Heinz Jolles-Anhang
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Heinz Jolles Für das Fach Klavier ging ich nicht zu Georg Bertram. Es mag die Scheu gewesen sein, ihn durch seine voraussehbare Ablehnung in Verlegenheit zu bringen. So hat dieser nicht bloß in seiner Güte einzigartige Musiker nur dies eine so entscheidende Mal in mein Leben eingegriffen. Auch Vater Ullmann drängte mich nicht, es bei Bertram zu versuchen, obwohl es seinerzeit sein erster Vorschlag war. Herr Ullmann schenkte mir nicht nur das zweieinhalbjährige Studium in Berlin, sondern dazu auch die Erlaubnis, über alle Einzelheiten selbst zu entscheiden – kurzum: Er schenkte mir Freiheit! So legt mich das freundliche Schicksal einem anderen Mann in die Hände, dem jungen und erstes Aufsehen erregenden Pianisten Heinz Jolles. 1 Sohn wohlhabender Eltern, in weiträumiger Wohnung lebend, nimmt er mich vom ersten Augenblick an durch seine Jugendlichkeit, seine heitere Offenheit, seine sprühende Intelligenz, über alles aber durch seine tiefe Einsicht in das Wesen der Musik ein. Mit „sanfter Gewalt“ (dies Wort von Stifter wird mein ganzes Leben weiter lenken) gelingt es ihm, mich zu systematischerem Üben zu bewegen. Er ist der erste, der den Sinn für das Atmen der Musik in mir weckt, jenes Element allen Lebens und aller Künste, das auch ein Hauptthema dieses Buches ist. Er lehrt mich, daß die Arbeit nicht getan ist, wenn man die vorgeschriebenen Töne gleichmäßig im rechten Tempo und in der rechten Lautstärke, auch noch nicht, wenn man sie mit einiger Wärme, Leidenschaftlichkeit und von vermeintlichem Sinn erfüllt spielen kann. Da beginne erst die eigentliche Arbeit. Nun heiße es, den einmal buchstabierten „Text“ auch zu „lesen“! Die Musik sei der Lebensatem, den der Adam von der Decke der Sixtinischen Kapelle Michelangelos durch die kaum stattfindende Berührung des Gottesfingers empfange. Mir leiht Jolles durch Kommas, Haken, einzelne Wörter seiner Hand beispielsweise in der für solcherlei Hexenkünste besonders geeigneten Es-Dur-Sonate op. 31,1 von Beethoven seinen deutenden Finger. Die allwöchentliche Lektion von einer Dreiviertelstunde wächst sich dabei allmählich zu zweieinhalb Stunden aus. Jolles füllt sie aus und erfüllt sie, indem er vieles mir bis dahin Unbekannte vorspielt und deutet und über dessen Form und Gehalt spricht. Manches Mozart-Klavierkonzert spielt er mit mir zusammen an zwei Flügeln, er als Meister den Solopart, ich nun als Lehrling den des Orchesters. So sehr Heinz Jolles mein Bewußtsein vom Wesen der Musik vertiefte, so sehr er auch strengeres Üben forderte, so sehr spürte ich doch, daß ich fürs bloße Klavierspiel einer härteren Zucht bedurfte. Aus den Gesprächen darüber mit Max Marschalk folgte, daß ich zusätzlich rein technisch ausgerichteten Klavierunterricht nahm. (aus: Berthold Lehmann, „Musikwärts auf vielerlei Wegen“, hg. von Michael Lehmann, Verlag Achim Freudenstein, Oktober 2009, ISBN 978-3-932435-44-7) 1 Heinz Jolles (1902-1965), Pianist und Komponist, Schüler von Edwin Fischer, Artur Schnabel und Kurt Weill; 1928 Professor für Klavier an der Kölner Musikhochschule; 1933 aus allen Ämtern entlassen, Zuflucht in Paris, 1940 als Henry Jolles in Brasilien; 1952 Professor in Sao Paulo; nach 1945 wieder Konzerte in Europa, ab 1950 in Deutschland. – Von einer etwaigen späteren Begegnung B.L.s mit Jolles, von einem etwaigen Konzert-Engagement oder nur von B.L.s Kenntnis seines Lebenswegs während und nach der Nazizeit ist nichts bekannt. .