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Maerz Musik 2012 Programm

Maerz Musik 2012

Festival für aktuelle Musik 17. — 25. März 2012

Pole: 100 – 60

Vorwort Programm

4 — Matthias Osterwold 6 — Do 15. – So 18. März 2012, 20:00 Uhr 44 — Fr 23. März 2012, 17:00 Uhr Maerz Musik 2012 Radialsystem V Haus der Berliner Festspiele Pole: John Cage 100 – Wolfgang Rihm 60 Sasha Waltz / Mark Andre: gefaltet Alvin Lucier Dokumentarfilm

8 — Sa 17. März 2012, 19:00 Uhr 46 — Fr 23. März 2012, 20:00 Uhr Haus der Berliner Festspiele Haus der Berliner Festspiele Eröffnung MaerzMusik Sonic Arts ( Re ) Union John Cage / Joan La Barbara 52 — Sa 24. März 2012, 16:00 Uhr 12 — Sa 17. März 2012, 22:00 Uhr Sophienkirche Haus der Berliner Festspiele Wolfgang Rihm / Heinrich Schütz Sonic Arts Lounge: Musik für Shō Banshikichō / Cage / Ichiyanagi 54 — Sa 24. März 2012, 19:30 Uhr Radialsystem V 14 — So 18. März 2012, 11:00 Uhr Sergej Newski: Autland Radialsystem V DREAM Frühe Lieder & Klavierstücke 56 — So 25. März 2012, 11:00 Uhr von John Cage Botanischer Garten John Cage: Branches / Inlets 18 — So 18. März 2012, 16:00 Uhr Radialsystem V 58 — So 25. März 2012, 16:00 – 24:00 Uhr John Cage: Music for Piano Haus der Berliner Festspiele Dedicated – Music for Friends 20 — So 18. März 2012, 19:00 Uhr Konzerthaus Berlin John Cage: 103 und One¹¹ Symposium / Workshop / 22 — So 18. März 2012, 22:00 Uhr Ausstellungen / Aktion Haus der Berliner Festspiele Sonic Arts Lounge 64 — Mo 19. – Mi 21. März 2012 Tomomi Adachi Portrait Haus der Berliner Festspiele John Cage und die Folgen 24 — Mo 19., Sa 24., Sa 31. März 2012 Internationales Symposium Villa Elisabeth Marian Zazeela 66 — Mo 19. – Mi 21. + Fr. 23. März 2012 The Just Alap Raga Ensemble Haus der Berliner Festspiele in Dream House Hardware Hacking Workshop Installation 26 — Di 20. + Mi 21. März 2012, 17:30 Uhr Kammermusiksaal der Philharmonie 68 — 28. Januar – 9. April 2012 QuerKlang: Experimentelles Nationalgalerie im Komponieren in der Schule Hamburger Bahnhof Ryoji Ikeda: db 28 — Di 20. März 2012, 19:00 Uhr Komposition / Ausstellung Kammermusiksaal der Philharmonie Jennings / Young / Lucier / 70 — 20. März – 30. April 2012 Scodanibbio / Cage gelbe MUSIK Maryanne Amacher / John Cage 32 — Di 20. März 2012, 22:00 Uhr Berghain 72 — 30. März – 17. Juni 2012 Sonic Arts Lounge: Williams Mix + Akademie der Künste / Hanseatenweg John Cage und... Ausstellung 34 — Mi 21. März 2012, 19:00 Uhr Kammermusiksaal der Philharmonie 24 — 20. März – 1. April 2012 Brecht / Rihm / Tenney / Nunes 36 Villa Elisabeth La Monte Young Marian Zazeela 38 — Mi 21. März 2012, 22:00 Uhr Dream House Berghain Sonic Arts Lounge 74 — Di 20. + Mi 21. März 2012 Annie Gosfield Portrait Kammermusiksaal der Philharmonie Aktion Music Fund 40 — Do 22. März 2012, 19:00 Uhr »Spenden Sie ein Instrument« Philharmonie Wolfgang Rihm / / 76 — Biographien Christian Wolff 87 — Ur- und Erstaufführungen 42 — Do 22. März 2012, 22:00 Uhr Berghain 88 — Berliner Künstlerprogramm des DAAD Sonic Arts Lounge bei MaerzMusik zeitkratzer & Sharp & Column One 91 — Tickets / Spielorte

92 — Impressum

3 MaerzMusik 2012 MaerzMusik 2012 gleicht einer Versuchsan- zweier seiner letzten Werke; sie gehören in ordnung: mit den beiden Jubilaren John Cage die lange Reihe der »Number Pieces«: Pole: und Wolfgang Rihm stehen sich zwei künst- 103 für großes Orchester erklingt parallel zu John Cage 100 – Wolfgang Rihm 60 lerische Haltungen gegenüber, die in ihrer je dem von Henning Lohner gemeinsam mit eigenen emphatischen Radikalität kaum Cage gestalteten Film One11 – »a film with- gegensätzlicher gedacht werden können. Sie out subject«. lassen sich als Pole eines musikalischen Sicherlich eine Sensation ist der Kosmos der Gegenwart betrachten, der sich Konzertzyklus von La Monte Youngs The Just zwischen ihnen als vieldimensionales Span- Alap Raga Ensemble in der Lichtinstallation nungsfeld mit weitverzweigten schöpferischen Dream Light von Marian Zazeela. Dieses Spät- Kraftlinien und diversen › Ballungsräumen ‹ werk spiegelt die lebenslange Auseinander- aufbaut und stetig fortentwickelt, ohne doch setzung mit klassischer nordindischer Musik unter dem vermeintlich schützenden Dach und ist eine Hommage an Pandit Pran Nath, des › Anything Goes ‹-Pluralismus wirklich ver- den indischen Meistersänger und Lehrer von söhnt zu sein. La Monte Young. Young gilt als der eigent- John Cage hat den Musikbegriff liche Begründer der Minimal Music, der Mitte grundsätzlich neu gefasst und interdisziplinär der 1950er Jahre begann, mit sehr langen erweitert, indem er Zufallsoperationen, Tondauern und Zeitverläufen zu komponieren. »Unbestimmtheit« und Simultanität in den Der Konzertzyklus könnte eine letzte Gele- Kompositionsprozess und in die musika- genheit zu einer persönlichen Begegnung in lische Realisierung einführte, die Stille als Europa bieten, nachdem die charismatischen musikalische Substanz emanzipierte, er- Künstler seit mehr als zehn Jahren jegliche findungsreiche Mutationen und Präparationen Reisetätigkeit eingestellt hatten. des Instrumentalklangs vornahm und freie, Aufsehenerregend ist auch das Zusam- kalligraphische Notationsformen erfand. Die mentreffen von Robert Ashley, David Behrman, Befreiung der zu sich selbst kommenden Alvin Lucier und Gordon Mumma, die sich in Klänge war zugleich eine Einladung an den der Zeit von 1966 bis 1976 zur Sonic Arts Union Rezipienten zu einer aktiven, partnerschaft- zusammengeschlossen hatten und zu den lichen Rolle im Umgang mit dem Kunstwerk. wichtigsten experimentellen Komponisten im Cages bahnbrechende Arbeiten und seine Gefolge von John Cage und der New York reiche Textproduktion lösten ein künstleri- School gehören. Sie sind an einem ausge- sches Erdbeben mit weittragenden Folgen dehnten Konzertabend mit älteren und aus. Im Jahr seines 100. Geburtstags und 20. neueren Werken auch als Performer zu erleben. Todestags untersucht MaerzMusik in zahl- Das Arditti Streichquartett kombiniert reichen Konzerten und einem internationalen in seinem Konzert Cage mit La Monte Young, Symposium unter dem Stichwort »John Terry Jennings, Alvin Lucier und einem Werk Cage und die Folgen« Schaffen und Wirkung des leider im Januar 2012 viel zu früh dieses Jahrhundertkünstlers, der Gene- verstorbenen Komponisten und einzigartigen rationen von Komponisten, Musikern und Kontrabassisten Stefano Scodanibbio. Künstlern nachhaltig beeinflusst hat. Die spätnächtlichen Sonic Arts Loun- Wolfgang Rihm feiert im März 2012 ges im Berghain und im Haus der Berliner seinen 60. Geburtstag. Während John Cage Festspiele stellen jüngere Vertreter einer post- einen Musikbegriff prägte, bei dem sich cageanischen Strömung vor: Werner Dafel- das kompositorische Subjekt auf die – aller- decker und Valerio Tricoli bearbeiten das kurze, dings ingeniöse – Setzung von Regeln aus vielen Hundert Tonbandschnipseln beschränkt, aus der das musikalische Werk montierte Stück Williams Mix von John Cage zufallsbestimmt und anarchisch, gewisser- mit digitalen Mitteln, indem sie es auf der maßen ›objektiv‹ hervorgeht, reklamierte Rihm Zeitachse dehnen. Annie Gosfield und Tomomi für sich gegen den strengen Diskurs der Adachi, beide derzeit als Stipendiaten in Avantgarden der Nachkriegszeit ein Idiom Berlin lebend, sind Portraitkonzerte gewidmet. höchster Expressivität und Subjektivität. Neue Werke von Elliott Sharp und Column Sein Begriff der künstlerischen Freiheit zielt One für das Ensemble zeitkratzer werden ur- auf die unmittelbare Kraft der Klangima- aufgeführt. Der Shō-Spieler Naoyuki Manabe gination, die sich ungehindert von festen spielt traditionelle japanische Musik und Strategien und Konstruktionen entfaltet. ein Werk des Cage-Schülers Toshi Ichiyanagi Sie schlägt sich in einer fast unübersehbaren sowie, zusammen mit Marc Sabat, Cages Fülle von Kompositionen vielfältigster Art Two 4 und für Shō und Violine. nieder, die sich in ihrer Gesamtheit Schritt für Von Wolfgang Rihm sind Werke aus Schritt zu einer umfassenden künstlerischen frühester und jüngerer Zeit zu hören, unter Reflexion der Stile, Gattungen und Formtypen ihnen die Uraufführung des Jugendwerks in der europäischen Musikgeschichte fügen. Fragmenta passionis und die Deutsche Erst- Auch Rihm hat, nicht zuletzt durch seine Lehr- aufführung von Will Sound More Again, tätigkeit, eine große Zahl von Komponisten eines von MaerzMusik und Casa da Música nachhaltig inspiriert und geprägt. Porto gemeinsam beauftragten Werks. Im Joan La Barbara, die eng mit John Cage Konzert des SWR-Sinfonieorchesters aus zusammenarbeitete, eröffnet das Festival Baden-Baden und Freiburg und des Remix im frisch renovierten Haus der Berliner Fest- Ensemble aus Porto werden Rihms Stücke spiele mit einer Neuinszenierung seiner direkt konfrontiert mit Werken aus der emblematischen Song Books, ausgeführt von Sphäre »Cage and Beyond«. Im Konzert des ihrem New Yorker Ensemble Ne(x)tworks und RIAS-Kammerchors stehen die Motetten den Berliner Maulwerkern, und der Urauffüh- Rihms den Musikalischen Exequien von rung der Neufassung ihres eigenen Werks Heinrich Schütz gegenüber, wie überhaupt Persistence of Memory. Am nächsten Tag zeitgenössisches Komponieren im Kontrast folgt nach den Cage-Recitals von Natalia mit historischer Musik sich unter der Hand Pschenitsc­ hnikova und Alexej Lubimov sowie als thematischer Faden durch Teile des Sabine Liebner die simultane Aufführung Programms zieht. Mark Andre stellt in dem choreographischen Konzert gefaltet mit Jahren – angefangen mit John Cage selbst – Sasha Waltz & Guests eigene Kompositionen fast alle wichtigen Komponisten dieser neben Werke von Mozart. Sergej Newskis Strömung nach Berlin eingeladen. Ihre Spuren konzertantes Musiktheater Autland fußt auf sind im Berliner Musikleben allgegenwärtig. Strukturen eines 24-stimmigen Kanons von Eine tiefe Verbeugung und viele Glückwünsche Johannes Ockeghem, der auch in seiner gelten Ingrid Beirer, die seit zwanzig Jahren Originalgestalt erklingt. beim DAAD in Berlin die Musik vertritt und im Mit John Cages Branches für Pflanzen- Sommer 2012 in den Ruhestand geht. klänge und Inlets für große wassergefüllte Mit Volker Straebel habe ich in vielen Muscheln, aufgeführt im exotischen Kaktus- langen, immer anregenden und vergnüglichen und Sukkulentenhaus des Botanischen Gesprächsrunden den Schwerpunkt »John Gartens Dahlem, und mit einem vielgliedrigen Cage und die Folgen« geplant. Gemeinsam mit Programm hommageartiger Werke im Haus Julia H. Schröder kuratiert Straebel zudem der Berliner Festspiele schließt das Festival das internationale Symposium »Cage & Conse- ab: »Dedicated – Music for Friends« bietet quences«. Bei Rudolf Frisius, Dieter Schnebel, Musik und Performances von Dieter Schnebel, Frank Gertich und ein weiteres Mal Volker Philip Corner, Alvin Curran, Akio Suzuki, Straebel bedanke ich mich für ihre anregenden , Chris Mann, Nicolas Beiträge zum Essay-Teil der Programmbro- Collins, William Engelen und Junko Wada. schüre, der ebenso wie alle anderen Druck- sachen und Veröffentlichungen neu von Christian Riis Ruggaber / Studio CRR graphisch gestaltet wurde. Dem redaktionellen Team, Dank namentlich unserer Fachredakteurin Melanie Uerlings, dem bewährten Bernd Krüger und Als internationales Festival aktueller Musik der neuen Redaktionsleiterin der Berliner ist Maerz Musik eingebettet in ein dichtes Festspiele Christina Tilmann sei Dank für die Netz von Kontakten zu anderen Festivals, zu Aufbereitung der Texte und die Betreuung Veranstaltungsorten, öffentlichen Insti- der Programmbroschüre wie des Internetauf- tutionen, Stiftungen, Firmen und zu vielen tritts, ebenso allen Autoren und Übersetzern, einzelnen Persönlichkeiten. Zusammen Marit Magister für die Pressearbeit, die sie mit dem engagierten Einsatz der Kolleginnen kurzfristig mit Umsicht und Elan übernahm. und Kollegen bei den Berliner Festspielen Diese Namen stehen stellvertretend für die und der KBB ist dieses Netz wesentliche Grund- engagierte Leistung der gesamten Kommuni- lage für die erfolgreiche Vorbereitung und kationsabteilung einschließlich Marketing Durchführung des Festivals. Unmöglich ist es, und Karten­vertrieb. Dem technischen Team all diese Kräfte, die sich in unterschiedlich­ unter Leitung von Harald Frings danke ich ster Weise um das Festival verdient machen, ebenso wie allen Mitarbeitern in der Verwal- hier namentlich zu nennen. Ich möchte ihnen tung der KBB, die sich für die Belange von daher gemeinsam an dieser Stelle meinen MaerzMusik einsetzen. Schließlich fühle ich herzlichen und verbindlichen Dank sagen für mich dem seit vielen Jahren bewährten Rat und Tat, für gute Zusammenarbeit, Kernteam von MaerzMusik mit Ilse Müller für jegliche Förderung und Unterstützung. und Ina Steffan sehr verbunden, ebenso den Bei der 11. Ausgabe von MaerzMusik Praktikantinnen Marili Werle und Irene ist in besonderem Maße jenen Einrichtungen Lehmann, den Produktionsdramaturgen zu danken, ohne deren großzügige Unter- Vilém Wagner, Ingrid Buschmann und stützung die einigermaßen utopischen Projekte Karsten Neßler sowie allen anderen Mitar- des Festivals nicht zu verwirklichen wären: beitern und Helfern. der Kulturstiftung des Bundes, die den Kon- Dem Staatsminister für Kultur und zertzyklus mit La Monte Young und Marian Medien, Bernd Neumann, dem Aufsichtsrat Zazeela ermöglicht, der neben MaerzMusik der KBB und dem neuen Intendanten der auch zum ZKM Karlsruhe und zu Kunst im Berliner Festspiele, Thomas Oberender, bin Regenbogenstadl in Polling führt; dem Haupt- ich zutiefst verpflichtet für die ideelle und stadtkulturfonds, der maßgeblich die Rea- finanzielle Unterstützung, die sie dem lisation der Song Books mit Joan La Barbara Festival Maerz Musik entgegenbringen. Ich und die »Sonic Arts (Re) Union« unterstützt möchte die Gelegenheit nutzen, um mich an sowie die Aufführung von Sergej Newskis dieser Stelle bei Joachim Sartorius, der Autland. Zusammen mit der Schering Ende 2011 als Intendant ausgeschieden Stiftung ermöglicht er zudem das anspruchs- ist, für die viele Jahre währende vertrauens- volle Ausstellungsprojekt db von Ryoji volle und freundschaftliche Zusammen- Ikeda – eine Koproduktion von Freunde Guter arbeit von Herzen zu bedanken. Auf die Musik Berlin e.V., Nationalgalerie im kommenden Jahre mit Thomas Oberender Hamburger Bahnhof und Berliner Festspiele / ​ freue ich mich und wünsche ihm ein erfolg- MaerzMusik. Die Ernst von Siemens Musik- reiches Wirken und eine glückliche Hand. stiftung fördert das internationale Symposium Am Ende, aber doch an erster Stelle zu »John Cage und die Folgen«, The American steht der große Dank an die Künstlerinnen und Academy in Berlin das Porträtkonzert von Künstler, die unsere Einladung angenommen Annie Gosfield, das europäischen Netzwerk haben und mit ihren Beiträgen für MaerzMusik Réseau Varèse die Aufführung von ein ebenso kontrastreiches wie kontroverses, Wolfgang Rihms Cello­konzert Versuchung ein reiches und sinnliches Bild der Musik in der mit dem Remix Ensemble aus Porto. Der und für die Gegenwart zeichnen. gesamte Schwerpunkt »John Cage und die Verfolgen Sie mit Spannung, Neugierde Folgen« findet mit Förderung und in enger und Genuss, welche überraschenden und Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstler- anregenden Ergebnisse die musikalische Ver- programm des DAAD statt, dem ein ganz suchsanordnung erbringt! spezieller Dank gebührt. Das großartige Sti- pendienprogramm hat seit den 1960er Matthias Osterwold Vorspiel: Andre & Waltz & Mozart

Do 15. März – So 18. März 2012 Radialsystem V 20:00 Uhr Sasha Waltz / Mark Andre gefaltet Ein choreographisches Konzert ( 2012 ) DE 120’

Sasha Waltz, Regie · Choreographie · Bühne Mark Andre, Komposition Thomas Schenk, Bühne David Finn, Licht Beate Borrmann, Kostüme

Tanz Edivaldo Ernesto / Todd McQuade / Virgis Puodziunas / Zaratiana Randrianantenaina / Yael Schnell / Saju Hari / Judith Sánchez Ruíz / Sasa Queliz

Musiker Carolin Widmann, Violine / Guy Ben-Ziony, Viola / Nicolas Altstaedt, Violoncello Alexander Lonquich, Klavier Steffen Döring, Regieassistenz / Friederike Schulz, Musikalische Assistenz Davide Camplani, Repetition

Musik Wolfgang Amadeus Mozart Divertimento für Violine, Viola und Violoncello Es-Dur KV 563 ( 1788 ), 2. Satz: Adagio Sonate a-Moll für Klavier KV 310 ( 330d ) ( 1778 ), 3. Satz: Presto Sonate a-Moll, 1. Satz: Allegro Sonate e-Moll für Klavier und Violine KV 304 ( 300c ) ( 1778 ), 1. Satz: Allegro Adagio h-Moll für Klavier KV 540 ( 1788 ) Mark Andre aus: iv 2 für Violoncello ( 2007 ) iv 8 für Violine, Viola und Violoncello ( 2009/10 ) Wolfgang Amadeus Mozart Gigue G-Dur für Klavier KV 574 ( 1789 ) Divertimento, 1. Satz: Allegro Mark Andre aus: iv 1 für Klavier ( 2010 ) iv 11a für Klavier ( 2011 ) Wolfgang Amadeus Mozart Rondo a-Moll für Klavier KV 511 ( 1787 ) Quartett g-Moll für Violine, Viola, Violoncello und Klavier KV 478 ( 1785 ), 1. Satz: Allegro

Uraufführung 27. Januar 2012 Landestheater Salzburg / Mozartwoche 2012

Produktion Sasha Waltz & Guests in Koproduktion mit Stiftung Mozarteum Salzburg, Théâtre Royal de la Monnaie Brüssel und Berliner Festspiele / MaerzMusik. Unterstützt durch Radial Stiftung. Made in Radialsystem®. Sasha Waltz & Guests wird gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds und der Kulturverwaltung des Landes Berlin

Förderer und Partner Sasha Waltz / Mark Andre: gefaltet Eine »Faltung« bezeichnet in der elektronischen Musik ein Verfahren, das, grob Das choreographische Konzert gefaltet von vereinfacht, über akustische Impulse akustische Sasha Waltz und Mark Andre eröffnete im Antworten erzeugt. Sasha Waltz und Mark Januar 2012 die Mozartwoche in Salzburg. Andre erweitern dieses Prinzip für gefaltet Es ist die erste Zusammenarbeit des fran- zu einem Dialog zwischen Tänzern und zösischen Komponisten und der deutschen Musikern. Die Impulse und Resonanzen der Choreographin. Mit acht Tänzern und vier Körper im Raum entfalten und verdichten Instrumentalsolisten erforschen Sasha Waltz Zwischenräume und Schwellen, Leere und und Mark Andre gemeinsam die Wechsel- Distanz. Zustände, Klänge und Bewegungen wirkungen von klassischer und Neuer Musik, werden verändert, transformiert – gefaltet. von , Bewegung und Stille. Das musi- Sowohl auf der kompositorischen wie auch kalische Experimentierfeld bilden ausgewählte auf der choreographischen Ebene finden Werke von Wolfgang Amadeus Mozart und sich Themen und Variationen, Impulse und Kompositionen von Mark Andre. Impulsantworten, Motive, die fortgeführt,

6 weitergetragen oder abgebrochen werden. Von besonderer Wichtigkeit war der Die Gestalt eines Klangs und die Physis der Schaffensprozess des Stücks. Erstmals Bewegung prägen einander: Musiker und entstand die Musik während der tänzerischen Tänzer entwickeln gemeinsam und voneinan- Proben im Studio. Mark Andre entwickelte der inspiriert unterschiedliche akustische sie zusammen mit den Instrumentalsolisten und physische Qualitäten. Sie arbeiten mit und dem Ensemble um Sasha Waltz. Aus der Vorstellung von Schwerkraft, Dichte den gemeinsamen Improvisationen entstehen und Intensität. gleichzeitig Duette und Gruppenchoreogra- Es geht, sagen Sasha Waltz und Mark phien, die die Musiker und ihre Instrumente Andre, um existenzielle Zustände, um die in das Bühnengeschehen mit einbeziehen: Gegensätze von Präsenz und Absenz, um das Zum Teil sind die Instrumentalsolisten dort Verschwinden als etwas deutlich Wahr- ebenso präsent wie die Tänzer von Sasha nehmbares, um Raum, der sich bildet, um Waltz & Guests. Leere, die auffächert. Mark Andre spricht von Das Prinzip der »Faltung« ermöglicht einer »Problematik des Verschwindens als nicht nur den Dialog zwischen allen Beteilig­ Präsenz«, die für ihn im Begriff der » Faltung« ten, sondern ebenso eine Verschiebung der selbst mitschwingt und kontrastierende Ebenen: So werden Klänge körperlich, Bewe- Elemente erzeugt, die im Stück deutlich spür- gung musikalisch. bar werden: Impuls und Antwort, Stillstand Die Auseinandersetzung mit zeitge- und Bewegung, Stille und Klang, Tod und Leben. nössischen und klassischen Kompositionen

»Die Vision, die ich habe, ist, einen Gruppenkörper von Musikern und Tänzern zu kreieren. Wir werden mit der Idee von Zwischenräumen experimentieren, dem ›Zwischen‹ der Musik, dem ›Zwischen‹ der Töne.« Sasha Waltz, über ›gefaltet‹

Nebengeräusche, etwa das Rascheln bildet seit mehreren Jahren einen Schwer- der Kostüme oder das Aufeinanderprallen von punkt der künstlerischen Arbeit von Sasha Körpern beim Tanz, sind für Sasha Waltz Waltz. So sind neben der Beschäftigung und Mark Andre akustisches Material. So ist mit Schubert für Impromptus und den choreo- auch das Knarzen eines Geigenbogens der graphischen Opern Dido & Aeneas ( Henry Musik Mozarts zugehörig und wird in die Klang- Purcell ), Medea und Passion ( Pascal Dusapin ) ebene von gefaltet aufgenommen, als »Klang- sowie Matsukaze ( Toshio Hosokawa ) das situation« oder »Klanggestalt«. Deren Stück Jagden und Formen ( Zustand 2008 ) von Verebben, etwa durch radikale Verlangsamung, Wolfgang Rihm entstanden, das die zeitgenös- findet als »Klangruine« in die Komposition sische Konzertform in neuer Weise präsentiert. Eingang. Durch den Einbezug der Instrumental- Innerhalb der choreographischen Welt solisten in den Entstehungsprozess des Stücks von Sasha Waltz, von den Klangschatten und in die darstellerische Ebene bekommt und Klangruinen Mark Andres durchsetzt, das Zusammenspiel von Tanz und Musik in bekommt die Musik von Wolfgang Amadeus gefaltet eine neue Dimension innerhalb der Mozart eine eigene, ganz neue Gestalt. genreübergreifenden Arbeit von Sasha Waltz.

›gefaltet‹, Foto: Bernd Uhlig

7 MaerzMusik 2012 / Eröffnung John Cage und die Folgen Samstag, 17. März 2012 Haus der Berliner Festspiele 19:00 Uhr John Cage Song Books ( 1970 ) mit Concert for Piano and Orchestra ( 1958 ) Premiere der Neuproduktion 50’

Joan La Barbara, Künstlerische Leitung Volker Straebel, Szenische Einrichtung Harald Frings, Licht Martin Supper, Klangregie Thomas Koch, Assistenz Klangregie

Pause Joan La Barbara Persistence of Memory für Kammerensemble, ›sonic atmosphere‹ und Elektronik, mit einem Film von Aleksandar Kostic ( 2012 ) UA 30’

Ne( x )tworks Joan La Barbara, Stimme / Stephen Gosling, Klavier / Ariana Kim, Violine Yves Dharamraj, Violoncello / Christopher McIntyre, Posaune Miguel Frasconi, Glas­instrumente · Computer / Shelley Burgon, Harfe · Computer

Maulwerker Michael Hirsch / Ariane Jeßulat / Henrik Kairies / Christian Kesten Katarina Rasinski / Steffi Weismann

In Zusammenarbeit mit Berliner Künstlerprogramm des DAAD und The American Academy in Berlin. Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds

John Cage & Consequences / Artist Talk

Donnerstag, 1. März 2012 The American Academy in Berlin 19:00 Uhr Joan La Barbara On Beyond Mentoring – Answering Questions with Questions in englischer Sprache

The American Academy in Berlin in Zusammenarbeit mit Berliner Festspiele / MaerzMusik

Joan La Barbara spricht über ihre 20-jährige Zusammenarbeit mit John Cage, die mit einer Begegnung in der Berliner Philharmonie begann und durch gegenseitigen Respekt und den Austausch von künstlerischen Ideen wuchs. Joan La Barbara nutzt in ihrer kompositorischen Arbeit kontinuierlich Cages Schichtung disparater Elemente wie auch die Freiheit, Aspekte des Theaters und anderer Medien auszuloten.

Förderer und Partner John Cage: Song Books kalische Gattung. So ist die Titelgebung kein aus mangelnder Kenntnis der Tradition ge- Viele Werke John Cages sind zwischen Musik- borener Irrtum, sondern kongenialer Verweis aufführung, Performance und theatralischer auf die soziale Situation, in der die Orchester- Aktion situiert. Wenn die Spieler von Cages musiker solistisch und unabhängig voneinan- Perkussions-Ensemble der 1940er Jahre der agieren, wobei ein Dirigent, der mit einer auch Bierflaschen, Blumentöpfe und Trommel- langsam kreisenden Armbewegung den Lauf bremsen als Instrumente benutzen oder des Sekundenzeigers nachzeichnet, nur vage bei Aufführungen von Cages Solo für Orientierung sorgt. for Piano aus dem Concert for Piano and 1970 griff Cage in seinen Song Orchestra ( 1958 ) unter dem Flügel herumkroch, Books – Solos for Voice 3 – 92 die Struktur um von unten an den Resonanzboden zu des Concert for Piano and Orchestra wieder klopfen, hatte dies stets theatralischen Cha- auf und schuf ein Kompendium von Einzel- rakter. »Concert« steht im Englischen stimmen, die von einem oder mehreren für das Ereignis der Konzertveranstaltung, Sängern in beliebiger Auswahl, Reihenfolge, »concerto« hingegen bezeichnet die musi- Wiederholung und Überlagerung dargeboten

8 werden können. Jedes Solo gehört zu einer sagte: »Wir haben doch schon genug Chaos der vier Kategorien Song, Song mit Elektro- in der Welt. Warum machen Sie noch mehr?« nik, Theater oder Theater mit Elektronik. Viele Seinen Anhängern, die ihm zu Füßen lagen, Solos sind thematisch an der Aufgabe »Wir stockte der Atem. Und ich drehte mich auf dem verbinden Satie mit Thoreau« orientiert, Absatz um und ging weg, überzeugt davon, andere nicht. Völlig konträr zu dem bekann- dass ich sowieso keine Antwort erhalten würde. ten Modell eines Musiktheaters, das eine Einige Augenblicke später spürte ich, wie mir Narration entfaltet und deren Elemente in jemand auf die Schulter tippte. Es war John, semantischem Zusammenhang stehen, der glückselig lächelte und sagte: »Wenn entwirft jeder der Akteure sein oder ihr eige- Sie zurück in die Welt hinausgehen, erscheint nes Programm, das dann mit den Aktionen sie Ihnen vielleicht nicht mehr so chaotisch.« der anderen Performer in unvermittelter Ich war verblüfft, dass er mich unter gefühlt Gleichzeitigkeit dargeboten wird. Cage betont mehreren Tausend Besuchern gefunden hatte in der Partitur: »Resultierende Stille sollte und dass er meinem Affront eine vernünftige nicht gefürchtet werden. Spiele einfach, wie Begründung entgegensetzte. du es geplant hattest, ehe du wusstest, Einige Zeit später, kurz vor der Premiere was [um dich herum] geschehen würde.« meiner neuen Études für Solostimme, sah ich Ein solches Musiktheater verbietet in ihn in einem Konzert. Ich gab ihm eine Liste seiner Utopie einer enthierarchisierten meiner nächsten Aufführungen und sagte Gesellschaft und der anarchischen Entfes- ihm, dass ich ihn gerne dazu einladen würde. selung der freien Aktion eines jeden Er kam zur ersten Vorstellung meines Werks Einzelnen den Gedanken an Theaterregie. Voice Piece: One-Note Internal Resonance Einzig die szenische Koordination der Investigation in einer kleinen Galerie in SoHo, Ereignisse ist zu leisten, die in ihrer Varianz ging nachher auf mich zu und sagte: »Das zwischen Sologesang, elektroakustisch war wunderbar! Hätten Sie Lust, mit mir zu transformierter und / oder verstärkter Per- arbeiten?« Ich war sofort einverstanden formance und zufallsbestimmter theatra- und er gab mir Solo for Voice 45 aus den Song lischer Aktion unberechenbar erscheinen. Books, ein achtzehnseitiges »Aggregat« Jedes Ereignis folgt jedoch einem streng komponierten musikalischen Plan – vergleich- bar etwa Cages Music for Piano und Winter Music, bei denen Unregelmäßigkeiten im »Ich würde sagen, Theater ist etwas, das Partiturpapier als Notenköpfe interpretiert sowohl das Auge als auch das Ohr in werden, oder Cheap Imitation, wo vorgefun- denes musikalisches Material – in Song Books Anspruch nimmt. Die beiden öffentlichen von Mozart, Schubert und Satie – in seiner Sinne sind Sehen und Hören; die Sinne rhythmischen Phrasierung kopiert wird, die von Geschmack, Berührung und Geruch sind Tonhöhen aber zufällige Änderung erfahren. eher intimen, nicht öffentlichen Die Stücke mit Live-Elektronik belauschen oft wie mit einer akustischen Lupe die Alltags- Situationen angemessen. Der Grund, warum welt und verstärken ein Schachspiel, Atem- ich meine Definition von Theater so oder Schluckgeräusche, während in rein einfach fassen möchte, ist, dass man somit theatralischen Aktionen elementare szenische das gesamte Alltagsleben als Theater Elemente wie Auf- und Abtritte vorgeführt werden. sehen kann.« Die Song Books haben über die Jahre John Cage, Interview, in: ›Tulane Drama Review‹, Winter 1965 eine Aufführungstradition ausgeprägt, die von Joan La Barbara, die Cages Ästhetik aus unmittelbarer Erfahrung kennt, und dem aus Anweisungen mit Wahlmöglichkeiten, um von Dieter Schnebel gegründeten Ensemble das musikalische Resultat zu erstellen. Ich Maulwerker vertreten und in dieser ersten brauchte sechs Monate, um die gewünschte Zusammenarbeit auf ihre gegenwärtige Aufgabe zu erfüllen, meine Auswahl zu treffen Verbindlichkeit hinterfragt wird. La Barbaras und die Stücke zu lernen. Als ich fertig war, New Yorker Ensemble Ne( x )tworks über- lud ich John in mein Loft ein und sang sie ihm nimmt neben szenischen Aktionen zumeist vor. »Das ist schön«, sagte er, »aber es ist die Darbietung einzelner Soli aus dem nicht so schnell wie möglich. Die Stücke sollten Concert for Piano and Orchestra. So entsteht wie kalligrafische Pinselstriche sein, wie eine Produktion, in der einerseits Cages Vogelgesang.« Und dann demonstrierte er an- Theater auf seine musikalisch-kompositori- mutig, was er meinte und sang sie für mich, schen Wurzeln verwiesen wird, andererseits ein Schwarm voller Noten, zu schnell, um sie Instrumentalsoli als notwendig auch szenische in ihrer Tonhöhe voneinander zu unterschei- Ereignisse erscheinen. den. So machte ich mich wieder an die Arbeit. Volker Straebel In den gut zwanzig Jahren, in denen ich mit John Cage zusammengearbeitet habe, erlebte ich, dass er gewissenhaft und gedul- dig die Fragen vieler Menschen beantwortete. Joan La Barbara: Persistence Stets bezog er sich auf seine Partituren und of Memory auf seine Aufführungsanweisungen, um heraus- zufinden, ob die Antworten nicht schon vor- Obwohl ich John Cage schon mehrfach bei liegen. Er wurde zu meinem Freund und Mentor, früheren Gelegenheiten gesehen hatte, fand der meine Fragen mit neuen Fragen beant- meine erste »Begegnung« mit ihm 1972 wortete, um das Wissen, das in mir war, hervor- bei einer wilden, kakophonischen Aufführung zubringen. Sein nachhaltiger Einfluss in von HPSCHD in der Berliner Philharmonie meiner Musik besteht im Lösen von Aufgaben, statt. Ich fand diese Veranstaltung so ver- verschiedenartige Elemente entgegen den störend, dass ich zu ihm marschierte und Gesetzen der Logik zu verbinden und trotzdem

9 John Cage, ›Solo for Voice 65‹ aus ›Song Books‹. »Folge dem Duchamp-Profil, wobei es so zu drehen ist, dass es eine melodische Linie nahelegt ( man liest rauf und runter von links nach rechts ). Das Verhältnis dieser Linie zum Stimmumfang ist frei und kann variiert werden.« © Edition Peters

10 erstaunliche Resultate zu erzielen. Während zehn Jahren habe ich an einer Oper gearbei- des Kompositionsprozesses verlasse ich mich tet, in der ich den inneren Dialog und die auf diese Methode. imaginierten Klänge während der künstleri- Wir präsentieren dieses Konzept in schen Arbeit und des fortlaufenden, mühe­- unserer vielschichtigen Produktion der Song vollen Schaffensprozesses erforsche. Books. Und man kann das auch in meinem Cornells Traum-Fragmente erwiesen sich bei neuen Werk Persistence of Memory hören. diesem und anderen Werken als immer Darin werden plötzliche klangliche Aus- stärkere Inspirationsquelle für mich. brüche kantigen musikalischen Phrasen und We­sent­lich für meine Erforschung der Motiven gegenübergestellt. Das ist manch- Improvisation und des Zusammenspiels mal irritierend und manchmal beruhigend. Es verschiedener Elemente wurde meine geschieht mit hämmernden Rhythmen, kräf- Mit­wirkung bei Ne( x )tworks. Das ist ein tigen Stößen, grellen Blitzen und dadurch, dass Ensemble, das sich als direkte Reaktion auf die Anwesenheit des Klangs von seinem experimentelle Ansätze, besonders auf die Ausbleiben durchbrochen wird, mit der Stille musikalischen Strömungen der New York als Rahmen. School, bildete. Um das natürliche instrumental-vokale Das Werk des heutigen Abends, Spektrum auszuweiten, setze ich Elektronik Persistence of Memory, setzt diese Erkundung ein, ein weiterer Nachhall des fortdauernden fort. Indem ich mich noch intensiver in Einflusses von Cage. In der »klanglichen Atmo- Cornells Texte vertiefte, habe ich ein Werk kom- sphäre«, die ich oft für meine Werke kreiere, poniert, das Bilder in Klänge überträgt, überlagere ich natürliche Klänge mit elektro- Raum für improvisatorische Elemente bietet nischen Klängen und schaffe auf diese Weise und den musikalischen Diskurs anregt. In eine Landschaft, in der das bei der Aufführung meinen Kompositionen übertrage ich oft meine live vorgetragene Material gleitet und strömt. erweiterten Vokaltechniken auf andere Zwar wurde schon ein Teil von Persistence of Instrumente, indem ich graphische, sprach- Memory am 16. und 17. Dezember 2011 in lich ausformulierte oder eher traditionelle The Kitchen in New York präsentiert, doch ich Notationen einsetze. Der Einfluss von John habe das Werk für die Aufführung in Berlin Cage spielt eine sehr wichtige Rolle in ausgebaut und neu orchestriert und das visu- diesem Werk, denn er hat oft natürliche Klänge elle Element hinzugefügt. und verstörende Ereignisse eingebunden Vor einigen Jahren habe ich ein Solo- und hoffte dadurch, von den Resultaten über- stück für Stimme und Handtrommel zur rascht zu werden. Ich habe Aleksandar Kostic Uraufführung gebracht. Es wurde inspiriert gebeten, eine ergänzende visuelle Kompo- von Auszügen aus den Träumen, die Joseph nente zu diesem Werk zu schaffen. Diese sollte Cornell in seinen Tagebüchern festgehalten das musikalische Material nicht bebildern, hat. Habité par ses rêves et les fantasmes – sondern als schlüssige Begleiterscheinung in dieser Titel ist eine Formulierung der Künst- Koexistenz zeitgleich ablaufen, ähnlich wie lerin Dorothea Tanning, die damit treffend der Film in John Cages Lecture on the Weather beschrieb, wie Cornell in seinen Träumen und eingesetzt wird. Ich werde fortwährend von Fantasien lebte. Sprache ist zu einem wichti­- Cages Denken inspiriert, von seiner Bildsprache gen Teil meines Kompositionsprozesses und seiner endlos blühenden Imagination. geworden, auch wenn ich selten Wörter in das Joan La Barbara fertige Produkt einbinde. In den vergangenen Übersetzung Eckhard Weber

Joan La Barbara und John Cage © Joan La Barbara

11 Sonic Arts Lounge John Cage und Japan Samstag, 17. März 2012 Haus der Berliner Festspiele 22:00 Uhr Banshikichō Traditionelle Gagaku Musik aus Japan für Shō 12’ John Cage Two 4 für Violine und Shō ( 1991 ) 30’ Toshi Ichiyanagi Still Time I für Shō ( 1986 ) 20’

Naoyuki Manabe, Shō Marc Sabat, Violine

In Zusammenarbeit mit Botschaft von Japan in Deutschland und Berliner Künstlerprogramm des DAAD

Förderer und Partner Banshikichō (Chōshi) viele Spieler beteiligt sind, vom Solostück wie One bis hin zu Musik für ein Orchester mit Die Bambuspfeifen der Mundorgel Shō lassen 108 einzelnen Interpreten. Viele dieser Kom- sich durch Ein- und Ausatmen kontinuierlich positionen haben flexible Zeitrahmen zum Klingen bringen. Charakteristisch ist das ( »time-brackets« ), die es den Interpreten Spiel mit clusterartigen Akkorden ( Aitake ) erlauben, selbst zu wählen, wann ihre genau aus 5 – 6 Tönen. Die Übergänge ( Te’utsuri ) notierten Klangfolgen beginnen und enden werden durch den Atemwechsel unterstützt. sollen. So durchdringen sich die Klänge auf Bis in die Neuzeit verwendete man die unbestimmte Weise, auch wenn einige ihrer Mundorgel ausschließlich in der höfischen Parameter ( Tonhöhen, mikrotonale Intonatio- Orchestermusik Gagaku. Mit ihren sphäri- nen, Phrasierungen und so weiter ) genau schen Klängen trägt sie zu deren zeremoniel- notiert sind. lem Charakter bei. In den 1980er Jahren veröffentlichte Chōshi bezeichnet die sechs Modi seinen Text John Cage and the der Gagaku-Musik. Der Modus Banshikichō Theory of Harmony ( 1983 ) und komponierte mit dem Hauptton H beinhaltet ganz be- das Stück Critical Band ( 1988 ), worin die Be- stimmte Ornamentierungen, Stimmungen und ziehung der Phänomenologie überlagerter Tonumfänge. Mit Chōshi sind aber auch die Tonhöhen ( inneres Pulsieren und spektrale kurzen Musikstücke gemeint, die zur Ein- Fusion ) zur Intonation das zentrale Thema stimmung vor den Hauptkompositionen ist. Cage hörte die Premiere dieses Stücks und gespielt werden. Die Mundorgel Shō mit ihrer rief Tenney an: »Wenn dies Harmonie ist, stabilen Intonation übernimmt dabei die bin ich absolut dafür.« Führung, die übrigen Instrumente richten sich »Die meiste Zeit meines Lebens habe nach ihr aus. Heute werde diese Präludien ich gedacht, dass ich eine Alternative zur in elaborierter Form auch auf der Shō solo ge- Harmonie finden müsste, aber die Harmonie, spielt, wobei sich das Instrument in größerer über die ich nachdachte, war diejenige, Freiheit entfalten kann. die uns in der Schule beigebracht worden war. Heinz-Dieter Reese Jetzt sehe ich, dass alles außerhalb der Schule auch harmonisch ist... Eine veränderte Definition von Harmonie, eine, die keine Regeln oder Gesetze hat. Man könnte sie eine John Cage: Two4 anarchische Harmonie nennen. Nur ein Zusammensein von Klängen.« ( John Cage in John Cages Two 4 für Violine und Klavier oder einem Interview, 1990 ) Shō wurde im Juli 1991 geschrieben, als Teil Cage erzählte oft die Geschichte, wie einer späten Reihe von Stücken, die im Jahr er statt eines Honorars für den Komposi- 1987 begonnen wurde. Sie werden ›Number tionsunterricht bei Arnold Schönberg diesem Pieces‹ genannt, weil ihre Titel angeben, wie versprach, sein Leben der Musik zu widmen,

12 auch wenn dies bedeutete, gewissermaßen mit dem Kopf gegen die Wand der Harmonie zu rennen, für die er kein Gefühl zu haben glaubte. Rückblickend betrachtet, bricht die Musik von John Cage nicht nur eine Mauer auf, die eigentlich nie da war, sondern ver- weist auf eine zukünftige Harmonie: »Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen ihre Haltung zu dem geändert haben, was der Sinn der Musik ist oder sein könnte. Etwas, was nicht spricht oder er- zählt wie ein Mensch, das seine Definition im Wörterbuch oder seine Theorie aus den Schulen ignoriert, das sich einfach ausdrückt durch die Existenz seiner Schwingungen.

»Wenn dieses Wort ›Musik‹ so heilig ist und reser- viert für Instrumente des 18. und 19. Jahrhunderts, dann können wir es durch einen bedeutungsvolleren Term ersetzen: Organisation von Klang.« John Cage, ›The Future of Music: Credo‹, 1940

Die Leute schenken Schwingungsverläufen ihre Aufmerksamkeit, nicht als Reaktion auf eine festgelegte, ideale Aufführung, sondern jederzeit gespannt, wie etwas in diesem Augenblick geschieht, auch wenn das nicht unbedingt zwei Mal das Gleiche sein muss. Eine Musik, die den Hörer dorthin bringt, wo er in diesem Moment ist. [ ...] Vielleicht brauchen Sie neue Materialien, neue Tech- nologien. Sie haben sie bereits. Sie befinden sich in der Welt X, des Chaos, der neuen Wissenschaft.« ( John Cage, aus: Ein auto- biografisches Statement, 1990 ) Marc Sabat Übersetzung Eckhard Weber

Toshi Ichiyanagi: Still Time I

Toshi Ichiyanagi schrieb zahlreiche Werke für japanische Instrumente, in denen er her- kömmliche Spielweisen und moderne Tech- niken verband. Dabei faszinierten ihn die besonderen Klangqualitäten der Mundorgel Shō. Während er in Galaxy ( 1983 ) und Transfiguration of the Moon ( 1988 ) den zeit­- entrückten und raumübergreifenden Charakter der Shō-Klänge betont, sucht er in Still Time I ( 1986 ) das musikalische Potenzial des Instruments zu erforschen. »Die Komposition wird – im Gegensatz zum traditionellen Image der Shō-Musik – vornehm­lich durch sinnliche und dynamische Elementen bestimmt. [...] Ich habe deutliche Tempobeschleunigungen eingeführt, neue Akkord-Kombinationen entwickelt und das Register um die Töne F und B erweitert.« ( Toshi Ichiyanagi ) Die Komposition besteht aus 4 Sätzen und ist der Mundorgelspielerin Mayumi Miyata gewidmet, die Anfang der 1980er Jahre die Shō erstmals aus dem Gagaku-Ensemble Naoyuki Manabe herauslöste und zu einem Soloinstrument Foto: Masayasu Ikeda machte. Das hochvirtuose Stück gilt als wichtiger Ausgangspunkt dieser neuen Ent- wicklung eines alten Instruments. Heinz-Dieter Reese

13 John Cage 100 / Recital

Sonntag, 18. März 2012 Radialsystem V 11:00 Uhr Natalia Pschenitschnikova, Stimme Alexej Lubimov, Klavier DREAM Frühe Lieder und Klavierstücke von John Cage Dream für Klavier ( 1948 ) 8’ Experiences No. 2 für Singstimme solo, Text: e. e. cummings ( 1948 ) 5’ Music for Marcel Duchamp für präpariertes Klavier ( 1947 ) 8’ Three Songs für Singstimme und Klavier, Text: Gertrude Stein ( 1933 ) 3’ Twenty years after / If it was to be / At East and ingredients The Unavailable Memory of für präpariertes Klavier ( 1944 ) 4’ She is Asleep für Gesang und präpariertes Klavier ( 1943 ) 7’ A Room für präpariertes Klavier ( 1943 ) 2’ Five Songs for Contralto für Mezzosopran und Klavier, Text: e. e. cummings ( 1938 ) 10’ Little four paws / Little Christmas tree / In just / Hist whist / Another comes ( Tumbling-hair ) Bacchanale für präpariertes Klavier ( 1940 ) 6’ The Wonderful Widow of Eighteen Springs für Singstimme und ( geschlossenes ) Klavier, Text: James Joyce ( 1942 ) 2’ Nowth upon Nacht für Singstimme und Klavier, Text: James Joyce ( 1984 ) 1’ Prelude for Meditation für präpariertes Klavier ( 1944 ) 1’ A Flower für Singstimme und ( geschlossenes ) Klavier ( 1950 ) 4’ Dream für Klavier ( 1948 ) 8’

In Zusammenarbeit mit Berliner Künstlerprogramm des DAAD und Radialsystem V

John Cage: Erweiterung des musikalischen Materials Förderer und Partner Frühe Lieder und Klavierstücke und die Verwendung von Live-Elektronik die Ansprüche musikhistorischer Entwicklung. Der frühe Cage, der Komponist kontrapunkti- Dass wir Musikgeschichte trotz ihrer retro­- scher Studien, Klavierbegleitungen zu kurzen spektiven Anlage als Projektion unserer Choreographien und Liedern, ist verhältnis- später gewonnenen Erfahrungen in die mäßig wenig bekannt. Es sind eher die Kom- Vergangenheit schreiben, wird hier offen- positionen für Perkussionsensemble, mit sichtlich. Radio oder Test-Ton-Schallplatten, oder die Auf seiner Grand Tour, die John Cage großen Werke für präpariertes Klavier 1930 / 31 für 18 Monate nach Europa führte, ( Sonatas and Interludes, 1946-48 ), Streich- lernte er durch die Zeitschrift Transition die quartett und Orchester des unter 40-Jährigen, experimentelle Literatur seiner Zeit kennen. die ihren Weg in den Kanon der Neuen Musik Insbesondere Texte von Gertrude Stein und gefunden haben. Dies wundert nicht, erfüllen James Joyce beeindruckten den jungen Cage, sie doch als Schlüsselwerke oder große und so gehören zu seinen frühesten über- Besetzungen die Forderungen des Konzert­ lieferten Kompositionen Three Songs ( 1932 / 33 ) lebens oder als frühe Beispiele für die auf Texte der Amerikanerin in Paris. Das

14 dritte Lied, At East and ingredients, entstand zuerst, im Sommer 1932, und erfuhr seine Ur- aufführung durch Harry Hay, »basso cantate«, und Cage am Klavier im Rahmen eines Salons für junge Komponisten im Santa Monica Wo- men’s Club. Hay, der später als Gründer der Mattachine Society eine Leitfigur der ame- rikanischen Schwulenbewegung werden sollte, war mit Cage seit der High School bekannt. Musik für Tanz war immer ein Schwer- punkt in Cages Schaffen gewesen, von der Komposition zu Martha B. Deans Quest ( 1935 ), seiner Tätigkeit als Klavierbegleiter und Komponist in Bonnie Birds Modern Dance- Klasse an der Cornish School in Seattle ( 1937-39 ) bis hin zur musikalischen Leitung der Company seines Partners Merce Cunning- ham ( 1953-92 ). Während von den 1950er Jahren an Musik und Tanz unabhängig vonein­- ander entstanden, folgten die Stücke für Tanz in den 1940er Jahren noch der jeweiligen Choreographie. In diesem Programm waren es Choreographien von Syvilla Fort ( Baccha- nale, 1940, Cages früheste Komposition für präpariertes Klavier ), Louise Lippold ( A Flower, 1950 ) und Merce Cunningham ( The Unavailab- Alexej Lubimov Natalia Pschenitschnikova le Memory of, 1944; Dream und Experiences No. 2, beide 1948 ), auf deren rhythmische

»Als ich zum ersten Mal Objekte zwischen Klavierseiten klemmte, folgte ich dem Wunsch, Klänge zu besitzen ( und in der Lage zu sein, sie zu wiederholen ). Als aber die Musik mein Zuhause verließ und von Klavier zu Klavier und von Pianist zu Pianist zog, wurde klar, dass nicht nur zwei Pianisten grundsätzlich verschieden voneinander sind, sondern dass für Klaviere das Gleiche gilt. Statt mit der Möglichkeit der Wiederholung sind wir im richtigen Leben mit den individuellen Eigen- schaften einer jeden Situation konfrontiert.« John Cage, ›How the Piano Came to be Prepared‹, 1972

Struktur, formale Anlage und / oder Programm Cage in seinen Kompositionen reagierte. Zu Lippolds A Flower sagte er beispielsweise: »Da der Tanz auf die Flora hindeutet, wurde in der Musik der Versuch unternommen, die Fauna anzudeuten.« Die von den Tänzen etablierten Schritt- folgen deutete Cage als rhythmische Modelle, die in Phrasen wiederholt werden. So entstand ein kompositorisches System, das das Ver- hältnis von Dauern und Formabschnitten orga- nisiert. Dieses System wandte Cage auch auf Konzertstücke an, wie die Music for Marcel Duchamp ( 1947 ), in der die Zeitverhältnisse 2:1:1:3:1:2:1 in Summe die Dauer 11 ergeben, die ihrerseits elfmal wiederholt wird. Die so entstehende »Quadratwurzel-Form« ist typisch für Cages größere Kompositionen dieser Zeit – sie sicherte die Kohärenz der repetitiven Strukturen und ermöglichte die Spannung zwischen melodisch-klangli- chem Verlauf und rhythmischer Statik. Volker Straebel

15 »Neue Musik: Neues Hören. Kein Versuch zu verstehen, was gesagt wurde, denn wenn etwas gesagt werden würde, hätten die Klänge die Form von Wörtern erhalten. Einfach Aufmerksamkeit für die Aktivität von Klängen.«

John Cage, ›‹, 1957 »Neue Musik: Neues Hören. Kein Versuch zu verstehen, was gesagt wurde, denn wenn etwas gesagt werden würde, hätten die Klänge die Form von Wörtern erhalten. Einfach Aufmerksamkeit für die Aktivität von Klängen.«

John Cage, ›Experimental Music‹, 1957 John Cage 100 / Recital

Sonntag, 18. März 2012 Radialsystem V 16:00 Uhr Sabine Liebner, Klavier John Cage Music for Piano 53 – 68 ( 1956 ) 16’ One² ( 1989 ) 40’ Music for Piano 69 – 84 ( 1956 ) 16’

In Zusammenarbeit mit Berliner Künstlerprogramm des DAAD und Radialsystem V

Förderer und Partner John Cage: Music for Piano Piano 1 zu einer Choreographie von Jo Anne Melcher und im Jahr darauf für die Tänzerin Indem er den Blick über unbeschriebenes, Louise Lippold die Music for Piano 2. Auch in weißes Papier wandern ließ, entdeckte er diesem zweiten Stück kann der Interpret sein eine seiner radikalsten Lösungen: »Plötzlich Tempo frei bestimmen. Das rechte Pedal soll sah ich, dass die Noten, alle Noten, bereits ständig getreten bleiben, und während jetzt da standen.« Es war 1952, das selbe Jahr, in durch Zufallsbefragung festgelegt ist, ob dem auch das Stück 4’33 entstand und die einzelnen Töne normal gespielt, gedämpft John Cage die Erkenntnis beförderte, dass es oder durch Zupfen der Saite zum Klingen ge- keine Stille geben kann, die nicht klang- bracht werden sollen, bleibt dem Spieler die trächtig sei. Damit war die Grundidee für die freie Entscheidung der dynamischen Gestal- vielteilige Reihe der Music for Piano gefun- tung. Auch in den nächsten Stücken wird das den. Cage hatte kleine Unregelmäßigkeiten, Verfahren variiert: In der Morton Feldman Erhebungen oder winzige Flecken auf der gewidmeten Miniatur Music for Piano 3 mit Oberflächenstruktur des Papierbogens ent‑ ihren insgesamt nur sieben Tönen, in Music deckt, vollkommen regellos verteilt. Innerhalb for Piano 4 – 19, die von Cage und David Tudor eines vorgewählten Zeitintervalls markierte als Begleitung für den Tanz Solo Suite in er nun mit Tinte so viele dieser Unregelmäßig- Space and Time von Merce Cunningham urauf- keiten, wie er erkennen konnte. Er erhielt geführt wurde, in Music for Piano 20 ( alle so die absolut zufällige Konstellation eines 1953 ) sowie in den zyklisch zusammenge- Punktefeldes. Darüber legte er dann ein fassten Reihen Music vor Piano 21 – 52 ( 1955 ), transparentes Notenpapier, um die Punkte 53 – 68 bzw. 69 – 84 ( beide 1956 ), die nun zum vermittels Schlüsselung und Hilfslinien als Teil auch innerhalb und außerhalb des exakte Tonhöhen zu bestimmen. Per Zufalls- Flügels hervorzubringende Geräusche fordern. verfahren wurde jedem der so gefundenen In einer Beschreibung, die den Kompositions­ Töne schließlich ein dynamischer Wert methoden der Music for Piano 21 – 52 galt, zwischen Pianissimo und Fortissimo sowie legte Cage dar, wie durch das Werfen von gegebenenfalls ein Vorzeichen zugeordnet. Münzen die Verteilung der Bass- und Violin- Auf diese Weise entstand 1952 die Music for schlüssel festgelegt wurde und andere

18 Sabine Liebner, Foto: Siggi Müller

vom I Ging abgeleitete Zufallsprozeduren die semblegröße ( stets völlig unabhängig von der aufbrauchen, bevor die andere auch nur eine jeweils konkrete Physiognomie der Stücke Art der Besetzung ) hier vorliegt. Beginnend Bewegung gemacht hat ). Das Tonmaterial ist bestimmen. im April 1987 mit Two für Flöte und Klavier, per gesteuertem Zufallsprinzip generiert. Die Im Rahmen des riesigen Œuvres von hinterließ Cage einen Œuvre-Katalog von 48 Absicht ist Zufall, bzw. der Zufall ist Absicht. John Cage bilden die insgesamt 84 Solo-Stücke vollendeten ›Number Pieces‹. Das kompo- One², 1989 für 1 – 4 Klaviere geschrieben, der Music for Piano eines der Schlüssel- sitorische Verfahren der ›Number Pieces‹ ist der Pianistin Margaret Leng Tan gewidmet. werke aus der mittleren Schaffensperiode. kombiniert weitgehende Indetermination mit Bei diesem Stück sind vier Klaviere im Raum Verglichen mit den rhythmisch und melo- mindestnötiger Festlegung. Was fest steht, ist verteilt positioniert. Bei allen ist das Halte- disch weitgehend traditionell determinierten die Reihenfolge der Töne innerhalb eines pedal arretiert, wodurch die Saiten stets Werken für präpariertes Klavier aus den Systems, ihr Stärkegrad sowie die die absolute natürlich ausschwingen und die Töne bis zur Jahren vor 1950, verglichen auch mit manchen Dauer der einzelnen Abschnitte festlegende Unhörbarkeit weiterklingen. Der Spieler geht Kompositionen der späten Schaffensphase, Zeitklammer ( time bracket ). Die Zeitklammern von Instrument zu Instrument: am ersten räumt diese Musik den Interpreten besonders ihrerseits sind feststehend oder flexibel: Klavier hat er 17, am zweiten 19, am dritten 17 weite Bandbreiten der konkreten Ausfüh- Eine feststehende Klammer definiert den Zeit- und am vierten 15 Abschnitte ( alle als Zeit- rung ein. raum zwischen frühestmöglichem Beginn klammern notiert ) zu absolvieren. An jedem Helmut Rohm und spätestmöglichem Ende des Abschnitts; der Instrumente ist die Reihenfolge der Ab- eine flexible Klammer hingegen besteht aus schnitte unveränderlich, doch wann der Pianist zwei Karenzzonen: einer, innerhalb welcher zu sich vom einen zum nächsten Instrument beginnen ist, und einer, innerhalb welcher begibt, liegt in seiner Hand. Jede der vier Stim- John Cage: One² der Abschnitt abzuschließen ist. Folge der Ver- men, die sich allein durch ihre räumliche wendung flexibler Zeitklammern ist zumeist Position voneinander abheben, beinhaltet Fast der gesamte Output in John Cages Werk eine Überlappung der aufeinanderfolgenden einen Moment, in welchem der Musiker einen der letzten Jahre ( 1987-92 ) besteht aus den Abschnitte. Die Tondauern und die Geschwin- dem Instrument fremden Klang hinzufügt. sogenannten Number Pieces. Der Titel ( eine digkeit der Abfolge für die Dauer der Klammer Cage nannte als anregendes Beispiel einen ausgeschriebene Zahl ) bezieht sich schlicht ist dem Spieler überlassen. Innerhalb der Brummkreisel. auf die Anzahl der Aufführenden. Wo es mehre- Zeitklammern verlaufen die Stimmen Christoph Schlüren re Stücke für dieselbe Anzahl von Mitwirken- una­ b­hängig voneinander, also beim Pianisten den gibt, lässt die zusätzliche Nummerierung die rechte und die linke Hand ( theoretisch erkennen, das wievielte Stück für diese En- kann die eine Hand ihren gesamten Tonvorrat

19 John Cage 100

Sonntag, 18. März 2012 Konzerthaus Berlin 19:00 Uhr John Cage 103 für Orchester ( 1991 ) 90’

Konzerthausorchester Berlin Ilan Volkov, Musikalische Einstudierung

John Cage One11 Film ( 1992 ) 90’

Henning Lohner, Produktion · Regie Van Carlson, Kamera

Simultane Aufführung

18:00 Uhr Konzerthaus Berlin / Werner-Otto-Saal

Henning Lohner im Gespräch mit Matthias Osterwold und Volker Straebel

In Zusammenarbeit mit Konzerthaus Berlin und Berliner Künstlerprogramm des DAAD. Mit Unterstützung von Lohnerranger Film, Music & Art Productions, Ltd.

Mitschnitt Kulturradio vom rbb, Sendung 5. September 2012, 0:05 Uhr im Rahmen der Cage Nacht

Förderer und Partner John Cage über Film de, in dem sie sitzen, zu brennen anfängt, wachen sie auf und benutzen ihre Lebendig- Ich interessiere mich für jede Kunst, insofern keit, um sich zu retten. sie kein in sich Geschlossenes ist, sondern Mit anderen Worten: Es geht mir nicht etwas, das aus sich herausgeht, um sich mit darum, dass die Menschen gefühlsmäßig allen anderen Dingen zu durchdringen, angesprochen werden, vielmehr möchte ich selbst wenn diese auch zu den Künsten zählen. eine Situation herbeiführen, in der das Dabei wird allen diesen Dingen – jedem Leben für alle Beteiligten zur offenkundigen einzelnen – gleiche Wichtigkeit zuteil; keines Notwendigkeit wird. Hier [ein Beispiel]: wird wichtiger gesehen als ein anderes. Artaud Bei einem Aufenthalt in Sevilla um zufolge bedeutet es für das Theater den Tod, 1929 / 30 blieb ich länger als geplant, weil ich wenn man die Literatur an den einzig zentralen einen bestimmten Film – Homers Ilias – Platz stellt; so kann ich denn auch der An- sehen wollte, der eine Woche vor der Auffüh- sicht »der Film ist eine visuelle Form« keines- rung angekündigt worden war. Während ich wegs zustimmen. Die Bilder interessieren so herumbummelte, kam ich eines Tages an mich nicht mehr als der Ton. Ich interessiere eine Straßenecke und fand mich plötzlich mich auch nicht für das künstlerische Arran- umgeben von drei Radio-Lautsprechern, von gement, ob der Ton nun den Bildern parallel denen jeder ein anderes Programm aus- oder entgegengesetzt verläuft. Alles, was strahlte, während Verkehr und Fußgänger günstigenfalls dabei herauskommt, ist eine sichtbar und hörbar um mich herum waren Montage zweier Dinge, nicht aber eine Imita- – alles zur gleichen Zeit. Als der Tag für tion ( die traditionelle Aufgabe des Künstlers ) Homer gekommen war, begab ich mich zum der Natur in ihrem Wirken, wie dieses Wirken »Theater«, das aus einem Straßencafé sich heute, in unserer Zeit, offenbart. Von der bestand. Die Filmleinwand war in der Mitte Natur her gesehen, eher als von einem anthro- zwischen zwei solchen Cafés aufgestellt pomorphistischen Standpunkt aus, ist die und ich vermutete, dass man das Bild von der Situation des Lebens komplexer als Kunst einen Seite aus richtig und von der anderen oder als das geschmackvolle Zusammensetzen verkehrt herum sah – ein Arrangement, das von Künsten. Die alten Chinesen wussten jedenfalls herrlich anregend für neue Mög- das, und wo im I Ging von Kunst die Rede ist, lichkeiten war. Das Programm war geändert wird gesagt, dass die wirklich wichtigen worden, und Homer wurde überhaupt nicht Probleme den größeren Ernst erfordern. [...] gezeigt. Der Geschäftsführer war überrascht Die übliche Filmmusik wird von den zu hören, dass mir daran lag, diesen Film Leuten gewöhnlich ignoriert, da sie von der zu sehen. [...] Voraussetzung ausgehen, er ( der Film ) John Cage, ›On Film‹ 1956, in: John Cage. An sei eine visuelle Form. Darum sind sie auch Anthology, hrsg. v. Richard Kostelanetz, New unter dem ›Filmbeschuss‹ nicht voll und York 1970 ganz lebendig – wenn allerdings das Gebäu-

20 John Cage: One11 und 103 Kran-Arm sich bewegt. Die weiteren Details den diesen Film realisieren wollte, irgendwie der Kran-Ausrichtung, Rotation, Bewegung etc. angetan. Was andere abschrecken würde, zog One11 ist ein Film ohne Thema. Es gibt werden durch Zufallsoperationen ad hoc gerade ihn an: sich für die Realisierung Licht, aber keine Personen, keine Dinge, keine entschieden unter Berücksichtigung ihrer seines letzten, abendfüllenden Werkes auf Ideen von Wiederholungen oder Variationen. Durchführbarkeit. einen Anfänger zu verlassen, der noch keinen Er ist bedeutungslose Aktivität, die nichtsdes- John Cage im Programmheft zur Film gemacht hatte. Er ließ sich auf das toweniger kommunikativ ist, wie das Licht Uraufführung 1992, Kölner Philharmonie »Spiel« ein. selbst, das uns als Kommunikation nicht er- Mir bedeutet One11 das Credo von John reicht, weil es keinen Inhalt hat. Licht ist, wie Cage: die Transformation in einen neuen Zu- McLuhan sagt, reine Information ohne jeden stand, bei dem aus jedem Dunkel ein Hell, Inhalt, der ihre verwandelnde und informie- Lichtpartitur aus jedem Licht ein Schatten entstehen muss. rende Kraft begrenzen könnte. Zufallsopera­ Geburt, Ableben, Verfall und Metamorphose. tionen wurden benutzt für die Kameraeinstel- 17 Szenen mit insgesamt 1200 individuellen Im Abgeklungenen wie im Entstehenden ist lungen, schwarz und weiß, die in einem Fern­- Lichtwechseln, im Schnitt 20 Lichter gleich- das Neue, das Unfixierbare. Erinnerungen – sehstudio in München aufgenommen wurden zeitig in Bewegung. Der gesamte Film: insge- wie Schatten, flüchtig, halb da, halb weg. durch Van Carlson, einen Kameramann aus samt ungefähr 25.000 Lichtbewegungen. Das Die Werke John Cages sind für mich nicht Los Angeles. sind: ca. 1.410 melodisch-harmonisch-rhyth- abstrakt, sondern mit dem »wirklichen Leben«, Produzent und Regisseur war Henning misch-dynamische Gebilde pro Szene. dem Alltag, verbunden. Sie weisen eine ganz Lohner. Der ausführende Produzent war rigorose, menschliche, zutiefst humanistische Peter Lohner. Der Lichtraum wurde durch John Qualität auf, die – ganz individuell, wie er es Cage und Andrew Culver entworfen und pro- sich stets wünschte – nur in ihm lag: dass grammiert, ebenso der Schnitt des Films, der Erinnerungen sein letztes Werk gleichzeitig mein erstes mit Hilfe von Gary Sharfin und Bernadine werden konnte. Colisch in New York und München hergestellt One11 spielt auf das Allgemeinste, daher auch Henning Lohner wurde. unpersönlichste Phänomen unseres Alltags aus: Mehr Licht, Berlin 1999 103 ist ein Orchesterwerk. Wie der an: Licht – in seiner »reinen«, natürlichen Form, Film ist es neunzig Minuten lang. Es ist in stets anwesend, doch kaum fassbar. Zugleich siebzehn Teile gegliedert. Die Längen der liegt darin das Persönlichste, Existenziellste: siebzehn Teile sind für alle Streicher und die Denn indem es alleine ums Licht geht, das Schlagzeuger gleich. Die Holzbläser und es sozusagen immer und überall »gibt«, kann Blechbläser folgen einem anderen Plan; die jeder einzelne für sich bestimmen, wie er Einstellungen des Kameramanns wieder damit umgeht, wie er sich dem Licht aussetzt einem anderen. Nach der Entscheidung durch und wie er Licht wahrnimmt. Licht erzählt Zufallsoperationen wechselt die Zahl der weder eigene noch fremde Geschichten, inspi- Blasinstrumente in jedem der siebzehn Teile. riert aber Geschichten im Betrachter. Ange- So wird die Klangdichte von 103 variiert, sichts des Film-Licht-Bilds kann der Zuschauer vom Solo der Posaune in der elften Sektion, seinen Gedanken freien Lauf lassen, findet dem Duo für Trompete und Horn in Sektion oder erfindet seine eigenen Handlungen, und zehn, dem Holzbläsertrio der sechsten Sektion wenn er dabei einschläft, erträumt er sie bis zum Tutti der Sektion fünf und dem sich. Fast-Tutti der Sektionen eins, acht, dreizehn, Als ich John Cage kennenlernte, war er vierzehn und sechzehn. [...] 70 und ich 21; in gewisser Weise war er so alt 103 ist nicht Ausdruck von Gefühlen wie ich, und ich so alt wie er. Seine Wirklichkeit oder Gedanken, die ich damit verbinde. Ich war mein Wunsch, meine Sehnsucht sein wollte die Klänge von meinen Absichten Traum. Vielleicht war John Cage von der para- freihalten, so dass sie nichts als Klang sind, doxerweise ahnungslosen, unbekümmerten das heißt, sie selbst. und naiven Art, mit der ich unter allen Umstän- John Cage im Programmheft zur Uraufführung 1992, Kölner Philharmonie

Das Drehbuch für die Kamera

Jeder Take [jede Aufnahme] bedeutet eine un- terschiedliche Kamerabewegung. Die Anwei- sungen für jeden Take werden als Zeichnung und Tabelle gegeben. Die Tabelle zeigt die »time brackets« für jeden Take – eine Zeitspan- ne, in der ein Take beginnen und eine, in der er enden muss. In den meisten Fällen über- schneiden sich aufeinanderfolgende Takes ( um 10, 15 oder 20 Sekunden ). Einige Takes haben jedoch fixierte Anfänge und Schlüsse ( diese sind sehr kurz ), und die verschiedenen Szenen berühren sich an fixierten Zeitpunk- ten. Das Kameraobjektiv für jeden Take ist ebenfalls in der Tabelle angeben. Schließlich zeigt die Tabelle an, ob ein Kamera-Kran benutzt wird oder nicht, und gibt die Start- und Endpositionen der Kamerabewegungen an. Wenn keine Endpo- sition angegeben ist, dann bewegt sich die Kamera nicht. Kamerastartpositionen sind jeweils die Basis des Krans. Die Kran-End- position soll die Richtung angeben, in die der Henning Lohner und John Cage © Henning Lohner 1992

21 Sonic Arts Lounge Tomomi Adachi / Portrait Sonntag, 18. März 2012 Haus der Berliner Festspiele 22:00 Uhr

Hugo Ball Gadji Beri Bimba Lautgedicht ( 1916 ) 2’ Tomomi Adachi Minna no Uta ( Song for Everyone ) für 10 Stimmperformer und Turntables ( 1995 ) 10’ Why You Scratch Me, Not Slap? für Gitarre mit Videoprojektion ( 2011 ) 10’

John Cage Sixty-two Mesostics re Merce Cunningham Lesung in Auszügen ( 1971 ) 10’ Tomomi Adachi Improvisation with Self-Made Instruments Solo Performance 15’ Voice and Infrared Sensor Shirt Solo Performance ( 2004–2011 ) 10’

Tomomi Adachi, Performance / Elektronik Joke Lanz, Turntables Seth Josel, Gitarre

Koproduktion von Berliner Festspiele / MaerzMusik und Berliner Künstlerprogramm des DAAD

Förderer und Partner Hugo Ball: Gadji Beri Bimba eines meiner frühen Werke und geprägt von meinen Interessen in dieser Phase: den Be- Die Dada-Bewegung ist nach wie vor ein ziehungen zwischen dem Singen, der Stimme wesentlicher Bezugspunkt für mich. Ich finde, und den nationalen japanischen Traditionen, dass meine Vokal-Performance mehr mit der Analogie zwischen musikalischen Struk- den Klanggedichten der Dada-Bewegung zu turen und Politik und der positiven Rolle von tun hat als mit Traditionen der Vokal­musik. Fehlern während einer Darbietung. Der japani- Dada ist auch wichtig, weil es die erste inter- sche Originaltitel Minna no Uta wurde von nationale Kunstströmung war, die nicht nur einem japanischen TV- und Radioprogramm auf die westliche Welt beschränkt war. Es gab übernommen, das Kindern neue Lieder und zum Beispiel 1920 eine japanische Dada- Talente präsentiert. In dieser Komposition, bei Bewegung in Tokyo. Sie war der Anfang der der die Vokal-Performer nur wie Maschinen japanischen Avantgarde. Ein typisches Dada- agieren, zeigen sie paradoxerweise entgegen Klanggedicht stellt das Experiment mit einer ihrer Absicht ihre eigene Individualität. universellen Sprache dar, die frei von den Beschränkungen einer spezifischen Sprache ist: Gadji Beri Bimba von Hugo Ball, einem der wichtigsten Dada-Künstler, ist ein berühm- Tomomi Adachi: Why You Scratch Me, tes Klanggedicht, das aus Nonsenswörtern Not Slap? gebildet wurde. Die Partitur dieses Stücks ist, wie eine Choreographie, in einem Video festgehalten. Es zeigt lediglich, wie sich die Hände der Tomomi Adachi: Minna no Uta Interpretin oder des Interpreten auf dem In- ( Song for Everyone ) strument zu bewegen haben und hat keinen Bezug zum Klangergebnis. In diesem Punkt Diese Komposition bildet den konzeptuellen ähnelt die Partitur experimentellen Notatio- Rahmen für zehn auf der Bühne versammelte nen, etwa manchen Werken von John Cage, Vokal-Performer und Plattenspieler. Sie ist nicht-abendländischen Notensystemen

22 Tomomi Adachi Foto: Naya Collective

oder besonderen Tabulaturen. Die »Choreo- Tomomi Adachi: Improvisation mit in Echtzeit Vokalklänge und benutzt dazu die graphie« ist eine Collage aus zwei aufeinan- selbstgebauten Instrumenten MIDI-Daten, um Parameter wie Verzögerung, derfolgenden Bewegungen mit kanonischen Veränderungen der Tonhöhe, Samples, Play- Veränderungen. Auch wenn ich diese mono- Im Jahr 1994 begann ich, selbstgebaute back und ähnliches zu kontrollieren. Sämt- phone kanonische Technik auf einige meiner Instrumente zu konstruieren. Sie können in liche vorher aufgezeichneten Klänge werden Kompositionen und Klang­gedichte übertra- zwei Kategorien eingeteilt werden: elek- nur gegen Ende des Stücks eingesetzt. In gen habe, bezieht sich diese Methode in tronische Instrumente, die in Kunststoffdosen dieser Improvisationsanordnung mit dem diesem Stück ausschließlich auf die Ebene eingebaut sind und akustisch verstärkte Titel Voice and Infrared Sensor Shirt beschäf- der Partitur. Objekte. Eine wichtige Motivation, so etwas tige ich mich mit den Beziehungen zwischen zu kreieren, war mein Wunsch nach Instru- Gesten und Klängen der Stimme, zwischen menten, die sowohl billig als auch leicht zu Objektivität und Subjektivität. transportieren sind und unvorhersehbare Tomomi Adachi / Übersetzung Eckhard Weber John Cage: Sixty-two Mesostics Klänge erzeugen. Momentan interessieren re Merce Cunningham mich daran vor allem die verschiedenen Interfaces, technische Schnittstellen, die wie John Cage ist auf jeden Fall der Künstler, der eine Notenschrift funktionieren. mich am meisten beeinflusst hat, auch wenn unsere Werke sehr unterschiedlich sind. Sixty-two Mesostics re Merce Cunningham ist ein außergewöhnliches Improvisationsstück Tomomi Adachi: Voice and Infrared für Vokalstimme, welches das improvisa- Sensor Shirt torische Element vorwiegend ausschaltet. Die Partitur dieses Stücks besteht aus einigen »Infrared Sensor Shirt« heißt ein von mir experimentellen Gedichten, die durch Zufalls- gebautes Interface, das von einem Laptop mit operationen gemäß der Originalform eines MAX-Software betrieben wird. Es hat zehn Mesostichons ( ein Vers oder ein Gedicht, bei Infrarot-Bewegungsmelder, einige Schalter und dem eine senkrechte Buchstabenreihe ein flexible Biegungssensoren. Es nimmt die neues Wort oder einen Satz bildet ) entstan- Bewegungen des Performers auf und überträgt den sind. sie in MIDI-Daten. Der Computer verarbeitet

23 Dream House

Montag, 19. März 2012, 20:00 Uhr Villa Elisabeth Samstag, 24. März 2012, 22:00 Uhr Samstag, 31. März 2012, 20:00 Uhr La Monte Young Marian Zazeela The Just Alap Raga Ensemble Drei Abendkonzerte im Raga Darbari in der Lichtinstallation von Marian Zazeela Dream Light Europäische Erstaufführung

La Monte Young / Marian Zazeela / Jung Hee Choi, Stimme Naren Budhkar, Tabla The Tamburas of Pandit Pran Nath, Zuspiel Jim Conti, Licht Ben Manley / Bob Bielecki, Ton Alex Carpenter / James Ross, Videoaufnahme

weitere Aufführungen Karlsruhe, ZKM: Sa 7. April 2012 / Polling, Kunst im Regenbogenstadl: Sa 14. April 2012

20. März bis 1. April 2012 Villa Elisabeth La Monte Young Marian Zazeela Dream House Klang – Licht – Installation

täglich 15–20 Uhr

In Zusammenarbeit mit Berliner Künstlerprogramm des DAAD, ZKM | Zentrum für Kunst und Medientech- nologie Karlsruhe, Kunst im Regenbogenstadl Polling, AngelicA – Festival Internazionale di Musica Bologna, Fondazione Mudima Milano und Kulturbüro SOPHIEN Berlin. Gefördert aus Mitteln der Kulturstiftung des Bundes

Förderer und Partner Musik für die Ewigkeit des aber vor allem sind sie »gedachte Musik« Augenblicks und Musik für die Ewigkeit des Augenblicks: Composition 1960 # 15 ( to Richard Huelsen- »Die beiden entscheidenden Aspekte von La beck ) »kleine Strudel draußen in der Mitte des Monte Youngs Musik um 1960: die Gestaltung Ozeans«; # 10 »zieh eine Linie und folge ihr«; von gleichsam zeitlosen, unendlichen Formen # 5 »lass einen ( oder mehrere ) Schmetterling( e ) des Tönens einerseits, andererseits von musika­- im Aufführungsraum fliegen«; oder # 6 »Die lischen Gedankenblitzen, haben sich in sei- Spieler sitzen auf der Bühne, schauen und hö- nem späteren Komponieren verbunden. 1962 ren dem Publikum auf ebensolche Weise zu bereits, lange bevor in Europa – vielleicht auf- wie das Publikum gewöhnlich der Aufführung grund seines Einflusses – ähnliche Ideen zuhört und zuschaut.« auftauchten, formulierte La Monte Young das Das Konzept des Dream House führte Konzept eines Dream House, in welchem gleichsam die hier aufs Äußerste minimali- ein Werk ständig gespielt würde, letzten Endes sierten und zugleich erweiternden künstleri- wie ein ›living organism‹ existierte – ›with a schen Ideen La Monte Youngs zu einem life and tradition of its own‹. Der Dream House- Höhepunkt. Gemeinsam mit Marian Zazeela Entwurf ging später in die Komposition The schuf er ein lichterfülltes Haus mit immer- Tortoise, His Dreams and Journeys ein, die La währendem, raumgreifendem Klang, eine er- Monte Young mit seiner Frau seitdem reali- lebbare, lebendige Musik, die ihre eigene siert, eben als ›Eternal Music‹. [ ... ] In Dream Geschichte schreibt, in die man eintauchen House [lebt] ein andauernder, gleichsam kann, wie in eine andere Lebenszeit. unendlicher und klarer Klang – Auskomposi­ Das Dream House ist definiert als ein tion jener musikalischen Augenblicke der »kontinuierliches live-elektronisches klingenden Materie in den Compositions 1960.« Klang- und Licht-Environment, zeitweise mit So schilderte Dieter Schnebel die Gesang«. Tongeneratoren, die an bestimmten großen »Augenblicke der Musik« (Denkbare Stellen Musik, 1972). Das erschütternde, ja erhabene in den Räumen des Dream House platziert wer- Motiv der 5. Sinfonie Beethovens denkbar den, erzeugen Sinustöne in ganz bestimmten reduziert auf eine Formel: die Quinte der Schwingungsverhältnissen. Es entstehen ver- Composition 1960 # 7 »to be held for a long schiedene Intervalle und Akkorde, die sich time«. Ein Augenblick Musik, der ewig überlagern, interferieren und neue Schwin- sich ausdehnt. gungsmuster und Hörbilder ergeben, je nach La Monte Youngs Compositions aus dem, wo man sich im Raum befindet. Langsam dem Jahr 1960, die auf den legendären wechselnde Haltetöne, sogenannte Drones, -Konzerten aufgeführt wurden, sind und ein intensives magentafarbenes Licht theatrale Statements einer Antikunst, schaffen eine Atmosphäre, in der die Zeit

24 aufgehoben zu sein scheint. Die Künstler widmet und sie in ihr Leben integriert. The verstehen das Dream House als eine Art Just Alap Raga Ensemble ist ihre jüngste Organismus, einen besonderen, eigenständig gemeinsam entwickelte Arbeit. Langjährige sich entwickelnden Ort, in dem stetig live Studien mit dem indischen Vokalisten Pandit Klänge erzeugt werden und in dem von Zeit Pran Nath und eine enge Zusammenarbeit mit zu Zeit Live-Konzerte stattfinden. Nach dem verschiedenen Solisten gingen diesem Grundsatz von der musikalischen Stimmung Projekt voraus. The Just Alap Raga Ensemble als einer Funktion der Zeit, ist das Erleben der steht in der Tradition der klassischen Musik Klänge und changierenden Tonfrequenzen Nordindiens. Das einzigartige Vorspiel des über eine lange Periode hinweg notwendig, um Alap – eine langsame, metrisch freie Ein- die eigene Wahrnehmung und das Nerven- leitung, die den Stimmungsmodus des darauf system darauf einzustimmen und harmonisch folgenden Ragas entwickelt – hat La Monte mit den Frequenzen des Environments zu Young hier als eigenständige Form entdeckt. schwingen, so die Künstler. Die Besucher des Eine Form, die es vermag, die Zeit aus der Dream House sind zum Verweilen und Wieder- Zeitkunst Musik verschwinden zu lassen. kehren eingeladen. La Monte Young gilt als der eigent- liche Begründer des musikalischen Minima- »Wir sangen, arbeiteten und lebten in diesem lismus. Bereits in Trio for Strings ( 1958 ), harmonisch gestimmten akustischen Environment for Brass ( 1957 ) und for Guitar ( 1958 ) kompo- nierte Young mit reduziertem Material: den und studierten seine Auswirkungen auf uns und lang andauernden Drones und seinen ›dream auf die verschiedenen Leute, die eingeladen chords‹. Intuitiv führten ihn sowohl seine wurden, Zeit mit den Frequenzen zu verbringen.« Auseinandersetzung mit den Werken Anton Weberns und der Moderne Europas wie der La Monte Young Marian Zazeela, Programmnotiz, 1964 Diskurs der Avantgarde um John Cage und nicht zuletzt die intensive Beschäftigung mit dem japanischen Gagaku und der indi- Die Präsentation verschiedener Dream schen Kunstmusik zu seinen minimalisti- Houses mit Live-Aufführungen der Künstler schen Konzepten und unverwechselbaren und ihres Ensembles in Deutschland im Rah- Kompositionen. Zu seinen Hauptwerken men der Pandit Pranat Memorial Tribute zählen The Tortoise, His Dreams and Journeys Tour 2012 kommt einer Sensation gleich, da und The Well-Tuned Piano – Werke, die auf La Monte Young und Marian Zazeela nur reinen Stimmungssystemen beruhen und die noch äußerst selten außerhalb ihres New er seit den 1960er Jahren weiterentwickelt. Yorker Dream House zu erleben sind. Young und Marian Zazeela haben sich Melanie Uerlings ganz ihrer der Zeit enthobenen Kunst ge-

La Monte Young Marian Zazeela ›The Just Alap Raga Ensemble‹ Foto: Jung Hee Choi

25 Schule machen: QuerKlang

Dienstag, 20. März 2012 Kammermusiksaal der Philharmonie / Foyer Mittwoch, 21. März 2012 17:30 Uhr QuerKlang Experimentelles Komponieren in der Schule

Uraufführungen von Gruppen-Kompositionen durch SchülerInnen in Zusammenarbeit mit LehrerInnen an Berliner Schulen sowie KomponistInnen, MusikerInnen und StudentInnen in Berlin

20. März Team Kurt-Schwitters-Schule ( Eres Holz ) Team Hector-Peterson-Schule ( Tobias Dutschke ) Team Heinrich-Hertz-Gymnasium ( Makiko Nishikaze )

21. März Team Bertha-von-Suttner-Schule ( Mathias Hinke ) Team Käthe-Kollwitz-Oberschule ( Stefan Keller )

Daniel Ott / Elena Mendoza / Christoph Riggert / Kerstin Wiehe, Projektleitung Stefan Roszak / Oliver Güngör, Assistenz

Projekt der Universität der Künste Berlin / klangzeitort, K&K Kulturmanagement & Kommunikation / Kulturkontakte e. V. und Berliner Festspiele / MaerzMusik. Gefördert aus Mitteln der Europäischen Union ( Europäischer Sozialfonds/Lernort Kultur ). Mit Unterstützung der Stiftung Berliner Philharmoniker

Förderer und Partner QuerKlang offenem Ausgang wird zwar der äußere Rahmen durch die Projektstruktur festgelegt, offen »Für manche klingt das Stück so, als könnte bleiben jedoch nicht nur die Inhalte, sondern jeder so was komponieren, aber es war echt auch die methodischen Wege. QuerKlang harte Arbeit für uns. Wir mussten viele verschie- eröffnet künstlerische und pädagogische Frei- dene Dinge ausprobieren und es gab hitzige räume, gefordert ist der Mut zu methodi- Diskussionen. Trotzdem sind wir jetzt stolz auf schen Experimenten, deren Ziel nicht vorher- das Ergebnis«, so die 14-jährige Lena nach sehbar ist. der Generalprobe des Stückes ihrer Klasse. Dass Musik nicht nur auf eine Weise Damit Schüler innerhalb des gewohnten erfahr-, lehr- und erschaffbar ist, zeigt sich Schulalltags in eine solche experimentelle, schon in den angeregten Diskussionen der künstlerisch-schöpferische Arbeitsweise hin- teilnehmenden Komponisten über ihre unter- einfinden, wie Lena sie beschrieben hat, schiedlichen Ansätze beim Komponieren. erfordert es eine kreative Atmosphäre, die eine Das Forum für diese Diskussionen ist ein mehr- Offenheit für ungewöhnliche Gedanken und tägiges Einführungsseminar für die beteiligten Konzepte bietet. Sie ermöglicht den Schülern, Lehrer, Studierenden und Komponisten einen eigenen Ausdruck bei der Arbeit mit sowie Zwischenreflexionen und eine Abschluss- musikalischem Material zu finden. Die Teams reflexion am Ende eines Durchlaufs: Hier aus Komponisten, Lehrenden und Studieren- werden alte und neue Fragen aufgeworfen, den fungieren hierbei als Impulsgeber, immer Ideen zur Pädagogik und Didaktik von auf der Gratwanderung zwischen Eingreifen Musik erdacht und Probleme diskutiert, die und Freilassen. Die Rahmenbedingungen hier- während der praktischen Phasen der Arbeit für zu schaffen und sich mit den dazu nötigen aufkommen. Prozessen zu beschäftigen, ist Aufgabe QuerKlang will nachwirken. Aus diesem von QuerKlang. Grund spielen die Lehrer im Projekt eine tra- Experimentelle Musik erfordert experi- gende Rolle. Sie werden in den künstlerischen mentelle Didaktik. Ausgangspunkt ist die Prozess einbezogen und ermutigt, neue Überzeugung, dass die Vermittlung eines Ge- Denkmuster zu erproben. Das kann vom Hinter- genstandes diesem auch angemessen und fragen einer bewährten Unterrichtsstruktur ihm – zumindest in manchen Phasen der Ver- bis hin zum ( Wieder )-Entdecken der eigenen mittlung – adäquat und »ähnlich« sein sollte. künstlerischen Potenziale reichen. Die Suche Bezogen auf den Gegenstand Kunst bedeutet nach einer Form zur Vermittlung künstlerischer dies, dass die Vermittlung kunstnah und Prozesse kann dabei auch mal knapp an einem damit selbst auch künstlerisch inspiriert sein ungewollten Chaos vorbeiführen. sollte. Um experimentelle Musik »adäquat« Kerstin Wiehe zu unterrichten, bedarf es eines experimentel- len Zugangs zu Fragen der Didaktik und Methodik. Im Sinne eines Experiments mit

26 Begleitende Teams und SchülerInnen

Heinrich-Hertz-Gymnasium, Käthe-Kollwitz-Oberschule, Bertha-von-Suttner-Schule, Friedrichshain Prenzlauer Berg Reinickendorf

Lehrerin: Marlies Duwe, Komponistin: Makiko Lehrer: Tobias Hömberg, Komponist: Stefan Lehrer: Henning Wehmeyer, Komponist: Nishikaze, Studierende: Zarko Jovasevic, Keller, Studierende: Maria Hawlitzki, Sven Mathias Hinke, Studierende: Sebastian Hannes Baumgart, SchülerInnen der 11. Jahr- Ratzel, SchülerInnen der 11. Jahrgangsstufe: Hensel, Henrike Löchte, SchülerInnen der gangsstufe: Lambert Regel, Danny Kaser, Louise Bloß, Yaren Cantekin, Yannik Felix 11. Jahrgangsstufe: Charmaine Becht, Damaris Becker, Louis Trinh, Marcus Nitzsche, Dönnebrink, Isabell Fleischanderl, Nils Erik Alissa Birle, Ricardo Blum, Niklas Buschner, Jean Tori Pantel, Sophie Noack, Bastian Greven, Bruno Kasimir Hertling, Leonard Ester Cheynubrata, Florian Janicke, Schmidt, Matthias Görg, Julian Ibsch, Anne Moritz Hübner, Leon Kaiser, Philipp Kanis, Melanie Kieback, Ray Köller, Laura-Marie Christin Rettich, Tobias Bucher, Lucas Sophie Carlotta Klemm, Fritz Kramer, Patrick Lange, Marius Moeck, Clemens Motzkus, Mann, Sascha Gaudlitz, Jonathan Eiteljörge, Jason Müller, Nick Niehaus, Felix Schabe, Joel Peetz, Markus Saure, Keerthana Dirk Tischer, Ephraim Dusdal Anne Schlangstedt, Charlotte Ellen Spyrka, Sivaharan, Jonathan Stockhorst, Ritchie Pascal Treutler, Jim Wehner, Patrice Wieland, Susan Zechlin Julian Zsoldos

Hector-Peterson-Schule, Kreuzberg

Lehrer: David Reuter, Komponist / Performer: Kurt-Schwitters-Schule, Tobias Dutschke, Studierende: Patrizia Prenzlauer Berg Sonntag, Inka Gbur, SchülerInnen der 9. Jahr- gangsstufe: Merve Ak, Maria Benz, Mine Nur Lehrer: Andreas Bunckenburg, Komponist: Bahadic, Berfin Basboga, Merve Çevik, Sahra Eres Holz, Studierende: Nora Fraisse, Chouayeb, Hatice Dogan, Marwa Darwiche, Jonathan Rohrer, SchülerInnen der 9. Jahr- Wafaa El-Ghazi, Scheima Fraijan, Ahmat Faris, gangsstufe: Eric Foerster, Ilyas Kantner, Yasemin Ipek, Jamila Iraqi, Mariam Iraqi, Leon Paulick, Karlotta Korenz, Richard Döring, Mert Özdemir, Simal Özun , Sinem Romanowski, Max Freundlich, Paul Frötel, Anselm Strath- Jasmin Wellermann, Sinem Yakut mann, Ronja Abduljameed, Madeleine Stoewe, Mandy Stoewe, Jonas Bredendieck, Ruben Treinies, Sebastian Vieth, Kiril Dimov, Danilo Wernicke, Anna Carvalho Otte, Virginia Perreiro Schiewe, Ana Rita, Teixeira Rudólfo, Sérgio Torres Gurreiro, Jerónimo Serrano Madeirinha, Clara Oliveira Gastelois, Franziska Neve, Blanca Feist Escobar, Cecilia Souza Gomes

QuerKlang, Philharmonie Berlin 2011 Foto: K&K

27 John Cage und die Folgen

Dienstag, 20. März 2012 Kammermusiksaal der Philharmonie 19:00 Uhr

Terry Jennings String Quartet ( 1960 ) 29’

Pause La Monte Young On remembering a naiad Fünf kleine Stücke für Streichquartett ( 1956 ) 6’ Alvin Lucier Navigations for Strings ( 1991 ) 15’ Stefano Scodanibbio Visas Drei Episoden für Streichquartett ( 1985/1987 ) 19’ I. Episodio »al Quartetto Arditti« II. Episodio »alla compagna di viaggio« III. Episodio »Vittorio Reta in memoriam«

Pause John Cage Music for Four ( 1987, rev. 1988 ) 30’

Arditti Quartet Irvine Arditti, Violine / Ashot Sarkissjan, Violine Ralph Ehlers, Viola / Lucas Fels, Violoncello

In Zusammenarbeit mit Berliner Künstlerprogramm des DAAD

Mitschnitt Deutschlandradio Kultur, Sendung 22. März, 20:03 Uhr

Förderer und Partner Terry Jennings: String Quartet für die James Waring Dance Company und für Youngs Theatre of Eternal Music. Terry Minimalistisch, mit nur wenigen zwischen piano Jennings Piano Piece und sein String Quartet und pianissimo lang gehaltenen Tönen und ( beide 1960 ) wurden 1963 in der legendären Akkorden, bewegt sich das String Quartet von Publikation An Anthology von La Monte Young Terry Jennings. Der amerikanische Kompo- veröffentlicht. nist und Musiker gehört wie auch La Monte Viele Jahre später erinnert sich der Young und zu einem Vertreter Freund: »Terry erwies sich bald als der Roman- der frühen minimal music. Jennings und La tiker [unter uns]: obgleich die Harmonien Monte Young trafen sich 1953 in Los Angeles seines Streichquartetts den ›dream chords‹ und spielten zusammen Jazz. In den späten erwachsen waren, waren sie reichlich mit 50ern begann Terry Jennings unter dem Oktavverdoppelungen und ungewöhnlichen Einfluss der Werke von La Monte Young, der Intonationen gesetzt. Eine weitere Innovation mit langen Tondauern und ausgedehnten war, dass die vergleichsweise langen Dauern Zeitabläufen komponierte, eigene Stücke zu durch Stoppuhren gemessen wurden anstatt schreiben. Im Loft von Yoko Ono in New mit notierten Metren, was dem Werk umso York City, wo La Monte Young die New Yorker mehr erlaubte, außerhalb der Zeit zu sein. Avantgarde zu Konzerten zusammenbrachte, Die Kombination von durchlässiger Klarheit führte der erst 20 Jahre junge Jennings seine und der außergewöhnlichen Gefühlsregung, Stücke auf und wurde als weithin »talen- die dieses Streichquartett kennzeichnet, ist tiertester« Interpret mit der Uraufführung wirklich inspirierend.« zahlreicher Werke betraut, u.a. mit Richard Melanie Uerlings Maxfields Wind für Tonband und Saxophon, welches ihm als Porträt zugedacht ist. Zu Beginn der 1960er Jahre arbeitete er auch

28 La Monte Young: Alvin Lucier: Navigations for Strings ständig wechselnder melodischer und instru- On remembering a naiad mentaler Kombinationen der vier Ausgangs- Die Idee zu Navigations for Strings kam mir töne. Wenn sich die Musiker durch diese Kom- Die ›Five Small Pieces for String Quartet‹ On 1980, als ich auf einem Berggipfel in Colorado binationen bewegen, lassen sie die Tonhöhen remembering a naiad wurden zwischen dem ionosphärische Klänge aufnahm. Während in kaum wahrnehmbaren Abstufungen steigen 2. und 16. November 1956 in Los Angeles ich die Bänder abhörte, bemerkte ich, dass sie und fallen. Manche dieser Abstufungen geschrieben. Ich war gerade 21 Jahre alt hohe Töne enthielten, die in unnatürlicher sind so winzig, dass sie vom menschlichen Ohr geworden und studierte Kontrapunkt und Kom- Regelmäßigkeit wiederkehrten. Später fand nicht unterschieden werden können. Während position bei Leonard Stein, dem berühmten ich heraus, dass dies Signale eines Omega sich die Intervalle verengen, verringern die Pianisten und ehemaligen Assistenten Arnold Navigationssystems waren, das eingesetzt Musiker allmählich den Grad der Lautstärke Schönbergs. Stein machte mich einem brei- wird, um die Positionen von Flugzeugen und und werden im Tempo immer langsamer. Auf teren Spektrum moderner Musik bekannt, und Schiffen in der ganzen Welt zu ermitteln und diese Weise werden die Klänge wie Schatten ich geriet langsam unter den völligen Bann sie zu leiten. Die natürlichen Radiowellen in die Länge gezogen und verschwinden in des Werks von Anton Webern. Die ›fünf kleinen aus der Ionosphäre, der äußeren Schicht der der Atmosphäre des Raums. Stücke für Streichquartett‹ waren die ersten Erdatmosphäre, bezauberten mich, aber Während des gesamten Stücks sind Stücke, die ich mit Hilfe der Zwölftontechnik ich war irritiert von dem ständigen Erklingen vernehmbare Impulse zu hören, deren Ge- komponierte. Sie waren von Weberns Sechs der künstlichen Töne aus dem Omega-Netz- schwindigkeit vom Abstand zwischen den Bagatellen op. 9 für Streichquartett und den werk. Selbst eine Reihe von Filter- und Schnitt- Tönen bestimmt wird. Zu Beginn betragen Fünf Orchesterstücken op. 10 inspiriert, vorgängen konnten sie nicht beseitigen. die Impulszahlen 14, 13 und 12 pro Sekunde, besitzen jedoch schon Elemente jenes Stils, Im Verlauf der folgenden Jahre haben was der Anzahl der Zyklen zwischen den den ich in meinen nachfolgenden Werken mich diese Töne verfolgt. Ich habe mich oft Ausgangstönen entspricht. Die Impulszahlen dieser Periode zu entwickeln begann. Die ›fünf selbst dabei ertappt, wie ich sie summte oder verringern sich allmählich bis Null, womit kleinen Stücke‹ sind wesentlich ausgedünn- pfiff, während ich alltäglichen Beschäftigun- das Unisono erreicht wird. Die Musiker können ter und transparenter als die Werke Weberns. gen nachging. Im Laufe der Zeit komprimierte in regelmäßigen Abständen die Tonhöhen Sie zeichnen sich durch längere statische ich sie allmählich zu einer einzigen Vierton- überprüfen, indem sie die Impulse zwischen Abschnitte mit pulsierenden und ostinaten zelle mit zwei absteigenden Ganztönen ( H, A, den benachbarten Tönen hören. Figuren aus sowie durch eine Antizipation B, As ) im Ambitus einer kleinen Terz. Oft Navigations for Strings wurde von des Gehalts meiner späteren Werke. Ebenso dachte ich daran, diese Töne in einem Musik- Ernstalbrecht Stiebler und dem Hessischen stellen sie den Anfang meines eigenen musi- stück zu verwenden. Rundfunk in Auftrag gegeben. Das Werk ist kalischen Vokabulars an intervallischen und Als ich den Auftrag erhielt, das vorlie- dem Arditti Quartet gewidmet. Es wurde im akkordischen Strukturen dar, die Vorahnun- gende Quartett zu schreiben, beschloss Frühjahr 1991 in Berlin und Middletown gen der ›dream chords‹ bildeten, die nach und ich, diese freundlichen, aber aufdringlichen ( Connecticut ) geschrieben. nach das primäre harmonische Material musikalischen Geister endlich zu Grabe zu Alvin Lucier von for Bass ( 1957 ), Trio for Strings ( 1958 ) tragen. Ich hatte die Absicht, die Omega-Töne Übersetzung Eckhard Weber und schließlich die einzige tonale Grundlage verschwinden zu lassen. Eine Art, dies zu für The Four Dreams of China ( 1962 ) wurden. bewerkstelligen, war, sie langsam von einer Durch diese Werke kann somit eine der Ent- Terz zu einem einzigen Ton zusammenzu- stehungslinien des Minimalismus in der drücken. Auf der Basis eines einfachen Zahlen- Musik verfolgt werden. systems gestaltete ich einen langen Strom La Monte Young

La Monte Young Foto: René Block

29 Stefano Scodanibbio sekundäre Beschäftigung. Vielmehr schrieb John Cage: Music for Four Kontrabassist und Komponist Stefano Scodanibbio die ersten Werke 18. 6. 1956 – 8. 1. 2012 schon vor seiner Solistenkarriere. Wenn es John Cages Music for Four gehört zu einer auch anfangs meist Stücke für Kontrabass Reihe von Stücken der Music for __ ( 1984-87 ), Wenn Stefano Scodanibbio mit dem Kontra- oder andere Streichinstrumente waren, so die Cage für variable Besetzungen schrieb. bass die Bühne betrat und diesem scheinbar entsprangen sie doch einem genuinen Aus- John Cage, der überaus beeindruckt war von schwerfälligen Instrument zärtlich-filigrane drucksbedürfnis und dem ausdrücklichen dem Spiel des Arditti Quartets, widmete dem oder metallisch-kreischende bis elektronisch Wunsch, Klänge zu erfinden und zu notieren, Quartett diese Komposition und erarbeitete anmutende, jedenfalls unerhörte Klänge zu die er selbst so noch nicht gehört hatte. Bei gemeinsam mit ihm deren Umsetzung und entlocken begann, war dies stets ein außer- seinem 1985-87 komponierten ersten Streich- Uraufführung für das Cage-Festival an der ordentliches Erlebnis. Das empfanden viele quartett Visas ließ sich Scodanibbio nicht Wesleyan University im Jahr 1988. Die Partitur künstlerisch sensible Menschen in der ganzen zuletzt von dem 1978 erschienenen gleich- der Music for Four besteht aus vier gänzlich Welt so, ganz besonders aber Musiker- und namigen Gedichtband des genuesischen unabhängig voneinander zu spielenden Stim- Komponistenkollegen, auf die dieser Künstler Dichters Vittorio Retas inspirieren. men, die vollständig notiert sind. Das Stück immer wieder Faszination und Inspiration Das Werk ist in drei »Episoden« ge- kann 10, 20 oder 30 Minuten dauern. Die Musi- ausstrahlte. Künstlerische Partnerschaften im gliedert, die jeweils eine eigene Widmung ker bestimmen mit Stoppuhren die zeitlichen Bereich der komponierten ebenso wie der tragen: Die erste ist dem Arditti Quartet Abläufe. Innerhalb gegebener Zeitabschnitte improvisierten Musik verbanden ihn unter gewidmet, das im Juli 1987 in Macerata ( im können die Spieler wählen, wie sie die Klänge anderen mit Terry Riley, Edoardo Sanguineti, Rahmen des von Stefano Scodanibbio ge- räumlich verteilen und wie viel Stille sie in jeder oder . John gründeten Festivals Rassegna della musica ablaufenden Minute einräumen. Kurze Zwi- Cage bezeichnete ihn nach einem Konzert in nuova ) die Uraufführung spielte; die zweite schenspiele von 5, 10 oder 15 Sekunden New York als den schlechthin außergewöhn- Episode lautet recht anonym »alla compagna müssen zu festgelegten Zeitpunkten erklingen. lichsten Kontrabassisten, den er je gehört habe. di viaggio« ( »der Reisebegleiterin« ) und die Besondere Elemente dieses Werks Später hat Stefano Scodanibbio Cages schon dritte Episode ist schließlich »Vittorio Reta sind die Verwendung von Mikrotonalität und in der Originalbesetzung extrem schwierige in memoriam« zugedacht. die räumliche Positionierung der Musiker, Freeman etudes ( das moderne Äquivalent Der Begleittext zur 1995 erschienenen die ganz unkonventionell, möglichst weit ent- zu Paganinis Violinetüden ) auf souveräne Weise Ersteinspielung von Scodanibbios Visas fernt oder voneinander abgewandt sitzen für sein Instrument bearbeitet. gibt einen Hinweis auf das außergewöhnliche sollten. Dies ermöglicht dem Hörer das Stück So unterschiedliche Komponisten wie Klangmaterial der Komposition: Die teilweise wirklich als das Spiel vierer unabhängiger Sylvano Bussotti, Salvatore Sciarrino, Franco dichten Texturen bilden sich nämlich größten- Spieler zu hören und nicht in der gewohnten Donatoni, , , teils aus vielfältigen Flageolettklängen, wie sie Homogenität einer Quartett-. »Das Fred Frith, Vinko Globokar und der Kontrabassist Scodanibbio jahrelang Ergebnis ist eine klangliche Ausgewogenheit, schrieben Werke für ihn. Mit Giacinto Scelsi am eigenen Instrument erforscht hatte. Von die Fragen aufwirft. Sie steht in scharfem und arbeitete er eng zusammen. entscheidender expressiver Bedeutung aber Kontrast zu der allgemein akzeptierten Homo- Nonos Spielanweisung arco mobile alla Stefano war der schon erwähnte Bezug zu dem Gedicht- genität des Streichquartetts«, so Irvine Arditti. Scodanibbio im Prometeo erfüllte ihn zu Recht band Visas ( der Begriff spielt mit der Doppel- Melanie Uerlings mit Stolz. Von erhielt er noch bedeutung »Gesichter« bzw. »Sichtvermerke« kurz vor dessen Tod im Jahr 2003 die Ermun- in Reisepässen ) – das Buch wurde für terung, die Sequenza Nr. XIV für Violoncello Scodanibbio einige Zeit zum ständigen Reise- solo mit großer künstlerischer Freiheit für sein begleiter. Diese zugleich extrem freie und Instrument zu adaptieren. obsessive Poesie, in der viele politische wie Sein eigenes kompositorisches sexuelle Erfahrungen, Hoffnungen, Träume Schaffen ( insgesamt über 50 Werke ) betrach- oder Traumata der jugendlichen Subkultur zur tete der »Revolutionär des Kontrabass- Sprache kommen, forderte dem Komponisten spiels« oder »Prophet des Kontrabasses«, eine künstlerische Antwort ab. wie er oft tituliert wurde, keineswegs als Wolfgang Korb

Stefano Scodanibbio Foto: Alfredo Tabocchini

30 Matthew Rose ›John Cage & Felix The Cat‹, 2006, Collage auf Pappe Collection Lauri Murphy, Denver, Colorado

31 Sonic Arts Lounge Williams Mix + Dienstag, 20. März 2012 Berghain 22:00 Uhr

John Cage Williams Mix for , eight tracks ( 1952 ) Originalfassung 4’15 Werner Dafeldecker / Valerio Tricoli Williams Mix Extended for eight channel digital audio. Based on Williams Mix by John Cage ( 1952 / 2012 ) UA / AW 32’ John Cage Williams Mix for magnetic tape, eight tracks ( 1952 ) Originalfassung 4’15 Morton Feldman The Possibility of a New Work for Electric Guitar Zwei Rekonstruktionen der verschollenen Partitur von Seth Josel ( 1966 / 2010 ) 9’ John Cage Imaginary Landscape No. 5 for any 42 phonograph records ( 1952 ) Original-Tonband 3’

Seth Josel, E-Gitarre Werner Dafeldecker / Valerio Tricoli / TU Studio, Klangregie

anschließend: EM Lounge Perlen elektroakustischer Musik für vier und mehr Lautsprecher ausgewählt und präsentiert vom Elektronischen Studio der TU Berlin

In Zusammenarbeit mit TU Berlin – Fachgebiet Audiokommunikation – Elektronisches Studio, Berliner Künstlerprogramm des DAAD und Berghain. Mit Unterstützung von Goethe-Institut e.V.

Williams Mix Extended auf Deutschlandradio Kultur am 4. Mai 2012, 0:05 Uhr

Förderer und Partner John Cage / Werner Dafeldecker / John Cages Williams Mix nimmt in der Valerio Tricoli: Williams Mix Extended frühen Tonbandmusik insofern eine Sonder- stellung ein, als dass es sich um ein Werk han- Williams Mix von John Cage gehört zu den delt, das im Studio nach einer bereits abge- Schlüsselwerken der frühen Tonbandmusik. schlossenen Partitur realisiert wurde. In jenen Jahren, in denen Synthesizer und Üblicherweise entwickelten in dieser Zeit die Sequenzer noch nicht zur Verfügung standen, Komponisten ihre Tonbandstücke aus dem wurde elektroakustische Musik in den da- Arbeitsprozess im Studio heraus. Im Falle mals gerade gegründeten Studios direkt auf des Williams Mix jedoch verlangte Cages Tonband ( oder Schallplatte ) produziert: Kompositionsweise die der Realisation vor- Durch die Aufnahme von existierenden Klängen ausgehende schriftliche Fixierung des Werkes, ( Umweltgeräusche, Stimme, Musikinstru- für das die verschiedenen musikalischen mente ), die Erzeugung elektronischer Klänge Parameter mittels Zufallsoperationen ermit- mit einfachsten Mitteln ( Schwingungs- und telt wurden. Außerdem erwies sich die Rauschgeneratoren, Schwebungssummer ), die Umsetzung des achtkanaligen Williams Mix Bearbeitung durch Filterung, Veränderung als extrem zeitaufwendig, und nur die der Abspielgeschwindigkeit und -richtung und Verwendung einer verbindlichen Partitur durch die neue zeitliche Anordnung und machte es möglich, dass vier und mehr Überlagerung des Materials. Personen mit unterschiedlichen Aufgaben Die ästhetische Sprengkraft, die in den an unterschiedlichen Orten gleichzeitig an ersten Jahren von der Tonbandmusik ausging, der Realisation arbeiteten ( für das acht­ ergab sich hauptsächlich aus zwei Motiven: kanalige Stück von 4‘15“ Dauer benötigten Einerseits stand den Komponisten auf ein- sie etwa ein halbes Jahr ). mal das Total aller möglicher Klänge für ihre 2010 unterbreiteten die Komponisten Arbeit zur Verfügung und das Publikum fand und Musiker Werner Dafeldecker und Valerio sich so mit ihm völlig unbekannten Klang- Tricoli dem Elektronischen Studio der TU welten konfrontiert. Andererseits entstand den Plan einer Bearbeitung von Williams Mix, erstmals eine ( scheinbar ) interpretenlose basierend auf der 192-seitigen Partitur. In Musik, die keines aufführenden Musikers ihrer digital produzierten Fassung spreizen bedurfte und in Lautsprecherkonzerten sie die Zeitachse um den Faktor acht und präsentiert wurde. Hans Heinz Stuckenschmidt collagieren respektive transformieren die in ging so weit, diesen Paradigmenwechsel der New York aufgezeichneten Klänge gemäß Musikauffassung zur »dritten Epoche der der Partitur – Cage sah die Klang-Kategorien Musik« ( nach Vokal- und Instrumentalmusik ) Stadt, Land, elektronische Klänge, manuell auszurufen. erzeugte Klänge ( inklusive Musik ), mit Wind

32 erzeugte Klänge ( inklusive Gesang ) und Morton Feldman: The Possibility deutet, aber nicht richtig ausgeführt. Es gibt »kleine« Klänge, die verstärkt werden müssen, of a New Work for Electric Guitar keine klare Abfolge der Ereignisse, und irgend- vor. Der so entstandene Williams Mix Extended wo in der Mitte wechselte Feldman von Blei- thematisiert einerseits das Verhältnis von Die Rekonstruktion von Morton Feldmans stift zu Tinte. Kurz: Womit wir es hier zu tun Partitur und Zuspiel-Medium, andererseits verschollener Partitur The Possibility… haben, sind eher kompositorische Notizen – ermöglicht er durch die zeitliche Dehnung von besteht aus zwei Teilen: und dies ist der Grund, warum diejenigen, die vier Minuten auf über eine halbe Stunde den a ) einem Reenactment von Christian Wolffs mit diesem Material bislang in Berührung hörenden Nachvollzug der dichten räumlichen Aufführung in Berkely am 29. Juli 1966 und kamen, es nicht wagten, das Werk zu rekon- Überlagerung der Einzelspuren, die im Origi- b ) meiner »Rekonstruktion«, die zwischen der struieren. Wenn man allerdings Wolffs naltempo eher in eine rauschhafte sensorische schlechten Qualität der Konzertaufzeichnung wundervolle Aufführung hört, beginnen diese Überforderung mündet. und einer DIN A4 Skizze, die sich in Feldmans Fragmente sinnvoll zu erscheinen, und ein Volker Straebel Nachlass in der Paul Sacher Stiftung, Basel formaler Zusammenhang zeichnet sich ab. befindet, zu vermitteln versucht. Dabei fällt auf, dass das Werk an den nackten, Im Rahmen unserer E-Mail-Korrespon- kargen Charakter einer anderen Komposition denz teilte mir Christian Wolff mit, dass er von Feldman aus dieser Zeit erinnert: Christian John Cage: Imaginary Landscape No. 5 in jener Zeit E-Gitarre entweder im Lotussitz Wolff in Cambridge. ( oder halbem Lotussitz ) spielte, oder mit Ich bin drei Personen außerordentlich ist das wahrscheinlich erste Stück amerika- der Gitarre auf dem Boden liegend ( als »Tisch- dankbar, mit denen ich in der Vergangenheit nischer tape music, realisiert im Januar 1952 Gitarre« sozusagen ). Dies erklärt einige der zusammengearbeitet habe und die mir freund- im Studio von Louis und Bebe Barron. Cage »Unfälle«, die man auf der Aufnahme hört, da licherweise Unterstützung und Material, auf hatte für den dreiminütigen Solo-Tanz Portrait diese Spielweise naturgemäß für solche dem diese Rekonstruktion basiert, angedeihen of a Lady von Jean Erdman eine Partitur Ausrutscher anfällig ist. In welchem Maße ließen: Christian Wolff, Brian Brandt und erstellt, in der 42 beliebige Schallplatten in Wolff vielleicht aus dem Stegreif agiert hat, Charles Amerkanian. bis zu acht Schichten überlagert werden. ist reine Spekulation. Zu der Skizze ist zu Seth Josel Für die Original-Fassung, die ich vor kurzem sagen, dass sie alles andere als schlüssig ist. Übersetzung Volker Straebel in einer Kopie von Konzert-Qualität im Nach- Wer die Seite studiert hat, kommt zu der lass von David Tudor entdeckt habe, verwen- Auffassung, dass Feldman verschiedene Inter- deten Cage und Tudor Jazz-Schallplatten aus vall-Kombinationen erwogen hat. Nur in ein der Sammlung von Jean Erdman. oder zwei Fällen ist eine Linie oder Phrase Volker Straebel auszumachen. Musikalische Gesten sind ange-

John Cage, ›Williams Mix‹, Partiturseite. Zwei Systeme mit jeweils acht Spuren enthalten die Formen der auf ein leeres Band aufgeklebten Tonbandfragmente im Maßstab 1:1. Der Ausschnitt zeigt eine Dauer von 1,3 Sekunden. © Edition Peters

33 Pole

Mittwoch, 21. März 2012 Kammermusiksaal der Philharmonie 19:00 Uhr George Brecht Symphony No. 2 ( 1962 ) 5’ Wolfgang Rihm Versuchung Hommage à Max Beckmann für Violoncello und Orchester ( 2009 ) 25’ James Tenney Form 2 In memoriam John Cage [1912 – 1992] ( 1993 ) 17’

Pause Emmanuel Nunes Improvisation I – Für ein Monodram für neun Instrumentalisten ( 2002 / 2005 ) DE 25’ Wolfgang Rihm Will Sound More Again für Ensemble ( 2005/2011 ) DE 18’ Auftragswerk Casa da Música Porto und Berliner Festspiele / MaerzMusik

Remix Ensemble Angel Gimeno / José Pereira, Violine / Trevor McTait / Irma Skenderi / David Lloyd, Viola Oliver Parr / Filipe Quaresma / Ana Vanessa Pires, Violoncello António A. Aguiar / José Fidalgo, Kontrabass / Stephanie Wagner, Flöte José Fernando Silva / Francesco Sammassimo, Oboe Vítor J. Pereira / Ricardo Alves, Klarinette / Romeu Costa / Fernando Ramos, Saxophon Roberto Erculiani / Lurdes Carneiro, Fagott / Nuno Vaz, Horn Gary Farr / António Silva, Trompete / Filipe Alves, Posaune / Filipe Queirós, Tuba Mário Teixeira / Manuel Campos / João Cunha, Schlagzeug Jonathan Ayerst, Klavier / Carla Bos, Harfe / Paulo Jorge Ferreira, Akkordeon

Peter Rundel, Leitung Sonia Wieder-Atherton, Violoncello

In Zusammenarbeit mit Casa da Música Porto. Mit Unterstützung von Réseau Varèse – European Network for the Creation and Promotion of New Music, gefördert durch das Programm »Kultur« der Europäischen Union.

Mitschnitt Deutschlandradio Kultur, Sendung 22. März 2012, 20:03 Uhr

Förderer und Partner George Brecht: Symphony No. 2 kleine Objekte enthielten. Mit seinen spekta- kulären Konzertaktionen versammelte Fluxus Der US-amerikanische Künstler George Brecht kurzzeitig die heute bekanntesten Avantgarde­- gehörte zu den frühen und wichtigsten Ver- künstler der 1960er Jahre, zunächst in Ame- tretern der Fluxus-Bewegung, die der Litauer rika und dann in Deutschland: neben George George Maciunas um 1960 ins Leben rief Brecht und Maciunas u.a. , und die sich schnell neben Performance und John Cage, La Monte Young, Philip Corner, Happening etablierte. »Während das Hap- Al Hansen, Dick Higgins, Richard Maxfield, pening auf das Barockballett des Hofes zu Yoko Ono, Toshi Ichiyanagi, Allan Kaprow, Versailles zurückgeht, entwickelt Fluxus Emmett Williams, Robert Filliou, aber auch Vaudeville, Gags, Dada und japanische Haikus Maler wie , Artur Köpcke weiter«, so Maciunas. Fluxus sollte einen und Komponisten wie Dieter Schnebel oder fließenden Übergang zwischen Kunst und Henning Christiansen. Leben schaffen. Fluxus beinhaltete viel- Fluxus steht für Konkretismus und Anti- fältige Kunstformen von Musik und theatra­ kunst. Die Aktionen unter dem Banner Fluxus lischen Aktionen bis hin zu Konzeptkunst, nehmen meist mit der Verwendung musikali- Poesie, Objekten und Editionen von Flux-Kits – scher Terminologie eindeutig Bezug auf Musik Auflagen von Schachteln, die Partituren und und Musikgeschichte. Es wurden »Konzerte«

34 Max Beckmann, ›Versuchung‹ (des Heiligen Antonius), 1936/1937 Öl auf Leinwand, Mittelbild 200 x 170 cm, Flügel 215,5 x 100 cm München, Bayerische Staatsgemäldesammlung © VG Bild Kunst

aufgeführt, »Partituren« erstellt und »Sym- von und zur Malerei. Sein Komponieren ist Rihm in seiner ›Hommage à Max Beckmann‹ phonien« und »Sonaten« geschrieben, ein skulpturales Arbeiten am unendlichen Versuchung für Violoncello und Orchester teilweise für herkömmliche instrumentale Klang, den er in sich wahrnimmt. »Ich habe ( 2009 ), mit dem er sich auf Max Beckmanns Besetzungen und für einen »Konzertsaal«. die Vorstellung eines großen Musikblocks, Triptychon Versuchung ( des Heiligen An- Auch viele Stücke von George Brecht, darun- der in mir ist. Jede Komposition ist zugleich tonius ) aus den 1930er Jahren bezieht. Zur ter die Symphony No. 2 ( 1962 ), behalten ein Teil von ihm als auch eine in ihm gemei- gleichen Zeit entstand eine weitere durch Betitelung und Besetzung das Inventar ßelte Physiognomie. [ ... ] Mit mir geschieht »Beckmann«-Komposition, Der Maler träumt des bürgerlichen Musikbetriebs bei, um etwas Ähnliches wie mit meinem Musik- für Bariton und Orchester, in dem Beckmanns gleichzeitig die traditionelle Kunstauffassung block. Ein Zeitfaden trennt einen bemessenen Text Über meine Malerei als Quelle dient. infrage zu stellen, sich ihren Mechanismen Teil ab und schafft so erst meine Physio- Tatsächlich schafft Rihm es, in der Beziehung zu verweigern und das Publikum mit etwas gnomie.« von Soloinstrument und Orchester genau zu konfrontieren, was ihren Gewohnheiten Von Gefährdung und zwanghaftem jenes klangfarblich prismatische Aufbersten und Erwartungen absolut entgegensteht. Die Handeln erzählen nicht nur die Sujets in der einzelnen Linie zu formulieren, das theatralischen Effekte dieser Aktionen, Wolfgang Rihms Kompositionen, sondern über den Taumel an Boden verliert, um in An- die vordem ungewünschten Nebenerschei- sie kennzeichnen sein Musik-Schreiben betracht eben jener Versuchung / Gefähr- nungen, werden zu einer Hauptattraktion. selbst. Musik zu imaginieren, bzw. aus dem dung des Antonius den freien tonalen Fall in Melanie Uerlings unendlich fließenden Musikstrom mit jedem die Abgründe der meist grüblerischen Orches- Werk einen neuen Ausschnitt, eine neue terstimmen zu überleben. Das Orchester Form zu präsentieren, kommt in seiner musi- bildet gewissermaßen dasjenige Farb- und kalischen Anschauung obsessivem Handeln Gestenspektrum, das als Rückspiegelung der Wolfgang Rihm: Versuchung gleich. Gefährdet ist der Klang in seiner von Solostimme wieder an den Anfang der Inspi- Verflüchtigung bedrohten Gegenwärtigkeit ration führt, also den Musikstrahl durch das Wolfgang Rihm wollte als Kind zuerst Maler ebenso wie der Körper des Komponisten, des- Prisma der Komposition zurück auf den Im- werden, dann Schriftsteller und zuletzt sen Hüllkurve im Raum Verzerrungen aus- puls verdichtet. Chronologie und Erinnerung Komponist. Der Weg von der Bildenden Kunst gesetzt ist, dessen »Schnitt ins eigene Fleisch« treffen aufeinander, um den Verlust völliger zu seinem gewissermaßen objekthaften, ( Rihm ) ihn innere Räume und Zustände Unschuld zu betrauern, der Gefährdung / Ver- körperlich-gestischen Komponieren ist dem- sehen, betreten und wahrnehmen lässt, die suchung jedoch standzuhalten. nach noch kürzer als bislang vermutet. fern jedes konventionellen Schönheitsbe- Achim Heidenreich Ganze Werkgruppen veranschaulichen seine griffs liegen und sich eher als unterschiedliche enge Beziehung zur Bildenden Kunst, zahl- Grade von Brüchigkeit beschreiben lassen. reiche Künstlerfreundschaften zeugen vom Um Brüchigkeit der Linie und Gefähr- ständigen Energiefluss Wolfgang Rihms dung der Perspektive geht es Wolfgang

35 James Tenney: Form 2 – In memoriam John Cage

Harmonik, als eigenes Thema von der Nach- kriegs-Avantgarde lange vernachlässigt, steht im Zentrum der Arbeit von James Tenney. Tenney gewinnt harmonische Bezüge in späten Werken ausnahmslos aus Obertonspek- tren – im Falle des vierteiligen Zyklus’ Forms von 1993 aus dem Spektrum von »e«. In der John Cage gewidmeten Form 2 wird dieses Spektrum in Zweiergruppen bis zur 27-Stim- migkeit sukzessive von unten nach oben auf- gebaut und dann, nach Erreichen des Maxi- mums, von unten her ausgedünnt, bis nur noch ein Ton übrig bleibt. Die Entwicklung voll- zieht sich innerhalb 51 Zeitklammern von je 20 Sekunden Dauer. Die Spieler sind aufge- fordert, innerhalb dieser Zeitklammern die zur Verfügung stehenden Töne nach und nach zu spielen, und zwar für die Dauer eines Atem- zugs, eines Bogenstrichs oder bis ein ange- schlagener Ton verklungen ist. Vom letzten Ton ist der nächste Ton jeweils durch eine Pause zu trennen. Mit den Zeitklammern greift Tenney eine Idee von John Cage auf, mit deren Hilfe sich zeitliche Abläufe strukturieren lassen, ohne sie zu rhythmisieren. Die räumliche Wolfgang Rihm, Foto: Kai Bienert Aufstellung des zwar mindestens 16-köpfigen, aber sonst frei besetzbaren Ensembles auf vier Eckpunkte um das Publikum soll nach James Tenneys Willen »eine gleichmäßige Verteilung der Register und Klangfarben mit Bezug zum Raum« ermöglichen. Raoul Mörchen

»Musik ist die Kunst, der Zeit einen Körper zu formen, durch in die Zeit gesetzte Klang- Zeichen und akustische Bewegungsstrukturen, die sich erst – und jeweils anders – im Hörer zur Kunsterfahrung ›Musik‹ zuspitzen.« Wolfgang Rihm, 1985 in: ›Ausgesprochen‹, Winterthur 1978

36 Emmanuel Nunes: Improvisation I – Wolfgang Rihm: Will Sound More Again Für ein Monodram Gewissermaßen ein »Übermalen« bereits vor- Die Stücke Improvisation I – Für ein Monodram handener Werke und Werkteile in groß ­an- und Improvisation II – Portrait für Viola ( 2002 ) gelegten und zeitlich offenen Reihen und Werk- von Emmanuel Nunes sind instrumentale komplexen, wie etwa dem Séraphin-Komplex Werke, die seinem Musiktheater La Douche oder den Symphonie fleuves-Kompositionen, ( 2008/09 ) vorangingen. Es sind Komposi- durchzieht Wolfgang Rihms Musikdenken in tionen, die nicht in erster Linie szenisch und den letzten zwanzig Jahren. Bereits mit seinem dramaturgisch konzipiert sind, aber die be- Chiffren- und Tutuguri-Zyklus aus den 1980er reits verschiedene Elemente enthalten, die Jahren, aber auch mit dem Werkdoppel Sub dem musikalischen Universum des Musik- Kontur und Dis Kontur aus seiner frühen theaters entsprechen. Schaffensphase machte Rihm deutlich, dass Das Musiktheater-Projekt nimmt er Musik nicht nur als einen immerwähren- Fjodor Dostojewskis Erzählung Die Sanfte den Musikfluss behandelt, aus dem er seine zum Ausgangspunkt. Von dem aktenkundigen Partituren schöpft, sondern dass in diesem Selbstmord einer jungen Frau ausgehend, Musikfluss alles mit allem in einem sinnstif- konstruiert Dostojewski den Fall eines vom tenden Zusammenhang steht und eine trif- Leben verbitterten Offiziers, der nur noch tige musikalische Form bilden kann, weil sich auf Rache an der Menschheit sinnt und Form aus Beginnen und Enden von Musik schließlich ein Mädchen heiratet, das ihm in selbst findet. Die Werke Gedrängte Form und seiner engelhaften Sanftheit das rechte Gejagte Form bis hin zu seinen Jagden und Objekt für sadomasochistische Unterwerfungs- Formen ( 1995-2001 ) sind dafür aussagekräf- rituale scheint. Die Vorgänge werden als tige Beispiele und tragen das Prinzip der zeitlich sprunghafte, sprachlich zerklüftete fortschreibenden Formung bereits im Titel. Erinnerungen des Witwers am aufgebahrten Rihms Will Sound-Werke sind mittler- Leichnam seiner Frau wiedergegeben. So folgt weile drei: Will Sound More Again ( 2005/11 ) der Leser einer qualvollen Rekonstruktion hebt sich durch lyrische Momente deutlich von des Erlebten, die auf die tragisch verspätete dem wild bewegten Vorgänger Will Sound Erkenntnis hinausläuft, dass Einsamkeit ( 2005 ) ab. »Etwas wird klingen, weil es klingen und Tod die Strafe für die Verachtung der Liebe will«, schrieb dazu Wolfgang Rihm: »Der sind. Nunes’ kompositorisches Interesse an Komponist folgt dem Willen und Werden und der Erzählung entzündete sich an zwei Momen- notiert die Zwischenräume. Es entsteht ten: zum einen an der Form des ( inneren ) eine Form, die ein Abdruck der Energie ist, die Monologs; zum anderen an der scheinbar an- archischen Aktivität des Gedächtnisses, das zwischen Gegenwart, naher und ferner »Ich will bewegen und bewegt sein. Vergangenheit assoziativ hin und her springt. Als musiktheatralische Umsetzung schwebte Alles an Musik ist pathetisch.« Nunes die Form eines Monodrams für einen Wolfgang Rihm, 1978 in: ›Ausgesprochen‹, Winterthur 1978 Sprecher, Ensemble und Bühnenausstattung vor. Vorerst rein instrumental sind die beiden Vorstudien, die Nunes unter dem Titel Improvisation dem Werk vorausschickte: »Im- sich formen will.« In einer erneuten Erwei- provisation bedeutet für mich in diesem Fall terung hat der Komponist für das Ensemble nicht eine Schreibweise, die den Interpreten Remix Will Sound More Again geschrieben, improvisatorische Freiheiten einräumt, ebendort uraufgeführt im Oktober 2011. Diese sondern meine Beziehung zum Text von Dosto- Will Sound-Werke sind mit ihrem freien Spiel jewski. Das heißt, dass es sich dabei noch der musikalischen Kräfte und mit ihrem das nicht um eine feste, sondern um eine vorläu- Dasein bejahenden Gestus den Jagden und fige, ›improvisierte‹ Beziehung zum Mono- Formen ähnlich. dram handelt. Es sind Annäherungen an das Wolfgang Rihm befreit mit diesen zeit- künftige Werk.« In Improvisation I findet rafferischen kompositorischen Wachstums- Dostojewskis Monolog mit seiner allmählichen prozessen die Musik nicht aus ihren instrumen- Entwicklung des Gedankenflusses von talen Fesseln – wie es einst Busoni forderte diffuser Vielschichtigkeit zu finaler Klarheit –, das ist längst geschehen, spätestens seit- eine strukturelle Umsetzung in Musik. ln dem wir »Geige« sagen. Was wir erleben, ist einer Art Rondoform wechselt Nunes zwei eine komplett ideologiefreie Setzung klingen- charakteristische Gestalten ab: ln der ersten der und spieltechnisch meisterhaft ausge- überlagern sich Arpeggien, variable melo- hörter Linien und Zusammenklänge. Das dische Figuren und komplexe Rhythmen zu konzertante Prinzip, einst Kennzeichen einer polyphonen, in sich beweglichen Struk- Neuer Musik vor dem Zweiten Weltkrieg, wird tur; in der zweiten Gestalt dagegen erhält hier zur ästhetischen Maxime. Die drei die Vielschichtigkeit vor allem rhythmisch Will Sound-Werke verhalten sich auch zuein­- einheitlichere Konturen, bis sich durch stän- ander konzertant. digen Wechsel am Ende eine Art idealer, wort- Achim Heidenreich loser Sprachrhythmus herausschält. So wie in Dostojewskis Monolog aus der Polyphonie der Zeitschichten am Ende die eindeutige Erkenntnis des Verbrechens entsteht, so lässt Nunes aus der komplexen Polyrhythmik zuletzt die Klarheit einer sprachnahen Diktion auftauchen. Michael Struck-Schloen

37 Sonic Arts Lounge Annie Gosfield / Portrait Mittwoch, 21. März 2012 Berghain 22:00 Uhr Annie Gosfield Lightning Slingers and Dead Ringers für Klavier und Sampler ( 2008 ) 17’ Lost Signals and Drifting Satellites für Violine und Elektronik ( 2003 ) 8’ Four Roses für Violoncello und verstimmtes Klavier ( 1996 ) 6’ A Luminous Reflection of Metallic Direction für Violoncello und Elektronik ( 2012 ) 10’ UA / AW Berliner Festspiele / MaerzMusik und The American Academy in Berlin

Pause EWA7 für Sampling Keyboard, E-Gitarre, Perkussion ( 1999 ) 40’

Stephen Gosling, Klavier · Keyboard George Kentros, Violine Frances-Marie Uitti, Violoncello Annie Gosfield, Keyboard · Elektronik Roger Kleier, E-Gitarre Chris Cutler, Perkussion

In Zusammenarbeit mit The American Academy in Berlin und Berghain

Förderer und Partner Annie Gosfield / Portrait Rahmen des Siemens Kulturprogramms in Werkshallen in Nürnberg aufgenommen habe, Lightning Slingers and Dead Ringers wo die Verbindung von Kunst und Industrie im Mittelpunkt stand. Am Schluss orientiert wurde ursprünglich für Lisa Moore komponiert, sich der Klavierpart an den Samples: Ange- für Klavier und Sampler. Statt vorproduzierte trieben von jagenden Rhythmen und dichten Elektronik einzusetzen, habe ich elektronische Klangfeldern wird das Klavier selbst eine Klänge integriert, indem ein Sampler einge- Maschine. setzt wird, im Wesentlichen ein digitales Auf- nahmegerät, das mittels einer klavierähnli- chen Tastatur betätigt wird. Auf diese Weise konnte Lisa Moore ihre Interpretationskunst Lost Signals and Drifting Satellites sowohl im Akustischen als auch im Elektroni- schen zur Geltung bringen. Lightning Slinger wurde mit George Kentros entwickelt. Er ist ( »Blitzschleuderer« ) ist ein veralteter Ausdruck Violinist und lebt in Stockholm. George für einen Telegrafisten und ein passendes Kentros bat mich um ein Stück für »Violine und Bild für eine Pianistin, die musikalische Gedan- etwas Anderes«. Die Komposition ist für Vio- ken in ein elektronisches Medium überträgt. line geschrieben, die von Satellitenklängen, Dead Ringer ( »lahmer Doppelgänger« ) be- Kurzwellen und Radioübertragungen begleitet zeichnet einen identischen Ersatz für etwas wird. Die rauschenden, plappernden und ver- und ist ein Begriff, der ursprünglich beim steckten Melodien dieser Übertragungen Pferderennen gebräuchlich war, wenn ein sehr werden echoartig von der Violine übernommen, leistungsstark wirkendes Pferd durch ein die zwischen erweiterten Instrumentaltech- ähnlich aussehendes ausgetauscht wurde, um niken und traditioneller Spielweise wechselt. die Wetten zu vermasseln. Die »lahmen Wie ein Radioapparat, der allmählich die Doppelgänger« sind in diesem Fall die Samples Sendesignale verliert und empfängt, gleitet des Klavierklangs: die verstimmten, umge- die Musik zwischen diesen beiden Welten. stimmten, schwirrenden, gleitenden und ras- Sie schwebt zwischen festen Tonhöhen und selnden Klänge sind mit verschiedenen Geräuschhaftem und geht schließlich in ein Techniken erzeugt worden, etwa durch eine fernes Rauschen über. veränderte Stimmung des Instruments oder Lost Signals and Drifting Satellites, The ein präpariertes Klavier. Gegen Ende des Harmony of the Body-Machine und Marked Stücks setzen Maschinengeräusche in Form by a Hat gehören zur gleichen Werkgruppe von von Samples ein, die in Fabriken aufgenom- Solokompositionen, die in enger Zusammen- men wurden, sowie ein alter analoger Serge- arbeit mit einzelnen Musikern entstanden und ARP-Synthesizer. Die Maschinengeräu- sind. Die Stücke betonen Spielarten, die diese sche stammen aus der umfangreichen Sample- Musiker entwickelt haben, und enthalten Sammlung von Industrieklängen, die ich unkonventionelle Klänge und Aufnahmetech- während meines Stipendienaufenthalts im niken.

38 Four Roses und Verzerrungen, um Parallelen zwischen Ost lenter Klangfülle, geheimnisvolles Brummen, und West darzustellen und um die Musik- schrille Gitarrenklänge und schnelle Rhyth- Drei der Cellosaiten sind konventionell ge- anlage des Clubs Berghain optimal zu nutzen. men eingesetzt, um ein »kakophonisches« stimmt, die A-Saite ist um 80 Cent tiefer Frances-Marie Uitti spielt ein seltenes industrielles Getöse anzudeuten, das vom gestimmt, was gerade noch einem Halbton Aluminium-Cello, das in den 1920er Jahren Krachen und Knallen großer Maschinen be- entspricht. Diese Skordatur führt zu mikro- von der Firma Pfretschner gebaut wurde. Das gleitet wird. EWA7 besteht aus vielen ver- tonalen Intervallen zwischen der offenen Instrument inspirierte mich, mein Interesse schiedenen Teilen für volles Ensemble, Solo- A-Saite und den herkömmlich gestimmten auf metallene Klänge zu richten und auf meine partien und Duopassagen, sozusagen von Saiten. Der Pianist spielt ein präpariertes umfangreiche Sample-Sammlung zurück- feinen Motoren bis zum gewaltigen Rhythmus Klavier und Klavier-Samples, die auf eine Ton- zugreifen, die ich in den Werkshallen in Nürn- der »Maschine« aus den gesamten Musikern. leiter mit 32 Noten pro Oktave gestimmt sind. berg aufgenommen hatte. Ich habe zudem EWA7 wurde während eines Aufenthalts in »Four Roses« ist der Name eines eher billigen meine Sammlung mit Live-Aufnahmen von Fabriken in Nürnberg entwickelt und dort, wie Whiskys, der von meinen Eltern bevorzugt Metall-Schlagzeugen, Maschinenklängen auch u.a. beim Warschauer Herbst, an der wurde, als sie sich kennenlernten. Obgleich und Cello-Samples verwendet. Frances-Marie Brooklyn Bridge sowie auf internationalen dieses Stück drei Jahre vor seiner konzer­ und ich haben intensiv zusammengearbeitet, Festivals wie dem Huddersfield Contemporary tanten Uraufführung bereits eingespielt wurde, um dieses neue Stück zu entwickeln. Es ist Music Festival und dem Festival International ist es zu einem meiner Lieblingsstücke eine Ehre, mit ihr zusammen­zuarbeiten, um de Musique Actuel de Victoriaville ( Québec ) bei Konzerten geworden. Ich habe es oft mit ein Stück zu schaffen, bei dem sie die Frei- aufgeführt. Cellisten wie Felix Fan, Joan Jeanrenaud heit hat, ihre einzigartige Vision für das Cello Um den Geist dieses Stücks, das ur- und anderen aufgeführt. auszudrücken. sprünglich für eine Aufführung an einem spezifischen Standort geschaffen wurde, zu wahren, wird EWA7 auf den jeweiligen Ort abgestimmt. Dabei werden Metallteile, Schrott- A Luminous Reflection EWA7 Schlagzeuge und Materialien eingesetzt, die of Metallic Direction an diesem Ort vorgefunden werden. In EWA7 trifft Musik auf Maschinen. Das Annie Gosfield Das neue Stück für Cello und Elektronik habe abendfüllende Werk beinhaltet gesampelte Übersetzung Eckhard Weber ich für die Cellistin Frances-Marie Uitti ge- Maschinengeräusche, mit Metall aus In- schrieben. Es ist das erste Projekt, das ich dustriehallen erzeugte Schlagzeugklänge, während meines Aufenthalts als Fellow an Klänge einer manipulierten elektrischen der American Academy in Berlin fertiggestellt Gitarre, von Maschinen inspirierte Rhythmen, habe. In Berlin drängt es sich geradezu auf, Umweltgeräusche und verschiedene eine klangliche Analogie zu den Themen Ost »recycelte« Fabrikgeräusche. Ursprünglich und West zu gestalten. Ich habe eine stereo- wurde das Stück für einen spezifischen phone Bewegung, das Schwenken zwischen Standort in einer Fabrik mit dem Namen EWA7 zwei Kanälen, und ein stereophones Feld in Nürnberg geschrieben. Es ist eine Reise eingesetzt, außerdem Dub-Effekte, schwere durch wechselnde Industriestandorte. Es Bassklänge und pochende Drums, Kontraste werden Schrott-Schlagzeugklänge in opu-

Annie Gosfield , Foto: Josh Gosfield

39 Pole

Donnerstag, 22. März 2012 Philharmonie 19:00 Uhr Wolfgang Rihm 3. Doppelgesang für Klarinette, Viola und Orchester ( 2004/2007 ) 32’ Morton Feldman Coptic Light für Orchester ( 1986 ) 25’

Pause Christian Wolff John, David für Orchester und Schlagzeug solo ( 1998 ) 22’ Wolfgang Rihm Magma für großes Orchester ( 1973 ) 15’

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg Lothar Zagrosek, Leitung Jörg Widmann, Klarinette Antoine Tamestit, Viola Robyn Schulkowsky, Schlagzeug

In Zusammenarbeit mit Berliner Künstlerprogramm des DAAD

Mitschnitt Deutschlandradio Kultur, Sendung 30. März 2012, 20:03 Uhr

18:00 Uhr Philharmonie / Südfoyer

Wolfgang Rihm im Gespräch mit Rudolf Frisius

Förderer und Partner Wolfgang Rihm: zugrunde, an das die als »Sonetto« betitelten 3. Doppelgesang / Magma Sätze Nummer zwei und vier mit obligater Harfe anklingen. Der Text selber taucht im Man kann sich der Musik einfach überlassen. 3. Doppelgesang nicht auf, wohl aber seine Ohne Vorinformationen zuhören. Das Stück klanglich verdichtete atmosphärische Hülle. erzählt keine Geschichte, die herauszufinden Das Verfahren erinnert an Robert Schumann, ist, auch wenn der Titel »Doppelgesang« der innere Stimmen als nicht erklingende Zen- entsprechende Erwartungen hervorrufen mag. tren vorgab und den Ton von Dichtungen in Die äußere Anlage des 3. Doppelgesang ent- Klavierstücken komprimierte. Von Schumann spricht der eines Doppelkonzerts für Klarinette kann man auch den Ausdruck »Mitteltinten« und Viola. Indes rückt das Moment des Con- entleihen, um die Farben der Soloinstrumente certare in den Hintergrund. Stattdessen sollen Klarinette und Viola und ihre orchestrale die Instrumente »singen«, miteinander, zuein- Einlassung zu charakterisieren. ander, gegeneinander. Cantando lautet eine Das Wiederaufgreifen beziehungsweise zentrale Vortragsanweisung. Sie steht tradi- mehrfache Überschreiben erfolgt aus einem tionell für »beseeltes« Spiel, für gelebte und durch den Text ausgelösten Impuls, nämlich erlebbar zu machende Emotionalität. Im immer neue Klanggesten zu generieren. Wei- Gestus des Gesangs verströmen die Soli tere könnten folgen, so wie die Idee eines mit gleichsam Atem und produzieren mal breitere, zwei Soli mittleren Registers ausgestatteten mal zartere Linien. Die verschlingen sich, Doppelgesangs insgesamt den Komponisten komplementieren einander zu einem Band, nicht losgelassen hat. Die Textspuren lassen das glatt oder zerfasert, mit Flecken und sich wiederfinden, auch ohne Petrarcas Dich- Schraffuren behaftet ist. tung zu kennen. Schließlich bildet die kom- Das 2004 komponierte, spiegelsymme- ponierte Emotionalität nach Abzug des Textes trisch angeordnete, fünfsätzige Stück wurde im 3. Doppelgesang eine sinnlich erfahrbare, 2005 in Minneapolis uraufgeführt. Rihm ästhetisch autonome Klangschicht eigener Be- verweist in einem Kommentar darauf, dass bei deutung, deren Modifikation verfolgt werden der Entstehung des 3. Doppelgesang zwei kann. Sonette von Francesco Petrarca eine Rolle ge- »Aura« dient im ästhetischen Diskurs spielt haben. Sie liegen dem Stück Solo e als Bezeichnung für die begrifflich nicht pensoso für Bariton, Viola und Harfe von 2004 einzuholende besondere Ausstrahlung von

40 Kunstwerken. In dieser ästhetischen Haltung ›chiaroscuro‹ [Zwielicht] ist sowohl der kom- und Pauken, Schlagzeug mit Kontrabass und scheint das Orchesterstück Magma kom- positorische als auch der instrumentale Brenn- zwei Flöten. Als nächstes erscheint eine poniert worden zu sein. Es entstand 1973, punkt von Coptic Light.« ausgedehnte Melodie, die durch das Orchester, zwischen den Stücken Trakt ( 1971 ), Mor- Morton Feldman, Vorwort zur Partitur begleitet von Trommeln, hocketiert wird. phonie/Sektor IV ( 1972/73 ) und Dis-Kontur Schließlich kehrt Material aus Sutton wieder, ( 1974 ) und wurde am 20. Februar 1987 im diesmal in acht Abschnitten für volles Rahmen der Veranstaltung ›Atelier Wolfgang Orchester. [...] Rihm‹ in Stuttgart uraufgeführt. Inzwischen Christian Wolff: John, David John, David ist nur bedingt ein Solokon- hatte sich der Komponist durchgesetzt, so dass zert im herkömmlichen Sinne: Für mich war der Süddeutsche Rundfunk die Präsenta- John, David begann als ein Geschenk, das zu das Stück zu Beginn vor allem ein Problem des tion nicht nur dieses frühen Stücks nachholte. John Cages achtzigstem Geburtstag gedacht konventionellen – hierarchischen, quasi Zwingend und alternativlos wirken die Wech- war. Es sollte aus achtzig Liedern ( ohne militärischen und oft entfremdeten – Charak- sel zwischen Phasen eruptiver Schroffheit und Worte ) bestehen, wobei jedes Lied eine Zahl ters des Orchesters. Das Orchester ist dräuenden Stillstands, so als wäre in der von Klängen zwischen eins und achtzig zweifellos in der Lage, wundervolle Klänge konkreten Kompositionsarbeit abschnittsweise haben sollte; das heißt, ein Lied sollte einen hervorzubringen. Die Probleme aber sind über den jeweils nächsten Schritt entschieden Klang haben, ein anderes zwei, ein drittes kaum über Nacht zu lösen ( die Gesellschaft und die Form prozesshaft kreiert worden. drei und so weiter bis achtzig. Die Abfolge der müsste sich ändern ). Doch einige Schritte Der Widerwille gegen präkompositorische Lieder wurde nach dem I-Ging-Modell per scheinen möglich. Alle Spieler, einschließlich Vorentscheidungen ( serielle, architektonische, Zufall bestimmt, ebenso wurde entschieden, der normalerweise als Masse geführten zeitliche ) mag eine der wesentlichen Trieb- ob zwei Lieder sich überlagerten. Der Zufall Streicher, können sowohl als Individuen als federn für das Verfahren gewesen sein. Rihm entschied auch darüber, ob ein Lied eine oder auch als Mitglieder einer Gruppe ( oder nannte das: »künstlerisch im Indikativ re- zwei Zeilen haben sollte ( also ein- oder mehr- eines Kollektivs? ) behandelt werden. Es gibt den« ( 1978 ). Bekannt ist die vom Komponisten stimmig sein ) und ob diese Stimmen monophon, Soli, Duette und andere kammermusikali- in den siebziger Jahren provozierend be- heterophon oder hocketiert zueinander sein sche Konstellationen wie etwa alternierende hauptete hedonistische Lust am Anarchischen. oder ob Akkorde wie in einem Choral klingen Gruppen. Es gibt auch Tutti und ebenso die Sie färbt auch dieses Stück. Hier wird mit sollten ( das geschah aber bloß einmal, am Möglichkeit, dass alle zur selben Zeit schwei- Verve ein großer sinfonischer Klangapparat, Anfang ). Gruppen von Liedern haben zudem gen. Es gibt einen Dirigenten: für so viele samt Orgel und Klavier, ausgekostet. Heute bestimmte Charakteristika: zum Beispiel Leute ist seine Koordination hilfreich und tech- zieht mich stärker noch als die massive Prä- sind die Lieder mit 1 bis 9 Klängen laut, die- nische, ökonomische Beschränkungen senz die vielfarbige, variantenreiche Klang- jenigen mit 10 bis 19 Klängen verwenden machen – insbesondere in begrenzter Proben- gestaltung und differenzierte Klangregie an. kurze Dauern, Lieder mit 30 bis 39 Klängen zeit – die Effizienz der ührungF durch einen Dieses Stück verlässt sich auf Hörende, sind als Tänze gedacht, solche mit 40 bis Einzelnen notwendig. Aber der Dirigent sieht deren Wahrnehmungsfähigkeit durch die neue 49 Klängen beinhalten eine Snare Drum ( das sich auch Momenten gegenüber, in denen die Musik gewachsen ist. kommt bloß einmal vor ), diejenigen mit 50 Partitur ihm keine vollständigen Vorschriften Janina Klassen bis 59 Klängen haben repetitive Figuren, die macht: Einsätze können manchmal in ver- mit 70 bis 79 Klängen verwenden lange schiedenen Varianten gegeben werden, wobei Dauern. Das Lied mit achtzig Klängen wurde sich die strukturellen Verhältnisse der Instru- nicht spezifiziert. Dreißig Lieder habe ich mentengruppen verschieben. Bisweilen spielen Morton Feldman: Coptic Light geschrieben, von denen 16 einander über- einzelne Gruppen innerhalb des Orchesters lagern. Sie machen den ersten Teil des unabhängig in ihren eigenen Tempi, indem sie Coptic Light ist Morton Feldmans letztes Werk Stückes aus, das durch Zufall ( und mit der sich selbst dirigieren oder einem zusätz- für großes Orchester. Es überrascht durch Entscheidung, dort zu enden, durch bewusste lichen Dirigenten folgen. Zweifellos haben auch seine polytonale, polyrhythmische Fülle und Gestaltung ) mit dem Lied der achtzig Klänge solche »sozialen« Arrangements mit einer durch die Dichte seiner Texturen. Feldman endet. Doch dann wurde das Geschenk zu bestimmten Art von Klang und Musik zu tun. selbst schreibt zu seinem ungewöhnlichen einem Gedenken. Wie für einen führenden Solisten ist es auch Spätwerk: »Je länger ein Stück werden soll, Die zweite Hälfte von John, David ist hier teilweise, aber zugleich grundsätzlich eine desto weniger Material braucht man. [...] ein – ebenfalls gedenkender – Tribut an Frage des Klangs – es geht um einen gegen- Coptic Light ist relativ kurz und arbeitet vom David Tudor. Weil Tudor als Interpret so außer- über dem des Orchesters deutlich unterschie- ersten Takt an mit dem vollständigen zwölf- gewöhnlich war, enthält dieser Teil einen denen ( meist nicht mit diesem abgestimmten ) tönigen chromatischen Total.« Wesentliche ausgedehnten solistischen Part für die Schlag- Charakter, der eine ausgedehntere ( musika- kompositorische Anregungen und die Inspi- zeugerin Robyn Schulkowsky ( die mich in lische, spielerische, ernsthafte ) Konversation ration zu diesem Stück verdankte Feldman mancher Hinsicht an David Tudor erinnert ). zwischen Einem und Mehreren oder Einem den Mustern seltener Webereien des mitt- Er besteht aus insgesamt vier Teilen, deren und einem Anderen oder auch mit Vielen ( die leren Ostens. Im Vorwort zur Partitur erläutert Material jeweils aus Liedern abgeleitet ist, zusätzlich untereinander kommunizieren er: »... kürzlich [betrachtete ich] die beein- wenngleich die Lieder kaum wiedererkannt können ) erlaubt. Eine große Spannbreite zwi- druckenden Beispiele früher koptischer Tex- werden können ( es handelt sich um Westryn schen Solo und Tutti ist möglich, und auf tilien, die in der Dauerausstellung des Louvre Wind, ein spätmittelalterliches Lied aus verschiedenen Ebenen lassen sich Spektren zu sehen sind. Was mich an diesen Fragmen- England, Sutton, die Melodie einer amerika- vom Einzelnen zum Vielfachen entfalten. ten farbigen Tuches faszinierte, war, wie sie nischen Grenzerhymne aus dem späten Christian Wolff eine wesentliche Atmosphäre ihrer Zivilisation 18. Jahrhundert, und Halleluja, I m a Bum, ein Übersetzung Lydia Jeschke vermitteln. Indem ich diesen Gedanken auf Wanderarbeiter-Lied vom Beginn des 20. ein anderes Gebiet übertrug, fragte ich mich, Jahrhunderts ). Das Material aus dem ersten welche Aspekte der Musik seit Monteverdi Lied erscheint einstimmig im Orchester, wohl ihre Atmosphäre bestimmen würden, wenn während die Schlagzeugerin unabhängig ( aber man sie in 2000 Jahren hören würde. Für mich in einer rhythmischen Struktur, die derjeni- bestünde die Analogie in der instrumentalen gen des Orchesters proportional verwandt Symbolik westlicher Musik. Dies waren einige ist ) fortfährt. Es folgen eine kleine Gruppe Metaphern, die mich gedanklich beschäftig- von Streichersoli und ein Duett für Schlagzeug ten, als ich Coptic Light komponierte. Ein wich- und Klavier. Dann spielen die Holzbläser und tiger technischer Aspekt der Komposition die meisten der Celli vierstimmiges Material wurde von Sibelius’ Beobachtung ausgelöst, aus Sutton, während die übrigen Streicher dass sich das Orchester hauptsächlich darin perkussive Partien ausführen und das Schlag- von Klavier unterscheide, dass es kein Pedal zeug unabhängig in verschiedenen Tempi habe. Also machte ich mich daran, ein orches- weiterspielt. trales Pedal zu schaffen, das sich ständig Zugleich entstehen Duette: Schlagzeug in feinen Nuancen verändert. Dieses mit Bratschen, Trompete und Harfe, Klavier

41 Sonic Arts Lounge zeitkratzer & Elliott Sharp & Column One Donnerstag, 22. März 2012 Berghain 22:00 Uhr Column One Entropium part 1 – 4 für zeitkratzer ( 2012 ) UA / AW 35’ Elliott Sharp Oneirika für zeitkratzer ( 2012 ) UA / AW 30’

Column One Jürgen Eckloff / Robert Schalinski / René Lamp, Komposition

zeitkratzer Reinhold Friedl, Leitung / Klavier Frank Gratkowski, Klarinette / Matt Davis, Trompete / Hilary Jeffery, Posaune Marcus Weiser, Sampler / Maurice de Martin, Perkussion / Burkhard Schlothauer, Violine / Anton Lukoszevieze, Violoncello / Ulrich Phillipp, Kontrabass Martin Wurmnest, Ton / Andreas Harder, Licht

Elliott Sharp, Komposition · Tenorsaxophon · E-Gitarre

In Zusammenarbeit mit Berghain

Förderer und Partner Column One: Entropium und Kollaborationen reicht von Orchestermusik zum Blues, Jazz und Noise, vom No Wave Column One, das seit 1991 bestehende Ber- Rock zum Techno. In vielen seiner Komposi­ liner Künstlerkollektiv, ist eines der extrem­ tionen spielt die Anwendung der Fraktalen sten und schrillsten Formationen des Post- Geometrie und der Chaostheorie eine Rolle. industrial. Es versteht sich »als ideologische Oneirika ist eine Klanglandschaft, Basis der Auseinandersetzung mit Struktu- die in der Tradition von John Cage steht und ren, Philosophien und ( westlichen ) Medien«, deren Titel vom Wachtraum inspiriert ist. beruft sich auf Ideen des radikalen Kon­struk­ Da das Werk keine Improvisation ist, wurde tivismus, auf »Pop-Terroristen« wie Genesis in der Partitur von Oneirika bis zu einem P-Orridge, mit dem es auch zusammenarbei- gewissen Maß traditionelle Notenschrift ein- tete, und macht sich u.a. die »Cut-up«-Tech- gesetzt, vorwiegend basiert sie aber auf nik von William S. Burroughs zu Eigen. Elliott Sharps innovativem Einsatz von dem Mit Entropium für zeitkratzer spielt Bildverarbeitungsprogramm Photoshop; Column One auf die Verwendung des Zufalls seine selbstgenerierten Musikmanuskripte von John Cage an und setzt diesen pragma- filtert und verarbeitet er weitgehend auf tisch in Form von gesteuertem Feedback um, die gleiche Weise wie er mit seinem Computer das und mit dem die Musiker spielen. Entropie den Klang eines Instruments bei einer Auf- und statistische Mechanik stehen Pate für führung verarbeitet. ein selbst-referentielles musikalisches Setting, Diese Partituren können im Visuellen das bereits die Komposition ist. Einige Musi- eigene Vorstellungen und Assoziationen ker werden physisch in das Feedback-System hervorrufen und dem Interpreten eröffnen sie eingebunden, indem sie zwischen Kamera / einen klaren Weg zu der direkt mit diesen Mikrophon und Monitor / Lautsprecher platziert Bildern verbundenen klanglichen Umsetzung. die visuellen und physischen Rückkopplun- Für das mit experimentellen Formaten gen durch ihre Bewegungen beim Instrumental- vertraute Ensemble zeitkratzer gibt es hier spiel unmittelbar steuern. Dabei »kopieren« viel Spielraum für die Interpretation. sie das musikalische Resultat mit dem Instru- ment und so sind visuelles und akustisches Feedback nicht nur miteinander, sondern auch mit dem Instrumentalspiel rückgekoppelt.

Elliott Sharp: Oneirika

Seit über 30 Jahren gehört der Multiinstrumen- talist, Komponist und Performer Elliott Sharp zu den zentralen Figuren der Avantgarde und der New Yorker experimentellen Musikszene. Die Bandbreite seiner musikalischen Projekte

42 Elliott Sharp, ›Oneirika‹, Partiturausschnitt

43 Dokumentarfilm

Freitag, 23. März 2012 Haus der Berliner Festspiele 17:00 Uhr Viola Rusche / Hauke Harder No Ideas But In Things – The composer Alvin Lucier Deutschland ( 2012 ) UA 97’ In englischer Sprache

Viola Rusche / Hauke Harder, Regie Martin Zawadzki, Kamera Hauke Harder, Ton Viola Rusche, Schnitt

Gefördert durch Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH

Anschließend Künstlergespräch im oberen Foyer

Förderer und Partner No Ideas But In Things tendsten Stücke Luciers, I am sitting in a room ( 1970 ), bildet das zentrale Strukturele- »Ich bin mehr daran interessiert, was ment unseres Films. Klangwellen an sich machen, als daran, was Ein eigenes Kapitel widmet sich den ich selbst damit anstellen kann.« Anfängen von Luciers Pioniertätigkeit. Lucier Alvin Lucier erzählt, wie er von John Cage und David Der Komponist Alvin Lucier, geboren Tudor beeinflusst wurde und wie er mit den 1931, ist ein Pionier der experimentellen anderen Mitgliedern der Sonic Arts Union Musik in den USA. Als Gründungsmitglied des abseits des Mainstreams der elektronischen Komponistenkollektivs Sonic Arts Union Musik und der europäischen Tradition nach ( 1966–76 ) gehört er zu den frühesten Vertre- neuen Wegen gesucht hat. Cage hatte ihm ver- tern der experimentellen live-elektronischen mittelt, dass Entdeckungen zu machen wich- Musik. Seit dieser Zeit entwickelt Lucier tiger sei, als Fehler zu vermeiden – ein Prinzip, Kompositionen und Installationen, die sich dem Lucier sein Leben lang treu geblieben Klangphänomenen wie Resonanzen, Echos ist. Er erklärt uns jedoch auch, worin sich seine und Interferenzen widmen. Arbeitsweise deutlich von Cage unterschei- No Ideas But In Things – diese Zeile des det. Während Cage den Zufall als Grundlage von Dichters William Carlos Williams zitiert Alvin »nature’s manner of operation« ansah und Lucier gern, wenn er zu seiner künstlerischen daher das Prinzip von Ursache und Wirkung Haltung befragt wird. Das Zitat gibt auch in seiner Musik ablehnte, arbeitet Lucier die Linie unseres Films vor, Lucier vor allem mit diesem Prinzip, setzt es aber so ein, dass anhand seiner Werke vorzustellen. Getreu Ursache und Wirkung ihre Vorhersagbarkeit dem Motto »Don’t ask me what I mean, ask me verlieren. what I’ve made« wird Lucier bei Konzert- Viele Stücke Luciers leben von ihrem reisen nach Den Haag und Zug ( Schweiz ) be- visuellen und theatralischen Reiz. In Music gleitet. Die Spanne reicht von Aufführungen for Solo Performer ( 1965 ) sitzt Lucier unbewegt der frühen live-elektronischen Werke der sech- mit Elektroden am Kopf vor dem Publikum. ziger und siebziger Jahre ( Music for Solo Dabei werden die Alphawellen seines Gehirns Performer und Bird and Person Dyning ) bis verstärkt und an Lautsprecher geleitet, deren zur Uraufführung des Ensemblestücks Membranen Schlaginstrumente zum Klingen Panorama 2 im Jahr 2011. Eines der bedeu- bringen. Nur durch die Nicht-Aktivität des

44 Alvin Lucier, ›Music for Solo Performer‹, Aufführung in Den Haag 2010, Film Still

Aufführenden kommt das Stück überhaupt zu Stande. In einer Parallelmontage verbinden wir neue Aufnahmen dieses Stückes aus Den Haag mit Archivmaterial von 1976. In den Dünen vor Den Haag liegt auch der »Celestial Vault,« ein künstlicher Krater von James Turrell. An diesem Ort wurde Luciers Arbeit Sferics ( 1981 ) aufgebaut, bei der mit Anten- nen natürliche Radiowellen aus der Iono- sphäre hörbar gemacht werden – eine auch visuell einmalige Konstellation. Im Kunsthaus »Wenn man sich mit einer akustischen Idee Zug konnten wir zudem eine spezielle beschäftigt, sollte man nicht störend eingreifen, Variante der Installation Music on a Long Thin denn das lenkt die Aufmerksamkeit ab. Wenn Wire ( 1977 ) dokumentieren, bei welcher der klingende Draht durch mehrere Räume man es einfach einen Moment lang geschehen lässt, des Kunsthauses gespannt war. wird früher oder später etwas Wunderbares Die Kamera beobachtet Lucier bei passieren. Es ist, als ob man im Wald auf ein Proben und bei der Arbeit mit Technikern und Tier wartet, um es zu beobachten. Man muss Musikern. Auf klare und humorvolle Art erklärt und kommentiert er seine Werke. Und ganz leise sein, sonst wird es nicht kommen.« er kocht uns seine Pasta for Tired Dancers, Alvin Lucier, in: ›No Ideas But In Things‹ ein Gericht, das ebenso auf das Wesentliche reduziert ist wie Luciers Kompositionen – alles Überflüssige wird weggelassen und die Aufmerksamkeit nur auf das jeweilige Phä- nomen selbst gelenkt. Eine Haltung, bei der Geduld und Zurückhaltung eine zentrale Rolle spielen. Viola Rusche / Hauke Harder

45 Sonic Arts ( Re ) Union

Freitag, 23. März 2012 Haus der Berliner Festspiele 20:00 – 24:00 Uhr 20:00 Uhr Robert Ashley Answers und Other Songs ( 2010 ) 45’ Robert Ashley, Stimme

21:00 Uhr Gordon Mumma Piano Event zusammengestellt in der Tradition der »Events« von John Cage und Merce Cunningham, eine Choreographie aus bestehendem Repertoire 40’ Construction 4 Hands ( 2012 ) Daan Vandewalle / Gordon Mumma, Klavier

With Dedications ausgewählte Kompositionen ( 1958-2012 ) für Freunde aus dem kulturellen Milieu Cage / Cunningham: Octet for David Behrman for Lou Harrison for Merce Cunningham aus: Sushiverticals for Jacqueline Leuzinger aus: Three Perspectives for Jackson Mac Low aus: Sushihorizontals Poplars Planted Song for Michelle Fillion aus: Jardin Scion for Daan Vandewalle aus: Graftings (No. 3) Soft Saloon Song for solo dancer for David Bernstein aus: Sixpac Sonatas (No. 4) for Christian Wolff for David Tudor … who went on ahead of us for David Revill aus: Songs without Words Dreimal für Robert Ashley Daan Vandewalle, Klavier

22:00 Uhr Alvin Lucier Slices for cello and pre-recorded orchestra ( 2007 / 2012 ) UA 25’ Charles Curtis, Violoncello Music for Solo Performer ( 1965 ) 20’ Alvin Lucier, Performance / Hauke Harder / Volker Straebel / Wilm Thoben, Assistenz

23:00 Uhr David Behrman Wave Train für Klavier und Feedback ( 1959-1968 ) 15‘ David Behrman / Gordon Mumma / Jens Brand / Volker Straebel, Klavier · Elektronik

Long Throw ( 2007 ) 25‘ Christian Wolff, Klavier / Okkyung Lee, Violoncello William Forman, Trompete / David Behrman, Elektronik

In Zusammenarbeit mit Berliner Künstlerprogramm des DAAD. Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds. Mitschnitt Deutschlandradio Kultur, Sendung 24. Mai 2012, 0:05 Uhr

46 Sonic Arts ( Re ) Union

Samstag, 24. März 2012 Haus der Berliner Festspiele 11:00 Uhr Die Künstler der ehemaligen Sonic Arts Union – Robert Ashley, David Behrman, Alvin Lucier, Gordon Mumma – und Christian Wolff im Gespräch mit Matthias Osterwold und Volker Straebel

Förderer und Partner Sonic Arts ( Re ) Union Robert Ashley: Answers / Other Songs

Als Robert Ashley, David Behrman, Alvin Lucier Answers ist eine Zusammenstellung aus drei- und Gordon Mumma 1966 die Sonic Arts Union zehn Fragen zur Musik im Allgemeinen und gründeten, hatten die Komponisten und zu meinen Opern im Besonderen. Diese Fragen Performer live-elektronischer Musik bereits könnte man vielen Opernkomponisten stellen. im Umfeld der Merce Cunningham Dance Manche der Fragen werden beantwortet, Company mit John Cage und David Tudor, wie manche nicht, das hängt sowohl von der Stim- auch beim ONCE Festival in Ann Arbor, Michigan mung des Publikums als auch von der ( 1961-66 ) zusammengearbeitet. Die vier Stimmung des Performers ab. Dieser Teil des Musiker, die ursprünglich unter dem Namen Konzerts kann kurz sein, wenn keine der Sonic Arts Group firmierten, bildeten eher Fragen beantwortet wird, oder er kann unter eine »Vereinigung« ( »Union« bezeichnet zu- Umständen lange dauern. Das hängt von gleich eine Gewerkschaft ) als ein Ensemble, den momentanen Gefühlen des Sängers ab, agierten sie doch zumeist solistisch, ggf. mit wenn er versucht, die Dinge zu erklären. Assistenz oder technischer Betreuung durch Other Songs stammen aus einer ganzen die Kollegen. Die Gruppe erlaubte ihren Mit- Reihe von Liedern, die so komponiert wurden, gliedern die ökonomischere Durchführung dass sie im Gesang der Akzentuierung der ge- von Tourneen, bei denen man das mitunter sprochenen Sprache folgen und sich auf eine sperrige technische Equipment gemeinsam bestimmte Tonhöhe beziehen, den »Schlüssel« nutzen konnte. des Liedes. Manche stammen aus Opern. Die Mitglieder der Sonic Arts Union ( In den Opern werden sie allerdings in einem prägten unterschiedliche Ansätze der ex- anderen Stil gesungen. ) Andere sind eigen- perimentellen Live-Elektronik in der Nach- ständige Lieder, die so komponiert sind, dass folge von John Cage aus, die ihrerseits man sie in einem schlichten Sprechgesang spätere Komponistengenerationen beein- vortragen kann. Die Aufführung dieser Lieder flussen sollten. Robert Ashley widmete kann zwischen 15 und 20 Minuten dauern. sich als Komponist, Autor und Sänger narra- Ich bringe gut ein Dutzend Lieder mit und suche tiven Strukturen und schuf Kompositionen dann spontan aus, welche ich singe. Das von aggressiven Feedback-Performances ( The macht das Konzert interessant für mich, weil Wolfman, 1967/68 ) bis zu groß angelegten die Wahl der inhaltlichen Ausrichtung und Medien-Opern ( z. B. Perfect Lives, 1983 ). damit die Gestaltung der »Figur«, die das Lied Gordon Mumma hingegen arbeitete in der singt, ungeplant sind und nicht geprobt Tradition von Tudors Table-Top Electronics werden, was immer überraschend ist. Ich hoffe unter Einbeziehung von akustischen Instru- dann immer, dass das Publikum diesen Reiz menten ( z. B. Hornpipe, 1967 ) und schuf der Überraschung spüren kann. schließlich ein umfangreiches Œuvre für Kla- Robert Ashley vier solo. Alvin Lucier konzentrierte sich früh auf elementare akustische und psychoakus- tische Phänomene in seinen Kompositionen, die er sowohl in elektronischen wie instrumen- Gordon Mumma: Piano Event talen Werken thematisierte. Ein Klassiker ist seine Music for Solo Performer ( 1965 ), in Gordon Mumma ist vor allem für seine elek- der die Alpha-Wellen des Gehirns des Perfor- tronische und live-elektronische Musik mers abgetastet werden und dazu dienen, bekannt, für Werke wie Hornpipe ( 1967 ) oder Perkussionsinstrumente anzuregen. David Pontpoint ( 1980 ), sowie seine Cybersonic- Behrman schließlich wurde zum Pionier der Performances. Aber auch seine Klaviermusik, frühen Halbleiter- und Mikrocomputer-Tech- die während der letzten vier Jahrzehnte nik im Bereich der experimentellen Musik entstand, spielt eine wesentliche Rolle in ( Runthrough, 1967/68 ). seinem Œuvre. Mumma studierte bei George Auch wenn die Sonic Arts Union seit Exon Klavier. Gemeinsam erarbeiteten sie 1976 nicht mehr auf Tournee ging, blieben neben Bach, Haydn, Schönberg, Webern, Ives ihre Mitglieder einander doch künstlerisch und Crawford u. a. Béla Bartóks Mikrokos- wie freundschaftlich verbunden und traten mos, der noch heute in Mummas Komposi­ in unterschiedlichen Zusammenhängen, ins- tionen Spuren hinterlässt. Als Pianist war er besondere als Musiker der Merce Cunning- oft in Piano-Ensembles u. a. mit Tudor, Cage, ham Dance Company, hin und wieder gemein- John Barlow, Toshi Ichiyanagi und in den sam auf. Dennoch darf ein langer Abend, der 1960ern auch mit Robert Ashley unterwegs. die Sonic Arts Union, deren Mitglieder zwi- Während Mummas frühe Klavierwerke noch schen 1930 und 1937 geboren wurden, mit für den Konzertsaal geschrieben wurden, ist Klassikern wie aktuellen Stücken in Europa seine späte Klaviermusik eher etwas Per- auf die gleiche Bühne bringt, als kleine sönliches, etwas wodurch er sich erinnert – Sensation gelten. erinnert an die »Musik der Vergangenheit« Volker Straebel und an Künstlerkollegen und Freunde. Mummas

47 Klavierwerke sind in verschiedenen Gruppen Ort entsprach, wenn ein ganzes Orchester erfährt man jedoch erst, wenn man eine Auf- zusammengefasst, z. B. Threesome, Songs zusammen auf der Bühne gewesen wäre. Auf führung live miterlebt und den »Solo Perfor- without Words oder From the Sushibox. Manche diese Weise ahmen die Entfernungen der mer« auf seinem Stuhl sitzen sieht, regungslos, dieser Kompositionen sind konzipiert und Instrumente zum Solocello, wie sie bei den aber verdrahtet, während ohne sichtbare strukturiert, um mit historischen Instrumenten Aufnahmen festgehalten wurden, ungefähr Ursache, also auf fast magisch erscheinende aufgeführt zu werden, wie beispielsweise die physische Entfernung auf der Bühne bei Weise plötzlich die Becken, Gongs, Pauken Sixpac Sonatas für Cembalo, welche klassi- einer Aufführung mit einem wirklichen und Trommeln zu schwingen und zu klingen sche Formschemata Scarlattis aufgreifen Orchester nach. Bei der Originalversion von anfangen. Diese Komposition zeigt Perspek- und insbesondere durch ihre innovativen Codas Slices funktioniert das ganze Orchester tiven einer elektronischen Musik auf, die auch hervorstechen. Alle Klavierstücke können im Grunde wie eine lebendige Looping-Platt- unsere unmittelbare Befindlichkeit mit den jedoch auch auf dem modernen Konzertflügel form oder ein Echogerät, das durch An- und komplexen Anordnungen unterschiedlichster gespielt werden. Die meisten dieser indivi- Aus-Befehle des Dirigenten bedient wird und technischer Komponenten umstandslos duellen Kompositionen haben einen poetischen dem Takt der Solocello-Stimme folgt. Die kurzschließen könnte. Charakter, sie sind kurz und kompakt in der Fassung für zugespieltes Orchester verändert Sabine Sanio Gestaltung. Beispielsweise sind die Sushiver- deshalb nicht im Geringsten die Logik der ticals und Sushihorizontals auf jeweils nur Komposition. Im Gegenteil, der Prozess wird einer einzigen Seite notiert und sind selten dadurch optimiert und stabilisiert. Auf diese länger als zwei Minuten. Mit relativ wenigen Weise wird, wie ich hoffe, die akustische David Behrman: Wave Train »Zutaten« versuchen sie musikalische Essen- Realität des Werks noch klarer. zen zu bilden und Charakterpor­ träts zu Die Erfahrung, mehrere Tage lang Wenn ich vom 21. Jahrhundert aus auf Wave entwickeln, z. B. von Merce Cunningham 53 unterschiedliche, ziemlich lange Töne auf Train zurückblicke, finde ich, es markiert ( »contrasts of speed and space« ), David Behr- 11 verschiedenen Instrumenten aufzuneh- einen Punkt, als mich etwas Radikales im Geist man ( »gently sonorous person« , Octet ) men, erwies sich als etwas Fesselndes. der 1960er durchdrang. Wave Train war eines oder Lou Harrison ( »wonderfully legato Nicht nur die Unterschiede zwischen den dieser Stücke, bei denen das Wesen des Klangs individual« ). Instrumenten, sondern auch die unerwarteten von Grund auf neu verhandelt wurde. Melanie Uerlings Farbunterschiede zwischen benachbarten Wave Train verband etwas Altes, den Tönen auf dem gleichen Instrument konnten Nachhall des Konzertflügels, mit etwas Neuem, dadurch außergewöhnlich genau beobachtet der Rückkopplung. Die Partitur bestand aus und studiert werden. einer Beschreibung mit Diagrammen, wie man Alvin Lucier: Slices Die Aufnahmen wurden von Tom Erbe das Stück vorbereitet und durchführt. Bei gemacht und das SuperCollider-Programm der Aufführung werden Gitarren-Pick-ups an Im Verlauf der Aufführung spielt ein Cellist wurde von Scott Worthington zusammen mit verschiedene Stellen der Klaviersaiten an- eine Reihe aus 53 Einzeltönen, die den gesam- Tom Erbe und Charles Curtis erstellt. gebracht, dann wird die Lautstärke am Verstär- ten Ambitus des Instruments umfassen, vom Charles Curtis ker für die Mikrophone aufgedreht, bis die großen C bis zum dreigestrichenen e, und zwar Rückkopplung herausknurrt und die Saiten in sieben verschiedenen Permutationen. stimuliert werden. Wie ein Surfer, der eine Während der Cellist diese Reihen spielt, treten hohe Welle reitet, versucht man dann die Situ- entsprechende Töne des Orchesters hinzu Alvin Lucier: Music for Solo Performer ation unter Kontrolle zu bekommen. Indem und verschwinden wieder, wodurch Kombina- die Lautstärkeregelung verändert wird und tionen verschiedener Texturen und Dichte- In Alvin Luciers erstem Stück mit dem für indem in den Pausen, wenn der Verstärker grade entstehen. In den Sektionen 1, 3, 5 und ihn typischen musikalischen Ansatz, der Music ausgestellt ist, die Pick-ups umgesetzt werden, 7 beginnen die Orchestermusiker mit einem for Solo Performer ( 1965 ), vermischen sich versucht man, die rohe Rückkopplung in 53-tönigen Cluster, dessen Töne jeweils nach- szenische, visuelle und akustische Momente. große, nachhallende, sich überlagernde Wellen einander verstummen, sobald sie vom Lucier arbeitet hier mit einem Paar Elektro- zu zwingen. Cellisten gespielt werden, so dass am Ende den, einem Differentialverstärker und einem Jede Aufführung hängt von den spezi- ein einziger Ton übrigbleibt. In den Sektionen Bandpassfilter, der nur die Alphawellen um fischen Eigenschaften des jeweiligen Ortes 2, 4 und 6 setzen die Orchestermusiker mit 10 Hz passieren lässt, die das Gehirn im ent- ab: von dem Klavier, dem Beschallungssystem, ihren Tönen jeweils ein, wenn der Cellist sie spannten, quasi meditativen und bewegungs- davon wie die Lautsprecher angeordnet sind spielt, so dass sich allmählich ein voller losen Zustand erzeugt. Mit Hilfe dieser Kom- und von der spezifischen Raumakustik des Cluster aufbaut. Slices wurde für den Celli- ponenten versetzt der Interpret ein direkt Saals. sten Charles Curtis geschrieben. ( Alvin Lucier ) vor den angeschlossenen Lautsprechern auf- David Behrman Für die neue Version von Slices für gestelltes Schlagzeugensemble in hörbare Violoncello und zuvor aufgezeichnetes Orches- Schwingungen. Dabei macht er sich das Phä- ter ( 2012 ) wurden alle 53 Orchesterstimmen nomen zunutze, dass die Lautsprechermem­ individuell in langen Einzel-Takes aufgenom- bran wegen der entstehenden unhörbaren men, um die musikalische Qualität der an- Unterschall-Impulse gleichwohl zu schwingen gehaltenen Einzeltöne über eine lange Dauer und auszuschlagen beginnen, und schließ- sicherzustellen. Diese langen Aufnahmen lich die eigentlich nicht zu hörenden Impulse wurden dann an deutlichen Wiederholungs- indirekt hörbar machen. punkten geloopt – bei den Blasinstrumenten Zurecht hat Lucier darauf hingewiesen, an den Atempausen und bei den Streich­ dass Music for Solo Performer nicht nur die instrumenten beim Bogenwechsel – und erste Komposition war, die Gehirnwellen ein- mittels SuperCollider so angeordnet, dass setzte, sondern auch die erste, in der ein die Tonfolgen denen in der Orchesterpartitur Interpret allein durch völliges Stillhalten Klänge entsprechen. Der Solist kann während der erzeugt. Insofern stellt sie eine faszinieren- Aufführung das Programm vorspringen lassen, de Version von Cages Forderung dar, von den damit das Einsetzen und das Verstummen der eigenen Wünschen und Vorstellungen abzu- Orchesterklänge genau mit dem Live-Spiel sehen und einen Zustand der Absichtslosig- des Soloinstruments übereinstimmt. keit zu erreichen. Denn allein im Zustand Die Orchesterstimmen wurden in der Absichtslosigkeit kann die Aufführung einem Kammermusik-Auditorium mit einer dieses Stücks gelingen: »Wer dieses Stück relativ hellhörigen Akustik aufgenommen, richtig aufführen will, darf nichts vorsätzlich sowohl mit Mikrofonen nah an den Instrumen- tun. Du sollst meditieren, nicht den Verlauf ten als auch mit Raum-Mikrofonen. Bei jeder der Aufführung steuern und versuchen, sie auf neuen Stimme bewegten sich die Musiker zu die eine oder andere Weise interessant zu einem neuen Punkt auf der Bühne, der dem machen.« Das Einzigartige dieser Komposition

48 David Behrman: Long Throw

Long Throw wurde 2007 von Merce Cunningham als Musik für sein Tanzstück eyeSpace in Auftrag gegeben. Die Komposition besteht aus frei notierten Stimmen und Anweisungen für präpariertes Klavier und interaktive Musik- Software, und wird neben dem Pianisten von zwei weiteren Musikern ausgeführt. Als ich das Stück schrieb, dachte ich an eine Aufführung mit den Stammmusikern der Merce Cunning- ham Company der letzten Jahre, Christian Wolff am Klavier, Takehisa Kosugi an der Vio- line und John King an der E-Gitarre. Der Titel bezieht sich auf die Zeitspanne von sechs Dezennien zwischen 1947 und 2007, während der ein Großteil der Meisterwer- ke von Merce Cunningham entstanden ist. Für die Klavierstimme werden Präparationen benutzt, die denen ähneln, die John Cage 1947 für sein Stück Music for Marcel Duchamp ausgewählt hat. Die Komposition verbindet die Textur des Klavierstücks aus den 1940er Jahren mit heutiger Audio-Software und Schallerkennungstechnologie. David Behrman Übersetzungen Eckhard Weber

Gordon Mumma,›for Jackson Mac Low‹ aus: ›Sushihorizontals‹

49 »Für mich ist Kunst eine andere Form von Atmung, von Hingabe, von Erschrecken und Umarmung und Schönheit und Furcht, von Erhabenem und Niedrigem in unauflöslicher Mischung.«

Wolfgang Rihm, in: ›Kontinent Rihm‹, Programmbuch Salzburger Festspiele 2010 »Für mich ist Kunst eine andere Form von Atmung, von Hingabe, von Erschrecken und Umarmung und Schönheit und Furcht, von Erhabenem und Niedrigem in unauflöslicher Mischung.«

Wolfgang Rihm, in: ›Kontinent Rihm‹, Programmbuch Salzburger Festspiele 2010 Wolfgang Rihm 60

Samstag, 24. März 2012 Sophienkirche 16:00 Uhr Wolfgang Rihm Fragmenta passionis Fünf Motetten für gemischten Chor a cappella ( 1968 ) UA 8’ I. Da verließen ihn alle und flohen. Mk 14,50 II. Da schrien alle: »Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!« Mt 27,22 III. »Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Lk 23,34 IV. Jesus schrie nochmals mit lauter Stimme, und gab seinen Geist auf. »Es ist vollbracht.« Joh 19,30 V. »Wahrhaftig dieser war Gottes Sohn!« Mt 27,54 Heinrich Schütz Musikalische Exequien Begräbnismusik in drei Teilen für sechs, acht oder mehr Stimmen und Basso continuo op. 7 SWV 279-281 ( 1636 ) 36’ I. Nacket bin ich von Mutterleibe kommen Konzert in Form einer deutschen Begräbnis-Missa, SWV 279 II. Herr, wenn ich nur dich habe, SWV 280 III. Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren – Selig sind die Toten, SWV 281

Pause Wolfgang Rihm Sieben Passions-Texte für sechs Stimmen ( 2001-2006 ) 33’ I. Tristis est anima mea usque ad mortem ( Meine Seele ist betrübt bis zum Tod ) II. Ecce vidimus eum ( Wir sehen ihn ) III. Velum templi scissum est ( Der Vorhang des Tempels zerriss ) IV. Tenebrae factae sunt ( Es ward eine Finsternis ) V. Caligaverunt oculi mei a fletu meo ( Dunkel sind meine Augen vom Weinen ) VI. Recessit pastor noster ( Geschieden ist unser Hirte ) VII.Aestimatus sum cum descendentibus in lacum ( Ich bin zu denen gezählt, die fahren zur Grube )

Zwischen den Passions-Texten von Wolfgang Rihm erklingen Werke für Orgel von Johann Pachelbel: Präludium g-Moll, Fantasia d-Moll, Präludium c-Moll

RIAS Kammerchor Claudia Ehmann / Madelena de Faria / Katharina Hohlfeld / Christina Kaiser / Mi-Young Kim / Sabine Nürmberger / Anja Petersen / Stephanie Petitlaurent / Nathalie Siebert / Inés Villanueva, Sopran Ulrike Bartsch / Andrea Effmert / Karola Hausburg / Waltraud Heinrich / Regina Jakobi / Franziska Markowitsch / Karin Neubauer / Claudia Türpe / Marie-Luise Wilke, Alt Volker Arndt / Joachim Buhrmann / Wolfgang Ebling / Jörg Genslein / Stuart Kinsella / Christian Mücke / Volker Nietzke / Kai Roterberg, Tenor Janusz Gregorowicz / Ingolf Horenburg / Werner Matusch / Paul Mayr / Julián Millán / Rudolf Preckwinkel / Andrew Redmond / Johannes Schendel / Klaus Thiem, Bass Solisten Fragmenta passionis: Christina Kaiser, Sopran ( Nr. II ) / Ulrike Bartsch, Alt ( Nr. V ) Musikalische Exequien: Mi-Young Kim / Christina Kaiser, Sopran / Waltraud Heinrich, Alt / Volker Arndt / Kai Roterberg, Tenor / Andrew Redmond / Ingolf Horenburg, Bass ( Nr. I ) / Claudia Ehmann / Katharina Hohlfeld, Sopran / Ingolf Horenburg, Bass ( Nr. III )

Hans-Christoph Rademann, Leitung Aleke Alpermann, Violoncello Wieland Bachmann, Kontrabass Raphael Alpermann, Orgel

Förderer und Partner In Zusammenarbeit mit RIAS Kammerchor / ROC Berlin und Kulturbüro SOPHIEN

52 Zukunft ist Herkunft Bewegung etwa vom »brevis motus cantile- für sechs Stimmen schließen zwar an einen Wolfgang Rihms Chormusik nae«. All diese Bedeutungsebenen spielen in ähnlichen Text-Corpus an, tradieren ebenso die Rihms Kompositionsverfahren eine wichtige Kunst der kühnen Madrigalisten und sind 1968 verfasste Theodor W. Adorno einen kurzen Rolle. Der Text verbindet fragmentierte Pas- auch in der Satztechnik einem vorklassischen Essay mit dem Titel »Chormusik und falsches sionstexte mit dem dynamisierten Sanges- Formideal verpflichtet, aber Gestus und Ha- Bewusstsein«. Der Text zielte bei aller Kritik wort. Die Passionsgeschichte fügt sich so bitus der Musik sind doch völlig anders figuriert. an den traditionellen Gesangvereinen weniger unterwegs‹ zur Sprache im Fluss der Stimmen Einer Sentenz Rihms beipflichtend, ließe auf das Sentimentale im klassischen Reper- und Klänge ein. sich sagen, dass diese Musik nicht nur in der toire, sondern bemühte sich vielmehr um den Diese Bewegung setzt im ersten Satz Tradition Gesualdos stehe, sondern vielmehr Ausdruck einer Ahnung, die für die neue Chor- langsam mit einer traurigen, mehrstimmigen die Tradition Gesualdos selbst ist. Dies impli- musik der 1950er und -60er Jahre Geltung Kantilene ein. Fermaten markieren Ruhe- ziert im Sinne der Hermeneutik nicht nur beanspruchte. Zwar würdigte Adorno zunächst punkte, am Ende steht ein bedeutungsvolles ein Nachleben Gesualdos in der Musik unserer die unlängst klassischen Chorwerke von »tacet«. Viel wilder und erregter gestaltet Zeit, sondern auch deren Rückwirkung auf Arnold Schönberg und Béla Bartók, doch eigent- sich erst der zweite Satz. In tiefer Stimmlage das Vergangene. Die Tenebrae Responsorien lich nur, um im selben Atemzug den Verdacht werden die Bässe angehalten, das »Kreuzige hören wir nach Rihms Passionstexten anders zu äußern, »dass bereits der Chorklang als sol- ihn…« auf geradezu unheimliche Weise zu als je zuvor. cher, wenn er nicht mit aller kompositori- brummen. Die Situation eskaliert schließlich Auch die Musikalischen Exequien von schen Kraft durchgeformt ist, etwas Illusionä- gegen Ende. Ein Brüllen, Schlagen und Toben Heinrich Schütz sind Teil jener tradierten Her- res in sich enthält; den fatalen Anschein wird durch die Musik realisiert, bevor der Ex- kunft als Zukunft. Man findet hier freilich einer sogenannten heilen, geborgenen Welt zess jäh in sich zusammenstürzt und aus eine vollends andere Sprache vor als etwa bei inmitten der ganz anderen hervorbringt. Die der distanzierten Erzählerperspektive im Pia- Gesualdo. Hier tritt vor allem das musikali- Tendenz dazu liegt im Chormaterial. Allzu nissimo des Sprechgesangs verebbt. Lang- sche Ethos in einen interessanten Dialog mit leicht macht es den Einzelnen glauben, in sam und nachdenklich schließt auch der letzte Rihms frühen Fragmenta passionis. Schütz Einverständnis und Harmonie vom Mensch zu Satz des Werkes, der über den Text »Wahr- komponierte eine rhythmische Prosa, die ein- Mensch aufgehoben zu sein, wie sie in der haftig dieser war Gottes Sohn!« zwar schein- deutig der lutherischen Sprache verpflichtet Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft nicht bar einen eloquenten Imperativ formuliert, ist und ohne die auch Hölderlin und Schubert vorhanden sind; die Chorgeselligkeit zeitigt aber dem Gefühl der Demut doch auch die nicht zu denken wären. Von Schütz an wird künstliche Wärme.« zweifelnde Fasson eines Erstaunens verleiht. verständlich, dass es mit dem 17. Jahrhundert Als Wolfgang Rihm im selben Jahr die Man mag hier an die Worte von Emile Michel einen neuen Möglichkeitsraum der Vokalmu- Fragmenta passionis komponierte, war dem Cioran denken, der im Nachklang von Bachs sik gab, der in Rihms Chorwerken buchstäblich Frühvollendeten bereits eine »kompositori- Matthäuspassion einen Eindruck formulierte, eine neue »Vor-Bildlichkeit« erlangt – als sche Kraft« gegeben, die über jeden Zweifel der auch für Rihms Fragmente zutrifft: »Die einer Musik, die der Vergangenheit in erster an kritischem Bewusstsein erhaben schien. Musik hat mich Gott gegenüber zu verwegen Linie ihre eigene Potenzialität als Zukunft Zwar war es sicher so, dass Rihm seine früh- werden lassen.« erschließt. Interpretation und Komposition be- sten musikalischen Erfahrungen in einer Wenn schon der frühe Rihm die Pietät gegnen auf eigene Weise diesen Möglichkeiten gewissen »Chorgeselligkeit« erworben hatte seiner katholischen Herkunft in eine exis- der Geschichte. Ihr Nachleben in der Auffüh- und das Singen im Karlsruher Oratorienchor tenzialistische Frage der Moderne umformu- rungspraxis erfahren wir als konkrete Vergegen- sogar Jahre später als seine wichtigste lierte, so kehrt dieser musikalische Zweifel wärtigung, deren Nachklang die Gewissheit »Instrumentationslehre« bezeichnete, doch im Spätwerk in neuer Intensität und Distanz des Tradierten mit sich führt. von Geselligkeit und Geborgenheit war in wieder. Die Sieben Passionstexte ( 2001 – 06 ) Toni Hildebrandt seinen Fragmenta passionis aus dem Jahre 1968 eben gerade nichts mehr zu spüren. Vielmehr ist das Frühwerk des gerade erst 16-jährigen Komponisten der erste Versuch einer Suche und darin bereits gefundener Weg, dessen Sinn- und Realisierungsoffenheit der »offenen Form« der Passionsfragmente selbstbewusst begegnete. All dies kann man heute, im Rückblick auf den greisen Adorno und den jugendlichen Rihm, gut nachvollziehen und verstehen. Rihm komponierte nach 1968 weitere, zum Teil weit ambitioniertere Werke für Chor- und Vokalensemble. Nie waren sie »illusionär«. Sie blieben, mit Hans Blumen- berg gesprochen, der »Realpolitik« der Pas- sionsgeschichte verpflichtet. Die Fragmenta passionis – welch Ana- chronismus in der Welt von 1968! – waren tatsächlich als Motetten angelegt, wie sie seit dem 14. Jahrhundert von Guillaume de Machaut, im 15. Jahrhundert von Guillaume Du Fay und Johannes Ockeghem und später von Palestrina, Schütz, Bach, Bruckner oder Hindemith komponiert wurden. Rihm wählte diese traditionelle Form sehr bewusst, nicht zuletzt um dem anspruchsvollen Text gerecht zu werden, aber wohl auch aufgrund einer musi- kalischen Haltung. Seiner nicht vollends gesicherten Etymologie nach verweist das Lateinische motetus auf das »Wort« ( franz. mot ) oder den »Spruch« ( ital. motto ), aber schon frühzeitig auch auf die innere Bewegt- heit, ein Agens und Movens des Melos. Der Oxforder Benediktinermönch und Musiktheo- retiker Walter Odington sprach um 1300 in Anlehnung an den lateinischen Ausdruck für Wolfgang Rihm , Foto: Kai Bienert

53 Kanon & Chaos Hommage à Ockeghem Samstag, 24. März 2012 Radialsystem V 19:30 Uhr Sergej Newski Autland Musiktheater für sechs Solisten und Kammerchor ( 2008/2011 ) 65’ Nach Texten von Gerd-Peter Eigner, Unica Zürn, Katja Rohde, Anton Charitonow und Artjom Pismenski Konzertante DE der Neufassung

VocaalLAB Angela Postweiler, Sopran Ekaterina Levental / Elsbeth Gerritsen, Mezzosopran Gunnar Brandt-Sigurdsson, Tenor Arnout Lems, Bariton / Frank Wörner, Bassbariton

Vocalconsort Berlin Inge Clerix / Miriam Fahnert / Cécile Kempenaers / Katja Kunze, Sopran Anja Schumacher / Wiebke Kretzschmar / Dorothee Merkel / Anne-Kristin Zschunke, Alt Florian Schmitt / Philipp Neumann / Friedemann Büttner / Michael Schaffrath / David Fankhauser, Tenor Martin Backhaus / Christoph Drescher / Kai-Uwe Fahnert / Thomas Heiß / Jan Sauer, Bass

Titus Engel, Leitung

Produktion Uhde & Harckensee MusikManagement, Sergej Newski und Titus Engel. In Zusammenarbeit mit Berliner Festspiele / MaerzMusik und Radialsystem V. Mit Unterstützung von Deutscher Musikrat. Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds

Mitschnitt Deutschlandradio Kultur, Sendung 12. Juli 2012, 0:05 Uhr

Förderer und Partner Sergej Newski: Autland ein wichtiges dramaturgisches Motiv: Der Einleitungschor Die Menschen müssen sich Ob als phonetische Lautmalerei oder als ge- füreinander interessieren beginnt mit Atem- sprochene Sprache – die Benutzung der geräuschen, aus denen allmählich Töne werden. Stimme ist urmenschlichste Ausdrucksform: Aus den Lauten wird ein gesprochener Text, Der Schrei eines Kindes und sein zufriedenes der schließlich vom Gesang »übermalt« wird. Summen beim Spielen sind für uns klar zu Der Text stammt aus dem Schulaufsatz eines unterscheidende Äußerungen. Jede Stimme autistischen Jugendlichen: Der Jugendliche be- ist individuell in Aussprache, Rhythmik und schreibt hier Kommunikation als einen von Klang. Die Geschichte der Vokalmusik ist nahe- der kapitalistischen Gesellschaft aufgesetzten zu ebenso lang wie die Geschichte der Zwang: wer nicht kommuniziert – verhungert. Stimme selbst. Am Ende des Stückes wird der Text als Mantra Als ich vor circa zehn Jahren meine von den vier im Raum verteilten und rhyth- ersten Stücke für Stimme schrieb, begab ich misch stets gegeneinander laufenden Chören mich auf die Suche nach dem Urmoment der skandiert. Stimme, ich suchte das Unmittelbare, nicht Da ist Ruhe in der Natur ist ein Doppel- Geformte und Lautmalerische. Ich wollte kanon mit zwei Chorzwischenspielen über keine Ausdrucksmusik schreiben, sondern ein Gedicht von Gerd-Peter Eigner. Die skurrile eine Syntax entwickeln, die den Zuhörer Welt einer geschlossenen Psychiatrie wird berührt und ihn zugleich auf Distanz hält. Ich wie eine Breughel-Winterlandschaft gezeich- wollte keinen Belcanto komponieren, son- net, die Sänger werden zu Patienten, die dern Musik, in der die Stimme von ihrer inhalt- im Kanon die Worte des Arztes auf Schiefer- lich-tradierenden Funktion befreit ist. Heute tafeln schreiben. suche ich eben diese Dialektik von erzählender Menschen fliegen ist ebenfalls ein auf Vokalmusik und dem Bruch mit dieser hin dem Schulaufsatz eines autistischen Jugend- zu phonetischer Reduktion. Meine wichtigsten lichen basierendes Vokalquartett. Eine endlose Bezugspunkte innerhalb der Tradition der Aufzählung menschlicher Handlungen und Vokalmusik sind das Melodram ( also zur Musik Eigenschaften endet mit der erstaunlichen Er- gesprochener Text ) und die Polyphonie der kenntnis »Menschen sind endlich, Menschen flämischen Hochrenaissance. Die Verände- fliegen«. Die ineinander übergehenden Loops rung der Stimme und ihres Kontextes während in den Frauenstimmen umspielen einen Cantus des Stücks und eine für den Hörer nachvoll- Firmus ( feststehende Melodie ) des Baritons. ziehbare Entstehung der Musik aus den isolier- Ufergrünes Hoffen ist ein Notturno für ten Lauten sind für mich wichtige formale einen hohen Sopran und neun Frauenstim- Strategien. men. Die Verletzlichkeit und die Utopie, das Auch in Autland ist der Wechsel von immer Verborgene, Geheime in der Welt eines phonetischer , Sprache und Gesang Autisten, das er vor der feindlichen Außen-

54 welt zu schützen versucht, erblüht zu einer »Insel der Glückseligkeit« ( Beate Baron ). Die hohe Kantilene ( gesangliche Melodie ) eines Koloratursoprans entsteht aus einem Klangteppich, der harmonisch zwar nur aus Konsonanten-Schichtungen besteht, deren Schichten sich aber in sich pendelnd per- manent ändern, so dass der Gesamtklang immer komplexer, undurchsichtiger wird. Wir lieben den Tod basiert auf einem Anagramm der Schriftstellerin Unica Zürn. Die- ses Vokalsextett besteht aus drei übereinan- der gelegten Duos. Während der Mezzosopran und der Tenor versuchen, aus den elementa- ren Lauten den Text des Gedichts aufzubauen, Ich bin durch furchtbares, kernloses, singen die zwei Soprane sowie Bass und kressearmes Land gegangen, Kirgisensteppen- Bariton zwei voneinander unabhängige Kanons, die stilistisch ein wenig an ein Renaissance- wölfe haben mich bedroht, gutes Ufershoffen Chanson erinnern. duftete irreal jugendfremd, hüstelnd, Ich weiß nicht, wie man eine Liebe sudanesisches Arbeiten fordernd. Koransuren macht ( nach Unica Zürn ) und Lasst mich allein halfen nicht, OK-Gefühle stellten sich ( nach Gerd-Peter Eigner ) bilden zusammen das große Opernfinale, das aus mehreren En- nicht ein: Ufergrünes Hoffen gab ich nie sembles und Soli zusammengesetzt wird. Im auf. Uferholdes Hoffen half mir zu Einleitungsteil spielen die Sänger Schlagzeug, überleben. die Stimme und der Gesang entwickeln sich Katja Rohde, in: ›Ich Igelkind – Botschaften aus einer autistischen Welt‹, aus Alltagsgeräuschen und erheben sich über München 1999, aus dem Libretto zu ›Autland‹ den »klingenden Müll«. Dem folgt ein verzwei- feltes Liebesduo, das von der Unmöglichkeit der Liebe singt ( begleitet von einem auf Sty- ropor spielenden Sprechchor ). Es geht in ein Chorfinale über, das wiederum von einem Bass-Solo abrupt unterbrochen wird. Dieses Solo, das zuerst nur aus Atmen besteht, bringt uns zum Ausgangspunkt der Geschichte zurück: Die Sprache wird wieder in die Pho- neme zerlegt. Ein Autist bringt der ihn zur Kommunikation zwingenden Gesellschaft seine Lautsprache bei und zwingt sie, ihn zu imitieren. Sergej Newski

Sergej Newski, Foto: Kai Bienert

55 John Cage 100

Sonntag, 25. März 2012 Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin-Dahlem 11:00 – 14:00 Uhr John Cage Branches für verstärkte Pflanzenklänge und 4 Spieler ( 1976 ) Inlets für wassergefüllte Muscheln und 3 Spieler ( 1977 )

11:00 Uhr Inlets Branches 12:00 Uhr Inlets Branches 13:00 Uhr Inlets Branches Inlets

Peter Behrendsen, Künstlerische Leitung Sabine Schall / Klara Schilliger / Valerian Maly / hans w. koch, Performance

In Zusammenarbeit mit Freie Universität Berlin / Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin-Dahlem und Berliner Künstlerprogramm des DAAD

Förderer und Partner Klingende Pflanzen und Muscheln Die Großstruktur setzt sich aus meh- reren 8 Minuten dauernden Abschnitten Branches ging aus dem Solo-Stück Child of zusammen, die durch ebenfalls vom I Ging Tree für die Cunningham-Choreographie Solo bestimmte Pausen getrennt werden. Die hervor, die 1975 erstmals in Australien aufge- 8-Minuten-Teile werden wiederum mit dem führt wurde. Nachdem Cage 1976 eine Anfrage I Ging unterteilt. Der Spieler bestimmt 10 aus Paris wegen eines Kompositionskurses Instrumente und ermittelt mit Hilfe des I Ging erhalten hatte, erweiterte er Child of Tree zur aus der Partitur, welches und wie viele Ensemble-Komposition Branches. Der Kurs der neun Instrumente er in welchem der Sub- bestand darin, dass Cage den teilnehmenden Abschnitte spielt; das zehnte Instrument, Komponisten am Beispiel von Branches den eine Bohnenrassel, ist immer dem letzten Umgang mit dem chinesischen Orakelbuch Sub-Abschnitt vorbehalten. »Mit Hilfe einer I Ging demonstrierte, d.h. wie sie damit eine Stoppuhr improvisiert der Spieler, indem er Spiel- und Zeitstruktur erstellen konnten. mittels der Instrumente die Zeitstruktur Im Winter 1981 / 82 arbeitete ich in New deutlich macht« ( John Cage ). Durch die Limi- York an der Montage von Alphabet, der zwei- tierung der Anzahl von Instrumenten sowie ten großen Radioproduktion von John Cage für durch die vorgegebenen Dauern wird seine das Studio Akustische Kunst des WDR mit Improvisation diszipliniert ( »mit dem Kopf Cage zusammen, zuvor hatte ich schon bei in den Wolken, mit den Füßen am Boden« ). Roaratorio mit ihm zu tun gehabt. Seit langem Cage war, was die »freie« Improvisa­ beschäftigte mich der Gedanke, welches tion betrifft, stets skeptisch bis ablehnend. seiner Stück ich als »Nicht-Musiker« realisie- Man kann das u. a. in dem von Richard ren könnte. Ich fragte Cage nach Branches, Kostelanetz herausgegeben Buch, in seinem und er erklärte mir das Stück anhand der Par- Interview mit dem Jazz-Kritiker Michael titur. Nicolas Collins wies mich darauf hin, Zwerin nachlesen. Gleichwohl und bezeich- dass Piezoelemente auch Kontaktmikropho- nenderweise heißt Inlets im Untertitel ne sein können; und Cages Ingenieur John »Improvisation«. In Inlets werden mit Wasser David Fullemann, durch dessen Bau von Kon- gefüllte Muscheln verschiedener Größe von taktmikrophonen Branches erst möglich drei Spielern bewegt, um mit ihnen Glucker- geworden war, zeigte mir deren Konstruktions- klänge zu erzeugen. Allerdings will das weise. 1984 bekam ich durch Stefan Schädler, nicht immer gelingen. Cage spricht von damals Musikdramaturg am Frankfurter »Kontingenz«, da es keine kontinuierliche Theater Am Turm, die Möglichkeit, Branches ursächliche Beziehung zwischen Ursache zum ersten Mal aufzuführen. ( Aktion ) und Wirkung ( Klang ), keine absolute Die Instrumente von Branches sind Kontrolle über das Klangresultat gibt. Für Pflanzen ( vorzugsweise Kakteen ), die berührt, die Aufführung bei MaerzMusik 2012 wird gezupft etc. und deren Klänge mittels Kon- Inlets im Wechsel mit Branches kombiniert. taktmikrophonen verstärkt werden. Die Partitur Peter Behrendsen der Komposition besteht aus Photokopien mehrerer handschriftlicher Seiten mit Zahlen- tabellen bzw. Anweisungen zur Herstellung einer Spielvorlage, die jeder Spieler für sich und jedes Mal neu erstellt.

56 John Cage, ›Branches‹, Partiturausschnitt © Henmar Press / Edition Peters

»Wenn ›Kunst‹ und ›Musik‹ anthropozentrisch ( mit Selbstdarstellung befasst ) sind, erscheinen sie mir trivial und bar jeder Dringlichkeit. Wir leben in einer Welt, in der es nicht nur den Menschen gibt, sondern auch Dinge. Bäume, Steine, Wasser – alles ist ausdrucksvoll.«

John Cage in einem Brief an Paul Henry Lang, 1956

57 Dedicated – Music for Friends

Sonntag, 25. März 2012 Haus der Berliner Festspiele 16:00 – 24:00 Uhr 16:00 Uhr Oberes Foyer

Junko Wada / Rolf Julius With Julius. In memory of »for 8 h( ours )« ( 2012 ) UA 480’

Musik für eine weite Ebene ( 2003 / 2009 ) aus Berlin Concert Series ( 1981 / 1982 ) Musik – weiter entfernt II ( 2009 / 2010 )

Junko Wada, Performance Rolf Julius, Komposition William Engelen Jochen Tuschezeichnungen für Holzbläser ( 2007 ) 10’

Theo Nabicht, Bassklarinette

17:00 Uhr Oberes Foyer

Akio Suzuki Jetzt – Hommage à John Cage und Rolf Julius Solo Performance ( 2012 ) UA 20’

Akio Suzuki, Performance Philip Corner Some Silences.....complete and up-to-date In Form eines begleiteten Vortrages ( mit Stille ) ( und Klängen ) ( 1982-2012 ) 20’

Philip Corner / Phœbe Neville, Performance

18:00 Uhr Kassenhalle

Nicolas Collins Salvage ( Guiyu Blues ) für sieben einen elektronischen Schaltkreis reanimierende Performer ( 2008 ) 7’ In Memoriam Michel Waisvisz für flammengesteuerte Oszillatoren ( 2008 ) 15’ Chris Mann here’s trouble Solo Performance ( 2012 ) UA / AW 20’

19:30 Uhr Großer Saal

Marc Sabat Euler Lattice Spirals Scenery für Streichquartett ( 2011 ) DE 25’ I. Preludio: Les Quintes Justes II. Pythagoras Drawing ( I ) III. Harmonium for Claude Vivier IV. Harmonium for V. Pythagoras Drawing ( II )

58 Walter Zimmermann Trauern heißt ganz Ohr sein für Gesang und Violine ( in einer Person ) und Kontrabassklarinette In memoriam Reinhold Brinkmann † 10. Oktober 2010 Text: Felix Philipp Ingold ( 2011 ) UA 6’

Susanne Zapf, Violine Theo Nabicht, Kontrabassklarinette Dieter Schnebel Sonanzen für Streichquintett ( 2010 ) 27’ I. Burleske II. Lento III. Scherzo IV. Adagio

Sonar Quartett Susanne Zapf, Violine / Wojciech Garbowski, Violine Nikolaus Schlierf, Viola / Cosima Gerhardt, Violoncello Michael Rauter, Violoncello ( Gast )

21:00 Uhr Großer Saal

Alvin Curran Inner Cities 10 (for Daan Vandewalle) aus: Inner Cities, Zyklus für Klavier solo ( 1991- ) 50’

Daan Vandewalle, Klavier

In Zusammenarbeit mit Berliner Künstlerprogramm des DAAD

Förderer und Partner Junko Wada / Rolf Julius: With Julius. Vorhaben, das wir nicht gemeinsam fertig stel- In memory of »for 8 h( ours )« len konnten, umzusetzen. Im Rahmen eines Festivals mit Als ich im Januar von Tango / Kyoto nach Berlin bestimmten formalen Vorgaben ist es eine zurückkam und das Stück Musik für eine schwierige Aufgabe, eine Aufführung von weite Ebene von Rolf Julius hörte, das mir einer solch langen Dauer zu realisieren. Doch Volker Straebel, der künstlerische Berater von Volker Straebel wurde zu einer Art Vermittler MaerzMusik, für diese Veranstaltung vor- zwischen Rolf Julius und mir, indem er die Mu- geschlagen hatte, beschloss ich, bei meiner sik aussuchte und einen zeitlichen Ablauf ursprünglichen Idee einer achtstündigen als Rahmen vorgab, womit ich arbeiten konnte. Performance zu bleiben. Ich finde, dass er die Musik von Rolf Julius 1994 hatten Rolf Julius und ich eine wie Steine in einem japanischen Steingarten Performance mit dem Titel 8 Stunden im in Kyoto verteilt hat. Das erlaubt mir, eine Künstlerhaus Bethanien in Berlin gemacht. schlichte Choreographie zu gestalten, die mein Vorletztes Jahr entschieden wir uns, eine kalligraphisches Schreiben einbezieht. weitere achtstündige Performance aufzufüh- Ich beginne mit einem zwanzigminütigen ren, allerdings mit einem anderen Konzept. Tanz, um den Raum meiner Performance Dies konnte nicht mehr umgesetzt werden, im linken Rangfoyer des Hauses der Berliner weil Rolf Julius Anfang 2011 verstarb. Für Festspiele zu betreten. Dort werde ich immer diese neue Performance hatten wir beide das wieder Aufnahmen von Rolf Julius’ Berliner Konzept einer extremen Reduktion ent- Konzertreihe ( 1981 / 82 ) spielen. Wenn die letzte wickelt, die Aktion sollte bis zu einem Grad Darbietung des Abends beendet sein wird, verknappt werden, bei dem sämtliche Be- werden wir im rechten Rangfoyer Musik – wegungsfiguren aufgelöst sind und nur der weiter entfernt II ( 2009 / 10 ) von Julius als In- reine Klang beziehungsweise die reine Be- stallation zu Gehör bringen. Zum Schluss wegung übrig bleiben. Wir fanden, dass uns werde ich den Raum der Performance mit dies der Vorstellung von Leere näherbringen einem zwanzigminütigen Tanz verlassen, könnte, wie sie aus der buddhistischen Philo- so wie ich dieses Stück – unser Stück – acht sophie bekannt ist. Stunden zuvor begonnen habe. Während meiner Arbeit im Studio fühlte Junko Wanda ich mich immer stärker verpflichtet, unser Übersetzung Eckhard Weber

59 William Engelen: Jochen – richtiger Familienname lautet Monstera, und und es geht ihm gut dabei. Die enge Beziehung der Künstler und sein Modell dieses Familienmitglied heißt Monstera zwischen Pflanze und Künstler inspirierte deliciosa, weil ihre Früchte köstlich schme- William Engelen zu einer Serie von 12 groß- Die Pflanze hört auf den Namen Jochen. cken, wenngleich sie in Zimmerkultur aus- formatigen Porträtzeichnungen, ausgeführt Anders als Menschen, Haus- und Zootiere, bleiben. Die Fensterblätter waren auch als in schwarzer indischer Tusche. Die liebevoll auch Schiffe, Autos und Waffen haben Pflanzen Objekt spekulativer Forschung beliebt. akkuraten Zeichnungen sind gleichzeitig eigentlich nie einen Rufnamen. Das präch- Mithilfe kirlianscher Fotografie wurde eine als graphische Partituren zu lesen. Notiert tige Fensterblatt, das der Künstler und seine um die Blattränder vorhandene elektro- für einen Saxophonisten oder Klarinettis- Partnerin adoptierten, als sein vormaliger magnetische Corona gezeigt, die angeblich ten, sind sie mithin ein Versuch, der Pflanze Herr nach Kambodscha ging, entfaltete an Freude oder Schrecken der Pflanze spie- die ihr eigene Musik zurückzugeben. seinem neuen Standort in der Ecke des gele, je nachdem ob man sich ihr freundlich Fünf Elemente der Darstellung und großen Zimmers eine so starke, ja angstein- zuwende oder etwa eine Beschneidung musikalischen Notation sind unterscheidbar: flößende Präsenz, dass die jungen Pflanzen- beabsichtige. Auch wurde behauptet, dass Formen und Umrisse der Blätter – eltern sie nur durch Namensgebung bannen das Fensterblatt gewissermaßen Ohren und im Reversbild deren Löcher und Schlitze – konnten. Jochen gehört zur Familie der und einen Sinn für Schönheit habe, da es geben als Flächen und Linien Hinweise auf wegen ihrer großen, herzförmigen Blätter mit beim Hören gepflegter klassischer Musik musikalische Einzelereignisse, ihre Verläufe den ovalen Schlitzen und Löchern und ihrer erheblich kräftiger und schneller wachse, und Dichte. langen Luftwurzeln besonders in den 1950er nicht dagegen bei Pop und Jazz. Blattstängel und Blattschäfte zeigen Jahren sehr beliebten Fensterblätter, die Im Atelier von William Engelen hört in feinen, auch nebeneinander eng geführten ebenso oft wie fälschlich Philodendron – Jochen außer der ruhigen, angenehmen Linien und Haken einzelne Töne, ihre relative »Baumfreunde« – genannt werden. Ihr Stimme des Künstlers oft »neue« Kunstmusik, Dauer, Stärke, Phrasierung und die Pausen dazwischen an. Die zarten, geschwungenen Linien der Luftwurzeln markieren in ihren Querveräs- telungen Häufigkeit, Rhythmus und Abfolge von Klappengeräuschen des Instruments. Stämme und Äste werden gezeichnet durch längsgezogene eckige Linien und schmale Kästchen in Schwarz-Weiß-Kontrast. Sie sind zu lesen als multiphonics, als Mehr- klänge, die der Musiker auf seinem Instrument erzeugen kann. Die Blätter stehen für sich. Sie können einzeln und in beliebiger Reihenfolge gespielt werden. Ihre Dauer ist unbestimmt. Der Musiker kann in den Zeichnungen nach Gutdünken »blättern« und Elemente wiederholen. Für die Ausführung der graphischen Zeichen gibt es keine schriftliche Legende oder Spielan- weisung. Allerdings möchte der Künstler dem Musiker seine Vorstellungen im Gespräch vermitteln. Er wünscht sich, dass die Leserich- tung und Reihenfolge des Spiels dem orga- nischen Pflanzenwuchs folge. Hinter dem Musiker werden die gespielten Zeichnungen und einzelne Fotos von Jochen projiziert, sodass Zuhörer den imaginativen Prozess der musikalischen Umsetzung des Pflanzen- porträts verfolgen können. Ideal natürlich sind Aufführungen in Gegenwart von Jochen. Hier muss der Musiker beweisen, wie weit er sich in die Pflanze hineinzuversetzen vermag. Eine vollendete Interpretation wird bewirken, dass sich die Blätter, Stängel und Äste im Fluss der Musik fast unmerklich wiegen. Die Erotik des Spiels ließe Jochen erröten, was für die mexikanische Monstera deliciosa hieße, dass ihr sattes, glattes Grün umso dunkler und sonorer tönte. Matthias Osterwold

William Engelen, ›Jochen‹ 2007, Zeichnung 112 x 86 cm, Tusche, Pigment Liner

60 Akio Suzuki: Jetzt – Nicolas Collins: Salvage ( Guiyu Blues ) Chris Mann: here’s trouble Hommage à John Cage und Rolf Julius In Salvage ( »Bergung« ), versuchen sieben Language is the mechanism whereby you Neither to draw the past experience. Performer einen verblichenen und ausrangier- understand what I'm thinking better than I Nor to entrust to the future. ten elektronischen Schaltkreis zu reanimie- do ( where I is defined by those changes I follow the present. ren: Handys, Hauptplatinen alter Computer, for which I is required ). With trust in my instruments. Faxgeräte, Mischpulte, Keyboards und der- Sprache ist der Mechanismus, der dich Ich setze weder auf die vergangenen gleichen mehr. Sechs der Spieler benützen besser verstehen lässt, was ich denke, als Erfahrungen noch vertraue ich mich der Prüfspitzen, um Verbindungen zwischen ich selbst ( wobei »ich« definiert ist durch Zukunft an. Ich folge der Gegenwart. Im einem von mir gebauten, einfachen Schalt- jenen sprachlichen Austausch, der ein »ich« Vertrauen auf meine Instrumente. kreis und dem elektronischen Leichnam voraussetzt ). Akio Suzuki herzustellen. Die Rückkopplung zwischen Chris Mann meinem Schaltkreis und den Komponenten Philip Corner: Some Silences..... des toten Apparats erzeugt verschiedene complete and up-to-date Schwingungsformen, die sich bei der kleinsten Bewegung der Prüfspitzen immer wieder The Only Silence Is Noise; The Only Noise Is verändern. Der siebte Performer »dirigiert« Music ( it depends on where one puts the die Aufführung, indem er in regelmäßigen mind ). Abständen den Spielern Signale gibt, damit sie versuchen, die augenblickliche Klang- Die einzige Stille ist Geräusch; das einzige textur zu verlängern, indem sie ihre Prüfspitzen Geräusch ist Musik ( es hängt davon ab, ganz still halten. worauf man die Aufmerksamkeit richtet ). Nicolas Collins Philip Corner Übersetzung Eckhard Weber

Nicolas Collins, ›In Memoriam Michel Waisvisz‹ für flammengesteuerte Oszillatoren © Nicolas Collins

61 Marc Sabat: Walter Zimmermann: IV. Adagio, über Entrückung, Stille, Euler Lattice Spirals Scenery Trauern heißt ganz Ohr sein auch Trauer – ein Abschiedsstück.

Eine der deutlichsten Auswirkungen von John Trauern heißt ganz Geschrieben in der Besetzung von Cages Kunst heute ist die Neupositionierung Ohr sein für Schuberts überirdischem Streichquintett – des musikalischen Klangerlebnisses. Er bewies die nie gehörte Dauer. mit zwei Violoncelli – ist das Werk auch immer wieder, dass die Schönheit der Musik Hommage an den geliebten Wiener Meister, nicht von den akustischen Präferenzen eines Für den Ton der so viel von der Liebe wusste; freilich Komponisten, womöglich noch virtuos dar- der fehlt wo – immer auch mit manchen Anklängen an Wagners gestellt, abhängt. Offenkundig ist es nunmehr jetzt – das Ende Tristan, der Liebesmusik schlechthin, die viel interessanter, wie scheinbar subjektive mich schon in meinen Bachmann-Gedichten Wahrnehmungen, die in der Tat im musikali- lautet. Zeitversetzt verblühn beschäftigte. Und mehr als das: ein Versuch schen Hinhören durch das spezifische Klang- die Farben und über die Utopie Liebe – ihre Unmöglichkeit material und seine zeitgegebene Struktur Vokale die den einen Namen und ihre Transzendenz. entstehen, als Eigenschaften des Klangs zu Dieter Schnebel erfassen sind. meinen. Also unerhört Euler Lattice Spirals Scenery habe ich die Mitte. Und 2011 in Rom während eines einjährigen keine Blöße ahnungslos. Aufenthalts in der Villa Massimo komponiert. Felix Philipp Ingold Alvin Curran: Inner Cities Es ist das dritte Werk eines fortlaufenden Streichquartettzyklus, in dem musikalische Inner Cities, Innenstädte, sind dort, wohin man Formen sich als Konsequenzen der explizit geht, um etwas zu erfahren; um eine Taran- notierten Intonationen entwickeln. Der Titel Dieter Schnebel: Sonanzen tella mit Gurdjieff zu tanzen; um zu sehen, wie nimmt Bezug auf Leonhard Eulers Erfindung Italo Calvino Giordano Bruno auf dem Campo einer zweidimensionalen Darstellung des Ton- In der Musik unterscheiden wir Konsonanzen de’ Fiori grüßt; um 78 Mal das tiefe C und ein- netzes von Dur- und Molldreiklängen. Diese und Dissonanzen, Wohl- und Missklänge, mal das tiefe Des für Giacinto Scelsis 79. Unterteilung des harmonischen Tonraums auch tonal und atonal – fast wie positiv und Geburtstag zu spielen; um zu hören, wie Louis basiert auf der Verwendung von Oktaväquiva- negativ, gar gut und böse. Armstrong Zeit und Raum in Providence ver- lenzen, reinen Quinten und reinen Terzen, Indes enthält jeder Klang beides. Wie bindet und Ella, Peanuts Hucko und Brubeck und wird als ( 3,5 )-Projection-space bezeichnet. wir aus der Physik wissen, ist der Ton ein ein Stadion in Newport ohne Verstärker Ein Auszug dieses Tonnetzes, beste- Spektrum aus Teil- ( Ober- )Tönen über dem füllen; um Cage und Braxton beim Schach- hend aus 99 unterschiedlichen mikrotonalen jeweiligen Grundton; von Oktave zu Oktave, spielen im Washington Square Park zu beob- Tonhöhenklassen, der in eine Abfolge von von unten nach oben, erst die Quinten, dann achten; um sich in einem Lumpenhaufen mit Dreiklängen in reiner Stimmung ausgebreitet die Terzen, die Sekunden und ganz oben Pistoletto und Simone Forti zu wälzen; um wird, bildet die Grundlage des vierten Satzes die Mikrointervalle. Das Streichquintett dem Schweigen von Ezra Pound am Canal Harmonium for Ben Johnston. Vom zentralen Sonanzen ist eine Spektralkomposition, Grande zu lauschen; um Julian Beck »Para- Ton D ausgehend bewegen sich die Akkorde angesiedelt im Zwischenreich von Konsonanz dise Nooow...« sagen zu hören und später in derart spiralförmig durch den Tonraum, dass und Dissonanz, meist Kombinationen einem Film »I wuz bawn in a garbage can« alle möglichen Dreiklangsprogressionen dissonanter und konsonanter Klänge. Und ( »Ich wurd in nem Mülleimer geborn« ); um ein gemeinsamer Töne zum Erklingen gebracht ebenso gibt es ein Zusammenspiel der Komponist im Apfelbaum der Coolidges zu werden. Hierfür erscheint jeder mikrotonale Rhythmen, nicht nur in den üblichen Zwei- werden; um zu hören, wie Miles und Coltrane Dreiklang nur einmal. Mitten im Satz gibt es Drei-Viergliederungen, sondern auch in ihre Zuhörer in Storyville umhauen ( Preis: einen feinen enharmonischen Saum, von den ungeraden Fünf, Sieben, Neun, Elf, etc. eine Coca-Cola ); um Cy Twombly zuzuhören, dem aus die Krebsumkehrung des Akkord- Dem Stück ist als Motto ein Zitat wenn er gerade aus der Wüste Gobi zurück- verlaufs beginnt. vorangestellt, der Schluss von Hölderlins gekehrt ist; um Diana in ihrem Tempel am Lago Um diese Modulation in weit entfernte Hyperion: di Nemi zu treffen; um zu hören, wie Art Regionen des Tonnetzes auf akustischen Tatum die ganze Welt auswendig spielt; um Instrumenten zu verwirklichen, bleibt die Aus- Wie der Zwist der Liebenden sind für Perlinis Otello eine Blechbüchse, die arbeitung der Dreiklänge schlicht und unver- die Dissonanzen der Welt. durch eine venezianische Kirche rollt, zu filmen; ziert. Häufig gibt es Passagen, die für die Versöhnung ist mitten im Streit, und um aus dem Stegreif ein Widderhorn-Konzert direkte Ableitung dieser Tonhöhen von leeren alles Getrennte findet sich wieder. für palästinensische Ladenbesitzer zu geben; Saiten und deren Naturflageoletts kompo- Es scheiden und kehren im Herzen die um mit einem New Yorker Taxifahrer zu niert wurden. Darum ist das Etablieren und Adern und einiges, ewiges glühendes fahren, der verrückt nach Gubaidulina ist; [...] Spielen der präzis gestimmten, nicht tem- Leben ist Alles. um mit einer jüdischen Rheintochter zu perierten Frequenzverhältnisse von 3:2 das So dacht´ ich. Nächstens mehr. schlafen; um Giuseppe Chiari zu helfen, das musikalische Thema der anderen Sätze Projekt im Palazzo Strozzi neu abzumischen des Streichquartetts. Im Preludio ist eine Tatsächlich erzählt das Stück in und Robert Ashley, den Staub vom Fußboden Stimmprozedur der leeren Saiten des Ensem- musikalischer Weise von der Liebe, ihren des Local 802 aufzusammeln; um Nebel- bles auskomponiert, wodurch die Komma- Spannungen und Entspannungen, ihren hörner mit den Narragansett-Indianern zu taverschiebungen und die Partialunisonos, »Irrungen – Wirrungen«, ihrem Glück und hören; um funghi porcini für Luigi Nono in die sich zwischen den sechzehn Saiten der Leid; von Fülle ( Ekstase ) und Mangel Berlin-Friedenau zu kochen; um Morty Feldman vier Streichinstrumente ergeben, optimiert ( Depression ), aber auch von dem Dazwi- auf der 8. Straße zu treffen; um aus der werden. Es folgen zwei Pythagoras Drawings schen: dem Normalen, dem Träumen, der ligurischen Küste Wasserfarbenmusik mit mit Sonoritäten tiefer natürlicher Teiltöne: Langeweile, der Ruhe der Einsamkeit. Edith Schloss zu machen; um zusammen Quinten, Quarten, Sekunden und ihrer Es gibt vier Sätze, zwei rasche und mit den Anarchisten aus Carrara und den Oktavtranspositionen, Zwischen ihnen das zwei langsame: Bertoluccis in Tellaro zu sein, wo D. H. Harmonium for Claude Vivier: eine eksta- Lawrence ein Klavier mit Eseln geliefert wurde; tische, gesangliche Melodie höherer natür- I. Burleske, quasi von Vereinigung um von der Bühne gebuht zu werden, während licher Teiltöne in ihren verschiedenen handelnd, man koreanische Volkslieder in Darmstadt Registern. II. Lento, ein Stück über die Leere, aufführt; um Messiaen im »Birdland« zu Euler Lattice Spirals Scenery wurde in Quinten, Oktaven und Tritonie, hören; um Evan Parker auf der Festa dell'Unita vom Sonar Quartett am 20. Oktober 2011 in III. Scherzo, gleichsam alltäglich, und George Lewis auf dem Turm von Pisa Rom uraufgeführt. mit viel naivem Trommeln, aber spielen zu hören; um Annea Lockwoods ver- Marc Sabat auch einem »Natur« – Intermezzo, blüffendes Glas-Konzert in Mittelerde zu und schließlich sehen und zu hören; um in einem Zimmer mit Alvin Lucier zu sitzen; um zu hören, wie

62 Thelonius Monk die Zeit im Five-Spot verstimmt [...] Inner Cities 10 wurde 2003 komponiert und im April 2003 von Daan Vandewalle im Le Lieu Unique in Nantes uraufgeführt. Es ist eines der längsten Stücke ( knapp 60 Minuten ) aus meiner Inner Cities-Werkgruppe und hat gegen Ende eine lang ausgearbeitete Impro- visation. Und es ist auch eines der »klassisch- sten« der Inner Cities-Werkgruppe insofern, als es wiederkehrende »Themen« hat, die nach sachte tastenden Variationen versuchen, aus ihrem Schicksal einer Wiederholung aus- zubrechen …, aber irgendwo bricht in der Mitte alles zusammen und das forschende Bauen, das Entwickeln, wird zu Musik, die wirkt, als sei sie von einem autistischen Kind geschrieben worden …nichts ist »zielgerich- tet« miteinander verbunden; der Pianist ver- sucht sogar mit den Handrücken auf den Tasten zu spielen, und wie in vielen der Inner Cities-Stücke heben Minimalismen, Post- Tonalismus, Ragtime und Jazz ihre Köpfe – manchmal alle gleichzeitig, was zu einer überzeugenden Improvisation im »Fake-Book«- Stil führt, wobei der Pianist zwei Gruppen von Akkordsymbolen erhält – eine für die rechte Hand und die andere für die linke Hand – und angewiesen wird, so schnell wie möglich zu spielen und dabei die physischen und mentalen Grenzen zu überschreiten … und das ist es, was Daan mit unglaublicher Gestaltungskraft auch tut ... er entfacht einen musikalischen »Tornado«, der irgendwo zwischen Sorabji, Art Tatum und Cecil Taylor und etwas anderem liegt. Alvin Curran Übersetzung Eckhard Weber

Junko Wada / Rolf Julius, ›8 Stunden‹, Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1994

63 Symposium

19. – 21. März 2012 Haus der Berliner Festspiele 10:00 – 16:30 Uhr John Cage und die Folgen / Cage & Consequences Internationales Symposium

Volker Straebel ( TU Berlin ) / Julia H. Schröder ( FU Berlin ), Konzept und Leitung

Tomomi Adachi / Thomas Ahrend / David Bernstein / Eberhard Blum / Hans-Friedrich Bormann / Nicolas Collins / Peter Cusack / Dieter Daniels / Bill Dietz / Don Gillespie / Rolf Großmann / Wulf Herzogenrath / John Holzaepfel / Gabriele Knapstein / Brandon LaBelle / Helga de la Motte-Haber / Claus-Steffen Mahnkopf / Chris Mann / Gordon Mumma / David Patterson / Rainer Riehn / Sabine Sanio / Dieter Schnebel / Christian Wolff

In englischer und deutscher Sprache mit Simultanübersetzung

www.CageSymposiumBerlin.de

In Zusammenarbeit mit Technische Universität Berlin – Fachgebiet Audiokommunikation und Freie Universität Berlin – Sonderforschungsbereich 626 ›Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste‹ und Berliner Künstlerporgramm des DAAD. Gefördert aus Mitteln der Ernst von Siemens Musikstiftung

Förderer und Partner John Cage und die Folgen wissenschaftliche Vorträge, Berichte von Zeit- zeugen und Weggefährten und künstlerische Der Kosmos Cage ist von gewaltigem Aus- Beiträge in einem Tagungsprogramm zusam- maß, seine Einflüsse vielfältig. Wann immer men, das durch die Abendkonzerte der die Trennung zwischen den Künsten oder MaerzMusik gerahmt wird und diese besten- die zwischen Kunst und Alltag diskutiert wird, falls ergänzt. Gegliedert haben wir das fällt früher oder später der Name John Cage. Symposium in vier Themenblöcke: Es gibt kaum einen anderen Künstler oder Die Sektion John Cage lesen bietet Autor, der in so vielen Kunstrichtungen ein- ein Forum für analytische und quellenkritische schließlich der diese begleitenden Wissen- Darstellungen, während John Cage aufführen schaften rezipiert wird wie der Komponist John das Problemfeld der Aufführungspraxis auch in Cage. Dabei beschränkt sich Cages eigenes gewandelter historischer Situation reflek- Schaffen nicht auf die Musik. Ein Groß- tiert. John Cage und die Künste thematisiert teil seiner Kompositionen lässt sich als Medien- Cages Ansatz der Kunstsynthese und die kunst deuten, er fertigte Zeichnungen, Rezeption Cages in Intermedia und Medien- Druckgrafiken und andere bildkünstlerische kunst, und die Sektion Komponieren nach Arbeiten an und er darf als Pionier der Cage schließlich widmet sich der Herausfor- Performance-Kunst gelten. Als Autor schuf derung zeitgenössischen Komponierens er neben werkerklärenden Künstlertexten, in der Nachfolge von oder in Opposition zu Vorträgen zur eigenen Ästhetik und experi- Cages Œuvre. mentellen Musik seiner Weggefährten Julia H. Schröder / Volker Straebel sowie philosophischen Essays auch typo- graphisch gestaltete Texte, algorithmisch generierte experimentelle Literatur und um- fangreiche Lautgedichte. Ein wissenschaftliches Symposium zum hundertsten Geburtstag John Cages sollte diese Vielfalt würdigen. Im Rahmen des Festi- vals Maerz Musik nutzen wir die Gelegenheit, die Abgeschlossenheit des akademischen Diskurses aufzubrechen und ästhetische, philo- logische und wirkungsgeschichtliche Frage- stellungen mit Erfahrungen der künstlerischen und aufführungspraktischen Realität der Gegenwart zu konfrontieren. Das Symposium John Cage und die Folgen führt deshalb

64 Montag, 19. März 2012 Tudor, über den David Holzaepfel spricht, der Realisation indeterminierter Partituren 10:00 – 16:30 Uhr wird Eberhard Blum von seiner interpretato- Cages als Komponist und Interpret.Dem John Cage lesen rischen Arbeit als Flötist und Sprachper- Problem der Cage-Kritik widmet sich der Kom- former berichten. ponist Claus-Steffen Mahnkopf, während Die wissenschaftliche Auseinandersetzung Obwohl Cages Partituren sehr durch- Tomomi Adachi den Einfluss Cages auf die mit Cages Schaffen, insbesondere seinem dacht auf möglichst viele Fragen Antwort experimentelle Musik in Japan adressiert. Einfluss auf die Öffnung des musikalischen geben, bleiben doch immer Sachverhalte offen. Werkbegriffs und die Verortung von Kunst Besonders in den Tonbandkompositionen, im Alltag eröffnen die Konferenz ( Helga de la mit denen sich Volker Straebel befasst hat, Motte-Haber, Sabine Sanio, Brandon LaBelle ). und in der live-elektronischen Musik, über Mittwoch, 21. März 2012 Cage-Experten und Weggefährten werfen die Cages langjähriger Kollege Gordon Mumma 10:00 – 16:30 Uhr Schlaglichter auf musikanalytische, politische sprechen wird, müssen auch medienarchäo- Cage und die Künste und ökonomisch-biographische Themen logische Methoden angewendet werden, um ( David Bernstein, David Patterson, Don Gille- Musik zu erhalten, die für und mit heute Abschließend soll Cages Einfluss auf ver- spie ). In einer Lecture-Performance werden nicht mehr – oder kaum noch – zugänglichen schiedenste Kunstformen beleuchtet die Publikumsreaktionen auf die ersten Cage- Technologien geschaffen wurde. werden, von den bildenden Künsten ( Wulf Aufführungen von MaerzMusik analysiert Herzogenrath ) über Performance Art ( Bill Dietz ) und Cages Einflüsse auf die Medien- ( Hans-Friedrich Bormann ), der Rezeption in kunst finden Beachtung ( Rolf Großmann ). der Medienkunst ( Dieter Daniels ) bis zur Dienstag, 20. März 2012 Zusammenarbeit mit dem Choreographen 14:00 – 16:30 Uhr Merce Cunningham ( Julia H. Schröder ). Komponieren nach Cage Cages Rezeption in Fluxus und Happening, Dienstag, 20. März 2012, vermittelt durch seine Lehrtätigkeit an der 10:00 – 12:30 Uhr Das Komponieren nach Cage umfasst einen New School of Social Research in New York, John Cage aufführen Großteil des MaerzMusik-Programms. Im ist legendär ( dazu Gabriele Knapstein ). Symposium sind deshalb nur ausgewählte Chris Mann adressiert in einer Sprachperfor- Mit graphischen Partituren, Live-Elektronik Positionen vertreten von Komponisten mance seine Zusammenarbeit mit Cage und Verbalpartituren erreichte John Cage wie James Tenney, der sich als Komponist, im Umfeld experimenteller Literatur. Die Kom- in neuen Aufführungsformen die stärkere aufführender Musiker und Autor mit Cage ponisten Peter Cusack, Dieter Schnebel und Beteiligung der Interpreten an musikalischen auseinandersetzte ( dazu Thomas Ahrend ), Christian Wolff berichten schließlich aus ihrer, Entscheidungsprozessen. Cage arbeitete eng oder Nicolas Collins, der auch in einem jeweils auf unterschiedliche Weise der mit Musikern zusammen, die sich den auffüh- Workshop Praktiken des Umgangs mit Tech- Konzertmusik entrückten Perspektive von rungspraktischen Herausforderungen seiner nologie als kompositorischem Material Akzeptanz und Ablehnung von Cages Ein- Kompositionen stellen konnten. Neben dem vermitteln wird, wie sie in Cages Umfeld ab fluss auf ihre Arbeit. Pianisten und späteren Performer und Kom- den sechziger Jahren experimentell er- ponisten live-elektronischer Musik, David forscht wurden. Rainer Riehn berichtet von

»Besteht Musik nur aus Klängen? Und wenn: was teilt sie mit? Ist ein vobei- fahrender Lastwagen Musik? Wenn ich etwas sehe, muss ich es auch hören? Wenn ich es nicht höre, teilt es dennoch etwas mit? … Wenn ich etwas zu sehen bekäme, wäre es dann Theater? Reicht der Klang aus? … Ist das Wort ›Musik‹ Musik?« John Cage, in: ›Composition as Process III. Communication‹, 1958

John Cage Foto: Christopher Felver

65 Workshop

19. – 21., 23. März 2012 Haus der Berliner Festspiele 11:00 – 17:00 Uhr Hardware Hacking Workshop Installation

Nicolas Collins, Leitung

Freitag, 23. März 2012 16:00 Uhr A Turn in the Shrubbery Finissage Performance

Die Workshop Installation ist offen für bis zu 30 Teilnehmer, die spielbare elektronische Musikinstrumente und alternative Mikrophone bauen.

Zuschauer sind jederzeit willkommen.

In Zusammenarbeit mit Berliner Künstlerprogramm des DAAD

Förderer und Partner Searching for the Perfect Beep Verzerrer, analoge Gates und Panner. Wir lau- schen den Videosignalen aus Kameras und ... Das Jahrtausend springt um, die Computer aus Videospielen und bauen Spielsachen mit bleiben am Laufen, die einzige drohende Kata- LCD-Anzeigen auseinander, um Miniatur- strophe ist die Krönung eines Anwärters auf Pixel-Animationen zu kreieren. Wir beenden, den amerikanischen Thron. Ich lehre an einer schon erschöpft, das Ganze mit »geklebten« Kunstschule mit Schwerpunkt Computer- Schaltkreisen: einfachen Mischgeräten, Ver- technologie ( The School of the Art Institute of stärkern und Netzteilen, die dazu eingesetzt Chicago ). Dabei passiert es mir oft, dass ich werden können, alles andere zusammenzu- Lösungen für die Studenten bei ihren Design- mischen. Problemen finden soll, die nichts mit Soft- Der Schwerpunkt des Workshops liegt ware zu tun haben: »Wie kann ich diesem Com- auf Instrumenten, die einfach zu bauen sind, puter begreiflich machen, wenn jemand auf robust sind, zum Anfassen, leistungsfähig und dem Stuhl sitzt?«, »Wie kann ich Geräusche sehr variantenreich. Wir benutzen sehr oft erzeugen, die in den Ästen der Bäume hän- Fotozellen, direkten Kontakt zum Schaltkreis, gen?«, »Wie kann ich ein akustisches Messge- Druck-Pads und andere Schnittstellen, die rät bauen?«. Schlussendlich bin ich zur unmittelbar und durch Gesten ansprechen. Überzeugung gelangt, einen Kurs über etwas Es gibt immer diesen schönen Augenblick anzubieten, das mittlerweile zu einer ver- ( meistens dann, wenn man den empfindlichen gessenen schwarzen Kunst geworden ist: Punkt entdeckt, der das Radio zum Piepsen Hardware Hacking. Ich fühle mich dabei wie und Rauschen bringt ), wenn euphorisches ein lebendes Nationalerbe, wie der älteste Selbstvertrauen einsetzt. Jeder verlässt Kimono-Schneider in Japan, aber die Studenten den Kurs glücklich, furchtlos und als offen- mögen es ( meine Frau kommentiert dies mit sichtliche Gefahr für die elektronischen den Worten: »Was erwartest du, wenn Du einen Besitztümer von Zimmergenossen, Partnern Kurs ›Gameboy auf Kredit‹ anbietest?« ) und Kindern. Der Kurs beginnt mit dem Hören: Kon- Nicolas Collins taktmikrofone und Piezo-Treiber herstellen, Übersetzung Eckhard Weber mit Spulen und Magnetköpfen experimentieren, Lautsprecher mit Batterien zucken lassen. Wir lecken uns die Finger und legen sie sachte auf eine Radio-Leiterplatte: Leichte Ströme erzeugen über unsere Haut Rückkopplungs- wege, die den Schaltkreis in Schwingung versetzen und das Radio zu einem berührungs- sensorischen Synthesizer im Stil des berüch- tigten STEIM Cracklebox machen. Wir öffnen Elektrospielzeug und bauen es in der Tradition von Reed Ghazalas »« aus- einander. Computer-Chips werden missbraucht, um daraus einfache Oszillatoren zu bauen,

66 Hardware Hacking, London 2009 © Nicolas Collins

67 Musikwerke Bildender Künstler

28. Januar – 9. April 2012 Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin

Ryoji Ikeda db Komposition / Ausstellung

Ingrid Buschmann / Gabriele Knapstein, Kuratorinnen

Di – Fr 10 – 18 Uhr Sa 11 – 20 Uhr So 11 – 18 Uhr

www.musikwerke-bildender-kuenstler.de www.hamburgerbahnhof.de

Veranstaltung von Freunde Guter Musik Berlin e. V. und Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin. In Zusammenarbeit mit Berliner Festspiele / MaerzMusik. Gefördert aus Mitteln der Schering Stiftung und des Hauptstadtkulturfonds

Förderer und Partner An der Schwelle des Unendlichen arbeitet, legt er auch die symmetrischen Säle im Obergeschoss des Hamburger Die erste Einzelausstellung Ryoji Ikedas in Bahnhofs als Positiv-Negativ-Opposition eines Deutschland gibt unter dem Titel db einen schwarzen und eines weißen Raums an, Einblick in das Werk des japanischen Künst- in denen er mittels Klang und Licht neue lers, das trotz der Unterschiedlichkeit Raumerfahrungen ermöglicht. seiner Manifestationen –Installationen und Während die Besucher beim Betreten audiovisuelle Konzerte, Kompositionen des blendend weißen Raums von einer reinen und bildnerische Werke, Bücher und CDs – Sinuswelle »getroffen« werden, die von einem seine Handschrift doch immer sofort super-direktionalen Parabol-Lautsprecher am erkennen lässt: in seinen Themen wie in anderen Ende des Saals ausgeht, ­­em­pfängt seinen ästhetischen Umsetzungen, in sie der schwarze Raum in absoluter Dunkel- seiner zeitlosen Eleganz und chirurgischen heit, die von einem Lichtkegel durchschnitten Präzision, in der Reduziertheit der Mittel wird. Dabei variiert der Höreindruck des und dem mathematisch-technischen Voka- Sinustons je nach Anzahl der anwesenden bular, in der Vorliebe für Polaritäten und Personen und ihrer Positionen, und entspre- Unendlichkeiten. Obwohl im Hamburger chend wird der extrem helle und dichte Strahl Bahnhof nur fünf Arbeiten gezeigt werden, des Xenon-Scheinwerfers durch die sich im ergeben sich komplexe Bezüge zu Ikedas Raum bewegenden Personen unterbrochen. bisherigem Schaffen, in dem ähnliche Fragen Zusammen bilden Licht- und Klangprojektion in immer neuen Formen behandelt oder die titelgebende Arbeit db und verweisen vielmehr schrittweise weiterentwickelt und zugleich auf eine frühere Installation in verschiedenen Medien ausformuliert gleichen Titels, in der Ikeda im Jahr 2002 mit werden. Ikedas Œuvre lässt sich beschreiben Sinustönen und weißem Rauschen, mit als ein vielfältiges Spiel von Querverbindun- weißem Licht und Dunkelheit experimentier- gen und wiederkehrenden Elementen, die sich te. In beiden Arbeiten geht es um für Ikedas wie ein Netz durch seine Arbeit ziehen. künstlerische Forschung zentrale Fragen, So verweist die Abkürzung »db« nicht mit denen er sich schon seit Beginn seiner nur auf die Maßeinheit Dezibel ( dB ), die Laufbahn auseinandersetzte: der Frage nach zur Angabe von Pegeln in Akustik und Technik dem Wesen von Klang als mechanischer verwendet wird – zum Beispiel für die Stärke Welle und Licht als elektromagnetischer eines Schallereignisses –, sondern steht auch Strahlung mit Wellen – und Teilcheneigen- für die Gegensatzpaare dark – bright, deaf – schaften. Ihm ging es um die Untersuchung blind, death – birth, decimal – binary, domain – ihrer elementaren Bausteine und die radikale boundary, do – be, die symptomatisch für Reduktion auf ihre kleinsten Bestandteile: sein Werk sind. Und so wie Ikeda im Titel db auf Sinuswellen, Impulse, Lichtstrahlen, bereits mit dem Moment der Spiegelung Pixel. Damit einher ging ein Prozess des

68 permanenten Abschälens alles Überflüssigen, eine Form der »subtraktiven Komposition«. 1 So minimalistisch und kalkuliert Ikedas Arbeiten auch sein mögen, sie entfalten eine Sogwirkung, der sich das Publikum kaum entziehen kann. Die Reduk­tion auf das Elementare und dessen gleich­zeitige Maxi- mierung, die Konvergenz von Mikro- und Makrokosmos, das Wahrnehmbarmachen sonst verborgener Phänomene, das Ausloten und die Überschreitung des menschlichen Vorstellungs- und Wahrnehmungshorizonts fasziniert und verstört gleichermaßen. All dies konzentrier­ t sich in den Räumen des Hamburger Bahnhofs, die Ikeda gewisser- maßen in ein gesamtkünstlerisches Werk verwandelt, das musikalische und visuelle, skulpturale und architektonische Elemente in einer Komposition vereinigt. Sandra Naumann

1 Ryoji Ikeda on Ryoji Ikeda. Conversation with Akira Asada, in: Ryoji Ikeda. +/- [the infinite between 0 and 1], Ausstellungskatalog, Museum of Contemporary Art, Tokio 2009, S. 112. Ryoji Ikeda, ›db‹, 2012 Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof, Berlin 2012 Foto: Uwe Walter, © Ryoji Ikeda courtesy Freunde Guter Musik Berlin, Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof

69 Ausstellung

20. März – 30. April 2012 gelbe MUSIK

Maryanne Amacher Lecture on the Weather Dokumente einer Zusammenarbeit mit John Cage

Di – Fr 13 – 18 Uhr, Sa 11 – 14 Uhr Eröffnung Montag, 19. März 2012, 17:00 Uhr

gelbe MUSIK in Zusammenarbeit mit Berliner Festspiele / MaerzMusik. Mit Unterstützung von Maryanne Amacher Archive // Additional Tones LTD

Förderer und Partner Lecture on the Weather [Beitrag von Luis Frangella] Blitze zeigt« stellt genau solch einen Ansatz dar, sofern »Wenn John Cage den Bereich der Kom- wir zur Kenntnis nehmen, dass die »Natür- position öffnete, um alle möglichen Klänge lichkeit« von Amachers »Feldaufnahmen« einzubeziehen, geht Maryanne Amacher noch das Resultat eines aufwendigen Konstruktions- weiter und bezieht alle möglichen Arten, prozesses sind: »Das Werk ist nicht eine wie Klänge gehört werden, ein.« – Mit dieser Wiedergabe einer ›Landschaftsaufnahme‹. Feststellung beginnt ein Porträt über Etwas anderes als das Mikrofon hat diesen die amerikanische Komponistin Maryanne Klängen die Aufmerksamkeit geschenkt und Amacher ( 1938 – 2009 ) aus dem Jahr 1989 dies hält auch bei der Aufführung an […] (Leah Durner, EAR Magazine). Schon in ihrer Die ›Aufnahmen‹, d. h. die Kompositionen, die bahnbrechenden Werkgruppe City Links ich aus Klangbruchstücken aus der Umwelt ( 1967 – 79 ) stellt Amacher den zentralen erstellt habe, müssen wie eine Klavierkompo- Aspekt der Art und Weise, wie wir etwas sition ›gespielt‹ werden […]. Ich erreiche hören, heraus: »Mein Interesse […] an solch das mit Hilfe von Mixern, klanglicher einem Stück, das Umweltgeräusche auf- Angleichung und einer vorsichtigen Um- nimmt, galt nie wirklich den Klängen. Ich war stellung der Klangbilder.« nie an Nebelhörnern, dem Plätschern der Die Skizzen, die in der Ausstellung von Wellen oder Vogellauten interessiert […]. Mein gelbe MUSIK gezeigt werden, zeugen nicht hauptsächliches Interesse daran hat immer nur von dieser aufwendigen Arbeit, sondern mit der Art und Weise des Hörens, mit uns und sie dokumentieren auch die Spuren der unseren Reaktionen zu tun.« Die Aufmerk- Konzepte und Schwerpunkte, die Amacher den samkeit der Hörer wieder auf Aspekte des Rest ihres Lebens beschäftigt haben: die Hörens, die sie in intensiver Erforschung Ortsbezogenheit als eine Form von beobach- herausgefunden hatte, zurückzuführen – sie tender Recherche, die Entsublimierung von »den automatisierten Reaktionen der von unterdrückten Aspekten des Hörens, der musikalischen Konditionierung« wegzufüh- erneute Einsatz vorgegebenen Materials ren –, erwies sich als eine Aufgabe, mit im Sinne einer wissenschaftlichen Kontroll- der sie während ihrer gesamten Laufbahn gruppe und ein Verständnis von Materialität gerungen hat ( zumindest während der 1970er als ein komplexes Spiel verschiedener bis zu ihrer Konzeption von Sound Characters Intensitäten, die abhängig sind von der und ihrer »narrativen« Präsentationsformen jeweils sich verändernden räumlichen Nähe wie die Mini Sound Series ). Amachers Musik und Beschaffenheit der momentanen für John Cages Lecture on the Weather subjektiven Präsenz. ( 1975 ) für »12 Sprecher-Vokalisten, […] Auf- Bill Dietz nahmen des Windes, des Regens und des Übersetzung Eckhard Weber Donners [Amachers Beitrag] und ein Film, der anhand von kurz projizierten Negativen und Zeichnungen von Henry David Thoreau

70 Maryanne Amacher, ›Lecture on the Weather‹, Ablaufplan John Cage, ›Mesostichon‹ © Maryanne Amacher Archive

71 Raum für John Cage

30. März – 17. Juni 2012 Akademie der Künste / Hanseatenweg

John Cage und... Bildender Künstler – Einflüsse, Anregungen

Ausstellung im Rahmen von A Year from Monday. 365 Tage Cage mit Werken von John Cage, Josef und Anni Albers, Richard Buckminster Fuller, Marcel Duchamp, Alexej von Jawlensky, Allan Kaprow, Paul Klee, László Moholy-Nagy, Nam June Paik, Mark Tobey u.a.

Wulf Herzogenrath, Kurator

Di – So 11–20 Uhr Eröffnung Mi 29. März 2012, 19:00 Uhr

www.adk.de

Ein Projekt der Akademie der Künste Berlin

Förderer und Partner John Cage und… nung von Einflüssen sind die Texte von Cage und seine offiziellen Interviews kritisch zu »Als ich mit [Willem] de Kooning im Restaurant lesen. Viele der Erzählungen von Cage lassen war, sagte er: ›Wenn ich diese Brotkrumen sich als kunstvolle Umschreibungen deuten, hier einrahme, ist das noch lange keine Kunst.‹ aber nicht unbedingt als realitätstreue Und ich meinte, es wäre doch Kunst. Er war Schilderungen einer Begebenheit. Cage nicht dieser Ansicht, weil er Kunst im Zusam- selbst hat nur relativ selten über den Einfluss menhang mit seiner eigenen Aktivität sieht – der Klassischen Moderne auf seine Werk- notwendig verknüpft mit seiner Person als genese gesprochen und Sorge getragen, dass Künstler, während ich mir wünsche, dass sich seine öffentliche Wahrnehmung vor allem die Kunst von uns löst und Teil der Welt wird, im Kontext der Musik stattfand. Es lässt sich in der wir leben.« (John Cage) darüber hinaus nur spekulieren, ob gerade in den 1940er / 50er Jahren aufgrund der poli- John Cage war als Komponist, Musiker, tischen Situation gerade die genuin deut- Philosoph, Literat und Denker so einfluss- schen Bezüge nicht sichtbar herausgestellt reich und hoch geachtet wie kaum ein anderer werden konnten / sollten. Künstler in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- Thematisch umfassend und in unge- hunderts. Doch seine Werke als bildender wöhnlicher genreübergreifender Breite zeigt Künstler und sein Einfluss auf die Kunst sind die Ausstellung John Cage als Bildenden viel weniger bekannt als seine Musik. Am Künstler und wirft einen neuen Blick auf theo- Anfang seiner Laufbahn fühlte er sich gleicher- retische Bezüge, Umfeld und europäische maßen zur bildenden Kunst wie zur Musik Wirkung seiner Arbeit. Die Ausstellung ver- hingezogen. Erst sein Lehrer Arnold Schönberg eint Gedanken, Dokumente und originale nahm ihm 1934 das Versprechen ab, sein Werke von Cage seit den 1930er Jahren mit Leben ausschließlich der Musik zu widmen, denen seiner Anreger, Freunde und Schüler. so dass über das bis dahin in Europa entstan- In Arbeiten auf Papier, medien- und klangkünst- dene bildnerische Werk von Cage bis heute lerischen Werken, Installationen, Notatio- kaum Kenntnisse bestehen. nen, Foto- und Filmdokumenten werden auf Der Einfluss von Dada, Hans Arp und konzentriertem Raum in zwölf Stationen Kurt Schwitters, von Oskar Fischinger und die wesentlichen biographischen und Schaf- dem Bauhaus, von Anni und besonders Josef fensthemen des Bildenden Künstlers John Albers, Xanti Schawinsky und László Moholy- Cage in ihrer kunsthistorischen Bedeutung für Nagy scheint in der Rezeption seines Werks das 20. Jahrhundert neu reflektiert. noch immer unterschätzt. So organisierte Auch hier stehen kulturelle Wechsel­ er Ausstellungen mit Arbeiten von Kandinsky, beziehungen neu zur Diskussion, die Span- Klee und Jawlensky 1939 in Seattle. Zwar nung zu Asien, Zen und White Writing, erzählte Cage in seinen Texten und Interviews Europäische Kunst und Synästhesie, Cages immer wieder kleine Geschichten, kleidete Einfluss auf Happening, Fluxus und die seine Theorien und philosophischen Ansich- Conceptual Art. Ein besonderer Schwerpunkt ten in anekdotische Schilderungen von liegt erstmals auf dem Verhältnis zwischen Begebenheiten, doch hinsichtlich seiner Hin- John Cages bildkünstlerischer Entwicklung weise auf künstlerische Anregungen bezieh- und den Aufbrüchen der klassischen ungsweise seiner bewussten Nichterwäh- Moderne in Europa.

72 »Ich habe nichts zu sagen und ich sage es und das ist Poesie, wie ich sie brauche.« John Cage, in: ›Lecture on Nothing‹,1949

John Cage

17 Drawings by Thoreau, 1978 Fotoradierung auf Hodomurapapier, 61,9 x 91,6 cm Kunsthalle Bremen – Kupferstichkabinett – Der Kunstverein in Bremen © The John Cage Trust, New York

Strings 1–20, #19, 1980 Monotypie mit Abdrücken von Schnüren, 56,3 x 76 cm Kunsthalle Bremen – Kupferstichkabinett – Der Kunstverein in Bremen © The John Cage Trust, New York

73 Music Fund

Music is an Instrument of Development

Spenden Sie ein Instrument! Music Fund ist eine Initiative von Ictus Ensemble Brüssel und NGO Oxfam Solidarity, die junge Musiker und Musikschulen in Entwicklungsländern und Konfliktgebieten unterstützt. Music Fund koordiniert europaweit Sammelaktionen von Musikinstrumen- ten, sorgt für deren Instandsetzung und organisiert den Transport. Auf diese Weise werden in ganz Europa jährlich Hunderte von Instrumenten gesammelt und an Partner- institutionen in Entwicklungsländern geschickt. Ebenso bietet Music Fund Workshops an, in denen gezeigt wird, wie die Instrumente gestimmt, repariert und gepflegt wer- den, leitet Seminare in Partnerinstitutionen und organisiert die Ausbildung von Instrumentenmachern in Zusammenarbeit mit europäischen Instrumentenbauern.

Die Instrumente können an allen Tagen des Jahres von 8 bis 22 Uhr im Haus der Berliner Festspiele, Bühneneingang, Meierottostraße 12 ( Wilmersdorf ) abgegeben werden.

Dienstag, 20. und Kammermusiksaal der Philharmonie / Foyer Mittwoch 21. März 2012 12:00 – 19:00 Uhr Sonderaktion Spender erhalten eine kostenlose Eintrittskarte für die Abendkonzerte im Kammermusiksaal Di 20. März 2012, 19:00 Uhr Arditti Quartet oder Mi 21. März 2012, 19:00 Uhr Remix Ensemble

Förderer und Partner Vielen Dank für Ihre Unterstützung!

Info & Kontakt: www.musicfund.eu [email protected] Tel. + 32 49 972 9765

Foto: Jacky Walraet

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Biographien Maryanne Amacher schen kennzeichnet auch viele frühe Werke, in denen Situationen, Orte A Die amerikanische Klangkünstlerin oder Handlungen beschworen werden, und Komponistin Maryanne Amacher ohne jedoch konkret fassbar zu Tomomi Adachi ( 1938 – 2009 ) kam nach Studien unter sein. Dabei bedient sich Ashley auf anderem bei innovative Weise der Möglichkeiten geboren 1972 in Kanazawa ( Japan ), in den 1970er Jahren in engen Kon- der elektroakustischen Musik. ist Performer/Composer, der eigene takt mit John Cage, mit dem sie bei Charakteristisch für Ashleys Kom- Stücke und Improvisationen ver- ›Lecture on the Weather‹ und ›Close ponieren ist der experimentelle wirklicht, aber auch experimen- Up / Empty Words‹ zusammenarbeitete. Umgang mit der Sprache, wobei seine telle Werke von Komponisten wie Maryanne Amacher hat der Klangkunst eigene, unverwechselbare Stimme John Cage, Cornelius Cardew und wichtige Impulse gegeben und dabei wesentlich zur Wirkung vieler Stücke Christian Wolff aufführt. Für seine vor allem die Beziehung zwischen beiträgt. Die Instrumentalwerke Performances benutzt Adachi häufig Klang und Raum thematisiert. So hat von Robert Ashley sind überwiegend selbst entworfene elektronische sie in mehreren Projekten avancier- graphisch notiert und lassen dem Instrumente wie etwa das »Infrared te Telekommunikationstechnologien Interpreten improvisatorische Sensor Shirt«, das ihm erlaubt, benutzt, um akustische Interaktionen Freiräume. musikalische Ereignisse durch seine zwischen weit entfernten Orten zu Körperbewegungen fernzusteuern. verwirklichen. B Ein wichtiger Teil seiner musika- lisch-künstlerischen Aktionen ist Mark Andre Wieland Bachmann der experimentelle Umgang mit der Stimme, wobei er oft die Möglich- Der Komponist Mark Andre wurde 1964 wurde 1989 in Berlin geboren und keiten der Elektronik nutzt. als Sohn deutsch-französischer erhielt zunächst Violinunterricht, Eltern in Paris geboren, er lebt bis er im Alter von zwölf Jahren Aleke Alpermann seit 2005 in Berlin. In seinem zum Kontrabass wechselte. Er stu- von Helmut Lachenmann beeinflussten dierte bei Barry Wolf und setzt Die Berliner Cellistin Aleke Alper- Schaffen, das von Orchester- und seine Ausbildung bei Janne Saksala mann ist Studentin an der Hoch- Kammermusikwerken dominiert wird, fort. Der Kontrabassist hat zahl- schule für Musik »Hanns Eisler« verbindet sich Konstruktivität mit reiche Auszeichnungen und Preise Berlin. Sie nahm an Konzerten des expressiver Kraft. Andre entwirft erhalten. Er konzertierte mit einem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin häufig geräuschhafte, fein struktu- Repertoire von der Barock- bis zur teil, spielt seit mehreren Jahren rierte Klanglandschaften, in denen Gegenwartsmusik und spielte Werke in der Deutschen Streicherphilhar- er minutiöse Veränderungen klang- für verschiedene Rundfunkanstalten monie und ist Mitglied verschie- licher Elemente gestaltet. Anfangs ein. dener Barockensembles. In diesem gesetzte Ordnungen werden im Ver- Jahr erhielt Aleke Alpermann mit lauf eines Werkes aufgelöst. Im Hugo Ball dem Trio La Cara Cosa den ersten Zusammenhang mit solchen Verände- Preis beim internationalen Graun- rungsprozessen benutzt der Kompo- Der deutsche Schriftsteller Hugo Wettbewerb. nist gern den Begriff der »Schwel- Ball ( 1886 – 1927 ) war einer der le«, der auf den metaphysisch-reli- Pioniere des Dadaismus und der Raphael Alpermann giösen Hintergrund seines Schaffens Lautpoesie. Er gründete 1916 in verweist. In seine Kompositionen Zürich das Cabaret Voltaire als Der Cembalist Raphael Alpermann bezieht Andre intensiv die Möglich- Veranstaltungsort für dadaistische studierte in Berlin sowie bei Ton keiten der modernen Elektroakus- Aktionen und Experimente und gab Koopman und Gustav Leonhardt. tik, insbesondere Live-Elektronik die gleichnamige Zeitschrift her- Er ist Mitglied der Akademie für und digitale Klanganalyse ein. aus. Im selben Jahr entstanden auch Alte Musik Berlin seit der Grün- die ersten reinen, auf semantische dung des Ensembles im Jahr 1982 Arditti Quartet Bedeutung verzichtenden Lautgedich- und gehört seit 1998 ebenfalls den te. Hugo Ball entfernte sich aber Berliner Barock Solisten an. Kon- Das Arditti Quartet ist bekannt für bald von der dadaistischen Bewe- tinuierlich arbeitet der Cembalist lebendige und differenzierte Inter- gung und wendete sich in den 1920er zudem mit den Berliner Philharmo- pretationen von Kompositionen der Jahren katholischer Theologie und nikern und anderen Kammerensembles Gegenwart und des 20. Jahrhunderts. Mystik zu. zusammen. Raphael Alpermann unter- Seit der Gründung des Ensembles richtet an der Berliner Hochschule durch den Geiger Irvine Arditti im Peter Behrendsen für Musik »Hanns Eisler«. Jahr 1974 sind mehrere hundert Streichquartette für das Ensemble Jahrgang 1943, ist Hörspielregis- Nicolas Altstaedt komponiert worden, die dem Arditti seur und -autor und lebt in Köln. Quartet einen festen Platz in der Seit langem ist er als aufführender geboren 1982, studierte Cello in Musikgeschichte geben. Das Reper- Künstler von eigenen live-elek­ Berlin. Er ist Preisträger zahl- toire des Quartetts umfasst Urauf- tronischen, elektroakustischen und reicher Wettbewerbe und musiziert führungen von Komponisten wie Birt- Text-Sound-Stücken aktiv. Zu den als Solist mit Orchestern und in wistle, Cage, Carter, Ferneyhough, Persönlichkeiten, die ihn beson- Kammermusikformationen. In einer Gubaidulina, Kagel, Kurtág, Ligeti, ders beeinflusst haben und mit denen Reihe von CD-Einspielungen hat sich Nancarrow, Rihm, Stock- er unter anderem im Rahmen seiner der Cellist neben dem Standard­ hausen oder Xenakis. Tätigkeit beim Hörspielstudio des repertoire auch intensiv mit Neuer WDR zusammengearbeitet hat, zählen Musik auseinandergesetzt. In die- Robert Ashley John Cage, Alvin Lucier, Jackson sem Jahr wird Nicolas Altstaedt Mac Low, Gerhard Rühm und David von Gidon Kremer die Leitung des Den Kern des Schaffens von Robert Tudor. Peter Behrendsen hat mehrere Kammermusikfestes in Lockenhaus Ashley ( geb. 1930 in Ann Arbor, langjährige Konzertreihen für übernehmen. Michigan ) bilden seit den 1970er experimentelle Musik organisiert. Jahren unkonventionelle, für das Fernsehen konzipierte Opernwerke. Eine besondere Nähe zum Theatrali-

76 David Behrman regt, auch die Musik in seine künst- Jung Hee Choi lerischen Konzeptionen einzube- Der US-amerikanische Komponist ziehen. Seine Arbeiten richten sich Die amerikanische Künstlerin mit David Behrman wurde 1937 geboren. gegen den traditionellen Werk­ koreanischen Wurzeln Jung Hee Er studierte unter anderem bei begriff, den Brecht auch in Kom- Choi arbeitet in einer Vielzahl Wallingford Riegger und besuchte positionen der Avantgarde verwirk- künstlerischer Disziplinen von Kurse bei und Karl- licht sieht. Er selbst setzt eine Malerei und Skulptur über Fotografie heinz Stockhausen. In den 1960er Konzeption dagegen, in der Alltags- bis hin zu Multimedia-Installa- Jahren arbeitete Behrman als Produ- geräusche und Klänge der Umgebung tionen, wobei ein besonderer Schwer- zent für Columbia Masterworks, als zu Objekten der ästhetischen Wahr- punkt auf filmischen Werken liegt. Komponist und Performer ging er mit nehmung werden. Dabei unterzieht 1999 wurde sie Schülerin von La der Merce Cunningham Dance Company Brecht die Rituale des Kunst- und Monte Young und Marian Zazeela, mit auf Tournee. Behrman lehrte an ver- Musikbetriebs einer grundsätzlichen denen sie seit 2002 im Just Alpa schiedenen US-amerikanischen Uni- Kritik. Raga Ensemble eng zusammenarbeitet. versitäten und an der TU Berlin. Jung Hee Choi ist Gründungsmitglied Als Komponist beschäftigte er sich Naren Budhkar des Ensembles. intensiv mit den Möglichkeiten elektroakustischer Musik, seit Mit- spielt die Tabla, ein kleines, in Nicolas Collins te der 1970er Jahre vor allem mit der indischen Musik weit verbrei- der Interaktion zwischen Computer- tetes Trommelpaar. Er wurde in Pune Der New Yorker Performer, Komponist systemen und den Aufführenden. Von in Westindien geboren und lebt und Klangkünstler Nicolas Collins, 1966 bis 1977 machte Behrman seine heute in den USA. Naren Budhkar ist Jahrgang 1954, studierte bei Alvin Stücke gemeinsam mit Robert Ashley, ein sehr wandlungsfähiger Musiker, Lucier Komposition und arbeitete Gordon Mumma und Alvin Lucier auf der sowohl mit Sängern wie mit viele Jahre mit David Tudor und der den Tourneen der Sonic Arts Union Instrumentalisten und mit Tänzern Gruppe Composers Insides Electro- bekannt. Seine Werke basieren viel- auftritt. Dabei ist der Tabla- nics zusammen. Collins ist Pionier fach auf repetitiven Strukturen und spieler häufig im Zusammenspiel mit in der Verwendung von selbstent- setzen statische Klangkonzepte um. Musikern aus anderen Kulturen, vom wickelten elektronischen Schaltkrei- Flamenco bis zu irischer Violin­ sen, so genannten Handmade Elec- Guy Ben-Ziony musik, zu erleben. tronics, Mikrocomputern, Radiogerä- ten, aufgelesenem Klangmaterial Der israelische Bratschist Guy Ben- C und verfremdeten Musikinstrumenten. Ziony hat sich neben seiner solis- Unter anderem hat er eine Kombi- tischen Tätigkeit vor allem als John Cage nation von Posaune und Computer ent- Kammermusiker einen Namen gemacht. worfen, die es ihm erlaubt, gesam- Er ist Mitglied mehrerer Ensemb- Kein anderer Komponist des 20. pelte Klänge mittels der Posaune zu les und musiziert mit Partnern wie Jahrhunderts hat den Begriff vom steuern. In den 1990er Jahren lebte Antje Weithaas, Lisa Batiashvili, musikalischen Kunstwerk so sehr und arbeitete Collins vorwiegend Gidon Kremer und seinen ehemaligen erweitert und verändert wie John in Europa. Lehrerinnen Tabea Zimmermann und Cage ( 1912 – 1992 ). In seinem Schaf- Tatjana Masurenko. Seit 2006 ist fen entwarf er seit den 1950er Column One Guy Ben-Ziony Professor für Viola Jahren in vielfältigen Varianten an der Leipziger Musikhochschule. eine Musik, in der der Gestaltungs- ist ein seit 1992 bestehendes wille des Komponisten sich nur in Berliner Künstlerkollektiv, das Beate Borrmann der grundsätzlichen Konzeption nach verschiedenen Umbesetzungen von eines Stückes zeigt. Die klingen- Jürgen Eckhoff, René Lamp und wurde 1975 in Berlin geboren. Sie den Ereignisse selbst sind seinem Robert Schalinksi gebildet wird studierte Modedesign, Kostüm- und Zugriff entzogen und lassen sich und für seine Projekte mit unter- Bühnenbild in Berlin, Sankt Peters- auch nicht in einen Zusammenhang schiedlichen Künstlern und Musi­ burg und Krakau. Sie hat Kostüme für einordnen, sondern stehen für sich kern zusammenarbeitet. Column die Schaubühne am Lehniner Platz und selbst. Damit hat Cage weit über One hat zahlreiche experimentelle die Staatsoper Unter den Linden ent- den eigentlichen Bereich der Mu- Videoarbeiten, Performances und worfen. Mit Sasha Waltz arbeitet die sik hinaus Einfluss auf die Künste Soundcollagen realisiert und viele Kostümbildnerin seit 2003 zusammen. genommen. Sein Schaffen hat leb- Tonträger veröffentlicht. hafte Kontroversen ausgelöst und Jens Brand ist auf prinzipielle Ablehnung wie Philip Corner auf leidenschaftliche Anerkennung wurde 1968 in Dortmund geboren und gestoßen. Der Amerikaner Philip Corner, ge- lebt in Berlin. Seine Arbeit als boren 1933, ist ein stilistisch und Künstler ist von einem intensiven Van Carlson konzeptionell außerordentlich viel- Interesse an zeitgenössischer Kunst, fältiger Künstler. Sein umfangrei- Musik, Wissenschaft und Humor glei- Der US-amerikanische Kameramann Van ches Werkverzeichnis umfasst neben chermaßen geprägt. Zentrales Ele- Carlson stammt aus Colorado und musikalischen Werken schriftstelle- ment ist das mit wissenschaftlicher lebt seit 1978 in Hollywood. Er war rische Arbeiten, bildende Kunst und Genauigkeit realisierte Experiment. an zahlreichen Fernseh- und Kino- Kalligraphien. Bei aller Heteroge- produktionen beteiligt. Ein Schwer- nität begreift ihn sein Schaffen George Brecht punkt seiner Tätigkeit ist die als Einheit. Prägend war für Corner filmische Umsetzung von Dokumenta- die Begegnung mit der Kultur und Der US-Amerikaner George Brecht tionen. Van Carlsons Werke wurden der Musik Asiens, mit der er erst- ( 1926 – 2008 ), ursprünglich gelern- mehrfach ausgezeichnet. mals in seiner Militärzeit in Korea ter Chemiker, ist einer der Prota­ in direkte Berührung kam. Seine gonisten der Fluxus-Bewegung der musikalischen Werke sind oft verbal 60er Jahre. Brechts Ausgangspunkt oder graphisch notiert, formen war die bildende Kunst. Ende der offene Strukturen aus und kon- 1950er Jahre wurde er durch die Be- zentrieren sich auf die Material­ gegnung mit John Cage dazu ange- haftigkeit des Klanges.

77 Alvin Curran Schallarchiv zusammengetragen und David Finn mehrere Arbeiten für den Rundfunk Für Alvin Currans vielgestaltiges realisiert. Der amerikanische Lichtdesigner Schaffen ist seine Offenheit gegen- David Finn stammt aus einer The­ über verschiedenen künstlerischen E aterfamilie. In seiner Karriere Ansätzen charakteristisch. Seit konzentrierte er sich zunächst auf den sechziger Jahren lebt der 1938 Titus Engel die Ausleuchtung von Tanzaufführ- in den USA geborene Curran in Rom, ungen, wobei er mit Choreographen wo er 1966 zusammen mit Frederic Der Schweizer Dirigent Titus Engel wie Mikhail Baryshnikov, Merce Rzewski und Richard Teitelbaum das ( geb. 1975 ) studierte Musikwissen- Cunningham und James Kudelka zusam- Pionier-Ensemble Musica Elettronica schaft, Philosophie und Dirigie- menarbeitete. Inzwischen hat sich Viva gründete. Bei seinen Arbeiten ren in Zürich, Berlin und Dresden. sein Arbeitsfeld vergrößert und verwendet Curran unterschiedlichste Wichtige Impulse erhielt er als umfasst seit 1997 auch das Licht- Klangquellen wie traditionelle und Assistent von , design für Operninszenierungen. exotische Instrumente, elektronisch Peter Rundel und Marc Albrecht. erzeugte Klänge und Umweltgeräu- Seit seinem Debüt als Operndirigent William Forman sche. Häufig bezieht er politische im Jahr 2000 hat Titus Engel zahl- Fragestellungen in seine Komposi- reiche Uraufführungen und Neu­ Der amerikanische Trompeter tionen ein, etwa in den zum Geden- produktionen an internationalen William Forman, Jahrgang 1959, ist ken an die Pogrome vom November Opernhäusern und Festivals gelei- ein vielseitiger Musiker mit einem 1938 entstandenen Crystal Psalms. tet. Als Gastdirigent arbeitet er Schwerpunkt auf der Interpretati- mit den führenden Ensembles für on zeitgenössischer Musik. In den Charles Curtis zeitgenössische Musik und vielen 1980er Jahren wirkte er als Solo- namhaften Orchestern zusammen. trompeter in verschiedenen Orches- Der amerikanische Cellist Charles tern mit und war Preisträger mehre­ Curtis ist als Musiker im Standard­ William Engelen rer Wettbewerbe. Von 1990 bis 2001 repertoire ebenso zu Hause wie in war William Forman Trompeter des experimentellen Werken. Von 1989 geboren in Rotterdam, ist ein Künst- Ensembles Modern. William Forman bis 2000 war er Solocellist des NDR ler, dessen vielfältiges Schaffen lehrt seit 1994 an der Berliner Sinfonieorchesters Hamburg. Gleich- zwischen Klanginstallation, Bilden- Hochschule für Musik »Hanns zeitig entwickelte sich auch eine der Kunst, Happening, Performance Eisler«. Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Musik angesiedelt ist. Viele La Monte Young, zu dessen wich- seiner Arbeiten zeichnen sich durch Harald Frings tigsten Interpreten Curtis zählt. eine besondere Beziehung zwischen Mehrere Komponisten, darunter Alvin Klängen und dem umgebendem Raum aus arbeitet als Lichtgestalter, Techn. Lucier und La Monte Young, wid- und sind so an den Ort ihrer Prä- Projektleiter und Meister der Ver- meten dem Cellisten eigene Werke. sentation gebunden. Engelens musi- anstaltungstechnik. Er betreute Daneben ist Charles Curtis auch kalische Werke sind in der Regel zahlreiche Projekte, Festivals und selbst schöpferisch tätig, unter graphisch notiert und rechnen mit Companies, u.a. bei Ruhrtriennale, anderem mit Projekten im Bereich der Kreativität und dem Einfüh- Nibelungenfestspiele Worms, Frei- zwischen Avantgarde und Rockmusik. lungsvermögen der Aufführenden. Im lichtspiele Schwäbisch Hall, Thea- vergangenen Herbst war Engelen die ter des Westens Berlin, Staats- Chris Cutler Ausstellung ›Music Box‹ im Berliner theater Braunschweig & Neue Flora Haus am Waldsee gewidmet. Hamburg. 2011 brachte er die Schlin- Der britische Schlagzeuger Chris gensief-Produktion ›Die Kirche der Cutler, Jahrgang 1947, hat in Rock- F Angst...‹ zur Biennale Venedig, wo gruppen wie Henry Cow, Art Bears sie mit dem Goldenen Löwen ausge- und Pere Ubu gespielt. Er hat mit Morton Feldman zeichnet wurde. Bei den Berliner zahlreichen Gruppen und Musikern Festspielen betreut er die Festivals zusammengearbeitet und war an mehr ( 1926 – 1987 ), in New York geborener spielzeit’europa und MaerzMusik. als 100 Plattenproduktionen betei- Sohn ukrainischer Einwanderer, hat ligt. Daneben leitet Chris Cutler seine Musik von einem besonderen Rudolf Frisius das von ihm 1978 gegründete Label Element her gedacht: der Klangfarbe. Recommended Records, gibt eine Ihrer Entfaltung in überwiegend geboren 1941, studierte Mathematik, Zeitschrift heraus und hält Vorträ- langsamen und leisen Stücken ordne- Philosophie, Kunst- und Musikwis- ge über musikalische Themen. te er alle anderen Dimensionen senschaft in Hamburg, Frankfurt unter und so komponierte er im We- und Göttingen. Spezialisierung auf D sentlichen ohne prägnante rhyth- Neue Musik seit 1959 in Verbindung mische oder melodische Gestalten. mit regelmäßigen Besuchen der Darm- Werner Dafeldecker Dabei beschränkte sich Feldman städter Ferienkurse sowie mit so gut wie immer auf ein traditio- Arbeitsaufenthalten in Studios für wurde 1964 in Wien geboren und nelles Instrumentarium. Seit 1977 Elektroakustische Musik und Akus- studierte Kontrabass. Als Musiker entstanden außergewöhnlich lange, tische Kunst ( u.a. München, Ut- bewegt er sich zwischen improvi- teils mehrere Stunden dauernde recht, Köln, Paris und Bourges ). sierter und komponierter Musik und Kompositionen aus einer Vielzahl Ver­öffentlichungen mit den Schwer- nutzt die vielfältigen Möglich- von kleinen, geschlossenen Feldern punkten Musiktheorie ( z.B. Unter- keiten der Elektroakustik. Häufig gleichenden Einheiten, die subtil suchungen über den Akkordbegriff, folgen seine Stücke den Ideen variiert und wiederholt werden. Notation und Komposition ) und Neue einer reduktiven Musik, die von Feldmans jüngste Stücke verbinden Musik, insbesondere Akustische einem ausgedünnten, konzentrierten diesen Ansatz bei kürzerer Spiel- Kunst und Elektroakustische Musik Material ausgeht, und es subtilen dauer mit einer extremen Ökonomie sowie einzelne Komponisten, z.B. Veränderungen unterwirft. Werner der Mittel. Messiaen, Schaeffer, Henry, Bayle, Dafeldecker beschäftigt sich zudem Xenakis, Kagel, Cage, Rihm, Stock- intensiv mit Field Recording, dem hausen. Aufnehmen von Natur- und Umweltge- räuschen. Er hat ein umfangreiches

78 G sitionen, in denen das musikalische Tenney eng zusammengearbeitet. Er und visuelle Material auf ein war an zahlreichen CD-Aufnahmen Annie Gosfield Minimum reduziert wird: Sinuswel- beteiligt und hat Schlüsselwerke len, Sound­impulse, Lichtpixel und der Gitarrenliteratur der Gegenwart geboren 1960 , stammt aus Philadel- Zahlendaten. Er untersucht Klang, eingespielt. phia. Sie studierte in Los Angeles Zeit und Raum auf der Grundlage von Klavier und Komposition, fühlte mathematischen Methoden und trans- Rolf Julius sich aber gleichzeitig von alter- formiert sie in seinen Konzerten nativer Rockmusik angezogen und und Installationen zu einem inten- ( 1939 – 2011 ) ist ein Wegbereiter spielte in verschiedenen Bands als siven Erlebnis für das Publikum. der Klangkunst. Von der bildenden Keyboarderin. Seit 1992 lebt Annie Kunst kommend, begann der gebürtige Gosfield in New York. Sie tritt Toshi Ichiyanagi Wilhelmshavener Mitte der 1970er mit ihrer eigenen Gruppe auf, mit Jahre, Musik in seine Arbeiten ein- der sie notierte und improvisierte, Der 1933 in Kobe ( Japan ) geborene zubeziehen, und konzentrierte sich instrumentale und elektronische Komponist Toshi Ichiyanagi studier- dann auf klangliche Installationen, Musik umsetzt, und schreibt Werke te Klavier und Komposition in sei- die er auch im öffentlichen Raum für andere Interpreten. Ihre Kom- ner Heimat und ab 1952 in New York. platzierte. In seinen Werken werden positionen sind oft von nicht-mu- Hier kam Ichiyanagi in Kontakt mit stark reduzierte, aus wenigen Ele- sikalischen Klängen inspiriert – von John Cage, der ihn stark beeinfluss- menten aufgebaute räumliche Situa­ Alltagsgeräuschen, Maschinenlärm te. Wieder in Japan, setzte sich tionen durch Klänge belebt. John oder defekten Klavieren, die sie in Ichiyanagi von den späten 1960er Cages Gedanken der »small sounds« ihre Stücke integriert und deren Jahren an mit der Entwicklung elek- folgend, verwendet Rolf Julius häufig unentdeckte Schönheiten sie hervor- troakustischer Musik auseinander sehr leise, gleichsam einfarbige, treten lässt. In diesem Jahr ist und entwarf eine individuelle Form aber doch in sich bewegte Klänge, Annie Gosfield Fellow an der Ameri- der Minimal Music, die sich durch die die Wahrnehmungsfähigkeit des can Academy in Berlin. eine besondere Flexibilität der Hörers / Betrachters sensibilisieren. Zeitgestaltung auszeichnet. In sei- Stephen Gosling nen Werken verwendet Toshi Ichiya- The Just Alap Raga Ensemble nagi häufig traditionelle japanische Der aus England stammende Pianist Instrumente. Seit den 1980er Jahren Das seit 2002 existierende Just Stephen Gosling lebt seit 1989 hat er sich von experimentellen An- Alap Raga Ensemble widmet sich der in New York, wo er an der Juilliard sätzen abgewendet und ist zu einem Verbindung von klassischer indi- School studierte, er ist vor allem eher traditionellen Komponieren scher Musik mit der kompositori- mit seinen Interpretationen von gelangt, das sich durch eine eigen­ schen Arbeit La Monte Youngs. Der Werken der zeitgenössischen Musik ständige Synthese von Elementen Ensemblename verweist mit dem bekannt geworden. Neben umfang- westlicher und japanischer Musik englischen Wort »just« auf die rei- reichen solistischen Aktivitäten auszeichnet. ne, nicht temperierte Stimmung ist der Pianist Mitglied mehrerer und mit »Raga« für die besondere Art New Yorker Avantgardeensembles. J und Weise einer Melodie und »Alap« Stephen Gosling hat mehr als für einen umfangreichen einleiten- 30 CDs für Labels wie Bridge, Koch Terry Jennings den Abschnitt auf die indische Mu- und Naxos aufgenommen, worunter sik. Mitglieder des Ensembles sind sich eine Vielzahl von Ersteinspie- Der amerikanische Komponist, Klari- La Monte Young, seine Frau Marian lungen befindet. nettist und Saxophonspieler Terry Zazeela, die Amerikanerin Jung Hee Jennings ( 1940 – 1981 ) ist ein eigen- Choi und der indische Tablaspieler H ständiger Vertreter der Minimal Naren Budhkar. Mehrere Gastmusiker Music. Während die Musik der meis- sind mit dem Ensemble verbunden und Hauke Harder ten Minimalisten von einem raschen nehmen gelegentlich an gemeinsamen Pulsieren lebt, schuf Jennings in Aufführungen teil. Zum Ensemble ge- geboren 1963 in Schleswig Holstein, den 1960er Jahren Stücke, die zwar hören ferner die Tonmeister Bob ist promovierter Physiker und war ebenfalls auf dem Prinzip des Bielecki und Ben Manley sowie die bis 2000 als Wissenschaftler tätig. Wiederholens bestimmter Muster ba- Videokünstler Alexander Carpenter 1989 begann er künstlerisch zu sieren, in denen aber eine anders- und James Ross. arbeiten, anfangs kompositorisch, artige, ruhige Klangwelt ausgeprägt später auch im Bereich der Klang­ wird, die statisch und meditativ K installation. Dabei reizt ihn be- wirkt. Dabei zeigt sich Jennings sonders die Auseinandersetzung mit von La Monte Young beeinflusst, mit George Kentros den Möglichkeiten reiner Stimmung. dem er seit 1953 eng befreundet Seit 1995 ist er Assistent von war. Jennings selbst wirkte mit Der schwedisch-amerikanische Avant- Alvin Lucier. Ein Schwerpunkt liegt seinem Schaffen auf Komponisten gardegeiger George Kentros studier- dabei auf der Realisationen von wie Howard Skempton. te unter anderem an der Yale Uni- Luciers musikalischer Installation versity und der Musikhochschule in ›Music on a long thin wire‹. Seth Josel Stockholm. Als Solist und Mitglied von Kammerformationen für Neue I Der 1961 in New York geborene Musik wie der schwedischen Gruppe Gitarrist Seth Josel ist seit 1986 The Pearls before Swine Experience Ryoji Ikeda international solistisch tätig konzertiert George Kentros in Euro- und konzertiert mit namhaften pa, Japan und den USA. Er war an geboren 1966 in Gifu / Japan, lebt Orchestern und Dirigenten. Von mehreren CD-Produktionen beteiligt, in Paris . Er gehört zu den in- 1991 bis 2000 war er festes Mit- unter anderem mit Stücken von ternational führenden Komponisten glied des Ensembles musikFabrik. Annie Gosfield, und hat eine Reihe und Künstlern im Bereich neuester Der Gitarrist konzentriert sich von Theatermusiken geschrieben. digitaler Technologien und deren auf die Interpretation zeitgenössi- Einsatz in visuellen und akusti- scher Musik und hat unter anderem schen Präsentationen. Seine Arbei- mit , Helmut Lachen- ten bestehen aus Zeit-Raum-Kompo- mann, Tristan Murail und James

79 Roger Kleier Vokalmusik, der Komponisten wie Henning Lohner John Cage und Morton Feldman neue wurde im Jahr 1958 geboren und wuchs Werke widmeten. Im Zentrum ihres geboren 1961 in Bremen, ist ein in Los Angeles auf. Der Gitarrist Schaffens steht die virtuos behan- Filmemacher und Komponist, der mit verschmilzt verschiedenartige Ein- delte Stimme. Dabei nutzte sie so unterschiedlichen Künstlern wie flüsse von zeitgenössischer Musik schon früh die Möglichkeiten der Karlheinz Stockhausen, Frank Zappa über die Tradition amerikanischer Live-Elektronik. Seit 1975 ver- und John Cage eng zusammengearbei- Jazz-, Rock- und Bluesmusik bis wirklichte Joan La Barbara zahl- tet hat. Henning Lohner hat zahl- zur Improvisation zu eigenständigen reiche Multimedia-Projekte. reiche audiovisuelle Installationen Klangwelten. Dabei erweitert er geschaffen, filmische Dokumentatio- traditionelle Spieltechniken und Joke Lanz nen über Künstler, Komponisten und die klanglichen Möglichkeiten der Musiker verwirklicht und die Film- Gitarre auch durch den Einsatz der auch unter dem Pseudonym Sudden musik für Produktionen aus Deutsch- moderner elektroakustischer Tech- Infant auftritt, wurde 1967 in land und Hollywood geschrieben. nik. Roger Kleier hat mit zahlrei- Basel geboren. Er ist ein Vertreter chen Musikern gemeinsame Projekte der Geräuschmusik und benutzt Plat- Alexander Lonquich verwirklicht und CDs eingespielt. tenspieler, verschiedene elektro- nische Geräte und seinen Körper in geboren in Trier, gilt als einer Hans W. Koch Performances, deren künstlerische der bedeutendsten Pianisten und Bandbreite von Ausbrüchen aggres- Kammermusiker seiner Generation und Der Komponist, Klangkünstler und siver Wildheit bis zu dadaistischer ist regelmäßig Gast international Interpret hans w. koch, geboren Komik reichen. Er hat mehrere bedeutender Festivals und Orches- 1962, beschäftigt sich seit seiner Tonträger veröffentlicht und tritt ter. Unter anderem hat er unter der Studienzeit intensiv mit der Musik international bei Festivals und Leitung von Claudio Abbado, Phil- von John Cage und Morton Feldman. in Konzerten auf. ippe Herreweghe und Mark Minkowski Daneben setzte er sich mit dem gespielt. Alexander Lonquich hat Schaffen von Giacinto Scelsi, Jan- Okkyung Lee zahlreiche CDs eingespielt. nis Christou und Nicolai Obouchow auseinander. In der Musik gilt hans Im Spiel der 1974 in Südkorea Alexej Lubimov w. kochs besonderes Interesse dem geborenen und in den USA klassisch Unvorhersehbaren, wie es sich etwa ausgebildeten Cellistin und Kom- Der 1944 in Moskau geborene Pianist in offenen Formen manifestiert. ponistin Okkyung Lee verbinden sich Alexej Lubimov ist ein Interpret verschiedenartige Einflüsse, die auf historischen Tasteninstrumen- Konzerthausorchester Berlin von traditioneller koreanischer ten, setzt sich gleichzeitig Musik über Improvisation, Jazz aber auch engagiert für die zeit- Das 1952 als Berliner Sinfonie- und progressiver Rockmusik bis zu genössische Musik ein. So war er Orchester gegründete Konzerthaus- Erfahrungen mit den erweiterten 1968 einer der ersten Musiker, die orchester Berlin erfuhr seine Spieltechniken der zeitgenössischen es wagten, Stücke von John Cage und entscheidende Profilierung 1960 bis Musik reichen. Die Cellistin, Terry Riley in der Sowjetunion auf- 1977 in der Ära seines Chefdiri- die seit dem Jahr 2000 in New York zuführen. Nach einer langjährigen genten Kurt Sanderling. Seither hat lebt, hat mit vielen namhaften Professur am Mozarteum Salzburg sich die Qualität und die inter- Musikern wie Laurie Anderson, John unterrichtet er nun am Moskauer nationale Reputation des Orchesters Zorn und Axel Dörner zusammen- Koservatorium. Er hat zahlreiche bei allen Veränderungen ungebrochen gearbeitet und war an mehreren CD- CDs eingespielt. erhalten. Heute gehört das Orches- Produktionen beteiligt. ter mit über 12.000 Abonnenten zu Alvin Lucier den Klangkörpern mit der größten Sabine Liebner Stammhörerschaft in ganz Deutsch- Der US-amerikanische Komponist land. Unter der Leitung des seit ist vor allem als Interpretin Neu- Alvin Lucier, Jahrgang 1931, ist 2006 amtierenden Chefdirigenten Lo- er Musik tätig. Zahlreiche Rund- ein Komponist, dessen Stücke thar Zagrosek liegt der Schwerpunkt funk-, Fernseh- und CD-Aufnahmen und Installationen den Akt des auf der Auseinandersetzung mit der sowie Einladungen als Solistin Hörens auf besondere Weise erfahr- Musik des 20. Jahrhunderts. Mit Be- und Kammermusikerin zu internatio- bar machen. In vielen seiner Werke ginn der Saison 2012/2013 wird Iván nalen Festivals dokumentieren ihre werden physikalische Prozesse Fischer Chefdirigent. Arbeit, daneben wurde sie mit Ursprung der klanglichen Ereignis- zahlreichen Preisen ausgezeichnet. se. Oft gleichen seine Stücke L Projektbezogen arbeitet sie immer experimentellen Versuchsanordnun- wieder mit Komponistinnen und gen, in denen eigentlich Unhörbares Joan La Barbara Komponisten sowie Bildenden Künst- hörbar gemacht wird. Seit 1982 lern zusammen. Ihr Repertoire um- arbeitet Lucier in seinen Werken ist eine Sängerin, die durch den fasst u.a. Werke von Henry Cowell, auch mit Interferenztönen, die sich experimentellen Umgang mit ihrer George Crumb, Giacinto Scelsi, aus dem Zusammenklang von Sinus- Stimme zu eigenem Schaffen fand und , Christian Wolff sowie tönen und traditionell gespielten anderen Komponisten neue klangliche nahezu alle Kompositionen für Instrumenten ergeben. Möglichkeiten eröffnete. Komponie- Klavier von John Cage, Morton Feld- ren und Aufführen gehen in ihrer man und Galina Ustwolskaja. M künstlerischen Persönlichkeit eine enge Symbiose ein. La Barbara wurde Valerian Maly 1947 in Philadelphia geboren und kam nach einer klassischen Gesangs- Das in der Schweiz lebende Künst- ausbildung 1971 als Mitglied des lerpaar Valerian Maly, geboren Ensembles in Kontakt 1959, und Klara Schillinger, ge- mit der Avantgarde. In den 1970er boren 1953, arbeitet seit 1984 Jahren entwickelte sie neuartige gemeinsam in den Bereichen Perfor- Gesangstechniken und wurde zu einer mance Art und Installation. Dabei herausragenden Interpretin neuer bewegen sie sich mit Selbstverständ-

80 lichkeit zwischen verschiedenen dener Künstler nieder. Von 1784 nommen. Seine Musik ist auf zahl- Kunstgenres. Seine Performances und an konnte er dort triumphale Erfol- reichen Tondokumenten festgehalten. Installationen, die häufig konkret ge feiern, musste aber auch eine auf den Ort der künstlerischen finanzielle Krise überwinden, als für Phoebe Neville Aktion bezogen sind, realisiert das eine Zeit lang lukrative Aufträ- Paar auf der ganzen Welt, unter ge und Konzerte ausblieben. Mozart ist eine seit den 1960er Jahren in anderem in London, Luzern, Tirana starb, gänzlich unerwartet, am 5. verschiedenen Bereichen aktive und Peking. Dezember 1791, ohne den epochalen Tänzerin und Choreographin. Sie Erfolg der kurz zuvor uraufgeführ- tanzte sowohl als Solistin wie auch Naoyuki Manabe ten ›Zauberflöte‹ erleben zu können. für ihre Compagnie, die sich 1975 formierte, in den USA und in Europa. geboren 1971 in Yokohama, studierte Gordon Mumma Seit 1991 arbeitet sie mit Philip in Tokio Komposition und Gagaku, Corner zusammen und trat mit ihm die traditionelle zeremonielle Mu- Der 1935 geborene amerikanische oft in New York auf. Neville lehrte sik des japanischen Kaiserhofes, zu Komponist Gordon Mumma ist einer als Choreografin an verschiedenen deren besonderen Instrumenten die der Pioniere elektroakustischer Universitäten in New York und Los Shō zählt. In jüngerer Zeit haben Musik. Zusammen mit Alvin Lucier, Angeles. Mit ihrer Reihe Moving eine Reihe zeitgenössischer Kompo- David Behrman und Robert Ashley From the Inside entwickelte sie ein nisten wie Chaya Czernowin, Unsuk bildete er von 1966 bis 1977 die Bewegungsprogramm, das den Tänzern Chin oder Helmut Lachenmann Musik Sonic Arts Union, die Kompositionen die Möglichkeit gibt, ihren Tanz aus für die Shō komponiert. Naoyuki ihrer Mitglieder auf internatio- der Bewegung heraus zu entwickeln. Manabe ist sowohl für sein Spiel nalen Konzertreisen aufführte. In traditioneller japanischer Instru- seinen Stücken arbeitet Mumma Sergej Newski mente wie als Komponist ausgezeich- häufig mit der elektroakustischen net worden. Verfremdung real gespielter Instru- Der 1972 geborene Komponist Sergej mente und den Übergängen zwischen Newski studierte in seiner Heimat- Chris Mann natürlichen und elektronischen stadt Moskau sowie in Dresden und Klängen. Dabei bezieht er vielfach Berlin. Beeinflusst wurde er unter wurde 1949 in Australien geboren den Raum der Aufführung in seine anderem von Friedrich Goldmann, und studierte Sinologie und Lin- Konzeptionen ein. Seit Mitte der Matthias Spahlinger und Helmut guistik in Melbourne. Seit Mitte 1980er Jahre komponiert Mumma zu- Lachenmann. Newski arbeitet mit ei- der 1990er Jahre lebt und arbei- nehmend für konventionelle Instru- nem umfangreichen Arsenal von Klän- tet Chris Mann in New York. Seine mente und nutzt klassische Formen gen, das sich im Falle der Vokal­ Performances kreisen um die austra­ als Bezugspunkt innerhalb eines musik, die sein Schaffen dominiert, lische Alltagssprache mit ihren stilistisch neuartigen Kontextes. aus Lauten, Geräuschen und viel- Rhythmen, Gesten, Klangfarben, fältigen Formen zwischen Sprechen Intonationen und Betonungen und N und Singen zusammensetzt. Dieses entfalten einen besonderen Witz und Material bringt er auf immer neue Humor. Chris Mann arbeitete unter Theo Nabicht Weise in eine eigene, hörend nach- anderem mit John Cage zusammen, vollziehbare Ordnung und gestaltet und erhielt zahlreiche Kompositi- Jahrgang 1963, spielt Saxophon dabei mannigfache Übergänge zwi- onsaufträge. Lange Zeit trat Chris und Bassklarinette. Zudem ist er schen den einzelnen Materialschich- Mann mit der australischen Forma- einer der wenigen Solisten, die ten. Sergej Newskis Kompositionen tion Machine for Making Sense auf. zeitgenössische Werke für Kontra- werden von führenden Interpreten Inzwischen konzentriert er sich auf bassklarinette spielen. Seit 1994 der Neuen Musik aufgeführt und sind Soloperformances. Chris Mann lehrt ist Nabicht Mitglied des Kammer­ regelmäßig bei internationalen an der New School in New York. ensemble Neue Musik Berlin. Er Festivals zu hören. spielt regelmäßig in Avantgar- Maulwerker deformationen wie dem Klangforum Ne( x )tworks Wien oder Ensemble Modern und tritt Das Ensemble Maulwerker widmet sich solistisch auf, wobei er vermehrt Die 2002 in New York gegründete seit 1993 der Aufführung von Wer- auch eigene Werke aufführt. Theo Gruppe Ne( x )tworks steht in der ken der experimentellen Vokalmusik Nabicht war an einer Vielzahl von Tradition der Performer / Composer- und angrenzender künstlerischer CD-Produktionen beteiligt und ist Ensembles und führt regelmäßig Bereiche, vor allem verschiedener regelmäßig Gast auf internationalen Werke ihrer Mitglieder auf. Das Formen des Musiktheaters. Das Festivals. Repertoire von Ne( x )tworks hat Ensemble entwickelte sich aus seinen Schwerpunkt auf der Musik Dieter Schnebels Kursen für Experi- Pandit Pran Nath der amerikanischen Avantgarde – mentelle Musik an der Universität von der New York School um John der Künste, seinen Namen wählte es ( 1918 – 1996 ) ist ein Vertreter der Cage und Morton Feldman bis heute. nach Schnebels Stück Maulwerke. Kirana-Schule der nordindischen Häufig sind improvisatorische Mit einem umfangreichen Repertoire Musik, in die er durch einen ihrer Elemente Bestandteil der gespielten sind die Maulwerker Gast zahl- bedeutendsten Protagonisten, den Musik. Die Mitglieder des sieben- reicher internationaler Festivals Musiker Abdul Wahid Khan, in einem köpfigen Ensembles spielen auch für zeitgenössische Musik. traditionellen, über 20 Jahre in anderen Neue-Musik-Formationen währenden Ausbildungsgang eingewie- und treten solistisch auf. Wolfgang Amadeus Mozart sen wurde. Dabei hat sich Pandit Pran Nath vor allem die im Kirana- ( 1756 – 1791 ) von seinem Vater geför- Stil vorherrschenden langsamen und dert, spielte er als Kind vor den getragenen Musikstücke zu eigen höchsten Monarchen seiner Zeit und gemacht. Ab 1972 lebte er in New war eine europäische Sensation. York, wo er eine Schule für die 1781 wagte er einen bis dahin bei- Musik der Kirana-Tradition gründe- spiellosen Schritt und ließ sich te. Pandit Pran Nath hat auf eine in Wien als selbstständiger, an Reihe westlicher Musiker verschie- keinen Hof oder Auftraggeber gebun- dener Stilrichtungen Einfluss ge-

81 Emmanuel Nunes Q RIAS Kammerchor

Die Uraufführung des Orchester- QuerKlang Seit seiner Gründung im Jahr 1948 werkes ›Ruf‹ im Jahr 1977 brachte hat der RIAS Kammerchor ein cha- dem 1941 in Lissabon geborenen Kom- ist ein seit 2002 bestehendes musik-­ rakteristisches künstlerisches ponisten Emmanuel Nunes den inter- pädagogisches Projekt der Univer- Profil entwickelt. Zum einen wendete nationalen Durchbruch. Charakte- sität der Künste in Zusammenarbeit er sich als erster professioneller ristisch für sein Schaffen sind mit Berliner Schulen, KomponistIn- Konzertchor konsequent der histori- allmählich sich entwickelnde Klang- nen und MaerzMusik. 2011/12 arbei- schen Aufführungspraxis Alter Mu- prozesse. Die Art und Weise, wie teten die KomponistInnen Eres Holz, sik zu. Zum anderen engagiert sich sich die Klänge im Raum entfalten, Makiko Nishikaze, Mathias Hinke, der RIAS Kammerchor intensiv für ist dabei Teil der Komposition. Stefan Keller und Tobias Dutschke die Musik der Gegenwart. So sind ihm Für sein Schaffen nutzt Nunes, der mit den SchülerInnen zusammen. eine Vielzahl an Ur- und Erstauf- seit langem mit dem Pariser Ircam Die Musik von Eres Holz ist durch führungen zu danken. Das Wirken des Institut für Elektronische Musik die Auseinandersetzung mit außer- Chores ist auf zahlreichen für das zusammenarbeitet, die Möglichkeiten musikalischen Inspirationsquellen, Label harmonia mundi france ein- der Live-Elektronik und des Compu- wie Psychologie und Film, geprägt. gespielten, vielfach preisgekrönten ters. Nunes unterrichtete Kompo- Makiko Nishikaze lebt und arbei- Tonträgern dokumentiert. sition unter anderem in Darmstadt, tet als Komponistin, Pianistin und Freiburg, Paris und an der Harvard Dozentin in Berlin. Ihre komposi- Wolfgang Rihm University. torische Arbeit basiert auf einer Auswahl von Gestaltungselementen geboren 1952 in Karlsruhe, hat ein O und Klängen mit genau definierten weitgespanntes, vielgestaltiges Klangfarben. Œuvre geschaffen, das bisher an die Matthias Osterwold Mathias Hinke schreibt für Ensem- 350 veröffentlichte Werke umfasst. bles und Orchester in Europa und Sein Komponieren entzieht sich ist seit 2001 bei den Berliner Amerika. In seiner Arbeit beschäf- gängigen Kategorien. Der Schlüssel- Festspielen Künstlerischer Leiter tigt er sich zurzeit mit der Illu- begriff seines Schaffens ist die von MaerzMusik - Festival für aktu- sion einer zeitlosen Musik. künstlerische Freiheit. Rihm ist elle Musik. Geboren 1950 in Ham- Stefan Keller studierte erst Oboe, gegenüber allen Kompositionsstrate- burg, studierte er Soziologie, dann Komposition und Musiktheorie. gien, die seiner klanglichen Volkswirtschaft und Stadtforschung Sein Schaffen umfasst außer Instru­ Imagination Fesseln anlegen würden, in Hamburg sowie Musikwissenschaft mentalkompositionen für diverse zutiefst skeptisch. Seine Musik in Berlin, u.a. bei Helga de la Besetzungen auch eine Kurzoper und zeichnet sich durch eine besondere Motte und Carl Dahlhaus. 1983 war Werke mit Live-Elektronik. expressive Kraft aus. Künstleri- er Mitbegründer von Freunde Guter Tobias Dutschke arbeitet als Mu- sche Freiheit charakterisiert auch Musik Berlin e.V., einer Organisa- siker, Performer und Komponist im Rihms Umgang mit den musikalischen tion zur Förderung experimenteller Theater und Musiktheaterbereich. Er Mitteln. Rihm hat eine bedeutende Musik und Musikperformance. 1992 - hat in den letzten Jahren mehrere schöpferische Entwicklung hinter 1994 war er musikalischer Leiter am Musiktheaterabende entwickelt. sich. Dominierten anfangs Wildheit Podewil Berlin und 1999 - 2001 und eine fragmentarische Gestal- Musikkurator am ZKM – Zentrum für R tungsweise, so eroberte er sich Kunst und Medientechnologie Karls- später eine ganz eigene lyrische ruhe. Er leitete und beriet ver- Hans-Christoph Rademann Kantabilität und ein weite Verläufe schiedene Festivals neuer Musik in tragendes musikalisches Fließen. Berlin (u.a. sonambiente), Luzern, Jahrgang 1965, ist seit 2007 Chefdi- Krems, Hongkong und Peking. Ab 2013 rigent des RIAS Kammerchor. Er lei- Peter Rundel übernimmt er zusätzlich die Künst- tet zudem den Dresdner Kammerchor, lerische Leitung des Festivals den er noch während seines Studiums geboren 1958 in Friedrichshafen, war Klangspuren in Schwarz / Tirol. in Dresden gründete und zu einem der von 1984 bis 1996 als Geiger Mit- Seit 1994 ist er mit kurzer Unter- führenden Chöre Deutschlands formte. glied im Ensemble Modern und begann brechung Mitglied im Rat für die Ab der Spielzeit 2013 übernimmt er schon in dieser Zeit zu dirigieren. Künste Berlin. auch die Leitung der Internationa- Inzwischen ist Rundel regelmäßig len Bachakademie Stuttgart. Zu den Gast führender Orchester, Opern- P Schwerpunkten seiner Arbeit zählen häuser und Kammerensembles. Dabei die Alte Musik und die Zusammenar- hat er sich vor allem als Spezia- Natalia Pschenitschnikova beit mit Komponisten der Gegenwart. list für die Musik der Avantgarde profiliert. Die Diskographie des ist eine vielseitige Komponistin Remix Ensemble Dirigenten enthält zahlreiche mit und Interpretin. Sie studierte internationalen Preisen und Aus- in ihrer Heimatstadt Moskau Flöte Das portugiesische Remix Ensemble zeichnungen bedachte Einspielungen. und Klassisches Ballett und ist eine Kammermusikformation, die Seit 2005 ist Peter Rundel Chef- nahm an verschiedenen Projekten sich der Musik der Gegenwart in dirigent des Remix Ensembles. avantgardistischer Künstler teil. ihrer ganzen stilistischen Brei- 1993 siedelte sie nach Berlin te widmet. Seit seiner Gründung im Viola Rusche über und war von 1995 bis 2001 Jahr 2000 hat das Ensemble zahlrei- Mitglied im Ensemble Zwischentöne. che Werke zur Uraufführung ge- wurde 1960 geboren. Sie lebt und Natalia Pschenitschnikova hat bracht. Seine feste Spielstätte hat arbeitet freischaffend als bildende zahlreiche für sie geschriebene das Ensemble in der Casa da Música Künstlerin, Filmemacherin und Cut- Werke – sowohl für Stimme wie für in Porto, regelmäßig gastiert es terin in Berlin. Ihre Werke wurden Flöte – uraufgeführt und war an CD- zudem auf internationalen Festi- unter anderem in Kiel, Düsseldorf, Produktionen von Labels wie ECM vals für Neue Musik. Viele Dirigen- Frankfurt und Berlin ausgestellt. und Melodija beteiligt. ten Neuer Musik wie Stefan Asbury, Als Cutterin war Viola Rusche an Reinbert de Leeuw und Emilio Po- zahlreichen Fernsehproduktionen, marico, arbeiten regelmäßig mit dem Künstlerportraits und Dokumentatio- Remix Ensemble zusammen. nen beteiligt. 2008 veröffent-

82 lichte sie den Film Amor Vati über minikanischen Republik geboren, wo Dieter Schnebel den Dichter Christian Saalfeld. sie Klassisches Ballett und Moder- nen Tanz studierte. Sie tanzte bei Die Freiheit von dogmatischen Ein- S Compagnien in Caracas, Kopenhagen stellungen ist ein prägender Grund- und Hamburg und ist auch mit eige- zug der künstlerischen Persön- Marc Sabat nen Choreographien aufgetreten. lichkeit von Dieter Schnebel ( geb. Die 1982 geborene madagassische 1930 ). Sein kompositorischer Aus- Der Kanadier Marc Sabat ( geb. 1965 ) Tänzerin Zaratiana Randrianante- gangspunkt in den 1950er Jahren war ist Komponist und Interpret auf naina studierte zeitgenössischen die serielle Musik im Geist der verschiedenen akustischen und elek- Tanz in Paris. Beim 9. Internatio- Darmstädter Schule. Misstrauisch tronischen Instrumenten. Er stu- nalen Tanzwettbewerb in Paris wurde gegen die Geschlossenheit der seri- dierte in Toronto und New York und sie für eine eigene Choreographie ellen Ästhetik, gelangte er zu erhielt dort wesentliche Anregun- ausgezeichnet. Seitdem tanzte sie experimentellen Kompositionen, die gen durch den Geiger Malcolm Gold- in einer Reihe von Pariser Tanzcom- offene Werkkonzepte verwirklichen stein und die Komponisten James Ten- pagnien und wirkte dabei auch in und vor allem beim Umgang mit der ney und Walter Zimmermann. In seinen Filmproduktionen mit. menschlichen Stimme neue Wege ge- eigenen Werken verarbeitet Marc Judith Sánchez Ruíz wurde 1971 in hen. Seit den 1970er Jahren bildet Sabat u. a. Einflüsse des amerikani- Havanna geboren und studierte dort die intensive Auseinandersetzung schen Folk und der experimentellen Tanz. Seit 1999 lebt sie in New mit der musikalischen Tradition ei- Musik. Zudem setzt er sich als York. Ruíz arbeitete mit vielen nen wichtigen Strang seines Schaf- Instrumentalist und Komponist in- internationalen Ensembles zusammen, fens. Schnebel schuf eine Reihe tensiv mit reiner, nicht temperier- und entwickelte eigene Choreographi- freier, experimenteller Bearbei- ter Intonation auseinander. Marc en. Seit 2011 ist sie Mitglied des tungen und wendete sich Gattungen Sabat widmet sich gegenwärtig vor Programms Artists in Residence bei wie der Sinfonie und der Messe zu. allem dem Komponieren. Er lehrt an Movement Research in New York. Von 1976 bis zu seiner Emeritierung der Universität der Künste Berlin. Yael Schnell, geboren 1976, stammt wirkte Dieter Schnebel an der Ber- aus Israel, wo sie von 1994 bis liner Universität der Künste. Sasha Waltz & Guests 2002 Mitglied des Bat-Sheva Ensem- bles war. Seit 2002 lebt sie in Heinrich Schütz Seit der Gründung der Tanzcompagnie Berlin, wo sie auch eigene Stücke Sasha Waltz & Guests im Jahr 1993, entwickelte. Sie arbeitete u. a. ( 1585 – 1672 ) ist die zentrale deut- hat sich die Choreographin und Tän- mit Ohad Naharin, William Forsythe sche Komponistenpersönlichkeit nach zerin Sasha Waltz als eine wichtige und Paul Selwyn Norton zusammen. der musikgeschichtlichen Epochen- Protagonistin des zeitgenössischen schwelle um 1600. Seine besondere Tanzes etabliert. In zahlreichen Sabine Schall Leistung besteht in der Verbindung Stücken wie ›Körper‹, ›nobody‹ und der neuen Errungenschaften der ita- ›insideout‹ hat Sasha Waltz ein Ar- Die bildende Künstlerin Sabine lienischen Musik, die er in Venedig senal neuer Bewegungsformen entwi- Schall, geboren 1956, studierte an bei Giovanni Gabrieli kennenlernte, ckelt. Oft beschäftigt sie sich der Kunstakademie Düsseldorf. Seit mit der deutschen Sprache. Schütz in ihren Choreographien mit der Mu- 1999 lebt sie in Berlin, wo sie schuf Werke von großer Eindringlich- sik der Gegenwart, häufig arbeitet verschiedene Ausstellungen und Pro- keit und Ausdruckskraft, die sich sie dabei mit Komponisten wie Wolf- jekte im Bereich von Neuer Musik, durch die Sorgfalt der Deklamation gang Rihm, Rebecca Saunders oder Klanginstallation und Performance und die Anschaulichkeit der Text- Pascal Dusapin zusammen. Seit 2005 verwirklicht hat. Im Jahr 2002 ausleuchtung auszeichnen. Das Zen- hat Sasha Waltz auch Opern choreo- gründete Sabine Schall zusammen mit trum seines Wirkens war der kur- graphisch inszeniert. der Designerin Ingken Wagner in fürstliche Hof in Dresden, wo Schütz Guests von ›gefaltet‹ sind: Berlin-Friedrichshain den Ausstel- jahrzehntelang Kapellmeister war. Der 1987 in Mosambik geborene Tän- lungs- und Veranstaltungsraum com- Weite Reisen und ausgedehnte auswär- zer Edivaldo Ernesto erlernte in plice, der seither zahlreichen tige Aufenthalte vertieften seinen seiner Heimat sowohl traditionellen Konzerten und künstlerischen Arbei- Einfluss auf die Musik seiner Zeit. Volkstanz wie klassischen Tanz. Er ten Raum gegeben hat. nahm an mehreren Produktionen von Robyn Schulkowsky David Zambrano teil. Thomas Schenk Saju Hari stammt aus Südindien Die amerikanische Schlagzeugerin und lebt in England. In Bangalore geboren 1958 in Mainz, studierte Robyn Schulkowsky hat der Musik erhielt er eine Ausbildung in der zunächst Architektur, ehe er sich für ihr Instrument wichtige neue klassischen Kampfkunst Kalaripa- dem Bühnenbild zuwendete. Seit 1995 Impulse gegeben, viele Komponisten yattu und zeitgenössischem Tanz. entwickelt Schenk gemeinsam mit angeregt und ist selbst als Im- Nach Engagements in Indien trat er Sasha Waltz die Bühnenbilder ihrer provisatorin und Komponistin her- u.a. in der Akram Khan Dance Company Stücke und hat die Bilderwelten vorgetreten. Seit 1980 lebt Robyn auf. Seit 2002 choreographiert Saju von ›Körper‹, ›insideout‹, ›Dido & Schulkowsky in Europa und wurde Hari eigene Stücke. Aeneas‹ und ›Medea‹ mitgeprägt. seitdem von Karlheinz Stockhausen, Todd McQuade wurde 1981 in Kalifor- Daneben arbeitete Thomas Schenk Walter Zimmermann, Wolfgang Rihm, nien geboren. McQuade, der auch ein beim Projekt d’avant mit den Rebecca Saunders und vielen anderen Kunstgeschichtsstudium erfolgreich Choreo­graphen Sidi Larbi Cherkaoui, Komponisten mit der Uraufführung abschloss, war u. a. Mitglied der Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, ihrer Werke betraut. Auf zahlreichen Trisha Brown Company. Er gibt Kurse Luc Dunberry und Damien Jalet zu- CDs hat sie solo und im Zusammen- in Berlin, Wien und Lissabon. sammen. spiel mit namhaften Partnern Werke Der litauische Tänzer Virgis der Schlagzeugliteratur eingespielt. Puodziunas, geboren 1973, studier- te Tanz in Kaunas, New York und Julia H. Schröder London. 1996 bis 1999 tanzte und choreographierte er am National- promovierte über Cage & Cunningham theater Weimar. Er realisiert auch Collaboration. In- und Interde- eigene Multimediaprojekte. pendenz von Musik und Tanz ( Hofheim Sasa Queliz wurde 1971 in der Do- 2011 ). Sie ist wissenschaftliche

83 Mitarbeiterin an der Freien Uni- Volker Straebel T versität Berlin, Sonderforschungs- bereich ›Ästhetische Erfahrung im beschäftigt sich als Musikwissen- Antoine Tamestit Zeichen der Entgrenzung der Künste‹ schaftler mit elektroakustischer und lehrt an verschiedenen Berliner Musik, der amerikanischen und euro- Innerhalb weniger Jahre ist der Universitäten. päischen Avantgarde, Performance, 1979 geborene französische Brat- Intermedia und Klangkunst. Er ist scher Antoine Tamestit zu einem der Stefano Scodanibbio wissenschaftlicher Mitarbeiter am gefragtesten Solisten seines Ins- Elektronischen Studio der TU Berlin. truments geworden. Er studierte in Der 1956 in Macerata ( Italien ) ge- Außerdem ist Straebel kuratorisch Paris, in den USA und schließlich borene und im Januar 2012 in tätig, unter anderem als langjähri- in Berlin bei Tabea Zimmermann, die Cuernavaca ( Mexiko ) verstorbene ger Berater von MaerzMusik, und häufig gemeinsam mit ihm konzer- italienische Kontrabassvirtuose und realisiert eigene Stücke und inde- tiert. Tamestit konnte Erfolge bei Komponist Stefano Scodanibbio war terminierte Werke von John Cage. internationalen Wettbewerben feiern ein Interpret Neuer Musik, der die und musiziert seither regelmäßig klanglichen Möglichkeiten seines Martin Supper mit führenden Orchestern und Diri- Instrumentes durch neue Spieltech- genten. Er ist Widmungsträger niken erheblich erweiterte. Er war geboren 1947 in Stuttgart, ist mehrerer Werke, unter anderem des Widmungsträger und Uraufführungs- Musikwissenschaftler, Tontechniker, Violakonzertes von . interpret zahlreicher Werke und Komponist und seit 1985 Leiter arbeitete mit Komponisten wie Gia- des Studios für Elektroakustische James Tenney cinto Scelsi und Luigi Nono eng Musik und Klangkunst der Univer- zusammen. Regelmäßig trat er im Duo sität der Künste Berlin. Er widmet In der künstlerischen Neugier sah mit Rohan de Saram, mit Terry Riley sich insbesondere der experimen- der amerikanische Komponist James und Markus Stockhausen auf. Sein tellen elektroakustischen Musik, Tenney ( 1934 – 2006 ) die eigentliche eigenes Schaffen, das Scodanibbio Computermusik und Klangforschung, Antriebskraft seines Schaffens. selbst unter anderem von Riley ihrer Geschichte und Gegenwart. Tenney näherte sich der Musik mit beeinflusst sah, umfasst mehr als Für die Realisation neuer Werke dem gelassenen Blick eines For- 50 Werke mit einem Schwerpunkt auf arbeitet er oft eng mit Künstlern schers, der untersucht, wie die Aus- Musik für Streicher. verschiedener Bereiche zusammen. führung einer Idee wohl klingen möge. Sein Schaffen ist umfangreich Elliott Sharp Akio Suzuki und weit verzweigt, hat aber zwei klare Schwerpunkte. In den 1960er Von starken rhythmischen Kräften 1941 im nordkoreanischen Pjöngjang Jahren war Tenney einer der Pionie- vorangetrieben, energetisch auf- geboren und in Japan aufgewachsen, re der Computermusik, ab den 1970er geladen, gleichzeitig präzise kon- begreift sich selbst als Klangfor- Jahren interessierte er sich vor struiert – so erlebt man die Musik scher. In den 1960er Jahren be- allem für die Möglichkeiten reiner von Elliott Sharp ( geb. 1951 in gann Suzuki, Orte in der Natur und Stimmung. Häufig arbeitete er mit Cleve-land ). Klassisch als Kompo- Architekturräume auf ihre spezi- sehr einfachen, unmittelbar an- nist und Instrumentalist ausge- fische Klanglichkeit hin zu unter- schaulichen Formen. James Tenney, bildet, fand Sharp seine musikali- suchen und sich mit dem Phänomen der mit vielen Komponistenkollegen sche Heimat von den späten 1970er des Nachhallens zu beschäftigen. In wie , Edgar Varèse, Jahren an in der so genannten seinen Performances nutzt er seit John Cage oder Conlon Nancarrow in Downtown Szene New Yorks, in der den 1970er Jahren selbstgebaute intensivem Austausch stand, war sich Jazz, progressive Rockmusik Instrumente wie eine spezielle Glas- einer der einflussreichsten Komponi- und experimentelle Improvisations- harmonika und Alltagsgegenstände. sten seiner Generation. kunst mischen. Sharp arbeitete Seit 1989 arbeitet Akio Suzuki kon- mit zahlreichen Musikern verschie- tinuierlich mit der Tänzerin und Valerio Tricoli denster Stilrichtungen zusammen Performancekünstlerin Junko Wada und gründete mehrere Ensembles. Er zusammen. Seine häufig von hinter- geboren 1977 in Palermo, arbeitet hat bisher mehr als 85 Aufnahmen gründigem Humor getragenen Arbeiten, als Komponist, Improvisator, Klang- veröffentlicht, deren Bandbreite Installationen und Performances ha- künstler, Tonmeister und Produzent. von Orchesterwerken bis zu Techno- ben weltweite Anerkennung erfahren. Bei seinen Auftritten, die in der musik reicht. Regel von einer besonderen Licht- SWR Sinfonieorchester dramaturgie begleitet sind, mischt Sonar Quartett Baden-Baden und Freiburg er aufgenommene oder synthetisch hergestellte Klänge mit live er- Das Berliner Sonar Quartett wurde Das 1946 gegründete SWR Sinfonie- zeugten. Dabei verwendet er meist im Jahr 2006 gegründet. Der künst- orchester Baden-Baden und Freiburg analoge Geräte wie Tonbandmaschi- lerische Schwerpunkt des Quartetts, hat vor allem wegen seines Ein- nen. Sein künstlerisches Interesse dessen Mitglieder regelmäßig auch satzes für die Musik unserer Zeit richtet sich auf das Verhältnis solistisch auftreten und als Gast internationales Ansehen erworben. zwischen Musizierenden, Geräten und in führenden Avantgardeensembles Seit Jahrzehnten gelingt es dem dem Raum. Tricoli ist Mitbegründer mitspielen, ist die Musik der Ge- Orchester immer wieder aufs Neue, des italienischen Labels Bowindo. genwart. Die jüngste CD-Produktion auch unspielbar erscheinende Par- des Quartetts mit Werken von Georg tituren zu klanglichem Leben zu er- Katzer wurde in die Bestenliste wecken. Genauso souverän führt das des Preises der Deutschen Schall- Orchester Werke des traditionel- plattenkritik aufgenommen. len Repertoires auf. Die Reihe der Der als Gast mitwirkende Cellist Chefdirigenten des Orchesters, Michael Rauter studierte u. a. an zu denen Sylvain Cambreling, der Universität der Künste Berlin Michael Gielen, Hans Zender und bei Jens-Peter Maintz und beim Ar- Hans Rosbaud zählen, wird seit temis Quartett. Er ist Gründer und dieser Saison von François-Xavier Leiter des Solistenensemble Kalei- Roth fortgesetzt. doskop.

84 U Ilan Volkov Sonia Wieder-Atherton

Frances-Marie Uitti Im Jahr 2003 wurde der 1976 in Is- Die in Paris lebende Cellistin So- rael geborene Dirigent Ilan Volkov nia Wieder-Atherton, Tochter eines Die Cellistin Frances-Marie Uitti, an die Spitze des BBC Scottish Amerikaners und einer Französin, geb. 1948 in Chicago, gehört zu den Symphony Orchestras berufen, mit verfügt über ein ungewöhnlich weit profiliertesten Interpreten zeit- dem er in den folgenden Jahren eine gefächertes Repertoire und musi- genössischer Musik. Nach einer klas- Reihe von CDs aufnahm. Daneben ziert mit internationalen Orches- sischen Ausbildung stand sie von führten ihn zahlreiche Gastdirigate tern, Dirigenten und Pianisten. den späten 1970er Jahren an in engem zu führenden Orchestern. In dieser Mehrere zeitgenössische Komponisten Kontakt mit Giacinto Scelsi und Saison hat Ilan Volkov die Leitung wie Wolfgang Rihm und Pascal Dusa- arbeitete auch mit John Cage zu- des Iceland Symphony Orchestras pin haben Werke für die Cellistin sammen. Durch die Erfindung des in Reykjavik übernommen und dort geschrieben. Häufig gestaltet Sonia gleichzeitigen Spiels mit zwei einen programmatischen Akzent der Wieder-Atherton unkonventionelle, Bögen hat Frances-Marie Uitti ihrem Arbeit auf die Neue Musik gesetzt. sorgsam konzipierte Programme. Eine Instrument völlig neue klangliche zusätzliche Facette ihrer künst- Möglichkeiten eröffnet und damit W lerischen Tätigkeit ist die produk- Komponisten wie György Kurtág, tive Zusammenarbeit mit der Filme- Luigi Nono oder Jonathan Harvey zu Junko Wada macherin Chantal Akerman. Werken angeregt. Nach ihrem Studium an einer Kunst- Christian Wolff V ­hochschule in Tokyo hat Junko Wada zunächst an großformatigen Ölbil- Im Mittelpunkt des Schaffens des Daan Vandewalle dern gearbeitet, dabei aber gleich- amerikanischen Komponisten Christi- zeitig begonnen, sich mit der Bewe- an Wolff, 1934 als Sohn des Kafka- Der belgische Pianist Daan Vande- gung ihres Körpers zu beschäftigen. Verlegers Kurt Wolff geboren, steht walle verfügt über ein umfangreiches Statt auf der Leinwand, malte sie der Begriff der Unbestimmtheit. Repertoire mit Schwerpunkt auf der im Raum Bilder mit ihrem Körper. Aus Zunächst von John Cage, später Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. dieser Situation heraus entstand auch von Frederic Rzewski und Er hat zahlreiche, zum Teil ihm die Zusammenarbeit mit Klangkünst- Cornelius Cardew beeinflusst, schuf gewidmete Werke von Komponisten wie lern, insbesondere mit Akio Suzuki, Wolff Werke, in denen die Auffüh- Frederic Rzweski, Sorabji, Clarence Rolf Julius und Hans Peter Kuhn, renden in großem Maße an den Ent- Barlow und Christian Wolff ur- oder und die Entwicklung einer eigenen scheidungen darüber, was erklingen erstaufgeführt. Die besondere Vor- Form der Bewegunsperformance.­ Seit soll, beteiligt sind. Vor allem in liebe des Pianisten für die neuere einigen Jahren hat sie zur Malerei der Zeit der Anti-Vietnam-Bewegung amerikanische Klaviermusik spiegelt zurückgefunden und wirkt in beiden schrieb Wolff auch explizit poli- sich in seiner Diskographie wider, Medien. Junko Wada lebt und arbei- tisch engagierte Musik. Seit den die unter anderem umfangreiche Edi- tet in Berlin und Amino ( Kyoto ). 1980er Jahren ist sein Werk durch tionen mit Kompositionen von Alvin die Verknüpfung von traditionel- Curran und Gordon Mumma enthält. Carolin Widmann len und experimentellen Elemen- Daan Vandewalle lehrt am Konserva- ten gekennzeichnet. Neben seiner torium von Gent. geboren 1976 in München, hat sich kompositorischen Tätigkeit arbeite- als Geigerin vor allem als Interpre- te Christian Wolff lange Zeit als VocaalLAB tin Neuer Musik profiliert. Auf dem Professor für Altphilologie. Konzertpodium ist sie ebenso häufig Das im Jahr 2002 gegründete nie- als Solistin im Zusammenspiel mit Y derländische VocaalLAB ist ein führenden Orchestern wie als Kammer- Zusammenschluss von Solisten. Es musikerin und auch in Programmen La Monte Young versteht sich als Plattform für mit Musik für Violine solo zu hö- innovatives Musiktheater und hat ren. Dabei führt sie oft auch Werke Der US-amerikanische Komponist La Produktionen für zahlreiche inter- abseits des gängigen Reper­toires Monte Young wurde 1935 in der länd- nationale Veranstalter und Festi­ auf. Zu den bevorzugten Musizier- lichen Abgeschiedenheit Idahos vals verwirklicht. Das Spektrum partnern der Geigerin gehört ihr geboren. Ausgehend vom Jazz erober- der aufgeführten Stücke ist breit, Bruder, der Komponist­ und Klarinet- te er sich in den 1950er Jahren wobei das überraschende Mischen tist Jörg Widmann. Carolin Widmann die Dodekaphonie und die experi- verschiedener Kunst- und Ausdrucks- hat mehrere CDs mit Werken von mentelle amerikanische Avantgarde. formen häufig Teil der künstleri- Schumann bis Feldman eingespielt. Später gehörte La Monte Young zu schen Konzeption der Produktionen den treibenden Kräften der Fluxus- des Ensembles ist. Das VocaaLAB Jörg Widmann Bewegung und beschäftigte sich gastierte in den letzten Jahren un- intensiv mit der indischen Musik. ter anderem bei der Ruhrtriennale, ist eine außergewöhnliche Doppelbe- Im Zentrum seines Schaffens steht der Nederlands Opera Amsterdam und gabung. Er ist nicht nur ein her- die Idee des lang ausgehaltenen beim Holland Festival. ausragender Klarinettist, sondern Klanges. So lässt er in seinen zählt auch zu den führenden Kom- Klanginstallationen und Gruppen- Vocalconsort Berlin ponisten seiner Generation. Als Kla- improvisationen über große Zeiträu- rinettist widmet sich Jörg Widmann me hindurch komplexe Klänge sich Das seit 2003 bestehende Vocalcon- vor allem der Kammermusik, er tritt allmählich entfalten. Ein weiteres sort Berlin ist ein Ensemble, das aber auch regelmäßig als Solist in wichtiges Element seines Schaffens sich mit flexiblen Besetzungsmög- Orchesterkonzerten auf. Im Zentrum bilden Überlegungen zur reinen Stim- lichkeiten vor allem auf die Musik seiner Aktivitäten stehen zunehmend mung. In den letzten Jahren steht des Frühbarocks und auf zeitgenös- die eigenen Kompositionen. Von der die Zusammenarbeit mit dem Just sische Kompositionen spezialisiert Anerkennung Widmanns zeugen auch Alap Raga Ensemble im Mittelpunkt hat. Das Ensemble ist seit 2006 die für ihn geschriebenen Werke von seines künstlerischen Interesses. gemeinsam mit Sasha Waltz & Guests Aribert Reimann, Heinz Holliger und und der Akademie für Alte Musik von seinem ehemaligen Kompositions- Berlin Hausensemble im Radialsystem. lehrer Wolfgang Rihm.

85 Z grammen zum Beispiel Volksmusik mit Elementen avancierter Rockmusik, Lothar Zagrosek führt Lou Reeds elektronische Metal Machine Music auf akustischen Ins- ehemaliges Mitglied der Regens- trumenten auf oder gestaltet freie burger Domspatzen, studierte Adaptionen der Musik von Schönberg Dirigieren unter anderem bei Hans oder Xenakis. Swarowsky und Herbert von Kara- jan. Nach Stationen in kleineren Walter Zimmermann Städten wurde Zagrosek Chefdiri- gent des ORF Sinfonieorchesters in ( geb. 1949 ) ist ein ungewöhnlich Wien. Es folgten leitende Posi- reflektierter Komponist, der sich tionen in Paris, London, Leipzig, von antiker Philosophie ebenso wie an der Stuttgarter Staatsoper und von Denkern des französischen in Berlin, wo er von 2006 bis 2012 Strukturalismus hat anregen las- als Chefdirigent des Konzerthaus- sen und dessen Schaffen von exten­ orchesters wirkte. Lothar Zagrosek siven Studien begleitet wird. Er hat sich besonders um die zeitgenös- ist zudem einer der besten Kenner sische Musik und um selten gespiel- der amerikanischen Musik und wurde te Werke verdient gemacht. insbesondere von John Cage und Mor- ton Feldman beeinflusst. Für Zimmer- Susanne Zapf manns umfangreiches Schaffen ist eine alles Auftrumpfende meidende Die Violinistin Susanne Zapf, in Zurückhaltung charakteristisch. Thüringen geboren, wurde von Ilan Viele seiner Kompositionen prägen Gronich in Berlin, Grigory Zhis- eine lyrische, teilweise asketische lin in London und Keiko Wataya in Grundhaltung aus. Dabei strebt er Amsterdam ausgebildet. Die Auffüh- eine neue Form der Tonalität jen- rung von Musik der Klassik und des seits hergebrachter Festlegungen an. Barocks, freier Improvisationen und zeitgenössischer Werke in en- ger Zusammenarbeit mit Komponisten stellen für sie keinen Gegensatz dar. Neben Auftritten mit dem Sonar Quartett spielt sie auch in anderen Kammerensembles, u.a. im Thürmchen Ensemble Köln. Das Duo ›Susanne Zapf & Theo Nabicht‹ gibt bei MaerzMusik 2012 sein Debüt.

Marian Zazeela

Die 1940 in New York geborene Künstlerin Marian Zazeela nutzt im Hauptteil ihrer bildnerischen Ar- beiten Licht als Gestaltungsmittel. Seit 1962 entstanden die meisten ihrer Werke in enger Zusammenarbeit mit La Monte Young als Teil von Klang-Licht-Installationen. Marian Zazeela ist auch als Sängerin tätig. Sie ist Mitglied mehrerer Ensembles um La Monte Young und hat seit den 1960er Jahren an einer Vielzahl von Aufführungen teil- genommen. 1970 begegnete sie dem indischen Sänger Pandit Pran Nath, bei dem sie Unterricht nahm und mit dem zusammen sie weltweit Konzerte gab. Arbeiten von Marian Zazeela wurden u. a. im Whitney Museum New York und am Pariser Centre Pompidou Paris gezeigt.

zeitkratzer ist ein seit 1999 bestehender Zusammenschluss von neun Musikern, dem Tontechniker Martin Wurmnest und dem Lichtdesigner Andreas Harder. Alle Ensemblemitglieder sind auch außerhalb von zeitkratzer künstlerisch tätig. zeitkratzer verfolgt einen betont antipuristi- schen, Grenzen überschreitenden Ansatz und versetzt in seinen Pro-

86 Ur- und Erstaufführungen — Column One — Junko Wada / Rolf Julius ›Entropium part 1 – 4‹ ›With Julius. In memory of für zeitkratzer (2012) UA / AW »for 8 h (ours)«‹ Performance (2012) UA — Werner Dafeldecker / Valerio Tricoli — Sasha Waltz / Mark Andre ›Williams Mix Extended‹ ›gefaltet‹ for eight channel digital audio. Ein choreographisches Konzert Based on Williams Mix by John Cage (2012) DE (1952/2012) UA / AW — La Monte Young Marian Zazeela — Annie Gosfield ›The Just Alap Raga Ensemble ›A Luminous Reflection of Metallic in der Lichtinstallation von Marian Direction‹ Zazeela Dream Light‹ für Violoncello und Elektronik EE (2012) UA / AW Berliner Festspiele und The American Academy in Berlin — Walter Zimmermann ›Trauern heißt ganz Ohr sein‹ — Joan La Barbara für Gesang und Violine (in einer ›Persistence of Memory‹ Person) und Kontrabassklarinette für Kammerensemble, ›sonic atmos- In memoriam Reinhold Brinkmann phere‹ und Elektronik, mit einem † 10. Oktober 2010 Film von Aleksandar Kostic Text: Felix Philipp Ingold (2012) UA (2011) UA

— Alvin Lucier ›Slices‹ for cello and pre-recorded orchestra (2007/2012) UA UA Uraufführung EE Europäische Erstaufführung — Chris Mann DE Deutsche Erstaufführung ›here’s trouble‹ AW Auftragswerk Berliner Solo Performance (2012) UA / AW Festspiele / MaerzMusik

— Sergej Newski ›Autland‹ Musiktheater für sechs Solisten und Kammerchor (2008/2011) Konzertante DE der Neufassung

— Emmanuel Nunes ›Improvisation I – Für ein Monodram‹ für neun Instrumentalisten (2002/2005) DE

— Wolfgang Rihm ›Fragmenta passionis‹ Fünf Motetten für gemischten Chor a cappella (1968) UA

— Wolfgang Rihm ›Will Sound More Again‹ für Ensemble (2005/2011) DE / AW Casa da Música Porto und Berliner Festspiele / MaerzMusik

— Viola Rusche / Hauke Harder ›No Ideas But In Things – The composer Alvin Lucier‹ Dokumentarfilm (2012) UA

— Marc Sabat ›Euler Lattice Spirals Scenery‹ für Streichquarett (2011) DE

— Elliott Sharp ›Oneirika‹ für zeitkratzer (2012) UA / AW

— Akio Suzuki ›Jetzt – Hommage à John Cage und Rolf Julius‹ Solo Performance (2012) UA

87 Berliner Künstlerprogramm des DAAD

Aktuelle und ehemalige Gäste bei MaerzMusik 2012

— Tomomi Adachi

— Maryanne Amacher

— Mark Andre

— David Behrman

— John Cage

— Nicolas Collins

— Philip Corner

— Alvin Curran

— Peter Cusack

— Werner Dafeldecker

— Morton Feldman

— Toshi Ichiyanagi

— Joan La Barbara

— Alvin Lucier

— La Monte Young Marian Zazeela

— Emmanuel Nunes

— Akio Suzuki

— James Tenney

— Christian Wolff

88 Henze in Dresden Foto: © Martin Stollberg

Stiftung Schloss Neuhardenberg

HELMUT LACHENMANN ZU EHREN Gespräch: Die Kunst in der verlangweilten Genußgesellschaft Antje Vollmer und Helmut Lachenmann September / Oktober 2012 im Gespräch mit Harald Asel Samstag, 31. März 2012, 17 Uhr, Schinkel-Kirche Weitere Informationen erhalten Sie auf semperoper.de Konzert: The Rhetoric Project Titus Engel (Leitung), Helmut Lachenmann (Sprecher) Werke von Helmut Lachenmann und Carlo Gesualdo PARTNER DER SEMPEROPER UND Samstag, 31. März 2012, 20 Uhr, Schinkel-Kirche DER STAATSKAPELLE DRESDEN

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Berliner Festspiele MaerzMusik 2012 Magazin Festival für aktuelle Musik Berlin Herausgeber Berliner Festspiele ein Geschäftsbereich der Kulturveranstal- tungen des Bundes in Berlin GmbH. Künstlerischer Leiter: Matthias Osterwold Redaktion: Melanie Uerlings Gefördert durch den Beauftragten der Organisationsleitung: Ilse Müller Redaktion / Produktion: Bernd Krüger Bundesregierung für Kultur und Medien Mitarbeit: Ina Steffan / Marili Werle Assistenz: Anne Phillips-Krug Ko-Kurator »John Cage und Mitarbeit: Volker Rülke und das Team von Intendant: Dr. Thomas Oberender die Folgen«: Volker Straebel MaerzMusik Kaufmännische Geschäftsführung: Technische Leitung: Harald Frings Charlotte Sieben Projektdramaturgie: Vilém Wagner / Bild- und Textnachweise wurden so weit Redaktion: Christina Tilmann Ingrid Buschmann / Karsten Neßler wie möglich angegeben. Marketing: Stefan Wollmann Spielstätten / Künstlerbetreuung: Presse: Jagoda Engelbrecht Julia Binder / Farahnaz Hatam/ Grafik: Studio CRR, Christian Riis Ticket Office: Michael Grimm Irene Lehmann / Marie-Kristin Meier / Ruggaber, Zürich mit speziellem Dank an Hotelbüro: Heinz Bernd Kleinpaß Robinson Sartorius Dorian Minnig, Chantal Haunreiter, Protokoll: Gerhild Heyder Presse: Marit Magister / Patricia Hofmann Ally Carter, Kelly Satchell Technische Leitung: Andreas Weidmann Schrift: Akkurat, Akkurat Mono Berliner Festspiele Schaperstraße 24 Papier: Maxioffset 70g, 100g, 140g 10719 Berlin T + 49 30 254 89-0 Gesamtherstellung: Enka Druck, Berlin www.berlinerfestspiele.de © 2012 Berliner Festspiele und Autoren [email protected] Programm- und Besetzungsänderungen vorbehalten

Stand: Februar 2012

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Akademie der Künste Berlin Freunde Guter Musik Berlin e.V. Sasha Waltz & Guests The American Academy in Berlin gelbe MUSIK Schering Stiftung AngelicA – Festival Internazionale Goethe-Institut e.V. Stiftung Berliner Philharmoniker di Musica Bologna Hauptstadtkulturfonds Stiftung Mozarteum Salzburg Berghain Konzerthaus Berlin Technische Universität Berlin – Fachgebiet Berliner Künstlerprogramm des DAAD Kulturbüro SOPHIEN Audiokommunikation – Elektronisches Studio Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung Kulturradio vom rbb Théâtre Royal de la Monnaie Brüssel Botschaft von Japan in Deutschland Kulturstiftung des Bundes Universität der Künste Berlin / klangzeitort Casa da Música Porto Kunst im Regenbogenstadl Polling ZKM | Zentrum für Kunst und Medien- Deutscher Musikrat K&K Kulturmanagement & Kommunikation / technologie Karlsruhe Deutschlandradio Kultur Kulturkontakte e.V. Ernst von Siemens Musikstiftung Lohnerranger Film, Music & Art Productions Europäische Union – Europäischer Maryanne Amacher Archive // Additional Tones LTD Sozialfonds / Lernort Kultur Music Fund Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Hamburg Schleswig-Holstein GmbH Museum für Gegenwart – Berlin Fondazione Mudima Milano Radialsystem V Freie Universität Berlin / Botanischer Réseau Varèse – European Network for the Garten und Botanisches Museum Creation and Promotion of New Music, Freie Universität Berlin – Sonderforschungs- gefördert durch das Programm »Kultur« bereich 626 ›Ästhetische Erfahrung im der Europäischen Union Zeichen der Entgrenzung der Künste‹ RIAS Kammerchor / ROC Berlin Maerz Musik 2012 Programm Festival für aktuelle Musik 17. — 25. März 2012

Pole: John Cage 100 – Wolfgang Rihm 60 Essays

Dazwischen

Persönliche Ansichten zur Situation der Neuen Musik heute Ein Ein-/Über- und Ausblick von mehr als einem halben Jahrhundert Neue Musik – persönlich und also einseitig

von Dieter Schnebel

Es hat sie in der Musikhistorie immer wieder gegeben ( in der allge- meinen ebenso): die Aufbrüche, dann die Gegenbewegungen – und die flachen Zeiten. Um 1950, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und seinem Trümmerfeld, formierte sich in Darmstadt und anderswo eine »Avantgarde«, wie wir uns nannten und fühlten. Man wollte einen Neuanfang, einen Beginn bei einer Stunde Null, als ob bis dato nichts gewesen wäre, und es herrschte eine begeisterte Aufbruchstimmung. Freilich gab es Vorfahren, auf die man sich bezog: Arnold Schönberg und vor allem den späten Anton Webern. Man verschrieb sich in ihrem Gefolge der Idee des Fortschritts und der Konsequenz. Im Weiterden- ken der Zwölftontechnik, zumal ihrer radikalen Ausprägung bei Webern, gelangte man zur seriellen Kompositionsmethode: Bestim- mung der musikalischen Ereignisse in Parametern und ihre reihenmä- ßige Gliederung. So wollte man eine Musik, die sich von der bishe- rigen absetzte: keine tonalen Klänge – überhaupt keine traditionellen; es entstanden die Elektronische Musik und die musique concrète. Keine Peri­odik, sondern unregelmäßige Zeitgestalten. Keine Opern, Sinfonien, Streichquartette, Klaviersonaten. Die Stücke hießen Punk- te, Structures, Varianti, Metastasis etc. Ästhetisch wollte man eine abstrakte Musik analog zur abstrakten, gegenstandslosen Malerei – eine Musik ohne Inhalt. Im Verlauf der 1950er Jahre kam es zu einer stürmischen, experimentellen Entwicklung der Musik der Avantgarde. Ihre alsbald berühmten Protagonisten waren Luigi Nono, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen – und dann Iannis Xenakis. Es entstanden die ersten programmatisch-signalhaften Meisterwerke: Marteau sans maître, Pli selon pli, Gesang der Jünglinge, Gruppen, Canto sospeso. 1958 ereignete sich eine Zäsur: der Auftritt des amerikanischen Komponisten John Cage mit seinen schockierenden Innovatio- nen – das präparierte Klavier. Die Einbeziehung von oft dadaistischen Nicht-Instrumenten ( Radio, Wasser, Trillerpfeifen), die Kultivierung

3 des tacet ( 4’33’’), die Dehnung der Zeit, die Herstellung musikalischer Zusammenhänge als Zusammenhangloses. Dies alles verstörte nicht nur wegen seiner andersartigen Neuheit, sondern auch wegen des anarchischen Denkens, das dahinter stand. Nichtsdestoweniger wirkte der Auftritt Cages, so sehr er verstörte, doch befreiend. Jedenfalls wurde die Musik in den 1960er Jahren bunter, klangreicher, auch dadaistischer. Zumal auch Komponisten von anderswo auf den Plan traten: Mauricio Kagel, György Ligeti, die Kom- ponisten aus Polen. Auch Schnebel wäre hier wohl zu nennen – der sich übrigens intensiv mit Cage beschäftigte und einiges von ihm weiterzu- denken versuchte. Bald auch Helmut Lachenmann. Indessen waren die 60er Jahre zunehmend vom emanzipatorischen Denken der Studenten- und Jugendbewegung geprägt, das dann zur Explosion 1968 führte. Es betraf die Musik eher am Rande, bewirkte da eine Politisierung bzw. einen Zug in eine neue, östlich beeinflusste Innerlichkeit ( Hippies) – was alles in den 70er Jahren weiterging. Inzwischen hatte die Avantgarde ihren Stachel verloren. Ihre Neuerungen waren nach 20-jähriger Entwicklung weitgehend akzep­ tiert, und die Neue Musik war im Musikbetrieb integriert. So z. B. das zunehmend erfolgreiche Festival in Donaueschingen und die gut gehenden »musica viva«-Reihen der Rundfunkanstalten. Und es gab die großen Namen: eben Nono, Boulez, Stockhausen, Xenakis, Kagel, Ligeti, Penderecki, Henze. Indessen gab es auch anderes Neues. Aus dem sozialistischen Osteuropa kam eine Musik, die sich ungeniert herkömmlicher Materi- alien bediente – was vielleicht auch daher rührte, dass die dortigen Komponisten Neuer Musik mit der Herstellung von Filmmusik über- winterten ( Alfred Schnittke, Edisson Denissow). Aus Amerika aber schwappte die minimal music über den Atlantik, deren neuartige rhythmische Prozesse sich mit einfacher Kadenzharmonik verbanden ( Terry Riley, La Monte Young, Steve Reich, Philip Glass, später John Adams). Hierzulande aber gab es in den 1970er Jahren einen Auf- stand der Jungen gegen die Avantgarde, denen zunächst das unpas- sende Etikett »Neue Einfachheit« angeheftet wurde – eher handelte es sich um Neo-Expressionismus. Man schrieb wieder munter Opern, Sinfonien, Streichquartette, Lieder – kurz: bewährte Gattungen. Mate- rialiter wurden klassische, gar tonale Klänge einbezogen. Für die neuen Entwicklungen in Europa hatte sich der Begriff »Postmoderne«­ eingebürgert – ein seltsames, in sich widersprüchli- ches Wort: post = danach meint das Gegenteil von modern = neu / voran. Jedenfalls beinhaltet der Begriff ein »Danach-Gefühl«. Die Moderne erscheint als etwas Abgeschlossenes, das man hinter sich gelassen hat, so dass man darauf zurückblicken kann. Jedenfalls impliziert dieses Gefühl Abwendung. Indessen ist wohl keine Rück- kehr zu einem Davor gemeint, obschon man sich etwa auf Beethoven, Mozart oder Schumann bezog. Einig aber war man sich in der Negati- on der Avantgarde, ohne nun gleich unmodern zu sein. Die Gallionsfi- gur der neuen Bewegung, Wolfgang Rihm, lässt sich ohnehin schwer einordnen: Er ist im ganz altertümlichen ( romantischen) Sinn ein

4 Genie und ein Solitär. Was er anpackt, gerät ihm zu einem hochex- pressiven Eigenen, angefangen bei der frühen Musik für Streicher, einem beethovenianischen Streichtrio, bis hin zu dem nononiani­ schen Orchesterstück Frau-Stimme, oder den neuen, das Mittelalter beschwörenden Chorstücken. Tatsächlich hat er im Laufe eines riesi- gen Schaffens sich die ganze Musikgeschichte anverwandelt – sie in einzelnen Exemplaren »verrihmt«. In den 1990er Jahren, auch schon vorher, jedoch ein Weiter- verfolgen der Avantgarde – quasi als Postavantgarde. Lachenmann arbeitet deren Innovationen gründlich und professionell auf, selbst die von Cage; prägte eine ganze Generation von Schülern. Auch die new complexity Brian Ferneyhoughs und seiner Schule gehört zu sol- cher Postavantgarde. Indessen betrat auch der späte Nono neue Wege, und die extrem langen und stillen Minimal-Werke Morton Feld- mans faszinierten, ebenso die des alten Giacinto Scelsi. Hans Werner Henze indes und Aribert Reimann zogen weiter ihre Erfolgswege. Heute, in der Situation der neuen Unübersichtlichkeit eines gros- sen, bunten weltweiten Marktes der Neuen Musik gibt es sie weiterhin: die Postmoderne ( oder Postpostmoderne?) und die Postavantgarde, und die Jungen gehen unbekümmert weiter. In der Jubiläumskultur ragen heuer die Säulen »Cage 100« und »Rihm 60« wie Denkmale der beiden Tendenzen: erinnern sowohl an ein aufregendes Damals als auch ein lebendiges Heute und womöglich an ein Bald.

Ein autobiografischer Anhang

Geboren 1930 in einer badischen Kleinstadt. Klassische musika- lische Ausbildung, Musikstudium, dann auch Studium der Musikwis- senschaft, also die ganze Geschichte der europäischen Musik von der Gregorianik bis zur Gegenwart ( Dissertation über Schönberg) sozusa- gen inhalierend. Freilich: 1950/51 Pilgerfahrt nach Darmstadt – Varèse, Messiaen, Leibowitz, Adorno als Lehrer, Nono, Boulez, Stock- hausen als Kommilitonen. Eintritt in die Szene der Avantgarde. 1954- 60 serielles Komponieren an Stockhausen geschult. Um 1960 Begeg- nung mit der Musik und Musikphilosophie von John Cage. Auch mit Fluxus. Fortan experimentelles Komponieren – zumal für Stimme und »sichtbare Musik«. Um 1970 Einfluss der 68er Bewegung. Allmähliche Lösung von der Avantgarde-Ästhetik – Gefühl: das läuft sich tot. Damals Neuent- deckungen von Mahler, des späten Schubert, Janáček u.a. Als einem alten Blochianer, Sicht auf das unabgeschlossene Potenzial an Neu- em in der Vergangenheit. Aber auch vom seriellen Denken her: Skalen einfacher bis komplexer Klänge, konkreter bis künstlicher, Spektren zwischen traditionellem bis modernem Getön – Klänge sind stets his- torisch besetzt, insofern war Cages Suche nach »reinen Tönen« von vornherein vergebens. Schon in den 1950er Jahren hatte ich bei einer Analyse von Debussys Brouillards entdeckt, dass er da Tonales ( C-Dur) und Atonales aufeinander türmt zu einem gemeinsamen

5 Spektrum. So suchte ich in Werken wie Canones Kontinuen zu schaf- fen zwischen mittelalterlichen, barocken, romantischen bis avantgar- distischen Idiomen. Erneuerung überdies der ehrwürdigen Form des Kanons. Freilich ist solches Sowohl-als-auch bzw. Weder-noch irritie- rend, abseitig, scheinbar bedeutungslos. Tatsächlich ist da etwas, was ich ästhetisch suche: ein Dazwi- schen; das Zwischenreich zwischen Zukunft und Vergangenheit, von Avantgardistischem und Traditionellem, von Unmöglichem und Möglichem, banal: von »Konsonanzen« und »Dissonanzen«. Ein neues Stück heißt schlicht Sonanzen und hat ein Motto von Hölderlin – Schluss des Hyperion:

»Wie der Zwist der Liebenden sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit, und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles. So dacht’ ich. Nächstens mehr.«

6 Cage statt Käfig. Eine Apologie

von Volker Straebel und Matthias Osterwold

»Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts, was die Musik betrifft, mehr selbstverständlich ist« – ersetzt man im Eröffnungssatz von Adornos Ästhetischer Theorie das Akkusativobjekt Kunst durch Musik, so findet sich eine Situation geschildert, die heute, ein Jahr- hundert nach dem Auszug der europäischen Kunstmusik aus dem verwinkelten Gemäuer der Tonalität und rund sechzig Jahre nach dem Eindringen von elektronischer Klangerzeugung und -bearbeitung, Zufallskomposition und Performance Art in die Konzertmusik, noch immer Gültigkeit zu haben scheint. Bedenkt man, dass die Revolutio- nen der Jahrhundertmitte von denen des Fin de siècle zeitlich weni- ger weit entfernt waren als wir heute von jenen, verwundert um so mehr die Hartnäckigkeit, mit der traditionelle Gattungen und Konzertformen den Betrieb der Neuen Musik dominieren. Mit der Selbstverständlichkeit des Nicht-Selbstverständlichen scheint Gewöhnung einhergegangen zu sein, und der »Choque«, dessen Verlust Adorno bereits in den 1940er Jahren in Bezug auf die Hörer- fahrung von freitonalen expressiven Werken der Zweiten Wiener Schule konstatierte, bleibt auch bei den innovativen Kompositionen der zweiten Jahrhunderthälfte heute aus. Der Vorwurf des Clown- esken, der reinen »Show«, des Neo-Dada, mit dem man Cage-Auf- führungen begegnete, bei denen der Pianist sich auch unter dem Flü- gel zu schaffen machte und in Spielzeugpfeifen blies, adressierte nur die Ebene der Musikperformance, die heute als in den musika- lischen Werkzusammenhang integriert erscheint, ließ aber das klanglich Musikalische und konzeptionell Kompositorische unberück- sichtigt. Eine Binsenweisheit ist, dass selbst wenn die Werke über einen Zeitenabstand hinweg unverändert uns überkämen, ihre Wir- kung eine stets gewandelte ist, bestimmt durch die jeweilige historische Situation und unsere durch kulturelle Erfahrung ver- änderte Rezeption. Was aber bleibt, wenn der »Choque« überwunden, die Provokation als historisch gewordene Attitüde entkräftet ist?

7 Wer sich auf die Suche nach »John Cage und den Folgen« begibt, findet sich mit der kaum entrinnbaren Allgegenwart Cages konfron- tiert, einem gewaltigen Kosmos von Bezügen, Einflüssen und dialekti- schen Abstoßungen im Detail, deren Vielfalt und Vielschichtigkeit schier unüberschaubar scheint. Angelegt mag diese Situation bereits in der Arbeitsweise Cages gewesen sein, in seiner Offenheit für die Vernetzung von Künsten und Künstlern, Interpreten, Tänzern und Theoretikern, Aktivisten und Mykologisten. Diese Haltung war ästhe- tisches wie politisches Programm. So hielt es Cage für ethisches Ver- halten im 20. Jahrhundert, im Telefonbuch verzeichnet zu sein ( 1970) und wandte sich dagegen, in Interviews das Telefon abzustellen: »I prefer the idea we keep open to the … to the other …« ( 1991).1 Im Positiven offen für Austausch und Teilhabe, im Negativen eklektisch und mitunter unpräzise im Umgang mit seinen Quellen und Anregern, kann Cage als typisch für die Mythen des Landes und der Gesell- schaft seiner Umgebung gelten: die – zweifellos nur vorgeblich ent- hierarchisierte – salad bowl des Einwanderungslandes USA, an des- sen Westküste er aufwuchs, Europa weit im Rücken; die Emphase von Pioniergeist, Forscherdrang und Erfindungsgabe. Dass diese Wahrnehmung in Europa durch die Zeitläufe von einer ersehnten ( und nur scheinbar erfüllten) Stunde Null, Kaltem Krieg und dem von den Westmächten politisch instrumentalisierten Freiheits- und Autonomiestreben der Kunst geprägt wurde, soll nicht geleugnet werden.2 Cage wusste in seinen Werken die eindimensiona- le Agitation zu vermeiden, wiewohl er Gesellschaftskritik und poli- tische Utopie in der Aufführungssituation selbst thematisierte, sei es im Verhältnis von Ausführendem und Rezipient, sei es in der Einübung eigenverantwortlichen und ohne hierarchische Anleitung oder Kont- rolle ausgeführten Handelns des Musikers im Kollektiv des Ensemb- les. Sein Brief an das Orchester des Opernhauses Zürich, das seine Europeras 1&2 1991 in völliger Entstellung der Partitur in einen heite- ren Melodienreigen verwandelt hatte, zeugt von Cages Enttäuschung über das Scheitern nicht nur einer Aufführung, sondern einer poli- tischen Idee: »Wir [Cage und die Orchestermusiker] sind auf unter- schiedlichen Seiten, sowohl musikalisch als auch gesellschaftlich. Die Zukunft ist entweder die der Regierungen, ihrer Kriege und Geset- ze; oder die der Welt als global village, dem Raumschiff Erde als einer Gesellschaft, die Reiche und Arme verbindet, ohne Nationen, mit aus- reichenden Ressourcen zum Leben für alle. […] Wenn wir unsere Hal- tung ändern, können wir alle mit unserem Leben auf der Erde trium- phieren, statt dass wir, wie mit Europeras 1&2, versagen.«3

Composer Performer

Cage und sein Umfeld hatten sich, wie zahllose künstlerische Grenzgänger und Querdenker vor ihnen, teils aus Neigung, teils aus Not an den Rändern des etablierten Musikbetriebs aufgehalten, und es ist kein Zufall, dass der von Cages Lebenspartner 1953 gegründe- ten Merce Cunningham Dance Company auch die Funktion zukam, ein

8 vergleichsweise geschütztes Biotop für die Experimente der mit ihr assoziierten Musiker und Komponisten zu etablieren. Wie andere Künstlergruppen bis in die heutige Zeit belegen, laufen Kollektive avantgardistischer Künstlerpersönlichkeiten Gefahr, nicht nur in- tern ein mitunter problematisches Sozialverhalten auszuprägen, son- dern sich auch in ihrer ( künstlerisch begründeten oder ökonomisch erzwungenen) Abgrenzung von etablierten Institutionen und Traditio- nen der Vermittlung und Rezeption zu isolieren und in der Privatheit und Bequemlichkeit eines erweiterten Freundeskreises einzurichten. So fußen viele Konflikte mit konventionellen Ensembles und Musikern, auch wenn sich diese aus eigenem Interesse und ohne Druck der künstlerischen Leitung der zeitgenössischen Musik öffnen, nicht allein in der ästhe­tischen Uninformiertheit und handwerklichen Borniertheit der Akteure. Sie sind vor allem Zeugnis von monadisch gegeneinander abgeschlossenen Parallel­kulturen, in denen die wesentlichen Kategorien europäischer Kunstmusik­ – Komposition, Partitur, Interpretation, Aufführung, Werk – keine allgemeine Ver- bindlichkeit mehr haben, insofern sie in babylonischer Verwirrung der Begriffe und Funktionen unversöhnlich widersprüchlich gedeutet und gehandhabt werden. So ist der Grund für die Ausprägung des Typus des Composer Performer, der Komponist und aufführenden Musiker in Personal-uni- on verbindet, sowohl ästhetischer wie ökonomischer Natur. Zu-meist mit live-elektronischer Klangerzeugung ( David Tudor, David Behrman und Gordon Mumma stehen am Anfang einer längst unüberschaubar gewordenen Tradition) oder Stimmperformance ( Robert Ashley, Joan La Barbara) assoziiert, reagierten die Composer Performer seit den 1960er Jahren auf die Missachtung durch den eta-blierten Musikbe- trieb mit seinen Förderstrukturen, die in den USA mangels staatlichen Engagements fast ausschließlich auf privater Unterstützung beruhen und eine Tendenz zu programmatischer Beeinflussung und zu Reprä- sentation und Unterhaltung ausprägen. Der Composer Performer ist unabhängig von anderen Musikern, so dass Ensemble-Gagen und Probenzeit gespart werden. Als Autor der aufgeführten Musik kann er diese der jeweiligen Situation anpassen, und er ist offen für vielfältige Kooperationen ( mit Tanz, Film, etc.). Darüber hinaus agiert der Kom- ponist mitunter auch als Veranstalter und Produzent, wie Cage im Text der Verbalpartitur von Variations V ( 1965) notiert: »Veränderte Funktion des Komponisten: zum Telefon, um Geld zu beschaffen.« Um hier Energien zu bündeln, schloss man sich zu Kollektiven zusammen ( wie die ONCE Group, Sonic Arts Union, Bang On A Can) oder gründete eigene Ensembles ( z.B. Steve Reich and Musicians, Philip Glass Ensemble, Michael Nyman Band). Bezahlt wird diese Flexibilität mit der Verflüssigung des Werk- begriffes, da nicht mehr die Notwendigkeit besteht, eine Partitur zu fixieren, die als Aufführungsvorschrift sich an Musiker wendet, die nicht mit dem Komponisten in direktem Austausch stehen. In der Regel entstehen nur noch Notizen, die als Erinnerungsstütze dienen, die nicht veröffentlicht werden und daher schwer zugänglich sind, und die nach dem Tod des Komponisten kaum dazu angetan sind,

9 erneute Aufführungen zu ermöglichen. Wie auch im Bereich der Bil- denden Kunst, in der sich bei bestimmten Typen von aus werkimma- nenten Gründen unverkäuflichen Installationen ein Markt für reisen- de Künstler und Aufbauteams ausgebildet hat, wird die Musik der Composer Performer an die Gegenwart ihrer Autoren oder speziell instruierter Vertrauter gebunden. So entsteht eine in der Gründungs- phase dieser Musikform kaum vorhergesehene Situation von Exklusi- vität und historischer Kurzlebigkeit. Im Fall der 2009 verstorbenen Maryanne Amacher ergibt sich beispielsweise gegenwärtig das Prob- lem, dass Darbietungen ihrer Werke eher als Rekonstruktionen denn als Aufführungen gelten müssen.

Musik als Performance und Situation

Obwohl John Cage sich stets als Komponist im emphatischen Sinne verstand und für fast alle seine Werke Partituren anfertigte, beschreiben diese Partituren doch auch verschiedene Niveaus von Verbindlichkeit, entweder als Aufführungsvorschrift, als konzeptu- elle Anleitung zur Erstellung von Realisationen, als Element eines aus indeterminierter Überlagerung konstituiertem Ganzen oder schließlich als Dokument, das posterium der Performance erwuchs.4 So zeigte sich bereits bei den verhältnismäßig konventionellen frühen Werken für Präpariertes Klavier, »als die Musik mein [Cages] Zuhause verließ und von Klavier zu Klavier und von Pianist zu Pianist zog […], dass nicht nur zwei Pianisten grundlegend verschieden voneinander sind, sondern ebenso zwei Klaviere sich nie gleichen. Statt mit der Möglichkeit der Wiederholung sind wir im richtigen Leben mit der Einmaligkeit der Eigenschaften einer jeden Situation konfrontiert.«5 Diese Einzigartigkeit der Situation ist weniger durch die historische Bedingtheit der Dichtungsgummis, Trommelbremsen und elektroni- schen Geräte gegeben, die Cage in seinen Partituren vorschreibt, son- dern hauptsächlich durch die Emphase des Aspekts der Performance, die unerbittliche Gegenwart und Unwiederholbarkeit der Ereignisse einer Aufführung. Während wir in traditio­neller Musik gewohnt sind, durch die jeweilige Interpretation hindurch ein dieser und allen ande- ren möglichen Interpretationen verbindlich zugrundeliegendes Werk zu hören ( dies gilt ebenso für die Gefilde der populären Musik, wo Cover-Fassungen und Karaoke sonst nicht denkbar wären), findet sich bei Cage seit den 1950er Jahren in der Regel die Konzentration auf das unwiederholbar Gegenwärtige der Aufführung, das strukturell durch die Komposition, nicht sekundär durch Musiker und Konzert- situation gegeben ist. Das Verständnis von Musik als Performance ist vielleicht die prominenteste Konsequenz von Cage. Seine Distanz zu Tonkonserven, die er als der Natur der Musik nicht gemäß betrachtete,6 geht damit einher. 1958 äußerte er in seinem legendären, von Pausen durchsetz- ten Vortrag bei den Darmstädter Ferienkursen zu seinen damals aktu- ellen Kompositionen, sie seien keine »vorgefertigten Objekte […]. Sie

10 sind Gelegenheiten, um Erfahrungen zu machen, und diese Erfahrun- gen werden nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen gemacht. Das Ohr allein ist kein Geschöpf. Ich habe bemerkt, dass beim Hören einer Schallplatte meine Aufmerksamkeit zu einem sich bewegenden Gegenstand oder dem Spiel des Lichts wandert. […] Es wird evident, dass Musik eine ideale Situation ist, nicht eine reale.«7 Die Sprengkraft, die damals in dem unmittelbar folgenden Satz lag, ist heute kaum mehr nachzuvollziehen. Zur Selbstverständlichkeit ist nämlich inzwischen geworden, dass man das Bewusstsein gebrau- chen kann, um die Umgebungsgeräusche ebenso zu ignorieren wie alle Frequenzen, die nicht der temperierten Stimmung entsprachen, ebenso alle unerwünschten Klangfarben, um schließlich die zur Ver- fügung stehende Erfahrung zu kon­trollieren und zu verstehen [sic!], oder dass man umgekehrt den Wunsch aufgeben kann, das Geschaf- fene und seine Funktion zu verbessern und vielmehr als sensibler Empfänger Erfahrungen aufzunehmen. Nicht mehr sollte es um die musikalische Faktur gehen, die von der Aufführung für den Bereich des Hörens bloß artikuliert wurde, sondern um die Erfahrung der ge- samten, realen Situation, für die die Musik porös werden musste, um sich ihr zu öffnen. Die Entdeckung der Situation als Gegenstand ästhetischer Arbeit in einigen Strängen der Klang- und Installations- kunst gehört zu den Folgen dieser Haltung.

John Cage und die Folgen

Die eigentliche Konsequenz Cages liegt also nicht in der Adapti- on von Kompositionsmethoden durch Heerscharen von Epigonen oder dem Kotau vor Stille und Nicht-Intentionalität, sondern in dem grund- sätzlich gewandelten Bewusstsein der Rezipienten, die eine unwie- derholbare multisensorische Erfahrung machen. Statt ein Werk aus einer Aufführung zu filtern, setzen wir uns schonungslos dem Jetzt aus, statt regressiv der Erfüllung von Erwartungen zu frönen, hören wir Klänge an Stelle von Autorenintentionen, Narrationen oder Gefüh- len, die ausgedrückt und kommuniziert zu werden vorgeben: »Neue Musik: Neues Hören. Kein Versuch zu verstehen, was gesagt wurde, denn wenn etwas gesagt werden würde, hätten die Klänge die Form von Wörtern erhalten. Einfach Aufmerksamkeit für die Akti- vität von Klängen.«8 Damit wurde Cage zum Hanslick des 20. Jahrhun- derts und unternahm es wie dieser, »siegreiche Mauerbrecher gegen die verrottete Gefühlsästhetik auf den Kampfplatz zu tragen und einige Grundsteine für den künftigen Neubau bereitzulegen.«9 Dieser Neubau sollte kein System etablieren und Antworten geben, er sollte vielmehr Raum schaffen, um Fragen zu stellen und Handlungen auszuführen, deren Folgen unvorhersehbar sind. Experi- mental Music, zunächst von Cage als Beschreibung seiner Arbeit zurückgewiesen,10 wurde zum Leitbegriff einer Musik, die »Klänge sie selbst sein lässt, statt sie für den Ausdruck von Gefühlen und Ord- nungen zu missbrauchen.«11 Dabei beschreibt experimentell stets eine

11 ergebnisoffene Situation, nicht eine Handlung, die gelingen oder schei- tern kann. Das Experiment, als in das Sprachspiel der Avantgarde adaptiertes Verfahren der Wissenschaft, sollte von den 1960er Jahren an, insbesondere in der Folge Alvin Luciers, zum weit verbreiteten Modell avancierten Komponierens werden. Dabei erscheinen die Klän- ge allerdings oftmals wieder semantisch konnotiert, indem sie auf das naturwissenschaftliche Experiment als Grund ihrer Produktion verweisen. Dass Cage diesen Widerspruch in seinen Werken selbst austrug, wenn er, wie in Atlas Eclipticalis ( 1961/62), Tonkonstellationen aus Sternenkarten ableitete, und an Stelle von Gefühlsausdruck die »Übersetzung des gegenwärtigen Verständnisses von der Arbeitsweise der Natur in Kunst«12 setzte, sei ausdrücklich erwähnt. Dieser Wider- spruch führt über die didaktische Exemplifikation der Musik als Erfah- rungsgegenstand für im Sinne Cages aufgeklärte Hörer hinaus. Er gewinnt die Poesie zurück und öffnet eine neue Ebene ästhetischer Erfahrung der sonst bloß parametrisch kalkulierten Klangwelt. Wie der Ich-Erzähler am Ende von Camus‘ Der Fremde werden wir so »ange- sichts [einer] Nacht voller Zeichen und Sterne […] empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt.«13

1_ John Cage und Richard Kostelanetz: 6 _ John Cage und Richard Kostelanetz: A Conversation with John Cage [1967, 1968, 1970], Conversation about Radio, in: Musical Times, in: John Cage. An Anthology, hrsg. v. Richard Jg. 72, H. 2 ( 1986), S. 216-227, hier S. 224. Kostelanetz. New York: Praeger 1970, S. 6-35, hier S. 6; John Cage: Musicage. Cage muses on 7_ John Cage: Composition as Process. I. Changes words, art, music [1990-92], hrsg. v. Joan [1958], in: Cage, Silence. Lectures and Writings. Retallack. Hanover, New Hampshire: Wesleyan Hanover, New Hampshire: Wesleyan University University Press 1996, S. 90. Press 1961, S. 18-34, hier S. 31-32.

2 _ Vgl. Serge Guilbaut: Wie New York die Idee der 8_ John Cage: Experimental Music [1957], in: modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Cage, Silence, a.a.O., S. 7-12, hier S. 10. Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg. Übers. v. Ulla Biesenkamp. Amsterdam – 9 _ Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Dresden: Verlag der Kunst 1997. Orig. publ.: How Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der New York stole the idea of modern art, Chicago Tonkunst. Leipzig 1854. Reprint: Darmstadt Univ. Press 1983; Amy C. Beal: New music, 1991, S. V. new allies. American experimental music in West Germany from the zero hour to reunification. 10 _ Vgl. John Cage: Experimental Music, Berkeley, CA: University of California Press 2006. a.a.O., S. 7.

3 _ John Cage: Letter to Zurich [sic, 1991], in: 11 _ John Cage: History of Experimental Music in Cage, Writer. Previously uncollected pieces the United States [1958], in: Cage, Silence, hrsg. v. Richard Kostelanetz. New York: Limelight a.a.O., S. 67-75, hier S. 69. Editions 1993, S. 255-256. 12 _ John Cage: Experimental Music, a.a.O., S. 9. 4 _ Cages 1972 entstandene Verbalpartitur Variations VII trägt den Untertitel »7 statements 13 _ Albert Camus: Der Fremde [L‘Étranger, re a performance six years before« und 1940], übers. v. Georg Goyert und Hans Georg beschreibt Aufführungen im Oktober 1966. Brenner. Reinbek: Rowohlt 1969, S. 122.

5 _ John Cage: How the Piano Came to be Prepared [1972], in: Cage, Empty Words. Writings 1973-1978. Hanover, New Hampshire: Wesleyan University Press 1979, S. 7-9, hier S. 8.

12 Die Ambivalenz des Neuen

Wolfgang Rihm und der Wandel der Neuen Musik Unorthodoxe Komponisten als Jubilare – Paradoxien diesseits und jenseits des Zufälligen

von Rudolf Frisius

Es gibt zufällige Ereignisse und Ereignis-Konstellationen, bei denen man sich fragen kann, ob sie auch erhellendes Licht auf weniger Zufäl- liges lenken können. Dies gilt auch im Bereich der Neuen Musik, wenn dort die aktuelle Bedeutung von Jubiläen oder Gedenktagen zur Debatte steht, oft auch in mehr oder weniger paradoxen Konstellatio- nen. Anlässe zu solchen Überlegungen kann man auch im Jahre 2012 finden, in dem nicht nur der 100. Geburtstag von John Cage gefeiert wird, sondern auch der 60. Geburtstag von Wolfgang Rihm. Lassen sich – auch abseits von den Zufälligkeiten des Dezimalsystems und von zeitbedingten Besonderheiten des Kulturlebens – Gründe dafür finden, über die historische und aktuelle Bedeutung zweier so unter- schiedlicher Komponisten nachzudenken? Die Meinung, der Rang eines Komponisten bemesse sich weniger an dem, was er schafft, als an dem, was er abschafft, kann vielleicht heute ( wieder?) als altmodisch gelten. Im Falle von Cage und Rihm ist sie schon deswegen unbefriedigend, weil beide – und zwar in radika- ler Verschiedenheit – so Vielfältiges und Unterschiedliches produ- ziert haben, dass es sich durch pauschale negative Abgrenzungen nicht zureichend beschreiben lässt. Andererseits kann beim Nach- denken über beide auch deutlich werden, dass – zumindest im ersten Ansatz – oft leichter gesagt werden kann, was eine Musik nicht ist: Die Versuchung liegt nahe, Cage als nicht-intentionalen und Rihm als anti-konstruktivistischen Komponisten zu etikettieren. Solche Etiket- te könnten auch deswegen attraktiv erscheinen, weil sie vielleicht anregen zu Versuchen abgrenzender Profilierung: Cage, der Begründer der Geräusch- und der Zufallsmusik, als Rebell gegen das tonstruktu- relle Musikdenken seines Lehrers Schönberg – Rihm, der Pionier spontaneistisch-( neo-?)expressiven Komponierens, als Rebell gegen das integrativ-konstruktivistische serielle Musikdenken seines Leh- rers Stockhausen. Solche und ähnliche Abgrenzungen von Lehrer und

13 Schüler könnten – ungeachtet der Tatsache, dass Cage und Rihm auch andere Lehrer hatten – in gewissen Grenzen vordergründig plausibel erscheinen und vielleicht auch Gemeinsamkeiten zwischen den so abgegrenzten »Schülern« Cage und Rihm vortäuschen. An- dererseits können und sollten sie vielleicht zumindest dadurch wei- terhelfen, dass sie anregen zur genaueren kritischen Überprüfung. Radikalere Gegensätze als zwischen Kompositionen von Schön- berg oder Cage, von Stockhausen oder Rihm kann man sich zunächst nur schwer vorstellen: Schönberg geht von der Strukturierung eindeu- tig bestimmter Tonhöhen aus, Cage dagegen von Zeitstrukturen mit nur teilweise oder gar nicht vorbestimmten Klängen. Stockhausen geht aus von einer kompositorischen Idee, aus der ein vollständiges Werk oder sogar ein großer Werkzyklus logisch zwingend abgeleitet werden soll, während Rihm der spontanen, sich frei und unvorher- sehbar entwickelnden, sich direkt und in voller sinnlicher Konkre- tion äußernden kompositorischen Inspiration den Vorrang gibt ( nicht nur in einzelnen Werken, sondern auch bei der oft jahrelangen Aus- arbeitung von Werkzyklen mit Titelwörtern wie Klangbeschreibung oder Unbenannt; in Werken mit vorgegebenem Text, insbesondere für das Musiktheater, spielen indes Aspekte der Vorplanung oft eine grö- ßere Rolle). Weder Cage noch Rihm haben in offener Verbal-Rebellion gegen ihre Lehrer polemisiert, sondern allenfalls implizit in ihrer Musik: Cage ersetzte in Bacchanale Schönbergs zwölf Töne durch zwölf tonal unbestimmte präparierte Klavierklänge einer surrealistisch-pseudo- afrikanischen Experimentalmusik. Rihm zitierte in seinem Orchester- stück Sub-Kontur ein Formel-Fragment seines Lehrers im üppigen mollnahen Klangbild, verbunden mit ( nostalgischen?) Reminiszenzen älterer Neuer Musik. Beide, Cage und Rihm, versuchten ihre Lehrer gerade dadurch zu ehren, dass sie sich so weit wie möglich von ihnen entfernten, ohne dabei einerseits den Wert ihrer Anregungen, andererseits die Energie der Suche nach dem eigenen Weg zu verdrängen. Beide waren sich, jeder auf seine Weise, bewusst, dass ein jüngerer Komponist, der sich nicht verleugnen will, nicht ohne Weiteres in die Fußstapfen eines Älteren treten kann, sondern dass er auf der Suche nach sich selbst erst Weg und Richtung finden muss. Das kann selbst in der Suche nach alternativen Vorbildern deutlich werden ( z. B. Satie als Vorbild für Cage, Sibelius als Vorbild für Rihm). Entscheidend bleibt aber in jedem Fall die Frage, ob – und gegebenenfalls in welcher Weise – die Auseinander- setzung mit Älterem hilfreich sein kann bei der Suche nach Neuem. Schwierig ist schon die Frage, ob das, was Cage und Rihm such- ten, sinnvoll mit demselben Wort bezeichnet werden kann und sollte: Ist die Suche nach neuen Klängen vergleichbar mit der Suche nach einer neuen ( wiederbelebten?) Ausdrucksmusik? Die Überzeugung, dass beides untrennbar miteinander verbun- den bleiben sollte, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis ( mindestens) in die 1950er Jahre hinein wohl weiter verbreitet als später – auch in derjenigen Musik und bei denjenigen Komponisten,

14 die Wolfgang Rihm oft als Vorbilder und wichtige Anreger benannt hat: Debussy – Schönberg ( vor allem in seiner frei-atonalen Musik um 1910 ) – Busoni ( vor allem in der unkonventionellen Freiheit neuer ästhetischer Ansätze, nur partiell in seiner kompositorischen Praxis) – Varèse ( vor allem in der kühn innovativen Energie instrumentaler Werke wie Arcana, weniger in der Busonis theoretischen Spuren fol- genden Suche nach neuen technisch produzierten Klängen). Rihm war keineswegs der erste, der sich solchen Vorbildern ver- pflichtet fühlte, aber sie interessierten ihn in anderer Weise als seine Vorgänger: Die Freiheit, die sie versprachen, bezog Rihm nicht nur auf eine vor ihnen liegende künstlerische Vergangenheit, sondern auch auf neuere Tendenzen, die näher an seine eigene Gegenwart heran- führten: Dem Aufbruch der Neuen Musik des frühen 20. Jahrhunderts in neue Bereiche jenseits der traditionellen tonalen Musik waren re- lativ rasch Versuche der Etablierung neuer kompositorischer Ord- nung( en) gefolgt, die manchmal – auch in Schönbergs Zwölftonmu- sik – nicht frei blieben von Spuren der ( absichtlich versuchten oder vielleicht auch unabsichtlich erreichten, möglicherweise in beiden Fällen weitgehend illusionär bleibenden) Restauration. Junge Kompo- nisten der 1950er Jahre hatten sich dagegen mit Ansätzen eines radi- kal innovativen Konstruktivismus zu wehren versucht. Etwa ein Vier- teljahrhundert später war Wolfgang Rihm dann einer der ersten, die gegen diese ( einstige) Rebellion zu rebellieren versuchten: mit dem Appell zur Neubelebung frei-expressiven Komponierens als Gegen- wehr gegen ( angebliche oder tatsächliche) Ermüdungserscheinungen eines inzwischen etablierten und in vorgerückte Jahre ge- kommenen Konstruktivismus. Die damals beginnenden kontroversen Diskussionen konzentrierten sich rasch auf die Frage, ob die Opposi- tion der Jüngeren tatsächlich den Weg für Neueres bereiten oder nur der Rückkehr zu Älterem den Weg bereiten würde.

Eine kompositorische Entwicklung diesseits und jenseits der Avantgarde

Die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen musikalischer Ex- pressivität hat in der Neuen Musik Westdeutschlands vor allem in den 1970er Jahren eine merkwürdige Rolle gespielt, was zeitweise den Eindruck aufkommen ließ, die Musik einiger junger westdeutscher Komponisten tendiere zur Herauslösung aus internationalen Kontex- ten der Musikentwicklung und es beginne eine nationale Sonderent- wicklung, die sich vielleicht sogar auch als Distanzierung von der bis dahin vorherrschenden internationalen Offenheit und Vielseitigkeit artikulieren könnte. Wolfgang Rihm, der wohl produktivste und profi- lierteste Vertreter der damals rebellierenden westdeutschen »Jung- komponisten«, hat allerdings viel dazu beigetragen, dass es so weit nicht gekommen ist. Er, der in seiner Musik schon frühzeitig eigene Positionen bezogen hatte, hat in der Kommunikation mit anderen, auch mit entschieden anders Denkenden, bald mit entwaffnender

15 Freundlichkeit, bald einfallsreich und flexibel argumentierend das Diskussionsklima verändert und zur ideologischen Entkrampfung bei- getragen – und im Laufe seiner kompositorischen Entwicklung ist deutlich geworden, dass er sich nicht nur mit traditioneller Musik und mit frei-expressiver Musik des 20. Jahrhunderts intensiv auseinan- dergesetzt hat, sondern auch mit der Musik profilierter Komponisten der jungen Generation nach 1945 ( nicht nur Stockhausen, sondern beispielsweise auch Nono, Feldman und Boulez gehören zu den älte- ren Komponisten, mit denen er intensiv kommuniziert und denen er Werke gewidmet hat). Dabei war wichtig, dass Rihm nicht nur verbal, sondern auch in der Musik selbst sich undogmatisch zeigte. Auf das Bild des inbrünstigen Ausdrucksmusikers, das seine ersten spektaku- lären Uraufführungen vermitteln konnten, wollte er sich nie festlegen lassen. Schon in seinen Jugendwerken finden sich prägnante Beispiele dafür, dass es zwischen heftigsten Ausbrüchen und äußerster lyri- scher Zartheit auch vielfältige, sogar bisweilen witzig-verschmitzte Zwischentöne geben kann ( deren Spuren von Jugendwerken bis in die frühe 1. Kammeroper Faust und Yorick und darüber hinaus geführt haben, beispielsweise bis zu einer mit historisch-populärmusikali- schen Anklängen spielenden Music-Hall-Suite, 1979, und zu zahlrei- chen ironisch verspielten Klavierwalzern). Heinz Klaus Metzger, der strenge Musikkritiker und Musikphilo- soph im Geiste Adornos, hat einmal erzählt, wie er mit dem jun- gen Wolfgang Rihm über seine Musik ins Gespräch gekommen ist. Die Musik, die er zu lesen bekam, war notiert mit vielen Zeichen für häufig zu wiederholende Figuren. Was Metzger davon hielt, machte er deutlich, indem er bereitwillig das dafür verbreitete Spottwort »Faulenzer« übernahm. Rihm hat ihn dann aber geduldig erklärt, wor- um es ihm dabei ging: um die Artikulation manischer Expressivität. Diese Zeichen waren im Sinne orthodoxer Nachkriegs-Avantgarde- Ästhetik musikalisch inkorrekt, aber das hat Rihm damals ( und auch später) offensichtlich nicht gestört. Diese ( keineswegs nai- ve) unorthodoxe Unbefangenheit im Umgang mit Konventionellem fin- det man schon in Werken, die frühzeitig noch in Rihms Schulzeit entstanden sind, beispielsweise in einem Zyklus von 1966/67 ent­ standenen Préludes. Im ersten Stück, das wie ein pentatonisch ver- rutschtes Klavierstimmer-Präludium beginnt und sich dann im Zwie- licht chromatisch dagegen gespannter Basstöne fortsetzt, mehrfach changierend zwischen verschiedenen Tonarten – in einem anderen, locker tänzelnden Stück mit verfremdenden Farbtupfern einzelner keck hineingesetzter hoher Töne. Hier – wie auch noch in vielen späteren Werken Rihms – erschienen selbst scheinbar be- kannte Tonbeziehungen immer wieder aufgefrischt durch ungewöhn- liche Zutaten oder formale Kontexte. In dem 1979 entstandenen Ländler für Klavier ( zu dem später auch eine sparsam orchestrierte Fassung entstanden ist) wird eine nostalgisch leise, windschief ver- fremdete ( pseudo-)tonale Musik immer wieder ins Stocken gebracht durch einzelne Töne, die den harmonischen Fluss bald anhalten wie in einem Trugschluss, bald umlenken in andere Bereiche. Im 3. Stück

16 eines in den 1992 begonnenen Zyklus mit dem Obertitel Vers une sym- phonie fleuve erkennt man Elemente des Unterbrechens und Anhal- tens nicht als fremd ( über an Tonales erinnernden Grundharmonien) hinzutretende Einzeltöne, sondern als vereinzelt, aber in prägnanten Kontrasten hinzugefügte Konfigurationen: leise, kurze Ketten tonaler Dreiklänge hoher Streicher, die sich den dunklen Klangströmen ande- rer Instrumentalgruppen überlagern wie etwas einst Vertrautes, aber inzwischen fremd Gewordenes. So eigenwillige und originelle Dialektik im Umgang mit Neuarti- gem und Fremdem findet man oft bei Rihm ( beispielsweise auch in einigen 1999 entstandenen kurzen Klavierstücken, die sich unter dem zyklischen Titel Zwiesprache an verstorbene Freunde richten), aller- dings nicht in allen seinen Entwicklungsphasen: Bekannt wurde er seit den mittleren 1970er Jahren, zu einer Zeit, als er mit skan- dalträchtigen Konfrontationen des Alten und Neuen provozierte – beispielsweise mit einem sehr langsam und wuchtig anschwellen- den Basston, wenig später mit einer extrem langen Pause und dann mit einem unvermittelt und extrem laut einsetzenden Tutti-Akkord zu Beginn der 1975 entstandenen Zweiten Symphonie. Zwei chromatisch gegeneinander gesetzte Töne ( oder Tonarten?) und ein kolossaler Dur-Moll-Mischklang erscheinen hier gleichsam als plakative Ver- kürzung und Umfunktionierung von Anfang und Ende eines spät- romantischen Vorbilds, der symphonischen Dichtung Also sprach Zarathustra von Richard Strauss. Das ebenfalls 1975 entstandene Klavierstück V ( Tombeau), das als Gedenkmusik für Ingeborg Bach- mann entstanden ist, beginnt mit einer Übertragung dieses Anfangs- effekts auf den Konzertflügel: Ein donnerndes, in tiefer Lage okta- viertes c, das langsam ausklingt – wie ein monumentales Trüm- mer-Bruchstück der Tonart c-Moll, die dann später ausdrücklich, aber in wilden Repetitionen verfremdet erscheint, in chromatische und figurative Turbulenzen gerät und, noch später, nach tumultös kontras- tierenden Kontrastpassagen reprisenartig wiederkehrt, schließlich in Bruchstücken einer Coda zerfällt. In dem derselben Schaffensperiode entstammenden III. Streich- quartett ( Im Innersten) ( 1976) erscheinen Allusionen an ( scheinbar) Bekanntes in andersartigen Kontrastwirkungen, deren Vorformen man schon in einem früheren monumentalen Orchesterwerk finden kann, das 1973/74 entstanden ist und dessen erfolgreiche Donau- eschinger Uraufführung im Jahre 1974 als wichtiger Durchbruch in Rihms Karriere angesehen werden kann: Das aus vielen, teilweise ineinander verschachtelten Einzelsätzen bestehende dritte Streich- quartett und das siebensätzige Werk Morphonie ( 1972/…) – Sektor IV für Orchester mit Solo-Streichquartett ( 1973/74) sind geprägt von drastischen Gegensätzen zwischen heftig ausbrechenden und lyrisch beruhigenden Passagen. Letztere zeigen besonders deutliche An- spielungen an Vergangenes: Ruhig fließende Tonbewegungen im Orchesterstück – weiträumig aufsteigende Melodien wie in einer Zwölftonreihe des späten Alban Berg, an den auch die Allintervall- Struktur und das Zentralintervall mit seinen biographisch verschlüs-

17 selten Initialen erinnern. Im Streichquartett reichen die historischen Reminiszenzen noch weiter zurück: Das Stück beginnt mit einem extensiv auskomponierten Konflikt zwischen zwei chromatisch be- nachbarten Tönen: as und g – in vielfältigen Umspielungen, gleichsam als komplex kontrastierendes Gegenmodell zum provozierend einfa- chen Beginn der Zweiten Sinfonie ( mit des und c): Zu Beginn der Sin- fonie erscheint ein Kontrast zwischen extrem lauten Einzelereignis- sen: Ein tiefer, im Zentrum akzentuierter Einzelton als massiver Schwellklang – eine nach langer Pause einen Halbton tiefer jäh einsetzende, den gesamten Tonraum erfüllende Akkordballung. Im Streichquartett erscheint ein ganz anderer Leittonkontrast: überwu- chert von dichten Tonkaskaden – eingeschmolzen in eine größere For- mentwicklung, die nicht in energische Eruptionen mündet, sondern in lyrische Beruhigung mit deutlichen Anklängen an längst vergangene tonale Musik in C-Dur. Der stark hervorgehobene Ton g erscheint hier, ähnlich wie übrigens auch mehrfach im Klavierstück V, oft als Domi- nante zum Grundton c. Solche und ähnliche Stellen könnten die Frage provozieren, ob hier die Hinwendung zur Ausdrucksmusik sich als Rückwendung zu Ausdrucksidealen früherer Zeiten artikulieren kann und soll – mit retrospektiven Allusionen, anderwärts auch mit direkten ( meistens verfremdeten) Zitaten. Diese Extremposition hat Rihm allerdings kei- neswegs verabsolutiert und längerfristig zementiert: Schon 1978, in seinem ersten offiziellen Vortrag auf den Darmstädter Ferien- kursen, hat er vor übertrieben deklarierter und verabsolutierter Emo- tionalität gewarnt. Einige Jahre später hat er mir versichert, die ( oft als emotionale Symbole eingesetzten) Zitate seien aus seiner Musik verschwunden. Inzwischen hatten sich in seiner kompositorischen Entwicklung die Akzente verschoben – in eine Richtung, die sich erst- mals im 1980 entstandenen Klavierstück VII angedeutet hat. Auch dort gibt es noch spektakuläre retrospektiv-stilistische Anspielungen und ( Quasi-)Zitate, aber in anderem Kontext als zuvor: nicht als pla- kative oder breit ausgeformte Kontraste, sondern als blitzartige Aus- brüche aus einer ganz andersartigen Musik, deren unverwechselba- res Gepräge schon in den ersten beiden Tönen des Stückes deutlich erkennbar wird: Zwei gegensätzliche Anfangstöne einer markan- ten oktavierten Melodie – der erste kurz und scharf akzentuiert, der zweite leise und länger ausgehalten. Diese Figur präsentiert auf knappstem Raum, was Rihm später als Chiffre bezeichnet hat: mit einem Wort, das später zum Titel eines instrumentalen Ensemble- stücks wurde, der Keimzelle eines Chiffre-Zyklus mit wechselnden instrumentalen Besetzungen. Klavierstück VII ist vollständig geprägt von der Klang-Chiffre, mit der die Musik beginnt, aber die Musik ist gleichwohl alles andere als monoton: mit zahlreichen Wechseln der Binnen-Intervalle, der Tonla- gen und der rhythmischen Profile, mit Einschüben und Abweichungen, mit im Verlaufe des Stücke zunehmend häufiger und deutlicher sich herausbildenden Anspielungen an ( scheinbar oder tatsächlich) Be- kanntes, z. B. Triller und Tremoli, punktierte Rhythmen oder brüsk

18 ornamentierte Töne ( wie zu Beginn des Hauptthemas des ersten Sat- zes von Beethovens letzter Klaviersonate op. 111). Diese und ähnliche ( kleineren und größeren) Ausbrüche, die oft ebenso rasch auftreten wie kurz darauf wieder verschwinden, bereiten den Weg zum plötzlich überraschenden Ausbruch eines wild gehämmerten Es-Dur-Drei- klanges ( bei dem Rihm an den verzweifelt auf dem Klavier herumdon- nernden Hauptdarsteller eines alten Beethoven-Films dachte) – eines Akkordes, der kurz tonal weitergeführt wird, dann aber unvermit- telt mit vermehrter Kraft wiederkehrt, bis schließlich die Musik ins Stocken gerät und dann zu einem paradox ruhigen Abschluss führt. In dieser Musik wechseln Altes und Neues, Konsistentes und Disparates, Exzessives und Gebändigtes in immer neuen Konstellati- onen so, dass die Prägnanz der Klänge und Klangkonstellationen ins Zentrum rückt und stilistische Allusionen nur als ein Merkmal unter vielen gehört werden können. Morphologie und Ausdruckskraft der einzelnen Klangzeichen gewinnen hier und in vielen später ent- standenen Stücken an Bedeutung – als zentrale musiksprachliche Elemente einer zweiten, vor allem die 1980er Jahre prägenden Perio- de, der dann später seit den 1990er Jahren neue Ansätze einer stär- ker kontinuierlichen, auf Klangfluss und Linearität konzentrierten Formentwicklung gefolgt sind. Bedeutsam war und ist, dass diese kompositorische Entwick- lung zunächst jenseits der streng avantgardistischen Musikszene begonnen und auch später den Kontakt zu anderen ( auch oder sogar vorwiegend traditioneller Musik verbundenen) Bereichen nie ganz verloren hat. Rihm hat sich in seiner Musik fast ausnahmslos mit traditionell etablierten Klangmitteln und Aufführungsformen be- gnügt und Musik nicht nur für spezielle Avantgarde-Veranstaltungen geschrieben, sondern auch für der traditionellen Musik und Musik- praxis näher stehende Aufführungszwecke, oft sogar in Programm- kombinationen mit traditioneller Musik ( im Wechsel von Stück zu Stück, bisweilen sogar mit neu komponierten Interpolationen in oder komponierten Kommentaren zu älterer Musik). Rihm hat aktuelle kompositorische Beiträge nicht nur zur Klavier-, Kammer-, Ensemble- und Orchestermusik geleistet, sondern auch zum Musiktheater ( mit so unterschiedlichen Beiträgen wie der viel gespielten 2. Kam- meroper, der hochexpressiven Künstleroper Jakob Lenz nach Georg Büchner, oder Hamletmaschine nach ( Shakespeare und) Heiner Müller oder Ödipus nach Sophokles/Hölderlin, Nietzsche und Heiner Müller oder Die Eroberung von Mexiko nach Antonin Artaud und Octa- vio Paz), sogar zur vokalen oder vokal-instrumentalen geistlichen Musik für Konzertsaal oder Kirche. Rihm ist ein undogmatischer und vielseitiger, intensiv produktiver und facettenreicher Exponent einer Neuen Musik diesseits und jen- seits der Avantgarde, die offen ist für Altes und Neues, für Prägnanz und Intensität, für direkte Zugänglichkeit und den Mut zur Komplexität.

19 20 Das Berliner Künstlerprogramm des DAAD

Musik-Stipendiaten im Kontext

von Frank Gertich

Seit 1963 lädt das Berliner Künstlerprogramm des DAAD (bis 1965 »Artists-in-Residence«-Programm der Ford Foundation) Kreative von Weltrang auf jeweils ein Jahr nach Berlin ein. Das Programm vergibt seine Stipendien in verschiedenen Sparten – heute sind das Bildende Kunst, Literatur, Film und Musik –, mit dem ausdrücklichen Anspruch, durch diese interdisziplinäre Disposition Begegnungen zwischen den Künsten zu vermitteln. Die von der seit vielen Jahren durch Ingrid Beirer betreuten Musikabteilung eingeladenen Künstler und die von ihr organisierten Konzertveranstaltungen, darunter das Festival »Inventionen«, prägen das Musikleben der Stadt nachhaltig. Die folgende Graphik stellt die Komponisten und Musikerinnen vor den Hintergrund der Gäste der anderen Sparten und in den Kon- text einiger ausgewählter, vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD besonders geförderter musikalischer Spielarten und Gruppierungen. Komponisten und Komponistinnen, deren Werke im Rahmen der dies- jährigen MaerzMusik zur Aufführung kommen, sind rot markiert. 1

1_ Text und Gestaltung: form.inhalt (Frank Gertich)

21 1 9 6 3 1969 1 9 7 1 9 7 3 1 9 6 4 1 9 7 5

1965 1 9 7 6

1966 1 9 7 4 1 9 6 7

1970 1972 1968 1 9 8 3 1 9 8 2 1 9 8 4 1 9 8 1 9 8 5 1 9 7 1 9 8 0 1986 1978 1 9 8 7 1 9 7 1 9 2 1 9 5 1 9 1 9 6 1 9 0 1 9 7 1 9 3 1 9 8 1 9 8 1994 1 9 8 1999 2012 2010 2011 2008 2009

2006 2007

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Herausgeber: Berliner Festspiele Intendant: Dr. Thomas Oberender Künstlerische Leitung: Matthias Osterwold Redaktion: Melanie Uerlings Produktion: Bernd Krüger Graphik: Studio CRR, Christian Riis Ruggaber, Zürich Gesamtherstellung: Enka Druck, Berlin

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