Rentenversicherung Bund ein (C) derbetreuung, Teilzeitvereinbarung und vorzeitigen Ren- Wertguthaben haben, in ALG-II-Bezug fallen? Sind sie teneintritt. dann gezwungen, ihr Guthaben aufzulösen, oder können sie es, wie sie vielleicht geplant haben, behalten, um (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Nein! eher in Rente gehen zu können? Das ist ein Problem, zu Das ist anders verhandelbar!) dem Sie sich auf alle Fälle klar äußern müssen. Wir den- Alles andere unterliegt der Vereinbarung zwischen Ar- ken, dass an diesem Gesetzentwurf noch viel zu tun ist, beitgeber und Arbeitnehmer. Die ungleiche Verhand- damit dabei etwas Vernünftiges herauskommt. Wir sind lungsmacht wird dabei aber überhaupt nicht berücksich- gern bereit, Ihnen dabei zu helfen. tigt. Danke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Den Unternehmen steht es nach dem bisherigen Text des Gesetzentwurfes außerdem frei, mit ihren Arbeitneh- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: merinnen und Arbeitnehmern die Inanspruchnahme von Ich gebe das Wort der Kollegin Brigitte Pothmer, Wertguthaben auch zur Überbrückung von konjunkturel- Bündnis 90/Die Grünen. len Schwankungen oder Auftragsmängeln zu vereinba- ren. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Nein! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Das steht da nicht drin!) finde den Ansatz dieses Gesetzentwurfes richtig. Be- schäftigte brauchen mehr Zeitsouveränität. Das wird üb- Für die Arbeitgeberseite stellen Wertguthaben einen Li- rigens dann besonders wichtig sein, wenn wir endlich quiditätsvorteil dar, da die Sozialversicherungsabgaben ernsthaft darangehen, Frauen stärker in den Arbeits- erst bei der Auszahlung anfallen. markt zu integrieren. Sie haben es versäumt, mit diesem Gesetz die nach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wie vor vorhandenen Lücken zu schließen. Die unter- sowie bei Abgeordneten der SPD) schiedlichen Gleit- und Arbeitszeitkonten haben Sie im Rahmen der Ausweitung des Insolvenzschutzes nicht Wir wissen, dass Frauen nicht bereit sind, zu jeden einbezogen. Erfasst werden von Ihrem Vorschlag gerade Bedingungen, die Männer geschaffen haben, in den Ar- einmal 10,2 Prozent der existierenden Arbeitszeitkonten, beitsmarkt einzutreten. die sogenannten Langzeitkonten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es gibt auch (B) (D) (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das soll weibliche Chefs!) mehr werden!) Deswegen brauchen wir dringend eine größere Zeitsou- Kurzzeitkonten, die mit knapp 70 Prozent die große veränität. Flexibilität darf keine Einbahnstraße zulasten Masse ausmachen, bleiben aber außen vor. der Beschäftigten sein. (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meckelburg [CDU/CSU]: Das, was Sie da sa- Sie haben hier einen Gesetzentwurf vorgelegt und sa- gen, hat mit dem Thema dieser Debatte über- gen, dass Sie in diesem Bereich mehr Rechtssicherheit haupt nichts zu tun!) erreichen wollen. Ich finde, dass Sie das hinsichtlich ho- Dadurch können im Falle einer Insolvenz Zeitgutha- her Zeitwertguthaben tatsächlich auch schaffen, während ben in der Größenordnung von einem Monatslohn bis zu dies für niedrige Zeitwertguthaben aber eben nicht der mehreren Jahresgehältern unwiederbringlich verloren Fall ist. Nach Ihren Vorschlägen bleiben wir also bei der gehen. Selbst die von der Koalition angedachte Möglich- heutigen Situation, nämlich einer, wenn Sie so wollen, keit der Mitnahme der Zeitguthaben beim Wechsel des Klassengesellschaft bei den Langzeitarbeitskonten. Arbeitgebers ist keinesfalls ausgereift; denn sie ist nicht (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Nein, sie einklagbar. Zudem sind die vorgesehenen Kontrollmög- haben eine andere Funktion!) lichkeiten der Insolvenzsicherung unzureichend. Ihre Vorstellung ist, dass nur die Zeitguthaben vor ei- Die von Ihnen vorgeschlagene Möglichkeit der Über- ner Insolvenz geschützt sind, die einen Wert von unge- tragung auf die Deutsche Rentenversicherung Bund ist fähr 7 455 Euro überschreiten und zugleich einen Aus- so ausgestaltet, dass es sehr schwierig ist, sie in An- gleichszeitraum von mindestens 27 Monaten umfassen. spruch zu nehmen. Im Prinzip muss ein Arbeitnehmer Warum ist das Geld unterhalb dieser Größenordnung, ein Guthaben in der Größenordnung einer Jahresfreistel- das die Menschen eingezahlt haben, eigentlich nicht lung angesammelt haben, um es übertragen zu können, schützenswert? und dann bleibt es gebunden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der CDU/CSU: Wie lange fünf Mi- sowie des Abg. Hüseyin-Kenan Aydin [DIE nuten sein können!) LINKE]) In Ihrem Gesetzentwurf gehen Sie überhaupt nicht Warum ist nicht auch das Geld schützenswert, das einen auf die Frage ein: Was geschieht, wenn Arbeitnehmer, Ausgleichszeitraum von 27 Monaten nicht umfasst? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19077

Brigitte Pothmer (A) Glauben Sie wirklich, dass eine erquickliche Zahl von Wir wollen eine echte Übertragbarkeit bei Arbeitge- (C) Beschäftigten dieses Risiko eingeht und sich damit ab- berwechsel, und wir wollen auch, dass die Ansprüche findet, dass das Geld bis zu dieser Größenordnung nicht bei Freistellungen tatsächlich realisiert werden können. geschützt ist? Das muss man doch erst einmal angespart Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen noch haben. ein bisschen nachlegen und das noch ein wenig verbes- Wenn die Menschen zum Beispiel für eine Fort- und sern können. In der Sache müssen wir einfach weiter vo- Weiterbildung Geld ansparen, dann bleiben sie eigent- rankommen, als dieser Gesetzentwurf vorsieht. lich immer unterhalb dieser Größenordnung. Diese Ich danke Ihnen. Wertguthaben sind nach wie vor ungeschützt. Das kön- nen Sie eigentlich nicht wirklich vertreten wollen. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist keine qualitative Verbesserung im Vergleich zur Ist- situation. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wolfgang Grotthaus das Wort. Das WSI geht davon aus, dass ein Viertel aller Wert- (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) guthaben weiterhin ungeschützt bleiben wird. Ich glaube, dadurch wird sich die Gruppe derjenigen, die sich an diesem Projekt beteiligen, erheblich minimieren. Wolfgang Grotthaus (SPD): Das Geld derjenigen, die diese hohen Hürden überwun- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und den haben, ist zwar im Prinzip insolvenzgeschützt, aber Herren! Der eingebrachte Gesetzentwurf ist schon al- auch für sie wird es im Falle einer Insolvenz nicht leicht leine deswegen gut, weil wir uns schon vor der ersten sein, dieses Geld aus dem insolventen Betrieb tatsäch- Beratung sehr intensiv mit den Details beschäftigt ha- lich auch herauszuholen. ben. Wenn ein Arbeitgeber dieses Geld nicht hinreichend Lassen Sie mich zunächst von meinem Redekonzept schützt, dann gibt es keine Sanktionsmöglichkeiten ge- abgehen. Ich möchte einiges aus meiner Sicht klarstel- gen ihn; das hat keine Konsequenzen, außer der Tatsa- len, der ich ungefähr 16 Jahre mit Flexikonten in Gleit- che, dass das Konto aufgelöst wird. zeit gearbeitet habe. Erstens ist tatsächlich richtig, Frau Pothmer, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Volle Haftung!) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja! Im Dienst!) (B) Im positiven Falle erhält die Person das Geld möglicher- (D) weise zurück, aber mit ihren Planungen hinsichtlich ei- dass über eine Betriebsvereinbarung geregelt werden ner Weiterbildung, einer Auszeit für die Familie oder ei- kann, dass im Falle der Überschreitung der in der Be- nes Sabbatjahrs etc. ist es vorbei. Sie hat eben Pech triebsvereinbarung vorgegebenen Arbeitszeit – in unse- gehabt. rem Fall waren es zehn Stunden – der Überhang einem Langzeitarbeitskonto zugeführt werden kann. (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Wolfgang Grotthaus (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [SPD]: Ja, wenn der Arbeitgeber pleite ist!) NEN]: In welchem Betrieb waren Sie Be- triebsrat, Herr Grotthaus?) Ich will Ihnen einmal sagen, für wen dieses Konto wirklich etwas bringt – damit zeigt sich auch, für welche Das ist aber von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. Gruppe Sie Politik machen –: Dieses Konto ist etwas für Wir können eine solche Regelung nicht in den Ge- den Facharbeiter, der lange Zeit in einem Betrieb war setzentwurf aufnehmen; es ist andernorts zu regeln. Die – zum Beispiel bei Mercedes-Benz – und dieses Wert- IG BCE hat das schon in Tarifverhandlungen umgesetzt guthaben bzw. Zeitguthaben anlegt, um den Übergang in und entsprechende Richtlinien festgesetzt, sodass wir die den Ruhestand zu gestalten. Für ihn machen Sie Politik. Flexibilität der Tarifvertragsparteien ruhig einfordern (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE können. GRÜNEN]: Wer hat, dem wird gegeben!) Zweitens. Ich finde es an den Haaren herbeigezogen, Eine junge Frau, die zum Beispiel ihren Arbeitgeber wenn Frau Dr. Höll fragt, wie mit den ALG-II-Empfän- mehrfach wechselt – wir alle wissen, dass sich das Ar- gern verfahren wird. beitsleben insoweit geändert hat, als dass man den (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist Arbeitgeber im Regelfall häufiger wechselt –, deren Ar- wohl wahr!) beitgeber nicht damit einverstanden ist, dieses Wertgut- haben zu übernehmen, und die eigentlich geplant hatte, Zunächst einmal erhält man ALG I. zum Beispiel die Familienphase – die sogenannte Rush- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja!) hour des Lebens – ein bisschen zu entzerren, steht ge- nauso wie vorher da. Das ist wirklich eine Politik für Ich unterstelle einmal, dass ein ALG-I-Empfänger mit männliche Facharbeiter. einer vernünftigen Ratio, der über ein entsprechendes Guthaben mit geldwerten Vorteilen verfügt und die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hoffnung hat, innerhalb der nächsten drei bis vier Mo- 19078 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Wolfgang Grotthaus (A) nate wieder in Arbeit zu kommen, bereit ist, zunächst auf serer modernen Arbeitswelt sind und dass viele Arbeit- (C) sein Konto zurückzugreifen, um keine sozialen Einbu- nehmer und Arbeitgeber dies für unverzichtbar halten. ßen zu erleiden. Das Flexi-Gesetz hat einige Unwägbarkeiten aufge- Sie gehen im Übrigen davon aus, dass er während des wiesen. Es gab Unsicherheiten beim Ansparen von Bezugs von ALG I weiterhin nicht auf das Konto zu- Langzeitarbeitskonten. Der vorgelegte Gesetzentwurf rückgreift und insofern bewusst die sozialen Einbußen in sieht vor, dass die Langzeitarbeitskonten insolvenzge- Kauf nimmt. Das widerspricht meinen Erfahrungen mit schützt sein müssen. Es besteht nun eine Sanktionsmög- der Reaktion von Menschen, die auf einmal weniger lichkeit, wenn der Arbeitgeber den Insolvenzschutz Geld zur Verfügung haben als während ihrer Berufstätig- nicht gewährleistet. Es ist gesetzlich geregelt, dass es zu keit. einer externen Prüfung kommt, dass also außerhalb des Betriebes Stehende prüfen, ob der Insolvenzschutz gege- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE ben ist. Eine weitere Absicherung der durch den Arbeit- LINKE]: Weil ich vielleicht Rentenkürzungen nehmer erarbeiteten Zeit besteht darin, dass eine Rück- vermeiden will! Das ist doch nicht so schwer abwicklung des Langzeitarbeitskontos möglich wird, zu verstehen!) wenn der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen zum Insol- venzschutz nicht nachgekommen ist. Das bedeutet, dass Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hier im Gegensatz zu vorher keine Verluste für die Ar- Herr Kollege Grotthaus, gestatten Sie eine Zwischen- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer entstehen. frage der Kollegin Höll? Des Weiteren hat der Arbeitnehmer ein einklagbares Recht auf Schadenersatz, wenn etwas mit seinem Ar- Wolfgang Grotthaus (SPD): beitszeitkonto passiert, was nicht der Rechtslage ent- Aber gerne. spricht. Auch dies ist bislang rechtlich nicht abgesichert. Die Portabilität wird ermöglicht. Für uns ist von großer Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Wichtigkeit, dass die Sozialversicherungsbeiträge auf Herr Kollege, man kann sich auch darüber streiten, das angesparte Zeit- oder Geldguthaben zu zahlen sind. inwieweit die Ratio maßgeblichen Einfluss auf be- Dies bedeutet, dass es in Zukunft eine größere Sicherheit stimmte Entscheidungen hat, die wir Politiker mit ent- in Bezug auf die Rente geben wird. sprechenden Mehrheiten in diesem Hause treffen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das Meckelburg [CDU/CSU]) denkt man bei Ihnen aber sehr oft!) Ich sage aber auch: Nichts ist so gut, als dass es nicht (B) (D) Es kann aber durchaus sein – ich finde, das muss im verbessert werden kann. Wir reklamieren zumindest für Gesetzentwurf klargestellt werden –, dass jemand aus uns das Struck’sche Gesetz. Wir fragen, ob das Wertgut- bestimmten Gründen nur bis zum 60. Lebensjahr arbei- haben erst ab dem Dreifachen der monatlichen Bezugs- ten will oder kann und dafür ein Wertguthabenkonto an- größe abzusichern ist. Wir können uns vorstellen, dass gespart hat. Wenn er dann vielleicht mit 50 Jahren kein der im Gesetzentwurf genannte Zeitraum von 27 Mona- ALG I mehr bekommt und zwei oder drei Monate ten verkürzt wird. ALG II bezieht, aber sein Wertguthabenkonto nicht an- greifen will, dann ist die Gesetzgebung in der Pflicht, für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Klarheit zu sorgen: Muss das Vermögen aufgezehrt wer- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den, oder darf man darüber verfügen und ist nicht ge- Wir können uns zudem vorstellen, dass der für West- zwungen, es aufzubrauchen, bevor man dies möchte? deutschland geltende Wert in Höhe von 29 800 Euro für Wie wir in dieser Frage mit welchen Mehrheiten ent- die Portabilität eines Wertguthabens reduziert wird, so- scheiden, wird sich zeigen. Aber im Gesetzentwurf muss dass wir Ihrem Petitum, hier flexibler zu sein, entgegen- dieser Punkt klargestellt werden. Ich finde, das ist nicht kommen könnten. zu viel verlangt. Ich hoffe, insofern stimmen Sie mir zu. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sehr gut!) Wolfgang Grotthaus (SPD): Nein, ich gehe davon aus, dass diese Klarstellung – Sehen Sie, Frau Pothmer, dann fällt es Ihnen leichter, schon an anderer Stelle im Sozialgesetzbuch erfolgt ist, in der zweiten und dritten Lesung dem Gesetzentwurf nämlich dass zunächst das vorhandene Vermögen – egal vollen Herzens zuzustimmen. in welcher Form – aufgebraucht werden muss. Von da- Wir begrüßen, dass im Gesetzentwurf klar festge- her gehe ich davon aus, dass dies auch für die angesparte schrieben wird, für welche Zwecke das Wertguthaben Zeit zu gelten hat. Insofern muss nicht eigens betont genutzt werden kann. Wir sind der Auffassung, dass die werden, wie in dieser Frage zu verfahren ist. darüber hinausgehenden Zwecke, die nicht im Gesetz Ich glaube nicht, dass mit der Benennung der im Ge- festgeschrieben sind, durch die Tarifvertragsparteien ge- setzentwurf vorgesehenen Regelungen heute allen klar regelt werden können. Wir wissen, dass dieses Gesetz wird, welche positiven und langfristigen Auswirkungen erst spät greifen wird. Wir brauchen eine lange Anlauf- das Gesetz auf die Zeitsouveränität von Arbeitnehmerin- zeit, um den Menschen zu sagen, was wir damit errei- nen und Arbeitnehmern haben wird. Ich habe eben schon chen wollen. Deshalb müssen wir nach der zweiten und ausgeführt, dass flexible Arbeitszeiten Kennzeichen un- dritten Lesung für dieses Gesetz werben, und zwar nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19079

Wolfgang Grotthaus (A) nur bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, son- als Koalition können sagen: Wir haben nicht nur die (C) dern auch bei den Arbeitgeberverbänden, den Gewerk- Rente mit 67 eingeführt, weil wir langfristig orientiert schaften, den Betriebsräten und den Arbeitgebern selber, sind, sondern wir wollen auch bei der Frage langfristig sodass die Menschen deutlich sehen: Die Flexibilität orientiert sein, wo flexible Übergänge möglich sind. wird erhöht. (Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wenn also der Arbeitnehmer auf Arbeitslohn verzich- Herr Kollege! tet, ist es für ihn natürlich besonders wichtig, zu wissen, was seinem Lebensarbeitszeitkonto gutgeschrieben wird. Hier unterstützen wir den Arbeitnehmer doppelt: Wolfgang Grotthaus (SPD): Erstens werden bekanntlich die Sozialversicherungsbei- Ich komme zum Ende. – Die Möglichkeit zu haben, träge erst dann erhoben, wenn aus dem Guthaben ent- kurzfristig über ein Zeitguthaben zu verfügen und es zu nommen wird und das Geld wirklich im Portemonnaie nutzen, wenn familiäre Bedürfnisse es erforderlich ma- des Arbeitnehmers landet. Das gilt ebenso für die Be- chen, ist ebenfalls wichtig. steuerung. Erst wenn das Geld auf seinem Konto landet, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr Zeitguthaben erfolgt die Besteuerung. Das heißt also: Mit diesem Zeit- ist aufgebraucht!) konto kann sich der Arbeitnehmer ein Stück Flexibilität in seiner Lebensplanung erfüllen. Die Koalitionsparteien Das Gesetz ist gut. Ich gehe davon aus, dass wir nach wollen die Arbeitnehmer mit diesen Rahmenbedingun- einer langen Diskussion in diesem Jahr den Gesetzent- gen unterstützen. wurf gemeinsam verabschieden werden. Zweitens möchte ich auf die steuerliche Seite einge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) hen; denn ich bin Mitglied des Finanzausschusses, und wir werden dieses Thema auch im Jahressteuergesetz Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 2009 parallel beraten. Auch wenn der Arbeitnehmer den Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Betrieb verlässt, zu einem neuen Arbeitgeber wechselt Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion. und der Arbeitgeber das Guthaben fortführt, wird das Guthaben nicht versteuert. Ist der Arbeitnehmer nicht (Beifall bei der CDU/CSU) beschäftigt oder macht er sich beispielsweise selbststän- dig, dann wird das Guthaben auf die Deutsche Renten- Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): versicherung Bund übertragen. Auch hier gilt genau das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gleiche: Die Besteuerung setzt erst ein, wenn das Gutha- (B) Ich begrüße die große Harmonie, die bei diesem Gesetz ben abgerufen wird. Es ist natürlich fraglich – das ist (D) herrscht, auch von Vorrednern angesprochen worden –, ob es rich- tig ist, dass dieses Guthaben auf Dauer bei der Renten- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nein, so versicherung Bund verbleiben soll, und ob es dort gut harmonisch ist es nun doch nicht!) angelegt ist. Warum muss ein Arbeitnehmer, wenn er und die Bestätigung von allen Seiten, dass es sich um ein wieder in Arbeit ist, ein neues Lebensarbeitszeitkonto sehr wichtiges Gesetz handelt. Ich pflichte Ihnen bei, eröffnen? Das sollte im Rahmen der weiteren Beratun- Herr Minister, dass es sich um eines der modernsten Ge- gen überprüft werden. setze dieser Zeit handelt. Ich glaube, dass uns dieses (Beifall bei der CDU/CSU) Thema noch viele Jahre begleiten wird. In diesem Ge- setz ist sicherlich nicht alles geregelt, was wir uns der- Ein zentrales Thema für den Arbeitnehmer ist die zeit wünschen. Aber Lebensarbeitszeitkonten stellen für Sicherheit und die Qualität der Anlage. Die Frage wird den Arbeitnehmer ein besonders flexibles Instrument natürlich gestellt, wie das Geld angelegt wird und wie si- dar, sich während seines Arbeitslebens seine Wünsche cher und ertragreich die Anlage ist. zu erfüllen. Wir haben diesen Gesetzentwurf erarbeitet, weil wir all die Jahre einen Schwachpunkt gesehen ha- (Frank Schäffler [FDP]: Das soll er möglichst ben: den Insolvenzschutz der Arbeitnehmer. Das wich- selbst entscheiden können! – Jörg Rohde tigste Anliegen war, dies im Gesetzentwurf zu regeln; [FDP]: Hedgefonds!) denn bisher war im Insolvenzfall das Vermögen dem Wichtig ist, dass das Guthaben vom Vermögen des Ar- Arbeitgeber zugeordnet. Der Arbeitnehmer verlor im beitgebers getrennt ist. Dafür haben wir normalerweise Grunde sein gesamtes Vermögen. Wir haben in der irgendeinen Treuhänder oder einen sonstigen Dritten, Koalition mit dieser Regierungsvorlage erreicht, dass der das Guthaben verwaltet. Ich finde es allerdings be- der Arbeitnehmer geschützt ist. denklich, wie die Anlagevorschriften gewählt worden sind und welche Begrenzungen vorgenommen worden Ich möchte ein anderes Thema ansprechen. Laut sind. Nehmen wir als Partner zum Beispiel die Versiche- aktuellen Untersuchungen verbinden 74 Prozent der Ar- rungsgesellschaften, die ohnehin einer scharfen Kon- beitnehmer das Thema „Übergang vom Erwerbsleben in trolle durch das Versicherungsaufsichtsgesetz und nun den Ruhestand“ mit diesem Gesetz. auch den schärferen Anlagevorschriften unterliegen sol- Weil dieses Thema ein wichtiges Thema für die Ar- len. Auch die Versicherungsgesellschaften, die Garan- beitnehmer ist, auch wegen der Rente mit 67, die wir mit tien geben, unterliegen dann schärferen Anlagevor- dem Jahr 2029 erreichen, führen wir diese Debatte. Wir schriften als bisher. Versicherungsgesellschaften können 19080 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Klaus-Peter Flosbach (A) bekanntlich bis zu 30 Prozent ihrer Anlagen in Aktien Gabriele Hiller-Ohm (SPD): (C) halten. Hier werden sie aber auf 20 Prozent begrenzt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Das hat natürlich nichts mit spekulativen Anlagen zu Kollegen von der FDP, mit Ihrem Antrag, auf den ich tun. Wenn wir bedenken, dass viele Arbeitnehmer eher jetzt eingehen möchte, wollen Sie die Altersvorsorge für langfristig orientiert sind, dann kommt es darauf an, dass Geringverdiener attraktiv gestalten. wir eine vernünftige Vermögensstreuung haben. Gerade in diesem Bereich gehören, wenn man vernünftige Er- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wäre gebnisse erzielen will, auch konservative, breit gestreute dringend nötig!) Aktienanlagen dazu. Es handelt sich hier nicht um kurz- Ob Sie damit allerdings das Alter für Geringverdiener at- fristige, spekulative Anlagen. Denken wir nur einmal an traktiv gestalten, bezweifle ich. Warum, werde ich Ihnen die Riester-Rente. Selbst die Riester-Rente ermöglicht gern erklären. es, in Aktienfonds zu investieren. Deswegen sollten wir hier nicht zu enge Maßstäbe anlegen. Sie möchten erstens, dass Empfängerinnen und Emp- fänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs- (Frank Schäffler [FDP]: Da hat er recht!) minderung mehr hinzuverdienen können. Sie wollen die Ich komme zum Schluss. Das Gesetz bringt deutliche Anrechnungsregelungen an die des Zweiten Buches So- Verbesserungen für die Arbeitnehmer. Es konkretisiert zialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – die Pflichten zur Führung von Arbeitszeitkonten und angleichen. Im Ausschuss begründeten Sie Ihren Antrag verbessert den Insolvenzschutz. Wir tun etwas für die mit den Worten: So senken wir Altersarmut. Arbeitnehmer und sind in der Koalition mit diesem Ge- Liebe Kollegen von der FDP, so einfach ist das leider setz auf dem richtigen Weg. nicht. Sie packen das Problem der Altersarmut nämlich Vielen Dank. nicht an der Wurzel, sondern doktern an den Symptomen herum. Wir von der SPD-Fraktion (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wolfgang Grotthaus [SPD]) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Machen gar nichts!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: machen das anders. Wir setzen uns dafür ein, dass Al- Ich schließe die Aussprache. tersarmut erst gar nicht entsteht. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- (Jörg Rohde [FDP]: Ach, wo denn?) wurfs auf Drucksache 16/10289 an die in der Tagesord- Wer gute Arbeit hat und einen fairen Lohn erhält, dem (B) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es wird die Grundsicherung im Alter als letztes soziales (D) dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Auffangnetz erspart bleiben. Deshalb kämpfen wir ent- Dann ist die Überweisung so beschlossen. schlossen für gute Arbeit und für Mindestlöhne. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In welcher Höhe Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- denn, Frau Hiller-Ohm?) richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Deshalb ist es uns so wichtig, dass ältere Menschen nicht (11. Ausschuss) vorzeitig aus dem Arbeitsprozess aussortiert und zum al- – zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde, ten Eisen geworfen werden. Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin Hiller-Ohm, gestatten Sie eine Zwi- Altersvorsorge für Geringverdiener attrak- schenfrage des Kollegen Kolb? tiv gestalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, weiterer Nein, ich möchte jetzt gern fortfahren. Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eigentlich Riesterrente auf den Prüfstand stellen schade!) – Drucksachen 16/7177, 16/8495, 16/10356 – – Sie haben nachher noch Gelegenheit, sich zu äußern. Berichterstattung: Deshalb erarbeiten wir Vorschläge für flexible Über- Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm gänge aus dem Erwerbsleben in die Rente. Dazu gehören Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die die Fortführung der von der Bundesagentur geförderten Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Altersteilzeit oder die Weiterentwicklung der Teilrente. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Einen wichtigen Beitrag leisten auch der eben diskutierte Insolvenzschutz für Arbeitszeitkonten und die Möglich- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- keit, solche Konten mitzunehmen. gin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion. Schade, liebe FDP, dass Sie sich gerade beim Min- (Beifall bei der SPD) destlohn so hartnäckig verweigern. Hier könnten Sie tat- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19081

Gabriele Hiller-Ohm (A) sächlich etwas gegen Altersarmut und für ein besseres hilfeleistungen in Anspruch genommen werden können. (C) Leben vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tun. Die Grundsicherung ist eine Sozialhilfeleistung. Deshalb muss bis auf einen kleinen Schonbehalt alles an privatem (Beifall bei der SPD) Vermögen aufgebraucht werden, bevor Grundsicherung Aber was machen Sie? in Anspruch genommen werden kann. Alle erworbenen Ansprüche aus vorgelagerten sozialen Sicherungssyste- (Jörg Rohde [FDP]: Gute Politik!) men werden einbezogen. Dazu zählt natürlich auch die Sie wollen Rentnerinnen und Rentner zur Aufbesserung gesetzliche Rentenversicherung. ihrer Grundsicherung im Alter weiter zur Arbeit schi- Für nicht begründbar halten wir, warum die gesetzli- cken nach dem Motto: Verdient euch etwas dazu! Wer che Rente anders als die private behandelt werden soll. kaputt ist und dies im Alter nicht mehr kann, hat eben Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung sol- Pech gehabt. len voll auf die Grundsicherung angerechnet werden. (Dr. Karl Addicks [FDP]: Das stimmt doch so Die private Riester-Rente hingegen soll teilweise an- überhaupt nicht!) rechnungsfrei bleiben. Aus Gleichbehandlungsgründen, aber auch, um eine Diskriminierung der gesetzlichen Es ist selbstverständlich nicht verboten, im Rentenal- Rentenversicherung zu vermeiden, müssten dann gesetz- ter zu arbeiten. Auch wenn man Grundsicherung erhält, liche Renten ebenfalls in gleicher Weise anrechnungsfrei ist dies möglich. Aktuell sind etwa 176 Euro anrech- bleiben; das wäre logisch. Damit stiege aber die Zahl der nungsfrei. Erwerbsfähige Menschen im Arbeitslosen- begünstigten Personen der Grundsicherung im Alter geld-II-Bezug haben höhere Hinzuverdienstmöglichkei- stark an – mit den entsprechenden finanziellen Folgen. ten, und das ist richtig so; denn sie müssen sich den Herausforderungen des Erwerbslebens noch stellen. Als schwierig sehe ich darüber hinaus die unter- schiedliche Verbreitung von privater und betrieblicher Ich komme zur zweiten Forderung in Ihrem Antrag. Rente an. Leider greift die individuelle Altersvorsorge Sie schlagen vor, die Anrechnung von Einkommen aus bei Frauen und in den neuen Bundesländern immer noch privater und betrieblicher Altersvorsorge entsprechend weniger. Hier gilt es, die Benachteiligung dieser Perso- den Regeln für die Anrechnung von Erwerbseinkommen nen zu beseitigen. zu behandeln. Liebe Kollegen von der FDP, ich komme zu Ihrer drit- (Jörg Rohde [FDP]: Genau!) ten Forderung. Sie wollen das liberale Bürgergeld aus Mit anderen Worten: Wer fleißig privat vorsorgt, soll im dem Jahre 2005 wieder aufwärmen und setzen damit Alter belohnt werden. noch eines drauf. Mit Ihrem sogenannten Bürgergeld se- (B) hen Sie vor, die Freibeträge nochmals großzügig anzuhe- (D) (Jörg Rohde [FDP]: Ja!) ben. Diese Freibeträge sollen außerdem für das Zwölfte Dies müsse auch für die Menschen gelten, argumentie- und Zweite Sozialgesetzbuch gleichermaßen gelten. Wie ren Sie, die sich keine auskömmliche Altersrente auf- hoch das Finanzierungsvolumen sein wird und wie Sie bauen könnten und auf staatliche Leistungen im Alter es aufbringen wollen, dazu schwiegen Sie damals und angewiesen seien. Sie sollen einen Teil ihrer Riester- schweigen Sie heute. Rente behalten dürfen. (Jörg Rohde [FDP]: Wir sparen ja!) Das scheint auf den ersten Blick gerecht zu sein. Von Ihnen werden lediglich erhebliche Minderausgaben (Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE durch den vermeintlichen Wegfall ganzer Behörden un- GRÜNEN): Aber nur auf den ersten! terstellt. Das ist keine seriöse Rechnung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die meisten Menschen mit kleinem Einkommen oder gebrochener Erwerbsbiografie müssen sich die Raten für Meine Damen und Herren, ich habe aufgezeigt, wa- ihre private Altersvorsorge oft mühevoll vom Mund ab- rum der FDP-Antrag für die Altersvorsorge von Gering- sparen, verdienern keinerlei wegweisende Ideen liefert. Wir leh- nen den Antrag deshalb ab. Dem Antrag der Linken wird (Jörg Rohde [FDP]: Genau!) es nicht besser ergehen. Meine Kollegin Lydia Westrich während Nichtsparer ihr Geld in den Konsum stecken wird dies für die SPD-Fraktion begründen. können. Am Ende erhalten beide die gleiche staatliche (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Altersrente. der CDU/CSU) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und das kann wohl nicht sein!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Im Mai haben wir eine Expertenanhörung zu diesem Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Thema durchgeführt. Bei dieser Anhörung sind gute Kollegen Kolb. Gründe genannt worden, warum wir bei der heutigen Regelung bleiben sollten. Unser Sozialsystem beruht auf Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): dem sogenannten Nachranggrundsatz. Er sieht vor, dass Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben in Ihrer Rede alle Anstrengungen zu unternehmen sind, den Lebensun- davon gesprochen, der beste Schutz vor Altersarmut sei terhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, bevor Sozial- die Einführung von Mindestlöhnen. Meine Zwischen- 19082 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Heinrich L. Kolb (A) frage haben Sie nicht zugelassen. Weil Sie ja auf seriöse Seit zwei Jahrzehnten ist klar, dass die gesetzliche (C) Rechnungen wert legen, wollte ich Sie nur darauf auf- umlagefinanzierte Rente auf Basis des Generationenver- merksam machen, dass derjenige, der 40 Jahre lang für trages ein Auslaufmodell ist. einen Mindestlohn von 7,50 Euro arbeitete, am Ende ei- nen Rentenanspruch von 540 Euro hätte; wer 45 Jahre (Max Straubinger [CDU/CSU]: Ist sie nicht!) lang auf dieser Basis gearbeitet hätte, bekäme 603 Euro. 2001 hat man mit Einführung der Riester-Rente erstmals Das ist deutlich weniger als die Grundsicherung im Alter darauf reagiert. und bedeutet nach unserem Verständnis also Altersar- mut. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gute Reform!) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sind Sie Die Einführung der Riester-Rente war ein erster Schritt jetzt für einen höheren Mindestlohn?) in die richtige Richtung: weg von der alleinigen Alterssi- cherung durch die gesetzliche Rente hin zu einer Drei- – Ich wollte diese Frage an die SPD richten: Ist Ihre neue säulenabsicherung mit der Säule gesetzliche Rente zur Messlatte für einen flächendeckenden Mindestlohn jetzt Sicherung des Grundbedarfs und den Säulen private und nicht mehr 7,50 Euro, sondern, was sich rechnerisch betriebliche Vorsorge zur Absicherung des Lebensstan- eher ergäbe, 9 Euro? Vielleicht können Sie mir das in Ih- dards. rer Antwort auf meine Kurzintervention schnell sagen. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das möchten Sie gerne!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, bitte. Leider sind sowohl die rot-grüne Vorgängerregierung als auch die aktuelle Große Koalition nicht lange auf diesem Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Weg geblieben. Herr Kollege, ich stimme Ihnen zu: Der Mindestlohn Die betriebliche und private Vorsorge haben längst allein wird das Problem nicht lösen. Er ist aber ein Mittel nicht das Niveau erreicht, das nötig wäre, und die umlage- auf dem Weg zu einer Problemlösung. Wir brauchen finanzierte gesetzliche Rentenversicherung verschlingt nicht nur Mindestlöhne, sondern gute Löhne. nach wie vor Steuermittel in gigantischem Umfang. Alles, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten was in den vergangenen Jahren an vermeintlichen Refor- der LINKEN) men folgte, war nichts anderes als die Verschlimmbesse- rei einer nicht mehr zeitgemäßen Form der Alterssiche- Der Mindestlohn ist die untere Absicherung und soll rung. nicht das Ende der Fahnenstange sein. Aber wir hoffen (B) und kämpfen dafür, dass die Tarifparteien sich auf gute (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das (D) Lohnabschlüsse einigen. Dann ginge es den Menschen ist ja unglaublich!) besser; das wollen wir doch. Der Mindestlohn ist die un- tere Auffanglinie, an der Schluss sein muss. Auch bei der Riester-Rente haben Sie sich große Feh- ler erlaubt. Einen ganz entscheidenden Systemfehler der Es gibt ja heute Löhne, die noch weit unter 7,50 Euro Riester-Rente möchten wir von der FDP mit unserem liegen. Was ist denn mit diesen Menschen? Diese wer- heute zur Schlussabstimmung stehenden Antrag korri- den niemals eine Chance haben, im Alter aus der Grund- gieren. Leider haben alle Fraktionen des Bundestages sicherung herauszukommen. Das wird nur mit guten schon in den Ausschussberatungen angekündigt, gegen Löhnen für gute Arbeit gelingen. Deshalb kämpfen wir unseren Antrag und auch gegen die Meinung der über- darum und setzen uns dafür so sehr ein. Ich hoffe, dass wiegenden Zahl der Experten in der Anhörung zu unse- auch Sie noch einmal in sich gehen und uns in dieser für rem Antrag zu stimmen. die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch- land wichtigen Frage unterstützen. (Andrea Nahles [SPD]: Folgerichtig!) (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb Rot und Grün wollen uns nicht folgen, weil sie den fol- [FDP]: Dann braucht man auch gute Arbeitge- genreichen Konstruktionsfehler der Riester-Rente nicht ber, die gute Arbeitsplätze bereithalten!) eingestehen wollen. CDU und CSU schweigen trotz bes- seres Wissen vieler Kollegen aus Gründen der Koali- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tionsdisziplin, und den Damen und Herren von Links- Nächster Redner ist der Kollege Jörg Rohde, FDP- außen geht unser Antrag nicht weit genug. Fraktion. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist ja (Beifall bei der FDP) ein Ding, dass ihr einmal unterschiedlicher Meinung seid!) Jörg Rohde (FDP): Sachliche Argumente hat leider niemand von Ihnen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Der Grundgedanke der Riester-Rente ist folgender: Kollegen! Frau Hiller-Ohm, Sie haben knapp das Thema Wer privat zusätzlich vorsorgt, um später im Alter einen verfehlt. Statt hier über ein Problem zu reden, das Mil- lionen von Menschen haben, sind Sie ausgewichen und höheren Lebensstandard zu haben und nicht auf staatli- haben keine Antwort gegeben. che Unterstützung angewiesen zu sein, wird dafür vom Staat mit einem nicht unerheblichen Zuschuss gefördert. (Beifall bei der FDP) So weit, so gut, meine Damen und Herren. Nun hat sich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19083

Jörg Rohde (A) jedoch herausgestellt, dass eine Gruppe von Rentnern 100 Euro monatlich anrechnungsfrei eine Betriebs- oder (C) nicht in den Genuss einer Riester-Rente kommt, selbst Riester-Rente beziehen können. wenn sie einmal Jahrzehnte lang in einen Riester-Vertrag (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Guter Vor- eingezahlt haben werden: Denn bei allen Rentnerinnen und Rentnern, deren gesetzliche Rente so gering ist, dass schlag!) sie zusätzlich auf Grundsicherung im Alter angewiesen Darüber hinausgehende Ansprüche bis 800 Euro monat- sind, wird der Riester-Renten-Anspruch uneingeschränkt lich bleiben zu 20 Prozent und Ansprüche bis auf die Grundsicherung angerechnet. Die Riester-Rente 1 200 Euro zu 10 Prozent anrechnungsfrei. dieser Menschen wird komplett vom Grundsicherungs- träger vereinnahmt. Sie erhalten keinen einzigen Cent Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, die- mehr als alle anderen Rentner, die nicht privat vorge- ser Vorschlag der FDP ist nicht nur sozialpolitisch drin- sorgt haben. Werte Kolleginnen und Kollegen hier im gend zur Umsetzung empfohlen, sondern auch ord- Deutschen Bundestag, das ist eine Sauerei ungeheuren nungspolitisch. Ausmaßes. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP – Max Straubinger [CDU/ NEN]: Und das glauben Sie wirklich?) CSU]: Sehr parlamentarisch! – Weiterer Zuruf Ich weiß, dass dies den Kolleginnen und Kollegen des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] links der Mitte zumeist egal ist, aber wenigstens von der [DIE LINKE]: Harsche Worte!) Union hätte ich mir etwas Unterstützung gewünscht. Gerade die Menschen, die aus welchen Gründen auch Denn es gibt keinen Grund dafür, dass die Grenzen bei immer über ein sehr niedriges Einkommen verfügen und der Grundsicherung im Alter enger gesteckt sein sollen dennoch etwas fürs Alter zurücklegen, werden rückwir- als beispielsweise bei ALG-II-Empfängern, also arbeits- kend dafür bestraft, indem man ihre Riester-Rente zu losen Erwerbsfähigen. Wir von der FDP wollen, dass für 100 Prozent vom Grundsicherungsanspruch abzieht. alle Menschen, die auf staatliche Unterstützung ange- Dieses Signal ist verheerend. Es zerstört jedes Vertrauen wiesen sind, gilt: Tragt dazu bei, diesen Zustand zu über- in die staatlich geforderte und geförderte Riester-Rente. winden. Gerade für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkom- (Beifall bei der FDP) men ist nämlich angesichts des sinkenden Rentenniveaus bei der gesetzlichen Rente private und betriebliche Vor- Wir honorieren dies, indem wir euch Hinzuverdienste sorge unerlässlich. All diesen Menschen sagen Sie von zumindest teilweise belassen. CDU, CSU, SPD und Grünen heute: Wenn ihr keine Aussicht mehr auf eine Rente über Grundsicherungs- (Zuruf von der SPD: Das ist ja Staatshörigkeit, Herr Rohde!) (B) niveau habt, braucht ihr auch nicht privat vorzusorgen; (D) denn der Sozialhilfeträger kassiert es eh ein; und wenn Unterschätzen Sie nicht die Zahl derer, auf die in den ihr schon gespart habt, dann kündigt einfach euren Ver- nächsten Jahren mein gerade skizziertes Szenario zutref- trag und verzichtet auf die bis zu 92 Prozent staatlichen fen wird. Denn glücklicherweise sorgen immer mehr Zuschüsse. Dann bleiben euch wenigstens die paar Euro, Menschen zusätzlich für das Alter vor. Darunter sind die ihr sonst selbst eingezahlt habt. – Das ist die Bot- auch viele Geringverdiener und Menschen mit unterbro- schaft an die Menschen, die Sie von Union, SPD und chenen Erwerbsbiografien. All diesen Menschen sagen Grünen heute aussenden. Sie wahrscheinlich heute ins Gesicht: Du machst dich (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider richtig!) zwar für die Riester-Rente krumm, aber profitieren wirst du davon nicht. Die FDP hat eine einfachere Botschaft: Die Formel „Wer spart, muss mehr haben als der, der nicht spart“ In diesem Haus wird völlig zu Recht häufig über das muss gelten. Thema Altersarmut geredet. Heute können Sie mit ei- nem einfachen Ja zu unserem Antrag einen großen Bei- (Beifall bei der FDP) trag gegen die in einigen Jahren drohende Altersarmut Wer die Menschen zu privater und betrieblicher Vor- vieler Menschen leisten. Nehmen Sie diese Chance sorge ermuntern möchte, muss auch garantieren, dass wahr, meine Damen und Herren! Stimmen Sie dem An- sich das Engerschnallen des Gürtels später auszahlt. trag der FDP zu! (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Zum Antrag der Linken. Wir haben genügend Daten, die belegen, dass wir die Riester-Rente nicht auf den Das ist auch der grundlegende Unterschied, Frau Prüfstand stellen müssen. Hiller-Ohm: Die freiwillige Einzahlung in die Riester- Rente muss geschützt werden. Die gesetzliche Verpflich- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE tung zur gesetzlichen Rentenversicherung ist allerdings LINKE]: Sie haben überhaupt keine Daten, gegeben, und insofern ist es ein klarer Unterschied zwi- Herr Rohde!) schen freiwilliger Leistung und verpflichtender Leis- Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. tung. Deswegen fordern wir eine unbürokratische Frei- betragsregelung für Betriebs- und Riester-Rentner, die Vielen Dank, meine Damen und Herren. auf Grundsicherung angewiesen sind. (Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe Der Vorschlag der FDP lautet: Jeder Bezieher von [CDU/CSU]: Sehr schlechte Abschiedsrede, Grundsicherung soll zusätzlich bis zu einer Höhe von Herr Rohde! Sehr schlechter Abgang!) 19084 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – Ich bitte um Entschuldigung für die kleine flapsige Be- (C) Ich gebe dem Kollegen Peter Weiß von der CDU/ merkung. – Bis Mitte dieses Jahres sind jedenfalls CSU-Fraktion das Wort. 11,6 Millionen Riester-Renten-Verträge abgeschlossen worden. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist gerade ein Markenzeichen der Großen Koali- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): tion, dass wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- bei dieser notwendigen zusätzlichen Altersvorsorge gen! Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in nicht alleine lassen, sondern sie nach Kräften unterstüt- Deutschland interessiert vor allen Dingen eine Frage: zen wollen. (Jörg Rohde [FDP]: Was bleibt netto übrig?) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sagen Sie Wie soll ich mich verhalten, damit Altersarmut für mich einmal ein Beispiel!) eines Tages tatsächlich vermieden wird und ein Fremd- Ich darf erinnern: Wir haben in dieser Legislaturperiode wort bleibt? – Auf diese Frage wollen sie eine ehrliche, bereits beschlossen, die Förderung der Riester-Renten- konkrete Antwort haben. Verträge deutlich zu verbessern. Ab diesem Jahr gibt es (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) 300 Euro pro Kind als staatlichen Zuschuss für einen Diese Antwort kann nur heißen: Zusätzliche Alters- Riester-Renten-Vertrag. Wir haben neu eingeführt, dass vorsorge zur Ergänzung der gesetzlichen Rente schützt unter 25-Jährige bei einem Erstabschluss 200 Euro Zu- am besten gegen Altersarmut. schuss vom Staat zusätzlich bekommen. Wir haben ein- geführt, dass zukünftig auch der Erwerb privat genutzten (Beifall bei der CDU/CSU) Wohneigentums als Form der Altersvorsorge von uns Wenn wir als Parlamentarier gegenüber den Arbeit- zusätzlich gefördert wird. Wir haben die Entgeltum- nehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Land, die wandlung auf Dauer steuer- und sozialversicherungsab- diese ernsthafte Frage stellen, verantwortlich handeln gabenfrei gestellt. wollen, dann sollten wir alles vermeiden, was diese Ant- wort verunklart und die Menschen verunsichert. Wir (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da mussten wir sollten ihnen eine klare und verlässliche Antwort geben, euch aber mehr treiben, als ihr selbst gegangen und die heißt eben: Zusätzliche Altersvorsorge ist der seid!) beste Weg, um sich vor Altersarmut zu schützen. – Auf Wir unterstützen also quasi mit indirekter Subvention diesem Wege sollten sich die Arbeitnehmerinnen und den Aufbau betrieblicher Altersvorsorge. Arbeitnehmer in Deutschland nicht verunsichern lassen. (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Die klare Botschaft an alle Arbeitnehmerinnen und (D) Rohde [FDP]: Das ist unstrittig, Herr Kol- Arbeitnehmer in unserem Land lautet: Nutzen Sie bitte lege!) diese Chancen zusätzlicher Altersvorsorge! Verschenken Sie nicht das Geld, das wir Ihnen seitens des Staates zur Die Umstellung der deutschen Altersvorsorge auf ein Verfügung stellen! Wer vorsorgt, ist auf der sicheren Dreisäulensystem aus gesetzlicher Rente – diese wird Seite. bedeutsam bleiben, und Sie, Herr Rohde, sollten sie nicht kaputtreden, wie Sie es gerade eben gemacht haben –, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit Ausnahme (Beifall bei der CDU/CSU) derer, die zu wenig verdienen! Jetzt reden Sie aus betrieblicher Altersvorsorge und aus privater kapital- einmal über die, die nicht so viel verdienen!) gedeckter Vorsorge ist notwendig, um den demografi- schen Wandel zu bewältigen und um mehr Sicherheit im Umso unverständlicher ist, dass leider in einzelnen Alter zu gewährleisten. Medienberichten Übrigens: Obwohl es einige Jahre gebraucht hat, ist (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: diese Botschaft bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Haben Sie die inzwischen gelesen?) nehmern in Deutschland mittlerweile angekommen. Denn sie handeln entsprechend. und jetzt auch noch in zwei Anträgen – von der Linken und von der FDP – ausgerechnet das Erfolgsmodell der (Jörg Rohde [FDP]: Zu einem Drittel!) privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge schlechtgere- Die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die det werden soll. Das ist der eigentliche Inhalt dieser An- sich eine Betriebsrentenanwartschaft erarbeiten, steigt träge, und es ist auch der eigentliche Grund, warum wir kontinuierlich – heute sind es bereits über 65 Prozent; als Koalitionsfraktion beiden Anträgen nicht zustimmen wir wollen selbstverständlich, dass es noch mehr werden –, werden. und gerade in den letzten Jahren ist die Anzahl der Neu- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na, na!) abschlüsse sogenannter Riester-Renten-Verträge – der Kollege Riester ist extra anwesend, damit er wieder ein- Wer das Motto ausgibt: „Lasst das mit der privaten mal seinen Namen in einer Debatte hören darf – Vorsorge bleiben, es nützt eh nichts“, der handelt nicht (Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND- nur fahrlässig und unverantwortlich, er führt die Men- NIS 90/DIE GRÜNEN]) schen schlichtweg hinters Licht. sprunghaft angestiegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19085

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Er treibt zahlreiche Menschen geradezu erst recht in die Deswegen ist die Botschaft an ihn: Sorge ab dem ersten (C) Altersarmut. Solch unverantwortliches Reden muss ge- Euro Verdienst zusätzlich für dein Alter vor; denn dann stoppt werden. ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass du mit der Rente aufgrund deiner beruflichen Karriere und mit der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zusätzlichen Altersvorsorge mehr bekommst als nur die neten der SPD) Grundsicherung. Das ist doch die Botschaft, die wir aus- senden müssen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das Best- des Kollegen Rohde? Case-Szenario! Jetzt reden wir aber über den Worst Case!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Wir brauchen keine neuen Berichte, wie sie von den Ja, selbstverständlich. Linken gefordert werden. Die Linke stellt Anträge, neue Berichte zu erstellen, doch nur deswegen, um die Men- Jörg Rohde (FDP): schen zu verunsichern. Die Bundesregierung wird im Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. – Sie haben recht: November den Rentenversicherungsbericht 2008 und Sie haben zwei Anträge vorliegen, von den Linken und den Alterssicherungsbericht 2008 vorlegen, der uns über von der FDP-Fraktion. Sie haben aber vergessen, zu er- die gesamte Breite der Alterssicherung Auskunft geben wähnen – da bitte ich Sie um Bestätigung –, dass unse- wird. Dann wird jeder nachlesen können, dass das Drei- rem Antrag eine Anfrage an die Bundesregierung zu- säulenmodell funktioniert. Wir brauchen daher keine zu- grunde liegt, die Zahlen zum Vorschein gebracht hat, sätzlichen Berichte. Es wäre besser, alle Abgeordneten- welche uns zum Handeln veranlasst haben. Wir sehen kollegen und die Öffentlichkeit würden die vorhandenen ein großes Problem für ungefähr ein Drittel der Riester- Berichte gründlich lesen und studieren. Sie würden dann Sparer. Aufgrund der Aussagen der Bundesregierung zu dem Schluss kommen, dass das Dreisäulenmodell ge- sind 2 Millionen bis 4 Millionen Menschen betroffen, gen die Altersarmut hilft. weil sie ein sehr, sehr geringes Einkommen haben und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) deswegen möglicherweise in die Personengruppe fallen, Ich will konkrete Zahlen nennen. Deutsche Bank Re- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: search hat kürzlich eine Studie vorgelegt, die Folgendes Frage?) aussagt: Bezieher von Durchschnittseinkommen – also Menschen, die ihr Leben lang ein Durchschnittseinkom- (B) die, sage ich einmal, enteignet werden könnten. Stim- (D) men beziehen; das sind zurzeit 30 000 Euro jährlich – men Sie mir zu, dass erstens die Zahlen der Bundes- regierung das belegen – die Zahlen sind zwar schon ein (Jörg Rohde [FDP]: Um die geht es hier aber Jahr alt, und wir beraten schon einige Zeit darüber – und nicht!) dass zweitens bisher in der Debatte weder von der SPD noch von Ihnen ein Beitrag zur Lösung dieses Problems haben nach 20 Jahren, in denen sie Beiträge in die ge- angedeutet wurde? setzliche Rentenversicherung und Beiträge in einen Riester-Renten-Sparvertrag eingezahlt haben, eine Al- tersvorsorge aufgebaut, die über dem Grundsicherungs- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): niveau liegt. Das ist doch eine tolle Leistung. Diejeni- Herr Kollege Rohde, es ist richtig, dass es in der Wis- gen, die nur die Hälfte des Durchschnittseinkommens senschaft und in den politischen Parteien und Gruppie- ein Leben lang verdienen, erhalten nach immerhin rungen verschiedene Vorschläge gibt, die aufgrund des 36 Jahren eine Leistung aus gesetzlicher Rente und sinkenden Niveaus der gesetzlichen Rente auf eine zu- Riester-Rente, die oberhalb des Grundsicherungsniveaus sätzliche Sicherung für künftige Generationen von Rent- liegt. nerinnen und Rentnern abzielen. Es gibt dazu noch kei- nen Konsens. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir auf (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber die Leute diesem Weg in den kommenden Jahren zusätzliche Si- mit 7,50 Euro Stundenlohn haben nicht das cherungsklauseln in unser Rentenrecht einbauen werden. Geld!) Die Frage ist, wie sie aussehen werden. Angesichts dieser Zahlen muss eigentlich jeder kon- sequent sagen: Jawohl, ich vertraue darauf, dass ich es Aber die entscheidende Frage ist doch die: Welche aus eigener Leistung mit der gesetzlichen Rente und der Botschaft geben wir heute einem jungen Menschen? Ein Riester-Rente schaffen kann, nicht auf Grundsicherung junger Mensch, der heute anfängt zu arbeiten, vielleicht angewiesen zu sein, sondern ein Niveau zu erreichen, im Niedriglohnsektor, plant doch nicht, zeit seines Le- das mich vor Altersarmut schützt. bens, bis zum 67. Lebensjahr, im Niedriglohnsektor zu bleiben. Ein junger Mensch will doch, genauso wie die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) jungen Menschen in der Vergangenheit, beruflich Kar- riere machen, mehr verdienen, zu einem besseren Ver- Weil das in der Altersarmutsdebatte totgeschwiegen dienst kommen! wird, möchte ich daran erinnern, dass 1957 mit der Einführung der dynamischen Rente eine (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!) der größten sozialpolitischen Reformen, wenn nicht so- 19086 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Peter Weiß (Emmendingen) (A) gar die größte sozialpolitische Reform in der Geschichte (Jörg Rohde [FDP]: Für die Demokratie! – (C) Nachkriegsdeutschlands geschaffen hat. Bis 1957 war es Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Deswegen sind so, dass über 70 Prozent der Rentnerinnen und Rentner Sie so sauer!) in Deutschland von ihrer Rente nicht leben konnten und beim Staat Sozialhilfe beantragen mussten. Das war die die übrigens nicht von der Allianz gedruckt werden, son- Situation vor 51 Jahren. Mit der dynamischen Rente ha- dern die aus den Beiträgen der Versicherten kommen ben wir es geschafft, dass heute gerade noch 2,3 Prozent und die mit Sicherheit an eine Stelle nicht mehr fließen, der Rentnerinnen und Rentner Grundsicherung im Alter nämlich in die Altersvorsorge. – so heißt heute die Sozialhilfe für ältere Menschen – be- (Beifall bei der LINKEN) antragen müssen. Das ist die große sozialpolitische Leis- tung des deutschen Alterssicherungssystems. Diese Pflege der politischen Landschaft ist offensicht- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist heute ein lich gut angelegtes Geld, denn in Ihren Jubelarien für die relativ günstiger Ausschnitt! Es wird aber lei- private Altersvorsorge ist noch nicht einmal der Hauch der wieder schlechter!) eines Zweifels zu entdecken. Wir wollen mit der Förderung des Dreisäulenmodells (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das geht und mit der Unterstützung der Sparanstrengungen im jetzt ein bisschen weit, Herr Kollege!) Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge und der kapi- Da kann man nur noch sagen: Wegsehen, ignorieren, ba- talgedeckten privaten Altersvorsorge dafür sorgen, dass gatellisieren. Auch da, Herr Weiß, haben Sie gestern im es keine Rückschritte bei der hervorragenden Entwick- Ausschuss ein echtes Highlight geliefert, als Sie gesagt lung in der Alterssicherungspolitik Deutschlands gibt, haben, die letzte kritische Berichterstattung zur Riester- sondern dass für die übergroße Mehrheit der Deutschen Rente liege drei Monate zurück. Eben haben Sie ein bis- in Zukunft gilt: Altersarmut ist ein Fremdwort. Zu die- schen etwas anderes gesagt, aber ich kann Ihnen gern sem Weg, den wir eingeschlagen haben, gibt es keine Al- hier darstellen, was es in den letzten zwei Monaten an ternative. Berichterstattung gab. Vielen Dank. Da haben wir beispielsweise die Süddeutsche Zeitung. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Unter dem Titel „Die Riester-Abzocke“ war dort zu le- sen: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Viele Riester-Sparer füttern ein Monster namens Fi- Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider, nanzindustrie: Ihre staatlichen Zulagen kommen Fraktion Die Linke. (B) nicht der Altersvorsorge zugute, sondern wandern (D) (Beifall bei der LINKEN) in die Tasche der Anbieter. Ein anderes unverdächtiges Magazin, das Manager Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Magazin, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss schon sagen, Herr Weiß, Ihre Reden sind eini- (Andrea Nahles [SPD]: Was heißt denn germaßen vorhersehbar. Es ist immer dasselbe: „unverdächtig“?) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Immer gut!) beschreibt eine Form der Abzocke, die auch bei einigen Sie feiern immer auf die gleiche Art und Weise die anderen Zeitschriften nachzulesen war. Dort ist die Rede Riester-Rente als Erfolgsmodell und werfen dabei mit davon, wie der Gewinn der Versicherungsunternehmen Konfetti und Luftschlangen. Wer nicht mitfeiert, sondern im Grunde genommen dadurch gemehrt wird, dass man kritische Fragen stellt, egal von welcher Seite des Hau- von einer Lebenserwartung von über 90 Jahren ausgeht, ses, ist ein böser Bube und führt die armen Menschen sodass die Risikoüberschüsse nur den Menschen zugute- hinters Licht. kommen, die deutlich über 90 Jahre alt werden. Das ist ein wirklich toller Erfolg. Aber so ganz unrecht haben Sie ja nicht, Herr Weiß. Ich wollte Ihnen das eigentlich ersparen, aber nach Ihrer (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Rede will ich auf diesen Punkt noch einmal hinweisen. Wie eine Versicherung funktioniert, wissen Sie Tatsächlich ist die Riester-Rente zumindest für die Versi- sowieso nicht!) cherungsunternehmen ein Erfolgsmodell: 12 Milliarden zusätzlicher Umsatz in der privaten Altersvorsorge, das Jetzt zu einem Test der Zeitschrift Finanztest. Finanz- ist wahrhaftig ein fantastisches Geschäft. Da lässt sich test hat übrigens bis jetzt die Riester-Renten immer über- die Allianz auch in diesem Jahr nicht lumpen: durchschnittlich gut beurteilt. 60 000 Euro für die CDU, (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wie hoch (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Textbau- war die DDR-Rente noch einmal?) stein kennen wir schon!) – Wissen Sie, Herr Brauksiepe: Das ist so dümmlich. Sie 60 000 Euro für die SPD, 60 000 Euro für die FDP, können Renten natürlich nur vergleichen, wenn Sie auch 60 000 Euro für die CSU und natürlich 60 000 Euro auch die tatsächlichen Lebenshaltungskosten miteinander ver- für die Grünen. Das macht 300 000 Euro, gleichen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19087

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em- In einer Fernsehsendung wurde der Eindruck erweckt, es (C) mendingen] [CDU/CSU]: Die Rente muss et- würde sich für Beschäftigte mit Versicherungszeiten von was mit der Lebensleistung zu tun haben!) 30 Jahren, für Menschen mit niedrigem Einkommen und für Langzeitarbeitslose überhaupt nicht lohnen, privat Die Zeitschrift Finanztest hat 53 Versicherungsanbie- vorzusorgen. ter überprüfen wollen. Davon hat sie von 24 sicherheits- halber schon einmal gar keine Auskünfte über die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!) Gebühren und Kosten bekommen, die dort anfallen. Von In der Folgezeit haben sich nicht nur die FDP, sondern den übrigen Anbietern wurde gerade einmal acht mit teilweise auch Vertreter der Großen Koalition in einen „gut“ und nur zwei mit „sehr gut“ bewertet. Das heißt, Wettstreit begeben: Wir haben täglich neue Vorschläge 80 Prozent werden von der Zeitschrift Finanztest im zu Freibeträgen und zur Grundsicherung gehört, und Grunde genommen so eingeschätzt, dass man sie nicht zwar von verschiedenen Seiten. ernsthaft irgendjemandem empfehlen kann. Aber Sie halten das für ein Erfolgsmodell. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Können Sie den Kollegen von der Großen Koalition noch ein- Deshalb fordern wir – das ist für mich sehr gut nach- mal nennen?) zuvollziehen –, dass die Wirksamkeit der Riester-Rente überprüft wird. Wir machen konkrete Vorschläge, wel- Die Linke hat den Antrag „Riesterrente auf den Prüf- che Fragestellungen in eine solche Überprüfung einzu- stand stellen“ vorgelegt. Sie, meine Damen und Herren, beziehen wären. wollen die Riester-Rente aber nicht nur evaluieren, Sie wollen sie abschaffen. Sagen Sie das doch ehrlich, Ich darf Sie daran erinnern: Das fordern nicht nur wir, schließlich steht das in der Begründung. sondern das hat in der Anhörung eine recht illustre Ge- sellschaft für gut befunden. Das haben nämlich der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) DGB, der Bund der Steuerzahler in Bayern, die Deut- Wir Grünen haben schon lange auf die steigende Al- sche Rentenversicherung Bund, der Sozialverband tersarmut hingewiesen. Wir forderten die Bundesregie- Deutschland und die Einzelsachverständigen Frau rung wieder und wieder auf, schnellstens vorbeugende Queisser und Herr Fachinger begrüßt. Sie haben alle ge- Maßnahmen gegen Altersarmut zu beschließen; sagt, dass es grundsätzlich eine vernünftige Idee sei, an dieser Stelle die Wirksamkeit der Riester-Rente zu über- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – prüfen. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nichts dage- gen getan! Wann habt ihr denn regiert?) Aber Sie machen es nicht mit. Die einzige Begrün- denn hier schlummert in der Tat eine gesellschaftspoliti- (B) dung, die Sie dafür liefern, ist, dass wir die Riester- (D) Rente schlechtreden wollen. Ich kann das nicht nach- sche Zeitbombe, und darauf muss man rechtzeitig poli- vollziehen. Wenn Sie an dieser Stelle nichts zu verber- tisch reagieren. Wir wissen, die Armutsrisiken werden in gen haben, müssten Sie es mitmachen. Weil Sie aber Zukunft steigen. Heute sind es gut 2 Prozent der Rentner Angst vor dem Ergebnis haben, wollen Sie nicht, dass und Renterinnen, die auf Grundsicherung angewiesen ein entsprechender Bericht kommt. sind. Zukünftig wird sich diese Zahl aber vervielfachen. (Beifall bei der LINKEN) Im Unterschied zur FDP und zur Linken sind wir der Meinung, dass bei den Ursachen und nicht bei den Deshalb versuchen Sie, das abzubiegen. Ich sage Ih- Symptomen angesetzt werden muss. nen: Dies ist offensichtlich auch ein Ergebnis einer sol- chen Art von politischer Landschaftspflege. Denn wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) jemand so viel Geld bezahlt, dann erwartet er auch, dass Das heißt, wir wollen die vorgelagerten Systeme der Al- schlechte Nachrichten über ihn unterdrückt werden. terssicherung stärken, um Altersarmut zu verhindern. Besten Dank. Wir sind der Meinung, dass Altersarmut in der gesetzli- chen Rentenversicherung vermieden werden muss. (Beifall bei der LINKEN – Gabriele Hiller- Ohm [SPD]: Unerhört!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Deswegen habt ihr das Rentenversicherungs-Nachhaltigkeits- gesetz gemacht und das Niveau abgesenkt!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard Schewe- Für uns gilt der Grundsatz: Wer ein Leben lang arbeitet Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen. und sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt, muss eine Rente oberhalb der Grundsicherung erreichen kön- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE nen. GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über zwei Anträge, die zu einer Zeit Auf die Veränderungen am Arbeitsmarkt muss mit ei- eingebracht worden sind, als in der Öffentlichkeit über ner aktiven Arbeitsmarktpolitik, aber auch mit einer den Anstieg von Altersarmut heftig diskutiert wurde. Weiterentwicklung der Rentenpolitik reagiert werden. Dazu brauchen wir endlich gesetzliche Mindestlöhne. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Thema ist Das reicht nicht aus, ist aber ein Baustein. Wir brauchen nicht vom Tisch!) eine Weiterentwicklung der Rentenpolitik und eine 19088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Garantierente oberhalb der Grundsicherung für Men- das Kind mit dem Bade aus. Ich frage Sie einfach ein- (C) schen, die ein Leben lang gearbeitet haben. mal: Wie wollen Sie es den über 11 Millionen Men- schen, die einen Riester-Vertrag abgeschlossen haben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erklären, warum die einzige Förderung privater Alters- Die Bundesregierung wollte uns lange Zeit Sand in vorsorge, die mit Elementen des sozialen Ausgleichs die Augen streuen, indem sie behauptet hat, dass der versehen ist, von morgen an nicht mehr gelten soll? Wis- Aufschwung alle Probleme lösen werde. Schaut man in sen Sie nicht, dass zwei Drittel der Riester-Sparer ein den jüngsten Bericht des Statistischen Bundesamtes vom Einkommen von weniger als 30 000 Euro pro Jahr ha- September, stellt man fest, dass er unsere Einschätzung ben? bestätigt. Dort heißt es nämlich: Auch in dem gesamtwirt- (Jörg Rohde [FDP]: Das stand in der Anfrage, schaftlich erfolgreichen Jahr 2007 sind die sogenannten die wir gekriegt haben!) „Normalarbeitsverhältnisse“ rückläufig geblieben. Trotz günstiger Entwicklung bei der Erwerbslosigkeit wurde Es ist also nicht so, dass nur diejenigen, die ein hohes der Trend nicht gestoppt, „Normalarbeitsplätze“ Einkommen haben, Riester-Verträge abschließen, son- dern gerade Klein- und Mittelverdiener. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist denn normal für Sie?) (Jörg Rohde [FDP]: Und die lassen Sie im Regen stehen!) – jetzt müssen Sie zuhören – durch atypische Beschäfti- gungsformen zu ersetzen. – Deshalb – ich wiederhole Vertrauen in die Alterssicherung entsteht nur dann, mich ganz bewusst – müssen wir das Problem an der wenn sich die Menschen auf das Geschaffene verlassen Wurzel anpacken und nicht nur Korrekturen vornehmen. können. Da helfen keine ideologischen Scheuklappen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Problem Frau Präsidentin, ich fasse zusammen: muss man lösen!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dafür reicht es Die vorgelegten Anträge der FDP und der Linken leh- nicht mehr!) nen wir ab. Nach dem Vorschlag der FDP soll bei der Für die eine Seite dieses Hauses ist die Privatvorsorge Grundsicherung im Alter ein Freibetrag von maximal Teufelszeug, die andere Seite möchte die Privatvorsorge 260 Euro monatlich für die private und die betriebliche zulasten der gesetzlichen aufblähen. Das ist nicht sach- Vorsorge anrechnungsfrei bleiben. gerecht. Wir Grünen wollen in einem ersten Schritt die (Jörg Rohde [FDP]: Wo steht das?) Beiträge von Geringverdienenden aufstocken. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Haben Sie ein- (B) Einkommen aus der gesetzlichen Rentenversicherung (D) sollen aber zu 100 Prozent angerechnet werden. Das ver- mal durchgerechnet, was das kostet?) stehen wir ehrlich gesagt nicht so richtig. Wir wollen, dass Selbstständige, die keine obligatorische (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das eine ist eine Altersvorsorge haben, in die gesetzliche Rentenversiche- freiwillige, das andere eine Pflichtversiche- rung einzahlen. Wir wollen über ein Beitragssplitting die rung!) eigenständige Rente von Frauen stärken. Das sind die Rezepte gegen Altersarmut. Meine Kollegen von der FDP, Sie wollen gesetzlich Ver- sicherte schlechter behandeln als privat und betrieblich Ich danke Ihnen. Versicherte. Ich sage dazu: Typisch FDP! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wenn man dieser Logik folgt, muss man fragen: Was Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin ist denn eigentlich mit einer alten Dame, die in ein Pfle- Lydia Westrich. geheim geht und 10 000 Euro auf ihrem Konto hat? Sie muss das Geld einsetzen, wenn sie Leistungen vom Staat (Beifall bei der SPD) haben möchte. Ihr Vorschlag wird, glaube ich, eine ganze Menge anderer Dinge nach sich ziehen. Lydia Westrich (SPD): (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bei Hartz IV Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und habt ihr doch auch ein Schonvermögen ge- Kollegen! Herr Schneider, es gibt einmal jährlich den macht! Wo ist denn da der Unterschied?) Rentenversicherungsbericht; den lesen auch Sie fleißig. In jeder Legislaturperiode erhalten wir den Alterssiche- Herr Kolb, Sie dokumentieren damit, dass Sie nicht auf rungsbericht. Das alles wird durch den Sozialbeirat be- die solidarische Sicherung bauen, sondern Menschen, gutachtet. Dieses Gutachten bekommen wir ebenfalls. die privat und betrieblich vorsorgen können, bevorzugen Wir diskutieren in den Ausschüssen laufend über die ak- wollen. tuelle Entwicklung. In unserer schönen Bibliothek kön- nen Sie die regelmäßigen Veröffentlichungen und Statis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tiken der Zentralen Zulagenstelle für Altersvermögen Die Linke will aus der Riester-Förderung aussteigen einsehen. Es steht uns also bereits eine Fülle von Infor- und die Mittel zur Stärkung der gesetzlichen Rente ver- mationen zur Verfügung. Aber es kann ja anscheinend wenden. Herr Schneider, ich finde, Sie schütten damit nie genug sein. Sie haben schon drei Kleine Anfragen zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19089

Lydia Westrich (A) diesem Thema allein in diesem Jahr gestellt. Doppelt können nicht wegdiskutieren, dass die Zahl älterer Men- (C) und dreifach genäht hält besser, meinen Sie. schen im Verhältnis zur Zahl der Menschen im erwerbs- fähigen Alter bereits jetzt zunimmt. Sie reden trotz aller Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: neuen Erkenntnisse und trotz der Entwicklungen, die je- Frau Kollegin, nicht nur das, Kollege Schneider des Kind sehen kann, ständig von einer lebensstandard- würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. sichernden gesetzlichen Altersversorgung wie zu Zeiten Norbert Blüms. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Nein! Er hat gerade geredet!) Das ist den Menschen ins Gesicht gelogen. Mein Va- ter ist 88 Jahre alt. Er hat ein Arbeitsleben – durch den Krieg unterbrochen – von vielleicht 40 Jahren und eine Lydia Westrich (SPD): Rentenzeit von bisher 28 Jahren hinter sich. Gott möge Nein, ich wüsste nicht, was er fragen will; denn er sie noch lange, lange andauern lassen. Auch Sie und ich weiß noch nicht, was ich sagen will. wollen diesen langen, geruhsamen Lebensabend haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Aber selbst am einfachen Beispiel meiner Familie CDU/CSU – Volker Schneider [Saarbrücken] – meine Mutter ist Gott sei Dank ein ähnlicher Fall – se- [DIE LINKE]: Doch!) hen Sie, dass dies nicht funktionieren kann: 40 Jahre Beitragszahlung und 30 Jahre Rente bei weniger Bei- Schnell einen Antrag geschrieben und eine neue Be- tragszahlern. richtspflicht eingefordert, dann müssen Sie sich nicht die Mühe machen, selber zu schauen, ob die gewünschten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Informationen nicht schon vorhanden sind. CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt reden Sie die Renten schlecht!) Wir werden Ende des Jahres den jährlichen Renten- versicherungsbericht und den Alterssicherungsbericht Da müssten die Rentenversicherer schon sehr riskant auf erhalten. dem gleichfalls von Ihnen verteufelten Finanzmarkt zo- cken, um diese Rendite erzielen zu können. Aber sie ha- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hoffentlich ben keinen Kapitalstock; sie sind umlagefinanziert. Des- kommt er einmal unaufgefordert!) wegen müssen sie auf die Entwicklungen eingestellt Wenn Sie Ihr Anliegen, gründliche Auskünfte über die werden, wenn die Sozialkassen nicht vor die Wand lau- Entwicklung und Wirkung der Riester-Rente zu erhalten, fen sollen. Das scheinen Sie zu wollen. wirklich ernst meinten, hätten Sie diese Berichte doch abgewartet. Nein, es geht Ihnen nicht um Auskünfte, (Widerspruch bei der LINKEN) (B) (D) sondern wieder einmal darum, ein erfolgreiches Projekt Selbst bei mäßig erhöhten Beitragszahlungen in der wie die Riester-Rente, die allen Unkenrufen zum Trotz gesetzlichen Rentenversicherung, wie wir sie Unterneh- von vielen Millionen Bürgern genutzt wird, weiter zu men und Arbeitnehmern zumuten könnten, ist es auf verteufeln. Dauer unmöglich, dass eine immer geringere Zahl von (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Wie erfolg- beschäftigten Beitragszahlern in der Lage ist, für immer reich sie ist, haben wir schon gehört!) mehr Rentner immer längere Rentenbezugszeiten in der gegenwärtigen Höhe zu finanzieren. Das ist doch Ihr Herr Schneider, dazu, wie Sie sie verteufeln, haben ewiges Mantra: Wir hätten alles im Griff, wenn die Ver- Sie hier wieder einmal ein Beispiel geliefert. Sie wollen sicherungsbeiträge um ein paar Prozentpunkte steigen ganz bewusst die Bürgerinnen und Bürger verunsichern. würden. Das Schizophrene an der Sache ist, (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Das stimmt (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE doch gar nicht!) LINKE]: Ich schreibe nicht in der Süddeut- schen und nicht im Manager Magazin!) Das ist grundfalsch. Sie wiegen die Menschen wieder in einer scheinbaren Sicherheit, nach dem Motto „Nach mir dass Sie, meine Damen und Herren von der Linken, im die Sintflut“. Bundestag die Riester-Rente ganz erbittert bekämpfen, aber zu Hause in Ihren Beratungszimmern, wo es nie- Rot-Grün hat im Jahr 2000 die Weichen anders ge- mand sieht und hört, füllen Sie den Leuten die Anträge stellt. Wir haben die Verantwortung auch für die junge aus und legen ihnen nahe, einen Riester-Vertrag abzu- Generation ernst genommen. Die Dreisäulenaltersvor- schließen. Das hat mir gerade neulich eine junge Frau sorge ist der richtige Weg. Gesetzliche Rentenversiche- aus meinem Wahlkreis berichtet. Natürlich habe auch ich rung, betriebliche Altersvorsorge und Riester-Rente er- ihr dazu geraten, einen Vertrag abzuschließen, und mich gänzen einander. Die Bürgerinnen und Bürger haben das gefreut, wie vernünftig Ihre Basis vor Ort doch ist. Sie kapiert. 11 Millionen Riester-Verträge beweisen das. scheint kapiert zu haben, dass der große demografische Der neue Wohn-Riester wird – davon bin ich über- Wandel, der sich in unserer Bevölkerung vollzieht, auch zeugt – die Anzahl dieser Verträge weiter steigen lassen. an den Systemen der Alterssicherung nicht spurlos vo- Die Säule der privaten Vorsorge wird sich gerade für Ge- rübergehen kann. ringverdiener, für die Sie letztlich eine Lanze brechen Das erste Mal seit Jahren sind selbst in meiner struk- wollen, auszahlen. Ich bin froh, dass wegen unserer För- turschwachen Region gute Lehrstellen nicht besetzt. Sie derung gerade der prozentuale Anteil der Kleinverdiener 19090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Lydia Westrich (A) an der Gesamtzahl der Vertragsabschlüsse – danach ha- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) ben Sie gefragt – so hoch ist. Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte. Wenn man in einem Allversorgerstaat wie der DDR Lydia Westrich (SPD): aufgewachsen ist, kommt man aus seiner Haut vielleicht nicht mehr heraus. Ich treffe viele Leute, auch mit klei- Wenn die Studie besagt, die Menschen mit kleinen nerem Verdienst, die stolz sind, ihre Familie ernährt zu Verdiensten sparen nicht mehr Geld, sondern für etwas haben und die im Alter auf ihre eigene Vorsorge und anderes, so wird außer Acht gelassen, dass unsere staatli- nicht auf den Staat zurückgreifen wollen. Sie freuen sich chen Zulagen das Angesparte dieser Kleinverdiener ver- über die Riester-Förderung in Höhe von 60 Prozent oder vielfachen. mehr und lassen sich auch durch Monitor-Berichte nicht irremachen. Aber genau das, die Menschen zu verunsi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: chern, beabsichtigen Sie von der Linken doch. In Frau Westrich! 20 Jahren reden wir vielleicht einmal über Ihren Antrag, der so schlecht ist. Lydia Westrich (SPD): Das sind keine Mitnahmeeffekte, sondern das ist ge- Sie sagen dem 25-jährigen Wachmann, der gerade wollte Zukunftsverantwortung. Deshalb brauchen wir seinen Riester-Vertrag abgeschlossen hat: Du bist doch die Berichtspflicht bezüglich bereits vorhandener Daten dumm; da zahlst du ein und hast die Versicherung reich nicht. gemacht; später bekommst du sowieso nur die Grund- sicherung wie jeder, der nicht eingezahlt hat. Wissen Sie denn, ob es die Grundsicherung in 35 Jahren überhaupt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: noch gibt? Frau Westrich, kommen Sie zum Ende, bitte.

(Jörg Rohde [FDP]: Na, das ist eine Lydia Westrich (SPD): Überraschung!) Wir stützen die Riester-Rente für Kleinverdiener. Wir Dann wäre der Wachmann wirklich arm, wenn er den wollen die Umlenkung der – wenn auch noch so kleinen – Vertrag gekündigt hätte. Wissen Sie es? Sparquote der Haushalte in eine Altersvorsorge. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag gerne ab. (Jörg Rohde [FDP]: Nein!) Vielen Dank. Vielleicht geht es Deutschland in dieser Zeit aber so gut, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jörg (B) dass die Riester-Rente nicht mehr angerechnet zu wer- Rohde [FDP]: Bei uns hätten die Bürger Be- (D) den braucht. Dann wäre sie ein gutes Zubrot. Wird er schlüsse! Bei Ihnen haben sie Versprechen!) Wachmann bleiben, oder wird er eine Weiterbildung ma- chen und mehr verdienen? Grundsicherung wäre für ihn Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dann gar kein Thema mehr, aber die zusätzliche Riester- Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kol- Rente schon. lege Schneider. (Andrea Nahles [SPD]: Jawohl! Genau so ist es!) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Frau Kollegin Westrich, das, was Sie eben vorgetra- War er nun dumm, als er den Riester-Vertrag abgeschlos- gen haben, ist wirklich – erlauben Sie mir das harsche sen hat, oder wäre es dumm gewesen, auf Ihren Rat zu Urteil – ein Ausbund von Oberflächlichkeit. hören, es nicht zu tun und die Versicherung nicht reich zu machen? (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Oberlehrer!) Das will ich Ihnen schon noch einmal ins Stammbuch Es würde sich rentieren, darauf noch einmal ausführlich schreiben: Die Studie, die Sie von den Linken zur Be- einzugehen; aber das schenke ich mir jetzt. gründung Ihres Antrags heranziehen, enthält richtige Analysen, aber sie zeigt falsche Schlussfolgerungen auf. Es geht mir nur um einen einzigen Punkt. Sie haben Das passiert einmal, und Sie sind darauf hereingefallen: am Anfang behauptet, wir forderten etwas, was längst nachzulesen wäre. Ich würde Ihnen empfehlen: Lesen Erstens. 2005 war die Datenlage ganz anders. Die An- Sie unseren Antrag! Darin ist präzise aufgelistet, was wir zahl der Riester-Verträge hat sich in dieser Zeit verdop- wollen. Sie werden feststellen: Kein einziger dieser As- pelt. pekte ist im letzten Alterssicherungsbericht oder im letz- ten Rentenversicherungsbericht genannt. Das war der Zweitens. Die Studienmacher haben den Zweck der erste Punkt. Riester-Rente nicht kapiert. Wir wollten den Beitrags- satz in der gesetzlichen Rentenversicherung auf einem Mein zweiter Punkt. Wir haben keinen der Aspekte, bezahlbaren Niveau halten. Wir wollten auch die Vermö- die in diesen Berichten erwähnt sind, noch einmal aufge- gensbildung für das Alter fördern. Die jährlichen Förder- führt. Wir haben ganz gezielt nach dem gefragt, was bis milliarden erhöhen gerade das Altersvermögen der heute nicht in diesen Berichten enthalten ist. Ich frage Kleinsparer. mich, warum Sie uns diese Auskünfte entgegen der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19091

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) Empfehlung aller Sachverständigen so nachhaltig ver- Dies ist das Verdienst dieser Bundesregierung und eine (C) weigern wollen. Das ist Ihr schlechtes Gewissen. Grundlage dafür, dass die Altersversorgung weiterhin si- cher ist. (Beifall bei der LINKEN – Lydia Westrich [SPD]: Das haben wir gar nicht nötig!) Dass in der Altersversorgung weiterhin Sicherheit herrscht, hat mit dem Umlagesystem der gesetzlichen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Rentenversicherung zu tun. Herr Rohde, ich möchte aus- Jetzt gebe ich dem Kollegen Max Straubinger für die drücklich feststellen: Das Umlagesystem ist kein Aus- CDU/CSU-Fraktion das Wort. laufmodell, sondern die Grundlage der sozialen Siche- rung der Menschen im Alter. Allerdings muss es um ein (Beifall bei der CDU/CSU – Peter Weiß [Em- kapitalgestütztes System ergänzt werden. Die Länder, in mendingen] [CDU/CSU]: Er sorgt jetzt für ein denen die Altersversorgung ausschließlich auf ein kapi- gutes Gewissen! – Dr. Heinrich L. Kolb talgestütztes System ausgerichtet war, werden es in Zu- [FDP]: Es wäre eine gute Vorarbeit für künf- kunft sehr schwer haben – das wird angesichts der aktu- tige Koalitionen, wenn Herr Straubinger jetzt ellen Finanzmarktkrise deutlich –, die Altersversorgung sagen würde: Das ist ein guter FDP-Antrag! – der Menschen zu gewährleisten. Deshalb stehen wir zum Heiterkeit bei der FDP) Umlagesystem. (Beifall bei der CDU/CSU) Max Straubinger (CDU/CSU): Ja? Schauen wir einmal. Genauso treten wir aber auch für die gleichzeitige Förderung des kapitalgestützten Systems ein. Mein Kol- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! lege Weiß hat bereits darauf hingewiesen, wie viel wir in Wir beschäftigen uns mit dem Antrag der FDP und mit dieser Legislaturperiode zur Stärkung der kapitalgestütz- dem Antrag der Linken. Die eine Seite möchte, dass die ten Säule beigetragen haben. kapitalgedeckte Vorsorge bei Geringverdienern in gerin- gerem Umfang angerechnet wird, die andere Seite Ich möchte noch anmerken, dass gerade für die möchte, dass die Riester-Rente auf den Prüfstand gestellt Selbstständigen in unserem Land zwar nicht die Riester- wird. Ich möchte meinen Vorrednern beipflichten: Ei- Rente, dafür aber die Rürup-Rente eine bedeutsame gentlich ist mit „Riesterrente auf den Prüfstand stellen“ Stütze des Altersvorsorgesystems darstellt. Hier spielen gemeint, dass Sie die Riester-Rente abschaffen wollen. die Versicherungsunternehmen eine Rolle. Sie legen das Das ist das Ansinnen der Linken in diesem Hause. Sie Geld der Sparerinnen und Sparer zielorientiert und si- können nämlich nur mit staatlichen Systemen, nicht aber cher an. Für viele Anlageformen im Rahmen der Riester- (B) mit freiheitlichen Systemen leben. Rente gilt – das ist schriftlich dargelegt –, dass nicht nur (D) das eingezahlte Kapital zur Auszahlung kommen, son- (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Sie dern über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg auch ein wissen doch gar nicht, was freiheitliche Sys- gewisser Zins erwirtschaftet werden muss. teme sind!) Herr Kollege Schneider, ich möchte das, was Sie vor- Sie wollen die Leute bei ihren Anlageentscheidungen hin hier gesagt haben, mit aller Schärfe zurückweisen. bevormunden. An dieser Stelle sieht man sehr deutlich, Sie haben gesagt, dass hier sozusagen aufgrund von dass der Ansatz der Sozialisten bzw. der Kommunisten Parteispenden Entscheidungen zugunsten von kapitalge- durchschlägt. stützten Vorsorgemöglichkeiten getroffen worden sind. (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist LINKEN) ungeheuerlich!) Werte Damen und Herren, die Linken äußern immer Das ist, gelinde gesagt, wirklich nicht tolerabel wieder die große Befürchtung: Wenn nicht alles, wie sie es wollen, staatlich organisiert ist, dann führt das ins Un- (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das glück. In diesem Fall würde das bedeuten, dass die Men- ist eine Verleumdung!) schen in Zukunft möglicherweise der Altersarmut – und vor allen Dingen eine Verleumdung. anheimfallen. Dem möchte ich ausdrücklich widerspre- chen. Gerade diese Bundesregierung hat die wesentli- Es gibt natürlich Spenden – auch die Linken erhalten chen Grundlagen dafür geschaffen, dass die Menschen Spenden – für die Unterstützung der Parteien, damit sie zukünftig nicht mit Altersarmut konfrontiert sein wer- ihren staatsbürgerlichen Auftrag erfüllen. Diese sind den. Deutschland hat derzeit die geringste Altersarmut richtig und auch gut angelegt. Wenn sie sich auf alle Par- aller europäischen Länder zu verzeichnen. teien gleichmäßig verteilen, dann wird dadurch sehr deutlich, dass damit die staatsbürgerliche Arbeit der Par- Außerdem hat es die kluge Politik dieser Bundesre- teien unterstützt und nicht irgendeine Entscheidung er- gierung ermöglicht, dass viele Menschen in Arbeit und kauft werden soll. Brot gekommen sind. Dass die Zahl der sozialversiche- rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um 1,5 Mil- (Beifall bei der CDU/CSU) lionen gestiegen ist, bedeutet mehr Schutz vor Altersar- mut. In diesem Zusammenhang wäre es weitaus besser, wenn die Linke, die PDS bzw. die SED nachforschen (Beifall bei der CDU/CSU) würde, wo das SED-Vermögen hingekommen ist, 19092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Max Straubinger (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- (C) Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Fragen ses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/10356. Sie Herrn Papier! Er kann Ihnen das sagen!) Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- das Ihr Parteivorsitzender Gysi möglicherweise ins Aus- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der FDP land transferiert hat, um es über Scheinfirmen jetzt mög- auf Drucksache 16/7177 mit dem Titel „Altersvorsorge licherweise wieder in Ihren Parteiapparat fließen zu las- für Geringverdiener attraktiv gestalten“. Wer stimmt für sen. diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit den (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es! – Stimmen der CDU/CSU, der SPD, der Linken und des Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Das ist Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der an- eine Verleumdung!) tragstellenden Fraktion FDP angenommen. Das ist das schamlose Verhalten der Linken, der PDS Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt bzw. der SED: Sie gibt den Bürgerinnen und Bürgern der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion hier keine Auskunft über ihr SED-Vermögen. Das ist der Die Linke auf Drucksache 16/8495 mit dem Titel Betrug. An diesem Verhalten werden die Menschen Sie „Riesterrente auf den Prüfstand stellen“. Wer stimmt für natürlich messen. diese Beschlussempfehlung? – Ich fordere Sie auf, in diesem Zusammenhang hier (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Pfui!) nicht solche Verdächtigungen auszusprechen, sondern im Gegenteil zu einer vernünftigen Politik für die Bürge- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be- rinnen und Bürger und insbesondere auch für die Rent- schlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU, der nerinnen und Rentner in unserem Land zurückzukehren. SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen durch die Fraktion Die Linke angenom- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Rohde men. [FDP]: Das waren aber zu wenige Antworten, Herr Kollege!) Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) Enkelmann das Wort. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Geht Ruck, Dr. Wolf Bauer, Hartwig Fischer (Göttin- (B) das eigentlich? Sie hat sich nicht zu einer Zwi- gen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion (D) schenfrage geäußert!) der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gregor Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Amann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD Da immer wieder der Vorwurf an uns gerichtet wird und wir gefragt werden, wo denn das SED-Geld geblie- Förderung von Bildung und Ausbildung – ben ist: Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor konsequent ausbauen Erstens. Fragen Sie die Kollegen der CDU, wo das CDU-Geld geblieben ist. – zu dem Antrag der Abgeordneten Hüseyin- Kenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether Zweitens. Wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an den Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Herrn DIE LINKE Papier. Er war Vorsitzender der Unabhängigen Kommis- sion zur Ermittlung des Vermögens der Parteien und Entwicklung braucht Bildung – Den deut- Massenorganisationen der Deutschen Demokratischen schen Beitrag erhöhen Republik – unter anderem auch des Vermögens der – Drucksachen 16/9424, 16/8812, 16/10360 – CDU. Es gibt einen Abschlussbericht, den Sie nachlesen können. Sie sind schon länger hier im Parlament. Er ist Berichterstattung: hier vorgestellt worden. Abgeordnete Anette Hübinger Dr. Bärbel Kofler Es liegt also alles auf dem Tisch. Informieren Sie sich Hellmut Königshaus bitte! Hüseyin-Kenan Aydin (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em- Ute Koczy mendingen] [CDU/CSU]: Hinsichtlich des Hierzu haben die Fraktionen vereinbart, eine Drei- SED-Vermögens sind noch ein paar Fragen of- viertelstunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi- fen! – Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Wenn derspruch. Dann ist das so beschlossen. man lesen kann, ist das von Vorteil!) Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dr. Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion das Wort. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19093

(A) Dr. Bärbel Kofler (SPD): der auseinandersetzen müssen und ihnen dort Hilfestel- (C) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- lung geben müssen, wo dies nötig ist. gen! Ich freue mich, dass wir heute über ein Thema de- Wir haben in unserem Antrag – auch das finde ich be- battieren können, zu dem wir im Ausschuss fraktions- sonders wichtig – auf die ILO-Kernarbeitsnormen Bezug übergreifend einen Konsens erzielt haben. Wir wollen genommen. Für den Bereich der Bildung bedeutet das die Bedeutung von Bildung in der Entwicklungszusam- ein weltweites Verbot von Kinderarbeit. menarbeit voranbringen, stärken und fördern. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Ich glaube, es ist richtig, an dieser Stelle zu betonen, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass Bildung ein wesentliches Fundament für eine ge- lungene, nachhaltige Entwicklungspolitik und Entwick- Wer möchte, dass die 218 Millionen Kinder, die welt- lung ist. Nicht umsonst ist in den Millenniumsentwick- weit durch Kinderarbeit ausgebeutet werden, zur Schule lungszielen als zweites Ziel festgelegt, dass bis zum gehen können, kann nicht umhin, sich für die Kern- Jahr 2015 eine vollständige Primärschulbildung für alle arbeitsnormen und das weltweite Verbot von Kinder- Jungen und Mädchen erreicht werden soll. Das bedarf arbeit einzusetzen. großer Anstrengungen. Wir möchten mit unserem An- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN trag dazu beitragen, dass dies gelingen kann. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir wissen, dass Bildung die Basis für weitere Maß- Darüber hinaus gibt es gute Ansätze und Projekte der nahmen in der Entwicklungszusammenarbeit und einer Entwicklungszusammenarbeit, die für diese Kinder eine nachhaltigen Armutsbekämpfung ist, ob es um Millen- Brücke in das formale Bildungssystem darstellen und ih- niumsentwicklungsziele im Gesundheitsbereich, die Hal- nen Chancen bieten. Ein Drittel der Kinder, die in Kin- bierung von Hunger und Armut oder – wie meine Kolle- derarbeit ausgebeutet werden, leben in Indien. Es gibt in- gin Christel Riemann-Hanewinckel später noch ausführen zwischen Projekte der Deutschen Welthungerhilfe, die wird – um die Geschlechtergerechtigkeit durch die sich gemeinsam mit indischen Partnerorganisationen be- Gleichstellung von Mann und Frau geht. Bildung ist aber mühen, Kindern den Zugang zum formalen Bildungssys- mehr. Bildung ist ein grundsätzliches Menschenrecht tem zu ermöglichen, Brückenfunktionen zu nutzen und aus diesem Grund von besonderer Bedeutung und sowie Eltern und die örtlichen Verwaltungen einzubezie- auch in unserem Ausschuss entsprechend zu unterstüt- hen, um einen Beitrag dazu zu leisten, diesen Kindern zen. – den Ärmsten der Armen – Chancen zu bieten. Bildung ist die Basis für gesellschaftliche Teilhabe (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (B) und ein selbstbestimmtes Leben. Demokratie, die wir und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) alle in unseren Debatten um Good Governance auch in den Partnerländern der einen Welt fördern wollen, kann Wir haben in unseren Antrag einen Punkt aufgenom- nur gelingen, wenn die Gesellschaften eine entspre- men, auf den ich besonders stolz bin. Bei dieser Gele- chende Basis an Bildung mitbringen. genheit möchte ich einigen Schülern aus Hamburg mei- nen Dank aussprechen, die bei der Debatte über die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten globale Bildungskampagne vor dem Reichstagsgebäude der CDU/CSU) nachdrücklich darum gebeten haben, in unseren Antrag aufzunehmen, dass auch Menschen mit Behinderungen Das ist die Voraussetzung für zivilgesellschaftliches in den Entwicklungsländern Chancen brauchen, am Bil- Engagement, das wir in der Entwicklungszusammen- dungssystem teilzuhaben. Weit über 90 Prozent der Kin- arbeit brauchen. Sie ist, wie gesagt, die Basis für demo- der mit Behinderung haben in Entwicklungsländern kratische Strukturen und Entwicklungen. keine Chance, am Bildungsprozess teilzuhaben. Es ist Wir brauchen nicht nur in den Bundesländern bei uns gut, wenn wir uns dafür einsetzen, dies zu ändern. zu Hause Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem sondern müssen uns auch in der Entwicklungspolitik und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt dafür einsetzen. Wir müssen uns gemeinsam mit unseren Es passiert schon einiges in diesem Bereich. Auf bila- Partnerländern dafür einsetzen. Deshalb freue ich mich, teraler Ebene ist Deutschland im Bereich der Grund- dass es Teil unseres Antrags ist, die Abschaffung von bildung mit 120 Millionen Euro, im Bereich der beruf- Schulgebühren und Lehrmittelkosten voranzubringen, lichen Bildung mit knapp 80 Millionen Euro und im wo dies noch nicht gelungen ist. Schulmittel müssen Bereich der Hochschulen, aber auch im Bereich der Bil- kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Gebührenfreie dungsmaßnahmen, die die Verbesserung der Qualität so- Grundbildung von Kindern muss überall die Grundvo- wie die Lehrerausbildung und -fortbildung zum Ziel ha- raussetzung für das Lernen sein. ben, mit 60 Millionen Euro engagiert. Es gibt zudem gute internationale Initiativen wie Education For All und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fast Track Initiative, die unterstützt gehören und deren der CDU/CSU und der FDP) Engagement bedeutend gestärkt werden muss. Dazu möchten wir insbesondere das BMZ mit unserem Antrag Wenn wir das mit unseren Partnerländern erreichen ermutigen. wollen, bedeutet das im Übrigen auch, dass wir uns mit der Finanzausstattung der Haushalte unserer Partnerlän- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 19094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Bärbel Kofler (A) Die Gründe dafür sind klar. Noch immer sind 77 Mil- sammenarbeit eine große Expertise, große Kenntnisse (C) lionen Kinder weltweit ohne jedweden Zugang zu hat. Schulbildung. 774 Millionen Menschen weltweit sind Analphabeten. Nicht nur die Zahl derer, die in die Schule Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kommen, ist interessant, sondern auch die Zahl derer, die Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende. in der Schule bleiben. Die Verweildauer in der Schule ist von Bedeutung. Leider ist die Schulabbrecherrate noch immer sehr hoch, insbesondere wenn es um den Schul- Dr. Bärbel Kofler (SPD): besuch von Mädchen geht. Der UNESCO-Weltbildungs- Ich glaube, wir tun gut daran, auch in Zukunft das, bericht vom vergangenen Herbst spricht eine deutliche was von unseren Partnerländern nachgefragt wird, auf- Sprache. Positiv sind die steigenden Einschulungsraten. zugreifen, und zwar aus den Gründen, die ich am Anfang Ich glaube, darüber freuen wir uns alle. Bedenklich ist, angesprochen habe. dass die Divergenz zwischen den Ländern mit steigen- den, gleichbleibenden und manchmal auch mit schlech- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: teren Einschulungsraten noch immer sehr groß ist. Fast Frau Kollegin! die Hälfte der Kinder, die keinen Zugang zu Schulbil- dung haben, lebt in Subsahara-Afrika. Das sind knapp Dr. Bärbel Kofler (SPD): 40 Millionen. Allein diese Zahl macht deutlich, dass das Bildung ist ein Menschenrecht, Bildung schafft ge- Engagement für mehr Kinder, die in die Schule gehen, sellschaftliche Teilhabe und persönliche Emanzipation, nicht nachlassen darf und sogar – auch und gerade mit fi- und Bildung steht damit auch in einer Tradition, die uns nanziellen Mitteln – verstärkt werden muss, genauso wie Sozialdemokraten sehr nahe ist, wenn ich etwa an Arbei- das Engagement für mehr Qualität in der Ausbildung. terbildung denke. Was bei uns gilt, gilt auch weltweit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Danke. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir brauchen mehr Lehrer, und zwar gut ausgebil- dete, Lehrer, die eine pädagogische Ausbildung absol- viert haben. Es gibt Beispiele, die zeigen, wo sich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Deutschland sehr gut engagiert. In Tadschikistan erhal- Hellmut Königshaus spricht jetzt für die FDP-Frak- ten seit 2005 jedes Jahr 1 000 Lehrer im Rahmen eines tion. Lehrerfortbildungsprogramms der GTZ eine Qualifika- (B) (Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/ (D) tion für den Lehrerberuf. Das ist ein entscheidender Bei- CSU: Wenn er ordentlich ist, klatsche auch trag. ich!) Einen entscheidenden Beitrag stellen manchmal auch ganz banale Dinge dar. Ich war vor wenigen Monaten im Hellmut Königshaus (FDP): Ostkongo und konnte in einem Dorf, ungefähr zwei Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Stunden von Bukavu entfernt, lernen, was Qualität in der Tat herrscht hier – die Kollegin Kofler hat das gesagt – Bildung bedeutet. Dort ist vor einem halben Jahr das über die Ziele beim Thema „Bildung in Entwicklungs- erste Mal eine Präsenzbibliothek errichtet worden. „Prä- ländern“ weitestgehend Konsens. Wir alle wissen, dass senzbibliothek“ ist sicherlich ein großes Wort. Schließ- Armut und Bildungsarmut in den Entwicklungsländern lich handelt es sich nur um wenige gedruckte Bücher unmittelbar zusammenhängen, übrigens nicht nur dort, und Zeitschriften, die es plötzlich in diesem kongolesi- aber eben auch dort. Nur, wenn wir das hier gemeinsam schen Dorf gab. Aber sogar das stellt einen riesigen Fort- feststellen – auch die Koalition hat das in ihrem Antrag schritt in der Qualität der Bildung dar. Warum? Bis zu sehr deutlich ausgeführt –, dann frage ich mich, warum diesem Zeitpunkt haben nur 70 Prozent der Schüler die Sie dann der Bundesregierung danken. Die Bundesregie- Abschlussprüfungen bestanden, weil sie bei diesen Prü- rung hat doch in diesem Bereich bisher wirklich versagt fungen zum ersten Mal bedrucktes Papier, gedruckte und ihn sträflich vernachlässigt. Schrift sehen konnten. Mit dieser kleinen Maßnahme, (Dr. Karl Addicks [FDP]: Allerdings!) also mit wenigen Büchern und gedruckten Materialien, wurde innerhalb kürzester Zeit die Abschlussrate um Tatsache ist doch, dass die Förderung der Grundbildung 20 Prozent erhöht. Wenn man in die Qualität der Bildung in den letzten Jahren zurückgegangen ist. investiert – entweder in ganz kleine Maßnahmen oder fundamental in die Lehrerbildung –, tut man den jungen (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das stimmt nicht! Menschen weltweit etwas sehr Gutes. Sie ist verdoppelt worden!) So wurden, um die genaue Zahl zu nennen, von insge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) samt 4 877,573 Millionen Euro deutscher bilateraler Wir haben uns in unserem Antrag im Wesentlichen Entwicklungshilfe im Jahr 2002 lediglich 77,227 Millio- auf drei Punkte konzentriert: die Förderung der Grund- nen Euro der Förderung von Grundbildung zugeschrie- bildung, der beruflichen Bildung und der akademischen ben. Das ist ein Anteil von 1,6 Prozent der ODA, wäh- Bildung. Gerade Grundbildung und berufliche Bildung rend wir heute bei einem Anteil von nur noch sind Bereiche, in denen die deutsche Entwicklungszu- 1,5 Prozent der ODA sind. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19095

Hellmut Königshaus (A) (Zuruf von der CDU/CSU: Das liegt daran, Aber das ist nicht unser Thema heute; die Föderalismus- (C) dass wir einen Aufwuchs hatten! – Dr. Bärbel kommission ist ein anderes Thema. Kofler [SPD]: Das hat aber etwas damit zu tun, dass die ODA generell gestiegen ist!) Die FDP kämpft seit Jahren für ein verstärktes En- gagement im Bildungsbereich der Entwicklungsländer; Die Bundesregierung hat diesen Bereich bisher sträflich denn Bildung ist ein essenzieller Bestandteil der nach- vernachlässigt. Sie hat jetzt allerdings im Entwurf des haltigen Entwicklung einer Gesellschaft. Laut OECD Haushaltsplans vorgesehen, dass im Bereich der Bildung gibt es eine enge Beziehung zwischen den Ausgaben für ein Aufwuchs vorgenommen wird, und zwar auf weiterführende Schulen und für Schul- und Hochschul- 148,50 Millionen Euro im Jahr 2009; aber die Größe des ausbildung und der Wirtschaftsentwicklung eines Lan- Grundbildungsbereichs – das ist das Entscheidende, über des. In den vergangenen 20 Jahren habe sich das am das wir uns hier unterhalten – ist daraus überhaupt nicht stärksten – so die OECD – in Argentinien, Chile und Ja- abzulesen. Deshalb müssen wir hier eine Klarstellung maika gezeigt. Jamaika ist ohnehin ein gutes Stichwort fordern. Wir als FDP fordern schon seit Jahren regelmä- für die Entwicklung. ßig eine Aufstockung in diesem Bereich, in der Regel in der Größenordnung von 60 Millionen Euro. Das diffe- (Heiterkeit) riert je nach der Gesamtlage. Sie haben das leider immer Die Probleme in den Entwicklungsländern sind evi- abgelehnt. Vielleicht können wir uns diesmal darauf ver- dent. Weltweit ist jedem siebten Menschen der Zugang ständigen, dass wir in diesem Bereich vorangehen. zu grundlegender Schulbildung verwehrt. 85 Prozent der (Beifall bei der FDP – Dr. Karl Addicks [FDP]: Schreib- und Leseunkundigen sowie derjenigen, die Das wäre sehr wünschenswert!) keine Möglichkeit haben, eine Ausbildung zu absolvie- ren, leben in Entwicklungsländern. Hier müssen wir an- Die Koalition fasziniert zurzeit das Thema Bildung, setzen. Das bedeutet insbesondere: Wir müssen dafür nicht nur bei der Entwicklungszusammenarbeit, sondern Sorge tragen, dass nicht nur die Schule und der Lehrer auch hier in Deutschland. da sind, sondern zum Beispiel auch das Lehrmaterial. Selbst daran fehlt es häufig. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch gut so!) Kollegin Kofler hat darauf hingewiesen, dass man Gebührenfreiheit braucht. Ich möchte erwidern: Das gilt Die Kanzlerin reist bekanntermaßen durch Deutschland auch bei uns zu Hause, in den Bundesländern. und veranstaltet Bildungsgipfel. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Gebührenfreiheit in den (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Gute Kanzlerin! – Bundesländern, dafür ist die SPD immer!) (B) Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D) Erst seit neuestem!) Da müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen. Sie lenkt dadurch eigentlich davon ab, dass sie für diesen (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Und die Bereich mitnichten zuständig ist. Es gibt in diesem Be- FDP in NRW ebenfalls!) reich keine Zuständigkeit, jedenfalls nicht im Bereich der Grundbildung. Deshalb ist das, was dort abläuft, – Ich sage ja: Wir müssen uns alle an die eigene Nase weiter nichts als eine Farce. fassen. Die Schulbuchfreiheit gibt es zum Beispiel in Berlin nicht, wo bekanntermaßen eine linke Partei in der (Beifall bei der FDP – Dr. Christian Ruck Regierung vertreten ist. [CDU/CSU]: Das weise ich mit aller Empö- rung zurück!) (Dr. Karl Addicks [FDP]: Vor allem da! Fasst ihr euch mal an eure langen Nasen!) – Sie brauchen das nicht mit Empörung zurückzuweisen. Ich brauche nur Ihre Kanzlerin zu zitieren. Wir dürfen Forderungen nicht nur für die Entwick- lungsländer erheben, sondern müssen sie genauso für (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das mache unser eigenes Land erheben. Dafür wollen wir sorgen. ich aber! Ich lasse mir von Ihnen nichts vor- schreiben!) Eben ist von der Kollegin Kofler das Thema Kinder- arbeit angesprochen worden; das ist mir wichtig; das ist Sie hat zum Beispiel dem Kollegen Tauss, der hier ähn- in der Tat ein ganz wesentlicher Punkt. Niemand will lich wie Sie argumentiert hat, gesagt, sie wolle ihm mit Kinderarbeit. Aber wir müssen sehen, dass es Wechsel- Verlaub doch sagen, dass man ihm schließlich angeboten wirkungen gibt. Als der Kollege Klimke und ich in In- habe, wenn er sich für Schulpolitik interessiere, in den dien waren und dort speziell dieses Thema angesprochen Landtag zu gehen, weil das nicht Sache des Bundestages haben, haben wir die Not von Eltern erlebt, die ihre Kin- sei. Sie hat auch gesagt, wer Leidenschaft für die Schul- der nicht ernähren können und sie aus der Not heraus an politik habe, der sei im Bundestag falsch aufgehoben. andere abgegeben, mitunter sogar verkauft haben. Das Wer sich als Kanzlerin um die Schulpolitik kümmert, die kann nicht das Ziel sein. Ländersache ist, ist dort ebenfalls falsch aufgehoben. Deshalb kommt es darauf an, dass wir vernünftige (Beifall bei der FDP – Dr. Christian Ruck Modelle finden, die es den Eltern möglich machen, ihre [CDU/CSU]: Das ist ein alter Hut! – Ute Kinder großzuziehen und ihnen auch eine Schulbildung Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zu ermöglichen. Das ist wichtig. Es geht nicht an, grob- war ein Fehler der Föderalismuskommission!) schlächtig, wie das in dem Antrag zum Teil geschieht, 19096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Hellmut Königshaus (A) (Anette Hübinger [CDU/CSU]: Na, na, na! – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Schmarrn! – neten der SPD und des Abg. Hellmut Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Ein ganz differen- Königshaus [FDP]) zierter Antrag!) Eine Konzentration unserer Hilfen auf die Grundbildung Lösungen zu finden, die überall greifen sollen. Es gibt in allein würde bedeuten, die Tür nur einen Spaltbreit zu den einzelnen Ländern sehr unterschiedliche Vorausset- öffnen und die Chancen auf eine Entwicklung durch Bil- zungen. Es kommt darauf an, dass wir diese unterschied- dung zu reduzieren. Genau das wollen wir als Koali- lichen Voraussetzungen beachten und entsprechende Lö- tionsfraktion nicht. Deshalb haben wir in unserem heute sungen finden. zu diskutierenden Antrag einen breiteren Ansatz ge- wählt, der für die Bildungssituation in unseren Partner- Die Fokussierung auf dieses Thema ist wichtig. Wir ländern zukunftsweisend sein wird. unterstützen Sie in dieser Zielsetzung. – Frau Präsiden- tin, ich sehe das Blinken und komme auch zum Schluss. Heute befasst sich in New York die UN-Vollver- sammlung unter anderem mit der bisherigen Umsetzung Es ist wichtig, Lösungen zu finden. Wir sollten uns der acht Millenniumsentwicklungsziele. Grundbildung bemühen, die Probleme vor Ort jeweils differenziert zu für alle Mädchen und Jungen ist das zweite der acht betrachten, statt einfach alles über einen Kamm zu sche- Ziele, die es bis 2015 weltweit umzusetzen gilt. Nach ren und überall die gleichen Lösungen anzustreben. den bisherigen Bilanzen sind wir hierbei auf einem rich- Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für die tigen Weg. In acht der zehn dokumentierten Regionen ist Aufmerksamkeit und Ihnen, Frau Präsidentin, für die nach Auskunft der UN dieses Ziel bereits zu 90 Prozent Geduld. erfüllt. So besuchen heute 29 Millionen Kinder mehr eine Schule als noch 1999. Allerdings liegt die Einschu- (Beifall bei der FDP) lungsquote südlich und nördlich der Sahara noch weit unter der 90-Prozent-Marke. Auch kann uns die Zahl der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Analphabeten auf dieser Welt nicht ruhen lassen. Die Kollegin Anette Hübinger hören wir jetzt für die Trotz guter Fortschritte bleibt noch viel zu tun. Die CDU/CSU-Fraktion. internationale Gebergemeinschaft steht ebenso wie Deutschland in der Pflicht, ihre Anstrengungen fortzu- (Beifall bei der CDU/CSU) setzen und noch zu verstärken. In der schwerpunktmäßi- gen Zusammenarbeit mit unseren Partnern erreichte Bil- Anette Hübinger (CDU/CSU): dung im Jahr 2007 einen Anteil von 5,84 Prozent; das (B) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte waren rund 116 Millionen Euro. Das war mehr als ge- (D) Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist in Deutschland plant, aber der Betrag muss unseres Erachtens noch ge- ein zentrales Thema. Unsere Bundeskanzlerin beschreibt steigert werden. es sehr treffend, wenn sie sagt: Unser Land muss zur Bil- dungsrepublik Deutschland werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Walter Riester [SPD]) Was uns in Deutschland etwas wert ist, muss uns auch Für den Bereich der Grundbildung verwendeten wir in den anderen Ländern dieser Welt recht sein. Daher ge- etwa ein Drittel des Geldes. Auch dieser Anteil müsste, hört für die Unionsfraktion auch in unseren Partnerlän- Herr Kollege Königshaus, vergrößert werden. dern die Bildung der Menschen – neben Armutsbekämp- fung und Bewahrung der Schöpfung – zu den Schlüsseln Meine Damen und Herren, frühkindliche Bildung und unseres entwicklungspolitischen Handelns. Grundbildung sind der Schlüssel für jedes weitere Ler- nen. Dabei stellen wir fest, dass es immer noch eine un- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. gleiche Verteilung des Angebots zwischen Stadt und Walter Riester [SPD]) ländlichem Raum gibt. Um hier stärker voranzukom- Erst wenn Menschen ihre Talente entfalten können und men, brauchen wir mehr regionale und praxisorientierte befähigt werden, selbstbestimmt ihr Leben in die Hand Ansätze. Wir müssen uns stärker mit den Gegebenheiten zu nehmen, werden wir einen nachhaltigen Erfolg unse- vor Ort auseinandersetzen und im Dialog mit den Part- rer Entwicklungszusammenarbeit verzeichnen. nern neue Ansätze entwickeln, um Schulbesuche zu erleichtern. Ich denke da an die Abschaffung des Schul- Dazu brauchen Menschen Bildung, die Wissen, Werte geldes, das Bereitstellen von Lernmaterial und Anreiz- und Fähigkeiten vermittelt. Sie brauchen darüber hinaus modelle für Lehrer, eine Lehrtätigkeit im ländlichen eine Bildungsstruktur, die ihre Bedürfnisse und Le- Raum aufzunehmen, aber auch an so einfache Dinge wie bensumstände berücksichtigt, Herr Kollege Königshaus. die Anpassung der Ferien an den landwirtschaftlichen Bildung muss für alle zugänglich sein. Kalender – oft werden die Kinder zur Hilfe bei der Ernte benötigt – oder die Einführung von Schulspeisung. (Beifall des Abg. Hellmut Königshaus [FDP]) So hat beispielsweise in Kolumbien, im Süden von Diese Aussage darf sich nicht nur auf eine Grundbildung Bogota, das Kolpingwerk Kolumbiens gemeinsam mit beziehen, sondern muss alle Bereiche der Bildung, von dem kolumbianischen Institut für Familie und Wohlfahrt der frühkindlichen Bildung bis zur Möglichkeit des le- 15 Schulkantinen eingerichtet. Die Betreuung und das benslangen Lernens, umfassen. Essen in den Kantinen haben dazu beigetragen, dass die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19097

Anette Hübinger (A) Kinder heute viel regelmäßiger zur Schule gehen und sonders im nonformalen Sektor eine große Rolle. Für (C) sich auch Kinder aus schwierigen familiären Verhältnis- junge Menschen, denen es nicht möglich war, am forma- sen zum Schulbesuch angemeldet haben. len Bildungssystem teilzunehmen, ist solch eine Ausbil- dung oft die einzige Möglichkeit, eine Qualifikation zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des erhalten. Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]) Meine Damen und Herren, als letzten Punkt möchte Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie pragmatische An- ich noch auf die Zusammenarbeit im Hochschul- und sätze die allgemeine Lebenssituation von Kindern erheb- Wissenschaftsbereich, der auch in den Entwicklungslän- lich verbessern können und darüber hinaus ihre Bil- dern aufgrund der Globalisierung einen immer höheren dungschancen erhöhen. Stellenwert erhält, eingehen. Um das Bildungsdefizit in unseren Partnerländern zu Im Rahmen der Internationalisierungsstrategie wer- beseitigen, reicht die Steigerung der Schulbesuchsrate den wir unter der Federführung von Bundesforschungs- allein nicht aus. Die Qualität des Schulabschlusses muss ministerin Annette Schavan Ansätze entwickeln, um in auch zu einer Weiterbildung befähigen. Eltern müssen unseren Partnerländern moderne Hochschulbildungs-, erkennen, dass Kinder einen nachhaltigen Nutzen aus ih- Forschungs- und Innovationssysteme zu stärken bzw. zu rem Schulbesuch haben, dass Kinder nach der Grundbil- entwickeln. Dabei werden wir entwicklungspolitische dung lesen, schreiben und rechnen können. Dies ist oft Instrumente mit wissenschaftlich-technischen abstim- nicht der Fall. Hierzu ist neben stimmigen Lehrplänen men. Durch eine Stärkung der Hochschul- und For- gut ausgebildetes Lehrerpersonal in genügendem Aus- schungsstrukturen wollen wir auch einer Abwanderung maß eine entscheidende Komponente, damit Quantität von Eliten aus Entwicklungsländern vorbeugen. Gut und Qualität ineinander greifen. ausgebildete Fachkräfte sind für die Entwicklung in die- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sen Ländern unverzichtbar. Neben den Einschulungsraten sollten wir verstärkt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) auf die Abschlussraten achten. In den ärmsten Ländern bricht jedes vierte Kind die Grundschule vorzeitig und In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich ohne Abschluss ab, und für Millionen von Grundschul- auf das Engagement unserer Bundesregierung hinwei- absolventen steht kein weiterführendes System zur Ver- sen, einen internationalen Verhaltenskodex herbeizufüh- fügung. Deshalb ist es genauso wichtig, angepasste und ren, der das Abwerben von Lehrern verhindern soll. leistungsfähige Sekundarschulbereiche insbesondere im Bei der Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der ländlichen Raum zu installieren. Hilfreich kann hier si- Bildung sollten wir aber auch verstärkt die Potenziale (B) cherlich auch die Möglichkeit des E-Learning sein. der deutschen Auslandsschulen, der Goethe-Institute (D) Mit dem erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildung oder auch der Auslandsvertretungen unserer Stiftungen sollen die jungen Menschen für ein eigenverantwortli- nutzen und sie zur Stärkung der Bildungssysteme unse- ches Leben befähigt sein und die Qualifikation für eine rer Partner einsetzen. weiterführende technische oder akademische Ausbil- Bildung ist die Chance auf Entwicklung. Diese dung erhalten haben; denn wie bei uns in Deutschland ist Chance wollen wir unseren Partnerländern nicht vorent- der Mangel an ausgebildeten Fachkräften im Produk- halten. Der Antrag der Koalitionsfraktionen unterstreicht tions- und Dienstleistungsbereich auch in Entwicklungs- diesen Ansatz. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung. ländern ein immer größer werdendes Problem. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir verfügen über ein hervorragendes Know-how im Bereich der Berufs-, Weiter- und Hochschulbildung. Ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nau hier lag in der Vergangenheit auch der Fokus unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit im Bildungs- Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt Hüseyin- bereich. Unsere Partner sprechen uns immer wieder da- Kenan Aydin. rauf an, unser Engagement in der Berufsausbildung zu (Beifall bei der LINKEN) verstärken, da sie erkannt haben, dass dies der beste Weg ist, bei der eigenen Industrialisierung voranzukommen Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): und eine Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, die nötig Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen ist, um in der globalisierten Welt bestehen zu können. und Kollegen! Bildung ist ein Grundrecht. Art. 26 der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie UN-Menschenrechtscharta schreibt dieses Grundrecht des Abg. Hellmut Königshaus [FDP]) auch fest. Hier wird klargestellt, dass jeder das Recht auf unentgeltliche Grundbildung hat. Daher sollte dieser Schwerpunkt wie auch die Grund- bildung weiter ausgebaut und verbessert werden. Eine Auch das zweite der Millenniumsentwicklungsziele Kooperation mit ansässigen Wirtschaftsunternehmen im fordert: Primarausbildung für alle. Die Regierungen ha- Rahmen von Private-Public-Partnership-Projekten muss ben sich in Dakar im Jahr 2000 darüber verständigt, eine unseres Erachtens gefördert werden, wie zum Beispiel die obligatorische, gebührenfreie und vor allem qualitativ Gründung einer Berufsakademie, die von in Südafrika gute Grundbildung für alle Kinder bis zum Jahr 2015 si- ansässigen deutschen Unternehmen geplant ist. Die Be- cherzustellen. Daher ist auch Frau Merkel darauf ver- deutung von Berufsausbildungsprogrammen spielt be- pflichtet. Damit haben alle Regierungen erkannt, dass 19098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Hüseyin-Kenan Aydin (A) der beste Beitrag zur Entwicklung armer Länder eine aber sonst nichts. Denn am Ende haben Sie Angst vor (C) breit angelegte Initiative zur Verbesserung der Grundbil- der eigenen Courage bekommen. Sie beenden Ihren An- dung ist. So weit scheinen sich alle auf dieser Welt einig trag mit Floskeln. Sie möchten weiter reden; wir wollen zu sein, auch hier in diesem Hause. allerdings handeln. Die Globale Bildungskampagne stellte fest: Wenn (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der Mädchen in den armen Ländern nur ein Jahr länger zur CDU/CSU und der SPD) Schule gingen, würde ihr zukünftiges Einkommen um Mit Schönreden ist keinem Kind in Afrika geholfen. bis zu 20 Prozent höher liegen. Das käme auch der Ent- wicklung regionaler, wie aber auch nationaler Märkte Um den entsprechenden Anteil an den von der EU zugute, da die Kaufkraft damit höher liegen würde. angesetzten 4,3 Milliarden Euro beizutragen, müsste Wenn alle Kinder eine Grundschule besuchen könnten, Deutschland seinen für Bildung vorgesehenen Betrag hätten wir 700 000 HIV-Infektionen pro Jahr weniger, da auf 913 Millionen Euro erhöhen. Davon sind Sie noch Bildung auch zur Aufklärung beiträgt. meilenweit entfernt. Dennoch gehört der Sektor Grundbildung im Rahmen Wie sieht die Wirklichkeit aus? hat mit der Entwicklungszusammenarbeit zu einem der am 72 Prozent die höchste Analphabetenrate weltweit – und stärksten vernachlässigten Sektoren in den letzten Jah- das nach fast sieben Jahren des sogenannten Wiederauf- ren. Da hat Herr Königshaus vollkommen recht. Deshalb baus. muss mehr in Grundbildung investiert anstatt gestrichen Dennoch ist der Schwerpunkt in Afghanistan auch werden, auch wenn die Geberländer ihre Zusammenar- 2009 beileibe nicht Grundbildung. Der Großteil des Gel- beit harmonisieren. des für den zivilen Aufbau geht an den Sektor Gestal- tungsspielraum. Hierunter soll auch die Demokratisie- (Beifall bei der LINKEN) rung fallen. Doch wie wollen Sie ein Land, das von Denn weltweit sieht die Bildungssituation immer Hungerkrisen bedroht ist, das sich im Krieg befindet und noch alles andere als befriedigend aus. 780 Millionen in dem 70 Prozent Analphabeten leben, demokratisie- Erwachsene können weder lesen noch schreiben. Min- ren? Können Sie mir das verraten? destens 72 Millionen Kinder haben keine Möglichkeit, Stimmen Sie nicht auch mit mir darin überein, dass zur Schule zu gehen. Die Mehrheit von ihnen sind Mäd- dazu vor allem Bildung notwendig ist? Stattdessen wer- chen. Allein in Afrika haben 34 Prozent der Kinder den weiter über 500 Millionen Euro für Kriegseinsätze keine Möglichkeit, die Grundschule zu besuchen. Die in Afghanistan eingesetzt. Schulabschlussraten liegen in vielen Ländern bei unter (B) 30 Prozent, weil man leider nur auf Quantität anstatt auf Ich fordere Sie auf: Beenden Sie diese Einsätze! Mit (D) Qualität setzt. Qualität hat mit finanziellen Mitteln, mit diesen eingesparten 500 bis 600 Millionen Euro könnte personellen Ressourcen und mit der Ausstattung von man in Afghanistan einen besseren Aufbau durch Bil- Schulen zu tun. dung und damit auch Demokratisierung vorantreiben. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Diesen Zahlen zum Trotz: Für das Jahr 2009 ist wei- terhin ein Anteil von nur 120 Millionen Euro für Grund- (Beifall bei der LINKEN) bildung vorgesehen. Berechtigterweise hat der interna- tionale Bildungsbericht 2008 der Kanzlerin das Zeugnis Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: „ausreichend“ ausgestellt. Mir liegen noch zwei Anmeldungen für Zwischenfra- gen vor. Sollen dies nun Kurzinterventionen werden? – (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Was?) Dann machen Sie eine Kurzintervention, Herr Raabe. Durchgefallen ist die Bundesrepublik Deutschland ver- mutlich nur deswegen nicht, um ein Sitzenbleiben zu Dr. Sascha Raabe (SPD): vermeiden. Herr Aydin, wir hatten gerade diese Woche auf Einla- dung von Frau Staatssekretärin Kortmann einen afghani- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Absoluter schen Abgeordneten als Gast. Er hat uns berichtet, dass Quatsch!) im Süden des Landes, wo Schulen aufgebaut werden, diese Schulen von den Taliban sofort niedergebrannt und Unter den Geberländern belegt Deutschland nur den zerstört werden. Er hat uns eindringlich gebeten, militä- 14. Platz. Dieses Versprechen haben Sie gebrochen, vor rischen Schutz zu geben. Er hat nämlich gesagt, dass es allem Frau Merkel als Kanzlerin, die sich diesen Millen- gar keinen Sinn macht, Schulen zu bauen, wenn wir niumszielen ebenfalls verpflichtet hat. nicht gleichzeitig durch Militär dafür sorgen, dass diese Daher liegt Ihnen heute ein Antrag von uns vor, der Schulen stehen bleiben. Ich finde, das sollten Sie beden- Sie noch einmal an dieses Versprechen erinnert und die ken. Einhaltung endlich einfordert. Auch die Regierungsfrak- Man leistet in Afghanistan viel für die Bildung, wenn tionen haben einen Antrag vorgelegt, in dem richtige man nicht nur Schulen baut, sondern auch dafür sorgt, Feststellungen getroffen werden dass diese Schulen stehen bleiben. Sie unterstützen aller- dings indirekt diejenigen, die diese Schulen zerstören, (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Na also! Geht doch!) (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Richtig!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19099

Dr. Sascha Raabe (A) und insofern setzen Sie sich dort weniger für Bildung ein unterstützen, dass das Land vernünftig aufgebaut wird; (C) als wir. das geht nicht mit einem Kriegseinsatz. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Sie opfern die Schüler und die Frauen! Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das ist zynisch – Hartwig Fischer [Göttingen] Nun haben Sie, Frau Pfeiffer, das Wort. [CDU/CSU]: Dann gibt es Schlachtfest! – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Hinfahren und anschauen, Kollege! – Christel Riemann- Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Hanewinckel [SPD]: Er lässt den Krieg gegen Herr Kollege Aydin, ich kann mich eigentlich dem Kinder und Frauen zu!) anschließen, was der Kollege Raabe gesagt hat. Ich rate Ihnen dringendst, sich einmal nach Afghanistan zu bege- ben. Schauen Sie sich dort eine Schuleröffnung an; das Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: habe ich gemacht. Wir haben zusammen mit dem Staats- Die Kollegin Ute Koczy hat jetzt das Wort für Bünd- sekretär Kossendey eine Schule für 1 500 Kinder eröff- nis 90/Die Grünen. net. Davon waren mehr als die Hälfte Mädchen. Das ist also an sich schon eine tolle Schule. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Das, lieber Kollege Aydin, konnten wir nur machen, Kollegen! So wichtig das Thema Afghanistan auch ist: weil sowohl die afghanischen als auch die deutschen Si- Ich möchte mich zum Thema Bildung äußern; denn das cherheitskräfte nicht uns bewachten, sondern die Schul- steht heute Abend im Mittelpunkt. Ich möchte zunächst eröffnung an sich. Dies bestätigt genau das, was wir sa- – wie alle anderen auch; da sind wir uns zum Glück ei- gen, dass nämlich dieses Land nur dann eine Zukunft nig – darauf hinweisen, dass Bildung ein Schlüsselele- hat, wenn wir dem Umstand Rechnung tragen, dass Ent- ment für die Weiterentwicklung und die Beseitigung von wicklung nur möglich ist, wenn die Sicherheit gewähr- Armut ist. leistet ist. Wenn wir nicht sichern, können wir nicht auf- bauen. Die Reihenfolge, die Sie vorschlagen, lieber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Kollege, ist meines Erachtens also völlig falsch. bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Wer über eine gute Bildung verfügt, hat einfach mehr FDP) Chancen, am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Le- ben teilzunehmen. Dass das inzwischen Konsens ist und (B) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: auch wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt wird, ist, (D) Herr Aydin, zur Antwort, bitte. denke ich, ein gutes Zeichen. Wir wissen auch – das zei- gen die Studien –, dass dadurch die Wahrscheinlichkeit geringer wird, dass sich Menschen mit HIV infizieren; Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): denn wenn eine Person entsprechend gebildet ist, dann Lieber Kollege Raabe, liebe Kollegin Pfeiffer, ich weiß sie damit umzugehen. Bildung führt also in der Ge- habe bereits in meiner Rede darauf hingewiesen, dass sundheit und auch in anderen Bereichen zu Fortschritten. der sogenannte Aufbau mit militärischen Hilfen seit sie- Das gilt ebenfalls für die Mütter- und Kindersterblich- ben Jahren andauert, und seit sieben Jahren ist kein Fort- keitsrate. Bildung bewirkt, dass die hohe Rate sinkt. An schritt zu erkennen. dieser Stelle wird der klassische Zusammenhang deut- (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Völlig falsch!) lich: In dem Augenblick, in dem man bei Bildung an- setzt, werden auch in anderen Schlüsselbereichen der Sieben Jahre lang ist es nicht gelungen, die Taliban mit Entwicklungspolitik Erfolge erreicht. den Mitteln des Krieges zu bekämpfen. Angesichts dessen ist es gut, dass die Weltgemein- (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Sie sollten mal schaft inzwischen darauf hingewiesen hat, dass die hinfahren, Herr Kollege! Machen Sie das doch Grundschulbildung für alle Kinder bis 2015 ein zentrales mal!) Millenniumsentwicklungsziel ist. Es gibt gemeinsame Die Taliban werden auch in weiteren sieben Jahren mit Anstrengungen, und es gibt auch Erfolge. Es gibt vor al- Kriegsmitteln nicht bekämpft werden können. lem in der Subsahara hohe Steigerungsraten bei der Ein- schulungsquote. Sie stieg dort im Zeitraum von 1999 bis (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: 2005 von 57 Prozent auf 70 Prozent. Dies zeigt, dass mit Also, die Menschen krepieren lassen, das ist den Millennium Development Goals eine positive Ent- eure Alternative!) wicklung erreicht worden ist. Das ist Ansporn genug, Das sollten Sie endlich begreifen. Deshalb fordere ich sich noch stärker dafür einzusetzen, dass die 70 Millio- Sie noch einmal auf: Beenden Sie den Kriegseinsatz in nen Kinder, die noch keine Schulbildung haben, diese Afghanistan! auch noch erhalten. (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Zynisch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Bereiten Sie das mit einer vernünftigen Exit-Strategie vor. Lassen Sie Afghanen Afghanistan in die Hand neh- Deutschland sollte sich überlegen, wie es sich in die- men, und lassen Sie sie uns mit unseren Mitteln dabei sem Bereich stärker engagieren kann. Wir haben mit 19100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Ute Koczy (A) Aufmerksamkeit gelesen, was die Koalition, aber auch ist aufgrund der knapp gehaltenen und guten Analyse der (C) die Linke geschrieben hat: Im Jahr 2005 landete Deutsch- aktuellen Situation lesenswert. Aber wir sind nicht Ihrer land mit seinen Beiträgen zur Grundbildung in der Auffassung, dass die Studienplatzkosten ausländischer Entwicklungszusammenarbeit auf Platz 16 der 22 Haupt- Studierender in Deutschland nicht auf die ODA-Quote geberländer der OECD. Das ist natürlich keine Erfolgs- angerechnet werden sollen. Das hätte andere Förde- geschichte. Es zeigt vielmehr, wie stark man dies ver- rungsinstrumente zur Folge. Wir sind daher der Auffas- nachlässigt hat. Deswegen ist es sehr wichtig und zu sung, dass Sie da und in weiteren Punkten nicht die rich- begrüßen, dass die Ausgaben im Rahmen der bilateralen tigen Schlussfolgerungen gezogen haben. Deswegen Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 2009 verdoppelt enthalten wir uns bei Ihrem Antrag. werden sollen. Aber ich füge hinzu: Das ist nicht ausrei- Ich danke für die Aufmerksamkeit. chend, um das Ziel tatsächlich zu erreichen. Ich hätte mir auch gewünscht, dass die Beiträge für die Fast-Track-In- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN itiative der Weltbank höher ausgefallen wären; denn sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und diese Initiative scheint ein ganz guter Ansatz zu sein, um der SPD – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: In die Eigenverantwortung in den Partnerländern beim Teilbereichen kann man ihr wirklich zustim- Thema Bildung zu stärken. Frau Kollegin Kofler hat da- men!) rauf schon hingewiesen. Zu den Anträgen folgende Bemerkungen: Der Antrag Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der Koalitionsfraktionen beschreibt den gesamten Be- Die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel spricht reich „Bildung in der Entwicklungspolitik“. Neben der jetzt für die SPD-Fraktion. Grundbildung nennen Sie einige weitere wichtige Hand- (Beifall bei der SPD) lungsfelder wie zum Beispiel weiterführende Bildung, Berufsschulbildung und Ausbildung in fragilen Staaten. Es lässt sich allerdings im Forderungsteil nicht immer Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): nachvollziehen, worin denn der optimale deutsche Bei- Meine Damen und Herren auf den Rängen im Parla- trag liegen soll. Das heißt, viele der Forderungen sind ment zu dieser etwas vorgerückten Stunde! Liebe Kolle- richtig, aber sie sind zu unkonkret. Beispiel: Eine Ihrer ginnen und Kollegen! Weltweit verbringen Frauen we- Forderungen ist, sich dafür einzusetzen, die Fast-Track- sentlich mehr Zeit als Männer mit Erwerbs- und Initiative der Weltbank ihrer Bedeutung nach angemes- Hausarbeit. Frauen erhalten für diese Arbeiten weniger, sen finanziell auszustatten. Die Frage ist aber: Was ist geben aber mehr Geld für die Ernährung und die Gesund- „angemessen“? Da hätten wir uns natürlich gewünscht, erhaltung ihrer Familien aus. Frauen investieren ihr Geld eher in die Bildung ihrer Kinder, als Männer dies tun. (B) dass man hier klare Zahlen auf den Tisch legt. Wir von (D) der Opposition weisen Sie gerne darauf hin, dass Sie an Frauen könnten, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben, dieser Stelle ein bisschen unkonkret geblieben sind. wesentlich mehr zum wirtschaftlichen Wachstum ihrer Länder beitragen. Aber 60 Prozent der Frauen weltweit Wer mehr Priorität für die Grundschulbildung einfor- sind Analphabetinnen. Es sind zuerst die Mädchen, die dert, muss aber auch die starke Diskrepanz bei den Aus- aus der Schule genommen werden, wenn Eltern das Geld gaben für den Schwerpunkt Bildung und den Ausgaben für Schuluniform, Schulgeld oder Lehrmittel fehlt. Mäd- für die Hochschulkooperation mit den Entwicklungslän- chen müssen die Schule verlassen, weil ihre Arbeitskraft dern ansprechen. Da stellen sich schon die Fragen: Wie gebraucht wird, und Mädchen werden viel zu jung ver- viele Universitäten gibt es denn in Afrika? Wie werden heiratet, statt sie lernen zu lassen. diese unterstützt? Besteht da nicht ein schwarzes Loch, weil wir viel zu wenig Aufmerksamkeit darauf gerichtet (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) haben, sodass wir an einer Veränderung arbeiten müs- Mädchen, die die Schule besuchten, werden zu sen? Frauen und Müttern, die für sich und ihre Kinder besser sorgen, weil sie nämlich durch das Lernen etwas über ih- Spannend wird es auch, wenn Sie von den kompara- ren Körper erfahren haben. Dadurch verringert sich ihr tiven Vorteilen Deutschlands bei der Konzeption von Risiko, bei der Geburt ihrer Kinder zu sterben. Durch die Bildungssystemen sprechen. Da hätte mich schon inte- Bildung ernähren sie sich gesünder und achten auf medi- ressiert, wo Sie diese sehen, und vor allen Dingen, wie zinische Versorgung für ihre Kinder. Die Sterblichkeits- diese in Entwicklungsländer eingebracht werden kön- rate ihrer Kinder ist nur halb so hoch wie bei Müttern nen. ohne Schulbildung. Grundsätzlich frage ich mich, wie die Bundesregie- (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau so ist rung all die verschiedenen Bildungsbereiche, die Sie an- es!) sprechen und die ich auch für wichtig halte, mit einem Budget von knapp 150 Millionen Euro für 2009 tatsäch- 73 Prozent der Kinder, deren Mütter die Schule besucht lich bewältigen will. Es reicht eben nicht aus, nur den haben, werden in die Schule geschickt. Bei Müttern ohne Bogen zu spannen und ein Kessel Buntes zusammenzu- Schulbildung dürfen dagegen nur 51 Prozent der Kinder fügen, ohne zu präzisieren, wohin man will. Deswegen in die Schule gehen, und das sind dann meistens die Jun- werden wir uns bei diesem Antrag enthalten. gen. Das gleiche Votum gilt auch für den Antrag der Kol- (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Dramatisch leginnen und Kollegen der Linksfraktion. Dieser Antrag genug!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19101

Christel Riemann-Hanewinckel (A) Frauen mit Schulbildung sind in der Lage, sich sowohl Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) um ihre eigenen Rechte als auch um die Rechte ihrer Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom- Kinder besser zu kümmern. men.

Meine Damen und Herren, diese wenigen Beispiele Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): machen deutlich, dass Bildung weit mehr ist als bloße Ja. – Wenn wir Mädchen und Frauen Bildung ermög- Wissensanhäufung. Bildung hat insofern eine hohe Ren- lichen, wenn die Frauen die gleichen Chancen erhalten dite: Jeder Euro, der investiert wird, hat eine Rendite von wie die Männer, dann kann Zukunftsbildung stattfinden. mindestens 50 Euro. Bildung ist emotionale, kognitive Wir haben das in unserem Antrag in mehreren Punkten und gesundheitliche Bildung. Fehlende Bildung von deutlich beschrieben. Wenn wir die Frauen in ihrem En- Mädchen und Frauen hat auch Auswirkungen auf die gagement unterstützen, werden wir auch den Millen- Jungen und auf die Männer und damit auf die Entwick- niumszielen näherkommen. Deshalb bitte ich Sie, unse- lungschancen einer ganzen Gesellschaft. rem Antrag unbedingt zuzustimmen, den Frauen zuliebe. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle von einem Projekt Vielen Dank. berichten, das ich in Äthiopien kennengelernt habe. Die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Kindernothilfe, ein evangelischer Verein aus Duisburg, initiiert dort Selbsthilfegruppen. Angesprochen werden Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die ärmsten unter den armen Frauen. Allein schon, dass Ich schließe die Aussprache. andere Menschen sie als so wertvoll erachten, dass sie angesprochen werden, dass ihre Bedürfnisse und Nöte in Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- den Mittelpunkt rücken, stärkt und bildet ihre Persön- empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- lichkeit. Sie erleben sich erstmalig als Menschen, die menarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/10360. Rechte haben. Sie machen die Erfahrung, dass Men- Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- schenrechte unabhängig von Armut oder Reichtum, un- empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen abhängig von Bildung, unabhängig vom Geschlecht, der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9424 mit dem Titel „Förderung von Bildung und Ausbildung – also auch für die Frauen, gelten. Ein Satz, den wir immer Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor konsequent wieder gern wiederholen, ist, dass Menschenrechte un- ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – teilbar sind. Diese Frauen erleben es ganz praktisch. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie schlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalition, Gegenstimmen von FDP und Linke sowie Enthaltung des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. (B) GRÜNEN] – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: (D) Frauenrechte sind Menschenrechte!) Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8812 Diese Frauen erhalten Beratung und Unterstützung mit dem Titel „Entwicklung braucht Bildung – Den dabei, gemeinsam von ihrem wirklich minimalen Besitz deutschen Beitrag erhöhen“. Wer stimmt für diese Be- einen winzigen Bruchteil zu sparen. Gemeinsam ent- schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – scheiden sie auch, was mit dem Geld geschehen soll, Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von was für sie wichtig ist, nicht, was für die wichtig ist, die Koalition und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die sie dazu anleiten. Jede Einzelne kann aus dem großen Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen ange- Topf einen Kredit bekommen. Existenzgründungen wer- nommen. den möglich. Sie können besser für ihre Familien sor- Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 12 auf: gen; denn sie bestimmen über den Einsatz der Gelder. Sie verfügen über Wissen und Mittel, und sie treffen Beratung des Antrags der Abgeordneten – oft erstmalig – eigenständige Entscheidungen. Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Durch diese Erfahrungen geschieht Bewusstseinsbil- DIE LINKE dung. Die Frauen erkennen, dass sie ihr Leben und das Keine Lobbyisten in den Ministerien Leben ihrer Kinder selbst in die Hand nehmen können. Sie wissen, dass sie sich gemeinsam gegen die Tradition – Drucksache 16/9484 – der Genitalverstümmelung zur Wehr setzen müssen, und Überweisungsvorschlag: sie haben es geschafft – auch wieder gemeinsam –, ihre Innenausschuss (f) Haushaltsausschuss Töchter, ihre Kinder vor dieser Form der Gewalt zu be- wahren. Sie erfahren auch, dass Schulausbildung dabei Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat- hilft, eine Lebensperspektive zu entwickeln und den tieren, wobei Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Weg aus der Armut zu finden. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so be- schlossen. Diese Erfahrung, für sich selbst etwas bewirken zu können, für eigene Belange und Rechte gemeinsam ein- Ich eröffne die Aussprache. Zu Beginn der Debatte gebe ich das Wort dem Kollegen Roland Claus für Die zutreten, geben die Frauen an ihre Kinder weiter. Das ist Linke. eine ganz andere Art von Bildung. Hier kann Demokra- tiebildung entstehen und wachsen. (Beifall bei der LINKEN) 19102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Roland Claus (DIE LINKE): nen, dann kommen mindestens 10 Millionen Euro dabei (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und heraus. Das ist ein Vielfaches dessen, was die Bundes- Herren! Allein der Titel unseres Antrages erklärt unser tagsparteien – außer der Linken – von der Allianz an Anliegen: „Keine Lobbyisten in den Ministerien“. Ge- Spenden bekommen; davon war schon die Rede. Des- meint sind etwa 100 Vertreter der privaten Wirtschaft, halb haben wir unseren Antrag gestellt. der Banken und von Wirtschaftsverbänden, die zeitwei- Ich sage Ihnen noch etwas: Sie können nicht den gan- lig in den Bundesministerien arbeiten, aber auf den Ge- zen Morgen in einer Debatte zubringen, in der Sie mehr haltslisten von Unternehmen stehen. Regulierung der internationalen Finanzmärkte fordern Wir führen darüber seit etwa zwei Jahren im Bundes- und verlangen, dass endlich Ordnung geschaffen wird tag eine Debatte. Es gab Anfragen aller drei Opposi- – es sind viele harsche Worte gefallen –, und eine fortge- tionsfraktionen und Medienrecherchen. Eine fraktions- setzte Lobbyarbeit für Banken in den Bundesministerien lose Abgeordnete hat diese Frage schon 2003 gestellt. dulden. Das passt nicht zusammen. Deshalb hat sich der Haushaltsausschuss des Bundesta- ges mit dem Sachverhalt beschäftigt. Der Bundesrech- (Beifall bei der LINKEN) nungshof hat einen sehr eindringlichen Bericht verfasst, Für uns ist eine Konsequenz, dass Lobbyisten nicht in aus dem ich einen Satz zitieren möchte: den Ministerien beschäftigt sein sollten. Das Risiko von Interessenkonflikten besteht aller- Im Übrigen hoffe ich, dass sich das Gerücht nicht be- dings in erster Linie bei Beschäftigten von Einzel- stätigt, wonach die Bundesregierung beabsichtigt, die unternehmen und Verbänden, die naturgemäß Treuhand Liegenschaftsgesellschaft, also den ostdeut- eigene, häufig gewinnorientierte Interessen verfol- schen Immobilienlogistiker, an Lone Star zu verkaufen. gen. Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag Genau dort liegt der Kern des Problems. Während die „Keine Lobbyisten in den Ministerien“. Bundesregierung, nicht zuletzt per Amtseid, dem Ge- meinwohl verpflichtet ist, sind Vertreter einer Bank Vielen Dank. selbstverständlich in erster Linie dem Gewinninteresse (Beifall bei der LINKEN) der Bank verpflichtet. Wer diesen Interessenkonflikt ge- ring schätzt oder gar aus der Welt räumen will, der ist schlicht und einfach naiv. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ralf Göbel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der LINKEN) (B) Nun sind diese Verbände nicht etwa ausgewogen ver- Ralf Göbel (CDU/CSU): (D) treten. Man könnte denken, die Bundesregierung schaut Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sich die ganze Zivilgesellschaft an und bildet sie entspre- Im Frühsommer dieses Jahres haben wir schon einmal chend ab: vom Arbeitslosenverband über Gewerkschaf- eine Debatte über die Mitarbeit von Externen in der Bun- ten bis zum Bundesverband privater Banken. Aber Fehl- desverwaltung geführt. Grundlage und Anlass für die anzeige! Es ist schön einseitig. Ich will Ihnen nicht alle damalige Debatte war der Bericht des Bundesrechnungs- hundert Namen vorlesen, aber Beispiele: Bayer AG, hofes, der einige kritische Anmerkungen zu Art und BASF, Eon, PricewaterhouseCoopers, Kreditanstalt für Umfang der Einbeziehung Externer in verschiedenen Wiederaufbau – an mehreren Stellen vertreten –, Daim- Bereichen der Bundesverwaltung gemacht hat. Der Zeit- ler, Dresdner Bank. Das ist schon ein relativ einseitiges raum, der vom Rechnungshof untersucht wurde, reichte Bild. von 2004 bis 2006. (Michael Kauch [FDP]: Verdi wurde Der Rechnungshof hat damit eine wichtige Diskus- vergessen!) sion angestoßen, die allerdings nicht neu ist. Es geht um die Frage, in welchem Umfang es öffentlichen Verwal- Der Haushaltsausschuss hat deshalb im Juni einen tungen erlaubt ist, verwaltungsexterne Personen tempo- Beschluss gefasst, und zwar einstimmig, und gesagt: Wir rär mit Aufgaben der öffentlichen Verwaltung zu brauchen klarere Regelungen. Der Ausschuss hat zur betrauen bzw. sie in Prozesse einzubinden. Das ist ein Kenntnis genommen, dass die Bundesregierung erklärt Thema, das in der wissenschaftlichen Diskussion schon hat, sie wolle dazu ebenfalls einen Beschluss fassen. Das sehr lange erörtert wird, und zwar – je nach Position des hat sie im Juni auch gemacht. In wesentlichen Punkten Betroffenen – mit verschiedenen Ergebnissen. Ich plä- aber ist sie nicht den Vorgaben des Haushaltsausschusses diere dafür, dieses Thema sehr differenziert zu betrach- gefolgt, was dazu führte, dass der haushaltspolitische ten. Pauschalierungen sind hier nicht geeignet, Alarmis- Sprecher der Union im Ausschuss wirklich im Quadrat mus im Übrigen auch nicht. gesprungen ist, nicht etwa, weil er sich gefreut hat, son- dern weil er sich geärgert hat. Jetzt spricht die Bundes- Ein Personaltausch zwischen Wirtschaftsverbänden regierung schlicht von einem Austauschprogramm. Was und Verwaltung ist nicht grundsätzlich verwerflich; denn wird denn dort ausgetauscht? Die Meinung der Bundes- er bietet die Möglichkeit, gegenseitig in die Strukturen regierung gegen die Meinung der Deutschen Bank, oder und Prozesse Einblick zu nehmen und Erkenntnisse zu was? Oder man verharmlost das und sagt: Die tun nichts. – gewinnen, wie die andere Seite arbeitet und wie andere Woher kenne ich den Spruch bloß? Wenn man einmal Verfahren laufen können. Es gibt sicherlich auch keine zusammenrechnet, was diese 100 Leute im Jahr verdie- Einwände dagegen, Sachverstand zeitlich begrenzt ein- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19103

Ralf Göbel (A) zubringen, insbesondere bei komplexen Materien. Ich Gewerkschaften werden im Übrigen ihre helle Freude (C) glaube, das ist ein wesentlicher Schritt zu mehr Qualität daran haben, zu erfahren, dass die Sozialreferenten an gesetzlicher Regelungen. Es ist wesentlich besser, wenn den deutschen Auslandsvertretungen abgezogen werden Experten, die sich in diesen komplexen Materien aus- müssen, weil die Linke das in ihrem Antrag genauso for- kennen, an diesen Vorhaben mitwirken, dert wie den Abzug der Wirtschaftsvertreter, die in den Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland (Roland Claus [DIE LINKE]: Das haben wir beschäftigt sind. bei den Hedgefonds gesehen!) Zum Schluss komme ich auf die Antragsbegründung als wenn sich die öffentliche Verwaltung alleine damit zu sprechen. Als Beamtenrechtler freut mich sehr, dass beschäftigt. die Linke nun den in Art. 33 Abs. 4 des Grundgesetzes Es ist aber klar – das ist im Sommer dieses Jahres verankerten Funktionsvorbehalt so hochhält und das Be- schon betont worden –, dass es keinen Einsatz von Ex- amtentum preist. Ich muss allerdings sagen: Ich war ternen geben darf, wenn es zu Interessenkollisionen dann auf Ihrer Homepage. Unter dem Stichwort „öffent- kommt. Es ist klar, dass kein Einsatz stattfinden darf, licher Dienst“ steht: Die Abschaffung des Berufsbeam- wenn dadurch Wettbewerbsvorteile erzielt werden kön- tentums wird angestrebt. nen. Auch ist klar, dass ein Einsatz nicht möglich ist, (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Noch ist es ja wenn dadurch das Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit und da!) die Gemeinwohlverpflichtung der öffentlichen Verwal- Ich glaube, das zeigt, wie seriös dieser Antrag zu behan- tung infrage gestellt wird. Ebenfalls ist klargestellt wor- deln ist. den, dass Transparenz gegeben sein muss. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Die Bundesregierung hat die Grundsätze, die nicht nur vom Haushaltsausschuss, sondern auch vom Innen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ausschuss aufgestellt worden sind, in eine Verwaltungs- neten der SPD) vorschrift umgesetzt, die Verbindlichkeit für alle Bun- desministerien besitzt. Sie wurde am 18. Juni dieses Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jahres im Kabinett beschlossen und am 25. Juli im Bun- Jetzt hat Christian Ahrendt das Wort für die FDP- desanzeiger veröffentlicht. Meines Erachtens hat die Fraktion. Bundesregierung alles aufgegriffen, über das im Deut- schen Bundestag zu diesem Thema diskutiert worden ist: (Beifall bei der FDP) Die Zulässigkeit und die Steuerung eines Einsatzes sind geregelt. Eine Risikoabschätzung ist vorzunehmen, und Christian Ahrendt (FDP): (B) (D) es ist eine Kontrolle durchzuführen. Entlohnung und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen Transparenz sind geregelt. Wir werden demnächst im In- und Kollegen! Herr Claus, Sie haben bei Ihrer Aufzäh- nenausschuss und im Haushaltsausschuss einen Bericht lung beispielsweise darauf verzichtet, zu erwähnen – es über den Einsatz Externer in der Bundesverwaltung be- war in der Anfrage der FDP-Fraktion nachzulesen –, kommen, so wie es in der Verwaltungsvorschrift geregelt dass die IG Metall im Arbeitsministerium vertreten ist. ist. Darüber hinaus ist ein Verhaltenskodex für diejeni- Insofern sind die Lobbyinteressen gleichermaßen an vie- gen erstellt worden, die als Externe in der Bundesver- len Stellen vertreten. waltung arbeiten. Was wichtig ist – das sprachen Sie zu Recht an –: Es Insoweit halte ich den Antrag, über den wir heute dis- kann nicht sein, dass rund 108 Mitarbeiter im Zeitraum kutieren, für völlig überholt. Ich glaube auch, dass einige 2004 bis 2006 an Gesetzgebungsvorhaben mitgewirkt ha- Formulierungen im Antrag etwas weit von der Wirklich- ben, ohne dass man es weiß. Es kann auch nicht richtig keit entfernt sind. In der Begründung lese ich: sein – diese Fälle hat der Rechnungshof dokumentiert –, dass Mitarbeiter, die von Unternehmen oder Verbänden Die Lobbyisten dürfen erst im geordneten parla- bezahlt werden, an Gesetzesvorhaben mitgewirkt haben, mentarischen Verfahren ihre Vorstellungen öffent- die ihre Unternehmen oder Verbände betrafen. Das ist lich vortragen. inakzeptabel – das steht außer Frage –, und zwar aus dem einfachen Grund: Ein Gesetzgebungsverfahren ist Das heißt ja, dass weder Gewerkschafter noch Unterneh- mit dem Anspruch verbunden, dass die Interessen ge- mensvertreter noch Verbände im Vorfeld eines Gesetzge- geneinander abgewogen und dann im Sinne des Gemein- bungsverfahrens mit den Ministeriumsvertretern reden wohls gewichtet werden. dürfen. Mich würde einmal interessieren, wie die Praxis im Bundesland Berlin ist, ob sich die Senatoren der Lin- Allerdings findet Gesetzgebung nicht im Elfenbein- ken auch dort ein Rede- und Kontaktverbot verordnen turm statt; sie muss sich letztendlich an der Lebenswirk- lassen, bevor sie einen Gesetzentwurf in das Berliner lichkeit orientieren. Sie haben die Finanzmarktkrise an- Abgeordnetenhaus einbringen. gesprochen. Ohne dass ich den Herrschaften im Finanzministerium zu nahe treten möchte: Ich glaube (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Es ist doch ein nicht, dass Sie ohne Spezialisten, die sich auf den inter- Unterschied, ob sie mit ihnen reden oder die nationalen Finanzmärkten auskennen, vernünftige Regu- die Gesetze schreiben!) larien entwickeln können, Ich glaube, das, was hier gefordert wird, ist abenteuer- (Roland Claus [DIE LINKE]: Die haben uns lich. das doch eingebrockt, die Spezialisten!) 19104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Christian Ahrendt (A) durch die man in der Lage ist, Krisen zukünftig zu ver- Aufgrund der ungeregelten Verhältnisse im Zusam- (C) meiden. Es ist sehr wohl wichtig, dass Spezialisten menhang mit Lobbyismus bzw. Interessenvertretung schon frühzeitig in Gesetzesinitiativen eingebunden wer- könnte das Vertrauen in die Legitimität des Handelns den, damit keine Gesetze entworfen werden, die an der von Parlament und Regierung infrage gestellt werden. Lebenswirklichkeit vorbeigehen. Das gilt in besonderer Weise für die vorübergehende Mitarbeit von Personen in Bundesbehörden. Der Bun- Das Problem bekommt man dadurch in den Griff desrechnungshof hat hierzu einen Bericht vorgelegt – er – teilweise ist das schon umgesetzt –, dass man die Ge- wurde bereits angesprochen – und eine ganze Reihe von setze mit entsprechender Transparenz versieht. Das kann Hinweisen gegeben, die das Bundesinnenministerium in man beispielsweise dadurch erreichen, dass, wenn auf- die entsprechende Dienstanweisung weitestgehend auf- seiten der Ministerien Spezialisten mitgewirkt haben, in genommen hat. den Gesetzesvorlagen ausdrücklich darauf hingewiesen wird. Das hätte erstens den Vorteil, dass man im Initia- Herr Claus, gestatten Sie mir, auf Folgendes hinzu- tivverfahren gar kein Interesse daran hat, Beeinflussun- weisen: Ich habe den Bericht des Bundesrechnungshofes gen vorzunehmen, weil man weiß, dass die Konkurrenz und den Bericht des Innenministeriums genau gelesen. darauf sofort anspringen würde. Der zweite Vorteil wäre, Ich finde, dass Sie mit Ihrer Interpretation ein bisschen dass man kompetentes Wissen frühzeitig einbinden über das Ziel hinausgeschossen sind. Nicht alle 100 Lob- könnte, um Gesetze nicht an der Wirklichkeit vorbeige- byisten, von denen Sie sprachen, gehörten deutschen hen zu lassen. Unternehmen an. Das betraf nur den kleinsten Teil von ih- nen, genauer gesagt 16 Prozent, und auch diese 16 Pro- Der Vorschlag, den Sie mit Ihrem Antrag machen, zent waren nicht per se an entsprechenden Stellen. Wir nämlich hier ein Beschäftigungsverbot auszusprechen, alle kennen solche Beispiele und sind darüber besorgt. bedeutete schlichtweg, das Kind mit dem Bade auszu- Deswegen müssen wir hier etwas tun. In manchen Un- schütten. Er hat auch keine Grundlage im Grundgesetz. ternehmen – es kam der Zwischenruf „Fraport!“; ein an- Wenn Sie den entsprechenden Art. 33 richtig lesen, dann deres Beispiel ist die Telekom – kam es in der Vergan- werden Sie feststellen, dass der Gesetzgeber gesagt hat: genheit zu Fehlentwicklungen, die wir beenden müssen. In der Regel sollen im öffentlichen Dienst Beschäftigte Wenn wir den Inhalt der Vorlage der Bundesregierung an hoheitlichen Aufgaben mitwirken. Das heißt aber umsetzen, können sie aus unserer Sicht weitgehend be- nicht: ausschließlich. Insofern hat schon der Grundge- endet werden. setzgeber eine entsprechende Öffnung vorgenommen. Sie dürfen nicht so tun, als handele es sich in jedem Es besteht kein Anlass, Ihrem Antrag zu folgen. Das Fall, in dem jemand die Seiten wechselt, um eine unbe- rechtigte Einflussnahme in Bundesbehörden. Das ist (B) meiste ist umgesetzt. Mehr Transparenz ist wünschens- (D) wert. nicht so. Das Programm, durch das Mitarbeitern aus der Privatwirtschaft zeitlich begrenzt und in Positionen mit Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. geringer Verantwortung die Möglichkeit gegeben wird, (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ralf einmal auf die andere Seite, nämlich in ein Ministerium, Göbel [CDU/CSU]) zu blicken – das gilt auch umgekehrt –, ist sehr sinnvoll. Dadurch können das wechselseitige Verständnis und die Gesetzgebung verbessert werden. Außerdem kann die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Arbeit privater Unternehmen und Organisationen besser Der Kollege Peter Friedrich spricht jetzt für die SPD- kontrolliert werden. Durch die Beispiele, die Sie ange- Fraktion. führt haben, haben Sie allerdings den Anschein erweckt, als seien all diese Personen Entsandte der Industrie. Das (Beifall bei der SPD) war bisher mitnichten so. Es traf lediglich auf wenige Einzelfälle zu, die uns gleichwohl besorgt machen soll- Peter Friedrich (SPD): ten. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Des Weiteren finde ich, dass Ihr Antrag an einer Wir haben nicht nur im April, sondern auch im Juni die- Stelle ein ganz gewaltiges Manko aufweist; deswegen ist ses Jahres eine Debatte über das Verhältnis von Parla- die SPD-Fraktion mit der Vorlage des Innenministeriums ment, Regierung und Interessenvertretungen geführt. Als noch nicht ganz zufrieden. Sie fordern in Ihrem Antrag, Ergebnis dieser Debatte möchte ich festhalten: Wir alle den Bundesbehörden zu untersagen, externe Personen zu waren einvernehmlich der Überzeugung, dass Interes- beschäftigen, die für Verbände oder für eine Personen- senvertretungen zu einer demokratischen Verfassung ge- und Kapitalgesellschaft mit nichtstaatlichen Anteilseig- hören und dass Interessenvertretung legitim ist, wenn sie nern arbeiten. Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel nen- keinen unzulässigen Einfluss auf staatliche Institutionen nen: die Deutsche Bahn. Da Sie sich an den Diskussio- ausübt. Wir alle wissen: Es ist notwendig, dass in einem nen über die Deutsche Bahn immer aktiv beteiligt haben, Gesetzgebungsverfahren alle Betroffenen angehört und wissen Sie: Die Bahn ist zu 100 Prozent ein Bundes- all ihre Befürchtungen und Sorgen berücksichtigt unternehmen. Gleichwohl möchte natürlich auch ich werden. Gleichwohl stehen wir vor der Aufgabe, die wissen: Wie ist hier der Personalaustausch geregelt? Wie Verhältnisse klarer zu regeln, und zwar nicht nur im kon- ist hier die Situation im Hinblick auf die Mitarbeit in kreten Fall der Mitarbeit in einem Ministerium, sondern Ministerien? Ich halte es nach wie vor für legitim, dass insgesamt. bestimmte Personen abgestellt werden, auch von nach- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19105

Peter Friedrich (A) gelagerten Behörden und öffentlichen Unternehmen. Ich In diesem Sinne wäre ich froh, wenn wir als Parla- (C) möchte aber, dass Transparenz besteht. Der Bürger sollte ment bei dem, was jetzt vom Innenministerium auf dem erfahren: Wer hat mitgewirkt? Wer stand dahinter? Tisch liegt, noch ein bisschen weitergehen würden. Es ist Aufgabe des Parlaments, darüber zu wachen, dass die Wenn ich mir den Bericht des Innenministeriums, der Gesetzgebung ordnungsgemäß verläuft, und es ist Auf- uns jetzt vorliegt, ansehe und zur Kenntnis nehme, wie gabe des Parlaments, die Exekutive zu kontrollieren. hoch die Zahl externer Personen ist und wie das Krite- Deswegen finden wir, dass das eine Aufgabe für das ge- rium „extern“ gefasst ist, muss ich sagen: Dieses Raster samte Parlament und nicht nur für einzelne Ausschüsse halte ich, ehrlich gesagt, für etwas zu grob. Auch hier ist. wird der Begriff „öffentlicher Dienst“ verwendet. Dann wird eine ganze Reihe von Personen dem öffentlichen Wir denken, dass das, was jetzt von der Bundesregie- Dienst gleichgestellt: juristische Personen, Gesellschaf- rung in Reaktion auf den Bericht des Bundesrechnungs- ten oder andere Personenvereinigungen, die sich aus- hofs auf den Weg gebracht wurde, noch ein wenig ausge- schließlich in öffentlicher Hand befinden, zwischenstaat- baut werden muss, um die notwendige Transparenz liche oder überstaatliche Einrichtungen, an denen der tatsächlich zu erreichen. Bund, ein Land oder eine andere Körperschaft, Anstalt Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. oder Stiftung des öffentlichen Rechts im Bundesgebiet oder ihre Verbände durch Zahlung von Beiträgen oder (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ralf Zuschüssen oder in anderer Weise beteiligt sind. – Das Göbel [CDU/CSU]) ist ein sehr weites Feld. Ich sage Ihnen noch einmal: Es geht nicht darum, ei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nen Austausch per se zu untersagen, sondern darum, Jetzt spricht Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen. Transparenz zu schaffen. Alle sollten wissen, wer dort tatsächlich arbeitet. Daher hält die SPD den Vorschlag, Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): im jeweiligen Gesetz zu vermerken, wer an seiner Bera- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trans- tung und an seinem Zustandekommen beteiligt war parenz in der öffentlichen Verwaltung und Neutralität – dieser Vorschlag wurde eben gemacht –, für sinnvoll des exekutiven Handelns sind natürlich wichtige The- und zielführend. men für die Demokratie. Deshalb haben wir bereits im April dieses Jahres einen Antrag eingebracht, den wir Des Weiteren sollten die Berichte über den Einsatz am 25. April hier gelesen haben. Aus diesem Grunde Externer öffentlich sein, um diese Transparenz herzu- fragt man sich: Warum müssen wir im Nachklapp um stellen. Es reicht aus unserer Sicht nicht aus, dies allein diese Zeit noch einmal über einen Antrag zu diesem (B) den Ausschüssen zur Verfügung zu stellen, sondern wir (D) Thema debattieren, zumal er einfach schlecht gemacht finden, dass einer breiten Öffentlichkeit mitgeteilt wer- ist? den kann, wer an den Gesetzgebungsverfahren tatsäch- lich mitwirkt. Nach allem, was wir wissen, kann man das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durchaus publizieren; denn es gibt ja nichts, was dort ge- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) heim gehalten werden müsste. Dadurch würde Transpa- Sie sagen, dass es keine externen Mitarbeiter bei Bun- renz hergestellt und Vertrauen dafür geschaffen werden, desbehörden mehr geben solle. In Ihrer Begründung zi- dass es dort ordnungsgemäß zugeht. Wir haben daran tieren Sie auch noch den Satz des Bundesrechnungshofs, keinen Zweifel, aber eine entsprechende Transparenz ist wonach ein besonderes Problem bei Personenunterneh- notwendig. men bestehe. Ausgerechnet diese lassen Sie aus Ihrem Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, um Antrag aber heraus. Das, was Sie hier vorgelegt haben, den es in dieser Debatte immer wieder geht. Für den ist also völlig undurchdacht. Deutschen Bundestag gibt es ein Verbändeverzeichnis, Ihr Antrag klingt populistisch. in dem aufgeführt ist, welche Verbände prinzipiell zu Anhörungen etc. eingeladen werden können. Leider wird (Ralf Göbel [CDU/CSU]: Das ist dieses Verbändeverzeichnis bei Anhörungen in der Re- populistisch!) gel nicht angewendet, sondern es werden weit mehr Ver- Sie wollen das überhaupt nicht mehr. Damit lösen Sie bände eingeladen, als darin aufgeführt sind. die Probleme nicht, und hinsichtlich der Abgrenzung ist Häufig wissen wir eigentlich nicht, wer hinter diesen dieser Antrag auch noch dilettantisch gemacht. Verbänden steht und wer die Interessen vertritt, die diese Ich glaube, es ist wirklich wichtig, dass wir überle- Verbände formulieren. Deswegen ist es unser Wunsch gen, wie wir Transparenz erreichen können. Die Richtli- und unsere Hoffnung, dass wir es gemeinsam hinbekom- nien, die die Bundesregierung in Kraft gesetzt hat, finde men, dass dieses Verbändeverzeichnis dahin gehend er- ich dafür in der Tat einfach nicht ausreichend. Wir haben weitert wird, dass wir in Zukunft nicht mehr nur den Sitz in unserem Antrag – orientiert an dem Bericht des Bun- und den Namen erfahren, sondern auch, wer diesen Ver- desrechnungshofs – wesentlich klarere Vorgaben ge- bänden welche Zuwendungen und Mittel für ihre Tätig- macht. keit als Interessenvertretung zur Verfügung stellt. Das wäre ein weiterer Schritt. Eine Interessenvertretung soll, Ich finde, wenn Sie Mitarbeiter von Externen einstel- muss und kann erfolgen; sie muss aber transparent sein len – gegen eine befristete Einstellung habe ich gar und sich nachvollziehen lassen. nichts –, dann soll jeder hier im Hohen Hause und in der 19106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Volker Beck (Köln) (A) Öffentlichkeit aufgrund eines Footprints wissen, wie müssen. In unserer Fraktion hat in der Sommerpause (C) diese Person an dem Gesetzentwurf, der im Hohen Haus eine mit 200 Personen gut besuchte Veranstaltung zu eingebracht wird, mitgewirkt hat. dieser Frage stattgefunden. Wir müssen allerdings – dazu hatte die Linksfraktion schon einen Antrag vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gelegt – auch die verfassungsrechtlichen Rahmenbedin- Das muss transparent sein, damit ich mich fragen kann, gungen beachten, in denen wir uns bewegen. Dazu ge- ob Expertisen oder Interessen eingeflossen sind. Ich hört etwa die Frage, inwieweit wir in die internen muss wissen, wer daran gearbeitet hat. Wenn ich weiß, Angelegenheiten beispielsweise von Vereinen eingreifen dass das keine Bundesbeamten waren, dann habe ich können. Denn auch die Vereinigungsfreiheit ist ein ge- ganz andere Prüffragen hinsichtlich einer Vorlage, als schütztes Gut. wenn ich mir dessen nicht bewusst bin. Wir brauchen hier mehr Transparenz und Verbindlich- Wenn die Verwendung externer Mitarbeiter prinzi- keit. Aber das Ganze muss mit Augenmaß und im Hin- piell nichts Anrüchiges ist, wie die Bundesregierung blick auf unsere Verfassung und die Grundrechtspositio- meint und was ich grundsätzlich verstehe, dann muss nen erfolgen. man sich vor Transparenz auch nicht scheuen und dann Vielen Dank. kann am Ende auch der Jahresbericht des Bundesinnen- ministeriums zu diesem Thema auf der Homepage des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ministeriums im Internet stehen. Jeder Bürger weiß dann, wenn er irgendwo anruft, ob er mit einem Bundes- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: beamten, einem Angestellten des öffentlichen Dienstes Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für die CDU/ oder mit jemandem redet, der extern entsandt wurde, CSU-Fraktion. weil er eine bestimmte Erfahrung und Expertise in die Verwaltung einbringt oder auch weil sein Unternehmen will, dass man etwas Erfahrung hinsichtlich der Bundes- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): verwaltung sammelt, was erst einmal nichts Illegitimes Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Mit ist. Rücksicht auf die späte Stunde und die Kollegen wollte ich meine Rede eigentlich zu Protokoll geben. Ich glaube, wir dürfen bei der ganzen Debatte über Lobbyismus und Demokratie nicht den Lobbyismus und (Beifall bei Abgeordneten der SPD – die Interessenvertretung in der demokratischen Gesell- Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaft insgesamt für kritikwürdig halten. Entscheidend NEN]: Machen Sie es doch!) ist, inwiefern die Interessenvertretung von der Willens- (B) Aber weil niemand anders dazu bereit war, rede ich jetzt (D) bildung im Parlament und auch vom exekutiven Handeln trotzdem und sage etwas, was ich sonst nicht zu Proto- getrennt ist und dass der Bürger nachvollziehen kann, koll gegeben hätte: Was dieses Hohe Haus garantiert dass keine illegitime externe Einflussnahme und schon nicht braucht, sind SED-Nachfahren, die uns sagen, wie gar keine Einflussnahme, die mit Geldflüssen korreliert, man saubere Politik betreibt. stattgefunden hat. (Widerspruch bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dass es Regelungsbedarf gab, ist unbestritten. Es Das erwarten die Menschen von uns, und in diesem wurde aber deutlich, wie weit das Verfahren fortgeschrit- Punkt müssen wir nacharbeiten. ten ist. Sie springen jetzt auf einen fahrenden Zug auf Es war schon eine Unverschämtheit des Bundes- und tun so, als wären Sie Lokomotivführer. innenministeriums insbesondere gegenüber den Koali- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das hätten Sie tionsfraktionen, in der Sommerpause ungehindert von wohl gern!) parlamentarischer Einflussnahme eine nicht ausgegorene Richtlinie als Verwaltungsvorschrift in Kraft zu setzen. – Das hätten Sie wohl gern. Ich sage das auch deshalb, weil ich heute den ganzen Tag verfolgt habe, was für ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Getöse auf der linken Seite insbesondere zu bayerischen Ralf Göbel [CDU/CSU]: So war es nicht!) Themen veranstaltet wurde. So geht man mit seinen Koalitionsfraktionen nicht um. Ich meine, dass die Initiative des Haushaltsausschus- Man sieht auch an den Mienen Einzelner, dass bei ihnen ses und der entsprechende Kabinettsbeschluss – Peter heimlich das Messer in der Tasche aufgegangen ist. Altmaier sitzt hier – richtig, konsequent und ausreichend (Peter Friedrich [SPD]: Auch da sind wir waren. Es war notwendig, mehr Transparenz zu schaf- transparent!) fen, wie es der Kollege Göbel umfassend dargestellt hat. Was aber beibehalten werden muss, ist der Wissenstrans- Das ist kein guter Umgang miteinander insbesondere in fer zwischen der Wirtschaft – das ist in Deutschland einer Frage, bei der die Regierung in der Kritik des Par- noch ein wichtiger Faktor, jedenfalls zumindest solange laments stand. Sie nichts zu sagen haben – und unseren Ministerien. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schon als ich Ihren Antrag gelesen habe, hatte ich den Sie hatten als letzten Punkt das Lobbyistenregister an- Verdacht, dass es wieder um irgendeine wirtschaftsfeind- gesprochen. Ich meine, dass wir damit weiterkommen liche Initiative geht. Aber nachdem ich Ihre Begründung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19107

Dr. Georg Nüßlein (A) gehört habe, Herr Kollege Claus, bin ich mir sicher. – zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne- (C) Denn Sie haben lamentiert, dass zwar die Wirtschafts- ten Ernst Burgbacher, Jens Ackermann, vertreter, aber nicht die Arbeitslosenverbände und an- Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und dere – wen auch immer Sie aufgezählt haben – einge- der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung bunden sind. durch die Bundesregierung Ich teile die Kritik an der Beteiligung von Externen Tourismuspolitischer Bericht der Bundesre- – von Lobbyisten, wenn Sie so wollen – in einem so frü- gierung – 16. Legislaturperiode – hen Stadium des Gesetzgebungsverfahrens. – Drucksachen 16/8000, 16/8194, 16/10187 – (Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!) Berichterstattung: Letzten Endes kommt es aber darauf an, was wir selber Abgeordnete Klaus Brähmig aus den Referentenentwürfen machen. Ich kann nur dazu Annette Faße ermutigen und auffordern, im parlamentarischen Verfah- Ernst Burgbacher ren das eine oder andere zu ändern, was wir auch tun. Ich Dr. Ilja Seifert würde nicht ohne Weiteres behaupten, dass ein Referen- Bettina Herlitzius tenentwurf ohne Beteiligung Dritter – insbesondere von- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- seiten der Wirtschaft – unbedingt besser wird. Das richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus- glaube ich nicht. schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Der Bürokratieabbau ist ein eigenes Thema. Ich sage Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Ihnen ganz offen: Wer glaubt, dass wir zum Abbau der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Bürokratie zu wenige Beamte haben, täuscht sich aus Annette Faße, Brunhilde Irber, Renate Gradistanac, meiner Sicht. Ich meine, dass es darauf ankommt, mög- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD lichst früh Expertise in die Verfahren zu bringen, und dass die Lobby in den parlamentarischen Verfahren eine Messen und Geschäftsreisen als Chance für gewisse Rolle spielen sollte. den Tourismusstandort Deutschland Mit solchen Anträgen wie dem vorliegenden erwe- – Drucksachen 16/5958, 16/9255 – cken Sie den Eindruck – dieser besteht draußen sowieso –, Berichterstattung: dass wir von der Lobby beherrscht werden. Lassen Sie Abgeordnete Jürgen Klimke mich deutlich sagen, dass die Lobby im politischen Ver- Brunhilde Irber fahren wichtig ist, weil wir nur so die Chance haben Ernst Burgbacher (B) – wenn man so einseitig ist wie Sie, spielt das natürlich Dr. Ilja Seifert (D) keine Rolle –, die Positionen verschiedener Seiten ken- Bettina Herlitzius nenzulernen und zu erfahren, welche Konsequenzen aus dem einen oder anderen Verfahren zu ziehen sind. Erst c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dann kann man zu einer wohlabgewogenen Position richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus- kommen. Ich weiß, dass insbesondere Sie, meine Damen schuss) und Herren von der linken Seite, ein ganz spezielles Pro- – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus blem mit wohlabgewogenen Positionen haben. Das wer- Brähmig, Bernward Müller (Gera), Dr. Hans- den wir nicht ändern. Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam- geordneten Annette Faße, Renate Gradistanac, keit. Bettina Hagedorn, weiterer Abgeordneter und (Beifall bei der CDU/CSU) der Fraktion der SPD Chancen des demographischen Wandels im Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Tourismus nutzen Ich schließe die Aussprache. – zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth, Drucksache 16/9484 an die in der Tagesordnung aufge- weiterer Abgeordneter und der Fraktion führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Barrierefreiheit und demografischer Wan- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 f auf: del – Auf die Herausforderungen für den Tourismus reagieren a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus- – Drucksachen 16/8777, 16/9315, 16/10073 – schuss) Berichterstattung: – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- Abgeordnete Jürgen Klimke rung Renate Gradistanac Ernst Burgbacher Tourismuspolitischer Bericht der Bundes- Dr. Ilja Seifert regierung – 16. Legislaturperiode – Bettina Herlitzius 19108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstem dem (C) Brähmig, Uda Carmen Freia Heller, Dr. Hans- Kollegen Ernst Hinsken für die Bundesregierung das Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und Wort. der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- neten Annette Faße, Engelbert Wistuba, Dr. Carl- (Beifall des Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU]) Christian Dressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung Reformationsjubiläum 2017 als welthistori- für Tourismus: sches Ereignis würdigen Verehrte Frau Vizepräsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Tourismus ist neben der Biotechnolo- – Drucksache 16/9830 – gie, dem IT-Sektor und der Gesundheitswirtschaft die Überweisungsvorschlag: Wachstumslokomotive des 21. Jahrhunderts. Wir spre- Ausschuss für Tourismus (f) chen nicht umsonst von einer Leitökonomie der Zukunft. Auswärtiger Ausschuss Wir können uns in der Bundesrepublik Deutschland froh Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und glücklich schätzen, dass gerade die Tourismuswirt- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung schaft momentan boomt. So hatten wir im vergangenen Ausschuss für Bildung, Forschung und Jahr fast 362 Millionen Übernachtungen. Unter den Technikfolgenabschätzung Übernachtungsgästen waren 55 Millionen Ausländer. Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Dies entspricht einem Zuwachs von 3,6 Prozent. Wir können uns auch darüber freuen, dass gerade die Touris- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus muswirtschaft seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 Brähmig, Anita Schäfer (Saalstadt), Dr. Hans- läuft. Der Ball rollt, und die Zahlen und Ergebnisse wer- Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und den immer besser. der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- neten Annette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Renate Besonders erfreulich ist für mich als Tourismusbeauf- Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der tragtem der Bundesregierung, dass inzwischen viele Fraktion der SPD Mitbürgerinnen und Mitbürger erkannt haben, dass es sich bei der Tourismuswirtschaft um einen Wirtschafts- Bauernhofurlaub und Landtourismus weiter faktor handelt, der mehr und mehr ausgebaut werden fördern – Ländliche Räume nachhaltig stär- kann. Wir haben gerade zu Beginn dieses Jahres seitens ken der Bundesregierung den Tourismuspolitischen Bericht vorgelegt. Der Bericht zeigt, dass die Tourismusbranche (B) – Drucksache 16/10320 – (D) vor ganz großen Herausforderungen steht. Wenn ich die Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f) Herausforderungen mit einem Kuchen vergleiche, dann Ausschuss für Wirtschaft und Technologie stelle ich fest: Wir alle sind gefordert, alles zu tun, um Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ein großes Stück dieses Kuchens, der weltweit zur Ver- Verbraucherschutz teilung ansteht, abzubekommen; denn um den einzelnen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Gast, den einzelnen Touristen wird weltweit gebuhlt. Da Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung dürfen wir nicht abseitsstehen. Da müssen wir dabei Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union sein. Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Zurzeit sind wir seitens der Bundesregierung dabei, Leitlinien für die Zukunft des Tourismussektors zu erar- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja beiten. Seifert, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Sehr gut!) Barrierefreier Tourismus für alle in Deutsch- Wir wollen damit den vielen kleinen und mittelständi- land schen Betrieben der Tourismusbranche einen Schub ge- – Drucksache 16/10317 – ben. Wir wollen günstige Rahmenbedingungen schaffen. Überweisungsvorschlag: (Klaus Brähmig [CDU/CSU], an die FDP ge- Ausschuss für Tourismus (f) wandt: Da können Sie ruhig mal klatschen!) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Herr Kollege Brähmig, von denen können Sie es nicht Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erwarten. Das müssen Sie selber machen. Haushaltsausschuss (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Zu dem Tourismuspolitischen Bericht der Bundes- regierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion – Ich sage das bei der Gelegenheit. Die Linke vor. Wenn ich heute darauf verweise, dass wir an solchen Es ist verabredet, hier eine Dreiviertelstunde zu de- Leitlinien arbeiten, so möchte ich besonders unterstrei- battieren. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das chen, dass es mir darum geht, einen Konsens auch über so beschlossen. parteipolitische Grenzen hinweg zu finden; Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19109

Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Luther-Dekade von 2008 bis 2017. Doch ich kann mich (C) neten der SPD und der FDP) hier kurzfassen, weil sich meine Kollegin Heller noch ausführlich dazu äußern wird. Ich möchte bei der Gele- denn Tourismus ist etwas, was uns alle angeht und was genheit aber auch neue Trends ansprechen, die nicht ver- uns allen auf den Nägeln brennt. Ich bin besonders dank- nachlässigt werden dürfen. bar dafür, dass Sie, Frau Kollegin Faße, sich heute Mor- gen neben dem Kollegen Brähmig hervorragend einge- (Ute Kumpf [SPD]: Sogar die Chinesen bracht haben. kommen zu uns!) (Beifall der Abg. Brunhilde Irber [SPD]) – Nicht nur die Chinesen. Sie werden sich besonders Wir wollen gerade mit diesen Leitlinien Deutschland freuen, wenn sie in Ihre Nähe kommen. – Ich meine mit weiterhin kraftvoll im Ausland vermarkten; neuen Trends auch den Religionstourismus. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Jawohl!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) denn Tourismuspolitik ist die beste Außenpolitik, die es Im vergangenen Jahr gab es weltweit über 200 Millionen überhaupt gibt. Religionstouristen, die mehr als fünf Tage unterwegs waren. Man muss natürlich unterscheiden zwischen dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Pilger, der nach Mekka geht, und demjenigen, der auf neten der SPD) dem Jakobsweg wandert, der vor allen Dingen die Stille Wir wollen die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingun- und die Natur sucht und zu sich selber finden möchte, gen in den Bereichen Steuern, Verkehr, Umwelt und Ver- oder der auf dem Benedikt-Weg in Altötting, Kollege braucherschutz optimieren, um nur einige wenige zu Mayer – auch eine große Attraktion in der Bundesrepu- nennen. Wir wollen den steigenden Anforderungen des blik Deutschland –, wandert. globalisierten Tourismus mit noch mehr Qualität begeg- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen. Unser Land ist nicht mit immer weiß-blauem Him- neten der SPD) mel, Schließlich haben wir 861 Wallfahrtsorte und über (Frank Spieth [DIE LINKE]: Bayern schon!) 800 000 Pilgerreisen allein in der Bundesrepublik Sonne, Meer, viel Wärme und dergleichen gesegnet. Deutschland zu verzeichnen. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Bayern Lassen Sie mich noch auf Folgendes verweisen: schon!) Wenn ich die breite Palette des Bereiches Tourismus hier anspreche, dann wäre meine Schilderung nicht vollstän- (B) Wir müssen das durch Qualität ersetzen, und wir sind da- dig, wenn ich nicht auch den Urlaub auf dem Bauernhof (D) bei. – Kollege Dr. Nüßlein, ich pflichte Ihnen bei, dass erwähnen würde. Hier profitieren vor allen Dingen be- es in Bayern noch ein bisschen besser als in anderen Re- nachteiligte Gebiete. Es ist eine zusätzliche Einnahme- gionen der Republik ist. quelle für Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Tourismus (Beifall des Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU]) in der Fläche praktizieren. Auch hier haben wir Gas ge- geben. Auch hier haben wir positive Zahlen zu verzeich- Wir wollen darüber hinaus dafür sorgen, dass wir eu- nen. Auch hier wollen wir die Betroffenen mehr denn je ropaweite, ja weltweite Wettbewerbsverzerrungen ab- unterstützen. bauen. Es gilt insbesondere, die Stärken, die wir haben, noch stärker herauszustellen. Wo liegen unsere Stärken? (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bei Messen und Geschäftsreisen zum Beispiel ist Zwei letzte Bemerkungen. Erstens. Für uns ist vor al- Deutschland top. Deutschland ist Nummer eins bei den len Dingen der demografische Faktor wichtig, dem es Messen in aller Welt, Deutschland ist Nummer zwei bei Rechnung zu tragen gilt. Wir können nicht wegdiskutie- den Kongressen auf der ganzen Welt, und bei Geschäfts- ren, dass in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr reisen liegt bei uns der Anteil bei 28 Prozent, während er 2030 jeder Dritte älter als 60 Jahre ist und dass es im weltweit, auf die einzelnen Länder bezogen, nur bei Jahr 2040 mehr über 50-Jährige als unter 50-Jährige 16 Prozent liegt. Hier gilt es, unsere Marktführerschaft gibt. auszubauen. Das geht nicht von selber. Da brauchen wir vernünftige Rahmenbedingungen. Deshalb habe ich vor (Ute Kumpf [SPD]: Aber das sind dann flotte einigen Monaten Vertreter der Messewirtschaft zu mir Alte!) ins Ministerium geladen, um zu beraten, was getan wer- Die Altersgruppe der 49- bis 74-Jährigen macht in der den soll und getan werden muss, damit die Messewirt- Bundesrepublik Deutschland zwar nur 29 Prozent aus; schaft einen weiteren Schub bekommt und wir ganz im Tourismussektor sind es allerdings 48 Prozent. Das vorne bleiben. ist Zukunftsmusik. Es gilt, dies aufzugreifen und Rah- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- menbedingungen zu schaffen. Da sind wir alle gefordert, neten der SPD) damit die Tourismuswirtschaft diese neuen Strömungen erfassen und berücksichtigen kann. Stark ist Deutschland, unsere Republik, auch beim Städte- und Kulturtourismus. Ich könnte hier etwas nen- Zweitens. Ich muss noch den barrierefreien Touris- nen, was die Mitbürgerinnen und Mitbürger und insbe- mus erwähnen; sonst wäre mein Kollege Dr. Seifert be- sondere die Politiker momentan bewegt, nämlich die stimmt nicht zufrieden. Barrierefreiheit bedeutet in mei- 19110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken (A) nen Augen ein Glückserlebnis für viele Mitbürgerinnen tragten wurde geschaffen. Er hat eine klitzekleine Abtei- (C) und Mitbürger, auch in der Bundesrepublik Deutschland. lung, aber das Wichtigste, die Mittel, die für den Touris- mus vorhanden sind, sind gerade einmal zu einem guten (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Drittel beim Wirtschaftsministerium veranschlagt; der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP Rest ist bei anderen Ministerien. Damit kann man keine und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Tourismuspolitik machen. Deshalb brauchen wir eine Es lohnt sich, daran zu arbeiten. Über den Kongress mit Strukturreform in der Regierung. Notwendig ist eine über 200 Teilnehmern hinaus, den wir vor 14 Tagen im Konzentration der Mittel und der Aufgaben im Wirt- Ministerium durchgeführt haben, gilt es, weitere Maß- schaftsministerium. Dann können wir eine schlagkräf- nahmen zu treffen und das Notwendige zu tun. tige Tourismuspolitik machen. (Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE (Beifall bei der FDP) LINKE]) Das Zweite. Der Tourismusbeauftragte hat uns gerade – Liebe Frau Kollegin Dr. Enkelmann, wir wissen schon, gesagt, er habe die Vertreter der Messewirtschaft einge- worauf es ankommt. Wenn Sie bereit sind, das mitzutra- laden. Es ist ja schön, wenn die eingeladen werden. Ich gen, vermisse aber jegliche Aussage dazu, was eigentlich da- bei herausgekommen ist, ob die Bundesregierung auch (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber nur irgendeine Konsequenz aus diesem Gespräch gezo- gerne!) gen hat. Es gab dann eine Einladung an die Reisebusver- sind Sie auf dem richtigen Weg. Das würde ich Ihnen anstalter, um mit ihnen Maßnahmen aufgrund der gestie- auch empfehlen. genen Energiekosten zu diskutieren. Es wurde diskutiert; das Ergebnis war null, wirklich null. So kann man nicht Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf Politik machen. Wenn ich sie einlade, muss ich nachher ich von Herzen für die Aufmerksamkeit danken. auch sagen, welche Konsequenzen ich daraus ziehe. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Annette Faße [SPD]: Oder wenn man keine zieht! Man kann ja auch keine ziehen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Ernst Burgbacher hat jetzt das Wort für Das ist überhaupt nicht erfolgt. die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Bei den großen Fragen, die die Tourismuswirtschaft beschäftigen, ist leider völlige Fehlanzeige. Lieber Ernst (B) (D) Ernst Burgbacher (FDP): Hinsken, wir hören bei jeder Veranstaltung, bei der der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tourismusbeauftragte auftritt, die Forderung nach Ein- Lieber Ernst Hinsken, die Rede hat genau das widerge- führung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes für die spiegelt, was Inhalt des Berichts ist, nämlich eine Auf- Hotellerie. Mich wundert es dann schon, zählung von Feststellungen über den Deutschlandtouris- (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das hast du mus, aber eigentlich etwas völlig Unpolitisches. Ich habe doch heute früh schon einmal zum Jahressteu- in der Rede jegliche politische Botschaft vermisst. Das ergesetz erzählt!) vermisse ich leider auch in dem Bericht. warum die CSU, die bayerische Landesregierung, als die Ich will der kleinen Abteilung im Bundeswirtschafts- baden-württembergische Landesregierung den Antrag ministerium ausdrücklich danken, die mit einer Riesen- im Bundesrat eingebracht hatte, dies umzusetzen, im arbeit vieles zusammengestellt hat, was von der Anwen- Wirtschaftsausschuss dagegengestimmt hat. Das muss dung her allerdings nicht allzu viel bringt. Wir sind hier uns einmal jemand erklären. Ich kann das doch nicht bei im deutschen Parlament, und wir haben darüber zu re- allen Veranstaltungen fordern, und die eigene Partei und den, was politisch getan werden muss. Das ist unsere die eigene Regierung lassen mich dann im Regen stehen. Aufgabe. (Ute Kumpf [SPD]: So sind sie halt, die CSU- Im Bericht habe ich all die Ziele gelesen und dann als ler!) Konsequenz, die Branche müsse angesichts der Verände- rungen offener und flexibler werden. Ich sage Ihnen: Die Dass Bayern nachher im Bundesrat doch dafür gestimmt Branche hat sich weit geöffnet. Die Branche ist flexibel. hat, lag an entsprechendem Druck. Aber wer weiß denn Das eigentliche Problem ist, dass die Bundesregierung von uns, was nach dem nächsten Sonntag passiert? Ich weder offen noch flexibel ist. habe diese Frage heute Morgen dem Vorsitzenden des Finanzausschusses gestellt. Er hat sich gewunden und (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ überhaupt nichts gesagt. Deshalb müssen die Menschen DIE GRÜNEN – Ingbert Liebing [CDU/ draußen wissen: Mit der Union wird das nicht passieren; CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) es wird nur passieren, wenn die FDP stark wird und wei- Ich will in der Kürze der Zeit nur einige Punkte auf- ter Druck machen kann. zählen, die wir kritisieren: (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD – Das Erste. Es besteht eine völlig falsche Organisation Zuruf von der CDU/CSU: Daran glaubt ihr in der Bundesregierung. Das Amt des Tourismusbeauf- doch selber nicht!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19111

Ernst Burgbacher (A) Die CSU hat es geschafft, dieses Thema bei den Ski- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) liften plötzlich durchzubringen. Andere haben dabei mit- Gabriele Hiller-Ohm hat jetzt das Wort für die SPD- gemacht, weil sie gesagt haben, das sei ja nicht unver- Fraktion. nünftig. Dass aber an dieser Stelle geblockt wird, müssen die Leute draußen wissen. Das sollte man den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Menschen draußen deutlich sagen. der CDU/CSU)

Ähnliches haben wir bei Themen wie Jugendarbeits- Gabriele Hiller-Ohm (SPD): schutzgesetz und Feinstaubdebatte. Welchen Wahnsinn Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! veranstalten wir im Augenblick im Hinblick auf den Lieber Herr Burgbacher! Ich bedanke mich für meine Deutschlandtourismus, wenn ausländische Touristen Fraktion bei den Autoren des Tourismuspolitischen Be- nicht wissen, wie sie in die Städte hineindürfen, wenn richts, natürlich ganz besonders bei unserem Tourismus- die Busse ihre Leute am Stadtrand ausladen müssen und beauftragten Ernst Hinsken. sie dann in alte Kutschen vom ÖPNV umgeladen wer- den! Welcher Unsinn ist das! Nichts davon wurde korri- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) giert; alles ist wie vorher. Das ist keine Tourismuspolitik. Darauf können wir wirklich verzichten. Der Tourismus in Deutschland boomt. Mit rund 360 Millionen Übernachtungen haben wir eine Zahl er- (Beifall bei der FDP) reicht, von der wir lange nicht zu träumen wagten. Das waren nämlich noch einmal 8 Millionen mehr als im Ganz entscheidend ist: Tourismuspolitik ist Mittel- Fußball-WM-Rekordjahr 2006. Rund 2,8 Millionen Ar- standspolitik. Wir alle wissen: Die touristische Struktur beitsplätze hängen direkt und indirekt vom Tourismus in Deutschland ist – zum Glück ist es so – weitgehend ab. Fast 120 000 junge Menschen finden hier einen Aus- mittelständisch geprägt. Deshalb wäre eine aktive Tou- bildungsplatz. rismuspolitik vor allem, Rahmenbedingungen für den Mittelstand zu setzen. Exakt das Gegenteil wurde ge- Schon diese Zahlen machen deutlich, wie wichtig der Tourismus für unser Land ist. Es ist deshalb mehr als är- macht: Die größten Steuererhöhungen in der Geschichte gerlich, dass der Tourismus in der Haushaltsdebatte der der Bundesrepublik haben den Mittelstand besonders letzten Woche vom zuständigen Wirtschaftsminister stark getroffen. Darunter leidet der Mittelstand. mit keinem einzigen Wort erwähnt wurde. Darunter leiden aber auch alle Menschen. Im vergan- Auch heute ist er wieder nicht da. Es ist zwar ziemlich genen Jahr ist die Zahl der Familien mit zwei Kindern, spät geworden, aber ich hätte mich trotzdem sehr über (B) die Urlaub gemacht haben, um fast 10 Prozent zurückge- seine Anwesenheit gefreut. (D) gangen. Das ist das deutlichste Zeichen für die verfehlte (Ute Kumpf [SPD]: Der testet den Tourismus Politik. Angesichts dessen darf man hier doch nicht alle in Bayern! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Da- möglichen hehren Ziele formulieren. Ich muss den Men- für ist doch der Ernst Hinsken da!) schen das Geld in der Tasche lassen, damit sie reisen können. Das ist das oberste Gebot. Vollkommen unverständlich ist darüber hinaus, dass sein Kollege Laurenz Meyer in der Haushaltsdebatte ei- (Beifall bei der FDP) nen Gegensatz zwischen Industrie- und Dienstleistungs- sektor konstruiert hat, der einfach nicht haltbar ist. Ich muss den Mittelstand unterstützen, damit er wirklich tätig werden kann, und darf ihn nicht durch Steuererhö- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hungen, durch die Androhung einer mittelstandsfeindli- Industrie ist wichtig, aber das Dienstleistungsgewerbe ist chen Erbschaftsteuerreform und anderes strangulieren. es natürlich auch. Meine Heimatstadt ist ein gutes Bei- Meine Damen und Herren, Tourismuspolitik bedeutet spiel: Lübeck war ein bedeutender Werftenstandort, an die Setzung richtiger Rahmenbedingungen. Da hilft kein dem viele Tausend Arbeitsplätze hingen. Die sind alle Bericht, da helfen keine Leitlinien, sondern da hilft poli- weggebrochen. Wäre da nicht der Tourismus, der Gott tische Aktivität. Diese vermissen wir, und wir werden sei Dank seit Jahren boomt, sie an jeder Stelle weiter anmahnen und, wenn wir in (Ute Kumpf [SPD]: Und das Marzipan!) Verantwortung sind, auch entfalten. so sähe es düster aus. So wie in Lübeck wird es in vielen (Annette Faße [SPD]: Da könnt ihr ja noch Teilen Deutschlands sein. Deshalb ist es so wichtig, lange warten!) nicht nur auf die Industrie zu setzen, sondern auch den Tourismus zu stärken und für eine gute Infrastruktur zu Dort, wo wir es in den Ländern tun können, machen wir sorgen. es. Keine Angst, auch im Bund werden wir es bald wie- der tun. (Beifall bei der SPD) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der FDP – Annette Faße [SPD]: Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des Der Glaube stirbt zuletzt!) Kollegen Lutz Heilmann von der Linken zulassen? 19112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Viertens. Überregionale Tourismusprojekte müssen (C) Nein, auf keinen Fall. unter den Ländern besser abgestimmt werden. Das setzt Synergieeffekte frei. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Der wollte Fünftens. Wir setzen uns ebenfalls für weniger Hür- jetzt auch einen Werbeblock für seine Stadt den bei der EU-Förderung von grenzüberschreitenden machen!) Tourismusvorhaben ein. Meine Damen und Herren, intakte Naturlandschaften, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der hohe Qualitätsstandards, vernünftige Arbeitsbedingun- CDU/CSU) gen und gute Löhne gehören zu einer guten touristischen Sechstens. Klimaschutz und Tourismus dürfen keine Infrastruktur. Um auf der Erfolgsspur zu bleiben, muss Gegensätze sein. Deshalb fordern wir eine gute Erreich- im Tourismus noch besser aus- und weitergebildet wer- barkeit der ländlichen Regionen mit öffentlichen Ver- den. Gute Serviceleistung hat ihren Preis. Deshalb muss kehrsmitteln, insbesondere mit der Bahn. Schluss sein mit Hungerlöhnen, von denen die Men- schen nicht leben können. (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Ihr habt die Strecken doch ausgedünnt!) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ihr seid doch an der Regierung! Fangt an!) Wir haben noch zehn weitere Forderungen in unserem Antrag formuliert. Aus Zeitgründen kann ich diese leider Wir kämpfen gerade auch im Hotel- und Gaststättenge- nicht mehr vorstellen. werbe für einen gesetzlichen Mindestlohn. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutsche Zen- (Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Lutz trale für Tourismus will den Landurlaub im nächsten Heilmann [DIE LINKE]) Jahr stärker bewerben. Das begrüßen wir ausdrücklich. Dann stehen Aktivurlaub, Radfahren und Wandern im Es ist auch richtig, dass wir endlich tourismuspolitische Mittelpunkt des nationalen Tourismusmarketings. Leitlinien formulieren müssen, an denen wir unsere Poli- tik ausrichten können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Außerhalb von Großstädten leben zwei Drittel der ge- Frau Kollegin! samten Bevölkerung. Deshalb ist der Tourismus beson- ders in den ländlichen Regionen so wichtig. Er bietet Gabriele Hiller-Ohm (SPD): hier Beschäftigungs- und Wachstumschancen. Ich freue mich ganz besonders, dass in diesen Tagen (B) (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Aha! Dann auf unser Drängen hin vom Ministerium eine Studie zum (D) fahren Sie einmal nach Fehmarn!) Wandertourismus in Auftrag gegeben worden ist. Es gibt im Landtourismus inzwischen rund 25 000 An- bieter, etwa 1,6 Millionen Urlaubsaufenthalte und einen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: geschätzten Umsatz von fast 950 Millionen Euro. Zur Frau Kollegin, Sie müssen jetzt dringend zum Ende weiteren Stärkung des Landtourismus haben wir einen kommen. umfassenden Forderungskatalog im vorliegenden Koali- tionsantrag ausgearbeitet: Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ich komme zum Schluss. – Diese Studie wird uns mit Erstens. Wir brauchen genaue Zahlen. Deshalb wol- Sicherheit viele weitere wertvolle Informationen zur len wir eine Grundlagenuntersuchung mit fundierter Da- Stärkung des Landtourismus liefern. tenlage, damit bestehende Marktpotenziale noch besser erschlossen werden können. Danke schön. Zweitens. Für den Tourismus im ländlichen Raum (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) müssen genügend Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Ich freue mich, dass es gelungen ist, die Mittel Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrar- Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert für struktur und des Küstenschutzes“ auf 700 Millionen die Fraktion Die Linke. Euro aufzustocken. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Drittens. Auch Menschen mit kleinem Geldbeutel, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herr Burgbacher, haben ein Recht auf Urlaub. Herren! Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik steht die Gesundheit der Bevölkerung – nicht die Gesundheits- (Ernst Burgbacher [FDP]: Richtig!) wirtschaft oder die Pharmaindustrie. Im Mittelpunkt der Der Landurlaub bietet hier gute Möglichkeiten vor allem Sportpolitik steht der Sport, stehen also die Sportlerin- für Familien mit Kindern. nen und Sportler – nicht Adidas und Nike. Im Mittel- punkt der Verkehrspolitik steht der sichere und pünktli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) che Transport von Personen und Gütern – nicht die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19113

Dr. Ilja Seifert (A) Verkehrsunternehmen und die Autokonzerne. Im Mittel- Wie nötig es ist, dafür noch viel zu tun, zeigten nicht zu- (C) punkt der Verteidigungspolitik steht die Sicherung des letzt die Konferenz der Bundesregierung am 11. Septem- Friedens – nicht die Rüstungsindustrie. ber und die dort vorgestellte Studie. Lassen Sie uns – es ist ja erfreulich, dass wir dieses Thema gemeinsam angehen (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Und was hat das wollen – gemeinsam vorankommen. Der heute hier vor- mit Tourismus zu tun?) liegende Antrag der Linken ist sicher ein sehr guter Weg, Das Gleiche gilt für die Tourismuspolitik, lieber Herr den wir gemeinsam gehen können. Kollege Brähmig: Im Mittelpunkt müssen die Bedürf- (Beifall bei der LINKEN) nisse der Bevölkerung nach Erholung, nach Bildung, nach Gesundheit stehen – nicht die Tourismuswirtschaft. Die Linke tritt auch für einen ökologisch verantwort- baren Tourismus ein. Wir wollen, dass alle Menschen (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Da stehen sie reisen und sich die Welt anschauen können, um ihre doch! Das ist doch unser Hauptanliegen! – Weltanschauung auszuprägen. Es geht uns darum, dass Ernst Burgbacher [FDP]: Und nach Arbeit!) nicht nur wenige Gutbetuchte reisen können. – Herr Brähmig, Sie wissen doch so gut wie ich, dass es Für uns ist es wichtig, dass Umwelt und Tourismus nicht so ist. Sie kennen die entsprechenden Leitlinien so nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dies sage ich in gut wie ich und wissen, dass es da um die Tourismus- dem Wissen, dass der Tourismus einer der Verursacher wirtschaft und nicht um die Menschen geht, die sich er- für Umweltschäden ist. Wir müssen hierfür einen ent- holen und bilden wollen. sprechenden Ausgleich schaffen. (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Da kann ich Ih- Die Linke tritt ebenfalls verstärkt für die Entwicklung nen nicht zustimmen!) des Tourismus auf dem Lande ein. Ich freue mich, dass, nachdem die Linke bereits am 17. Dezember des vergan- Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der genen Jahres einen entsprechenden Antrag vorgelegt hat, Tourismuspolitik der Bundesregierung und der Art und nun auch die Koalition nachzieht Weise, wie die Linke das Thema angeht. Sie machen das (Annette Faße [SPD]: Wir machen das in jeder Mittel zum Zweck. Wahlperiode!) Die Linke tritt ganz deutlich für einen Tourismus für und der Tourismusausschuss sogar meinem Vorschlag alle ein. Wir wollen, dass alle Menschen reisen können, folgt, am 21. Januar nächsten Jahres eine entsprechende um sich zu erholen, um sich zu bilden und um etwas für Anhörung auf der Grünen Woche durchzuführen. ihre Gesundheit zu tun. Es ist nicht akzeptabel, dass zu- (B) nehmend mehr Menschen in diesem reichen Land – vor (Annette Faße [SPD]: So sind wir mit der Op- (D) allem Familien mit Kindern, insbesondere mit kleinen position!) Kindern – nicht mehr reisen können, weil ihnen das Geld – Das ist doch gut; denn dies zeigt, dass man auch zu- dafür fehlt oder weil sie ihren Jahresurlaub nicht planen sammenarbeiten kann und nicht immer nur aufeinander oder nicht nehmen können. eindrischt. Ich will euch gerne loben, wo ihr zu loben (Ute Kumpf [SPD]: Das stimmt hinten und seid. Aber ihr müsst auch einsehen, dass man nicht alles vorne nicht, was Sie da erzählen!) loben kann. Wir wollen, dass auch Hartz-IV-Empfängerinnen und Die Linke – das will ich ausdrücklich sagen – tritt -Empfänger und deren Kinder einmal Urlaub machen auch ein für eine sich gut entwickelnde Tourismuswirt- können. schaft, insbesondere im kleinen und mittelständischen Bereich, für gute Arbeitsplätze, gute Ausbildungsplätze (Beifall bei der LINKEN) und für gute Löhne für gute Arbeit und will Nied- riglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse verhin- Das gehört in den Mittelpunkt der Politik und nicht das dern. Bestreben, dass es der Wirtschaft besonders gut geht. (Beifall bei der LINKEN – Ute Kumpf [SPD]: (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wie wollen Sie Das Paradies auf Erden!) das gestalten?) Lassen Sie mich zum Abschluss einen letzten Punkt Wir sagen nicht, dass es ihr schlecht gehen soll. Sie ist erwähnen, der mir sehr am Herzen liegt. Es geht um die aber nicht der Zweck, sondern nur das Mittel. Schulfahrten. Wir brauchen keinen Bildungsgipfel, auf dem uns die Kanzlerin erzählt, dass Bildung für alle Die Linke – das hat der Herr Tourismusbeauftragte wichtig sei; vielmehr brauchen wir eine verbindliche Re- freundlicherweise mit Blick auf mich gesagt; aber es gelung dafür, dass jede Schulklasse mindestens einmal geht nicht um mich, sondern um die Menschen, die es im Jahr eine Klassenfahrt machen kann, und zwar als betrifft, und am Ende um Bequemlichkeit für alle – tritt Bestandteil des staatlichen Bildungsauftrags, sodass die für einen durchgängig barrierefreien Tourismus ein. Lehrerinnen und Lehrer entsprechend abgesichert sind. „Durchgängig barrierefrei“ bedeutet, die gesamte touris- An dieser Stelle sollte der Bund nicht länger weg- tische Kette einzubinden: vom Internetangebot über das schauen. Abholen zu Hause, die Fahrt zum Urlaubsort, die Unter- bringung am Urlaubsort bis hin zu den Sehenswürdig- (Brunhilde Irber [SPD]: Das ist Sache der keiten am Urlaubsort und natürlich wieder retour. Länder!) 19114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Ilja Seifert (A) Hierfür brauchen wir Lösungen. Es wäre sehr schön, heute – das ist Tariflohn – 7,50 Euro. Es ist schon sehr (C) wenn die Kanzlerin dazu auf dem Bildungsgipfel klare schwierig, damit eine Familie zu ernähren. Dabei wer- Worte sagen würde und die Regierung dazu entspre- den noch nicht einmal überall 7,50 Euro gezahlt. Das chende Maßnahmen einleiten würde. heißt, hier müssen wir nachsteuern; hier ist noch einiges offen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und bis bald. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Klaus Brähmig [CDU/ (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CSU]: Dann müssen wir die Preise erhöhen!) CDU/CSU) Zum Beispiel kann man auch – das sage ich jetzt als – Dass das auch eine touristische Komponente hat, will Grüne und ein Stück weit mit Stolz – mit Naturschutz ich gar nicht bestreiten. Das sehen wir sogar sehr positiv. Geld verdienen. Die fast 800 000 Menschen, die jährlich den Bayerischen Nationalpark besuchen, finanzieren Präsident Dr. Norbert Lammert: 939 Vollzeitstellen. Ich hatte den Eindruck, Herr Kollege, Sie waren mit Ihrer Rede fertig. (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (Heiterkeit) – Das ist heute mal ein gutes Beispiel aus Bayern. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): DIE GRÜNEN und der SPD) Das war nur noch die Antwort auf einen Zuruf, Herr Steigende Preise und hohe Energiekosten verändern Präsident. die Anforderungen der Urlauber an die Urlaubsorte. Deutschland wird wieder als Reiseland interessant. Aber Präsident Dr. Norbert Lammert: auch die touristische Zielgruppe verändert sich. Unsere Bevor ich als nächster Rednerin der Kollegin Bettina Gesellschaft wird älter. Bis 2040 werden 40 Prozent der Herlitzius, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort Reisenden über 60 Jahre alt sein. Das heißt, der Markt erteile, möchte ich sagen: Herr Seifert, Ihr Vorschlag zur verändert sich. Die meisten Veranstalter haben sich noch Grünen Woche hat mir außerordentlich gut gefallen. Ich nicht darauf eingestellt. Wir müssen hier mit all unseren habe spontan überlegt, ob nicht die Verlagerung von Kräften politisch nachsteuern. Wir müssen dafür sorgen, Plenardebatten zur Grünen Woche die Gemütlichkeit dass der Tourismus in Deutschland nachhaltig und auch dieser Veranstaltung erheblich fördern könnte. Aber das barrierefrei gestaltet wird. Davon profitieren alle Grup- pen in dieser Gesellschaft. (B) greifen wir bei passender Gelegenheit im Ältestenrat (D) auf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bitte schön, Frau Herlitzius. Kommen wir zu meinem Lieblingsthema, dem öffent- lichen Nahverkehr. Aktuell kann man auf der Homepage Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der DB lesen, dass sie überlegt, wieder touristische Ziele Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich in ihr Programm aufzunehmen. Guten Morgen, Herr freue mich, dass Sie noch so zahlreich hier sind, zeigt Mehdorn! Ähnlich ist es beim Bedienzuschlag. Auch dies doch, wie wichtig der Tourismus für unser Land und dieses Thema wurde auf relativ unglückliche Weise in für unsere Wirtschaft ist, vor allen Dingen, wenn man die Presse gebracht. Dies ist jedoch absolut kontrapro- den Worten unseres Tourismusbeauftragten Hinsken duktiv, wenn es darum geht, Touristen an den öffentli- folgt. chen Nahverkehr zu gewöhnen. Darüber muss man heute reden; dies ist ja nicht mehr selbstverständlich. In den letzten Tagen war der Presse zu entnehmen, dass der Deutschlandtourismus boomt. Er wächst auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weltniveau. Der Zuwachs beträgt 5,1 Prozent. Der Markt wächst weiter. Aber ich möchte an dieser Stelle Die Regierungskoalition hat uns einen „großen“ An- betonen: Wachstum kann stattfinden, ohne dass der trag zu den Chancen des demografischen Wandels vor- Wohlstand steigt. Das heißt, wir müssen dringend darauf gelegt. Aber in ihm wird dieses Thema kaum behandelt. achten, in welche Richtung der Tourismus wächst. Genau das sind jedoch die Fragen, um die wir uns küm- mern müssen und über die wir uns politisch unterhalten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) müssen. Wir haben dazu einen eigenen Antrag einge- bracht; auch die Linke hat dieses Thema bearbeitet. Das Das scheint bei einigen Kolleginnen und Kollegen zeigt, wie wichtig dieses Thema ist und wie wenig bisher hier im Raum immer noch nicht angekommen zu sein. passiert ist. Die FDP fordert wie immer in ihrem Entschließungsan- trag die Schaffung weiterer wirtschaftsliberaler Rahmen- Die Anforderungen an die Barrierefreiheit bzw. – so bedingungen. Lieber Kollege Burgbacher, wir haben muss man vorsichtig sagen – Barrierearmut sind nicht doch schon heute äußerst kritische Arbeitsverhältnisse in nur bei Mobilitäts- und Unterkunftsfragen wichtig. der Branche. Wenn der Tourismus zum Wirtschaftsfaktor Diese Anforderungen gelten vielmehr für alle Dienstleis- einer Region werden soll, dann kann das nur funktionie- tungen des Tourismusbereiches. Dazu gehören: unkom- ren, wenn die Menschen in dieser Region auch von die- plizierter Gepäcktransport sowie lesbare, leicht ver- sen Arbeitsplätzen leben können. Ein Kellner verdient ständliche und auch hörbare Reiseinformationen, was Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19115

Bettina Herlitzius (A) heute auf den Bahnsteigen nicht selbstverständlich ist. Das schadet uns, und deshalb brauchen wir eine effizien- (C) Es muss eine komplette Reisekette von Tür zu Tür ge- tere Bearbeitung der Antragsverfahren. ben, die für jeden nutzbar ist. Deutschlandweit ist heute jeder dritte Hotelgast Ta- Barrierefreiheit und Servicebereitschaft sind zu- gungs- oder Kongressteilnehmer. Um in diesem Markt kunftsfähige Qualitäts- und Komfortmerkmale. Deutsch- professionelle Dienstleistungen zu erbringen, brauchen land könnte hier – wie auch in einigen anderen wir gut ausgebildete und qualifizierte Mitarbeiter. Des- Bereichen – Vorbild sein. Das wäre ein entscheidender halb appellieren wir an die Länder, in die Ausbildungs- Wirtschaftsfaktor. Hier ist noch viel zu tun. Über eines pläne von Berufs-, Fach- und Hochschulen für Touristi- müssen wir uns im Klaren sein: Der demografische ker den Schwerpunkt „Geschäftsreisemanagement“ Wandel der Gesellschaft ist kein deutsches, sondern ein aufzunehmen und die Förderung von Fremdsprachen- europäisches Problem. kenntnissen sowie von interkulturellem Verständnis vo- Wir nehmen den Tourismuspolitischen Bericht der ranzutreiben. Bundesregierung zur Kenntnis, aber wir legen ihn nicht Für Unternehmen sind Geschäftsreisen aber nicht nur zu den Akten. Er ist ein guter Bauplan, weil er alle im eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern auch ein Zusammenhang mit dem Tourismus wichtigen Themen Kostenfaktor. Laut VDR halten viele Unternehmen da- enthält. Wir werden hier aber noch ganz stark politisch her vermehrt Video- und Telefonkonferenzen ab. Insbe- nacharbeiten müssen. sondere durch ein verbessertes Reisemanagement und Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. den Abbau bürokratischer Hemmnisse im Bereich Statis- tik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie pflichten könnten die Kosten für Geschäftsreisen – ge- des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) rade angesichts steigender Energie- und Reisekosten – erheblich vermindert werden. Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Brunhilde Irber, (Beifall bei der SPD) SPD-Fraktion. Besonders für kleine und mittlere Unternehmen, de- (Beifall bei der SPD) ren durchschnittliche Ausgaben pro Geschäftsreise um über 20 Prozent gestiegen sind, wären Verbesserungen Brunhilde Irber (SPD): im Reisemanagement eine wichtige Hilfe. Die Schaffung Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und effektiver Rahmenbedingungen für Geschäftsreisen ist Kollegen! Heute stimmen wir über die beiden Koali- echte Mittelstandsförderung. (B) tionsanträge „Messen und Geschäftsreisen als Chance Dieser Antrag ist ein Schritt in die richtige Richtung, (D) für den Tourismusstandort Deutschland“ und „Chancen auch wenn einige meiner Vorschläge nicht realisierbar des demographischen Wandels im Tourismus nutzen“ waren. Weiter gehenden Handlungsbedarf sehe ich unter ab. Ich möchte dazu Stellung nehmen. anderem im zu komplizierten Steuersystem für Ge- Ich kann die Bedeutung von Messen und Geschäfts- schäftsreisen und in den exzessiven Aufbewahrungsfris- reisen gar nicht oft genug betonen. 2006 wurden in ten für Reisekostenabrechnungen. Deutschland fast 160 Millionen Geschäftsreisen unter- Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu einer effektiven nommen und dabei annähernd 50 Milliarden Euro umge- Infrastruktur für Geschäftsreisen gehören auch mehr- setzt. Geschäftsreisende geben mit 148 Euro pro Tag sprachige Hinweistafeln an den großen Messestandor- doppelt so viel Geld aus wie reine Urlaubsgäste. ten. Wir fordern auch, beim Bau der Verkehrswege auf (Ute Kumpf [SPD]: Es ist nur die Frage, wofür!) vernünftige Umsteigezeiten zu achten. Insbesondere wollen wir von der Deutschen Bahn AG und anderen Als Messestandort macht Deutschland international Verkehrsanbietern einen barrierefreien Zugang zu den eine glänzende Figur. In Europa sind wir die Nummer Bahnhöfen und Verkehrsmitteln, und das nicht nur für eins für Messen und Tagungen und weltweit hinter den mobilitätseingeschränkte und ältere Menschen, sondern USA die Nummer zwei. Deshalb würde gerade Ge- für alle, denen Barrierefreiheit einen besonderen Gewinn schäftsreisenden die Umsetzung des Single European bringt. Es ist ein Zugewinn an Komfort für alle. Sky zur effizienten Abwicklung des europäischen Luft- verkehrs besonders zugutekommen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) [DIE LINKE]) Um Geschäftsreisen weiter anzukurbeln, fordern wir Weil wir wissen, dass die Barrierefreiheit ein touristi- auch die stärkere Ausrichtung auf die Auslandswerbung sches Qualitätsmerkmal ist, arbeiten wir mit unserem der Deutschen Zentrale für Tourismus. Koalitionspartner an einem eigenen Antrag, den wir in Kürze vorlegen werden. Deshalb sind die Anträge der Bei Geschäftsreisen geht es um den Wachstumsmotor Linken und der Grünen obsolet. unserer Tourismuswirtschaft. Bei allem Verständnis für notwendige Sicherheitsbelange können wir uns langwie- (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rige und bürokratische Visaverfahren bei der Einreise für NEN]: Da können Sie abschreiben!) Messe- und Kongressbesucher nicht leisten. Der Reisemarkt für Ältere ist das Zukunftssegment (Beifall bei der SPD) der Tourismusbranche schlechthin; das hat auch der 19116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Brunhilde Irber (A) TAB-Bericht „Zukunftstrends im Tourismus“ gezeigt. die Himmelsscheibe von Nebra zeugen von Fülle und (C) Die Alterung unserer Gesellschaft mit einem Senioren- Vielfalt der Kulturhistorie. Die Wiege und das Sterbebett anteil von heute 25 Prozent und im Jahre 2050 sogar von Martin Luther befinden sich in meinem Wahlkreis, 37 Prozent bietet der Tourismuswirtschaft die Möglich- in der Lutherstadt Eisleben. Mit dem Reformationsjubi- keit, das Potenzial des Seniorentourismus auszuschöp- läum rücken nun aber auch die zahlreichen Wirkungs- fen. Denn Seniorinnen und Senioren sind eine finanz- stätten Luthers in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thürin- starke und aktive Zielgruppe, und bis 2035 werden sie gen in den Fokus der Öffentlichkeit. Wir müssen es mindestens 6 Prozent mehr für Reisen ausgeben. schaffen, sie zu vernetzen und gemeinsam zu vermark- ten. Deshalb schlage ich vor, dass wir die Forderungen unseres Antrages „Chancen des demographischen Wan- Am vergangenen Sonntag hatte ich die Ehre, an der dels im Tourismus nutzen“ umsetzen und dass die Bun- feierlichen Eröffnung der Luther-Dekade in Wittenberg desregierung das Ihre dazu tut. Ich bitte Sie deshalb, un- teilzunehmen. In einem deutsch-englischen Festgottes- serem Antrag zuzustimmen. dienst und bei einer Festveranstaltung erinnerten Vertre- ter von Kirche, Politik und Kultur an die Verdienste des (Beifall bei der SPD) Reformators. Präsident Dr. Norbert Lammert: Große Ereignisse müssen einen Anfang nehmen, um Das war ein vorzüglicher Schlusssatz, Frau Kollegin ihren programmierten Erfolg erreichen zu können. Die Irber. langfristige Vorbereitung des Jubiläums bietet Gelegen- heit, sich mit Martin Luther tatsächlich und neu ausein- (Heiterkeit) anderzusetzen. Über einen Zeitraum von fast zehn Jah- ren hinweg werden wir uns auf vielfältige Art und Weise Brunhilde Irber (SPD): mit seinem Leben und Wirken beschäftigen. Der Höhe- Ich weiß, Herr Präsident. Einen Satz hätte ich aber und Endpunkt der Luther-Dekade wird am 31. Oktober gerne noch gesagt, wenn ich darf. 2017 mit dem 500. Jahrestag des Anschlages jener 95 Leitsätze gegen den Ablass erreicht sein. Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir sind eingeladen zum Mitreden, Mitwirken und Der wird aber nicht besser; ich sage es Ihnen vorher. Mitgestalten. Kirche, Wissenschaft, Musik, Literatur (Heiterkeit) und Kunst nähern sich diesem außergewöhnlichen Da- tum mit Tagungen, Podiumsdiskussionen, Lesungen, Konzerten und Ausstellungen. Der Luther-Weg lässt uns (B) Brunhilde Irber (SPD): auf den historischen Spuren Luthers wandeln und bringt (D) Ich glaube, schon. – Wir warten auf die tourismus- uns gleichzeitig die Schönheiten des Landes näher. Eine politischen Leitlinien. Herr Tourismusbeauftragter, ich offizielle Jubiläums-Website gibt einen aktuellen Über- möchte Ihnen ein Satz mitgeben: Verantwortlich ist man blick über diverse Aktivitäten. nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut. Deshalb bitte ich, die Leitlinien auch ent- Wir alle können stolz darauf sein, eine derart faszinie- sprechend auszustatten. rende Persönlichkeit wie Martin Luther ehren zu kön- nen. Seine Botschaften haben die Welt verändert. Danke schön. Deshalb lautet der Titel unseres Antrages „Reforma- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der tionsjubiläum 2017 als welthistorisches Ereignis würdi- CDU/CSU) gen“. Wir wollen sowohl das kirchliche als auch das staatliche Interesse an diesem Jubiläum in Einklang brin- Präsident Dr. Norbert Lammert: gen. Hierzu bedarf es einer Gemeinschaftlichkeit bei den Ich fürchte, ich habe mit meiner Prognose recht be- Vorbereitungen. halten. Als Tourismuspolitiker erkennen wir natürlich das (Heiterkeit) große Potenzial religiös motivierter Besucher, für die es ein großes persönliches Bedürfnis ist, während der De- Nun hat die Kollegin Uda Heller das Wort. kade zu den Wirkungsstätten Martin Luthers in Mittel- (Beifall bei der CDU/CSU) deutschland zu reisen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU): ten der SPD) Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Hält man sich vor Augen, dass es weltweit 400 Millio- Tourismusbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kolle- nen Protestanten gibt, wird einem diese Dimension deut- gen! Vor zwei Stunden wurde in der Landesvertretung lich. Insbesondere mit vielen Gästen aus den USA ist zu von Sachsen-Anhalt die Luther-Dekade vorgestellt. Das rechnen. Das ist also eine einmalige Chance für den Tou- Interesse von Presse und Gästen war groß. Mein Heimat- rismus, die es zu nutzen gilt. land Sachsen-Anhalt ist ein geschichtsträchtiges Land, welches deutsche und europäische Geschichte vereint. Es stellt eine weitere Herausforderung dar, all diese Allein vier UNESCO-Weltkulturerbestätten, die Straße Aktivitäten zu koordinieren und zu vermarkten, und das der Romanik, Leben und Wirken von Kaiser Otto I. und über fast zehn Jahre hinweg. Ich denke, diese Vorberei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19117

Uda Carmen Freia Heller (A) tungszeit ist einmalig. So viel Zeit hatten wir noch nie sche Potenzial der weltweit 400 Millionen Protestanten (C) zur Vorbereitung eines Jubiläums. Unterstützt werden all im Blick, von denen mehr als 70 Millionen Lutheraner diese Initiativen durch einheitliches Marketing und sind. Das Reformationsjubiläum ist aufgrund seiner reli- durch eine von allen Akteuren gemeinsam entwickelte giösen, aber eben auch kulturhistorischen Bedeutung Wort-Bild-Marke. Ein solches Ereignis hat es, wie ich von hohem internationalen Interesse. schon sagte, in Deutschland in dieser Form noch nicht gegeben. Deswegen rufe ich alle Parteien auf, mit dafür Zehn Jahre lang wird es in Deutschland zahllose Ver- zu sorgen, dass das ein Erfolg wird. anstaltungen geben: wissenschaftliche, kirchliche und kulturelle. Im Fokus stehen die Lutherstädte Wittenberg (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und Eisleben mit den Luther-Gedenkstätten und sicher- Allein Sachsen-Anhalt investiert in die Luther-De- lich auch die Wartburg in Thüringen. Das alles sind im kade und das eigentliche Reformationsjubiläum einen Übrigen UNESCO-Weltkulturerbestätten. Aber auch alle zweistelligen Millionenbetrag, welcher in Denkmal- anderen Städte mit Lutherbezug wie Augsburg, Coburg, schutzmaßnahmen, Infrastrukturprojekte, Marketing- Marburg, Nürnberg, Worms, Erfurt, Torgau und nicht aktivitäten und die Koordinierungstätigkeit des eigens zuletzt auch Zerbst – um nur einige zu nennen – werden dafür gegründeten Lenkungsausschusses fließt. Diese spürbar touristischen Zulauf erhalten. außerordentlichen finanziellen Belastungen können we- Damit kann Deutschland als Kulturdestination seine der Sachsen-Anhalt noch Thüringen noch Sachsen ohne gute Positionierung auf dem touristischen Markt aus- die Unterstützung durch die Bundesregierung schultern. bauen und verbessern. Diese Chance, die man durchaus Vor diesem Hintergrund haben die Koalitionsfraktio- mit den Hoffnungen und Wünschen im Vorfeld der Fuß- nen den vorliegenden gemeinsamen Antrag in den Deut- ballweltmeisterschaft vergleichen kann, darf nicht vertan schen Bundestag eingebracht, in welchem die Bundes- werden. Das heißt, wir müssen auch etwas dafür tun, da- regierung aufgefordert wird, zur Würdigung dieses mit es einmal mehr heißen kann: Die Welt zu Gast bei Jubiläums und zum Nutzen der damit verbundenen Freunden – diesmal allerdings für einen Zeitraum von Chancen beizutragen. Die Bundesregierung soll vor al- zehn Jahren. lem im Rahmen bestehender Programme in involvierten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bundesländern und Kommunen diese bei Investitionen und Infrastrukturverbesserungen unterstützen. Dazu Mit der DZT haben wir einen starken Partner. Das in- möchte auch ich noch einmal aufrufen. ternationale Marketing läuft bereits auf Hochtouren. Die Goethe-Institute vermitteln ein umfassendes Deutsch- Ich sehe, dass der Herr Präsident mich mahnt. Des- landbild durch Informationen über das kulturelle, gesell- halb will ich zum Ende meiner Rede kommen. schaftliche und politische Leben. Die Reformation als (B) Schließen möchte ich mit einem verblüffend zeitge- prägendes kulturhistorisches Ereignis ist deshalb ideal (D) mäßen Zitat von Martin Luther, welches der Minister- geeignet, um in den deutschen Kulturinstituten mit Aus- präsident von Sachsen-Anhalt, Professor Böhmer, auf stellungen, sonstigen Veranstaltungen und mit der einen der Festveranstaltung vorgetragen hat: oder anderen informativen Broschüre auf die Luther- Dekade und das Reformationsjubiläum aufmerksam zu Dem Volk aufs Maul schauen, ihm aber nicht nach machen. Ich bin überzeugt, dass unser Außenminister dem Mund reden. Nahe bei den Menschen sein, ihre das genauso sieht. Sprache sprechen und ihre Denkweise verstehen. Volkstümlich zu sein, ohne jemals opportunistisch Unsere Forderung, die Aus- und Weiterbildung im zu werden. Tun, was man sagt, und sagen, was man Tourismus verstärkt voranzutreiben, ist nicht neu; das tut. stimmt. Aber gerade am Beispiel solcher Großereignisse mit ganz besonderen Anforderungen an Servicequalität, Diese Grundsätze Martin Luthers sollten für uns alle Fremdsprachenkenntnisse und eben auch Geschichts- gelten. kenntnisse Vielen Dank. (Ute Kumpf [SPD]: Bibelfestigkeit!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) sieht man, dass es nur heißen kann: Nicht kleckern, son- dern klotzen. Denn die Investition in Köpfe zahlt sich schließlich wirtschaftlich aus. Wenn das Büro für Tech- Präsident Dr. Norbert Lammert: nikfolgenabschätzung den Tourismus als Leitökonomie Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der im 21. Jahrhundert bezeichnet, dann sollte es diesbezüg- Kollege Engelbert Wistuba, SPD-Fraktion. lich keine kontroversen Diskussionen geben. (Beifall bei der SPD) Bei der Vorbereitung solcher Großereignisse spielt ohne Zweifel die Barrierefreiheit eine große Rolle. Wir Engelbert Wistuba (SPD): haben in Deutschland sicherlich schon vieles umgesetzt, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! aber das Thema bleibt eine Dauerbaustelle. Die Ent- Die am vergangenen Sonntag in Wittenberg eingeläutete wicklung und Umsetzung von barrierefreien touristi- Lutherdekade und das Reformationsjubiläum im Jahr schen Angeboten sind auch im Hinblick auf den demo- 2017 sind aus touristischer Sicht ein Glücksfall für grafischen Wandel ein Gebot der Stunde. Ich meine, wir Deutschland. Wir haben dabei nicht nur das von der sollten unsere Bemühungen in dieser Hinsicht erheblich Deutschen Zentrale für Tourismus identifizierte touristi- verstärken. 19118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Engelbert Wistuba (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- (C) CDU/CSU) schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 16/10380 zum Tourismuspolitischen Bericht der Es gibt kein Großereignis ohne infrastrukturelle Er- Bundesregierung. Wer stimmt für diesen Entschlie- fordernisse. Mir ist klar, dass zum Beispiel verkehrstech- ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält nische Verbesserungen auf der einen Seite und die bauli- sich? – Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abge- che Sanierung zentraler Stätten, Gedenkorte und Kirchen lehnt. der Reformation auf der anderen Seite richtig viel Geld kosten. Tagesordnungspunkt 11 b. Hier geht es um die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus zum Trotzdem sage ich: Wir müssen alles dafür tun, unsere Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD mit dem Ti- kulturellen Leuchttürme zu erhalten und die Substanz zu tel „Messen und Geschäftsreisen als Chance für den verbessern. Im Rahmen der Kultur- und Denkmalförde- Tourismusstandort Deutschland“. Der Ausschuss emp- rung, etwa der Kulturstiftung des Bundes und der Städte- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- bauförderung, wird schon einiges geleistet. Es wird in sache 16/9255, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU diesem Zusammenhang gern vom „Fass ohne Boden“ und SPD auf Drucksache 16/5958 anzunehmen. Wer gesprochen, vielleicht um allzu große Begehrlichkeiten stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Stimmt je- im Keim zu ersticken. Unsere Kulturgüter sind Teil un- mand dagegen? – Enthält sich jemand der Stimme? – serer Identität; deshalb sollten wir die Anstrengungen Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der noch einmal forcieren und bereits bestehende Pro- Koalition mehrheitlich angenommen. gramme ausbauen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11 c. Hier Vor zehn Jahren wurde erstmals das Amt des Kultur- geht es um eine weitere Beschlussempfehlung des Aus- staatsministers besetzt. Kanzler Schröder berief seiner- schusses, und zwar auf Drucksache 16/10073. Der Aus- zeit Michael Naumann für diese wichtige Aufgabe. Seit- schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- her hat sich in der deutschen Kulturpolitik vieles positiv empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen entwickelt. Ich gehe davon aus, dass Staatsminister CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8777 mit dem Neumann mit uns an einem Strang zieht. Titel „Chancen des demographischen Wandels im Tou- Die aktuelle Woche des bürgerschaftlichen Engage- rismus nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- ments nehme ich zum Anlass, all den ehrenamtlichen lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Helfern zu danken, die ihre Freizeit und mitunter auch Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit ihre finanziellen Ressourcen einsetzen, um unsere Kul- angenommen. turdenkmäler offenzuhalten und zu pflegen. Lassen Sie Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh- (B) (D) uns die Chancen nutzen, die sich in den kommenden nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zehn Jahren bieten. Lassen Sie uns getreu dem Luther- auf Drucksache 16/9315 mit dem Titel „Barrierefreiheit Spruch „Wer eine Stunde versäumt, der versäumt auch und demografischer Wandel – Auf die Herausforderun- wohl einen Tag“ alle gemeinsam an die Arbeit gehen. gen für den Tourismus reagieren“. Wer stimmt für diese Ich bin sicher: Es lohnt sich. Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer Ich habe mich beeilt. Ich hatte nur vier Minuten. enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehr- heit angenommen. Danke für das Verständnis. Bei den Tagesordnungspunkten 11 d bis 11 f wird in- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der terfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP Drucksachen 16/9830, 16/10320 und 16/10317 an die in und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Gibt es dazu Einvernehmen? – Das immerhin ist der Präsident Dr. Norbert Lammert: Fall. Dann können wir diesen Tagesordnungspunkt in großem Einvernehmen durch einen gemeinsamen Be- Zu den vier Minuten, die Sie hatten, hat Ihnen der schluss zum Abschluss bringen. wieder einmal sehr großzügige Präsident weitere 45 Sekunden als Zugabe gewährt. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 a auf: Ich schließe die Aussprache. Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ausschusses für Tourismus zum Tourismuspolitischen weiteren Abgeordneten und der Fraktion Bericht der Bundesregierung und zum Entschließungs- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten antrag der Fraktion der FDP zu dem genannten Bericht. Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgeset- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- zes – Bestechung und Bestechlichkeit von Ab- lung auf Drucksache 16/10187, in Kenntnis des Touris- geordneten – (… StrÄndG) muspolitischen Berichts auf Drucksache 16/8000 den – Drucksache 16/6726 – Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck- sache 16/8194 abzulehnen. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und enthält sich der Stimme? – Damit ist die Beschlussemp- Geschäftsordnung fehlung mit Mehrheit angenommen. Innenausschuss Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19119

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die tion es bisher aber nicht geschafft, auch nicht mithilfe (C) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die der Bundesregierung und nicht durch Beratung des Bun- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten desjustizministeriums, einen entsprechenden Gesetzent- soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be- wurf zu erarbeiten. Deshalb legt heute die Fraktion schlossen. Bündnis 90/Die Grünen einen solchen Gesetzentwurf vor. Dieser Gesetzentwurf ist maßvoll und gut durch- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem dacht. Kollegen Hans-Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Lachen des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/ CSU]) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE In ihm werden alle Bedenken berücksichtigt, die gegen GRÜNEN): eine solche gesetzliche Regelung vorgebracht werden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde geht es um uns, die Bundestagsabgeordne- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ten, zumindest unter anderem. Es geht darum, dieses Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nach zehn Jah- Parlament von einem Makel zu befreien. ren muss das ja wohl auch so sein, Herr Ströbele! Nach zehn Jahren, in denen ihr (Jörg van Essen [FDP]: Höher kann man es nichts gemacht habt, muss er gehaltvoll sein!) kaum aufhängen!) In diesem Gesetzentwurf ist geregelt, dass Abgeord- Seit dem Jahre 1999 sind wir durch das Korruptionsab- nete in Deutschland oder Mitglieder anderer Volksver- kommen des Europarates und seit dem Jahre 2003 durch tretungen in Bund, Ländern und Gemeinden dann zu be- das UNO-Übereinkommen gegen Korruption aufgefor- strafen sind, wenn sie einen rechtswidrigen Vorteil als dert, im Gesetz endlich eine umfassende Regelung zur Gegenleistung dafür fordern, sich versprechen lassen Strafbarkeit der Korruption und Bestechung von Abge- oder gar annehmen, dass sie in Ausübung ihres Mandats ordneten zu treffen. Dieser Aufforderung sind wir nicht in der Volksvertretung oder im Gesetzgebungsorgan eine nachgekommen, obwohl die Bundesregierung beide Ab- Handlung zur Vertretung oder Durchsetzung der Interes- kommen mit formuliert, unterstützt und unterschrieben sen des Leistenden oder eines Dritten vornehmen. hat. (Joachim Stünker [SPD]: Aha! Wer hat das (Jörg van Essen [FDP]: Gegen den Willen aller jetzt verstanden?) Fraktionen!) Die Frage, was unter „rechtswidrig“ zu verstehen ist, Der Bundesgerichtshof, ein hohes deutsches Gericht, regeln wir in Art. 1 Abs. 3 des Gesetzentwurfes. Dort (B) (D) (Joachim Stünker [SPD]: In der Tat ein hohes heißt es: deutsches Gericht!) Ein rechtswidriger Vorteil liegt vor, wenn seine hat den Gesetzgeber, den Deutschen Bundestag, im Verknüpfung mit der Gegenleistung als verwerflich Mai 2006 aufgefordert, hinsichtlich der Strafbarkeit eine anzusehen ist. Lücke zu schließen. (Jörg van Essen [FDP]: Das ist ja wirklich eine (Joachim Stünker [SPD]: Aber nicht für Abge- sehr „klare“ Regelung! Kompliment!) ordnete!) Das ist eine Regelung, die dem nicht Auch dieser Aufforderung sind wir nicht nachgekom- fremd ist. Wir haben sie aus § 240 des Strafgesetzbu- men. Nach derzeitiger Gesetzeslage ist in Deutschland ches, dem Nötigungsparagrafen, übernommen. zwar die Bestechung ausländischer Abgeordneter straf- Mit dieser sehr engen Regelung – es gibt auch andere bar, nicht aber die Bestechung deutscher Abgeordneter, Vorschläge, die viel weiter gehende Regelungen beinhal- es sei denn, es geht um Stimmenkauf. Das ist ein Makel. ten – tragen wir allen Bedenken Rechnung. Eines der Das ist sogar ein ganz gravierender Makel, da wir von Bedenken, dem wir Rechnung tragen, ist, dass Abgeord- Ländern auf der ganzen Welt, vor allen Dingen von Län- nete in Zukunft zum Beispiel Probleme haben könnten, dern des Südens, verlangen, Good Governance zu prakti- Spenden für ihre Partei zu akquirieren, da sie sich bei zieren, diesem Versuch in den Bereich der Strafbarkeit begeben (Zuruf von der FDP: Bayern! – Heiterkeit) könnten. Wir tragen auch dem Bedenken Rechnung, dass Abgeordnete in ihrer Kariere, zum Beispiel bei ih- etwas gegen Korruption zu tun und an der Spitze von rer Wahlaufstellung, dadurch behindert werden könnten, Staat und Gesellschaft verlässliche und klare Regelun- dass zunächst ein Ermittlungsverfahren gegen sie einge- gen zur Strafbarkeit von Korruption einzuführen, das leitet wird, das ihren Ruf ruiniert, aber später sang- und selbst aber nicht tun, sondern meinen, das nicht nötig zu klanglos eingestellt wird. Das sind ja die Bedenken, die haben. dort immer vorgebracht werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dazu kann ich nur sagen: Abgeordnete sind auch keine besseren Menschen. Auch bei Abgeordneten kann Das können wir nicht länger hinnehmen. es immer welche geben, die sich bestechen lassen. Dass Wie ich weiß, haben sich viele von Ihnen schon über auch Abgeordnete nebenher erhebliche Geldbeträge be- dieses Thema unterhalten. Offensichtlich hat die Koali- ziehen – manchmal ist es völlig unerklärlich, für was –, 19120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Hans-Christian Ströbele (A) hat es in der Vergangenheit, auch in der nahen Vergan- nete nehmen öffentliche Ämter wahr. Ich fühle mich (C) genheit, gegeben. Deshalb sagen wir, dass wie für Amts- aber nicht als Beamter, nicht als Richter und nicht als träger auch für Abgeordnete eine solche gesetzliche Re- sonst im öffentlichen Dienst Tätiger. Wir sind freie Ab- gelung – nicht die gleiche, aber eine ähnliche – ins geordnete und nicht weisungsgebunden, sondern nur un- Gesetzbuch aufgenommen werden muss. serem Gewissen verantwortlich. Wir möchten diesem Deutschen Bundestag auf die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Sprünge helfen und haben einen Vorschlag vorgelegt, bei Abgeordneten der SPD – Hans-Christian damit hier im Plenum des Deutschen Bundestages end- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hof- lich offen darüber gesprochen wird, damit die Auffas- fentlich!) sungen gegenübergestellt werden und damit wir zu ei- nem vernünftigen Gesetz kommen. Darin unterscheiden wir uns deutlich von Beamten. Wir haben den Vorschlag vorgelegt, Sie brauchen nur Was bei einem Politiker Korruption sein soll, beschäf- zuzustimmen. tigt die Rechtsgelehrten schon seit vielen Jahrzehnten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist ja kein Grund dafür, nichts zu Präsident Dr. Norbert Lammert: tun!) Siegfried Kauder von der CDU/CSU-Fraktion ist der Im Jahre 1871, dem Jahr der Reichsgründung, hat man nächste Redner. sich mit diesem Thema befasst.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU], an Abg. CSU): Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! NEN] gewandt: Hör gut zu! – Gegenruf des Wenn dieser Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE Gesetz würde, GRÜNEN]: Ich höre genau zu!) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aus gutem Grund hatte man sich auf ein Minimalpro- NEN]: Wird!) gramm beschränkt. Die Wahlfälschung und der Stim- menkauf für Wahlen zu den Volksvertretungen wurden dann hätten 612 Abgeordnete des Deutschen Bundesta- strafbar. ges die beste Chance, Versuchskaninchen in einem Er- (B) mittlungsverfahren zu werden. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (D) GRÜNEN]: Das ist erst seit 1994 so!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜND- Die Diskussion unter den Rechtsgelehrten war virulent NIS 90/DIE GRÜNEN]: Welch schlechte Mei- und hielt lange Zeit an, letztendlich hatte sich aber nichts nung von Staatsanwälten Sie haben!) geändert. Man lebte damit. Staatsanwälte und Richter würden das politische Han- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE deln sezieren und selektieren, weil der vorgelegte GRÜNEN]: Das wurde kein einziges Mal an- Straftatbestand mit normativen Elementen viel zu weit gewendet!) und ungewiss gefasst ist. In der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bun- (Joachim Stünker [SPD]: Das stimmt!) destages hat man dieses Thema wieder aufgegriffen. Es Wir reden aber nicht nur über 612 Abgeordnete des gab einen Schritt zurück; denn im Jahre 1927 hatte das Deutschen Bundestages, sondern auch über Tausende Reichsgericht den Straftatbestand ausgeweitet – abge- von Landtagsabgeordneten und Abgeordneten des Euro- druckt im 62. Band auf Seite 6 – päischen Parlaments und über Zigtausende ehrenamtlich (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tätige Mitglieder in Gemeinderäten und Kreistagen. NEN]: Folgende! – Joachim Stünker [SPD]: (Joachim Stünker [SPD]: Richtig!) Zeile 5!) Wir reden also nicht nur über uns, sondern wir haben ei- und das Gesetz dahin gehend ausgelegt, dass sich ein nen Gesetzentwurf zu beraten, bei dem es auch um an- Abgeordneter auch strafbar machen kann, wenn er seine dere geht. Stimme bei Abstimmungen in der Volksvertretung kau- fen lässt. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja! – Hans-Christian Ströbele [BÜND- Darüber debattierten die Abgeordneten im Jahre NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das manch- 1953. Sie werden nicht überrascht sein, dass sie zu kei- mal!) nem Ergebnis kamen. Was sind Vorteilsannahme und Bestechlichkeit? Ein (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Beamter, ein Richter oder ein sonst im öffentlichen GRÜNEN]: Warum wohl nicht? – Wolfgang Dienst Tätiger wird verurteilt, wenn er für eine Dienst- Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da- handlung einen Vorteil annimmt. Auch wir als Abgeord- bei waren Sie damals noch gar nicht dabei!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19121

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) Deshalb ergab sich daraus wiederum ein Schritt zurück: – Sie haben doch die Antwort bekommen. Sie können (C) nur noch der Stimmenkauf bei Wahlen zu Volksvertre- wieder Platz nehmen. tungen war strafbar. Daran änderte sich bis zum Jahre 1994 nichts. Die Diskussion war sehr intensiv. Dabei fiel eines auf. Die Rechtsgelehrten kamen zu dem Ergebnis, dass sie zu Die Rechtsgelehrten machten sich aber Gedanken wenig Ahnung von politischem Handeln hätten und sich darüber, wie man das Thema Korruption bei Parlamenta- daher in dieses Thema nicht einfinden könnten. Die Dis- riern in den Griff bekommen könnte. Von 1957 bis 1960 kussion war zwar von vielen rechtlichen Argumenten tagte die Große Strafrechtskommission – zugegebener- gespickt; sie enthielt aber fast kein Beispiel. Das habe maßen in Abständen. Die Crème de la Crème des deut- ich in Ihrer Rede vermisst, Herr Kollege Ströbele. schen Strafrechts erhitzte sich über die Frage, was für Welches politische Handeln soll über den bereits exis- den Parlamentarier strafbar sein soll. Ich empfehle je- tierenden Straftatbestand des § 108 e StGB hinaus strafbar dem, die Protokolle nachzulesen. Sie sind im 13. Band werden? Eines kam deutlich zum Ausdruck: Die Verwerf- der Niederschriften über die Sitzungen der Großen Straf- lichkeitsklausel, die Sie dem § 240 des Strafgesetzbuches rechtskommission – Besonderer Teil – veröffentlicht. entnommen haben, ist für politisches Handeln und parla- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: mentarische Arbeit nicht geeignet. Wir müssen uns also Seite?) andere Lösungsansätze überlegen. Es ist mir im Gedächtnis geblieben, was Professor Es gibt Literatur dazu, die ich ebenfalls empfehlen Bockelmann zu der beabsichtigten Gesetzgebung ausge- kann. Regina Michalke hat sich in der Festschrift für führt hat. Wenn der Gesetzgeber einen Straftatbestand Rainer Hamm aus dem Jahr 2008 mit der Verwerflich- mit normativen Elementen – also mit wertausfüllenden keitsklausel befasst. Wie wollen Sie es regeln? Nimmt Elementen – schmückt, sagt er eigentlich nichts. Das ist ein Politiker einen Vorteil für seine Handlung im Deut- das Problem und die Krux des Gesetzentwurfs von schen Bundestag an, soll das strafbar sein, wenn Mittel- Bündnis 90/Die Grünen. Dieser Gesetzentwurf lässt und Zweckrelationen zwischen Vorteil und Handeln ver- mehr Fragen offen, als er klärt. werflich sind. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Präsident Dr. Norbert Lammert: GRÜNEN]: So ist es nicht!) Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Ströbele? Verwerflichkeit ist ein normativer Begriff, und in der Rechtssprache wird er durch einen anderen, genauso un- (Joachim Stünker [SPD]: Wollt ihr nicht gleich verständlichen Begriff ersetzt. Verwerflichkeit ist durch (B) mit dem Untersuchungsausschuss weiterma- ein besonders hohes Maß an sittlicher Missbilligung de- (D) chen?) finiert. Jetzt wissen wir es. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ NEN]: Das ist bei der Gesetzgebung doch CSU): auch so!) Aber gerne doch. Es stimmt, was Professor Bockelmann gesagt hat: Wenn ein Gesetzgeber normative Begriffe verwendet, dann Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE sagt er letztendlich gar nichts. Nun werden Sie einwen- GRÜNEN): den, dass es bei § 240 des Strafgesetzbuches, dem Nöti- Herr Kollege Kauder, haben Sie eine Erklärung dafür, gungsstraftatbestand, auch möglich ist. warum wir von 120 Staaten der Welt verlangen – über- wiegend ist das schon umgesetzt worden –, dass sie die Ich beziehe mich noch einmal auf Regina Michalke in Tätigkeit von Abgeordneten auch im Strafgesetzbuch re- der Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahr 2008: Der geln, obwohl es in den meisten Ländern inzwischen § 240 Strafgesetzbuch ist völlig anders strukturiert, als strafbar ist, wenn sich Abgeordnete bestechen lassen, der Straftatbestand des § 108 e des Strafgesetzbuches, und warum das ausgerechnet in Deutschland nicht mög- sprich Abgeordnetenbestechung. lich sein soll? (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ In § 240 Abs. 2 – dem Nötigungsstraftatbestand – sind CSU): die Nötigungsmittel genau definiert. Das können Sie Herr Kollege Ströbele, ich will Ihnen erklären, warum hinsichtlich der Abgeordnetenbestechung nicht eins zu es gerade mit dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die eins übernehmen. Grünen nicht möglich ist. Sie sehen, dass Ihr Projekt nur scheitern kann. Wir (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- brauchen keine normativen, sondern deskriptive Straftat- NEN]: Wo ist denn Ihr Vorschlag?) bestandsmerkmale. Wir müssen dem Abgeordneten in den Kommunalparlamenten genau sagen, was er tun darf Damit darf ich weiter fortfahren. und was nicht. (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele Wir könnten eigentlich aus dem Leben lernen. Es gibt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) einen Bereich, in dem wir Menschen ins Messer laufen 19122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) ließen, weil wir eine Gesetzeslücke nicht geschlossen Wahlkreis einsetzt. Die meisten von uns – ich behaupte: (C) haben. Mancher Professor der Medizin hat sich hoch- fast alle – tun dies aus guten Gründen. Wir engagieren schulrechtlich richtig verhalten und Drittmittel einge- uns dafür, dass die Interessen unserer Wahlkreise oder worben, wie es ihm das Hochschulrecht vorschreibt. der Gruppen, in denen wir beispielsweise als Gewerk- Aber statt eines Dankeschöns hat er ein Strafverfahren schaftsvertreter tätig sind, im Deutschen Bundestag ver- wegen Vorteilsannahme bekommen. Diese Professoren treten sind. Das haben wir zu berücksichtigen. wurden in erster Instanz zu Freiheitsstrafen verurteilt Mir hat Ihr ständiger Hinweis auf andere Länder und mussten sich ihr Recht vor dem Bundesgerichtshof überhaupt nicht gefallen. erkämpfen. Hier hat der Bundesgerichtshof gesetzgebe- rische Tätigkeit angemahnt. Wir sind dem nicht nachge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE kommen, obwohl wir es tun könnten. GRÜNEN]: Aha!) Setzen wir Parlamentarier nicht als Versuchskanin- Zu den Ländern, die die entsprechenden Konventionen chen einem Ermittlungs- und Strafverfahren aus! Regeln unterzeichnet und umgesetzt haben, gehören unter ande- wir diesen Sachverhalt sinnvoll! Wir werden dazu in den rem Italien und China. Ausschusssitzungen Gelegenheit haben. Ich kann Ihnen (Beifall des Abg. Dirk Manzewski [SPD]) schon jetzt sagen: Ihr Modell kann nur scheitern. Ich werde permanent von Journalisten gefragt: Warum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Italien und Deutschland nicht? Das Ergebnis kennen wir Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das war eine alle. Italien hat zwar unterschrieben. Wenn es aber ernst Lehrstunde!) wird, wird im italienischen Parlament ein Gesetz verab- schiedet, das den Betroffenen, beispielsweise den Minis- Präsident Dr. Norbert Lammert: terpräsidenten, von Strafverfolgung freistellt. Der Kollege Jörg van Essen ist der nächste Redner für (Beifall des Abg. Dirk Manzewski [SPD]) die FDP-Fraktion. Hören Sie bitte auf, uns vorzuwerfen, andere seien bes- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) ser als wir! (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Abwegig!) Jörg van Essen (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Auch China hat, wie gesagt, unterzeichnet. Daran, dass war schon Berichterstatter bei früheren Beratungen über dieses Land ein Modell für freie Abgeordnete ist, habe das Thema Abgeordnetenbestechung. Die Problematik, ich meine Zweifel. Hören Sie also bitte auf, uns das vor- (B) die wir damals sehr sorgfältig erörtert haben, besteht un- zuhalten! (D) verändert fort. Herr Ströbele, mir ist aufgefallen, dass (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie viele Ausführungen gemacht haben, eines aber gar der CDU/CSU und des Abg. Dirk Manzewski nicht angesprochen haben, nämlich die im Grundgesetz [SPD]) der Bundesrepublik Deutschland verankerte Freiheit des Mandats. Das im Grundgesetz verankerte Modell des Mir gefällt überhaupt nicht, dass es permanent Ten- Abgeordneten ist völlig anders als das des Beamten, des denzen Richtung Verbeamtung des Bundestages gibt. Amtsträgers, des Richters. Dafür, dass das aus Ihrer Fraktion kommt, habe ich Ver- ständnis. Viele haben keinen Berufsabschluss. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bezweifelt auch niemand!) (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Dann ist es ganz schön, wenn man als Abgeordneter we- – Warum haben Sie das dann nicht angesprochen? – Da- nigstens eine Verbeamtung hat. Aber ich erinnere an das, raus ergibt sich die Konsequenz, dass Abgeordnete an- was die Kollegin Meseke, die spätere Präsidentin des ders behandelt werden müssen als Amtsträger; das ist Bundesrechnungshofes, bei einer früheren Debatte ge- ganz selbstverständlich. sagt hat: Jeder Schritt in Richtung Verbeamtung der Ab- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geordneten ist schlecht für die Demokratie. – Das wird die Devise für die FDP-Bundestagsfraktion sein. Zur Freiheit des Mandats des Abgeordneten gehört, dass er anders als beispielsweise ein Beamter – ich war Ich warne sehr davor, die Mandatsträger in den Ge- einer –, der objektiv sein muss, völlig einseitig Interes- meindeparlamenten, den Landesparlamenten, im Bun- sen vertreten darf, beispielsweise die seines Wahlkreises. destag und im Europaparlament gleichzubehandeln; denn die Verfassung gibt denjenigen, die Mitglied eines (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE obersten Verfassungsorgans sind, andere Rechte. Des- GRÜNEN]: So ist es!) halb müssen wir das bei der Gesetzgebung berücksichti- gen. Das gehört zur Demokratie. Wir sind Abgeordnete die- ses Parlaments, um Interessen zu vertreten. Damit haben Was ich wie der Kollege Kauder ganz kritisch sehe, wir eine völlig andere Aufgabe als beispielsweise der ist der Begriff der Verwerflichkeit. Wenn man an man- Beamte, der bei seinen Entscheidungen keine Interessen che Zeitungen mit großen Buchstaben denkt, dann zu vertreten hat, sondern objektiv zu sein hat. Daraus könnte man den Eindruck gewinnen, dass schon die Tä- folgt, dass es außerordentlich schwierig ist, jemandem tigkeit des Abgeordneten an sich verwerflich ist. Des- vorzuwerfen, dass er sich völlig einseitig für seinen halb wird sehr schnell entsprechend argumentiert wer- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19123

Jörg van Essen (A) den, und was immer wir machen, sehr schnell als Wenn wir auch davon überzeugt sind, dass sie nicht kor- (C) verwerflich angesehen werden. Der Kollege Kauder hat rupt sind, so bedarf es trotzdem Regelungen, um mögli- zu Recht darauf hingewiesen, dass in § 240 StGB, dem che Zuwiderhandlungen verfolgen zu können. Schwarze Sie den Begriff entlehnt haben, zusätzliche Festlegungen Schafe gibt es überall im Leben, und so gibt es sie natür- im Tatbestand enthalten sind, die das Ganze eingrenzen. lich auch unter Abgeordneten. Genau das sehen Sie nicht vor. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Um die geht es!) GRÜNEN]: Natürlich!) Über eines sollten wir uns, Herr Kollege Kauder und Deshalb ist das, was Sie vorgeschlagen haben, ein völlig Herr Kollege van Essen, auch einig sein, und daran führt falscher Weg. Er bringt uns nicht voran. Wenn Sie ge- kein Weg vorbei: Die geltende Regelung im § 108 e glaubt haben, dafür bekämen Sie Beifall, StGB reicht nicht aus. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie werden keinen bekommen! – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: So ist es!) NEN]: Von uns nicht!) Die Vorschrift genügt nicht den internationalen Vorga- dann muss ich Ihnen sagen: Ich habe in Vorbereitung auf ben, die wir in Deutschland gezeichnet haben, aber nicht die Debatte heute Abend einen Artikel in einer wissen- ratifizieren können. Da haben Sie vollkommen recht. Es schaftlichen Zeitschrift gelesen – Kollege Kauder weiß ist peinlich, wenn wir dem nicht nachkommen. bestimmt, auf welcher Seite das stand, was ich gelesen habe; mir ist das leider entfallen –, und darin ist Ihnen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Vorwurf gemacht worden, dass Ihr Entwurf, den Sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) heute vorlegen, völlig untauglich ist. Also, in der Wis- Es gibt aber auch seit zwei Jahren eine Rechtspre- senschaft finden Sie keinen Beifall, bei meiner Fraktion chung des Bundesgerichtshofs, die klargemacht hat, was auch nicht, und ich hoffe, bei den anderen Fraktionen im ich schon seit Jahrzehnten behauptet habe, was aber Deutschen Bundestag ebenfalls nicht. 24 Oberlandesgerichte anders gesehen haben. Der Bun- Herzlichen Dank. desgerichtshof hat nämlich festgestellt, kommunale Mandatsträger seien keine Amtsträger, weshalb für kom- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Jürgen munale Mandatsträger nicht unsere Vorschriften im Gehb [CDU/CSU]: Gute Rede!) StGB für Straftaten im Amt gelten würden. Die Vorsit- zende des Strafsenats, die das entschieden hat, die heu- (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tige Generalbundesanwältin Frau Harms, hat damals in (D) Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPD- dem Urteil deutlich gemacht, dass eine Lücke im Gesetz Fraktion. existiert. Diese Lücke muss geschlossen werden, und da- her sind wir aufgefordert, nicht nur schlaue Reden zu Joachim Stünker (SPD): halten, sondern diese Lücke zu schließen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich habe fast den Eindruck, wir hätten den Gesetzent- DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele wurf gleich an den Rechtsausschuss überweisen sollen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Prima! – Dann hätten wir die Debatte, in der wir die lieben Kolle- ginnen und Kollegen mit vielen rechtlichen Begriffen zu Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- später Stunde vielleicht noch langweilen, abkürzen kön- NEN]: Genau!) nen. Der Herr Bundespräsident hat am Dienstag bei der Herr Kollege Ströbele, wir hätten diese Lücke schon Eröffnung des Deutschen Juristentages eine, wie ich lange schließen können. Sie und ich, wir beide wissen meine, sehr gute Rede gehalten. Er hat die Politik er- das. Denn wir hatten im Jahr 2005 in einer Kommission mahnt, nicht überzogene Erwartungen zu wecken. Herr – der Kollege Manzewski war dabei – eine Regelung er- Kollege Ströbele, ich glaube, das gilt auch für dieses arbeitet. Thema. Wir sollten es etwas tiefer hängen und keine Er- wartungen wecken, die hinterher nicht erfüllt werden (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE können. GRÜNEN]: Leider hat Herr Schröder zu früh Wir alle sind uns einig, dass Abgeordnete, also Volks- geschmissen!) vertreter, nicht bestechlich oder korrupt sein dürfen. Wir – Nun hören Sie doch zu! Jetzt wird es Ihnen peinlich. – alle sind uns auch darin einig, dass die ganz überwie- Ich meine, es war eine sehr gute Regelung, die wir da- gende Zahl der Abgeordneten in den kommunalen Parla- mals erarbeitet hatten. menten, in den Landtagen, im Bundestag und auch im Europäischen Parlament genau das nicht sind. Sie sind (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nicht korrupt, um es ganz deutlich zu sagen. GRÜNEN]: Von Ihnen sogar mit entworfen!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der – Okay, die von uns entworfen war, vielen Dank. – FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch bei den (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Beamten so!) NEN]: Mit entworfen!) 19124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Joachim Stünker (A) Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir durf- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C) ten sie nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grü- GRÜNEN]: Richtig!) nen blockiert haben. Man höre und staune. Es heißt dort: An Aufträge und Weisungen sind die Ab- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nein! – Wider- geordneten nicht gebunden; sie sind nur ihrem Gewissen spruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – unterworfen. Dirk Manzewski [SPD]: Natürlich war das (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- so!) NEN]: Vertreter des ganzen Volkes und nicht Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck zu weit nur des Wahlkreises, wie Herr van Essen be- und dem Kollegen Ströbele nicht weit genug ging. hauptet hat!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich bin ent- Warum implementieren wir nicht diese verfassungs- setzt!) rechtlichen Grenzen in den zu bildenden Straftatbestand, liebe Kolleginnen und Kollegen? Also war gar nichts zu machen. Man hat sich damals ge- genseitig blockiert. Der Straftatbestand könnte dann wie folgt lauten: „Der Abgeordnete macht sich strafbar, wenn er ... sich Aber – und das ist vielleicht die Tragik bei uns Sozial- bereit zeigt, bei der Wahrnehmung seines Mandats Auf- demokraten – träge oder Weisungen deshalb zu erfüllen, weil ihm da- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für ein Vorteil versprochen oder gewährt wird.“ Das ist ein Vorschlag von uns, um eine Lösung zu finden. Er ist – darf ich weitermachen? – wir möchten auch jetzt, in mit Art. 38 – freies Mandat des Abgeordneten – mögli- der Großen Koalition, gern eine Regelung vorlegen, die cherweise kompatibel. wiederum wir erarbeitet haben. Nun will unser Koali- tionspartner nicht. Dann bräuchten wir uns nicht mehr darüber zu unter- halten, ob der Vorteil unbillig oder rechtswidrig sein (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So ist das!) muss; denn bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit geht es immer auch um die Angemessenheit. Es gibt also Lö- Wir sollten uns im Ausschuss zusammensetzen und dort sungsmöglichkeiten für ein schweres rechtliches Pro- einmal eine vernünftige Debatte führen. blem.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir meinen, dass wir in eine Regelung zur Strafver- Herr Kollege Stünker, gestatten Sie eine Zwischen- folgung ein weiteres Element aufnehmen müssten. Wir sollten darüber nachdenken, ob dann, wenn der Tatbe- (B) frage? (D) stand erfüllt sein könnte, als Voraussetzung für eine Strafverfolgung nicht auch noch die Ermächtigung der Joachim Stünker (SPD): Volksvertretung notwendig ist, ob wir also das Strafrecht Nein. Die Zeit ist schon sehr weit fortgeschritten, mit dem Recht der Immunität verbinden müssen. Herr Kollege von Klaeden; ich möchte jetzt gern zum Ende kommen. Wir können das sicherlich auch unter (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE vier Augen austauschen. GRÜNEN]: Genau!) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Befürchtung, die überall geäußert wird, ist ja: Be- NEN]: Das hätten wir gern gehört!) reits eine entsprechende Überschrift in der Bild-Zeitung, dass jemand durch eine Anzeige in ein Ermittlungsver- – Lassen Sie uns noch einmal einen Moment ernst wer- fahren geraten ist – das kann ja völlig im Sande verlau- den! fen –, führt zum politischen Tod. Das muss man mit be- Wo liegt das Problem? Das Problem liegt – das ist denken. hier schon häufig angesprochen worden – im Tatbe- (Beifall bei der SPD) standsmerkmal des Vorteils. Es geht um den Vorteilsbe- griff. Das Merkmal ist in Ihrem Entwurf zu schwammig Ein Beispiel von heute aus einer Zeitung bei uns im gefasst. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages Norden passt da. Das habe ich heute Mittag auf den werden im Ergebnis in die Hände der dritten Gewalt, in Tisch bekommen. Die Überschrift lautet: „Staatsanwalt die Auslegung gegeben, was mit dem freien Mandat aus ermittelt nach Anzeige gegen ...“. Es geht um einen Kol- Art. 38 des Grundgesetzes sicherlich nicht in Überein- legen von uns in Niedersachsen. In dem Artikel heißt es stimmung zu bringen ist. dann, dass der Staatsanwalt bestätigt usw. Wir sind uns völlig einig: Nach Art. 38 des Grundge- Dem ist man heute gleich nachgegangen. Keine der setzes darf der Abgeordnete Interessenvertreter sein. Er Regeln ist eingehalten worden. Nach den RiStBV, den muss Interessenvertreter sein. Er ist parteilich. Er darf Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldver- parteilich sein. Das alles ist richtig. fahren, wie das schöne Büchlein heißt, hätte zuerst innerhalb bestimmter Fristen eine Anzeige an den Par- Wenn wir uns alle darüber einig sind, warum schaffen lamentspräsidenten erfolgen müssen. Bei der Staatsan- wir dann nicht einen Tatbestand, bei dem wir an genau waltschaft dort ist angerufen worden und siehe da: Der das anknüpfen, was uns das Grundgesetz in Art. 38 im Sachverhalt ist ein ganz anderer. Aber der Staatsanwalt, Grunde vorgibt? der dort zitiert ist, hat genau diese Erklärung abgegeben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19125

Joachim Stünker (A) Morgen kommt eine Gegendarstellung. Aber wir wissen, nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es (C) was von einer solchen Gegendarstellung im Ergebnis zu dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. halten ist. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. (Jörg van Essen [FDP]: So klein!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Von daher: Wir alle sehen die Probleme. Wir müssen Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke – damit will ich schließen und meine Redezeit nicht ganz Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weite- ausnutzen; es ist schon spät geworden – miteinander re- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie den. Wir müssen gemeinsam beraten. Herr Kollege der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Gehb und Herr Kollege Kauder, wir haben den rechtli- Nachtwei, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abge- chen Sachverstand, um eine Regelung zu finden, bei der ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE wir unsere Kolleginnen und Kollegen in den Parlamen- GRÜNEN ten nicht ins Messer laufen lassen. Das dürfen wir näm- lich nicht; Sie haben darauf zu Recht hingewiesen. Uns NSG-Ausnahmeregelung für Indien beschä- aber ein Redeverbot aufzuerlegen und diese Frage gar digt das nukleare Nichtverbreitungsregime – nicht mehr zu diskutieren, das, glaube ich, kann nicht die Zustimmung der Bundesregierung ist Beleg ei- Lösung sein. Von daher meine Bitte an den Koalitions- ner falschen Abrüstungspolitik partner – Sie persönlich muss ich gar nicht ansprechen –: – Drucksache 16/10355 – Reden Sie noch einmal mit Ihren Oberen! Wir sollten die Überweisungsvorschlag: Beratungen wieder aufnehmen. Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Schönen Dank. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die DIE GRÜNEN – Siegfried Kauder [Villingen- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Schwenningen] [CDU/CSU]: Und Sie reden FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- mit Herrn Ströbele!) derspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: FDP-Fraktion die Kollegin Elke Hoff. Die Rede des Kollegen Wolfgang Nešković nehmen wir zur Protokoll.1) (Beifall bei der FDP) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird (B) (D) Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/6726 Elke Hoff (FDP): an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das Kollegen! Zu sehr später Stunde reden wir heute über ein ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- wichtiges Thema, das es eigentlich verdient hätte, an sen. prominenterer Stelle hier im Deutschen Bundestag be- handelt zu werden. Deswegen freue ich mich auch, dass Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: es uns gelungen ist, gemeinsam mit unseren Kollegen Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen heute ein Zei- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder- chen zu setzen und unserer Missbilligung über etwas nisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmo- Ausdruck zu verleihen, was die Bundesregierung in der dernisierungsgesetz – BilMoG) parlamentarischen Sommerpause dieses Jahres auf den Weg gebracht hat. – Drucksache 16/10067 – Die Entscheidung für eine Ausnahmeregelung für In- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) dien ohne die langfristige und verbindliche Verpflich- Finanzausschuss tung Indiens zur nuklearen Abrüstung und zum Beitritt Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zum Atomteststoppvertrag bricht nach unserer Auffas- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu sung mit allen Prinzipien der internationalen Nichtver- diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – breitungspolitik und bedroht das ohnehin schon wan- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich kende nukleare Nichtverbreitungsregime endgültig in um folgende Kolleginnen und Kollegen: Parlamenta- seiner Existenz. rischer Staatssekretär Alfred Hartenbach, Antje (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem Tillmann, CDU/CSU, Klaus Uwe Benneter, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mechthild Dyckmans, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke, Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.2) Es wurden einem Nichtmitglied kostbare Rechte ein- geräumt, ohne dafür die entsprechenden Pflichten einzu- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- fordern. Indien wird dadurch nicht näher an das nukleare wurfs auf Drucksache 16/10067 an die in der Tagesord- Nichtverbreitungsregime herangeführt, sondern erhält einen Sonderstatus als privilegierter Kernwaffenstaat au- 1) Anlage 8 ßerhalb des Atomwaffensperrvertrages. Das ist der Weg 2) Anlage 9 in nukleare Doppelstandards, das ist der Weg in die Un- 19126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Elke Hoff (A) terscheidung zwischen guter und schlechter Prolifera- rer Sicht, wie Herr Kollege Hoyer richtig bemerkt hat, (C) tion, und das ist, meine Damen und Herren, ein totaler ein unerhörter Vorgang. Irrweg; (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Aber die Bundesregierung hat nicht nur Parlament denn er bedeutet über kurz oder lang das Ende des und Öffentlichkeit über ihre Positionierung im Unklaren Atomwaffensperrvertrages, das Ende des internationalen gelassen. Wenn man die Berichterstattung ausländischer Nichtverbreitungsregimes und den Beginn einer Phase Medien, insbesondere die indische verfolgt und mit Ver- unkontrollierter nuklearer Aufrüstung. tretern anderer Delegationen gesprochen hat, wurde ei- nes sehr deutlich: Die Bundesregierung hat ihren NSG- Nur durch ein intensives und glaubwürdiges Engage- Vorsitz aktiv dazu genutzt, für eine Sonderregelung für ment der Weltgemeinschaft für die Institutionen der Indien zu werben, sie hat kleine Staaten wie Irland, die Nichtverbreitung, nur durch eine globale Abrüstungsini- Niederlande oder Neuseeland mit ihrer Kritik an den tiative, wie sie erfahrene Staatsmänner wie Außenminis- fehlenden abrüstungspolitischen Bedingungen der Son- ter Henry Kissinger oder Hans-Dietrich Genscher wie- derregelung im Regen stehen lassen, und sie hat nie die derholt eingefordert haben, werden sich der entstandene von Außenminister Steinmeier benannten abrüstungspo- Schaden noch begrenzen und ein Zerfall des Nichtver- litischen Kriterien zur Grundlage ihrer Entscheidung ge- breitungsregimes vielleicht noch verhindern lassen. Ab- macht. So sieht, meine Damen und Herren, keine glaub- rüstung und Rüstungskontrolle sind viel zu kostbare würdige Abrüstungspolitik aus. Säulen der internationalen Sicherheit, als dass sie zu strategischen Instrumenten von Geo- oder auch Wirt- Da hilft es auch nicht, immer wieder treuherzig auf schaftspolitik werden dürften. Mohammed al-Baradeis Unterstützung für das US-indi- sche Nuklearabkommen zu verweisen und diese wie eine Die FDP hat wiederholt gefordert, dass Deutschland Monstranz vor sich herzutragen. Denn bereits im Jahr endlich wieder eine Vorreiterrolle für die internationale 2005 hat der IAEO-Direktor die entscheidende Ein- Abrüstung und Nichtverbreitung einnimmt. Unser Land schränkung seiner Haltung hinzugefügt: „Managed pro- hat sich auf diesem Politikfeld auch durch liberale Au- perly, it would take us forward.“ – Nur richtig gehand- ßenpolitik ein stabiles Renommee aufgebaut. Deshalb habt würde ein US-indisches Nuklearabkommen Indien schmerzt es meine Fraktion besonders, dass eine solche näher an das Nichtverbreitungsregime heranführen und abrüstungspolitische Fehlentscheidung unter deutschem die internationalen Bemühungen um nukleare Nichtver- Vorsitz und unter Führung eines deutschen Außenminis- breitung voranbringen. ters in der Nuclear Suppliers Group getroffen worden ist. (B) Das bedeutete auch seiner Meinung nach, das US-in- (D) (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ dische Nuklearabkommen zu einem Tauschgeschäft zu DIE GRÜNEN) machen: Energieentwicklungshilfe gegen das Eingehen verbindlicher Verpflichtungen aus dem Atomwaffen- Dabei hatte der Bundesaußenminister ja bereits per- sperrvertrag. Nur, dieses Geschäft auf Gegenseitigkeit sönlich die richtigen und notwendigen Kriterien für eine hat eben nicht stattgefunden. Indien hat keine verbindli- Heranführung Indiens an das Nichtverbreitungsregime chen Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag und für eine außenpolitisch verantwortliche Entschei- übernommen. Deshalb hätte die NSG, hätte die Bundes- dung der NSG benannt. Auf einer Abrüstungskonferenz regierung einer Sonderregelung für Indien auch nicht der SPD im Juni 2006 nannte er als Kriterien den Beitritt zustimmen dürfen. Deshalb muss Deutschland als glaub- Indiens zum Atomteststoppvertrag, ein Moratorium für würdiger Nichtkernwaffenstaat und verantwortungs- die Produktion von spaltbarem Material für Waffenzwe- voller nuklearer Lieferstaat an seiner restriktiven Export- cke und die Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung. Und politik für Nukleartechnologie gegenüber Indien fest- so hätten die Kriterien für eine Zustimmung der Bundes- halten. regierung in der NSG auch am 6. September 2008 lauten müssen. Ich appelliere hier auch im Namen der Kollegen, die gemeinsam mit uns den Antrag formuliert haben, an die In der abrüstungspolitischen Grundsatzrede des Au- Bundesregierung, zumindest in diese Richtung weiterzu- ßenministers auf der Münchner Sicherheitskonferenz in marschieren und uns bitte hier im Plenum zu erklären, diesem Jahr kam das heikle Thema jedoch erst gar nicht wie es zu dieser, aus unserer Sicht wirklich verheerenden vor. Wer in der anschließenden Diskussion etwas zu der Entscheidung kommen konnte. deutschen Haltung zum US-indischen Nuklearabkom- men wissen wollte, wurde ebenfalls enttäuscht. Konkre- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. tes, gar eine deutliche Positionierung gab es nicht. Die (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Bundesregierung hat der indischen Sonderregelung in DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Schäfer der NSG zugestimmt, ohne das Parlament und die deut- [Köln] [DIE LINKE]) sche Öffentlichkeit auch nur ein einziges Mal im Vorfeld über ihre Entscheidung zu informieren. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist unerhört!) Nächster Redner ist der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion. Die Entscheidung wurde klammheimlich in der parla- mentarischen Sommerpause getroffen. Dies ist aus unse- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19127

(A) Eckart von Klaeden (CDU/CSU): (Elke Hoff [FDP]: Aber man hätte Indien ver- (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- pflichten können!) gen! Wir wissen aus zahlreichen Unterrichtungen durch das Auswärtige Amt, dass nicht nur dort, sondern auch Zu sagen, dass Indien zwar eine Gefahr für das Nicht- im Parlament über die richtige Entscheidung zu dieser verbreitungsregime ist, und gleichzeitig zu fordern, dass Frage lange Zeit gerungen worden ist. Am Ende des Ent- Indien in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als scheidungsprozesses hat Außenminister Steinmeier eine Vetomacht soll, dass es also für andere Staaten inter- Führungsentscheidung getroffen, die unsere volle Unter- nationales Recht setzen soll, bedeutet nur – Sie lehnen stützung verdient, nämlich: Die Ausnahmeregelung der nämlich das eine ab und befürworten das andere –, dass Nuclear Suppliers Group für Indien war notwendig. Sie entweder den Nichtverbreitungsvertrag oder den Si- cherheitsrat gering schätzen. Das, was die Grünen und die FDP hier vorlegen, stellt nicht nur eine Misstrauenserklärung gegenüber den Ver- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es! – Elke einigten Staaten von Amerika dar – das ruft in der deut- Hoff [FDP]: Quatsch!) schen Öffentlichkeit heutzutage ja keine besondere Auf- Ihre Position ist nicht schlüssig. merksamkeit mehr hervor –, (Beifall bei der CDU/CSU) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die berechtigt ist!) Wir dagegen sind der Ansicht, dass Indien dieses Ver- trauen verdient, sondern stellt auch eine Misstrauenserklärung gegenüber Indien dar. Darauf wird, wenn aus einer der beiden Frak- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE tionen oder Parteien, je nach Konstellation, der Wunsch GRÜNEN]: Da kann Pakistan auch gleich mit- vorgetragen wird, einmal den Außenminister zu stellen, machen!) sicherlich zurückzukommen sein. dass Indiens Aufstieg neben dem Aufstieg Chinas die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Welt in den kommenden Dekaden unübersehbar verän- neten der SPD – Zuruf der Abg. Ute Koczy dern wird. Wir meinen, dass Indien in den letzten Jahren [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und Jahrzehnten wichtige Initiativen ergriffen hat. Indien Die entscheidende Frage ist doch: Hat Indien das Ver- hat in Südasien Verantwortung übernommen, zum Bei- trauen verdient, das ihm durch diese Ausnahmeregelung spiel bei der Lösung der politischen Krise in Nepal. Es entgegengebracht wird? hat seine Beziehungen zu den ASEAN plus Drei und den Vereinigten Staaten verstärkt. Indien kommt damit sei- (B) Vor Jahren haben sich die Grünen – damals mit der nem angesichts seiner Größe verständlichen Ziel näher, (D) Unterstützung der Opposition von CDU/CSU und auch als Großmacht eine Gleichrangigkeit mit seinem chinesi- der Unterstützung der FDP – in der rot-grünen Koalition schen Nachbarn zu erreichen, und das ist ein wesentli- dafür eingesetzt, Indien im Rahmen der G-4-Initiative zu cher Grund für seine nuklearen Ambitionen gewesen. einer Vetomacht im Weltsicherheitsrat zu machen. Glau- ben Sie wirklich, dass diese Entscheidung richtig gewe- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sen wäre, wenn, wie Sie es in Ihrem Antrag deutlich ma- GRÜNEN]: Pakistan hat auch seine Verbin- chen, Indien gleichzeitig eine Gefahr für das nukleare dungen zu den USA verstärkt!) Nichtverbreitungsregime wäre? Wäre diese Initiative – Sie wollen jetzt doch nicht wirklich die Lage in Pakis- wirklich verantwortbar gewesen? Ja, diese Initiative ist tan, Herr Kollege Ströbele, und die Proliferationspolitik meiner Meinung nach damals richtig gewesen. Indien Pakistans mit der Indiens vergleichen. Das zeigt, wie gehört in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. sehr bei Ihnen die Maßstäbe verrutscht sind. (Elke Hoff [FDP]: Auch in den Atomtest- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE stoppvertrag und in den Nichtverbreitungsver- GRÜNEN]: Das ist doch kein Argument!) trag!) Seit 1974 hat Indien eine verantwortungsvolle Politik – Indien kann ja gar nicht Mitglied des Nichtverbrei- betrieben und sich als eine verantwortungsvolle Atom- tungsvertrages sein, Frau Kollegin Hoff. Sie müssten macht erwiesen: Anders als sein Nachbarland Pakistan, einmal den Vertrag lesen. Denn Indien ist Nuklearmacht, das Sie, Herr Kollege Ströbele, gerade als Kronzeuge und die Aufnahme einer weiteren Nuklearmacht ist in eingeführt haben, war Indien zu keinem Zeitpunkt an der dem Vertrag gar nicht vorgesehen. Es gibt überhaupt Proliferation von Nuklearmaterial oder Know-how be- kein Verfahren dafür. teiligt. Anders als Pakistan hat Indien zudem in seiner (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Nukleardoktrin von Anfang an auf den Ersteinsatz von Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Atomwaffen verzichtet. Darüber hinaus hat Indien er- NEN]: Aber es kann bestimmte inhaltliche Be- klärt, keine Atomwaffen gegen Nichtnuklearstaaten ein- dingungen erfüllen, um dem zu entsprechen!) zusetzen, und es hat sich seit 1974 an diese Nukleardok- trin gehalten. Das sind wesentliche Unterschiede zu Also, Indien stellt immer wieder diese Forderung. In- Pakistan, das Sie gerade hier eingeführt haben. dien sagt ja: Wir sind bereit, Mitglied des Nichtverbrei- tungsvertrages zu werden, wenn ihr akzeptiert, dass wir (Uta Zapf [SPD]: Das hat auch keinen Erstein- Nuklearmacht sind. satz gemacht!) 19128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Eckart von Klaeden (A) Zudem hat die indische Regierung ein freiwilliges Mora- (Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Das ist lü- (C) torium für neue Atomtests erklärt. ckenhaft!) Ich sehe auch keinen direkten Zusammenhang zwi- Am 5. September hat der indische Außenminister vor schen der NSG-Entscheidung und den Bemühungen um der Entscheidung der NSG die indische Nichtverbrei- eine friedliche Lösung der Krise um das iranische tungsverpflichtung noch einmal bekräftigt. Auf dieser Nuklearprogramm. Indien ist in dieser Frage nicht mit indischen Nichtverbreitungsverpflichtung baut die Aus- dem Iran zu vergleichen. Indien hat den Nichtverbrei- nahmeregelung der NSG auf. Falls Indien erneut einen tungsvertrag nicht unterzeichnet. Iran hingegen ist dem Atomtest durchführen sollte oder seine Safeguards- oder NVV beigetreten, und es gibt erhebliche Zweifel an der NSG-Verpflichtung verletzt, kann jedes NSG-Mitglied Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus ein Sonderplenum einberufen, das über geeignete Maß- dem NVV durch das Teheraner Regime. nahmen bis hin zur Suspendierung oder Beendigung des Nuklearhandels mit Indien entscheidet. Die E-Drei-plus-Drei haben dem Iran das Angebot ei- ner zivilen nuklearen Zusammenarbeit unterbreitet, (Elke Hoff [FDP]: Ein bisschen spät!) wenn das Land das Vertrauen in den ausschließlich fried- Ich halte es daher für richtig, dieser Ausnahmerege- lichen Charakter seines Programms wiederhergestellt lung zuzustimmen. Ich glaube, dass Indien angesichts hat. Auch bedroht Indien nicht die Existenz eines ande- seiner jahrzehntelangen verantwortungsvollen Nuklear- ren Staates, wie das der Iran offen gegenüber Israel tut. politik dieses Vertrauen verdient. Die Rede des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad vor der UN-Vollversammlung hat das ja wieder unter (Beifall bei der CDU/CSU) Beweis gestellt. Wie alle Schwellenländer ist Indien ein Land mit stei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gendem Energiebedarf. Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer, Frak- tion Die Linke. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht auf Atombomben!) (Beifall bei der LINKEN) Der Energiebedarf Indiens, das über keine eigenen Öl- und Gasvorkommen verfügt, steigt stetig an. Es verfügt Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): über große eigene Kohlevorkommen, deren Verstro- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfang September ist ein neues Kapitel eines Stücks geschrie- mung allerdings zu den rapide wachsenden CO2-Emis- sionen des Landes beitragen würde. Man kann daher ben worden, das man auch „Chronik eines angekündig- (B) Indien schwer den Zugang zu nuklearer Energie verwei- ten Todes“ nennen könnte. Die Bundesregierung kann (D) gern – das ist ja ein Argument, das immer wieder von sagen, sie ist nicht nur dabei gewesen, sondern sie hat der FDP vorgetragen wird, aber von den Grünen nicht sogar den Vorsitz bei dieser Veranstaltung geführt. unterstützt wird –; denn Indien ist für seine wirtschaftli- Das hat doch eine besondere Pikanterie. Diese Nukle- che Entwicklung auf die Bereitstellung von Nuklear- arlieferantengruppe ist 1976, also zwei Jahre nach den energie angewiesen. Indien das vorzuenthalten, was man indischen Atomtests, gegründet worden, und zwar genau dem Iran immer wieder anbietet, ist nicht sonderlich zu dem Zweck, Nuklearlieferungen an Indien zu verhin- überzeugend. dern. Jetzt gibt es eine Ausnahmeregelung der Nuclear Mit dem Ausbau der Atomkraft hofft die Regierung Suppliers Group, indem gesagt wird: Wir dürfen an In- dien liefern. – So etwas nennt man doch wohl Paradig- in Delhi zudem, den Zuwachs der CO2-Emissionen ein- zudämmen. menwechsel, oder? Ich finde, es ist eindeutig – darum braucht man nicht herumzureden – ein Dammbruch, Es ist auch nicht überzeugend, wenn die Gegner des weil Indien dafür prämiert wird – anders kann man es amerikanisch-indischen Nuklearabkommens behaupten, nicht sehen –, dass es sich im Widerspruch zum NPT zu dass dadurch der NVV geschwächt werde. Meines Er- einer Atommacht entwickelt hat. Um diesen Sachverhalt achtens wird der NVV gerade durch die Annäherung In- kommen Sie nicht herum. Wenn man jetzt solche Präze- diens an den Vertrag gestärkt. Ihr Argument, Frau Kolle- denzfälle schafft, wird man es viel schwieriger haben, gin Hoff, ist ja nur dadurch plausibel geworden, dass Sie vom Iran und von anderen eine Abkehr von ihren das englische Zitat von al-Baradei unzutreffend ins nuklearen Ambitionen zu verlangen. Deutsche übersetzt haben; denn Sie haben die selbstver- ständliche Kondition, dass eine Vereinbarung vernünftig Herr von Klaeden, alle Gründe, die Sie für die Son- ausgeführt werden muss, in einer Weise verändert, wie derbehandlung Indiens anführen – Sie sagen beispiels- sie im englischen Zitat al-Baradeis nicht enthalten war. weise, es sei eine vertrauenswürdige Nuklearmacht –, beinhalten offensichtlich die Ansage, dass wir uns nicht Indien hat zugestimmt, 14 seiner bis 2014 verfügba- allzu sehr um Recht und Gesetz kümmern. Damit wird ren 22 Kernkraftwerke einer Inspektion durch die IAEO der Willkür Tür und Tor geöffnet. Wer definiert denn, zu unterwerfen. Das ist der wesentliche Punkt, den al- dass Indien eine verantwortungsvolle Atommacht ist? Baradei als eine Heranführung an das NVV-Regime ge- Diese Willkür tut den internationalen Beziehungen nicht nannt hat. Das vereinbarte Safeguards-Abkommen zwi- gut. Wir brauchen verlässliche rechtliche Grundlagen. schen Indien und der IAEO dürfte bald unterzeichnet Ein entsprechendes Verhalten wäre von Indien einzufor- werden. dern gewesen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19129

Paul Schäfer (Köln) (A) Es ist schon erwähnt worden, dass es eine Chance in- Dr.h.c. Gernot Erler, Staatsminister im Auswärti- (C) nerhalb der NSG gegeben hätte, ein klares Nein zu sa- gen Amt: gen, um die Beteiligten dazu zu bringen, darauf zu drän- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen, dass Indien die Bedingungen des NPT erfüllt. Es Wir debattieren heute hier über eine Entscheidung, die hätte dafür eine Mehrheit gegeben. Aber die Bundesre- unterschiedliche Wirkungen haben kann. Allen nachzu- gierung hat sich an die Spitze derjenigen gesetzt, die gehen, ist in vier Minuten nicht möglich. Deshalb kon- dem Druck nachgegeben haben, der vor allem von den zentriere ich mich auf eine. USA ausgegangen ist. Diesem Druck konnte keines der kleinen Länder standhalten; sie sind sozusagen in die Das Ziel der Bundesregierung besteht darin, Indien in Knie gegangen. Es hätte also eine Möglichkeit gegeben, Verbindung mit den Entscheidungen der IAEO und der das zu verändern. Dass dies nicht passiert ist, zeigt: NSG näher an das internationale Nichtverbreitungsre- gime heranzuführen und damit aus seiner Isolation zu lö- Worte und Taten klaffen bei der Bundesregierung weit auseinander. sen. Diesem Ziel kommen wir jetzt näher. Indien hat sich auf das globale Nichtverbreitungsregime zubewegt und Man kann – leider, muss man an dieser Stelle sagen – steht jetzt stärker in der Verantwortung als vorher, vor al- auch vermuten, dass es dort unlautere Motive nicht nur lem durch das am 1. August von der IAEO gebilligte seitens der USA gibt, die Materialien liefern wollen und Safeguards-Abkommen. Indien wird jetzt die Mehrzahl die im nuklearen Bereich Geschäfte machen wollen. seiner Reaktoren unter Safeguards stellen. Das bedeutet Man muss dies auch für andere Regierungen vermuten. mehr Kontrolle als bisher und damit einen deutlichen Wenn ich mir die Entwicklung der deutschen Rüstungs- Gewinn für das Safeguardssystem und für die Nichtver- exporte nach Indien anschaue und wenn ich berücksich- breitung. tige, dass man da spekuliert, was U-Boot-Lieferungen (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sehr oder den Verkauf des Eurofighters betrifft, kann ich richtig!) mich nicht ganz des Eindrucks erwehren – diese Frage stelle ich zumindest in den Raum –, dass da auch Export- Eine Wertung, wie ich sie letzten Mittwoch von dem interessen eine Rolle spielen. Man hat also die eigene Kollegen Trittin gehört habe, die Belieferung Indiens mit abrüstungspolitische Position aufgeweicht und ge- Atommaterial und Uran sei kein Gewinn, sondern ein schwächt mit der Konsequenz, dass der Vertrag über die Verlust an Rüstungskontrolle, ist irreführend. Die NSG- Nichtverbreitung von Kernwaffen in der Tat akut gefähr- Entscheidung erlaubt die Lieferung von NSG-kontrol- det ist. lierten Nukleargütern nur an zivile Anlagen unter Safe- guards. Die IAEO-Kontrollen verhindern gerade, dass Wir sind in der Situation – das ist an dieser Stelle oft das Material in den militärischen Sektor gelangt. (B) genug gesagt worden –: Wenn es 2010 nicht zu eindeuti- (D) gen Ergebnissen auch in Richtung einer klaren Abrüs- Nicht von ungefähr hat der indische Außenminister tungspolitik kommt, dann wird es insgesamt eine Ero- Mukherjee in seiner Erklärung vom 5. September erst- sion geben, und dann wird man auf einer schiefen Bahn mals öffentlich die nichtverbreitungspolitischen Ver- sein, auf der es kein Halten mehr gibt. Es wäre das Mini- pflichtungen seines Landes genannt und bekräftigt. mum gewesen, die rote Linie, die sich die Bundesregie- Hierzu zählen das Testmoratorium, die Safeguards-Ver- rung selbst gesetzt hat, in den NSG-Verhandlungen ein- pflichtungen, die Schaffung effektiver indischer Export- zuhalten, das heißt, eine verbindliche Erklärung zu kontrollen und die Verpflichtung, sich an den Richtlinien erreichen, dass Indien dem Atomteststoppvertrag beitritt, der NSG und des MTCR auszurichten. sich an dem Produktionsmoratorium für nukleare Waf- Die indische Regierung hat sich ausdrücklich zum fen beteiligt und all seine Anlagen der Kontrolle der Ziel des Abschlusses eines Vertrages über ein Verbot der Safeguards der IAEO unterstellt. Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffen – für die Fachleute: FMCT – wie auch dem Ziel einer kernwaf- Das jetzt erreichte Abkommen kann man nur als För- fenfreien Welt bekannt. Indien verpflichtet sich, die sen- derprogramm für den militärischen Bereich ansehen. siblen Nukleartechnologien, zu denen unter anderem die Wenn nur Teile der Anlagen einer Kontrolle unterstellt Anreicherung von Uran gehört, nicht weiterzugeben. werden, dann können Materialien transferiert werden Hieran wird sich Indien in Zukunft messen lassen müs- und für militärische Programme genutzt werden. Das ist sen. Dass dies ein für Indien weit gehender Schritt war, ein Förderprogramm für die nukleare Aufrüstung in der zeigt die starke Kritik der indischen Opposition an dieser Region. Dem hätte man Einhalt gebieten müssen; da Entscheidung. hätte man Nein sagen müssen. Genau das ist das richtige Ansinnen des Antrages von FDP und Grünen, der des- Die Ausnahmeregelung der NSG baut auf den indi- halb grundsätzlich unterstützungswürdig ist. schen Verpflichtungen, die ich hier genannt habe, auf. Sollte Indien hiervon abweichen – Kollege von Klaeden Danke. hat darauf hingewiesen –, greifen die nichtverbreitungs- politischen Regeln, die wir in die Erklärung eingearbei- (Beifall bei der LINKEN) tet haben. Die NSG hätte dann die Möglichkeit, Sanktio- nen zu verhängen, einschließlich der Suspendierung des Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nuklearhandels. Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, (Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Die Gernot Erler. Möglichkeit!) 19130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Staatsminister Dr. h. c. Gernot Erler (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erklärung der Was die IAEO-Kontrollen in den 14 zivilen Anlagen (C) NSG war ein Kompromiss, einer zwischen 45 Mitglied- und in den acht anderen Anlagen angeht, die für die mili- staaten, tärische Nutzung entscheidend sind: null. Außerdem kann Indien auch von sich aus die Kontrollen der IAEO (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE beenden. Ich verstehe, dass die IAEO sagt: Jetzt haben GRÜNEN]: Kompromiss? Es gab einen wahn- wir den Fuß in der Tür. Daraus die Schlussfolgerung zu sinnigen Druck!) ziehen, das sei insgesamt eine Annäherung an den Nicht- einer, bei dem wir wichtigen Nichtverbreitungselemen- verbreitungsvertrag, ist aber eine falsche Bewertung. ten Raum schaffen konnten. Dazu haben Sie in Ihren vier Minuten Rede nichts ge- sagt. In frei gesprochenen weiteren vier Minuten würden Was jetzt passiert, ist ein Zwischenschritt. Unser Ziel Sie angesichts der Wirkung dazu vermutlich etwas ande- bleibt – an ihm werden wir weiter arbeiten – Indiens res sagen. Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag – die Probleme sind hier genannt worden – sowie zum internationalen Wie will man gegenüber dem Iran denn jetzt bitte Teststoppabkommen und ein Produktionsmoratorium für schön noch irgendwie glaubwürdig vertreten – das ist Spaltmaterial für militärische Zwecke. schon gesagt worden –: Ihr dürft das, was die anderen machen, nicht; die sind halt Atommacht usw. Das be- Vielen Dank. kommen Sie nicht mehr auf die Reihe. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Israel und Pakistan haben selbst gesagt: Das wollen Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei, wir auch – Präzedenzfall. Eine Ablehnung kann man Bündnis 90/Die Grünen. nicht plausibel machen. Na gut, Pakistan kann man sa- gen: Euch können wir nicht trauen. Aber Israel? Israel Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): trauen Sie doch sehr. Warum denn da nicht? Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Israel hat Herr Staatsminister, Sie haben entgegen Ihrer sonstigen das doch gar nicht gesagt! Das ist doch Art eine Erklärung hier abgelesen. Das nehme ich zur Quatsch! Das ist doch gar nicht wahr!) Kenntnis. Was Pakistan angeht: Gestern hatten wir dazu eine (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Mit Anstand!) Aktuelle Stunde. (B) (D) Atomwaffen sind der Extremismus der Militärtech- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das passt nik, und der Nichtverbreitungsvertrag versucht, in die- doch gar nicht!) sem Bereich wenigstens nukleare Anarchie zu verhin- – Jetzt will ich keine Zwischenrede. dern und gleichzeitig die Dinge in Richtung nuklearer Abrüstung zu bewegen. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Aber hier Unsinn erzählen!) Wir wissen alle: In den letzten Jahren ist der Nicht- verbreitungsvertrag in eine erhebliche Krise gekommen. – Ich erzähle weiter. Sie können dann sehen, das ist ganz Erinnern wir uns: 1974 war der erste indische Nuklear- schön sinnvoll. test. Wodurch wurde er möglich? Durch Plutonium, das Wir haben festgestellt, dass Pakistan ein politisches aus einem Reaktor, von Kanada geliefert, dafür abge- Pulverfass ist, vielleicht das gefährlichste weltweit. Erin- zweigt werden konnte. Die Schlussfolgerung daraus war nern wir uns daran, was 1999 war – das ist nachzulesen –, die Gründung der Nuclear Suppliers Group durch USA, als es sieben Wochen lang einen kriegerischen Konflikt Kanada, die Bundesrepublik und einige andere Länder. zwischen Pakistan und Indien gegeben hat: 13-mal ist Und nun soll es diese Ausnahmeregelung für Indien ge- von beiden Seiten der Einsatz von Atomwaffen ange- ben. droht worden. Bitte schön! Das heißt im Klartext: Wenn Herr von Klaeden, wenn da von Misstrauen gegen- auf indischer Seite jetzt die Möglichkeit besteht – ich über Indien gesprochen wird, ist das in diesem Zusam- will das nicht unterstellen –, in Sachen nuklearer Aufrüs- menhang die unpassende Kategorie. tung weiterzumachen, dann ist die Perzeption beim Geg- ner doch eindeutig. Dann geht die Sache auch da hoch. (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr richtig!) Das müssen Sie bitte berücksichtigen. Aber wir müssen zunächst feststellen, dass Indien keine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verbindliche Abrüstungsverpflichtung im Nuklearbe- und bei der FDP) reich eingegangen ist, Die Bundesregierung trägt eine ganz erhebliche Mit- (Elke Hoff [FDP]: Genau!) schuld an dieser Art von Entscheidung. dass kein Beitritt zum Atomteststopp erklärt wird und Herr Staatsminister, Sie haben vorhin von einem dass schließlich auch ein überprüfbares Moratorium für Kompromiss gesprochen. Sie wissen selbst, wie die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial nicht schlimm das gelaufen ist: Die kritischen Kleinen, die zugesagt wird. Rückgrat hatten, sind von den Spitzen der USA fertigge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19131

Winfried Nachtwei (A) macht worden, und die Bundesregierung, die gegenüber ßen hat. Und Pakistan schließt in seiner Nukleardoktrin (C) dem größten Verbündeten in solchen Angelegenheiten den Ersteinsatz von Nuklearwaffen gerade nicht aus. Ich schon einmal Rückgrat bewiesen hat, hat das dieses Mal wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu diesen beiden Punkten offensichtlich nicht getan. Es ist wirklich ein Hohn, Stellung nehmen könnten. wenn Sie in diesem Zusammenhang von einem Kompro- miss reden. Wenn ich noch einen dritten Punkt anführen darf: Die Nuklearpolitik Indiens hat sich in den vergangenen Jah- Ich habe den Eindruck, dass elementare Sicherheits- ren nicht verändert. Warum haben Sie eigentlich die und Abrüstungsinteressen anderen Interessen geopfert Aufnahme dieses Landes in den VN-Sicherheitsrat un- wurden. Davon wird natürlich gar nicht gesprochen. Es terstützt? Hätte ein solches Land tatsächlich in den VN- geht aber immerhin um einen Markt von 150 Milliarden Sicherheitsrat gehört? Dollar. Legitimerweise sind daran natürlich alle mögli- chen Seiten interessiert. Ich glaube, das war das Ent- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): scheidende. Erstens zu Israel. Es hat zumindest Pressemeldungen gegeben, dass es solches Ansinnen von israelischer Seite Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gäbe. Das gebe ich jetzt nur wieder; ich kann es nicht ve- Herr Kollege Nachtwei! rifizieren. Ich sage es also mit Vorsicht.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zweitens. Es ist völlig richtig: Wenn wir die Katego- Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. rien „vertrauenswürdige Staaten“ und „weniger vertrau- enswürdige Staaten“ anwenden würden, würde Indien als erheblich vertrauenswürdig gelten. Das ist klar. Pa- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kistan würde als viel weniger vertrauenswürdig oder Ja, bitte. kaum oder gar nicht vertrauenswürdig gelten. Diese Ka- tegorie ist eingeführt worden, aber sagt in diesem Zu- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sammenhang nichts aus. Es geht um den Universalismus Zwei dringende Bitten an die Koalition: Erstens. Re- dieser Regel. Es wird nicht unterschieden zwischen Ver- den Sie hier wenigstens nicht um diese Fehlentscheidung trauenswürdigen, für die es scheunentorgroße Ausnah- drum herum. Uta Zapf, ich glaube, Sie können das ein men gibt, und den anderen, den Kritischen, bei denen es bisschen korrigieren. Zweitens. Wenigstens sollte es dann anders läuft. Das ist das Problem. jetzt keinerlei Nuklearlieferungen an Indien geben. Das ist das Mindeste. Australien zum Beispiel macht uns das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (B) vor. Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Und Sicher- (D) heitsrat? – Gegenruf des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das ist ein anderes Feld!) Herr Kollege Nachtwei, ich muss Sie jetzt wirklich unterbrechen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Uta Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zapf, SPD-Fraktion. Ich beende jetzt meine Rede.

Danke schön. Uta Zapf (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und bei der FDP) Ich gestehe, es ist für mich eine bittere Debatte. Sie ist noch zusätzlich bitter geworden, weil wir hier in einer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Art diskutieren, die dem Problem, vor dem wir jetzt ste- Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem hen, überhaupt nicht angemessen ist. Es macht keinen Kollegen von Klaeden. Sinn, dieser Bundesregierung vorzuwerfen, an allem schuld zu sein, und zu behaupten, dass sie es hätte ver- hindern können. Vielmehr müssen wir, denke ich, viel- Eckart von Klaeden (CDU/CSU): leicht in einer nachfolgenden Debatte über die Dinge re- Herr Kollege Nachtwei, Sie haben gerade behauptet, den, die jetzt zu besorgen sind. Frau Hoff hatte einen dass die israelische Regierung eine Sondergenehmigung Vorschlag gemacht, den ich nur unterstützen kann. verlangt habe, die dem indisch-amerikanischen Nuklear- deal entspricht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dafür Wir haben hier schon mehrfach Debatten darüber ge- einen Nachweis liefern könnten. führt. Bis auf die CDU/CSU, die sich in dieser Phase ei- gentlich immer bedeckt gehalten hat, haben wir allesamt, (Uta Zapf [SPD]: Da gab es genügend Presse- die wir hier sind, die Forderungen an Indien aufgestellt, meldungen!) die hier auch als Vorausbedingungen zitiert worden sind, Zweitens. Sie haben das Verhalten Indiens mit dem um einen solchen Deal überhaupt seriös abschließen zu Verhalten Pakistans verglichen. Ich darf Sie darauf hin- können. Die Vorausbedingungen sind: CTBT-Beitritt, weisen, dass Pakistan gegen das Prinzip, an das sich In- Stopp der Produktion von waffenfähigem Material, ein dien hält, nämlich keine Proliferation zu betreiben, versto- anständiges Safeguards-Abkommen und ein Zusatzpro- 19132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Uta Zapf (A) tokoll. All diese Bedingungen sind nicht erfüllt. Sie ste- – Ich halte sie für falsch. Das habe ich hier, an dieser (C) hen auch nicht in der Erklärung der Nuclear Suppliers Stelle, aber schon öfter gesagt. Group. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall des Abg. Winfried Nachtwei [BÜND- GRÜNEN]: Richtig! – Beifall der Abg. Elke NIS 90/DIE GRÜNEN]) Hoff [FDP]) Das macht mir große Beschwerden; das sage ich ehrlich. Wir können damit nicht so umgehen, wie es jetzt ge- schieht; vielmehr müssen wir den Tatsachen ins Auge (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartmut sehen und dann versuchen, nach vorne zu schauen. Koschyk [CDU/CSU]: Aber es war doch Ihr Außenminister Ihrer Fraktion?) Es gibt auch in dem Safeguards-Abkommen keine Restriktionen, die einem Standardabkommen entspre- – Es war unser Außenminister dieser Koalition, und es chen. Indien hat mit diesem Abkommen nach meiner war Frau Merkel, die begeistert war über diesen Deal Ansicht einen Freibrief bekommen. Ich denke, noch viel und das in Indien mehrfach geäußert hat. schlimmer ist Folgendes: Selbst wenn die Amerikaner (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Weil Sie sich jetzt auf ihren Hyde Act rekurrieren, können jetzt alle jetzt so davon distanzieren!) anderen Lieferstaaten liefern. Und es war Herr Glos, der begeistert ist über das Ge- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ schäft, das jetzt zu machen ist, und eine Hermesbürg- DIE GRÜNEN) schaft möchte. Gerade heute, am 25. September, sitzen die Franzosen (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Lenken Sie in Neu-Delhi und arbeiten an diesem Abkommen. Das nicht ab, Frau Kollegin!) heißt, auch die im Antrag enthaltene Forderung, etwas auf dem europäischen Wege zustande zu bringen, ist illu- – Nein, diese Bemerkung ist unfair und gehört sich nicht. sorisch. Insofern ist das, was uns in der Tat als Option (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Es gilt das bleibt, darauf zu bestehen, dass das, was der Außenmi- Ressortprinzip, Frau Kollegin!) nister Indiens angekündigt hat, eine Verpflichtung wird, dass Indien sich also daran hält. Wir sollten eine große – Na, in Ordnung. Abrüstungsoffensive mit initiieren. Es ist nicht so, dass Dann finde es besonders unanständig, weil Steinmeier das nicht in der Luft liegt. Im Moment gibt es eine ganze unser Kanzlerkandidat ist und weil das, was er in diesen Menge Initiativen, die vor allen Dingen von NGOs ge- Verhandlungen durchstehen musste und durchgestanden tragen werden. Sie finden ihren Durchschlag in einem (B) hat, hier ganz vorsichtig als Druck bezeichnet worden neuen Bewusstsein. Ich hoffe auf die amerikanische Re- (D) ist. Die USA sind doch in ganzen Divisionen losmar- gierung und darauf, dass der nächste Präsident weiser ist. schiert und haben die Folterwerkzeuge vorgezeigt. Das Ich wünsche mir natürlich, dass die Aussagen von waren nicht nur die Daumenschrauben, auch die Eiserne Obama umgesetzt werden können. Er hat sich verpflich- Jungfrau und das Waterboarding tet, CTBT zu unterschreiben. Das würde die Abrüstung international schon einmal ein Stück voranbringen. (Heiterkeit) (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- wurden gegen die Staaten angewandt, die nicht bereit loch] [SPD]) waren, dem zuzustimmen. Obama hat sich auch zu internationalen multilateralen (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Dem allen Abrüstungen bekannt. hat sich Steinmeier jetzt wohl gebeugt!) (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Und zum Lassen Sie mich jetzt noch auf einen weiteren Punkt indisch-amerikanischen Nukleardeal!) kommen, der eher mit Abrüstung zu tun hat. Mir tut, ehr- lich gesagt, besonders weh, dass wir Indien nicht haben Ich denke, diese Perspektive zeigt uns eine Aufgabe darauf verpflichten können, seine Waffenarsenale zu kap- auf – pen und sich den Abrüstungsbedingungen der Nuklear- staaten zu unterwerfen. Mir tut auch weh, dass – übri- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gens mit Zustimmung von Herrn al-Baradei, der dann Frau Kollegin Zapf! seine Bedingungen offensichtlich vergessen hat, ich habe sie nie gehört, Frau Hoff – ein Safeguards-Abkom- Uta Zapf (SPD): men geschlossen worden ist, das nicht der Interpretation entspricht, die die USA uns gegeben haben, und das – ich bin fertig –, die wir mit Indien, mit den USA überhaupt nicht den Kriterien des Hyde Act entspricht. und mit unseren europäischen Nachbarn zu erfüllen ha- Vielmehr lässt es Indien, wenn es testet und dann mögli- ben. cherweise mit Sanktionen belegt wird, sich von diesem (Beifall bei der SPD, der FDP und dem Safeguards-Abkommen zurückziehen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Halten Sie die Entscheidung des Auswärtigen Amtes für Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: richtig oder falsch?) Ich schließe die Aussprache. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19133

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (C) Drucksache 16/10355 zur federführenden Beratung an Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Union zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vor- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei- Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- sung so beschlossen. gende Kolleginnen und Kollegen: Klaus Hofbauer, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: CDU/CSU, Uwe Beckmeyer, SPD, Patrick Döring, FDP, Katja Kipping, Die Linke, Winfried Hermann, Bünd- a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- nis 90/Die Grünen. gierung Bundesbericht zur Förderung des Wissen- Klaus Hofbauer (CDU/CSU): schaftlichen Nachwuchses Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion spricht sich klar – Drucksache 16/8491 – für Mobilität aus. Überweisungsvorschlag: Wir haben hierzu bereits viel auf den Weg gebracht, Ausschuss für Bildung, Forschung und auch zugunsten von bedürftigen Menschen, und wir ar- Technikfolgenabschätzung (f) beiten ständig an Verbesserungen für Mobilität sowohl in Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den Ballungszentren als auch im ländlichen Raum. Inso- fern teile ich auch die Feststellung der Fraktion Die b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Linke, dass Mobilität ein elementares Merkmal unserer Gehring, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager, heutigen Gesellschaft ist. Aber! Ein derart pauschaler weiterer Abgeordneter und der Fraktion und undifferenzierter Antrag, wie ihn Die Linke zum So- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zialticket für die Deutsche Bahn AG stellt, hat mit über- Wissenschaft als Beruf attraktiver machen – legter, nachhaltiger und verantwortungsvoller Politik Den wissenschaftlichen Nachwuchs besser un- nichts gemein. Verantwortungsvolle Politik setzt voraus, terstützen dass man überlegt, was kann und will der Staat leisten und was kann der Einzelne selbst tun. Wir müssen dieje- – Drucksóache 16/9104 – nigen Menschen unterstützen, die tatsächlich auf Hilfe Überweisungsvorschlag: angewiesen sind. Und das tun wir auch! Ausschuss für. Bildung, Forschung und (B) Technikfolgenabschätzung (f) Behinderte Menschen, die zweifellos auf Hilfe ange- (D) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie wiesen sind, werden in Deutschland selbstverständlich Ausschuss für Arbeit und Soziales unterstützt. Sie sind wirklich bedürftig und vielfach nicht Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in der Lage, Kosten für Mobilität selbst zu übernehmen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Sie können daher bereits heute kostenlos den öffentlichen diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Personenverkehr nutzen. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich Fahrtkosten zu Bewerbungsgesprächen werden weit- um folgende Kolleginnen und Kollegen: Marion Seib, gehend erstattet, denn unser vorderstes Ziel ist es, Men- CDU/CSU, Dieter Grasedieck, SPD, Uwe Barth, FDP, schen in Arbeit zu bringen. Das ist Hilfe zur Selbsthilfe. Dr. Petra Sitte, Die Linke, Kai Gehring, Bündnis 90/ Die Menschen werden damit in die Lage versetzt, selbst Die Grünen, und den Parlamentarischen Staatssekretär für sich zu sorgen, benötigen dann in den meisten Fällen 1) Andreas Storm. keine Hilfe mehr und können sich damit ein Bahnticket Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf ohne Unterstützung leisten. den Drucksachen 16/8491 und 16/9104 an die in der Ta- Diejenigen Menschen, denen trotz Arbeit das Geld gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. fehlt, um mobil zu sein – Menschen im Niedriglohnbe- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann reich etwa, die auf ergänzende Hilfeleistungen nach sind die Überweisungen so beschlossen. SGB II angewiesen sind –, werden auch nicht vergessen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Die für ihre Mobilität notwendigen Kosten, zum Beispiel für eine Monatskarte, finden bei Berechnung der ergän- Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja zenden Hilfeleistung Berücksichtigung. Kipping, Katrin Kunert, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wie wenig durchdacht und undifferenziert die Forde- rungen der Linken in ihrem Antrag zum Sozialticket sind, Sozialticket für die Deutsche Bahn AG zeigt sich zudem daran, dass sie es pauschal für alle Emp- – Drucksache 16/10264 – fänger von Leistungen nach SGB II, SGB XII sowie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz fordert. Die Anzahl des Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) mit diesem Vorschlag ins Auge gefassten Personenkreises Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) liegt etwa bei 7 bis 8 Millionen Menschen. In Kombination mit der gleichzeitig vorgeschlagenen 1) Anlage 10 Erhöhung des Eckregelsatzes von derzeit 351 Euro auf 19134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Klaus Hofbauer (A) 435 Euro kann ich dieser Partei nur attestieren, dass ihr verschiedenen Städte Deutschlands. Diese sind nicht (C) jeder Sinn für die Realität abhanden gekommen ist – so- ohne Probleme und haben zu völlig gegensätzlichen Ent- weit er überhaupt jemals vorhanden war. Eine Erhöhung scheidungen geführt. um fast 100 Euro ist nicht nur unfinanzierbar, sondern Unabhängig davon haben wir hier heute uns zu dem hätte zur Folge, dass sich der Abstand zum Niedriglohn- vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke zu verhalten. sektor minimiert und damit weit mehr Menschen in den Kreis der ergänzenden Hilfeleistungen aufrücken würden Für die SPD-Bundestagsfraktion möchte ich grund- als heute. Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten sätzlich feststellen, dass der Erhalt von Transferleistun- Mobilitätsunterstützung, die diese Menschen schon heute gen über private Unternehmen in Form von verbilligten erhalten, käme es zu einer Doppelförderung – Berück- Produkten oder Leistungen generell intransparent ist und sichtigung von Mobilitätskosten bei ergänzender Hilfe- damit zu großen Ungerechtigkeiten führen kann. Bezahlt leistung plus das Sozialticket. Außerdem würde die Zahl werden muss dies ohnehin durch den Steuerzahler, weil der Anspruchsberechtigten für das Sozialticket dann auf der Staat bzw. die öffentlichen Hände Zuschüsse an die etwa 14 Millionen Menschen steigen. Das hat nicht ein- entsprechenden Unternehmen zu leisten haben. mal mehr im Ansatz etwas mit Realität zu tun! Wenn man den vorliegenden Antrag in seinem substan- Die Kette der Punkte, die darlegen, wie wenig durch- ziellen Kern bewertet, muss man feststellen: Der Antrag dacht der Antrag der Linken ist, lässt sich beliebig fort- ist höchst problematisch, weil unsolidarisch und unge- führen. So wird vorgeschlagen, dass der Bund über seine recht. Vertretung in den Aufsichtsgremien der Deutschen Bahn Was ist zum Beispiel mit einer alleinerziehenden Mut- auf deren Preisgestaltung einwirkt, damit diese die Bahn- ter von zwei Kindern, die halbtags arbeitet und damit card 25 statt für 55 Euro für lediglich 5 Euro abgibt. Mir zwar mehr als den Hartz-IV-Satz verdient, aber mit ihrem war nicht klar, dass der Linken niemand gesagt hat, dass Einkommen gerade über die Runden kommt. Was ist mit die Bahn ein als Aktiengesellschaft organisiertes und ei- dem Rentner, der 40 Jahre lang am Band gearbeitet hat, genständig wirtschaftlich operierendes Unternehmen ist. aber heute nur eine bescheidende Rente bekommt? Auch Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das ist er wird nicht in den Genuss eines „Sozialtarifs“ kommen. schon seit 1994 so! Der Bund kann auf die operative Ge- schäftsführung der Bahn schlichtweg keinen Einfluss Die von Ihnen vorgenommene Beschränkung der An- nehmen, auch nicht im Aufsichtsrat. spruchsberechtung grenzt viele Menschen aus. Jemand, der nur über ein geringes Einkommen verfügt, das gerade Überlegt hat sich Die Linke offenbar auch nicht, wel- eben über dem Hartz IV-Satz liegt, wird nicht in den Ge- che Konsequenz aus der Abgabe der Bahncard 25 zum nuss eines so genannten Sozialtickets kommen. Finden Preis von 5 Euro folgt – für den Fall, dass die Bahn diesen (B) Sie das fair? (D) Schritt geht. Wie bereits erwähnt beträgt die Anzahl der Anspruchsberechtigten nach Vorstellung der Linken etwa Zugleich suggerieren die Antragsteller, dass die Deut- 14 Millionen. Bei einem regulären Preis von 55 Euro pro sche Bahn AG eine Art VEB-Bahn sei, die willkürlich ihre Bahncard müsste die Bahn also bereit sein, 14 Millionen Preise senken kann. Tatsächlich würden für die Einfüh- Menschen einen Preisnachlass von 50 Euro zu gewähren. rung eines „Sozialtickets“ jedoch die Steuerzahler zah- Da die Bahn ein wirtschaftlich denkendes Unternehmen len: Der Rentner mit seinem geringen Einkommen, der ist, wäre die sichere Folge eines solchen Entgegenkom- zweimal im Monat seine Enkel besuchen will, jedoch kein mens eine Fahrpreiserhöhung der ohnehin schon teuren „Sozialticket“ bekommt, müsste höhere Steuern zahlen Fahrscheine für alle anderen Bahnkunden. oder höhere Preise oder aber beides. Wo bleibt da die So- lidarität? Vor zwei Wochen haben wir uns zu Recht bei der Bahn dafür stark gemacht, dass der Bedienzuschlag nicht erho- Mit der Forderung der Fraktion Die Linke werden ben wird. Die Linke hatte dies ebenfalls gefordert. Und willkürlich Grenzen gezogen, die fragwürdig sind. Das heute macht sie Vorschläge, die die Bahn dazu zwingt, bestätigt nur eines: Wenn die Fraktion Die Linke Gerech- ihre Fahrpreise zu erhöhen. Diese Logik erschließt sich tigkeit erzwingen will, führt dies zu Ungerechtigkeit. mir schlichtweg nicht. Ich möchte mich nochmals aus- Wenn Die Linke Solidarität erzwingen will, führt dies zur drücklich zu der Notwendigkeit von Mobilität bekennen. Entsolidarisierung. Sie gehört zu den vordringlichsten Aufgaben der Großen Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion Die Koalition. Linke, sind auf dem völlig falschen Dampfer. Ziel muss es Der Antrag der Fraktion Die Linke ist jedoch undiffe- doch sein, möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringen renziert, nicht durchdacht und damit ungeeignet, nach- und nicht, sie vom Sozialstaat abhängig zu machen. Ziel haltig für mehr Mobilität in Deutschland zu sorgen. Mit muss es doch sein, als Arbeitnehmer ein Mindesteinkom- diesem Antrag offenbart Die Linke einmal mehr, wie we- men für gute Arbeit zu erzielen, ein Einkommen, mit dem nig sie in der Lage ist, Regierungsverantwortung zu über- dieser sich und seine Familie ernähren kann, anstatt mit nehmen, und wie sehr ihre Vorschläge von reinem Popu- ungerechten Sozialtarifen die Welt verbessern zu wollen. lismus geprägt sind. Ihre Konzepte, meine Damen und Herren von der Frak- tion Die Linke, sind reines Flickwerk. Uwe Beckmeyer (SPD): Niemals gab es in Deutschland so viele Beschäftigte Wir wissen um die Debatten zur Einführung von So- wie heute: Über 40 Millionen Erwerbstätige und rund zialtickets für den öffentlichen Personennahverkehr in 27,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftige

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19135

Uwe Beckmeyer (A) sprechen einen eindeutige Sprache. Sie sind das Ergebnis der Deutschen Bahn die Sparpreise 25 und 50 und die (C) unserer Politik. Dauerspecials. Aber auch die durch Mitfahrzentralen vermittelten Fahrgelegenheiten machen Reisen innerhalb Mit einer Arbeitslosenquote von 7,8 Prozent haben wir Deutschlands günstiger. Was zunächst so nett klingt, ent- im Mai 2008 erstmals seit November 1992 wieder die puppt sich dann schnell als Forderung nach staatlichen 8-Prozent-Marke unterschritten. Die Arbeitslosenquote Lenkungsmaßnahmen im Leben der Leistungsempfänge- ist im August sogar auf 7,6 gefallen. Allein im vergange- rinnen und -empfänger. Denn wer allein Bahnfahren sub- nen Jahr haben mehr als eine halbe Million Menschen ventionieren will, Radfahren, Autofahren oder andere eine reguläre Beschäftigung gefunden. Fortbewegungsmöglichkeiten aber links liegen lässt, der Guter Lohn für gute Arbeit – das muss unser Ziel sein. will im Rahmen der Transferleistungen das Verhalten der Denn nur gute Arbeit macht den Einzelnen zufrieden und Menschen bestimmen. Wir Liberale dagegen wollen die schafft sozialen Zusammenhalt und Wohlstand für alle. Mindestbedingungen eines eigenverantwortlichen Le- bens absichern, nicht weniger, aber – das sei an dieser Stelle auch deutlich gesagt – nicht mehr. Denn der Vor- Patrick Döring (FDP): rang eines selbst verdienten Lebensunterhalts verbietet, Idealismus wächst mit dem Abstand zum Problem. Das eine staatliche Rundumversorgung für die Menschen zu erleben wir wieder einmal im Zusammenhang mit dem schaffen, deren Unterhalt von den Arbeitenden miterwirt- Antrag der Linken, den wir heute beraten. Damit fordert schaftet wird. Wer arbeitet, muss mehr haben als derje- sie, eine Bahncard 25 zu einem Normalpreis von 55 Euro nige, der nicht arbeitet. für die Empfänger sogenannter Hartz- IV-Leistungen für 5 Euro anzubieten. Um es auf den Punkt zu bringen; Das Wenn wir schon über die Menschen sprechen, die am ist sozialpolitischer Populismus und verkehrswirtschaft- Erwerbsleben teilnehmen, aber nur über ein kleines Ein- licher Unsinn in einem. Mit dem vorliegenden Antrag soll kommen verfügen oder über eine kleine Rente, obwohl sie die DB AG verpflichtet werden, Leistungsempfängern so- lange gearbeitet haben, dann muss ich Folgendes fest- zusagen 50 Euro im Jahr zu schenken. Warum aber soll stellen: Die Linke will mit diesem Antrag Transferleis- ein privates Unternehmen das tun? Ein privates Unter- tungsempfänger besser stellen als Menschen mit einem nehmen – das erkläre ich meinen Kollegen von der Linken geringen Einkommen. Und das ist für mich weder sozial- immer wieder gerne – möchte Leistungen anbieten und noch gesellschaftspolitisch zu verantworten. damit Geld verdienen. Das soll so sein, das ist Marktwirt- Daher stehen die Liberalen nach wie vor für eine an- schaft. An den Konsequenzen der Wirtschaftsvorstellun- dere Sozialpolitik: Wer die wirtschaftlichen Rahmenbe- gen der Linken haben wir bis heute zu arbeiten und stehen dingungen so gestaltet, dass mehr Menschen Arbeit ha- in diesem Zusammenhang immer noch, vor großen He- (B) ben, der tut viel mehr für die ganze Bevölkerung als (D) rausforderungen. derjenige, der auf Kosten anderer immer wieder Ge- Ebenso wenig wie wir Bäckereien, Getränkehändler, schenke an bestimmte Gruppen verteilt. Drogerien und Tankstellen zu Geschenken an bestimmte Dieser Antrag ist ein erneuter Beweis dafür, dass Marx Personengruppen verpflichten, werden wir das bei der und Murks nicht nur phonetisch, sondern auch inhaltlich Deutschen Bahn tun. Denn auch wenn Sie’s vielleicht nah beieinander sind. nicht wahrhaben wollen, die Deutsche Bahn wird nach und nach ein privates Unternehmen werden. Und das ist richtig – oder wollen Sie die Organisationsprivatisierung Katja Kipping (DIE LINKE): rückgängig machen und zurück zur Behördenbahn? Dass Menschen ihre Verwandten und Freunde besu- chen oder Urlaub machen und zu ihnen mit den öffentli- Die Probleme auf diesem Sektor, den Sie von der Lin- chen Verkehrsmittel reisen können, ist das Normalste der ken weiter staatlich regulieren wollen, liegen an ganz an- Welt. Nicht aber für Menschen, die vom Armuts- und Aus- derer Stelle: Die Bahntickets sind insgesamt zu teuer und grenzungsgesetz Hartz IV und analogen Grundsiche- der Service ist nicht gut genug. Da können Sie meinen, rungsgesetzen betroffen sind. das alles sei mit Überregulierung und Staatseinfluss zu lösen. Doch ein Blick in die Geschichte der Bahn zeigt, Der Eckregelsatz der Grundsicherungen enthält nur dass die Zeit der Deutschen Bundesbahn die schlechteste 11,04 Euro pro Monat für Mobilität mit öffentlichen Ver- und ineffizienteste der gesamten Bahngeschichte war. kehrsmitteln sowie 2,99 Euro für Reisen. Ein Einzelfahr- Nicht umsonst waren die ersten Eisenbahnunternehmen schein im innerstädtischen öffentlichen Nahverkehr liegt im 19. Jahrhundert keine Staatsbahnen, sondern Unter- je nach Region bereits zwischen 1,20 und 2,20 Euro. Die nehmen. Dahin müssen wir zurück: Mehr Service und at- Preise für Monatskarten oder für den Fernverkehr über- traktivere Preise erreichen Sie nie, indem Sie sogenannte steigen diesen Betrag um ein Vielfaches. Deshalb und Sozialtickets für eine Staatsbahn verteilen. Was wir brau- weil es immer mehr bedürftige Menschen gibt, bilden sich chen, ist Wettbewerb auf der Schiene. Damit ist allen Bür- in immer mehr Städten und Kommunen Bündnisse, die für gerinnen und Bürgern viel mehr geholfen als mit einer re- die Einführung von ermäßigten oder kostenfreien Sozial- duzierten Bahncard 25 für Empfänger von Hartz-IV- tickets für den lokalen oder regionalen öffentlichen Nah- Leistungen. verkehr eintreten. Diese konnten in einigen Städten und Regionen bereits ein Sozialticket durchsetzen, so etwa in Abgesehen davon stellt sich die Frage der Erforder- Berlin, in oder in Köln. In vielen Orten stehen lichkeit: Bereits heute gibt es verschiedene günstige Rei- soziale Bündnisse in Verhandlungen mit der örtlichen semöglichkeiten, wenn man danach sucht. Das sind bei Verwaltung und Verkehrsunternehmen oder arbeiten an

Zu Protokoll gegebene Reden 19136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Katja Kipping (A) Volksbegehren zur Durchsetzung eines Sozialtickets. gar vermeintliche Preisbrecher wie das 29-Euro-Ticket (C) Diese Bemühungen sind zu unterstützen. der Deutschen Bahn unterboten. Ihnen stehen auf der Ebene des überregionalen öffent- Allerdings wird die Deutsche Bahn AG für die Einfüh- lichen Fernverkehrs keine vergleichbaren Möglichkeiten rung eines Sozialtickets einen finanziellen Ausgleich ver- oder Initiativen gegenüber, obwohl dies angesichts der langen, wie es bei Sozialtickets im Nahverkehr gesetzlich Kosten für Fahrten mit der Deutschen Bahn AG dringend auch geregelt ist. Geht man beispielsweise davon aus, notwendig wäre. Die Einführung eines Sozialtickets für dass eine Million Menschen von diesem Angebot Ge- die Deutsche Bahn AG würde dieses Defizit beseitigen. brauch macht und die Differenz zwischen 58 Euro Nor- Das Sozialticket für die Deutsche Bahn AG soll einer malpreis und 5 Euro Sozialticketpreis erstattet werden Bahncard 25 entsprechen, die Anspruchsberechtigte zum muss, ergibt sich eine jährliche Summe von 53 Millionen Preis von 5 Euro erhalten. Anspruchsberechtigt sind Leis- Euro. tungsbeziehende nach dem SGB II, dem SGB XII und dem Asylbewerberleistungsgesetz sowie deren Angehörige. Angesichts der Tatsache, dass die Deutsche Bahn AG Aus Gründen der Praktikabilität kann ein solches Sozial- aus dem Bundeshaushalt mittel- oder unmittelbar jähr- ticket ganz einfach in das bestehende Preis- und Ermäßi- lich rund 9 Milliarden Euro erhält, dürfte diese Summe gungssystem der Deutschen Bahn AG eingepasst werden: durch Umschichtungen aus diesen Mitteln gegenfinan- Menschen, die über ihren Transferleistungsbescheid bzw. zierbar sein. Man muss aber auch klar sagen, dass eine den ihrer Bedarfsgemeinschaft ihre Berechtigung für ein solche Maßnahme Geld kostet, die dann an anderer Stelle Sozialticket für den Bahnfernverkehr nachweisen können, fehlt. erhalten an den DB-Verkaufsstellen eine Bahncard 25 Es ist zudem falsch, sich nur auf das eine Unternehmen zum Preis von 5 Euro. Diese ermöglicht in Kombination Deutsche Bahn AG zu fixieren. Es gibt bereits heute an- mit den sogenannten Sparpreisen eine Ermäßigung von dere Fernverkehrsanbieter auf der Schiene, und es gibt bis zu 62,5 Prozent. Mit einer Bahncard 50 wären hinge- andere Möglichkeiten, in Deutschland zu reisen. gen nur maximal 50 Prozent Ermäßigung möglich. Damit wird dem Interesse des Unternehmens an einfacher Hier beginnen auch die Probleme mit dem Vorschlag Handhabbarkeit ebenso Rechnung getragen wie dem In- der Linken: Sollen Fernlinienbusse auch verpflichtet teresse von Hilfebedürftigen an möglichst hohen Ermäßi- werden, Sozialtickets anzubieten? Was ist mit den ande- gungen und an einem unbürokratischen, nicht stigmati- ren Bahnen, die im Fernverkehr fahren. Sollen diese sierenden Verfahren. Und damit wird zumindest ein ebenfalls verpflichtet werden, Sozialtickets einzuführen? kleiner Schritt unternommen, um Menschen eine Mini- Was ist mit den Mitfahrzentralen? malteilhabe an der Gesellschaft zu gewähren sowie (B) grundlegende Bedürfnisse nach familialen und sozialen Eine gesetzliche Regelung für Sozialtickets müsste alle (D) Kontakten zu befriedigen. Ein kleiner Schritt, der uns Fernverkehrsanbieter umfassen. Alternativ könnte der aber nicht der Notwendigkeit einer sofortigen Anhebung Eigentümer, vertreten durch den Verkehrsminister, die der Regelsätze auf 435 Euro und der weiteren Einführung Deutsche Bahn AG auffordern, ein Sozialticket einzufüh- einer repressionsfreien sozialen Grundsicherung enthebt. ren. Schließlich hat die Politik ja auch massiv Einfluss darauf genommen, dass der Bedienzuschlag von der Deutschen Bahn AG zurückgenommen wurde. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorliegende Antrag der Linken enthält im Titel ein semantisches Missverständnis. Offensichtlich geht es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht darum, der Bahn ein Sozialticket auszustellen, son- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf dern um Sozialtickets für Bezieher von ALG II bei der Drucksache 16/10264 an die in der Tagesordnung aufge- Deutschen Bahn. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, Zunächst stelle ich fest, dass die im Regelsatz für Mo- der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen wünschen bilität vorgesehenen Anteile viel zu niedrig sind. Für Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und 2,99 Euro im Monat kann man nicht verreisen, egal mit Stadtentwicklung. Die Fraktion Die Linke wünscht Fe- welchem Verkehrsmittel. Es ist daher unser vordringli- derführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. ches Ziel, den Regelsatz für Bezieher von ALG II auf 420 Euro anzuheben. Das muss vorrangiges Ziel vor der Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Schaffung einzelner Vergünstigungen sein. Fraktion Die Linke, Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales, abstimmen. Wer stimmt für diesen Der Vorschlag, dass die Deutsche Bahn AG eine auf Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- 5 Euro rabattierte Bahncard 25 für die Bezieher von haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit der ALG-II-Leistungen anbieten soll, ist aus unserer Sicht Mehrheit der Stimmen des Hauses abgelehnt. dennoch prüfenswert. Da die Bahncard 25 mit dem Sparpreis 25 und dem Sparpreis 50 kombiniert werden Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der kann, kann bei rechtzeitiger Buchung und Zugbindung Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des ein Rabatt von 62,5 Prozent auf den Normalpreis erzielt Bündnisses 90/Die Grünen, Federführung beim Aus- werden. Fahren mehrere Personen mit einer Bahncard 25 schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, abstim- zusammen, sinkt der Einzelpreis durch den Mitfahrer- men. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – rabatt noch weiter. Auf vielen Strecken werden damit so- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überwei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19137

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) sungsvorschlag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (C) Linke mit der Mehrheit des Hauses angenommen. so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gierung gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Energieeinsparungsgesetzes Nationales Reformprogramm Deutschland 2008 bis 2010 – Drucksachen 16/10290, 16/10331 – Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) – Drucksache 16/10250 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Arbeit und Soziales Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich Ausschuss für Bildung, Forschung und um folgende Kolleginnen und Kollegen: Volkmar Uwe Technikfolgenabschätzung Vogel, CDU/CSU, Rainer Fornahl, SPD, Joachim Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Günther (Plauen), FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, Peter Haushaltsausschuss Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen und die Parlamentari- sche Staatssekretärin Karin Roth.3) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich fes auf den Drucksachen 16/10290 und 16/10331 an die um folgende Kolleginnen und Kollegen: Doris Barnett, in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- SPD, Rainer Brüderle, FDP, Dr. Herbert Schui, Die schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das Linke, Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, und ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- die Parlamentarischen Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.1) sen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: Drucksache 16/10250 an die in der Tagesordnung aufge- (B) a) Erste Beratung des von den Abgeordneten (D) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Gudrun Kopp, Martin Zeil, Rainer Brüderle, wei- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung teren Abgeordneten und der Fraktion der FDP so beschlossen. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: kung wettbewerblicher Strukturen im Markt für Postdienstleistungen (PostWettG) Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer – Drucksache 16/8906 – Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Überweisungsvorschlag: DIE GRÜNEN Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich Finanzausschuss des bürgerschaftlichen Engagements aufheben Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun – Drucksache 16/9630 – Kopp, Rainer Brüderle, Martin Zeil, weiterer Ab- Überweisungsvorschlag: geordneter und der Fraktion der FDP Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Rechtsausschuss Wettbewerbsintensität im Binnenmarkt für Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Postdienstleistungen erhöhen diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – – Drucksache 16/8773 – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich Überweisungsvorschlag: um folgende Kolleginnen und Kollegen: Markus Grübel, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) CDU/CSU, Angelika Graf (Rosenheim) und Sönke Rix, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union SPD, Sibylle Laurischk, FDP, Elke Reinke, Die Linke, Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die und Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.2) Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gende Kolleginnen und Kollegen: Alexander Dobrindt, Drucksache 16/9630 an die in der Tagesordnung aufge- CDU/CSU, Klaus Barthel, SPD, Gudrun Kopp, FDP, führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Sabine Zimmermann, Die Linke, und Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen. 1) Anlage 11 2) Anlage 12 3) Anlage 13 19138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Alexander Dobrindt (CDU/CSU): sierten Markt müssen wir bei unserer Postpolitik Rech- (C) Vor uns liegt ein wahres Sammelsurium von unter- nung tragen. Dies bedeutet beispielsweise: Es gibt immer schiedlichsten Gesetzesänderungen, die sich auf den noch circa 27 000 Briefträger im Beamtenstatus bei der Postbereich beziehen. Die FDP denkt, damit den Märkten Deutschen Post AG. Der letzte Postbeamte wird voraus- für Postdienstleistungen neue Impulse zu geben. Die FDP sichtlich im Jahr 2040 in Pension gehen. Bis dahin wird fordert mehr Wettbewerb. Das wollen wir auch. Aber die DPAG die Verbindlichkeiten, die aus dem Beamten- mehr Wettbewerb führt nicht immer automatisch zu mehr status resultieren, schultern müssen. Beschäftigung, wie wir es begrüßen würden. Zweitens. Wir müssen bei unserer Postpolitik beden- Darüber hinaus will die FDP eine steuerliche Gleich- ken: Deutschland ist in Europa einer der Vorreiter bei der behandlung aller Anbieter im lizenzierten Bereich durch Öffnung seines Postmarktes für in- und ausländische eine Einführung der Umsatzsteuerpflicht für die Deut- Wettbewerber. Viele andere EU-Staaten werden erst ei- sche Post AG. Die steuerliche Gleichbehandlung findet nige Jahre später ihre Märkte für den freien Wettbewerb meine Zustimmung, nur die Art der Umsetzung ist sicher- öffnen. Ein freier Postmarkt kann aus meiner Sicht nur lich streitbar. Hier ist die Bundesregierung auch schon dann besser sein, wenn es ein europäisch funktionieren- aktiv geworden. Erst gestern hat das Bundeskabinett ei- der Markt ist. Wir erleben auch Märkte, bei denen wir nen Entschluss zur Mehrwertsteuerfrage bei Postdienst- große Hoffnungen hatten und wo inzwischen Bedenken leistungen gefasst. Die Deutsche Post AG wird damit ihr eingetreten sind. Ich erinnere an den Strommarkt. Steuerprivileg im Geschäft mit Großkunden verlieren. Das ist ein weiterer richtiger Schritt für faire Wettbe- Drittens. Schließlich müssen wir auch in Zeiten der Di- werbsbedingungen im Postmarkt. Für vollkommen rich- gitalisierung – in Zeiten der elektronischen Post – die tig halte ich, Postsendungen im privaten Bereich weiter- Entwicklungen auf dem Postmarkt bedenken und berück- hin von der Mehrwertsteuer zu befreien. Somit haben sichtigen. Die Zahl der Paketsendungen steigt bisher Privatleute keine Preiserhöhungen aufgrund der Libera- jährlich. Hier haben sich auch schon viele Wettbewerber lisierung zu fürchten. der Deutschen Post AG erfolgreich am Markt etabliert und behauptet. Das ist eine ausdrücklich positive Ent- Ein Punkt des gestrigen Beschlusses ist genauso wich- wicklung. Dagegen bleibt die Zahl der Briefsendungen tig: Wettbewerber erhalten zukünftig auch die Steuerbe- seit vielen Jahren konstant. Hier ist kein Wachstum zu freiung, wenn sie ebenfalls in ganz Deutschland flächen- verzeichnen. Dieser Teilmarkt stagniert. deckend Briefe zustellen und Briefe annehmen. Insgesamt halte ich dies für einen guten Weg bei der Frage der Wollen wir den Übergang von einem ehemals staatli- Mehrwertsteuergleichbehandlung. Auch die alternativen chen Monopol zu einem freien Wettbewerb positiv beglei- Postdienstleister begrüßen insoweit diesen Vorschlag. ten, so müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen set- (B) Der Universaldienst wird sich für die Menschen nicht zen. Es geht dabei um die Rahmenbedingungen für die (D) verteuern und die Wettbewerbsbedingungen werden sich Kunden, die Rahmenbedingungen für die betroffenen Un- weiter verbessern. ternehmen und um die Rahmenbedingungen für die be- troffenen Arbeitnehmer. Wir dürfen nicht vergessen: In Beim Lesen Ihrer zahlreichen Gesetzesänderungen für diesem Bereich der Postdienstleistungen sind in Deutsch- den deutschen Markt der Postdienstleistungen ist mir eins land mehr als 200 000 Menschen beschäftigt. Deswegen klar ins Auge gesprungen: Dies alles sind Vorschläge, dürfen wir nicht nur von Märkten und mehr Wettbewerb welche die Entwicklung des Postmarktes in Deutschland reden; wir sollten vor allem auch über die Menschen und nicht im Geringsten berücksichtigen. Mit der Post- deren berufliche Perspektiven nachdenken. Wir müssen reform I aus dem Jahre 1989 und der Postreform II anno die flächendeckende Versorgung der Menschen mit einfa- 1994 haben wir die Weichen für die Umwandlung der chen Postdienstleistungen gewähren und sicherstellen. Deutschen Bundespost und damit für die Privatisierung Dabei sind günstige Preise wichtig, genauso die Nähe eines ehemaligen Staatsmonopolisten gestellt. Das Leit- zum Kunden und eine gute Qualität der Dienstleistung. motiv der Postreformen war: Wettbewerb als die Regel, staatliches Monopol als die zu begründende Ausnahme. Besonders die flächendeckende Versorgung mit Brief- Im Jahre 2000 folgte dann der Börsengang der Deut- dienstleistungen im ländlichen Raum muss an dieser schen Post AG. Stelle ein besonderes Gewicht haben. Ich befürchte, bei einem Wettbewerb, wie die FDP ihn beschreibt, bleiben Doch den größten Umbruch haben wir zum Anfang die Bedürfnisse dieser Menschen in den ländlichen Re- dieses Jahres geschafft: mit der vollständigen Liberali- gionen auf der Strecke. Es reicht mir nicht, zu wissen, sierung des deutschen Postmarktes und dem kompletten dass theoretisch eine Postfiliale in allen Regionen Wegfall des Monopols, also der gesetzlichen Exklusivli- Deutschlands möglich ist. Unsere Aufgabe muss es sein, zenz der DPAG. Das Datum 1. Januar 2008 ist der Mei- lenstein für mehr Wettbewerb im Postmarkt. Nichtsdesto- sicherzustellen, dass die Menschen überall ihre Briefe trotz liegt dieser Meilenstein gerade einmal neun Monate und Pakete – ohne Tageswanderung – an jedem Werktag zurück. Jetzt muss sich dieser neu und vollständig geöff- verschicken und erhalten können. nete Markt erst einmal etablieren und festigen. Den Übergang von einem ehemals staatlichen Mono- Bei allem gilt, wenigstens drei wesentliche Punkte zu pol zu einem freien Wettbewerb positiv begleiten, bedeu- bedenken: tet für mich daher, einen geregelten Übergang zu schaf- fen, und zwar unter Berücksichtigung der Interessen der Erstens. Der Entwicklung von einem ehemaligen Kunden und der Beschäftigten der bisherigen Monopol- staatlichen Monopolbereich zu einem vollständig privati- branche und ebenso unter Berücksichtigung der berech-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19139

Alexander Dobrindt (A) tigten Interessen der neuen Marktteilnehmer. Ganz – mindestens 4 000 Filialen durch Streichung der Min- (C) gewiss werden wir daher die Post-Universaldienstleis- destzahl von 12 000 Filialen, tungsverordnung an die neuen Marktbedingungen anpas- sen müssen, um für alle Marktteilnehmer die Chance zum – alle Briefsendungen in einer Zahl von über 50 Stück, Erbringen des Universaldienstes zu stärken. Und sicher – die Laufzeit und Qualität der Briefdienstleistung sowie werden wir zügig auch eine Lösung in der Frage der glei- die werktägliche Zustellung, chen Umsatzsteuerbehandlung aller Postdienstleistungs- unternehmen angehen. Wichtig ist: Wir arbeiten daran – Eilzustellung, und sind dabei auf einem guten Weg. Und ja, wir wollen den Wettbewerb im Postmarkt; aber wir setzen uns für ei- – Nachnahme. nen Wettbewerb innerhalb der sozialen Marktwirtschaft Was dann noch vom Universaldienst übrig bleibt, mag ein. sich jeder selbst ausmalen. Auf jeden Fall würde der Großteil dessen, was heute Postdienste ausmacht, nicht Klaus Barthel (SPD): mehr allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung ste- Wir sind der FDP sehr dankbar, dass sie in Form der hen. Als Beispiel will ich den Verein oder den mittelstän- vorgelegten Anträge immer wieder daran erinnert, wel- dischen Betrieb nennen, die Einladungen oder Rechnun- che verbraucherfeindliche und arbeitsplatzvernichtende gen mit einer Zahl von mehr als 50 Stück versenden Politik sie auch im Postbereich verkörpert. Dabei geht es wollen. Die bisherigen Erfahrungen machen wenig Hoff- gebetsmühlenartig immer wieder um drei Bereiche: die nung, dass der Markt aus sich heraus all diese Leistungen Mehrwertsteuer, den Mindestlohn und den Universal- erbringen würde – schon gleich gar nicht zu akzeptablen dienst. Mit der Mehrwertsteuer will sie alle belasten, den Bedingungen. Die Koalition ist sich einig, zwar die ein- Mindestlohn will sie wieder abschaffen und den Univer- zelnen Pflichtleistungen der jetzigen PUDLV zu überprü- saldienst will sie zerstören. fen, insgesamt aber das derzeitige Leistungsniveau inklu- sive der Selbstverpflichtung der Deutschen Post zu Zunächst zur Mehrwertsteuer: Wie allgemein bekannt erhalten und zu präzisieren. Woher die FDP ihre Erkennt- ist, wird der Europäische Gerichtshof – voraussichtlich nisse über einen diesbezüglichen anders lautenden noch in diesem Jahr – sein Urteil zum Vertragsverlet- „Gesetzentwurf“ bezieht, bleibt eines der vielen Postge- zungsverfahren der Europäischen Kommission fällen, heimnisse. Die FDP ist also bereit, die Interessen der das sich auch gegen Deutschland richtet. Dabei geht es Kundinnen und Kunden sowie des ländlichen Raumes auf um die Frage, inwieweit die im europäischen Recht aus- dem Altar ihrer pervertierten Wettbewerbsideologie zu drücklich vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung für öf- opfern. fentliche Postdienstleistungen unter den Bedingungen (B) der bevorstehenden völligen Marktöffnung noch geboten Die Krönung dieser Ideologie lesen wir jedoch im Ka- (D) und möglich ist. Meine Fraktion und ich können nur ra- pitel über die sozialen Aspekte des Postmarktes. ten, dieses Urteil abzuwarten. Deshalb wollen wir auch die Beratungen über den Gesetzentwurf der Bundesregie- Dort lesen wir: rung zu diesem Thema erst nach einem solchen Urteil ab- Die Berücksichtigung sozialer Belange als Ziel der schließen. Regulierung … widerspricht dem wettbewerblichen Unsere inhaltliche Position dazu ist unverändert: Wir Charakter der Regulierung ehemals staatseigener wollen die Pflichtleistungen derjenigen Postdienstleister, Netzindustrien … Die Sozialklausel …, welche die die die Gesamtpalette eines gesetzlich definierten Uni- Erteilung einer Lizenz an die Arbeitsbedingungen versaldienstes erbringen, im Interesse der Kunden von … knüpft, ist ein Fremdkörper … Die Einführung der Mehrwertsteuer frei halten. Es ist und bleibt ein Un- eines Mindestlohns für den Briefbereich verhindert terschied, ob ein oder mehrere Unternehmen das flächen- die Entfaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbs deckende Postangebot, wie es nach dem Grundgesetz der … Bund zu gewährleisten hat, erbringen oder ob sich Unter- nehmen auf bestimmte ertragreiche Marktsegmente oder Einmal mehr können wir schwarz auf weiß lesen, dass Regionen konzentrieren. die FDP die Existenzsicherung von Arbeitnehmerinnen und -nehmern nicht im Einklang mit dem Wettbewerb Einmal mehr entpuppt sich die FDP als Steuererhö- sieht, sondern als Störfaktoren. Wir stellen den Menschen hungspartei. Sie will Postdienste für die Kleinverbrau- in den Mittelpunkt und nicht ein längst widerlegtes Sys- cher um die Mehrwertsteuer, also 19 Prozent, erhöhen temmodell. und explizit sogar einen ermäßigten Steuersatz ausschlie- ßen. Sie können sicher sein: Die SPD wird nicht locker las- sen in ihrem Kampf für flächendeckende Mindestlöhne. Da passt es in die ganze Logik nahtlos hinein, dass der Gerade im Postbereich haben wir gesehen, was sich an FDP-Antrag unter der Überschrift „wettbewerbliche Dumping von Arbeitsbedingungen in jeder Hinsicht ent- Strukturen“ die Axt an den Universaldienst selbst legen wickelt hat. Einmal mehr halten wir fest, dass die Be- will. Sie will mindestens folgende Leistungen aus dem hauptung, durch Mindestlöhne würden Arbeitsplätze ver- Pflichtangebot streichen: nichtet, durch nichts belegt ist. Der Hinweis auf die Pleite – Briefe zwischen 50 und 2 000 Gramm, der PIN AG, der dann vonseiten der FDP und der Min- destlohngegner immer wieder kommt, ist schlichtweg – Pakete zwischen 10 und 20 Kilogramm, peinlich.

Zu Protokoll gegebene Reden 19140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Klaus Barthel (A) Inzwischen konnte sich jeder davon überzeugen, dass müssen, also auch hier wieder höhere Preise als notwen- (C) die PIN AG an ihrem eigenen fehlenden Geschäftsmodell, dig zahlen. an ihrer chaotischen Struktur, an ihrer mangelnden Leis- tungsqualität, an Managementversagen und ihrem Groß- Dies belegt, dass Union und SPD die Interessen eines aktionär gescheitert ist – längst bevor ein Mindestlohn in halbstaatlichen Großkonzerns, dessen Spitzenbelegschaft Kraft trat. lieber in Liechtenstein als in Deutschland versteuert, hö- her achten als die Interessen der anderen 80 Millionen Alles in allem freue ich mich darauf, diese Anträge der Bundesbürger. Gerade als der Kunde hoffen konnte, end- FDP ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Das wird uns lich einen Wettbewerbsmarkt für Post- und Zustelldienste Gelegenheit geben, einmal mehr die erfolgreiche sozial- genießen zu können, mit dem Fall der Exklusivlizenz für demokratische Linie in der Postpolitik aufzuzeigen: Be- die Briefbeförderung zum 1. Januar 2008, fiel den Lobby- zahlbare Leistungsqualität für alle erhalten und verbes- isten in der Konzernzentrale der Deutschen Post AG wie- sern, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen sichern und der ein neuer Kniff ein, um ihr Unternehmen vor dem bö- ausbauen. Darüber hinaus ist es überfällig, wenn wir sen Wettbewerb zu schützen. Der Post-Mindestlohn war schon über eine Novellierung des Postgesetzes sprechen, geboren, und Union und SPD ließen sich von den angeb- die derzeitige Regulierungsdichte und -tiefe zu überprü- lichen Gutmenschen mehr als nur bereitwillig vor ihren fen. Der Universaldienst einschließlich seiner Finanzie- Monopolkarren spannen. Im Ergebnis kann die Deutsche rung, die Zuverlässigkeit der Anbieter, der Daten- und Post AG zufrieden sein. Mit einem Postmindestlohn nahe Verbraucherschutz und der Schutz vor Marktmachtmiss- zehn Euro und einer Umsatzsteuerbefreiung wird der brauch sowie faire Wettbewerbsbedingungen – auch im raue Wind des Wettbewerbs zum milden Lüftchen. europäischen Kontext – könnten durch schlanke Regulie- rung gesichert werden. Mit Recht wirft zum Beispiel das Dieses Manöver mag sich bei den Parteispenden für Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Union und SPD auszahlen, den Bürgern in Deutschland Frage auf, weshalb wir in Deutschland ein Regulierungs- bleibt damit versagt, was längst selbstverständlich sein regime im Postsektor aufgebaut haben, das dem der Tele- sollte: nämlich die Wahl zwischen verschiedenen günsti- kommunikations- und der Energiebranche an Komplexi- geren Angeboten und innovativen Lösungen. tät in fast nichts nachsteht. Damit muss endlich Schluss sein. Die FDP hat deshalb Mit Recht wird dort festgestellt, dass ein postalisches heute ein Gesetz in den deutschen Bundestag einge- Netz materiell und ökonomisch nicht mit den physikali- bracht, mit dem die wesentlichen Wettbewerbshemmnisse schen Netzen der anderen Bereiche vergleichbar ist. So auf dem deutschen Postmarkt endlich zu beseitigen wä- fehlten hohe Marktzutrittsbarrieren oder „Bottlenecks“, ren. (B) also schwer überwindbare Monopolstrukturen. Deshalb So wäre es wesentlich, dass zum Beispiel das Postge- (D) sei auf Netzzugangs- und Entgeltregulierung weitgehend setz deutlich entschlackt und auf seinen Ursprungszweck, zu verzichten. nämlich die Rahmensetzung für einen wettbewerblichen Hier, meine Damen und Herren von der FDP, wäre Postmarkt, zurückgeführt wird. Wir brauchen keine Sozi- eine Überprüfung der Notwendigkeit und Angemessen- alklausel und auch keinen Regulierer, der sich um die Ar- heit von Regulierung aller Mühen echter Liberaler wert. beitsbedingungen in Monopolbereichen kümmert. Dies Sonst rufen Sie ständig nach Deregulierung und Bürokra- kann der Gesetzgeber an anderer Stelle regeln, und zwar tieabbau. Bei der Post hingegen kann die FDP gar nicht branchen- und sektorenübergreifend. Die Bundesnetz- genug regulieren, wie die beiden heute vorliegenden An- agentur sollte sich dagegen auf die Herstellung wett- träge erneut beweisen. bewerblicher Rahmenbedingungen konzentrieren. Ich denke, die Debatte über die Lohnstrukturen bei den Post- Ich hoffe jedenfalls, dass wir die Gelegenheit auch nut- wettbewerbern hat sogar den Mindestlohnbefürwortern zen, jenseits der Einzelfragen und Einzelinteressen die gezeigt, dass die Bundesnetzagentur hier nicht der rich- Gesamtkonzeption der Postpolitik wieder in den Mittel- tige Ansprechpartner ist. punkt zu rücken. In gleicher Weise müssen wir auch die Post-Universal- dienstleistungsverordnung PUDLV, endlich von überflüs- Gudrun Kopp (FDP): sigem Ballast befreien. Nicht nur die Monopolkommis- Die gegenwärtige Finanzmarktkrise hat, zumindest sion hat zu Recht darauf hingewiesen, dass zu detaillierte hinsichtlich ihrer Konsequenzen in Deutschland, deutlich Vorschriften hier Innovation und Strukturwandel behin- gezeigt, wohin es führt, wenn Staatsbanker mit politischer dern. Unterstützung agieren können. Eine Staatsbank nach der anderen hat sich verspekuliert und den Steuerzahler auf Entscheidend für den Wettbewerb auf dem Postmarkt den Verlusten sitzen lassen. Das Gleiche erleben wir in sind jedoch insbesondere die Frage des Postmindestlohns milderer Form seit Jahren auf dem Postmarkt. Auch hier und der Umsatzsteuerbefreiung der Deutschen Post AG. wird ein Monopolunternehmen, das noch immer zu Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass der von 30 Prozent in Staatsbesitz ist, von der Bundesregierung der Bundesregierung zu verantwortende Mindestlohn für an allen Ecken und Kanten gepäppelt und privilegiert. den Postsektor zu einer umfassenden Marktbereinigung Die Leidtragenden sind einmal mehr die deutschen Steu- zugunsten des Ex-Monopolisten geführt hat. Sie, meine erzahler und Postkunden, die die Steuergeschenke für die Herren und Damen von den Regierungsfraktionen, tra- Deutsche Post AG finanzieren dürfen und obendrein noch gen die Verantwortung dafür, dass die Liberalisierung im auf die Früchte des Wettbewerbs im Postwesen verzichten Keim erstickt wurde und wenigstens 6 000 Menschen ihre

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19141

Gudrun Kopp (A) Arbeit verloren haben. Vorfahrt für Arbeit sieht anders rungen Merkel und Schröder zu der Ausbreitung von Bil- (C) aus, Frau Bundeskanzlerin! liglöhnen im Briefdienst beigetragen. Aber es geht ja auch noch weiter. Der renommierte Union und SPD tönen, der Briefmarkt müsse liberali- Wettbewerbsrechtler Wernhard Möschel bezeichnet den siert werden, wir brauchten hier mehr Wettbewerb, wohl- Postmindestlohn als einen verbotenen und nichtigen Kar- wissend, dass im Briefgeschäft die Personalkosten einen tellvertrag, der gegen deutsches und europäisches Kar- Großteil der Unternehmensausgaben ausmachen und tellrecht verstößt, und fordert das Bundeskartellamt zum deswegen der Wettbewerb über die niedrigsten Löhne Handeln auf. Darüber hinaus sieht er die Bundesregie- ausgetragen wird. rung hier sogar in der Regresspflicht. Das würde dann Die Bilanz der Privatisierung der Post und der Libe- wirklich dem Fass den Boden ausschlagen. Erst durch ei- ralisierung des Postmarktes in Deutschland ist katastro- nen Rechtsbruch ein Monopol zementieren und dann auf phal: 140 000 Arbeitsplätze hat bisher die Privatisierung Steuerzahlers Kosten den Schaden reparieren. Hier kann der Post vernichtet – oftmals Vollzeitarbeitsplätze mit or- es für den Augenblick jetzt nur eine Handlungsoption ge- dentlichen Einkommen, die nun durch Billigjobs ersetzt ben: Der Postmindestlohn gehört ersatzlos gestrichen, werden. Die Deutsche Post will in diesem Jahr alle ihre und zwar am besten gestern. Filialen schließen und zieht sich mit einem kompetenten Der zweite wichtige Punkt betrifft die Frage der Um- und qualifizierten Service aus der Fläche zurück. Die satzsteuerbefreiung der Deutschen Post AG. Hier bahnt Preise der Briefbeförderung für den Normalverbraucher sich mit der Kabinettsentscheidung von gestern die haben sich seit 2005 erhöht. Für Großkunden hat die Post nächste skandalöse Weichenstellung durch die Bundesre- dagegen Rabatte angekündigt. gierung an. Ausgerechnet der angebliche Sparminister Aus dieser katastrophalen Bilanz der Privatisierung Peer Steinbrück möchte freiwillig auf rund 500 Millionen hat die Bundesregierung jedoch keine Konsequenzen ge- Euro an Einnahmen pro Jahr verzichten, um de facto an zogen. Im Gegenteil: Sie hat den Briefmarkt in Deutsch- der Umsatzsteuerprivilegierung der Deutschen Post AG land 2008 nun völlig für den Wettbewerb geöffnet. Sie ar- festzuhalten. Es ist doch völlig klar, dass auf lange Sicht beitet gegenwärtig daran, die Grundversorgung zu kein anderes Unternehmen in der Lage sein wird, die An- verschlechtern. forderungen für die Erbringung von Universaldienstleis- tungen zu erfüllen. Vollends absurd wird es dann aber, Zugleich ist die Deutsche Post ein Global Player auf wenn künftig neben der Bundesnetzagentur nun auch dem Weltmarkt. Mit ihrem Abenteuer in den USA hat sie noch das Bundeszentralamt für Steuern postwettbewerb- in den letzten Jahren mehrere Milliarden Euro Verlust ge- liche Prüfungen vornehmen soll. Im Übrigen darf nicht macht. Angesichts dieser Ergebnisse ist ein Kurswechsel (B) unterschlagen werden, dass die Deutsche Post AG durch dringend nötig. Die Linke wird hier die Bundesregierung (D) die Aufhebung der Umsatzsteuerbefreiung im Gewerbe- unter Druck setzen. Schließlich zeigen die Nachbarländer kundenbereich bei den vorsteuerabzugsberechtigten Deutschlands, dass es auch anders geht. Kunden nunmehr sogar Wettbewerbsvorteile gegenüber Die Niederlande haben die angekündigte vollständige dem Status quo gewinnt. Marktöffnung zurückgezogen. In Frankreich zwangen Es bleibt deshalb dabei, die einfachste Lösung wäre massive Proteste der Gewerkschaften den französischen eine Umsatzsteuerpflicht für alle Unternehmen, davon Präsidenten Sarkozy, seine Privatisierungspläne für die hätte dann auch der Bundeshaushalt etwas. Post auf Eis zu legen. Dort wird nun eine Volksabstim- mung zur geplanten Börseneinführung der Post gefor- Unter dem Strich kann ich nur an alle Beteiligten ap- dert. pellieren, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Der Wettbewerb muss endlich Einzug halten, die Monopole Wir sollten uns in Deutschland daran ein Beispiel neh- sind zu schleifen. Dies ist im Interesse aller Bürger und men. Der Postdienst ist nicht dafür da, Profite zu machen, Steuerzahler, wenn auch vielleicht nicht im Sinne der Mo- sondern dafür, die Bürgerinnen und Bürger ordentlich mit nopolisten. Denen sind wir als Abgeordnete aber auch Briefdienstleistungen zu versorgen. Dafür steht die Linke. nicht verpflichtet. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Die FDP fordert in ihrem Gesetzentwurf eine Stärkung „Für mehr Billigjobs und eine schlechtere Versorgung wettbewerblicher Strukturen auf dem Postmarkt. Das hört sich zunächst gut an, und auch wir streben einen fai- der Verbraucher“ – das wäre eine ehrliche Überschrift der FDP-Anträge gewesen, die heute beraten werden. ren und funktionierenden Wettbewerb an. Denn was verbirgt sich hinter ihrer Forderung nach mehr Mit Datum 1. Januar 2008 ist die Exklusivlizenz der Wettbewerb? Die FDP will keine feste Anzahl von Brief- Deutschen Post AG aufgehoben worden. Wir haben dies kästen mehr garantieren und sie will den Post-Mindest- unterstützt, weil nur dadurch überhaupt Wettbewerb auf lohn beseitigen, um nur zwei Punkte zu nennen. Von der dem Postmarkt entstehen kann. Die privaten Anbieter auf FDP ist man so etwas gewöhnt. dem teilliberalisierten Postmarkt hatten im Hinblick auf die angekündigte vollständige Marktliberalisierung be- Tragisch ist nur, dass die Bundesregierung dazu keine reits erhebliche Investitionen getätigt. wirkliche Alternative bietet. Sicher, wir haben seit diesem Jahr in Deutschland im Briefdienst einen Mindestlohn. Nach Auskunft der Bundesregierung auf unsere Kleine Dieser war nötig. Schließlich hat die Politik der Regie- Anfrage auf Drucksache 16/4979 aus dem letzten Jahr

Zu Protokoll gegebene Reden 19142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Kerstin Andreae (Bündnis 90/Die Grünen) (A) erwartete die Bundesregierung von einer vollständigen im Wettbewerb erbracht werden. Diese einseitige Steuer- (C) Liberalisierung die Entstehung neuer Arbeitsplätze sowie befreiung benachteiligt private Konkurrenten der DPAG ein qualitativ und quantitativ hochwertiges Angebot an im erheblichen Umfang. Mit der vollständigen Marktlibe- Postdienstleistungen bei sinkenden Preisen. Demnach ralisierung drohen durch die Steuerbefreiung weitere hat die bislang vollzogene Marktöffnung zu einer gestie- Wettbewerbsverzerrungen. Wir fordern daher schon seit genen Dienstleistungsqualität sowie insgesamt tendenzi- langem, die ungleiche Umsatzbesteuerung der Marktteil- ell niedrigeren Preisen bei Briefen und Paketen geführt. nehmer auf dem Postmarkt zgunsten der Deutschen Zudem hat die Angebotsvielfalt zugenommen. Darüber Post AG zu beenden und die EU-Rechtsvorschriften ein- hinaus betont die Bundesregierung zu Recht, dass auch deutig anzuwenden. trotz einer einseitigen Liberalisierung des deutschen Postmarktes nicht von einem unfairen Wettbewerb ausge- Welche Position die Bundesregierung in dieser Sache gangen werden kann. vertritt, blieb uns über Monate verborgen. Zunächst war unser Wirtschaftsminister Glos für, Finanzminister Die Arbeitsplätze bleiben auch bei vollständiger Libe- Steinbrück gegen die Abschaffung der einseitigen Steuer- ralisierung im Land – unabhängig davon, wer die Post privilegierung. Vor wenigen Tagen sprach sich zustellt. Zudem zeigen die Erfahrungen aus bereits libe- Steinbrück dann überraschend auch für die Abschaffung ralisierten Ländern, dass auch bei vollständiger Markt- aus. Seit gestern wissen wir: Es bleibt doch weitgehend öffnung keine signifikanten Umsatzeinbrüche für den alles beim Alten. Dieses Koalitionschaos schadet dem ehemaligen Monopolisten zu erwarten sind. Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir benötigen wieder Rechts- und Planungssicherheit für alle Beteiligten. Allerdings besteht trotz der beschriebenen Erfolge der erfolgten Teilliberalisierung berechtigte Kritik an teil- Faire Wettbewerbsbedingungen auf der einen Seite, weise unzureichenden Arbeitsbedingungen im teilprivati- wirksame Mittel gegen Lohndumping auf der anderen sierten Postgewerbe. Diese Kritik trifft sowohl einzelne Seite. So lautet unsere Botschaft. Die FDP hat da in ihrem Wettbewerber als auch Subunternehmen, die im Auftrag Gesetzentwurf leider nicht genügend nachgedacht. Ein- der Deutschen Post AG mit über 20 000 Arbeitnehmerin- fach nur alles dem Markt zu überlassen, das wäre die fal- nen und Arbeitnehmern Dienstleistungen erbringen und sche Botschaft und würde zulasten der Steuerzahler ge- deutlich unterhalb des Lohnniveaus der DPAG bezahlen. hen. Wir von Bündnis 90/Die Grünen sind der Auffassung, dass Deutschland endlich zu verbindlichen Regelungen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: für Mindestarbeitsbedingungen kommen muss, die die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Lohnspirale nach unten stoppen. Tarifverträge und die den Drucksachen 16/8906 und 16/8773 an die in der Ta- (B) Regelungskraft der Sozialpartner bieten keinen hinrei- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. (D) chenden Schutz gegen Fehlentwicklungen mehr. In den Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann vergangenen Jahren haben tariflich organisierte Bran- sind die Überweisungen so beschlossen. chen mit sehr niedrigen Entgelten genauso zugenommen Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: wie tariflich nicht organisierte Bereiche mit Niedriglöh- nen. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Investitionszulagen- Nur umfassende Regelungen für Mindestarbeitsbedin- gesetzes 2010 (InvZulG 2010) gungen, die alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einbeziehen, sowohl tariflich organisierte wie nicht orga- – Drucksache 16/10291 – nisierte Wirtschaftsbereiche erfassen und die Tarifauto- Überweisungsvorschlag: nomie wieder stärken, können weiteres Lohndumping Finanzausschuss (f) verhindern und zuverlässig vor Armutslöhnen schützen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 80 Prozent der Bevölkerung und eine parlamentarische Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Mehrheit hier im Bundestag haben sich klar für Mindest- löhne ausgesprochen. Auch das jüngste Urteil des Euro- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die päischen Gerichtshofs zum Vergaberecht zeigt, wie drin- Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- gend notwendig branchen- und regionalspezifische gende Kolleginnen und Kollegen: Manfred Kolbe, CDU/ Mindestlöhne sind, um Lohndumping unmöglich zu ma- CSU, Simone Violka, SPD, Christian Ahrendt, FDP, chen. Die FDP blendet diese Fakten in Ihrem Gesetzent- Roland Claus, Die Linke, und Peter Hettlich, Bündnis 90/ wurf leider vollständig aus. Die Grünen. Die Sozialklausel im Postgesetz erfüllt eine wichtige Manfred Kolbe (CDU/CSU): Funktion. Durch einen Wegfall dieser Klausel wäre Lohn- dumping Tür und Tor geöffnet. Die Folgen wären weitere Mit dem Investionszulagengesetz 2010 wollen wir, wie ergänzende Leistungen nach ALG II. Diese Art von Wett- im Koalitionsvertrag festgelegt und auf der Klausurta- bewerb zulasten der Steuerzahler werden wir nicht mit- gung der Bundesregierung in Meseberg im August 2007 tragen. nochmals bekräftigt, auch weiterhin Erstinvestitionen auf dem Gebiet der östlichen Länder unterstützen. Das ist Wettbewerbsverzerrungen sind aber auch die Folge auch gut so. Auch wenn der gesamtwirtschaftliche Auf- der unterschiedlichen steuerlichen Behandlung von schwung sehr gute Fortschritte gemacht hat, bleibt den- Marktteilnehmern bei Postdienstleistungen, die bereits noch bis zur Angleichung an die wirtschaftlichen Verhält- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19143

Manfred Kolbe (A) nisse in den westlichen Ländern weiterhin viel zu tun. Drittens. Investitionszeitraum ist die Zeit nach dem (C) Aufgrund der immer noch doppelt so hohen Arbeitslosig- Tage der Verkündung des Gesetzes bis zum 31. Dezember keit in den östlichen Ländern ist die Verlängerung der 2013. Investitionsförderung ein wichtiges Instrument, um in Deutschland gleiche Wirtschaftsverhältnisse zu schaffen. Viertens. Der Fördersatz beträgt im Jahr 2009 12,5 Pro- Mit diesem Investitionszulagengesetz 2010 legen wir für zent, 2010 10 Prozent, 2011 7,5 Prozent, 2012 5 Prozent das weitere Wirtschaftswachstum einen ordentlichen und im Jahr 2013 2,5 Prozent. Grundstein. Meiner persönlichen Meinung nach sollte diese scharfe Degression nochmals überprüft werden. Die Die faktischen Kennzahlen der schwächeren ostdeut- Wirtschaft im Osten wächst seit 2003 langsamer als die schen Wirtschaft sind: Die Arbeitslosenquote ist mit rund im Westen, und vor diesem Hintergrund ist ein Auslaufen 13 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. Auch der Ab- der Investitionszulage problematisch. Außerdem wäre im wanderungstrend von Ost nach West sowie ins Ausland ist letzten Förderjahr der Verwaltungsaufwand für die Be- nach wie vor ungemindert. Per Saldo verloren die östli- triebe und die öffentliche Hand dann höher als die eigent- chen Bundesländer zuletzt jährlich über 50 000 zumeist liche Förderung. Hier erhoffe ich mir im Gesetzgebungs- junger Fachkräfte. Die gesamtwirtschaftliche Leistung verfahren die Prüfung der Einführung eine Veränderung Ostdeutschland beträgt zurzeit knapp 70 Prozent des der Degression der Fördersätze, damit das Verhältnis von westdeutschen Niveaus. Dieses Investitionszulagengesetz Aufwand und Nutzen gewahrt bleibt. soll, gemäß dem Entwurf der Bundesregierung, zu Inves- titionszulagen in Höhe von 550 Millionen Euro im Jahr Alles in allem setzt der vorliegende Entwurf der Bun- 2011, 770 Millionen Euro in 2012, 540 Millionen Euro desregierung für ein Investitionszulagengesetz 2010 ein 2013, 315 Millionen Euro 2014 und noch einmal 90 Mil- richtiges Signal an die Wirtschaft in den östlichen Län- lionen Euro 2015 führen. Wie in den vergangenen Jahren dern. Eine entsprechend schnelle Gesetzesberatung ist im werden dadurch sicherlich Investitionen von mehreren Sinne der dortigen Wirtschaft notwendig, um weitere Pla- Milliarden Euro in den östlichen Bundesländern ange- nungssicherheit zu erhalten. Hierfür sollten wir im Bun- regt. destag einen Beitrag leisten. Die Investitionszulage ist ein sehr beliebtes Förder- instrumentarium, das vom Handwerk und vom Mittelstand Simone Violka (SPD): sehr gern angenommen wird, weil es eine Rechtssicherheit Obwohl wir uns bereits im Jahr 19 nach der Wende be- bietet, wie es kein anderes Förderinstrumentarium ge- finden und dank dem Engagement von Unternehmerinnen währt. Auch deshalb sollten wir die Gewährung der In- und Unternehmern, aber auch von Mitarbeiterinnen und (B) vestitionszulage fortsetzen. Sie ist unbürokratisch. Sie ist Mitarbeitern und der Gewerkschaften, viele gut am (D) nicht mit langen Genehmigungsverfahren verbunden. Markt etablierte Unternehmen im Osten entstanden sind, ist der Aufbau Ost noch lange nicht abgeschlossen. Vier- Nach Art. 87 EG-Vertrag sind staatliche Beihilfen an zig Jahre geplante Misswirtschaft lassen sich eben leider Unternehmen mit dem gemeinsamen Markt nur aus- nicht von heute auf morgen beseitigen, und der Nachhol- nahmsweise vereinbar. Solche Ausnahmen liegen – wie bedarf war ja auch riesig. Bevor die Wirtschaft richtig in beim Investitionszulagengesetz 2010 – vor, wenn es einen Schwung kommen konnte, mussten erst umfangreiche In- entsprechenden zeitlichen und regionalen Bezug gibt. frastrukturmaßnahmen erfolgen. Nicht zu vergessen die Seitens der Europäischen Kommission wurde dies ent- Rückstände bei Umwelt- und Arbeitsschutz und bei der sprechend für die östlichen Länder Deutschlands bestä- Infrastruktur der Versorgungsträger. Hier wurde in weni- tigt. Lassen Sie mich im Folgenden einige Anmerkungen gen Jahren unglaubliches geleistet. zum Gesetzentwurf der Bundesregierung machen: Als ein gutes und wirksames Instrument beim Aufbau Erstens. Fördergebiet sind weiterhin die Länder Bran- Ost hat sich dabei die Investitionszulage erwiesen. Daher denburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen- ist es sehr zu begrüßen, dass es für das Investitionszula- Anhalt, Thüringen und nun auch ganz Berlin. gengesetz 2007, welches Ende des Jahres 2009 ausläuft, mit dem jetzt einzubringenden Investitionszulagengesetz Zweitens. Begünstigte Investitionen sind Erstinvesti- 2010 ein Nachfolgegesetz gibt, welches die Förderung tionen, die mindestens fünf Jahre zum Anlagevermögen auch nach 2009 möglich macht und die geförderten Maß- eines Betriebs des verarbeitenden Gewerbes, der produk- nahmen bis 2013 sicherstellt. tionsnahen Dienstleistungen oder des Beherbergungsge- werbes gehören. Erstinvestitionen bzw. Erstinvestitions- Bereits beim Investitionszulagengesetz 2007 waren in- vorhaben sind die Errichtung einer neuen Betriebsstätte, tensive Verhandlungen mit den zuständigen Stellen in die Erweiterung einer bestehenden Betriebsstätte, die Di- Brüssel notwendig, die diesem Förderinstrument eher versifizierung der Produktion und die Vornahme einer skeptisch gegenüberstanden und nach wie vor -stehen. grundlegenden Änderung des gesamten Produktionsver- Deshalb geht an dieser Stelle auch mein Dank an die, wel- fahrens. Die Investition muss mindestens fünf Jahre im che durch intensive Gespräche und Verhandlungen in Betrieb verbleiben, um einen tatsächlich nachhaltigen Brüssel dieses heute einzubringende Gesetz erst möglich Beitrag zur Regionalentwicklung zu leisten. Begünstigte gemacht haben. Das ging aber nicht, ohne auf Forderun- Wirtschaftszweige sind wie bisher das verarbeitende Ge- gen der Gesprächspartner einzugehen. Eine Forderung werbe, die produktionsnahen Dienstleistungen und das war die Festsetzung eines Endpunktes der Förderung und Beherbergungsgewerbe. ein degressiver Verlauf der Fördersätze bis zu diesem

Zu Protokoll gegebene Reden 19144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Simone Violka (A) Endpunkt. Dieser Forderung wird mit der vorliegenden 10 Prozent. Auch damit wird einer Forderung aus Brüssel (C) Ausgestaltung des Investitionszulagengesetzes 2010 Rechnung getragen. Rechnung getragen, auch wenn ich als Ostdeutsche mir Wir werden uns im Ausschuss sicher noch ganz genau gewünscht hätte, dass die Ausgestaltung weniger degres- mit diesen Veränderungen beschäftigen. Allerdings muss siv wäre und es auch keinen Endpunkt 2013 gäbe. Aber da es unser aller Ziel sein, dass ein Investitionszulagenge- ich aus eigener Erfahrung die negative Einstellung der setz 2010 das Plenum verlässt, welches auch in Brüssel Brüssler Kommission zu diesem Gesetz kenne, weiß ich, seine Zustimmung findet. Denn wir sind auf diese Zustim- wie gering dabei der Verhandlungsspielraum war. Ohne mung angewiesen, wenn wir auch für die nächsten Jahre diesen Kompromiss wäre bereits 2009 Schluss mit diesem den wirtschaftlichen Aufbau im Osten mit Fördermitteln Förderinstrument. unterstützen wollen. Wir haben damit für den Osten viel gewonnen, und an- statt den Zugeständnissen nachzuweinen, sollten wir bis Christian Ahrendt (FDP): 2013 das Beste daraus machen. Nach wie vor fehlt es im Die Fortführung von Investitionszulagenförderung Osten nicht an Menschen mit innovativen Ideen, sondern nach 2009 bis zum Ende des Jahres 2013 ist begrüßens- an finanziellen Mitteln, um diese Ideen in Arbeitsplätze wert. Die FDP-Fraktion wird der Verlängerung des In- und Wirtschaftswachstum umzuwandeln. vestitionszulagengesetzes daher erneut zustimmen. Aufgrund der momentan herrschenden internationa- Auch heute noch stellt die Förderung von betriebli- len Finanzkrise kann man ja kaum glauben, dass die Ban- chen Investitionen in den neuen Ländern ein zentrales ken häufig Kredite wegen zu hohen Risikos und fehlender und vor allem verlässliches Instrument für die kleinen bzw. nicht ausreichender Sicherheiten verwehrten und und mittelständischen Unternehmen dar. Die degressive verwehren. Ich kann nur hoffen, dass diese Krise auch für Ausgestaltung der Fördersätze berücksichtigt hingegen deutsche Banken heilsam ist und man sich dort einmal die Interessen der öffentlichen Haushalte und hat zum überlegt, ob die Geschäftsphilosophie noch stimmt. Denn Ziel, dass kontinuierlich eine Basis für eine selbsttra- wenn man in Banken Kredite für Firmenerweiterungen gende wirtschaftliche Entwicklung geschaffen wird. Die wegen erhöhter Auftragseingänge für zu risikoreich hält, Absicht, die Investitionszulage langfristig auslaufen zu gleichzeitig aber bei hochspekulativen Geldgeschäften lassen, ist daher grundsätzlich erstrebenswert. Es bleibt kräftig zuschlägt ohne auch nur den Hauch einer Absi- nur zu hoffen, dass die errechneten Staffelsätze für den cherung, dann komme nicht nur ich ins Grübeln. benötigten Wirtschaftsaufschwung ausreichen, um vor al- lem der Abwanderung und der hohen Arbeitslosigkeit Neben anderen Förderinstrumenten wollen wir mit entgegenzuwirken. (B) diesem Gesetz weiter Unterstützung leisten. Die Beträge (D) zeigen, dass es sich bei dieser Unterstützung um ganz Das noch geltende Investitionszulagengesetz 2007 hat schöne Brocken handelt. Durch den vorliegenden Gesetz- erstmals das Beherbergungsgewerbe berücksichtigt, was entwurf wird es zu folgenden Förderungen kommen: Im im Hinblick auf die Attraktivität vieler Gebiete als Reise- Jahr 2011 sind es 550 Millionen Euro, im Jahr 2012 ziel ein wichtiger Schritt war. So konnte sich insbesondere 770 Millionen Euro, 2013 540 Millionen Euro, 2014 Mecklenburg-Vorpommern in den letzten Jahren zu einem 315 Millionen Euro und um Jahr 2015 wegen der degres- Topstandort im Deutschlandtourismus entwickeln. In An- siven Ausgestaltung noch einmal 90 Millionen Euro. Das betracht dessen, dass Übernachtungsgäste und Tagesaus- ist eine gute Nachricht für die Unternehmer, vor allem flügler jedes Jahr fast 100 Millionen Aufenthaltstage in aus Mittelstand und Handwerk, die in der Vergangenheit Mecklenburg-Vorpommern verbringen und der Tourismus bereits diese Förderung gern in Anspruch genommen ha- damit mit einem Bruttoumsatz von über 3,5 Milliarden ben, nicht zuletzt, weil sie rechtssicher, schnell und un- Euro einen der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren darstellt, bürokratisch ist. Das kann leider nicht jede Fördermög- wird die überragende Bedeutung von Investitionszulagen lichkeit von sich behaupten. klar. Daher freue ich mich ganz besonders, dass diese Branche auch nach dem Investitionszulagengesetz 2010 Dank dem Entgegenkommen von Brüssel konnte mit weiterhin unterstützt wird. dem Investitionszulagengesetz 2010 auch die Förderlü- Aus aktuellem Anlass möchte ich jedoch auf einen ne- cke abgeschafft werden. Möglich wurde das, weil die gativen Umstand bei Investitionszulagen hinweisen. Europäische Kommission am 6. August 2008 eine allge- Wenn Kontrollmechanismen versagen, ist leider überall meine Gruppenfreistellungsverordnung verabschiedet dort, wo es um Rechtsansprüche auf Geld oder geldwerte hat, wonach eine Förderung von kleinen und mittleren Vorteile geht, kriminellen Gemütern Tür und Tor geöff- Unternehmen im D-Fördergebiet, also Berlin, weiterhin net. Im konkreten Beispiel geht es um den Missbrauch möglich ist. Vorher war eine Förderung in diesem Gebiet von Investitionszulagen. Wie dubios Mitarbeiter der Ge- auf bis Ende 2008 begonnene Investitionsvorhaben be- meindebehörden handeln können, zeigt der neue alte schränkt. Subventionsskandal im Finanzministerium Mecklenburg- Dadurch wurde ein nahtloser Übergang der Förde- Vorpommerns. rung für alle Gebiete ermöglicht. Neu ist auch, dass Nach dem Investitionszulagengesetz 1999 galten die kleine Unternehmen jetzt stärker gefördert werden. Für Anschaffung und Herstellung neuer Gebäude als begüns- Erstinvestitionen bei kleinen Unternehmen beträgt die In- tigte Investitionen, wenn sie sich in besonders förderfähi- vestitionszulage 20 Prozent der Bemessungsgrundlagen, gen Gebieten befanden. Eine traurige Berühmtheit er- und für mittlere Unternehmen beträgt sie zukünftig langten in diesem Zusammenhang die sogenannten

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19145

Christian Ahrendt (A) Kerngebiete. Diese dienen vorwiegend der Unterbrin- Der Bundesrat begrüßt den vorliegenden Gesetz- (C) gung von Handelsbetrieben. Für die Überprüfung des entwurf. Er trägt den immer noch bestehenden Tatbestandsmerkmals „Kerngebiet“ genügt ein Blick in Defiziten der ostdeutschen Wirtschaft Rechnung den entsprechenden Bebauungsplan. Leider neigten in und ermöglicht daher auch in den nächsten Jahren den vergangenen Jahren einige Sachbearbeiter der Bau- noch eine Fortsetzung der intensiven Investitions- ämter zur Bescheinigung solcher Kerngebiete, obgleich förderung. Gleichzeitig aber wird ein Endpunkt für dies nicht zutraf. Auf diese Weise erbrachte der vermeint- dieses Förderinstrument festgelegt, indem ein de- lich Anspruchsberechtigte die erforderliche Bescheini- gressiver Verlauf der Fördersätze nach 2009 festge- gung der Gemeindebehörde und erwarb damit die Vo- schrieben wird, der das endgültige Auslaufen der raussetzungen für eine Investitionsmaßnahme. So gilt als Investitionszulage nach 2013 zum Ziel hat. sicher, dass den Verantwortlichen im Finanzministerium seit längerem bekannt ist, dass es überwiegend von 2000 Weiterhin merkt der Bundesrat dazu an, dass die Ge- bis 2003 insgesamt 48 Veranlagungen gab, die – diplo- meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt- matisch ausgedrückt – Anlass zu Nachfragen gaben. In schaftsstruktur“ (GRW) mindestens drei Fällen wurde die Investitionszulage un- für ganz Deutschland eine hohe Bedeutung hat. rechtmäßig ausgezahlt. Weil sich hier die Aufklärung der Dies gilt natürlich vor allem für einen großen Teil Betrugsfälle aus verschiedenen Gründen äußerst schwie- der ostdeutschen Regionen, aber auch für Regionen rig gestaltet, beschränke ich mich auf die obige Schilde- rung. in Westdeutschland – auch hier gibt es viele Städte und Gemeinden, die auf Grund struktureller Um- Man kann nur hoffen, dass diese Fälle zu den Ausnah- brüche mit hoher Arbeitslosigkeit und geringen men gehören. Daher möchte ich gerne erläutern, warum Steuereinnahmen kämpfen. Die Folge sind Haus- es auch 2008, 18 Jahre nach der Wiedervereinigung, er- haltsnotlagen und immer neue Schulden, die keine forderlich ist, die Förderungsdauer zu verlängern. Spielräume für dringend notwendige Maßnahmen, insbesondere im Bereich der Infrastruktur, lassen. Die neuen Bundesländer sind auf ihrem Weg zu einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft seitdem ein beträchtli- Die GRW bietet das in Ost- und Westdeutschland ches Stück vorangekommen. Trotz dieser Erfolge sind dringend benötigte Instrumentarium für die Verbes- weiterhin offensichtliche Defizite vorhanden. Um An- serung der wirtschaftsnahen Infrastruktur und die schluss an das Niveau in den alten Bundesländern zu er- Schaffung von Anreizen für Unternehmensansied- reichen, ist ein mühsamer Weg zu durchschreiten, mit dem lungen und -erweiterungen und damit die Schaffung kaum jemand zu Beginn des Umstrukturierungsprozesses neuer Arbeitsplätze. gerechnet hatte. Insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit (B) ist zu einer Belastungsprobe für die neuen Bundesländer Dies setzt aber auch eine angemessene und dem (D) geworden, die es auch mittels Investitionszulagen abzu- ausgeweiteten Aufgabenspektrum angepasste Mit- bauen gilt. Weitere Probleme stellen die mangelnde Ei- telausstattung voraus. Der Bundesrat erwartet von genkapitaldecke der Kleinunternehmen, die gerade die der Bundesregierung, dass ein überwiegender Teil mittelständische Landschaft in den neuen Bundesländern der durch den vorliegenden Gesetzentwurf entste- prägen, und der damit mittelbar zusammenhängende henden Steuermehreinnahmen durch eine nachhal- Rückzug der Geschäftsbanken aus der Kreditwirtschaft tige Aufstockung der GRW für die Instrumente der insbesondere in Ostdeutschland dar. Ohne eine ausrei- Regionalen Strukturpolitik wieder zur Verfügung chende Eigenkapitaldecke ist es schwierig, Erweite- gestellt wird. rungsinvestitionen vorzunehmen, die gerade in Zeiten ei- Die Mittelausstattung der GRW ist seit 1998 dras- ner wirtschaftlichen Erholung wichtig sind, um tisch verringert worden, obwohl sie durch die unmit- Marktpositionen zu behaupten und selbstverständlich telbare Abhängigkeit der Förderhöhe von der Anzahl auch auszubauen. Die Investitionszulage bleibt weiterhin der neu geschaffenen oder gesicherten Arbeitsplätze ein zentraler Bestandteil ihrer Finanzierbarkeit, weil die nachweisbar zielgenaue Effekte erzielt …“ Zulage den Anteil benötigter Fremdmittel reduziert. Nun verbessert die Investitionszulage zwar nicht die Kredit- Der vorliegende Entwurf verstetigt also die Trennung versorgung, sie verbessert aber als direkte Unterneh- zwischen Ost und West. Solange jedoch im Grundgesetz mensförderung die Kapitaldienstfähigkeit der Unterneh- die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse postuliert men. Auch unter diesem Gesichtspunkt kommt der wird, ist es politisch nahezu fahrlässig, die Investitions- Verlängerung des Investitionszulagengesetzes weiterhin zulage für die neuen Länder ab 2009 kontinuierlich abzu- eine hohe Bedeutung zu. senken, um sie dann nach 2013 auslaufen zu lassen. Na- Alles in allem ist die Verlängerung des Investitionszu- türlich unterstützt Die Linke die weitere Förderung, lagengesetzes für den Aufbau Ost unerlässlich und damit gleichzeitig setzt sie sich jedoch gegen die Einstellung der zwingend geboten. Investitionszulage nach 2013 und damit eines Instrumen- tes zur Förderung des Mittelstandes in den neuen Län- dern ein. Denn niemand wird bezweifeln wollen, dass die Roland Claus (DIE LINKE): besondere Förderung gerade des ostdeutschen Mittel- Das Gesetz regelt eine Fortführung der Investitions- standes notwendig ist, um den neuen Ländern zu dem förderung in den neuen Bundesländern über das Jahr selbsttragenden Aufschwung zu verhelfen, der ihnen von 2009 hinaus. Das begrüßen wir. Der Bundesrat hat in sei- der Großen Koalition immer versprochen wird. Eine dop- ner Stellungnahme zutreffend hervorgehoben: pelt so hohe Arbeitslosigkeit, kaum Forschung und Ent-

Zu Protokoll gegebene Reden 19146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Roland Claus (A) wicklung, die Verfestigung prekärer Arbeitsverhältnisse, seit langem, dass die Wirtschaftsförderung des Bundes in (C) ein geringeres Lohn- und Rentenniveau sprechen eine an- den neuen Bundesländern auf den Prüfstand gehört. Das dere Sprache. Nun trifft es ja zu, dass aufgrund des öko- bedeutet, dass die uns noch verbleibenden 35 Milliarden nomischen Wandels auch in den alten Bundesländern Euro des Korbes 2 des Solidarpakts II zielgerichteter und strukturschwache Regionen entstanden sind, die staat- wirksamer eingesetzt werden müssen. licher Hilfe bedürfen. Dies aber zulasten der ostdeut- schen strukturschwachen Regionen zu machen, spottet je- Die Investitionszulage ist die volumenmäßig größte der nachhaltigen Politik Hohn. Hier wird offensichtlich Einzelmaßnahme innerhalb des Korbes 2. Anerkannte Ost gegen West bei der Wirtschaftsförderung ausgespielt. Wirtschaftsinstitute und der Sachverständigenrat hatten bereits vor der letzten Verlängerung der Investitionszu- Apropos sozial: Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass lage im Jahr 2006 kritisiert, dass die Investitionszulage durch die Kürzung der Investitionszulage und der Auftei- aufgrund des Rechtsanspruchs zu geringe Steuerungs- lung der Gelder zwischen Ost und West irgendeine Struk- möglichkeiten aufweist und zu viele Mitnahmeeffekte er- turschwäche behoben werden kann? Wie sollen denn zeugt. Einen erheblichen Missbrauch bei dieser Steuer- durch die allgemeine Ausdünnung des Förderniveaus subvention belegten die Nachschauen der Finanzämter in die bestehenden und anwachsenden Probleme sinnvoll Brandenburg und Thüringen. In Brandenburg forderten und nachhaltig bekämpft werden? 49 der 50 struktur- die Finanzämter 24,2 Millionen Euro Investitionszulage schwächsten Landkreise Deutschlands befinden sich laut zurück – ein Viertel der beantragten Summe. In Thürin- dem Prognos-Zukunftsatlas in den neuen Ländern. An- gen waren es 13 Millionen Euro. Die anderen Bundeslän- stelle den Osten erfolgreich zu fördern, wie es Die Linke der verzichten lieber auf derartige Nachschauen und neh- immer fordert, und die strukturschwachen Regionen im men den Missbrauch damit billigend in Kauf. Westen ebenso nachhaltig zu unterstützen, helfen Sie we- der den Menschen im Osten noch im Westen. Dass diese Geradezu skandalös ist, dass die Investitionszulage Regierung jedoch statt langfristig und finanzpolitisch weder statistisch erfasst noch evaluiert wird. Die Bundes- sinnvoll zu agieren, jeden finanzökonomischen Unsinn regierung weiß weder, wer die Förderung beansprucht, mitmacht, ist den Steuerzahler leider schon mehr als noch wie viel Unternehmen gefördert wurden, ob die För- teuer zu stehen gekommen. Dass diese Regierung die dervoraussetzungen eingehalten oder die Förderungen schwächeren Regionen – gleich ob Ost oder West – per- missbräuchlich in Anspruch genommen wurden. spektivisch ihrem Schicksal überlässt, wird die Menschen Das ist ein verantwortungsloser Umgang mit Steuer- darin ebenfalls noch teuer zu stehen kommen. Dass Sie geldern! dann jedoch versuchen, diesen von ihrer Politik mehrfach benachteiligten Menschen ein X für ein U vorzumachen, Mit der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der (B) zeugt schlichtweg von schlechtem politischem Stil. regionalen Wirtschaftsstruktur – GA – steht den neuen (D) Bundesländern dagegen ein Förderprogramm mit identi- Die Fraktion Die Linke wird in den Ausschussberatun- schem Wirkungsmechanismus wie bei der Investitionszu- gen Vorschläge zur nachhaltigen Verbesserung des Ge- lage zur Verfügung. Auch bei der GA werden Investitio- setzentwurfes einbringen. nen in das Sachanlagevermögen bezuschusst. Aber im Gegensatz zur Investitionszulage können die Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Länder mit der GA regionale und sektorale Schwerpunkte Der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands setzen und somit zielgerichtet fördern. Eine Verlängerung stagniert seit Mitte der 1990er-Jahre. Das Wirtschafts- der Investitionszulage, wie im vorliegenden Gesetzent- wachstum in den neuen Bundesländern lag selbst mitten wurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gefordert, im konjunkturellen Aufschwung 2007 um 0,3 Prozent hin- geht bei feststehenden Gesamtvolumen des Korbes 2 des ter dem Wachstum in den alten Bundesländern zurück. Solidarpakts II zulasten anderer, für die wirtschaftliche Und auch für 2008 wird ein Wachstumsrückstand pro- Entwicklung in den neuen Bundesländern weitaus be- gnostiziert. Damit findet trotz aufwendiger Wirtschafts- deutsamerer Maßnahmen. förderung und rückläufiger Bevölkerungszahlen in Ostdeutschland keine Angleichung des Bruttoinlandspro- Die noch zur Verfügung stehenden 35 Milliarden Euro duktes pro Einwohner zwischen Ost und West statt. Das müssen vor allem in das ebenfalls im Korb 2 definierte Institut für Wirtschaftsforschung Halle errechnete, dass Politikfeld „Innovation, Forschung und Entwicklung, bei diesem Tempo die Angleichung der Pro-Kopf-Ein- Bildung“ fließen. Darüber hinaus müssen mit den Korb- kommen noch 320 Jahre dauern wird. 2-Mitteln verstärkt innovative Konzepte für die Entwick- lung in peripheren Regionen Ostdeutschlands gefördert Den neuen Ländern stehen nur noch bis 2019 überpro- werden. portionale Finanzmittel aus dem Solidarpakt II zur Ver- fügung. Im sogenannten Korb 2 des Solidarpakts II sind Wir schlagen vor, dass zum Beispiel revolvierende die überproportionalen Leistungen des Bundes an die Fonds eingerichtet werden, aus denen zinsgünstige Dar- neuen Länder und Berlin zusammengefasst. Von dem zu- lehen mit Eigenkapital ersetzendem Charakter – Mezza- gesagten Gesamtvolumen in Höhe von 51 Milliarden nine-Finanzierungen – ausgereicht werden. Dadurch Euro bis 2019 sind im Zeitraum 2005 bis 2007 bereits können Mittel für eine nachhaltige Wirtschaftsforschung circa 16 Milliarden Euro abgeflossen. auch über das 2019 hinaus sichergestellt werden. Angesichts dieser ernüchternden gesamtwirtschaftli- Die Investitionszulage muss in eine Innovationszulage chen Erfolgsbilanz fordert Bündnis 90/Die Grünen schon umgewandelt werden. So werden statt verlängerter Werk-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19147

Peter Hettlich (A) bänke Unternehmen mit strategischen Unternehmens- Unterschiede in der medizinischen Versorgung zu schaf- (C) funktionen in Ostdeutschland gefördert. fen. Nicht zuletzt machen wir mit dem Gesundheitsfonds den Anfang zu einer Steuerfinanzierung von gesamtge- Wir fordern darüber hinaus die Einrichtung eines ziel- sellschaftlichen Aufgaben in der Krankenversicherung. und wirkungsorientierten Controllings der eingesetzten Fördermittel und endlich die Fortschreibung der Fort- Der im vorliegenden Antrag kritisierte Zusatzbeitrag schrittsberichte wirtschaftswissenschaftlicher Forschungs- wird in Form einer Nachzahlung oder Rückerstattung er- institute. hoben. Soweit sollten auch die Kollegen von der Fraktion Die Linke das Gesetz und das Konzept des Gesundheits- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fonds kennen und verstanden haben. Dieser Betrag sorgt Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- dafür, dass die GKV-Kassen in einen Wettbewerb unterei- fes auf Drucksache 16/10291 an die in der Tagesordnung nander treten. Er veranlasst die Kassen zur Reduzierung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ihrer Verwaltungskosten und bietet den Versicherten eine anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann erheblich höhere Transparenz bei den Kosten und Leis- ist die Überweisung so beschlossen. tungen der Kassen, als wir sie jetzt im System haben. Seine Höhe, das heißt, ob ein Plus oder ein Minus unterm Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Strich steht, ist ganz wesentlich davon abhängig, wie Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank wirtschaftlich eine Kasse zu arbeiten vermag und welche Spieth, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weite- Leistungen sie den Versicherten bietet. rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Der Zusatzbetrag, das heißt Nachzahlung oder Rück- Das Gesundheitssystem nachhaltig und paritä- erstattung, ist unabhängig von dem Einkommen des Ver- tisch finanzieren – Gesundheitsfonds, Zusatz- sicherten, und damit haben wir zumindest eine partielle beiträge und Teilkaskotarife stoppen Abkopplung der Gesundheits- von den Lohnkosten. – Drucksache 16/10318 – Darüber hinaus sorgt der Zusatzbetrag zusammen mit Überweisungsvorschlag: der ebenfalls im GKV/WSG neu geschaffenen Möglich- Ausschuss für Gesundheit (f) keit der Wahltarife dafür, dass die Versicherten sich die Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Kasse verstärkt nach ihren persönlichen Prioritäten aus- Ausschuss für Arbeit und Soziales suchen können und werden. Das heißt, sie können unter Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die finanziellen Kriterien die kostengünstigste Kasse wählen Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- oder unter qualitativen Kriterien eine Kasse, die ihren in- dividuellen Anforderungen und Bedürfnissen am besten (B) gende Kolleginnen und Kollegen: Dr. Rolf Koschorrek, (D) CDU/CSU, Peter Friedrich, SPD, Dr. Konrad Schily, entspricht. Dies ist ein wichtiger, nach meiner Überzeu- FDP, Frank Spieth, Die Linke, Birgitt Bender, Bünd- gung schon lange überfälliger Schritt, mit dem der Versi- nis 90/Die Grünen. cherte im GKV-System vom pauschalen Beitragszahler und Leistungsempfänger zum selbstbestimmten und ver- antwortlichen Akteur wird, der seine individuelle Ent- Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): scheidung treffen und Einfluss nehmen kann. Umfragen Seit 1989 gab es in Deutschland sechs Gesundheitsre- unter GKV-Versicherten zeigen seit einigen Jahren schon, formgesetze, deren Ziel es war, die Kosten bzw. den Kos- dass diese sich mehr Flexibilität und Gestaltungsmög- tenanstieg im Gesundheitswesen zu begrenzen. Darüber lichkeiten für ihren Krankenversicherungsschutz wün- hinaus gab es von 2001 bis 2006 fünf Gesetze zur Begren- schen. Dabei geht es nicht nur um die in dem vorliegen- zung der Arzneimittelkosten. den Antrag der Linken kritisierten Selbstbeteiligungs- Das jüngste Reformgesetz, das GKV/WSG, das wir An- oder Kostenerstattungstarife. Neben einer ganzen Reihe fang 2007 beschlossen haben, ist die bislang erste Reform von anderen Wahltarifen, können die gesetzlichen Kassen in unserem Gesundheitswesen, die für die Patienten statt jetzt zum Beispiel eben auch spezielle Tarife mit einer Er- Leistungseinschränkungen sogar eine Erweiterung der stattung für Naturarzneimittel anbieten. Früher gab es Leistungen, zum Beispiel im Bereich der Rehabilitation solche Tarife lediglich in der privaten Krankenversiche- und Palliativmedizin, bringt. Diesmal steht nicht die Kos- rung und war den privat Versicherten vorbehalten. Ein tenbegrenzung im Zentrum der Reform. Im Mittelpunkt solches Angebot stößt vor allem bei Frauen unter den des GKV/WSG steht vielmehr der Wettbewerb unter den GKV-Versicherten auf Interesse, die zum Beispiel bei der GKV-Kassen und der Gesundheitsfonds mit dem Umbau Techniker-Krankenkasse rund 90 Prozent der Versicher- der gesamten Finanzierung, der Einnahmen- und Ausga- ten in diesem Tarif ausmachen. benseite unseres Gesundheitssystems. Ein weiterer zentraler Faktor im Konzept des Gesund- Richtig ist: Die Union favorisiert nach wie vor das heitsfonds ist die Erweiterung des bisherigen RSA zum Konzept der Gesundheitspauschale und die Abkopplung MorbiRSA. Durch ihn erhalten die Krankenkassen für die der Gesundheits- von den Lohnkosten. Wir akzeptieren chronisch Kranken unter ihren Versicherten einen finan- den Gesundheitsfonds als Kompromiss und Wegmarke. ziellen Ausgleich für den krankheitsbedingten erhöhten Der bundeseinheitliche Beitragssatz, den die Versicher- Versorgungsbedarf. Der neue MorbiRSA erfüllt im Zu- ten und ihre Arbeitgeber in den Fonds einzahlen, trägt sammenhang mit dem Gesundheitsfonds zwei zentrale dazu bei, einen Finanzausgleich zwischen den Bundes- Funktionen: zum Einen schafft er faire und soweit als ländern und einen Ausgleich der bisherigen regionalen möglich gleiche und gerechte Voraussetzungen für den 19148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dr. Rolf Koschorrek (A) Wettbewerb unter den Kassen, zum Zweiten verlagert er von Gesundheitsrisiken“ betreibe, wie es in dem vorlie- (C) das Gesundheitsrisiko der Versicherten von den Ärzten genden Papier heißt. Morgen debattieren wir an gleicher auf die Kassen, auch dies ist ein Schritt, der lange über- Stelle über einen Antrag der FDP, der mit dem Gesund- fällig ist. heitsfonds den angeblichen „Einstieg in ein staatlich zen- tralistisches Gesundheitswesen“ verbindet. Wie so häufig Schwierig ist die Frage der konkreten Ausgestaltung in den Debatten um die Gesundheitsreform dieser Legis- des MorbiRSA, der laut Gesetz 50 bis 80 schwerwiegende laturperiode trifft keines der populär klingenden Argu- und kostenintensive Krankheiten umfassen soll, bei denen mente beider Fraktionen zu. Im Gegenteil: Wir stärken die durchschnittlichen Ausgaben der betroffenen Versi- Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen zum cherten um 50 Prozent höher liegen als bei den nicht be- Wohle der Patientinnen und Patienten. troffenen Versicherten. Zumindest die Linksfraktion weiß dies auch. Herr Kol- Der „einfache“ RSA wurde 1994 im Zusammenhang lege Spieth hat mehrfach an dieser Stelle den Gesund- mit der Ausweitung des Kassenwahlrechts eingeführt. heitsfonds gelobt. Das System der einheitlichen Beitrags- Auch damals war es das Ziel, mit dem RSA Wettbewerbs- sätze in der gesetzlichen Krankenversicherung, das wir verzerrungen zwischen den GKV-Kassen abzubauen. Er mit dem Gesundheitsfonds begründen wollen, haben Sie berücksichtigte die Höhe der beitragspflichtigen Einnah- in der Plenardebatte vom 24. April 2008 im Deutschen men der Mitglieder, die Zahl der beitragsfrei mitversi- Bundestag als „einen der wenigen positiven Punkte der cherten Familienmitglieder sowie das Alter und Ge- letzten Gesundheitsreform“ bezeichnet. Und am 18. Ja- schlecht der Versicherten und die Zahl derjenigen, die nuar 2008 haben Sie den Fonds sogar gegenüber den Ver- eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Diese über- treterinnen und Vertretern der FDP-Fraktion verteidigt. schaubare Anzahl konkreter Kriterien wurde 2002 er- Sie sagten damals – laut Plenarprotokoll –: gänzt durch einen „Risikopool“ der Krankenkassen für Versicherte mit besonders teuren Krankheiten und für Der Gesundheitsfonds ist nicht das Problem. Versicherte, die zum Beispiel als Diabetiker an Disease- Management-Programmen teilnehmen. Und weiter: Zurzeit arbeitet das BVA an der Gewichtung und Be- Unter anderem die FDP schlägt jetzt aus nachvoll- wertung einer Auswahl von 80 Krankheitsgruppen mit ziehbaren Gründen auf den Sack Gesundheitsfonds. Hunderten von Einzeldiagnosen, die als Grundlage des Eigentlich meint sie etwas ganz anderes: Der FDP Finanzausgleichs unter den Krankenkassen dienen wird. geht es im Kern um die Stärkung von Privilegien Es ist dringend erforderlich, dass alle Kriterien einer wis- – das ist meine feste Überzeugung – und nicht da- senschaftlichen Evaluation der Daten und Verteilungs- rum, etwas mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen. (B) (D) mechanismen erfüllt sind, um zielgenau die Finanzmittel Genau um die Herstellung von mehr sozialer Gerech- der einzelnen Kasse vorausberechnen zu können. tigkeit geht es uns mit der Einführung des Fonds, meine Es wäre wünschenswert, dass auch die Fraktion Die Damen und Herren von der Linkspartei. Wir wollen mit Linke im Interesse eines dauerhaft leistungsfähigen Ge- dem Gesundheitsfonds die Gerechtigkeit unter den Bei- sundheitssystems einmal ihre ideologische Vorurteile und tragszahlerinnen und Beitragszahlern stärken. Schon linken Reflexe hintanstellt. Wer die Fakten kennt und heute leistet jede Krankenkasse beinahe identische Leis- weiß, dass bei Fortbestehen des heutigen Systems der tungen, der Beitragssatz variiert aber erheblich. Dies ist Beitragssatz im Jahr 2050 auf 25 bis 29 Prozent anstei- unter Solidaritätsaspekten nicht länger hinzunehmen. gen würden, der weiß auch, dass wir eine grundlegende Auch nicht länger hinzunehmen ist die bisherige Risiko- Reform in unserem Gesundheitswesen brauchen. selektion der Krankenkassen, weshalb wir mit der Ein- führung des Gesundheitsfonds auch den Risikostruktur- Wer den Gesundheitsfonds vorurteilsfrei und mit einer ausgleich verbessern. Dies wird die Solidarität in gewissen Bereitschaft, auch einmal etwas Neues zu ak- unserem Gesundheitssystem ebenfalls spürbar stärken. zeptieren, betrachtet, der wird zu dem Fazit kommen: Der Mit dem Gesundheitsfonds setzen wir dem Wettbewerb Fonds enthält vernünftige, zukunftsweisende und tragfä- im Gesundheitswesen einen starken, verlässlichen Rah- hige Regelungen für unser Gesundheitssystem. Er stellt men, der für mehr Gerechtigkeit unter den Beitragszahle- richtige Weichen für ein zukunftsfähiges System mit mehr rinnen und Beitragszahlern führen wird. Bei gleichen Eigenverantwortung und der Abkoppelung der Gesund- Beitragssätzen und nahezu identischen Leistungen im heitskosten von den Lohnkosten. Der Gesundheitsfonds Krankheitsfall verbessern wir für die Menschen die Ver- wurde bereits – und das nicht ganz zu Unrecht – als „wohl gleichbarkeit einzelner Krankenkassen spürbar. Heute größte Veränderung seit dem Weltkrieg“ im Bereich der noch haben wir einen Wettbewerb um gesunde, möglichst Sozialpolitik bezeichnet. Unter organisatorischen Ge- junge und bestenfalls einkommensstarke Versicherte, die sichtspunkten bedeutet dies eine große Herausforderung der Krankenkasse viel Geld einbringen und wenig kosten. für alle Beteiligten. Wir arbeiten auf Hochtouren daran. Ab dem neuen Jahr werden wir einen neuen Wettbewerb unter den Krankenkassen um möglichst gute Leistungen Peter Friedrich (SPD): für die Versicherten erleben. Wenn die Beitragssätze für Heute diskutieren wir im Deutschen Bundestag einen alle Kassen gleich sind, wird sich der Wettbewerb unter Antrag der Linksfraktion, in dem der Gesundheitsfonds den Krankenkassen auf möglichst gute Leistungen im abgelehnt wird, da er angeblich die „Entsolidarisierung Krankheitsfall und zur Vermeidung von Krankheiten so- der Versichertengemeinschaft“ und eine „Privatisierung wie auf eine hohe Kundenorientierung konzentrieren.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19149

Peter Friedrich (A) Der Patient und die Patientin an sich werden im Mittel- der Bürger als Versicherte mit voller Eigenverantwortung (C) punkt der Bemühungen stehen – und nicht ein möglichst und einem Höchstmaß an wirtschaftlicher Transparenz. junger, möglichst gesunder oder möglichst zahlungskräf- Erreichen wir dies nicht, wird die Therapiefreiheit und tiger Versicherter. Heute noch ist die Risikoselektion der Freiberuflichkeit bald auf der Strecke bleiben. Die zu die- Krankenkassen ein Wettbewerbsinstrument. Das ist unso- sem Thema unterbreiteten Vorschläge der FDP weisen in lidarisch, deshalb beenden wir dieses System. die richtige Richtung. Zudem werden wir einen Wettbewerb um die Vermei- Wir lehnen den Antrag der Fraktion Die Linke ab. dung des Zusatzbeitrages erleben. Es ist doch ganz lo- gisch, dass keine Kasse den Zusatzbeitrag erheben will, sondern interne Betriebskosten soweit als möglich senken Frank Spieth (DIE LINKE): und die Wirtschaftlichkeitsreserven zu heben versuchen Vor 125 Jahren wurde die gesetzliche Krankenversi- wird, um den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Umfragen le- cherung in Deutschland geschaffen. Sie war Vorbild für gen nahe, dass ein Drittel der Versicherten von ihrem au- den Aufbau der Krankenversicherung in vielen europäi- ßerordentlichen Kündigungsrecht Gebrauch machen und schen Ländern. Dieses Erfolgsmodell wird in seinen zu einer anderen Kasse wechseln werden, sofern ihre bis- Grundfesten seit 20 Jahren erschüttert. Gerade in den herige Kasse einen Zusatzbeitrag erheben möchte. Da ist letzten fünf Jahren gab es eine Lawine von Leistungskür- es doch ganz klar, dass alle Kassen sich auf diesen Wett- zungen. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004 bewerb um möglichst gute Leistungen für die Versicher- – eineinhalb Jahre vor dem offiziellen Beginn der Großen ten und um eine möglichst wirtschaftliche Versorgung Koalition – wälzten SPD und Union zusammen mit den einlassen werden. Grünen Gesundheitskosten auf die Versicherten ab. So wurden einige Leistungen ganz gestrichen und bei ande- Für die Versicherten wird bei der Entscheidung für ren müssen wir jetzt erheblich zuzahlen. Das Konzept der oder gegen eine Krankenkasse viel stärker als bislang das Schröder’schen Agenda-2010-Politik, „den Armen neh- Preis-/Leistungsverhältnis im Mittelpunkt ihrer Entschei- men, den Reichen geben“, wird auch in der Großen Ko- dung stehen. Ist der Preis bei allen gleich, rückt die Leis- alition fortgesetzt. tung in den Vordergrund. Die Krankenkassen überlassen wir aber auch nicht einfach nur sich selbst und dem Wett- Die neue Sozialstaatsdoktrin lautet „Senkung der bewerb. Vielmehr öffnen wir den Kassen erweitere Hand- Lohnnebenkosten“. Im GKV-Modernisierungsgesetz ist lungsmöglichkeiten für eine möglichst wirtschaftliche siebenmal das Wort „Lohnnebenkosten“ zu lesen und Versorgung ihrer Versicherten. Die Kassen können bei- dass diese für die Arbeitgeber gesenkt werden sollen. Die spielsweise Leistungen ausschreiben, Rabattverträge ab- logische Schlussfolgerung ist, dass Arbeitnehmer und Rentner alleine zahlen. (B) schließen und Wahltarife anbieten. Damit führen wir die (D) Krankenkassen in eine neue Verantwortung als aktive Ak- teure des Gesundheitssystems. Konkret wurden das Sterbegeld, das Entbindungsgeld und die Kostenübernahme rezeptfreier Medikamente aus Mit dem Gesundheitsfonds, meine Damen und Herren dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen von der Linksfraktion und von der FDP, schaffen wir ei- gestrichen. nen solidarischen Wettbewerb im Sinne der Versicherten. Der Wettbewerb ist solidarisch, weil er für alle Versicher- Nur noch in Ausnahmefällen, bei extrem starken Seh- ten die gleichen Bedingungen schafft. Aber wir schaffen behinderungen werden die Kosten für Brillen übernom- trotzdem einen Wettbewerb der Kassen untereinander, der men. Die künstliche Befruchtung wird nur noch zur Hälfte sich aber nicht negativ auf die Versicherten auswirken gezahlt und auch maximal mit drei Versuchen statt wie zu- wird. Deshalb bringt uns der Antrag der Linksfraktion, vor vier. Sterilisationen werden nur noch übernommen, der unserer Debatte zugrunde liegt, nicht voran. Und des- wenn sie medizinisch notwendig sind. Die Übernahme halb kann man auch den Widerstand der FDP gegen den der Kosten für Fahrten zum Arzt oder ins Krankenhaus Fonds nicht verstehen. Wir verbinden genau die beiden wurde gestrichen und/oder erheblich eingeschränkt. Werte, die ihre beiden Parteien gegeneinander auszuspie- len versuchen. Messen Sie uns am Ergebnis, den die Ein- Ganz neu eingeführt wurden Eintrittsgebühren zu führung des Fonds mit sich bringen wird. Arztpraxen, Zahnarztpraxen und zu Notfalldiensten. Diese 10 Euro Praxisgebühr pro Quartal können sich aufsummieren auf bis zu 120 Euro im Jahr. Dr. Konrad Schily (FDP): Der Antrag der Fraktion Die Linke ist völlig einseitig Krankenhausaufenthalte und Kuren kosten seither aufgebaut. Er zielt expressis verbis auf die Einführung ei- 10 Euro am Tag und bis zu 280 Euro im Jahr. Gleiches gilt ner Bürgerversicherung, die staatlich administriert wer- für häusliche Krankenpflege. Zuzahlungen für Medika- den soll, ab. Auf den Gesundheitsfonds bezogen findet mente wurden auf 5 bis 10 Euro je Packung angehoben. sich im Antrag ein richtiger Satz: „Der Gesundheitsfonds Für Hilfsmittel und Heilmittel muss man ebenfalls 5 bis löst keine Probleme, sondern schafft nur neue“. Diesem 10 Euro pro Verordnung hinlegen. Satz können wir uns anschließen, allerdings mit völlig an- derer Begründung. Der Durchschnittsverdiener in der gesetzlichen Kran- kenversicherung mit circa 2 600 Euro kann bei Anwen- Es muss Gestaltungsfreiheit geschaffen werden, nicht dung aller vorgenannten Regelungen mit über 600 Euro staatliche Verwaltung, die meistens eine Mangelverwal- im Jahr zusätzlich zu seinem Krankenversicherungsbei- tung ist. Wir benötigen eine ganzheitliche Souveränität trag belastet werden.

Zu Protokoll gegebene Reden 19150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Frank Spieth (A) Neu ist auch, dass auch die Geringverdiener nun Die politisch gewollten Mehrbelastungen kosten ins- (C) grundsätzlich Zuzahlungen zahlen müssen. Die Härte- gesamt jeden Beitragszahler zusätzlich durchschnittlich fallregelung wurde abgeschafft. Würde die Regelung von 466 Euro pro Jahr. Die Arbeitgeber freuen sich über satte Norbert Blüm noch gelten, brauchten Menschen mit ei- Entlastungsgeschenke. Die Linke lehnt diese Art der ge- nem Einkommen bis etwa 1 000 Euro nicht zuzahlen. setzlich verordneten Umverteilung von unten nach oben Dank der Politik der Bundesregierung gibt es ohne Cash ab. heute keine Behandlung mehr. Wir wollen stattdessen eine solidarische Bürgerinnen- Doch damit nicht genug: Ohne Arbeitgeberbeitrag fi- und Bürgerversicherung. Das heißt: Wir wollen, dass nanzieren die Arbeitnehmer und Rentner seit Mitte 2005 jede und jeder, egal ob angestellt, selbstständig, Rentner, das Krankengeld und den Zahnersatz, Durch einen juris- Beamter, Pensionär, arbeitslos, Student oder Politiker in tischen Kniff wurde es möglich, Rentner de facto für der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung Krankengeld zahlen zu lassen, obwohl ein Rentner natür- abgesichert ist. Jeder zahlt den gleichen Prozentsatz sei- lich niemals Krankengeld bezieht. Dazu wurde ein Son- nes gesamten Einkommens als Beitrag. Bei Erwerbsein- derbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent des Einkommens ein- kommen zahlt der Arbeitgeber wieder die Hälfte der Bei- geführt, den die Versicherten ohne Beteiligung der träge. Arbeitgeber zu zahlen haben. Damit wurde der Grundsatz Wenn dann alle aus allen Einkommensarten die Ge- der paritätischen Finanzierung, also das Prinzip halbe- sundheitsversorgung finanzieren, und nicht nur Erwerbs- halbe, erstmals direkt abgeschafft. tätige und Rentner, dann kann der Beitragssatz deutlich Dieser Sonderbeitrag kostet die Mitglieder der gesetz- gesenkt werden. Statt mit 15,5 Prozent unter den Bedin- lichen Krankenversicherung 9 Milliarden Euro, also je- gungen dieses Gesundheitsfonds, käme das Bürgerversi- den Beitragszahler durchschnittlich zusätzlich 180 Euro cherungsmodell rechnerisch mit 8,6 Prozent Beitragssatz pro Jahr. aus und das bei gleichen Leistungen. Da wir die Zuzah- lungserhöhungen und Leistungskürzungen der letzten Mit der „Reform“ 2007, dem GKV-Wettbewerbsstär- Jahre wieder rückgängig machen und den medizinischen kungsgesetz, wurde der Weg der einseitigen Belastung Fortschritt für alle gewähren wollen, ist ein Beitragssatz konsequent fortgesetzt. Der geplante Gesundheitsfonds, von etwa 10 Prozent für alle erforderlich. Solidarität der zum 1. Januar 2009 in Kraft treten soll, wird es nicht rechnet sich! schaffen, dass endlich alle für die gleiche Leistung auch den gleichen prozentualen Anteil ihres Einkommens zah- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): len. Vor vier Wochen hat die Bundesfamilienministerin den (B) gesetzlich Krankenversicherten einen guten Rat auf den (D) CDU/CSU und SPD haben beschlossen, dass die Kos- Frühstückstisch gelegt. Per Sonntagszeitung teilte sie ih- tensteigerungen im Gesundheitswesen zulasten der Versi- nen mit, dass sie ihre Krankenkasse verlassen sollen, cherten gehen. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es ein wenn diese einen Zusatzbeitrag von ihnen verlangt; denn komplexes Konstrukt innerhalb des Gesundheitsfonds: den müssten nur solche Kassen verlangen, die schlecht Anfang 2009 sollen die Krankenkassen 100 Prozent ihrer wirtschaften. Gut wirtschaftende Kassen könnten ihren Ausgaben aus dem Fonds erhalten. Schon Ende 2009 Versicherten Geld zurückgeben. werden die Einnahmen des Fonds dazu nicht mehr aus- reichen. Aber die Beiträge werden erst wieder erhöht, Dieser Sonntagsgruß der Ministerin passte sich naht- wenn die Kosten zu weniger als 95 Prozent gedeckt sind. los in die gewohnte Rhetorik der Koalition ein, wenn die Nach unseren Berechnungen wird dies voraussichtlich Sprache auf den Zusatzbeitrag kommt. Der wird der Öf- 2012 oder 2013 der Fall sein. Da aber die Kostensteige- fentlichkeit als Gradmesser für die Wirtschaftlichkeit ei- rungen bei Ärzten, Krankenhäusern und Medikamenten ner Krankenkasse verkauft. weiter stattfinden werden, haben die Kassen nur eine Alternative: Sie müssen den sogenannten Zusatzbeitrag Das ist selbstverständlich Unsinn, weil die Konstruk- erheben. Dies kann auch in Form einer „kleinen Kopf- tion des Zusatzbeitrags dessen Höhe von ganz anderen pauschale“ erfolgen. Ab 2010 werden alle Kassen vo- Faktoren abhängig macht als vom verantwortungsvollen raussichtlich Zusatzbeiträge von ihren Versicherten ver- Umgang einer Krankenkasse mit Versichertengeldern. langen müssen. Der Koalition wurde schon während des Gesetzgebungs- verfahrens durch von ihr selbst bestellte Gutachter ge- Und natürlich: Die Lohnnebenkosten-Senkungs-Ideo- zeigt, dass durch die Kombination von Zusatzbeitrag und logie wirkt weiter: Es zahlt erneut nur der Versicherte! 1-prozentiger Belastungsobergrenze die Höhe des Zu- Das sind weitere bis zu 10 Milliarden Euro, die nicht satzbeitrags bzw. der Beitragsrückerstattung davon be- mehr paritätisch finanziert werden. Diese politische Ent- stimmt wird, wie viel oder wenig die Mitglieder einer scheidung belastet jeden Beitragszahler mit durchschnitt- Kasse verdienen. Eine Kasse mit vielen Geringverdienern lich 200 Euro pro Jahr. Halbe-halbe? Das war einmal! muss einkalkulieren, dass viele ihrer Mitglieder den Zu- satzbeitrag nicht vollständig bezahlen können. Diese Bei- Die Linke ist gegen diesen Gesundheitsfonds, weil er tragsausfälle muss sie dann durch einen höheren Zu- den falschen Weg von Rot-Grün unter Schwarz-Rot fort- schlag – und damit durch die Belastung ihrer besser setzt. Diese Politik führt zu steigenden Kosten für Arbeit- verdienenden Mitglieder – wieder ausgleichen. Diesen nehmer, Rentner, Arbeitslose Studenten, aber nicht zu ei- Zusammenhang kann sie auch durch noch so gutes Wirt- ner besseren Gesundheitsversorgung. schaften nicht außer Kraft setzen. Von diesen Erkenntnis-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19151

Birgitt Bender (A) sen hat sich die Koalition aber nicht beirren lassen und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) die Gutachten einfach in den Schreibtisch gesteckt. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/10318 zur federführenden Beratung an Unsinn ist das Gerede vom Zusatzbeitrag als Grad- den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an messer der Wirtschaftlichkeit aber vor allem, weil für die den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an Koalition dieser Zuschlag ein zentraler Bestandteil der den Ausschuss für Arbeit und Soziales zu überweisen. künftigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversi- Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht cherung ist. Ab dem Jahr 2010 soll der Gesundheitsfonds der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. nur noch 95 Prozent der Leistungsausgaben der Kranken- kassen finanzieren müssen. Die restlichen 5 Prozent – das Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: entspricht nach heutigem Stand einem Betrag von 7,5 Milliarden Euro – soll dann über Zusatzbeiträge auf- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebracht werden. gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Das heißt, weil die Koalition keine vernünftige Finanz- Wettbewerb reform der Krankenversicherung hinbekommen hat, greift sie den Versicherten tief in die Tasche. Damit es – Drucksache 16/10145 – aber niemand merkt, ruft sie selbst am lautesten: „Haltet Überweisungsvorschlag: den Dieb!“ Dabei werden die Versicherten die Auswir- Rechtsausschuss (f) kungen des Zusatzbeitrags nicht nur in ihren Geldbeuteln Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und spüren. Durch ihre Ratschläge, sich bei der Kassenwahl Verbraucherschutz vor allem an Zusatzbeitrag und Rückerstattung zu orien- tieren, fördert die Bundesregierung eine Schnäppchen- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu mentalität, die in der Gesundheitsversorgung nichts zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – suchen hat. Die Krankenkassen setzt sie damit wiederum Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich unter Druck, die Erhebung des Zusatzbeitrags so lange um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: wie nur irgend möglich hinauszuzögern. In den nächsten Dr. Günter Krings, CDU/CSU, Dirk Manzewski, SPD, beiden Jahren werden die Kassen vor allem darum kon- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, Ulla Lötzer, kurrieren, wer den längsten Atem hat und möglichst lange Die Linke, Nicole Maisch, Bündnis 90/Die Grünen, und ohne Zuschlag auskommt. Das wird zu einem rigiden des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred Sparregime in den Kassen führen. Patientinnen und Pa- Hartenbach.1) tienten, die auf besonders teure Therapien angewiesen Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (B) sind, werden das zu spüren bekommen. Für innovative wurfs auf Drucksache 16/10145 an die in der Tagesord- (D) Versorgungsformen, die erst einmal Anlaufkosten verur- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es sachen, wird kein Geld übrig sein. dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Eine veränderte Grenzziehung zwischen eigenverant- Dann ist die Überweisung so beschlossen. wortlich und solidarisch zu tragenden Lasten kann kein Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf: Tabu sein. Das gilt auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, für die Reduzierung der Lohnnebenkos- Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker ten. Allerdings muss es dafür gute Gründe geben und die Beck (Köln), Winfried Nachtwei, Marieluise dafür verantwortlichen Politikerinnen und Politiker müs- Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der sen auch bereit sein, für diese Gründe und die von ihnen Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ergriffenen Reformmaßnahmen einzustehen. Das ist bei der Gesundheitsreform 2004 der Fall gewesen. Ange- Für klare menschen- und völkerrechtliche sichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt haben wir uns Bindungen bei Auslandseinsätzen der Bundes- damals bewusst dafür entschieden, die Parität zu ver- wehr schieben und Selbstbeteiligungen auszubauen. Und wird – Drucksache 16/8402 – haben diese Reformen damals auch offen vertreten. Vieles Überweisungsvorschlag: Weitere ist im Rahmen der dazugekommen. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen zeigt, dass diese Po- Auswärtiger Ausschuss litik erfolgreich war. Innenausschuss Rechtsausschuss Allerdings ist die Situation heute eine sehr viel andere. Verteidigungsausschuss Gesundheitsfonds und Zusatzbeitrag sind nicht zustande Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die gekommen angesichts steigender Arbeitslosenzahlen und Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die zu hoher Arbeitskosten. Mit Problemen im Gesundheits- Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Holger wesen oder in anderen gesellschaftlichen Bereichen ha- Haibach, CDU/CSU, Christoph Strässer, SPD, Florian ben sie nichts zu tun. Tatsächlich sind sie Ausdruck einer Toncar, FDP, Dr. Norman Paech, Die Linke, Volker Beck Koalition, die so in ihren inneren Widersprüchen gefan- (Köln), Bündnis 90/Die Grünen, und des fraktionslosen gen ist, dass sie sich nur noch mit sich selbst beschäftigt. Gert Winkelmeier. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass diese Re- form der Koalition so peinlich ist, dass sie es nicht gewe- sen sein will. 1) Anlage 14 19152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Holger Haibach (CDU/CSU): Gehen wir die Punkte im Einzelnen durch: „Klarheit (C) Soldatinnen und Soldaten der leisten seit über die menschen- und völkerrechtlichen Bindungen und vielen Jahren in Auslandseinsätzen einen wichtigen Bei- die Grenzen des zulässigen Vorgehens bei Auslandsein- trag nicht nur für die Sicherheit Deutschlands, sondern sätzen zu schaffen“, wie es der erste Punkt Ihres Antrags auch für den Schutz der Menschenrechte. Sie nehmen teil fordert, ist doch mindestens genauso eine Herausforde- an humanitären und friedenssichernden Missionen und rung an den Deutschen Bundestag wie an die Bundesre- sorgen durch ihre Präsenz für den notwendigen Schutz, gierung. Wenn dem nicht so wäre, dann hätten wir als Ab- der in einer Krisenregion erst die unabdingbaren Voraus- geordnete im Rahmen der Mandatsverlängerung, aber setzungen für den Wiederaufbau schafft: Stabilität und Si- auch im Rahmen unserer Mitwirkungsrechte im Wege des cherheit! Dafür gebührt ihnen unser tief empfundener Parlamentsbeteiligungsgesetzes unsere Arbeit schlecht Dank. gemacht. Diesen Eindruck habe ich aber vor dem Hinter- Militärisches Handeln findet allerdings nicht im luft- grund der intensiven, oft kritischen Debatten in diesem leeren Raum statt. Das bedeutet, dass das Handeln von Haus und der noch intensiveren Arbeit in den beteiligten Soldatinnen und Soldaten von verschiedenen Faktoren Ausschüssen nicht. abhängig ist: vom Einsatzgebiet, von der Aufgabenstel- Sie fordern weiterhin, dass Soldatinnen und Soldaten lung und nicht zuletzt von den anderen Akteuren vor Ort – bei Auslandseinsätzen nicht durch Befehle Vorgesetzter in ob feindlich, freundlich oder neutral. Militärisches Han- eine Lage gebracht werden sollen, in der sie zu Handlun- deln wird schließlich nicht alleine von der Bundeswehr gen angehalten werden, die völker- und menschenrechtli- geleistet, sondern in der Regel in Zusammenarbeit mit chen Standards widersprechen. Diese Forderung ist, so anderen Partnern im Rahmen der UN, der EU oder der richtig sie sein mag, doch ein wenig banal. Das Verbot NATO. von Befehlen, die gesetzlichen Bestimmungen zuwider- Vor diesem Hintergrund entstehen neue Fragestellun- laufen, ist ein alt hergebrachter Grundsatz der Bundes- gen und Probleme, die der Antrag, den wir heute debat- wehr und gilt im In- wie im Ausland. Das soll nicht hei- tieren, aufgreift. Diese Fragestellungen sind auch des- ßen, dass es solche Fälle nicht hin und wieder gibt. Aber halb wichtig, weil die Bundeswehr über mehr als vier die Regelungen, die solches verbieten, gibt es eben auch. Jahrzehnte nicht in Auslandseinsätze eingebunden war Ich verweise hier nur auf § 10 Abs. 4 des Soldatengeset- und sich somit viele Fragen bis Mitte der 90er-Jahre ein- zes, der es deutschen Soldaten verbietet, strafrechtswid- fach nicht gestellt haben. rige Befehle anzunehmen und auszuführen. Konkret heißt es: „Er (der Vorgesetzte) darf Befehle nur zu dienstlichen Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Zwecken und nur unter Beachtung der Regeln des Völker- vorausschicken: Jeder militärische Einsatz, der auf den rechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen.“ Schutz der Menschenrechte zielt, verliert in dem Augen- (B) Hier wird das Völkerrecht ausdrücklich erwähnt. (D) blick dramatisch an Legitimation, in dem die militärisch Handelnden Mittel und Wege nutzen, die den Men- Im Übrigen will ich an dieser Stelle betonen und deut- schrechten zuwiderlaufen. Schon aus dieser Erwägung lich machen, dass die Bundeswehr schon seit langer Zeit heraus – ohne auf die zwingende moralische Notwendig- ihre Soldatinnen und Soldaten intensiv auf Auslandsein- keit zur Einhaltung der Menschenrechte einzugehen – sätze vorbereitet und dass dabei der Aspekt „Einhaltung muss sich das Handeln der internationalen Staatenge- von menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Stan- meinschaft und damit eben auch der Bundeswehr an men- dards“ eine wichtige Rolle spielt. Ich möchte in diesem schenrechtlichen Standards orientieren. Ich bin der festen Zusammenhang auf das VN-Ausbildungszentrum der Überzeugung, dass der Bundesverteidigungsminister, die Bundeswehr in Hammelburg verweisen. Da diese Ein- militärische Führung der Bundeswehr und auch die Sol- richtung über eine Homepage verfügt, kann man sich im datinnen und Soldaten sich dieser Tatsache bewusst sind Internet über die Aktivitäten informieren, die unternom- und auch in den allermeisten Fällen danach ihr Handeln men werden, um militärisches und ziviles Personal für ausrichten. Einsätze im Rahmen der UN zu schulen. Dabei kann man Es ist jedoch nicht zu bestreiten, dass es in der Vergan- auch feststellen, dass es eine intensive Zusammenarbeit genheit vereinzelt zu nicht hinnehmbaren Verletzungen auch mit Institutionen der Zivilgesellschaft und auch mit dieser Prinzipien gekommen ist. Diese müssen aufgeklärt dem Zentrum für internationale Friedenseinsätze gibt. In- und die Ursachen hierfür beseitigt werden. Es ist mir al- sofern werden hier unter anderem genau die Inhalte ver- lerdings wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich tat- mittelt, die in dem vorliegenden Antrag eingefordert wer- sächlich um Einzelfälle und nicht um ein „Massenphäno- den. men“ handelt. Darüber hinaus werden die Einsatzkräfte auch mit so- Dennoch hat der vorliegende Antrag insofern seine genannten Taschenkarten ausgestattet, die ihnen in Kurz- Berechtigung, als er die Schwerpunkte anspricht, die für form im Einsatzfall als Informationsquelle über die Gren- ein an menschenrechtlichen Standards orientiertes Han- zen ihres Handelns zur Verfügung stehen. deln entscheidend sind: entsprechende Ausbildung, klare Befehlsstrukturen und ebenso klare Vorgaben für das Ver- Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist klar, dass wir die halten im Einsatz. Allerdings versucht der Antrag, den Einsätze der Bundeswehr und das Verhalten der Soldatin- Anschein zu erwecken, diese Punkte seien bisher ver- nen und Soldaten immer im Einklang mit den Standards nachlässigt oder gar nicht beachtet worden. Und diesen des Völkerrechts und der Menschenrechte sehen wollen. Versuch kann man getrost und mit guten Gründen als ge- Dass dies, besonders bei dem letztem Punkt, den der An- scheitert ansehen. trag erwähnt, nämlich der Zusammenarbeit mit anderen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19153

Holger Haibach (A) militärischen Verbänden aus anderen Nationen, manch- tungen der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen? Wie wer- (C) mal zu schwierigen Situationen geführt hat und vielleicht den die Soldaten informiert und geschult? Wie kann die auch führen wird, ist klar. Aber auch hier sollten wir uns Einhaltung der Verpflichtungen kontrolliert werden? Das davor hüten, Verbündete sozusagen unter Generalver- sind Fragen, mit denen sich die zuständigen Ressorts und dacht zu stellen, auch wenn bestimmte Vorfälle in der Ver- der Deutsche Bundestag weiter zu beschäftigen haben. gangenheit Besorgnis erregt haben. Vor einigen Monaten berichtete das Magazin „Der Die Verantwortung, die Bundeswehr im Rahmen des Spiegel“ von einem Einsatz der Krisenreaktionkräfte in Völkerrechts und in Übereinstimmung mit menschen- Afghanistan. Die Einheit sollte einen Taliban-Komman- rechtlichen Standards operieren zu lassen, sehen wir in deur dingfest machen, auf dessen Konto eine Reihe von gleicher Weise wie die Antragsteller. Der Eindruck, hier Sprengfallen ging. Er wurde ausfindig gemacht, die Ope- werde zu wenig getan, wird aber von uns nicht geteilt. ration wochenlang geplant. Kurz vor dem Zugriff wurden Schließlich haben wir als Parlament die Verantwortung, die Pläne entdeckt. Der Verdächtige entkam, obwohl er Ja oder Nein zu sagen zu einem Einsatz. Diese Verant- hätte getötet werden können. Deutsche Soldaten beteili- wortung schließt die Prüfung der Frage mit ein, ob der je- gen sich nicht am Targeting – dem gezielten Ausschalten weilige Einsatz vertretbar ist und im Einklang mit den von Feinden. Andere Nationen sehen das anders, was oben genannten Grundsätzen steht. durchaus zu Reibungspunkten und Zielkonflikten führt. Die deutschen Soldaten brauchen Klarheit und Rechts- sicherheit für ihr Handeln. Das gilt auch für die Gewahr- Christoph Strässer (SPD): sam- und Festnahme von Personen. Wie lange dürfen Die Bundesrepublik Deutschland ist seit vielen Jahren diese festgehalten werden, wem dürfen sie übergeben Vollmitglied der Vereinten Nationen. Mit dem Beitritt ha- werden, welche Regeln gelten? Nach einem von Amnesty ben wir die Geltung der Charta anerkannt, und zwar ins- International vorgelegten Afghanistan-Report sei zum gesamt und nicht nur in Teilbereichen. Anerkannt haben Beispiel nicht auszuschließen, dass überstellte Personen wir damit auch Kapitel VII, wonach bei „Bedrohung“ von afghanischer Seite misshandelt würden. Aus diesem oder einem „Bruch des Friedens oder einer Angriffs- Grunde wird derzeit auch ein Abkommen zwischen handlung“ auch militärische Sanktionsmaßnahmen nach Deutschland und Afghanistan vorbereitet, um sicherzu- Art. 42 durchgeführt werten können, wenn andere Maß- stellen, dass an staatliche afghanische Behörden zu über- nahmen nach Art. 41 VN-Charta unzulänglich sind oder gebende Personen nach den internationalen und vertrag- sein würden. Unter diesen Obliegenheiten muss auch lichen menschenrechtlichen Verpflichtungen behandelt Deutschland sich der Verantwortung als Mitglied der werden und die Todesstrafe nicht an ihnen vollstreckt Vereinten Nationen stellen und bei Vorliegen der völker- wird. Dies ist zur Herstellung von Rechtssicherheit drin- (B) rechtlichen Voraussetzungen politisch entscheiden, ob gend erforderlich, sogenannte Diplomatische Zusiche- (D) und in welchem Umfang nach entsprechender Anforde- rungen reichen hierfür nach meinem Verständnis nicht rung die Bundeswehr sich an derartigen friedenssichern- aus. den Maßnahmen der Vereinten Nationen beteiligt. Die einfache wie populistische Forderung „Keine Auslands- Die Verpflichtung auf das Grundgesetz war und ist ei- einsätze der Bundeswehr“ ist insofern verantwortungs- nes der Gründungsprinzipien der Bundeswehr. Bundes- los, die Bundeswehr ist fester Bestandteil internationaler wehrsoldaten sind wie jeder andere Bürger auch den Bündnissysteme. Werten des Grundgesetzes verpflichtet – auch bei Aus- landseinsätzen. Es gibt keinen begründeten Zweifel da- Sie übernimmt seit Jahren wichtige internationale Ver- ran, dass die Bundeswehr nicht alles unternimmt, die Ein- antwortung und leistet mit ihren Auslandseinsätzen einen haltung des Völkerrechts und der Menschenrechte zu wichtigen Beitrag zur Friedenssicherung in Krisenregio- gewährleisten. Die Ausrichtung ihres Handelns an die nen. Sie unterstützt die Vereinten Nationen bei der Wah- Einhaltung der elementaren Menschenrechte gehört zum rung der Menschenrechte, bei der Herstellung und Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten. Gleich- Wahrung der Sicherheit in Krisengebieten und schafft da- zeitig stellt der „Staatsbürger in Uniform“ den demokra- mit Räume für zivile Organisationen bei der Auslieferung tischen Gegenentwurf zum unkritischen Befehlsempfän- humanitärer Hilfsgüter und zum zivilen Wiederaufbau. ger dar. Dabei finden militärische Einsätze nicht in rechtsfreien Räumen statt. Im Zentrum jedes Einsatzes muss die Wah- Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden – zum einen rung der Menschenrechte stehen, wie sie sich aus den die Ebene der dienstrechtlichen Vorgaben, zum anderen Grundsätzen des humanitären Völkerrechts, aber auch die Ebene des höherrangigen Rechts. Die Soldatinnen aus den Wertentscheidungen unseres Grundgesetzes er- und Soldaten werden im Rahmen ihrer Ausbildung, ein- geben. Sicherheitspolitik kann nur dann glaubwürdig satzlandspezifisch vor jedem Auslandseinsatz und auch sein, wenn sie bereit und fähig ist, Freiheit und Men- während des Einsatzes über die Grundlagen des Huma- schenrechte auch durchzusetzen – und vor allem auch nitären Völkerrechts und des Internationalen Rechts aus- selbst danach zu handeln. gebildet. Auf die allgemeinen und besonderen Bestim- mungen beim Festhalten oder Festnehmen von Personen Deshalb geht die grundsätzliche Stoßrichtung des An- wird in den sogenannten Taschenkarten, die den Soldatin- trages auch unter dem Aspekt einer notwendigen sachlich nen und Soldaten zur Verfügung gestellt werden, ein- und öffentlich geführten Debatte zu diesem Thema in gegangen. Die Rechtsgarantien für Personen, die bei Ordnung. Wir müssen uns in Zukunft verstärkt die Fragen Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Gewahrsam ge- stellen: Wie weit reichen die Menschenrechtsverpflich- nommen werden, wurden unter anderem in einem Befehl

Zu Protokoll gegebene Reden 19154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Christoph Strässer (A) vom 26. April 2007 im Einzelnen aufgeführt. Doch letzt- lässig sind. Modifikationen können sich im Rahmen der (C) lich stellen die zentralen Dienstvorschriften der Bundes- Verhältnismäßigkeitsprüfung oder mit Blick auf die wehr eine untergesetzliche Normbasis ohne Außenwir- praktische Konkordanz im Widerstreit mit anderen kung dar. Grundrechten und Verfassungsgütern ergeben. Doch im Ergebnis gilt die Verpflichtung der Gewährleistung des Deshalb bleibt weiter zu fragen, inwieweit auf der höchstmöglichen Schutzniveaus, und zwar verbindlich Ebene des höherrangigen Rechts Grundrechte aus dem und ausnahmslos. Grundgesetz oder völkerrechtliche Verpflichtungen wie die Europäische Konvention zum Schutz der Menschen- Ein weiterer zentraler Punkt ist die unmittelbare An- rechte oder der Internationale Pakt über bürgerliche und wendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonven- politische Rechte mittelbar oder besser unmittelbar An- tion und des Zivilpaktes. Im Fall Saramati hat der EGMR wendung finden. entschieden, die Menschenrechtskonvention sei nicht an- wendbar, weil nationale Kontingente bei Friedensmissio- Die Bundesregierung erklärt dazu, bei Einsätzen der nen der Vereinten Nationen ausschließlich deren Hoheits- Bundeswehr im Ausland, insbesondere auch im Rahmen rechte ausüben wurden. Die Entscheidung wurde zu von Friedensmissionen, sichere Deutschland allen Per- Recht mit Verwunderung aufgenommen, da das Gericht sonen, soweit sie der Herrschaftsgewalt der Bundeswehr zum einen nicht die Frage aufwarf, ob nationale Kontin- unterstehen, die Gewährung der im Zivilpakt anerkann- gente parallel auch nationale Hoheitsgewalt ausüben, ten Rechte zu. Diese Erklärung stößt bei großen Teilen zum anderen weil der Gerichtshof von seiner eigenen der Nichtregierungsorganisationen zu Recht auf Kritik. Rechtsprechung abwich, wonach es bei der Anwendung Juristisch spitzfindig verberge sich hinter der Erklärung der Menschenrechtskonvention bleibt, wenn ansonsten nur eine Zusicherung der Paktrechte. Im Umkehrschluss kein gleichwertiger Menschenrechtsschutz gewährleistet könne man daraus schließen, dass die völkerrechtlichen wäre. Aus der Intension der Konvention heraus dürfe kein Regelungen eigentlich keine unmittelbare Anwendung schutzloser menschenrechtsfreier Raum geduldet werden. fänden, man sich aber freiwillig bereit erkläre, sie anzu- wenden. Außerdem würden die Rechte nur Personen Die aktuelle Debatte in der Zivilgesellschaft und zugesichert, die der deutschen Herrschaftsgewalt unter- Fachöffentlichkeit zeigt, dass noch nicht auf alle Fragen stehen. Die Bundesregierung vertrete die Auffassung, die und Herausforderungen die abschließenden Antworten Bundeswehr übe ausschließlich Hoheitsgewalt der Ver- gefunden wurden, weder von juristischer Seite, was auch einten Nationen aus, wenn sie im Rahmen eines Mandats auf sich widersprechende Urteile der nationalen und in- des Sicherheitsrates handele, sodass die Grundrechte, die ternationalen Gerichte zurückzuführen ist, noch von EMRK und der Zivilpakt keine Anwendung fänden. Denn politischer Seite. Richtig ist es, auf konkrete Fragen im auf Handlungen der Vereinten Nationen finden insbeson- Rahmen jeden Einsatzes auch pragmatische Antworten (B) (D) dere internationale Menschenrechtsabkommen keine An- zu suchen, wie die Verhandlungen mit der afghanischen wendung, weil nur Staaten Vertragspartner dieser Über- Regierung über ein Abkommen zur Überstellung festge- einkommen sind. In diesem Fall würde nur das zwingende nommener Personen. In der Fachöffentlichkeit ist in der Völkerrecht gelten, dessen Schutzstandard unter dem der Diskussion den verfahrensrechtlichen Schwierigkeiten Menschenrechtsabkommen liegt. Eine solche Positionie- bei vorübergehend festgehaltenen Personen und der ge- rung halte ich für unzureichend, relativiert sie doch den gebenenfalls gebotenen Richtervorführung mit einer Zu- Charakter und die Verbindlichkeit der von uns ratifizier- ordnung von Richtern im Einsatzgebiet oder der Möglich- ten Übereinkommen. keit der Videokonferenz zu begegnen. Gleichzeitig gilt es aber auch, quasi auf der Metaebene die menschen- und Gerade in den Rechtswissenschaften finden auch an- völkerrechtlichen Rahmenbedingungen weiter zu konkre- dere Auslegungen Gehör. Für Einsätze der Bundeswehr tisieren. Dazu gehören sicherlich auch die Überlegungen nach Art. 24 Abs. 2 GG, der für internationale Organisa- einer expliziten Verankerung der Menschenrechte in den tionen wie die Vereinten Nationen gilt, dürfen keine Ho- Mandaten der Vereinten Nationen und des Bundestages, heitsrechte vollständig übertragen werden. Beim Einsatz ein Weg, den ich vom Ansatz her nachdrücklich befür- multinationaler Kontingente übertragen die Entsende- worte. Grundsätzlich bin ich auch der Auffassung: je kon- staaten nicht die vollständige Kommandogewalt. Auch kreter die Mandatierung erfolgt, je mehr Wert auf den zi- Bundesregierung und Bundestag gehen schließlich davon vilen Wiederaufbau, auf Nation Building und Capacity aus, dass sie das Recht haben, für Auslandseinsätze der Building gelegt wird, je konkreter die Menschenrechte Bundeswehr nationale Bedingungen und Beschränkun- Verankerung finden, desto besser. gen vorzusehen. Neben dem Mandat der Vereinten Natio- nen existiert also auch ein nationales Mandat. Es gelte In diesem Zusammenhang möchte ich noch abschlie- eine Mehrebenenverantwortlichkeit. Aus diesem Grund ßend darauf hinweisen, dass der Ausschuss für Men- bestehe kein Anlass, die Grundrechte des Grundgesetzes schenrechte und Humanitäre Hilfe anlässlich des 60. Jah- auf extraterritoriale Handlungen der Bundeswehr nicht restages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte anzuwenden. Die Solange-Entscheidung des Bundesver- plant, im Dezember eine Anhörung zum Thema „Men- fassungsgerichts und die Bosphorus-Entscheidung des schenrechte und extraterritoriale Staatenpflichten“ Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte lassen durchzuführen. Das Thema bleibt also auf der politischen es sogar geboten erscheinen, jeweils zu überprüfen, ob in Agenda, ich freue mich auf eine sachgerechte und ange- materieller Hinsicht ein vergleichbarer Grundrechts- messene Debatte in den Ausschüssen. Alle Beteiligten, schutz besteht. Es bleibt zu überprüfen, ob und inwieweit insbesondere auch die Soldatinnen und Soldaten, die in kontextbezogen Modifikationen des Schutzumfanges zu- solchen Einsätzen viel riskieren müssen, haben Anspruch

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19155

Christoph Strässer (A) auf Klarheit und Rechtssicherheit. Den kann nur die walten lassen. Dazu möchte ich Ihnen ein Beispiel geben: (C) Politik schaffen. Das Bundesverteidigungsministerium stellt den Soldaten wichtige Informationen oder Merksätze in Form von so- Florian Toncar (FDP): genannten Taschenkarten zur Verfügung. Dies sind kom- Der vorliegende Antrag lenkt die Aufmerksamkeit auf pakte Faltblättchen, welche die Soldaten griffbereit bei die Frage, welche völker- und menschenrechtlichen sich tragen sollen. In der 2006-er Ausgabe der Taschen- Grundsätze die Soldaten der Bundeswehr bei Auslands- karte mit dem Titel „Humanitäres Völkerrecht in bewaff- einsätzen binden. Damit soll sichergestellt werden, dass neten Konflikten“ wurde die Anweisung, dass die Solda- die Soldaten die Menschenrechte der Bevölkerung im ten der Bundeswehr die Regeln des humanitären Einsatzland achten. Zudem soll die Truppe klare Hand- Völkerrechts zu beachten haben, durch den Zusatz „so- lungsanweisungen erhalten, um zu verhindern, dass die weit praktisch möglich“ eingeschränkt. Solche Fehler Soldaten möglicherweise an Aktionen beteiligt werden, dürfen nicht vorkommen. Das Verteidigungsministerium die ihr Mandat überschreiten und für die sie später zur ersetzte diese Textfassung im Juni 2008 durch eine For- Rechenschaft gezogen werden. Die Sicherstellung beider mulierung, die die vorbehaltlose Geltung des humanitä- Ziele ist unerlässlich, um die Unterstützung der Bevölke- ren Völkerrechts wieder festschreibt. rungen für die Präsenz der Bundeswehr in Einsatzgebie- ten zu bewahren und so zur Sicherheit der Soldaten bei- Der Antrag der Grünen geht auch auf die Behandlung zutragen. von festgenommenen Personen durch die Bundeswehr ein. Das Bundesministerium der Verteidigung hat letzt- Auch wenn der vorliegende Antrag sich mit einer malig durch den Befehl vom 26. April 2007 die Behand- wichtigen Thematik befasst, wählen die Grünen leider ei- lung von Gefangenen durch die Bundeswehr geregelt. nen Zungenschlag, der dem engagierten Verhalten der Mit diesem Befehl reagierte die Bundesregierung auf ei- deutschen Soldaten nicht gerecht wird. Der Antrag im- nen Antrag der FDP-Bundestagsfraktion auf Drucksa- pliziert ein breites Fehlverhalten der Bundeswehr bei che 16/2096 vom 30. Juni 2006. Es waren die Liberalen, Auslandseinsätzen. Die Formulierungen erwecken den die sich bereits vor über zwei Jahren mit diesem Themen- Eindruck, als ob die Soldaten ohne menschen- und völker- komplex befasst haben. Insofern hinken die Grünen der rechtliche Bindungen bei Auslandseinsätzen vorgehen Debatte deutlich hinterher. Der Befehl des Ministeriums würden. Ferner unterstellen sie, dass bei Auslandseinsät- legt die menschenrechtskonforme Behandlung von Ge- zen grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen nicht fangenen fest. Da die Bundeswehr in Afghanistan keine eingehalten werden und Soldaten möglicherweise zu Gefängnisse betreibt, werden Gefangene bisher an die Handlungen angeleitet werden, für die sie später straf- örtlichen Behörden überstellt. Der angesprochene Befehl (B) rechtlich belangt werden können. Diese Prämissen treffen legt dazu fest: „Die Übergabe der in Gewahrsam genom- (D) nicht zu. Richtig ist jedoch, dass der Dienstherr in einigen menen Personen an Sicherheitskräfte aus Drittstaaten ist Fällen in seiner Befehlslage Unklarheit für die Soldaten untersagt, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die geschaffen hat, die behoben werden müssen. Beachtung menschenrechtlicher Mindeststandards nicht Zur Rechtslage ist zu sagen, dass die Soldaten der gewährleistet ist.“ Auch wenn der angesprochene Befehl Bundeswehr wie alle anderen deutschen Bürger an das einen Fortschritt bedeutet, besteht ein Defizit fort. So ver- deutsche Grundgesetz gebunden sind, in dem es in Art. 1 lässt sich die Bundesregierung bei Überstellungen von Abs. 1 GG heißt: „Die Würde des Menschen ist unantast- Gefangenen weiterhin auf diplomatische Versicherungen bar“. Bedeutsam ist auch, dass die Bundeswehr als Teil des Empfängerstaates, anstatt sich durch regelmäßige, der deutschen öffentlichen Gewalt bei Handlungen im unangekündigte Kontrollbesuche ein eigenes Bild über Ausland nicht nur den Verpflichtungen der völkerrecht- die Haftbedingungen von überstellten Gefangenen zu ma- lich normierten Menschenrechte unterliegt, sondern auch chen. Also besteht hier noch Verbesserungsbedarf. Auf in die durch Art. 1 Abs. 3 GG normierte Bindung an die dieses Defizit zielt der vorliegende Antrag der Grünen je- deutschen Grundrechte einbezogen ist. doch leider nicht ab. Die Antragssteller führen am Anfang des Begrün- In der Summe erweckt der Antrag der Grünen den Ein- dungsteils treffend aus: „Auslandseinsätze der Bundes- druck, dass die Einsätze der Bundeswehr nicht in einem wehr sind zwingend an das Völkerrecht und die Men- klaren menschen- und völkerrechtlichen Rahmen statt- schenrechte gebunden“. Seit ihrer Gründung gilt für die fänden. Ferner seien die Soldaten der Gefahr ausgesetzt, Soldaten der Bundeswehr, dass Befehlen, die das huma- zu Handlungen herangezogen zu werden, für die sie spä- nitäre Völkerrecht verletzen, nicht Folge zu leisten ist. ter strafrechtlich belangt werden könnten. Diese von den Dabei ist weder die Erteilung solcher Befehle noch ihre Antragsstellern vermutete rechtswidrige Praxis existiert Ausführung erlaubt. so nicht. Daher zielt der Kern des Antrags ins Leere. Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen, dass das Dennoch muss das Bundesministerium der Verteidi- Verhalten der deutschen Soldaten bei Auslandseinsätzen gung weitere Verbesserungen in der konkreten Befehlslage den grund- und völkerrechtlichen Verpflichtungen ge- vornehmen. Dies gilt insbesondere für die Sicherstellung recht wird. Vereinzelte Fälle von individuellem Fehlver- halten sind konsequent geahndet worden. der rechtsstaatlichen Behandlung von Gefangenen nach Überstellungen durch deutsche Stellen im Ausland. Die In der Befehlslage hat das Bundesministerium der Ver- FDP hat auf diese Lücke bereits vor zwei Jahren aufmerk- teidigung jedoch nicht immer die notwendige Sorgfalt sam gemacht.

Zu Protokoll gegebene Reden 19156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Florian Toncar (A) Der in dem Antrag enthaltene Zungenschlag ist ein Soldatinnen und Soldaten sein. So wird in dem Antrag (C) sprachlicher Duktus, der dem pflichtbewussten und enga- richtig festgestellt, dass es der Bundesregierung bisher gierten Einsatz unserer Soldaten nicht gerecht wird. Da- nicht gelungen ist, „die menschen- und völkerrechtlichen her lehnen wir diesen Antrag der Grünen ab. Grenzen und Bindungen bei Auslandseinsätzen klar zu definieren und erlaubtes von unerlaubtem Handeln deut- Dr. Norman Paech (DIE LINKE): lich abzugrenzen.“ Die Soldatinnen und Soldaten der In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Bundeswehr sind zwar mit einer sogenannten Taschen- Grünen menschen- und völkerrechtliche Standards für karte ausgestattet, aber diese lässt genug Spielräume, das die Einsatzregeln der Bundeswehrsoldaten in Auslands- humanitäre Völkerrecht zu brechen. Deutsche Soldatin- einsätzen. Diese müssen aber nicht nur mit dem Men- nen und Soldaten laufen deshalb permanent Gefahr, das schen- und Völkerrecht, sondern auch mit dem Grundge- humanitäre Völkerrecht zu brechen: bei Gefangennah- setz vereinbar sein. Ebenfalls soll die Bundesregierung men und bei der Behandlung von Gefangenen, mit der sich verpflichten, ihre Soldatinnen und Soldaten vor Ein- Auslieferung von Gefangenen an Dritte und mit den Auf- sätzen, die mit den Menschen- und Völkerrechten sowie klärungsflügen. Die Kriegsführung der USA in Afghanis- mit dem Grundgesetz nicht kompatibel sind, zu bewahren. tan hat schon seit langem und in unerträglichem Maße die Regeln des humanitären Völkerrechts verletzt. Und je Das findet in vielen Punkten unsere Zustimmung. Al- tiefer sich die Bundeswehr in diesen Krieg hineinziehen lerdings gibt es einen zentralen Punkt, der unserer Auf- lässt, umso stärker läuft sie Gefahr, sich in die gleiche fassung nach fehlt: die generelle Vereinbarkeit von Aus- völkerrechtswidrige Kampfführung zu verstricken. landseinsätzen mit dem Völkerrecht. So fordert Die Linke seit langem, dass Auslandseinsätze nur dann gestattet Nach dem humanitären Völkerrecht sollte bei jedem werden, wenn sie völkerrechtskonform sind. Leider war Einsatz der Schutz der Zivilbevölkerung oberstes Gebot und ist dies bis dato nicht immer der Fall. Sie erinnern sein. Dies ist oft nicht der Fall, wie wir in Afghanistan fast sich nicht gerne daran: Aber die Bombardierung Jugos- täglich sehen. Bundesregierung und NATO sprechen von lawiens war ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Kollateralschäden, wenn sie Tote in der Zivilbevölke- Der damalige Außenminister Fischer hat seinerzeit mit rung, die Zerstörung von Krankenhäusern und wichtiger dem untauglichen Argument der sogenannten humanitä- Infrastruktur meinen. Dies ist nicht nur eine zynische Ver- ren Intervention versucht, den Überfall völkerrechtlich zu harmlosung, sondern auch eine Verschleierung der Tat- rechtfertigen. Es lag jedoch weder ein Fall der Selbstver- sache, dass diese Kampfeinsätze sich außerhalb des Völ- teidigung noch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats vor. kerrechts bewegen. Das war eine dreiste Verletzung des Völkerrechts. Die NATO hat Soldatinnen und Soldaten in einen völker- Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ver- (B) rechtswidrigen Krieg geschickt, in dem zudem zahlreiche fehlt zwar unserer Meinung nach das Kernproblem von (D) Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen Auslandseinsätzen und sogenannten Friedensmissionen. wurden. Dennoch ist es schon ein Fortschritt, dass er sich mit den Einsatzregeln für Soldatinnen und Soldaten auseinander- Aber auch der gegenwärtige Einsatz im Rahmen des setzt und die Bundesregierung auffordert, hier Klarheit zu Antiterrorkampfes der OEF in Afghanistan ist völker- schaffen. Dies verlangt der vorliegende Antrag, und er rechtlich nicht gedeckt. Auch wenn man mit Art. 51 der findet deshalb unsere Zustimmung. UN-Charta argumentiert – nach sieben Jahre Besatzung in Afghanistan ist der Verteidigungsfall längst hinfällig geworden. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist schon bemerkenswert, dass wir die Bundesregie- Und selbst die indirekte Beteiligung der Bundeswehr rung auffordern müssen, endlich Klarheit über die men- am Irakkrieg ist völkerrechtlich nicht gedeckt. Das Bun- schen- und völkerrechtlichen Bindungen bei Auslands- desverwaltungsgericht hat im Fall Pfaff eindeutig bestä- einsätzen der Bundeswehr zu schaffen. Auslandseinsätze tigt, dass die Unterstützungsleistung gegen das Völker- der Bundeswehr – auch schwierige und gefahrvolle – fin- recht verstieß. Das BVerwG sagt in seinen Leitsätzen sehr den ja schon seit einigen Jahren statt. Erst in den vergan- deutlich, ich zitiere: genen Woche haben wir die Verlängerung der deutschen 6. … Für den Krieg konnten sich die Regierungen Beteiligung an den UN-Einsätzen im Sudan und vor der der USA und des UK weder auf sie ermächtigende libanesischen Küste beschlossen. Die Beratung über die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates noch auf das in Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan Art. 51 UN-Charta gewährleistete Selbstverteidi- steht im kommenden Monat an. gungsrecht stützen. Umso beachtlicher ist es, dass es weiterhin keine Klar- 7. Weder der NATO-Vertrag, das NATO-Truppen- heit über den rechtlichen Rahmen dieser Einsätze gibt. statut, das Zusatzabkommen zum NATO-Truppen- Dies stellt nicht nur der Bundesregierung ein Armuts- statut noch der Aufenthaltsvertrag sehen eine Ver- zeugnis aus, sondern auch die beteiligten Soldaten vor pflichtung der Bundesrepublik Deutschland vor, große Probleme. entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völ- Nach Art. 1 des Grundgesetzes binden die Grund- kerrecht völkerrechtswidrige Handlungen von rechte die vollziehende Gewalt, also auch die Streitkräfte, NATO-Partnern zu unterstützen. und zwar auch, soweit die Wirkungen ihrer Betätigung im Wenn ein Auslandseinsatz der Bundeswehr völker- Ausland eintreten. Einen territorialen Vorbehalt kennt rechtskonform ist, so müssen es auch die Regeln für die das Grundgesetz nicht. Diese Feststellung ist auch in ei-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19157

Volker Beck (Köln) (A) nem anderen aktuellen Kontext von Bedeutung: Bei Ein- Der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für (C) sätzen außerhalb des deutschen Staatsgebiets, beispiels- Menschenrechtsfragen im Bundesministerium der Justiz. weise auf Hoher See im Rahmen von FRONTEX zur Stoltenberg, hat jüngst in einer juristischen Fachzeit- Abwehr unerwünschter Zuwanderung. schrift erneut den Finger in die Wunde gelegt und gefor- dert, die Bundesregierung solle unmissverständlich zum Im Hinblick auf den Einsatz der Bundeswehr im Aus- Ausdruck bringen, dass sie bei Auslandseinsätzen der land geht es um ganz konkrete Sachverhalte von großer Bundeswehr die grundsätzliche Geltung der Grundrechte praktischer Relevanz: Dürfen Personen festgenommen des Grundgesetzes sowie die Anwendbarkeit der Euro- und festgehalten werden? Wenn ja, auf welcher Rechts- päischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des grundlage und für welche Dauer? Wie steht es mit dem UN-Zivilpakts anerkennt. Gesetzesvorbehalt und dem Richtervorbehalt? Dürfen Festgenommene an andere Institutionen überstellt wer- Denn die Grundrechte des Grundgesetzes finden auch den? Insbesondere letztere Frage stellt sich aktuell in Af- dann Anwendung, wenn Handlungen der deutschen öf- ghanistan, wenn Personen an den afghanischen Geheim- fentlichen Gewalt außerhalb des deutschen Staatsgebie- dienst überstellt werden. Wie will die Bundesregierung tes stattfinden. Allein aus der Eingliederung in eine inter- sicherstellen, dass sie nicht gefoltert werden, ein faires nationale Organisation oder aus der Zusammenarbeit mit Gerichtsverfahren erhalten und nicht zum Tode verurteilt Sicherheitskräften anderer Staaten folgt keine Verände- und hingerichtet werden? Denn eines muss unmissver- rung des grundrechtlichen Prüfungsmaßstabs. Auch für ständlich klar sein: Jegliche deutsche Unterstützungs- die Ausübung von deutscher Hoheitsgewalt im Ausland leistungen – auch unterhalb der direkten Übergabe selbst gibt es keine grundrechtsfreien Räume. ergriffener Verdächtiger – begründen im Falle von Ver- Nicht nur der Deutsche Bundestag braucht Klarheit stößen gegen die Menschenrechte eine Mitverantwor- über den Umfang und die rechtlichen Grenzen eines von tung. Deutsche staatliche Gewalt darf keine Beihilfe zur ihm zu verantwortenden Auslandseinsatzes. Insbesondere Folter oder unrechtmäßiger Inhaftierung leisten! die beteiligten Soldatinnen und Soldaten benötigen Der Untersuchungsausschuss zu Murat Kurnaz und Rechtssicherheit. Sie dürfen nicht in rechtlichen Grauzo- dem Einsatz der KSK in Afghanistan im Jahre 2002 hat in nen operieren, und sie dürfen nicht im Unklaren gelassen der vergangenen Woche seine abschließende Sitzung ab- werden, ob ihr Vorgehen rechtlich zulässig ist oder einen gehalten. Sein Bericht wird uns hier im Hause noch be- Rechtsverstoß darstellt schäftigen. Schon jetzt lässt sich aber sagen: Der Aus- schuss hat die Erkenntnis zu Tage gefördert, dass die Gert Winkelmeier (fraktionslos): Sondereinsatzkräfte damals nach Afghanistan beordert Als ich den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die (B) wurden, ohne dass diese Fragen auch nur ansatzweise Grünen durchgelesen hatte, war ich versucht, wie die (D) geklärt waren. Das hat zu den bekannten Problemen ge- Götter in der Odyssee in homerisches Gelächter auszu- führt, unter anderem dem fragwürdigen Einsatz deut- brechen. scher Soldaten bei der Bewachung von Personen, die im Ich möchte kreativ zitieren: US-Gefangenenlager in Kandahar interniert wurden, be- vor sie widerrechtlich nach Guantanamo verschleppt Jetzo standen die Götter, die Geber des Guten, im wurden. Vorsaal; und ein langes Gelächter erscholl bei den seligen Göttern, als sie die Künste sahn des klugen Erst im Jahre 2007 wurden durch einen Befehl des Ver- Erfinders Volker Beck. teidigungsministeriums grundlegende Handlungsanwei- sungen an die Soldaten gegeben: Festgenommene sind Ich habe mir das Lachen allerdings verkniffen, denn menschlich zu behandeln, müssen versorgt und dürfen dazu ist das Thema viel zu ernst. Schon der erste Satz des nicht gefoltert werden. Antragsbegehrens hat es in sich. Da ist von der „völker- rechtlich korrekten“ Mandatierung von Auslandseinsätzen So begrüßenswert wie selbstverständlich diese Anwei- die Rede, als ob das bisher alles völlig in Ordnung gewesen sungen sind, fällt doch auf, dass sie jegliche Bezugnahme wäre: vom gegen die Charta der UNO verabschiedeten auf die Grundrechte des Grundgesetzes, die Europäische Vorratsbeschluss am 16. Oktober 1998 zum Luftkrieg ge- Menschenrechtskonvention (EMRK) oder Normen des gen Jugoslawien bis zur Beteiligung der Bundeswehr an humanitären Völkerrechts vermeiden. Dadurch wird die der Operation Enduring Freedom. Demnächst, im No- Unsicherheft darüber, welchem Rechtsregime das Han- vember, werden wir wieder erleben, dass alle Befürworter deln unterliegt, eher noch vergrößert. Gelten die Grund- und auch die möglichen grünen Gegner einer OEF-Man- rechte des Grundgesetzes? Gelten die internationalen datsverlängerung wahrheitswidrig Stein und Bein be- Abkommen zum Schutz der Menschenrechte? Unterliegt haupten, die Resolutionen 1368 und 1373 ließen die An- der Einsatz den Regeln des humanitären Völkerrechts? wendung militärischer Gewalt zu. Ich sage hier jetzt schon einmal an die Adresse der Bundesregierung: Legen Der sogenannte bewaffnete Kampf gegen Straftäter, Sie dem Deutschen Bundestag nicht zum x-ten Mal einen wie der Einsatz von der Bundesregierung bezeichnet Antrag vor, der sich auf eine nicht existierende Rechts- wird, findet mangels Festlegung in einer rechtlichen grundlage beruft! Grauzone statt. Das Konstrukt der „Strafverfolgung mit militärischen Mitteln“ führt dazu, die rechtlichen Grund- Zurück zum heutigen Antrag. Es ist einfach unglaub- lagen des Einsatzes zu vernebeln und sich von rechtlichen lich, mit welcher Chuzpe Sie, die Grünen, hier argumen- Bindungen zu lösen. tieren. Jahrelang haben Sie sich ohne Widerstand von Ih-

Zu Protokoll gegebene Reden 19158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Gert Winkelmeier (A) rem informellen Anführer „an der Nase der humanitären Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: (C) Intervention“ – so der vorwurfsvolle Bundestags-Origi- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nalton Fischer an die Regierung des Bundeskanzlers gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas- Kohl im Jahre 1995 – in Kriege führen lassen, um die Re- sung von Vorschriften auf dem Gebiet des öko- gierungsbeteiligung nicht aufs Spiel zu setzen. Und nun logischen Landbaus an die Verordnung (EG) entdecken Sie Mängel bei der Einhaltung der Standards Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 über des humanitären Kriegsvölkerrechts, die Sie längst hätten die ökologische/biologische Produktion und abstellen können. Denn Sie trugen doch länger Regie- die Kennzeichnung von ökologischen/biologi- rungsverantwortung als die jetzige Koalition. Unter Ihrer schen Erzeugnissen und zur Aufhebung der aktiven Mitwirkung hat doch der Kriegskurs dieses Lan- Verordnung (EWG) Nr. 2092/91 des begonnen. Sie haben doch den Nachkriegskonsens Deutschlands aufgekündigt, dass von deutschem Boden – Drucksache 16/10174 – nie wieder Krieg ausgehen sollte, weil Herr Fischer sonst Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und nicht hätte Außenminister werden können. Allein aus die- Verbraucherschutz (f) sem Grunde haben Sie den Bürgerkrieg im zum Rechtsausschuss Genozid umgelogen und die Basis dafür gelegt, dass Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Art. 26 des Grundgesetzes, das Verbot des Angriffskrie- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die ges, droht, zur Worthülse zu verkommen. Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Damit jetzt keine Missverständnisse aufkommen: Das Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Marlene Mortler, CDU/CSU, Gustav Herzog, SPD, Hans- Anliegen des Antrags unterstütze ich. Selbstverständlich Michael Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die dürfen unsere Soldaten nicht in rechtlichen Grauzonen Linke, Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen. allein gelassen werden. Und selbstverständlich haben Regierung und Bundeswehrführung alles zu tun, um ein völkerrechtlich einwandfreies Verhalten sicherzustellen. Marlene Mortler (CDU/CSU): Da gibt es in der Tat Mängel, die abgestellt werden Wir führen heute zu später Stunde keine Diskussion um müssen. Das gebietet schon allein die Pflicht zur Für- die Henne und das Ei, und wir stellen auch nicht die sorge. Frage, ob Biolebensmittel nun zu einer gesünderen Le- bensweise führen als konventionell produzierte Lebens- Aber – das ist doch der entscheidende Punkt –: Diese mittel. Nein, wir befassen uns heute in erster Lesung mit Fürsorge fängt hier im Deutschen Bundestag an. Hier der Anpassung der Vorschriften des Öko-Landbaugeset- zes und des Öko-Kennzeichengesetzes an die geänderten (B) wird über die Auslandseinsätze der Bundeswehr entschie- (D) den. Und dies darf nur auf einer glasklaren Rechtsgrund- EG-rechtlichen Bestimmungen. Es ist notwendig und er- forderlich, die Märkte zu beobachten und legislative Rah- lage erfolgen. Das ist jenseits der politischen Beurteilung menbedingungen an die Bedürfnisse anzupassen. des Einzelfalls über die Parteigrenzen hinweg unser aller Verantwortung und Verfassungspflicht. Beidem ist die Schauen wir uns einmal die Daten an. 2007 konnte der Mehrheit hier im Parlament seit 1998 nur in Einzelfällen ökologische Landbau in Deutschland sowohl beim Zu- gerecht geworden. Das kann natürlich auch nicht gelin- wachs der ökologisch bewirtschafteten Flächen als auch gen, wenn die eigentlichen Gründe für einen militäri- bei der Zahl der ökologisch wirtschaftenden landwirt- schen Einsatz nicht benannt und stattdessen Vorwände schaftlichen Unternehmen ein deutliches Wachstum er- konstruiert werden. Die erste Lüge gebiert dann automa- zielen. Dies geht aus den Jahresmeldungen der Länder tisch die nächste. über den ökologischen Landbau für 2007 hervor. Sehr gut vertreten war wieder einmal mein Heimatland Bayern. Die Fraktion der Antragsteller hat 1998 mehrheitlich Für das erste Halbjahr 2008 sieht die Lage etwas ernüch- entschieden, dass sich die Piloten der ECR-Tornados an ternder aus. Wachsende Kaufunlust und durch Rohstoff- Operationen beteiligen, die nach den für deutsches Han- engpässe gestiegene Lebensmittelpreise kennzeichnen deln geltenden Normen nicht zulässig waren. Nun fordern aktuell den Markt. sie, dass dies künftig nicht mehr der Fall sein dürfe; und Erste Zeitungsartikel fragen nach dem Anfang vom begründen Ihren Antrag mit der völlig richtigen Aussage: Ende des Biobooms. So schwarz malen möchte ich hier „Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zwingend an das nicht, sondern eher von einer Konsolidierungsphase Völkerrecht ... gebunden.“ Das will ich gerne als Aus- sprechen. Die Branche holt wohl nur Luft für die nächsten druck eines Lernprozesses in der Opposition werten, und Erfolgsmeldungen. Warnen möchte ich diejenigen, die re- ich hoffe, dass ich Sie bei künftigen Entscheidungen nicht volutionäre Neuerungen vom vorliegenden Gesetzent- mehr daran erinnern muss. wurf erwarten und einfordern. Die vorgesehenen Ände- rungen sind lediglich aufgrund von EU-Vorgaben erforderlich. Bewährt hat sich in Deutschland die bun- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: desweite Zulassung privater Kontrollstellen. Diese wer- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf den jetzt mit der Einführung des Elements der Aufgaben- übertragung verknüpft. Drucksache 16/8402 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Die neue Struktur des Ökokontrollsystems der Europäi- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung schen Union wird nunmehr in die amtliche Kontrolle der so beschlossen. Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts so- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19159

Marlene Mortler (A) wie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tier- sen, ob es sich bei dem Import um ein konformes, also der (C) schutz eingebettet. Begrüßenswert ist die durch die EG- EU-Öko-Verordnung entsprechendes Produkt, oder um Öko-Basisverordnung geschaffene neue Möglichkeit, ei- ein gleichwertiges, also nicht zu 100 Prozent der EU- gene nationale Vorschriften für die Kennzeichnung von Öko-Verordnung entsprechendes Produkt handelt. ökologischen Erzeugnissen in Einrichtungen der Außer- Haus-Verpflegung und deren Kontrolle zu erlassen. Wir Erfreulich ist, dass die vorgesehenen Änderungen im wollen dies schnellstmöglich umsetzen. Gesetzentwurf keine finanziellen Auswirkungen auf die allseits belasteten öffentlichen Haushalte haben, und Wenn ich schon beim Thema Kennzeichnung bin, muss dass sie mit keiner Ausweitung der behördlichen Tätigkeit ich kritisch hinterfragen, warum die EU unbedingt ein bei Bund und Ländern einhergehen. Die Union meint es einheitliches verpflichtendes Biosiegel vorschreiben ernst mit dem Thema Bürokratieabbau: Wir sehen daher möchte. Es soll ab 1. Juli 2010 zusätzlich auf alle Pro- den Vorschlag kritisch, eigens einen Beirat zur Interpre- dukte gedruckt werden. Ich sehe für unsere Verbraucher tation und Umsetzung der EU-Öko-Verordnung zu schaf- keine Vorteile. Wichtig ist für mich, das deutsche Biosie- fen. Die Einrichtung eines weiteren Gremiums ist nicht gel weiterzuentwickeln, auch gegen den Widerstand des nötig. Schließlich tauschen sich die zuständigen Referen- Deutschen Einzelhandels und einiger Anbauverbände. ten der Länder ohnehin bei regelmäßigen Treffen intensiv Derzeit enthält das Biosiegel lediglich die Information, über Erfahrungen ihrer Ressorts aus. Ein Mehr an Büro- dass das entsprechende Ökoprodukt nach den Richtlinien kratie ist überflüssig und wird es mit uns nicht geben. der EG-Öko-Verordnung produziert und kontrolliert wurde. Die Transparenz der Herkunft der Ökoprodukte Gustav Herzog (SPD): hat aber eine hohe Bedeutung. Daher ist die ablehnende Wir beraten heute über ein neues Gesetz zur Anpas- Reaktion des Bioland-Verbandes zur geforderten Weiter- sung der Vorschriften für den ökologischen Landbau. entwicklung des Biosiegels völlig unverständlich. Hierbei reden wir über einen der kräftigsten Wachstums- märkte, die wir haben – auf der Welt, in Europa und vor Der Verbraucher hat ein Recht, von allen Bioproduk- allem in Deutschland. Das nach wie vor ungebrochene ten zu erfahren, woher die enthaltenen Nahrungsmittel- Wachstum geht auf eine immer größer werdende Anzahl rohstoffe stammen. Deshalb muss die Angabe über die von Konsumentinnen und Konsumenten zurück, die bereit Herkunft als eigenständige Information in Kombination sind, für Zusatzleistungen höhere Preise zu zahlen. mit dem Biosiegel verpflichtend sein. Hiervon würden alle profitieren: Bauern, Verarbeiter, Handel und Ver- Dass das Umsatzplus im ersten Halbjahr 2008 „nur“ braucher; denn ein Mehr an Transparenz sorgt nicht nur noch 3,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr beträgt – was für eine bessere Information, sondern letztlich auch für manch einer schon gerne als schwächelnden Markt oder mehr Sicherheit. das Ende des Biotraums verkauft – findet seine Ursachen (B) zum großen Teil auch darin, dass wir in diesem Jahr (D) Weiterer Änderungsbedarf im Öko-Landbaugesetz er- schon Angebotsengpässe am Markt verzeichnen. Es wird gibt sich aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs mehr nachgefragt, als nachgeliefert werden kann. Zudem über Niederlassungserfordernisse für Kontrollstellen aus macht sich der allgemeine Rückgang der Kaufkraft be- dem EU-Ausland im Öko-Landbaugesetz. Streichungen merkbar, und das lenkt den Verbraucher auch schon ein- sind hierzu erforderlich. Dies trägt auch Anforderungen mal in die niederpreisigen, aber gleichen Regale. der EU-Dienstleistungsrichtlinie Rechnung. Die konzep- Deutschland hielt auch 2007 mit einem Umsatz von tionellen Überlegungen für die kontinuierliche Überwa- 5,45 Milliarden Euro und einem Bio-Anteil von 3 Prozent chung von Kontrollstellen in Drittländern durch die EU- am gesamten Lebensmittelmarkt mit Abstand Platz 1 der Kommission mit Unterstützung der Mitgliedstaaten ste- größten Absatzmärkte in Europa. Auch wenn andere Mit- cken noch in der Anfangsphase. Dessen ungeachtet ist gliedstaaten in Europa große Zuwächse verzeichnen, ist Deutschland gezwungen worden, die Forderung aufzuge- und bleibt Deutschland die größte und für viele Impor- ben, nur Kontrollstellen mit Sitz oder Niederlassung im teure wichtigste Absatzregion in Europa. Inland zuzulassen. Weiter müssen Straf- und Bußgeldvor- schriften überarbeitet und an die neue EG-Öko-Basisver- Das ist erfreulich, und es ist gewollt. Wir haben diese ordnung angepasst werden. Entwicklung nicht nur als Glanzleistung der beteiligten Wirtschaft beobachtet, sondern auch politisch unterstützt Die Ideen des Bundesrates müssen wir uns in der Aus- und befördert. Das Bundesprogramm Ökolandbau und schussberatung sorgfältig ansehen. Eventuell können sie speziell das Biosiegel hat durch seine geschaffene Trans- dann noch in unsere Beschlussempfehlung mit aufgenom- parenz die Nachfrage nach Bioprodukten verstärkt. men werden. Der Agrarausschuss des Bundesrates hat in seiner Sitzung vom 16. Juni 2008 beispielsweise einen Das Vertrauen der Verbraucher ist eine der wichtigs- Antrag Bayerns mit großer Mehrheit beschlossen. Er ten Grundlagen für den wachsenden Absatz, Vertrauen in sieht vor, dass die Zollbehörden die Kontrollstellen der die Annahme, dass Bioprodukte einen Mehrwert an ge- sellschaftlich gewollten Leistungen für unsere Umwelt Länder über die Einfuhr von Ökowaren aus dem Ausland und die Nachhaltigkeit haben. Dieses Vertrauen ist ge- informieren. Der Antrag Bayerns wurde maßgeblich vom rechtfertigt, und, man darf dabei nicht vergessen, dass Land Hamburg unterstützt, da es Hauptumschlagspunkt der Sektor auch einem strengen Kontrollregime unter- für Importe ist. Die Kontrollstellen würden zeitnah einen liegt. Vertrauen ist gut, Kontrolle noch besser. Überblick erhalten und könnten so ein Risikomanage- ment durchführen. Außerdem würden die Zollbehörden Doch ein Nachfrageüberhang bringt nicht nur stei- ab dem 1. Januar 2009 unterstützt, wenn sie klären müs- gende Preise mit sich, sondern auch unerwünschte Tritt-

Zu Protokoll gegebene Reden 19160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Gustav Herzog (A) brettfahrer, die mit krimineller Energie den schnellen lässt uns zwar wenig Spielraum, doch die bisherige gute (C) Profit suchen und damit des Vertrauen in eine ganze Zusammenarbeit über die Fraktionsgrenzen hinweg Branche riskieren. Hier brauchen wir eine eng verzahnte macht mir Hoffnung auf einen guten und schnellen Ab- Kontrolle, nicht nur der Kontrollstellen, sondern auch ein schluss des parlamentarischen Verfahrens. brancheninternes Selbstverständnis, das Trittbrettfah- rern die Luft dünn werden lässt. Hans-Michael Goldmann (FDP): Auch brauchen wir mehr Landwirte, die auf ökologi- Wegen der geänderten Rechtslage in der EU müssen sche Wirtschaftsweise umstellen und so den Nachfrage- wir das Öko-Landbaugesetz ändern. Ich hätte mir ge- druck abfedern. Der Ökolandbau ist ein wichtiger und wünscht, dass die Regierung die Gelegenheit beim wachsender Teil der Landwirtschaft. 865 000 Hektar der Schopfe packt, die Mängel, die seit über einem Jahr dis- landwirtschaftlichen Nutzfläche in Deutschland wurden kutiert werden, mit dieser Novelle abzuräumen. 2007 ökologisch bewirtschaftet. Das sind 5,1 Prozent, Wir dürften uns doch in diesem Hause alle einig sein, Tendenz weiter steigend, da immer mehr Landwirte se- dass es für eine erfolgreiche Zukunft der ökologischen hen, dass wir es hier mit einem stabilen Markt zu tun ha- Landwirtschaft unerlässlich ist, dass die Verbraucher ben. Vertrauen in die Qualität der Produkte haben. Gerade an- Wir brauchen mehr Landwirte, die umstellen. Nicht gesichts steigender Importe ist es wichtig, dass die Kon- nur, um den Importanteil wieder zu senken und somit die trollen transparent und effektiv sind. Und doch hapert es Vorteile der Regionalität zu stärken, sondern auch, um in dem Gesetzentwurf gerade in diesem Punkt an der not- die gesellschafts- und umweltpolitischen Vorteile nicht zu wendigen Klarheit. exportieren. Wir wollen die Mehrbeschäftigung im ökolo- Sowohl der Bauernverband als auch der Bundesver- gischen Landbau hier haben, wir wollen unsere natürli- band Ökologischer Landbau und die Vereinigung der chen Ressourcen hier schonen, wir wollen die Wertschöp- Kontrollstellen haben bereits im Vorfeld darauf hingewie- fungskette hier ausschöpfen, und wir wollen unserer sen, dass die bisherige Rechtspraxis geprägt ist von Zer- Umwelt Schäden ersparen, unsere Biodiversität schützen splitterung zwischen den einzelnen Bundesländern. Diese und die bunte Vielfalt in unseren ländlichen Räumen be- Zersplitterung wirkt sich natürlich auf die Kontrollstellen fördern. und die auf die Ökobauern umgelegten Kosten aus. Des- wegen ist es dringend erforderlich, einen bundeseinheit- Aus diesen Gründen stehen wir auch jetzt hier; denn lichen Rahmen vorzugeben, um Wettbewerbsnachteile um all dieses zu erreichen, müssen wir auch die rechtli- der deutschen Ökobauern gegenüber der europäischen chen Grundlagen weiterentwickeln. Am 28. Juni 2007 hat Konkurrenz abzubauen. Derzeit haben wir Dreifachprü- der Rat die lange verhandelte EU-Verordnung 834/2007 fungen durch unterschiedliche staatliche Stellen oder In- (B) angenommen. Diese löst die lang und gut gediente Öko- (D) stitutionen, die staatlich überwacht werden. basisverordnung 2092/91 ab. Das macht es notwendig, unser Ökolandbaugesetz in verschiedenen, doch zumeist Selbstverständlich sind die Lebensmittel- und damit unstrittigen Punkten anzupassen. auch die Ökokontrollen Ländersache. Doch bei allem Be- kenntnis zum deutschen Föderalismus dürfen die Die Vorlage der Bundesregierung greift auf, was not- Ökokontrollen nicht in Kleinstaaterei verharren. Die kos- wendigerweise und mit wenig Spielraum umzusetzen ist. tenträchtigen und zeitintensiven Doppel- und Dreifach- Neben den Folgeänderungen aus der neuen Basisverord- prüfungen müssen endlich ein Ende haben. In diesem nung geht es auch um die Umsetzung des anhängigen Punkt muss der Gesetzentwurf dringend nachgebessert EuGH-Urteils zur derzeit vorgeschriebenen Niederlas- werden. sungspflicht ausländischer Kontrollstellen. Die Umset- zung des EuGH-Urteils beschert uns einen sehr engen Auch die Forderung des BÖLW nach einem nationalen Zeitplan für das parlamentarische Verfahren, das wir Beirat für die Interpretation und Umsetzung der EG-Öko- pünktlich zum 1. Januar 2009 umgesetzt haben müssen. Verordnung sollte im Ausschuss noch einmal ernsthaft ge- prüft werden. Denn die Novelle sollte das Ziel haben, die Das war Grund für mich, schon frühzeitig die Gesprä- Überregulierung abzubauen, die Prüfqualität effizienter che aufzunehmen, nicht nur überfraktionell hier im zu erreichen und damit die Kontrollen kostengünstiger Hause sondern auch mit den Wirtschaftsbeteiligten und und transparenter zu gestalten. der Bundesregierung. Besonderes Augenmerk bekam hier die vielfach heterogene Umsetzung und Interpretation Im Übrigen muss künftig auch verhindert werden, dass der Kontrollvorschriften durch die Länder und die ungeprüfte angebliche oder tatsächliche Ökoprodukte in schwierige Lage der beauftragten Kontrollstellen. Beson- den Markt gelangen; das setzt die Glaubwürdigkeit der ders in verschiedenen Bundesländern tätige Kontrollstel- gesamten Branche aufs Spiel. len berichten von erheblichen Problemen, für die wir Im weiteren Verfahren gilt es also noch, intensiv in den noch nach Lösungen suchen. Auch prüfen wir noch ver- Gesetzestext einzusteigen, um die erkannten Schwächen schiedene Möglichkeiten, um die Kontrollqualitäten noch auszuräumen. Es bleibt zu hoffen, dass die Große Koali- besser zu machen, als sie heute schon sind, ohne einen tion sich einsichtig zeigt. Zusatzaufwand zu produzieren. Hierüber und über die Vorschläge der Länder werden Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): wir in den Ausschussberatungen ausführlich beraten, um Es gab nicht viele Beispiele für einen derart geschlos- in der Sache konstruktiv weiterzukommen. Der Zeitdruck senen inner- und außerparlamentarischen Protest gegen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19161

Dr. Kirsten Tackmann (A) einen Verordnungsvorschlag der EU-Kommission wie vor weise wieder zunichte gemacht wird. Wo es dennoch ei- (C) einem Jahr gegen den Entwurf einer neuen Verordnung nen Zugewinn gibt, ist das auch in Ordnung. Nur redu- zum ökologischen Landbau. Dieser Protest hat zu Verän- ziert sich damit auch die Bereitschaft, ökologisch zu derungen geführt, die auch für deutsche Bio-Bäuerinnen wirtschaften. Anders gesagt: Die Umstellungsförderung und -Bauern sowie Verbraucherinnen und Verbraucher und die Marktanreize für den Ökolandbau haben in der tragbar sind. EU-Verordnungen müssen auf nationaler bisherigen Höhe keine ausreichende Wirkung mehr. Für Ebene umgesetzt werden. Der hier vorliegende Gesetz- Die Linke bedeutet das, dass positive Potenziale für Ein- entwurf dient der Umsetzung der neu gefassten EU-Ver- kommen und Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen ordnung zur Kontrolle und Kennzeichnung von Ökopro- nicht genutzt werden. Ökolandbau ist auf die Fläche und dukten. die Tierhaltung bezogen arbeitsintensiver und bringt we- gen des höheren Preisniveaus der Erzeugnisse eine hö- Dass die EU-einheitliche Kennzeichnung von Ökopro- here Wertschöpfung. Die betrieblichen Einkommen der dukten auf das Jahr 2011 verschoben wird, kann man be- Biobetriebe lagen in den Agrarberichten der letzten Jahre dauern. Aber es ist immer noch die bessere Entscheidung immer deutlich über denen der konventionellen Ver- angesichts der Situation, dass es noch immer kein einheit- gleichsbetriebe. Nur reicht das allein offensichtlich nicht, liches Siegel gibt, das in der Lage ist, die Kriterien in um mehr Betriebe zur Umstellung zu motivieren. Sachen Verbrauchervertrauen und Erkennbarkeit zu er- füllen. Die Kommission hat nun vorgeschlagen, der Ent- Denn die zwei- bis dreijährige Umstellungszeit ist sehr wicklung eines Siegels mehr Zeit zu geben und diese mit schwierig: Das Ertragsniveau sinkt, die Ernte darf nur einem EU-weiten Wettbewerb zu verbinden. Wir werden als Umstellungsware verkauft werden, und das optimale darauf achten, dass das dann auch zu einem akzeptablen und standortangepasste Bewirtschaftungssystem muss oft Ergebnis führt. Der Markt für Ökoprodukte boomt. Über erst entwickelt werden. Eine schwierige Phase, die mit die vergangenen Jahre konnten zweistellige Zuwachsra- hohen Risiken verbunden ist, auch wegen fehlender Kon- ten im Verbrauch registriert werden. Es gibt hierzulande tinuität und Verlässlichkeit der politischen Rahmenbedin- unterdessen kein Unternehmen im Lebensmitteleinzel- gungen. Auf der anderen Seite wächst die Nachfrage nach handel mehr, das nicht Ökoprodukte anbietet. Das ist Ökoprodukten, und das nicht nur in Deutschland, auch durchaus eine erfreuliche Entwicklung und widerspricht andere EU-Länder ziehen nach, allen voran Skandina- so mancher Behauptung, den Menschen wäre es letztlich vien, Tschechien, aber auch die Beneluxstaaten und egal, was sie essen, Hauptsache es ist billig. Wobei die Frankreich. Ökoprodukte werden inzwischen in ganz allgemeine Armutsentwicklung die Entscheidungsspiel- Europa produziert und konsumiert. Ein einheitliches räume vieler Menschen deutlich einschränkt. Regelwerk für die Erzeugung und Vermarktung von Öko- produkten in Europa ist daher unumgänglich und eine zü- Dennoch ist es Realität: Nicht zuletzt aufgrund eines (B) gige nationale Umsetzung im Interesse aller. Minister (D) staatlich anerkannten Kontrollsystems genießen Ökopro- Seehofer muss darüber hinaus dazu beitragen, dass der dukte ein großes Vertrauen bei den Verbraucherinnen und einheimische Ökolandbau seine sozialen und ökologi- Verbrauchern. In den vielen Kontrolluntersuchungen, die schen Potenziale erschließen kann. zum Beispiel für Obst, Gemüse oder Fleisch außerhalb der biointernen Richtlinienkontrollen laufen, fallen Bio- produkte meist positiv auf. Wobei hier nicht nur die Qua- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lität der Produkte, sondern die ökologische Erzeugung im Der Biomarkt in Deutschland boomt. Das vierte Jahr Mittelpunkt steht. in Folge wachsen die Umsätze für Bioprodukte zweistel- lig. 2007 waren es 15 Prozent. Ein Segen für unsere Land- Dieser großen Beliebtheit auf dem Lebensmittelmarkt wirtschaft? Leider nein. Die Schere zwischen Kunden- hinkt die einheimische Erzeugung von Bioprodukten hin- nachfrage und Angebot an deutschen Bioprodukten geht terher. Das Wachstum in der landwirtschaftlichen Erzeu- immer weiter auseinander. Denn die Zahl ökologisch gung und in der Weiterverarbeitung stagniert. Die Folge: wirtschaftender Betriebe erhöhte sich nur um 2,8 Pro- Immer mehr Ökoprodukte und auch Rohstoffe werden im- zent. portiert. Das ist bedauerlich, liegt der Flächenanteil bun- desweit doch gerade einmal bei 5 Prozent. Die ideologische Landwirtschaftspolitik der Union verschenkt lieber Jahr für Jahr Marktanteile ans Aus- Die Linke unterstützt das Ziel, das schon von der rot- land, anstatt mit einer dringend benötigten Erhöhung der grünen-Regierung formuliert wurde, bis 2020 einen An- Umstellungs- und Beibehaltungsprämie den deutschen teil von 20 Prozent Bio auf dem Acker zu haben. Nur muss Bauern neue Einkommensmöglichkeiten zu sichern. seitens der Politik mehr getan werden, um dieses Ziel zu erreichen. Als neue Barriere erweisen sich übrigens die Besonders gravierend sind für die Biobauern die der spekulativen Pacht- und Bodenpreiserhöhungen, zu de- Kompromisspolitik von Bundeskanzlerin Merkel geschul- nen auch der Verkauf ehemals volkseigener Flächen deten massiven Kürzungen der Gelder für die sogenannte durch die BVVG beiträgt. Gerade der Ökolandbau ist auf zweite Säule der gemeinsamen Agrarpolitik. Seit 2007 eine verlässliche Verfügbarkeit des Bodens angewiesen. fehlen damit für die ländlichen Räume jährlich 300 Mil- lionen Euro EU-Mittel und weitere 100 bis 200 Millionen Steigende Preise für konventionelle Agrarrohstoffe Euro aus den Etats von Bund und Ländern. und die Verdienstmöglichkeiten durch das Energie-Ein- speise-Gesetz haben die Verdienstoptionen für die Land- Bund und Länder haben den Rotstift bei den Prämien wirtschaftsbetriebe erweitert, auch wenn die Wirkung für Ökolandwirte angesetzt. Ökobetriebe mussten ab durch explodierende Betriebsmittel- und Pachtpreise teil- 2007 auf bis zu 40 Prozent ihrer Förderung verzichten.

Zu Protokoll gegebene Reden 19162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Cornelia Behm (A) Diese drastische Verschlechterung der Wettbewerbsbe- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es (C) dingungen schreckt nun Landwirte von der Umstellung dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. ab, obwohl sie die wachsende Nachfrage gerne bedienen Dann ist die Überweisung so beschlossen. würden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, legen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Sie endlich Ihre ideologischen Scheuklappen ab und richts des Ausschusses für Menschenrechte und schauen Sie auf die Fakten. Die herausragenden Leistun- humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag gen des Ökolandbaus für Klima, Umwelt und Natur, für der Abgeordneten Michael Leutert, Hüseyin- die Entwicklung der ländlichen Räume weltweit sowie für Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abge- die Ernährungssicherung und Lebensmittelqualität sind ordneter und der Fraktion DIE LINKE klar und deutlich belegt. Beenden Sie Ihre Blockade der dringend benötigten finanziellen Aufstockung der zweiten Für die soziale Rehabilitation von Kindersol- Säule im Rahmen der aktuellen Überprüfung der europäi- daten eintreten schen Agrarpolitik. Beenden Sie endlich Ihre fadenschei- nige Argumentation um die Verlässlichkeit. Denn den – Drucksachen 16/6358, 16/8789 – Landwirten, die sich mit der Erbringung gesellschaftli- Berichterstattung: cher Leistungen zum Beispiel im Bereich des Naturschut- Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen) zes, ein zweites Standbein erarbeitet hatten, haben Sie mit Christoph Strässer den Kürzungen bei der zweiten Säule jegliche verlässli- Burkhardt Müller-Sönksen che Grundlage entzogen. Ihre Politik ist keine Bauernpo- Michael Leutert litik, sondern Klientelpolitik für rationalisierte Großbe- Volker Beck (Köln) triebe und die Agrarindustrie, und zwar auf Kosten der bäuerlichen Betriebe und der Landwirte, die im Einklang Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die mit der Natur wirtschaften wollen. Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hartwig Auch das heute vorliegende Öko-Landbaugesetz ist Fischer (Göttingen), CDU/CSU, Angelika Graf (Rosen- kein Ruhmesblatt. Obwohl die Ökobranche uns eindrück- heim), SPD, Burkhardt Müller-Sönksen, FDP, Michael lich auf Probleme mit dem Gesetz hinweist, lehnen Sie es Leutert, Die Linke, Volker Beck (Köln), Bündnis 90/Die ab, gemeinsam mit den Länderagrarministern noch ein- Grünen. mal nachzubessern. So bestehen in Deutschland seit geraumer Zeit erheb- Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): (B) liche Probleme mit der uneinheitlichen Interpretation der Wir debattieren hier heute über den Antrag der Frak- (D) EG-Öko-Verordnung, sei es bei der Biokennzeichnung tion Die Linke mit dem Titel „Für die soziale Rehabilita- von verarbeitetem Fisch aus Wildfang, der Etikettierung tion von Kindersoldaten eintreten“. Aber leider steckt in von Ökolebensmitteln oder der Verwendung von Aromen. dem Antrag nicht einmal ansatzweise das drin, was oben Entscheidungen hierzu werden auf den Verwaltungsebe- draufsteht. nen der Länder und nicht im Bund und schon gar nicht in Nein, vielmehr benutzt die Fraktion Die Linke das Zusammenarbeit zwischen Behörden, Branche und Wis- Thema Kindersoldaten, um Ihre antiamerikanischen An- senschaft getroffen. Diese uneinheitliche Interpretation sichten kundzutun. führt jedoch zu enormen Wettbewerbsverzerrungen und damit zu Nachteilen für die Branche. Im Antrag wird das Schicksal des jungen Omar Khadr beschrieben, welcher als 15-jähriger Kindersoldat durch Im Gesetz wird außerdem versäumt, die Rolle und die die amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan gefangen Aufgaben der Kontrollstellen sowie die Rechte und genommen und in Guantánamo inhaftiert wurde. Mehr ist Pflichten der Unternehmen im Rahmen der Kontrolle zu dem Thema „Kindersoldat“ und „Rehabilitierung“ in rechtssicher zu definieren. Dies zementiert die sehr unter- dem Antrag nicht zu lesen. schiedliche Handhabung in den Bundesländern, die in der Branche und bei den Kontrollstellen zu hohen zusätz- Vielmehr macht die Linke nochmals deutlich, dass sie lichen Belastungen und Unsicherheiten führt. noch heute den Ansichten der SED nachhängt, die in den Vereinigten Staaten von Amerika den Erzfeind gesehen Ein Problem stellt auch dar, dass es keinen Überwa- hat. Aber der Kalte Krieg ist zum Glück vorbei. chungsmechanismus gibt, um Unternehmen, die ihre Pro- dukte als „Bio“ bezeichnen, obwohl sie nicht nach EG- Durch den Antrag wird nicht nur das Thema Kinder- Öko-Verordnung kontrolliert werden, zu identifizieren soldaten missbraucht, nein, er ist auch noch schlecht re- und zu sanktionieren. cherchiert. Es wird nämlich einfach nicht erwähnt, dass der angesprochene Omar Khadr bereits volljährig ist. Bessern Sie deshalb nach. Schaffen Sie gleiche Bedin- Des Weiteren ist Herr Khadr kanadischer Staatsbürger, gungen für die deutschen Ökolandwirte und die Herstel- und Kanada hat sich bis heute geweigert, Herrn Khadr in ler von Bioprodukten in allen Bundesländern. Kanada aufzunehmen. Allein das zeigt, dass dieser An- trag so schlecht und widersprüchlich ist, dass die Linke Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht wirklich erwarten kann, dass die Fraktionen dieses Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Hauses auf einen solchen populistischen Antrag herein- wurfs auf Drucksache 16/10174 an die in der Tagesord- fallen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19163

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) Und ich muss Ihnen sagen, dass das Thema dafür viel sind wir sicher alle –, oder zu der im Text geäußerten Auf- (C) zu wichtig ist. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen forderung, die USA darauf aufmerksam zu machen, dass werden weltweit noch immer 250 000 Kinder als Soldaten die inhaftierten Minderjährigen in Guantanamo entlas- missbraucht. Besonders gravierend ist die Situation in sen werden müssen, oder zur Forderung, dass die Bun- Ländern wie Kolumbien, Burma oder der Demokrati- desregierung die Vereinigten Staaten an die Einhaltung schen Republik Kongo. Erst gestern erreichten uns neue des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen über die Nachrichten, dass im Osten der Demokratischen Repu- Rechte des Kindes erinnern soll? blik Kongo Hunderte von Kindern verschollen sind. Es wird berichtet, dass die Kinder durch die Rebellengruppe Den Eiertanz der Linken, wie er sich während der An- von Laurent Nkunda entführt worden sind und nun als tragsberatungen im Ausschuss für Menschenrechte und Kindersoldaten oder Sexsklaven missbraucht werden. humanitäre Hilfe zugetragen hat, möchte ich gern an die- ser Stelle darlegen: Die Fraktion Die Linke wollte nicht Aber Deutschland verschließt seine Augen nicht vor akzeptieren, dass wir den Antrag mit dem Verweis auf ei- dieser Tatsache. Ich selber habe im Grenzgebiet zwischen nen unpassenden Titel ablehnen würden. Sie meinten, sie Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo Pro- hätten den Antrag aber ganz bewusst auf Kinder, die in jekte der Gesellschaft fürTechnische Zusammenarbeit Guantanamo inhaftiert sind, abgestellt. Erinnern Sie sich – GtZ – besucht, die Kindersoldaten resozialisieren. Das an den Titel Ihres eigenen Antrages? Guantanamo kommt geht allerdings nur, wenn sich die Anführer der Rebellen darin nicht vor. und somit der Kindersoldaten ergeben. Erst dann haben die Kinder die Möglichkeit, in die Gemeinschaft zurück- Weiter argumentierten Sie, dass die Forderung, zukehren, aus der sie oft geraubt wurden. Guantanamo zu schließen, zu einer Ablehnung des Antra- ges geführt hätte. Als Begründung hätten wir vorgetra- Auf diesem schweren Weg müssen wir die Kinder un- gen, dass dies im Ausschuss schon mehrmals untermauert terstützen. Wir müssen ihnen zeigen, dass es ihnen nicht worden ist. Das ist korrekt. Aber ich frage Sie: Muss man besser geht, wenn sie eine Waffe in der Hand halten. Wir Dinge, die man längst festgeschrieben hat, wirklich im- müssen ihnen in ihrer jeweiligen Gesellschaft Wege auf- mer wieder beschließen? zeigen, auf denen sie sich entwickeln können. Und da hilft uns ein solcher Antrag, wie ihn heute die Linke hier vor- Lassen Sie mich Folgendes klarstellen: Wir, die Frak- legt, nicht weiter. tion der SPD und auch die Bundesregierung, wollen, dass Guantanamo endlich geschlossen wird. Die Bundeskanz- Ich glaube, dass ich hier für fast alle Abgeordneten des lerin und der Bundesaußenminister haben das in Gesprä- Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe chen mehrfach gegenüber der amerikanischen Regierung sagen kann, dass wir eine Position bezüglich der Kinder- deutlich gemacht. Diese Ansicht teilen wohl alle hier im (B) soldaten haben, die weit über diesen Antrag hinausgeht. Bundestag vertretenen Fraktionen. Dieses Lager hätte (D) Wir verurteilen den Missbrauch von Kindern als Kinder- niemals eröffnet werden dürfen. Dort werden alle Men- soldaten zutiefst. Daher muss es in unserem Interesse schenrechte mit Füßen getreten. Guantanamo ist eines sein, dass Thema ernst zu diskutieren. Wir müssen es auch demokratisch gewählten amerikanischen Präsidenten bei unseren Besuchen in den Ländern und bei Regie- und der Regierung der ältesten Demokratie der Welt un- rungsgesprächen ansprechen. Nur so und nicht durch sol- würdig und schädigt das Ansehen der westlichen Welt che hetzerischen Anträge wie der der Linken können wir nachhaltig immens. eine Verbesserung für die Kinder vor Ort erreichen. Und gerade weil wir uns da alle einig sind, finde ich es sehr bedauerlich, dass Sie diese Angelegenheit populis- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): tisch zweckentfremden, denn die fehlende handwerkliche Im vorliegenden Antrag geht es nicht, wie der Titel Qualität bei der Erstellung Ihres Antrages zeigt, dass Sie glauben macht, allgemein um die soziale Rehabilitation dieses Thema leider nicht so ernst nehmen, wie wir alle es von Kindersoldaten. Vielmehr wird das bedauerliche sollten. Schicksal eines minderjährig inhaftierten und aus Afgha- nistan nach Guantanamo verschleppten kanadischen Den jungen Mann, Omar Khadr, den Sie in ihrem An- Staatsbürgers herangezogen, um daraus abgeleitet an die trag erwähnen, hat ein solches Schicksal ereilt, dass wohl Bundesregierung allgemeine Forderungen bezüglich des keiner von uns mit ihm tauschen wollte. Sein Beispiel in Umgangs mit den USA zu stellen. Ihrem Antrag aufzugreifen, ist aus mehreren Gründen dennoch schwierig: Er war zum Zeitpunkt seiner Verhaf- Ich bin der Meinung, dass es einer im Parlament ver- tung 15 Jahre alt, also minderjährig. Wäre er als Minder- tretenen Partei möglich sein muss, einen von ihr formu- jähriger entlassen worden, hätte sich seine Rückführung lierten Antrag auch mit einem Titel zu versehen, der hält wohl einfacher gestaltet. Doch heute ist er volljährig. was er verspricht und nicht in die Irre führt. Ein irrefüh- Und genau hier liegt das Problem, denn die Kanadier render Titel ist für mich bereits ein hinreichender Grund, verlangen erst eine gerichtliche Verhandlung, weil sie ei- einen Antrag abzulehnen. nen verurteilten Terroristen nicht mehr zurücknehmen wollen, einen unschuldig Verschleppten aber wohl. Ein Warum sehe ich das so hart? Es ist wirklich schwierig, solches Verfahren scheint aber noch immer in weiter zu Ihrem Antrag Stellung zu nehmen. Denn wozu sollen Ferne zu liegen. wir eigentlich Stellung nehmen? Sollen wir zu Ihrer in der Überschrift geäußerten angeblichen Absicht Stellung Sie sehen, wie schwierig dieses Feld und jeder Einzel- nehmen, Kindersoldaten sozial zu rehabilitieren – dafür fall sind. Rechtspolitisch gesehen ist dieser Fall bei-

Zu Protokoll gegebene Reden 19164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Angelika Graf (Rosenheim) (A) spielsweise eine Angelegenheit zwischen den Kanadiern suchs, die Vermeidung von Familientrennungen, (C) und den USA. Deutschland ist sich – der fehlenden for- Früherkennungs-, Schutz- und Zusammenführungs- malen Zuständigkeiten zum Trotz – seiner moralischen programme für Kinder, die von ihren Familien ge- Verantwortung bewusst und aus diesem Grunde nicht un- trennt wurden, sowie Bildungs- und Berufsausbil- tätig. Der Außenminister und die Bundeskanzlerin brin- dungsprogramme erreicht werden. gen dieses Thema in diplomatischen Gesprächen immer wieder mit dem Blick fürs Ganze aufs Tableau. In ihrem Antrag fordert Die Linke, die USA dazu auf- zufordern, ihren Verpflichtungen nachzukommen, die sich Ich hoffe sehr, dass ein neuer US-Präsident die Situa- aus der Unterzeichnung des Fakultativprotokolls zum tion wandelt und dass die USA ihren Verpflichtungen, die Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend sich aus dem Fakultativ-Protokoll zum Übereinkommen die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten über die Rechte des Kindes ergeben, nachkommen, ergeben. Die Linke bezieht sich auf den Fall des kanadi- Guantanamo schließen, den Verschleppten ein rechts- schen Staatsbürgers Omar Khadr, der 15-jährig von der staatliches Verfahren vor einem ordentlichen Gericht er- US-Armee nach einem Angriff in Afghanistan festgenom- möglichen, die Unschuldigen entschädigen und die tat- men und später nach Guantánamo gebracht wurde. Da sächlich Schuldigen bestrafen. die USA gemäß Art. 6 Abs. 3 des Fakultativprotokolls zum Zeitpunkt der Festnahme Hoheitsgewalt über den Inhaf- Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): tierten ausübten, waren sie verpflichtet, erforderlichen- Wir sind uns alle darin einig, dass wir Politikerinnen falls jede geeignete Unterstützung zur physischen und und Politiker uns mit allen zur Verfügung stehenden Mit- psychischen Genesung und sozialen Wiedereingliederung teln gegen Menschenrechtsverletzungen jeglicher Art zu ergreifen. Omar Khadr soll von den USA freigelassen einsetzen müssen. Dies trifft insbesondere für Kinder als und als ehemaliger Kindersoldat wieder in die Gesell- eine besonders schutzbedürftige Gruppe zu. Im Einklang schaft integriert werden. mit der Kinderrechtskonvention der VN von 1990 und den menschenrechtlichen Grundsätzen der Freien Liberalen Leider ist es der FDP-Bundesfraktion nicht möglich, setze ich mich neben der Schutzbedürftigkeit auch für die diesen Antrag zu unterstützen. Lassen Sie mich dies kurz Rechtsansprüche von Kindern ein. erläutern: Die Fraktion Die Linke greift in ihrem Antrag die Pro- Erstens. Wir fordern eine umfassende Auseinanderset- blematik der Kindersoldaten auf. Im Positionspapier der zung bezüglich der Einbeziehung von Minderjährigen in FDP-Bundestagsfraktion „Menschenrechte. Universal, Kampfhandlungen, wo auch immer diese geschehen. Eine unteilbar, bedroht“ setzen wir uns intensiv mit dem Konzentration auf Einzelfälle, wie sie hier im Antrag der (B) Thema auseinander: Linken vorgestellt werden, entspricht nicht dem Ausmaß (D) dieser brisanten Menschenrechtsverletzung an Kindern Es ist in vielen Ländern trauriger Alltag, dass Kin- und Jugendlichen. An dieser Stelle verweise ich auf den der als Kindersoldaten – darunter bis zu 40 Prozent umfangreichen Bericht „Global Report 2008“ der Coali- Mädchen – missbraucht werden. Ihre Zahl wird auf tion to Stop the Use of Child Soldiers, einem Zusammen- weltweit rund 300 000 geschätzt, wobei nicht nur schluss internationaler Organisationen. Dieser Bericht Rebellengruppen wie die „Lord’s Resistance Army“ dokumentiert die Rekrutierungspraxis und den Einsatz (LRA) in Uganda, minderjähriger Soldaten sowie ihre Entlassung und – aktuelle Anmerkung: Erst am 23. September 2008 be- Reintegration in 197 Ländern. richtete dpa, dass ugandische Rebellen 90 Kinder in Zweitens. In Bezug auf die Kinderrechte in den Verei- Nordostkongo verschleppten und sie mit hoher Wahr- nigten Staaten von Amerika fordern wir nachdrücklich scheinlichkeit zum Kämpfen gezwungen werden –, eine vorbehaltlose Ratifizierung der Kinderrechtskon- die „Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colom- vention der Vereinten Nationen durch die USA. Es ist für bia“ (FARC) in Kolumbien oder Milizen im Kongo uns Liberale in keiner Weise zu akzeptieren, dass die USA Kinder rekrutieren, sondern auch einige reguläre als eines der weltpolitisch bedeutendsten Länder die Kin- Armeen, wie zum Beispiel die Streitkräfte in Burma/ derrechtskonvention nicht unterstützen und neben Soma- . Oftmals werden sie vergewaltigt und un- lia zu den beiden letzten Ländern gehören, die dieser fast ter dem Einfluss von Drogen zum Kämpfen gezwun- universell unterzeichneten VN-Konvention nicht beige- gen. Diese menschenverachtende Praxis einiger treten sind. Bürgerkriegsparteien steht in eklatantem Wider- spruch zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung Drittens. Außerdem geht uns der Antrag nicht weit ge- der Vereinten Nationen sowie zum Internationalen nug. Die FDP steht den Haftgründen und den Haftbedin- Pakt für bürgerliche und politische Rechte. gungen in Guantánamo kritisch gegenüber und plädiert schon länger für eine sofortige Schließung des US-Ge- Auf dieser Grundlage fordern wir Liberale, dass fängnisses auf Kuba. Dieser Aspekt kommt im Antrag „der Einsatz von Kindersoldaten von den UN er- überhaupt nicht zur Sprache. fasst und vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag konsequent verfolgt werden muss. Eine Der Antrag der Linken ist für uns Liberale somit ins- effektive Prävention gegen ungesetzliche Rekrutie- gesamt nicht weitgehend genug. Er lässt viele Aspekte un- rung kann durch die Sicherstellung des Schulbe- beachtet und ist deshalb abzulehnen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19165

(A) Michael Leutert (DIE LINKE): dass sich der Antrag der Linken auf Minderjährige be- (C) Mit der Ablehnung des von der Linken eingebrachten zieht, der im Antrag benannte Mensch nunmehr jedoch Antrages, sich für Omar Kahdr einzusetzen, beweist die volljährig sei. Hier aber übersieht die SPD Punkt zwei Große Koalition einmal mehr, dass sie bei Menschen- unseres Antrages. rechtsverletzungen mit zweierlei Maß misst. Gerade vor dem Hintergrund der Geschichte dieses Guantanamo- Wir sind uns wohl darüber einig, dass die Pubertät ein Häftlings erscheint mir eine auch nur irgendwie geartete einschneidender Abschnitt im Leben eines Menschen ist. juristische wie auch politische Abwägung unangebracht. Wenn man diese Zeit dann auch noch in Guantanamo ver- bringen muss, ist dies wohl nicht sehr förderlich. Dieser junge Mann hat wahrscheinlich in Afghanistan an Gefechten gegen Truppen der USA teilgenommen. Da Omar Kadhr nun in Guantanamo volljährig ge- Aber dieser junge Mann war zum Zeitpunkt der Kämpfe worden ist, glaubt die SPD nunmehr, den Antrag ableh- gerade einmal 15 Jahre alt. Sieht man sich dazu seine nen zu können. Durch den Fall Omar Kadhr wird exem- Biografie etwas genauer an, dann wird auch schnell klar, plarisch gezeigt, wie im Kampf gegen den sogenannten warum er da kämpfte, wo er kämpfte. internationalen Terrorismus Menschenrechte keinerlei Beachtung mehr finden und selbst auf besonders Schutz- Es ist gute deutsche Rechtstradition, gerade im Ju- bedürftige keine Rücksicht mehr genommen wird. Die gendstrafrecht und auch im Jugendstrafvollzug zum einen Intention hinter diesem Antrag bleibt aber, zum einen den Grundsatz der Resozialisierung und Erziehung in den Minderjährige sofort freizulassen, und zum anderen Men- Mittelpunkt zu stellen und sich zum anderen im Gerichts- schen, die zur Zeit ihrer Inhaftierung minderjährig wa- prozess die Biografie des beschuldigten Minderjährigen ren, die Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen, die genauer anzusehen, um die Geschichte, wie und warum sie ohne Zweifel benötigen und zu denen sich die Völker- er zur Straftat gekommen ist, zu verstehen. Ich denke, Sie rechtsgemeinschaft im benannten Fakultativprotokoll stimmen mir zu, wenn ich behaupte, dass Guantanamo verpflichtet hat. diese Anforderungen nicht erfüllt. Es ist und bleibt Aufgabe des Parlamentes, die Regie- Natürlich habe ich zur Kenntnis genommen, dass Sie rung hierzu zu verpflichten. Guantanamo missbilligen und die Schließung des Lagers fordern. Nur wird diese allgemeine Forderung genau die- Dass dies nicht geschehen ist, dass Koalition, FDP sem Einzelfall, diesem jungen Mann nicht gerecht. Hier und Grüne diesem jungen Mann die ihm zustehende Hilfe hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich für diesen jungen versagten, bleibt rätselhaft. Ich habe dafür keine Erklä- Mann stark machen und die Bundesregierung auffordern, rung. Die vorgebrachten Gegenargumente können nicht sich für eine schnellstmögliche und rechtsstaatlich ange- überzeugen. Sie sind zynisch. (B) messene Lösung des Falls einzusetzen. (D) Und dies kann nur heißen: Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Zahl der Kindersoldaten wird weltweit auf Erstens. Die USA muss nachdrücklich aufgefordert 250 000 geschätzt. Minderjährige werden dabei sowohl werden, alle durch sie in Guantanamo inhaftierten Min- von regulären Armeen als auch von Rebellengruppen re- derjährigen freizulassen und geeignete Maßnahmen zur krutiert. In den meisten Fällen handelt es sich um sozialen Wiedereingliederung zu ergreifen. Zwangsrekrutierungen. Größte Anstrengungen sind not- Zweitens. Die USA muss nachdrücklich aufgefordert wendig, um den Minderjährigen, die heute in bewaffneten werden, ihren Verpflichtungen, die sich aus dem Fakulta- Konflikten als Soldaten eingesetzt werden, die Rückkehr tivprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des in ein ziviles Leben zu ermöglichen. Kindes betreffend die Beteiligung an bewaffneten Kon- Auch in der Bundesrepublik leben Kindersoldaten. Seit flikten ergeben, nachzukommen. 1991 hält die Bundesregierung ihren Vorbehalt gegen die Schaut man sich jedoch Beschlussempfehlung und Be- UN-Kinderrechtskonvention aufrecht und verweigert da- richt des Ausschusses zum Antrag genauer an und ver- durch Flüchtlingskindern international anerkannte Min- sucht man, die Argumente, die SPD und Grüne im Aus- destrechte. Der mehrfachen Aufforderung durch den Bun- schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gegen destag, diese Vorbehaltserklärung zurückzunehmen, den Antrag vorbringen, nachzuvollziehen, dann kann verweigert sich die Bundesregierung. Damit bleibt die man nur verwundert den Kopf schütteln. Zum einen argu- Möglichkeit, Flüchtlingskinder weiter drangsalieren zu mentiert die SPD, dass sie generell für die Schließung von können, bestehen. Guantanamo ist und deshalb keine Einzelforderungen Der Umgang der deutschen Behörden mit geflüchteten aufgestellt werden dürfen, die man nicht überblicken Kindersoldaten ist beschämend. Dies gilt selbst dann, kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich wenn die Kinder schlimmste körperliche und seelische traue ihnen ohne Weiteres zu, diesen konkreten Fall zu Verletzungen erlitten haben, bei der Rückkehr in ihr Land überblicken. verfolgt würden und unter Lebensgefahr stünden. Sie Der dem Antrag zugrunde liegende Sachverhalt ist so werden in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen nicht klar und eindeutig, dass die Gegenargumente seitens der als Flüchtlinge anerkannt, sondern erhalten eine Dul- SPD nur vorgeschoben sein können. dung, also eine ausgesetzte Abschiebung. Ein weiteres Argument, welches von der SPD vorge- Auf die Große Anfrage unserer Fraktion zum Thema bracht worden ist, um dem Antrag nicht zuzustimmen, ist, Kinderrechtskonvention antwortete die Bundesregierung

Zu Protokoll gegebene Reden 19166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Volker Beck (Köln) (A) im Juli 2007, dass sie eine Rücknahme dieses Vorbehalts Überweisungsvorschlag: (C) gegen die UN-Kinderrechtskonvention zum einen für Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss nicht erforderlich, zum anderen für „migrationspolitisch Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit bedenklich“ halte, „da sie zu einem Anstieg der Einreise unbegleiteter minderjähriger Ausländer“ führen könne. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Dies ist zynisch und inhuman. Wer aufgrund des Titels des diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Antrages der Linken „Für die soziale Rehabilitation von Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich Kindersoldaten eintreten“ erwartet hat, der Antrag um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: würde sich mit Kindersoldaten und den Herausforderun- Enak Ferlemann, CDU/CSU, Petra Weis, SPD, Patrick gen ihrer Rehabilitation beschäftigen, wird enttäuscht. Döring, FDP, Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen Eines ist klar: Omar Khadr und auch die anderen in- Staatssekretärs Uli Kasparick.1) haftierten Minderjährigen müssen endlich aus Guanta- namo freigelassen und bei ihrer Rehabilitation unter- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- stützt werden. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung wurfs auf den Drucksachen 16/10292 und 16/10332 an dies gegenüber den USA deutlich machen würde. Das Vi- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- deo der Befragung von Omar Kahdr, das vor kurzem ver- schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das öffentlicht wurde, zeigt, dass in Guantanamo nicht nur ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- gegen geltendes US-Recht verstoßen wird, sondern auch sen. gegen jegliches internationales Recht zum Schutz von Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf: Kindern. Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Gleichwohl präsentiert die Linke mit ihrem Antrag Lazar, Volker Beck (Köln), Kai Gehring, weiterer einmal mehr eine Mogelpackung. Man nimmt Ihnen Ihr Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Engagement für Omar Khadr nicht ab. Das Thema Kin- DIE GRÜNEN dersoldaten wird von Ihnen nur benutzt, um die USA zu kritisieren. Das ist schäbig. Bei aller Anteilnahme am Verbot der Nazi-Jugendorganisation „Heimat- Schicksal von Omar Khadr findet sich in dem Antrag kein treue Deutsche Jugend e.V.“ prüfen einziges Wort der Verurteilung der Taliban für deren Ein- – Drucksache 16/9801 – satz jugendlicher Kämpfer. Kein einziges Wort geht auf Überweisungsvorschlag: die 250 000 Kindersoldaten ein, die übrigens auch in ehe- Innenausschuss (f) mals sozialistischen Bruderstaaten wie Angola oder Rechtsausschuss Finanzausschuss (B) Birma zum Einsatz gekommen sind, kein Wort geht auf die (D) skandalöse Haltung der Bundesregierung zur Kinder- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend rechtskonvention ein. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Meine Fraktion wird sich bei der Abstimmung über Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kristina diesen Antrag enthalten. Offenbar war der Drang der al- Köhler, CDU/CSU, Gabriele Fograscher, SPD, Christian ten Kader bei den Linken, den USA eins auf die Mütze zu Ahrendt, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Monika Lazar, geben, wieder einmal stärker. Sie sollten sich für ihren in- Bündnis 90/Die Grünen, und des fraktionslosen Kolle- strumentellen Umgang mit Menschenrechtsthemen schä- gen Gerd Winkelmeier. men. Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Halten wir zunächst fest: Die Heimattreue Deutsche Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Jugend ist ein neonazistischer Verein mit engen Verknüp- empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und fungen ins rechtsextremistische Spektrum. Daran gibt es Humanitäre Hilfe. Der Ausschuss empfiehlt in seiner nach den veröffentlichten Erkenntnissen der Verfassungs- Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8789, den An- schutzämter keinen Zweifel. So wurden bundesweit so- trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6358 ab- wohl Verbindungen zur NPD als auch zu der neonazisti- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – schen Kameradschaftsszene festgestellt. Nicht umsonst Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- gilt die HDJ vielen Experten zumindest als in der Tradi- empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU tion der 1994 verbotenen rechtsextremistischen „Wiking- und FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen Jugend“ stehend. und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenom- men. Zielsetzung der HDJ ist es – ich zitiere aus dem neues- ten Bericht des Verfassungsschutzes –, „über zunächst Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: unpolitisch erscheinende Aktivitäten Jugendliche und Kinder an rechtsextremistisches Gedankengut heranzu- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- führen“. Die Indoktrination und die Aufhetzung von Kin- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufas- dern und Jugendlichen ist eine der Hauptaktionsfelder al- sung des Raumordnungsgesetzes und zur Än- ler Formen des Extremismus; sie ist wahrscheinlich derung anderer Vorschriften (GeROG) – Drucksachen 16/10292, 16/10332 – 1) Anlage 15 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19167

Kristina Köhler (Wiesbaden) (A) zugleich die widerlichste. Als die Polizei vor wenigen sogar eher noch wichtiger zu werden. Das ist umso (C) Monaten ein HDJ-Zeltlager in Mecklenburg-Vorpom- schlimmer. mern aufgelöst hatte, fand man dort nicht nur verbotene NS-Symbole, sondern auch unterschiedliche Medien wie In den letzten Wochen und Monaten hat es von einigen Kassetten und Landkarten, die klar dafür sprechen, dass Seiten den Ruf nach einem Verbot der HDJ gegeben. Das hier die Kindern mit rechtsextremen Inhalten auf einen ist legitim, denn das Verbot ist und bleibt nun mal das tiefbraunen Weg gebracht werden sollen. schärfste Schwert in der Auseinandersetzung mit extre- mistischen Vereinen. Deshalb liegt die Latte hier aber Ein Kamerateam, welches eines dieser Zeltlager auch um einiges höher, als das hier oftmals durchklingt. filmte, zeigt Bilder, auf denen Zelte mit dem Schild „Füh- Ich warne deshalb davor, wenn hier mancher Kollege aus rerbunker“ beschriftet waren und auf denen sich Kinder übertriebenem Geltungsbedürfnis so tut, als müsste der mit dem Hitlergruß begrüßten. Über die Gesinnung, wel- Bundesinnenminister doch einfach nur par ordre de Mufti che dort verbreitet wird, kann es also kaum Zweifel ge- entscheiden, die HDJ zu verbieten. Ein solches Verbot ben. muss aber – das wissen wir alle – hundertprozentig ge- richtsfest sein. Ansonsten droht ein Propagandaerfolg für Gleiches gilt für das HDJ-Magazin „Funkenflug“, den extremistischen Verein vor Gericht. Wie schwer ein welches das Motto „Jung – stürmisch – volkstreu“ trägt. solcher Propagandaerfolg wirken kann, wissen wir alle. In diesem Heft fanden die Verfassungsschutzämter anti- Für die CDU/CSU kann ich sagen: Wir haben auch in semitische und den Nationalsozialismus verherrlichende dieser Frage vollstes Vertrauen in das Bundesinnen- Inhalte. ministerium und in den Bundesinnenminister. Die HDJ ist also kein harmloser Pfadfinderverein, auch wenn sie immer wieder versucht, sich als solcher Gabriele Fograscher (SPD): darzustellen. Die HDJ ist vielmehr ein rechtsextremisti- Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass in- scher Verein, der unter Vorspiegelung jugendpflegeri- zwischen ausreichend Gründe vorliegen, den Verein scher Tätigkeit Kinder und Jugendliche ideologisiert. „Heimattreue Deutsche Jugend e.V.“ zu verbieten. Der Umso wichtiger ist die öffentliche Aufklärung über die Verein „Heimattreue Deutsche Jugend – Bund zum HDJ. Auf ihrer Homepage versucht der Verein nämlich, Schutz für Umwelt, Mitwelt und Heimat e. V.“ – HDJ – ist gezielt auch Kinder und Jugendliche zu werben, die au- eine bundesweit tätige Jugendorganisation, die ein ras- ßerhalb des rechtsextremistischen Spektrums stehen. Er sistisches Weltbild vertritt und durch eine rechtsextremis- sucht gezielt nach Grundstücken, auf denen Lager statt- tische Ideologie geprägt ist. finden können, nach Räumen für Heimatabende etc. Je- Mit mehreren Hundert Mitgliedern ist die HDJ, die im (B) dem, der diesen Verein unterstützt, muss klar sein, was er Jahr 2001 aus dem 1990 gegründeten „Bund Heimat- (D) da tut. Er unterstützt keine demokratische Jugendarbeit treuer Jugend“ hervorging, fester Bestandteil des rechts- und er unterstützt auch keine heimatverbundene Jugend- extremen Spektrums in Deutschland und verfügt über um- arbeit. Denn die dort propagierte Heimat ist eine andere, fangreiche szeneübergreifende Kontakte. Zudem gibt es als wir sie alle kennen und uns wünschen. enge personelle Verflechtungen mit der NPD und der Wenn wir über den Neonazismus in der HDJ reden, neonazistischen Kameradschaftszene. muss eines freilich auch deutlich gemacht werden: Der Ähnlich wie die im Jahre 1994 verbotene „Wiking Ju- Rechtsextremismus-Vorwurf zielt auf die Köpfe dieses gend“, man könnte die HDJ ebenso als deren Nachfolge- Vereins, nicht auf die Kinder. Das möchte ich für meine organisation bezeichnen, zielt auch die HDJ mit ihrem so- Fraktion klarstellen. Zumindest die 8- bis 14-Jährigen, genannten Lebensbund-Konzept darauf ab, Freizeit- die in solche Zeltlager gesteckt werden, sind keine Täter, angebote für Familien und Kinder anzubieten, die der sondern Opfer. Sie sind keine Rechtsextremisten, sondern Verbreitung antisemitischer und völkischer Ideologie die- sie werden von Rechtsextremisten missbraucht. Sie wer- nen. Die HDJ ist bestrebt, ganze Familien an die rechts- den auf ein Leben jenseits dieser Gesellschaft vorbereitet. extreme Szene zu binden, denn nach Eigendarstellung der Auch wenn Sie es aus anderen Zusammenhängen kennen: HDJ sollen bereits „Kleinstkinder“, aber auch Jugendli- Was hier passiert, ist nichts anderes als der Versuch, eine che für den Rechtsextremismus rekrutiert und nach Fami- Parallelgesellschaft aufzubauen und die Kinder und Ju- liengründung ein Ausscheiden aus der rechtsextremisti- gendlichen aus unserer freiheitlich-demokratischen Ge- schen Szene verhindert werden. sellschaft zu desintegrieren. Das können und das dürfen wir nicht zulassen. Besonders durch die im Internet zum Beispiel auf „youtube“ veröffentlichten Werbefilme versucht die Or- Dabei sollten wir uns auch nicht von der scheinbar ge- ganisation gezielt, neue junge Mitglieder zu werben. Der ringen Größe dieser Organisation blenden lassen. Die Verein veranstaltet Zeltlager, Fahrten und Wanderungen Zahlen variieren hier deutlich, aber in jedem Fall reden mit dem Zweck einer paramilitärischen Ausbildung der wir von 100 bis 400 Mitgliedern. Es muss aber klar sein: Kinder und Jugendlichen. Durch ideologische Schulun- Jedes Kind, welches neonazistisch ideologisiert wird, ist gen und die Ausübung militärischer Rituale wird für die eines zu viel. Und jede Familie, die ihr Kind auf solche Kinder eine völkisch-nationalistische Parallelwelt ge- Lager schickt, ist eine zu viel, zumal die Zahlen eher da- schaffen. für sprechen, dass es gewisse Wanderungsbewegungen aus der rechtsextremen Szene hin zur HDJ gibt. Die HDJ Nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungs- scheint also zurzeit im organisierten Rechtsextremismus schutz betreibt die HDJ – ich zitiere – „unter Vorspiege-

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Gabriele Fograscher (A) lung einer jugendpflegerischen Tätigkeit … eine gezielte dass extremistische Vereine von der Gemeinnützigkeit (C) Ideologisierung ihrer Mitglieder“. Weiterhin weist der ausgeschlossen werden sollen. Eine Steuervergünstigung Verfassungsschutz darauf hin, dass die HDJ versucht, setzt voraus, dass die Körperschaft nach ihrer Satzung ihre rechtsextremistische, nationalistische Ideologie hin- und ihrem tatsächlichen Handeln keine Bestrebungen ge- ter einer Selbstcharakterisierung als traditionsbewusst gen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung för- und wertorientiert zu verbergen. dert oder dem Gedanken der Völkerverständigung zuwi- derläuft. Als die Polizei im August 2008 erstmals ein Zeltlager der HDJ im Landkreis Güstrow in Mecklenburg-Vorpom- Durch diese längst überfällige Regelung in der Abga- mern in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt auflöste, benordnung wird ein wichtiger Beitrag geleistet, den wurden bei den allesamt uniformierten Teilnehmern zahl- rechtsextremistischen Organisationen finanziellen Spiel- reiche Gegenstände mit Symbolen der rechten Szene si- raum zu nehmen. Solche rechtsstaatlichen Schritte sind chergestellt. Die Polizei erklärte dazu, dass die bei der neben repressiven und präventiven Maßnahmen wichtig Durchsuchung aufgefundenen und sichergestellten Un- im Kampf gegen den Rechtsextremismus und extremisti- terlagen belegen würden, dass die gezielte Verbreitung sche Bestrebungen. Doch wo Verbote von extremistischen rechtsextremistischer Inhalte den Tagesablauf der Teil- Vereinen nötig sind, sollte der Bundesinnenminister nicht nehmer bestimme und die Kinder im Zeltlager mit natio- zögern, diese auch zügig auszusprechen. nalistischem Gedankengut regelrecht beschult würden. Trotz des 2007 erlassenen Uniformierungsverbotes Christian Ahrendt (FDP): durch das Bundesministerium des Innern zeichnen sich Die Forderung nach einem Vereinsverbot der Heimat- die Auftritte der HDJ durch Uniformen oder uniformähn- treuen Deutschen Jugend, HDJ, die die Fraktion Bünd- liche Pflichtkleidung, oftmals mit Verbands- und Sonder- nis 90/Die Grünen mit dem heute zur Debatte stehenden zeichen, aus. Im Stile militärischer Abzeichen erkennt Antrag stellt, zeigt das Bedürfnis, aber auch die Notwen- man das Führungspersonal durch farbige Balken am digkeit, rechtsextremistische Aktivitäten und Bestrebun- Oberarm der Hemden. Fahnenappelle, das Marschieren gen konsequent und nachhaltig zu bekämpfen. Diese For- in Reih und Glied sowie Fanfarenzüge konstituieren zu- derung hat die FDP-Fraktion als Gegenstand einer dem den paramilitärischen Charakter der HDJ. Eine von laufenden parlamentarischen Initiative ebenfalls zum der HDJ beim Bundesministerium des Innern beantragte Ausdruck gebracht. Es besteht Einigkeit darüber, dass die Ausnahmegenehmigung vom in Deutschland geltenden HDJ verboten gehört. generellen Uniformierungsverbot ist mit der Begründung Positiv hervorzuheben ist, dass das gegen die HDJ abgelehnt worden, dass „eine Gesamtschau der Aktivitä- ausgesprochene Uniformverbot im Falle des Zuwider- (B) ten ergibt, dass die politische gegenüber der jugendpfle- handelns im Benehmen mit den zuständigen Landes- (D) gerischen Betätigung überwiegt. behörden durchgesetzt wird. Fast wäre der Antrag Ungeachtet des Verbotes und unbeeindruckt posieren allumfassend, beinhaltete er die Prüfung des Gemeinnüt- die Mitglieder der HDJ weiterhin in Uniformen oder uni- zigkeitsstatus – dies ändert aber nichts an dessen Zustim- formähnlichen Kleidungsstücken in Werbefilmen, Kalen- mungswürdigkeit. dern oder im Verbandsorgan „Funkenflug“. In Ausgabe Auf der Homepage der HDJ ist nämlich zu lesen, dass 4/2007 dieses Verbandsorgans wurden alle Mitglieder sich der Verein über Spenden finanziert. Daher liegt die dazu aufgefordert, sich nicht an das Uniformierungsver- Vermutung nahe, dass der rechtsextremistische Verein als bot zu halten. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich die HDJ gemeinnützig anerkannt ist und dadurch steuerliche Vor- nicht an die Einhaltung von Recht und Gesetz hält. Au- teile erlangt. An dieser Stelle möchte ich nur an den Ver- ßerdem finden sich in dieser Zeitung stark geschichtsre- ein Collegium Humanum erinnern, der über Jahre vom visionistische, rassistische und antisemitische Inhalte. zuständigen Finanzamt als gemeinnützig eingestuft Die HDJ lehnt unsere freiheitlich demokratische wurde. Für diejenigen, die es nicht mehr wissen: Colle- Grundordnung strikt ab. Auch tolerantes Verhalten ge- gium Humanum war ein rechtsextremistischer Verein, der genüber Schwächeren wird im „Funkenflug“ 2/2006 als erst durch massiven politischen und medialen Druck im niedere Charaktereigenschaft eingestuft. Laut Bundes- Mai dieses Jahres nach über 40 Jahren seines Bestehens amt für Verfassungsschutz werden in dem Verbandsorgan verboten worden ist. Mir drängt sich daher die Frage auf, der HDJ Texte publiziert, „in denen der Nationalsozialis- ob rechtsextremistische Vereine in Deutschland eine Art mus verherrlicht wird sowie antisemitische Einstellungs- Bestandschutz genießen. muster deutlich werden.“ Neben der HDJ gibt es noch weitere Vereine, die im Inzwischen ermittelt auch die Staatsanwaltschaft zum Verfassungsschutzbericht aufgeführt werden und bei de- wiederholten Male wegen Volksverhetzung, Verwendung nen der Verdacht besteht, dass sie mit ihren Aktivitäten verfassungsfeindlicher Symbole, Verstoßes gegen das die freiheitliche demokratische Grundordnung bedrohen. Uniformverbot, Körperverletzung sowie Bildung bewaff- Wie erklärt man sich, dass Extremisten ganz besonders neter Gruppen. aus dem rechten, aber auch aus dem linken Lager unge- hindert ihr Unwesen treiben? Dieser Zustand ist in einem Ich meine, es ist Zeit, das längst überfällige Verbot demokratischen Rechtsstaat schlichtweg inakzeptabel. auszusprechen. In diesem Zusammenhang begrüße ich Der Jugendverein „für alle deutschen Mädel und Jungen den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Jahressteu- im Alter von 7 bis 29 Jahren“ ist hochgefährlich, nicht zu- ergesetz 2009, der in § 51 Abgabenordnung neu regelt, letzt weil er über zunächst unpolitisch erscheinende Akti-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19169

Christian Ahrendt (A) vitäten Jugendliche und Kinder an rechtsextremistisches zur Prävention und Strafverfolgung müssen vollumfäng- (C) Gedankengut heranführt. Dabei wird eine jugendpflege- lich ausgeschöpft werden. rische Tätigkeit vorgespiegelt, in Wahrheit jedoch eine gezielte Ideologisierung im Sinne einer nationalsozialis- Ulla Jelpke (DIE LINKE): tischen Gesinnung betrieben. Dieser Sommer hat wieder einmal gezeigt, dass die Eine der Haupttätigkeiten der HDJ ist die Organisa- Heimattreue Deutsche Jugend ein wichtiger Teil des or- tion von Freizeitcamps im Sinne einer „paramilitärischen ganisierten Neofaschismus ist. Ein von ihr veranstaltetes Ausbildung der Jugend.“ So wurde beispielsweise An- Sommerlager wurde von der Polizei aufgelöst, nachdem fang August ein von der HDJ organisiertes Ferienlager die Neofaschisten dort gegen das Uniformierungsverbot bei Hohen Sprenz in Mecklenburg-Vorpommern polizei- verstoßen hatten. Doch nicht immer sind aufmerksame lich aufgelöst. Hakenkreuze, uniformierte Kinder und na- Bürgerinnen und Bürger zur Stelle, die gegen ein solches tionalsozialistische Lehrinhalte sprachen dort eine deut- Treiben vorgehen. Von einzelnen Strafverfahren wird sich liche Sprache. In diesen Freizeitcamps wird offenbar die die Heimattreue Deutsche Jugend nicht in ihren Umtrie- NS-Zeit durch Anlehnung an nationalsozialistische Insig- ben abbringen lassen. Auch die Fraktion Die Linke setzt nien und Flaggenspiele als „selbstbewusster und unver- sich deshalb mit einem Antrag für das Verbot dieser neo- krampfter“ Umgang mit der Vergangenheit belebt. faschistischen Organisation ein. Mit mehreren Hundert Mitgliedern ist die HDJ ein fes- Mit mehreren hundert Mitgliedern und einem bundes- ter Bestandteil der rechtsextremistischen Szene. Dabei weiten Organisationsnetz stellt die HDJ eine der größten hat die Heimattreue Deutsche Jugend, HDJ, nach Er- und wichtigsten Nachwuchs- und Rekrutierungsorgani- kenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz ihre sationen der neofaschistischen Szene in Deutschland dar. Wurzeln in der Wiking-Jugend, WJ. Es bestehen neben Es liegen längst ausreichende Beweise dafür vor, dass die gemeinsamen Themen auch personelle Verbindungen zu HDJ eine Nachfolgeorganisation der 1994 vom Bundes- der verbotenen Jugendorganisation, die erst nach 42 Jah- innenministerium verbotenen Wiking-Jugend darstellt. ren ihres Bestehens verboten wurde. So war der „Bundesführer“ der HDJ, Sebastian Räbiger, bis zum Verbot der Wiking-Jugend Leiter von „Gau Sach- Wie die Historie aufzeigt, lässt sich die Bundesregie- sen“. Auch weitere Spitzenfunktionäre der Wiking-Ju- rung in diesen Angelegenheiten öfter Zeit. Wie bereits er- gend finden sich heute an führender Stelle in der HDJ wähnt, hat es beim Collegium Humanum ähnlich lange wieder. gedauert. Dies ist genau der Dreh- und Angelpunkt für die Unzulänglichkeit der Bundesregierung bei der Be- Schon die neonazistische Wiking-Jugend, die sich ganz kämpfung des Radikalismus. Anstatt sich auf das rechts- bewusst an ihr Vorbild, die SS-Division „Wiking“ an- (B) extremistische Umfeld zu konzentrieren, befasste sie sich lehnte, war seit ihrer Gründung 1952 jahrzehntelang in (D) viel zu lange mit einem aussichtslosen NPD-Verbotsver- der BRD unbehelligt geblieben. Doch schließlich musste fahren. die Bundesregierung zugeben, dass die Wiking-Jugend das Ziel verfolgte, die verfassungsmäßige Ordnung zu be- Die HDJ wird bereits vom Verfassungsschutz beobach- seitigen. Viel zu lange haben die staatlichen Behörden an- tet und ein Vereinsverbot vom Bundesministerium des In- schließend das braune Treiben der HDJ als Nachfolgeor- nern hoffentlich konsequent vorbereitet. Jedoch muss ich ganisation der Wiking-Jugend schlicht ignoriert. Nicht betonen, dass das rechtsstaatliche Instrument des Ver- Polizei und Verfassungsschutzbehörden, sondern enga- einsverbotes nicht das Allheilmittel darstellt. Die Politik gierte Einzelpersonen haben die Aktivitäten der HDJ in muss auch mit vollem Engagement an der Bekämpfung diesem Sommer öffentlich gemacht. der Ursachen von Rechtsradikalismus arbeiten. Ein wichtiges Ziel soll daher ebenfalls sein, über Rechts- Die HDJ bietet einen wichtigen Anlaufpunkt für neo- extremismus nicht mit dem erhobenen Zeigefinger zu faschistische Familien, die bei ihr im Freizeit- und Ju- informieren, sondern auf Aufklärung und nachhaltige gendbereich umfassende Angebote finden. Des Weiteren Prävention zu setzen. So muss der Populismus, der von wird somit der Etablierung einer rechtsextremen Paral- den „Rechten“ praktiziert wird, entlarvt werden. lelwelt Vorschub geleistet. Kinder und Jugendliche aus neonazistischen Elternhäusern werden dort bei Lagerfeu- Was Rechtsextreme vor Ort machen, ist nichts anderes, erromantik mit der menschenverachtenden Ideologie der als die Sorgen der Bürger für die Durchsetzung ihrer de- Neonazis, mit rassistischem und antidemokratischem Ge- mokratiefeindlichen Ziele auszunutzen. Es ist daher die dankengut indoktriniert. Paramilitärische Ausbildung, Pflicht der Demokraten, die Probleme in unserem Land die von der HDJ sogenannte soldatische Erziehung, ist offen anzusprechen. Nur durch einen ehrlichen Dialog, wichtiger Bestandteil ihrer Kinder- und Jugendcamps. ehrliche Lösungen und Konzepte können wir den Bürgern Selbst Scheinhinrichtungen werden in Wehrsportübungen die Absurdität der „rechten“ Scheinlösungen klarma- vollzogen. chen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Bürger diese Offenheit langfristig honorieren werden. Die Bürger müs- Die HDJ operiert in enger Verbindung mit der NPD sen das Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie auch für und den Neonazikameradschaften sowie anderen recht- den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grund- extremen Gruppierungen. Immer wieder treten führende ordnung verantwortlich sind. Funktionäre der NPD als Schulungsleiter bei der HDJ auf. Der inzwischen zum stellvertretenden NPD-Vorsit- Der Verherrlichung des Nationalsozialismus muss zenden aufgestiegene Jürgen Rieger stellte jahrelang sei- konsequent entgegengetreten werden, und Maßnahmen nen Hof in der Lüneburger Heide für Versammlungen der

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Ulla Jelpke (A) HDJ zur Verfügung. Im Gegenzug übernehmen ältere befindet sich in Berlin; koordiniert wird die Arbeit über (C) HDJ-Mitglieder immer wieder Ordnerfunktionen bei vier sogenannte Leitstellen, welche sich wiederum in NPD-Veranstaltungen oder treten dort mit Kulturbeiträ- mehrere sogenannten Einheiten unterteilen. gen auf. Ideologisch bekennt sich die HDJ zum sogenannten Das Vorbild der HDJ ist eindeutig die Hitlerjugend. Neuheidentum, welches teilweise ein rassistisches Welt- Jahreskalender der HDJ verzeichnen den Geburtstag von bild und nationalistische „Blut- und Bodenmythen“ ver- Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß. Die HDJ beteiligt sich herrlicht. Der Bezug zum Nationalsozialismus lässt sich an einem jährlichen Gedenkmarsch, der dem Nazi-Idol, nicht leugnen. Dies belegen auch Fotos und Filmaufnah- SA-Mann Horst Wessel, gewidmet ist. Ihre Zelte tragen men mutiger Journalistinnen und Journalisten. Dort sieht Namen wie „Führerbunker“ und selbst Hakenkreuzsym- man zum Beispiel HDJ-Zelte mit Aufschriften wie „Füh- bole wurden bei der Durchsuchung eines Zeltlagers ge- rerbunker“ und „Germania“. Kinder begrüßen einander funden. Bei den Lagern und Veranstaltungen der HDJ und ihre Ausbilder mit dem Hitlergruß. Fahnenappelle, wird im Sinne ihres „soldatischen Erziehungsideals“ Wehrsportübungen, Fackelmärsche bereiten auf parami- Uniform getragen. Über das allgemein geltende Uni- litärische Schulungen und Nazi-Propaganda vor. formverbot im Versammlungsgesetz setzt sich die Grup- Bei ihren gemeinsamen Veranstaltungen tragen die pierung hinweg. HDJ-Mitglieder eine uniformartige Kleidung mit militä- Ein Verbot allein ist selbstverständlich nicht ausrei- risch anmutenden Verbands- und Sonderabzeichen. Dies chend. Gesellschaftliches Engagement ist weiterhin die ist im Versammlungsrecht verboten; im Jahr 2007 unter- zentrale Säule des Kampfs gegen rechts. Vorbildlich sind sagte das Bundesinnenministerium der HDJ ausdrück- in diesem Zusammenhang eine Elterndemonstration in lich das Tragen von Uniformen. Die Organisation nimmt Detmold gegen die Verführung von Kindern und Jugend- das jedoch nicht ernst. In ihrem Kalender „Unser Leben lichen durch die HDJ-Einheit Hermannsland, oder Hin- 2008“ sowie einem Internet-Werbefilm sind weiterhin weise aufmerksamer Bürger, die zur raschen Auflösung uniformierte Mitglieder zu sehen. eines HDJ-Camps in Hohen Spenz führten. Begrüßens- Die HDJ selbst beschreibt sich auf ihrer Internetseite wert ist zudem die Entfernung eines HDJ-Führers aus als „traditionsbewusst und werteorientiert“. Ihr Selbst- dem Technischen Hilfswerk in Greifswald. Denn gerade verständnis wird in folgendem Zitat deutlich: bei der politischen Jugendarbeit gilt die antifaschistische Losung „Wehret den Anfängen“. Wir sind uns unserer eigenen Herkunft und der Ge- schichte unseres Volkes bewusst Als junge Deutsche Ich will am Schluss aber auch noch auf das Verhalten können wir so manches aus den Erfahrungen unse- der Regierungskoalition zu sprechen kommen. Von allen rer Vorfahren lernen. Dies gelingt aber nur, wenn (B) (D) drei Oppositionsfraktionen lagen dem Innenausschuss in wir uns selbstbewusst und unverkrampft der eige- seiner gestrigen Sitzung Anträge zu diesem Thema vor. nen Vergangenheit stellen. Eine Entscheidung wurde aber vertagt. Offensichtlich ist den Regierungsfraktionen das Thema „Kampf gegen Völlig „unverkrampft“ knüpfen sie denn auch an die Rechtsextremismus“ nicht wichtig genug, um einmal die Traditionen der Hitlerjugend an. Gegen einen ihrer Füh- parlamentarischen Spielchen sein zu lassen und einem rer ist zum Beispiel ein Verfahren anhängig wegen Vor- Antrag der Opposition zuzustimmen. Dieses Verhalten ist führung des antisemitischen NS-Propagandafilms „Der wirklich ungeheuerlich. Die Beratungen über ein Verbot ewige Jude“ in einem Freizeitlager. Ewiggestrige Werte der HDJ müssen jetzt zügig zu einem Ende geführt wer- und Geschichtsverfälschung verbreiten sie zudem in ihrer den. Dafür wird sich meine Fraktion weiter entschieden vierteljährlichen Broschüre „Funkenflug – jung – stür- einsetzen. misch – volkstreu“. Dort wird auch über das staatliche Uniformverbot gespottet und betont, dass man trage, was Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): man wolle. Nazi-Kinderlager haben in unserem Land nichts zu su- Die HDJ muss als eine Nachfolgeorganisation der chen. Darin besteht sicher bei allen demokratischen Po- 1994 verbotenen Wiking-Jugend angesehen werden. Es litikerinnen, und Politiker Einigkeit. Dennoch gibt es den sind personell und inhaltlich deutliche Kontinuitäten zu Verein Heimattreue Deutsche Jugend e. V. Unter seinem beobachten, wie auch die Bundesregierung bestätigte. Es Vereinsdach haben sich Rechtsextreme zusammengetan gab schwerwiegende Gründe, die Wiking-Jugend zu ver- und umgarnen Kinder und Jugendliche. mit Freizeitange- bieten. Dass ihre Anhänger heute unter anderem Vereins- boten wie zum Beispiel Zeltlagern, Kanufahrten, Wande- namen wieder auf Seelenfang gehen, können wir nicht ak- rungen und Lagerfeuern. Das weckt Gemeinschaftssinn, zeptieren. Deshalb fordert die grüne Bundestagsfraktion bringt Spaß und Abenteuer. Langsam werden Heran- in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die Vorausset- wachsende in die Gruppe integriert und geraten so zungen eines HDJ-Verbotes zu prüfen und bei positivem schleichend in den Dunstkreis aggressiver Nazi-Ideologie Prüfergebnis – wovon wir ausgehen – den Verein zu ver- hinein. bieten. Zu lange hat der Staat diesen Neonazis freie Hand gelassen. Das ist verschenkte Zeit, in der Kindern und Ju- Der Verein Heimattreue Deutsche Jugend e. V., kurz gendlichen eine gefährliche Gehirnwäsche verpasst wird. HDJ genannt, verfügt über .eine feste Einbindung in die. rechtsextreme Szene und hält Kontakt zu Kameradschaf- Ziel der HDJ ist es, genügend Hass gegen unser demo- ten, Parteien und anderen Vereinen. Die HDJ ist bundes- kratisches System, zu schüren, um dieses schließlich stür- weit aktiv und gut organisiert. Ihre Bundesgeschäftsstelle zen zu können. Bei ihren Treffen und Ferienlagern rekru-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19171

Monika Lazar (A) tieren sie dazu gezielt eine „Nachwuchsarmee“. Wir Dieser Herbergsvater schildert zudem seine Eindrü- (C) dürfen diesem Treiben nicht länger zusehen! Der Verein cke einer paramilitärischen Atmosphäre; eine andere Heimattreue Deutsche Jugend e. V. muss schnellstmög- Mitarbeiterin spricht von Straf-Liegestützen gegen ein- lich verboten werden Es freut mich persönlich sehr, dass zelne Teilnehmer des Lagers. Wir sprechen hier weiterhin auch FDP und Linksfraktion in ihren Anträgen gleichlau- über Kinder. Inzwischen liegen nämlich auch Bilder vor, tende Forderungen erheben und auch aus der Großen die zeigen, wie Ausbildungslagers eine Hinrichtung Koalition positive Signale zu hören sind. Im Fall der HDJ nachstellen. ist ein Konsens aller demokratischen Kräfte im Bundes- tag also sogar zwischen Opposition und Koalition er- Es ist schlicht nicht mehr verantwortbar, dass die Or- reicht. ganisation ungehindert Kinder zu strammen Neonazis he- ranzieht. Hier muss der Rechtsstaat endlich eingreifen; Einen solchen Konsens wünschte ich mir auch bei der denn es geht um die freiheitliche demokratische Grund- Ausgestaltung der Bundesprogramme gegen Rechts- ordnung dieses Landes, die von derartigen Vereinen un- extremismus. Verböte sind ja nur geeignet als Mittel zur tergraben wird. Intern machen die Mitglieder doch gar Schadensbegrenzung. Repressive Maßnahmen, wie zum kein Hehl aus ihrer Einstellung. Als inhaltlicher Bezugs- Beispiel Verbote, bringen nicht automatisch mehr Demo- punkt dient dabei der Nationalsozialismus, dessen Ideo- kratie mit sich. Dafür brauchen wir attraktive demokra- logieelemente sich wie ein roter Faden durch die Aktivi- tische Angebote für Kinder, Jugendliche und deren El- täten der HDJ ziehen. Ein völkischer Nationalismus ist tern. Denn wo die Menschen sozial und kulturell ebenso zu erkennen wie die Verherrlichung des Todes eingebunden werden und sich vom Staat wertgeschätzt oder die Kritik an der Gleichheit der Menschen. fühlen, können Nazis gar nicht erst landen. Wenn sich aber die Justiz – in diesem Fall die Staats- anwaltschaft , die die Ermittlungen wegen der Gert Winkelmeier (fraktionslos): Vorfälle in dem im August aufgelösten HDJ-Sommerlager Man spreche nicht über Verbote, man spreche sie aus. einstellte – darauf zurückzieht, dass es gegen privat ge- Aber warum passiert dann nichts? Seit Jahren liegen die nutzte verbotene Symbole keine Handhabe gebe, dann Beweise offen, aber die rechtsextreme Heimattreue Deut- muss das lnnenministerium endlich handeln. sche Jugend kann weiterhin ungestört ihr Unwesen Irgendwann muss jeder Prüfvorgang ein Ende haben. treiben. Es reicht eigentlich schon, bei Wikipedia die per- Der Verfassungsminister Dr. Schäuble sollte der HDJ sonellen Übereinstimmungen zwischen der 1994 verbote- endlich das Handwerk legen. nen „Wiking-Jugend“ und der HDJ zu lesen, um zu er- kennen, dass sie de facto deren Nachfolgeorganisation (B) ist. Genau das aber war mit dem Verbot ebenfalls unter- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D) sagt worden. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache16/9801 an die in der Tagesordnung aufge- Ich verstehe das Zögern des Herr Minister nicht. Ob führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- nun im ARD-Magazin „Panorama“ oder in den im Inter- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung net abrufbaren Werbefilmen für die HDJ: Es lassen sich so beschlossen. ausreichend Gründe finden, diesen rechten Hetzern das Handwerk zu legen. Die Opfer, über die wir hier spre- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: chen, sind Kinder. Sechsjährige werden schon zum Strammstehen gezwungen, auch bei Schnee und Kälte, Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Winfried Nachtwei, Alexander wie es, ein Jugendherbergsbetreiber in Franken beobach- Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion tet hat. Einer der Propagandafilme wurde im Übrigen in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieser Burg in Wunsiedel gedreht, ohne Wissen des oder Genehmigung durch den Hausherren. Die Zeitbombe der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee entschärfen Seit Mitte 2007 besteht wenigstens ein Uniformverbot für die HDJ, das diese allerdings alles andere als ernst – Drucksache 16/9103 – nimmt: „Wir entscheiden immer noch selbst, welche Klei- Überweisungsvorschlag: dungsstücke wir tragen.“ Es wäre an den Ländern, dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Verstoß gegen das Verbot nachzugehen, aber es passiert Ausschuss für Wirtschaft und Technologie nichts. Dabei liegen inzwischen ausreichend Beweise vor, Verteidigungsausschuss dass die HDJ in mehreren Fällen gegen das Verbot ver- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus stoßen hat. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss So berichtet beispielsweise ein Herbergsvater aus dem rheinland-pfälzischen St. Goarshausen, in der Nähe von Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Koblenz, dass in seiner Herberge zum Jahreswechsel Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die 2007/2008 114 mehr oder weniger gleich gekleidete Kin- Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ingbert der ihr Winterlager abgehalten hätten. Veranstalter war Liebing, CDU/CSU, Detlef Müller, SPD, Dr. Christel die Heimattreue Deutsche Jugend. Ist das keine Unifor- Happach-Kasan, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, und mierung? Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen. 19172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Nach 60 Jahren sind viele der Ummantelungen durchge- (C) Die Problematik, mit der wir uns heute beschäftigen, rostet, ein Einsammeln birgt daher im Zweifel unkalku- ist seit Jahren in vielen Variationen Thema in den Medien. lierbare Risiken. Und eine mögliche Sprengung kann Besonders in den Sommermonaten reicht die Bandbreite wiederum wegen des damit verbundenen Lärms mögli- der Berichterstattung von der eindringlichen Warnung, cherweise gravierende Gefahren für die insbesondere in sich überhaupt der Nord- oder Ostsee zu nähern, bis hin der Ostsee ohnehin gefährdeten Meeressäuger haben. zur völligen Entwarnung. Was also sind die Fakten, wenn wir von Munitionsaltlasten vor der deutschen Küste spre- Die vordringlichste Aufgabe besteht also zunächst in chen? der Erfassung der Menge und Lage der versenkten Muni- tion sowie in der wissenschaftlichen Bewertung der mög- Fakt ist, dass tatsächlich Grund zur Sorge besteht. Un- lichen Gefährdung. Was wir brauchen, ist eine verlässli- bestritten ist, dass es in regelmäßiger Folge zu Unfällen che Gefährdungsabschätzung. kommt, die auf versenkte Kriegsmunition zurückzuführen sind. Dies sind bis heute auch an der Ostsee, die beson- Unabhängig von der Sache selbst stellt sich aber zu- ders betroffen ist, glücklicherweise Einzelfälle. Dennoch: nächst die Frage der Zuständigkeit. Die Beseitigung von Gerade vor ein paar Tagen haben Mitarbeiter eines Bau- Kampfmitteln aus der Zeit der Weltkriege ist als Gefah- ernhofs in Timmendorf erst wieder ein 4 Meter langes renabwehr nach der föderalen Kompetenzverteilung des Torpedoteil aus dem Wasser gefischt. Der Strand musste Grundgesetzes eine Aufgabe der Länder. Für das Aufspü- von der Polizei abgesperrt werden, und es dauerte meh- ren und die Bergung von Kampfmitteln im Meer ist daher rere Stunden, bis der Kampfmittelräumdienst Entwar- grundsätzlich das jeweilige Küstenland zuständig. Der nung geben konnte. Bund veranlasst die Beseitigung von Kampfmitteln, wenn Die Wissenschaft ist sich hingegen nicht einig, wie das diese die Sicherheit des Schiffsverkehrs beeinträchtigen. Gefahrenpotenzial einzuschätzen ist. Grundsätzlich las- Ungeklärt ist, wie mit Kampfmitteln verfahren wird, die sen sich in der Betrachtung der Thematik drei wesentli- außerhalb der deutschen Hoheitsgewässer liegen – dies che Probleme definieren: trifft auf den größten Teil der bekannten Munitionsaltlas- ten zu. Einerseits ist die Gefahrenabwehr also Sache des Erstens. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Bundes. Andererseits ist der Schutz für Badende, Sport- Weltkriegs wurde im großen Stil Kriegsmunition in Küs- taucher und Fischer, die sich außerhalb der Seewasser- tengewässern versenkt. Zuweilen geschah dies chaotisch, straßen bewegen, Ländersache, obwohl es sich um die was angesichts der Gesamtsituation im Nachkriegs- gleiche Gefahr, nämlich Kampfmittel aus dem Zweiten deutschland nicht verwundert. Die genaue Lage dieser Weltkrieg, handelt. Dieser Wirrwarr an Zuständigkeiten Altlasten ist in den seltensten Fällen bekannt. Wenn es zur und zu beachtender Gesetze muss beendet werden. Hier (B) damaligen Zeit Aufzeichnungen gegeben hat, stimmen gab es in der Vergangenheit Versäumnisse, und hier be- (D) diese aufgrund der Meeresströmung kaum noch mit der steht Handlungsbedarf. Insbesondere trifft dies auf die Realität überein. Größere Mengen Munition sind zudem Koordination von Maßnahmen des Bundes mit denen der nicht wie vorgesehen an besonders tiefen Stellen versenkt Länder zu. worden. Entsprechend verstreut liegen heute die Kampf- stoffe am Meeresboden. Zusätzlich besteht Gefahr durch Dieses Problem ist keineswegs neu. Schon 1999 gab es im Krieg verlegte Minen und auch durch gesunkene Ergebnisse einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Aber of- Kriegsschiffe, deren Waffen- und Munitionsbestand in der fensichtlich sind Probleme ungelöst geblieben. Aber Sie Regel nicht erfasst ist. als grüne Antragsteller müssen sich schon an Ihre eigene Vergangenheit erinnern lassen: Im November 2001 kam Zweitens. Der Forschungsstand zur Gefährdung von die damalige rot-grüne Bundesregierung zu der Ein- Mensch und Natur ist niedrig. Für die Küsten bestehe im schätzung, dass angesichts der Menge der versenkten Moment kaum eine Bedrohung, weil sich viele Gifte im Munition und ihrer weiten Verbreitung eine Bergung we- Wasser schnell verflüchtigten, sagt etwa der finnische der technisch durchführbar noch finanziell realisierbar Forscher Tapani Stipa vom Finnish Institute of Maritime sei. Eine unmittelbare Gefahr – so der Bericht – gehe von Research in Helsinki. Er betont aber, auch sein Kenntnis- der Munition auch grundsätzlich nicht aus, da sie regel- stand sei gering. Hingegen hält der Meeresforscher mäßig mit einer bis zu mehreren Metern starken Sedi- Stefan Nehring, der eine viel beachtete Studie zum Thema mentschicht überdeckt sei. Nachzulesen ist dies in der herausgegeben hat, die verklappte Munition für eine Zeit- Drucksache 14/7277. Der Tenor des heute vorliegenden bombe. Toxikologen der Universität Kiel befürchten, dass Antrages, dass hier ein vergleichsweise neues Problem sich Gifte aus Brandbomben und Gasmunition über die vorliegt und die jetzige Bundesregierung etwa versäumt Nahrungskette in Tieren anreichern könnten. Aber auch hat, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, wird mir die kritischen Stimmen bestätigen schlussendlich, dass angesichts der Faktenlage nicht ganz verständlich. Schon die bisherigen Erkenntnisse vollkommen unzureichend im Jahr 2000 hatte die CDU-Fraktion im schleswig-hol- sind. steinischen Landtag eine Anfrage an die damalige rot- Drittens. Die oftmals erhobene Forderung, die Muni- grüne Landesregierung gestellt. Die Antwort des damali- tion umgehend zu bergen, könnte das Problem verschär- gen grünen Umweltministers Klaus Müller: „In den deut- fen, statt es zu lösen und zu einer erheblichen Gefährdung schen Hoheitsgewässern der Ostsee wurde keine Kampf- sowohl für das Ökosystem Meer als auch für den Men- munition versenkt, so dass hier auch keine Bedrohung schen führen. Führende Experten haben wiederholt auf vorhanden ist.“ Aus den verschiedenen Antworten aus die Gefahren einer möglichen Bergung hingewiesen. dem Hause Müllers ergibt sich, „dass hier kein Hand-

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Ingbert Liebing (A) lungsbedarf gegeben ist“. Nachzulesen ist das in der drittens Maßnahmenkatalog, viertens internationale Ver- (C) Landtagsdrucksache 15/479. ständigungen. Es passt nicht zusammen, wenn die Grünen heute zum Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen einer Handeln drängen, während Sie in Ihrer eigenen Regie- Lösung einen deutlichen Schritt näherkommen können. rungsverantwortung das Thema unter den Teppich ge- kehrt haben. Dazu passt auch nicht, dass Sie heute einen Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): 20 Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog vorlegen, obwohl doch eine Ihrer sicherlich berechtigten Forderun- Seit mehr als 60 Jahren bergen Nord- und Ostsee ein gen nach Gefährdungsabschätzung ausdrücklich sagt, gefährliches Sprengstoffpotenzial, denn an zahlreichen dass wir noch deutlich mehr Erkenntnisse brauchen, be- Stellen liegen auf dem Meeresgrund oftmals stark giftige vor wir falsche Maßnahmen ergreifen. Wir brauchen eine Munitionsreste aus dem Zweiten Weltkrieg. gemeinsame Lösung – in der Sache selbst genauso wie im In der Hektik der letzten Kriegstage hatten deutsche Kompetenzgerangel. Es gibt viele Versuche einer ver- Soldaten die Munition versenkt, damit sie nicht den Alli- nünftigen Lösung, zum Beispiel auch durch die schles- ierten in die Hände fällt. Weil die Kapitäne früher nach wig-holsteinische Landesregierung in Verantwortung von der Anzahl der Entsorgungsfahrten bezahlt wurden, wa- Umweltminister Christian von Boetticher. Wir brauchen ren diese sehr engagiert und kippten deshalb die gefähr- langfristig tragfähige Lösungen, aber keine unausgego- liche Fracht häufig schon auf dem Weg zum Versenkungs- renen Schnellschüsse. gebiet über Bord. Einige Forderungen aus dem vorliegenden Antrag Wer damit gerechnet hätte, dass diese Praxis nach sind daher zum Teil bereits Realität, andere illusorisch Ende des Krieges der Vergangenheit angehört hätte, und mit den Mitteln des Bundes kaum zu verwirklichen: wurde bitter enttäuscht. Die unkontrollierte Entsorgungs- Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie hat praxis wurde von den Alliierten einfach übernommen und Bestandsaufnahmen über Munitionsversenkungsgebiete in noch viel größerem Maße durchgeführt. Bis 1948 be- in Nord- und Ostsee durchgeführt. Die bekannten Versen- zahlten die Alliierten einfache Fischer dafür, Munitions- kungsgebiete sind seit langem in den amtlichen Seekarten reste in ausgewiesenen Seegebieten zu versenken. Dabei gekennzeichnet. Darüber hinaus wird bei Baumaßnah- handelte es sich um Bomben, Granaten und ganze Con- men an Seewasserstraßen der Baustellenbereich regel- tainer – gefüllt mit einer tödlichen Fracht aus Senfgas, mäßig untersucht, um Personen- und Sachschäden vorzu- Phosgen oder Sarin. Allein auf dem Meeresgrund der beugen. Innovative Methoden im Umgang mit den Ostsee sollen in Fässern, Bomben etc. bis heute mindes- Munitionsaltlasten werden längst erfolgreich angewandt – tens 65 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas, etwa im vergangenen April durch Probesprengungen öst- (B) Tabun, Zyklon B und Sarin lagern. (D) lich der Kieler Außenförde. Eine Offenlegung sämtlicher Koordinaten oder auch nur eine annähernd verlässliche Hinzu kommt, dass nach Meinung von Experten nach Datenbasis über Art und Umfang versenkter Giftstoffe dem letzten Krieg zusätzlich mehrere hunderttausend aus Zeiten der Sowjetunion einzufordern, brächte kaum Tonnen konventioneller Munition in der Nord- und Ostsee verwertbare Ergebnisse, ebenso wie einseitige Vor- versenkt wurden. Diese verklappten Kampfmittel führen schläge an die Russische Föderation zur „Entsorgung bis heute vereinzelt bei der Schleppnetzfischerei zu Pro- militärischer Altlasten im Raum Kaliningrad“. Vielmehr blemen. brauchen wir gemeinsame Lösungen aller Ostseeanrai- ner etwa im Rahmen von HELCOM oder dem Ostseerat. Die Problematik wird noch zusätzlich dadurch ver- schärft, dass die Giftladungen, wie bereits erwähnt, häu- Ich denke, wir alle stimmen darin überein, dass das fig weit vor Erreichen der angeordneten Versenkungsstel- Problem der versenkten Munitionsaltlasten aus dem len über Bord gelassen wurden, sodass heute niemand Zweiten Weltkrieg auf die Tagesordnung gehört. Die öko- mehr weiß, wo sich die Altlasten wirklich befinden. Hinzu logischen und im Übrigen auch die wirtschaftlichen Fol- kommt, dass seit Jahren durch die Grundschleppnetz- gen einer Vernachlässigung dieser Thematik wären äu- fischerei die Munitionsreste immer weiträumiger verteilt ßerst bedenklich. Daher muss das Kompetenzgeflecht werden. aufgelöst und der Meeresboden langfristig zentral koor- diniert nach versenkter Munition abgesucht werden. Auch existieren bis zum heutigen Zeitpunkt keine ver- Ganz wesentlich ist, dass Sanierungskonzepte für die am lässlichen Schätzungen darüber, wie viele Minen, Torpe- stärksten belasteten Seegebiete entwickelt und umgesetzt dosprengköpfe, Bomben und Giftgasgranaten sich in werden. Nicht zuletzt die touristische Wirtschaft unserer Küstennähe wirklich auf dem Meeresboden befinden. Küste, aber auch die Fischerei ist an einer Lösung dieses Themas interessiert. Dies alles stellt ein bedrückendes Szenario dar, und ich halte es für gut, dass der Antrag der Grünen das Thema Der Antrag der Grünen ist einerseits scheinheilig, weil der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee wieder in un- Sie Ihre eigenen Versäumnisse in Ihrer Regierungszeit ser Blickfeld rückt. Ich halte auch die Forderung der Grü- verschweigen. Andererseits handelt es sich um ein objek- nen für richtig, dass wir eine klare Regelung der Zustän- tives Problem, das gelöst werden muss. Es ist eine kom- digkeiten zwischen Bund und Ländern brauchen, weil plexe Thematik, die nicht mit Schnellschüssen zu erledi- sich Bund und Länder oftmals gegenseitig die Verantwor- gen ist. Wir brauchen eine Schrittfolge: erstens Klärung tung für die Entsorgung der Altlasten zugeschoben ha- der Kompetenzen, zweitens Gefährdungsabschätzung, ben.

Zu Protokoll gegebene Reden 19174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Detlef Müller (Chemnitz) (A) Allerdings, und das sage ich auch deutlich, halte ich stellung der Seekarten zuständige Bundesamt für See- (C) auch nichts von übertriebener Panikmache. Wir haben es schifffahrt und Hydrographie (BSH) auf Munitionsfunde ja nicht mit einer plötzlich aufgetretenen Gefahr zu tun, hinweisen. Die Kennzeichnung in den Seekarten und er- sondern das Problem ist schon lange bekannt. Die Bun- gänzende Warnhinweise, zum Beispiel, dass Ankern und desregierung ist in dieser Angelegenheit nicht untätig ge- Fischen verboten sind, warnt die Schifffahrtstreibenden wesen. Und viele Forderungen, die im Antrag der Grünen und insbesondere die Fischer und soll somit das Unfall- enthalten sind, werden in der Praxis bereits umgesetzt. So risiko reduzieren. Auch die Bundesmarine ist angewie- ist Deutschland als Mitglied des OSPAR-Abkommens sei- sen, die zuständigen Stellen kontinuierlich über Munition nen Verpflichtungen nachgekommen. Die Abfrage und und Kampfmittel, die zum Beispiel im Rahmen des jährli- Bewertung erfolgt dazu alle drei Jahre, zuletzt in diesem chen multinationalen Ostseemanövers „Open Spirit“ ge- Jahr, unter anderem als Beitrag zu einer Bewertung im ortet werden, zu informieren. Rahmen des OSPAR-Qualitätszustandsberichts 2010. Trotzdem, und auch das gehört auch zur Wahrheit, fah- Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, be- ren einige Fischer in diese eigentlich gesperrten Berei- vor Sie nach einer gesetzlichen Meldepflicht für alle Un- che, um dort zu fischen, weil sich in diesen Bereichen fälle mit Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee rufen, Rückzugsgebiete der Fische befinden und sie deshalb auf hätten Sie sich lieber mal kundig gemacht. Bei den Län- eine höhere Fangquote hoffen. Diese Fischer verhalten dern bestehen längst etablierte Meldewege. Im Falle von sich illegal, sie gehen bewusst ein hohes Risiko ein, weil Niedersachsen erfolgt dies zum Beispiel über die Behör- es natürlich passieren kann, dass sich Granaten in den den der Gefahrenabwehr. Die Ordnungsverwaltungen Schleppnetzen verfangen können. der Städte und Gemeinden oder die Polizei werden bei ei- nem Fund von Munition tätig. Die Beseitigung der Muni- Zusammenfassend kann man feststellen, dass nach den tion obliegt dann der Verantwortung des Kampfmittelbe- uns vorliegenden Berichten zumindest hinsichtlich der seitigungsdienstes. Im Bereich der niedersächsischen Munitionsaltlasten keine großräumige Gefährdung in Re- Küste gibt es sogar noch einen zweiten Meldeweg – eine lation zur gesamten Schadstoffbelastung zu erwarten ist. Direktmeldung durch Küstenfischer direkt an den Kampf- In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Antwort mittelbeseitigungsdienst. der Bundesregierung in der Drucksache 16/353. Nach dem HELCOM-Abschlussbericht besteht nach den vor- Sie fordern in Ihrem Antrag auch gründliche Untersu- liegenden Kenntnissen demnach kein weitreichendes Ri- chungen. Wir haben ja bereits Forschungsberichte vor- siko durch im Wasser gelöste Kampfstoffe für die Umwelt liegen, die nach bisherigem Stand keine unmittelbare der Ostsee. Gefahr für Menschen, die Meeresumwelt oder die Küs- tenregion befürchten. Diese sind im Rahmen der von Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass viele (B) (D) HELCOM und OSPAR zusammengetragenen Informatio- Forderungen im Antrag der Grünen bereits längst Reali- nen auch öffentlich zugänglich. tät und deshalb überflüssig sind. Sie dienen nur der Pa- nikmache, dies können wir allerdings bei diesem zugege- So haben zum Beispiel Untersuchungen für das Born- ben sensiblen Thema nicht gebrauchen. holm- und Gotlandbecken ergeben, dass in den Becken der Ostsee Munitionsaltlasten weitgehend mit Sediment Trotzdem bedarf es in Zukunft vor allem einer besseren bedeckt wurden, soweit sie nicht schon beim Einbringen Verzahnung und Kompetenzzuweisung zwischen Bund in das weiche Oberflächensediment eingesunken sind. und Ländern, es darf kein Kompetenzwirrwarr mit even- Aufgrund der geringen Bodenströmungen sind Freile- tuellen Sicherheitsrisiken für die Bürger geben. Der Fö- gungen der Munitionsaltlasten hierbei nicht zu erwarten. deralismus in unserem Land darf uns an dieser Stelle nicht behindern! Auch die Gefahr des Durchrostens der in der Ostsee la- gernden und mit chemischen Kampfstoffen gefüllten Fäs- ser wurde untersucht. Aufgrund der physikalisch-chemi- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): schen Eigenschaften der versenkten Kampfstoffe und der Die Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee sind seit hydrographischen Gegebenheiten in den Versenkungsge- Jahrzehnten ein schwer abschätzbares Risiko für Umwelt bieten kann man davon ausgehen, dass für das Wasser und Gesundheit von Menschen. Fischer können bei Mu- keine großräumige Gefährdung entsteht. Die schwer ab- nitionsfunden, Urlauber durch die Verwechselung von baubaren Verbindungen sind nämlich meist sehr schlecht Phosphor mit Bernstein gefährdet werden. In der letzten wasserlöslich, sodass sie im Sediment – also am Boden – Woche wurde auf dem Timmendorfer Strand ein mehrere verbleiben. Nur in der Nähe der Versenkungen ist lokal Meter langes Mittelteil eines Torpedos angespült. Die begrenzt mit höheren Konzentrationen zu rechnen. Die Beispiele zeigen: Wir werden mit diesen Hinterlassen- besser löslichen Verbindungen wie Phosgen oder Lost schaften des Zweiten Weltkriegs noch viele Jahrzehnte le- werden relativ schnell im Wasser zu unschädlichen Ver- ben müssen. bindungen abgebaut. Daher sind im Wasser keine höhe- Die FDP-Bundestagsfraktion hat in dieser wie auch in ren Konzentrationen zu erwarten. der vorletzten Legislaturperiode die Bundesregierung in Auch sind die gefährlichen Gebiete in allen Seekarten Kleinen Anfragen nach ihren Kenntnissen, Bewertungen vermerkt. In den amtlichen Seekarten sind im deutschen und Maßnahmen befragt (Bundestagsdrucksache16/353). Teil der Ostsee zum Beispiel dreizehn Gebiete als „Un- Doch weder die jetzige schwarz-rote, noch die vorherige rein (Munition)“ eingezeichnet. Eine Eintragung erfolgt, rot-grüne Regierung erwiesen sich als besonders aus- wenn als zuverlässig angesehene Quellen das für die Er- kunftsfreudig. Wenn Nord- und Ostsee betroffen sind, hal-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19175

Dr. Christel Happach-Kasan (A) ten sich die jeweiligen Bundesregierungen für nicht zu- für die Ostsee nicht bekannt) wurden nach dem letzten (C) ständig. Jüngstes Beispiel: Drei Wochen hat es gedauert, Krieg zusätzlich mehrere Hunderttausend Tonnen kon- bis das illegale Versenken von Felsblöcken auf dem Au- ventioneller Munition in der Ostsee versenkt. Diese ver- ßenriff von Sylt beendet wurde. Jeder in der Regierung klappten Kampfmittel führen bis heute besonders bei der wusste, es ist illegal, doch gegen den Zustandsstörer Schleppnetzfischerei zu Problemen. Greenpeace wollte keiner tätig werden, obwohl der Rechtsbruch offensichtlich war und der Schutz von FFH- Die Bundesregierung ist bisher von der Einschätzung Gebieten durch die Duldung eines solchen Rechtsbruchs ausgegangen, dass von den Munitionsaltlasten keine Ge- ein Präzedenzfall wäre, der den Schutz von FFH-Gebie- fahr ausgehe. Sie stützt sich dabei auf Angaben der ten erschwerte. HELCOM von 1994, dass ein Großteil der in der Ostsee versenkten Munitionsaltlasten in Wassertiefen zwischen Im vergangenen Sommer fand in Berlin die 16. Ost- 70 und 120 Metern, im Skagerrak zwischen 200 und seeparlamentarierkonferenz statt. Im Juli haben wir auf 700 Metern liege. In diesen Wassertiefen herrscht meist der Grundlage zweier Anträge der Koalition sowie eines eine stabile Wassermassenschichtung mit einer nur umfassenden Antrags der FDP mit dem Titel „Zukunfts- schwachen Bodenströmung, weshalb der vertikale Stoff- chancen des Ostseeraums – Wirtschaft; Ökologie; Kultur transport sehr gering ist, sodass keine direkte Gefahr von und Tourismus“ über die Ostsee debattiert (Bundestags- der Altmunition ausgeht. drucksache 16/5251). In diesen Zusammenhang gehört Die Bergung von Munitionsaltlasten aus dem Meer ist selbstverständlich auch das Thema Munitionsaltlasten, mit einem sehr hohen Risiko für das Ökosystem verbun- das von uns auch berücksichtigt wurde. den, da durch mechanische Beschädigungen größere Ein Jahr später nun spricht Bündnis 90/Die Grünen Mengen der Kampfstoffe freigesetzt werden könnten, so von der „Zeitbombe der Munitionsaltlasten in Nord- und das Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Ostsee“, so der Titel des Antrags. Vor einem Jahr war die Umweltfragen aus dem Jahr 2004. Ostsee den Grünen nicht einmal einen eigenen Antrag Die Bundesregierung bezeichnet die Kennzeichnungen wert, und jetzt auf einmal sind die seit über 60 Jahren auf gefährdeter Gebiete als ausreichend. Verletzungen von dem Grund der Ostsee liegenden Munitionsaltlasten eine Touristen zeigen jedoch, dass diese besser über das Ri- Zeitbombe. Als Herr Trittin Umweltminister war, hat siko informiert werden müssen, das in der Verwechselung diese sogenannte Zeitbombe wohl auch schon getickt, von Phosphor mit Bernstein liegt. Die Bundesregierung aber der damalige Umweltminister hat dennoch absolut ist außerdem in der Pflicht, für mehr Aufklärung und nichts unternommen. Dafür stellen die Grünen jetzt einen Transparenz im Zusammenhang mit der möglichen Ge- Katalog mit 20 Forderungen auf. Das ist entweder das fährdung der Ostsee durch Munitionsaltlasten zu sorgen. (B) Eingeständnis, dass sie selbst auf dem Gebiet nichts ge- Angesichts der regelmäßig wiederkehrenden öffentlichen (D) leistet haben, oder ein weiteres Beispiel für die bei den Diskussion über die Altlasten in der Ostsee wäre eine ab- Grünen zum Politikstil gehörende Panikmache. Wir soll- gestimmte Informationspolitik von Bund und Ländern ten uns nichts vormachen: Wir können auch bei hohem über das Thema sinnvoll und vertrauensbildend. Auch die Mitteleinsatz das Problem nicht aus der Welt schaffen, Einführung einer deutschlandweiten Meldepflicht für aber auch wir als FDP haben Vorschläge für einen bes- Unfälle mit Munitionsaltlasten an Stränden und in der Fi- seren Umgang mit dem Problem. scherei ist sinnvoll und überfällig. Dänemark hat eine Nach offiziellen Unterlagen des Munitionsbergungs- solche Meldepflicht. dienstes Mecklenburg-Vorpommern verfehlten über Es drängt sich der Gedanke auf, dass die Bundesregie- 600 Tonnen Sprengbomben und etwa 110 Tonnen Brand- rung die Sorgen von Bevölkerung und Fachleuten nicht bomben bei der Bombardierung der Heeresversuchsan- ernst nimmt. Hier besteht Handlungsbedarf, den die Bun- stalt für Raketenforschung in Peenemünde ihr Ziel und desregierung entweder bisher nicht gesehen hat oder fielen in direkter Küstennähe (bis maximal zwei Kilome- nicht sehen will. Da die Bundesregierung sich bisher als ter seewärts) in die Ostsee. Berechnungen des Munitions- weitgehend handlungsunwillig erwiesen hat, ist es gut, bergungsdienstes ergaben, dass sich circa 60 Tonnen dass jetzt immerhin in Schleswig-Holstein eine Arbeits- weißer Phosphor in dieser Bombenfracht befunden ha- gruppe gebildet wurde, die sich mit den Munitionsaltlas- ben. Weißer Phosphor ist im Meer persistent, das heißt, er ten im Meer beschäftigt und dabei hoffentlich zu befriedi- wird nicht natürlich abgebaut und ist auch nach Jahr- genden Ergebnissen kommen wird. zehnten noch vollständig vorhanden. Der Schwerpunkt für Unfälle mit Phosphor liegt an den Stränden im nord- östlichen Bereich von Usedom, wo phosphorhaltige Lutz Heilmann (DIE LINKE): Brandmittel regelmäßig angeschwemmt und mit Bern- Vergraben, Versenken und Vergessen ist das Rezept al- stein verwechselt werden, was zu schweren Verbrennun- ler bisherigen Bundesregierungen für unseren Sonder- gen führen kann. müll. Seit kurzem hält das Endlager Asse II die Öffent- lichkeit in Atem. Wie hier gepfuscht und vertuscht wurde, Nach dem Krieg haben die Alliierten chemische ist atemberaubend. Aber auch „gewöhnlicher“ Müll be- Kampfmittel in großen Mengen in der Ostsee verklappt. schäftigt uns immer wieder, wenn Wohnungen auf alten In Fässern, Bomben etc. lagern bis heute mindestens Müllkippen gebaut wurden. Eine besondere Gefahr stellt 65 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas, Ta- die halbe Million Tonnen Altmunition dar, die seit Jahr- bun, Zyklon B und Sarin auf dem Meeresgrund der Ost- zehnten auf dem Grund von Nord- und Ostsee verfallen. see. Nach Meinung von Experten (offizielle Zahlen sind Die haben entweder im Krieg ihr Ziel verfehlt. Oder sie

Zu Protokoll gegebene Reden 19176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Lutz Heilmann (A) wurden nach dem Krieg von Ost wie West einfach im nen. Der ist zwar etwas schwammig formuliert, aber in (C) Meer entsorgt. Sieht ja keiner, war wohl die Devise. der Sache richtig. Atommüll sieht man auch nicht. Aber dass der gefährlich ist, bestreitet nicht einmal die Atompartei CSU. Deswegen meine konkreten Forderungen an die Bun- desregierung: Minen, Torpedos, Granaten und ungezählte Bomben der Kategorie „Großkampfstoffe“ sind extrem gefähr- Erstens. Innerhalb des nächsten halben Jahres soll der lich. Das, was die Bomben im Krieg zum Glück nicht ge- Bund die alleinige Zuständigkeit für Munitionsaltlasten schafft hatten, nämlich Schiffe zu versenken, das kann in Nord- und Ostsee übernehmen. aber heute jederzeit passieren. Außer durch spontane De- Zweitens. Es ist innerhalb des nächsten Jahres eine tonationen explodieren Bomben auch dann, wenn am umfassende öffentliche Meldepflicht für Sprengstoff- Meeresboden schleifende Schiffsanker dagegenstoßen. funde, Munitionsunfälle sowie Munitionsverluste einzu- Da kann auch mal ein Schiff untergehen. führen. Besonders gefährdet sind Fischer, die mit ihren Netzen Drittens. Spätestens in einem Jahr ist mit der umfas- die Bomben an Bord holen. Erst im Frühjahr starben drei senden und einheitlichen Katalogisierung und Kartogra- niederländische Fischer, als eine Bombe an Deck ihres fierung aller Munitionsfunde zu beginnen. Schiffes explodierte. Wenn sie nicht explodieren, dann zerfallen die Bomben an Deck. Atemnot, Erstickungen Viertens. Sofort ist mit der raschen und systematischen und Verätzungen sind die Folge, wenn Giftstoffe, die in Bergung und dem Unschädlichmachen der Altmunition den Bomben sind, freigesetzt werden. zu beginnen. Für Badende und Erholungssuchende besteht die Ge- Meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, fahr von Verbrennungen durch an Strände gespülte Phos- Sie könnten hier noch einmal Tatkraft demonstrieren. phorteilchen alter Brandbomben. Diese sind leicht mit Oder wollen Sie sich bis zum Ende der Legislaturperiode Bernstein zu verwechseln. Sobald der Phosphor jedoch nur noch streiten? getrocknet ist, verursacht er starke Verbrennungen. Last but not least frage ich die Bundesregierung: Das Ökosystem ist ebenso betroffen. Fische und Pflan- Wurde die Ortung und Bergung von Munition bei den zen nehmen die Gifte auf, viele Fische verenden daran. Kosten der Fehmarnbelt-Querung eingerechnet? Im Feh- Insbesondere die am Meeresboden lebenden Flundern marnbelt liegt meines Wissens jedenfalls eine Menge da- sind betroffen. Und wer isst nicht gerne einmal die Ost- von rum. seescholle? Sie sollte aber nicht vergiftet sein. 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sollte neben dem (B) Seit dem Zweiten Weltkrieg sind bislang 581 Menschen geschichtlichen Aspekt endlich auch damit begonnen (D) zu Schaden gekommen. 283 Todesfälle sind zu beklagen. werden, die äußerst realen explosiven Hinterlassenschaf- Wir reden hier also nicht über irgend so ein spinnertes ten der Nazi-Diktatur aufzuarbeiten. Es muss Schluss Ökothema, wie das manche vielleicht abtun wollen. Wir sein mit dem Verbrennen, dem Vergraben und dem Ver- reden hier ganz konkret über die Rettung von Menschen- gessen. leben. Und was passiert? Nichts. Dabei sind viele Lager- stätten bekannt. Und technisch ist die Bergung, wenn Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch aufwendig, möglich. Aber statt Menschenleben zu NEN): retten erleben wir seit Jahren einen kleinkarierten Streit Auf den Böden von Nord- und Ostsee rosten noch im- zwischen Bund und Ländern. Dabei geht es – worum auch mer mindestens 700 000 Tonnen Munition und Kampf- sonst – ums Geld. stoffe aus dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit danach. Offiziell geht es natürlich um die formale Zuständig- Seit 1945 sind mindestens 581 Menschen Opfer von Un- keit. Aber wer die hat, muss eben auch die Bergung der fällen geworden, 283 Menschen verloren ihr Leben. Munition zahlen. Derzeit ist nur die Gefahrenabwehr für Heute geht von den tickenden Zeitbomben eine erhebliche den Schiffsverkehr dem Bund zugewiesen. Die Abwehr Gefahr für Mensch, Umwelt, Fischerei und Tourismus von Gefahren für Badende, Sporttaucher und Fischer au- aus. Regelmäßig werden Munitionsrückstände an deut- ßerhalb der Seewasserstraßen hingegen ist Ländersache. sche Strände gespült. Dort stellen sie nicht nur eine er- hebliche Gefahr für Urlauber und Badegäste, sondern Den Verletzten oder den Angehörigen der Toten ist es auch für die touristische Attraktivität ganzer Regionen aber völlig egal, ob nun der Bund oder die Länder Schuld dar. haben, dass eine Bombe auf einem Schiff explodiert. Es kann nicht sein, dass für jede Bombe die Zuständigkeit er- Auch die Schifffahrt ist in erheblichem Maße betrof- neut geprüft werden muss. Dann passiert nämlich lange fen: Fischer finden in ihren Netzen nach Angaben des erst einmal gar nichts. Ich fordere deshalb, dass die Umweltgutachters Dr. Stefan Nehring durchschnittlich einheitliche Zuständigkeit des Bundes hergestellt wird. 3 000 Kilogramm Munitionsrückstände im Jahr, mehrere Warum? Es handelt sich überwiegend um ehemals reichs- Fischkutter sanken bis heute. Der letzte große Unfall er- eigene Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Rechts- eignete sich 2005, als drei niederländische Fischer getö- nachfolger des deutschen Reiches ist unbestritten der tet wurden. Große Fanggebiete in der Nordsee sind be- Bund. Der Bund ist Eigentümer der Gewässer vor den reits für die Fischerei gesperrt. Kartierungen – wenn Küsten. Und die Länder sind damit schlicht finanziell überhaupt vorhanden – erlauben es nur bedingt, Rück- überfordert. Deshalb unterstütze ich den Antrag der Grü- schlüsse auf die tatsächliche Gefährdung von Gebieten zu

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19177

Rainder Steenblock (A) ziehen: Durch Meeresströmungen kommt es zu teilweise Mit unserem Antrag, der eine Reihe ganz konkreter (C) erheblichen Abweichungen zwischen angegebenen Ge- Maßnahmen enthält, fordern wir die Bundesregierung fährdungsgebieten und tatsächlichen Fundstellen. nochmals entschieden dazu auf, sich der Problematik der tickenden Zeitbomben in unseren Meeren – sowohl auf In einer der meist frequentiertesten Wasserstraßen der deutscher als auch auf europäischer Ebene – endlich an- Welt, der Kadetrinne, liegt das Wrack eines Kriegsschif- zunehmen. Die Bundesregierung muss sich gegenüber fes mit mindestens drei Bomben an Bord. Rund 200 der Europäischen Kommission im Rahmen der Europäi- Schiffe passieren täglich die schwer schiffbare Passage, schen Meerespolitik für effektive Managementkonzepte die durch ein ökologisch hoch sensibles Gebiet führt, da- und klare Kompetenzzuweisungen einsetzen. Ein Aktions- runter viele Öltanker. Ein Unfall an dieser Stelle hätte ka- programm unter Einbeziehung aller Ost- und Nordsee- tastrophale Folgen für die Meeresumwelt. Anrainerstaaten ist lange überfällig. Die Sanierung der Ost- und Nordsee ist nur als Gemeinschaftsaufgabe der Die Antwort auf meine Kleine Anfrage „Munitionsalt- Anrainerstaaten zu realisieren. Weitere Untersuchungen lasten in der Kadetrinne“ vom 27. Juni 2008 ist bezeich- und wissenschaftliche Forschungen müssen dringend nend für das bisherige Vorgehen der Bundesregierung in durchgeführt werden. Wenn vier Meter lange Torpedos an Sachen Munitionsrückstände: Mit dem Hinweis darauf, deutsche Strände gespült werden, muss selbst die Bundes- dass die Kadetrinne innerhalb der deutschen Ausschließ- regierung endlich begreifen, dass die Zeit des Wegguckens lichen Wirtschaftszone (AWZ) läge, dort Internationales ein für allemal vorbei ist. Seerecht gelte, welches die Rechte und Pflichten nicht klar regele, weist die Bundesregierung jede Zuständigkeit von sich. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Sollte von den Bomben eine Gefahr für die Schifffahrt Drucksache16/9103 an die in der Tagesordnung aufge- ausgehen, was zum heutigen Zeitpunkt keinesfalls ausge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- schlossen werden kann, wäre die Bundesregierung jedoch verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung durch die von ihr geschlossenen internationale Verträge so beschlossen. zwingend zum Handeln verpflichtet. Zu diesem Ergebnis kommt eine von mir in Auftrag gegebene Untersuchung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheit als richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales unfähig erwiesen, sich dem Problem der Munitionsaltlas- (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten ten in einem Maße anzunehmen, welches der Risiken und Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard (B) (D) Gefahren auch nur ansatzweise gerecht wird: Nach wie Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der vor sind die Kompetenzenregelungen zwischen Bund, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ländern und Behörden auf der einen Seite, zwischen der Bundesrepublik Deutschland, anderen Meeresanrainern Arbeitslosengeld II unbürokratisch berech- und der Europäischen Union auf der anderen Seite völlig nen und auszahlen – Rechts- und Planungs- unzureichend geregelt. Grundlegende Daten für die Be- sicherheit für Leistungsbeziehende schaffen wertung der von den Munitionsrückständen ausgehenden – Drucksachen 16/7838, 16/8445 – Gefahren und Risiken sowie offizielle Statistiken über Un- fälle fehlen noch immer. So ist unklarer denn je, welche Berichterstattung: reellen Gefahren von den Munitionsaltlasten für die Mee- Abgeordneter Stefan Müller (Erlangen) resumwelt und den Menschen, für die Fischerei und Un- terwasserbauvorhaben wie der Ostseepipeline tatsäch- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die lich ausgehen. Anstatt endlich zu handeln, betreibt die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- Bundesregierung frei nach dem Motto „Aus den Augen, gende Kolleginnen und Kollegen: Karl Schiewerling, aus dem Sinn“ ein gefährliches Spiel. CDU/CSU, Angelika Krüger-Leißner, SPD, Dirk Niebel, FDP, Katja Kipping, Die Linke, und Markus Kurth, Meine Fraktion fordert die Bundesregierung seit lan- Bündnis 90/Die Grünen. gem dazu auf, endlich klare Zuständigkeiten zu benennen, Statistiken als Grundlage einer seriösen Bedrohungsana- Karl Schiewerling (CDU/CSU): lyse für Mensch und Umwelt zu erstellen, eine deutlich verbesserte Informationspolitik zu betreiben und effektive Mit diesem Antrag spricht sich die Fraktion Sicherungsmaßnahmen, die die größten Risiken einzu- Bündnis 90/Die Grünen grundsätzlich für die Beibehal- dämmen in der Lage sind, vorzunehmen. tung des Prinzips pauschalierter Sozialleistungen aus. Die Pauschalierung ist ein wichtiges Prinzip im SGB II. Die Zeit drängt: Die Durchrostung der Kampfmittel Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dies gefor- schreitet weiter voran, Spreng- und Kampfstoffe werden dert und in die Reform der Sozialhilfe und der Arbeitslo- verstärkt freigesetzt. Kürzlich stellten Kieler Toxikologen senhilfe mit hineingeschrieben; zum einen deshalb, weil eine zunehmende Konzentration von Arsen in Ostsee- die pauschalierte Regelleistung mehr Selbstständigkeit schollen fest. Sowohl der Mensch, der diese Giftstoffe für Leistungsbeziehende bedeutet, zum anderen, weil So- über die Nahrungskette aufnimmt, als auch die Meeres- zialverwaltungen von aufwendigen Einzelfallprüfungen umwelt sind zunehmend gefährdet. verschont bleiben. 19178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Karl Schiewerling (A) Soweit abweichend von der Pauschalisierung der Re- Wir müssen vielmehr dafür Sorge tragen, dass allen (C) gelleistung die Schaffung individueller Sonderbedarfe, erwerbsfähigen Menschen – und somit den Eltern dieser insbesondere auch für Kinder und Jugendliche, gefordert Kinder – eine Chance auf Erwerbsarbeit eröffnet wird. wird, lehnen wir das grundsätzlich ab. Man kann indivi- Dahinter steht auch die Grundüberzeugung, wie sie unter duellen Einzelfällen nicht durch eine gesetzliche Verord- anderem auch in der katholischen Soziallehre deutlich nung gerecht werden, ohne ein System aufbauen zu müs- wird, dass staatliche monetäre Zuwendungen allein nicht sen, das hinterher kaum noch zu durchblicken ist. Zudem zum Zustand sozialer Gerechtigkeit führen. Bloße Ali- kann man nicht gleichzeitig bürokratische Einzelfallprü- mentation stellt menschenwürdige Lebensbedingungen fungen bemängeln und auf der anderen Seite einen An- und gerechte Verwirklichungschancen noch nicht sicher. spruch auf individuelle Mehraufwandsentschädigung Sie kann sogar das Gegenteil bewirken, wenn sie zu Pas- fordern. Diese Ansprüche müssten ebenfalls durch die sivität führt. Jobcenter überprüft werden, die bereits mit bürokrati- schen Einzelfallprüfungen überfrachtet sind. Die Menschen brauchen verlässliche, langfristig an- gelegte Hilfestrukturen und Personen, die sie begleiten. Sie kritisieren in ihrem Antrag die Arbeitslosengeld-II- Das verlangt gesicherte Finanzen und Rahmenbedingun- Verordnung. Die Berücksichtigung von Sachleistungen, gen. Bund, Länder und Kommunen sind gefordert. etwa der unentgeltlich bereitgestellten Verpflegung, ist erforderlich, weil die Betroffenen insoweit Leistungen er- Statt Leistungsausweitung ist es zielgerichteter, den halten, die den Lebensunterhalt teilweise sichern und Langzeitarbeitslosen eine Perspektive dahingehend zu dem gleichen Zweck wie die Leistungen zum Lebensun- eröffnen, dass sie einen Job bekommen und am Erwerbs- terhalt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch dienen. leben teilnehmen können. Das ist und muss das Ziel der Würde keine Anrechnung erfolgen, würden die Betroffe- Grundsicherung für Arbeitsuchende sein. nen insoweit doppelte Leistungen erhalten. Im Mittelpunkt der Grundsicherung steht die Aktivie- Die Neuregelung enthält aber auch eine Bagatell- rung der Hilfeempfänger. Das große Ziel ist, nicht vom grenze, die Härten vermeiden und die Verwaltung von der Staat finanziell abhängig zu sein, sondern aus eigener Rückforderung kleinerer Beträge entlasten soll: Erst Kraft das Leben zu finanzieren. Das ist auch menschen- wenn das Einkommen aus dem Sachbezug der bereitge- würdiger. stellten Verpflegung in einem Monat einen Betrag in Höhe von derzeit 83,28 Euro monatlich übersteigt, wird Angelika Krüger-Leißner (SPD): es nach Abzug der Zuzahlungen als notwendige Ausga- Zunächst das Positive: Die Grünen stehen weiterhin ben als Einkommen berücksichtigt. zur Pauschalierung der Regelleistungen. Das ist erfreu- (B) Da die durchschnittliche Dauer eines Krankenhaus- lich, schließlich haben wir das mal zusammen beschlos- (D) aufenthaltes in Deutschland bei 8,5 Tagen liegt, wird für sen. die überwiegende Zahl der Betroffenen mit der Rechts- Früher mussten die Betroffenen wegen jeder noch so verordnung die Klarheit geschaffen, dass es zu keiner kleinen Kleinigkeit beim Sozialamt um Bewilligung bit- Minderung der Leistungen der Grundsicherung für Ar- ten. Dieser Praxis haben wir gemeinsam einen Riegel beitsuchende kommt. vorgeschoben. Die Vorteile unserer Entscheidungen, das Mit der Bagatellgrenze ist auch sichergestellt, dass Arbeitslosengeld II stärker zu pauschalieren als die alte beispielsweise ein kostenloses Mittagessen in der Schule Sozialhilfe, sind offensichtlich: geringerer Verwaltungs- oder im Kindergarten nicht als zusätzliches Einkommen aufwand und damit Bürokratieabbau, größere Entschei- angerechnet wird. dungsfreiheit der Betroffenen und Transparenz. Die Forderung der Grünen nach einer Nichtanrech- Das war es dann aber auch schon mit den positiven As- nung karitativer Zuwendungen wie beispielsweise Le- pekten im Antrag der Grünen. Denn ansonsten zeichnet bensmittel- oder Möbelspenden ist bereits geltende der Antrag ein unvollkommenes Bild. Zum einen bemän- Rechtslage und ist somit erfüllt. geln Sie bürokratische Einzelfallprüfungen und fordern eine stärkere Pauschalierung. Zum anderen fordern Sie Ich finde die ganze Diskussion um Sonderbedarfe und aber die Berücksichtigung individueller Mehrbedarfe. die Höhe des Regelsatzes überflüssig. Immer wieder heißt Ihr Beispiel verdeutlich das: Mögliche Mehrbedarfe es, die Kinderregelsätze seien unzureichend und ihre Be- könnten durch den Kauf von Kleidung in Übergröße ent- messung nicht sachgerecht, und deshalb sei eine Erhö- stehen. Da frage ich Sie, was gilt als Übergröße? Wollen hung notwendig. Derzeit beziehen etwa 2,1 Millionen Sie festlegen, ob nun XL oder XXL als Übergröße gilt? Ist Kinder bis 17 Jahren Leistungen nach dem SGB II und es nicht so, dass manchmal XL passt und manchmal XXL? etwa 16 000 nach dem SGB XII. Fälschlicherweise wer- Gilt das eine Sweatshirt dann als Mehrbedarf und das an- den diese Kinder immer als arm bezeichnet. Würde man dere nicht? Stellen Sie sich vor, die Fallmanager müssten der Forderung nachkommen und die Kinderregelsätze er- sich jeden Kassenzettel zeigen lassen, um zu kontrollie- höhen, würde wegen der steigenden Zahl der Anspruchs- ren, in welcher Größe Kleidungsstücke gekauft wurden. berechtigten die Zahl der so definierten „Armen“ nicht Dieser Vorschlag trägt mit Sicherheit nicht zum Bürokra- sinken sondern steigen. Im Übrigen ist das Sozialgeld für tieabbau bei. Bereits heute schon äußerst knappe perso- Kinder in der Grundsicherung deutlich höher als das nelle Ressourcen in den Arbeitsgemeinschaften und Op- Kindergeld, das die Familien erhalten, die knapp über tionskommunen würden zusätzlich gebunden. Der Auftrag, den Sätzen des SGB II liegen. Menschen Alternativen zum ALG-II-Bezug aufzuzeigen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19179

Angelika Krüger-Leißner (A) und sie in Arbeit zu vermitteln, würde vernachlässigt. Ich Trotz dieser prinzipiellen Überlegungen gilt unser (C) möchte nicht, dass wir Arbeitslosigkeit verwalten, son- Blick immer den Betroffenen, insbesondere bei der von dern wir müssen sie aktiv bekämpfen. Ihnen angesprochenen Verpflegung bei einem Kranken- hausaufenthalt. Wir haben mit der Einführung der Baga- Lassen Sie mich in dem Zusammenhang etwas zu den tellgrenze von derzeit 83,28 Euro soziale Härten vermie- Bedarfen von Kindern sagen. Ich unterstelle mal, dass je- den. Diese gilt grundsätzlich pro Monat. Das heißt in der der hier in diesem Saal sich der Bedeutung von Kindern Praxis, für einen Patienten, der ein Jahr lang den in unserer Gesellschaft bewusst ist. Ich unterstelle auch, Höchstregelsatz an Arbeitslosengeld II bezieht, wird die dass jeder sich der Bedeutung von Kinderarmut bewusst Vollverpflegung erst ab dem 21. Tag des Aufenthaltes ist. Keine Frage, Kinderarmut gründet sich in der Regel angerechnet. Bei einer durchschnittlichen Krankenhaus- in der Armut der Eltern. Aber es ist nicht nur ein finan- aufenthaltsdauer von 8,5 Tagen ist ein Großteil von der zielles Problem. Es ist auch ein Problem fehlender Chan- Anrechnung gar nicht betroffen. cengleichheit in der Bildung und der gesellschaftlichen Lassen sie mich abschließend noch zur Anpassung der Teilhabe. Die Auffassung, dass allein monetäre Anreize Regelsätze etwas sagen. Als Grundlage für Anpassungen das Problem der Kinderarmut lösen, halte ich für falsch. der Regelsätze brauchen wir valide Daten, die nach ei- Wir müssen andere Wege beschreiten. nem verlässlichen und transparenten Verfahren bestimmt Die SPD – als treibende Kraft in dieser Koalition – ist werden. Willkür ist hier nicht geboten. Richtig ist, dass da auf dem richtigen Weg. Denn entgegen den Widerstän- sich das Verfahren der Einkommens- und Verbrauchs- den aus der konservativen Ecke haben wir mit dem El- stichprobe zur Ermittlung der Regelsätze bewährt hat. terngeld zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Be- Richtig ist aber auch, dass der Zeitraum, diese Daten nur alle 5 Jahre zu erheben, zu lang ist. Ein Zeitraum von ma- ruf beigetragen. Und bereits nach einem Jahr können wir ximal 3 Jahren ist denkbar. Die Veränderungen vollzie- sagen: Das Eltergeld kommt gut an. hen sich einfach schneller als zu früheren Zeiten. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kinderbetreuung. Zum Ende des Jahres erwarten wir die Ergebnisse der Mit dem Kinderförderungsgesetz, das wir am morgigen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008. Darüber Freitag in erster Lesung behandeln, haben wir einen hinaus prüft das BMAS derzeit die Auswirkungen der ak- Rechtsanspruch für jedes Kind auf einen Betreuungsplatz tuellen Preisentwicklung für Empfänger von ALG II. Auf durchgesetzt. Das gilt ab 2012. Auch die Zusage von Peer Grundlage der Ergebnisse werden wir dann über eine An- Steinbrück einer Beteiligung des Bundes an den Betriebs- passung der Regelsätze reden und entsprechend handeln. kosten der Kitas macht deutlich: Wir meinen es ernst mit unseren Kindern. Wir haben in diesem Bereich viel getan. Dirk Niebel (FDP): Und wenn Sie mich jetzt fragen, ob wir genug getan ha- (B) Die Grundsicherung für Arbeitsuchende sollte den bü- (D) ben, dann sage ich Ihnen, man kann nie genug tun! Den- rokratischen Aufwand bei der Antragsbearbeitung von noch bin ich froh über das, was wir erreicht haben. Arbeitslosen- und Sozialhilfe eindämmen und Verwal- Ein Wort noch zum Kindergeld. Für uns Sozialdemo- tungskosten einsparen. Dennoch steigt die Klageflut an kraten ist klar: Jedes Kind ist uns gleich viel wert. Eine den Sozialgerichten seit Jahren, weil viele Details im Ge- Staffelung des Kindergeldes nach erstem, zweitem oder setz ungeklärt geblieben sind. Die meisten Fälle drehen drittem Kind, wird es mit uns nicht geben. Darüber hi- sich um die Bedarfsberechnung, die Anrechnung von Ein- naus ist es nur richtig, den Existenzminimumbericht der kommen und Vermögen, angemessene Wohnungskosten Bundesregierung in die Entscheidungsfindung mit einzu- und Sanktionen. Diese Verfahren kosten die Zeit und das Geld aller Beteiligten. Die Gerichte geben bei ähnlichen beziehen. Warten wir ihn ab – diskutieren dann und han- Fallgestaltungen in Einzelfällen den Betroffenen Recht, deln zielorientiert. in anderen machen sie eine Ablehnung nachvollziehbar. Lassen Sie mich zurückkommen zum Antrag. Es ist är- Das zeigt, wie groß die Unsicherheit ist. gerlich, wie Sachverhalte einfach falsch dargestellt wer- In diesem Antrag wird gefordert, die Arbeitslosen- den. Der Antrag zeichnet nicht nur ein unvollständige geld II-Sozialgeld-Verordnung des Arbeitsministeriums, sondern auch ein falsches Bild. Fakt ist, mit der Arbeits- die seit 1. Januar 2008 in Kraft ist, nach dem Grundsatz losengeld-II-Verordnung ist eine Klarstellung der gelten- pauschalierter Regelleistungen zu überarbeiten. Außer- den Rechtslage erfolgt. Mit anderen Worten, die Verord- dem sollen Verpflegungsleistungen bei stationären Auf- nung bedarf keiner Klarstellung, sie ist die Klarstellung! enthalten grundsätzlich nicht als Einnahme auf die Re- Und insbesondere bei dem von Ihnen angesprochenen gelleistung angerechnet werden. Problem der Anrechnung von Verpflegung wurde Rechts- klarheit geschaffen. Grundsätzlich gilt Verpflegung als Die FDP hat sich für die Pauschalierung von Sozial- Einkommen bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II. leistungen eingesetzt. Die pauschalierten Regelsätze ge- Damit ist klar, dass es sich hier nicht um eine Absenkung ben den Menschen die Freiheit, ihr Geld so einzusetzen, der Regelleistung handelt oder ein Bedarf abweichend wie sie es brauchen. Deshalb unterstützen wir auch die grundsätzliche Forderung, bedürftigkeitsabhängige So- festgesetzt wird. Die Berücksichtigungen von Einkommen zialtransfers weitgehend zu pauschalieren. Das ist eine und Vermögen sind Grundprinzipien des Leistungsbezu- Maßnahme zur Schaffung größerer Transparenz und ges im SGB II. Einkommen und Vermögen sind Ausdruck Rechtsklarheit. der eigenen Leistungsfähigkeit und daher zu berücksich- tigen. Ein doppelter Leistungsbezug wird verhindert. Das Leider weicht der Antrag von dieser Forderung wieder ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. ab. Er hebt hervor, dass das Prinzip der individuellen Be-

Zu Protokoll gegebene Reden 19180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Dirk Niebel (A) darfsdeckung durch die Pauschalierung nicht ausgehe- für diejenigen, die die finanzielle Grundlage des Leis- (C) belt werden darf. Dabei scheint es auch wieder weniger tungsbezuges sichern, eine andere Perspektive. Die Men- um Entbürokratisierung und Vereinfachung zu gehen als schen in der Mitte der Gesellschaft müssen entlastet statt darum, einen höheren Leistungsumfang bei den Arbeits- immer weiter belastet werden. Sie fragen sich zu Recht, losengeld-II-Beziehern zu erreichen. Dies wird belegt warum der Aufschwung bei ihnen nicht angekommen ist, durch die Formulierung, dass die Bundesregierung es wo der Abschwung schon vor der Tür steht. versäumt, durch die Festlegung bedarfsgerechter Regel- sätze das soziokulturelle Existenzminimum sicherzustel- Katja Kipping (DIE LINKE): len, und die Forderung, bereitgestellte Verpflegungsleis- Sowohl die grundsätzlichen Erwägungen als auch die tungen grundsätzlich nicht auf die Regelleistung als konkreten Forderungen des Antrags 16/7838 werden von Einnahme anzurechnen. meiner Fraktion geteilt. Insbesondere bedarf es einer Die gute Arbeitsmarktlage ist an den ALG-II-Empfän- dringenden und gründlichen Überarbeitung der ALG-II- gern vorbeigegangen. Ihre Situation hat sich nicht we- Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur sentlich verbessert. Eine schnellere Vermittlung in Be- Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen im schäftigung hat nicht stattgefunden. Das Personal ist mit Sinne des Grundsatzes pauschalierter Leistungen, die wir Verwaltungs- statt Vermittlungsaufgaben befasst. Weder aktuell als vollkommen falsch konzipiert betrachten. wurden neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze Auch sind wir nach wie vor der Auffassung, dass Ver- für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose geschaf- pflegungsleistungen bei stationären Aufenthalten oder fen, noch wurden die Anreize zur Arbeitsaufnahme attrak- Teilverpflegungen in Kindertagesstätten und Schulen tiv gesetzt. Statt einen geregelten Niedriglohnsektor ein- grundsätzlich nicht auf die Regelleistung angerechnet zuführen, der auch diesen Menschen die Chance auf werden dürfen. Dahin gehende Forderungen hat meine Beschäftigung gibt, werden weitere Arbeitsplätze durch Fraktion ja auch immer wieder in eigenen Anträgen er- die geplante Einführung von flächendeckenden Mindest- hoben, so bereits mehrfach die deutliche Anhebung des löhnen gefährdet. Mindestlöhne werden Arbeitsplätze in Regelsatzes, die Berücksichtigung kinder- und ju- die Schwarzarbeit verdrängen und dadurch die Chancen gendspezifischer Bedarfe und zuletzt die Nichtanrech- von Langzeitarbeitslosen verschlechtern. nung von Verpflegung bei stationärem Aufenthalt auf die Regelleistung. Hier teilen wir die Sicht der Grünen, dass Auch das Chaos bei der Betreuung von Langzeitar- eine solche Anrechnung – auch jenseits einer Bagatell- beitslosen durch Arbeitsagenturen, Kommunen und Ar- grenze – dem Grundsatz der Pauschalierung wider- beitsgemeinschaften muss beendet werden. Wir wollen, spricht, und weisen die Interpretation des Ministeriums dass alle Arbeitslosen in kommunalen Jobcentern betreut (siehe Antwort auf unsere Kleine Anfrage 16/7922), dass und beraten werden, weil die Kommunen besser auf indi- (B) mit der Verordnung dem Votum des Petitionsausschusses (D) viduelle Problemlagen und den regionalen Arbeitsmarkt weitgehend entsprochen wurde, aufs Schärfste zurück. reagieren können. In dieser Auffassung werden wir von vielen Optionskommunen unterstützt; nur die Bundesre- Insbesondere möchte ich noch einmal hervorheben, gierung weigert sich, dies zur Kenntnis zu nehmen. dass wir eine Ermessensentscheidung durch die Grundsi- cherungsträger bei der Überprüfung der Betriebsausga- Das Arbeitslosengeld soll und kann durch Hinzuver- ben von Selbstständigen, die ergänzendes ALG II bezie- dienste aufgestockt werden. Statt ständig einen höheren hen, ablehnen. Statt noch mehr unangemessenen Leistungsbezug zu fordern, sollte alles unternommen bürokratischen Aufwand zu erzeugen, indem ein Streit um werden, um den Betroffenen eine Perspektive auf Be- jeden Bleistift und jede Druckerkartusche stattfindet, schäftigung zu geben. Die Aufnahme einer auch nur ge- sollte bei der Berechnung von Einkommen und der Abset- ring entlohnten Beschäftigung muss gegenüber der allei- zung von Betriebsausgaben von selbstständig Tätigen das nigen Inanspruchnahme staatlicher Transferleistungen Steuerrecht zum Maßstab gemacht werden und nicht, wie attraktiver werden. Dazu müssen auch die bestehenden in der Verordnung vorgesehen, eine zweite Prüfung durch Regelungen zur sozialen Absicherung vereinfacht und un- das Jobcenter vollzogen werden. bürokratischer ausgestaltet werden. So hätten die Jobcenter auch mehr Freiraum, um sich Unser Bürgergeld-Konzept bedeutet den notwendigen auf eine deutlich verbesserte Beratung und Vermittlung Systemwechsel. Unser Bürgergeld-Konzept ist ein trans- von Hilfesuchenden zu konzentrieren. Denn aktuell lässt parentes Steuer- und Transfersystem aus einem Guss und die Beratungsqualität in staatlichen bzw. amtlichen Stel- bietet einen gleitenden und lohnenden Übergang in die len immer noch sehr zu wünschen übrig. Erwerbstätigkeit. Das Bürgergeld stellt ein Mindestein- In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf unsere kommen für jeden sicher, und zugleich schafft es zusätzli- Forderungen nach der Stärkung von unabhängigen Bera- che Anreize, durch Arbeit ein höheres Netto-Einkommen tungsstellen aufmerksam machen; denn sehr viele Hilfe- zu erzielen. Damit ist es gerechter und wirksamer als jede suchende wenden sich in ihrer Not an solche Einrichtun- Mindestlohnregelung. Das Bürgergeld muss individuell gen und suchen dort Rat und Unterstützung. Einer ausgestaltet werden, je nach Lebenssituation. Das Bür- unserer Vorschläge dazu ist, zum Beispiel diese Einrich- gergeld muss so berechnet werden, dass es bezahlbar tungen mit qualifiziertem Personal zu verstärken. Das bleibt und eine hinreichende Versorgung gewährleistet. hätte zudem die Konsequenz, dass die Jobcenter etwas entlastet würden. Leistungsbezieher brauchen eine andere Perspektive als mehr Anträge für mehr Leistung, sie brauchen eine Weitere positive und weitreichende Effekte kann die Perspektive auf einen Arbeitsplatz. Wir brauchen auch Bundesregierung aber vor allem dadurch erzielen, indem

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Katja Kipping (A) als erster Schritt die Regelsätze bei Hartz IV endlich in Dies schafft Planungssicherheit für die Leistungsbezie- (C) Richtung einer armutsfesten Grundsicherung und in henden und entlastet die Leistungsbehörden von bürokra- Übereinstimmung mit dem geltenden Recht auf 435 Euro tischen Einzelentscheidungen, vorausgesetzt, die Regel- pro Monat angehoben werden. In einem zweiten Schritt leistungen sichern das soziokulturelle Existenzminimum. muss dann eine repressionsfreie soziale Grundsicherung Vor diesem Hintergrund wurde zum 1. Januar 2005 das eingeführt werden, die diesen Namen auch wirklich ver- Arbeitslosengeld II eingeführt. Bedauerlicherweise ist dient. die Bundesregierung auch im dritten Jahr nach Einfüh- rung dieser Leistung nicht in der Lage, die notwendigen Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Anpassungen vorzunehmen. Weder wurden die Regelleis- Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales tungen auf ein existenzsicherndes Niveau angepasst, (BMAS) hat zum 1. Januar 2008 eine neue Verordnung noch werden sie unbürokratisch ausgezahlt. So hat das zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberück- BMAS trotz einer Vielzahl anderslautender Sozialge- sichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeits- richtsentscheidungen die Verrechnung von Krankenhaus- losen II/Sozialgeld, kurz: ALG-II-Verordnung, auf den kost auf den Regelsatz in der hier zur Debatte stehenden Weg gebracht. Diese Verordnung klingt nicht nur büro- ALG-II-Verordnung festgeschrieben. Zwischenzeitlich kratisch, sie enthält auch Regelungen, die selbstständi- hat das Bundessozialgericht mit dem Urteil vom 18. Juni gen Leistungsbeziehern eigene unternehmerische Ent- 2008 (Az.: B 14 AS 22/07 R) jedoch grundsätzlich die scheidungen nahezu unmöglich machen. Seit dem Möglichkeit verneint, die Regelleistung bei Gewährung 1. Januar 2008 soll der Abzug von Betriebsausgaben von Krankenhauskost zu kürzen. Das Bundessozialge- nicht mehr nach den Maßstäben des Steuerrechtes erfol- richt hebt ausdrücklich den Grundsatz der Pauschalie- gen, sondern weitgehend dem Ermessen der Fallmanager rung des Arbeitslosengeld II hervor und verneint die in den Jobcentern unterliegen. Mit dieser Vorgabe wer- Rechtsauffassung der Bundesregierung, dass das Be- den nicht nur die Leistungsbehörden, sondern auch die darfsdeckungsprinzip Grundlage für die Kürzung der Re- Selbstständigen im ALG-II-Bezug über Gebühr belastet. gelleistung bei Gewährung von Krankenhauskost sei. Zum einen sind die Fallmanager für unternehmerisches Handeln nicht ausgebildet. Zum anderen sind Selbststän- Die hier zur Debatte stehende Verordnung zur Berech- dige aufgrund der neuen Regelung gezwungen, eine dop- nung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung pelte Buchführung ganz eigener Art aufzustellen: eine für von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosen II/ das Finanzamt und eine für die Sozialbehörde. Sozialgeld stellt nicht nur eine bürokratische Gängelung en détail dar, sie hält auch nicht, was ihr Titel verspricht. Die Zahl der Selbstständigen ist seit Einführung des Der Gesetzgeber hat das BMAS in seiner Verordnungser- Arbeitslosengeld II kontinuierlich gestiegen. Allein im (B) mächtigung lediglich dazu ermächtigt, zu regeln, „wel- (D) Zeitraum von Januar 2007 bis April 2008 stieg die Zahl che weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berück- der selbstständig tätigen Leistungsbeziehenden, die nicht sichtigen sind“ (§ 13 SGB II). Genau deshalb heißt es im ohne ein ergänzendes ALG II über die Runden kommen, Titel der Verordnung auch: „Nichtberücksichtigung von von 56 250 auf 96 940 Personen. Ohne das Abschre- Einkommen und Vermögen“. Gleichwohl regelt das ckungsinstrument der ALG-II-Verordnung wäre die Zahl BMAS ohne die nötige Rechtsetzungskompetenz, welche der selbstständig tätigen Leistungsbeziehenden voraus- Einnahmen als Einkommen zu berücksichtigen sind, so sichtlich deutlich höher. Das Arbeitslosengeld II hat dem- auch bei der Regelung zur Verrechnung von Kranken- nach für Selbstständige eine zunehmende Bedeutung und hauskost mit dem Regelsatz. Eine Vielzahl von Sozialge- wichtige Unterstützungsfunktion. Gleichwohl gängelt das richten hat in diesem Jahr wenige Monate nach Inkraft- BMAS den unternehmerischen Geist. Wieder einmal wird treten der ALG-II-Verordnung dem BMAS die nötige das überbordende Kontrollbedürfnis des BMAS getragen Rechtsetzungskompetenz in dieser Frage abgesprochen. vom Gedanken des Sozialmissbrauchs. Dabei kann von Dieser Eingriff in die Leistungsauszahlung müsse durch Sozialmissbrauch im großen Stil keine Rede sein. Tat- ein Gesetz geregelt werden. Auch das Bundessozialge- sächlich sind die aufgedeckten Missbrauchsfälle rapide zurückgegangen. In 2005 waren es noch 206 000 Fälle, richt hat in der genannten Entscheidung deutliche Zwei- 2007 wurden 87 000 Fälle nachgewiesen. Bis Juli dieses fel an der Rechtsetzungskompetenz des BMAS geäußert, Jahres hat die Bundesagentur für Arbeit nur noch obwohl es in seiner Entscheidung nicht über die neue 9 000 ungerechtfertigte Zahlungen erfasst. Bundes- ALG-II-Verordnung zu entscheiden hatte. arbeitsminister Scholz wäre deshalb gut beraten, wenn er Trotz dieser erdrückenden juristischen Niederlage ist die Selbstbestimmungsrechte der ALG-II-Beziehenden das BMAS offenbar nicht bereit, sich die schweren hand- – hier der Selbstständigen – stärken würde, damit diese werklichen Mängel der Verordnung einzugestehen und die notwendige Handlungsfreiheit gewinnen, sich selbst die rechtswidrige Verordnungsregelung zurückzunehmen. aus dem Leistungsbezug zu befreien. Aufgrund der nach wie vor bestehenden Rechtslage In dem hier zur Diskussion stehenden Antrag betonen musste die Bundesanstalt für Arbeit in der Geschäftsan- Bündnis 90/Die Grünen die Notwendigkeit einer pau- weisung Nr. 28 vom 20. Juli 2008 die Leistungsbehörden schaliert ausgezahlten Regelleistung. Das Prinzip pau- anweisen, die Entscheidung des Bundessozialgerichts schalierter Regelleistungen wurde erstmals mit den soge- nicht anzuwenden. Die Sozialgerichte werden weiterhin nannten Hartz-Reformen eingeführt. Unserer Meinung mit Klagen überhäuft, obwohl schon heute abzusehen ist, nach ist es nach wie vor sinnvoll, Sozialtransfers wie das dass das Bundessozialgericht in letzter Instanz auch die Arbeitslosengeld II als pauschalen Betrag auszuzahlen. neue Regelung zur Verrechung von Krankenhauskost auf

Zu Protokoll gegebene Reden 19182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

Markus Kurth (A) den Regelsatz in der zum 1. Januar 2008 gültigen ALG-II- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den (C) Verordnung verwerfen wird. Stimmen von SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Ich bitte Sie, mit uns der Uneinsichtigkeit von Arbeits- Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen. minister Scholz ein Ende zu bereiten. Ich fordere Sie auf, unserem Antrag, die ALG-II-Verordnung im Sinne des Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord- Grundsatzes unbürokratischer, pauschalierter Leistungs- nung. gewährung zu überarbeiten, zuzustimmen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Freitag, den 26. September 2008, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 9 Uhr, ein. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Arbeit und Soziales. Der Ausschuss emp- Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und al- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- len Mitarbeitern noch einen schönen Abend. sache 16/8445, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Die Sitzung ist geschlossen. Grünen auf Drucksache 16/7838 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – (Schluss: 23.07 Uhr)

Berichtigung 178. Sitzung, Seite 18948 (D), erster Absatz: Der dritte Satz ist wie folgt zu lesen: „Mir scheint wichtig zu sein, dass wir Pakistan nicht mehr nur als Helfer und Un- terstützer im Kampf gegen die Taliban in Afghanistan se- hen.“

(B) (D) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19183

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über die Be- entschuldigt bis schlussempfehlung zu dem Antrag: Entfer- Abgeordnete(r) einschließlich nungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit Beck (Reutlingen), CDU/CSU 25.09.2008* herstellen (Tagesordnungspunkt 5) Ernst-Reinhard Dorothee Bär (CDU/CSU): Ich bin für die Wieder- Bollen, Clemens SPD 25.09.2008 einführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilome- Brand, Michael CDU/CSU 25.09.2008 ter. Mein Wahlkreis Bad Kissingen besteht aus den Landkreisen Haßberge, Rhön-Grabfeld und Bad Kissin- Brunnhuber, Georg CDU/CSU 25.09.2008 gen. Eine Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer würde allein in dieser Region Dr. Bunge, Martina DIE LINKE 25.09.2008 34 000 Menschen entlasten. Tausende unserer Bürger haben sich an der Unterschriftenaktion zur Wiederein- Dreibus, Werner DIE LINKE 25.09.2008 führung der Pendlerpauschale der Jungen Union Bayern beteiligt. Sie haben damit deutlich gemacht, dass sie ent- Grindel, Reinhard CDU/CSU 25.09.2008 lastet werden müssen. Im ländlichen Raum ist es für viele selbstverständlich, dass sich der Arbeitsplatz nicht Gruß, Miriam FDP 25.09.2008 vor der Haustür befindet. Oftmals werden lange Stre- cken in Kauf genommen, um einer Arbeit nachzugehen Gutting, Olav CDU/CSU 25.09.2008 und die Sozialkassen dieses Landes nicht zu belasten. Der Staat hat sich diesen Menschen an die Seite zu stel- Hänsel, Heike DIE LINKE 25.09.2008 len. Darüber hinaus stärkt eine Entlastung dieser Men- schen durch die Wiedereinführung der Pendlerpauschale Hintze, Peter CDU/CSU 25.09.2008 auch den ländlichen Raum. Denn Menschen, die sich ei- (B) nen langen Weg zur Arbeit nicht leisten können, werden (D) Kipping, Katja DIE LINKE 25.09.2008 mittelfristig in die Ballungszentren ziehen, sodass sich der ländliche Raum weiter entvölkert. Die CSU führt Klug, Astrid SPD 25.09.2008 derzeit intensive Verhandlungen mit ihren Koalitions- Lenke, Ina FDP 25.09.2008 partnern, um eine Wiedereinführung zum 1. Januar 2009 zu erreichen. Unterstützt werden wir bei unserem Anlie- Möller, Kornelia DIE LINKE 25.09.2008 gen durch einen entsprechenden Antrag des Freistaates Bayern im Bundesrat, der von der CSU-geführten baye- Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 25.09.2008 rischen Staatsregierung auf den Weg gebracht wurde. Diese Initiative verfolgen wir konsequent und erwarten Schauerte, Hartmut CDU/CSU 25.09.2008 am Ende der Verhandlungen, dass eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mehrheitsfähig Schily, Otto SPD 25.09.2008 wird. Davon wollen wir auch die Kolleginnen und Kol- legen aus den Reihen von SPD und CDU überzeugen, Schmidt (Nürnberg), SPD 25.09.2008 die sich bisher unserer Forderung nach einer Entlastung Renate der Bürgerinnen und Bürger bereits ab dem 1. Januar 2009 entziehen. Scholz, Olaf SPD 25.09.2008 Unehrliche, wahlkampfmotivierte Schaufensteran- Staffelt, Grietje BÜNDNIS 90/ 25.09.2008 träge der Fraktion Die Linke bin ich jedoch nicht bereit DIE GRÜNEN zu unterstützen. Ich kann und werde keinem Antrag ei- ner Partei zustimmen, die die Gesellschaftsordnung un- Dr. Troost, Axel DIE LINKE 25.09.2008 seres Landes nicht akzeptiert, sich gegen diese wendet und die Grundlagen unseres Zusammenlebens wie die Wieczorek-Zeul, SPD 25.09.2008 soziale Marktwirtschaft ablehnt. Die Partei Die Linke Heidemarie wird zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet. Sie ist die direkte Nachfolgerin der SED, die für die Verbrechen Zeil, Martin FDP 25.09.2008 in der DDR und den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze verantwortlich ist. Wichtige Entscheidungen, die * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- zu einer Entlastung der Menschen in unserem Lande sammlung der NATO führen sollen, dürfen dem Linksextremismus nicht in die 19184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Hand gegeben werden. Unterstützung von Anträgen ei- lich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen kön- (C) ner solchen Partei kann daher von Demokraten nicht er- nen. Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die wartet werden. ersten 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidie- Veronika Bellmann (CDU/CSU): Das Politikspek- rung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus- takel, das SED/PDS/Die Linke mit ihrem Antrag be- halte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrie- zweckt, lehne ich entschieden ab. Die programmatischen ben, macht aus meiner Sicht eine Rückkehr zur alten Eckpunkte von SED/PDS/Die Linke fordern eine Poli- Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der tik, die Deutschland international isoliert, die Funda- Sanierung der Haushalte des Bundes und der Länder, der mente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft Kommunen und Sozialversicherungen aufzugeben. gefährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Persönlich hege ich eine große Sympathie für die For- Bürger Deutschlands massiv bedroht. Von dieser Partei derung nach der Wiedereinführung der Pendlerpau- grenze ich mich ausdrücklich ab. schale. Denn aufgrund der Reformen am Arbeitsmarkt Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur haben wir den Arbeitern und Angestellten auch ein deut- Abstimmung stellt, geht es ihr ganz offensichtlich nicht lich höheres Maß an Flexibilität bei der Arbeitsplatzsu- um die Sache. Im Gegenteil, alle Sachargumente dienen che abgefordert. Die Wiedereinführung der vollen Pend- der SED/PDS/Die Linke lediglich für ein durchsichtiges lerpauschale würde die Einnahmen des Staates derzeit taktisches Manöver, insbesondere im unmittelbaren Vor- um 2,4 Milliarden Euro senken. Diese Mindereinnah- feld der bayerischen Landtagswahl. Das ist meines Er- men des Staates müssen dann an anderer Stelle durch achtens ein Missbrauch und eine Instrumentalisierung Einsparungen, zusätzliche Steuern oder Neuverschul- des demokratischen Abstimmungsverfahrens zu populis- dung erwirtschaftet werden. tischen Zwecken. Aus diesem Grund lehne ich den An- Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der trag ab. damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treib- Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- stoffpreise halte ich also eine Rückkehr zur alten Pend- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und lerpauschale für geboten und gerecht. Eine sofortige Dr. zur neuen Bundeskanzlerin gewählt Umsetzung scheitert aber am Koalitionsvertrag, der ver- haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke pflichtet, einheitlich abzustimmen. von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir Außerdem möchte ich daran erinnern, dass das Bun- deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- desverfassungsgericht im September 2008 die Verhand- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- lungen zu diesem Themenkomplex aufgenommen hat (B) ter des Weges zur Arbeit war 2006 der Versuch eines und für Dezember 2008 ein Urteil in Aussicht stellt. In- (D) Beitrags zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage sofern halte ich es für richtig, dass wir das Urteil des der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder BVG abwarten und uns bis dahin Gedanken darüber ma- schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine chen, wie eine Rückkehr zur Pendlerpauschale solide fi- Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch nanziert werden soll. Das ist meine Vorstellung von ver- ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun- antwortlicher Politik und deswegen stimme ich heute des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche- gegen den populistischen Antrag der Linkspartei. rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Ich bin für die alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer. Dies umso mehr, solange es aus Gleichbehandlungs- grundsätzen gegenüber Selbstständigen und Freiberuf- Um dieses Ziel in der Großen Koalition zu erreichen, lern geboten erscheint, dass auch Arbeitnehmer die führt die CSU derzeit intensive Verhandlungen mit ihren notwendigen Aufwendungen zur Erzielung von Einkom- Koalitionspartnern, um eine Wiedereinführung zum men steuerlich absetzen können. Insofern wiegt dieses 1. Januar 2009 zu erreichen. Unterstützt werden wir bei verfassungsrechtliche Argument meines Erachtens nach unserem Anliegen durch einen entsprechenden Antrag schwerer als die notwendige Haushaltskonsolidierung. des Freistaates Bayern im Bundesrat, der von der CSU- Solange also das sogenannte Werkstorprinzip keine ge- geführten Bayerischen Staatsregierung auf den Weg ge- nerelle Gültigkeit für alle hat bzw. es keine Steuerreform bracht wurde. Diese Initiative verfolgen wir konsequent zur Vereinfachung insbesondere im Sinne des Wegfalls und erwarten am Ende der Verhandlungen, dass eine aller derartigen steuerlichen Absetzungsmöglichkeiten Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland gibt, ist die Wiedereinführung der Fahrtkostenpauschale mehrheitsfähig wird. Davon wollen wir auch die Kolle- ab dem ersten Kilometer gerechtfertigt. ginnen und Kollegen aus den Reihen von SPD und CDU überzeugen, die sich bisher unserer Forderung nach ei- ner Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bereits ab Klaus Brähmig (CDU/CSU): Als CDU, CSU und dem 1. Januar 2009 entziehen. SPD nach der letzten Bundestagswahl ihren Koalitions- vertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Unehrliche, wahlkampfmotivierte Schaufensteran- Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaus- träge der Fraktion Die Linke bin ich jedoch nicht bereit halt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jähr- zu unterstützen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19185

(A) Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Mit dem Robert Hochbaum (CDU/CSU): Die Koalitions- (C) Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstim- fraktionen haben nach der Bundestagswahl im Koali- mung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, sondern um tionsvertrag beschlossen, den Weg zurück zu solider ein durchsichtiges taktisches Manöver. öffentlicher Haushaltspolitik zu finden. Bei Regierungs- übernahme der Union klaffte im Bundeshaushalt eine Als CDU/CSU und SPD nach der letzten Bundestags- strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Fak- wahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und tisch gilt zweierlei – der Staat darf und kann zum einen Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt nicht dauerhaft mehr ausgeben, als er einnimmt. Zum haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke anderen sind auch die Einnahmen nicht unbegrenzt zu von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir steigern. Die Haushaltskonsolidierung bei gleichzeitig deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- steigenden Investitionen ist einer der zentralen Punkte chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- dieser Koalition. ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein Beitrag zur Kon- Die Haushaltslücke haben wir in den nunmehr rund solidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen drei Regierungsjahren deutlich zurückführen können. Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten schrieben, und die inzwischen aufgekommenen rechtli- 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit war 2006 chen Zweifel, ob die Abschaffung mit dem Netto-Prin- dabei ein unvermeidbarer Beitrag zu dieser Konsolidie- zip im Steuerrecht vereinbar ist, machen aus meiner rung. Sicht eine Überprüfung der Abschaffung erforderlich. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus- Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem An- halte, die 2007 insgesamt erstmals wieder schwarze Zah- trag bezwecken, lehne ich entschieden ab. Die program- len schrieben, ermöglicht nun gewisse Spielräume. Da- matischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, bei darf der Vorrang der Sanierung der Haushalte des die Deutschland international isoliert, die Fundamente Bundes und der Länder, der Kommunen und Sozialversi- des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft ge- cherungen nicht aufgegeben werden. Angesichts der gu- fährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und ten konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Ent- Bürger Deutschlands massiv bedroht. Ich grenze mich scheidung deutlich gestiegenen Kraftstoffpreise, deren eindeutig von dieser Partei ab. Steigerungen nicht bzw. kaum von der Politik veranlasst sind, halte ich eine Entlastung der beruflich veranlassten Mobilität wie auch der gewerblichen Verkehre für drin- Eberhard Gienger (CDU/CSU): Mit dem Antrag, gend nötig und geboten. den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, (B) geht es ihr nicht um die Sache, sondern um ein durch- Eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale wäre aber (D) sichtiges taktisches Manöver. der falsche Weg. Sicher würden damit auch die ersten 20 Kilometer des Arbeitsweges wieder berücksichtigt – Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- auch die alte Kappungsobergrenze bei 100 Kilometer tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und würde aber wieder eintreten. Letzteres wäre aber für die Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt vielen Fernpendler, die es vor allem im Osten Deutsch- haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke lands gibt, eine massive Benachteiligung. von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- Bei genauem Hinsehen kommt hinzu, dass es sich ei- gentlich bei der Pendlerpauschale um eine unsoziale chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- Maßnahme handelt. Einkommensschwache Pendler un- ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer terliegen häufig nur der beschränkten Einkommensteuer- Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage pflicht und können somit keine Pendlerpauschale über der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder Werbungskosten anrechnen. schwarze Zahlen schrieben, macht aus meiner Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch Wir brauchen stattdessen eine differenzierte Rege- ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun- lung, die allen Arbeitnehmern und dem gewerblichen des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche- Verkeher gerecht wird. Die Senkung der Lohnnebenkos- rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen ten, so wie es bei der Arbeitslosenversicherung vorgese- Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich hen ist, wäre zudem ein entschieden besserer Weg, Ar- gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur beitnehmer zu entlasten. alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Mit dem Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem An- Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstim- trag bezwecken, lehne ich entschieden ab. mung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, sondern um Die programmatischen Eckpunkte der Linken fordern ein durchsichtiges taktisches Manöver. eine Politik, die Deutschland international isoliert, die Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Markt- ersten 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit wirtschaft gefährdet und eine gute Zukunft für die Bür- war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidie- gerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Ich rung des Bundeshaushaltes. Die Entspannung der Lage grenze mich eindeutig von dieser Partei ab. der öffentlichen Haushalte macht aus meiner Sicht die 19186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich. Vor dem gerichtsurteil abzuwarten und auf dessen Basis zu ei- (C) Hintergrund der seit der damaligen Entscheidung deut- ner entsprechenden Veränderung der Pendlerpauschale lich gestiegen Treibstoffpreise halte ich die Rückkehr zu kommen. zur alten Pendlerpauschale gerade für die Menschen im ländlichen Raum für geboten. Das Politspektakel der Fraktion Die Linke lehne ich entschieden ab. Deshalb stimme ich heute gegen diesen Ich halte aber nach wie vor daran fest, zunächst das Antrag. im Dezember dieses Jahres zu erwartende Verfassungs- gerichtsurteil abzuwarten und auf dessen Basis zu einer entsprechenden Veränderung der Pendlerpauschale zu Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Das kommen. Politikspektakel, das SED/PDS/Die Linke mit ihrem An- trag bezweckt, lehne ich entschieden ab. Die program- Das Politspektakel der Fraktion Die Linke lehne ich matischen Eckpunkte von SED/PDS/Die Linke fordern entschieden ab. Deshalb stimme ich heute gegen diesen eine Politik, die Deutschland international isoliert, die Antrag. Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Markt- wirtschaft gefährdet und eine gute Zukunft für die Bür- Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Dem Antrag der Frak- gerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Von tion Die Linke „Entfernungspauschale sofort vollständig dieser Partei grenze ich mich ausdrücklich ab. anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerech- tigkeit herstellen“ kann ich nicht zustimmen. Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es ihr ganz offensichtlich nicht Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- um die Sache. Im Gegenteil: Die Sachargumente dienen tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und der SED/PDS/Die Linke lediglich für ein durchsichtiges Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt taktisches Manöver, insbesondere im unmittelbaren Vor- haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke feld der bayerischen Landtagswahl. Das ist meines Er- von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir achtens ein Missbrauch und eine Instrumentalisierung deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- des demokratischen Abstimmungsverfahrens zu populis- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- tischen Zwecken. Aus diesem Grund lehne ich den An- ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer trag ab. Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus- Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- halte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrie- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt (B) ben, macht aus meiner Sicht eine Rückkehr zur alten (D) Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke Sanierung der Haushalte des Bundes und der Länder, der von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir Kommunen und Sozialversicherungen aufzugeben. An- deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- gesichts der konjunkturellen Lage und der seit der dama- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- ligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise ter des Weges zur Arbeit war 2006 der Versuch eines halte ich eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale für Beitrags zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage geboten und gerecht. Diese Auffassung wollen die Be- der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder fürworter der Wiedereinführung der Pendlerpauschale in schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine der Koalition mit Nachdruck durchsetzen. Auch wenn Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch die Mehrheit in der Koalition für diese Auffassung noch ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun- nicht gewonnen ist, werde ich mich weiter dafür einset- des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche- zen. rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur Dr. Hans-Heinrich Jordan (CDU/CSU): Mit dem alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstim- mung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, sondern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Der Vorstand der CSU hat am 5. Mai 2008 einstimmig das neue Steuerkonzept Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die der Partei beschlossen. In diesem Paket war unter ande- ersten 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit rem – dies erkennt die Linkspartei mit ihrem zur Abstim- war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidie- mung gestellten Antrag an – die Wiedereinführung der rung des Bundeshaushaltes. Die Entspannung der Lage Entfernungspauschale für Fahrten zwischen Wohnung der öffentlichen Haushalte macht aus meiner Sicht die und Arbeitsstätte zum 1. Januar 2009 vorgesehen. Zwi- Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich. Vor dem schenzeitlich hat die CSU im Bundesrat einen entspre- Hintergrund der seit der damaligen Entscheidung deut- chenden Antrag eingebracht, welcher jedoch mit den an- lich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich die Rückkehr deren Bundesländern noch abzustimmen ist. In gleicher zur alten Pendlerpauschale gerade für die Menschen im Weise verhält es sich mit der Meinungsbildung mit den ländlichen Raum für geboten. Kolleginnen und Kollegen der CDU-Fraktion wie auch Ich halte aber nach wie vor daran fest, zunächst das mit den Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion. im Dezember dieses Jahres zu erwartende Verfassungs- Zum jetzigen Zeitpunkt ist eine Mehrheit in der Koali- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19187

(A) tion, so sehr das Anliegen aus meiner Sicht auch berech- druck durchsetzen. Die Bayerische Staatsregierung hat (C) tigt ist, bedauerlicherweise noch nicht zu erkennen. hierzu eine Gesetzesinitiative beschlossen, die im Bun- desrat beraten wird. Auch wenn wir die Koalition für Ein entsprechender Antrag der Linkspartei wurde im unsere Auffassung noch nicht gewonnen haben, den Ko- Finanzausschuss am 16. Juni 2008 lediglich mit den alitionsvertrag halten wir ein. Er verpflichtet uns, ein- Stimmen der FDP und der Linken befürwortet bei heitlich abzustimmen. Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Selbst für den Fall, dass neben der Linkspartei auch Antrag bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die pro- die FDP dem Antrag der Linkspartei zustimmen würde, grammatischen Eckpunkte der Linken fordern eine Poli- ergibt dies auch unter gedachter Einbeziehung der CSU- tik, die Deutschland international isoliert, die Funda- Stimmen im günstigsten Fall circa 150 Stimmen. Somit mente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft würde allenfalls ein Viertel der Mitglieder des Bundesta- gefährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und ges zustimmen. Der Antrag ist zum jetzigen Zeitpunkt Bürger Deutschlands massiv bedroht. Wir grenzen uns von einer Mehrheit im Bundestag noch viel zu weit ent- eindeutig von dieser Partei ab. fernt, um diesen bereits jetzt einzubringen. Insofern muss der Antrag der Linkspartei schlicht als Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Ich bin für populistisch und als Versuch einer Meinungsdifferenz die Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ers- zwischen den CSU-Kollegen im Bayerischen Landtag ten Kilometer. und den CSU-Bundestagsabgeordneten angesehen wer- den. Nachdem zudem das Finanzministerium und auch Um dieses Ziel in der Großen Koalition zu erreichen, die SPD-Fraktion Bewegung erst für den Zeitpunkt des führt die CSU derzeit intensive Verhandlungen mit ihren Vorliegens der Entscheidung des Bundesverfassungsge- Koalitionspartnern, um eine Wiedereinführung zum richts, welche zum Jahresende zu erwarten ist, signali- 1. Januar 2009 zu erreichen. Unterstützt werden wir bei siert hat, ist ein entsprechender Antrag auf Wiederein- unserem Anliegen durch einen entsprechenden Antrag führung der Pendlerpauschale erfolgversprechend wohl des Freistaates Bayern im Bundesrat, der von der CSU- erst zum Jahresende im parlamentarischen Verfahren geführten Bayerischen Staatsregierung auf den Weg ge- sinnvoll auf den Weg zu bringen. Nachdem bereits Max bracht wurde. Diese Initiative verfolgen wir konsequent Weber zutreffend den Spruch geprägt hat, dass Politik und erwarten am Ende der Verhandlungen, dass eine das Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augen- Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland maß ist, ist dem hier vorliegenden Antrag der Linkspar- mehrheitsfähig wird. Davon wollen wir auch die Kolle- tei das entsprechende Augenmaß bedauerlicherweise ab- ginnen und Kollegen aus den Reihen von SPD und CDU (B) zusprechen. überzeugen, die sich bisher unserer Forderung nach ei- (D) ner Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bereits ab So sehr das Anliegen in der Sache richtig ist – zum dem 1. Januar 2009 entziehen. jetzigen Zeitpunkt ist es zum Scheitern verurteilt. Des- halb ist ohne entsprechende Meinungsbildung und Über- Normalverdiener und Familien in Deutschland brau- zeugungsarbeit in der Schwesterpartei sowie beim chen eine solche Entlastung und erwarten von der Politik Koalitionspartner der Antrag zum jetzigen Zeitpunkt ab- entsprechende Entlastungsschritte. Dies zeigt sich auch zulehnen. an der Beteiligung Zehntausender Bürgerinnen und Bür- ger an der Unterschriftenkampagne der Jungen Union Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Bayern für die Wiedereinführung der alten Pendlerpau- Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son- schale. Unehrliche und wahlkampfmotivierte Schaufens- dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. teranträge, die keine Aussicht auf eine Mehrheit im Deutschen Bundestag haben, helfen den Betroffenen al- Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- lerdings nicht. tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt Derartige Anträge der Fraktion Die Linke bin ich haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke nicht bereit, zu unterstützen. Ich kann und werde keinem von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir Antrag einer Partei zustimmen, die die Gesellschaftsord- deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- nung unseres Landes nicht akzeptiert und die Grundla- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- gen unseres Zusammenlebens wie die soziale Marktwirt- ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer schaft ablehnt. Die Partei Die Linke wird zu Recht vom Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage Verfassungsschutz beobachtet. Unterstützung von Anträ- der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder gen einer solchen Partei kann daher von Demokraten schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine nicht erwartet werden. Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun- Henning Otte (CDU/CSU): Mit dem Antrag, den die des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche- Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen ihr nicht um die Sache, sondern um ein durchsichtiges Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich taktisches Manöver. gestiegenen Treibstoffpreise halten wir eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- Diese Auffassung wollen wir in der Koalition mit Nach- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und 19188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt nicht sachpolitischen Erwägungen, sondern erhebt pla- (C) haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke kativ Forderungen, die zum Beispiel hinsichtlich der von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir angesprochenen Verfassungsmäßigkeit im Bereich des deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- Nettoprinzips nicht schlüssig sind. Die jetzige Forde- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- rung, vor der endgültigen Klärung der verfassungsrecht- ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer lichen Lage, entlarvt damit den Antrag als ein rein poli- Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage tisch-taktisches Manöver. der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus meiner Sicht eine Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Im Angesicht der Rückkehr zur alten Pendlerpauschale oder eine andere deutlich gestiegenen Kraftstoffpreise bin ich für die Ent- steuerliche Kompensation möglich – auch ohne den Vor- lastung beruflich veranlasster Mobilität. Insbesondere rang der Sanierung der Haushalte des Bundes und der Familien in den ländlichen Räumen, die ihren Arbeits- Länder, der Kommunen und Sozialversicherungen auf- platz nicht in jedem Falle in der unmittelbaren Umge- zugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der bung finden, brauchen Entlastung. seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur alten Pend- Die Koalitionsfraktionen haben nach der Bundestags- lerpauschale oder eine andere steuerliche Kompensation wahl im Koalitionsvertrag vereinbart, den Weg zurück für geboten und gerecht. Diese Auffassung möchte ich in zu solider öffentlicher Haushaltspolitik zu gehen. Bei der Koalition durchsetzen. Regierungsübernahme der Union klaffte im Bundes- haushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem An- jährlich – die Bilanz von sieben Jahren rot-grüner Haus- trag bezwecken, lehne ich entschieden ab. Die program- haltspolitik, die nicht nachhaltig war und Lasten in die matischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, Zukunft wälzte. Auch der Staat kann und darf nicht dau- die Deutschland international isoliert, die Fundamente erhaft mehr ausgeben, als er einnimmt, und die Einnah- des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft ge- men sind nicht unbegrenzt steigerungsfähig – weder tat- fährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und sächlich, noch ist die Steigerung der Staatsquote mein Bürger Deutschlands massiv bedroht. Ich grenze mich politischer Anspruch. Die Haushaltskonsolidierung bei eindeutig von dieser Partei ab. gleichzeitig steigenden Investitionen ist einer der zentra- len Punkte dieser Koalition, in seiner Wichtigkeit kaum Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Mit Beginn zu überschätzen. Diese Haushaltslücke haben wir in den der Legislaturperiode hat die Koalition aus CDU/CSU nunmehr rund drei Regierungsjahren deutlich zurück- führen können. Der Wegfall der steuerlichen Absetzbar- (B) und SPD ein strukturelles jährliches Haushaltsdefizit von (D) rund 60 Milliarden Euro übernommen. Aus dieser Haus- keit für die ersten 20 Entfernungskilometer des Weges haltssituation heraus war es sowohl aus der gesamtstaat- zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zu die- lichen Verantwortung als auch aus Gründen der Genera- ser Konsolidierung. Unter den damaligen Rahmenbedin- tionengerechtigkeit geboten, diese fortschreitende gungen war die Entscheidung richtig. Verschuldung nicht nur zu bremsen, sondern zu stoppen. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus- Das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes hat sich die halte, die 2007 insgesamt erstmals wieder schwarze Zah- Koalition für 2011 gesetzt, und wir sind durch die Konso- len schrieben, ermöglicht nun gewisse Spielräume. Da- lidierungsleistungen der Koalition mittlerweile auf ei- bei darf der Vorrang der Sanierung der Haushalte des nem guten Weg dorthin. Bundes und der Länder, der Kommunen und gesetzli- Vor dem Hintergrund der verfassungswidrigen Haus- chen Sozialversicherungen aber nicht infrage gestellt haltssituation am Ende der vergangenen Legislaturperi- werden. Angesichts der guten konjunkturellen Lage und ode war damit neben anderen Maßnahmen der Wegfall der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiege- der steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfer- nen Kraftstoffpreise, deren Steigerungen kaum von der nungskilometer des Weges zur Arbeit ein unvermeidba- Politik veranlasst sind, halte ich eine Entlastung der be- rer Beitrag zur Konsolidierung. Heute stellt sich die ruflich veranlassten Mobilität wie auch des gewerbli- Situation verändert dar. Die Entspannung der Lage der chen Verkehrs für dringend nötig und geboten. öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder Die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale wäre der schwarze Zahlen schrieben, eröffnet aus meiner Sicht die falsche Weg. Sicher würden damit auch die ersten 20 Ki- Möglichkeit, zur alten Pendlerpauschale zurückzukeh- lometer des Arbeitsweges wieder berücksichtigt – die ren, ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des alte Kappungsobergrenze bei 100 Kilometern würde Bundes und der Länder, der Kommunen und Sozialversi- aber ebenfalls wieder zurückkehren. Das wären für die cherungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Fempendler meiner Heimat Steine statt Brot. Wir brau- Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich chen eine differenzierte Regelung, die Arbeitnehmern gestiegenen Treibstoffpreise halte ich dabei eine Rück- und gewerblichem Verkehr gerecht wird. kehr zur alten „Pendlerpauschale“ für geboten und ge- recht. Ohne eine solide haushälterische Gegenfinanzierung, die – fast bin ich geneigt, zu sagen natürlich – von der Wenngleich auch ich demnach eine Rückkehr zur al- PDS auch hier wie immer nicht angeboten wird, ist eine ten Pendlerpauschale befürworte, lehne ich den vorlie- Lösung für mich nicht denkbar. Die PDS aber setzt lei- genden Antrag der Linken entschieden ab. Er entspringt der auch mit diesem Antrag ein weiteres Mal einseitig Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19189

(A) auf populistisches Spektakel, auf leere unfinanzierbare Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu (C) Versprechungen. dem Antrag: Entfernungspauschale sofort voll- ständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Ein Antrag einer extremistischen Partei, rechts- wie Steuergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungs- linksextremistisch, ist für mich zudem generell nicht punkt 5) zustimmungsfähig. Die SED-Nachfolgepartei stellt per- manent den gesellschaftlichen Grundkonsens der Demo- Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur kraten, Grundlagen unseres Zusammenlebens wie die Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son- soziale Marktwirtschaft infrage. dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Anlage 3 Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt Erklärung nach § 31 GO haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Dieses Defizit konnte der Abgeordneten Monika Grütters, Ingo Schmitt deutlich zurückgeführt werden. Der Wegfall der steuerli- (Berlin), Kai Wegner, und Karl-Georg Wellmann chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage Entfernungspauschale sofort vollständig aner- der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder kennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuerge- schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine rechtigkeit herstellen (Tagesordnungspunkt 5) Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun- Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son- des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche- dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit 2005 deutlich gestiegenen Treibstoff- Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- preise halten wir eine Rückkehr zur alten Pendlerpau- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und schale für angemessen. Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die programma- nach und nach schmaler werden lassen. Der Wegfall der tischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfer- Deutschland international isoliert, die Fundamente des (B) nungskilometer des Weges zur Arbeit war 2006 ein un- Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet (D) vermeidbarer Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspan- und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger nung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007 Deutschlands massiv bedroht. erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – ohne den Vorrang der Sanierung der Haus- Anlage 5 halte des Bundes und der Länder, der Kommunen und Erklärung nach § 31 GO Sozialversicherungen aufgeben zu müssen. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen der Abgeordneten Dr. Karl-Theodor Freiherr Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise hal- zu Guttenberg, Dr. Klaus W. Lippold, Dr. Georg ten wir eine veränderte Pendlerpauschale für geboten Nüßlein, Daniela Raab und Dr. Andreas und gerecht. Diese Auffassung wollen wir in der Koali- Scheuer (alle CDU/CSU) zur namentlichen Ab- tion durchsetzen. Auch wenn uns dies noch nicht ge- stimmung über die Beschlussempfehlung zu glückt ist – den Koalitionsvertrag halten wir ein, der ver- dem Antrag: Entfernungspauschale sofort voll- pflichtet, einheitlich abzustimmen. ständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen (Tagesord- Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag nungspunkt 5) bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die programma- tischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die Ich bin für die Wiedereinführung der Pendlerpau- Deutschland international isoliert, die Fundamente des schale ab dem ersten Kilometer. Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet Um dieses Ziel in der Großen Koalition zu erreichen, und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger führt die CSU derzeit intensive Verhandlungen mit ihren Deutschlands massiv bedroht. Wir grenzen uns eindeutig Koalitionspartnern, um eine Wiedereinführung zum von dieser Partei ab. 1. Januar 2009 zu erreichen. Unterstützt werden wir bei unserem Anliegen durch einem entsprechenden Antrag des Freistaates Bayern im Bundesrat, der von der CSU- Anlage 4 geführten bayerischen Staatsregierung auf den Weg ge- Erklärung nach § 31 GO bracht wurde. Diese Initiative verfolgen wir konsequent und erwarten am Ende der Verhandlungen, dass eine der Abgeordneten Monika Brüning und Rita Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland Pawelski (beide CDU/CSU) zur namentlichen mehrheitsfähig wird. Davon wollen wir auch die Kolle- 19190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) ginnen und Kollegen aus den Reihen von SPD und CDU chen Regelung nicht profitieren, weil sie niedrige Ein- (C) überzeugen, die sich bisher unserer Forderung nach ei- kommen haben. ner Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bereits ab dem 1. Januar 2009 entziehen. Zur Entfernungspauschale wird es in Bälde ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts geben, das abgewartet Unehrliche, wahlkampfmotivierte Schaufensteran- werden sollte. Es ist nicht auszuschließen, dass auf träge der Fraktion Die Linke bin ich jedoch nicht bereit Grund dieses Urteils eine für die Pendlerinnen und Pend- zu unterstützen. Ich kann und werde keinem Antrag ei- ler vorteilhaftere Regelung erforderlich ist als die ur- ner Partei zustimmen, die die Gesellschaftsordnung un- sprüngliche Rechtslage, zum Beispiel die volle Anerken- seres Landes nicht akzeptiert und die Grundlagen unse- nung der tatsächlichen Kosten. res Zusammenlebens wie die soziale Marktwirtschaft ablehnt. Die Partei Die Linke wird zu Recht vom Verfas- Deshalb stimmen wir dem Schaufensterantrag der sungsschutz beobachtet. Unterstützung von Anträgen ei- Fraktion Die Linke nicht zu. ner solchen Partei kann daher von Demokraten nicht er- wartet werden. Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO Anlage 6 der Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer, Ilse Erklärung nach § 31 GO Aigner, Dorothee Bär, Alexander Dobrindt, der Abgeordneten Martin Burkert, Dr. Carl- Maria Eichhorn, Herbert Frankenhauser, Dr. Christian Dressel, Petra Ernstberger, Gabriele Hans-Peter Friedrich (Hof), Norbert Geis, Josef Fograscher, Günter Gloser, Angelika Graf Göppel, Dr. Wolfgang Götzer, Dr. Karl-Theodor (Rosenheim), Frank Hofmann (Volkach), Freiherr zu Guttenberg, Gerda Hasselfeldt, Brunhilde Irber, Dr. h. c. Susanne Kastner, Dr. Ernst Hinsken, Klaus Hofbauer, Bartholomäus Bärbel Kofler, Walter Kolbow, Anette Kramme, Kalb, Alois Karl, Hartmut Koschyk, Dr. Max Heinz Paula, Florian Pronold, Marlene Lehmer, Paul Lehrieder, Eduard Lintner, Rupprecht (Tuchenbach), Marianne Schieder, Stephan Mayer (Altötting), Dr. h. c. Hans Ewald Schurer, Ludwig Stiegler, Jella Teuchner Michelbach, Marlene Mortler, Dr. Gerd Müller, (alle SPD): zur namentlichen Abstimmung über Stefan Müller (Erlangen), Dr. Georg Nüßlein, die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Ent- Franz Obermeier, Eduard Oswald, Daniela fernungspauschale sofort vollständig anerken- Raab, Hans Raidel, Kurt J. Rossmanith, Dr. (B) nen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerech- Christian Ruck, Albert Rupprecht (Weiden), (D) tigkeit herstellen (Tagesordnungspunkt 5) Christian Schmidt (Fürth), Dr. Andreas Scheuer, Marion Seib, Johannes Singhammer, Beim Antrag der Fraktion Die Linke zur Anerken- Thomas Silberhorn, Max Straubinger, Dr. nung der Pendlerpauschale handelt es sich um einen Hans-Peter Uhl, Dagmar Wöhrl, Wolfgang Schaufensterantrag, um die CSU vorzuführen, dessen es Zöller und Carsten Müller (Braunschweig) (alle aber gar nicht mehr bedarf. CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Die SPD-Bundestagsfraktion und die Bayern-SPD Entfernungspauschale sofort vollständig aner- haben sich von Anbeginn der Diskussion an für den Er- kennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuerge- halt der Entfernungspauschale ab dem ersten. Kilometer rechtigkeit herstellen (Tagesordnungspunkt 5) eingesetzt, während die CDU/CSU schon 2005 mit der Forderung nach deren Kürzung in die Bundestagswahl Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur und die Koalitionsverhandlungen zogen. Im Koalitions- Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son- vertrag hat die Union die Kürzung der Pendlerpauschale dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. durchgesetzt. Wir haben im Gegenzug die Steuerfreiheit der Nacht-, Schicht- und Sonntagsarbeit erhalten. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Alle Versuche der SPD-Bundestagsfraktion danach, Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer wieder haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke einzuführen, hat die CSU in der Koalition abgelehnt. von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir Die Initiative der bayerischen Staatsregierung auf deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- Rückkehr zur alten Pendlerpauschale jetzt im Bundesrat chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- ist reine Wahlkampfshow, denn sie ist zeitlich so gesetzt, ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer dass sie nicht mehr vor der Landtagswahl in Bayern ins Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage Gesetzblatt kommen kann. der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine Wir bayerischen Sozialdemokraten fordern zusätz- Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – ohne lich die Einführung eines bayerischen Pendlergeldes aus den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bundes dem Landeshaushalt nach österreichischem Vorbild, das und der Länder, der Kommunen und Sozialversicherun- aber von der CSU abgelehnt wird. Es kommt gerade den gen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage Pendlerinnen und Pendlern zugute, die von der steuerli- und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19191

(A) genen Treibstoffpreise halten wir eine Rückkehr zur al- den Wahlen ein kleiner Teil des Wahlvolkes politische (C) ten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Diese Entscheidungen vergoldet. Die Freiheit des Gewissens Auffassung wollen wir in der Koalition mit Nachdruck wird ad absurdum geführt, wenn das Gewissen dem ge- durchsetzen. Die Bayerische Staatsregierung hat hierzu wissen Vorteil zugeneigt ist. eine Gesetzesinitiative beschlossen, die im Bundesrat beraten wird. Auch wenn wir die Koalition für unsere Das Parlament ist kein Marktplatz und politische Ent- Auffassung noch nicht gewonnen haben – den Koali- scheidungen sind keine Waren. Bestechung und Bestech- tionsvertrag halten wir ein, der verpflichtet, einheitlich lichkeit beginnen nicht erst beim Stimmenkauf, den das abzustimmen. Strafgesetzbuch bereits unter Strafe stellt. Diese Vor- schrift ahndet nur die ganz schlecht eingefädelte Beste- Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag chung; sie bestraft nur den ganz dummen Mandatsträger. bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die programma- Die klugen Bestochenen und die cleveren Bestecher sind tischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die aber das viel größere Problem. Jeder erhebliche geld- Deutschland international isoliert, die Fundamente des werte Vorteil, der für jedes politische Tun oder Unterlas- Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet sen eines Mandatsträgers gewährt oder angenommen und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger wird, gehört unter Strafe gestellt, wenn er der rechtlichen Deutschlands massiv bedroht. Wir grenzen uns eindeutig Stellung des Abgeordneten widerspricht. von dieser Partei ab. Bestechlichkeit liegt vor, wenn das Abgeordneten- mandat und seine politischen Handlungsmöglichkeiten zum Handelsgut werden. Dazu gehört der Beratervertrag Anlage 8 ohne Beratung. Dazu gehört der gut bezahlte Stuhl im Zu Protokoll gegebene Rede Aufsichtsrat, auf dem der Mandatsträger nahezu nie Platz nimmt. Dazu gehört die All-inklusive-Einladung zur Beratung des Entwurfs eines ... Strafrechts- zu einer Konferenz, bei der man sich unter südlicher änderungsgesetzes – Bestechung und Bestech- Sonne am Swimmingpool bespricht. lichkeit von Abgeordneten – (... StrÄndG) (Ta- gesordnungspunkt 14) Was für jede Richterin, jeden Richter, jeden Amtsträ- ger in jeder Behörde dieses Landes gilt, muss grundsätz- Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Zurzeit gibt es lich auch und gerade für Abgeordnete gelten: Entschei- zwei Gesetzentwürfe, die darauf abzielen, die Beste- dungen im Namen der Allgemeinheit dürfen weder chung und die Bestechlichkeit von Abgeordneten end- gekauft, noch verkauft werden. Dieses Ziel verfolgt un- lich wirkungsvoll unter Strafe zu stellen: einen Entwurf ser Antrag. Dieses Ziel verfolgt der Antrag der Grünen. (D) (B) der Linksfraktion und einen Entwurf der Grünen, der Deswegen verdienen diese Anträge eine ernsthafte Dis- heute beraten wird. Beide verfolgen das gleiche Ziel. kussion und im Ergebnis Zustimmung. Ich möchte noch einmal aus der Sicht der Linksfrak- tion hervorheben, von welchen Überlegungen beide Ge- Anlage 9 setzentwürfe getragen sind. Es sind die Gründe, die dazu geführt haben, dass die Bundesrepublik Deutschland Zu Protokoll gegebene Reden Übereinkommen der Vereinten Nationen und des Euro- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur parates unterzeichnet hat, die dazu auffordern, die Beste- Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechts- chung und Bestechlichkeit auch von Abgeordneten kon- modernisierungsgesetz – BilMoG) (Tagesord- sequent unter Strafe zu stellen. Es sind die Gründe, die nungspunkt 13) den Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 9. Mai 2006 bewegt haben, eine gleichlautende Auffor- derung an den Gesetzgeber zu richten. Es sind die Antje Tillmann (CDU/CSU): In den letzten Jahr- Gründe, denen der aktuelle Korruptions-Paragraf des zehnten wurde das deutsche Bilanzrecht grundlegend ge- Strafgesetzbuches in keiner Weise genügt. ändert. Ein Meilenstein wurde für die Geschäftsjahre ab 2005 gesetzt, weil seither kapitalmarktorientierte Kon- Die Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordne- zerne ihren Konzernabschluss nach internationalen Rech- ten untergräbt die Grundprinzipien der Demokratie und nungslegungsstandards aufstellen. Angestrebt wurde eine beschädigt in krasser Weise das Vertrauen der Bürgerin- einheitliche Weltsprache der Bilanzierung, die eine län- nen und Bürger in die Demokratie. Das sind schwere derübergreifend vergleichbare Bilanzanalyse ermöglicht. Verletzungen, die kein äußerer Feind der Demokratie zu- Diese sogenannten IFRS werden in mehr als 100 Län- fügen könnte. Diese Art der Beschädigung kann sich die dern angewendet und gelten verbindlich für die rund Demokratie nur selbst zufügen. Das sollten die Regie- 8 000 börsennotierten Unternehmen in der EU. Die sich rungsfraktionen in den Zeiten einer überbordenden Si- daraus ergebene Vergleichbarkeit erleichtert den interna- cherheitspolitik einmal zur Kenntnis nehmen. tionalen Firmen die Suche nach Kapitalgebern. Die hier angesprochenen Beschädigungen unserer Die internationalen Rechnungslegungsstandards sind Gesellschaft sind hausgemacht. Eine Grundidee der De- auf kapitalmarktorientierte Unternehmen und die Be- mokratie ist die Freiheit des Mandates, das auf der dürfnisse der Investoren zugeschnitten. Für den Mittel- Gleichheit der Wählerstimmen beruht. Die Gleichheit stand, das Rückgrat der europäischen Wirtschaft, sind der Stimmen wird ad absurdum geführt, wenn zwischen diese Regeln viel zu komplex. Ihre Interessen wurden 19192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) beim Erarbeiten der bestehenden Regeln auch nicht be- einer Einnahmen- bzw. Überschussrechnung auf Risiken (C) rücksichtigt. in der Gewinnermittlung hinweisen. Es ist daher auf keinen Fall zu rechtfertigen, alle Un- Ganz im Gegenteil glaube ich, wir sollten prüfen, ob ternehmen, die zur Rechnungslegung verpflichtet sind, wir die Erleichterung nicht wieder auf Personenhandels- auch auf diese komplexen IFR-Standards zu verpflich- gesellschaften ausweiten, wie es der Referentenentwurf ten. Der vom International Accounting Standards Board vorgesehen hatte. Bei Personenhandelsgesellschaften veröffentlichte Entwurf eines internationalen Rech- stellt sich im Gegensatz zu Einzelkaufleuten unter ande- nungslegungsstandards für kleine und mittelgroße Un- rem die Frage der Gewinnverteilung auf Basis der Kapital- ternehmen ist ebenfalls keine Alternative. Er beinhaltet konten. Ich stimme hier der Auffassung des Bundesrates Regelungslücken, bei denen wiederum auf die vollen zu, dass möglicherweise verbundene gesellschaftsrecht- IFR-Standards und somit auf 2 400 Seiten Regelungsin- liche Folgefragen auch in Bezug auf die Gewinnvertei- halt verwiesen wird. Zudem ist der Entwurf äußerst um- lung in den betroffenen Personenhandelsgesellschaften stritten und der demokratischen Kontrolle durch uns, das auf der Grundlage zumeist dispositiver gesetzlicher Re- Gesetzgebungsorgan, entzogen. Darüber hinaus haben die gelungen regelmäßig einer Lösung durch die Gesell- Vertreter der Praxis in Deutschland den Entwurf scharf kri- schaften selbst zugeführt werden können. Die kom- tisiert, weil seine Anwendung – im Verhältnis zum HGB- mende Anhörung wird Klarheit bringen. Bilanzrecht – immer noch viel zu kompliziert und kos- tenträchtig wäre. Bei Kapitalgesellschaften sollen die Schwellenwerte für Veröffentlichung und Prüfung um 20 Prozent ange- Aus diesen Gründen kann es nur ein Ziel für uns ge- hoben werden. Es sind also Befreiungen und Erleichte- ben, nämlich den kleinen und mittelständischen Unterneh- rungen bei der Bilanzierung vorgesehen, indem die men – im Verhältnis zu den internationalen Rechnungsle- Größenklassen, die darüber entscheiden, welche Infor- gungsstandards – eine gleichwertige, aber einfachere und mationspflichten ein Unternehmen treffen, angehoben kostengünstigere Alternative zu bieten. Dabei soll der werden. Beispielsweise sollen rund 7 400 Kapitalgesell- handelsrechtliche Jahresabschluss Grundlage der Ge- schaften künftig nicht mehr mittelgroß, sondern klein winnausschüttung bleiben. Die Vorzüge der Einheitsbi- sein. Diese Kapitalgesellschaften brauchen dann unter lanz sollen so weit wie möglich bewahrt werden. anderem ihren Jahresabschluss nicht von einem Ab- schlussprüfer prüfen zu lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir den Infor- mationsgehalt der HGB-Bilanz ausbauen und verbes- Insgesamt soll aufgrund dieser Maßnahmen mit einer sern, denn der Wettbewerb um Kapital beschäftigt auch Senkung der Gesamtkosten der Buchführung, Ab- den Mittelstand. Wie erfolgreich ein Unternehmen in schlussaufstellung, -prüfung und -offenlegung in Höhe (B) diesem Wettbewerb ist, hängt auch davon ab, wie aussa- von ungefähr 1,3 Milliarden Euro pro Jahr zu rechnen (D) gekräftig seine Bilanzen sind. Dabei müssen wir aber sein. sehr behutsam vorgehen und von den Unternehmen nicht Zum zweiten Ziel: Verbesserung der Aussagekraft der mehr verlangen, als für die Erreichung der Ziele erfor- HGB-Abschlüsse. Es muss für den Mittelstand weiterhin derlich ist. möglich bleiben, ohne großen Aufwand von der Han- Was sind diese Ziele? Sie können in drei Gruppen un- delsbilanz zur Steuerbilanz zu kommen. Daher begrüße terteilt werden: Erstens: die Deregulierung und Kosten- ich es – wie auch die Wirtschaft – sehr, dass eine Reihe senkung, insbesondere für kleine und mittelständische von Wahlrechten gestrichen werden sollen, die aus be- Unternehmen. Zweitens: die Verbesserung der Aussage- triebswirtschaftlicher Sicht angreifbar sind und steuer- kraft der HGB-Jahresabschlüsse. Drittens: die Umset- rechtlich sowieso nicht anerkannt werden. Hierzu zählen zung der EU-rechtlichen Vorgaben. unter anderem die Streichung des Wahlrechts zur Akti- vierung der Aufwendungen für die Ingangsetzung und Zum ersten Ziel: Deregulierung und Kostensenkung. Erweiterung des Geschäftsbetriebes, die Abschaffung Einzelkaufleute, die nur einen kleinen Geschäftsbetrieb der fakultativen Aufwandsrückstellungen und die Auf- unterhalten, sollen von der handelsrechtlichen Buchfüh- hebung des Aktivierungswahlrechts für Material- und rungs- und Bilanzierungspflicht befreit werden. Der Mit- Fertigungsgemeinkosten. telstand soll so um Bürokratiekosten in Höhe von etwa 1 Milliarde Euro pro Jahr entlastet werden. Eine Anhebung des Informationsniveaus des handels- rechtlichen Jahresabschlusses soll zudem durch die Akti- Alle sprechen von Deregulierung und Bürokratieab- vierungspflicht aktiver latenter Steuern und durch die bau; sobald wir als Gesetzgeber aber Ernst machen, gibt bessere Ablesbarkeit der wirtschaftlichen Situation von es Bedenken. So auch hier: Die doppelte Buchführung Zweckgesellschaften in der Konzernbilanz erreicht wer- sei aus Gründen des Gläubigerschutzes, der Vorbeugung den. der Insolvenzgefahr und als Warnzeichen auch im Be- reich der kleinen Unternehmen nötig. Zukünftig gilt im Zuge eines Unternehmenserwerbs der entgeltlich erworbene Geschäfts- und Firmenwert als Wir sollten hier trotzdem den Mut zum Bürokratieab- ein zeitlich begrenzter nutzbarer Vermögensgegenstand, bau haben. Kein Unternehmer ist daran gehindert, aus der in der Bilanz ausgewiesen werden muss. Mit dieser den oben genannten Gründen trotzdem eine Bilanz auf- Einführung geht eine Verbesserung der Vergleichbarkeit zustellen oder ein sonstiges Risikomanagement einzu- des handelsrechtlichen Jahresabschlusses einher, da nach führen. Ich bin optimistisch, dass Steuerberater auch bei aktueller Rechtslage die Unternehmen wählen können, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19193

(A) ob sie den Firmenwert aktivieren. Darüber hinaus wird oder die Automobilindustrie nebst ihren Zulieferern. Ins- (C) die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertrags- besondere profitieren auch kleine und sogenannte Start- lage stärker als bisher an die tatsächlichen Verhältnisse, Up-Unternehmen von der Vorschrift. Auch sie können den tatsächlichen Werteverzehr angenähert. In steuerli- ihre Entwicklungen – ihr Potenzial – künftig in der Han- cher Hinsicht ist der entgeltlich erworbene Geschäfts- delsbilanz zeigen. Dadurch können die Unternehmen und Firmenwert ebenfalls zu aktivieren. ihre Eigenkapitalbasis ausbauen und ihre Fähigkeit ver- bessern, sich am Markt kostengünstig weiteres Kapital Zudem sieht der Gesetzentwurf vor, dass Finanzin- zu beschaffen. Steuerlich bleiben die Aufwendungen strumente wie Aktien, Fondsanteile und Derivate, so- aber nach wie vor abzugsfähig; sie stehen auch nicht für weit sie zu Handelszwecken erworben sind, künftig bei die Gewinnausschüttung zur Verfügung. Das fördert die allen Unternehmen zum Bilanzstichtag mit dem Markt- Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Standort für in- wert – Fair Value – bewertet werden. Dadurch soll sich novative Unternehmen. die Aussagekraft des Jahresabschlusses im Hinblick auf jederzeit realisierbare Gewinne und Verluste erhöhen; Dieses Instrument ist bei dieser Reform aber auch das die noch nicht realisierten Gewinne werden jedoch am heftigsten diskutierte. Die Bedenken gegen diese Ak- grundsätzlich mit einer Ausschüttungssperre verbunden. tivierung, unter anderem, dass dem Gut nur schwer ein Die Fair-Value-Bewertung ist ja aufgrund der Ban- objektiver Wert zugewiesen werden könne, dass die Ab- kenkrise sehr in die Kritik geraten. Hier wird deshalb ein grenzung zwischen Forschungs- und Entwicklungskos- Schwerpunkt in der Anhörung liegen. Wir werden hin- ten schwierig sei oder dass eine Abweichung der Han- terfragen, ob diese Regelung tatsächlich im allgemeinen dels- von der Steuerbilanz vorliege, werden wir in einer Teil des HGB implementiert werden soll oder besser un- Anhörung versuchen auszuräumen. Ein hinreichender ter den Spezialvorschriften. Gläubigerschutz und eine Anhebung des Informationsni- veaus soll erreicht werden, indem die Aktivierungs- Bei den Rückstellungen von Unternehmen für Ver- pflicht mit einer Ausschüttungssperre gekoppelt wird. pflichtungen sollen Entwicklungen künftig – wie Lohn-, Preis- und Personalentwicklungen – berücksichtigt wer- Das Wahlrecht der Kapitalgesellschaften, ihren Jah- den. Rückstellungen mit einer Laufzeit von mehr als ei- resabschluss nach den IFR-Standards aufzustellen, wird nem Jahr sollen mit dem ihrer Laufzeit entsprechenden im Gesetzentwurf nicht weiter verfolgt. Kapitalgesell- durchschnittlichen Marktzinssatz der vergangenen sie- schaften können – anders als im Referentenentwurf vor- ben Geschäftsjahre abgezinst werden. Die Art, wie gesehen – nun doch keinen befreienden Jahresabschluss Rückstellungen gegenwärtig bilanzrechtlich behandelt nach den internationalen Rechnungslegungsstandards werden, wird in der öffentlichen Diskussion immer wie- aufstellen. Ursprünglich sollte dies möglich sein, sofern (B) der als Schwachstelle der handelsrechtlichen Rech- die Unternehmen im Anhang zum Jahresabschluss wei- (D) nungslegung bezeichnet. Steuerrechtlich bleiben dage- ter eine Bilanz sowie eine Gewinn- und Verlustrechnung gen die Wertansätze am Bilanzstichtag maßgebend. nach HGB vorlegen. Viele Verbände unterstützen das Vorhaben, bei der Viele Unternehmen haben diese Möglichkeit abge- Rückstellungsbewertung erwartete Preiseffekte zu be- lehnt, weil sie darin keine wirkliche Entlastung sahen, rücksichtigen. Bezüglich der geplanten Abzinsungsrege- solange sie die HGB-Bilanz trotzdem im Anhang auf- lung gibt es jedoch auch kritische Stimmen, die zum führen müssen. Andere Verbände betrachteten kritisch, Beispiel hohe Kosten darin sehen, dass Unternehmen dass durch diese Regelung faktisch der Druck auf kleine verschiedene Bewertungsansätze für die Steuer- und Unternehmen erhöht wird, internationale Rechnungsle- Handelsbilanz bilden müssen. Die Anhörung wird die gungsstandards anzuwenden. Vor- und Nachteile abwägen. Ich begrüße die Entscheidung des Justizministeriums, Für viel Unruhe hat der Ansatz gesorgt, das Prinzip das Wahlrecht – entgegen dem Referentenentwurf – der wirtschaftlichen Zurechnung von Vermögensgegen- nicht einzuführen. Die IFRS sind umstritten, und wir ha- ständen einer gesetzlichen Verankerung zu unterziehen. ben als Gesetzgebungsorgan der Bundesrepublik Wenn auch in der Begründung darauf hingewiesen wird, Deutschland keinen Einfluss auf ihre Entwicklung. Wir dass sich „keine Veränderungen des bisherigen Rechts- brauchen eine gangbare Alternative zu den internationa- zustandes“ ergeben, so führt die neue Formulierung len Rechnungslegungsstandards, die keinesfalls dadurch trotzdem zu Verunsicherung. Der Vorschlag des Bun- erreicht wird, dass wir weitere Wahlrechte schaffen. desrates, indem für die Zurechnung auf die aus dem Steuerrecht bekannte und bewährte Formulierung zur Zum dritten Ziel: Umsetzung weiterer Änderungen, Zurechnung von Wirtschaftsgütern des § 39 der Abga- die aus EU-rechtlichen Vorgaben resultieren. Mit der Re- benordnung zurückgegriffen werden soll, sollte in Erwä- form sollen auch die EU-rechtlichen Vorgaben unter an- gung gezogen werden. derem zum Unternehmensführungsbericht und zur Er- richtung eines Prüfungsausschusses umgesetzt werden. Immaterielle selbstgeschaffene Vermögensgegen- Dabei ist es für uns überaus wichtig, dass die Vorgaben stände des Anlagevermögens wie zum Beispiel Patente mit einer möglichst geringen Belastung für die Unter- oder Know-how sind künftig in der HGB-Bilanz anzu- nehmen umgesetzt werden. setzen. Das ist vor allem für innovative Unternehmen wichtig, die intensiv forschen und entwickeln, beispiels- Abschließend möchte ich noch auf zwei weitere we- weise die chemische oder pharmazeutische Industrie sentliche Punkte hinweisen. 19194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Erstens: Die Bilanzreform darf keine steuerliche Be- mungsgremium namens IASB – International Accoun- (C) lastungswirkung haben. Wir wollen durch die Deregulie- ting Standards Board – erarbeitet werden. Solche ein- rung eine Entlastung für die Unternehmen erreichen und heitlichen internationalen Rechnungslegungsregeln sie nicht dadurch zunichte machen, dass wir an anderer werden in einer globalisierten Wirtschaft gebraucht und Stelle steuerliche Mehrbelastungen produzieren. Die verlangt; denn natürlich sind internationale Rechnungs- Verwirklichung dieses Ziels werden wir auch im weite- legungstandards attraktiv. Jede Bank, jeder Geldgeber ren Gesetzgebungsverfahren verfolgen. weltweit kann eine Rechnungslegung nach diesem Sys- Zweitens: Die erstmalige Anwendung der Vorschrif- tem verstehen. Die Bilanzen der Unternehmen und Ban- ten muss praxisgerecht ausgestaltet werden. Die Über- ken werden so weltweit miteinander vergleichbar. Die gangszeiträume müssen in Anbetracht des Umstellungs- globalisierte Wirtschaft hat deshalb kein Interesse an aufwands, gerade im IT-Bereich, so ausgestaltet sein, lauter verschiedenen nationalen Bilanzierungsregeln. dass jedes betroffene Unternehmen genug Zeit hat, sich Wer international agiert, muss international verständlich darauf einzustellen. Bei einigen Vorschriften, die auf der bilanzieren. Das ist die einfache Regel einer globalisier- Umsetzung von EU-Richtlinien beruhen, unter anderem ten Wirtschaft. zum Risikobericht und zu Aufsichtsratskompetenzen, ist Die Europäische Union hat dementsprechend bereits eine frühzeitige Anwendung erforderlich, andere könn- festgelegt, dass kapitalmarktorientierte Unternehmen ten für 2009 wahlweise und erst 2010 verpflichtend ein- geführt werden. ihre Konzernabschlüsse nach diesen IFRS aufstellen müssen. Allerdings gibt es doch noch eine Überlebens- Das BilMoG ist die größte Bilanzrechtsreform seit chance für unser HGB; denn die Anforderungen an die über 20 Jahren mit weitreichenden Auswirkungen für Rechnungslegung sind bei kapitalmarktorientierten Un- alle bilanzierenden Unternehmen. Deshalb ist im Einzel- ternehmen sehr hoch. Die IFRS haben deshalb – um die- nen zu prüfen, ob die Zielsetzungen des Gesetzentwurfs sen Anforderungen gerecht zu werden – einen enormen eingehalten werden. Ich freue mich auf diese Diskussio- Regelungsumfang. Entsprechend den Wünschen der nen. Wirtschaft nach einer weniger komplexen internationa- len Regelung für kleine und mittlere Unternehmen gibt Klaus Uwe Benneter (SPD): Der vorgelegte Ent- es zwar inzwischen einen Entwurf für eine abgespeckte wurf befreit Einzelkaufleute mit einem Gewinn unter IFRS-Version für KMU. Diese „IFRS-light“ haben aber 50 000 Euro oder einem Jahresumsatz unter 500 000 Euro immer noch eine enorme Regelungsdichte und enthalten von der handelsrechtlichen Buchführung und Bilanzie- außerdem zahlreiche Verweise auf die „großen“ IFRS. rung. Das ist eine enorme Deregulierung und eine gute (B) Sache. Auch der Nationale Normenkontrollrat begrüßt Wir glauben, dass auch diese „IFRS-light“ unsere Un- (D) diese Regelung als Abbau von Bürokratie in nennens- ternehmen zu unnötig kostenintensiver Rechnungsle- werter Größe. Der Normenkontrollrat hat in seiner Stel- gung zwingen würden. Wenn wir aber nichts unterneh- lungnahme sehr viel dazu ausgeführt, dass er diesen Bü- men, werden wir einen faktischen Zwang zur IFRS- rokratieabbau gerne in seine eigene Erfolgsbilanz Bilanzierung bekommen, zunächst für den gehobenen aufnehmen möchte, das Justizministerium diese Ansicht Mittelstand und nach und nach für immer mehr Unter- aber nicht teile. Wichtig ist aus meiner Sicht aber vor al- nehmen. Denn unser HGB ist zu weit entfernt von den lem, dass unnötige Bürokratie verschwindet. Ob sich der internationalen Rechnungslegungsstandards. Das liegt Normenkontrollrat oder die Justizministerin diese Ent- unter anderem daran, dass HGB und IFRS anderen Prin- bürokratisierung auf die Fahnen schreiben wollen, ist zipien folgen. Während das HGB das Vorsichtsprinzip mir egal. Jedenfalls sind wir es als Parlament, die das hochhält, verfolgen die IFRS den Fair-Value-Grundsatz. Leben einfacher machen. Danach soll der wahre Wert des Unternehmens in der Bilanz sichtbar werden. Deshalb werden eben nicht nur So weit, so gut. Jetzt kommen wir allerdings zum die Risiken, sondern auch die möglichen Chancen eines schwierigeren Teil des Gesetzentwurfs; denn die Bilanz- Unternehmens in der Bilanz bewertet. Dieses Auseinan- rechtsmodernisierung ist ein schwieriges Vorhaben. Wir derlaufen von HGB und IFRS führt dazu, dass die HGB- wollen den Jahresabschluss nach dem Handelsgesetz- Abschlüsse für Banken und potenzielle Geldgeber zu buch behalten, der auf den bewährten Grundsätzen ord- wenig Aussagekraft haben und einen echten Vergleich nungsgemäßer Buchführung beruht. Darunter fallen so schöne Grundsätze wie Bilanzwahrheit, Bilanzklarheit, mit anderen Unternehmen nicht ermöglichen. Bilanzvollständigkeit und Bilanzkontinuität – und über Ich sehe deshalb unsere Aufgabe darin: Wir müssen allem schwebt der Grundsatz der Vorsicht. Grundsätze, das Handelsgesetzbuch so modernisieren, dass die HGB- die altmodisch klingen. In Zeiten des nicht für möglich Abschlüsse in ihrer Aussagekraft mit IFRS-Abschlüssen gehaltenen Zusammenbruchs der Finanzmärkte erhalten vergleichbar sind, aber mit deutlich geringerem Auf- diese Grundsätze jedoch neuen Glanz. wand erstellt werden können. Wir müssen also unser Der Jahresabschluss nach dem HGB ist in Gefahr; HGB an die IFRS annähern. Wir müssen aber gleichzei- denn er wird zunehmend verdrängt, verdrängt durch in- tig berücksichtigen, dass die HGB-Bilanz maßgeblich ist ternationale Rechnungslegungsregelungen, die soge- für die Gewinnausschüttung, und wir müssen weiter be- nannten IFRS – International Financial Reporting Stan- denken, dass die HGB-Bilanz im Grundsatz maßgeblich dard –, die ohne irgendeine demokratische Kontrolle von für die Steuerbilanz sein soll und Steuererhöhungsef- einem internationalen, privatrechtlich organisierten Nor- fekte nicht eintreten sollen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19195

(A) Unser Mittelstand baut auf die Bilanzrechtsmoderni- Dies macht sowohl im Hinblick auf eine weitere Deregu- (C) sierung; das wurde uns Abgeordneten schnell klar. lierung als auch hinsichtlich einer Kostenentlastung für Schon die Veröffentlichung des Referentenentwurfs ist die betroffenen Unternehmen Sinn. Auch wenn wir Un- auf reges Interesse gestoßen und hat zu vielen Gesprä- ternehmen von der Buchführungs- und Bilanzierungs- chen, Stellungnahmen und Fachveranstaltungen geführt, pflicht befreien, dürfen sie immer noch nach HGB bilan- die wiederum bei der Abfassung des Regierungsent- zieren. Die Entscheidung hierüber würden wir dann der wurfs eingearbeitet wurden. Tenor der Stellungnahmen Eigenverantwortung der Unternehmen überlassen. In zum Kabinettsentwurf: Das Bundesministerium der Jus- den parlamentarischen Beratungen sollten wir alle Argu- tiz hat einen sehr gut durchdachten Entwurf vorgelegt. mente noch einmal sorgfältig abwägen. Über Einzelheiten werden wir aber noch beraten müs- sen. Deshalb werden wir zügig eine Sachverständigen- Der Gesetzentwurf räumt begrüßenswerterweise mit anhörung durchführen und danach entscheiden. Es ist einigen Wahlrechten auf. Hierdurch fördern wir unter unsere Aufgabe, die Bilanzrechtsmodernisierung erfolg- anderem die Annäherung von Handels- und Steuerbilanz reich abzuschließen. Auf der Grundlage eines ausge- hin zur sogenannten Einheitsbilanz – in erstrebenswertes zeichneten Regierungsentwurfs wird uns das auch gelin- Ziel. gen. Wenn ich eben erwähnt habe, dass zu Recht zahlrei- che Verweise auf die IFRS und einige Wahlrechte weg- Mechthild Dyckmans (FDP): Heute beraten wir gefallen sind, so sollten wir aber doch noch einmal da- parlamentarisch das erste Mal die Modernisierung des rüber nachdenken, ob es bei der Streichung des Wahl- deutschen Bilanzrechts. Über diese Reform wird bereits rechts hinsichtlich eines befreienden IFRS-Abschlusses seit vielen Jahren diskutiert. Von interessierter Seite für Kapitalgesellschaften, das der Referentenentwurf wurden mehrfach Vorschläge vorgelegt. Der Mittelstand vorsah, bleiben muss. Wir sollten versuchen, auch für wartet auf ein entrümpeltes und zukunftstaugliches diejenigen Unternehmen, die bereits heute ihren Kon- HGB-Bilanzrecht. zernabschluss nach IFRS bilanzieren, Deregulierungs- möglichkeiten zu finden. Das Bundesjustizministerium Der erstmals für Sommer 2004 angekündigte Refe- ging im Referentenentwurf diesbezüglich von einer rentenentwurf wurde immer wieder verschoben. Nicht messbaren Kostensenkung um immerhin 18 Millionen zuletzt die Notwendigkeit der Umsetzung einiger EU- Euro aus. Ich weiß um die Befürchtung kleiner und mitt- Richtlinien hat nun dazu geführt, dass wir seit Mai 2008 lerer Unternehmen, dadurch mittelfristig doch zur IFRS- endlich den Kabinettsentwurf und jetzt auch den Regie- Bilanzierung gezwungen zu werden. Wir sollten uns im rungsentwurf vorliegen haben. Rahmen einer Sachverständigenanhörung erläutern las- (B) Der Regierungsentwurf hat im Vergleich zum Refe- sen, wo Vorteile und Nachteile eines entsprechenden (D) rentenentwurf – und da sind wir sehr froh – einige ent- Wahlrechts liegen, und dann über weitere Schritte ent- scheidende Änderungen erfahren. Während es zunächst scheiden. den Anschein hatte, als sollten die internationalen Bilan- Soweit möglich, sollte – ich habe es schon erwähnt – zierungsregeln ganz entscheidenden Einfluss auf das versucht werden, die Einheit von Handels- und Steuerbi- HGB nehmen, hat man dies im Regierungsentwurf weit- lanz zu erreichen. Daher ist zu überdenken, ob nicht gehend aufgegeben. Wir begrüßen, dass die Aussage- hinsichtlich der selbstgeschaffenen immateriellen Ver- kraft der HGB-Abschlüsse durch den Entwurf gestärkt mögensgegenstände und der Entwicklungskosten ein und der Versuch unternommen wird, durch eine mode- Aktivierungswahlrecht eingeführt werden könnte. rate Annäherung an internationale Vorschriften ein ein- facheres, praktikableres Regelwerk zu schaffen. Zusätzlich könnte man sich der Einheitsbilanz nähern, Zu Recht hatten gerade mittelständische Unternehmen wenn hinsichtlich der Pensionsverpflichtungen nur ein Bedenken, dass sie durch die Hintertür gezwungen wer- Verfahren zur Bewertung von Rückstellungen anzuwen- den sollten, sich auf die komplizierten und umfangrei- den ist. Damit ließe sich zusätzlicher Aufwand für die chen internationalen IFRS einzustellen. Die zahlreichen Unternehmen vermeiden. Verweise auf die IFRS, insbesondere bei der Definition In diesem Zusammenhang wäre es sicher für alle Be- von Begriffen, sind weggefallen. Der Gesetzentwurf ent- teiligte hilfreich, zu wissen, ob die Bundesregierung hält jetzt eigene Begriffsbestimmungen. Das HGB wird plant, ein eigenes Steuerbilanzrecht zu erlassen, und wie dadurch verständlicher und leichter handhabbar. weit die Planungen und Arbeiten im dafür zuständigen Bei der Überarbeitung des Gesetzentwurfs wurden je- Finanzministerium sind. Der diesbezügliche Hinweis in doch auch Änderungen vorgenommen, über die wir noch der Gesetzesbegründung, dass zu analysieren sei, ob zur einmal reden müssen. Wahrung einer nach der individuellen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Besteuerung eine eigenständige steuerli- Sah der Referentenentwurf noch die an Schwellen- che Gewinnermittlung notwendig sei und wie sie erfor- werte gebundene Befreiung von der Buchführungs- und derlichenfalls zu konzipieren sei, hat uns alle hellhörig Bilanzierungspflicht sowohl für Einzelkaufleute als auch gemacht. Hier sollte mit offenen Karten gespielt werden, für Personenhandelsgesellschaften vor, so soll diese Be- da die Unternehmen bei Verabschiedung des BilMoG freiung nach dem Regierungsentwurf nur noch für Ein- wissen sollten, ob auf sie noch eine neue Bilanz mit all zelkaufleute gelten. Der Bundesrat spricht sich dafür den damit zusammenhängenden Kosten zukommt oder aus, auch Personenhandelsgesellschaften zu befreien. nicht. 19196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Lassen Sie mich zum Schluss noch einen ganz wichti- schön heißt – „voll eingerichteten Geschäftsbetrieb“. (C) gen Punkt ansprechen: die Frist des Inkrafttretens. Nach Aus unserer Sicht sollte deshalb die Befreiungsvorschrift dem Regierungsentwurf sollen die Regelungen erstmals nicht an quantitativen, sondern qualitativen Maßstäben auf die nach dem 31. Dezember 2008 beginnenden Ge- ausgerichtet sein. Das heißt, nicht die Höhe des Jahres- schäftsjahre Anwendung finden. Dies ist jedoch insbe- überschusses und Umsatzes, sondern der Umfang des sondere aufgrund des hohen Umstellungsaufwands bei Betriebes entscheidet über die Buchführungspflicht – den Unternehmen nicht mehr denkbar. Ich hoffe, dass wie derzeit auch. wir uns zumindest diesbezüglich zügig einigen können, um den Unternehmen ein entsprechendes Signal zu ge- Aus unserer Sicht ist diese Befreiungsvorschrift auch ben. keine tatsächliche Entlastung, da zahlreiche Unterneh- men zum Beispiel für Verhandlungen mit Banken ohne- hin Bilanzen erstellen müssen. Fragen entstehen auch, Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Mit dem vorliegen- wenn man sich diese Vorschrift in der Praxis vorzustel- den Gesetzentwurf diskutieren wir die umfassendste Re- len versucht: Der Gewinn ist – kurz gesagt – bei Bilan- form des Handelsbilanzrechts seit 1965. Der ursprüngli- zierenden immer der Unterschiedsbetrag zwischen dem che Referentenentwurf datiert im November 2007. Ein Betriebsvermögen am Schluss des aktuellen Wirtschafts- Jahr wird seither zwischen Justizministerium sowie Ex- jahres und dem Betriebsvermögen am Schluss des vo- perten und Expertinnen aus der Wirtschaftswissenschaft rangegangene Wirtschaftsjahres. Was aber, wenn in den und der Beratungsbranche diskutiert, und das aus gutem vorangegangenen Wirtschaftsjahren aufgrund der Befrei- Grund – immerhin handelt es sich beim Bilanzrecht um ung gar keine Bilanz erstellt werden musste, im aktuellen eine komplexe, hochkomplizierte und gewachsene Ma- jedoch schon? Wo knüpft die Ermittlung des Gewinns terie. Dazu kommt, dass die Änderung eines Satzes oder an? Muss das Unternehmen dann eine Eröffnungsbilanz Halbsatzes wesentliche materielle Auswirkungen bei der erstellen? Ermittlung des – auch steuerlichen – Gewinns haben kann. Unverständlich ist uns – damit komme ich zum zwei- ten Beispiel –, weshalb an einigen Stellen von dem im Worum geht es? Der handelsrechtliche Jahresab- Handelsrecht bewährten Vorsichtsprinzip abgegangen schluss soll – so das Ziel der Bundesregierung – den in- wird: So sollen zukünftig selbst geschaffene immate- ternationalen Rechnungslegungsvorschriften IFRS ange- rielle Vermögensgegenstände, wie zum Beispiel Patente, passt werden. Gleichzeitig sollen Buchführung und im Anlagevermögen der Unternehmen aktiviert werden Bilanzierung billiger und weniger bürokratisch werden. können. Zwar werden diese Posten mit einer Ausschüt- Durch die Übernahme internationaler Rechnungsle- tungssperre belegt, die Eigenkapitalbasis des Unterneh- gungsvorschriften sollen auch bei kleinen Unternehmen mens verbreitert sich aber trotzdem. Dies soll – so die (B) (D) internationale Standards in die Bilanz einfließen, ohne Begründung der Regierung – deren Fähigkeit verbes- dass diese gleich eine Bilanz nach den International Fi- sern, sich Eigen- und Fremdkapital zu beschaffen. Dies nancial Reporting Standards (IFRS) erstellen müssen. ist aber aus meiner Sicht bedenklich: In der Begründung Dies stärkt zweifellos deren Position, wenn es bei Kre- des Gesetzentwurfes selbst wird darauf hingewiesen, ditinstituten darum geht, kreditfähig zu sein. dass die Posten selbst geschaffener immaterieller Ver- Bürokratieabbau, Kostensenkung und Anpassung an mögenswerte kaum objektiven Werten entsprechen. Das die Internationalisierung sind als Ziele einer Reform des ist richtig. Sie sind abhängig von der internen Kosten- Bilanzrechts sicherlich nicht abzulehnen. Allerdings sind rechnung des Unternehmens. Um so fragwürdiger ist, die Grundsätze der Handelsbilanz, nämlich der Gläubi- dass Unternehmen auf einer so unsicheren, schwer ob- gerschutz sowie die Transparenz gegenüber den Gläubi- jektivierbaren Basis mehr Kapital beschaffen können gern und der Öffentlichkeit, aus unserer Sicht zu wahren. sollen. Aus unserer Sicht ist der Ausweis der selbst er- stellten Vermögenswerte im Anlagevermögen hierfür Vor diesem Hintergrund steht für uns hinter einigen auch nicht nötig, denn im Rahmen einer Kreditgewäh- Neuregelungen ein großes Fragezeichen. Nur zwei Bei- rung können Unternehmen über die Bilanz hinaus Unter- spiele: So sollen Kaufleute von der Buchführungspflicht lagen beibringen, die einen Überblick über zum Beispiel befreit werden, wenn sie in zwei aufeinanderfolgenden das Vorhandensein von Patenten und ähnlichem geben. Geschäftsjahren einen Jahresüberschuss von 50 000 Euro Fragwürdig ist hier auch, weshalb bei der Erstellung der und einen Umsatzerlös von 500 000 Euro nachweisen. Handelsbilanz das Vorsichtsprinzip aufgegeben wird – Allein bezogen auf die Umsatzgröße wäre damit übri- nicht aber bei der Steuerbilanz. Bei letzterer ist eine Ak- gens die Mehrheit der Unternehmen vom Jahresab- tivierung selbst erstellter immaterieller Wirtschaftsgüter schluss befreit: bei den Einzelunternehmern rund 90 und auch zukünftig nicht zulässig. Der Aufwand für die Her- den Offenen Handelsgesellschaften 80 Prozent. stellung dieser Vermögensgegenstände mindert weiter- hin den steuerlichen Gewinn. Wir halten die Befreiungsvorschrift aus verschiede- nen Aspekten für ein Problem: Die doppelte Buchfüh- Die Kritik zahlreicher Sachverständiger, dass unter rung ist ein wichtiges Zahlenwerk für Unternehmer und anderem durch die letztgenannte Regelung Handels- und Unternehmerinnen, um Forderungen und Verbindlich- Steuerbilanz weiter auseinanderdriften, teilen wir expli- keiten und den Status bei Anlage- und Umlaufvermögen zit nicht. Im Gegenteil: Wir haben im Rahmen der Re- oder etwa auch eine Überschuldung festzustellen. Sie ist form der Unternehmensbesteuerung die Aufhebung der damit ein wichtiges Instrument für die Führung von Un- Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz ternehmen mit einem – wie es im Handelsgesetzbuch so gefordert, da mit Handels- und Steuerbilanz zwei unter- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19197

(A) schiedliche Ziele verfolgt werden: Entsprechend dem ten. Diese Regelung entbindet also von dem kostenauf- (C) bereits erwähnten Vorsichtsprinzip sind die Ansätze in wendigen Erstellen einer handelsrechtlichen Bilanz. Das der Handelsbilanz niedrig angesetzt. Ergebnis ist damit kann gerade Betriebsgründerinnen und Betriebsgründern – aufgrund des Prinzips der Maßgeblichkeit – ein niedri- zugutekommen. Hinter den handelsrechtlichen Buchfüh- ger steuerbilanzieller Gewinn. Dies ist aber problema- rungspflichten steht das Interesse der Handelspartner an tisch, denn Adressat der Steuerbilanz sind die Finanzbe- Offenlegung der wirtschaftsrelevanten Daten. Zudem hörden. Die steuerliche Bemessungsgrundlage soll die dienen die Buchführungspflichten auch den Unterneh- reale wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in einem kon- men selbst, weil sie veranlasst werden, eine betriebswirt- kreten Veranlagungszeitraum widerspiegeln. Das Durch- schaftlich sinnvolle Mindestkontrolle der eigenen Be- schlagen des handelsbilanzrechtlichen Vorsichtsprinzips triebstätigkeit auszuüben. Das kann sie auch vor auf die Höhe von Ertragsteuern ist also nicht sachge- Insolvenzgefahr schützen. recht. Im Rahmen der internationalen Rechnungslegung existiert eine derartige Verknüpfung zwischen handels- Einzelkaufleute, die von den handelsrechtlichen und steuerbilanziellen Vorschriften auch nicht. Im Übri- Buchführungspflichten befreit sind, bleiben jedoch zur gen geben uns wissenschaftliche Arbeiten der Professo- Einnahme-Überschuss-Rechnung nach dem Einkom- ren Spengel und Herzig darin auch Recht. mensteuergesetz verpflichtet. Zwar ist eine Überschuss- rechnung nicht im gleichen Maße wie ein handelsrechtli- Fragen ergeben sich für uns auch bezüglich der zu- cher Bestandsvergleich zur Kontrolle der betrieblichen künftigen Zurechnung wirtschaftlichen und nicht mehr Situation eines Unternehmens geeignet. Wir halten sie zivilrechtlichen Eigentums zum Unternehmensvermögen – aber dennoch für kleine und mittlere Unternehmen für was heißt dies für die Gewinnrealisierung? Wie werden ausreichend. Hier überwiegt für uns der positive Aspekt selbst erstellte immaterielle Vermögenswerte – also „Alt- der Kosten- und Aufwandserleichterung für diese Unter- fälle“ –, die aber im Unternehmen permanent weiterent- nehmen. Im Handelsgesetzbuch – konkret in § 241 a wickelt werden, behandelt – weiterhin als Aufwand oder HGB – sollte aber klargestellt werden, dass die Pflicht als Aktivposten? Ein Beispiel hierfür ist selbst entwi- zum Erstellen einer Überschussrechnung weiterhin be- ckelte Software. Wie verträgt sich das Abzinsungsgebot steht. von Rückstellungen mit dem Realisationsprinzip? Wa- rum geht die Bundesregierung bei der Vorschrift über die Ein weiter Punkt ist mir an dieser Stelle wichtig: Bildung von Bewertungseinheiten bei Sicherungsge- Buchführungspflichten haben, wie gesagt, eine Schutz- schäften weit über die Richtlinien der internationalen funktion sowohl für die Unternehmen selbst als auch für Rechnungslegung hinaus? Und nicht zuletzt: Wie schla- Gläubiger und Handelspartner. Wenn die Buchführungs- gen die handelsbilanziellen Änderungen auf den steuerli- pflichten erleichtert werden, sind damit gewissen Risi- (B) (D) chen Gewinn durch? ken verbunden. Denen kann und muss mit einem verbes- Zwar wird die Steuerneutralität der Reform betont. serten Insolvenzrecht begegnet werden. Die Geklärt werden müsste jedoch zum Beispiel wie sich der Bundesregierung ist in der Pflicht, eine kohärente Re- Wegfall der umgekehrten Maßgeblichkeit zum Beispiel form des Insolvenzrechts vorzulegen. Mit dem Bilanz- auf die Bildung steuerfreier Rücklagen auswirkt. Gerade rechtsmodernisierungsgesetz wird deutschen Unterneh- bei der Frage der Auswirkungen der Reform auf das men eine einfachere und kostengünstigere Alternative zu steuerliche Ergebnis ist uns die Zurückhaltung des Fi- den internationalen Rechnungslegungsstandards angebo- nanzministeriums bei diesem Thema auch völlig unver- ten. Auch diesen Punkt des Gesetzesvorhabens begrüßen ständlich. Für den weiteren Gesetzgebungsprozess, die wir. Die internationalen Rechnungslegungsstandards be- Anhörung und Beratung im Ausschuss, bleiben aus un- trachten wir weiterhin kritisch, weil diese Standards serer Sicht also noch wesentliche Fragen zu klären, Un- nicht in einem demokratisch legitimierten Gesetzge- genauigkeiten klarzustellen und Korrekturen vorzuneh- bungsverfahren oder wenigstens in der gebotenen Trans- men. parenz und Mitwirkung parlamentarischer Gremien zu- stande kommen. Vielmehr werden sie von dem IAS- Board, einem privaten Gremium mit Sitz in London, das Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): von Industrieunternehmen, Banken, Versicherungsunter- Kleine und mittelständische Unternehmen in Deutsch- nehmen und Wirtschaftsprüfern finanziert wird, erarbei- land sind das Rückgrad der Wirtschaft. Sie garantieren tet. Ein solches Vorgehen führt zu einem Verlust von Millionen von Arbeitsplätzen und tragen Verantwortung Transparenz und Demokratie. Darauf haben wir bereits für die Berufsausbildung. Es ist deshalb ein Anliegen 2004 bei der Debatte um das Bilanzkontrollgesetz und meiner Fraktion, besonders diese Unternehmen von un- nötigem Bürokratieaufwand und Bürokratiekosten zu das Bilanzrechtsreformgesetz hingewiesen. Insofern se- entlasten. Wir begrüßen deshalb im Grundsatz den von hen wir es positiv, wenn den mittelständischen und nicht der Bundesregierung eingebrachten Vorschlag zur Mo- kapitalmarktorientierten Unternehmen eine Alternative dernisierung des Bilanzrechts. zu den internationalen Rechnungslegungsstandards an- geboten wird. Dennoch verlieren auch für diese Unter- Ein wichtiger Punkt des Reformvorhabens ist die Be- nehmen die Internationalen Rechnungslegungsstandards freiung von Einzelkaufleuten, die innerhalb von zwei nicht an Relevanz; denn für die Unternehmen, die inter- Geschäftsjahren nicht mehr als 500 000 Euro Umsatzer- national agieren, kann ein wirtschaftlicher Druck beste- löse und 50 000 Euro Jahresüberschuss aufweisen, von hen, gemäß den internationalen Regeln zu bilanzieren. den bisherigen handelsrechtlichen Buchführungspflich- Zudem enthält das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz 19198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) zumindest mittelbare Bezüge zu den Internationalen Abschaffung nicht mehr zeitgemäßer Bilanzierungs- (C) Rechnungslegungsstandards. wahlrechte und der umgekehrten Maßgeblichkeit. Wir fordern deshalb die Bundesregierung heute zum Zur Verbesserung der Aussagekraft gehört auch, dass wiederholten Male auf, sich zumindest auf europäischer die wirtschaftlichen Risiken bei den sogenannten Zweck- Ebene nachhaltig für ein demokratisch legitimiertes Zu- gesellschaften künftig besser aufgedeckt werden müssen standekommen der Internationalen Rechnungslegungs- – eine Lehre aus der Finanzmarktkrise der letzten Mo- standards einzusetzen. Diese dürfen von der EU nicht nate. blind übernommen werden, sondern müssen unter Mit- Daneben wollen wir deregulieren und den Bilanzie- wirkung des Europäischen Parlaments und der nationa- rungsaufwand für kleinere und mittlere Unternehmen re- len Parlamente erarbeitet und beschlossen werden. duzieren. Mittelständische Einzelkaufleute, die nur einen kleinen Geschäftsbetrieb unterhalten, werden von han- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der delsrechtlichen Buchführungs- und Bilanzierungspflich- Bundesministerin der Justiz, Die Bundesregierung hat ten befreit. Und durch die Anhebung der Schwellen- den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Bi- werte für kleine und mittlere Kapitalgesellschaften lanzrechts vorgelegt. Wir wollen mit diesem Gesetz da- können in Zukunft mehr Unternehmen in den Genuss der für sorgen, dass mittelständische Unternehmen noch bes- entsprechenden Erleichterungen bei Buchführung, Bi- sere Rahmenbedingungen in Deutschland vorfinden. Die lanzierung, Abschlussprüfung und Offenlegung kom- Wirtschaft braucht moderne und effiziente Bilanzie- men. Für die betroffenen Unternehmen bedeutet das rungsregeln. Nur dann bleibt das notwendige Vertrauen 1,3 Milliarden Euro weniger Kosten pro Jahr! in die Finanzinformationen der Unternehmen erhalten. Dabei muss man unterscheiden: Die bisherigen Stellungnahmen von Verbänden, Wis- senschaft und Praxis haben gezeigt, dass wir mit der Die großen, börsennotierten Unternehmen orientieren Grundlinie des BilMoG richtig liegen: Verbesserung der sich an den internationalen Rechnungslegungsstan- Aussagekraft der HGB-Abschlüsse so weit notwendig; dards, den sogenannten IFRS. 2004 haben wir daher mit Deregulierung so weit möglich; Erhaltung des HGB-Bi- dem Bilanzrechtsreformgesetz vor allem der IFRS-An- lanzrechts als eigenständige Regelung; Beibehaltung der wendung im Konzernabschluss kapitalmarktorientierter Maßgeblichkeit sowie Steuerneutralität des BilMoG. Unternehmen aufgrund der europäischen IAS-Verord- nung Rechnung getragen. Diese Bilanzrechtsmodernisierung ist weder Anlass für Steuergeschenke, noch sollen zusätzliche Steuerbe- Für kapitalmarktorientierte Unternehmen haben sich lastungen auf die betroffenen Unternehmen zukommen. die IFRS inzwischen zu den weltweiten Rechnungsle- (B) gungsstandards entwickelt. Eine Erfolgsgeschichte, die Einige Punkte, deren Prüfung auch der Bundesrat in (D) nur wenige für möglich gehalten haben. Und Europa war seiner Stellungnahme angeregt hat, werden wir im wei- von Anfang an mit dabei und hat mit der IAS-Verord- teren Verfahren nochmals diskutieren. Dabei wird es bei- nung eine wichtige Vorreiterrolle eingenommen. spielsweise darum gehen, ob sich die Regelungen noch klarer fassen lassen – zum Beispiel im Hinblick auf die Für die kleinen und mittelständischen Unternehmen, Zeitwertbewertung von Finanzinstrumenten, Bewer- also für das Gros der deutschen Kapitalgesellschaften, tungseinheiten oder das Prinzip der wirtschaftlichen Zu- sind die IFRS hingegen zu kompliziert und deshalb nicht rechnung. brauchbar. Daran werden auch die als Entwurf vorlie- genden „IFRS für KMU“ nichts ändern. Diese Unterneh- Es ist jedoch zu berücksichtigen: Wir wollen uns be- men richten sich nach dem deutschen HGB-Bilanzrecht, wusst nicht in die Hände der internationalen Standards das ihnen ein bewährtes und kostengünstiges Regelwerk begeben. Unterschiede zu IFRS werden bleiben, um im an die Hand gibt. Interesse der kleinen und mittleren Unternehmen Rege- lungen zu schaffen, die möglichst einfach zu handhaben Allerdings sehen sich die kleinen und mittleren Un- sind, die aber auch genügend Rechtssicherheit bieten. ternehmen vermehrt unter einem gewissen Druck, auf Dem dient unter anderem auch die Beibehaltung der die internationalen Standards umschwenken zu müssen. Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die steuerliche Dieser Druck kommt teils von den Banken teils von aus- Gewinnermittlung: Die Unternehmen sollen grundsätz- ländischen Unternehmen. Wir wollen diesen Druck von lich weiterhin in der Lage sein, eine Einheitsbilanz auf- den Mittelständlern nehmen und müssen deshalb dafür zustellen. Der handelsrechtliche Jahresabschluss bleibt sorgen, dass die Handelsbilanz noch aussagekräftiger Grundlage der Gewinnausschüttung und Besteuerung. wird und das HGB-Bilanzrecht im Wettbewerb mit den internationalen Rechnungslegungsstandards bestehen Ich hoffe, dass wir die Beratungen hier im Bundestag kann. Das HGB-Bilanzrecht soll eine vollwertige Alter- zügig abschließen können. Dies ist nicht nur im Interesse native zu den internationalen Standards bieten, ohne de- unserer Unternehmen, die möglichst bald Rechtssicher- ren Nachteile übernehmen. heit wollen. Wir setzen mit dem BilMoG auch zwei EU- Richtlinien mit Regelungen zur Corporate Governance Stichworte sind hier: die Aktivierung selbstgeschaffe- von Kapitalmarktunternehmen und zur Abschlussprü- ner immaterieller Vermögensgegenstände des Anlage- fung um, deren Frist gerade abgelaufen ist. vermögens; die Zeitwertbewertung von Finanzinstru- menten, die zu Handelszwecken erworben worden sind; Die Bundesregierung wird sich in jedem Fall für eine die zukunftsgerichtete Rückstellungsbewertung und die praxisgerechte Ausgestaltung der Übergangsvorschriften Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19199

(A) des BilMoG einsetzen. Es ist klar, dass die Unternehmen ihrer Promotion finanziell unterstützt werden können, (C) eine ausreichende Umstellungszeit brauchen. die Erhöhung der Promotionsstipendien auf 1 050 Euro monatlich, das Programm „Zeit gegen Geld“, das dazu beiträgt, dass Familie und Karriere für Begabte im Anlage 10 Hochschulbereich besser vereinbar werden, das Wissen- schaftszeitvertragsgesetz, das die Sonderregelungen für Zu Protokoll gegebenen Reden die Qualifizierungsphase von jungen Wissenschaftlerin- zur Beratung: nen und Wissenschaftlern um eine familienpolitische Komponente ergänzt, damit zur Familiengründung er- – Unterrichtung: Bundesbericht zur Förde- mutigt wird, die ins Leben gerufene Alexander-von- rung des Wissenschaftlichen Nachwuchses Humboldt-Professur, mit der ausländische Wissenschaft- – Antrag: Wissenschaft als Beruf attraktiver ler und Wissenschaftlerinnen aller Fachgebiete in machen – Den wissenschaftlichen Nach- Deutschland und deutsche Wissenschaftlerinnen und wuchs besser unterstützen Wissenschaftler im Ausland mit hervorragenden Leis- tungen angeworben werden können. (Tagesordnungspunkt 15 a und b) Wichtig ist der Hochschulpakt, mit dem sichergestellt Marion Seib (CDU/CSU): Deutschlands wichtigste wird, dass bis 2010 insgesamt über 90 000 zusätzliche Ressource sind – und darüber sind wir uns alle einig – Studienanfängerinnen und Studienanfänger an den die Menschen. Der Innovationsstandort Deutschland Hochschulen aufgenommen werden können. Auch der braucht exzellenten wissenschaftlichen Nachwuchs und Pakt für Forschung und Innovation, der den drei großen beste Bedingungen. Sie sind das Fundament, auf denen Forschungs- und Wissenschaftsorganisationen einen die Zukunft Deutschlands entsteht. Ziel der Nachwuchs- jährlichen Mittelzuwachs von mindestens 3 Prozent ga- förderung ist es, die besten Bedingungen zu schaffen, rantiert, ist von entscheidender Bedeutung. Für Interes- damit gut qualifizierte Menschen ihre Chancen in Wis- sierte aus dem In- und Ausland wurde ein Kommunika- senschaft und Forschung in Deutschland wahrnehmen tions- und Informationssystem Wissenschaftlicher Nach- können. In Deutschland wird auf höchstem Niveau ge- wuchs, KISSWIN, eingerichtet, das schnell und pro- forscht und gelehrt. Das ist nur möglich, wenn Wissen- blemlos über Karrierewege und Fördermöglichkeiten schaftlerinnen und Wissenschaftler exzellente Bedingun- informiert. Auch die Exzellenzinitiative, durch die ins- gen vorfinden und sich die Klügsten für eine Karriere in gesamt bisher 39 Graduiertenschulen mit jährlich rund Wissenschaft und Forschung entscheiden. 1 Million Euro gefördert werden, ist zu begrüßen. Die Nachwuchsförderung wird damit nachhaltig gestärkt, (B) Wir brauchen auch in Zukunft wissenschaftlichen (D) Nachwuchs. Das heißt, dass wir unbedingt die Weichen und ein derartiges Exzellenznetzwerk zwischen den dafür stellen müssen, dass die Abiturientenquote dras- Hochschulen trägt dazu bei, dass die Hochschulfor- tisch erhöht wird. Dies soll nicht auf dem Weg der An- schung mit den übrigen Säulen der deutschen For- forderungsabsenkung, sondern auf dem Weg der Indivi- schungslandschaft Schritt halten kann. Wissenschaftli- dualförderung geschehen. Die Zeit drängt. Das, was wir cher Nachwuchs braucht attraktive Rahmen- und heute regeln und entscheiden, wird erst in zehn bis zwölf Arbeitsbedingungen, um exzellent, effizient und interna- Jahren zum Tragen kommen. Deshalb sind alle an dieser tional wettbewerbsfähig arbeiten zu können. Daher brau- Aufgabe Beteiligten aufgerufen, hier mitzuwirken. chen wir das Wissenschaftsfreiheitsgesetz. Die Förde- rung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist in unser Die Diskussion um die Schulstruktur, ob gegliedert aller Interesse und im Interesse unseres Landes. Die Zu- oder nicht gegliedert, ist dabei eine vollkommen über- kunft unserer Kinder und Enkel ist unmittelbar betrof- holte Diskussion. Mit der Föderalismusreform haben wir fen. Daher ist eine verstärkte Förderung des wissen- das entschieden. Die Länder sind zuständig. Sie sind da- schaftlichen Nachwuchses unabdingbar. bei auch zuständig, die Konkurrenzsituation um die bes- ten Schulen zu organisieren. Dieter Grasedieck (SPD): „Ich habe mich in den Viel wichtiger ist, dass wir uns darum kümmern, USA und in Europa beworben. Das beste Angebot be- „was“ an Lerninhalten und „wie“ diese vermittelt wer- kam ich aus Deutschland“, sagte Professor Seifert von den. Kreativität und Begeisterungsfähigkeit, gepaart mit der Universität Bochum Anfang September auf der breitem Allgemeinwissen und sicherem mathematischen GAIN-Tagung in Boston, USA. Professor Seifert Denken und naturwissenschaftlichen Grundkenntnissen, forschte an einer amerikanischen Universität und bekam sind die Grundlage für künftige berufliche Erfolge im dann eine Forschungsförderung von der Deutschen For- akademischen und nichtakademischen Bereich. Hierauf schungsgemeinschaft, DFG. Nach dem Emmy-Noether- unser Augenmerk zu legen, halte ich für ungeheuer Programm können sich die Wissenschaftler mit dem wichtig. Programm an deutschen Universitäten bewerben. Als Ju- Einiges wurde in der Programm- und Projektförde- niorprofessor arbeitet der junge Wissenschaftler jetzt in rung bereits geleistet, wie beispielsweise die Mittelbe- Bochum und kann natürlich auch Doktoranden betreuen: reitstellung für die Begabtenförderung in Höhe von „Es hat sich etwas bewegt in Deutschland. Ideen haben 113 Millionen Euro für das Jahr 2008, sodass wesentlich in Deutschland eine Zukunft“, sagte er in seinem Vor- mehr junge Menschen in ihrem Studium und im Rahmen trag. 19200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Es hat sich etwas bewegt in Deutschland: Das Promo- Forschungsbedingungen finde ich in der deutschen In- (C) tionsstipendium ist auf 1 050 Euro erhöht worden. Jähr- dustrie oder an deutschen Universitäten. lich werden zehn weltweit führende Wissenschaftler al- ler Fachrichtungen aus dem Ausland angeworben. Diese Unsere Bundesregierungen haben im letzten Jahr- Professoren sollen langfristig in Deutschland forschen. zehnt viel erreicht. Hier müssen wir weitermachen. Deutschlands Hochschulen sollen das Kraftzentrum der Bis 2004 wurden vom Bund 850 Stellen für Juniorpro- Wissensgesellschaft bleiben, und Deutschlands Industrie fessoren eingerichtet. Gefördert werden 40 Graduierten- muss Exportweltmeister bleiben. Wir benötigen dazu schulen und 30 Exzellenzcluster mit 1,9 Milliarden Euro weitere finanzielle Förderung. Deshalb war ich begeis- von 2006 bis 2011. Ein Professorinnenprogramm ist tert, dass unsere Bundeskanzlerin in der vergangenen vom Bund und von den Ländern beschlossen worden. In Woche im Plenum sagte: „Aus der Bundesrepublik muss den nächsten fünf Jahren sollen 200 neue Stellen für eine Bildungsrepublik werden. Diese Bildungsrepublik Professorinnen eingerichtet werden. Der Bund zahlt ist der beste Sozialstaat.“ Ich möchte noch ergänzen: 75 Millionen Euro. Die Zusammenarbeit von Hoch- Kostenlose Bildung für alle, von der Kita bis zur Uni, schule und Wirtschaft für anwendungsorientierte For- damit auch in 20 Jahren deutsche Forscher den Nobel- schung und Entwicklung wird durch den Bund mit preis in Schweden erhalten. Hier stehen wir fest an der 319 Millionen Euro gefördert. Fachhochschulen, Uni- Seite unserer Bundeskanzlerin. Die Union sollte bei die- versitäten und mittelständische Unternehmen forschen ser wichtigen Frage mitmachen. Mehr Mut ist gefragt. gemeinsam anwendungsorientiert. Der Bundesbericht zur Förderung des wissenschaftli- Uwe Barth (FDP): Die Bundesregierung legt heute chen Nachwuchses weist aber auch auf zukünftige Ver- ihren Bericht zur Förderung des wissenschaftlichen besserungen hin: So benötigen wir an unseren Hoch- Nachwuchses vor. Auf über 300 Seiten wird im wahrsten schulen eine längerfristige Karriereplanung. Deshalb Sinne des Wortes berichtet. Zu politischen Überlegungen wird in der Zukunft eine differenzierte Feststellung der und Plänen äußert sich die Regierung allerdings nur auf jährlichen, neu zu besetzenden Professorenstellen für knappen zwei Seiten stichpunktartig in sogenannten Nachwuchswissenschaftler zusammengestellt. In Zu- Handlungsansätzen. Alleine dieser Umstand spricht kunft muss die Anerkennung von Studien und Beschäfti- Bände! Insgesamt ist der Bericht – vielleicht gerade auf- gung im Ausland verbessert werden. grund der ausgesparten politischen Prosa – so erhellend wie ausführlich. Er zeichnet ein vielfach positiveres Bild Wir müssen unseren deutschen und auch ausländi- von der ausgerufenen „Bildungsrepublik Deutschland“ schen Wissenschaftlern deutlich machen: Die Universi- als wir es in den vergangenen Jahren gewohnt waren. Es tätstüren in Deutschland sind weit geöffnet. Junge Ta- scheint, zumindest auf den ersten Blick, dass es gar nicht (B) (D) lente sind in Deutschland willkommen. Wir brauchen so übel um den wissenschaftlichen Nachwuchs bestellt Akademiker. Die Zahl der Studienanfänger steigt im ist. Doch bei genauerer Betrachtung finden sich auch Jahr 2012 um circa 22 Prozent gegenüber 2004; bis 2014 hier Schattenseiten, über die wir nicht leichtfertig hin- steigt die Zahl bis zu 36 Prozent. Deutsche Universitäten weggehen dürfen. Gerade die altbekannten Defizite exis- benötigen junge Wissenschaftler. Bis zum Jahre 2013 tieren fort – und die sparsamen Vorschläge der Bundes- gehen 330 000 Akademiker in Pension. Und schon heute regierung geben keinen berechtigten Anlass, um auf eine suchen wir 100 000 Ingenieure. Junge Menschen haben Lösung dieser Probleme hoffen zu dürfen. eine gute Chance. Unsere Industrie und das Handwerk Die Zahl der postgradualen Abschlüsse an deutschen suchen Ingenieure, auf der anderen Seite sind viele ältere Hochschulen lässt aufatmen. Beim Blick auf unsere Pro- Ingenieure arbeitslos. Das Wissen verändert sich drama- motionsquote könnte man sogar geneigt sein, in Jubel tisch, deshalb ist es wichtig, dass unsere Ministerin auszubrechen: Kein anderes Land schafft es, so viele Annette Schavan auf dem Bildungsgipfel einen Hoch- junge – oder auch nicht mehr ganz so junge Menschen schulwettbewerb für intelligente Weiterbildungskon- (die meisten sind zwischen 30 und 35 Jahre alt) – zum zepte startet und ab 2010 200 Millionen Euro bereitstel- Doktortitel zu bringen. Während der EU-27-Durch- len will. Wir brauchen lebenslanges Lernen sowohl für schnittwert bei 2,73 Promotionen je 100 Hochschulab- jeden Facharbeiter, für jeden Akademiker, für jeden Po- schlüssen liegt, kann Deutschland eine Quote von stol- litiker und für jeden Spitzenmanager. Einige Universitä- zen 11,7 Prozent vorweisen. Damit liegen wir erheblich ten wie die Elite Universität in Aachen bieten für Akade- über dem Anteil Frankreichs (2,09 Promotionen) oder miker aus aller Welt Managementseminare an. „Hier in Großbritanniens (2,63). Doch wer nun meint, dass – in Aachen können die Teilnehmer mit Experten über die Anbetracht dieser schönen Zahlen und der doch sehr be- wichtigen Themen der nächsten 50 Jahre diskutieren und eindruckenden Werte – man sich nun getrost zurückleh- Szenarien entwickeln“, sagte ein Inder am Ende der Ta- nen könne, der irrt gewaltig. Denn der Promotion kommt gung. Nur so können wir in der Gesellschaft die Wis- in Deutschland eine ganz andere Bedeutung zu als in un- sensexplosion meistern. Auch für diese wichtige Auf- seren Nachbarstaaten. Während sie andernorts den ers- gabe benötigen unsere Universitäten junge Professoren. ten Meilenstein einer akademischen Karriere darstellt, 85 Prozent der jungen deutschen Forscher, die in Ame- neudeutsch „Tenure Track“ genannt, ist der Weg zum rika oder in anderen Ländern arbeiten, kommen nach Doktor in Deutschland häufig eine Verlegenheitslösung, zwei bis drei Jahren nach Deutschland zurück. Diesen meist markiert er dann auch das Ende des akademischen Prozentsatz müssen wir steigern und mehr ausländische Werdegangs. Zu häufig wird die Promotion aus Furcht Forscher müssen davon überzeugt werden. Die besten vor Arbeitslosigkeit gewählt (und wird beim Eintritt in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19201

(A) ein reguläres Beschäftigungsverhältnis aufgegeben), Promotionsrechts müssen wir die Qualität der Lehre ent- (C) dient der Überbrückung von Wartezeiten, die wiederum sprechend absichern. Wenn Bund und Länder den Hoch- überalterten Studienstrukturen geschuldet sind, oder schulpakt verramschen, indem sie die Studienplatzkos- dient der Statussicherung – wohlgemerkt – außerhalb ten auf Billigstniveau veranschlagen, dann geht dies des Wissenschaftssystems. zwangsläufig zulasten der Hochschulqualität. Der zu- ständige Staatssekretär hat in der Ausschusssitzung die- Dies wird besonders deutlich, wenn man sich unsere ser Woche bestätigt, dass die veranschlagten 5 500 Euro angehenden Juristen anschaut. 76 Prozent der Studentin- zu knapp bemessen seien. Dies kann und darf nicht hin- nen und Studenten lehnen eine künftige Tätigkeit an ei- genommen werden, denn durch diesen Selbstbetrug ge- ner Hochschule rundweg ab – nur 2 Prozent dieser Stu- fährden wir den Wissenschaftsstandort Deutschland. Ge- dierenden streben mit Bestimmtheit einer akademischen rade deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion eine Tätigkeit entgegen. Dennoch sind 25 Prozent dieser Initiative verabschiedet, die eine Korrektur der Kalkula- Gruppe gewillt, eine Promotion aufzunehmen. Der tion vorsieht. Damit würde der Forderung der Hochschu- 10. Studierendensurvey an Universitäten und Fachhoch- len entsprochen, und eine 25-Prozent-Erhöhung der Stu- schulen hat diesen Befund nochmals empirisch unter- dienplatzpauschale wäre realisierbar. legt. Denn obwohl die Zufriedenheit der Studierenden mit dem Studienangebot gewachsen ist – 72 Prozent Schließlich will ich das Plädoyer der FDP-Bundestags- schätzen es als gut oder sehr gut ein –, erscheint den Stu- fraktion für die Verabschiedung eines Wissenschaftstarif- dierenden der „Verbleib an der Hochschule eher als eine vertrags abermals erneuern. Wir Liberale setzen uns seit Notlösung“. Im Bericht heißt es, dass „über die Hälfte Jahren dafür ein, dass der Wissenschaftsbetrieb die so aller Studierenden beabsichtigt, weiterzustudieren, falls dringend benötigte Flexibilität bei der Vergütung des der Berufseinstieg nicht gelingen sollte“ (Seite 54). Ge- Personals erhält. Es ist unfassbar, dass sich hier nichts rade einmal 3 Prozent eines Jahrganges wollen aber un- tut. Denn gerade diese überkommenen Entlohnungs- und bedingt an einer Hochschule arbeiten (Seite 49). Arbeitszeitstrukturen, mit denen wir uns in Deutschland konfrontiert sehen, behindern Vergleichbarkeit, Wettbe- Eine solche Entwicklung ist einmalig, für den deut- werbsfähigkeit und Mobilität innerhalb und außerhalb schen Hochschulraum jedoch leider kennzeichnend. Deutschlands. Hier muss die Bundesregierung die Part- Grundsätzlich muss die Frage erlaubt sein, ob die vom ner an einen Tisch bringen und dafür sorgen, dass wir für Staat investierten Ressourcen optimal eingesetzt werden das Wissenschaftssystem förderliche Lösungen entwi- oder ob hier nicht mit der Lebenszeit junger Menschen ckeln. fahrlässig umgegangen wird. Die Promotion sollte nicht regelmäßig den Endpunkt oder Ausstiegspunkt darstel- In den kommenden Jahren wird sich entscheiden, ob (B) len, sondern vielmehr einen Zwischenschritt auf der Lei- es uns gelingt, die Situation des wissenschaftlichen (D) ter im Wissenschaftssystem markieren. Zu den dafür nö- Nachwuchses in Deutschland nachhaltig zu stabilisieren tigen Voraussetzungen gehört zum Beispiel der Aufbau und unsere Vorsprünge zu wahren. Dabei ist es zwin- von Graduiertenkollegs. Durch eine adäquate Betreuung gend erforderlich, dass wir die Funktionalität der post- und Austauschmöglichkeiten wird hier den Studierenden gradualen Studiengänge überprüfen, eine Verbesserung ein Arbeitsumfeld geboten, welches Supervision ohne der Karriereplanung für Nachwuchswissenschaftler her- allzu enge Fesseln ermöglicht. Das ist nur ein denkbares beiführen sowie unsere Universitäten – als Zentren der Mittel, Promovierende zu unterstützen. Nachwuchsförderung – adäquat mit Mitteln ausstatten. Die Bundesregierung und die Länder haben diese Auf- Wir müssen jedoch auch zusätzliche Möglichkeiten gabe bislang nicht in einem ausreichenden Maße erfüllt – zur Absicherung des Lebensunterhalts für die Nach- und deswegen müssen sie sich nun mit Nachdruck die- wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zur sen Problemstellungen widmen! Verfügung stellen. Auf der Suche nach geeigneten Bei- spielen lohnt es sich, nach Holland zu schauen. Dort er- halten die an den Graduiertenkollegs eingeschriebenen Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Lassen Sie mich mit Studierenden ein Stipendium – als Gegenleistung sind einer Merkwürdigkeit des deutschen Wissenschaftssys- sie dazu verpflichtet, einen gewissen Anteil ihrer Ar- tems beginnen. Diese dürfte auch Demografen irritieren. beitszeit (circa 10 Prozent) der Betreuung der Studieren- Es ist nämlich gar nicht so selten, dass man in Deutsch- den in Bachelorstudiengängen zu widmen. So werden land bis zum zarten Alter von gut vierzig Jahren noch Forschung und Lehre zu einem frühen Zeitpunkt in der zum wissenschaftlichen Nachwuchs zählt. Und das wissenschaftlichen Karriere verbunden, Studierende und kommt so: Promovierende profitieren von der Erfahrung gleicher- maßen. Gerade deswegen ist das Ziel der FDP, die Sti- Während in anderen Ländern die Qualifizierung for- pendienquote auf mindestens 10 Prozent anzuheben, mal mit Promotion und Lehrberechtigung abschließt, richtig und wird – auch gegen den Widerstand von SPD, kann man in Deutschland sogar noch mit der Habilitie- der Linken und den Grünen – weiterhin mit Nachdruck rung zum wissenschaftlichen Nachwuchs gehören. Bis verfolgt. dahin sitzt man auf sogenannten Qualifizierungsstellen. Diese sind fast immer befristet. Solange diese Nach- Eine erfolgreiche Wissenschaftspolitik hängt jedoch wuchswissenschaftlerinnen nicht den Sprung auf einen maßgeblich davon ab, inwiefern es uns gelingt, unsere Lehrstuhl geschafft haben, hangeln sie sich also durch Universitäten konsequent zu stärken. Neben der Einrich- eine akademische Laufbahn, ohne klare Aussichten, ob tung der Graduiertenkollegs und der Verankerung des sie dort auch jemals richtig ankommen. Zwischenzeit- 19202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) lich erfüllen sie voll und ganz Aufgaben in Forschung Zweitens müssen die Stellen für wissenschaftlichen (C) und Lehre. Zudem betreuen und beraten sie Studierende, Nachwuchs Qualifizierung in Forschung und Lehre glei- korrigieren Klausuren, bereiten aufwendige Anträge in- chermaßen ermöglichen. Die Einheit von Forschung und nerhalb diverser Förderprogramme von Bund, Ländern Lehre muss auch personalisiert umgesetzt werden. und EU namens ihrer Professorinnen vor, schreiben an Veröffentlichungen mit und anderes mehr. Sie zählen als Drittens müssen im Wissenschaftszeitvertragsgesetz Nachwuchs, erfüllen mit diesem Beschäftigungsprofil die Endlosschleifen der Befristung von Verträgen und faktisch aber reguläre Aufgaben in Forschung und die sogenannte Tarifsperre gelöscht werden. Bevor der Lehre. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass man im Weg für nach oben offene Spitzengehälter für wenige Grunde nur über wissenschaftlichen Nachwuchs reden bereitet wird, muss die Bundesregierung dem Nach- kann, wenn zugleich die Zukunft des Konzepts „akade- wuchs entsprechend der EU-Forschercharta optimale mischer Mittelbau“ thematisiert wird. Bedingungen bieten. Damit sind wir mitten in einer Debatte von Beschäfti- Viertens bedarf es einer verlässlichen Sockelfinanzie- rung von Wissenschaftseinrichtungen. Der normale Wis- gungsbedingungen, Personalstrukturen und Tarifrege- senschaftsbetrieb darf nicht auf Auftragsforschung ange- lungen des Wissenschaftssystems. Denn es gibt im deut- wiesen sein. Diese Einnahmen machen ja auch nur schen System nicht nur Merkwürdigkeiten, sondern auch befristete Beschäftigung und keine verlässlichen Bedin- Anachronismen. Die gesamte akademische Laufbahn gungen in Arbeitszeit und Bezahlung möglich. Schon richtet sich auf die Berufung zum Professor. Da jedoch heute wird ein Fünftel der wissenschaftlichen Mitarbei- die Zahl der Professuren um ein Mehrfaches unter der ter von Hochschulen aus dieser Auftragsforschung be- Zahl der Bewerberinnen liegt, müssen zwangsläufig zahlt. viele aus der Kurve fliegen. Unterhalb von Professuren ist das deutsche Hochschulsystem für Beschäftigte aber Mit dieser Entwicklung verlieren die Hochschulen ausgesprochen unattraktiv. Nur ein Fünftel der Stellen Schritt für Schritt die verfassungsrechtlich garantierte sind dauerhafte Hochschullehrerstellen. In anderen Staa- Freiheit von Forschung und Lehre. Immer mehr erfolgen ten ist dieser Anteil deutlich höher. Die restlichen vier Forschungs- und Lehrprofilierung nach nicht wissen- Fünftel sind in Deutschland großenteils schlecht be- schaftsgeleiteten Kriterien. Vor diesem Hintergrund zahlte Stellen oder von Professuren abhängende sollte die Exzellenzinitiative auslaufen und beabsichtigte Zeitverträge – fast die Hälfte davon in Teilzeit, da die Finanzierungen in einen Hochschulpakt II überführt Mittel nicht zu mehr reichen. Auf halben Stellen ganz zu werden, um mehr Mittel für grundständige Forschung arbeiten, wird unterschwellig erwartet und getan. Eine und Lehre freizumachen. Spezielle Nachwuchspro- (B) Stelle teilen sich oftmals zwei Nachwuchskräfte. gramme außerhalb klassischer Hochschulstrukturen, wie (D) Emmy-Noether-Programm und Heisenberg-Professur, Damit klar wird, welche Einkommenshöhe erreicht sollten deutlich aufgestockt werden. wird, sei ein Beispiel angeführt: Diese halben Stellen bringen dem oder der Inhaber/in dann nach Bundesange- Fünftens sollte der Wissenschaftsrat mit einer Studie stelltentarif etwa 1 000 Euro netto monatlich. Promotion zur Reform der Nachwuchsförderung beauftragt werden. oder Habilitation werden häufig nebenbei geschrieben. Diese müsste insbesondere konkrete und verlässliche Folge: Wissenschaftliche Laufbahnen sind nicht planbar. Vorschläge zu Laufbahnplanungen und -beratungen, zu Es kann passieren, dass man nach Jahren auf diesen Stel- Mentoring- und Personalentwicklungsprogrammen der len mit oder ohne Qualifizierung ausscheidet und ar- Hochschulen und Forschungseinrichtungen enthalten. mutsbedroht ist. Dann ist man nicht mehr wissenschaftli- cher, sondern Hartz-IV-Nachwuchs. Zudem kann die Mein Fazit: Die Bundesregierung sollte die Förde- rung des Nachwuchses in der Breite mindestens genauso unmittelbar persönliche Abhängigkeit von Professoren wichtig nehmen wie ihre exorbitant teuren Exzellenz- die Selbstständigkeit in Lehr-, Forschungs- und Mitbe- und Hightechinitiativen. stimmungsrechten an der Hochschule erheblich ein- schränken. Nicht unbedingt die hohe Schule für innova- tives, unabhängiges Denken! Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es gibt in Deutschland zu wenige Forscherinnen und Forscher Daher fordert die Linke: erstens das System so zu ge- und zu wenige junge Menschen, die sich für eine Karrie- stalten, dass Wissenschaft nicht nur als Berufung im re in der Wissenschaft entscheiden. Über diese Dia- Sinne von Hingabe, sondern auch in sozialer Verantwor- gnose sind wir uns alle einig – und auch darüber, dass tung als Beruf verstanden wird. Entsprechend müssen angesichts des demografischen Wandels und der Anfor- Bund und Länder endlich für wissenschaftspezifische derungen unserer modernen Wissensökonomie Bund, Regelungen in den Tarifverträgen sorgen, die ein flexib- Länder und die anderen Wissenschaftsakteure dieser zu- les Arbeiten mit auf Dauer angelegten Entwicklungs- kunftsfeindlichen Entwicklung entgegensteuern müssen. möglichkeiten der Beschäftigten zum Ziel haben. Das ist Nach dieser Absichtserklärung ist es aber meist auch eine Grundvoraussetzung, um endlich auch deutlich schon vorbei mit der Einigkeit. Die Bundesbildungs- mehr Frauen Chancen auf Qualifikation und Berufung ministerin scheint die Wissenschaft und vor allem den zu verschaffen. Zur dieser Problematik – mehr Frauen in wissenschaftlichen Nachwuchs gedanklich schon kom- die Wissenschaft und Gender in der Forschung – liegen plett aus ihrer Zuständigkeit entlassen zu haben. Das ist aktuell von allen Fraktionen umfangreiche Anträge vor. aber ein fataler Trugschluss! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19203

(A) Die Wertschätzung von Wissenschaft, das Wecken Karriereplanung feststehen. Wissenschaft als Beruf kann (C) von Forscherdrang und das Fördern aller Potenziale und für junge Frauen und Männer nur attraktiv sein, wenn Talente müssen so früh wie möglich ansetzen. Die Wei- eine dem angelsächsischen „Tenure Track“ entspre- chen werden von Anfang an gestellt: durch eine stärkere chende Planbarkeit der Karriereschritte geschaffen wird. frühkindliche Bildung, durch eine individuelle Förde- Hochschulen und Forschungseinrichtungen müssen in rung und längeres gemeinsames Lernen anstatt Aussor- der Lage sein, eine mittel- und langfristige Personalpoli- tierens im mehrgliedrigen Schulsystem. Hier brauchen tik mit transparenten Entscheidungsverfahren zu ma- wir schleunigst Strukturreformen. chen. Wo die Habilitation als Qualifikationsweg beste- hen bleibt, muss gewährleistet werden, dass sie in Aber ich will mich auf die Nadelöhre zu und an den größerer wissenschaftlicher Unabhängigkeit als bisher Hochschulen konzentrieren. Fangen wir bei den Studie- durchgeführt werden kann. Warum intensivieren Sie renden an: Die Bundesregierung lobt sich in der Unter- nicht die Förderung von Nachwuchsgruppenleitungen? richtung selbst, wie deutlich sie die Talentförderung ge- steigert habe. Da muss ich gleich das erste Wasser in den Was mich ebenfalls umtreibt: Denken Sie ernsthaft, Wein kippen: Der Hochschulpakt I hat das Zeug dazu, mit dem Professorinnenprogramm sei alles Mögliche sich zum Rohrkrepierer zu entwickeln. Die erste Zwi- und Notwendige für mehr Chancengerechtigkeit für schenbilanz zeigt, dass er keine 13 000, sondern nur gut Frauen getan? Sicher nicht! Denn die Gleichstellung der 3 000 zusätzliche Studienanfänger gebracht hat. Wie soll Geschlechter muss umfassend durchgesetzt werden. das Potenzial von Zehntausenden Studienberechtigten Dazu müssen sich Hochschulen und Wissenschaftsein- gefördert werden, wenn sie es nicht einmal auf den Uni- richtungen zu messbaren und realistischen Steigerungs- Campus schaffen, und vor verschlossenen Hörsaaltüren quoten des Frauenanteils verpflichten. Diese Kaskaden stehen bleiben? Dass Sie diesen überaus mageren Start müssen gewährleisten, dass auf allen Ebenen und in al- tatsächlich als „Teilerfolg“ bewerten, ist unerhört! Sie len Fachbereichen unseres Wissenschaftssystems ein müssen beim Bildungsgipfel mit den Ländern alles da- Frauenanteil von mindestens 40 Prozent erreicht wird. ransetzen, den Pakt I zu retten und nachzuverhandeln. Daneben müssen unsere Hochschulen familien- Als Nächstes fällt der Blick auf erfolgreiche Hoch- freundlicher werden – andernfalls müssen sich Nach- schulabsolventinnen und -absolventen. Wie werden die wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler weiter- finanziellen und strukturellen Promotionsbedingungen hin zwischen Kind und wissenschaftlicher Karriere umfassend verbessert? Was wird getan, damit mehr Ab- entscheiden. Gerade für junge Männer hat die Kombina- solventinnen und Absolventen eine Promotion als sinn- tion „Kinder, Küche, Kolloquium“ absoluten Selten- volle Bildungsinvestition ansehen und als ersten Schritt heitswert. Daher brauchen wir einen Aufbruch zu mehr in die Wissenschaft als Beruf angehen? (B) Familienfreundlichkeit. Dies sind im internationalen (D) Ihre Maßnahmen im Rahmen der Exzellenzinitiative Wissenschaftsraum wichtige Voraussetzungen für eine reichen nicht aus. Es müssen mehr Promotionsstellen hohe Mobilität und eine produktive Brain Circulation und Graduiertenkollegs geschaffen werden. Daneben der Talente. Gute Arbeitsbedingungen hierzulande ent- muss auch für Promovierende mit Stipendien die Anbin- scheiden darüber, ob wissenschaftliche Nachwuchs- dung an Hochschulen und Forschungseinrichtungen er- kräfte im Inland bleiben bzw. nach Auslandsaufenthalten leichtert werden. Auch ist die systematische Weiterbil- zurückkehren. Dazu gehört übrigens auch eine bessere dung über das eigentliche Promotionsprojekt hinaus Bezahlung. Daher müssen wir alles daransetzen, die Ar- nötig. Hier sollten unserer Auffassung nach die Begab- beitsbedingungen und Karriereperspektiven in der Wis- tenförderungswerke stärker einbezogen werden. senschaft zu verbessern. Unser Ziel muss sein, dass die akademische Laufbahn wieder beliebter wird. Packen Das Promotionsrecht wiederum darf keinesfalls zu wir es endlich an! einer Statusfrage verkommen. Es muss von den Univer- sitäten nicht nur lautstark reklamiert, sondern auch ver- antwortlich ausgeübt werden. Wir wollen auch die Fach- Andreas Storm, Parl. Staatsekretär bei der Bundes- hochschulen stärker für die Nachwuchsqualifizierung ministerin für Bildung und Forschung: Wenn wir uns gewinnen. Deswegen sollten Unis und FHs verstärkt ge- Gedanken machen über die Zukunft Deutschlands, dann meinsame Teams zur Promotionsbetreuung einrichten müssen wir uns vor allem auch Gedanken machen über können. die Zukunft des wissenschaftlichen Nachwuchses. Mehr denn je sind wir angewiesen auf Kreativität und fundier- Ein leidiges Thema ist und bleibt die lange wissen- tes Wissen, um die Probleme von morgen erfolgreich be- schaftliche und tatsächliche Abhängigkeit deutscher wältigen zu können. Das bedeutet, liebe Kolleginnen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. und Kollegen, dass wir die klügsten Köpfe für eine Kar- Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, riere in Wissenschaft und Forschung gewinnen und dass sperren Sie sich noch immer gegen die Juniorprofessur? wir ihnen bei ihrer wissenschaftlichen Karriere die bes- Natürlich lässt sich über den Umfang der Lehrverpflich- ten Bedingungen bieten müssen. tung streiten. Aber warum erkennen Sie die Attraktivität dieser Stellen, die darin besteht, nach der Promotion Beste Bedingungen können wir aber nur schaffen, selbstständig forschen zu können, nicht endlich an? Wir wenn wir die Belange unseres Forschernachwuchses fordern Sie auf, beim Hochschulpakt II die Juniorprofes- auch wirklich kennen, wenn wir uns um die Rahmenbe- sur endlich aufzunehmen und sie zu fördern. Dazu müs- dingungen ihrer Arbeit an den Universitäten, an den au- sen von Beginn an klare Bedingungen für die weitere ßeruniversitären Forschungseinrichtungen und in der In- 19204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) dustrie kümmern und die Sorgen der jungen Selbstständigkeit und größerer Freiheit in Wissenschaft (C) Forscherinnen und Forscher ernst nehmen. Die Bundes- und Forschung zu verbinden. Der Ausbau von sogenann- regierung hat daher sehr frühzeitig den Dialog mit dem ten „Tenure-Track-Stellen“ für den wissenschaftlichen wissenschaftlichen Nachwuchs gesucht und ein Forum Nachwuchs an den Hochschulen und Forschungseinrich- für den Austausch zwischen jungen Forscherinnen und tungen in ganz Deutschland ist dafür sicherlich ein er- Forschern, Entscheidungsträgern aus Bund und Ländern, folgversprechender Weg. Wissenschafts- und Mittlerorganisationen sowie For- schungseinrichtungen geschaffen. Zwei Konferenzen Einigkeit unter den Experten besteht darüber, dass die – in Berlin (2006) und in (2007) – haben sich Promotionsphase in ihrer Qualität noch weiter verbessert intensiv mit der Lage des wissenschaftlichen Nachwuch- werden muss. Die deutschen Wissenschaftsorganisatio- ses beschäftigt und relevante Themen wie beispielsweise nen gehen gemeinsam mit den Hochschulen die erkann- Begabtenförderung, intersektorale Mobilität oder Bere- ten Defizite bereits entschlossen an. Im Mittelpunkt der chenbarkeit von Karrierewegen diskutiert. Reform steht vielfach eine klarer strukturierte Promo- tion, die unter anderem zu kürzeren Promotionszeiten, Ein wichtiges Ergebnis dieses Dialogs mit den jungen mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, der durch Doktorandinnen und Doktoranden und zu einer gezielten eine umfassende Studie ergänzt und fundiert wurde, Qualifizierung auch für die Anforderungen des Arbeits- stellt der von der Bundesregierung im Februar 2008 vor- marktes außerhalb der Wissenschaft führen soll. Das gelegte erste Bundesbericht zur Förderung des Wissen- heißt auch, dass es verschiedene Wege zu einer guten schaftlichen Nachwuchses, kurz: BuWiN, dar. Der Be- Promotion geben kann, da die Bedarfe der Doktoranden richt analysiert die Situation junger Forscherinnen und und auch der potenziellen Arbeitgeber unterschiedlich Forscher in Deutschland und bietet zum allerersten Mal sind. Die Hochschulen stellen sich auch hier einem inter- einen fundierten Überblick über die Maßnahmen und nationalen Wettbewerb um die besten Talente. Förderprogramme von Bund, Ländern und Wissen- schaftsorganisationen. Bemerkenswert finde ich in diesem Zusammenhang die erst vor wenigen Tagen von acatech, der Deutschen Der Bericht bestätigt die Vielfalt und die hohe Quali- Akademie der Technikwissenschaften, vorgelegten Emp- tät der Nachwuchsförderung in Deutschland. Mit einer fehlungen zur Zukunft der Ingenieurpromotion. Sie hebt Vielzahl von Maßnahmen fördert die Bundesregierung die Qualitätsmerkmale der klassischen Ingenieurpromo- junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im tion in Deutschland klar hervor und zeigt zugleich eine Rahmen der Programm- und Projektförderung sowie in ganze Reihe wertvoller Ansätze zur weiteren Verbesse- erheblichem Umfang indirekt durch die institutionelle rung und Modernisierung der Promotion auf. Förderung von Wissenschafts- und Mittlerorganisatio- (B) Mehr als bisher müssen wir uns darum kümmern, (D) nen. Exemplarisch verweise ich auf die deutliche Erhö- dass das wissenschaftliche Potenzial von Frauen stärker hung der Mittel für die Begabtenförderung, aber auch einbezogen wird. Vor allem muss der Anteil von Frauen auf die Exzellenzinitiative, den Pakt für Forschung und in Führungspositionen nachhaltig gesteigert werden. Das Innovation und den Hochschulpakt, die jeweils einen ge- von Bundesforschungsministerin Dr. Annette Schavan wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Situation des ins Leben gerufene Professorinnenprogramm leistet Forschernachwuchses leisten. dazu einen entscheidenden Beitrag: Bereits in der ersten Gemeinsam mit den Ländern, Hochschulen und Runde werden bis zu 140 Stellen für Spitzenwissen- außeruniversitären Forschungsinstitutionen tragen wir schaftlerinnen an 79 deutschen Hochschulen gefördert. Verantwortung dafür, dass Deutschland seinen ausge- Aber auch das Potenzial behinderter und chronisch zeichneten Ruf als Wissenschafts- und Forschungsstand- kranker Nachwuchswissenschaftler wird noch zu selten ort behält und weiter festigt. Der Bundesbericht zur För- erkannt, und es wird höchste Zeit, dass zum Beispiel völ- derung des Wissenschaftlichen Nachwuchses zeigt uns lig unnötige Barrieren bei der Aufnahme in Fördermaß- aber auch, wo wir noch handeln müssen, um noch bes- nahmen so schnell wie möglich beseitigt werden. sere Bedingungen für eine wissenschaftliche Karriere zu schaffen. In fünf Reformbereichen werden dazu Hand- Weiterentwicklungsbedarf besteht auch mit Blick auf lungsansätze formuliert. Lassen Sie mich einige zentrale den internationalen Austausch junger Wissenschaftlerin- Erfordernisse herausstellen: nen und Wissenschaftler. Mobilität über Ländergrenzen hinweg kann in ihrem Wert für unsere Hochschul- und Es bleibt eine vordringliche Aufgabe, dafür zu sorgen, Forschungslandschaft kaum überschätzt werden. In die- dass Nachwuchskräfte aus der ganzen Welt dauerhaft für sem Zusammenhang begrüßt die Bundesregierung die den Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutsch- Initiative der EU-Kommission „Better careers and more land gewonnen werden. Wir brauchen dafür ein interna- mobility: A European partnership for researchers“, die tional konkurrenzfähiges Wissenschaftssystem, das dem von der Bundesregierung intensiv begleitet werden wird. wissenschaftlichen Nachwuchs vor allem berechenbare Im Rahmen der geplanten Partnerschaft wird zum Bei- und attraktive Karrierewege bietet. Alle künftigen Maß- spiel die Verbesserung der Altersversorgung mobiler nahmen zur Förderung des wissenschaftlichen Nach- Forscher ein wichtiges Thema sein. wuchses sind deshalb der Nagelprobe zu unterziehen, ob sie hierzu einen wirksamen Beitrag leisten. Es gilt, wis- Und noch eines macht der Bundesbericht zur Förde- senschaftliche Qualifizierung, Exzellenz und ein ange- rung des Wissenschaftlichen Nachwuchses sehr deut- messenes Maß an Planbarkeit erfolgreich mit mehr lich: Es besteht erheblicher Informationsbedarf! Kaum Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19205

(A) zu glauben ist zum Beispiel, dass wir noch immer auf (2005 bis 2007) umgesetzt worden ist. Die Erfahrung (C) Schätzungen angewiesen sind, wenn es um die Gesamt- mit dieser Selbstüberprüfung zeigt, wo und mit welchem zahl der aktuell Promovierenden geht. Damit fehlen uns Tempo bestimmte Politikfelder angegangen werden kön- beispielsweise belastbare Daten zu den Abbrecherquoten nen und welche Erfolge auch zu erzielen sind. Wir kön- in diesem für den wissenschaftlichen Nachwuchs so zen- nen feststellen, dass wir ganz ordentlich die selbst ge- tralen Qualifizierungsabschnitt. Ein wichtiges Hand- setzten Ziele abgearbeitet haben: Die Strukturreformen lungsfeld für die Zukunft muss daher der Ausbau der waren erfolgreich, und zwar gerade am Arbeitsmarkt. Hochschulforschung und der Statistik sein. Hier haben wir einen Zuwachs an Arbeitsplätzen erlebt, den viele nicht zu hoffen wagten. Ich will dabei nicht Neben dem BuWiN wird deshalb künftig auch das verhehlen, dass ich nicht mit allen neu entstandenen Ar- neu geschaffene Kommunikations- und Informationssys- beitsplätzen zufrieden bin, besonders wenn es nur solche tem „Wissenschaftlicher Nachwuchs“, kurz: KISSWiN, für 400 Euro im Monat sind bzw. mit extrem niedrigen dazu beitragen, dass schnell und unkompliziert Informa- Stundenlöhnen vergütet werden. Dennoch ist uns hier tionen zur Situation, zu Karrierewegen und Fördermög- ein wichtiger Schritt gelungen: Arbeitsplätze entstehen, lichkeiten in Deutschland für jeden zugänglich gemacht und zwar „im Lichte der Öffentlichkeit“ – nicht im Dun- werden. keln als Schwarzarbeit! Der vorgelegte Bundesbericht zur Förderung des Wis- senschaftlichen Nachwuchses schafft die Transparenz, Jetzt gilt es, den Fuß, den wir in der Tür haben, nicht die wir brauchen, um ein effizientes und aufeinander ab- zurückzuziehen, sondern die Tür zu einer weiterhin er- gestimmtes System der Nachwuchsförderung in folgreichen Wachstums- und Beschäftigungspolitik ganz Deutschland zu etablieren. Wir wollen den Bericht zu ei- weit aufzustoßen, damit viele – möglichst alle – hin- nem wirksamen Instrument ausbauen, mit dem künftig durchgehen können! regelmäßig und mit unterschiedlicher Schwerpunktset- Grundlage dafür – und das ist nun wirklich keine neue zung über Erfolge, aber auch über Schwachstellen der Erkenntnis – ist und bleibt die Bildung. Deshalb müssen Nachwuchsförderung informiert wird. unsere gemeinsamen Anstrengungen, also die von Bund, Doch nach den Daten kommen die Taten! Damit der Land und Kommunen, darauf gerichtet sein, Bildung als BuWin nicht nur ein Analyseinstrument bleibt, sondern Bestandteil des gesamten Lebens zu betrachten, nicht zu einem Instrument des Handelns wird, laden wir die nur als eine Zeiterscheinung zwischen dem siebten und Länder ein, mit uns in der Gemeinsamen Wissenschafts- maximal siebenundzwanzigsten Lebensjahr. Wie aber konferenz (GWK) weitere Schritte zu vereinbaren. Die vermitteln wir das den Eltern? Natürlich werden wir als Bundesregierung jedenfalls wird ihren Teil dazu beitra- Bund uns daran beteiligen, dass die Länder mit den (D) (B) gen, dass die Stärkung des wissenschaftlichen Nach- Kommunen den unter Dreijährigen eine dem Bedarf ent- wuchses eine Erfolgsgeschichte wird. sprechende Anzahl von Betreuungsplätzen anbieten kön- nen. Dafür werden wir als Bund uns mit 4 Milliarden Euro bis zum Jahr 2013 beteiligen. Und ab dann wollen Anlage 11 wir einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren geben. Zu Protokoll gegebene Reden Auch wenn die jungen Menschen die Schulen verlas- zur Beratung der Unterrichtung: Nationales sen, werden wir ihnen eine Perspektive geben, weil wir Reformprogramm Deutschland 2008 bis 2010 für ein solides Wirtschaftswachstum bei voller Beschäf- Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008 (Ta- tigung einen entsprechenden Fachkräftenachwuchs brau- gesordnungspunkt 17) chen. Deshalb bleibt es dabei: die Unternehmen bleiben nach wie vor in der Pflicht, genügend – auch über Bedarf – Doris Barnett (SPD): Mit der Lissabon-Strategie ha- Ausbildungsplätze zu schaffen. Schließlich sind fertig ben sich die Mitgliedstaaten der EU verpflichtet, größt- ausgebildete Facharbeiter nicht aus den Bäumen zu mögliche Anstrengungen zu unternehmen, um Vollbe- schütteln. Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbil- schäftigung zu erreichen und die EU zu der dungsverträge ist erfreulicherweise in 2007 gestiegen, Wissensgesellschaft in der globalisierten Welt zu ma- was aber nicht nur den Betrieben zu verdanken ist. Auch chen. Nach dem ernüchternden Zwischenbericht, den die die Bundesagentur für Arbeit hat die Anzahl der außer- EU in 2005 ziehen musste, bilden die Nationalen Re- betrieblichen Berufsausbildungsplätze erhöht und wird formprogramme das zentrale Gestaltungselement der dies auch in diesem Jahr fortführen. von den Regierungschefs in 2005 verabschiedeten Neu- ausrichtung eben dieser Lissabon-Strategie. Jeder Staat Gut ausgebildete und qualifizierte Facharbeiter, viele beschreibt jetzt ausführlich – und zwar so, dass es nicht mit Techniker- bzw. Meister-Prüfung, dürfen in ihrer be- nur die Kommission in Brüssel weiß, sondern jeder Bür- ruflichen Weiterentwicklung nicht durch eine gläserne ger und jede Bürgerin nachlesen kann – wie er gedenkt, Decke gehindert werden. Deshalb muss an einer Weiter- Wachstum und Beschäftigung für sein Land voranzu- entwicklung des Hochschulzulassungsrechts gearbeitet bringen. werden – und ich darf an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es Ministerpräsident war, der schon vor Im letzten Jahr konnten wir uns bereits davon über- vielen Jahren den Zugang zur Hochschule gerade von zeugen, wie das vorangegangene Reformprogramm diesen Bildungswilligen in Rheinland-Pfalz ermöglichte. 19206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Um exzellent zu bleiben bzw. die Exzellenz weiter zu Entlastung des Straßennetzes, sondern diese Strategie (C) steigern, werden wir bis zum Jahr 2010 drei Prozent des dient auch einer effizienteren und umweltfreundlicheren Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung Gestaltung des Gesamtverkehrssystems. Deutschland investieren. Für das kommende Jahr haben wir auch behauptet sich damit auch als starker Logistikstandort in schon rund 7 Milliarden Euro bereitgestellt. Weitere Europa. Bei dieser Gelegenheit will ich es nicht versäu- Gelder werden wir für die Infrastruktur und die Ausstat- men darauf hinzuweisen, dass trotz aller Begeisterung tung aufbringen. Die Gelder, die wir in Bildung stecken, über die Zuwachsraten der Schienentransporte der und zwar von der Kindertagesstätte bis zur Graduierten- Mensch als Nachbar zur Schiene nicht vergessen wird. Forschung, werden helfen, Wachstum, Beschäftigung Hier haben wir auch eine Verantwortung, was den Lärm und Wohlstand für die Menschen in unserem Land zu angeht! Lärmschutz und Lärmvermeidung muss die stär- halten. kere Streckennutzung begleiten, ebenso wie die For- schung auf diesem Gebiet. Ich weiß, wovon ich spreche, Gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- da wir in meinem Wahlkreis demnächst den größten mer sorgen dafür, Mehrwert zu schaffen – die Grundlage Kombi-Terminal und damit Umschlagplatz von Gütern also auch zur Finanzierung unseres Landes. Allerdings auf die Bahn haben werden. ist es wichtig, dass der Staat hilft, nicht hindert! Deshalb werden wir uns auch um das Patentrecht zu kümmern Bei allen Anstrengungen, die wir für ein Wachstum haben, nämlich die Möglichkeit der Verwertung von Er- und damit für mehr Beschäftigung unternehmen, dürfen findungen, insbesondere denen, die durch Arbeitnehmer wir die zukunftsfeste Gestaltung unserer sozialen Siche- gemacht wurden. Erfindungen nützen niemandem, wenn rungssysteme nicht außer Acht lassen, weil diese Garant sie nur in Schubladen schlummern, wie der Präsident des für den sozialen Zusammenhalt und sozialen Frieden Europäischen Patentamtes im letzten Jahr feststellte. Im sind. Dabei werden wir keinesfalls den Blick für reale Gegenteil – er fordert vielmehr, dass es viel schneller zu Entwicklungen, die der demografische Wandel mit sich einer Verwertung kommen müsste, weil so Innovation, bringt, verlieren. Zur Demonstration möchte ich fol- Beschäftigung, Mehrwert für viele entstehen könne – gende Zahlen nennen: Im gesamten Bundesland Rhein- statt geistiges Eigentum verstauben und vergessen zu land-Pfalz gab es im Jahr 1973 13 Bürgerinnen und Bür- lassen. ger die ihren 100. Geburtstag feierten. Heute gratuliert allein der Sozialdezernent meiner Heimatstadt Ludwigs- Wir haben in unserem Land die Kompetenz für Inno- hafen jährlich 31 Personen, die hundert Jahre und älter vation – wir wollen und werden sie auch nutzen. Wir för- sind. dern Kompetenznetze und Kooperationen gerade im Hightech-Bereich. Da die größten Innovationsschübe al- Diese Entwicklung lässt sich nicht schönreden oder lerdings von den KMU ausgehen, werden wir dort anset- (B) wegdiskutieren – auf diese Entwicklung haben wir ange- (D) zen und haben das ZIM, das Zentrale Innovationspro- messen zu reagieren: Finanzströme der gesetzlichen gramm Mittelstand, auf den Weg gebracht. In dieses Krankenversicherung sind grundlegend neu zu ordnen Programm werden wir im kommenden Jahr auch die ein- bei gleichzeitiger Einführung von Versicherungspflicht zelbetriebliche Förderung in den neuen Ländern inte- und -recht für alle; die Finanzierung der Rentenversiche- grieren. rung darf nicht zu einer immer höheren dauerhaften Zu- Die derzeitigen hohen Energiepreise dürfen sich nicht satzbelastung der Beitragszahler führen. Dabei muss die zum Bremsklotz unserer wettbewerbsfähigen Wirtschaft Schutzklausel in der Rentenanpassungsformel unberührt entwickeln. Deshalb müssen wir uns langfristig für Ver- bleiben, was dann allerdings zu einer Anpassungsdämp- sorgungssicherheit bei der Energiebeschaffung einset- fung bei realen Rentensteigerungen führen wird. zen. Grenzüberschreitende Kooperationen sind dabei ein Was sich da so nüchtern anhört, ist für den Bürger wichtiger Baustein, wie zum Beispiel das Pentalaterale kaum verständlich. Deshalb wird es unsere wichtigste Energieforum. und zugleich vornehmste Aufgabe sein, die wichtige und Bei anderen Dienstleistungen, die der Allgemeinheit richtige Politik, die wir für die Menschen in unserem jederzeit und kostengünstig zur Verfügung stehen müs- Lande machen, diesen auch zu erklären. Mit dem natio- sen, müssen wir ein Auge auf deren Liberalisierungspra- nalen Reformprogramm, gehen wir in die Offensive. xis werfen. So sind wir bei der Liberalisierung des Post- Glücken wird uns das aber nur, wenn die Menschen es sektors zwar Vorreiter in der EU – haben also den verstehen, einverstanden sind und mitmachen. Wir alle Postmarkt viele Jahre schon geöffnet, bevor die letzten werden jetzt unseren Teil dazu beitragen können – pa- EU-Mitgliedstaaten das tun werden (Ende 2012). Aller- cken wir’s an! dings bleibe ich dabei, dass die Absprachen in der PUDLV (Postuniversaldienstleistungsverordnung) – bis Rainer Brüderle (FDP): Die Bundesregierung hat auf die Anzahl der posteigenen Filialen – Bestand haben uns hier wieder einmal einen Tätigkeitsbericht vorgelegt. müssen. Leider ist der Bericht alles andere als eine ehrliche Be- schreibung dessen, was diese Regierung in der Wirt- Im Schienenverkehr haben wir einen breit getragenen schafts- und Arbeitsmarktpolitik getan hat. Er ist im bes- Kompromiss zur Teilprivatisierung gefunden. Das ist ten Falle noch geschönt. nicht unerheblich für den Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur eines erfolgreichen Güterverkehrs- und Lo- Die Regierung möchte mit diesem sogenannten Pro- gistiksystems. Denn schließlich verfolgen wir mit der gramm demonstrieren, wie viel sie für Wachstum und Strategie „Güter auf die Bahn“ nicht nur eine erhebliche Beschäftigung tut. Sie lässt aber völlig unerwähnt, was Deutscher Bundestag – 16. 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(A) sie alles tut, um Wachstum und Beschäftigung zu be- hindert und verhindert, als die Exklusivlizenz der Deut- (C) schränken. schen Post ausgelaufen ist. Wer Monopole stützt, hat noch nicht verstanden, wie die Marktwirtschaft, wie Über die Lissabon-Strategie der Europäischen Union, Wettbewerb funktioniert. die ja der Grund für diesen Bericht der Bundesregierung ist, ließe sich vieles sagen – auch viel Kritisches. Es ist Wir brauchen bessere Bedingungen für die Schaffung ohne Zweifel ehrenwert, den europäischen Wirtschafts- neuer Arbeitsplätze. Dazu gehört mehr Flexibilität, dazu raum wettbewerbsfähiger und dynamischer machen zu gehören betriebliche Bündnisse für Arbeit und eine deut- wollen. Dagegen hat selbstverständlich niemand etwas. liche Senkung der Lohnnebenkosten. Dann werden un- Entscheidend ist aber, mit welchen Mitteln man zum sere Unternehmen im Wettbewerb beweglicher. Ziel kommen möchte. Für all das ist keine Koordination auf europäischer Was die europäischen Staats- und Regierungschefs im Ebene nötig. Auch nationale Tätigkeitsberichte helfen März 2000 in Lissabon beschlossen haben, lässt weiten nicht weiter. Europa sollte sich in den wirtschaftsrele- Interpretationsspielraum. Man kann die Lissabon-Strate- vanten Politikbereichen auf die Durchsetzung von Wett- gie als ein Programm zur Umstrukturierung der EU ver- bewerb konzentrieren, auf die Umstellung seines Haus- stehen, als ein Programm für mehr Flexibilisierung und halts von Subventionen auf Investitionen. Für alles mehr Freiheiten im Binnenmarkt. Das wäre ein hehres Übrige ist eine Politikkoordination nicht nötig. Das kann Ziel. dem Wettstreit um die besten Lösungen und die attrak- Man kann den Lissabon-Prozess aber auch als zentra- tivsten Standorte in den Mitgliedstaaten überlassen blei- listischen Aktionismus verstehen: als einen Versuch, mit ben. Zielvorgaben die Wirtschaft zu lenken, als Beitrag zu der Idee, dass Wachstum zentral planbar ist. Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): In Ihrem Bericht über das Nationale Reformprogramm loben Sie Ihre Po- Jeder kann in der Lissabon-Strategie sehen, was er se- litik über die Maßen. Dazu allerdings gibt es keinen hen will. Die Bundesregierung hat sich, was das betrifft, Grund. Sie behaupten, der Wohlstand der großen Mehr- aber immer noch nicht entschieden. heit der Bevölkerung steigt. Das trifft nicht zu. Der Le- Wenn wir Europa, wenn wir Deutschland weiterbrin- bensstandard hat sich verschlechtert. Da ist kein Auf- gen wollen, müssen wir ein Europa des Wettbewerbs schwung zu sehen. schaffen. Dazu gehört eine Europäisierung der Wettbe- Die Zunahme der Beschäftigung ist nicht höher als werbspolitik, dazu gehört weniger Bürokratie beim beim letzten Aufschwung vor Hartz IV. Und vor allem: innereuropäischen Güter- und Dienstleistungshandel, Die Beschäftigung steigt deswegen, weil es immer weni- (B) dazu gehört Wettbewerb zwischen den Mitgliedsländern ger Vollzeitbeschäftigung gibt. Der gesamtwirtschaftli- (D) in der Arbeitsmarkt-, Steuer- und Standortpolitik. che Bedarf an Arbeitsstunden verteilt sich auf immer Man hat sich vom Lissabon-Prozess eine günstige mehr Personen. Als Folge der Zunahme von Teilzeitar- Stimmung für wachstumsfreundliche Reformen in ganz beit schrumpfen die Realeinkommen der Beschäftigten Europa versprochen. Aber in den Bereichen, in denen während eines Aufschwungs. Das ist das Ergebnis Ihrer Europa mehr Wettbewerb im Binnenmarkt schaffen Politik. könnte, scheitern die Ansätze kläglich an nationalem Die Lissabon-Strategie führt in die Irre. Die einseitige Protektionismus. Ausrichtung auf mehr Wettbewerb, Preisstabilität und Erinnern wir uns nur an das Schicksal der Dienstleis- Haushaltskonsolidierung macht die Reichen reicher und tungsrichtlinie. Das gleicht einer Beerdigung zweiter die Armen ärmer. Dies senkt die Binnennachfrage und Klasse. Europa – und an entscheidender Stelle auch die damit das Wachstum. Die strikten Vorgaben der Bundesregierung – hat nicht nur an dieser Stelle bewusst Maastricht-Kriterien und des Stabilitäts- und Wachstums- auf Wachstum verzichtet. pakts lassen keinen Spielraum für öffentliche Investitio- nen. Die Senkung der Unternehmensteuer entzieht dem Wir müssen Deutschland als Wirtschaftsstandort stär- Staat die notwendigen Mittel, um konjunkturell gegen- ken. Das funktioniert aber nicht, indem man sich als steuern zu können. Die falsche, auf Preisstabilität fi- Bundesregierung den Erfolg früherer Arbeitsmarktrefor- xierte Geldpolitik der EZB verneint jegliche Verantwor- men an die Brust heftet, aber selbst mit seiner Arbeits- tung für Wachstum und Beschäftigung. marktpolitik neue Hürden für mehr Beschäftigung aufbaut. Mit staatlich festgesetzten überhöhten Mindest- Wettbewerb ist in Ihrer Strategie nichts weiter als löhnen verbessern sich die Zukunftschancen der deut- Wortgeklingel. Sie fragen nicht, wie der Wettbewerb zu schen Wirtschaft ganz sicher nicht. organisieren wäre, um bei den Unternehmen bessere Produktionstechniken und neue Produkte zu fördern. Sie Die Bundesregierung stellt sich als Vorreiter der Post- reden viel von Innovationen. Aber sie beantworten nicht marktliberalisierung dar. Tatsächlich aber verhindert die Frage, wie Sie sich den Zusammenhang von Wettbe- diese Regierung ebenso wie ihre Vorgängerregierung werb und Innovation vorstellen. Sie kennen für jede mehr Wettbewerb im Postwesen. Immer noch hat die Frage nur eine Lösung: Unternehmensteuern und Löhne Deutsche Post Wettbewerbsvorteile durch ihr Mehrwert- senken, die Gewinne steigern. steuerprivileg. Das soll auch noch im kommenden Jahr erhalten bleiben. Und der Post-Mindestlohn hat den ein- Wettbewerb ist für Sie nur Kostenwettbewerb. Und setzenden Wettbewerb genau in dem Moment wieder be- Kostenwettbewerb nicht etwa durch verbesserte Produk- 19208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) tionsprozesse, sondern durch Lohn- und Steuersenkung. Die Lissabon-Strategie dient jedoch nicht dazu, viel (C) Da ist selbst Ihr Lissabon-Prozess besser als Sie: Denn Papier zu produzieren, sondern es geht darum, in der Sa- Ziel der Lissabon-Strategie war wenigstens noch, die che voranzukommen. Da ist bei der Bundesregierung Forschungsausgaben auf 3 Prozent des Bruttoinlands- leider nichts zu erkennen, und ein Blick in den diesjähri- produkts zu erhöhen. Das haben Sie nicht erreicht. Ihre gen Fortschrittsbericht belegt dies. Wegen der Kürze der Forschungspolitik, die Ausrichtung der Forschung, bringt Redezeit will ich nur kurz auf zwei Bereiche eingehen: die notwendigen Innovationen – wenn überhaupt – nur Energie und Bildung. schleppend in Gang. Nach einer raschen Steigerung der Energieeffizienz sucht man vergeblich, ebenso nach nen- Die Europäische Kommission hat der Bundesregie- nenswerten Fortschritten bei der Entwicklung von Moto- rung ins Stammbuch geschrieben, endlich den Wettbe- werb auf den Strom- und Gasmärkten zu stärken. Anstatt ren mit geringem Kraftstoffverbrauch, um wenige Bei- diese Mahnung ernst zu nehmen, hat die Bundesregie- spiele zu nennen. Hier vertrauen Sie auf die privaten rung bekanntlich im letzten Jahr alles dafür getan, dass Unternehmen, statt der Forschung insgesamt eine politi- die großen Energiekonzerne die Netze behalten dürfen sche Richtung zu geben. und es nicht zu einem sogenannten Unbundling kommt. Zu mehr Wettbewerb wollen Sie kommen durch Pri- Selbst als die Konzerne schon eingelenkt haben, hat die vatisierung. Die aber führt in der Regel nicht zu mehr Bundesregierung an ihrer wettbewerbsfeindlichen Posi- Wettbewerb, sondern häufig genug zur Herausbildung tion noch festgehalten. Zum wettbewerbsfähigsten wis- eines privaten Monopols und damit zu steigenden Kos- sensbasierten Wirtschaftsraum der Welt wird man aber ten für die Verbraucher. Dies ist bei der Post oder der nicht, indem man den Wettbewerb verhindert und einzel- Bahn der Fall. Die Post investiert international in Logis- nen Unternehmen Monopole garantiert. tikunternehmen; sie erwirtschaftet dabei Verluste, die sie In dem Fortschrittsbericht, über den wir heute disku- mit höheren Preisen in Deutschland, niedrigeren Löhnen tieren, schafft es die Bundesregierung, diesen zentralen und schlechterem Service ausgleicht. Die Bahn erhöht Konfliktpunkt in diesem zentralen Politikfeld noch nicht über Jahre hinweg die Preise, um den Renditeanforde- einmal in einem Halbsatz zu erwähnen. Ich frage Sie: rungen der privaten Investoren gerecht zu werden. Sin- Was ist denn eine gemeinsame Strategie wert, bei der die kende Preise oder gar bessere Leistungen sind für die Bundesregierung nicht nur den Empfehlungen der Kom- Kunden nirgends in Sicht. Von der Privatisierung der mission nicht nachkommt, sondern dies noch nicht ein- Stromversorgung brauche ich gar nicht erst zu reden. mal begründet, ja nicht einmal erwähnt? Mit dieser Politik werden Sie kein andauerndes Auch bei der Bildung kommt Deutschland nicht Wachstum erreichen. Das erfordert einen gesetzlichen (B) voran. Daran ändert auch eine medienwirksame Bil- (D) Mindestlohn, weniger prekäre Beschäftigungsverhält- dungsreise der Kanzlerin nichts. Gerade hat uns der nisse, mehr Sozialstaat. Mit Ihrer Politik geben Sie das OECD-Bildungsreport bescheinigt, dass Deutschland Geld bloß denen, die es eh schon haben. bei der Ausbildung von Hochqualifizierten den interna- tionalen Anschluss verliert. In keinem anderen EU-Land entscheiden sozialer Status und Bildungsstand der Eltern Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): so sehr über die Bildungschancen des Kindes wie in Die europäischen Staaten haben sich vorgenommen, die Deutschland. Diesen Befund haben wir jedes Jahr aufs EU bis 2010 zum weltweit wettbewerbsfähigsten wis- Neue, ohne Besserung. sensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln. Zwei Jahre vor dieser Zielmarke kann man sagen: die Die Bundesregierung hat sich mit der Föderalismus- EU wird es nicht schaffen. Auch Deutschland wird seine reform I selbst die Hände gebunden. Im vorliegenden Ziele verpassen. Fortschrittsbericht verschweigt sie auch die Bilanz. Laut Benchmarks der EU soll die Schulabbrecherquote auf Dies ist keineswegs überraschend. Schon vor zwei 10 Prozent gesenkt werden; Deutschland liegt bei Jahren haben wir Grüne in einem Antrag, mehr Ehrgeiz 12,7 Prozent. 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler bei der Erreichung der Lissabon-Ziele gefordert. Schon sollen einen Abschluss der Sekundarstufe II erreichen. damals war absehbar, dass die Lissabon-Ziele nur er- In Deutschland sind es nur 72,5 Prozent und damit deut- reichbar sind, wenn die Bundesregierung in dieser Le- lich weniger als im EU-Durchschnitt. Der Anteil der Er- gislaturperiode hierfür die entscheidenden Weichen wachsenen, die an Weiterbildungsmaßnahmen teilneh- stellt. Dies ist nicht geschehen. men, soll auf 12,5 Prozent steigen. Deutschland liegt nur bei 7,8 Prozent und damit deutlich unter dem EU-Durch- Mein Hauptvorwurf an die Bundesregierung ist, dass schnitt. Und so weiter und so fort. All dies findet sich in sie den Lissabon-Prozess nie ernst genommen hat. Unter dem Bericht nicht wieder. Kritische Zahlen werden lie- der Bundesregierung funktioniert der Lissabon-Prozess ber verschwiegen. faktisch folgendermaßen: Es wird in den verschiedenen Ministerien abgefragt, was man denn so gemacht habe So könnte man Punkt für Punkt des Berichts durchge- seit dem letzten Bericht, und irgendein Referent muss hen. Was bleibt ist, dass Deutschland seine Ziele verfeh- das dann rhetorisch so fassen, als sei all dies ein inten- len wird, und dies trotz der auch von der Bundesregie- dierter Beitrag zur Erreichung der Lissabon-Ziele gewe- rung selbst eingeräumten Reformdividende und des sen. Was von Lissabon übrig geblieben ist, ist ein lästi- starken Wachstums der letzten Jahre. Schlimm, dass ges alljährliches Berichtschreiben. Deutschland bei den Lissabon-Zielen nicht gut dasteht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19209

(A) Viel schlimmer aber ist, dass diese Regierung weder Unternehmen zum 1. Januar 2008 auf knapp unter (C) Konzept noch Ehrgeiz hat, dies zu ändern. 30 Prozent gesenkt. Im Jahr 2007 haben wir das Ziel er- reicht, die Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent zu senken. Denn: Letztlich geht es bei der Lissabon-Strategie um Entscheidend war die Senkung der Beiträge zur Arbeits- die Frage: Welches Europa wollen wir? Wir Grüne wol- losenversicherung von 6,5 Prozent auf 3,3 Prozent. Da- len ein Europa, das mehr ist als eine große Freihandels- mit wurden Arbeitnehmer und Arbeitgeber gegenüber zone mit angeschlossenem Debattierclub. Wir Grüne 2006 um rund 25 Milliarden Euro jährlich entlastet. wollen ein soziales, ökologisches und wettbewerbsfähi- ges Europa. Wenn wir die Menschen für Europa gewin- Richtig ist allerdings auch: Die konjunkturelle Lage nen wollen, müssen die Bürgerinnen und Bürger die hat sich aktuell verschlechtert; die zu Jahresanfang noch konkreten Vorteile Europas erfahrbar machen. Deshalb positiven Erwartungen haben einen deutlichen Dämpfer ist auch die Lissabon-Strategie so wichtig, und deshalb erhalten. Denn wir sind keine „Insel der Glückseligen“, ist es so bedauerlich, dass die Bundesregierung das die allein den Stürmen der Weltwirtschaft trotzen kann. Ganze nur noch als rhetorische Pflichtübung behandelt. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen auf den Weltmärkten hilft nicht mehr weiter, wenn die Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- Nachfrage weltweit einbricht. Die Anpassungsprozesse minister für Wirtschaft und Technologie: Die Bundesre- in den USA und auch in Europa werden also nicht spur- gierung hat am 20. August 2008 den vom Bundesmi- los an uns vorübergehen. Umfragen und wirtschaftliche nister für Wirtschaft und Technologie vorgelegten Indikatoren zeigen abwärts. Viele Wirtschaftsinstitute Entwurf des Nationalen Reformprogramms Deutsch- nehmen ihre Wachstumsprognosen für das kommende lands 2008 – 2010“ beschlossen. Wir werden ihn unmit- Jahr zurück. telbar nach der Behandlung in Bundestag und Bundesrat Sicher ist momentan vor allem eines: Es ist Zeit zum nach Brüssel senden. Handeln. Das gilt auch angesichts der langfristigen He- Wir wissen: Nationale Reformprogramme sind ein rausforderungen wie der Globalisierung, der demokrafi- zentrales Element der Neuausrichtung der Lissabon- schen Entwicklung und des Klimawandels. Vor diesem Strategie, die im Jahr 2005 vom Europäischen Rat ver- Hintergrund ist es jetzt umso notwendiger, die Reform- abschiedet wurde. Die Mitgliedstaaten haben ihre natio- politik fortzusetzen. nalen Beiträge zur Erreichung der Lissabon-Ziele erst- Dementsprechend hält die Bundesregierung inhaltlich mals im Herbst 2005 dargestellt, und zwar für den an den sechs Reformprioritäten fest. Diese hatte sie be- Zeitraum 2005 bis 2008. In den Jahren 2006 und 2007 reits Ende 2005 im ersten NRP auf der Basis des Koali- hat die Bundesregierung dann über den Stand der Um- tionsvertrages gesetzt. Diese Prioritäten lauten: (B) setzung und Fortschritte bei den Reformen berichtet. In (D) diesem Jahr steht nun ein neues strategisches Nationales Erstens: Wissensgesellschaft und Innovation voran- Reformprogramm auf der Tagesordnung. Die Bundesre- bringen. Als ressourcenarmes Land müssen wir auf un- gierung informiert damit über die Schwerpunkte ihrer sere wichtigsten Ressourcen setzen: Bildung, Forschung Reformpolitik für den Zeitraum von 2008 bis 2010. Auf und Innovation. Wir müssen die Chancen der Wissens- Basis der Umsetzungs- und Fortschrittsberichte in den gesellschaft besser nutzen; wir werden wettbewerbsfähig vergangenen beiden Jahren hatte der Europäische Rat bleiben, nur wenn wir wirklich spitze sind. integrierte Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung beschlossen. Unser Bericht berücksichtigt die Empfeh- Zweitens: Märkte offen gestalten und Wettbewerb lungen an Deutschland. stärken. Wir setzen uns hier für eine Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes und eine Intensivie- Er richtet sich an die EU, die Legislative in Deutsch- rung des innereuropäischen Wettbewerbs ein. land sowie an die europäische und deutsche Öffentlich- keit. Die Bundesregierung hat außerdem die Kommuni- Drittens: Rahmenbedingungen für unternehmerische kation mit denen gesucht, die zur Erreichung der Tätigkeit verbessern. Wir wollen hier unter anderem die Lissabon-Ziele beitragen: Wir haben die Länder beteiligt Unternehmensnachfolge mit der Reform der Erbschaft- sowie die Verbände und Gewerkschaften angehört. steuer steuerlich erleichtern und Bürokratie weiter ab- bauen. Zum Inhalt: Der Titel des aktuellen NRP lautet „Auf den Erfolgen aufbauen – die Reformen für mehr Wachs- Viertens: Öffentliche Finanzen tragfähig gestalten, tum und Beschäftigung fortsetzen.“ Damit macht die nachhaltiges Wachstum sichern, soziale Sicherheit wah- Bundesregierung deutlich: Die Strukturreformen der ren. Bundesregierung und Länder werden weiterhin an vergangenen Jahre waren erfolgreich, insbesondere ge- ihrem Kurs festhalten, den Staatshaushalt zu konsolidie- messen an der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Die ren, aber auch Spielräume zu nutzen, um Impulse für deutsche Wirtschaft ist heute flexibler und damit auch Wachstum und Beschäftigung zu geben. widerstandsfähiger gegenüber externen Schocks als noch vor wenigen Jahren; das ist gerade jetzt besonders Fünftens: Ökologische Innovation als Wettbewerbs- wichtig. vorteil nutzen, Energieversorgung sichern, Klimawandel bekämpfen. Schlüsselwort ist hier vor allem: Energieef- Auch die Wirtschafts- und Finanzpolitik hat dazu bei- fizienz. Wir müssen die Energieeffizienz verbessern, getragen: Mit der Unternehmenssteuerreform von 2007 wollen wir die ehrgeizigen Klimaziele erreichen und wurde die durchschnittliche Gesamtsteuerbelastung der gleichzeitig die Energieversorgung langfristig sichern. 19210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Sechstens: Arbeitsmarkt auf neue Herausforderungen einige Antworten auf Ihren Antrag bzw. Ihre Forderun- (C) ausrichten, demografischen Veränderungen begegnen. gen. Fakt ist: Der Arbeitsmarkt hat sich schneller und deutli- Es ist schade, dass wir heute über dieses Thema reden cher erholt als in früheren Aufschwungphasen. Um Ar- und nicht in vier Monaten, denn dann wären wir alle ein beitslosigkeit weiterhin nachhaltig abzubauen, wird die wenig schlauer und hätten das lang erwartete Gutachten Bundesregierung unter anderem die arbeitsmarktpoliti- zum Thema „Altersgrenzen und gesellschaftliche Teil- schen Instrumente neu ausrichten. habe“, welches vom BMFSFJ in Auftrag gegeben wurde Über diese sechs Prioritäten hinaus gibt es weitere und bis Ende November 2008 vorliegen soll, lesen kön- wichtige Handlungsfelder. Die Bundesregierung wird nen. So müssen wir uns noch ein wenig gedulden. Die – gemeinsam mit den Ländern – Bildungsanstrengun- bisher zum Thema Altersgrenzen vorliegenden Untersu- gen verstärken, unter anderem in einer Qualifizierungs- chungen wie das Gutachten des Wissenschaftlichen initiative. Ziel ist es, mehr Aufstiegschancen zu schaf- Dienstes des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2001 fen. und die Zusammenstellung gesetzlicher Altersgrenzen durch das BMJ im Jahr 2005 sind entweder veraltet oder Ein weiteres Handlungsfeld sind die Finanzmärkte. erfassen nur einen Teilaspekt des Problems. Wir müssen die Finanzmärkte krisenfester gestalten, auf europäischer und internationaler Ebene. Ziel des Gutachtens ist es, im Lichte des Allgemei- nem Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, eine Bestands- Der aktuelle NRP für die Jahre 2008 bis 2010 liegt aufnahme der in Deutschland bestehenden Altersgrenzen vor. Die Inhalte der deutschen Reformpolitik für Wachs- zu erhalten. Dabei sollen nicht nur gesetzliche bzw. tum und Beschäftigung stehen voll im Einklang mit der rechtlich festgelegte Altersgrenzen erfasst werden, son- europäischen Strategie. Sie kräftigen Wachstum und Be- dern auch untergesetzliche „weiche“ Altersgrenzen, die schäftigung, wahren die soziale Sicherheit und schützen älteren Menschen die Teilhabe an der Gesellschaft ver- die Umwelt. Ich bitte Sie, den Bericht zustimmend zur wehren, zum Beispiel im Hinblick auf freiwilliges und Kenntnis zu nehmen. bürgerschaftliches Engagement. Das Gutachten soll eru- ieren, in welchen Bereichen derartige Altersgrenzen be- stehen, die dahinterstehenden Gründe und Motive be- Anlage 12 schreiben und die für die Bewertung ihrer Sinnhaftigkeit und fortbestehenden Notwendigkeit erforderlichen Zu Protokoll gegebene Reden Grundlagen liefern. In diese Bewertung sollen Aspekte der demografischen Entwicklung und des Allgemeinem zur Beratung der Unterrichtung: Nationales Gleichbehandlungsgesetzes einfließen. (B) Reformprogramm Deutschland 2008 bis 2010 (D) Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008 (Ta- Beispielhaft möchte ich auf folgende Altersgrenzen gesordnungspunkt 17) hinweisen: Höchstaltersgrenzen als Zugangsvorausset- zungen zum Beruf, zum Beispiel im öffentlichen Dienst; Schöffen sollen noch nicht das 70. Lebensjahr vollendet Markus Grübel (CDU/CSU): Wir unterhalten uns haben, § 33 GVG; eine erstmalige Bestellung zum Notar heute über einen sehr kurzen Antrag der Oppositions- ist nach Vollendung des 60. Lebensjahres nicht mehr fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der lediglich zwei Sei- möglich, § 6 Abs. 1 BnotO; Banken binden die Vergabe ten umfasst, der aber dennoch ein wichtiges und span- von Darlehen, Vereine die Übernahme von Ehrenämtern nendes Thema, nämlich die Altersgrenzen, thematisiert. häufig an eine Höchstaltersgrenze; Beendigung der kas- Ich denke, es ist an der Zeit, dieses Thema aufzugreifen, senärztlichen Zulassung mit Vollendung des 68. Lebens- denn es bewegt auch die Menschen in unserem Land. jahres, § 95 Abs. 7 SGB V, wobei wir diese Regelung im Ich vermute, Ihr Antrag wurde motiviert durch die Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Orga- Antwort der Bundesregierung vom 29. Februar 2008 auf nisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversiche- Drucksache 16/8823 auf ihre Kleine Anfrage zum rung streichen werden. Die Regelung soll rückwirkend Thema „Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich des zum 1. Oktober 2008 in Kraft treten, sodass Ärzte zu- bürgerschaftlichen Engagements“. Sie haben dann ein- künftig über das 68. Lebensjahr hinaus Patienten behan- fach Ihrem jetzigen Antrag das Wort „aufheben“ ange- deln dürfen. hängt. Auch das gesetzliche Renteneintrittsalter ist nichts anderes eine „Regelaltersgrenze“ für das Ausscheiden In diesem Zusammenhang kann ich allen Seniorenpoliti- aus dem Beruf. Menschen, die noch gesund und fit sind kern und Ehrenamtspolitikern die Lektüre der Antwort der und noch weiter arbeiten wollen und können, werden un- Bundesregierung auf eine Große Anfrage der FDP-Bundes- gefragt in Rente geschickt. Es gibt einige Ausnahmen, tagsfraktion „Seniorinnen und Senioren in Deutschland“ aber die Zahl ist verschwindend klein. vom 21. August 2008 auf Drucksache 16/10155 empfeh- len. Dort wird eine umfassende Bestandsaufnahme der In einigen Jahren benötigen wir viele erfahrene und Seniorenpolitik vorgenommen. Eine Vielzahl von The- hoch qualifizierte ältere Arbeitnehmer, da immer weni- men, unter anderem Altersgrenzen, Altersdiskriminie- ger junge Menschen nachkommen. Die Rente mit 67 ist rung, demografischer Wandel und bürgerschaftliches ein richtiger und notwendiger Schritt der Anpassung an Engagement werden aufgegriffen und exakt dargestellt. die demografische Wirklichkeit. Jedoch sollte man auch Von daher gibt allein schon der Inhalt dieser Drucksache über die Individualisierung der Lebensarbeitszeit und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19211

(A) über flexiblere Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Berufs- Menschen verfügen über Erfahrungen und Stärken, die (C) leben nachdenken. Starre Altersgrenzen sind diskrimi- unsere Gesellschaft wirtschaftlich benötigt und sozial nierend für diejenigen, die noch länger in ihrem Beruf bereichert. arbeiten wollen. Bei diesem Personenkreis wird durch Aufgabe der Politik ist es, den Veränderungsprozess gesetzlich normierte Altersgrenzen die Leistungsfähig- zu fördern und mitzugestalten. Einerseits geht es darum, keit infrage gestellt und Potenzial vergeudet. die erforderliche Absicherung im Alter zu gewährleis- Verrentungsgrenzen werden auch von der Wissen- ten, und andererseits darum Partizipation, ehrenamtli- schaft durchaus kritisch und als nicht zukunftsfähig ches- und bürgerschaftliches Engagement zu ermögli- gesehen. So sprach sich die renommierte Altersforsche- chen bzw. zu erleichtern. rin der Charité Berlin, Frau Professor Dr. Adelheid Grundlegendes Ziel unserer Senioren- und Altenpoli- Kuhlmey, im November 2007 für flexible und indivi- tik ist es, die Entwicklung und Verankerung eines neuen duelle Altersgrenzen aus und forderte ein Überdenken Leitbildes des Alters voranzutreiben. Der sechste Alten- des gängigen Renteneintrittsalters. Sie hält flexible und bericht wird sich dem Thema Altersbilder widmen. Mit individuelle Regelungen für sinnvoller, was ich persön- dem sich wandelnden Bild vom Alter nicht vereinbar lich nur unterstützen kann. sind alle Formen der Altersdiskriminierung, verstanden Ähnlich äußerte sich auch der vor zwei Jahren ver- als soziale und ökonomische Benachteiligung von Perso- storbene Gerontologe Professor Paul B. Baltes in der nen aufgrund ihres Lebensalters. Die Betroffenen wer- FA Z vom 12. Mai 2004: „Je älter die Bevölkerung, um so den daran gehindert, in angemessener Weise am Arbeits- weniger tragfähig sind altersbezogene Regeln. Dies ist leben und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In einer der Gründe, warum Wissenschaftler abraten, eine diesem Zusammenhang rücken Altersgrenzen – ich habe feste Altersgrenze etwa für den Einstieg in das Pensions- vorhin schon einige Beispiele angeführt – in das Blick- alter zu postulieren. Alterspolitik muss variabel und dif- feld, da sie geeignet sind, institutionelle Barrieren und ferenziert sein. Altershomogene Politik ist zum Schei- Ausgrenzungen in der gesellschaftlichen Realität zu ver- tern verurteilt.“ ankern. Wir alle können uns noch an die öffentlich diskutier- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd- ten Beispiele des deutschen Nobelpreisträgers für Phy- nis 90/Die Grünen, unser Ansatz bezüglich der Alters- sik, Theodor Hänsch, und des Immunologen und Geneti- grenzen ist etwas weitergehender als der Ihrige, auch kers Klaus Rajewsky erinnern. Diese Beispiele führen wenn wir in manchen Punkten sicherlich Übereinstim- deutlich vor Augen, dass vor allem deutsche Professo- mung erreichen können. Fakt ist: Für eine ganze Reihe ren jenseits der gesetzlichen Altersgrenze für Professo- von Berufen und öffentlichen Tätigkeiten gibt es gesetz- (B) ren in Deutschland, ihr Heil in Amerika suchen, wo lich normierte oder tarifrechtliche Altersgrenzen. Diese (D) allein Leistungskraft und Kreativität zählen. Die Beur- Altersgrenzen sind aber zum Teil unzeitgemäß und dis- teilung nach dem Lebensalter würde dort als schwerwie- kriminierend. Die AG Familie der CDU/CSU-Bundes- gende Diskriminierung gewertet werden. tagsfraktion und die zuständigen Berichterstatter zur Se- niorenpolitik haben sich bereits im Januar 2007 zu Die demografische Entwicklung ist eindeutig: Die diesem Thema öffentlich geäußert. Wir halten es für not- Zahl der jüngeren Menschen nimmt ab und die der Älte- wendig, die starren Altersgrenzen zu überprüfen. Dies ren steigt. Das hat verschiedene Ursachen: Seit den 60er- ergibt sich nicht nur aufgrund der ökonomischen Not- Jahren werden weniger Kinder geboren und die Lebens- wendigkeit durch den Bevölkerungsschwund, sondern erwartung der Menschen steigt weiter an. Die längere ist auch der Tatsache geschuldet, dass in vielen Staaten Lebenszeit ist in der Regel mit einer besseren Gesund- das Verbot, Menschen allein aufgrund ihres Lebensalters heit und mehr Vitalität verbunden als in den vergange- zu benachteiligen, bereits Verfassungsrang genießt. Zu- nen Jahrzehnten. Ältere Menschen haben zudem mehr dem stellt das Europarecht bindende Vorgaben zum Ver- Möglichkeiten zur Lebensgestaltung. Der demografische bot der Altersdiskriminierung auf. Wandel geht einher mit einem Gewinn an gestaltbarer Lebenszeit für den Einzelnen und bietet damit auch ver- Die Senioren- und Familienpolitiker der CDU/CSU- mehrt Chancen und nicht nur Risiken, wie das gerne und Bundestagsfraktion halten es für berechtigt, dass starre oft in der Öffentlichkeit und den Medien dargestellt Altersgrenzen durch objektive Kriterien ersetzt werden. wird, was mitunter zu einem verzerrten und falschen Wer körperlich und geistig die nötigen Voraussetzungen Bild vom Alter führt. Steigendes Alter wird häufig mit mitbringt und sich weiterbildet, muss auch arbeiten dür- einem Rückgang der Innovationskraft, Produktivität und fen: Piloten, Statiker, Ärzte, ehrenamtliche Schöffen der Güter- und Dienstleistungsnachfrage assoziiert. Da- usw. Wir werden sehen, was das Gutachten hierzu sagt, bei wird übersehen, dass die Innovationskraft und Pro- und dann können wir gerne wieder an dieser Stelle darü- duktivität Älterer durch lebenslanges Lernen, eine ange- ber diskutieren. messene Gestaltung der Arbeitsbedingungen und eine Noch einige Ausführungen zum Thema „Ausbau der aktive Gesundheitsförderung erhöht werden kann. Beteiligungsmöglichkeiten älterer Bürgerinnen und Bür- Der fünfte Altenbericht hat sich mit den Potenzialen ger bzw. Sicherung und Unterstützung des Infrastruktur- des Alters beschäftigt. Wir haben genau vor einem Jahr ausbaus für das bürgerschaftliche Engagement“: Gerade über das Thema im Parlament gesprochen. Senioren sind das unionsgeführte BMFSFJ leistet in diesem Bereich eine Bereicherung. Deutschland braucht das Zukunfts- vorbildhafte Arbeit. Natürlich kann man immer mehr potenzial der Senioren dringender denn je; denn ältere machen, und als Oppositionsfraktion gehört es ja auch 19212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) zu ihren Aufgaben, immer mehr zu fordern, das ist ja ternet, Kultur, Sport aufgebaut oder begleitet. Daneben (C) auch ganz einfach, denn sie tragen ja auch nicht die fi- fördert auch das BMZ ehrenamtliches Engagement älte- nanzielle Verantwortung und ich bin mir sicher, dass rer Menschen seit vielen Jahren gezielt über den Senior auch Sie mir nicht sagen können, wo das zusätzliche Expert Service. Ich könnte die Liste noch weiterführen, Geld herkommen soll. Trotzdem denke ich, dass wie auf aber ich denke die Projekte sind Ihnen bekannt. einem guten Weg sind. Auch Modellprogramme und Leuchttürme können eine Initialzündung geben und bür- Ich fasse kurz zusammen: Erstens. Bürgerschaftliches gerschaftliches Engagement verstetigen. Mit der Initia- Engagement fördern steht ganz vorne auf der Agenda tive ZivilEngagement fördert das BMFSFJ eine Reihe des BMFSFJ und der unionsgeführten Bundesregierung. von Modellvorhaben zur Stärkung des zivilgesellschaft- Zweitens. Auf der Grundlage der Ergebnisse des Gut- lichen Engagements. Mit dem Modellprogramm „Gene- achtens sollten wir entscheiden, ob und, wenn ja, welche rationenübergreifende Freiwilligendienste“ – bis zum Maßnahmen zur Veränderung oder Beseitigung beste- 30. Juni 2008 – wurde erstmals ein Freiwilligendienst hender Altersgrenzen zu ergreifen sind. für alle Generationen angeboten. Die größte Gruppe der Freiwilligen sind Rentnerinnen und Rentner mit 23 Pro- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Das Wichtigste zent. In dem neuen Freiwilligendienst aller Generatio- vorweg: Ich finde es gut, dass wir hier im Deutschen nen, der ab 1. Januar 2009 startet und mit 22,5 Millionen Bundestag über Alter und Altern reden und auch über Euro ausgestattet ist, ist ein Schwerpunkt die Zielgruppe die Altersdiskriminierung, die immer noch ein gesell- der Älteren. Die positiven Erfahrungen – 42 Prozent der schaftliches Problem ist. Ziel des Allgemeinen Gleich- Einsatzstellen möchten den Einsatz von älteren Men- behandlungsgesetzes (AGG) war und ist es, für eine schen weiter steigern – zur Gewinnung und zum Einsatz Antidiskriminierungskultur in Deutschland zu sensibili- von Seniorinnen und Senioren sollen durch gezielte sieren, und dazu kann eine Debatte im Deutschen Bun- Maßnahmen zu einem weiteren Anstieg der Freiwilli- destag einen Beitrag leisten. genzahlen in dieser Altersgruppe führen. Ich bin wirklich sehr froh, dass es uns Sozialdemokra- Auch mit dem Aktionsprogramm „Mehrgenerationen- tinnen und Sozialdemokraten gelungen ist, das Gleich- häuser“ wird das Miteinander der Generationen gestärkt. behandlungsgesetz im zivilrechtlichen Teil um das Mehr als 500 Mehrgenerationenhäuser bundesweit ver- Merkmal Alter zu erweitern, und dass wir damit auch ei- binden bürgerschaftliches Engagement, Selbsthilfe und nen Beitrag dazu geleistet haben, dass viele möglicher- professionelle Unterstützung zu einem umfassenden weise veraltete Regelungen sukzessive auf den Prüfstand Angebot für Menschen jeden Alters. Ziel des Aktions- kommen werden. Ich hätte mir allerdings gewünscht, programms ist es ja gerade, dass alle Generationen in dass die Grünen ihren Antrag nicht so eng gefasst hätten (B) Verbindung kommen und Erfahrungen und Wissen un- und neben der Situation im Ehrenamt auch andere (D) tereinander austauschen. Ich kann das aus eigener Erfah- Punkte der Diskriminierung Älterer angesprochen hät- rung bestätigen. In meiner Heimatstadt Esslingen haben ten, bei der Kreditvergabe zum Beispiel oder im Bereich wir ein Mehrgenerationenhaus, und da funktioniert dies der Werbung. Und ein kleines Lob für die vielen Älteren, wunderbar. In gut 75 Prozent der 9 100 Angebote in den die ehrenamtlich arbeiten, zum Beispiel als Quali-Paten, Mehrgenerationenhäusern begegnen sich Jung und Alt. in der Altenbetreuung oder beim Senior-Expert-Service, Beide Generationen – sowohl Jung als auch Alt – profi- hätte wohl auch nicht geschadet. tieren in den Mehrgenerationenhäusern voneinander. Aber: Wo Menschen sind, „menschelt’s“, und ich be- Durch die bewusste Verbindung von professioneller und zweifle nicht, dass es auch im ehrenamtlichen Bereich ehrenamtlicher Tätigkeit in den Häusern wird der Wert Altersdiskriminierung gibt. Wir sollten in der Tat überle- des gegenseitigen Gebens und Nehmens aktiv gelebt. gen, ob die eine oder andere Altersgrenze – nach oben Das vom BMFSFJ von 2002 bis 2006 geförderte Bun- und unten übrigens – in einer Reihe von Gesetzen und desmodellprogramm „Erfahrungswissen für Initiati- Verordnungen tatsächlich ihren Sinn erfüllen. Die im ven“, EFI, hatte zum Ziel, das Erfahrungswissen älterer Antrag angesprochene Regelung im Gerichtsverfas- Menschen für freiwillige Projekte und Initiativen nutz- sungsgesetz, wonach Personen ab dem 70. Lebensjahr bar zu machen. Nach dem Auslaufen der Bundesförde- das Ehrenamt des Schöffen nicht mehr ausüben sollen, rung Ende 2006 wird das Programm von den beteiligten scheint mir aber nur bedingt für eine solche Kritik geeig- Ländern fortgeführt und weiter ausgebaut. EFI ist ein net zu sein. Qualifizierungsprogramm für ältere Menschen zu Se- Leider sind – ich weiß nicht, ob der grünen Bundes- niortrainerinnen und -trainern. Das Programm dient dem tagsfraktion dies bewusst ist – die Regelungen bei den Aufbau einer neuen Verantwortungsrolle für ältere Men- Schöffen kein Bestandteil der Rechtsmaterie des AGG. schen in der Kommune. Sie setzen ihr Erfahrungswissen Auch wenn Sie das AGG nicht explizit nennen, so ist und ihre Kenntnisse zum Beispiel in Projektentwick- doch das AGG die Basis ihrer Argumentation. Hier hätte lung, Gesprächsführung, Konfliktmanagement und Öf- ich mir in Ihrem Antrag mehr Klarheit gewünscht. fentlichkeitsarbeit bei der Begleitung und Beratung von Freiwilligeninitiativen, Einrichtungen, Vereinen, Ver- Näher erläutert wird dies auch in einer Antwort der bänden in Kommunen ein bzw. bauen eigene Projekte Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage. Das AGG gemäß der kommunalen Bedarfslage auf. Seit 2003 ha- könne, heißt es dort, im Hinblick auf das Schöffenamt ben rund 1 000 Seniortrainerinnen und -trainern mehr als nicht angewendet werden, weil es sich weder um eine 4 000 Projekte zum Beispiel in Schulen, Altenpflege, In- Erwerbstätigkeit handelt, noch ein zivilrechtliches Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19213

(A) Schuldverhältnis begründet wird. Zudem handelt es sich Recht einfordern, egal ob bei der Feuerwehr oder im (C) bei der Altersregelung nur um eine Sollbestimmung. Der Sportverein. Nur so entsteht auch Bewusstsein. Das kann Gesetzgeber hat hier bereits den Zuständigen einen Er- ihm übrigens auch das beste AGG nicht abnehmen. messensspielraum eingeräumt, den ich mir im Übrigen auch für andere Regelungen wünschen würde. Außer- Sönke Rix (SPD): Heute sprechen wir über den An- dem ist die Periode für ein Schöffenamt mit Rechtswir- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel kung zum 21. Dezember 2004 erst auf fünf Jahre verlän- „Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich des bürger- gert worden, womit es praktisch möglich ist, dass auch schaftlichen Engagements aufheben“. Ich glaube, dort noch 75-Jährige ein Schöffenamt bekleiden können. wo es gesetzliche Altersgrenzen gibt, beispielsweise im Aus diesen genannten Gründen ist der Antrag der FSJ/FÖJ, weltwärts und bei Schöffen, sind sie sachlich Grünen abzulehnen. Vielleicht sollten sie noch mal bes- begründet und nachvollziehbar. Aber natürlich müssen ser recherchieren und nach Gesetzen Ausschau halten, die bisher bestehenden Altersgrenzen im Bereich bürger- die tatsächlich ein Verbot zum Inhalt haben. schaftlichen Engagements überprüft werden. Allein die höhere Lebenserwartung und die Erhöhung des Renten- Ich wiederhole aber an dieser Stelle, dass ich Ihr eintrittsalters machen diese Überprüfung notwendig. grundsätzliches Anliegen durchaus teile: Wir sind als Gesetzgeber natürlich angehalten, altersdiskriminie- Deshalb hat die Bundesregierung ein Gutachten in rende Regelungen auf den Prüfstand zu stellen. Insbe- Auftrag gegeben, um einen umfassenden Überblick über sondere im bürgerschaftlichen Engagement haben diese die Altersgrenzen zu erhalten, die auch untergesetzlich nichts zu suchen! Ehrenamtliche Arbeit ist ein Stück in Vereinen und Verbänden bestehen. Die erste Forde- Teilhabe an der Gesellschaft und an unserer Demokratie. rung Ihres Antrags ist also bereits erfüllt. Wer hier ausgrenzt, zeigt, dass er unsere Staatsform, die Außerdem beschäftigen wir uns seit geraumer Zeit mit immer noch die beste der Welt ist, nicht verstanden hat. dem Engagement von älteren Menschen. Mit dem Mo- Das sollte sich auch der aufstrebende Berliner Jungpoli- dellprojekt „Generationenübergreifende Freiwilligen- tiker der Union hinter die Ohren schreiben, der dafür dienste“ und den „Mehrgenerationenhäusern“ werden plädiert hat, das Wahlrecht Älterer mit der Begründung explizit auch ältere Bürgerinnen und Bürger angespro- zu beschneiden, sie würden keinen aktiven Beitrag für chen. Wohlgemerkt: explizit, nicht exklusiv. Denn das ist die Gesellschaft leisten. Die Berliner CDU hat mit dieser mir wichtig beim Thema „Bürgerschaftliches Engage- Meinung allerdings offenbar kein Problem; sie hat ihn ment“: dass es generationenübergreifend stattfindet. Ich nun als Bundestagskandidaten in Berlin-Pankow aufge- möchte nicht, dass wir die Generationen anhand von Al- stellt. terstabellen in Gruppen einteilen und sie dann unter- (B) Kommen wir zum AGG zurück: Dass 24,32 Prozent schiedlichen Projekten zuteilen. Das Miteinander ist ent- (D) der Anfragen an die Antidiskriminierungsstelle des Bun- scheidend. So können die Jüngeren von den Älteren desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju- lernen, und natürlich ist das auch umgekehrt so. gend das Merkmal Alter betreffen, zeigt nicht nur, dass Das soziale Engagement von Menschen für Men- es richtig war, Alter als Merkmal ins Gesetz aufzuneh- schen ist der eigentliche Kitt unserer Gesellschaft. Ne- men; es zeigt auch die hohe gesellschaftspolitische Rele- ben denjenigen, die soziale Tätigkeiten hauptamtlich vanz des Themas. ausführen, gibt es zahlreiche freiwillig Engagierte; 2004: Mein ceterum censeo als Seniorenpolitikerin ist, dass 23 Millionen. Ohne die ginge es nicht. Ohne die würde wir mit dem AGG ein Gesetz verabschiedet haben, wel- etwas fehlen in unserer Gesellschaft. Zwischenmensch- ches viele Bürgerinnen und Bürger – übrigens junge lichkeit, Aufmerksamkeit und Zuspruch leisten die frei- ebenso wie alte – ermächtigt, sich gegen Diskriminie- willig Engagierten, zusätzlich zu dem, was der Staat leis- rung wegen des Lebensalters zu wehren. Dazu sind die ten kann. Dieses Engagement brauchen wir, sowohl das Bürgerinnen und Bürger ganz offensichtlich bereit, wenn der jungen Generation als auch das der älteren. man der Rechtsprechungsübersicht der Antidiskriminie- Der Leitgedanke einer idealen generationenübergrei- rungsstelle im BMFSJ folgt. fenden Engagementpolitik sollte meiner Vorstellung Mir macht allerdings ein wenig Sorge, dass vor allem nach lauten: Wer will, der darf. Oder besser noch: Wer Altersgrenzen von jungen Menschen, denen beispiels- will, der soll können. Und es gibt viele Ältere, die wol- weise Höchstaltersgrenzen bei Laufbahnbewerbungen len und können. ein Hindernis waren, gerichtlich überprüft wurden und Die Initiative „Alter schafft Neues“ konzentriert sich eher selten ältere Menschen, um die es hier heute gehen auf das Potenzial und die Kompetenz von Seniorinnen soll. Auch vor diesem Hintergrund sage ich zu den ande- und Senioren. Mithilfe dieser Initiative sollen ältere Bür- ren Forderungen Ihres Antrags: Die Bundesregierung gerinnen und Bürger angesprochen und motiviert werden kann und muss Vorbild sein. Bei sämtlichen Program- – auch zum freiwilligen Engagement. men des Bundes wird deshalb auf die Offenheit für alle Altersgruppen geachtet. Wir müssen selbstverständlich Im jetzt gerade auslaufenden Programm „Generatio- unsere Gesetze und Verordnungen nach diskriminieren- nenübergreifende Freiwilligendienste“ hatten Menschen den Regelungen durchforsten. Ich bin mir auch sicher, aller Generationen die Möglichkeit, sich zu engagieren; dass die Länder diesem Beispiel folgen werden. Aber und das in einem geregelten Rahmen zwischen 8 und grundsätzlich gilt: Wo kein Kläger, da kein Richter. Im 20 Stunden pro Woche. Die Erfolge dieses Projektes Kleinen muss jeder alte Mensch selbstbewusst sein werden aufgegriffen. Das neue Programm „Freiwilligen- 19214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) dienste aller Generationen“ gewährleistet Qualitätsstan- dass sich der überwiegende Teil dieser Altersgrenzen als (C) dards, Qualifizierungsmöglichkeiten, Verbindlichkeit verzichtbar erweisen wird. und passgenaue Angebote für Freiwillige, egal wie alt sie sind oder woher sie kommen. Es gelten keine Alters- Ich möchte Ihnen hier das Beispiel der KfW-Kredit- grenzen für das bürgerschaftliche Engagement. Und vergabe näherbringen, welches von der FDP seit Jahren dort, wo es welche gibt, werden sie gerade überprüft. Im kritisiert wurde. Für die Kreditvergabe bei den ERP- und Anschluss daran müssen wir entscheiden, ob sie geän- KfW-Förderprogrammen existierte für das Programm dert oder abgebaut werden. „ERP-Kapital für Gründung“ eine Altersbegrenzung. Das Darlehen wurde nur vergeben, wenn sichergestellt Das Motto der Woche des bürgerschaftlichen Engage- war, dass es spätestens mit Vollendung des 70. Lebens- ments lautet: Engagement macht stark. Und das gilt für jahres getilgt war. Diese Begrenzung wurde mit der Jung und Alt. Dass alle Generationen davon profitieren, durchgeführten Überarbeitung des Programms zum daran arbeiten wir seit langem und gerade jetzt. Ihr An- 1. Juli 2008 aufgehoben; ein großer Erfolg auch unserer trag greift die richtigen inhaltlichen Punkte auf, jedoch beharrlichen Politik. werden diese bereits umgesetzt. Somit ist er überflüssig. Für die FDP ist die Frage der Altersgrenzen, wie be- reits geschildert, seit geraumer Zeit ein wichtiges Thema Sibylle Laurischk (FDP): Solidarität und Verant- der Politik, da die Altersgrenzen eine direkte Auswir- wortungsbewusstsein, die Weitergabe von Wissen und kung auf die Wahrnehmung von Alter, also das gesell- Erfahrungen, die Suche nach sozialen Kontakten, der schaftliche Altenbild haben. Aus diesem Grund haben Wunsch, sich neue Erlebniswelten zu erschließen oder wir dieser Fragestellung auch in unserer Großen Anfrage einfach das Gefühl, gebraucht zu werden, sind nur einige an die Bundesregierung „Seniorinnen und Senioren in Motive, sich sozial zu engagieren. Dies gilt in ganz be- Deutschland“, Drucksache 16/10155, thematisiert. sonderem Umfang für den älteren Teil der Bevölkerung. Am 18. März des Jahres 2008 hat das Bundesfamili- Gerade für Liberale ist bürgerschaftliches Engage- enministerium einen Forschungsauftrag ausgeschrieben, ment Ausdruck einer lebendigen Bürgerkultur. Eine Ge- dessen Ziel es ist, existierende Altersgrenzen zu recher- sellschaft, in der Probleme nicht wie selbstverständlich chieren und zu überprüfen. Die FDP begrüßt dies außer- bei öffentlichen Einrichtungen abgegeben werden, eine Gesellschaft, in der Bürger für Bürger da sind. Der Ein- ordentlich, wenn wir uns auch eine wesentlich frühere zelne ist selbst gefordert, in eigener Verantwortung, mit Befassung mit der Thematik gewünscht hätten. eigener Kraft, mit der Bereitschaft, Risiken zu überneh- Das zu erstellende Gutachten zum Thema „Alters- men; auch mit der Bereitschaft, den wirklich Schwachen (B) grenzen und gesellschaftliche Teilhabe“ wurde mittler- (D) und Benachteiligten solidarisch zur Seite zu stehen. Nur weile in Auftrag gegeben. Dieses Gutachten soll eine durch einen solchen Bürgersinn wird eine Gesellschaft Bestandsaufnahme der in der Bundesrepublik Deutsch- entstehen, die eher als jede andere in der Lage ist, mit land bestehenden Altersgrenzen enthalten, die ein Aus- den Herausforderungen der Zukunft fertig zu werden. schlusskriterium für gesellschaftlich relevante Tätigkei- Eine dieser Zukunftsaufgaben ist der demografische ten älterer Menschen darstellen könnten. Dabei sollen Wandel. Der demografische Wandel bringt es mit sich, nicht nur gesetzliche bzw. rechtlich festgelegte Alters- dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zu- grenzen erfasst werden, sondern auch untergesetzliche kunftsaufgaben von weniger und im Durchschnitt älteren „weiche“ Altersgrenzen, die geeignet sind, älteren Men- Menschen bewältigt werden müssen. In der Öffentlich- schen die Teilhabe an der Gesellschaft, auch im Hinblick keit wird allerdings mit dem demografischen Wandel auf freiwilliges und bürgerliches Engagement in der vielfach noch eine verkürzte Debatte über die sozialen Zivilgesellschaft, zu verwehren. Das Gutachten soll Sicherungssysteme verbunden. Die FDP tritt konsequent eruieren, in welchen Bereichen derartige Altersgrenzen dafür ein, das gesellschaftliche Altenbild zu entstauben bestehen, die dahinterstehenden Gründe und Motive be- und den Realitäten anzupassen. Die Seniorenpolitik hat schreiben und die für die Bewertung ihrer Sinnhaftigkeit nach unserem Verständnis die Aufgabe, dieses neue und fortbestehenden Notwendigkeit erforderlichen Leitbild des Alters voranzutreiben. Die Folgen des de- Grundlagen liefern. In diese Bewertung sollen Aspekte mografischen Wandels sind gestaltbar, aber nur, wenn der demografischen Entwicklung und des Allgemeinen eine ehrliche und umfassende Analyse der Fakten er- Gleichbehandlungsgesetzes einfließen. folgt. Politische Fehler, wie das jahrzehntelange Ignorie- ren des längst bekannten demografischen Wandels, dür- Beispielhaft kann auf folgende Altersgrenzen hinge- fen sich nicht wiederholen. Diese Ignoranz hatte und hat wiesen werden: Höchstaltersgrenzen als Zugangsvoraus- verheerende Auswirkungen auf die Sozialsysteme. setzungen zum Beruf, zum Beispiel im öffentlichen Dienst; Beendigung der kassenärztlichen Zulassung mit Für Liberale bedeutet dies: Alle politischen Zukunfts- Vollendung des 68. Lebensjahres – § 95 Abs. 7 SGB V –; betrachtungen müssen die heute bereits bekannten Fak- Schöffen sollen noch nicht das 70. Lebensjahr vollendet ten mit einbeziehen. Hierzu gehören auch alle Alters- haben – § 33 GVG –; eine erstmalige Bestellung zum grenzen. Nicht nur diejenigen des bürgerschaftlichen Notar ist nach Vollendung des 60. Lebensjahres nicht mehr Engagements, sondern generell alle Altersgrenzen, auch möglich – § 6 Abs. 1 BnotO –; Banken binden die Ver- diejenigen zur Ausübung bestimmter Berufe, müssen gabe von Darlehen, Vereine die Übernahme von Ehren- kritisch hinterfragt und überprüft werden. Ich bin sicher, ämtern häufig an eine Höchstaltersgrenze. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19215

(A) Auf der Grundlage der Ergebnisse dieses Gutachtens Wir unterstützen grundsätzlich das Anliegen, bürger- (C) soll und wird zu entscheiden sein, ob und, wenn ja, wel- schaftliches Engagement für ältere Menschen – aber che Maßnahmen zur Veränderung oder Beseitigung be- eben nicht nur für diese! – attraktiver zu machen und be- stehender Altersgrenzen zu ergreifen sind. stehende Diskriminierungen abzubauen. Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass wir das Wir brauchen deshalb dringend eine verbesserte An- Grundanliegen des vorliegenden Antrages der Fraktion erkennungskultur, regelmäßige Berichterstattung in den der Grünen für sehr unterstützenswert halten. Gleichzei- Medien, konsequenten Versicherungsschutz, kostenlose tig ist aber festzustellen, dass der Hauptpunkt ihres An- Qualifikations- und Fortbildungskurse und auch eine trages, nämlich der erste Punkt Ihres Forderungskatalo- bessere finanzielle Anerkennung bzw. Aufwandsent- ges, „sämtliche Gesetze und sonstige Vorschriften des schädigung. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen Bundes dahingehend zu überprüfen, ob diskriminierende wie auch Die Linke fordern einen Ausbau der Infrastruk- Altersgrenzen bestehen und diese ggf. zu ändern bzw. tur, das heißt einen Ausbau der Unterstützung von Verei- Änderungsentwürfe vorzulegen“ von der Bundesregie- nen, Verbänden, Organisationen. rung zumindest angegangen wurde, und – so viel Ehr- lichkeit muss sein – bereits vor der Einbringung Ihres Sorgen bereitet mir hingegen die momentane Ent- Antrages in den Deutschen Bundestag am 18. Juni 2008. wicklung, dass Unterstützung und Förderung in man- chen Bereichen abgebaut werden, weil erstens angeblich Meine Fraktion hofft sehr, dass die politische Diskus- die Gefahr einer Dauerförderung bestehe, zweitens die sion über die Altersgrenzen nun endlich aufgenommen haushaltspolitische Handlungsfähigkeit eingeschränkt wird und die dringend notwendigen Veränderungen auch und drittens zivilgesellschaftliche Akteure an ihrer eige- vollzogen werden. Dies ist ein wichtiger Schritt, damit nen Selbstständigkeit gehindert würden. der Gedanke von wachsender Eigenverantwortung und Engagements im Alter keine bloße politische Rhetorik Als Beispiel sei nur daran erinnert, dass die Förde- bleibt. rung der NAKOS (Nationale Kontakt- und Informations- stelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfe- gruppen) durch das Familienministerium zum Ende des Elke Reinke (DIE LINKE): Die große Bedeutung des Jahres eingestellt wird. Die NAKOS ist eine sehr effek- bürgerschaftlichen Engagements wird überall in höchs- tiv arbeitende, hoch anerkannte zentrale Aufklärungs-, ten Tönen angepriesen. Diese große Bedeutung ist auch Service- und Netzwerkeinrichtung im Bereich der unbestritten, aber manchmal fehlt dabei schon der Blick Selbsthilfe. Hier wird ganz klar am falschen Ende ge- fürs Wesentliche: Am vergangenen Freitag wurde die spart! „Woche des bürgerschaftlichen Engagements“ feierlich (B) eröffnet. Doch dort schien Selbstbeweihräucherung Dem Antrag der Grünen hinsichtlich diskriminieren- (D) wichtiger zu sein als die jungen Menschen mit ihren tol- der Altersgrenzen im Ehrenamt können wir zustimmen. len Projekten selbst. Allerdings ist der Forderungsteil doch sehr allgemein ge- halten. Es wäre schön gewesen, wenn Sie aus ihrem Von Regierungsseite werden außerdem viele Pro- reichhaltigen Erfahrungsschatz doch noch ein paar mehr gramme zur Stärkung ehrenamtlichen Engagements auf- Beispiele für diskriminierende Altersgrenzen aufgezeigt gelegt. Dabei geraten zunehmend auch die Seniorinnen hätten. und Senioren in den Blickpunkt. Als Beispiel sei nur die Initiative „Alter schafft Neues“ des Familienministe- Die einzige einigermaßen konkrete Forderung im riums genannt. Grünen-Antrag betrifft die Aufhebung der oberen Al- tersgrenzen für Schöffinnen und Schöffen. Diesem An- Wie in dem Antrag der Grünen zu Recht steht, dehnt liegen können wir zustimmen, weil es hier genügt, auf sich die Phase des aktiven Alters zunehmend aus. Über den gesundheitlichen Zustand und nicht auf ein mögli- eine immer größer werdende Zahl von Jahren bleibt eine ches Höchstalter abzustellen. selbstständige, eigenverantwortliche Lebensführung mög- lich. Ich habe mal wegen weiterer Beispiele bei der Anti- Die Fraktion Die Linke möchte die Diskussion um ein diskriminierungsstelle nachgefragt: Dort wurden bislang positives Altersbild vorantreiben, das die Fähigkeiten zwei Fälle von diskriminierenden Altersgrenzen im Be- der Seniorinnen und Senioren betont. Gleichzeitig dür- reich des bürgerschaftlichen Engagements gemeldet: Ein fen aber diejenigen, die auf Unterstützung angewiesen Fall betraf die schon erwähnte Altersgrenze für Schöf- sind, nicht ausgegrenzt werden. finnen und Schöffen, der andere die oberste Altersgrenze für ehrenamtlich Tätige in einer freiwilligen Feuerwehr. Eine vorausschauende, moderne Seniorenpolitik muss Warum aber soll ein 54-Jähriger tätig werden dürfen und sich eines vor Augen halten: Die Gruppe der Seniorin- ein 56-Jähriger nicht? Ist das nachvollziehbar und ge- nen und Senioren ist ebenso verschiedenartig wie die an- recht? Ich möchte die Betroffenen ermutigen, Diskrimi- derer Altersphasen. Und Seniorenpolitik ist eine Quer- nierungen zu melden oder anderweitig auf ihre Problem- schnittsaufgabe, die sehr viele Politikbereiche berührt. lage aufmerksam zu machen! Die Linke orientiert sich dabei an einem Leitmotiv: Ehrenämter eröffnen nach wie vor viele Kontaktmög- Ältere Menschen sind in allen sie betreffenden Lebens- lichkeiten, um die Teilhabe älterer Menschen an der Ge- bereichen als Expertinnen und Experten in eigener Sache sellschaft zu sichern. Doch ich halte es für falsch, nur einzubeziehen. das Engagementpotenzial ausschöpfen zu wollen. 19216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Die Linke kritisiert grundsätzlich: Gestiegene Selbst- Sicherheit zu gewährleisten. Ältere Menschen sind Bür- (C) ständigkeit und eine längere Aktivitätsphase der älteren gerinnen und Bürger mit einem Anspruch auf selbstbe- Menschen gehen nicht mit einer gestiegenen Selbstbe- stimmtes Leben bei gleichzeitigen Mitgestaltungsmög- stimmung und Mitwirkung einher. Die Linke fordert lichkeiten. daher für ältere Menschen mehr Mitwirkungsrechte und mehr Selbstbestimmung – nicht nur im Engagementbe- Der Missbrauch des Altersbegriffes, des bürgerschaft- reich! lichen Engagements und auch des Demografiebegriffs führt zu mehr Sozialabbau, Privatisierung sozialer Risi- In der Politik sind Seniorinnen und Senioren deutlich ken und Entsolidarisierung. stärker einzubeziehen. Ein Mitspracherecht in Gemein- deratssitzungen und Arbeitskreisen der Kommunen Sozialabbau, unter welchem Deckmantel auch immer, muss selbstverständlich werden. Mehr politische Weiter- ist mit der Linken aber nicht zu machen! bildungsangebote sind mit Unterstützung von Bund und Ländern anzubieten. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lassen sie mich ein paar Zahlen an den Anfang meiner Die Linke tritt dafür ein, gesetzliche Voraussetzungen Rede stellen: Schon heute leben über 20 Millionen Men- zu schaffen, um auf allen parlamentarischen Ebenen, vor schen im Alter von über 60 Jahren in diesem Land. Rund allem in den Kommunen, selbst gewählte Seniorenver- 80 Prozent der über 70-Jährigen leben weitgehend tretungen bilden zu können. Diesen ist Rede-, Anhö- selbstständig. Die verbesserte Gesundheitsversorgung rungs- und Antragsrecht zu gewähren. Eine Beteiligung und die gestiegene Lebenserwartung ermöglichen für älterer Menschen kann auch verstärkt werden durch re- immer mehr Menschen für einen immer längeren Zeit- gelmäßig tagende Altenparlamente. Auf Bundes- und raum ein selbstständiges Leben. Landesebene fordern wir Seniorenmitwirkungsgesetze. Schauen Sie sich als Ausgangspunkt doch beispielsweise Und ein Blick in die Zukunft zeigt, dass dieser Trend das seit 2006 bestehende Berliner Seniorenmitwirkungs- sich verstärkt fortsetzen wird: Bereits in 25 Jahren wird gesetz an. der Anteil der Menschen, die das 65. Lebensjahr über- schritten haben, auf über 30 Prozent steigen. Die Le- Die Bereitschaft der Seniorinnen und Senioren zu benserwartung wird für Frauen dann voraussichtlich freiwilliger Tätigkeit darf jedoch nicht dazu missbraucht rund 87 Jahre betragen und für Männer 81 Jahre. Danach werden, reguläre Arbeitsplätze zu ersetzen und Lücken beträgt die Altersphase nach der gängigen Einteilung zu schließen, die durch eine unzureichende öffentliche Ausbildung – Erwerbsarbeit – Alter ein Drittel der ge- Daseinsvorsorge entstehen. Mit Schrecken ist festzustel- samten Lebenszeit. len, dass Seniorinnen und Senioren immer häufiger in (B) der Kinderbetreuung oder Pflege eingesetzt werden, Doch trotz dieser beeindruckenden Veränderungen (D) während qualifizierte Vollzeitstellen abgebaut werden. rückt die Zeit nach der beruflichen Phase bisher kaum in Altersdiskriminierung, wie sie etwa in der Finanzwirt- das Blickfeld der politischen Aufmerksamkeit. Dabei schaft zum Beispiel bei der Kreditvergabe betrieben drängt die Zeit. Denn die Auswirkungen des demografi- wird, ist ebenfalls strikt zu bekämpfen. schen Wandels sind bereits da. In der Bevölkerungspyra- mide finden enorme Verschiebungen statt. Und lassen Seniorinnen und Senioren werden häufig einerseits sie es mich ganz deutlich sagen: Wir haben einen enor- als potenzielle Pflege- oder Fürsorgefälle gesehen, die men Nachholbedarf, dem oberen Drittel dieser Pyramide nur satt, sauber, trocken zu sein haben. Im Hinblick auf – den Älteren – Chancen der aktiven gesellschaftlichen ihre Verwertbarkeit werden sie andererseits oft nur als Teilhabe einzuräumen. Konsumenten, wie in der Initiative „Wirtschaftsfaktor Alter“ vom BMFSFJ, oder zum Teil als billige Arbeits- Wer weiterhin an Altersgrenzen im bürgerschaftli- kräfte, wie in den „Generationsübergreifenden Freiwilli- chen Engagement festhält, übersieht die Signale, die gendiensten“, gesehen, die es auszuschöpfen gilt. diese aussenden. Altern im 21. Jahrhundert ist vielfältig. Es gibt keine magische Altersschwelle, die wir alle ge- Aber mehr Mitwirkungsrechte will die Bundesregie- meinsam irgendwann überschreiten. Denn altern ist nicht rung unseren Seniorinnen und Senioren nicht geben! Ge- nur vielfältig, sondern auch individuell. Nicht jeder ist rade im politischen Bereich könnten wir gleichfalls von noch fit im Alter – aber immer mehr sind es. ihrer großen Lebenserfahrung profitieren. Die Linke ver- schließt sich nicht vor Altersweisheit! Und es zeugt von einer ungeheuren Ignoranz, wenn die Bundesregierung, auf den Altersgrenzen für das Genauso ignorieren CDU/CSU und SPD das Problem Schöffenamt beharrt. Die Antwort der Bundesregierung Altersarmut. Nein! Sie ignorieren nicht nur, sie treiben auf die Kleine Anfrage der Kolleginnen und Kollegen Altersarmut voran! Wie sonst ist die Rente ab 67 oder der FDP-Fraktion zeigt es schwarz auf weiß: Die Bun- die niedrige Grundsicherung im Alter zu verstehen? Sie desregierung traut dieses Schöffenamt den älteren Bür- malen das Schreckgespenst „demografischer Wandel“ an gerinnen und Bürgern ganz einfach nicht zu. Ich frage die Wand, zerschlagen damit eine solidarische Renten- mich, ob die Bundeskanzlerin bereits an Senator McCain versicherung und treiben die Menschen in die private einen Brief verschickt hat, in dem sie ähnliche Bedenken Vorsorge. Sie verriestern und verrüruppen die Men- äußert. Denn bei aller Hochachtung für die vielen akti- schen! ven Schöffinnen und Schöffen sind die Anstrengungen, Es muss meiner Meinung nach darum gehen, die Le- die ein mögliches Präsidentenamt in den USA mit sich bensqualität zu erhöhen sowie soziale und finanzielle bringen werden, wohl höher einzuschätzen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19217

(A) Die Bereitschaft Älterer sich bürgerschaftlich zu enga- Erstens. Die Anforderungen an die Wärmedämmung (C) gieren, müssen wir stützen, nicht unterbinden. Wir müs- und die Außenteile von Gebäuden werden um 30 Pro- sen positive Signale setzen, dass Engagement gewünscht, zent erhöht. Effizientere Wärmenutzung erspart uns Einmischen und Teilhabe Älterer an der Gesellschaft ge- Energiegewinnung, egal ob konventionell oder durch er- fördert wird. Es liegt an uns, an einem neuen Bild des Al- neuerbare Energien. ters mitzuzeichnen. Deshalb fordere ich sie auf, einen Zweitens. Durch eine stufenweise und wirtschaftlich Entwurf des § 33 Gerichtsverfassungsgesetz vorzulegen, vertretbare Außerbetriebnahme von Nachtstromspei- in dem die bestehende obere Altersgrenze für Schöffin- cher-Heizungen, die älter als 30 Jahre sind und in größe- nen und Schöffen aufgehoben wird. Den vielen formellen ren Gebäuden eingesetzt werden, wird diese ineffektive und informellen Altersgrenzen, denen ältere Menschen Heizmethode bald der Vergangenheit angehören. im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements begeg- nen, will ich entgegentreten. Dafür müssen wir sämtliche Drittens. Ermittlung des energetischen Zustands, die Gesetze und Vorschriften des Bundes daraufhin überprü- Kontrolle der Anforderungen und die Umsetzung muss fen, ob diskriminierende Altersgrenzen bestehen und ge- mit geringem bürokratischen und finanziellen Aufwand gebenenfalls Änderungen vornehmen. erfolgen. Synergien sind zu nutzen. Zertifizierte Unter- nehmen können das effektiv umsetzen. Der Schornstein- Denn ohne selber im Farbtopf zu rühren, wird es näm- feger kann das auch in Verbindung mit seinen bestehen- lich schwer werden, Altersbildern einen neuen Anstrich den Aufgaben umsetzen. zu geben. Als Baupolitiker kann ich Ihnen versichern: Dies sind überaus effektive Maßnahmen, unabhängig davon, ob Anlage 13 Sie diese nun aus ökologischer, ökonomischer oder bü- rokratischer Sicht betrachten wollen. Zu Protokoll gegebene Reden Bei der Erreichung der Klimaschutz-Ziele ist das zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset- richtige Zusammenspiel der einzelnen Elemente, zum zes zur Änderung des Energieeinsparungsgeset- Beispiel das des Energieeinspargesetzes, mit der EnEV zes (Tagesordnungspunkt 19) und der HeizkV, des EEG und des EEWärmeG, kurz ge- sagt das Integrierte Energie- und Klimaprogramm von Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Spätestens seit entscheidender Bedeutung! Alles hängt mit allem zu- dem Gipfel des Europäischen Rates im März 2007 sind sammen. die klimapolitischen Ziele bis 2020 politisch definiert. Der Leitsatz wird umgesetzt: Nutze Energie sparsam, (B) Wir müssen aus ökologischer Verantwortung heraus dämme unnötige Energieverluste ein, und für den Rest (D) Treibhausgas-Emissionen um 20 Prozent reduzieren, bediene dich, wenn möglich, erneuerbarer Energien. deshalb besonders die Energieeffizienz um 20 Prozent steigern und den Anteil erneuerbarer Energien auf Ich kann Ihnen versichern, wir sind auf dem richtigen 20 Prozent anheben. Weg, weil so Energie eingespart wird und weil Effi- zienzgewinn und der Einsatz erneuerbarer Energien Daher ist es nur folgerichtig, dass das besondere Au- technologieoffen sind. Das fordert und fördert die Krea- genmerk auf den Gebäudebereich gerichtet wird. Wir in- tivität und den Erfindungsreichtum des heimischen Bau- vestieren hier immerhin 40 Prozent unseres gesamten gewerbes in allen Bereichen. Energieverbrauchs. 30 Prozent Energieeinsparung im Gebäudebereich helfen da enorm. Trotzdem darf auch Es ist auch deshalb der richtige Weg, weil dem einzel- hier die ökonomische Verantwortung, besonders für die nen Bauherrn Wahlmöglichkeiten offengehalten werden. Hausbesitzer mit geringem Einkommen, nicht auf der Die Verpflichtung zur Energieeffizienzsteigerung am Strecke bleiben. Bau soll die einzige Vorgabe sein. Zur Umsetzung muss der Bauherr vielfältige Mög- Die Klimaschutz-Ziele müssen erreicht werden – das lichkeiten haben, und die müssen für ihn wirtschaftlich steht außer Frage –, aber mit möglichst geringem finan- vertretbar bleiben. Darauf legt die Union besonderen ziellen Aufwand für Staat und Bürger. Wert. Daher darf das Wirtschaftlichkeitsgebot an keiner Mit der heutigen ersten Lesung zum dritten Gesetz Stelle außer Acht gelassen werden. Aber diese Sorge be- zur Änderung des Energieeinspargesetzes betreten wir steht, Gott sei Dank, in diesem Bereich nicht. Denn im kein Neuland Wir sind vielmehr hier, um funktionie- Zusammenspiel zwischen Vorgaben und den flankieren- rende gesetzliche Elemente, die zur Verwirklichung der den Programmen können Differenzen zwischen Ökolo- ökologischen Verantwortung für unsere Heimat erdacht gie und Ökonomie abgemildert werden. wurden, auszubauen, anzupassen und auf den neuesten Dank des CO2-Gebäudesanierungprogramms konnten Stand zu bringen. von 2005 bis 2007 bereits 650 000 Wohneinheiten sa- Wir müssen es auch überarbeiten, da nur so die ent- niert werden. Dies sparte bislang jährlich zwei Millionen scheidenden und schon diskutierten Veränderungen in Tonnen CO2 und 500 Millionen Euro Energiekosten ein. der nachgeordneten Heizkosten- und besonders der Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist auch aktuell Energieeinsparverordnung in Kraft treten können. so erfolgreich und gefragt, dass in diesem Jahr zusätzli- che 500 Millionen Euro bereitgestellt wurden, um allen Was soll geändert werden? Und warum? Anträgen gerecht zu werden.Gleichzeitig ist es auch ein 19218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Konjunkturprogramm, denn es sorgt für einen Schub in zesänderungen abhängig, wie zum Beispiel für die (C) der Bauindustrie, im Mittelstand, beim Handwerk und Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen den Baustoffherstellern. oder für Maßnahmen zur Stärkung des Vollzugs der Ener- gieeinsparverordnung. Es geht um einen am Stand der Bitte lassen Sie nicht außer Acht, dass 1 Milliarde Technik und der Wirtschaftlichkeit orientierten zuverläs- Euro an Investitionen 25 000 Arbeitsplätze sichert oder sigen rechtlichen Rahmen für die zahlreichen im Gebäu- schafft. Anreize schaffen statt Befehle erteilen, finan- debereich beteiligten Branchen und Energieverbraucher. zielle Unterstützungen anstatt reiner gesetzlicher Vorga- ben, fördern die Akzeptanz bei allen Akteuren. Für die Die Änderung des Energieeinsparungsgesetzes und Union steht fest – die bisherigen Ergebnisse geben uns auf dessen Grundlage der Energieeinsparverordnung Recht –: Das ist der richtige Weg! sind zentrale Elemente der Energiespar- und Klimapoli- tik der Großen Koalition. Danach werden ab 2009 die Lassen Sie uns so weitermachen und hier vielleicht Mindestanforderungen an die energetische Qualität von noch ein wenig mehr das Potenzial nutzen, beispiels- Neubauten und sanierten Altbauten durch eine Überar- weise durch verbesserte Steuerabschreibungen für Inves- beitung der Energieeinsparverordnung (EnEV) ver- titionen in Energieeffizienz und erneuerbare Energien. schärft. Es geht um die die Anhebung der energetischen Dabei ist es nicht entscheidend, welche steuerlichen Anforderungen an Neubauten um durchschnittlich Maßnahmen ins Auge gefasst werden. Wichtig ist nur, 30 Prozent; die Anhebung der energetischen Anforde- dass beispielsweise eine befristete Verdoppelung des rungen an wesentliche Änderungen im Gebäudebestand Abschreibungssatzes, höhere Abschreibungssätze oder um durchschnittlich 30 Prozent; die Ausweitung einzel- eine sofortige Absetzbarkeit von Aufwendungen den ner Nachrüstpflichten bei Anlagen und Gebäuden, die Bürger spürbar entlasten. die Verpflichteten unabhängig von geplanten eigenen Maßnahmen oder Vorhaben erfüllen müssen. Aber auch bei der Aufstockung von einmaligen Zu- Dies ist gut und richtig so, denn dem Gebäudesektor schüssen, im CO2-Gebäudesanierungsprogramm für die- jenigen Hausbesitzer, die zwar sanieren wollen, es je- kommt bei dem Bestreben, Energie einzusparen, eine doch schwer haben, noch einen weiteren Kredit von der ganz erhebliche Bedeutung zu. Gebäude haben mit mehr Bank zu bekommen, ist im Sinne der Politik der Union. als 40 Prozent einen erheblichen Anteil am gesamten Energieverbrauch. Davon entfallen 75 Prozent auf das Es muss auch dem finanziell schwachen Hausbesitzer Heizen, 10 Prozent für Warmwasser und 15 Prozent für möglich werden, sein Gebäude klimaverantwortlich um- mechanische Energie und Strom. Der Anteil des Gebäu- zubauen und in den Genuss von dauerhaft niedrigeren debereichs an CO2-Emissionen beträgt 20 Prozent. Ziel Energiekosten zu kommen. muss es daher sein, bei der Neuerrichtung von Gebäuden (B) (D) mit möglichst sparsamer Energiebilanz zu erstellen und Außerdem wäre mit diesen zusätzlichen Instrumenten im Gebäudebestand die Möglichkeiten zur Energieein- sichergestellt, dass mehr Bestandsgebäude in Deutsch- sparung zu mobilisieren. Gerade im Gebäudebestand land vom Klimaschutz erreicht werden. Deswegen bitte liegt die größte Energiesparreserve. Dieser umfasst knapp ich Sie um Ihre Unterstützung im Allgemeinen zu dem 19 Millionen Gebäude, davon 17,3 Millionen Wohnge- Komplex des Integrierten Klima- und Energiepro- bäude und 1,5 Millionen Nichtwohngebäude. 75 Prozent gramms der Bundesregierung und im Speziellen zu dem des Gebäudebestandes wurden vor 1979 mit zum Teil vorliegenden dritten Gesetz zur Änderung des Energie- schlechter energetischer Qualität erreichtet. Ab 1979 einspargesetzes. stellte die 1. Wärmeschutzverordnung Mindestanforde- rungen an die energetische Qualität der Gebäude. Ziel ist Rainer Fornahl (SPD): Wer A sagt, der sollte auch B es, dass jährlich 3 Prozent des vor 1979 errichteten Alt- sagen. Das machen wir heute mit der Einbringung des baubestandes grundlegend saniert werden. Derzeit sind Gesetzentwurfs zur Änderung des Energieeinsparungs- es 2,2 Prozent. Das sind jährlich 420 000 Gebäude oder gesetzes. bis 2020 ein Drittel des Altbaubestandes. Es gilt die enormen Einsparpotenziale zu erschließen. Am 6. Juni 2008 haben wir im Deutschen Bundestag ein Paket von Gesetzen zum Klimaschutz und zur Erhö- Dazu bedarf es auch einer offenen und ehrlichen Dis- hung der Energieeffizienz in Gebäuden verabschiedet kussion über die Verteilung der Kostenbelastungen. Es (IKEP-I-Umsetzung). Am 18. Juni 2008 hat die Bundes- darf nicht verschwiegen werden, dass es den Einzelnen regierung einen weiteren Teil ihres Klimaschutzpro- etwas kosten wird – für Gebäudesanierung, Austausch gramms verabschiedet (IKEP-II-Umsetzung), darunter alter Heizkessel und Fenster, Dämmung von Decken und die Änderung des Energieeinsparungsgesetzes (EnEG) Wänden. Es muss klar sein, dass es nicht ausreicht, da- und damit den Auftrag zur Novellierung der Energieein- rauf zu hoffen, dass die Politik mit Gesetzen und Koh- sparverordnung (EnEV). Das Änderungsgesetz beraten lendioxid-Zielen es schon richtet, ohne dass der Einzelne wir heute in der ersten Lesung und überweisen es an die in den eigenen vier Wänden selber Hand anlegt. Auf der Ausschüsse, in dringender Erwartung zügiger Verab- anderen Seite müssen wir bei den energie- und klima- schiedung im Hohen Hause. Damit schaffen wir erst die politischen Zielsetzungen stets im Auge behalten, was erforderlichen Ermächtigungen zur Änderung der EnEV, den Bürgerinnen und Bürgern abverlangt werden kann. in der Einzelheiten im Vollzug des Energieeinsparungs- Die Belastungen des Einzelnen dürfen nicht durch neue rechts für Gebäude geregelt sind. Inhaltlich ist die Ände- Verpflichtungen überzogen werden. Nicht jede junge Fa- rung der EnEV also in mehreren Punkten von den Geset- milie und nicht jedes Rentnerehepaar kann den finanziel- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19219

(A) len Mehraufwand und die Vergrößerung der Baustelle im Angesichts der weltweit steigenden Energienach- (C) bewohnten Haus tragen. Nicht jeder Wohneigentümer frage, der steigenden Energiepreise und der Herausfor- verfügt über so viele Mittel, um mehr als beabsichtigt zu derungen des Klimawandels dürfen die Anstrengungen, investieren. Auch wenn sich die Kosten bald rentieren, Energie einzusparen, nicht nachlassen. Mit der Ände- weil eben auch der Energieverbrauch massiv gesenkt rung des EnEG und der Novelle der EnEV treibt die werden kann. Ein weitreichender Modernisierungszwang Große Koalition dies ehrgeiziger als sonstwo weiter könnte das Hemmen sinnvoller freiwilliger Investitionen voran. Das ist auch für die internationale Klimapolitik erheblich verstärken. Hier greift die weitere Unterstützung ein wichtiges Signal. der freiwilligen Entscheidung durch Förderung. CO2-Ge- bäudesanierungsprogramm, Investitionspaket zur ener- Joachim Günther (Plauen) (FDP): Heute befassen getischen Sanierung von Schulen, Kindergärten und wir uns mit dem Entwurf der Bundesregierung eines sonstigen sozialen Infrastrukturen, Energieeinsparpro- Dritten Gesetzes zur Änderung des Energieeinsparungs- gramm Bundesliegenschaften und Wohngeldnovelle ver- gesetzes. deutlichen diesen Teil der Strategie für mehr Energieeffi- zienz und Klimaschutz im Gebäudebereich. Der Entwurf dient der Schaffung von Ermächtigungs- grundlagen für Änderungen in der Energieeinsparver- Auf der andere Seite stehen die ordnungsrechtlichen ordnung sowie im Schornsteinfegergesetz. Maßnahmen, das Fordern. Energieausweise für Gebäude und das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz sind bereits Wesentliche Neuregelung in der Energieeinsparver- verabschiedet. Die Novellierung von Heizkostenverord- ordnung sind die Nachrüstungspflichten bei Anlagen nung und Energieeinsparverordnung werden folgen. Mit und Gebäuden (§ 10 EnEV) sowie die Außerbetrieb- diesem ausbalancierten Mix aus Fördern und Fordern nahme von elektrischen Speichersystemen (§ 10 a werden wir die Gesamtemissionen des Wohngebäudebe- EnEV) – dies soll durch § 4 Abs. 3 des oben genannten standes von 120 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2005 um Entwurfes des EnEG ermöglicht werden. 20 Millionen Tonnen auf 100 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2020 senken. Die FDP steht auch für die Verbesserung der Energie- effizienz im Gebäudebereich und für die Senkung von Dazu trägt auch bei, die Potenziale des Energie-Con- CO2-Emissionen – sie hat deshalb auch der Einführung tractings in kluger Abwägung der Interessen von Mie- eines Energiegebäudeausweises zugestimmt. tern und Vermietern sinnvoll zu nutzen. Alle, die damit befasst sind, sind aufgefordert, zügig nach tragfähigen Die zunächst von der Bundesregierung angekündig- Lösungen zu suchen. Gerade im Verhältnis von Mieter ten radikalen Betriebsverbote für Nachtspeicheröfen (B) und Vermieter im laufenden Mietverhältnis sind bei der zeugten wieder einmal von blindem Aktionismus. Elek- (D) energetischen Modernisierung noch einige Fragen offen. trische Speicheröfen verbieten = Klimaschutz wesent- So sollte der Mieter ein Druckmittel haben, wenn der lich vorangetrieben: Die Formel funktioniert so leider Vermieter notwendige Modernisierungsmaßnahmen nicht! nicht durchführt. Darüber wird noch zu sprechen sein. Der Widerstand vor allem der FDP gegen dieses Vor- Ich komme zum Schluss noch zu einem Problem, haben führte offenbar zu einem Nachdenken bei welches alle Anstrengungen für Klimaschutz und Ener- Schwarz-Rot. Jedenfalls gibt es nun doch sehr deutliche gieeinsparung konterkariert. Dies betrifft die Qualität der Veränderungen in der Energieeinsparverordnung gegen- energetischen Sanierung. Eine Untersuchung des Ver- über den ursprünglichen Überlegungen: Der Kreis der bandes Privater Bauherren lässt auf bedenklich Weise Betroffenen ist wesentlich kleiner geworden und die aufhorchen. Hier werden erhebliche Mängel bei energie- Übergangsfristen von 30 Jahren sind moderat. Auch die sparenden Neubauten festgestellt. So sind in 59,3 Pro- Härtefallregelung macht den Entwurf insgesamt etwas zent aller Fälle die Berechnungen im Nachweis zur freundlicher. EnEV falsch, in 53,0 Prozent der Fälle wird der Bau ge- fördert, obwohl er nicht den Förderbedingungen ent- Auch die Bußgeldvorschriften sollen harmonisiert spricht, in 66 Prozent der Fälle werden falsche oder nicht werden. mit dem Bauherrn abgestimmte Voraussetzungen im Die Ankündigung der Bundesregierung vom letzten Nachweis zur EnEV angenommen, in 54,1 Prozent der Jahr, Gebäudeeigentümern Geldbußen von bis zu Fälle werden die Berechnungen zur EnEV nicht korrekt 50 000 Euro aufzuerlegen, wenn sie nicht bereit sind, umgesetzt und in 40,6 Prozent der Fälle entspricht das künftig erneuerbare Energien zum Heizen zu verwenden, Haus überhaupt nicht den Anforderungen der EnEV. ist mir noch gut in Erinnerung. Die Einsicht, dass „eine Deshalb ist ein Controlling-System von öffentlich-recht- Bußgeldbewehrung bereits bei leichter Fahrlässigkeit lichen Institutionen und Privatwirtschaft unverzichtbar. unangemessen“ sei und dies nun in die Bußgeldvor- Hier werden Milliarden Steuermittel ausgegeben – mit schriften so eingebracht wurde, möchte ich begrüßen. dem Ziel die CO2-Emissionen im Gebäudebereich signi- fikant zu reduzieren. Politik mit der Brechstange kann auch eine Große Koalition nicht durchsetzen. Planer und Bauherrn, respektive Baufirmen, müssen konsequent die Vorgaben einhalten und dies verbindlich Dennoch hält die FDP nichts von solchen Einzellö- nachweisen. Schwarzen Schafen müssen wir hart auf die sungen, weil diese nicht wirklich einen Sinn machen. Es Finger klopfen – wegen des Klimas. wird im Laufe des parlamentarischen Verfahrens zu klä- 19220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) ren sein, wie der in Schwachlastzeiten erzeugte Strom Gemisch aus Christ- und Sozialdemokraten wie ein (C) künftig verwendet werden soll. Weichspülgang. Das Ergebnis ist dann Klimaschutz light. Die Klimagassenkung wird deshalb nur 25 Prozent Wie mir die Umweltpolitiker meiner Fraktion bestäti- betragen. Und weniger Klimaschutz bedeutet eben auch gen, ist der ökologische Effekt des Verbots von Strom- weiter hohe Energiepreise. heizungen unklar. Da beispielsweise für den Stromsektor der Emissionshandel mit einer festen Obergrenze der Sehen wir uns den vorliegenden Gesetzentwurf ge- CO2-Emissionen gilt, bringt das Verbot von Stromhei- nauer an: Mit dem geplanten Energieeinsparungsgesetz zungen keine CO2-Einsparung, dafür aber immense Kos- werden zwar die größten Energiefresser wie Nachtspei- ten für eine neue Heizungsanlage, die jetzt teilweise mit cheröfen und alte Ölheizungen aus Altbauten verbannt, Steuergeldern aufgefangen werden sollen. Und viele der doch machbare Einsparpotenziale werden hier bei wei- betroffenen Hausbesitzer werden auf hohen Kosten sit- tem nicht gehoben. Denn die anspruchsvollen Ziele, die zen bleiben, obwohl sie über Jahre von der Politik in für Neubauten vorgegeben werden, unterliegen beim Ge- diese Technologie gelockt wurden. Übrigens ein kleiner bäudebestand weitgehend der Entscheidungsfreiheit der Denkanstoß an die Atomstromgegner: Auch Atomstrom Vermieter – und die reichen die Energiekosten ohnehin wäre CO2-frei. an die Mieterinnen und Mieter durch. Das Interesse an einer energetischen Sanierung, die alle Einsparmöglich- Jetzt wäre die Frage zu klären, in welchem Verhältnis keiten ausschöpft, ist deshalb oft gering. Energieeffizienz und Belastung der Gebäudeeigentümer durch diese Änderungen zueinander stehen. Von der Be- Nun ist es aber so, dass der überwiegende Teil der antwortung dieser Frage wird es im Wesentlichen abhän- Menschen in älteren Gebäuden zur Miete wohnt. Und gen, wie sich die FDP zu diesem Entwurf positionieren gerade da, wo das Einkommen knapp bemessen ist, sind wird. Altbauten in schlechtem Zustand, haben hohe Heizkos- ten. Um auch Menschen mit kleinem Geldbeutel, die un- ter der Energieteuerung am meisten leiden, zu helfen, Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Wärmeschutz an Ge- reichen die Vorschläge von CDU/CSU und SPD bei wei- bäuden und moderne Heiztechnik entlasten die Mieterin- tem nicht aus. nen und Mieter deutlich. So bremst wirksamer Klima- schutz die Teuerung der Energie. Denn durch kluge Die Linke fordert deshalb klare Vorgaben und ein- Maßnahmen können die Heizkosten halbiert werden. klagbare Rechte für die Mieterinnen und Mieter. Die Bundesregierung folgt diesem Grundsatz leider nur halbherzig und lässt die Verbraucherinnen und Verbrau- Erstens: Ein Energiepass muss aufzeigen, welche cher auch weiterhin auf den hohen Heizkosten sitzen. Maßnahmen bei einer Energiesanierung machbar sind, (B) und nicht bloß den bisherigen Verbrauch anzeigen. (D) Das Prinzip der Großen Koalition ist auch hier: Poli- tik ist der kleinste gemeinsame Nenner. Das Ergebnis ist Zweitens: Mieterinnen und Mieter müssen das Recht nicht nur ein deutliches Verfehlen der Klimaschutzziele, haben, die Miete zu kürzen, wenn Gebäudeeigentümer die sich die Bundesregierung selbst gesetzt hat. Das machbare Maßnahmen zum Energiesparen nicht umset- Nichthandeln verschärft auch die soziale Schieflage im zen. Land. Denn die rasant steigenden Energiepreise werden Drittens: Die Nutzung erneuerbarer Energien wie So- für private Haushalte zunehmend zu einer existenziellen larkollektoren und Erdwärme muss zur Pflicht werden, Belastungsprobe. Der Begriff „Energie-Armut“ be- um teures Öl und Gas zu ersetzen. schreibt hier ein immer deutlicher hervortretendes Phä- nomen: Zunehmend können sich Menschen in Deutsch- Nur so gelingt es, bezahlbare Energie und Klima- land eine angemessene Nutzung von Energie nicht mehr schutz unter einen Hut zu bekommen und die Energie- leisten, während die Energiekonzerne Rekordprofite ein- versorgung nachhaltig zu gestalten. streichen. Das ist nicht hinnehmbar. Eines muss gesagt sein: Die Bundesregierung ver- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die dient bei den gestiegenen Energiepreisen über die Mehr- Änderung des Energieeinsparungs-Gesetzes (EnEG) ist wertsteuer ordentlich mit. Insgesamt hat Bundesfinanz- die Grundlage dafür, die groß angekündigte Energieein- minister Steinbrück im letzten Jahr gegenüber 2004 mit sparungs-Verordnung (EnEV) überhaupt novellieren zu der immer teureren Energie 5,3 Milliarden Euro zusätz- können. Neben sinnvollen Ansätzen – so sollen Nacht- lich eingenommen. Die Linke fordert: Geben Sie das stromspeicherheizungen außer Betrieb genommen wer- Geld an die gebeutelten Verbraucherinnen und Verbrau- den – gibt es im Gesetz seltsam verschwiemelte Ansätze, cher zurück! die weit hinter den Notwendigkeiten zurückbleiben. Dazu gehören zum Beispiel die Einführung der privaten Ein Wort auch zum Klimaschutz: Umweltminister Nachweispflicht oder die künftige Selbstausstellung von Sigmar Gabriel behauptet ja immer gern, die Bundesre- Fachunternehmer- und Eigentümererklärungen. gierung würde den CO2-Ausstoß mit ihren Maßnahmen um 36 Prozent senken. Dazu beruft er sich auf die „Me- seberger Beschlüsse“. Entscheidend ist aber nicht, was Zugegeben, im Falle der energetischen Gebäudesa- die Regierung irgendwann einmal beim Kaffeekränz- nierung steckt nicht nur die Bundesregierung in dem Di- chen besprochen hat, sondern was in den Gesetzen steht, lemma, dass sinnvoller Ressourcen- und Klimaschutz oft die am Ende dabei herauskommen. Und hier wirkt das mit privatwirtschaftlichen Erwägungen kollidiert. Dieses Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19221

(A) klassische Marktversagen nur ordnungsrechtlich zu kor- Betriebskosten auch Sinn, wie sie noch im ersten Ent- (C) rigieren, birgt aber Risiken – Risiken, die uns auf Schritt wurf des EnEG zu finden waren und die auf Betreiben und Tritt im Entwurf des EnEG, aber auch der EnEV be- des Bundeswirtschaftsministers offensichtlich herausge- gegnen. Dazu zwei eklatante Beispiele: Da wird in § 7 a strichen wurden. Wir fordern die stärkere Berücksichti- zwar eine Bestätigungspflicht der durchführenden Fach- gung von Lösungsansätzen in der Förderpolitik, mit de- betriebe festgelegt, aber von einer Kontrolle oder einer nen die größten Klimaschutz- und Einsparpotenziale bei Sanktionsmöglichkeit bei Nichteinhaltung der Sanie- geringstem Mitteleinsatz gehoben werden können. Wir rungsziele ist keine Rede. Im Gegenteil, den ausführen- fordern bauliche und modulare Lösungen in der energe- den Firmen wird die Möglichkeit gegeben, die Qualität tischen Gebäudesanierung für heute, die uns bei der Er- ihrer Arbeit selbst zu bestätigen. Hier wäscht nicht eine reichung der langfristigen Ziele morgen nicht im Wege Hand die andere, hier wäscht sich eine Hand selber. Wie stehen. Wir fordern zusätzliche Sanierungshilfen und dürfte die Praxis aussehen? Nach zwei, drei kälteren Lösungen für ökonomisch schwache Vermieter oder Wintern stellt der Auftraggeber fest, dass die Sanie- Hauseigentümer, gerade in den peripheren Regionen rungsmaßnahme offensichtlich ihr Ziel verfehlt hat. Deutschlands. Wir fordern einen Energieausweis, der die Falls er sich dann nicht auf Nachbesserungen mit der energetische Qualität eines Gebäudes tatsächlich abbil- Baufirma einigen kann, bleibt ihm nur der kostenträch- det und nicht als unseriöse Lachnummer im Internet für tige und langwierige Klageweg. Im Neubaubereich sind Dumpingpreise von 1,99 Euro ersteigert werden kann. Versäumnisse besonders gravierend, da die Nutzungs- Und wir fordern einen Energieausweis, der allen Mietern dauer bis zur nächsten Renovierung – Grundinstandset- – Bestands- und Neumietern – in schriftlicher Form ohne zung – besonders lang ist. Analysen des Verbandes Pri- gesonderte Aufforderung zugänglich gemacht wird. vater Bauherren e. V. – VPB – haben ergeben, dass in Gut gemeint ist nicht gut gemacht. Das neue EnEG mehr als 50 Prozent der untersuchten Fälle Materialien, wird in Verbindung mit der EnEV 2009 leider dazu füh- die auf der Rechnung standen, auf der Baustelle gar ren, dass die Bundesregierung ihr selbst gestecktes Kli- nicht verwendet wurden. So wurde oftmals die vorgese- maziel 2020 auch im Baubereich grandios verfehlen hene Dämmung durch dünnere oder andere Materialien wird. ersetzt. Der Auftraggeber zahlt hier doppelt: für die schlecht ausgeführte Sanierung und die weiterhin hohen Den Schaden haben nicht nur die kommenden Gene- Energiekosten. Das gilt auch – und dies ist für uns be- rationen, den Schaden haben schon die heutigen Bauher- sonders schmerzlich – für Bauten, die mit öffentlichen ren, die in gutem Glauben und mit ehrbaren Absichten Mitteln gefördert werden, Stichwort: KfW 60/KfW 40. für untaugliche Vorgaben aus dem EnEG und der EnEV Wenn hier laut VPB mehr als 50 Prozent der Bauten die die Zeche zahlen. Denn das, was sie erhalten, ist häufig (B) Förderbedingungen der KfW nicht erfüllen, ist etwas eine Mogelpackung. (D) grundsätzlich faul im System. Hier wäre die Bundesregierung gefragt gewesen, aber Da hilft uns auch eine Verschärfung der Randbedin- da versagt sie auch mit diesem Gesetzentwurf. gungen um 30 Prozent wie jetzt bei der EnEV 2009 nicht weiter. Symbolpolitik nutzt weder dem Klima- und Res- Karin Roth Parl. Staatssekretärin beim Bundes- sourcenschutz noch den Mietern und Bewohnern kleiner minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Der Häuser. Wir brauchen eine Verstetigung und Verlässlich- Klimawandel, die weltweit steigende Nachfrage nach keit bei den Rahmenbedingungen, eine funktionierende Energie und die steigenden Energiepreise sind Heraus- Qualitätskontrolle und Rechtssicherheit; denn Bauen ist forderungen, denen wir uns stellen müssen. Hier müssen so risikoträchtig, dass Rechtsschutzversicherungen das wir Lösungen finden. Im Gebäudebereich bedeutet dies Baurisiko generell ausschließen. vor allem, dass Energie so effizient wie möglich genutzt Wenn wir so weitermachen, dann wird es 150 Jahre werden muss. Geschieht dies nicht, lässt sich eine be- dauern, bis der Gebäudebestand auf einen vernünftigen zahlbare Energieversorgung auf lange Sicht nicht si- energetischen Standard gebracht ist. Das ist unverant- chern. Wir wollen bei der Neuerrichtung Gebäude mit wortlich gegenüber unseren nachfolgenden Generatio- möglichst sparsamer Energiebilanz erstellen und im Ge- nen. bäudebestand vorhandene Einsparpotenziale mobilisie- ren. Um dies zu erreichen, setzt die Bundesregierung die Wir fordern, der Aufklärung und der qualifizierten Akzente sowohl beim Fördern als auch beim Fordern. Beratung der Gebäudenutzer eine stärkere Aufmerksam- Heute geht es um die Novellierung des Energieeinspar- keit zu schenken. 20 bis 30 Prozent der Einsparungen rechts des Bundes. lassen sich alleine durch ein verändertes Heizverhalten Dies müssen wir in zwei Schritten tun, zum einen, und mit einem vergleichsweise geringen Mitteleinsatz durch die Änderung des Energieeinsparungsgesetzes und durch Beratung erreichen. Wir fordern endlich verbindli- zum zweiten durch eine Novellierung der Energieein- che und realistische Gebäude-Effizienzstandards für Be- sparverordnung. stands- und Neubauten, deren Wirkungen auf die kurz- fristigen – bis 2020 – und langfristigen – bis 2050 – Das Energieeinsparungsgesetz bildet die gesetzliche Klimaschutzziele ausgerichtet sind. Wir fordern ein Grundlage zum Erlass der Energieeinsparverordnung. Recht der Mieter bzw. Nutzer auf Einhaltung dieser Effi- Seine Verordnungsermächtigungen müssen erweitert zienzstandards. Dann machen Kürzungsrechte bei den werden, damit der Verordnungsgeber sich bei der Novel- 19222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) lierung der Energieeinsparverordnung, mit der letztlich Anlage 14 (C) die inhaltlichen Regelungen im Einzelnen festgelegt werden, auf sicherem Boden bewegen kann. Mit anderen Zu Protokoll gegebene Reden Worten: Es wird hierdurch der Gestaltungsrahmen für zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset- den Verordnungsgeber abgesteckt. zes zur Änderung des Gesetzes gegen den un- lauteren Wettbewerb (Tagesordnungspunkt 23) Mit der Gesetzesänderung werden allerdings noch keine inhaltlichen Entscheidungen im Einzelnen getrof- fen. Ich möchte deshalb nur kurz auf die wesentlichen Er- Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Bislang zeichnet weiterungen der gesetzlichen Verordnungsermächtigun- sich in der Europäischen Union im Wettbewerbsrecht ein gen im Energieeinsparungsgesetz eingehen. Es geht vor sehr uneinheitliches Bild aus. allem um die Schaffung der Grundlagen für folgende Was unter unlauteren Geschäftspraktiken verstanden Maßnahmen: die Außerbetriebnahme von Nachtstrom- wird, ist in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unter- speicherheizungen; Regelungen zur Stärkung des Voll- schiedlich. zugs der Energieeinsparverordnung, insbesondere die Einführung privater Nachweispflichten wie etwa Fachun- Die Probleme, die sich hier auftun, liegen auf der ternehmer- und Eigentümererklärungen und ihre Vorlage Hand: Es kommt innerhalb der EU zu deutlichen Wett- bewerbsverzerrungen. bei Behörden; das Tätigwerden des Bezirksschornstein- fegermeisters bei der Überwachung energieeinsparrecht- Die Leidtragenden einer solchen Situation sind in ers- licher Anforderungen an haustechnische Anlagen; Har- ter Linie die Verbraucher. Viele Menschen können nicht monisierungen bei den Bußgeldvorschriften. nachvollziehen, warum für sie in anderen europäischen Ländern jeweils andere Regelungen gelten sollen. Ein Klimaschutz und Energieeinsparung haben für die europäischer Mindestschutz vor irreführender Werbung Bundesregierung hohe Priorität Wir wollen die hierfür ist notwendig. Und mehr sieht die Richtlinie auch nicht erforderlichen Maßnahmen gemeinsam und im Konsens vor. mit den Bürgerinnen und Bürgern ergreifen. So stehen alle Regelungen des Energieeinsparrechts des Bundes Falls der nationale Gesetzgeber Bestimmungen unter dem Grundsatz der wirtschaftlichen Vertretbarkeit geschaffen hat, die über diesen Mindeststandard hinaus- gehen, kann er diese aufrechterhalten. Dies tut die Bun- Im Rahmen des Integrierten Energie- und Klimapro- desregierung auch mit ihrem Gesetzentwurf zur Richtli- gramms setzt die Bundesregierung im Gebäudebereich nienumsetzung. Es wird also durch die Richtlinie keinen (B) auf einen notwendigen Instrumentenmix. Energieeinspa- Abbau von Verbraucherrechten geben, sondern es wird (D) rungsgesetz und Energieeinsparverordnung, also das ein Mehr an Verbraucherrechten geben. Ordnungsrecht, sind ein zentraler Bestandteil dieses In- Ob allerdings gleich das Vertrauen der Verbraucher in strumentenbündels. Nicht weniger wichtig ist das CO2- den gesamten Binnenmarkt durch die unterschiedliche Gebäudesanierungsprogramm, also die Förderung von Handhabung von unlauteren Geschäftspraktiken in Eu- Investitionen zum Einsparen von Energie im Gebäude- ropa untergraben wird, wie es die Richtlinie in ihren Er- bestand. wägungsgründen formuliert, wage ich zu bezweifeln. Bei allen berechtigten Harmonisierungsbedürfnissen In diesem Jahr führte die sehr erfreuliche Inanspruch- sollte man die Ziele der Richtlinie auch nicht zu hoch- nahme des Programms dazu, dass die für 2008 zur Ver- hängen und sich nicht in ein falsches EU-Gesetzge- fügung stehenden Haushaltsmittel bereits Ende Juli aus- bungspathos hineinsteigern. geschöpft waren. Die Bundesregierung hat im Wege einer überplanmäßigen Verpflichtungsermächtigung durch War nach der Begründung im Referentenentwurf des Umschichtung von Mitteln aus den Folgejahren, 2010/ Bundesjustizministeriums noch vorgesehen, eine mög- 2011, kurzfristige Mittel in Höhe von 500 Millionen lichst schlanke Umsetzung der Richtlinie über unlautere Euro bereitgestellt. Dies ermöglicht die Fortführung des Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäfts- Programms. verkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern in das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vorzuneh- Die Maßnahmen der Bundesregierung sind unerläss- men, hat man sich jetzt doch dazu entschlossen, weite lich, wenn wir beim Klimaschutz vorankommen wollen. Teile der Richtlinie wörtlich zu übernehmen. Dies ist nicht nur wirtschaftlich für die Eigentümer, son- Die Bedenken des Bundesrates dagegen sind nicht dern zudem auch gut für unsere Bauwirtschaft zur Siche- ganz von der Hand zu weisen. Das Gesetz gegen den un- rung der Arbeitsplätze in Deutschland. lauteren Wettbewerb wurde erst 2004 einer Generalüber- Mit dem Ihnen heute vorliegenden Gesetzentwurf zur holung unterzogen. Nur vier Jahre später müssen das Änderung des Energieeinsparungsgesetzes legen wir den UWG und seine Anwender schon wieder einen größeren Eingriff des Gesetzgebers verkraften. Grundstein für die Umsetzung der Meseberger Be- schlüsse zum Integrierten Energie- und Klimaprogramm Einen solch weitreichenden Eingriff erfährt das UWG im Gebäudebereich. Ich möchte Sie schon heute um eine durch die Ersetzung des zentralen Begriffs „Wettbe- breite Unterstützung und eine zügige Beratung dieser werbshandlung“ durch den der „geschäftlichen Hand- Vorlage bitten. lung“. Die Einführung neuer Begriffe bringt in der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19223

(A) Rechtsetzung immer ein großes Maß an Gefahr mit sich, Gerade das UWG sollte man nicht im Monatstakt ei- (C) da eine gefestigte Rechtsprechung infrage gestellt wird. ner Novellierung unterziehen. Und wir kommen bei der unerlaubten Telefonwerbung ohnehin nicht darum he- Dennoch teile ich die Bedenken nicht. Schließlich rum, bald wiederum Änderungen am UWG vorzuneh- geht es bei der Begriffsumwandlung nicht um eine in- men, da die neuen Bußgeldvorschriften ebenfalls einer haltliche Neubestimmung. Die Umformulierung wird Regelung, bedürfen. Daher lautet meine Devise: Machen nur vorgenommen, um sich an den Text der Richtlinie wir aus der Telefonwerbung im UWG keine Dauerbau- anzupassen, der eben von einer geschäftsähnlichen stelle, sondern lassen Sie uns ganz zügig alle Aspekte Handlung spricht und nicht von einer Wettbewerbshand- dieses Themas gemeinsam beraten und im Interesse der lung. Das ist im Ergebnis nachvollziehbar und rechtspo- Verbraucher und ihrer Rechtssicherheit rasch etwas aus litisch vertretbar. einem Guss beschließen. Es gibt jedoch auch Punkte in der Novellierung zum Noch in einem anderen Punkt weicht der Entwurf der Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, die sich leider Bundesregierung zum Umsetzungsgesetz von der EU- nicht an der Richtlinie orientieren. Dazu gehört auch die Richtlinie ab. Dies betrifft den Anhang zum § 3 Abs. 3 im Gesetzentwurf aufgenommene Vorschrift zur uner- UWG, in dem es um geschäftliche Handlungen geht, die laubten Telefonwerbung. stets unzulässig sind. § 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG-E sieht nun vor, dass Telefon- Er spricht mit Sicherheit einiges für die Ansicht der werbung verboten werden soll, wenn der Verbraucher Bundesregierung, dass die Neuordnung des Kataloges in dazu nicht seine ausdrückliche Einwilligung erteilt hat. sich schlüssig ist. Das will auch niemand in Abrede stel- Das ist zwar in der Sache begrüßenswert, aber kein gutes len, gleichwohl aber ist das Argument des Bundesrates Beispiel systematischer Gesetzgebungsarbeit. Denn dies ernst zu nehmen. Hält man sich hier an die Nummern- greift einem zeitlich fast parallelen Gesetz vor, welches folge der Richtlinie, erhöht man die Vergleichbarkeit na- erst letzten Freitag durch den Bundesrat gegangen ist. Es tionaler Vorschriften mit dem vorgegebenen Richtlinien- handelt sich dabei um den Gesetzentwurf zur Bekämp- text. Dies sorgt sicherlich für mehr Transparenz, da der fung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung Bürger vergleichen kann, wie die Umsetzung ins natio- des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsfor- nale Recht erfolgt ist Daher kann ich der Forderung des men. In diesem Zusammenhang wird auch eine Ände- Bundesrates einiges an Sympathie abgewinnen und halte rung des § 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG vorgeschlagen, wobei sie für durchaus erwägenswert. die Ansichten von Bundesregierung und Bundesrat aus- einandergehen. Insgesamt bleibt abschließend festzuhalten, dass die Bundesregierung einen sehr ordentlichen Gesetzentwurf (B) Bislang wurde diese Vorschrift von den Gerichten so vorgelegt hat. Er bewegt sich dicht am Richtlinientext (D) ausgelegt, dass eine Einwilligung schon dann angenom- und erfüllt daher fast vollständig unser politisches Ziel men wird, wenn sie durch schlüssiges Verhalten des Ver- einer Eins-zu-eins-Umsetzung. An der einen oder ande- brauchers erfolgt. Hier hat sich eine Missbrauchslücke ren Stelle mögen wir ihn noch zu verbessern haben. aufgetan, die mit dem Gesetzentwurf gegen unerlaubte Aber mit etwas guten Willen auf allen Seiten des Hauses Telefonwerbung geschlossen werden soll. Während der werden wir zügig zum Abschluss kommen können. Bund vorschlägt, eine konkludente Einwilligung nicht mehr ausreichen zu lassen, sondern eine ausdrückliche Einwilligung bei einem Werbeanruf vorliegen muss, Dirk Manzewski (SPD): Wir debattieren hier heute schlagen die Länder einen anderen Weg vor. Sie wollen in erster Lesung die UWG-Novelle. Mit diesem Gesetz sogar ein schriftliches Einverständnis des Verbrauchers setzen wir nicht nur die entsprechende EU-Richtlinie voraussetzen, damit ein Unternehmen bei einem poten- endgültig um. Wir bauen auch weiter das hohe Verbrau- tiellen Kunden für seine Waren oder Dienstleistungen cherschutzniveau im Wettbewerbsrecht weiter aus und werben kann. führen damit die Politik der letzten Reform des UWG aus dem Jahre 2004 fort. Bei dieser Reform im Jahre Der § 7 UWG ist durchaus für das Gesetzesvorhaben 2004 hatten wir schon im Vorgriff auf die damals noch gegen unerlaubte Telefonwerbung zentral. Daher halte zu erwartende EU-Richtlinie bereits viel von dem umge- ich es nicht für besonders glücklich, ihn in diesem Ge- setzt, was sich dann letztendlich in der EU-Richtlinie setzentwurf, der nur der Richtlinienanpassung dient, be- auch wiedergefunden hat. Insofern ist der Umsetzungs- reits einzufügen bzw. zu ändern und damit auf das bedarf bei uns nicht mehr so hoch, was es leichter macht, bevorstehende Gesetzgebungsverfahren gegen Telefon- da die Richtlinie den nationalen Parlamenten bei der werbung vorzugreifen. Wir sind im Rechtsausschuss des Umsetzung kaum noch Spielraum lässt. Durch das jetzt Deutschen Bundestages gut beraten, beide Gesetzesvor- hier diskutierte Gesetz wird deshalb aber nicht nur ein schläge gemeinsam zu beraten. Wenn sich Bundesregie- weiterer wichtiger Beitrag zur Stärkung des europäi- rung und Bundesrat in dieser Frage nicht einigen kön- schen Binnenmarkts geleistet. Vor allem den Verbrau- nen, werden wir das gerne im Bundestag für beide Seiten cherinnen und Verbrauchern wird hierdurch mehr übernehmen! Rechtssicherheit gegeben. Verhindern werden wir auf jeden Fall das groteske Er- Stärkung des europäischen Binnenmarktes und der gebnis, dass der § 7 Abs. 2 UWG innerhalb kürzester Verbraucherrechte, das passt hier beides zusammen, und Zeit zweimal geärgert werden würde. Die Halbwertszeit das ist so, weil die Verbraucher den europäischen Bin- unserer Gesetze darf sich nicht in Wochen bemessen! nenmarkt nur noch verstärkter annehmen werden, wenn 19224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) sie keine Angst mehr vor ihm haben. Diese Angst wer- Ziel einer Deregulierung und europaverträglichen Re- (C) den wir ihnen nur nehmen, wenn es uns gelingt hier form des Lauterkeitsrechts beschlossen wurde. Seit ei- Rechtssicherheit schaffen. Die UWG-Novelle leistet nem Monat liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung hierzu einen wesentlichen Beitrag, da sie zu dieser vor. In der umzusetzenden Richtlinie – RL 2005/29/ Rechtssicherheit vor allem durch Rechtsvereinheitli- EG – ist vorgesehen, dass diese bis zum 12. Juni 2007 chung beitragen wird. Das heißt letztendlich, dass die umzusetzen war. Dass der Gesetzentwurf dem Deut- Verbraucher einerseits im Ausland oder auf einer auslän- schen Bundestag endlich vorliegt, ist erfreulich; denn die dischen Webseite die Vorteile des europäischen Binnen- Regelungen zum UWG betreffen alle Bürgerinnen und marktes nutzen können, wie ein größeres Produktange- Bürger, die am Wettbewerb in unserer Gesellschaft teil- bot oder niedrigere Preise, andererseits dort ebenso vor nehmen, angefangen bei Zeitungswerbung bis zu Ver- unlauteren geschäftlichen Handlungen und betrügeri- steigerungen bei ebay. schen Unternehmen geschützt werden wie bei Käufen im Inland. Ich finde es deshalb richtig, dass das UWG um Der Zweck der genannten Richtlinie besteht in der eine sogenannte schwarze Liste ergänzt wird, also um ei- Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften nen Anhang mit 30 irreführenden und aggressiven ge- der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken. schäftlichen Handlungen, die unter allen Umständen Beim Einkauf im europäischen Ausland werden Ver- verboten sind. Dies wird dem Verbraucher nicht nur die braucher endlich ebenso geschützt wie im Inland; der Durchsetzung seiner Rechte erleichtern. Es wird auch zu einheitliche europäische Binnenmarkt rückt dadurch einer größeren Transparenz darüber führen, welches Ver- wieder ein Stück näher. Die Richtlinie gilt für alle Ge- halten ihm gegenüber erlaubt ist und welches eben nicht. schäftspraktiken, die Unternehmen mit Verbrauchern tä- tigen, nicht jedoch für Geschäftspraktiken zwischen Wir müssen uns allerdings darüber im Klaren sein, zwei Unternehmen. Das bisherige deutsche UWG kennt dass es gleichwohl Sachverhalte geben wird, die diese einen weiteren Anwendungsbereich, in dem auch Mitbe- Handlungen zumindest in ihrem genauen Wortlaut so werber, sonstige Marktteilnehmer sowie das Interesse nicht umfassen werden und auch ein Problem darin liegt, der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb dass bestimmte Verhalten nun zunächst immer gleich un- geschützt werden. Dieser Schutzbereich hat sich bewährt lauter sein werden und unsere Rechtsprechung gefordert und bleibt zu Recht erhalten. sein wird, durch die Frage nach der Erheblichkeit des Die deutlichste Änderung stellt die Einführung der Verstoßes durch dieses Verhalten korrigierend und aus- sogenannten schwarzen Liste dar. Durch sie werden Tat- füllend tätig zu sein. bestände, die unter allen Umständen als unlauter einzu- Gut ist auch, dass das UWG künftig ausdrücklich stufen sind, in einem Anhang zum UWG-E aufgezählt. Problematisch erscheint nur die Nr. 28 dieses Anhangs, (B) auch für das Verhalten der Unternehmen während und (D) nach Vertragsschluss gilt. Macht zum Beispiel der Ver- in der auf den Begriff „Kinder“ Bezug genommen wird. braucher gegenüber einem Versicherungsunternehmen Welche Altersgruppe unter diesen Begriff fällt, lassen mehrfach schriftlich einen Anspruch geltend und wird das Gesetz und auch die Richtlinie offen. Es ist deshalb auf dieses Schreiben systematisch nicht geantwortet, um notwendig, dass der Gesetzgeber der Wirtschaft eine De- den Verbraucher von der Ausübung seiner Rechte abzu- finition des Begriffs Kinder an die Hand gibt, die eine halten, so ist dieses Verhalten unzulässig. nachvollziehbare Altersangabe enthält. Der Verweis in der Gesetzesbegründung, dass die Definition der Recht- Zu begrüßen ist zudem, dass Unternehmen Verbrau- sprechung überlassen bleiben soll, ist nicht ausreichend. chern solche Informationen nicht vorenthalten dürfen, Zu groß wäre das Risiko unlauteren Verhaltens für alle die sie für ihre wirtschaftliche Entscheidung benötigen. Wettbewerbsteilnehmer. Wird zum Beispiel etwas verkauft, dessen Einbau, Ein- pflanzung oder Nutzung in Deutschland verboten ist, Ein zweiter Punkt, den die FDP für verbesserungs- und wurde hierüber nicht entsprechend informiert, so ist würdig hält, sind die Informationspflichten. Nach § 5 a dieses Verhalten unlauter. Abs. 3 UWG-E zählen dazu unter anderem die wesentli- chen Merkmale der Ware, die Identität des Unterneh- Ehrlicherweise muss darauf hingewiesen werden, mers, der Endpreis und die Zahlungs- und Lieferbedin- dass aufgrund unseres vorzüglichen Lauterkeitsrechts gungen. Im Interesse der Verbraucher sind diese vieles von dem, was ich eben angeführt habe, bereits Angaben grundsätzlich zu unterstützen. Der Gesetzent- Eingang in unsere Rechtsprechung gefunden hat und in wurf verweist aber darüber hinaus allgemein auf die im Deutschland auch dementsprechend bereits so gehand- gesamten Gemeinschaftsrecht festgelegten Informa- habt wird. Die Vorteile liegen daher insoweit eher in tionsanforderungen in Zusammenhang mit kommerzieller Klarstellungen und eben in den Anpassungen der EU- Kommunikation. Diese vorgeschlagene Regelung birgt Richtlinie im Ausland. für die deutsche Wirtschaft eine große Rechtsunsicher- heit. Insbesondere kleine und mittelständische Unterneh- Wir werden jedenfalls zügig an das Gesetzgebungs- men werden mit dieser Regelung stark belastet; denn für verfahren herangehen. Ich würde mich freuen, wenn Sie den Rechtsanwender ist in keiner Weise erkennbar, wel- sich hieran konstruktiv beteiligen würden. che Richtlinien mit der Formulierung gemeint sind. Ich stelle mir allen Ernstes die Frage, wer alle diese europa- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): rechtlichen Informationsanforderungen kennt. Die dem Erst vier Jahre ist es her, dass die Neufassung des Geset- Gesetzentwurf zugrunde liegende Richtlinie enthält in zes gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG, mit dem ihrem Anhang zumindest eine, wenn auch nicht ab- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19225

(A) schließende, Aufzählung. Über eine solche Aufzählung sen. Über ein Jahr sind Sie zu spät, Herr Glos, und dann (C) sollte auch im deutschen Recht nachgedacht werden, nutzen Sie nicht einmal die Ermessensspielräume, die wobei nur eine vollständige Aufzählung den Unterneh- die Richtlinie zugunsten der Verbraucherinnen und Ver- men wirklich helfen würde. Sollte der Gesetzgeber dazu braucher einräumt. Ja sogar die zwingenden Vorgaben nicht in der Lage sein, ist es bedenklich, die Rechtsunsi- der Richtlinie werden mit diesem Gesetzentwurf nicht cherheit den Unternehmen aufzubürden. In der Geset- erfüllt. zesbegründung wird darauf verwiesen, die Einzelheiten Die Richtlinie sieht eindeutig vor, dass die Mitglied- würden sich durch die Rechtsprechung und deren Ausle- staaten sicherstellen, dass geeignete und wirksame Mit- gung der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakte ergeben. tel zur Bekämpfung unlauterer geschäftlicher Handlun- Das ist nach Auffassung der FDP-Fraktion nicht ausrei- gen zu Verfügung stehen müssen. Die Erfahrungen chend. Gesetze sollten dann abstrakt sein, wenn Einzel- haben eindeutig gezeigt, dass die derzeitigen rechtlichen falllösungen in der Praxis besser gefunden werden kön- Regelungen in Deutschland zahnlos sind und die irrefüh- nen. Der Praxis wäre aber in diesem Fall besser renden und betrügerischen Geschäftspraktiken von Un- geholfen, wenn sie wüsste, was sie künftig unter Kosten- ternehmen nicht wirksam bekämpfen können. Solange risiko unterlassen soll und was nicht. den Unternehmen kein wirtschaftlicher Schaden droht, Im Gegensatz zum Referentenentwurf hat der vorlie- wenn sie die Kunden irreführen und betrügen, so lange gende Gesetzentwurf zahlreiche Änderungen erfahren. wird sich an ihren Methoden nichts ändern – das liegt Insgesamt ist der Wortlaut des Gesetzentwurfes viel nä- doch auf der Hand. her an den Richtlinientext angepasst worden. Von der Das Erste wäre deshalb, den Unternehmen ihren Ge- grundsätzlich richtigen Idee einer möglichst schlanken winn, den sie durch solche sittenwidrige Praktiken er- Umsetzung hat sich die Bundesregierung damit bedauer- zielt haben, zu entziehen. Doch auch nach der Novelle licherweise ein großes Stück entfernt. So wird der zen- bleibt die Beweislast bei den Verbraucherschutzverbän- trale Begriff der Wettbewerbshandlung durch den Be- den. Sie müssen weiterhin nachweisen, dass die Unter- griff der geschäftlichen Handlung ersetzt. Der An- nehmen vorsätzlich gehandelt haben. Beweisen Sie das wendungsbereich des UWG würde sich dadurch be- mal! Bisher kommen die Unternehmen jedenfalls in der trächtlich vergrößern. Was das für die Praxis bedeuten Regel vor den Gerichten ganz gut damit durch, dass sie würde, wird noch in einer Expertenanhörung geklärt sich darauf berufen, dass es sich um einen Irrtum, ein werden müssen. Missverständnis oder bloße Fahrlässigkeit gehandelt Dass sich mit diesem Gesetzentwurf nun endlich auch habe. Das heißt, sie dürfen die Gewinne aus ihren unlau- etwas in dem Bereich Telefonwerbung bewegt, wird von teren Praktiken behalten. Das wirkt doch geradezu wie ein Anreiz, damit weiterzumachen. (B) der FDP-Bundestagsfraktion unterstützt. Die FDP-Bun- (D) destagsfraktion hat zu diesem Thema bereits im März Selbst wenn ein Verbraucherverband eine Unterlas- 2008 mit einem eigenen Antrag – Bundestagsdrucksache sungsklage gewinnt, bewirkt dies nur, dass dieses eine 16/8544 – Stellung bezogen. Darin macht die FDP-Frak- Unternehmen seine irreführende Werbung in genau der- tion klar, dass es zur Lösung des Problems mehr bedarf selben Form nicht mehr weiterführen darf. Ändert dieses als einer Änderung im UWG. Dazu zählt die Verpflich- Unternehmen seine Werbung nur ein kleines bisschen, tung zur Rufnummernanzeige, die Verwendung einer muss eine erneute Unterlassungsklage eingereicht wer- einheitlichen Vorwahl zur Identifizierung, die Auswei- den. Andere Unternehmen sind von dem Gerichtsurteil tung des Widerrufsrechts und die Verpflichtung neuer gar nicht betroffen. Dass dieVerbraucherverbände im Telekommunikationsanbieter, dem bisherigen Telekom- diesem „Hase und Igel“-Spiel nur der Igel sein können, munikationsanbieter den Nachweis einer Kündigung liegt auf der Hand. Außerdem wirkt die Unterlassungs- bzw. Bevollmächtigung zur Kündigung vorzulegen. klage nur in die Zukunft. Das heißt, Verträge, die in der Vergangenheit geschlossen wurden, bleiben bestehen, Von Verbraucherschutzseite werden weitere Forde- mit allen Pflichten für den Kunden, auch wenn er belo- rungen vorgetragen, die in das vorliegende Gesetzesvor- gen und in die Irre geführt wurde. Und daran ändern Sie haben aufgenommen werden sollen. Dazu zählt unter an- nichts. derem die Ausdehnung der Gewinnabschöpfung. Das im UWG für die Gewinnabschöpfung vorgesehene Vor- Zur Telefonwerbung. Das ist ein wirklich großes Är- satzerfordernis sollte beibehalten werden. Die Gewinn- gernis, das schon viele Menschen teuer zu stehen ge- abschöpfung stellt eine Ausnahme im deutschen Recht kommen ist. Besonders ältere Menschen sind solchen dar; denn mit dieser Norm erhält das Zivilrecht eine Praktiken oft hilflos ausgeliefert. Hier führen Sie zwar quasi strafende Funktion. Aus diesem Grunde müssen Verbesserungen ein. Aber das einfache Mittel, das end- auf der Tatbestandsebene strenge Maßstäbe angelegt lich die Abzocke über Telefon stoppen würde, ergreifen werden. Sie wieder nicht. Wir fordern – übrigens gemeinsam mit Verbraucherschutzverbänden und der Verbraucher- schutzministerkonferenz –, dass ein Vertrag, der am Te- Ulla Lötzer (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden lefon scheinbar abgeschlossen worden ist, erst dann Gesetzentwurf wird sich der Verbraucherschutz in wirksam ist, wenn der Kunde ihn schriftlich bestätigt. Deutschland verbessern. Dies ist jedoch nicht der Erfolg einer guten Verbraucherschutzpolitik der Bundesregie- Die EU-Richtlinie hat zum Ziel, den Schutz für Ver- rung. Ganz im Gegenteil. Bereits im Juni 2007 hätte die braucherinnen und Verbraucher zu stärken; Sie schützen EU-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt sein müs- mit Ihrem Gesetzentwurf soweit wie möglich die Unter- 19226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) nehmen vor den Verbrauchern. Da ist der Titel des Ge- schen Verbraucherinnen und Verbraucher auch einen (C) setzes Programm. Eigentlich müsste es „Gesetz gegen verbesserten Schutz gegen unlautere Geschäftspraktiken unlautere Geschäftspraktiken“ heißen und im Verbrau- bieten. Deshalb setzten wir uns im weiteren parlamenta- cherministerium angesiedelt sein. Dann gäbe es viel- rischen Verfahren dafür ein, dass weitergehende Schutz- leicht eine größere Chance, dass der dringend notwen- vorschriften in das Gesetz aufgenommen werden. dige Schutz der Verbraucherinnen vor aggressiven, irreführenden und betrügerischen Geschäftspraktiken Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär beim Bun- besser umgesetzt würde. desminister der Justiz: Das deutsche Lauterkeitsrecht wird zunehmend von europäischen Einflüssen geprägt. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deshalb ist auch das Gesetz gegen den unlauteren Wett- Heute steht erneut eine Änderung des Gesetzes gegen bewerb – UWG – vor vier Jahren grundlegend reformiert den unlauteren Wettbewerb zur Debatte. Mit dieser Re- worden. Dies geschah bereits in Erwartung der Richtli- form soll die EU-Richtlinie über unlautere Geschäfts- nie des Europäischen Parlaments und des Rates über un- praktiken umgesetzt werden. Verbraucherinnen und Ver- lautere Geschäftspraktiken, die am 11. Mai 2005 dann braucher sollen damit besser vor unlauterem Verhalten auch erlassen worden ist. von Unternehmen geschützt werden. Das begrüßen wir In zahlreichen Punkten ist die Richtlinie komplexer ausdrücklich. Bereits bei der Reform des Gesetzes gegen und detaillierter ausgefallen als erwartet. Dies muss nun unlauteren Wettbewerb aus dem Jahr 2004 hat die grüne durch eine weitere Novellierung des UWG nachvollzo- Bundestagsfraktion maßgeblich zu einem verbesserten gen werden. Es geht hier nicht um grundlegende Ände- Verbraucherschutz beigetragen. Erstmalig sind durch die rungen, wohl aber um zahlreiche Neuerungen im Detail. damalige Reform Vorschriften zum Schutz der Verbrau- cherinnen und Verbraucher in das UWG aufgenommen Unser Ziel bleibt es, keine unnötige Bürokratie zu worden. schaffen. Auf der anderen Seite bedarf es aber einer voll- ständigen und transparenten Umsetzung. Die Richtlinie Die jetzt von der Bundesregierung vorgeschlagenen sieht eine vollständige Rechtsangleichung – eine soge- Änderungen des Gesetzes gehen uns aber nicht weit ge- nannte Vollharmonisierung – der innerstaatlichen Rechts- nug. Defizite sehen wir vor allem bei den Sanktionsmög- ordnungen in der Europäischen Union vor, soweit es um lichkeiten gemäß Art. 13 der EU-Richtlinie. Denn nach den Schutz der Verbraucher vor unlauterem Verhalten wie vor kann die Möglichkeit zur Gewinnabschöpfung von Unternehmen geht. nicht effektiv umgesetzt werden. Es können zwar Ge- winne von Unternehmen abgeschöpft werden, die durch II. (B) unlauteres Verhalten erlangt wurden. Aber dazu muss (D) den Unternehmen zunächst nachgewiesen werden, dass Um der Systematik des deutschen Rechts gegen den sie auch vorsätzlich gehandelt haben. Das ist in der Pra- unlauteren Wettbewerb Rechnung zu tragen, macht der xis kaum realisierbar. Der Nachweis einer „grob fahrläs- Gesetzentwurf von einer wichtigen Gestaltungsmöglich- sigen Zuwiderhandlung“ der Unternehmen muss deshalb keit Gebrauch, die sich aus dem beschränkten Anwen- ausreichen, um Gewinne abschöpfen zu können. Darü- dungsbereich der Richtlinie ergibt. Diese ist nämlich auf ber hinaus sind Verbraucherinnen und Verbraucher noch das Verhältnis der Unternehmen zu Verbrauchern – busi- immer nicht effektiv gegen untergeschobene Verträge ness to consumer oder B to C bzw. B2C – beschränkt, und Abzocke am Telefon geschützt. Hier schafft auch während in Deutschland von jeher eine ganzheitliche der von der Bundesregierung lange verschleppte und im Betrachtungsweise maßgebend war. Nach unserem Ver- Juli 2008 endlich vorgelegte Gesetzentwurf zur Be- ständnis sind marktbezogene Lauterkeitsstandards im kämpfung unerlaubter Telefonwerbung keine Abhilfe. Allgemeinen unteilbar, das heißt sie gelten auch für den Vielmehr sind wirksame Sanktionen gegen rechtswidrig Mitbewerberschutz, business to business oder B to B vorgehende Unternehmen erforderlich. Bündnis 90/Die bzw. B2B. Dass das Wettbewerbsgeschehen insgesamt Grünen fordern deshalb schon lange eine schriftliche Be- „lauter“ zu sein hat, ist eine gute Tradition des UWG, die stätigung von Verträgen, die vermeintlich am Telefon wir beibehalten wollen. abgeschlossen wurden, damit niemand einen Vertrag un- tergeschoben bekommt, den er gar nicht haben wollte. Aus Sicht der Bundesregierung wäre es sogar wün- Also: Ohne Unterschrift kein Vertrag – das ist einfach schenswert gewesen, wenn das Lauterkeitsrecht europa- und schützt die Verbraucherinnen und Verbraucher ef- weit für Verbraucher und Mitbewerber harmonisiert fektiv vor Abzocke. worden wäre. Diesem Anliegen, das Deutschland schon seit Jahrzehnten verfolgt, hat sich die Europäische Kom- Ein weiterer Kritikpunkt am vorliegenden Entwurf mission leider stets verschlossen. ist, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher keinen Anspruch darauf haben, dass sie sich von Verträgen, die durch wettbewerbswidriges Verhalten zustande kamen, Wir können es jedenfalls besser. Deshalb wird die be- auch wieder lösen können. Wir fordern deshalb ein währte „Schutzzwecktrias“ des UWG, die dem Schutz Recht auf Vertragsauflösung nach festgestellter Wettbe- der Mitbewerber, der Verbraucher und auch bestimmter werbswidrigkeit. Allgemeininteressen dient, beibehalten. Dass das UWG weiterhin sowohl für B to B als auch für B to C gilt, Wir stehen für eine Reform des unlauteren Wettbe- schließt Differenzierungen im Einzelfall nicht aus. Be- werbsrechts ein. Aber die Reform muss für die deut- stimmte Vorschriften, die im Interesse des Verbraucher- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19227

(A) schutzes besonders streng ausgefallen sind, kommen ge- Denn aufgrund des EU-weit einheitlichen Rechtsrah- (C) genüber Geschäftsleuten nicht zur Anwendung. mens können sie nun mit ein und demselben Marketing- konzept, durch das sie bisher Kunden in ihrem Her- III. kunftsland angesprochen haben, gleich 450 Millionen Was aber bringt die Umsetzung der Richtlinie für den Verbraucher in der gesamten EU erreichen. Verbraucherschutz? Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen, wo- Ich meine, wir leisten mit dieser Umsetzung nicht nur rum es bei der Richtlinie und ihrer Umsetzung im Kern einen Beitrag zur Stärkung des europäischen Binnen- geht In erster Linie geht es darum, für alle 27 Mitglied- markts, sondern verbessern auch den Verbraucherschutz. staaten einen einheitlichen Rechtsrahmen zu schaffen. Nationale Traditionen können dabei naturgemäß nicht in Ein Vorteil für Verbraucher liegt darin, dass sie nun- vollem Umfang aufrechterhalten bleiben. Die bei uns zur mehr beim Einkauf im Ausland – sei es in einem Geschäft Umsetzung erlassenen Vorschriften sind die Richtschnur oder beim Einkauf über eine ausländische Website – vor für die Rechtsanwendung in Deutschland. Es müssen unlauteren geschäftlichen Handlungen und betrügeri- sich aber auch Verbraucher und Mitbewerber anderer schen Unternehmern genauso wie im Inland geschützt Mitgliedstaaten, die bezogen auf das hiesige Wettbe- werden. Das wird ihr Vertrauen in grenzüberschreitende werbsgeschehen geschäftliche Handlungen vornehmen Transaktionen stärken und ihnen damit eine bessere Nut- oder von ihnen betroffen sind, an diesem Gesetz orien- zung der Vorteile des Binnenmarkts – wie ein größeres tieren und es beachten. In diesem Sinne soll das novel- Produktangebot und niedrigere Preise – ermöglichen. lierte UWG in der gesamten EU als richtlinienkonforme Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass das UWG den Umsetzung europäischen Rechts wahrgenommen und Verbraucher künftig auch gegen unlautere geschäftliche respektiert werden. Handlungen während und nach Vertragsschluss schützt, ohne dass hiervon allerdings das deutsche Vertragsrecht betroffen wäre. Verbraucherinnen und Verbraucher wer- Anlage 15 den nun beispielsweise davor geschützt, dass Schreiben, Zu Protokoll gegebene Reden mit denen sie ihre Forderungen gegenüber Versicherun- gen geltend machen, systematisch nicht beantwortet zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur werden, um so die Geltendmachung ihrer Rechte fak- Neufas-sung des Raumordnungsgesetzes und tisch zu verhindern. zur Änderung anderer Vorschriften (GeROG) (Tagesordnungspunkt 27) Ferner wird ausdrücklich festgeschrieben, dass dem (B) Verbraucher solche Informationen nicht vorenthalten (D) werden dürfen, die dieser für eine geschäftliche Entschei- Enak Ferlemann (CDU/CSU): Mit der Föderalis- dung benötigt. Hier geht es um das Thema „Irreführung musreform I ist die Rahmengesetzgebungskompetenz durch Unterlassen“. Ein Katalog von Informationsanfor- des Bundes zur Raumordnung ganz entfallen. Die derungen schafft zukünftig Transparenz und Rechtssi- Raumordnung fällt jetzt in die konkurrierende Gesetzge- cherheit. bung. Darüber hinaus wird das UWG um eine „schwarze Das alte, aufgrund der Rahmengesetzgebung erlas- Liste“ mit 30 irreführenden und aggressiven geschäftli- sene Raumordnungsgesetz kann nicht mehr auf Dauer chen Handlungen ergänzt, die unter allen Umständen weiter gelten. Ich bin der Bundesregierung daher für ihr verboten sind. Diese absoluten Verbote werden es dem Bemühen sehr dankbar, das parlamentarische Verfahren Verbraucher erleichtern, seine Rechte zu erkennen und mit der Vorlage der Neufassung des Raumordnungsge- zu verteidigen. Denn bislang waren zahlreiche Fallgrup- setzes nun in Gang gesetzt zu haben. pen nur durch die Rechtsprechung als unlauter eingestuft Das Ziel der Regierungskoalition ist, das Gesetz zü- worden. Diese einschneidenden Verbote bleiben aber auf gig und konstruktiv zu beraten, damit es zum Jahres- geschäftliche Handlungen gegenüber Verbrauchern be- wechsel 2008/2009 verkündet werden und noch in dieser schränkt. Legislaturperiode in Kraft treten kann. Geschäftliche Handlungen, die nicht von der „schwar- Auf Grund der verfassungsrechtlichen Lage hat der zen Liste“ erfasst werden, unterliegen dem allgemeinen Bund nunmehr die Kompetenz, die Raumordnung in den Lauterkeitsgebot und müssen sich vor allem auch an der Ländern umfassend zu regeln. Allerdings sollen durch Generalklausel des UWG messen lassen. bundesrechtliche Vollregelungen nur die Bereiche der Weitere Verbesserungen des Verbraucherschutzes ent- Raumordnung geregelt werden, in denen eine bundes- hält der Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung uner- einheitliche Regelung aus fachlichen Gründen angezeigt laubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Ver- ist. Ansonsten soll gesetzgeberische Zurückhaltung zu- braucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen, den gunsten des Landesrechts geübt werden. das Bundeskabinett am 30. Juli 2008 beschlossen hat. Dort geht es allerdings nicht um die Umsetzung dieser Gesetzestechnisch betreten wir also Neuland. Denn Richtlinie. die Raumordnung wird in den neu geschaffenen Kompe- tenztyp der umfassenden Bundesgesetzgebung mit Ab- Die europaweite Vereinheitlichung des Lauterkeits- weichungsmöglichkeiten der Länder überführt. Meiner rechts macht sich auch für die Unternehmer bezahlt. Fraktion ist es wichtig, eine Balance zwischen der Rege- 19228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) lung weitgehender bundeseinheitlicher Standards und festgelegt werden. Diese sind dann für die nachfolgen- (C) der gesetzgeberischen Zurückhaltung des Bundes hin- den raumbedeutsamen Projekte bindend. sichtlich landesspezifischer Besonderheiten zu finden. In der Neufassung setzt die Bundesregierung Schwer- Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Beteiligten punkte. Insbesondere werden die gesetzlichen Grund- aufseiten des Bundes, dass mit den Ländern im Vorfeld sätze der Raumordnung überarbeitet, die Regelungen intensiv zusammengearbeitet worden ist und einige An- über die Planerhaltung genauer gefasst, die Regelungen liegen der Länder nach der Vorstellung des Entwurfs im über die Möglichkeiten des raumordnerischen Zusam- Frühjahr noch aufgegriffen worden sind. Wenn die Län- menwirkens von Regionen, Kommunen und Personen der wenig Anlass haben, ihren Spielraum für ergänzen- des Privatrechts und die informelle Planung erweitert, des Landesrecht zu nutzen, haben wir das Ziel, eine die Regelungen über den Planungs- und Koordinierungs- bundesweite Rechtseinheit im Raumordnungsrecht zu auftrag des Bundes geändert. Die EU-Richtlinie zur stra- schaffen, erreicht. tegischen Umweltprüfung wird im neuen Gesetz unmit- Ich bin daher froh über das Signal der Länder, grund- telbar und vollständig umgesetzt. Das hat sich auch beim sätzlich mit dem Gesetzentwurf im Konsens zu sein. Baugesetzbuch bewährt und als Erleichterung erwiesen. Aber klar geworden ist auch, dass noch Einwendungen Raumordnung muss vor allen Dingen eines sein, näm- der Länder im Raum stehen, über die wir im parlamenta- lich praktikabel und koordiniert, um aus vielen Einzel- rischen Verfahren reden werden. Denn Gegensätzlich- bausteinen ein sinnvolles Ganzes zu formen. Dafür, wel- keiten, so ergibt die Stellungnahme des Bundesrates, ha- che Bedeutung die Raumordnung hat, liefert der ben wir unter anderem gerade da, wo der Bund die Raumordnungsplan für die deutsche Ausschließliche Koordination übernehmen will. Betroffen sind das Flug- Wirtschaftszone (AWZ) nach § 18 des jetzigen ROG, der hafenkonzept, das Seehafenkonzept wie auch die im Ge- im Oktober in die Erörterung geht, aktuell ein gutes Bei- setzentwurf enthaltenen Veränderungen, die den spiel. Bundesverkehrswegeplan betreffen oder die Rohstoffla- gerstätten. Damit werden wir uns in den Ausschüssen zu Bei der AWZ handelt es sich um das Meeresgebiet befassen haben. seewärts des Küstenmeeres, also zwischen der 12-See- meilen-Zone bis maximal zur 200-Seemeilen-Zone. Auf Die Neufassung des Raumordnungsgesetzes muss vor diesem Teil des Meeres haben wir es zunehmend mit allem eins sein: zukunftsfähig. Denn wir brauchen es als Nutzungskonflikten zu tun. Hier müssen wir die Off- eine moderne Grundlage für eine effiziente und zu- shore-Windenergienutzung, den Meeresumweltschutz, kunftsfähige koordinierende Raumentwicklung in die herkömmliche Nutzung für Schifffahrt und Fischerei Deutschland. Mit der Neuordnung der Raumordnung koordinieren. (B) wollen wir verschiedene Aspekte in Einklang bringen. (D) Wir wissen, dass uns der demografische Wandel vor In der AWZ sind Ziele und Grundsätze der Raumord- große strukturverändernde Herausforderungen stellt. nung hinsichtlich der wirtschaftlichen und wissenschaft- Unsere Aufgabe ist es, vorausschauende Lösungen zu lichen Nutzung, der Gewährleistung der Sicherheit und finden, zum Beispiel für den Bevölkerungsrückgang. Leichtigkeit der Seeschifffahrt sowie zum Schutz der Aber auch die absehbaren Folgen des Klimawandels for- Meeresumwelt aufzustellen. Es müssen koordinierte dern uns heraus. Wir müssen unsere Ressourcen schonen Festlegungen für die einzelnen Nutzungen und Funktio- und Entwicklungspotenziale erkennen und nutzen. Wir nen Schifffahrt, Rohstoffgewinnung, Rohrleitungen und müssen zukunftsweisende Wirtschaft unterstützen. Wir Seekabel, wissenschaftliche Meeresforschung, Wind- müssen dafür sorgen, dass die Daseinsvorsorge gesichert enenergiegewinnung, Fischerei und Marikultur sowie bleibt. den Meeresschutz getroffen werden. Auch deshalb möchte ich ausdrücklich begrüßen, dass Alles hat seine Wichtigkeit und seine Berechtigung. wir in den anstehenden Ausschussberatungen einen Be- Aber nicht alles kann gleichzeitig an gleichem Ort statt- richt über das Planspiel erhalten werden, dass das Ge- finden. Durch die Raumordnung werden deshalb Vor- setzgebungsverfahren begleitet hat. An anderer Stelle, es ranggebiete geschaffen, damit Konflikte, die durch sich ging um das Baugesetzbuch, haben wir ebenfalls die ausschließende gleichzeitige Nutzungen entstehen und Praktikabilität des Gesetzes vor der Verabschiedung auf zum Nachteil würden, vermieden werden. diese Weise vorab überprüft. Das war ein ausgezeichne- tes Vorgehen, wie wir heute feststellen können, nachdem Für die Realisierung der klimapolitischen Ziele der seit einiger Zeit mit dem Baugesetzbuch erfolgreich ge- Bundesregierung braucht Deutschland die Offshore- arbeitet wird. Windenergie. Das heißt, mit der Raumordnung müssen wir der Windenergiebranche Möglichkeiten eröffnen, Worum geht es bei der Raumordnung? Sie soll für ei- dieses politische Ziel zu erreichen. nen Ausgleich der vielfältigen Ansprüche an den Raum sorgen, indem sie den Gesamtraum der Bundesrepublik Mir ist bekannt, dass die Unternehmen umfangreiche Deutschland und seine Teilräume durch das Aufstellen Planungen projektiert haben. Meine Erwartung an den zusammenfassender, übergeordneter Raumordnungs- Entwurf des Raumordnungsplanes AWZ für das Gebiet pläne und durch Abstimmung raumbedeutsamer Planun- der Nordsee ist deshalb, dass bei der Festlegung der Vor- gen und Maßnahmen entwickelt, ordnet und sichert. Mit ranggebiete mit politischem Weitblick vorgegangen den Raumordnungsplänen sollen die gesetzlichen wird. Die Branche braucht langfristige Zukunftsperspek- Grundsätze für ein bestimmtes Gebiet konkretisiert und tiven, damit die Investitionen sich lohnen. Vergessen wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19229

(A) auch eines nicht: diese Branche schafft viele neue Ar- Bedeutung nicht zu unterschätzen. Und selbstverständ- (C) beitsplätze. lich ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuwei- sen, dass die EU-Richtlinie zur strategischen Umwelt- Ich freue mich auf eine interessante Diskussion über prüfung im neuen Gesetz vollständig umgesetzt wird. die Neufassung des Raumordnungsgesetzes in den kom- Damit wird die Rechtsanwendung, wie schon beim Bau- menden Ausschusssitzungen. Es gibt genügend Aspekte, gesetzbuch, erleichtert. die eine lebendige Debatte erwarten lassen. Wichtig für die Regierungskoalition ist, dass wir den Gesetzentwurf Die Raumordnung hat die Aufgabe, für einen nach- zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes zügig bera- haltigen Ausgleich der vielfältigen ökonomischen, öko- ten, damit die Raumordnungsgesetzgebung am Jahres- logischen und sozialen Ansprüche an den Raum sorgen. ende verkündet werden kann. Dazu sind alle herzlich Sie ist damit die Basis einer nachhaltigen Infrastruktur- eingeladen. politik und damit gleichzeitig unverzichtbare Vorausset- zung für eine moderne Wirtschafts- und Gesellschafts- Petra Weis (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetzent- politik. Ich betone das deswegen an dieser Stelle wurf für die Neufassung des Raumordnungsrechts rea- ausdrücklich, um die besondere Bedeutung dieses ja kei- giert die Bundesregierung auf die 2006 in Kraft getre- neswegs „populären“, weil in der Öffentlichkeit manch- tene Föderalismusreform I. Der dort festgeschriebene mal geradezu unbekannten Themas, herauszustellen. Die Wegfall der Rahmengesetzgebungskompetenz hat zur Raumordnung ermöglicht somit also die unverzichtbare Folge, dass das Raumordnungsrecht in seiner bisherigen raumordnerische Abstimmung raumbedeutsamer Pla- Form reformiert werden muss. Die Raumordnung fällt nungen und Maßnahmen und die raumordnerische Zu- nun in die konkurrierende Gesetzgebung. Der Bund sammenarbeit der verschiedenen Ebenen und Akteure. braucht daher zukünftig nicht mehr nachzuweisen, dass Sie ermöglicht darüber hinaus die Entwicklung länder- ein Bundesgesetz erforderlich ist, die Länder haben ein übergreifender Standortkonzepte von nationaler und in- Abweichungsrecht. ternationaler Bedeutung, und sie tut das mit Blick auf wirtschaftliche Entwicklung und nachhaltige Mobilität Der Koalition ist es mit der Vorlage dieses Gesetzent- gleichermaßen. Sie tut es auch mit Blick auf eine koordi- wurfes für ein neues Raumordnungsrecht gelungen, den nierte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zur Anforderungen an eine zukunftsgerichtete Raumord- Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland unter nung in Deutschland gerecht zu werden. Um weiterhin Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele. Sie ist eine eine möglichst große bundesweite Einheitlichkeit im gesellschaftliche und politische Gemeinschaftsaufgabe, Raumordnungsrecht zu erhalten, gibt das neue Raum- und sie gelingt auch nur als solche. ordnungsgesetz den Ländern möglichst wenig Anlass (B) zur Abweichungsgesetzgebung. Die bewährten, von Um diesen zweifellos ambitionierten Anforderungen (D) Bund und Ländern gemeinsam getragenen Regelungen gerecht zu werden, muss die Raumordnung in Zukunft wurden weitgehend in das neue Gesetz überführt. Die von Anfang an und flexibel auf besondere Entwicklun- Länder haben weiterhin Spielraum für ergänzendes gen reagieren können. Dem trägt der vorliegende Ge- Landesrecht. Gleichzeitig berücksichtigt das künftige setzentwurf in besonderem Maße Rechnung. Raumordnungsgesetz neue Entwicklungen und nimmt Die Raumordnung in der Bundesrepublik ist und praktische Erfahrungen mit dem bisherigen Raumord- bleibt eine wichtige öffentliche Aufgabe mit einer lan- nungsrecht auf. gen Tradition. Ihre Bedeutung wird angesichts der be- Aus unserer Sicht ist es erforderlich, eine bundespoli- schriebenen Herausforderungen noch zunehmen. Nach tische Planung und Koordinierung mit Blick auf die neu wie vor gilt das Ziel der Raumordnungspolitik, den ein- entstandenen Herausforderungen an die Raumordnung zelnen Räumen und Regionen optimale Entwick- in einer globalisierten Welt herzustellen – den Klima- lungschancen zu ermöglichen. Dies gilt für die Ballungs- wandel und den Bevölkerungsrückgang möchte ich hier räume wie für die ländlichen Räume gleichermaßen. Ich nur beispielhaft anführen. Und so begrüßen wir es, dass bin mir sicher, dass die Neufassung des Raumordnungs- die „Grundsätze der Raumordnung“ überarbeitet und an gesetzes dazu in besonderer Weise beitragen wird. die aktuellen Leitbilder und Handlungsstrategien für die Abschließend bleibt mir noch der Hinweis, dass wir Raumentwicklung in der Bundesrepublik angepasst wer- die Ergebnisse des Planspiels, das den Gesetzentwurf den. auf seine Praxistauglichkeit hin überprüft hat, in die nun Was sind die herausragenden Ziele des Gesetzent- folgenden Ausschussberatungen mit einbeziehen wer- wurfs? Da sind neben dem schon erwähnten Klima- den. Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion. schutz und der Sicherung der Daseinsvorsorge vor dem Hintergrund einer rückläufigen Bevölkerungsentwick- Patrick Döring (FDP): In den zehn Jahren, die seit lung vor allem die Betonung der Innenentwicklung der der Verabschiedung des geltenden ROG vergangen sind, Städte und damit einhergehend die Reduzierung der Flä- ist nicht nur viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen, cheninanspruchnahme zu nennen. Ich erinnere in diesem sondern es haben sich auch in Deutschland viele Dinge Zusammenhang auch an unsere Diskussionen im Rah- verändert, die eine Anpassung des Raumordnungsrechts men der Novellierung des Baugesetzbuches. Aber natür- notwendig machen. Vor allem der demografische Wan- lich sind auch die interkommunale Zusammenarbeit del stellt uns in vielen Regionen Deutschlands vor He- – insbesondere zwischen Städten und ländlichem Raum – rausforderungen: Auf der einen Seite haben wir und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in ihrer schrumpfende und alternde Regionen in Ost wie West 19230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) – und auf der anderen Seite gibt es auch, oft in unmittel- Entwicklung zu ermöglichen und zu vereinfachen. Sie (C) barer Nähe, Wachstumsregionen mit ihren ganz eigenen dürfen nicht zu einer Aushebelung des bedarfsorientier- Problemen. Auch die Raumordnung muss auf solche ten Bundesverkehrswegeplans führen. Probleme reagieren. Hier liefert der vorliegende Gesetz- entwurf einige richtige Ansätze. Die Erhaltung dezentra- Sosehr ich die Schaffung von Raumordnungsplänen ler Siedlungsstrukturen etwa ist in Zukunft nicht mehr des Bundes und die Berücksichtigung des demografi- Grundsatz der Raumordnung. Damit wird es uns erleich- schen Wandels im Grundsatz begrüße – der hier vorlie- tert, die Zersiedlung ländlicher Räume und den Flächen- gende Gesetzentwurf kann dennoch in dieser Form nicht verbrauch zu reduzieren – und umgekehrt eine vorsich- die Zustimmung der FDP-Fraktion finden. Denn ich be- tige Stärkung lokaler Zentren vorzunehmen. Wohnen, fürchte, dass mit diesem Entwurf die Belange des Um- Arbeiten und Einkaufen an einem Ort – das ist nicht nur weltschutzes in einem Maße aufgewertet werden, das in aus Gründen des Klimaschutzes ein Zukunftskonzept, Zukunft die Infrastruktur- und Wirtschaftsentwicklung sondern auch ein Rezept, um insbesondere in sich ent- in Deutschland in erheblichem Maße einschränken und leerenden Räumen die Infrastruktur- und Lebenshal- behindern wird. tungskosten auf einem vertretbaren Niveau zu halten. Es Nun werden die Abgeordneten der Koalition wahr- ist daher richtig, wie hier geschehen, die Kooperation scheinlich darauf hinweisen, dass in diesem Gesetzent- von Regionen, die räumliche Konzentration der Sied- wurf die Belange der Wirtschaft erstmalig in einer ge- lungstätigkeit und den Vorrang der Nachverdichtung und sonderten Ziffer ausgewiesen werden. Das ist richtig und Entwicklung von Innenstädten zu Grundsätzen der an sich auch begrüßenswert. Doch komme ich nicht um- Raumordnung zu machen. hin, festzustellen, dass zugleich wichtige Elemente für Für zukunftsweisend halte ich auch das Vorhaben, eine positive Entwicklung unserer Wirtschafts- und In- dem Bund eine Zuständigkeit für bundesweite Raumord- frastrukturen fehlen – und auf der anderen Seite neue nungspläne zu geben. Damit können in Zukunft auch Tatbestände eingeführt werden, die in der Abwägung die großräumigere Bezüge einfacher als bisher angemessen Belange des Umweltschutzes in vielen Fällen nahezu un- überwindlich machen. berücksichtigt werden. Insbesondere die Anbindung von See- und Flughäfen, deren verkehrliche Wirkung in vie- Das gilt insbesondere für die von der Koalition gefor- len Fällen weit über eine Region oder ein Bundesland hi- derte Schaffung eines, ich zitiere, „großräumig übergrei- nausgeht, begrüße ich außerordentlich. Allerdings muss fenden, ökologisch wirksamen Freiraum-Verbundsys- darauf geachtet werden, dass dies in der Praxis nicht un- tems“. Die bestehenden Freiräume sollen dabei durch erwünschte Folgen hat, wie wir sie leider gerade bei den übergreifende Siedlungs- und weitere Fachplanung ge- Planungen für die Ausschließliche Wirtschaftszone (B) schützt und die weitere Zerschneidung freier Flächen (D) beobachten müssen. Dort liegt das Planungsrecht ja vermieden, die Flächeninanspruchnahme im Freiraum schon seit längerem beim Bund – der nun einen Entwurf begrenzt werden. Auch unabhängige Experten sehen für einen Raumordnungsplan vorlegt, der das Ende für dies nicht eben als einen Beitrag zur Deregulierung und die sich gerade entwickelnde Offshore-Windenergie be- Vereinfachung an. deuten könnte. Denn wie das so ist: Die Bürokratie hat an der Wirklichkeit vorbei geplant, sodass viele Areale, Auf der anderen Seite entfällt gegenüber dem alten in denen Windkraftanlagen geplant sind, demnächst au- Raumordnungsgesetz der Grundsatz, dass zur Verbesse- ßerhalb der Vorranggebiete liegen werden. rung der Standortbedingungen in erforderlichem Um- fang Flächen vorzuhalten, die wirtschaftsnahe Infra- Das spricht allerdings natürlich nur gegen die gegen- struktur auszubauen sowie die Attraktivität der Standorte wärtige Bundesregierung, die mal wieder das eine sagt zu erhöhen sind. Auch das bisherige Strukturbekenntnis und das andere tut, und nicht pauschal gegen die Schaf- zur bäuerlich strukturierten Land- und Forstwirtschaft fung einer solchen Bundeskompetenz. Wir sollten uns hat in dem vorliegenden Regierungsentwurf keinen Platz nur des Umstands gewahr sein, dass durch Raumord- mehr gefunden – ebenso wie der alte Grundsatz, dass nungspläne des Bundes bestehende Probleme nicht wirk- dem Wohnbedarf der Bevölkerung Rechnung zu tragen lich gelöst werden. Das Gesetz schafft nur einen Rah- ist. Es befriedigt mich nicht, dass es dafür jetzt heißt, in men, der durch die Bundesregierung und die Länder der Raumordnung sei dafür Sorge zu tragen sei, dass ausgefüllt werden muss. Städte und ländliche Räume ihre vielfältigen Aufgaben für die Gesellschaft erfüllen könnten. Nach dieser Logik Auch darf dies keinesfalls bedeuten, dass der Bund könnte man zugunsten dieses einen Satzes auf das ge- über seine Raumordnungspläne und Standortkonzepte samte Gesetz verzichten. quasi planwirtschaftliche Vorgaben für die Entwicklung einzelner See- oder Flughäfen entwickelt. Die Infra- Denn letztlich geht es bei diesem ganzen Unterfangen strukturentwicklung muss sich auch in Zukunft an den doch eben nur um das eine: dass unsere Städte und länd- tatsächlichen Bedürfnissen und nicht an politischen lichen Räumen ihre vielfältigen Aufgaben für die Gesell- Wünschen orientieren. Dies muss im Rahmen der Ge- schaft erfüllen können. Ein bisschen konkreter darf man setzgebung meines Erachtens eindeutig klargestellt wer- daher schon formulieren, was wir unter „vielfältigen den, um entsprechende – nicht gänzlich unberechtigte – Aufgaben“ verstehen, meine Damen und Herren in den Bedenken der Länder auszuräumen. Die Raumordnungs- Regierungsfraktionen! Mit solchen wohlklingenden, pläne des Bundes sollen dazu dienen, zentrale Verkehrs- aber inhaltsleeren Formulierungen brauchen wir jeden- achsen für die Zukunft zu definieren und ihre weitere falls gar nicht erst ein Gesetz zu machen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19231

(A) Überhaupt hätte ich mir ein wenig mehr Mut zur Be- nach eigener Darstellung im Zuge der Föderalismusre- (C) stimmtheit gewünscht. Die erwähnten „vielfältigen Auf- form geänderte Gesetzgebungskompetenzen. Dabei gaben“ sind zwar ein trauriger Höhepunkt – aber auch seien zum einen die „bewährten, von Bund und Ländern insgesamt sind die Formulierungen des Gesetzentwurfs, gemeinsam getragenen bisherigen Regelungen weitge- wie schon das alte Raumordnungsgesetz, hinreichend hend übernommen“ worden, und zum anderen sei in der unkonkret. Feste Handreichungen, wie einzelne Belange Gesetzesnovelle gleichzeitig „den praktischen Erfahrun- der Raumordnung und Landesplanung zu bewerten sind, gen mit dem bisherigen Raumordnungsgesetz“ Rech- vermisse ich auch in dieser Novelle völlig. Die Folge ist, nung getragen worden. Demnach dürfte uns offenbar ein dass die Behörden wieder von vorne damit beginnen nahezu perfekter Gesetzentwurf vorliegen, der bewährte können, im Trial-and-Error-Verfahren herauszufinden, Regelungen und praktische Erfahrungen miteinander welche Bewertungen und Abwägungen am Ende vor den verbindet. Nach dem bewährten Grundsatz gesunden Gerichten Bestand haben, ich befürchte, dass wir zumin- Menschenverstandes, das Alte und das Neue gründlich dest in der Anfangsphase daher keine Beschleunigung, zu prüfen und das Beste von Beidem zu behalten, sollte sondern im Gegenteil eine Verlangsamung der Planungs- die Raumordnungsgesetznovelle also gründlich geprüft verfahren erleben werden. werden – ob wirklich das Beste bewährter Regelungen und praktischer Erfahrungen in diese Neufassung einge- Um dies zu verhindern, könnte ich mir zum Beispiel flossen ist, wie es im Vortext zu dem eigentlichen Gesetz vorstellen, in einer Anlage zu dem Gesetz einen Krite- heißt. rienkatalog zu schaffen, der hier den Verwaltungen und Gerichten eine konkrete Orientierungshilfe gibt. Was für Insgesamt gesehen stellt sich der vorliegende Gesetz- die Umweltprüfung möglich ist, wäre ja vielleicht auch entwurf als ein Werk dar, das der Nachhaltigkeit der für das gesamte Verfahren vorstellbar. Raumentwicklung und der Kontinuität der Raumord- nung sowohl landesweit als auch regional angemessen In jedem Fall bin ich für jeden Versuch dankbar, der Raum gibt. den Bestimmungen dieses Gesetzes einen konkreteren Charakter verleiht. Aus Sicht der Linken geht es vor allem um drei wich- tige Fragen: Welchen raumordnerischen Spielraum ha- Eine weitere Vereinfachung und Beschleunigung des ben künftig die Länder, und wie flexibel können sie das Verfahrens wäre auch zu erreichen, indem man bei Gesetz für ergänzendes Landesrecht nutzen? Wie soll raumordnungsrelevanten Vorhaben im Rahmen des künftig mit natürlichen Ressourcen umgegangen wer- Raumordnungsgesetzes Fristen für die prüfenden Behör- den? Welche Möglichkeiten haben Vereine, Verbände den verankert. Auch das System von Umweltprüfung, und Bürger, sich früher als bisher an planerischen Über- Umweltbericht, landespflegerischem Begleitplan und legungen zu beteiligen, damit nicht immer schon alle (B) (D) grundstücksbezogenem Grünordnungsplan – man lasse Messen gesungen sind? Heute kommen sie oft erst sehr sich den Bürokratiesprech hier noch einmal fein auf der spät und oft zu spät zum Zuge. Zunge zergehen! – könnte man, wenn man wirklich wollte, durchaus weiter vereinfachen. Zumindest könnte Diese Passagen des Gesetzentwurfs lassen den Län- festgesetzt werden, dass das Ergebnis der Umweltprü- dern auch künftig Spielraum, ihre eigenen raumordneri- fung im Rahmen des Raumordnungsverfahrens für ein schen Vorstellungen zu verwirklichen und vom Bund ab- Projekt auch für alle nachfolgenden Verfahren Geltung weichende landesgesetzliche Regelungen zu treffen, hat – etwa bei einer Änderung des Flächennutzungs- ohne dass es dazu im Sinne einer möglichst großen bun- plans. desweiten Rechtseinheit viel Anlass geben sollte. Das gilt insbesondere für bisherige Regelungen zum Natur- Kurz und gut: Den großen Wurf haben Sie, meine Da- schutz, der auch künftig eine hohe Priorität behalten men und Herren auf den Regierungsbänken, in jedem muss. Fall verpasst. Im Gegenteil! Mit diesem Gesetzesvor- schlag gehen Sie zwar in einigen Punkten in die richtige Ein wichtiges Thema für die Raumordnung sind Richtung – doch auf der anderen Seite setzen Sie die „schrumpfende Regionen und Städte“, mit denen wir uns Prioritäten sehr einseitig für die Belange des Umwelt- in Zukunft noch weit mehr als bisher angenommen aus- schutzes. Dessen Bedeutung will ich keineswegs in Ab- einandersetzen müssen. Vor dem Hintergrund des demo- rede stellen. Doch auch in Zukunft muss die Raumord- grafischen Wandels ist in Deutschland – besonders in nung auch die Wirtschafts- und Infrastrukturentwicklung seinem östlichen Teil – ein weiterer Bevölkerungsrück- unserer Gesellschaft gewährleisten können. Denn nur gang zu erwarten. Zugleich wächst die Zahl der älteren dann wird aus einer Landschaft auch eine Heimat Menschen und ihrer Ansprüche an Wohnung und Versor- – wenn die Menschen dort Arbeit und Wohnung finden gung. Um adäquat auf diese zu erwartenden Veränderun- können. Dieser zentrale Aspekt der Raumordnung droht gen reagieren zu können, muss die Raumordnung für die in meinen Augen durch diese Gesetzesnovelle zu ver- einzelnen Länder flexible und damit durchaus unter- kümmern. Von daher sehe ich noch einigen Änderungs- schiedliche Lösungsansätze zulassen. Diesem Grundsatz bedarf in den kommenden Ausschusssitzungen, bevor trägt das neue Gesetz Rechnung. ich diesem Gesetz meine Zustimmung geben werde. Oberste Priorität in der Planung hat die Nachhaltig- keit. Es geht um das Schützen und Schonen natürlicher Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Hintergrund für den Ressourcen, damit die kommenden Generationen mög- jetzt von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzent- lichst unbelastet von Sünden der – aus ihrer Sicht – Ver- wurf zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes sind gangenheit leben können. Nachhaltigkeit bedeutet im 19232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) Kern das Wahrnehmen von Zukunftsverantwortung, und nehmen, wie es Bundesminister im (C) zwar ganz genau in dem Sinne wie es der „Vater der April dieses Jahres zur Eröffnung der Ministerkonferenz Nachhaltigkeit“, der sächsische Forstmann Carl von in Stuttgart sagte. Diesen richtigen Worten müssen die Carlowitz 1713 – also vor nunmehr fast 300 Jahren – in richtigen Taten folgen. Im Übrigen muss nicht jede seinem Werk Sylvicultura oeconomica, oder haußwirth- Straße, die einmal im Bundesverkehrswegeplan aufge- liche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden führt wird und für die theoretisch genügend Geld vor- Baum-Zucht formuliert hatte: handen wäre, tatsächlich auch gebaut werden. Wird derhalben die größte Kunst/Wissenschaft/ Ein wichtiger Aspekt der Novelle ist das frühzeitige Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen be- und aktive Einbinden der zentralen Akteure. Vereine, ruhen / wie eine sothane Conservation und Anbau Verbände und Bürger sind demnach nicht nur zu infor- des Holtzes anzustellen / daß es eine continuierliche mieren, sondern bereits zu einem frühen Zeitpunkt in die beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weiln Planungen miteinzubeziehen. Das hat zwei Vorteile: es eine unentberliche Sache ist / ohne welche das Zum einen wird mehr gedanklicher Reichtum gesichert. Land in seinem Esse nicht bleiben mag. Zum anderen wächst die Akzeptanz raumordnerischer Ideen und Entscheidungen. Das Wort „Esse“ steht in diesem Zitat im heutigen Sprachgebrauch für Wesen oder Dasein. Es bleibt eine Aufgabe der Zukunft, nicht nur gesetz- liche Grundlagen zu schaffen, sondern diese durchaus In diesem Zusammenhang ist auch anzumerken, dass positiven Absichten in praktische Politik umzuwandeln: ein vereinfachtes Raumordnungsverfahren nur dann Wie kann zum Beispiel der Bürgerwille bei komplexen möglich sein sollte, wenn keine erheblichen Umweltaus- Großvorhaben tatsächlich berücksichtigt werden? Wel- wirkungen zu erwarten sind und keine Pflicht zum che Instrumente für eine erfolgreiche Kommunikation Durchführen einer FFH-Verträglichkeitsprüfung entspre- gibt es bereits? Welche müssten entwickelt, ausprobiert chend dem Bundesnaturschutzgesetz besteht. Allerdings und weiterentwickelt werden? Es geht um nicht mehr, sollte immer die Balance zwischen zu viel und zu wenig aber auch nicht weniger als um die demokratischen Regelung gewahrt werden. Ob das mit dem neuen Ge- Rechte von Bürgerinnen und Bürgern sowie von Natur- setz gelingt, muss sich in der Praxis erweisen. In diesem schutzverbänden und Umweltschutzorganisationen. Es Zusammenhang sollte uns eine Einschätzung des Publi- geht insbesondere in Ostdeutschland darum, immer wie- zisten Wolfgang Kil zu denken geben: der den Ordnungsrahmen zu überprüfen, ob er denn genü- Um viele, vor allem regional wirkende Schrump- gend Kreativität und unternehmerischen Handlungsspiel- fungsprobleme offensiv als fantasieforderndes poli- raum zulässt. Auch daran ist die Zukunftsverantwortung tisches Projekt anzugehen, hat sich ein Hinderungs- der Raumordnung zu messen. (B) grund bislang als besonders hartnäckig erwiesen: (D) Das im deutschen Raumordnungsgesetz und abge- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die wandelt sogar im Grundgesetz fixierte Gebot zur Novellierung des Raumordnungsrechts steht seit langem Gewährleistung gleichartiger anstatt gleichwertiger an, einerseits formell, denn die Förderalismusreform er- Lebensbedingungen im ganzen Land. fordert eine Neufassung des Gesetzes, andererseits in- Ein weiteres sehr wichtiges Anliegen der Linken ist haltlich, denn das Gesetz ist verstaubt und bedarf einer das zugegebenermaßen schwierige Thema der „Flä- Modernisierung. Nach drei schwarz-roten Jahren befas- cheninanspruchnahme“ oder einfacher und deutlicher sen wir uns nun – kurz vor dem Ende der Legislatur- formuliert des Flächenverbrauchs. Wie aus einer aktuel- periode – mit der Neufassung des Raumordnungsgeset- len Antwort der Bundesregierung auf eine Große An- zes. Das zeigt auch, welchen geringen Stellenwert die frage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu Instru- Raumplanung für diese Bundesregierung hat. Offenbar menten zur Reduzierung des Flächenverbrauchs ist die Raumordnung für Schwarz-Rot ein ungeliebtes hervorgeht, soll der Flächenverbrauch in Deutschland Stiefkind. bis 2020 auf 30 Hektar pro Tag gesenkt werden. 2006 Zunächst das Erfreuliche. Richtig ist, dass aktuelle betrug er 113 Hektar pro Tag. 30 Hektar pro Tag wären Entwicklungen und sich daraus ableitende Handlungs- also schon eine deutliche Reduzierung, aber dennoch bedarfe im Gesetzentwurf berücksichtigt wurden. Die keineswegs ausreichend. Denn die wachsende oder zu- Raumplanung muss zum Klimaschutz beitragen; sie mindest nicht in genügendem Maße zurückgehende Zer- muss helfen, Energie zu sparen; sie muss auf die demo- siedelung hat laut Umweltbundesamt Konsequenzen für grafische Entwicklung reagieren, den fortschreitenden Klimaschutz und Ressourcenschonung: Mehr Siedlungs- Flächenverbrauch begrenzen, zum Lärmschutz beitra- und Verkehrsflächen bedeuteten mehr Gebäude, die zum gen. Ansätze für diese Zielrichtungen kann man im Ge- Beispiel gewartet, beheizt oder gekühlt werden müssten, setzentwurf finden. weitere Entfernungen verursachten mehr Verkehr und ein höheres Fahrzeugaufkommen. Das absehbare Ergeb- Wichtig ist auch, dass künftig Raumordnungspläne nis seien höhere Treibhausgasemissionen sowie ein hö- des Bundes möglich sind. Diese Regelung ist längst herer Energie- und Materialverbrauch, so das Umwelt- überfällig; denn in zahlreichen Fachgebieten planen die bundesamt. Das unterstreicht den Zusammenhang von Länder aneinander vorbei oder – schlimmer noch – kon- Raumordnung und Klimawandel. Es gilt auch hier, kurrieren miteinander, und das geht häufig auf Kosten rechtzeitig zu reagieren. Gerade die Raumordnungspoli- ihrer Haushalte. Insbesondere im Infrastrukturbereich ist tik hat im Sinne eines gesamtheitlichen Politikansatzes eine bundesweite Raumplanung dringend erforderlich; eine aktiv steuernde und koordinierende Rolle zu über- denn der Tellerrand, über den Landesregierungen bei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19233

(A) spielsweise bei Flughafenplanungen oder vielen überre- Folge der Umsetzung der Föderalismusreform I im Jahre (C) gionalen Fernverkehrsverbindungen blicken müssten, 2006 und vor dem Hintergrund der derzeitigen struktur- scheint häufig zu hoch. fördernden Herausforderungen, insbesondere hinsicht- lich des demografischen Wandels und des Klimawan- Die ohnehin notwendige Novellierung des Raumord- dels, soll das Raumordnungsgesetz neu gefasst werden. nungsgesetzes gibt die Möglichkeit zu zahlreichen wei- Im Zuge der Föderalismusreform wurde die Raumord- teren Klarstellungen und zeitgemäßen Regelungen. nung in den neu geschaffenen Kompetenztyp einer (um- Schlaglichtartig will ich Punkte benennen, bei denen ich fassenden) konkurrierenden Gesetzgebung mit Abwei- Änderungsbedarf sehe. chungsmöglichkeit der Länder überführt. Mit dem Da kann ich gleich bei der eben angesprochenen vorliegenden Gesetzentwurf zum Raumordnungsrecht Kompetenzzuweisung an Bund und Länder anknüpfen. wird somit gesetzgeberisches Neuland betreten. Um Keiner Bürgerin und keinem Bürger, der von raumbe- trotz des Abweichungsrechts der Länder die Rechtsein- deutsamen Maßnahmen betroffen ist, kann man erklären, heit möglichst zu wahren, zielt der Gesetzentwurf auf dass sich die Transparenz von Planungen nach Landes- eine Balance zwischen der Regelung weitgehender bun- zugehörigkeit richtet. Warum kann beispielsweise ein deseinheitlicher Standards und der gesetzgeberischen Verkehrsprojekt in einem Bundesland ein Raumord- Zurückhaltung des Bundes hinsichtlich landesspezifi- nungsverfahren erfordern und in einem anderen Bundes- scher Besonderheiten. land ein gleichartiges Vorhaben nicht? Oder warum kann Inhaltliche Schwerpunkte und Zielsetzungen der Ge- in einem Bundesland ein Raumordnungsverfahren mit setzesnovellierung sind: und im benachbarten Bundesland ohne Öffentlichkeits- beteiligung ablaufen? Die parallele Erarbeitung des Um- Erstens. Die bewährten Regelungen des geltenden weltgesetzbuches sollte Anlass sein, diese beiden Ge- Raumordnungsgesetzes werden übernommen. Dies gilt setze miteinander zu verzahnen. insbesondere für das klassische Instrument der Raum- ordnung, den Raumordnungsplan. Damit besteht auch Mir fehlen im Gesetzentwurf die Ziele der nationalen weiterhin die rechtliche Grundlage für eine effiziente Nachhaltigkeitsstrategie. Das Raumordnungsgesetz ist raumordnerische Steuerung von aktuell und zukünftig beispielsweise hervorragend als Grundlage für eine Re- duzierung des täglichen Landschaftsverbrauches in sensiblen raumwirksamen Projekten wie zum Beispiel Deutschland auf 30 Hektar geeignet. Ebenfalls vermisse Factory-Outlet-Centern oder Windenergieanlagen. ich in dem vorliegenden Gesetzentwurf die Konsequen- Zweitens. Praktischen Erfahrungen mit dem gelten- zen aus der Biodiversitätsstrategie. Warum werden bei- den Raumordnungsrecht wird Rechnung getragen. Stich- spielsweise nicht Biotopverbundsysteme – insbesondere worte sind hier Rechtsvereinfachung und Deregulierung. (B) das Netz Natura 2000 – im Gesetz als verbindliche Fest- (D) legungen in Raumordnungsplänen benannt? Drittens. Die gesetzlichen Grundsätze der Raumord- nung werden aktualisiert: Der demografische Wandel Der Vergangenheit muss die Aufgabenstellung der wird berücksichtig. Die interkommunale Zusammenar- Raumordnung angehören, „die räumlichen Vorausset- beit wird gestärkt. Die Erhaltung der Innenstädte wird zungen für die Aufsuchung und Gewinnung von stand- betont. Erstmalig wird der Schutz kritischer Infrastruktu- ortgebundenen Rohstoffen“ zu schaffen; vergleiche § 2 ren in das Raumordnungsgesetz aufgenommen. Die Abs. 2 Nr. 3. Mit solchen Regelungen unterstützt die Wiedernutzung von Flächen und die Reduzierung der Raumordnung das bürgerferne und umweltunverträgli- Flächeninanspruchnahme sind ebenfalls wichtige Anlie- che Bergrecht aus Kaiser- und Nazizeiten. Es wird Zeit, gen des neuen Gesetzes. Zudem werden die Erforder- dass sich die Bundesregierung von solchen undemokrati- nisse des Klimaschutzes berücksichtigt. Die bisherigen schen gesetzlichen Regelungen verabschiedet. Grundsätze für den ländlichen Raum sowie für die Land- Woran unser Planungsrecht im Allgemeinen krankt, und Forstwirtschaft werden in die Grundsätze für Raum- ist die mangelnde Transparenz. Ein wertvoller Schritt in strukturen, Infrastrukturen, Wirtschaft, Kulturlandschaf- Richtung Transparenz wäre die obligatorische Beteili- ten und Umwelt/Klimaschutz integriert. gung von Naturschutz- und Umweltverbänden bei der Viertens: Die Regelungen über die Planerhaltung Aufstellung von Raumordnungsplänen des Bundes. werden präzisiert. Dies ist ein Beitrag zur Rechtssicher- Sinnvoll wäre auch die Festlegung, dass diese Planwerke heit von Raumordnungsplänen. im Internet zur Verfügung gestellt werden. Ich begrüße, dass die Bundesregierung nun endlich Fünftens: Die Regelungen über den Planungs- und einen Entwurf eines Gesetzes zur Raumordnung vorlegt; Koordinierungsauftrag des Bundes werden ergänzt. Da- mir erscheint auch die Zielrichtung vieler Festlegungen mit kann den neuen Herausforderungen an die Raumord- richtig. Allerdings wünsche ich mir, dass die Bundesre- nung durch länderübergreifende und europäische Ent- gierung nicht so halbherzig ans Werk geht und dass das wicklungen begegnet werden. Bei der Raumordnung des zuständige Ministerium das Raumordnungsgesetz als Bundes sieht § 17 Abs. l des Gesetzes – gewissermaßen Chance für eine ressortübergreifende Planungsgrundlage als Service für die Länder – die Möglichkeit vor, die ge- begreift. In diesem Sinne wird sich meine Fraktion in setzlichen Grundsätze auch in Raumordnungsplänen zu den folgenden Beratungen einbringen. konkretisieren. Der nachfolgende Absatz 2 ermöglicht dem Bund, Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Raumordnungspläne als Beitrag für eine integrierte Ver- minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Als kehrsplanung aufzustellen, die den Bund binden sollen 19234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008

(A) und länderübergreifende Standortkonzepte für Häfen Der Gesetzentwurf wurde in enger Abstimmung mit (C) und Flughäfen als Grundlage für deren Anbindung, das den für die Raumordnung zuständigen Landesministe- heißt Erschließung mit Bundesverkehrswegen darstel- rien und den kommunalen Spitzenverbänden entwickelt. len. § 17 Abs. 3 stellt die gesetzliche Grundlage dar, um Zudem wird der Gesetzentwurf im Rahmen eines beglei- den auch im Integrierten Energie- und Klimaprogramm tenden Planspiels von sieben Landes- und Regionalpla- (IEKP) der Bundesregierung angesprochenen Plan zur nungen aus allen Teilen Deutschlands auf seine Praxis- Raumordnung in Nord- und Ostsee, in der sogenannten tauglichkeit, insbesondere hinsichtlich der Verzahnung ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands, aufzu- mit dem bestehenden Verfahrens- und Organisations- stellen. recht der Länder, überprüft.

(B) (D)

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