Der Doppelaspekt Von Materialität Und Immaterialität in Den Werken Der
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DER DOPPELASPEKT VON MATERIALITÄT UND IMMATERIALITÄT IN DEN WERKEN DER ZERO-KÜNSTLER 1957–67 ULRIKE SCHMITT Diese Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Inaugural- Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades im Fach Kunstgeschichte angenommen. Sie ist auf dem Kölner Universitäts Publikations Server (KUPS) http://kups.ub.uni-koeln.de abrufbar. In dieser Ausgabe wird aus rechtlichen Gründen auf Abbildungen verzichtet. Erster Referent: Apl. Prof. Dr. Günter Herzog Zweiter Referent: Prof. Dr. Stefan Grohé Mündliche Prüfung: 21.12.2011 Online-Publikation: 23.04.2013 © 2013 Ulrike Schmitt; [email protected] INHALTSVERZEICHNIS I. EINLEITUNG 1 II. FORSCHUNGSSTAND 6 III. METHODISCHE GRUNDLAGEN – EINFÜHRUNG IN DIE PROBLEMSTELLUNG 14 IV. DIE ZERO-BEWEGUNG IM KONTEXT DER KUNST NACH 1945 24 ZWISCHEN TRADITION UND FORTSCHRITT 26 NEUBEGINN DES KULTURLEBENS: PRIVATE INITIATIVEN UND VEREINE 28 AUFGABEN DER NEUEN KUNST 29 DIE GROßEN VORBILDER FRANKREICH UND AMERIKA 33 KUNSTSZENE IN WESTDEUTSCHLAND: DÜSSELDORF UND FRANKFURT 35 KÜNSTLERISCHE ANFÄNGE 37 ABENDAUSSTELLUNGEN 38 ZERO INTERNATIONAL 41 ZENIT UND ENDE 43 V. DER ASPEKT DER IMMATERIALITÄT IN DER KUNST DES 20. JAHRHUNDERTS 45 VI. ANALYSE EINZELNER WERKPHASEN 55 WANDFIXIERTE ARBEITEN 56 Lichtwert der Farbe 58 Struktur Lichtwert und Reallicht – Bilder aus Licht und Schatten 72 Struktur, Licht – reflektiertes, geformtes, in Bewegung versetztes Licht 98 DIE EROBERUNG DES REALRAUMES – RAUMOBJEKTE 106 Licht, Reflexion, Transparenz, Geräusch und Raum 106 Dynamik und Vibration, Raum und Zeit 116 KUNSTRÄUME UND WERKE IM FREIEN RAUM 122 Orte der Schwerelosigkeit 122 Licht und Dunkelheit, Stille und Geräusch 124 Aufhebung räumlicher Dimensionen - Räume der Unendlichkeit 137 Große Projekte unter freiem Himmel – Stadt und Natur als „Kunstraum“ 143 VII. UMSETZUNG DER IMMATERIALITÄT – KÜNSTLERISCHE GRUNDPRINZIPIEN 171 MONOCHROMIE 171 STRUKTUR – RHYTHMUS UND DYNAMIK 187 LICHT UND BEWEGUNG 199 WERK UND RAUM 209 VIII. IMMATERIALITÄT ALS ÄSTHETISCHE KATEGORIE 218 IMMATERIALITÄT ALS ERLEBNIS DES SCHÖNEN 221 SENSIBILITÄT UND INTERAKTION 230 RAUM FÜR UTOPIEN – DIE ZUKUNFT IN DER HAND DER KUNST 235 IX. FAZIT 249 LITERATUR 259 LEBENSLAUF 292 „Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren – das Hörbare am Unhörbaren – das Fühlbare am Unfühlbaren. Vielleicht das Denkbare am Undenkbaren –.“1 Novalis I. EINLEITUNG „Die neue Kunst entnimmt ihre Elemente der Natur. Dasein, Natur und Materie bilden eine vollkommene Einheit. Sie entfalten sich in Zeit und Raum. Der Wechsel ist die Grundbedingung des Daseins. Die Bewegung, die Fähigkeit, sich zu entwickeln und zu entfalten, ist die Grundbedingung der Materie. Denn sie besteht in Bewegung und in nichts anderem. Sie entwickelt sich ewig weiter. Farbe und Klang sind in der Natur an die Materie gebunden. Materie, Farbe und Klang in ihrer Bewegtheit sind die Phänomene, deren gleichzeitige Entwicklung die Aufgabe der neuen Kunst ist.“2 Die im „Weißen Manifest“ von 1946 für die Kunst der Zukunft prophezeiten Visionen sollten sich knapp zehn Jahre später mit den Werken der ZERO-Künstler tatsächlich bewahrheiten: Vibrierende Lichtfelder, aus polierter Metallfolie und semitransparenten Aluminiumnetzen, aus Spiegeln, Plexiglas oder optischen Linsen zusammengesetzte Apparaturen, perforierte Stoffballons und benagelte Objekte, die auf unsichtbaren Sockeln ruhten oder mitten im Raum frei schwebten, durch integrierte Lampen oder Scheinwerfer erleuchtet, durch den Luftzug oder leise ratternde Motoren in Bewegung versetzt. Auffallendes Merkmal neben dem Einsatz innovativer, kunstfremder Materialien ist die Konzentration auf instabile und 1 Novalis (Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg): Werke und Briefe, hg. v. Alfred Kelletat, München 1962, S. 447. [Novalis 1962]. 2 Lucio Fontana (u. a.): „Weißes Manifest“ (1946), in: Charles Harrison; Paul Wood (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Ostfildern-Ruit 2003, S. 780–784, hier S. 782 f. [Fontana (1946) 2003]. 1 flüchtige Substanzen, wie Feuer, Rauch, Eis, Wasser, Nebel, Wind, Geräusche und Licht, wodurch viele der Werke nur während eines kurzen Zeitraums existierten. Die vorliegende Untersuchung setzt sich das Ziel, dieses grundlegend neue Verhältnis der ZERO-Künstler zum Material zu analysieren. Ausgegangen wird dabei von der These, in den Arbeiten zeichne sich eine zunehmende Tendenz zur materiellen Reduktion zugunsten einer immer stärkeren Gewichtung der Faktoren Raum, Zeit und Licht ab. Nicht mehr allein der Künstler generiert die Form, sondern die Materialien selbst rufen im Zusammenspiel mit den auf sie einwirkenden Kräften und Energien unabhängige, mit der Zeit veränderliche Konstellationen hervor, die die tatsächliche Struktur überblenden, so dass sich das Werk erfassen lässt als das zeitweilig die Objektgrenzen Überschreitende, das, was bei der Betrachtung aktuell in Erscheinung tritt. Insofern sind die Arbeiten als Modulations- und Artikulationsflächen zu verstehen: Licht und Schatten sind ihre eigentlichen Werkstoffe. Die Künstler äußern in ihren Stellungnahmen immer wieder die Absicht, Werke zu schaffen, die ein „Vergessenlassen der physischen Dimension“3 und das Erleben des 'Immateriellen' ermöglichen, das vorstellbar wird als eine die Objekte umhüllende, sich räumlich ausbreitende Energie. Die gezielte Materialwahl und eine bestimmte Anordnung der Elemente tragen zur optischen Überwindung des Materiellen bei. Otto Piene schreibt hierzu: „Das Bild wird zum Schwingungsfeld, zur Erscheinung reiner Energie. Es ist nicht mehr vernagelt und versperrt, es ist offen, weit, Farbraum, ganz nah und ganz fern zugleich. […] das Bild ist ein Plan der Freiheit, eine Bestätigung des Lebendigen.“4Die Arbeiten der ZERO- Künstler verstehen sich nicht als Medien der Repräsentation, sie sind keine 'Endprodukte', sondern offenbaren sich als Prozess: sie sind weder räumlich noch zeitlich fixiert. Bei ihnen zählen das Nicht-Sichtbare, Noch-nicht-Entstandene letztlich mehr als das unmittelbar Gegebene. Das tatsächlich auf der Bildfläche Vorhandene wird durch etwas ergänzt, das nicht real zu greifen ist, sondern beim Rezeptionsakt auf kognitiver Ebene in Erscheinung tritt.Die Tatsache, dass Kunstwerke über mehrere, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Daseinsformen verfügen, zählt zu den Grundannahmen der Kunsttheorie. Auf vielfältige Weise versuchen Künstler, Philosophen und Wissenschaftler das Erleben solch wechselnder Konstellationen ein und desselben Objektes und das Auftauchen und Verschwinden von Eindrücken zu beschreiben und zu erklären; es ist die Rede vom Unsichtbaren, Unbekannten und Unbestimmten, vom Unendlichen, Unwirklichen und 3 Enrico Castellani, in: Carla Lonzi: Selbstbildnis. Autoritratto. Zur Situation der italienischen Kunst um 1967, Bern 2000, S. 210. [Lonzi 2000]. 4 Otto Piene: „Lichtballett“, urspr. in Kat. Otto Piene: Ölbilder, Rauchzeichnungen, Lichtmodelle, Lichtballett, Galerie Diogenes, Berlin, Februar/März 1960, wiederabgedruckt in: Kat. ZERO aus Deutschland 1957- 1966. Und heute, hg. v. Renate Wiehager, Galerie der Stadt Esslingen, Villa Merkel, Ostfildern bei Stuttgart 2000, S. 250. [Piene (1960) 2000]. 2 Rätselhaften. Gottfried Boehm und Bernhard Waldenfels erfassen diesen Doppelstatus der Werke mit dem Modell der „ikonischen“ bzw. „pikturalen Differenz“5, Lambert Wiesing spricht von einer „artifiziellen Präsenz“6 der Kunstwerke. Boehm wiederum kommt zu dem Schluss, die Realität des Bildes sei, wie auch immer sie sich präsentiere, „nichts anderes als ein 'Substrat aus Material'. Aus dem allerdings etwas ganz anderes, etwas 'Immaterielles' […] aufsteigt, ohne sich je von diesem Grund zu lösen“ - Bilder seien „spannungsgeladene real-irreale Körper.“7 Richtete sich traditionell das Augenmerk der Künstler in erster Linie auf die formale Gestaltung des Bildobjekts, insbesondere auf die Genauigkeit der Darstellung, während die beim Betrachter ausgelöste Wirkung nur von sekundärer Bedeutung war, so kam es nach 1945 zu einer Verschiebung in Richtung des wahrnehmenden Subjekts. Intensiver als jemals zuvor wurde nun über die Beziehung zwischen Kunstwerk und Betrachter reflektiert. Erstmals in aller Deutlichkeit zeichneten sich diese Tendenzen in der europäischen Nachkriegskunst mit der 1957 in Düsseldorf begründeten ZERO-Bewegung ab. Deren Arbeiten vermitteln keinen außerhalb ihrer selbst liegenden Sachverhalt, sie erlauben kein konstatierendes, „wiedererkennendes Sehen“, sondern lösen ein unkontrollierbares „sehendes Sehen“8 aus. Einflüsse aus der Umgebung, vor allem aber der Rezipient selbst wirken als bildkonstituierende Faktoren: Der Vorgang der Bildanschauung wird zum unabschließbaren Ereignis. Die durch ständig ändernde Seh-Konstellationen in kontinuierlichem Fluss befindlichen Werke verkörpern das Ideal einer maximal variablen Kunst und werden Quelle unendlich vieler Erlebnismöglichkeiten. Alles Eindeutige, Endgültige wird ad acta gelegt: die Aufmerksamkeit gilt nicht der festen, greifbaren Materie, sondern dem nicht definierten 'Dazwischen', das mehr zählt als das Substanzielle selbst. 'Dynamik' und 'Bewegung' sind hier nicht mehr rein bildinterne, aus dem Dargestellten resultierende, sondern von der Materie losgelöste Eigenschaften. Ihr Ursprung verlagert sich mit einer zunehmenden Öffnung und Entleerung vermehrt zum Außerhalb der Werke, in den Betrachter: sie bestehen aus „reiner Sichtbarkeit“9. 5 Gottfried Boehm: „Die Wiederkehr der Bilder“, in: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild? München