Plenarprotokoll 15/40

Deutscher

Stenografischer Bericht

40. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Inhalt:

Wahl der Abgeordneten Manfred Helmut CDU/CSU: Strikte Einhaltung des Zöllmer und Dr. Hans Ulrich Krüger als geltenden europäischen Stabilitäts- stellvertretende Mitglieder des Beirates bei und Wachstumspaktes der Regulierungsbehörde für Telekommuni- (Drucksache 15/541) ...... 3262 D kation und Post ...... 3241 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Finanzausschusses zu der Unterrich- nung ...... 3241 B tung durch die Bundesregierung: Ent- schließung des Europäischen Parla- ments zu der jährlichen Bewertung Tagesordnungspunkt 3: der Durchführung der Stabilitäts- Unterrichtung durch die Bundesregierung: und Konvergenzprogramme (Art. 99 Bericht zur technologischen Leistungs- Abs. 4 EG-Vertrag) (2002/2016 (INI)) fähigkeit Deutschlands 2002 und Stel- (Drucksachen 15/345 Nr. 34, 15/737) 3263 A lungnahme der Bundesregierung CDU/CSU ...... 3263 A (Drucksache 15/788) ...... 3242 B , Bundesminister BMF ...... 3264 C , Bundesministerin BMBF 3242 C Dr. Günter Rexrodt FDP ...... 3266 D CDU/CSU ...... 3245 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 3247 A Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3268 D Ulrike Flach FDP ...... 3248 D CDU/CSU ...... 3271 B Franz Müntefering SPD ...... 3250 D Joachim Poß SPD ...... 3273 C Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) CDU/CSU 3252 D CDU/CSU ...... 3276 A Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/ Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 3278 A DIE GRÜNEN ...... 3254 A Axel Schäfer (Bochum) SPD ...... 3278 D CDU/CSU ...... 3255 D CDU/CSU ...... 3280 B (Spandau) SPD ...... 3257 A Dr. CDU/CSU ...... 3258 C Tagesordnungspunkt 18: Jörg Tauss SPD ...... 3260 B a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU ...... 3262 A der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Tagesordnungspunkt 4: rung des Gesetzes zur Neuregelung a) Antrag der Abgeordneten Dr. Michael des Schutzes von Verfassungsorga- Meister, , weite- nen des Bundes rer Abgeordneter und der Fraktion der (Drucksache 15/805) ...... 3282 B II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. , Donnerstag, den 10. April 2003

b) Erste Beratung des von den Fraktionen b) Zweite und dritte Beratung des von der der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Bundesregierung eingebrachten Ent- DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Neuord- wurfs eines Gesetzes zur Änderung nung des gesellschaftsrechtlichen des Siebten Buches Sozialgesetzbuch Spruchverfahrens (Spruchverfah- und des Sozialgerichtsgesetzes rensneuordnungsgesetz) (Drucksache 15/812) ...... 3282 B (Drucksachen 15/371, 15/838) ...... 3283 B c) Erste Beratung des von der Bundes- c) Beschlussempfehlung und Bericht des regierung eingebrachten Entwurfs ei- Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. Juli 2002 zwischen der Regie- – zu der Verordnung der Bundes- rung der Bundesrepublik Deutsch- regierung: Achtundfünfzigste Ver- land und der Regierung der Franzö- ordnung zur Änderung der Au- sischen Republik über die deutsch- ßenwirtschaftsverordnung französischen Gymnasien und das – zu der Verordnung der Bundes- deutsch-französische Abitur regierung: Einhundertste Verord- (Drucksache 15/717) ...... 3282 B nung zur Änderung der Aus- d) Antrag des Bundesministeriums der fuhrliste – Anlage AL zur Finanzen: Entlastung der Bundes- Außenwirtschaftsverordnung – regierung für das Haushaltsjahr – zu der Verordnung der Bundes- 2002 – Vorlage der Haushaltsrech- regierung: Einhundertsechsund- nung und Vermögensrechnung des vierzigste Verordnung zur Ände- Bundes (Jahresrechnung 2002) rung der Einfuhrliste – Anlage (Drucksache 15/770) ...... 3282 C zum Außenwirtschaftsgesetz – (Drucksachen 15/291, 15/292, 15/293, Zusatztagesordnungspunkt 2: 15/763) ...... 3283 C a) Erste Beratung des von den Abgeord- d)–i) neten Barbara Wittig, Dr. Dieter Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Wiefelspütz, weiteren Abgeordneten schusses: Sammelübersichten 26, 27, und der Fraktion der SPD, den Abge- 28, 29, 30 und 31 zu Petitionen ordneten Hartmut Büttner (Schöne- (Drucksachen 15/764, 15/765, 15/766, beck), Dr. , Michael 15/767, 15/768, 15/769) ...... 3283 D Glos und der Fraktion der CDU/CSU, den Abgeordneten , (Köln), weiteren Zusatztagesordnungspunkt 3: Abgeordneten und der Fraktion des a)–d) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN so- wie den Abgeordneten Gisela Piltz, Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Dr. , Dr. Wolfgang schusses: Sammelübersichten 32, 33, 34 Gerhardt und der Fraktion der FDP ein- und 35 zu Petitionen gebrachten Entwurfs eines Sechsten (Drucksachen 15/829, 15/830, 15/831, Gesetzes zur Änderung des - 15/832) ...... 3284 B Unterlagen-Gesetzes (6. StUÄndG) (Drucksache 15/806) ...... 3282 C Zusatztagesordnungspunkt 4: b) Erste Beratung des von den Fraktionen Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frak- der SPD und des BÜNDNISSES 90/ tion der FDP: Haltung der Bundesregie- DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs rung zur Berufung des früheren Bundes- eines Ersten Gesetzes zur Änderung wirtschaftsministers Werner Müller des Erneuerbare-Energien-Gesetzes zum Vorstandsvorsitzenden des RAG- (Drucksache 15/810) ...... 3282 D Konzerns Rainer Brüderle FDP ...... 3284 D Tagesordnungspunkt 19: Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD ...... 3286 B a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 3286 D BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ein- Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ gebrachten Entwurfs eines Dritten DIE GRÜNEN ...... 3288 C Gesetzes zur Änderung des Melde- Gudrun Kopp FDP ...... 3289 C rechtsrahmengesetzes (Drucksachen 15/536, 15/822) ...... 3283 A Dr. CDU/CSU ...... 3290 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 III

Hans Michelbach CDU/CSU ...... 3291 C b) Antrag der Abgeordneten , Gisela Piltz, weiterer Ab- Dr. CDU/CSU ...... 3292 C geordneter und der Fraktion der FDP: Kurt-Dieter Grill CDU/CSU ...... 3293 C Umsetzung der deutsch-französi- schen Initiative zur Gewährung ei- ner doppelten Staatsangehörigkeit Tagesordnungspunkt 5: (Drucksache 15/362) ...... 3311 D Zweite und dritte Beratung des von der SPD ...... 3312 A Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der CDU/CSU ...... 3314 A Krankenpflege sowie zur Änderung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (Bremen), Parl. Staats- (Drucksachen 15/13, 15/804) ...... 3294 C sekretärin BMFSFJ ...... 3315 B Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin Ernst Burgbacher FDP ...... 3316 C BMGS ...... 3294 D CDU/CSU ...... 3317 C Monika Brüning CDU/CSU ...... 3296 A Sebastian Edathy SPD ...... 3317 D Petra Selg BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 3297 D Detlef Parr FDP ...... 3299 A Tagesordnungspunkt 8: Dr. Margrit Spielmann SPD ...... 3300 B Antrag der Abgeordneten Birgit Werner Lensing CDU/CSU ...... 3301 D Homburger, , weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Statis- tiken reduzieren – Unternehmen entlas- Tagesordnungspunkt 6: ten – Bürokratie abbauen a) Antrag der Abgeordneten Dr. Michael (Drucksache 15/752) ...... 3319 B Meister, Heinz Seiffert, weiterer Abge- Birgit Homburger FDP ...... 3319 B ordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Abschluss der europäischen Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD ...... 3320 C Übernahmerichtlinie anstreben (Drucksache 15/539) ...... 3303 A CDU/CSU ...... 3322 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fritz Kuhn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3324 A Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 3324 D für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend Übernahmeangebote – KOM (2002) Tagesordnungspunkt 9: 534 endg.; Ratsdok. 12846/02 (Drucksachen 15/339 Nr. 2.7, 15/606) 3303 A Antrag der Abgeordneten Dr. , Klaus Brandner, weiterer Abge- CDU/CSU ...... 3303 B ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Reinhard Schultz (Everswinkel) SPD ...... 3304 D Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter Dr. FDP ...... 3306 A und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Nutzung von Geoinfor- Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3306 C mationen in Deutschland voranbringen (Drucksache 15/809) ...... 3326 B Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 3307 D Stefan Müller (Erlangen) CDU/CSU ...... 3308 C Dr. Margrit Wetzel SPD ...... 3326 C Dr. Hans-Jürgen Uhl SPD ...... 3310 B Vera Dominke CDU/CSU ...... 3327 C Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 7: DIE GRÜNEN ...... 3328 C a) Antrag der Fraktionen der SPD und Ulrike Flach FDP ...... 3329 B des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bundeseinheitliche Praxis bei der Gerold Reichenbach SPD ...... 3329 D Einbürgerung von Unionsbürgern Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 3330 B herstellen – Hindernisse beseitigen (Drucksache 15/762) ...... 3311 D Marion Seib CDU/CSU ...... 3331 B IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Zusatztagesordnungspunkt 5: , Parl. Staatssekretär BMWA . . . 3345 C Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Erich G. Fritz CDU/CSU ...... 3347 B Scheer, , weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD sowie der BÜNDNIS 90/ Abgeordneten Michaele Hustedt, Hans- DIE GRÜNEN ...... 3348 D Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Harald Leibrecht FDP ...... 3350 A Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Internationale Konferenz Johannes Pflug SPD ...... 3351 A für Erneuerbare Energien CDU/CSU ...... 3352 A (Drucksache 15/807) ...... 3332 B in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von den Fraktionen der Zusatztagesordnungspunkt 6: SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Scheer, Doris Barnett, weiterer Abgeord- Gesetzes über die Verordnungsfähigkeit neter und der Fraktion der SPD sowie der von Arzneimitteln in der vertragsärzt- Abgeordneten Michaele Hustedt, Volker lichen Versorgung Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und (Drucksache 15/800) ...... 3353 D der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE CDU/CSU ...... 3354 A GRÜNEN: Initiative zur Gründung einer Internationalen Agentur zur Förderung Dr. CDU/CSU ...... 3355 D der Erneuerbaren Energien (Interna- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3358 B tional Agency – IRENA) (Drucksache 15/811) ...... 3332 B Tagesordnungspunkt 11: Dr. SPD ...... 3332 C Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Kristina Köhler (Wiesbaden) CDU/CSU . . . 3333 D brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung der §§ 1360, 1360 a BGB Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/403) ...... 3359 C DIE GRÜNEN ...... 3335 A Sabine Bätzing SPD ...... 3359 C FDP ...... 3335 D CDU/CSU ...... 3360 D Anke Hartnagel SPD ...... 3336 C Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ Dr. CDU/CSU ...... 3337 D DIE GRÜNEN ...... 3361 D FDP ...... 3362 D Zusatztagesordnungspunkt 7: Joachim Stünker SPD ...... 3363 C Antrag der Abgeordneten Peter H. Carstensen (Nordstrand), Albert Deß, weite- Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 3364 D rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin CSU: Hürden für die Biotechnik abbauen (Baden-Württemberg) ...... 3365 D (Drucksache 15/803) ...... 3339 B CDU/CSU ...... 3339 B Nächste Sitzung ...... 3366 D , Parl. Staatssekretär BMVEL ...... 3341 C Anlage 1 Dr. Christel Happach-Kasan FDP ...... 3342 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 3367 A Matthias Weisheit SPD ...... 3343 D

Anlage 2 Tagesordnungspunkt 10: Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung Unterrichtung durch die Bundesregierung: über den Entwurf eines Gesetzes über die Ver- Bericht der Bundesregierung über ihre ordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in der Exportpolitik für konventionelle Rüs- vertragsärztlichen Versorgung (Tagesord- tungsgüter im Jahre 2001 (Rüstungs- nungspunkt 17) ...... 3367 B exportbericht 2001) (Drucksache 15/230) ...... 3345 C Dr. Dieter Thomae FDP ...... 3367 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3241

(A) (C) Redetext

40. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Er- gänzung zu TOP 19) Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Sitzung ist eröffnet. schusses (2. Ausschuss) Vorweg einige Mitteilungen: In den Beirat bei der Re- Sammelübersicht 32 zu Petitionen gulierungsbehörde für Telekommunikation und Post – Drucksache 15/829 – müssen nachträglich noch zwei stellvertretende Mitglie- b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- der der Fraktion der SPD gewählt werden. Als Stellver- schusses (2. Ausschuss) treter des Kollegen wird der Kollege Sammelübersicht 33 zu Petitionen Manfred Helmut Zöllmer und als Stellvertreter des – Drucksache 15/830 – Kollegen der Kollege Dr. Hans-Ulrich c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Krüger vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- schusses (2. Ausschuss) den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die ge- Sammelübersicht 34 zu Petitionen (B) nannten Kollegen als stellvertretende Mitglieder in den – Drucksache 15/831 – (D) Beirat der Regulierungsbehörde gewählt. d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene schusses (2. Ausschuss) Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih- Sammelübersicht 35 zu Petitionen nen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: – Drucksache 15/832 – 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Hal- Deutlich erhöhter Finanzbedarf der Bundesanstalt für Ar- tung der Bundesregierung zur Berufung des früheren beit durch die unverändert hohe Arbeitslosigkeit und Äu- Bundeswirtschaftsministers Werner Müller zum Vor- ßerungen des Vorstandsvorsitzenden Gerster zur Notwen- standsvorsitzenden des RAG-Konzerns digkeit eines Bundeszuschusses (siehe 39. Sitzung) 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Scheer, 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er- Doris Barnett, Dr. , weiterer Abgeordneter und der gänzung zu TOP 18) Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Hans-Josef Fell, Undine Kurth (Quedlinburg), weiterer Abge- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Barbara Wittig, ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Dr. Dieter Wiefelspütz, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), NEN: Internationale Konferenz für Erneuerbare Energien Franz Müntefering und der Fraktion der SPD, den Abge- – Drucksache 15/807 – ordneten Hartmut Büttner (Schönebeck), Dr. Angela Merkel, und der Fraktion der CDU/CSU, 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Scheer, den Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck Doris Barnett, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der (Köln), Katrin Dagmar Göring-Eckardt, und Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie Volker Beck (Köln), , weiterer Abgeordneter den Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Max Stadler, und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ini- Dr. und der Fraktion der FDP ein- tiative zur Gründung einer Internationalen Agentur zur gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Än- Förderung der Erneuerbaren Energien (International Re- derung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (6. StUÄndG) newable Energy Agency – IRENA) – Drucksache 15/811 – – Drucksache 15/806 – 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen Überweisungsvorschlag: (Nordstrand), Albert Deß, Helmut Heiderich, weiterer Abge- Innenausschuss ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Hürden für die Biotechnik abbauen – Drucksache 15/803 – b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein- wurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Erneu- gebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung erbare-Energien-Gesetzes – Drucksache 15/810 – des Gemeindefinanzreformgesetzes – Drucksache 15/510 – (Erste Beratung 37. Sitzung) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses Reaktorsicherheit (f) (7. Ausschuss) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/835 – 3242 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) Berichterstattung: Bericht zur technologischen Leistungsfähig- (C) Abgeordnete Horst Schild keit Deutschlands 2002 und Stellungnahme Manfred Kolbe der Bundesregierung b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache 15/788 – – Drucksache 15/836 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Berichterstattung: Technikfolgenabschätzung (f) Abgeordnete Dietrich Austermann Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Antje Hermenau Ausschuss für Kultur und Medien Dr. Günter Rexrodt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van , Rainer Funke, , weiterer Abgeordneter und der die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Fraktion der FDP: Opferschutz bei Terrorakten im Ausland höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. verbessern – Drucksache 15/34 – Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundes- Überweisungsvorschlag: ministerin Edelgard Bulmahn das Wort. Rechtsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Finanzausschuss und Forschung: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Tourismus Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Herren und Damen! Der vorliegende Bericht zur techno- Haushaltsausschuss logischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2002 hat 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Stünker, zwei zentrale Botschaften: Erstens. Wirtschaftliches Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze in Deutschland und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Jerzy werden davon abhängen, in welchem Umfang die Unter- Montag, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE nehmen die großen Chancen von neuen Technologien GRÜNEN: Opferentschädigung verbessern – Druck- nutzen und sie im internationalen Innovationswettbe- sache 15/808 – werb tatsächlich einbringen. Überweisungsvorschlag: Zweitens. Die Bundesregierung hat die entscheiden- Rechtsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss den Weichen dafür in den vergangenen Jahren richtig ge- Innenausschuss stellt. (B) Finanzausschuss (D) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ausschuss für Tourismus des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Es kommt jetzt in der Politik und in der Wirtschaft glei- chermaßen darauf an, konsequent Kurs zu halten, um 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten , Dr. Norbert Röttgen, Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), wei- weiter voranzukommen. Das Gutachten hat dazu eine terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Opfer- Fülle von Daten, Fakten und Analysen zusammengetra- entschädigung für deutsche Staatsangehörige, die bei vo- gen. Ich will zunächst nur einige Punkte herausgreifen. rübergehendem Aufenthalt im Ausland Opfer eines Gewaltverbrechens werden – Drucksache 15/802 – Erstens. Deutschland ist in der ersten Hälfte der Überweisungsvorschlag: 90er-Jahre bei seinen Ausgaben für Forschung und Rechtsausschuss (f) Entwicklung zurückgefallen. Das war die Zeit, meine Auswärtiger Ausschuss sehr geehrten Herren und Damen von der Opposition, Innenausschuss also von CDU/CSU und FDP, in der Sie Investitionen Finanzausschuss versprochen, aber in der Realität über Jahre hinweg ge- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Tourismus kürzt, gestrichen und verschoben haben. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- Es war die Zeit, in der Sie viel über Zukunft geredet, weit erforderlich – abgewichen werden. aber mit Ihrer Politik in Deutschland ein innovations- Darüber hinaus wurde vereinbart, den Tagesordnungs- feindliches Klima geschaffen und damit die Zukunft un- punkt 17 – Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln – seres Landes aufs Spiel gesetzt haben. bereits heute nach Tagesordnungspunkt 10 – Rüs- Mit dieser Politik ist seit 1998 glücklicherweise end- tungsexportbericht – zu beraten. Sind Sie damit einver- lich Schluss. standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- schlossen. (Beifall bei der SPD) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Diese Bundesregierung hat das Ruder herumgerissen. Wir haben die Mittel für Bildung und Forschung seit Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- 1998 um mehr als 25 Prozent erhöht und wir haben regierung gleichzeitig die notwendigen Reformen angepackt. Mit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3243

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) dieser klaren Politik pro Bildung und Forschung haben gen Jahren zu einem zentralen Innovationshemmnis (C) wir auch in der Wirtschaft Kräfte freigesetzt und dem wird, dann müssen wir heute mit aller Kraft gegensteu- Strukturwandel hin zur Wissensgesellschaft und zur ern. Wir tun das mit Erfolg, wie zum Beispiel gerade Wissenswirtschaft neuen Schwung verschafft. auch die deutlich gestiegenen Zahlen der Studienanfän- ger in den naturwissenschaftlichen und auch in den inge- (Beifall bei der SPD) nieurwissenschaftlichen Studienfächern zeigen. Bereits im Jahr 2001 war der Anteil am Bruttoinlands- produkt, den Staat und Wirtschaft für Forschung und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Entwicklung aufwenden, auf 2,5 Prozent gestiegen. Drei BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jahre zuvor lag der Anteil noch bei 2,2 Prozent. Deutschland ist heute wieder der zweitgrößte Techno- In einem sehr schwierigen wirtschaftlichen Umfeld logieexporteur der Welt. Hatte Mitte der 90er-Jahre nur haben Bund und Unternehmen auch im vergangenen jede vierte Firma ein neues Produkt im Angebot, das auf Jahr die Ausgaben für Forschung und Entwicklung wei- neuen Forschungsergebnissen beruhte, drängt heute ter ausgebaut. Es ist uns also unbeirrt von konjunkturel- schon ein Drittel der Unternehmen mit einer Neuent- len Zyklen gelungen, ein weit verbreitetes Bewusstsein wicklung auf den Markt. Deutschland verfügt inzwi- für die Bedeutung von Zukunftsinvestitionen zu schaf- schen über die höchste Dichte innovativer Unternehmen fen. Das ist mir ganz besonders wichtig, weil das Be- in Europa. Ein Exportvolumen von 275 Milliarden wusstsein für die Bedeutung von Investitionen in Bil- – das waren im Jahre 2002 rund 14 Prozent des Bruttoin- dung und Forschung für die kommenden Jahre landprodukts – und knapp 3 der insgesamt 6 Millionen entscheidend ist. Arbeitsplätze des verarbeitenden Gewerbes gehen auf das Konto der forschungsintensiven Technologiegüter. Das Fundament der technologischen Leistungsfä- Die Tendenz ist weiter steigend. higkeit Deutschlands wird in den Schulen und Hoch- schulen gelegt. Bildung und Forschung – das will ich Dabei ist im Übrigen viel zu wenig bekannt: Die hier noch einmal deutlich unterstreichen – dürfen nicht Technologieexporte aus den neuen Ländern stiegen seit gegeneinander ausgespielt werden, so wie Sie das teil- 1996 durchschnittlich um 30 Prozent pro Jahr. Die tech- weise immer wieder tun. nologische Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft – das zeigen diese Zahlen – ist gut. Das ist für uns aller- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dings kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wollen im weltweiten Innovationswettlauf nicht nur Denn Investitionen in Bildung und Forschung sind sozu- Schritt halten können; wir wollen vielmehr den Takt der sagen die Basis unseres Forschungssystems. Das gilt für Entwicklung mitbestimmen. Das ist unser Ziel. (B) (D) unser Programm „Zukunft Bildung“, mit dem wir unter (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten anderem 4 Milliarden Euro für die Schaffung von Ganz- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tagsschulen zur Verfügung stellen. Das gilt auch für das neue BAföG, mit dem wir einen Run auf unsere Hoch- Deshalb werden wir das Tempo des strukturellen Wan- schulen ausgelöst haben und mit dem wir es auch ge- dels in den kommenden Jahren weiter beschleunigen. Zu schafft haben, dass der Anteil der Studienanfänger deut- einer Wirtschaft, die auf Wissen und Innovationen setzt, lich gestiegen ist, nämlich von 28,5 Prozent auf jetzt gibt es in Deutschland keine Alternative. 35,6 Prozent. Damit liegen wir endlich in der Nähe jener 40 Prozent, die alle vergleichbaren Industrienationen im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Durchschnitt vorweisen können und die auch unser Ziel des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sein müssen. Die Bundesregierung ist sich ihrer daraus erwachse- Bildung und Forschung gehören also zusammen. Das nen Verantwortung voll bewusst. Wir halten deshalb an gilt im Übrigen auch für die berufliche Bildung. Deshalb dem Ziel fest, das die Regierungschefs der EU in einer war es so wichtig, dass es uns gerade in den technologie- bisher einmaligen Willenserklärung formuliert haben: orientierten Berufen in den letzten Jahren gelungen ist, Bis 2010 sollen mindestens 3 Prozent des Bruttoinland- eine deutlich größere Zahl von Ausbildungsplätzen zu produkts in Forschung und Entwicklung investiert wer- schaffen. Ich betone ausdrücklich, dass das auch für die- den. Bereits in den kommenden Jahren werden wir des- ses Jahr und die kommenden Jahre gelten muss. halb auch bei der institutionellen Förderung wieder ein Zeichen setzen und die Etats der großen Forschungsor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ganisationen um 3 Prozent erhöhen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich sage noch einmal klipp und klar: Deutschland des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – steht im internationalen Wettbewerb um die besten Ulrike Flach [FDP]: Ist das wieder ein Ver- Köpfe, um Akademiker genauso wie um hoch qualifi- sprechen, Frau Bulmahn?) zierte Fachkräfte. Vor einer Nagelprobe stehen wir jetzt allerdings in der ( [FDP]: Dann sollten wir aber die Wirtschaft. Die Fehler der Vergangenheit darf die Wirt- Rahmenbedingungen verbessern!) schaft nicht wiederholen. Erfolge auf den Innovations- Wenn wir nicht wollen, dass der Mangel an naturwis- märkten werden in Unternehmen nur dann dauerhaft senschaftlich-technischem Nachwuchs schon in weni- erwirtschaftet, wenn sie auch in konjunkturellen 3244 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Schwächephasen konsequent in Forschung und Entwick- Zwischen 20 und 25 Prozent des jährlichen Wirtschafts- (C) lung investieren. wachstums in Deutschland beruhen auf dem zunehmenden Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnolo- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gien. Nachdem in den 90er-Jahren vor allem andere Län- Untersuchungen des Zentrums für Europäische Wirt- der, die stärker investiert haben, von diesen neuen Techno- schaftsforschung zeigen: Unternehmen, die mit Produk- logien profitierten, hat Deutschland auch hier wieder ten als Erste auf dem Markt sind, aber auch Branchen, Anschluss gefunden. Wir fördern den Ausbau bestehender die wie zum Beispiel die deutsche Automobilindustrie Märkte in der Mikrosystemtechnik, in den optischen Tech- in überdurchschnittlichem Maße in Forschung und Ent- nologien und in der Materialforschung, weil wir diese wicklung investieren, weisen überproportionale Arbeits- Technologien für viele andere Branchen benötigen. Auch platzgewinne auf. Zwischen 1997 und 2001 sind circa hier haben wir deutliche Weltmarkterfolge erzielt. 92 000 zusätzliche Arbeitsplätze in F-und-E-intensiven Wir erschließen außerdem neue Wachstumsfelder Branchen in Deutschland entstanden. Die Wirkung, die durch die gezielte Förderung der Bio- und Nanotechno- diese Entwicklung auch auf die Zulieferindustrie hat, ist logie. Gerade in der Biotechnologie haben wir nach ei- ungleich größer. Das heißt, unsere wirtschaftliche Ent- nem verschlafenen Start in den letzten Jahren im interna- wicklung hängt ganz entscheidend von diesen Unterneh- tionalen Vergleich viel aufgeholt. Die Zahlen sprechen men und Branchen ab. Deshalb sind günstige Rahmen- eine klare Sprache: Nirgendwo in Europa sind in den bedingungen für Forschungsinvestitionen so notwendig. letzten Jahren mehr neue Biotechnologieunternehmen Der Bericht unterstreicht ausdrücklich – das finde ich gegründet worden als in Deutschland. Deutschland liegt sehr erfreulich –, dass wir hier in den letzten Jahren inzwischen auch bei der Gesamtzahl der Unternehmen durch eine gezielte Neuausrichtung der Forschungspoli- an der Spitze. Im Übrigen ist hier ein erheblicher Ar- tik gute Erfolge erreicht haben und dass wir in die rich- beitsplatzzuwachs von 35 Prozent zu verzeichnen. Das tige Richtung gegangen sind. zeigt, dass die Forschungspolitik richtig fokussiert war. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben seit 1998 die Projektförderung in Unter- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nehmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen um Ich möchte kurz noch einen weiteren Punkt anreißen. über 44 Prozent – das sind rund 750 Millionen Euro – Mir ist es besonders wichtig, dass wir gerade die kleinen gesteigert. Projektförderung bedeutet mehr Wettbewerb. und mittleren Unternehmen motivieren konnten, wieder Deshalb war es so fatal, dass Sie in der ersten Hälfte der stärker in Forschung und Entwicklung zu investieren. 90er-Jahre die Projektförderung völlig nach unten gefah- Die Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen, die an ren haben. (B) der Forschungsförderungspolitik meines Ministeriums (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ partizipieren, die also Forschungsförderungsmittel in DIE GRÜNEN) Anspruch nehmen, ist alleine in meiner Amtszeit um über 60 Prozent gestiegen. Projektförderung bedeutet mehr Wettbewerb sowie eine verbesserte Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wis- (Jörg Tauss [SPD]: Gute Ministerin!) senschaft. Damit bildet sie die Plattform für einen besse- Das war notwendig und ist richtig. Deshalb werden wir ren und leistungsfähigeren Technologietransfer zwi- diesen Kurs fortsetzen. schen Wirtschaft und Wissenschaft. Genau das ist es, was wir in unserem Land existenziell brauchen. Hinzu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kommt die wichtige Initialwirkung für grundlegende DIE GRÜNEN) Technologieentwicklungen in der Wirtschaft. Auf jeden Einen besonderen Akzent legen wir auf die so ge- staatlich finanzierten Forschungseuro legen die geför- nannten Spin-offs. Allein diese technologieorientierten derten Unternehmen mindestens einen weiteren Euro Unternehmensgründungen schaffen rund 13 000 neue drauf. Auch dieser Zusammenhang spielt ganz offen- Arbeitsplätze pro Jahr. sichtlich eine große Rolle. Das ist effiziente Förderpoli- tik. Es ist wichtig, auch privates Forschungskapital zu Kurz gesagt, meine sehr geehrten Damen und Herren: mobilisieren. Deshalb werden wir unsere Forschungsför- Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit derpolitik fortsetzen und weiter ausbauen. zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und gute Vor- aussetzungen für Erfolg im internationalen Wettbewerb (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geschaffen haben. Deshalb werden wir diese Politik auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) fortsetzen. Die wesentlichen Impulse für wirtschaftliches Wachs- Vielen Dank. tum und neue Arbeitsplätze gehen von einer begrenzten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zahl von Technologien aus. Wir konzentrieren deshalb die DIE GRÜNEN) Forschungsförderung genau dort, wo die größte Hebelwir- kung auf Wachstum und Beschäftigung zu erwarten ist. Wir stärken deshalb mit einer hohen Priorität die Informa- Präsident Wolfgang Thierse: tions- und Kommunikationstechnologien; denn sie sind Ich erteile Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSU- die Wachstumsmotoren für viele andere Branchen. Fraktion, das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3245

(A) Katherina Reiche (CDU/CSU): als Bildungs- und Technologiestandort im internationa- (C) Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- len Vergleich zurück. gen! Die technologische Leistungsfähigkeit Deutsch- Besonders bedenklich ist Folgendes – ich zitiere aus lands hat weltweit einen guten Ruf; sie ist eine elemen- dem Bericht –: tare Säule unseres Wirtschaftssystems. Deshalb ist der Bericht, den wir heute diskutieren, auch das Schicksals- Es gibt nicht ein einziges Aggregat, bei dem man buch unseres Wohlstandes. Daher lohnt es sich, die Ent- sagen könnte: Deutschland hat seine Position signi- wicklungslinien genauer zu analysieren und daraus poli- fikant verbessern können. tische Schlüsse zu ziehen. (Zuruf von der CDU/CSU: Traurig!) Ausgehend von einem hohen Stand an Innovations- Die Innovationstätigkeit unserer Technologieunter- kraft gibt es ernste Warnsignale, die deutlich machen, nehmen und die Gründungsneigung lassen nach; der dass der Forschungsort Deutschland von seiner Substanz Gründungsboom ist vorüber. Auch die Zahl der Grün- lebt. Eine Entwicklung, die bereits Mitte der 90er-Jahre dungen in forschungsintensiven Wirtschaftszweigen ist einsetzte, hat sich seit 1998 unter rot-grüner Verantwor- seit 2000 rückläufig. tung dramatisch verschlechtert. Da hilft auch kein Schönreden der Ministerin. Weiter ist im Bericht nachzulesen: (Beifall bei der CDU/CSU) Während in Deutschland zwischen 2000 und 2002 ein Plus von 6 Prozent (bei den FuE-Haushaltsan- Dies zeigt beispielsweise die Bilanz der technologischen sätzen) herausgekommen ist, gibt es in Schweden Dienstleistungen: Wir kaufen in Deutschland mehr jedoch knapp 30 Prozent, in den USA 25 Prozent Know-how ein, als wir exportieren. und selbst im rezessionsgeplagten Japan 15 Prozent. (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es!) Frau Bulmahn, das ist für uns ein Armutszeugnis. Die entscheidende Vergleichsgröße dafür ist die Nega- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tivbilanz der technologischen Dienstleistungen; das Leider hat die Bundesregierung die eindeutigen sind Patente, Lizenzen, Forschung und Entwicklung, Kennzahlen in Bezug auf die technologische Leistungs- EDV- und Ingenieurdienstleistungen. fähigkeit Deutschlands zunehmend außer Acht gelassen. Laut Berechnungen der Deutschen Bundesbank belief Erschwerend kommt hinzu: Es fehlt eine Strategie, um sich der Negativsaldo bei diesen technologischen unsere technologische Leistungsfähigkeit zurückzuge- winnen; es fehlt ein Konzept. Deshalb gilt es jetzt das (B) Dienstleistungen 1998 auf 2,5 Milliarden Euro, im Jahr (D) 1999 schon auf 4 Milliarden Euro, 2000 dann auf Ruder herumzureißen, eine Aufbruchstimmung zu er- 5 Milliarden Euro und 2001 schließlich auf 7,5 Milliar- zeugen und einen Paradigmenwechsel in zwei wesentli- den Euro. Parallel dazu gab es einen rapiden Abbau bei chen Bereichen herbeizuführen: einmal in der Wirt- der Beschäftigung in F-und-E-intensiven Industriezwei- schafts- und Finanzpolitik durch steuerliche Anreize, gen. Besonders besorgniserregend ist hier das Nachlas- durch eine Abgabenentlastung des Mittelstandes, durch sen von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der eine Senkung der Staatsquote und durch einen Bürokra- Mittelständler. Dazu hält der Bericht lediglich lapidar tieabbau und zum anderen im Bereich Bildung und For- fest, Klein- und Mittelbetriebe hätten sich aus F und E schung durch eine Aufstockung der Investitionen auf zurückgezogen. mindestens 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Frau Bulmahn, wir haben es erst dann wieder geschafft, wenn Ein internationaler Vergleich der Liga ist immer wich- deutsche Nobelpreisträger nicht mehr in Amerika le- tig, damit man sich nicht selbst täuscht, so der Bericht. ben, forschen und dort ihre Preise bekommen, Deutschland will und muss im Technologiebereich in der (Ulrich Kasparick [SPD]: Das ist doch Weltspitze mitspielen; sonst werden wir die Probleme dummes Zeug!) bei uns in Deutschland nicht lösen und die vor uns ste- henden Herausforderungen nicht bewältigen können. sondern ihren Lebens- und Arbeitsschwerpunkt in Deutschland haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Messlatte im internationalen Vergleich darf auch nicht nach unten gelegt werden. Unsere Konkurrenten Die hohe Bürokratiedichte, eine Flut zusätzlicher Vor- sind die USA und Großbritannien und nicht etwa die schriften, ungünstige steuerliche Rahmenbedingungen, Slowakei oder die baltischen Staaten. schleppende Zulassungs- und Genehmigungsverfahren, ein überregulierter Arbeitsmarkt, eine schwächelnde (Beifall bei der CDU/CSU) Konjunktur, eine unsichere Rechtslage und Fachkräfte- mangel, all das ist Ursache dafür, dass die Umsetzung Im Vergleich mit den G-7-Ländern sowie mit der von neuen Ideen in Deutschland derzeit schleppend ver- Schweiz, Schweden, Finnland, Niederlande und Korea läuft. fällt Deutschland laut Bericht bei investiven Anstren- gungen zurück; auch in der Spitze – so der Bericht – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sieht es nicht gut aus. Besonders im Bereich der Spitzen- Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ technologien verlieren wir Weltmarktanteile. Wir fallen CSU]: Rot-Grün ist die Ursache!) 3246 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Katherina Reiche (A) Ein Haupthemmnis für Innovation und Expansion ist logie oder an die noch nicht erfolgte Umsetzung der Bio- (C) die Kapitalknappheit. Im „Deutschen Biotechnologie patentrichtlinie hier in Deutschland. Report 2002“ von Ernst & Young ist nachzulesen, dass der Boom in der Biotechbranche im Jahr 2001 nur durch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Risikokapitalfinanzierung vor allem in der Start- Wir müssen uns auch fragen, ob wir immer am Bedarf up-Phase und in der Expansionsphase möglich war. ausgerichtet ausbilden. Ich nenne in diesem Zusammen- Die Situation auf dem Risikokapitalmarkt sieht in hang zum Beispiel die optischen Technologien und die Deutschland derzeit jedoch schlecht aus. Der Anteil am Nanotechnologien. Für beide Schlüsseltechnologien europäischen Risikokapitalmarkt ist von 18 Prozent auf werden zweistellige Wachstumsraten prognostiziert; 13 Prozent gefallen, während der Anteil Großbritanniens dennoch fehlen in diesen Hightechbereichen durch- auf 34 Prozent stieg. Wir drohen also in Europa und in schnittlich 10 000 Fachkräfte. der Welt den Anschluss zu verlieren. Es gibt in Deutsch- Ich glaube, wir brauchen eine neue Technologiebe- land keinen Mangel an Arbeit, sondern einen Mangel an geisterung. Dafür müssen wir bei Lehrern, Eltern, Schü- Arbeitgebern. lern und Studenten für die Bedeutung von Mathematik, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Natur- und Ingenieurwissenschaft verstärkt werben, weil diese Bereiche für die Entwicklung unserer Gesellschaft Wir laufen Gefahr, im Biotechnologiebereich potenziell existenziell sind. lebensfähige Unternehmen zu verlieren ebenso wie eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ganze Generation von Forschern, geistiges Eigentum neten der FDP) und damit auch den Anschluss. Frau Bulmahn, es ist eben nicht damit getan, dass wir Öffentlich finanzierte Forschung muss stärker an In- höhere Studienanfängerzahlen haben. Entscheidend ist novationen orientiert werden. Dies geschieht am effek- vor allem, was „hinten herauskommt“, also wie viele tivsten, wenn ein substanzieller Anteil – das hat Frau Absolventen es schließlich gibt. Da besteht Nachholbe- Bulmahn ausgeführt – im Wettbewerb vergeben wird. darf. Ganz besonders wichtig ist es deshalb, auch die Ressort- forschung in den Wettbewerb einzubeziehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) In diesem Bereich kann der Bund gemeinsam mit der Wirtschaft und gemeinsam mit den Ländern Anstöße ge- Es ist ein Unding, dass die 52 Ressortforschungseinrich- ben. (B) tungen des Bundes mit 12 000 Wissenschaftlern und (D) 9 000 Mitarbeitern bisher nicht einer systematischen Ein Letztes. 1998 – ich weiß nicht, wer sich noch da- Evaluierung unterzogen wurden. ran erinnert – hat der Exfinanzminister Lafontaine sein Ressort zulasten seines Kollegen im Bereich Wirtschaft (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ausgebaut. Das BMBF musste in diesem Zuge zwei we- NEN]: Das stimmt doch gar nicht! Das wird sentliche Bereiche, nämlich den Bereich Energiefor- doch gemacht!) schung und den Bereich Technologieförderung, an das Sowohl die Evaluation der Leibniz-Institute als auch die Wirtschaftsministerium abgeben. Den erhofften Erfolg Programmförderung der Helmholtz-Zentren zeigt dies. brachte das nicht. Es gibt eine mangelnde Koordinie- rung und eine ausgeprägte Schieflage in der Finanzaus- Damit Forschungseinrichtungen im Wettbewerb um stattung. Frau Bulmahn, Sie sollten sich ernsthaft bemü- innovative Forschungsprojekte eigenverantwortlich und hen, diese Kompetenz jetzt zurückzuholen und Ihr flexibel agieren können, müssen sie ihre Profile selbst ge- Ministerium zu stärken, damit aus dem jetzigen Bil- stalten, eine autonomere Personal- und Gehaltspolitik be- dungsministerium auch wieder ein Technologieministe- treiben sowie über den Mitteleinsatz und Investitionen rium wird. selbstständig entscheiden können. So müssten an die Stelle des starren BAT-Gefüges flexible, frei aushandel- Deutschland besitzt nach wie vor ein immenses, von bare Arbeitsverträge im Rahmen eines Wissenschafts- der rot-grünen Bundesregierung aber nicht genutztes tarifvertrages treten. Das würde auch den Personalaus- Innovationspotenzial. Mit dem von mir beschriebenen tausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft erleichtern. Paradigmenwechsel in der Wirtschafts- und Technolo- giepolitik könnte Deutschland wieder dahin kommen, (Jörg Tauss [SPD]: Sagen Sie das mal Ihren wohin es gehört, nämlich als Lokomotive an die Spitze Ländern, nicht unseren! Dann hätten wir ein in Europa. Problem weniger! – Gegenruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]: Herr Tauss, Sie haben mir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schon richtig gefehlt da drüben! Jetzt ist er Von Rot-Grün ist diese Initialzündung nur schwerlich zu aufgewacht!) erwarten. Deshalb fordern wir Sie auf, unsere Vor- Es kommt außerdem darauf an, die Forschung aus den schläge umzusetzen. Klauen der Bürokratie zu befreien. Auch Bürokratieab- Vielen Dank. bau sorgt für mehr Freiheit der Forschung. Ich erinnere nur an das De-facto-Moratorium im Bereich Biotechno- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3247

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Ich stimme beiden, die schon geredet haben, in einem (C) Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn, Fraktion des Punkt zu: Die positive technologische Entwicklung in Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort. Deutschland ist für die Fähigkeit unserer Wirtschaft, Ar- beitsplätze zu schaffen, das A und O. Wir sind an der (Dirk Niebel [FDP]: Jetzt kommt der grüne Spitze bei dem Doppeltrend, dass auf der einen Seite die Fortschritt!) Leute länger leben und auf der anderen Seite die Gebur- tenrate sinkt. Das kann man an unserem Standort nur Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ausgleichen, wenn Technologie, Produktivitätswachstum Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und und Innovationen vermehrt werden. Wenn wir das nicht Kollegen! Wenn man den Bericht genau liest, dann stellt schaffen, wird Deutschland seinen Wohlstand nicht hal- man fest, dass er, was den Technologiestandort Deutsch- ten können. land angeht, viel Licht, aber auch Schatten formuliert. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Ulrike Flach [FDP]: Wie wahr!) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Nachdem ich Ihre Rede gehört habe, Frau Reiche, muss Deswegen ist es des Schweißes der Edlen wert, sich ich sagen: Sie müssen den Bericht mit einer Spezialbrille wirklich mit der Frage zu befassen, wie man in Deutsch- gelesen haben. Sie haben alles Positive einfach ausgelas- land zu mehr technologischen Innovationen kommt. sen und nur kritische Fragen formuliert. (Dirk Niebel [FDP]: Transrapid zum Beispiel!) (Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜND- Besondere Sorgen macht uns von den Grünen zum NIS 90/DIE GRÜNEN]) Beispiel, wie schlecht die Diffusion von I-und-K-Tech- Ich will Ihnen einmal drei Beispiele dafür nennen, nik in vielen Bereichen der Wirtschaft ist. Beim Hand- was sich seit 1998 positiv verändert hat, und dann werk, bei den Dienstleistungen, bei den produktionsna- will ich dieses 98er-Thema auch wieder verlassen. hen Dienstleistungen und bei den Finanzdienstleistungen Die F-und-E-Ausgaben des Bundes, die bei Ihnen 1997 haben wir im EU-Bereich in den letzten Jahren so gut und 1998 bei 8,2 Milliarden Euro lagen, haben wir im wie kein Produktivitätswachstum, während im Vergleich Jahr 2002 auf 9,1 Milliarden Euro angehoben. Es gab dazu in den USA ein Wachstum von 4 bis 5 Prozent vor- jetzt einige Einsparungen; aber in den nächsten Jahren handen ist. Das wirft uns in diesen Bereichen zurück. In werden wir die F-und-E-Ausgaben des Bundes wieder den nächsten Jahren müssen wir uns mehr auf diesen anheben. Anders als bei Ihnen also Wachstum in dem Punkt konzentrieren. Bereich! Ich möchte ein paar Punkte nennen, die uns in der (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frage, wie wir zu mehr Innovationen in Deutschland (D) und bei der SPD) kommen können, wichtig sind: Die Zahl der Inlandspatente ist gestiegen. Auch die Erstens. Wir brauchen massive Reformen in der Bil- Zahl der Studienanfänger liegt um 8 Prozent höher als dungspolitik, schon in der Grundschule und in den Kin- 1998, übrigens mit starken Zugewinnen bei den Anfän- dergärten angefangen. Ich finde, dass das, was die KMK gern in der Informatik. Wir haben also in allen Punkten, als Konsequenzen von PISA zustande bringt, zu langsam die Sie uns jetzt vorgehalten haben, deutliche Verbesse- geht. rungen gegenüber dem erzielt, was CDU und CSU ange- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- richtet haben. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dass die schwarz-regierten Länder aus der Bund-Län- und bei der SPD) der-Kommission aussteigen, ist in diesem Zusammen- Frau Reiche, wenn Sie hier so fröhlich argumentieren, hang kein Vorteil, sondern nichts anderes als ein Nach- man solle in Deutschland jetzt endlich die im Rahmen teil. der Lissabon-Strategie vereinbarten 3 Prozent des Brut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tosozialprodukts für F-und-E-Ausgaben erreichen, dann und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der muss ich Ihnen Folgendes sagen: Sie verweigern sich FDP) systematisch dem Subventionsabbau in entscheidenden Bereichen, Wir brauchen ein Bildungssystem, das Neugier, Kreati- vität, Teamfähigkeit und Methodenwissen zum Zentrum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der pädagogischen Auseinandersetzung und Arbeit und bei der SPD) macht; fordern dann aber voller Vergnügen mehr für Forschung (Zuruf von der CDU/CSU: Das wird nicht in und Technik. Das geht wirklich nicht. Daraus wird kein der KMK gefördert!) Schuh. Sie müssen konsequent für Subventionsabbau ein- treten und dürfen nicht im Vermittlungsausschuss des Bun- denn das sind die Schlüsselqualifikationen, die man für desrats Ihre Zustimmung verweigern. Dann wäre Ihr Rede- Innovationen braucht. beitrag ehrlich. So ist er aber einfach politisch unseriös. Beispiel Lehrerfortbildung: In den USA müssen Leh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rer in fünf Jahren 50 Stunden Fortbildung nachweisen; und bei der SPD) in Deutschland ist es eher ein Hobby für diejenigen, die 3248 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Fritz Kuhn (A) ohnehin schon ambitioniert sind. Dies muss man in den neuen Innovationen. An dieser Feststellung kommt man (C) Ländern ändern. Ich sage deutlich: Wenn die Länder dies nicht vorbei. Wer sich am Alten festklammert, der blo- nicht schaffen, dann muss der Bund nachhelfen, dass sie ckiert allein über die finanzielle Schiene die Entwick- die Veränderungen, die wir für die Förderung von Inno- lung des Neuen. vationen und die wirtschaftliche Entwicklung brauchen, vornehmen. (Dirk Niebel [FDP]: Fangen wir mal mit der Steinkohle an!) (Ulrike Flach [FDP]: Dann fangen Sie in Ihren Deshalb sagen wir: Förderung von Innovationen und Ländern an, Herr Kuhn!) Abbau von Subventionen müssen in einem Zuge gesche- Zweitens: Schritt für Schritt mehr Investitionen in hen. Forschung und Entwicklung in Deutschland. Die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- 3 Prozent, die die Ministerin genannt hat, sind eine rich- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) tige Zielgröße. Wir werden uns auf den Weg machen, dies auch zu finanzieren, und zwar nicht mittels höherer Ich komme zum Schluss und möchte dabei noch auf Verschuldung, wie Sie es propagieren, sondern systema- eines hinweisen: Wenn man einmal in die Wirtschaftsge- tisch über Subventionsabbau. Das ist nämlich der einzige schichte schaut und untersucht, welche Gesellschaften richtige Weg. mehr Innovationen hervorbringen, dann stellt man Fol- gendes fest: Es sind in der Regel Gesellschaften, die Dritter Punkt. Wir brauchen mehr Fachkräfte und über klare gemeinsame Ziele verfügen, auf diese bezo- Menschen, die über hoch spezialisiertes Wissen verfü- gen ihre Techniken entwickeln und nicht einfach pau- gen. In den nächsten fünf bis sechs Jahren gehen in schal alle Techniken fördern, die ihnen möglich erschei- Deutschland viele in Pension bzw. in den Ruhestand, die nen. Ich sage Ihnen: Die Propagierung von Strategien über dieses Wissen verfügen. Da sage ich ganz klar an der nachhaltigen Entwicklung und von Strategien, die Ihre Adresse, Frau Reiche: Wer wie Sie in der Zuwande- zum Beispiel weg vom Öl in allen Technologieberei- rungspolitik eine totale Verweigerungshaltung an den chen, insbesondere bei den Antriebskonzepten für das Tag legt, der gefährdet in gewisser Weise den Innovati- Auto, führen, wird sich auch auf das Innovationsgesche- onsstandort Deutschland. Sie machen hier reaktionäre hen an Hochschulen, Forschungsstätten und in den Ent- Politik zulasten der Arbeitsplätze und unserer eigenen wicklungsabteilungen der Betriebe auswirken. Mein Interessen. Vorwurf an die Opposition lautet: Sie sind bezüglich sol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN cher Ziele blind, deswegen haben Sie keinen klaren In- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der novationsbegriff. FDP) (B) ( [CDU/CSU]: Und Sie können (D) Es gibt Schwierigkeiten – das haben Sie angespro- nicht in Energiebilanzen rechnen!) chen – bei der Finanzierung von Innovationen, und Ich glaube, dass die Regierung auf einem guten Weg zwar nicht in der Phase der Existenzgründungen, son- ist, vor allem wenn sie mehr für nachhaltige Entwicklung dern in den darauf folgenden Phasen, wenn mehr Geld tut. Dafür stehen die Grünen. Wir werden uns auch weiter benötigt wird. Deswegen möchte ich vorschlagen, dass dafür einsetzen, Frau Reiche. wir uns rasch über das hinaus, was die Mittelstandsbank in diesem Bereich tut, um die steuerlichen Rahmenbe- Vielen Dank. dingungen für innovative Betriebe kümmern. Die gene- relle Steuerpflicht für wesentliche Beteiligungen ist in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Phase ein Hindernis. sowie bei Abgeordneten der SPD)

(Dirk Niebel [FDP]: Weiß das Herr Eichel?) Präsident Wolfgang Thierse: Der Verlust des Verlustvortrages bei sich schnell ändern- Das Wort hat nun Kollegin Ulrike Flach, FDP-Frak- den Eigentümerstrukturen ist hier ein Hindernis. Auch tion. die Steuerpflicht für Lizenz- und Patentgebühren stellt hier ein Hindernis dar. Ich rate allen in diesem Parla- Ulrike Flach (FDP): ment, zu schauen, was Frankreich und England tun. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr (Ulrike Flach [FDP]: Sie sind doch dran!) Kuhn, ich betrachte mit großem Interesse Ihre Äußerun- In der nächsten Zeit müssen wir neue Vorschläge ma- gen zum Thema Subventionen. Als Nordrhein-Westfälin chen, wie Innovationen steuerlich begünstigt werden wäre ich Ihnen natürlich sehr dankbar, wenn Sie das ein- können. mal im Detail mit Frau Höhn bereden würden. Das wäre sehr hilfreich für ein Land wie NRW, das weit unter dem (Dirk Niebel [FDP]: Sie regieren doch!) Durchschnitt liegt. – Hören Sie doch einfach in Ruhe zu. Vor allem Sie, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Niebel, können das eine oder andere lernen. der CDU/CSU) Der nächste wichtige Punkt, den ich ansprechen Liebe Kollegen, der Bericht zur technologischen möchte, ist, dass wir Subventionen abbauen müssen. Leistungsfähigkeit ist für die Forschung und Entwick- Das Festhalten an alten Subventionen ist der Feind von lung in Deutschland ungefähr das, was die Hannover Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3249

Ulrike Flach (A) Messe für die Industrie ist: ein Spiegel der Fähigkeit einer 15 Prozent einholen wollen. Der Bericht macht ganz (C) Volkswirtschaft zu Innovationen und ihrer Wettbewerbs- deutlich: Um dieses Dreiprozentziel zu erreichen, wer- fähigkeit. Da haben Sie, Frau Bulmahn, natürlich die Be- den in Deutschland mehrere Hunderttausend hoch quali- reiche aufgezählt – das nehme ich Ihnen nicht übel –, in fizierte Menschen an F-und-E-Personal gebraucht, die denen Fortschritte erzielt wurden. Aber der Tenor des wir zurzeit aber nicht haben, Frau Bulmahn. Wir sind Berichtes insgesamt entspricht dem natürlich nicht, son- auch nicht auf dem Weg, sie zu bekommen. dern er enthält eher das klare und deutliche Signal: Deutschland fällt eher zurück, als dass es auf der Auf- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) steigerliste steht. Das sind die Dimensionen, die wir erreichen müssten. (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ Dazu sind aufgrund der verfehlten Politik der Bundesre- CSU]: Kein Wunder bei der Regierung!) gierung gegenwärtig weder die Wirtschaft noch der Staat in der Lage. Wenn es 40 000 Betriebe weniger gibt, Der im Schnitt gute Bildungsstand der Bevölkerung wenn auch gut ausgebildete Ingenieure und IT-Spezialis- ist ein Plus; das sagt auch der Bericht. Aber wir alle, die ten arbeitslos sind – wir alle wissen das doch aus unse- wir hier sitzen, wissen doch, dass unsere Bildungsan- rem engsten Umfeld –, wo sollen dann Forschung und strengungen im internationalen Bereich alles andere als Entwicklung herkommen? Die Innovationsintensität der gut dastehen. Wirtschaft hat nachgelassen. Sie ist auf den Stand von 1995 zurückgefallen, Frau Bulmahn. Das ist kein positi- (Beifall bei der FDP) ves Signal, das ist verheerend. Wir sind international nicht in der Lage, mitzuhalten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die anhaltend schwache binnenwirtschaftliche Dynamik Schaffen Sie endlich wieder vernünftige Rahmenbedin- wird auch weiterhin zu einem Zurückfahren der F-und-E- gungen für die Wirtschaft und die Wissenschaft, damit Budgets der Unternehmen führen. Frau Bulmahn, bei Forschung Dynamik freisetzen kann! 40 000 Unternehmenspleiten im Jahre 2002 ist dies auch nicht verwunderlich. So sagt der Bericht eindeutig, dass Frau Reiche führte schon den Bericht der Bundesbank jetzt die Nagelprobe Ihrer Politik bevorsteht. Ich zitiere: zu technologischen Dienstleistungen in der Zahlungs- bilanz an. Auch er weist einen negativen Saldo aus. Die- ... Zukunftsinvestitionen in Forschung – und dies ses ist – das halte ich gerade für uns Forschungspolitiker gilt parallel auch für die Bildung – sind das Letzte, für sehr interessant – bei den Ingenieurdienstleistungen was dem konjunkturellen Rotstift der Haushalts- besonders dramatisch, bei denen sich das Zahlungsbi- konsolidierung zum Opfer fallen darf ... lanzdefizit in Ihrer Regierungszeit verdoppelt hat, Frau (B) Da müssen Sie sich fragen lassen, Frau Bulmahn, ob Bulmahn. (D) eine Nullrunde bei den großen Forschungsorganisatio- ( [Bayreuth] [FDP]: Hört! nen mit Ausnahme der DFG, ob ein Zurückfahren des Hört!) Haushaltes des BMBF dem wirklich entspricht. Das heißt, wir zahlen immer mehr für Patente, Lizenzen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und Ingenieurleistungen an das Ausland, als wir dadurch Wenn Sie das Ganztagsschulprogramm, das eigentlich von anderen einnehmen. Auch das ist ein Zeichen für ein Familienprogramm ist und deswegen gar nicht in Ih- eine Schwächung der technologischen Leistungsfähig- ren Haushalt gehört und auch nicht drinsteht, nicht im- keit. mer hineinrechnen würden, dann hätten Sie sogar einen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sinkenden Haushalt. Für junge F-und-E-Unternehmen ist die Kapital- Bei der Technologieförderung sieht es noch düsterer knappheit ein großes Problem. Im Bericht wird dazu aus. Wenn Sie die Ausgaben für Technologieförderung ausgeführt: in Ihrem Ministerium und im BMWA zusammenfassen, dann liegen Sie 2003 um 3,1 Milliarden Euro niedriger Der Markt für die Frühphasenfinanzierung von als 1998, nach der schrecklichen 16-jährigen Zeit von jungen Technologieunternehmen ist im Jahr 2002 CDU/CSU und FDP. geradezu eingebrochen (60 Mio. Euro gegenüber 388 Mio. Euro im Jahr 2000). Die Finanzierung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten entwickelt sich ... zum Strukturwandelhemmnis. der CDU/CSU) Da sind wir bei den Kernpunkten, Frau Bulmahn: Es Nach wie vor liegt die F-und-E-Intensität Deutsch- gibt in Deutschland nicht nur ein Defizit bei den staatli- lands deutlich hinter der Schwedens, Finnlands, Japans, chen Aufwendungen für F und E, sondern es gibt eben der USA und Koreas. Kollegin Reiche hat das eben deut- auch strukturelle Defizite. Wir haben noch immer kein lich gemacht. Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt lie- eigenes Tarifrecht für die Wissenschaft. Wir unterstützen gen wir bei 2,5 Prozent. Sie haben das Ziel für 2010 mit Sie, Frau Bulmahn, wenn es darum geht, dies zu ändern. 3 Prozent angegeben. Ich sage Ihnen für die FDP ganz Aber fragen Sie bitte einmal Herrn Schily – er ist be- deutlich: Natürlich teilen wir dieses Ziel. Aber wir müs- zeichnenderweise heute nicht anwesend –, was er zu die- sen einen höheren Gang einlegen, wenn wir die Steige- sem hoch brisanten Thema sagt. rungsraten Schwedens mit 30 Prozent zwischen 2000 und 2002, der USA mit 25 Prozent und Japans mit (Dirk Niebel [FDP]: Er will es nicht!) 3250 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Ulrike Flach (A) Sie versprechen landauf, landab Veränderungen; aber es Schlüsselbereichen wie I und K, Pharmazie und Elektro- (C) bewegt sich nichts. Wir haben immer noch keine Auto- technik können wir international nicht mithalten. nomie der Hochschulen bei Personal-, Finanz- und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Grundstücksmanagement. Wir haben ein Steuersystem, der CDU/CSU) das nicht ausreichend auf KMUs der F-und-E-Branche ausgerichtet ist. Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit muss alle Alarmglocken läuten lassen. Er ist ein wichti- In diesem Zusammenhang möchte ich – das ist ganz ges und sehr hilfreiches Dokument, dessen Aussagen wir aktuell – kurz auf die geplante Änderung der Körper- von der FDP sehr ernst nehmen. Bisher kann ich in der schaftsteuer hinweisen, auf die Sie sich offensichtlich Regierungspolitik insgesamt keine konsistente Linie für mit den Kollegen der CDU/CSU geeinigt haben. Wenn Forschung und Entwicklung erkennen. Es geht nicht an, die so genannte Mehrmütterorganschaft eingeschränkt dass die Anstrengungen der Forschungsministerin, die wird, wären besonders Joint-Venture-Unternehmen im wir an vielen Stellen unterstützen, immer wieder durch Forschungs- und Entwicklungsbereich betroffen. Kabinettskollegen konterkariert werden. (Beifall bei der FDP) Aber auch ihre eigenen guten Ansätze der ersten Jahre Das verunsichert die Unternehmen. Wie sollen sie in ei- wurden durch den Haushalt 2003 und durch Ihre Wort- ner solchen Situation investieren? brüche bei der Forschungsförderung verspielt. For- schungspolitik besteht aus Verlässlichkeit – das wissen Auch die wuchernde Bürokratie ist eine erhebliche gerade wir – und nicht aus Vergesslichkeit, liebe Frau Bremse für Forschung und Entwicklung. Fragen Sie die Bulmahn. Kollegin Homburger, die Ihnen einmal in der Woche er- zählt, was diese Belastung für die deutschen Unterneh- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) men bedeutet. Wenn Sie so weitermachen, prognostiziere ich Ihnen für (Jörg Tauss [SPD]: Das ist die richtige Zeugin! den Bericht 2003 einen dramatischen Absturz in vielen Woher weiß die das denn?) Bereichen. Anstatt in Forschung und Entwicklung zu investieren, (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist wie befassen sich die Unternehmen damit, irgendwelche Fra- Fallschirmspringen ohne Schirm!) gebögen für Statistiken auszufüllen. Da gibt es einen Das ist genau das, was dieses Land nicht vertragen kann. großen Änderungsbedarf. Priorität für Bildung und Forschung – auch angesichts (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten knapper Haushaltsmittel – haben Sie versprochen, Frau (B) der CDU/CSU) Bulmahn. Daran werden wir Sie auch weiterhin äußerst (D) Einige Worte zur Biotechnologie. Es ist ja schön, zu kritisch messen. hören, dass die Bundesregierung endlich die von uns seit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jahren geforderte Biotechnologiestrategie vorlegen will. Für die Forscher ist vor allem wichtig, dass endlich die Präsident Wolfgang Thierse: Widersprüche in der Regierungspolitik beseitigt werden. Deswegen ist es so interessant, was uns Kollege Kuhn Ich erteile das Wort Kollegen Franz Müntefering, eben gesagt hat. SPD-Fraktion. (Dirk Niebel [FDP]: Die müssten es halt mal (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten machen!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es wäre sehr schön, wenn Frau Künast auch einmal das Franz Müntefering (SPD): täte, was uns mit schönen Worten versprochen wird. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herren! Wir befinden uns in Deutschland in einer Phase der CDU/CSU) wichtiger Grundsatzentscheidungen über die zukünftige Selbstverständlich können wir es uns nicht leisten, dass Politik für dieses Land. Der Bundeskanzler hat am das eine Ministerium die grüne Gentechnik unterstützt 14. März von dieser Stelle aus deutlich gemacht, dass und das andere Ministerium sie verhindern will. Das ist wir in der Koalition entschlossen sind, Deutschland wirt- doch die Realität in diesem Lande. schaftlich und sozial an die Spitze in Europa zu führen, und dass wir bereit sind, die nötigen Maßnahmen einzu- Die Biopatentrichtlinie wurde eben schon angeführt; leiten. sie ist immer noch nicht umgesetzt. Ein wichtiger Punkt dabei wird sein – auch das war (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Regie- Gegenstand seiner Regierungserklärung –, dass wir den rung steht gleichzeitig auf der Bremse und gibt Bereich von Bildung und Forschung in den Mittelpunkt Gas! Das kann nichts werden!) unserer Anstrengungen stellen. Deshalb hat der Bundes- kanzler zugesagt, die Etatansätze der Max-Planck-Ge- Zum Thema Patente. In den nordischen Ländern, sellschaft und anderer Forschungseinrichtungen im aber auch in Korea, Holland und Kanada gibt es zwei- nächsten Jahr um 3 Prozent zu erhöhen. stellige Wachstumsraten pro Jahr bei der Patentanmel- dung. Deutschland dagegen weist gegenüber 2000 nur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine Steigerungsrate von 6 Prozent auf. In wichtigen DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3251

Franz Müntefering (A) Das ist eine ganz wichtige Botschaft der Regierungs- andere Länder sich engagieren. Wir wissen, dass Tech- (C) erklärung vom 14. März. nologie im großen Stil gekauft werden muss, weil wir sie nicht mehr selbst haben. Wir wissen, dass unser Welt- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Eine Verdopp- marktanteil im Hochtechnologiebereich niedriger ge- lung haben Sie versprochen!) worden ist. Wir wissen, dass wir unser Geld mit guten Wer auch morgen und übermorgen Wohlstand haben und reifen Produkten verdienen, dass aber zu wenige will, der muss heute neue Spitzentechnologien darunter sind. Wir wissen, dass bei uns viele Patentanmeldungen vorliegen, dass (Zuruf von der CDU/CSU: Die Regierung aber zu wenige neuartige Entwicklungen darunter sind. wechseln!) (Beifall der Abg. Katherina Reiche [CDU/ in Forschung und Technologie investieren. Das tun wir. CSU]) Wer morgen ernten will, muss heute Vor allen Dingen wissen wir, dass die Entwicklung (Zuruf von der CDU/CSU: Die Regierung der letzten Jahre in Deutschland nicht reicht, damit wir wechseln!) wieder an die Spitze kommen. Deshalb muss in diesem säen. Wir sind dabei, dies zu tun. Bereich ein neuer Schwerpunkt gesetzt werden. Dazu sind wir entschlossen. Die Frage ist nur: Welche Konse- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten quenzen zieht man aus den Erkenntnissen, die man hat, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu- aus den Entwicklungen der 90er-Jahre und aus der Reali- rufe von der CDU/CSU: Regierungswechsel!) tät, in der wir uns heute befinden? Wir wissen, dass eine große Anstrengung nötig ist. Zu den positiven Entwicklungen gehört allerdings, Dies gilt für beide Seiten des Hauses. Ich finde, dass die dass die kleinen und mittleren Unternehmen sehr viel Art und Weise, in der hier manches schwarz-weiß gemalt stärker als zuvor in die Fördermaßnahmen der Bundesre- wird, an der Realität vorbei geht. Die schlichte Wahrheit gierung und der öffentlichen Hände überhaupt einbezo- ist, dass Sie von der FDP und der CDU/CSU die nötigen gen sind. Über 66 Prozent aller an Fördermaßnahmen Entwicklungen in den 90er-Jahren verschlafen haben, beteiligten Unternehmen sind heute kleine und mittlere (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten. Dies DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: Sie sind entspricht einer absoluten Zahl von 1 700 Unternehmen jetzt schon fünf Jahre dran!) und einer Steigerung von 45 Prozent gegenüber 1998. Das ist eine stolze Zahl, die ausdrückt, dass kleine und dass Sie zusammen mit Herrn Kohl im Ohrensessel ge- mittlere Unternehmen heute viel stärker beteiligt sind. (B) sessen haben und dass wir heute alle miteinander das (D) auszubaden haben, was Sie damals liegen gelassen ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben. DIE GRÜNEN) (Ulrike Flach [FDP]: Wir sind ständig auf dem Deshalb hat auch der Wirtschaftsminister Recht, wenn Weg nach unten, Herr Müntefering!) er mit seiner Mittelstandsoffensive dafür sorgt, dass die- ser Teil der Innovationsförderung, auch auf kleine und Aber der Blick zurück nützt ja nichts. Jetzt müssen wir mittlere Unternehmen bezogen, neue und zusätzliche Im- nach vorne schauen. Deshalb ist es gut, dass Frau Minis- pulse bekommt. Es geht aber nicht nur um neue Arbeits- terin Bulmahn vortragen konnte, was wir zwischen 1998 plätze. Es geht auch darum, ob wir als Gesellschaft Fort- und 2003, also in den letzten viereinhalb Jahren, erreicht schritt wollen und ob wir uns auch in Zukunft bemühen, haben. Auf die Steigerung in Höhe von rund 25 Prozent das Leben mit den Möglichkeiten technologischer Ent- im Bereich Bildung und Forschung sind wir stolz. Dies wicklungen menschlicher und erträglicher zu machen. ist eine der wichtigsten Leistungen dieser Koalition in ih- rer Regierungszeit. Deshalb hat dieses Thema auch mit der Hoffnung auf Fortschritt in dieser Gesellschaft zu tun. Es geht um die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frage, ob wir ökonomische, ökologische und gesell- DIE GRÜNEN) schaftspolitische Fortschritte organisieren können. Was Wir haben aufgeholt. Wir haben das Saatgut nicht mehr die Koalition aus SPD und Grünen in den letzten vier verfüttert. Jahren im Bereich der Erneuerbaren Energien geleistet hat, ist gut. Es wird sich auszahlen. Es ist vernünftig be- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben es ver- züglich der Arbeitsplätze und der Ökologie. In der letz- gammeln lassen!) ten Legislaturperiode haben wir 16 Gesetze beschlossen, In den nächsten Jahren wird daraus Gutes entstehen. Das die in diese Richtung gingen. Aber 14 Mal haben Sie da- wissen wir. gegen gestimmt. Deshalb haben Sie so wenig Grund, sich über das zu erregen, was an dieser Stelle zu tun ist. ( [CDU/CSU]: Sprechen Sie mal mit den Wissenschaftlern!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir wissen aber auch, dass Selbstzufriedenheit nicht angebracht ist und dass in den nächsten Jahren viel zu Die Frage des heutigen und des zukünftigen Um- tun sein wird. Hier aber schwarz-weiß zu malen ginge an gangs mit Energie hat nicht nur größten Einfluss auf der Lebenswirklichkeit vorbei. Wir wissen, dass auch unsere Gesellschaft, sondern auch auf die Entwicklung 3252 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Franz Müntefering (A) der gesamten Menschheit. Deshalb fördern wir auch Jahre 2020 oder 2040 immer noch ein Wohlstandsland (C) weiterhin die Entwicklungen im Bereich der Brennstoff- wie heute ist. zelle. Dies ist eine große Chance für Fortschritt auf dem Energiemarkt; damit können wir ihn revolutionieren. Der Wohlstand in Deutschland hängt davon ab, ob die Wir wollen die Möglichkeiten einer solchen neuen Tech- innovative technologische Zukunftsfähigkeit dieses Lan- nologie nutzen und sie unterstützen. des gegeben ist. Dafür müssen wir bereit sein, einen Teil dessen, was wir heute erwirtschaften, nicht zu verfüttern, Es war diese Koalition, die das Satellitennavigations- sondern es in die Köpfe und Herzen der Kinder und jun- system Galileo in Europa mit entwickelt hat. Es bietet gen Menschen zu investieren. Das, was wir heute in Kin- eine große Chance für die Mobilität in unserem Land dergärten, Schulen, Hochschulen und Forschung und und in den anderen Ländern der Welt. Technologie investieren, ist entscheidend auch für die Alterssicherung und die Zukunft des Sozialstaats. Diesen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zusammenhang sehen wir. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das sind Dinge, die in die Zukunft weisen und das Le- DIE GRÜNEN) ben menschlicher machen, weil sie den Fortschritt in un- Bildung und Forschung sind eine der tragenden Säulen sere Gesellschaft bringen. in der Agenda 2010. Wir wissen, dass wir über viele an- Wir wissen, dass technologische Leistungsfähigkeit dere Dinge sprechen müssen, aber eben auch über Bildung Bedingungen hat und deshalb die Frage nach der Bil- und Forschung. Auch sie gehören zur Nachhaltigkeit. dung und Qualifizierung zentral ist. Es ist daher wich- Wenn Sie Nachhaltigkeit in Wahlkämpfen ansprechen tig, dass wir uns an dieser Stelle darüber unterhalten, – das wissen Sie auch alle –, erhalten Sie drei kurze Klat- was zu tun ist. Es ist soeben schon über die Frage, ob es scher, mehr Aufmerksamkeit nicht. Diese unsere Politik in Deutschland Ingenieure in ausreichender Zahl gibt, richtet sich nicht nach Legislaturperioden. Sie wird sich in gesprochen worden. Die zuständigen Verbände sagen zehn oder 20 Jahren auszahlen. Das haben wir im Blick uns, dass 70 000 bis 80 000 Ingenieure in Deutschland und dafür setzen sich Frau Bulmahn und diese Koalition fehlen. Das hängt damit zusammen, dass wir den Men- ein. Das werden wir auch in Zukunft machen. Unabhängig schen bisher nicht rechtzeitig gesagt haben, wo ihre Be- davon, wie Sie daran herumkritteln: Wir sind mit der Be- rufs- und Lebenschancen sind, es hängt aber auch damit tonung von Bildung und Forschung auf dem richtigen zusammen, dass die Unternehmen nicht rechtzeitig dafür Pfad und werden das in konkrete Politik umsetzen. sorgen, dass die nötigen Ausbildungen erfolgen. Die Un- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ternehmen dürfen eben nicht nur in der Welt herumrei- DIE GRÜNEN) (B) sen und sich die neuesten Maschinen kaufen, sondern sie (D) müssen auch rechtzeitig dafür sorgen, dass die Men- Es gibt in Europa eine Zahl, die uns alle bewegt und schen in unserem Land qualifiziert werden, damit die an- über die wir jeden Tag sprechen: 3 Prozent. Diese Zahl stehenden Aufgaben geleistet werden können. bezieht sich auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Es gibt in Europa aber noch eine andere Zahl, die mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 3 Prozent zu tun hat: Bis zum Jahre 2010 wollen wir DIE GRÜNEN) mindestens 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für For- schung und Entwicklung in ganz Europa ausgeben. Bezüglich der Frage der Leistungsfähigkeit haben Diese 3 Prozent sind genauso wichtig wie die 3 Prozent sich die Bundesregierung und die Koalition vorgenom- des Stabilitäts- und Wachstumspakts und wir werden sie men, in dieser Legislaturperiode 8,5 Milliarden Euro für beide realisieren. die Ganztagsbetreuung der Kinder in Kindergärten und Schulhorten auszugeben. Nun können Sie sagen: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Damit fangen Sie aber früh an. – Genau diesen Punkt aber müssen wir sehen. Wir brauchen neue Personalent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wicklungskonzeptionen in unserem Land; das ist die DIE GRÜNEN) Schlüsselfrage dabei, ob uns Innovationen und technolo- gische Entwicklungen gelingen. Das Problem der Bil- Präsident Wolfgang Thierse: dung und Qualifizierung in Deutschland werden wir nur Ich erteile dem Kollegen Martin Mayer, CDU/CSU- lösen können, wenn wir vorn anfangen, nämlich bei den Fraktion, das Wort. Kindern, den Schulen. Die Koalition wird einen zentra- len Beitrag für die technologische Entwicklung und da- mit für die Zukunft Deutschlands leisten. Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Rede von Frau Bulmahn hat man sich gefragt: Wo ist DIE GRÜNEN) denn eigentlich die Vision? Junge Menschen, die ihr zu- gehört haben, haben wohl gemerkt: Es gab eine Vergan- Wir haben uns in den letzten Wochen und Monaten genheitsbewältigung, aber keinen Blick in die Zukunft, die Köpfe über die Alterssicherung und die Zukunft des der Menschen begeistern könnte. Sozialstaats heißgeredet. Unabhängig davon, ob wir 65, 67 oder 69 Prozent als Rentenniveau ins Gesetz schrei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ben, bleibt die entscheidende Frage, ob Deutschland im neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3253

Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (A) Herr Müntefering, Sie haben hier in schönen Worten jetzt, da niemand mehr behaupten kann, dass diese Art (C) – Sie sind ja Meister in Worten und Sprüchen – darge- der Herstellung irgendeinen Nachteil habe, und wo deut- stellt, was Sie alles machen wollen. Das Drama aber ist, lich wird, dass die gentechnische Herstellung von Medi- dass diesen Worten keine Taten folgen. kamenten umweltfreundlicher, energiesparender und für die Menschen verträglicher ist, sind Sie dabei und (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Josef Fell schreiben das auf Ihre Fahne. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben doch Taten vollbracht!) Beispiel Transrapid. Eine SPD-geführte Bundes- regierung hat mit der Entwicklung der Magnetschwebe- Dazu könnte man als Beispiele die Max-Planck-Gesell- bahn begonnen. Ein SPD-Bundeskanzler fährt nach schaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft nen- China und lässt sich bejubeln. Als es aber darum ging, nen, denen Sie eine Erhöhung der Zuwendungen ver- die Strecke –Berlin, die beste Strecke auf der sprochen haben. Dieser Haushalt aber zeugt von Welt für den Transrapid, zu bauen, sind Sie weggetreten, Kürzungen und Stagnation. meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulla CSU – Jörg Tauss [SPD]: Die DFG hat einen Burchardt [SPD]: Jetzt sind Sie auch wegge- Aufwuchs! 16 Millionen! Nehmen Sie das ein- treten, Herr Mayer!) mal zur Kenntnis!) Es ist zu befürchten, dass sich dieses Trauerspiel beim Wir diskutieren heute über einen Bericht über Innova- Metrorapid in Nordrhein-Westfalen wiederholt. tionen, der von Wissenschaftlern im Auftrag der Bun- desregierung erstellt worden ist. In dem wichtigsten Teil Ein weiteres Beispiel für die Innovationsfeindlichkeit dieses Berichts, den Aussagen zu den Perspektiven der von Rot-Grün ist die Verteufelung von allem, was mit Innovationspolitik, findet sich ein eigenartiger Satz. Ich Radioaktivität zu tun hat. zitiere: (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) Die Hinweise zu den Perspektiven für die Bildungs-, Wenn Sie den Weg weg vom Öl wirklich ernsthaft be- Forschungs- und Innovationspolitik können nicht schreiten wollen, dann müssen Sie nicht nur die Erneuer- umfassend sein, denn der Untersuchungsauftrag baren Energien fördern – wir sind uns einig, dass dies war begrenzt. nötig ist –, sondern dann müssen Sie auch dafür sorgen, In welcher Weise war er denn begrenzt? Wurden be- dass Deutschland seine Spitzenstellung in der Kern- stimmte Themen zum Tabu erklärt? Es fällt jedenfalls fusionsforschung behält, und diesen Weg mit uns ge- auf, dass im Kapitel „Chemische Industrie“, die als meinsam gehen. (B) (D) Branche beispielhaft aufgeführt ist, kein einziges Wort (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – über die grüne Gentechnik zu finden ist. Dabei könnte Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gerade die grüne Gentechnik Deutschland dazu verhel- NEN]: Damit wir in 100 Jahren ein Ergebnis fen, im Bereich der Pharmazie – Deutschland war ja ein- haben!) mal die Apotheke der Welt – wieder an die Weltspitze zu gelangen. Das zu verkünden wäre visionär. Es ist doch bezeichnend, dass bei ITER, einem großen internationalen Projekt der Kernfusionsforschung, das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und uns befähigen soll, in der zweiten Hälfte dieses Jahrhun- der FDP) derts auf diesem Wege Strom zu erzeugen, niemand Die Bundesregierung aber macht hier Konzessionen an mehr an Deutschland denkt. Es traut sich niemand mehr, die rot-grünen Ökofundamentalisten und behindert die Deutschland als Standort vorzuschlagen, weil Rot-Grün grüne Gentechnik mehr, als sie sie fördert. diese Technik von vornherein verteufelt. Frau Bulmahn hat hier von einer Förderung der Bio- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wissenschaften gesprochen. Hiervon ist die grüne Gen- NEN]: In der zweiten Hälfte müssen die Pro- technik aber ausgenommen. Das ist so, als ob jemand bleme gelöst sein!) den Motor aufheulen lässt, damit die Leute meinen, jetzt Ich finde, das ist ein Skandal. startet er richtig, er aber in Wirklichkeit die Handbremse angezogen hat. Ich finde, mit einer solchen Politik wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den wir Deutschland nicht an die Spitze bringen. Wir werden im gesamten Bereich der Kerntechnik (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bald zum Entwicklungsland. Es wird in Deutschland neten der FDP) bald niemand mehr geben, der kerntechnische Anlagen bauen, betreiben oder entsorgen kann. Bei den Innovationen ist die Bundesregierung immer dann auf dem Rückzug, wenn es brenzlig wird, und be- (Beifall der Abg. Heidi Wright [SPD] – Hans- sonders eifrig, wenn die Schlachten geschlagen sind. Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt aber nicht nur für die Innovationspolitik. Als Das ist gut so!) Beispiel nenne ich die rote Gentechnik. Dabei geht es Das müsste eigentlich allen zu denken geben. darum, bestimmte Medikamente gentechnisch herzustel- len. Solange es hier noch gewisse Unsicherheiten gab, Der Bericht der Wissenschaftler zeigt eine Reihe von haben die Grünen das mit aller Vehemenz bekämpft. Erst weiteren Mängeln auf – das Thema Bürokratieabbau 3254 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (A) zum Beispiel ist schon angesprochen worden –, aber die noch: Die Wirtschaft reagiert prozyklisch. 2003 ist eine (C) Stellungnahme der Bundesregierung ist sehr dürftig. Sie Kürzung der Firmenbudgets für Forschung und Entwick- besteht vielfach aus Worthülsen, so wie die Rede der Mi- lung zu erwarten. nisterin, beginnt allerdings mit einer richtigen Feststel- lung: Ein weiteres Warnzeichen: Seit Beginn der 90er-Jahre verschlechtert sich die Zahlungsbilanz bei technologi- Die technologische Leistungsfähigkeit Deutsch- schen Dienstleistungen drastisch. Frau Flach, wir neh- lands bestimmt über die Erfolge deutscher Unter- men das ernst. nehmen im internationalen Technologiewettbe- werb. Sie ist die Grundlage für wirtschaftliches (Ulrike Flach [FDP]: Wir auch!) Wachstum und zukunftsfähige Arbeitsplätze. Vor zwei Jahren sind die Technologiebörsen weltweit Dem kann ich nur zustimmen. Aber wenn man sich im eingebrochen. Dies ist keine nationale Schuld. Der Risi- Umkehrschluss die Arbeitsplatzentwicklung in Deutsch- kokapitalmarkt ist in diesem Zuge in Deutschland seit- land mit dem dramatischen Anstieg der Arbeitslosenzah- dem um 85 Prozent geschrumpft. Bildlich gesprochen: len anschaut, kann man doch nur feststellen: Diese Bun- Schwarz-Gelb hat das Loch in den Boden gehauen und desregierung hat in der Innovationspolitik versagt. Rot-Grün ist es noch nicht gelungen, es vollständig zu Deshalb sage ich: Die vordringlichste Innovation, die stopfen. Gegenseitige Schuldzuweisungen mögen viel- wir in Deutschland brauchen, ist eine neue Bundesregie- leicht einige selbstzufriedene Gemüter bei Ihnen er- rung. freuen, helfen aber dem Land nicht weiter. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neten der FDP) und bei der SPD) Meine Damen und Herren von Union und FDP, wir Präsident Wolfgang Thierse: dürfen nicht in Skeptizismus und Resignation verfallen, Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Josef Fell, wie Sie das tun. Bündnis 90/Die Grünen. (Ulrike Flach [FDP]: Das tun wir nicht!)

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Bericht zeigt auch auf, dass Deutschland eine starke Forschungslandschaft aufweist, öffentlich und privat. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch- Wir haben hier in Deutschland viele kluge Köpfe und land ist ebenso abhängig von seiner technologischen eine sehr gute Infrastruktur. Wenn es uns gelingt, brach- Leistungsfähigkeit wie Saudi-Arabien vom Ölexport. (B) liegende innovative Potenziale zu erschließen, muss uns (D) Aber im Vergleich zu Saudi-Arabien haben wir einen wirklich nicht bange sein. Vorteil: Die technologische Leistungsfähigkeit ist keine begrenzte Ressource Wir müssen auf drei Ebenen vorgehen. Erstens. Der Staat muss aktiv handeln. Bund und Länder müssen (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wenn Sie über eigene Haushaltsanstrengungen auf das EU-Ziel so weitermachen, wird sie das aber!) hinarbeiten, 3 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für und Deutschland hat ein hohes Niveau. Allerdings ste- Forschung auszugeben. Um dieses Ziel zu erreichen, hen wir unter einem hohen Wettbewerbsdruck. Das müssen die Forschungsausgaben von Staat und Wirt- heißt, wir müssen das hohe nationale Niveau stetig aus- schaft jährlich um 5 bis 6 Prozent steigen. Dies wird un- bauen, um nicht überholt zu werden. Wir müssen das In- ter dem Gesichtspunkt der Haushaltskonsolidierung novationspotenzial dieser Gesellschaft weiter erschlie- nur gelingen, wenn im Haushalt neue Prioritäten gesetzt ßen, werden, (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ (Ulrike Flach [FDP]: Da sind wir gespannt!) CSU]: Tun Sie es doch!) nicht aber, wenn man Subventionsabbau verhindert, wie um den Teufelskreis aus Konjunkturschwäche, höherer Sie das immer wieder getan haben. Arbeitslosigkeit, wachsenden Lohnnebenkosten und (Lachen der Abg. Ulrike Flach [FDP]) wiederum Konjunkturschwäche zu durchstoßen. Wenn wir die technologische Leistungsfähigkeit weiter erhö- – Gestern erst. hen, können wir die Haushaltsmisere und die Arbeitslo- sigkeit erfolgreich bekämpfen. Neue Arbeitsplätze wer- (Ulrike Flach [FDP]: Welche Subventionen den vor allem durch neue Produkte und durch die denn?) Umsetzung von Innovationen geschaffen. Eine intelli- Berechtigterweise ist deswegen im Bericht zu lesen – ich gente Vernetzung der Arbeit à la Hartz-Konzept ist wich- zitiere –: tig, funktioniert aber nur dort, wo es auch etwas zum Verteilen gibt. Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung sind das Letzte, was dem konjunkturellen Rotstift Wir Grüne verkennen nicht die mahnenden Worte des der Haushaltskonsolidierung zum Opfer fallen darf. Technologieberichtes. Zum Beispiel zeigt der Bericht, dass deutsche Hightech-Unternehmen Gefahr laufen, im (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- internationalen Wettbewerb zurückzufallen. Schlimmer SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3255

Hans-Josef Fell (A) Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: Sie haben nichts (C) CSU]: Handeln Sie danach!) begriffen!) Auch bei der Forschungsförderung selbst müssen alte – Herr Mayer, in 50 Jahren kann der Energiebedarf voll- Zöpfe abgeschnitten werden, um Platz für neue Triebe ständig über die Erneuerbaren Energien gedeckt werden. zu schaffen. Es muss endlich Schluss sein mit der unendlichen Ge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schichte der Kernfusion, die nur Luftschlösser produ- SES 90/DIE GRÜNEN) ziert, aber keine Umstellung der Energieproduktion be- wirkt. Forschungsförderung aber ist nur das eine. Darüber hi- naus muss der Staat vor allem über die neue Mittel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN standsbank aktiv Innovationen fördern. Auch dies stre- und bei der SPD – Dr. ben wir durch konkrete Maßnahmen an. [FDP]: Das ist doch kompletter Unsinn!) Zweitens. Die Rahmenbedingungen insgesamt müs- Drittens. Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche sen so zugeschnitten werden, dass Unternehmen und Aufbruchstimmung für die Entwicklung von Innova- Banken mehr Mittel für Technologieentwicklung bereit- tionen. Diese Aufbruchstimmung muss parteiübergrei- stellen. Unter anderem sind hierfür die steuerlichen fend von breiten gesellschaftlichen Schichten getragen Rahmenbedingungen zu verändern. werden. (Ulrike Flach [FDP]: Diese verschlechtern sich (Jörg Tauss [SPD]: Aber doch nicht von den gerade!) Miesmachern dort drüben!) Genau dies wird derzeit zum Beispiel in Frankreich oder Dabei besteht, wie ich denke, Grund zur Eile. Ich Großbritannien gemacht: Frankreich setzt mit seinem In- schlage daher vor, eine Task Force einzurichten, die das novationsplan vor allem auf steuerliche Anreize. Groß- Ziel hat, die technologische Leistungsfähigkeit Deutsch- britannien lockt mit umfangreichen Steuererleichterun- lands sicherzustellen und auszubauen. Diese Task Force, gen und hohen Zuschüssen gezielt innovative die nicht mit Kommissionen zu verwechseln ist, soll Unternehmen auf die Insel. Bürokratieabbau, ein freund- möglichst schnell ressortübergreifende Lösungsansätze liches Einwanderungsrecht, dem Sie sich immer entge- vorlegen. Sie muss bereit sein, unkonventionelle Wege genstellen, zu gehen und eng mit dem Parlament zusammenzuarbei- ten. (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ CSU]: So ein Unsinn! – Ulrike Flach [FDP]: Rot-Grün hat, anders als die alte Regierung, For- (B) Wo leben Sie denn?) schung, Entwicklung und Bildung wieder in den Mittel- (D) punkt gerückt. Auf diesem Weg werden wir weiter aktiv Abbau von Subventionen für überkommene Strukturen voranschreiten. sowie mehr Wettbewerb in leistungsgebundenen Märk- ten sind weitere Themen, die wir angehen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) An dieser Stelle möchte ich, wie bereits Herr Müntefering vor mir, mit dem Bereich der Erneuer- baren Energien einen Technologiebereich hervorheben, Präsident Wolfgang Thierse: der aufgrund guter gesetzlicher Rahmenbedingungen Ich erteile das Wort Kollegen Helge Braun, CDU/ auch in einer schwierigen Wirtschaftslage stark expan- CSU-Fraktion. diert und in dem Deutschland, Frau Reiche, einen echten Spitzenplatz in der Welt einnimmt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Helge Braun (CDU/CSU): 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Aber das sehen Sie offensichtlich nicht. Das Erneuer- Herren! Eine Firma wie Siemens erwirtschaftet drei bare-Energien-Gesetz hat zu umfangreichen Investitio- Viertel ihres Umsatzes mit Produkten, die jünger als fünf nen, technologischen Sprüngen, zahlreichen neuen Ar- Jahre sind. Ich glaube, das macht beispielhaft deutlich, beitsplätzen und Umsatzwachstum geführt. Von dieser wie entscheidend ständige Innovationen und Investitio- Erfolgsgeschichte müssen wir auch für andere Technolo- nen in Forschung und Entwicklung für unser Land und giebereiche lernen, vor allem in der Frage des ökologi- unsere wirtschaftliche Zukunft sind. schen Umbaus. (Jörg Tauss [SPD]: Wer regiert denn seit fünf Frau Flach und Herr Mayer, wir müssen jene Zu- Jahren?) kunftstechnologien fördern und in sie investieren, wel- che die Bürger wollen. Dazu zählt aber nicht die grüne Herr Fell, das Grundproblem zwischen uns scheint Gentechnik. Genfood lehnen 80 Prozent der Bevölke- mir zu sein, dass sich Ihre Definition von Investition und rung ab. Was Sie fordern, sind Fehlinvestitionen in Wirt- Subvention offensichtlich an ideologischen Gesichts- schaftsbereiche, die weiter rückläufig sind. punkten festmacht, während wir davon reden, was der Wirtschaft und der Gesellschaft in Deutschland nützt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Mayer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 3256 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Helge Braun (A) Sie haben das Argument der Steigerung der For- führt auch dazu, dass die Unternehmen weniger Perspek- (C) schungs- und Entwicklungsausgaben um 25 Prozent tiven dafür sehen, in Deutschland anspruchsvolle Pro- während Ihrer Regierungsphase so oft angesprochen, dukte zu entwickeln. dass ich nicht umhin kann, doch noch einmal zu betonen, worum es hier wirklich geht: Es geht hier nicht um eine Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit historische Betrachtung der Ausgaben in Deutschland; Deutschlands 2002 stellt eindeutig fest, dass wir hier schließlich verändert sich die Welt rasant. Zudem sind keineswegs nur ein konjunkturelles Problem haben. Es entsprechende Ausgaben in den USA – auch das ist an- gibt auch zahlreiche strukturelle Probleme, die wir an- gesprochen worden – in den letzten zwei Jahren um gehen müssen. So ist der Fachkräftemangel, den wir in 30 Prozent gestiegen, während wir nur eine Steigerung Deutschland zu verzeichnen haben, bereits mehrfach an- von 6 Prozent auf die Reihe bekommen haben. Wenn gesprochen worden. Deshalb ist es nicht an der Zeit, dar- man sagt, das alles habe mit der Haushaltslage und der über zu reden, wie wir durch Zuwanderung neue Fach- schwierigen wirtschaftlichen Zeit zu tun, muss man kräfte nach Deutschland bekommen, sondern es ist gleichzeitig sehen, dass die Japaner in der gleichen Zeit wesentlich wichtiger, einmal zu überlegen, warum jähr- eine Steigerung von immerhin 15 Prozent erreicht haben lich etwa 300 000 der besten Köpfe aus Deutschland – und dieses Land befindet sich nun wirklich nicht in ei- flüchten. ner besseren wirtschaftlichen Lage als wir. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Das alles zeigt, dass Ihre Maßnahmen, Frau Bulmahn, Tauss [SPD]: Das ist die Überschrift aus Ihrer falsch waren, und das, was Sie in diesem Jahr getan ha- Regierungszeit: Die besten Köpfe gehen!) ben, war in besonderem Maße falsch. Wir haben gestern Vergleicht man die Bedeutung verschiedener techno- darüber diskutiert, wie sich die Haushaltslage in logieintensiver Branchen in Deutschland – auch das ist Deutschland entwickelt. Es gibt ständig neue Warnzei- schon angesprochen worden –, stellt man zahlreiche chen. Mit welchem Recht können Sie heute eigentlich strukturelle Defizite fest. Deutschland ist nach wie vor behaupten, dass Sie die Haushaltsmittel in den kommen- gut in den traditionellen Bereichen der Automobilindus- den Jahren aufstocken werden? Es gibt doch überhaupt trie und des Maschinenbaus. Dies ist eine relativ solide kein Licht am Horizont der schlechten Haushaltsent- Grundlage für unsere Zukunft. Aber wenn wir spitze wicklung, die diese Bundesregierung zu verantworten sein und unser Wohlstandsniveau in Deutschland erhal- hat. ten wollen, dann müssen wir uns darüber hinaus stärker (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auf die Spitzentechnologien und die Wachstumsmärkte der Zukunft konzentrieren. Dort sieht das Bild düsterer Sie reden von einer Hebelwirkung und sagen, dass In- aus. (B) vestitionen in Forschung und Entwicklung uns helfen, (D) wirtschaftliche Kraft zu entfalten. Wenn es tatsächlich so Bei den F-Und-E-intensiven Waren besteht ein Expor- ist, dass wir mit jedem Euro, den der Staat ausgibt, die tüberschuss. Aber bei den F-Und-E-intensiven Dienst- Investitionen der Industrie und der Wirtschaft befördern, leistungen sieht es wesentlich schlechter aus. Während in dann ist es doch erst recht notwendig, dass wir in kon- diesem Bereich noch 1997 Waren im Wert von umge- junkturell schwieriger Zeit eine wirklich große Anstren- rechnet 1 Milliarde Euro in andere europäische Staaten gung unternehmen. exportiert wurden, müssen wir heute technologische (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dienstleistungen in Höhe von 1,7 Milliarden Euro im engeren Bereich von F und E einkaufen. Das ist keine Der britische Physiker Michael Faraday hat es sehr gute Entwicklung, Frau Ministerin. schön ausgedrückt, als er auf die Frage des englischen Finanzministers, wozu seine Erfindung zu gebrauchen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sei, gesagt hat: „Sir, eines Tages werden Sie sie besteu- neten der FDP) ern können.“ Die Branchenunterschiede zeigen sich auch bei den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wissenschaftlichen Publikationen. Das gute Abschnei- den Deutschlands im Science Citation Index wird wie- Gerade angesichts der schwachen Konjunktur wäre es derum in klassischen Bereichen erwirtschaftet. Am bes- also richtiger gewesen, die Anstrengungen noch einmal ten sind unsere wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu intensivieren. Im Bereich der forschenden und ent- im Bauwesen. Bei Zukunftsbereichen wie Kommunika- wickelnden Unternehmen können wir drei konjunktu- tion oder Datenverarbeitung nimmt Deutschland keinen relle Probleme feststellen: Erstens. Die Aufzehrung der Spitzenplatz ein. Auch da haben wir einen großen Nach- Kapitaldecke der Unternehmen führt dazu, dass sie nicht holbedarf. Die Freiheit der Wissenschaft und der Unter- genügend Mittel haben, um im Hinblick auf neue Pro- nehmen müssen wir in Deutschland zurückgewinnen, dukte in Forschung und Entwicklung zu investieren. damit wir in Zukunft unseren Wohlstand halten und den Zweitens. Die Risikokapitalgeber in Deutschland sind in Technologiestandort Deutschland verbessern können. wirtschaftlich schwieriger Zeit weniger als sonst bereit, jungen Unternehmen die Frühförderung zu geben, die Ich selber habe Forschung an der Universität Gießen sie benötigen, um Existenzen im F-Und-E-Sektor zu be- betrieben. Den Zettel mit einem Zitat, der dort an einer gründen. Drittens. Die anspruchsvolle Nachfrage, die es Pinnwand hing, hätte ich gerne weggenommen. Ich auf dem deutschen Markt immer gab, ist zusammenge- möchte, dass wir uns anstrengen, Deutschland wieder brochen. Der Run in Deutschland auf die Billigprodukte zum Technologiestandort Nummer eins zu machen, da- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3257

Helge Braun (A) mit dieses Zitat des Mathematikers und Philosophen gesagt hat. Der Bericht beschreibt insbesondere im Be- (C) Bertrand Russell keine Berechtigung mehr hat: reich der Hochqualifizierten einen deutlichen Mangel, der zu erheblichen Problemen führen wird, wenn wir Die Wissenschaftler bemühen sich, das Unmögliche nicht energisch gegensteuern. Positiv ist der wesentlich möglich zu machen. Die Politiker bemühen sich oft, durch die BAföG-Reform bewirkte Anstieg der Studen- das Mögliche unmöglich zu machen. tenzahlen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Bachelor- und Masterstudiengänge können einen Präsident Wolfgang Thierse: Beitrag zur Attraktivitätssteigerung des Hochschulbe- Dies war die erste Rede des Kollegen Helge Braun. suchs leisten. Unsere herzliche Gratulation! Der von der Bundesministerin angebotene Pakt für (Beifall) Hochschulen ist dringend nötig, um die Studienbedin- Ich erteile das Wort dem Kollegen Swen Schulz, gungen zu verbessern. Die Studienabbrecherquote muss SPD-Fraktion. gesenkt und die Studiendauer muss gekürzt werden. Die Nachwuchsarbeit ist weiter zu intensivieren. Die Hoch- (Beifall bei der SPD) schulen müssen in die Lage versetzt werden, sich ein in- ternationales Profil zu erarbeiten. Dem absehbaren Fach- Swen Schulz (Spandau) (SPD): kräftemangel muss durch die optimale Förderung der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und hier Geborenen, aber auch durch gezielte Zuwanderung Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Die technologi- ausländischer Akademiker entgegengewirkt werden. sche Leistungsfähigkeit Deutschlands ist zweifelsohne (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nach wie vor hoch. Doch wir müssen erkennen, dass un- DIE GRÜNEN) sere Spitzenstellung kein Naturgesetz ist. Jahr für Jahr müssen wir an dem hohen Niveau der Leistungsfähigkeit Wir müssen darüber hinaus unser gesamtes Bildungs- arbeiten; denn die Konkurrenz schläft nicht. system auf die Erfordernisse der Wissenswirtschaft ein- stellen. Bereits in der Schule werden die Grundlagen ge- Der sehr detaillierte Bericht zur technologischen Leis- bildet. Die Menschen müssen die Chance erhalten, die in tungsfähigkeit Deutschlands hat im Wesentlichen drei ihnen steckenden Potenziale zu entwickeln. Die Bundes- zentrale Aussagen: Erstens. Wir haben seit Anfang der regierung gibt bereits in Zusammenarbeit mit den Län- (B) 90er-Jahre Boden verloren. Zweitens. Die seit 1999 un- dern wichtige Impulse für die Qualitätssteigerung der (D) ternommenen Anstrengungen zeigen Erfolge. Drittens. Schulbildung, etwa mit der Finanzierung von Ganztags- Das reicht aber noch nicht aus. Wir dürfen uns nicht zu- schulen und mit der Formulierung nationaler Bildungs- rücklehnen, sondern müssen weiter voranschreiten. standards. Auch und gerade in Zeiten der konjunkturellen Durst- strecke sind Zukunftsinvestitionen von größter Bedeu- Wir müssen vor allem eines beachten: Eine Gesell- tung. schaft, die auf die Kompetenz vieler Menschen verzich- tet, weil sie aufgrund ihrer sozialen Herkunft schlechtere (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bildungschancen erhalten, ist erstens ungerecht organi- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) siert und zweitens volkswirtschaftlich schlecht aufge- Das gilt für die Wirtschaft ebenso wie für die öffentli- stellt. chen Haushalte. Es ist darum richtig, dass der Bundes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kanzler ein so klares Bekenntnis zu Investitionen in die DIE GRÜNEN) Zukunft abgelegt hat. Die Haushaltskonsolidierung ist unbestritten notwendig; denn wenn wir weiter hem- Der Technologiebericht hat auf diesen Missstand hinge- mungslos auf Pump leben, werden die kommenden Ge- wiesen. Während 72 Prozent der Kinder aus hoher sozia- nerationen noch weniger Gestaltungsmöglichkeiten ha- ler Herkunft den Hochschulzugang erwerben, erreichen ben als wir. Aber genau deswegen ist Sparen kein dies ganze 8 Prozent der Kinder aus unterer sozialer Her- Selbstzweck. Gerade im Hinblick auf unsere Verantwor- kunft. Darum sind Maßnahmen notwendig, um Kinder tung, optimale Grundlagen für die kommenden Generati- und Jugendliche aus so genannten bildungsfernen onen zu schaffen, müssen wir in Bildung, Forschung und Schichten zu fördern, statt sie frühzeitig auf ein niedriges Innovation investieren. Wir müssen für die Zukunft spa- Bildungsniveau festzulegen. Die Arbeitslosen von mor- ren, nicht an der Zukunft. gen gehen heute zur Schule. Die beste Arbeitsmarktpoli- tik ist eine ausgezeichnete Bildungspolitik. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Im Technologiebericht nimmt der Bereich Bildung diesmal zu Recht einen Schwerpunkt ein; denn schließ- Ich hoffe, dass wir durch PISA und IGLU zu einer lich stellt das Bildungssystem das Fundament der tech- ernsthaften und ideologiefreien Diskussion über die nologischen Leistungsfähigkeit dar. Ich finde es sehr Dauer der gemeinsamen Schulzeit aller Kinder und Ju- schade, dass die Opposition hierzu bislang noch wenig gendlichen kommen. Wer immer noch den gemeinsamen 3258 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Swen Schulz (Spandau) (A) Unterricht gegen die Begabtenförderung ausspielen Jetzt aber kommt kein jungfräulicher Redner, sondern (C) möchte, dem halte ich ein Zitat aus dem Technologiebe- der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber. richt entgegen: (Heiterkeit) Elitequalifikationen können nicht entstehen, wenn die frühe Förderung in der Breite versagt. Sie haben das Wort.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): DIE GRÜNEN) Herr Präsident, dass Sie mir die Jungfräulichkeit ab- Darüber hinaus müssen wir unsere Anstrengungen sprechen, ist nicht ganz falsch. Schließlich habe ich vier forcieren, den Zugang zu Hochschulbildung zu öff- tüchtige und glückliche Kinder. nen, damit diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – das Abitur nicht haben, über ihre berufliche Ich freue mich, dass wir uns in den Grundsatzfragen Qualifikation in den Hochschulbereich gelangen und in einer so expliziten Weise einig sind. Ich vernehme somit ein Spitzenniveau der Bildung erreichen können. hier nur Begeisterung für Technologie. Ich begrüße es Der Technologiebericht bescheinigt uns gerade in die- auch, Herr Müntefering, dass Sie in diese Debatte einge- sem Bereich im internationalen Vergleich eine schlechte stiegen sind. Position. Wir haben in den nächsten Jahren in der Tat in diesem Angesichts der skizzierten bundespolitischen Heraus- Bereich noch feiste Probleme zu lösen. Mehrere Redner forderungen habe ich kein Verständnis dafür, dass sich haben über die Entwicklung des Haushalts gesprochen. die CDU/CSU-Fraktion offenbar seit neustem gegen die Der Haushalt des Forschungsministeriums hat sich recht gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern gut entwickelt; Frau Bulmahn hat das mit angemessenem ausspricht. Stolz vorgetragen. Der Haushalt des Technologiebe- reichs dagegen – dieser fällt nach dem Organisationser- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lass des Bundeskanzlers nämlich dem Wirtschaftsminis- DIE GRÜNEN) terium zu – hat in den letzten Jahren bestenfalls stagniert. Es steht bei allen nachvollziehbaren Überlegungen zur Wenn man den Zuwachs für 2003 verstehen will, muss Organisation des Föderalismus fest, dass die Bildung man eine komplexe Rabulistik zum BTU anwenden, um eine gesamtstaatliche Herausforderung darstellt. überhaupt zu begreifen, wie das Bezahlen für Flops be- rechnet werden soll. Das heißt also, was insgesamt im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Forschungsbereich der rot-grünen Bundesregierung pas- DIE GRÜNEN) siert ist, bedeutet einen Zuwachs von vielleicht 10 Pro- (B) zent, ungefähr 2 Prozent im Jahr. (D) Bund und Länder sind zur Zusammenarbeit angehal- ten. Vor allem aber sind die Kinder und Jugendlichen da- Herr Müntefering, ich finde es großartig, dass Sie sa- rauf angewiesen, dass in jeder Hinsicht alles unternom- gen: Wir werden den dreiprozentigen Haushaltsanteil in men wird, um ihren Interessen gerecht zu werden. Ich 2010 erreichen. – Dazu braucht es die Führungskraft des halte es daher für grundsätzlich falsch, dass sich die Fraktionsvorsitzenden. Bundestagsfraktion der CDU/CSU faktisch aus der Ge- staltung der Zukunft ausklinken will. Ich setze aber da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bei- rauf, dass die diesbezüglichen Ausführungen der Kolle- fall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des gin Reiche vorige Woche im Fachausschuss nicht mit BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Fraktion abgestimmt waren und bald korrigiert wer- Sie sind hier im Wort und ich gehe davon aus, dass dies den. ein stetiger und entschlossener Anstieg wird. Was in der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ MifriFi steht – minus 2,8 Prozent für das nächste Jahr, DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Hoffen weil die Zuwächse im Zusammenhang mit dem Verkauf wir es!) der UMTS-Lizenzen auslaufen –, werden Sie kraftvoll stemmen. Sie werden Frau Bulmahn beistehen und dem Die Regierungskoalition hat aus der Entwicklung seit Wirtschaftsminister helfen, der hier vereinsamt in der Anfang der 90er-Jahre bereits 1998 die richtigen Gestalt seines Staatssekretärs auf der Regierungsbank Schlüsse gezogen und Weichenstellungen für die Zu- sitzt. kunft vorgenommen. Wir alle sind jetzt aufgefordert, das Tempo zu erhöhen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Herzlichen Dank. Frau Bulmahn hat festgestellt, die Bundesregierung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ habe die Weichen richtig gestellt. Das fing 1998 an. Da DIE GRÜNEN) hat die Bundesregierung hier beschlossen, dass Techno- logie in den Zuständigkeitsbereich des Wirtschafts- Präsident Wolfgang Thierse: ministers fällt. Was ist passiert? Der Mittelstand, die Auch dies war eine erste Rede im Deutschen Bundes- Luftfahrt und Energieindustrie sind an das Wirtschafts- tag. Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Schulz! ministerium gegangen. Die tüchtigen Beamten, die Mit- tel und die Titel sind beim Wirtschaftsminister ange- (Beifall) kommen, aber die Begeisterung der Leitung für diese Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3259

Dr. Heinz Riesenhuber (A) Themen war ungemein begrenzt. Die Leidenschaft des (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) alten Wirtschaftsministers war gedämpft. Beim neuen Hier!) Wirtschaftsminister wissen wir noch nicht, wie es ihm ums Herz ist. Ich würde es jedenfalls gern einmal erle- – Ah, auf den letzten Bänken angekommen! ben, dass dafür gekämpft wird. Strahlkraft ist so nicht (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und entstanden: Die Themen sind Ihnen genommen, aber an- der FDP) gekommen ist nichts. Wir befinden uns in einem leeren Raum. Herr Kuhn, ich bin etwas skeptisch gegenüber ihrer wei- sen Erkenntnis, dass man sich auf bestimmte Gebiete Liebe Frau Bulmahn, Sie sind bekannt für Ihr Enga- konzentrieren sollte, die der Staat in seiner Weisheit und gement bei IGLU, BAföG und PISA. Aber für einen Güte vorgibt. Aufbruch in die Welt der Gene, in die Welt der Compu- ter und die Welt der Quanten haben Sie nicht gesorgt. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wohl wahr!) Sie verbreiten nicht gerade eine Faszination in dieser Der Staat weiß von Zukunft gar nichts. Welt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der FDP) neten der FDP) Der Staat erbringt schon eine großartige Leistung, wenn Es ist zu Recht gesagt worden: Begeisterung und Faszi- er die Menschen nicht behindert. Der Staat sollte nicht nation machen schon die Hälfte des Erfolgs aus. Wenn die Zukunft bestimmen. Ältere Menschen erinnern sich nicht Leidenschaft überkommt und erkennbare Freude sicherlich noch an die großartigen Energieprogramme, daran, das etwas Neues geschieht, dann sind wir alle in die die Bundesregierung seit 1973 aufgelegt hat. Damals Schwierigkeiten. haben Sie ein Ziel von 45 Gigawatt für die Kernenergie beschlossen. Das alles ist natürlich Unsinn gewesen, Sie haben hier im Einzelnen die angeblich richtigen gell? Weichenstellungen aufgezählt. Aber offenbar ist die Bot- schaft nicht überall angekommen: Die Innovationsfähig- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) keit des Mittelstandes, die wir nun wirklich brauchen, Gestaltet die Zukunft offen und lasst die Menschen lässt seit 1999 nach, ebenso wie die Zahl der Gründun- das machen, wozu es sie treibt. Gebt ihnen Luft und gen zurückgeht. Wir sind an allen Stellen in Schwierig- Freiraum und sorgt für verantwortbare Rahmenbedin- keiten. Die Steuerreform ist erst einmal verschoben wor- gungen! In der damaligen Diskussion über die grüne den, das betrifft die Rahmenbedingungen und nicht nur Gentechnologie hat uns Herr Catenhusen bestätigt, dass die Programme. (B) es in Deutschland die beste Sicherheitsforschung auf der (D) Herr Müntefering, ich hoffe sehr, dass Sie zu den drei ganzen Welt gibt. Aber dann in dieser Sache ein Morato- Prozent Zuwachs bei der Max-Planck-Gesellschaft im rium zu verhängen ist wirklich eine Perversion. nächsten Jahr stehen. Aber dass der Zweifel hieran (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wächst, wenn der Mittelstand erst einmal erfahren hat, dass seine Steuerreform kurzfristig verschoben wird, das Herr Müntefering hat behauptet, dass wir in den können Sie niemandem verübeln. Forschung lebt vom schrecklichen 90er-Jahren die wichtigen Zeichen der Zu- Vertrauen in die Rahmenbedingungen. kunft nicht verstanden hätten. Ich sage Ihnen: Das, was als eine moderne Forschungs- und Gründerlandschaft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gepriesen worden ist, ist damals entstanden. Es sind Wir brauchen eine dynamische Biotechnologie; die kluge und herausragende Forschungsminister der Union Kollegen haben darauf hingewiesen. Gleichzeitig aber gewesen, ein faktisches Moratorium zu verhängen ist nicht sehr (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und klug. der FDP – Lachen bei der SPD und dem (Ulrike Flach [FDP]: Ja! So ist es!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen die großen Flaggschiffe der Technik. Aber die mit technikorientierten Programmen für die Grün- den Transrapid so lange zu problematisieren, dass wir dung wie TOU, wie BTU und mit dem Bio-Regio- dann glücklich sein können, wenn er in China fährt, ist Wettbewerb eine Zukunft aufgebaut haben, die sich dy- keine besonders faszinierende Darstellung von Zu- namisch entwickelt hat. Das war eine der großen Stär- kunftsfähigkeit und Überzeugungskraft. ken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ich höre mit Vergnügen, was Herr Kuhn in diesem Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zusammenhang zu den Steuern sagt. Herr Kuhn, ich NEN]: Es gibt gute Gründe, ihn nicht zu möchte über die Stichworte hinaus Konkretes hören. Sie bauen!) müssen etwas bringen. Dann können wir diskutieren. Sprechen Sie zum Beispiel über das, was Herr Eichel an Über Kerntechnik reden wir gar nicht mehr. Wir ha- Frost über die Landschaft gelegt hat, als er die Wesent- ben die sicherste Kerntechnik der Welt und dann be- lichkeitsgrenze für Beteiligungen auf 1 Prozent redu- schließen wir, daraus auszusteigen. Wo ist eigentlich ziert hat. Damit ist die ganze Landschaft der Business Herr Kuhn? Angels ins Rutschen gekommen. Sprechen Sie über die 3260 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Dr. Heinz Riesenhuber (A) Fondsbesteuerung. Die Finanzämter können seit andert- schungsminister, der damals bei den Schwarzen um sei- (C) halb Jahren keine verbindlichen Auskünfte mehr geben, nen Etat gekämpft hat. Nach Ihnen war dann Dunkelheit. weil kein Mensch weiß, was Sache ist. Da in Deutsch- Es ist gut, dass er immer wieder aus der letzten Reihe land keine Fonds mehr gegründet werden, entsteht kein emporsteigt, um seinen Nachfolgern die Peinlichkeit Ih- Eigenkapital und bricht unsere Forschungslandschaft rer heutigen Politik aufzuzeigen. Ich danke ihm eigent- zusammen. lich dafür. Frau Bulmahn, Sie haben unter anderem die ehren- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten volle Aufgabe, die Forschungspolitik der Bundesregie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – rung zu koordinieren, sie kraftvoll zu führen und mit Dr. [CDU/CSU]: Sie meinen Charme, Entschlossenheit und Nachdruck dafür zu sor- also Frau Bulmahn? Das darf doch nicht wahr gen – es geht nicht nur um Geld –, dass auch im Finanz- sein! Er meint tatsächlich Frau Bulmahn!) minister die Flamme für die Zukunft Deutschlands brennt. Das wäre doch eine Aufgabe, die Ihrer Leiden- – Jetzt kriegen Sie sich doch wieder ein. schaft wert wäre. Gestern hatten wir einen parlamentarischen Abend zum nationalen Genomforschungsnetz. Von Ihnen war Präsident Wolfgang Thierse: kaum jemand anwesend, zumindest nicht diejenigen, die Kollege Riesenhuber, Sie sind zwar sehr schön in heute hier geredet haben. Aber es ist auch kein Wunder, Fahrt. Aber Sie reden bereits auf Kosten Ihres Nachfol- dass Sie nicht gekommen sind. Dorthin, wo Aufbruch- gers. stimmung herrscht und gesagt wird: „Wir sind auf dem richtigen Weg“, gehen Sie nicht, weil das nicht in Ihr Konzept passt, weil Sie die Situation in unserem Lande Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): mies machen. Diese Wahrheit müssen Sie sich sagen las- Das dürfen Sie ihm aber nicht von der Redezeit abzie- sen. hen. Sie hätten mich rechtzeitig bremsen müssen. (Beifall bei der SPD) Liebe Freunde, ich möchte nur noch mit guten Wün- schen schließen. Frau Flach, es ist einfach die Unwahrheit, wenn Sie erzählen, wir seien nicht in der Lage, international mit- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und zuhalten. Das ist Ausdruck von Krawallopposition, aber der FDP) nicht Ausdruck der Realität in diesem Lande. Ich wünsche der Frau Forschungsministerin, dass sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) trotz ihrer reduzierten Zuständigkeiten so gut koordiniert (D) und einen so kraftvollen Führungsstil entwickelt, dass Ich zitiere aus dem Bericht: ihr die Wissenschaft mit Begeisterung zujubelt, dass der Die technologische Leistungsfähigkeit der deut- Mittelstand in ihr seine Vertreterin findet, dass die jun- schen Wirtschaft ist ... hoch. gen Unternehmen daran glauben, dass sie eine hervorra- gende Ministerin ist, und dass ihr selbst die Opposition Das ist der erste Satz des Berichts zur technologischen applaudiert. Das braucht Deutschland. Leistungsfähigkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung neh- der FDP – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE men zahlenmäßig überdurchschnittlich ... zu ... GRÜNEN) Das findet sich auf der ersten Seite des Berichts zur tech- Sie haben noch drei Jahre Zeit, um eine Strategie zu ent- nologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands. wickeln. Wirtschaften Sie nicht von Tag zu Tag. Machen (Ulrike Flach [FDP]: Davon haben wir doch Sie einen großen Wurf für die Zukunft. Dann werden wir geredet!) die Regierungsverantwortung übernehmen und wirklich etwas daraus machen. Seite 2: Pro Kopf sind wir in wissenschafts- und for- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bei- schungsintensiven Dienstleistungen vorn. fall bei Abgeordneten der SPD und des Meine sehr verehrten Damen und Herren, da oben auf BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Tribüne sitzen junge Menschen, für die wir im Mo- ment in allen Forschungseinrichtungen Schülerlabore Präsident Wolfgang Thierse: einrichten. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie versuchen, Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Tauss, SPD-Frak- die Öffentlichkeit zu täuschen und uns zu beschimpfen; tion. aber hören Sie doch auf, die Öffentlichkeit und die Wis- senschaft in dieser Form zu beschimpfen. Sie haben es (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht verdient. Sie schmälern deren Leistungen, die sie in diesem Land erbringen. Mit dieser Form von Krawall- Jörg Tauss (SPD): opposition fügen Sie Deutschland Schaden zu; das muss an dieser Stelle gesagt werden. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lie- ber Kollege Riesenhuber, ich bin zwar nicht in allen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Punkten Ihrer Auffassung. Aber Sie waren noch ein For- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3261

Jörg Tauss (A) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihre Pole- nen können Sie nicht. – Herr Professor Winnacker hat (C) mik richtet sich ein Stück weit gegen Sie selbst. Frau sich ausdrücklich bei uns dafür bedankt, dass wir trotz Reiche, Sie haben gesagt: Andere Länder sind dynami- der schwierigen Haushaltslage in diesem Jahr für die scher. Natürlich, auch dies steht im Technologiebericht: Deutsche Forschungsgemeinschaft einen Aufwuchs ver- Erfreuliche Kursänderungen der letzten Jahre konnten zeichnen. die Versäumnisse der Vergangenheit noch nicht voll aus- bügeln. – An dieser Stelle ist nicht von den letzten fünf (Unruhe bei der CDU/CSU) Jahren die Rede, sondern von Ihrer Regierungszeit, Herr Im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit haben wir seit Riesenhuber, von der Zeit, in der bei Bildung und For- 1998 die Mittel um 16 Prozent erhöht und in diesem Jahr schung gekürzt worden ist und in der Sie diesen Etat als einen Aufwuchs von 2,5 Prozent erzielt. Das ist konkrete Steinbruch benutzt haben. Nachwuchsförderung bei der Deutschen Forschungsge- (Beifall der Abg. Nicolette Kressl [SPD]) meinschaft, denn hiervon profitieren insbesondere junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Herr Riesenhuber, ich finde es nett, über Informa- tions- und Kommunikationstechnologie zu reden; Sie (Beifall bei der SPD) wissen, das ist unser gemeinsames Hobby. Allerdings In Bezug auf die Zukunft haben wir große Fort- gab es zu Ihrer Zeit im Bundestag noch keinen Zugang schritte erzielt, Herr Kollege Riesenhuber. Die Genom- zum Internet; im Bundeskanzleramt fanden wir damals forschung habe ich vorhin angesprochen; darüber hinaus Rohrpost statt Internet vor. nenne ich die Stichworte Nanotechnologie, Mikrotechno- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ logie, I-und-K-Technologie, also die optischen und elek- DIE GRÜNEN) tronischen Technologien. Alle diese Fakten liegen auf dem Tisch. Insofern sollten Sie nicht so tun, als ob Sie an dieser Stelle die Erfinder der technologischen Bewegung wä- Sie haben Recht: In den letzten Jahren sind besonders ren. in den F-und-E-intensiven Bereichen Arbeitsplätze ent- standen. Ich betone es noch einmal: Diese Arbeitsplatz- Allerdings haben wir auch Probleme. Ich bin Ihnen zuwächse in Deutschland sind in den letzten Jahren ent- dankbar, dass einige von Ihnen zumindest an dieser standen. Es sind zu wenige Arbeitsplätze entstanden; Stelle einmal auf die realen Punkte hingewiesen haben. anderenfalls wäre die Arbeitslosigkeit heute nicht so Aus dem Technologiebericht geht deutlich hervor: hoch. Es steht völlig außer Frage, dass zu wenige Ar- beitsplätze entstanden sind; aber der Zuwachs an Ar- Deutschland hat keine andere Chance auf hohe Ein- beitsplätzen entstand ausschließlich in den F-und-E-in- kommen bei hohem Beschäftigungsstand, als wei- (B) tensiven Bereichen. Aus diesem Grund hat Franz (D) terhin intensiv in Bildung und Wissenschaft, For- Müntefering völlig Recht, wenn er auf den Zusammen- schung und Technologie zu investieren. hang mit dem Arbeitsmarkt hinweist. Wir als Fraktion Das ist der richtige Kernsatz aus dem Bericht: Wir haben begrüßen daher den Vorschlag unseres Fraktionsvorsit- keine andere Chance, als diese Investitionen auch wei- zenden, eine Task-Force einzurichten, außerordentlich. terhin vorzunehmen. Das wäre – auch im Rahmen der Agenda 2010 – ein Weg, der uns dazu berechtigt, zu sagen: Hierdurch wer- Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus diesem den weitere Verbesserungen, auch auf dem Arbeits- Grund sagen wir auch: Wir sind auf dem richtigen Weg. markt, geschaffen. Aus diesem Grund kämpfen wir um unseren Haushalt. Aus diesem Grund hat es uns wehgetan, im Jahr 2003 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht an die Maßnahmen anknüpfen zu können, die wir DIE GRÜNEN) in den vier Jahren zuvor umgesetzt haben. Das ist auch der Grund, warum der Bundeskanzler am 14. März hier Eines ist klar: Die technologische Leistungsfähigkeit gesagt hat: In den nächsten Jahren werden wir bei den einer Volkswirtschaft hängt davon ab, inwieweit es ihr Wissenschaftsorganisationen wieder für Aufwuchs sor- gelingt, Potenziale in Wachstum und Beschäftigung um- gen. Dieses Signal brauchen wir. zusetzen und den innovativen Strukturwandel zu forcie- ren. Dies gilt auch für die neuen Bundesländer, wo es (Ulrike Flach [FDP]: Aber Sie haben es noch – trotz aller Probleme, die es dort gibt – an den Orten nicht getan! – Dr. Martin Mayer [Siegerts- insgesamt weniger Probleme gibt, wo wir es geschafft brunn] [CDU/CSU]: Leere Worte!) haben, für die Ansiedlung von Wissenschaftseinrichtun- gen, für die Ansiedlung von innovativen Unternehmen In diesem Zusammenhang bitte ich Sie, dies zu wür- zu sorgen und Cluster in unterschiedlichen Bereichen zu digen und nicht in dieser Form wahrheitswidrig zu kon- installieren, beispielsweise in der Region Halle/Leipzig terkarieren, Herr Kollege Mayer. Sie haben behauptet, und anderswo. Darin liegt die Chance für die Zukunft, die Mittel für die Deutsche Forschungsgemeinschaft die wir nutzen müssen, im Westen wie im Osten. seien gekürzt worden. Entschuldigen Sie bitte, Herr Kol- lege Mayer: Sie sind älter als 15; PISA-Aufgabenstellun- Meine herzliche Bitte an Sie lautet: Begleiten Sie gen dürften bei Ihnen nicht mehr zu wesentlichen Pro- diesen Weg! Hören Sie auf, diesen Weg mit Unwahrhei- blemen führen. Aber Zahlen müsste man lesen können; ten zu diskreditieren! Begleiten Sie diesen Weg mit man müsste rechnen können. – Sie da hinten von der konkreten Vorschlägen! Begleiten Sie diesen Weg im CDU/CSU können die „Bild“-Zeitung lesen, aber rech- Interesse unseres Landes und der Zukunft seiner jungen 3262 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Jörg Tauss (A) Generation! Um diese Generation geht es, nicht um Ihre Wir wollen die Förderprogramme „Regionale (C) Krawallopposition. Es geht um die Zukunft unseres Wachstumskerne“ und „Inno-Regio“ weiterentwickeln. Landes und um die Zukunft der jungen Menschen, die Sie haben – das ist unbestritten – in den neuen Bundes- auf der Besuchertribüne heute in großer Zahl anwesend ländern positive Wirkungen. Bedauerlich ist – man muss sind. es der Vollständigkeit halber einfach sagen – der riesige bürokratische Aufwand, der dort nach wie vor herrscht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es gibt beispielsweise ein Netzwerk, in dem 126 Betei- DIE GRÜNEN) ligte gebraucht werden, um zwölf Projekte mit 64 Ein- zelverträgen zu managen. Das ist weder innovativ noch Präsident Wolfgang Thierse: der Sache angemessen. Nun hat Kollege Michael Kretschmer, CDU/CSU, das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wort. neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir möchten für die neuen Bundesländer drei Dinge konkret ansprechen: Michael Kretschmer (CDU/CSU): Erstens. Wir müssen es schaffen, den Innovationspro- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr zess erfolgreicher Unternehmen auch nach Auslaufen Tauss, wir probieren es zum Ende dieser Debatte noch der Förderung weiter zu begleiten. einmal mit etwas Inhalt Zweitens. Wir wollen den Aufbau weiterer Netz- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg werke und wir möchten, dass Netzwerke, die derzeit er- Tauss [SPD]: Ich habe mich sehr drum be- folgreich arbeiten, weiteren finanziellen Spielraum er- müht! Das ist wahr!) halten. Das muss möglich sein, weil nach Informationen Ihres Ministeriums die Zuwachsraten bei den Inno-Re- und mit etwas konkreteren Sätzen. gio-Projekten nicht so groß sind und der Mittelabfluss gehemmt ist und deswegen finanzielle Ressourcen vor- Sie haben die neuen Bundesländer angesprochen. handen sind. Ich möchte darauf gern eingehen. Die Wissenschaftsin- frastruktur in den neuen Bundesländern kann sich mitt- Drittens – ich komme zum Schluss –: Wir möchten lerweile sehen lassen. Sie ist in vielen Bereichen Welt- die neuen Bundesländer mit Großforschungseinrichtun- spitze; in anderen Bereichen ist sie auf dem Weg dorthin. gen und Centers of Excellence stärker fördern. Wir brau- (B) chen auch externe Impulse für mehr Wachstum. Das en- (D) (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) dogene Potenzial, das jetzt vorhanden ist, reicht nicht Es gibt in den neuen Bundesländern aber auch große aus, um den Wirtschaftsaufschwung in Gang zu setzen Unterschiede zu den alten Bundesländern. Auch das zeigt und die neuen Bundesländer tatsächlich voranzubringen. der Bericht in eindringlicher Weise. Ich möchte kurz da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rauf eingehen. Das größte Innovationshemmnis ist nach wie vor die Kleinteiligkeit der Unternehmensland- schaft. Während in Deutschland auf 100 000 Einwohner Präsident Wolfgang Thierse: im Schnitt 376 Unternehmen mit einem Jahresumsatz Ich schließe die Aussprache. von 1 Million Euro kommen, so sind es in den neuen Bundesländern gut 100 Firmen weniger, nämlich 270. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Die F-und-E-Aufwendungen in den neuen Bundeslän- Drucksache 15/788 an die in der Tagesordnung aufge- dern entfallen zu mehr als zwei Dritteln auf kleine und führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- mittlere Unternehmen. In Westdeutschland hingegen verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung tragen Großunternehmen mit über 500 Beschäftigten so beschlossen. 85 Prozent aller F-und-E-Aufwendungen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: Die ostdeutschen Unternehmen haben in den letzten Jahren einen großen Sprung gemacht. Sie haben in den a) Beratung des Antrags der Abgeordneten vergangenen Jahren den Export von forschungsintensi- Dr. , Dietrich Austermann, Heinz ven Gütern um jährlich 30 Prozent steigern können. Das Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion geschah aber auf einem sehr niedrigen Niveau. Laut dem der CDU/CSU vorliegenden Bericht sind im Jahr 2001 lediglich 4,5 Pro- zent aller in Deutschland produzierten F-und-E-intensi- Strikte Einhaltung des geltenden Europäi- ven Waren in den neuen Bundesländern hergestellt wor- schen Stabilitäts- und Wachstumspaktes den. Dort muss unsere Politik ansetzen: Wir brauchen in – Drucksache 15/541 – größerer Zahl Unternehmen, die forschungsintensive Produkte herstellen. Nur diese Unternehmen – auch das Überweisungsvorschlag: steht in dem Bericht – wachsen statistisch schneller, sie Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit sind resistenter gegen Konjunkturdellen und sie garantie- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ren in der Regel höhere Einkommen. Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3263

Präsident Wolfgang Thierse (A) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Deutschland für den Euro nur bekommen, weil wir ge- (C) richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu sagt haben: Den Euro darf nur einführen, wer sehr der Unterrichtung durch die Bundesregierung strenge Kriterien erfüllt. Entschließung des Europäischen Parlaments Dann wurde in der Diskussion gesagt – Sie erinnern zu der jährlichen Bewertung der Durchfüh- sich –: Diese Länder werden sich Mühe geben, um die rung der Stabilitäts- und Konvergenzpro- Kriterien einmal zu erfüllen, aber wenn sie den Euro erst gramme (Art. 99 Abs. 4 EG-Vertrag) (2002/ haben, dann beginnt sozusagen wieder der alte Trott. – 2016 [INI]) Deshalb ist im Stabilitäts- und Wachstumspakt sehr deutlich zum Ausdruck gebracht worden: Wer den Euro –Drucksachen 15/345 Nr. 34, 15/737 – eingeführt hat, muss auch auf Dauer bestimmte Kriterien Berichterstattung: erfüllen. Das gilt vor allem für die 3-Prozent-Netto- Abgeordnete neuverschuldung, aber das gilt natürlich auch für die 60 Prozent Gesamtverschuldung bezogen auf das Brutto- sozialprodukt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Jetzt zur Realität, meine Damen und Herren. Die Rea- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. lität ist, dass Deutschland 2001 mit 2,8 Prozent schon ganz dicht an die 3-Prozent-Grenze gekommen ist. Die Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Realität ist – ich will heute nicht die Schlachten von ges- Otto Bernhardt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. tern wieder führen –, dass wir im Jahre 2002 das Ziel nicht knapp, sondern mit 3,6 Prozent Nettoneuverschul- Otto Bernhardt (CDU/CSU): dung um 20 Prozent verfehlt haben. Seit wenigen Tagen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei die- muss wohl jeder zur Kenntnis nehmen, Herr Minister sem Tagesordnungpunkt geht es um die Frage: Wie hal- – wir sagen es seit Monaten, jetzt sagt es aber auch die ten wir es mit den Stabilitätskriterien? Zur Diskus- EU –: Auch in diesem Jahr werden wir wohl aller Wahr- sion stehen ein Antrag meiner Fraktion, der CDU/CSU- scheinlichkeit nach das 3-Prozent-Kriterium wieder ver- Fraktion, und eine Beschlussempfehlung des Finanz- fehlen. Die EU spricht von 3,4 Prozent, ich selber be- ausschusses. Zwischen diesen beiden Papieren besteht fürchte – ich könnte das begründen, aber dafür reicht die ein entscheidender Unterschied. Während sich Vertre- Zeit nicht aus –, es werden mindestens 3,6 Prozent Net- ter der Bundesregierung, beginnend beim Bundeskanz- toneuverschuldung. ler, und Vertreter der Regierungsfraktionen seit Mona- Jetzt kommen wir natürlich in eine schwierige Posi- (B) ten auch in der Öffentlichkeit intensiv mit der Frage tion: Wer auf europäischer Ebene strikt die Einhaltung (D) beschäftigen: „Wie können wir die Stabilitätskriterien der Kriterien fordert, der muss natürlich erst einmal zu vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen Hause seine Schularbeiten machen. Lage ein bisschen aufweichen?“, ist unsere Position, die in dem Antrag auch ganz klar zum Ausdruck (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommt: Wir sind dafür, dass die Stabilitätskriterien Damit sind wir bei der aktuellen Situation: Wir stellen auch und gerade in einer schwierigen Zeit konsequent nämlich fest, dass wir in den beiden entscheidenden eingehalten werden. volkswirtschaftlichen Größen, Wirtschaftswachstum und Wir erinnern in diesem Zusammenhang daran, dass es Arbeitslosigkeit, dabei sind, zum Schlusslicht bzw. zum die frühere CDU/CSU-FDP-Regierung war, die sich da- Spitzenreiter in Europa zu werden. für eingesetzt hat, dass es zu dem Stabilitäts- und Sie, Herr Minister, werden eine Argumentation ver- Wachstumspakt kam. Wenn wir nach dem Hintergrund treten – ich glaube, Sie stehen auf der Rednerliste –, die fragen, dann führt uns das in die Jahre 1997 und 1998 ich schon im Vorhinein als unredlich bezeichne. Sie wer- zurück, als wir uns – viele erinnern sich – intensiv über den sich hier wieder hinstellen und sagen: Wir leben in die Einführung des unterhalten haben. Die Ein- einer globalisierten Welt; unsere Probleme hängen mit führung des Euros war in Deutschland nicht unumstrit- dem 11. September und der schwierigen Lage der Welt- ten und sie ist es auch heute nicht. Wir sind uns hier im wirtschaft zusammen. Dazu sage ich ganz deutlich: Na- Hause sicherlich darüber einig, dass die Einführung des türlich hat die weltwirtschaftliche Lage Einfluss auf die Euros ein ganz wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste Situation in Deutschland. Wer das leugnet, nimmt die Schritt auf dem Wege zur europäischen Integration war; Fakten nicht zur Kenntnis. Aber wir müssen uns doch denn er hat die europäische Integration unumkehrbar ge- mit der Frage beschäftigen: Warum werden alle anderen macht. Länder in Europa mit eben diesen Rahmenbedingungen Natürlich gab es Vorbehalte in der deutschen Bevöl- deutlich besser fertig als wir? kerung. Jeder, der damals für den Euro eingetreten ist (Beifall bei der CDU/CSU) – so auch ich –, hörte die Vorbehalte der Bevölkerung. Es wurde gesagt: Wir geben die stabile D-Mark auf und Schauen Sie einmal in die Presseerklärung der EU- wir machen eine Union mit Ländern wie Spanien, Ita- Kommission von vorgestern hinein, in der von einem lien, Frankreich und Portugal, die das Thema Preisstabi- Wirtschaftswachstum in Deutschland von 0,4 Prozent lität nicht so ernst nehmen wie wir in Deutschland. – Wir und im EU-Raum vom Drei- bis Vierfachen ausgegan- haben letztlich die Zustimmung auch der Fachwelt in gen wird. Es stellt sich doch die Frage, warum im letz- 3264 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Otto Bernhardt (A) ten Jahr die Italiener, die Spanier und die Engländer ein Präsident Wolfgang Thierse: (C) drei- bis viermal so hohes Wachstum wie wir gehabt Ich erteile Bundesminister Hans Eichel das Wort. haben. Bezüglich der Arbeitslosenzahlen ist festzustellen, Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: dass wir im Jahre 2001 erstmalig über der durchschnittli- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und chen Quote in Europa lagen. Wir sind Gott sei Dank Herren! Ich finde es niedlich, meine sehr verehrten Da- noch nicht Spitzenreiter, aber bei uns lag die Quote erst- men und Herren von der CDU/CSU, wie Sie mit der malig höher als der Durchschnitt. Ich habe mir nun die Rednerreihenfolge spielen. Ich unterstelle, dass Sie, ver- Zahlen für das Jahr 2002 angeschaut; danach liegt die ehrter Herr Kollege Merz, wenigstens in der heutigen Arbeitslosenquote in Deutschland zum zweiten Mal über Debatte reden, dem EU-Durchschnitt. Wenn ich mir vor Augen führe, (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Lassen Sie dass wir im März ein paar Hunderttausend mehr Arbeits- das unsere Sorge sein! Unsere Rednerliste ma- lose als im März des Vorjahres hatten, dann habe ich die chen wir immer noch selbst!) Befürchtung, dass wir in diesem Jahr einen der schlech- testen Plätze bezüglich der Arbeitslosenquote in Europa nachdem wir von Ihnen die ganze Zeit, als es um das einnehmen werden. Steuervergünstigungsabbaugesetz ging, überhaupt nichts mehr gehört haben, wie überhaupt bei der Opposition an Deshalb stelle ich fest, meine Damen und Herren: Na- dieser Stelle ein völliges Durcheinander festzustellen türlich kann nur derjenige für die strikte Einhaltung der war. Stabilitätskriterien in Europa eintreten, der seine Schul- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE arbeiten zu Hause macht. Solange wir Schlusslicht beim GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU) Wirtschaftswachstum sind – jetzt zum dritten Male –, Spitzenreiter bei der Neuverschuldung sind und die Ar- Ich sage das, weil das unmittelbar mit dem zu tun hat, beitslosigkeit bei uns im europäischen Vergleich eine was Sie, Herr Kollege Bernhardt, eben angesprochen ha- Spitzenposition einnimmt, so lange müssen wir uns vor- ben. Sie haben völlig richtig angefangen, indem Sie halten lassen, dass wir unsere Schularbeiten nicht ge- wörtlich formuliert haben: „Wie halten wir es mit den macht haben. Stabilitätskriterien?“ Sie haben offenkundig Ihre eigene Fraktion gemeint. Nun komme ich zu möglichen Ursachen: Im Sach- (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Deutschland!) verständigengutachten des entsprechenden EU-Papiers steht: In Deutschland sind grundlegende Reformen auf – Das ist auch sehr schön. – Aber zunächst einmal muss (D) (B) dem Arbeitsmarkt und bei den Sozialversicherungen man sich doch mit Ihnen beschäftigen. Es ist festzustel- notwendig. – Wenn wir diese nicht einleiten, bleibt die len, dass Sie sich nun zum Verteidiger des Stabilitäts- Situation so, wie sie jetzt ist. Sie machen den Fehler, auf und Wachstumspaktes aufschwingen. Das finde ich zurückgehende Einnahmen mit neuen Steuern zu reagie- gut. Wenn wir an diesem Punkt wieder zusammenkä- ren. Wir haben darüber diskutiert, Sie hatten 41 vor- men, wäre das ein großer Gewinn. geschlagen. Wir haben Sie davor bewahrt, dass diese Nur, verehrter Herr Kollege Bernhardt, ich erinnere Vorschläge Gesetzeskraft erhielten, denn die Sachver- an Folgendes. Richtig, es war , der den Sta- ständigen haben gesagt, wenn das Gesetz geworden bilitäts- und Wachstumspakt gewollt hat. Aber wo war wäre, würde die Wirtschaft noch einmal um 0,5 Prozent denn die Finanzpolitik dazu? Die Situation, die Sie uns weniger wachsen. Wir haben Sie davor, wie gesagt, be- 1998 hinterlassen haben, war so, dass wir 80 Milliarden wahrt. Heute Nacht sind, wie ich gehört habe, ganz ver- neue Schulden hätten machen müssen, wenn wir nicht nünftige Ergebnisse im Vermittlungsausschuss erzielt sofort und intensiv eingegriffen hätten. worden. Die meisten Ihrer Vorschläge haben sich damit Gott sei Dank erledigt. Das ist etwas Positives für die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weitere Entwicklung in Deutschland. DIE GRÜNEN) Das heißt, Sie formulieren auf der einen Seite einen (Beifall bei der CDU/CSU) Anspruch, den Sie aber auf der anderen Seite nicht er- Abschließend, meine Damen und Herren, halte ich füllen. fest: Wir als Deutsche sollten uns nicht an einer Diskus- Was war denn im vergangenen Jahr? Wenn ich mich sion in Europa über die Aufweichung der Kriterien be- recht erinnere, war Ihr gesamtes Wahlprogramm ein teiligen. Wir sollten vielmehr dafür eintreten, dass sie einziges Versprechen mit der Konsequenz eines Bruchs strikt angewandt werden, denn wir waren die Väter die- der europäischen Stabilitätskriterien, Herr Kollege ser Kriterien. Wir sollten unsere Schularbeiten machen, Bernhardt. Nichts von alledem hätte jemals umgesetzt indem wir grundlegende Reformen umsetzen. werden können. Ich sage von dieser Stelle: Wir sind bereit – die Union Was war denn im vergangenen Sommer Ihr Vor- hat es schon bewiesen –, auf diesem Wege im Interesse schlag, als wir bezüglich des Wiederaufbaus in den von der deutschen Volkswirtschaft mitzugehen. der Flutkatastrophe betroffenen Gebieten gesagt haben, wir könnten uns keine neuen Schulden leisten, das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) müsse solide finanziert werden? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3265

Bundesminister Hans Eichel (A) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer hat denn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) eigentlich den blauen Brief bekommen? Der DIE GRÜNEN – [CDU/CSU]: Sie Täter beschimpft die Opposition!) regieren doch!) Wo stünden wir hinsichtlich der Stabilitätskriterien denn Von 6,7 Milliarden Euro Steuereinnahmen für die Kom- heute, wenn wir Ihnen gefolgt wären? munen bleiben gerade 600 Millionen Euro übrig. Das müssen Sie Frau Roth einmal erklären. Die Länder sind (Beifall der Abg. [SPD]) verantwortlich dafür, dass die Kommunalfinanzen in Und so geht es weiter, wenn ich an die Verabschie- Ordnung sind; denn die Kommunalfinanzen sind nach dung des Haushalts dieses Jahres denke. Von Ihrer Seite unserer Verfassungsordnung Bestandteil der Länder- waren keine Einsparungen geplant, sondern Sie haben finanzen. Wo ist denn die Verantwortung, insbesondere 2 Milliarden Euro zusätzliche Ausgaben vorgeschlagen. Ihrer Länder, für die Finanzen der Kommunen und für die Investitionsfähigkeit der Kommunen in diesem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lande? DIE GRÜNEN) Wenn man genauer hinsieht, kann man sagen: Sie nä- Diese Doppelstrategie hat sich heute Nacht fortge- hern sich der Wirklichkeit sozusagen portionsweise. setzt. Deswegen finde ich es sehr mutig, dass Sie sich Nach dem 2. Februar brauchten Sie zwei Monate, um nach dem Vermittlungsergebnis hier hinstellen und sa- dahin zu kommen, dass wir uns auf Mehreinnahmen in gen, wir müssten den Stabilitätspakt einhalten und insbe- Höhe von 4,4 Milliarden Euro im Bereich der Unterneh- sondere all das, was der Ecofin-Rat, der Rat der Wirt- mensbesteuerung – dazu gehört übrigens nicht nur die schafts- und Finanzminister der EU, Deutschland Körperschaftsteuer – einigen konnten. empfohlen hat, auch umsetzen. Hätten Sie sich selbst Sehen wir uns einmal die Resolution an, die die Her- heute Nacht oder schon eher an die Empfehlungen ge- ren Kollegen Steinbrück und Koch gemeinsam einge- halten, verehrter Herr Kollege Bernhardt, dann stünden bracht haben. Heute Nacht haben Sie sich diese Resolu- wir nun anders da. tion nicht mehr zu Eigen gemacht. Aber in der Debatte (Beifall bei der SPD) morgen wollen Sie sich – so ist es heute Nacht verabre- det worden; darauf bin ich schon außerordentlich ge- Denn, meine Damen und Herren, wir wollen doch spannt – darauf beziehen. Dann sieht die Welt wieder ein festhalten, dass der Rat vor dem Hintergrund der An- bisschen anders aus. Nach und nach schließen Sie sich nahme – damals übrigens noch gemeinsam mit der Euro- meinen Vorschlägen an. Sie brauchen nur länger, bis Sie päischen Kommission – von 1,5 Prozent Wachstum dahin kommen. (B) empfohlen hat, dass alles, was wir im Herbst vorgeschla- (D) gen haben, auch umgesetzt werden muss. Dazu gehört Folgender Punkt ist besonders interessant. Zwischen auch das Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen. Herrn Koch und Herrn Steinbrück wurde verabredet, die So leicht können Sie sich da nicht herausschleichen. Subventionen in drei Jahren um 10 Prozent zu kürzen. Heute Morgen tritt der Brandstifter von heute Nacht als Angesichts der Tatsache, dass wir die Finanzhilfen von Biedermann auf. 1998 bis 2003 um über 30 Prozent gekürzt haben, näm- lich von 11,4 auf 7,8 Milliarden Euro, ist dies kein sehr (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Oh!) ehrgeiziges Vorhaben. An dieser Stelle werden Sie mehr leisten müssen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Sie reden immer davon, die Subventionen müssten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ herunter. Im Subventionsbericht der Regierung Kohl DIE GRÜNEN) sind die Eigenheimzulage und die ermäßigten Mehrwert- Man konnte in diesem Zusammenhang eine span- steuersätze als Subventionen geführt. Genau diese nende Beobachtung machen, die übrigens sehr viel mehr Punkte waren Gegenstand des Gesetzes, das wir vorge- mit Ihrem innerparteilichen Stellungskrieg zu tun hat als legt haben. Was ist Ihr Vorschlag? Sie können nicht von mit der Finanzpolitik dieses Landes. Man konnte sehen, genereller Subventionskürzung reden, wenn jedes Mal, dass die Finanzpolitiker in den Ländern eine gänzlich wenn es darauf ankommt, von Ihrer Seite Blockade be- andere Position bezogen haben als zum Beispiel die Fi- trieben wird. nanzpolitiker in Ihrer Bundestagsfraktion, soweit sie Sie, Herr Kollege Bernhardt, reden davon, die Sys- sichtbar waren, zum Beispiel Herr Meister. Von dem Pa- teme der sozialen Sicherung reformieren zu wollen. ket, das vorgesehen war, sollen im Entstehungsjahr ge- Aber heute Nacht konnte nur ein dürftiger Kompromiss rade einmal 30 Prozent umgesetzt werden. Das ist für die geschlossen werden, weil Sie nicht bereit sind, mehr zu Zukunft ein dickes Problem. tun und Nein zu den Wünschen der Lobbyisten zu sagen. Das ist die Lage, in der wir uns heute befinden: Sie ver- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Außer niedlichen die gesamte Situation. Steuererhöhungen fällt Ihnen doch nichts mehr ein!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Aber auch für dieses Jahr entsteht ein dickes Pro- blem. Wo ist denn Ihr Bemühen um die Kommunal- Lassen Sie uns nicht abstrakt über den europäischen finanzen? Stabilitäts- und Wachstumspakt reden, sondern ganz 3266 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Bundesminister Hans Eichel (A) konkret ansprechen, wer was dafür tut, damit wir unse- wortung. Bisher vermisse ich auch nur einen ansatzweise (C) ren Verpflichtungen nachkommen. Ob es der Haushalt, zureichenden Beitrag von Ihrer Seite. So kann es nicht die Steuergesetze oder der Subventionsabbau sind: Jedes weitergehen. Mal bleiben Sie hinter den Notwendigkeiten zurück. Sie Natürlich haben Sie Recht, dass wir eine riesige Re- sind, gemessen an Ihren eigenen Kriterien, nicht in der formagenda vor uns haben. Der Bundeskanzler hat sie Lage, die Verpflichtungen, die erfüllt werden müssen, hier schon vorgestellt. Ich bin sehr gespannt, wie Sie sich auch nur halbwegs zu erfüllen. verhalten. Heute Nacht haben wir eine erste Kostprobe Sehr verehrter Herr Kollege Bernhardt, ich sage noch Ihres Verhaltens nicht nur hinsichtlich der Steuern, son- einmal: Ich begrüße, dass es in dieser Nacht überhaupt dern auch hinsichtlich der Systeme der sozialen Siche- zu Bewegungen gekommen ist. Aber die Resolution, die rung bekommen. Jedes Mal, wenn es darauf ankommt, eine Protokollerklärung der Bundesregierung wird, auf weichen Sie notwendigen, aber unangenehmen Entschei- die Sie sich beziehen wollen, haben Sie einfach beiseite dungen aus. Damit werden wir die Zukunft nicht gewin- geschoben, weil Sie ganz genau wissen, dass Sie und nen. Ich prophezeie Ihnen, dass wir vor dem Hintergrund insbesondere die Länder nicht über diesen Sommer kom- genau der Aufgaben, die vor uns liegen – niemand weiß men werden, wenn Sie auf der Linie verharren, die Sie genau, wie die wirtschaftliche Entwicklung dieses Lan- bisher eingeschlagen haben. des im Laufe des Sommers verläuft –, Wir wollen unsere Verpflichtungen im Rahmen des Sta- (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Ach ja!) bilitäts- und Wachstumspakts erfüllen. Wir hätten es ein vor sehr schwerwiegenden Entscheidungen stehen wer- Stück leichter, wenn Sie uns damals einen anderen Bun- den. Die nächste Frage wird sich ergeben, wenn uns die deshaushalt hinterlassen hätten. Die Defizite müssen wir Mai-Steuerschätzung vorliegt; nun aufarbeiten. Ich will meinen Blick aber nicht in die Vergangenheit richten, da es wenig Sinn macht. Herr Kol- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es wird auf lege Bernhardt, es kommt jetzt darauf an, dass Sie Ihrer jeden Fall schlechter, als Sie bereit sind zuzu- Verantwortung für die Länderhaushalte und für die geben!) Kommunalhaushalte, die Ihre Partei zumindest im Bun- die Frage nämlich, welche Korrekturnotwendigkeiten desrat hat – Sie stellen dort die Mehrheit –, gerecht werden. sich daraus ergeben. Wir werden alles auf den Prüfstand stellen müssen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nachtrags- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne haushalt!) Kastner) Darüber möchte ich heute nicht philosophieren, weil es Ich bin den Ländern entgegengekommen, indem ich (B) keinen Zweck hat, jeden Tag neue Daten in die Welt zu (D) gesagt habe: Ab dem Jahr 2004 – das war der Wunsch setzen, und weil auch Ihre Fachleute sich in diesem der Länder – darf der Anteil des Bundes am dann noch Punkt schon gewaltig und in kurzer Zeit geirrt haben. zulässigen Defizit 45 Prozent und jener der Länder und Kommunen 55 Prozent betragen. Dann müssen Sie für Also verlassen wir uns wie jeder seriöse Finanzpoliti- die 55 Prozent aber auch die Verantwortung überneh- ker und genau so, wie dies auch der Kollege Faltlhauser men. macht, auf die Daten, die uns mit der Mai-Steuerschät- zung und der November-Steuerschätzung vorgelegt wer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den. Aber dann, sehr verehrter Kollege Bernhardt, wird DIE GRÜNEN) es nicht reichen, bei dem, was Sie heute Nacht getan ha- Sie dürfen nicht einfach nur erklären, dass Ihnen nicht ben, stehen zu bleiben. Sie werden im Laufe des Som- passt, was wir vorlegen, wenn Sie auf der anderen Seite mers zu ganz grundlegenden Veränderungen ihrer Posi- keine Vorschläge machen, wie man im gleichen Um- tion kommen müssen, weil Sie, jedenfalls über die fang einsparen kann. Wo ist denn das Sparpaket der Landesregierungen, in großem Umfang Mitverantwor- Länder, das Herr Stoiber Anfang dieses Jahres für alle tung für die Entwicklung dieses Landes tragen. Das ver- B-Länder – so habe ich es damals verstanden – ange- langt wesentlich mehr, als Sie heute Nacht an Einsicht kündigt hat? gezeigt haben. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das sagen wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihnen nachher!) DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgit- ter] [SPD]: Frau Präsidentin, Sie müssen den Davon ist bis heute absolut nichts zu sehen. Ich kann es nächsten Redner aufrufen!) ja verstehen. In Bayern stehen Landtagswahlen vor der Tür. Da fällt es Ihnen natürlich besonders schwer, das einzuhalten, was Sie vorher versprochen haben. Auch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: das gehört zur Realität. Entschuldigung. – Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Günter Rexrodt, FDP-Fraktion. Ich begrüße, dass die CDU-Fraktion in Baden- Württemberg Beschlüsse gefasst hat, die sich mit der Be- soldung im öffentlichen Dienst beschäftigen. Da wer- Dr. Günter Rexrodt (FDP): den viele andere nachziehen müssen. Aber ich sage noch Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr einmal: Für 55 Prozent des dann zulässigen Defizits der Eichel, Sie haben sich eben darüber ausgelassen, dass Länder und Kommunen haben die Länder die Verant- Sie Probleme haben, Ihren Haushalt auf die Reihe zu be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3267

Dr. Günter Rexrodt (A) kommen, und dass seine Deckung nicht stimmt. Sie ha- Damen und Herren, wird sich wieder im Verlust von Ar- (C) ben so getan, als ob die Opposition schuld daran ist, dass beitsplätzen niederschlagen. das nicht klappt. Aber das ist ja nun Ihre Aufgabe. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sollten einmal etwas Neues erzäh- Die rot-grüne Koalition hat die Finanzpolitik ja im- len, nicht immer nur diese alte Mär!) mer als eine Monstranz vor sich hergetragen. Sie war die große Erfolgsstory. Das ist sie aber nicht mehr. Wenn Sie Die Fakten liegen auf dem Tisch. Was haben Sie denn Ihre Rede schon so anlegen, fordere ich Sie auf, die getan? Kern Ihrer Politik war eine Politik der Bünd- Dinge, die zu dieser Misere geführt haben, doch einmal nisse. Es gab Bündnisse für jedes und alles. Sie können beim Namen zu nennen. Aber unterlassen Sie Ihre stän- doch nicht bestreiten, dass dies der Kern der Politik zu- digen Ausflüchte, die Sie auch eben wieder angeführt mindest in der letzten Legislaturperiode war. Diese Poli- haben. Am Anfang war also die riesengroße Schulden- tik der Bündnisse, bei der man bei verschiedenen The- summe, die Sie übernommen haben, schuld. men mauscheln wollte, ist gescheitert. Nun, meine Damen und Herren, ist auch noch die Finanzpolitik ge- (Zuruf von der SPD: Das ist ja auch so!) scheitert. Das müssen Sie sich schon sagen lassen; denn Dann waren es die Folgen des 11. September 2001. Nun wir werden nicht darauf verzichten, Ihnen das vorzuhal- ist es die Unsicherheit im Irak. Diese Unsicherheit auf ten. den Märkten gibt es ja, Herr Eichel. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Aber auch schon Ich will jetzt gar nicht über die Dinge reden, die dazu länger!) geführt haben, dass die rot-grüne Mehrheit hier vor rund Aber ich würde mir langsam einmal andere Erklärungen drei Wochen einen Haushalt beschlossen hat, von dem für die konjunkturelle Misere einfallen lassen wir heute wissen – das sage ich ohne jede Polemik, das ist Fakt –, dass er nicht das Papier wert ist, auf dem er (Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) steht; und in der öffentlichen Argumentation nicht die ständige (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jede Überfrachtung bezüglich der Unsicherheit vornehmen. Woche eine Aktuelle Stunde! Sie müssen sich Es geht um Fakten. nicht entschuldigen!) Der Kern des Übels, meine Damen und Herren, be- denn die Voraussetzungen für die Einhaltung des Haus- (B) steht nämlich darin, dass sich unser Land und insbeson- halts sind nicht gegeben. Dazu bräuchten wir 1 Prozent (D) dere die Wirtschaft in einer Vertrauenskrise befinden. Wachstum und Herr Eichel hat selbst gesagt, dass der Die Verbraucher sind verunsichert. Die Investoren inves- Haushalt nur dann eingehalten werden kann, wenn es tieren nicht mehr. Deutschland ist gegenüber seinen Part- 1 Prozent Wachstum gibt, es nicht zu einer signifikanten nerländern zurückgefallen. Deutschland ist Schlusslicht. Erhöhung der Arbeitslosenzahlen kommt, die Steueram- Die Europäische Kommission geht davon aus, dass wir nestie Geld einbringen wird und über das Steuervergüns- in diesem Jahr zum zweiten Mal hintereinander die Ver- tigungsabbaugesetz – eigentlich ist das ein Steuererhö- schuldungskriterien von Maastricht nicht einhalten wer- hungsgesetz – bestimmte Milliardenbeträge erwirtschaftet den. werden. So wird es aber nicht kommen und deshalb ist der Haushalt Makulatur. Dies, meine Damen und Herren, ist das Ergebnis einer falschen Politik, Aber worum geht es heute wirklich? Der Herr Kol- lege Bernhardt hat es auf den Punkt gebracht: Heute geht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten es um die Einhaltung der Verschuldungsgrenzen, der der CDU/CSU) Kriterien von Maastricht. Herr Eichel, dazu haben Sie ei- einer Politik fehlerhafter Prognosen, gebrochener Ver- gentlich gar nichts gesagt, Sie haben nur über Ihre Nöte sprechungen, hektischer Ankündigungen und kleinkarier- gesprochen. ter Rückzieher, ungerechter und schwer verständlicher (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Steueränderungen, einer bürokratischen Rentenreform CDU/CSU) und einer nicht aus den Startlöchern kommenden Ge- sundheitsreform. Dies ist eine Politik, in der blanke Ge- Es ist nun einmal so, dass die Kriterien von Maastricht werkschaftsinteressen die Notwendigkeit der Flexibili- nicht eingehalten werden können. Vielleicht wird es sierung des Arbeitsmarktes überlagern. morgen besser. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Ich möchte Ihnen zwei Aussagen ins Stammbuch die alte Mär, Herr Rexrodt!) schreiben. Die eine ist von der Bundesbank, die an ihrer Spitze sozialdemokratisch besetzt ist. Sie schreibt in ei- – Das ist keine alte Mär. Das sind die Fakten, die gerade nem bemerkenswerten Papier vom Februar 2002: erst bei den Entscheidungen der IG Metall bestätigt wur- den. Die Hoffnung, die einige hatten, dass auch diese Nur eine klare finanzpolitische Linie, die eine auf große Gewerkschaft endlich auf Reformkurs geht und Ausgabenbegrenzung ausgerichtete ... Konsolidie- sich an anderen orientiert, ist zerstört. Auch das, meine rungsperspektive aufweist, kann bei Konsumenten 3268 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Dr. Günter Rexrodt (A) und Investoren bestehende Befürchtungen... ausräu- fern abgestellt wird. Dagegen wehren Sie sich jetzt und (C) men und... Vertrauen schaffen. das ist gefährlich. Deutschland ist ein schlechter und ge- fährlicher Verlierer geworden. Daneben möchte ich Ihnen die Entschließung des Europäischen Parlaments, die heute auf der Tagesord- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nung steht – ich verweise auf die Drucksache 15/737 –, nahe bringen. Darin heißt es in Ziffer 2, Noch ein letzter Gedanke: Sie haben uns gesagt, Sie werden im Jahre 2004 einen Haushalt closed to balance, dass die Vorschriften des Stabilitäts- und Wachs- also einen nahezu ausgeglichenen Haushalt, vorlegen. tumspakts... im Falle Deutschlands und Portugals Daraus ist nun schon 2006 geworden. Herr Eichel, es nicht streng angewendet wurden. wird auch 2006 nicht gelingen. Das Europäische Parlament warnt vor der Aufweichung (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der schon gar der Kriterien durch Wahlkämpfe und nationale Verspre- nicht!) chungen. Es fordert die Gleichbehandlung aller Staaten und durchgreifende Reformen der Sozialsysteme und Das wissen wir doch alle. Dazu müssten Sie den gesamt- eine differenzierte Lohnpolitik. Darüber hinaus fordert staatlichen Verschuldungsrahmen um 65 Milliarden Euro es einen flexiblen Arbeitsmarkt. zurückschrauben. Die Länder nehmen Ihnen das nicht ab. Das alles sind Forderungen des Europäischen Parla- ments, Herr Eichel. Die rot-grüne Koalition dagegen Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: spricht schon wieder – so steht es auch in den uns vorlie- Ihre Finanzpolitik, die Finanzpolitik von Rot-Grün – einst genden Unterlagen – von Rücksicht auf die ökonomi- Vorzeigeprojekt –, ist im Chaos gelandet. Ihnen nimmt sche Gesamtsituation und etwaigen Sondereinflüssen. keiner mehr ab, dass wir Stabilitätspolitik machen. Es ist Das ist doch das Einfallstor für die Verletzung der Krite- ein gefährliches Spiel, einfach so in die Verschuldung rien von Maastricht. auszuweichen. Eine Vertrauenskrise im Land ist schlimm, Schlusslicht zu sein macht die Menschen be- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) troffen. Aber die Unglaubwürdigkeit im gesamteuropä- Das ist der geradezu hinterhältige Versuch, das Versagen ischen Rahmen ist zu viel, Herr Eichel. Herr Eichel, hal- der eigenen Politik als einen Schicksalsschlag darzustel- ten Sie im doppelten Sinne des Wortes ein: mit dieser len und sich das Ganze in Brüssel noch absegnen zu las- Politik und bei den Kriterien von Maastricht. sen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Steffen (D) Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Damit wird Deutschlands Reputation als Land der Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau, Stabilität ebenso verspielt wie unsere Benchmark- Bündnis 90/Die Grünen. Funktion auf den internationalen Kapitalmärkten. Dann sind wir nicht nur Schlusslicht und ein schlechter Verlie- Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rer. Wir sind sogar ein gefährlicher Verlierer, wenn es selbstverständlich wird, in der Nettoneuverschuldung Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Obwohl über die Kriterien von Maastricht auszuweichen. Diesen ich sonst um eigene Worte nicht verlegen bin, will ich Weg gehen Sie, Herr Eichel. gern mit einem Zitat beginnen: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) … Sie … betreiben ein Doppelspiel: Einerseits be- kennen Sie sich zu den Kriterien und zum Fahrplan Angefangen hat der Bundeskanzler damit bei der von Maastricht. Andererseits blockieren Sie durch Flut. Das kann man ja noch nachvollziehen. Das will ich die Bundesratsmehrheit die notwendige Konsoli- auch nicht kritisieren. Aber dass das Ganze System hat, dierung auf der Ausgabenseite. Das wirkt sich nicht sehen Sie daran, dass die deutsche Regierung, der Bun- nur negativ auf den Bundeshaushalt … aus, sondern deskanzler, bei Begegnungen mit den französischen Kol- Sie blockieren damit auch die Konsolidierung bei legen immer wieder die Absolutheit der Defizitkrite- Ländern und Kommunen. rien kritisiert und sich dabei auf Aussagen bezogen hat, die diese infrage stellen. ( [CDU/CSU]: Erstklassiges Zitat seinerzeit!) Worauf soll denn ein Stabilitätspakt abstellen, etwa auf den guten Willen, auf die reine Hoffnung oder auf Das hat Theo Waigel am 30. Oktober 1996 in der die unbeirrbare Fortsetzung des Konsolidierungskurses, 133. Sitzung des Deutschen Bundestages gesagt. Damals wie Sie es ausdrücken, Herr Eichel? Dann können wir ging es um Sozialhilferecht und das Asylbewerberleis- gleich sagen, wir haben mit Zitronen gehandelt. tungsgesetz. 3 Prozent sind 3 Prozent – ich kann mich noch entsin- Heute geht es um das Steuervergünstigungsabbau- nen, dass Sie so argumentiert haben. Jetzt kommt es zu- gesetz. Sie stellen sich hierhin, hauen auf den Putz rück: 3 Prozent sind 3 Prozent. Sinn dieses Stabilitäts- paktes ist doch, dass nicht auf die politische (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Hier haut keiner Alltagsrhetorik, sondern auf konkrete Zahlen und Zif- auf den Putz!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3269

Antje Hermenau (A) und schämen sich nicht einmal dafür, dass der Erhalt des Konsolidierung bedeutet, für nachhaltiges Wachstum zu (C) Dienstwagenprivilegs Ihr Beitrag zur Konsolidierung sorgen und nicht einfach nur konjunkturell herumzudok- der deutschen Staatsfinanzen ist. tern. Das strukturelle Problem in der Arbeitslosigkeit ist 1973/74, 1981/82 und 1993 entstanden. In dieser Zeit hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rot-Grün nicht regiert. und bei der SPD – Friedrich Merz [CDU/ CSU]: Erzählen Sie nicht so einen Stuss!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Reden Sie doch mal über die heutigen Wirtschaftsverhält- Der CDU-Antrag unterstellt, wir würden eine Auf- nisse, die Sie zu verantworten haben!) weichung der Maastricht-Kriterien anstreben. Das ist völlig abwegig. Wenn von Flexibilität die Rede war, Damals hat man es nicht geschafft, die Arbeitslosigkeit dann von der so genannten eingebauten Flexibilität, die nach der konjunkturellen Delle wieder abzubauen. Das im Maastricht-Vertrag enthalten ist, deren sich jeder be- Defizit ist treppchenförmig immer weiter angewachsen. dienen kann, der sich beeilt hat, seine Strukturrefor- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Märchen- men durchzuführen. Andere europäische Länder können stunde!) das tun, denn sie haben die Strukturreformen Mitte der 90er-Jahre durchgezogen und befinden sich jetzt in einer Sie haben nichts dagegen unternommen, fordern aber günstigen Lage. Sie können ohne ein strukturelles Defi- jetzt, dass wir 30 Jahre Misswirtschaft in einem Ruck zit, das wie ein schwerer Rucksack auf ihnen lastet, in abarbeiten. Das ist nicht zu schaffen. Zeiten der Konjunktur flexibel reagieren. Wir Deutschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht. und bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ Unser strukturelles Defizit, seit Mitte der 90er-Jahre CSU]: Habt ihr vor 14 Tagen die Regierung verschleppt, drückt uns fast zu Boden übernommen oder ist das schon ein paar Jahre her?) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer regiert denn eigentlich? Sind Sie nur Frühstücksdirek- Inzwischen ist es so weit gekommen, dass der zustän- torin oder haben Sie hier auch etwas zu sa- dige EU-Kommissar Solbes die Opposition in Deutsch- gen?) land – er hat ausdrücklich die Bundesländer und den Bun- desrat, aber auch die CDU/CSU benannt – für einen und lässt uns nur schwer Luft bekommen. Das heißt aber Risikofaktor bei der Konsolidierung der deutschen Staats- nicht, dass man die Maastricht-Kriterien aufgeben sollte. finanzen hält. Das müssen Sie sich einmal überlegen. Sie unterstellen das in Ihrem Antrag nur. (Peter Hintze [CDU/CSU], zur Regierungs- (B) Auf der einen Seite betreiben Sie eine Boykott- und bank zeigend: Da sitzt das Risiko! – Steffen (D) Blockadepolitik und versuchen alle Maßnahmen, die wir Kampeter [CDU/CSU]: Das größte Risiko hat vorschlagen, zu stoppen. Sie brüsten sich sogar noch da- sich auf der Regierungsbank versammelt! – mit. Auf der anderen Seite tun Sie so, als wollten Sie Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das einzige wirklich Konsolidierung betreiben, indem Sie solche lä- Risiko sind Sie!) cherlichen Anträge vorlegen. Ihr Antrag, den Sie von der CDU/CSU vorgelegt haben, hat eindeutig das Steuersen- Ich bin mir nicht sicher, ob Herr Stoiber oder Herr Koch kungsversprechen des Herrn Stoiber im Wahlkampf des das wirklich gewollt und gemeint haben. Ich habe sie letzten Jahres versenkt. Ich sage nur: Titanic. manchmal konstruktiver als die Bundestagsfraktion er- lebt. Ihr Herumbrüllen kann ich nur so interpretieren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass Sie den Machtverlust immer noch nicht verwunden und bei der SPD) haben und das knappe Wahlergebnis vom letzten Jahr Sie spielen auf Zeit. Sie wollen hier so lange boykot- Sie ganz säuerlich gestimmt hat. Mehr erkenne ich darin tieren, bis uns die Zeit davonläuft. Schon jetzt stehen wir nicht. unter großem Druck, die Reformen durchzuziehen, weil (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sich alles so lang hingezogen hat, weil die Reformen SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt nicht stattgefunden haben, weil Sie sie versäumt haben. [FDP]: Reden Sie doch mal zur Sache!) Herr Kohl wollte keinem weh tun, schon gar nicht vor der schwierigen Wahl 1998. Zurück zum Föderalismus. Weil sich die Länder und damit die CDU/CSU, die im Bundesrat die Mehrheit hat, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sprechen Sie so schädlich aufführen, ist in Brüssel der Eindruck ent- einmal zur Sache!) standen, der deutsche Föderalismus sei kein vernünftiges Ich gebe gern zu, dass Herr Lafontaine auch keinem System. Indem Sie Föderalismus als Obstruktion in weh tun wollte und es dadurch ebenfalls zu einer Zeit- Brüssel in Erfahrung bringen, schaden Sie im Prinzip all verzögerung kam. Das geht auf unser Konto und das will denjenigen aus Ihrer eigenen Partei, die versuchen, die ich nicht beschönigen. Föderalismusdebatte pragmatisch nach vorne zu treiben. Ich halte das für einen ganz fatalen politischen Kurs. Aber seit 1999 befindet sich diese Bundesregierung Aber das ist Ihnen offensichtlich egal, Sie fahren auf auf dem richtigen Kurs, auf dem Konsolidierungskurs. Crash. (Peter Hintze [CDU/CSU]: Auf einem Wir schlagen jetzt ziemlich harte Reformen vor, auch Rundkurs!) im Bereich des Arbeitsmarktes, weil genau da am 3270 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Antje Hermenau (A) ehesten Möglichkeiten bestehen, schleunigst Verände- Defizit wirklich abzubauen. Das leugnet auch niemand. (C) rungen vorzunehmen. Wir reden über moderate Lohnpo- Aber es ist sträflich, den Zeitfaktor jetzt noch weiter zu litik, über eine größere Lohndifferenzierung nach Quali- vernachlässigen, denn der Stabilitäts- und Wachstums- fikation, nach Region, vielleicht auch nach pakt hat ein ganz wichtiges Ziel, das eng mit dem Jahr Unternehmen, und wir reden auch darüber, die Anreize 2006 verknüpft ist. Uns ist aufgetragen worden, den zur Arbeitsaufnahme zu verstärken. demographischen Wandel, der in Europa zu verzeich- nen ist, in der Finanzpolitik zu beachten. Wir müssen uns (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie also bemühen, schleunigst von den hohen Zinszahlungen doch mal was zum Stabilitätspakt!) herunterzukommen. Die nachfolgende Generation der Das sind alles keine schönen Entscheidungen. Die Steuerzahler wird nämlich nur in der Lage sein, eine der Regierung Kohl hat versucht, sie so lange wie möglich beiden Lasten zu tragen: die Zinsen für unsere Schulden aufzuschieben, und auch Herr Lafontaine hat, wie bereits von heute oder unsere Renten von morgen. gesagt, sich nicht bemüht, sie beschleunigt umzusetzen. Dem muss bei unserem politischen Handeln Rech- Das wissen wir alle. Aber seit 1999 wurde versucht, die- nung getragen werden. Im Stabilitäts- und Wachstums- sen Kurs zu fahren. Es war nicht schnell genug, das ha- pakt wurde die Vorgabe gemacht, dass es die Mitglied- ben wir längst konzediert, deshalb wird jetzt auf die staaten bis zum Jahr 2006 geschafft haben müssen, sich Tube gedrückt. Und wer stoppt, blockiert und boykot- von übermäßigen Zinsbelastungen zu befreien, um in der tiert? – Sie da drüben! Sie meinen, Sie hätten die finanz- Lage zu sein, mit der wachsenden Alterung der Bevölke- politische Weisheit in diesem Land gepachtet. Wenn man rung fertig zu werden. Das ist ein entscheidender Punkt. die Ihnen zuerkennen sollte, müssten Sie sich aber an- ders verhalten. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Das war gut!) Wir dürfen nicht noch länger herumdrucksen. Wir müs- sen vorankommen. Wir haben Beispiele in Europa, ich nenne Irland oder Dänemark. In Dänemark hat eine Regierung Anfang (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Das ist aber ganz der 80er-Jahre einen sehr strengen Konsolidierungskurs neu!) gefahren. Es wurde ein hartes Sparpaket verabschiedet, Ich kann Herrn Eichel deswegen nur allzu gut verste- die Steuern wurden erhöht und man ist damit einigerma- hen, wenn er sagt, das Ergebnis, das im Bundesrat he- ßen über die Runden gekommen. In den 80er-Jahre war rausgekommen ist, sei die Tinte nicht wert, mit der es ge- es noch ein bisschen einfacher als heute. Auch in Irland schrieben worden ist. hat die Regierung Anfang der 80er-Jahre versucht, die (B) Situation des Landes zu verbessern, aber es hat an der (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wir wollen (D) Akzeptanz in der Bevölkerung gemangelt. Die Bevölke- Metzger wiederhaben! – Steffen Kampeter rung hatte kein Vertrauen in die Maßnahmen, die ergrif- [CDU/CSU]: Sie hatten das doch in der fen wurden. Ein paar Jahre später hat Irland einen zwei- Hand!) ten Versuch unternommen und das Vertrauen in der Es bringt uns diesem Ziel nämlich nicht näher. Sie haben Bevölkerung und in der Wirtschaft errungen, indem man einen Scheinantrag vorgelegt. Sie sagen, Sie wollten, deutlich stärker auf eine Reduzierung der Ausgaben ge- dass die Maastricht-Kriterien eingehalten werden, und setzt hat, weniger auf Steuererhöhungen und Investi- keiner solle daran herumschustern; gleichzeitig verhin- tionsprogramme. Man hat also die Ausgaben gekürzt. dern Sie aber, dass diese Kriterien eingehalten werden Das machen wir seit Jahren, aber Sie machen da nicht können, und brüsten sich sogar damit. Das ist doch wirk- mit. Sie machen wohlfeile Vorschläge, sind aber nicht in lich absurd! der Lage, sie durchzusetzen, weil sie offensichtlich nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN funktionabel sind. Sie sprechen vollmundig von der und bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ Phrase Subventionsabbau, aber verweigern sich, die CSU]: Thema verfehlt!) Subventionierung der Dienstwagen abzuschaffen. So sieht Ihre Wirtschaftspolitik konkret aus. Herr Waigel hat am 27. Juni 1997 verkündet, 1997 sei das Referenzjahr. Jedes Land habe die Chance und jedes Wenn man aus den Erfahrungen der anderen Länder Land habe die Pflicht und für jedes Land gelten die glei- hätte lernen wollen, hätte man Mitte der 90er-Jahre an- chen Voraussetzungen. Für die Entscheidung zählten üb- fangen müssen, nicht erst 2001 oder 2002. Das wissen rigens Ist-Ergebnisse des Jahres 1997 und nicht Progno- Sie ganz genau. Schon Mitte der 90er-Jahre lag man sen, Schätzungen oder Quartalsabrechnungen; so viel selbst in Boomzeiten nur knapp unter dem Maastricht- dazu, angesichts der ständig wiederkehrenden Debatten Kriterium, das 1997 eingeführt worden ist. Man brauchte zu den Hilfen für die Bundesanstalt für Arbeit. Es war schon damals immer einen großen Wirtschaftsauf- damals klar, dass am Jahresende abgerechnet wird. Was schwung, um sich halbwegs über Wasser zu halten. Das für 1997 galt, gilt aber auch für 2003. heißt, wir schleppten auch schon damals das große struk- turelle Defizit mit uns herum. Man kann durchaus die Sie versuchen, eine Obstruktionspolitik zu betreiben, Parallele zu 1997 ziehen; ich habe vorhin nicht umsonst und haben im ersten Vierteljahr nur versucht, uns Hin- Herrn Waigel zitiert. Im Jahre 1997 hatten wir ein ver- dernisse in den Weg zu legen und uns zum Stolpern zu gleichbar hohes strukturelles Defizit wie jetzt immer bringen. Das ist das Einzige, was Sie auf diesem Gebiet noch. Das Problem ist, dass es nicht gelungen ist, dieses bis jetzt geleistet haben. Mehr haben Sie nicht beigetra- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3271

Antje Hermenau (A) gen. Nicht ein einziger Vorschlag ist von Ihnen gekom- mir etwas hören wollen, komme ich gerne nach, damit (C) men. Weder in den vollmundigen Reden des Herrn Sie nicht länger auf Entzug sind. Rexrodt habe ich einen konstruktiven Vorschlag gehört, (Beifall bei der CDU/CSU) noch in den Ausführungen der Redner von der CDU/ CSU, die vorhin gesprochen haben. Sie haben nur allge- Lassen Sie mich mit zwei Nachrichten beginnen, die mein philosophiert, wie die Finanzpolitik aussehen uns am Dienstag erreicht haben und völlig unabhängig könnte, und sind nicht konkret geworden. Das möchte vom Ergebnis des Vermittlungsausschusses vom gestri- ich hier festhalten. gen Abend sind. Vorgestern hat die EU-Kommission in Brüssel am späten Nachmittag sehr kurz hintereinander (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: O mein Gott!) zwei Erklärungen herausgegeben. Die eine lautete, – Tja, Herr Rexrodt, wenn Sie wüssten, was ich immer Deutschland stehe nach Einschätzung der EU-Kommis- denke, wenn Sie reden! sion als einziges Mitgliedsland am Rande einer Rezes- sion. Die zweite Meldung, die uns nur wenig später er- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reicht hat, lautete, das Haushaltsdefizit Deutschlands NEN und bei der SPD) betrage nach einer Prognose der EU-Kommission in die- sem Jahr 3,4 Prozent. Damit übersteige die Neuverschul- Herr Stoiber hat am 6. April, also vor einigen Tagen, dung zum zweiten Mal in Folge die im Stabilitätspakt gesagt, er sehe nicht ein, dass sich Bayern an möglichen maximal zulässigen 3 Prozent. Beide Meldungen und Strafzahlungen beteiligt, wenn es zu einer dauerhaften Einschätzungen der EU-Kommission haben etwas mit- Überschreitung der Defizitobergrenze kommt. Er sei einander zu tun. Herr Eichel, Ihr Problem ist, dass Sie nicht bereit, denjenigen, die Reformen verweigern und das bis heute nicht verstanden haben. dadurch die öffentliche Hand in immer höhere Neuver- schuldung treiben, auch noch die EU-Strafen wegen des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) jahrelangen Reformstaus zu bezahlen. Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen, bevor (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) ich auf die eigentlichen Probleme zu sprechen komme, über die wir heute zu diskutieren haben. Den gegenwär- Angesichts dieser Aussage muss ich Sie fragen, wel- tigen Zustand einer Bundesregierung erkennt man im- ches Bundesland im Jahr 2002 denn massiv dazu bei- mer daran, dass sie die Intensität der Kritik an der Op- getragen hat, dass Herr Eichel in Brüssel die bittere Bot- position unter weitgehendem Verzicht auf eigene schaft verkünden musste, dass eine Überschreitung des Vorschläge erhöht. Maastricht-Kriteriums absehbar sei? – Es war das Bun- desland Hessen, das eindeutig nicht von der SPD regiert (Peter Hintze [CDU/CSU]: Sehr schön!) (B) (D) ist. Hessen durfte nur 0,8 Milliarden Euro Schulden ma- Genau das ist der Zustand, den wir gegenwärtig bei Ih- chen, hat aber über 2 Milliarden Euro Schulden gemacht. nen feststellen. Je ratloser Sie werden, desto heftiger be- Die Verfehlung des Maastricht-Kriteriums geht also we- schimpfen Sie die Opposition. sentlich auf das Konto CDU-geführter Länder, die ihre eigenen Interessen in den Vordergrund gestellt haben. Ich will nur eines feststellen: Herr Eichel, den blauen Brief hat nicht die Opposition in Deutschland, sondern (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Frau Präsi- die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland dentin, schützen Sie uns vor einem solchen bekommen. Unsinn!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Sie sich auf die Lösung dieser nationalen Auf- gabe nicht einlassen wollen, wenn Sie nicht in der Lage Sie haben ihn bereits einmal bekommen und entgegen sind, zu erkennen, worum es eigentlich geht, dann müs- allen Prognosen, die Sie immer noch abgeben, werden sen Sie sich den Vorwurf von Herrn Solbes gefallen las- Sie ihn in diesem Jahr ein zweites Mal hintereinander er- sen, dass Sie das eigentliche Konsolidierungsrisiko in halten. Das hat im Wesentlichen vier Ursachen. Deutschland sind. Die erste Ursache ist, dass Sie die Weichen am An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fang Ihrer rot-grünen Regierungszeit falsch gestellt ha- und bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ ben. Die Schulden stammen nicht aus dem Erbe der al- CSU]: Was für ein Unsinn!) ten Bundesregierung von und Theo Waigel,

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Widerspruch von der SPD) Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Merz, sondern es war , der Ihnen bereits im CDU/CSU-Fraktion. ersten Haushaltsjahr 30 Milliarden DM höhere Ausga- ben auf den Tisch gelegt hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Über die zweite Ursache, die Sie zu verantworten ha- ben, mussten wir in der letzten Nacht wieder diskutieren. Friedrich Merz (CDU/CSU): Es geht um Ihre Entscheidung, dass im Jahre 2001 eine Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Körperschaftsteuerreform durchgeführt wurde. Herr Herren! Herr Bundesfinanzminister, dem sehnlichen Bundesfinanzminister Hans Eichel, ich sage Ihnen: Wunsch, den Sie hier vorgetragen haben, dass Sie von Wenn wir heute noch einmal vor der Frage stünden, ob 3272 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Friedrich Merz (A) eine solche Körperschaftsteuerreform, wie Sie sie im gestellt haben, dann dürfen Sie sich nicht darüber (C) Jahre 2001 durchgesetzt haben, gemacht werden soll, wundern, dass wir immer weniger bereit und in der Lage dann würde nicht ein einziger Ministerpräsident in sind, die Kriterien, die in Maastricht niedergelegt wur- Deutschland – auch keiner, der aus Ihren Reihen gestellt den, zu erfüllen. wird – noch einmal zustimmen. In den öffentlichen Haushalten ist die Balance zwi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen Investitionen und Sozialausgaben so weit aus dem Ruder gelaufen, dass dies nicht ein konjunkturelles oder Die Körperschaftsteuerausfälle, die damit verbunden kurzfristiges Problem ist. Herr Eichel, Sie schlagen sich sind, sind bis zum heutigen Tag ein wesentlicher Teil der seit viereinhalb Jahren mit einem tief greifenden struktu- Probleme. rellen Problem herum und sind erkennbar nicht in der (Bernd Scheelen [SPD]: Unsinn!) Lage, dieses zu lösen. Sie sind erkennbar auch nicht be- reit, dieses zu lösen; denn ansonsten hätten wir längst die Sie haben in zwei Jahren 40 Milliarden Euro weniger Reformen auf dem Tisch liegen, über die in diesem Körperschaftsteuer eingenommen. Mit diesem Teil der Lande schon so lange diskutiert wird. heutigen Probleme müssen Sie sich herumschlagen, weil Sie die Weichen bei der Körperschaftsteuer im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jahre 2001 völlig falsch gestellt haben. Ich bin damit beim vierten Grund – er kommt in dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zum Ausdruck, was die EU-Kommission zu Recht kriti- siert hat –: Unser Land befindet sich in einer tiefen struk- Über das Ergebnis der Sitzung des Vermittlungsaus- turellen Wachstums- und Beschäftigungskrise. Herr schusses in der letzten Nacht werden wir morgen noch Eichel, Sie werden mit Ihrer Finanzpolitik auch in Zu- in Ruhe diskutieren. Lassen Sie mich eine Bemerkung kunft hoffnungslos scheitern, wenn Sie nicht endlich be- dazu machen: Herr Eichel, wir haben nichts anderes ge- greifen, dass die Finanzpolitik im gegenwärtigen Zustand tan, als auch im Vermittlungsausschuss genau das einzu- der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland nur halten, was wir im Bundestagswahlkampf und in den Fehler machen kann. Wenn sie gut ist, kann sie allenfalls beiden Landtagswahlkämpfen in Niedersachsen und in Fehler vermeiden. Einer der Fehler wäre, die Neuver- Hessen zugesagt haben. Wir sehen einen Korrekturbe- schuldung zu erhöhen. Der zweite Fehler wäre, eine De- darf bei der Körperschaftsteuer und sind ansonsten nicht batte über Steuererhöhungen zu beginnen. Sie als Finanz- bereit, Steuererhöhungen in Deutschland zuzustimmen. minister der Bundesrepublik Deutschland machen gleich Dass wir dieses Versprechen im Gegensatz zu Ihnen beide Fehler. nicht nur eingehalten haben, sondern dass die Union (B) diese Position gestern Abend auch geschlossen vertreten Dies ist die schlechteste Finanzpolitik, die in der Bun- (D) hat und Sie nicht einen Einzigen aus der Union haben desrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen jemals ge- herausbrechen können, mag Sie überrascht haben; das ist macht worden ist, weil sie jeden wirtschaftspolitischen aber das Ergebnis der letzten Nacht. Sachverstand vermissen lässt, den ein Finanzminister wenigstens minimal haben müsste. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Von dieser Stelle aus will ich insbesondere dem hessi- schen Ministerpräsidenten Roland Koch ausdrücklich Sie handeln völlig ohne jeden Bezug zu dem, was wirt- danken, der mit einer sehr klugen Verhandlungsstrategie schaftspolitisch notwendig ist. Sie als Finanzminister dafür gesorgt hat, – entschuldigen Sie, Sie wissen, dass ich das nicht per- sönlich meine – haben Ihre Tägigkeit auf eine rein buch- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) halterische Finanzpolitik reduziert, die die ausschließlich dass ein Kompromiss möglich wurde und dass in der mechanisch-technische Betrachtung der Einnahmen und Steuererhöhungsdebatte, die wir uns in diesem Lande Ausgaben zum obersten Primat der Finanzpolitik ge- besser erspart hätten, wenigstens ein Rest an wirtschafts- macht hat. Wenn Sie dies fortsetzen, bleibt es dabei, dass politischem Verstand gewahrt wurde. Sie ein gescheiterter Finanzminister sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Simone Violka [SPD]: Er hat auch Schulden gemacht!) Raus aus der Wachstums- und Beschäftigungskrise unseres Landes – das ist die einzig richtige Antwort, die Damit komme ich zu Ihrem dritten großen Problem, Sie auf der Regierungsbank geben können, wenn Sie das Sie offenkundig nicht in den Griff bekommen. Es gleichzeitig die – richtigen – Kriterien des Maastricht- schlägt sich in den Defizitzahlen nieder. Eines der gro- Vertrages erfüllen wollen und müssen, des Vertrages, der ßen Probleme der öffentlichen Haushalte – insbesondere sich unmittelbar mit dem Engagement der Bundesrepu- derer, die Sie zu verantworten haben – sind die völlig aus blik Deutschland im Zuge der Euroeinführung verbindet. dem Ruder laufenden Sozialausgaben. Wenn sich das Wir sind das Land, das so viel Wert darauf gelegt hat, Verhältnis zwischen Investitionen und Sozialausgaben dass Preisstabilität und Haushaltsdisziplin zum Maßstab über einen langen Zeitraum hinweg verschlechtert und in der gesamten Europäischen Union werden. Mit Ihrem es durch verweigerte Reformen bei den sozialen Siche- Namen wird in die Geschichtsbücher eingehen, dass rungssystemen zusätzlich eine solch dramatische Ent- Deutschland vom Stabilitätsanker in Europa zu dem wicklung nimmt, wie wir sie in den letzten Jahren fest- Land geworden ist, das eine Gefährdung von Preisstabi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3273

Friedrich Merz (A) lität und Budgetdisziplin für ganz Europa darstellt. Mit Joachim Poß (SPD): (C) dieser Bilanz, Herr Eichel, sollten Sie nicht so selbstbe- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr wusst und überheblich auftreten und die Opposition be- Kollege Merz, mit Ihrer Rede haben Sie erneut unter Be- schimpfen, wie Sie das gerade getan haben. weis gestellt, dass Sie noch nicht in der Realität dieses (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Landes – jedenfalls in der finanziellen Realität – ange- neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Na, wer kommen sind. tritt denn hier überheblich auf? – Wilhelm (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sind doch ein Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – arroganter Kerl! Ekelhaft!) Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich eine Schlussbemerkung machen. Wir Das waren, wie üblich, Sprüche von Wolke sieben im alle sorgen uns in erheblichem Maße um die Finanzen Wolkenkuckucksheim. der Kommunen. Aber dass ausgerechnet Sie dies auf- greifen und wiederum mit Kritik an der Opposition ver- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie waren schon binden, ist schon ein starkes Stück, Herr Eichel. besser, Herr Poß!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Herr Merz, wenn Sie letzte Woche Donnerstag an dem Gespräch mit Herrn Koch teilgenommen hätten – Sie ha- Sie in Ihrer Regierungsverantwortung sind es gewesen, ben es vorgezogen, sich vertreten zu lassen –, die den Kommunen in einem nie da gewesenen Umfang Lasten aufgebürdet haben. Gleichzeitig haben Sie den (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er hat Kommunen immer mehr die finanziellen Mittel entzo- sich verweigert!) gen, die erforderlich sind, um diese Lasten schultern zu dann hätten Sie sehr wohl zur Kenntnis nehmen können, können. dass sich Herr Koch längst von Ihrer Fundamentaloppo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sition verabschiedet hat. Er ist schon in der Wirklichkeit angekommen. Sie haben es mehrfach abgelehnt – ich will das noch einmal festhalten, damit die Öffentlichkeit dies zur (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kenntnis nimmt –, die Gewerbesteuerumlage auf das Wenn Sie gestern an der Sitzung des Vermittlungsaus- Maß zu reduzieren, das vor der Körperschaftsteuerre- schusses teilgenommen hätten, dann hätten Sie zur form bis zum Jahre 2000 gegolten hat. Jetzt kommen Sie Kenntnis nehmen können, dass die Ministerpräsidenten im Zuge Ihrer Gewerbesteuerreform mit einigen Brosa- Müller, Böhmer und andere ebenfalls längst in der Reali- (B) men an und wollen über die Einbeziehung der Freiberuf- tät dieses Landes angekommen sind. Deswegen haben (D) ler in die Gewerbesteuer die Situation der kommunalen wir schließlich die Vereinbarung getroffen – sie wird Finanzen verbessern. Das ist so, als ob jemand eine Sau morgen von Ihrer Seite durch Herrn Kauder zu Protokoll aus dem Dorf treibt, anschließend mit einem Kotelett in gegeben –, neben der bereits vereinbarten Korrektur der der Hand wiederkommt und dafür bei den Betroffenen Körperschaftsteuer die steuerpolitische Agenda neu zu Lob und Anerkennung verlangt. So geht es wirklich eröffnen. nicht. Herr Koch hat keinen Zweifel daran gelassen, wie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- notwendig es ist, sich mit der umfassenden Sanierung neten der FDP) der Staatsfinanzen sowohl auf der Einnahmenseite wie Dass die Kommunen in einer solchen Verfassung auch auf der Ausgabenseite zu beschäftigen. Diesen sind, verbindet sich eng mit Ihrer Wirtschafts- und So- Konflikt haben Sie in Ihren Reihen noch zu lösen, Herr zialpolitik, der hohen Arbeitslosigkeit und den völlig aus Merz. Ich wiederhole: Sie sind bisher noch nicht aufge- dem Ruder laufenden Sozialhilfeausgaben in den Kom- stellt. Sie sind bisher mit dummen Sprüchen aufgefallen munen. Damit schließt sich wiederum der Kreis. und damit durchgekommen. Diese Zeit ist aber endgültig vorbei. Wenn Sie es nicht schaffen, endlich die Reformen auf den Weg zu bringen, mit denen hinsichtlich Wachstum (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Beschäftigung in Deutschland wenigstens das euro- DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: päische Mittel erreicht wird, dann werden wir uns am Die kommt zurück! Ich sage nur: 2. Februar!) heutigen Tag nicht zum letzten Mal damit beschäftigen, Jetzt geht es um konkrete Alternativen. Dabei lassen dass dieses Land zu unser aller Sorge erneut die Krite- Sie jede konkrete Festlegung vermissen. Herr Eichel hat rien des Maastricht-Vertrages verletzen wird. Dieses zu Recht auf den groß angekündigten Strategiegipfel Problem hat einen Namen. Der Name ist Hans Eichel. hingewiesen, der sechs Stunden getagt hat. Der Berg (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- kreißte, aber nicht einmal ein Mäuschen kam dabei her- fall bei der FDP) aus. Das ist die Realität der CDU/CSU. Wir waren uns übrigens gestern mit Herrn Koch und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: anderen einig darüber Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Er war doch Joachim Poß, SPD-Fraktion. gar nicht da!) 3274 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Joachim Poß (A) – wir haben letzte Woche Donnerstag ein ausführliches Allein die Verwirklichung dieser beiden Forderungen (C) Gespräch mit Herrn Koch geführt –, dass der Verfall würde das gesamtstaatliche Defizit in diesem Jahr auf der Körperschaftsteuer mehrere Gründe hat. Er hat weit über 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes anwach- konjunkturelle Gründe; hinzu kommen die Steuersatz- sen lassen. senkung im Interesse der internationalen Wettbewerbs- (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Sie müssen die fähigkeit, die Sie immer gefordert haben, und die Aus- Einnahmeseite beachten, Herr Poß!) schüttung der Guthaben, die sich in der Kohl-Ära angesammelt hatten. Deswegen in aller Ruhe: Wenn wir gemeinschaftlich an dem Ziel festhalten wollen, den Stabilitätspakt wirklich (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Jetzt kommt das ernst zu nehmen, dann setzt das die Mitwirkung der Op- wieder!) positionsparteien – jedenfalls in den Landesregierungen Zu berücksichtigen sind auch die Verlustvorträge, die in und auf kommunaler Ebene – voraus; aber nicht, indem Ihrer Regierungszeit entstanden sind. 1995 betrugen sie Sie weiter schwarz malen – so wie das Herr Merz ge- 250 Milliarden DM; inzwischen belaufen sie sich auf macht hat – oder Obstruktion betreiben. Das ist die Al- 250 Milliarden Euro. ternative. Sie sind jetzt an der Wegscheide: entweder verantwortungsvoll Politik zu machen und sich Ihrer (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Kommt doch gar Verantwortung in den von Ihnen regierten Ländern zu nicht darauf an!) stellen – das gilt auch für die Kommunen – oder weiter Totalopposition zu betreiben. Das ist die Situation, um – Auch Sie, Herr Rexrodt, kommen mit solchen Sprü- die es hier geht. chen nicht mehr durch. – Darauf müssen wir Antworten finden, und zwar in der nächsten Runde der Steuer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesetzgebung. Dann können Sie sich nicht mehr davor des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) drücken, wie das noch gestern Abend versucht wurde. Wir brauchen keine Sonntagsreden, sondern konkrete Das sind die Punkte, die für die Bevölkerung, die Wirt- Vorschläge. Wie wollten Sie die Flutopferhilfe finanzie- schaft und auch für die Planungssicherheit bezüglich In- ren? Sie hatten vorgeschlagen, die Schuldentilgung dafür vestitionen wichtig sind. auszusetzen und so die Neuverschuldung des Bundes zu (Beifall bei der SPD) erhöhen. Diese Koalitionsregierung muss nicht von Ihnen auf (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist doch die Einhaltung des europäischen Stabilitäts- und Wachs- Blödsinn! Das wissen Sie doch!) tumspaktes hingewiesen werden. Wir haben das nicht Dieser Vorschlag wurde von Ihnen so vehement vertre- (B) (D) nötig. Wir kennen unsere rechtlichen und politischen ten, dass es für uns alle überraschend war, dass Sie im Pflichten. Ergebnis dann plötzlich doch unserem Finanzierungs- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Aber ihr handelt vorschlag – der Verschiebung der Steuerentlastungsstufe nicht danach!) 2003 um ein Jahr auf 2004 – zugestimmt haben. (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Das war ein gro- Es ist unverfroren, dass sich CDU/CSU und FDP bei den ßer Fehler der Union!) Themen Haushaltskonsolidierung und Stabilitätspakt zu Wort melden. Das sind schließlich Parteien, die sonst – Sie haben da nicht mitgemacht? Aber die Union hat da keine Gelegenheit auslassen, Steuer- und Abgabensen- mitgemacht, Herr Rexrodt. kungen sowie öffentliche Mehrausgaben zu fordern. Die faktische Missachtung von Haushaltskonsolidie- (Beifall bei der SPD) rung und soliden Finanzen ist das Kennzeichen der Poli- tik von CDU/CSU und FDP, und zwar bis zum heutigen Ihr Vorgehen ist unverfroren. Denn solide Finanzen Tage. und Haushaltskonsolidierung sind wahrlich nicht Ihre Themen. Ihre zentrale wirtschafts- und finanzpolitische Bei den Beratungen des Bundeshaushaltes 2003, Herr These – das gilt für Merz, Rexrodt und andere – lautet: Haushälter Kampeter, in dem es nun wirklich nichts zu Steuersenkungen zu jeder Zeit, und zwar ohne Rück- verteilen gibt, hat die Opposition immer wieder ver- sicht auf die Folgen für die öffentlichen Haushalte von sucht, Mehrausgaben in Milliardenhöhe durchzusetzen. Bund, Ländern und Kommunen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Alle gedeckt, Ihr Credo lautete doch: Allein durch Steuersenkungen wie Sie wissen! – Gegenruf des Abg. Klaus würde der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland Hagemann [SPD]: Nicht ein Euro war ge- erfolgen, auch wenn die öffentlichen Haushalte dadurch deckt!) handlungsunfähig gemacht würden. Monatelang – nicht Auch das steht in krassem Widerspruch zu Ihrer heutigen nur im Bundestagswahlkampf – haben Sie zum Beispiel Forderung nach strikter Haushaltskonsolidierung. die Senkung des Einkommensteuerspitzensatzes auf un- ter 40 Prozent – bis auf 35 Prozent – und die angeblich Ich möchte jetzt nicht an all die Leidensgeschichten erforderliche steuerliche Gleichstellung von Personen- erinnern. Ich habe vorhin schon das Stichwort Strategie- und Kapitalgesellschaften versprochen. gipfel genannt. Immer, wenn Sie einen Anlauf unterneh- men, um sich auf konkrete Maßnahmen zu verständigen, (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Richtig!) scheitert dieser Anlauf. Auf keinen einzigen Sparvor- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3275

Joachim Poß (A) schlag konnte sich die Union bis zu dieser Debatte heute Die Union wie auch die FDP, die gestern jede kon- (C) einigen. struktive Mitarbeit verweigert hat, stehen in einer klaren gesamtstaatlichen Verantwortung. Auch Sie sind an Lan- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! desregierungen beteiligt, so bedauerlich das sein mag. Hört!) Sie können sich nicht länger so verstecken, wie Sie das Das muss in der Republik nun wirklich langsam bekannt bisher getan haben, und meinen, die Politik mit Dekla- werden. mationen bedienen zu können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Wer Steuern er- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) höht, erhöht die Arbeitslosigkeit!) Sie sind mit Ihrem Latein am Ende, meine Damen und Niemand, der in der Regierung und in den Regie- Herren von der Opposition. Sie haben Ihr verbales Pul- rungsfraktionen Verantwortung trägt, stellt den Stabili- ver verschossen. Jetzt sind Sie gefordert. täts- und Wachstumspakt infrage. Insofern entbehrt Ihr heutiger Antrag jeder Grundlage. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Den gestrigen Abend im Vermittlungsausschuss hat die starke Uneinigkeit und Zerstrittenheit der Union in Die Notwendigkeit einer soliden und nachhaltigen Haus- Strategiefragen und inhaltlichen Fragen geprägt und be- haltspolitik in allen europäischen Staaten als unabding- lastet. bare Voraussetzung für Wohlstand in Europa wie auch zur Sicherung der gemeinsamen Währung ist unbestrit- (Lachen bei der CDU/CSU – Steffen ten. Wenn die heutige Debatte überhaupt einen Sinn hat, Kampeter [CDU/CSU]: Wir haben ein Ver- dann den, deutlich zu machen, dass der europäische Sta- mittlungsergebnis!) bilitäts- und Wachstumspakt auch in der derzeitigen, lang andauernden konjunkturellen Schwächephase ge- Weil aber offensichtlich zumindest in Teilen der Union nug Spielraum für eine angemessene nationale und euro- ein Umdenken und eine Annäherung an die finanziellen päische Finanzpolitik lässt und auch lassen muss. Es ist Realitäten und an die politischen Erfordernisse in unse- doch eine ökonomische Selbstverständlichkeit, dass in rem Land stattgefunden hat, konnte wenigstens ein ge- außergewöhnlichen Situationen die vorübergehende rade noch akzeptabler Kompromiss erzielt werden. Die- Hinnahme eines öffentlichen Defizits von mehr als ser Kompromiss ist aus unserer Sicht akzeptabel, aber er 3 Prozent möglich sein muss. Wer das leugnet und die ist auch das Maximum dessen, was man gerade noch Einhaltung der Dreiprozentgrenze in jeder Situation, vertreten kann. Für die Kommunen bietet er unter dem Herr Rexrodt – und „koste es, was es wolle“ –, fordert, (B) Gesichtspunkt der Soforthilfe in diesem Jahr nichts au- (D) der handelt konjunkturpolitisch falsch und letztlich auch ßer einer Null. Diese Nulllösung haben Sie herbeigeführt gesamtgesellschaftlich unvernünftig. und nicht wir. (Beifall bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt (Beifall bei der SPD) [FDP]: Eine unglaubliche Auffassung!) Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten die Kommunen Im Übrigen führt genau diese starre und falsche Sicht- schon in diesem Jahr eine kräftige Entlastung erfahren. weise des Stabilitätspaktes dazu, dass die Akzeptanz ei- Ob die Union ernsthaft bereit ist, endlich von Ihrer ner institutionellen Obergrenze für die staatliche Kredit- bisherigen Verweigerungs- und Blockadestrategie abzu- aufnahme, wie sie das Dreiprozentkriterium darstellt, weichen, wird sich bei den weiteren Gesetzesvorhaben ausgehöhlt wird. Ich bin mir sicher: Theodor Waigel, der zeigen. Wir treffen uns jetzt noch öfter bis hin zum Ver- in Europa den Stabilitätspakt durchgesetzt hat, hätte das mittlungsausschuss. Wir haben uns zur Weiterverfolgung nicht anders gesehen. Der Beschluss des Finanzaus- unerledigter Punkte verabredet. schusses zum Thema Stabilitätspakt, Drucksache 15/737, lautet wie folgt: Es wissen alle, dass Deutschland die niedrigste Steu- erquote in Europa hat und dass die Steuerbelastung mit Der Deutsche Bundestag unterstützt die Haltung den bereits beschlossenen Steuerreformstufen im nächs- der Bundesregierung, sich weiterhin für die Einhal- ten Jahr und im Jahr 2005 noch weiter sinken wird. Auch tung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes einzu- sollten alle wissen, dass insbesondere auf der Ebene der setzen und im Hinblick auf die ökonomische Ge- Länder und Kommunen die gravierenden Finanzpro- samtsituation und auf etwaige Sondereinflüsse von bleme in großem Maße auf eine unzureichende Steuer- seinen bestehenden Regelungen europäisch abge- basis zurückzuführen sind. Herr Rexrodt, Folgendes will stimmt sinnvoll Gebrauch zu machen. ich Ihnen einmal sagen – ich hatte das Gefühl, dass die Dem ist nichts hinzuzufügen. Diese Linie ist in öko- Unionsvertreter das ähnlich gesehen haben –: Sich mit nomischer und stabilitätspolitischer Hinsicht richtig. einer grundsätzlichen Erklärung, wie das Ihr Vertreter im Dazu gibt es keine Alternativen, jedenfalls nicht von Ih- Vermittlungsausschuss gestern gemacht hat, aus jeder rer Seite. Mitverantwortung zu stehlen geht nicht. So kann man für Deutschland keine Verantwortung tragen. Danke. (Beifall bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir wollen keine Steuererhöhungen!) DIE GRÜNEN) 3276 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Beim Bund muss gespart werden. Wir müssen auf Bun- (C) Nächster Redner ist der Kollege Hans Michelbach, desebene die richtige Politik und auch die richtige Steu- CDU/CSU-Fraktion. erpolitik machen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wie immer – wie auch vor der Bundestagswahl im letzten Jahr – setzen Sie auf Ausreden und Verschleierung. Sie ignorieren einfach die Hans Michelbach (CDU/CSU): Einschätzung der EU-Kommission bezüglich des dies- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- jährigen Defizits. legen! Herr Poß, warum lehnen Sie unseren Antrag ab? (Joachim Poß [SPD]: Wechseln Sie doch mal (Joachim Poß [SPD]: Das habe ich ja begrün- die Platte!) det! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie entgegnen dem EU-Finanzkommissar Pedro Solbes, Weil er Unsinn ist!) die Schätzung berücksichtige angeblich die steuerlichen Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion Maßnahmen der Bundesregierung nur zum Teil. Das ist lebt nun einmal von soliden öffentlichen Finanzen. Nur entwaffnend. Sie haben die Steuererhöhungen, die in dem so kann die Grundlage für Vertrauen, Preisstabilität, Steuervergünstigungsabbaugesetz vorgesehen waren, Wachstum und Beschäftigung geschaffen werden. Hier- (Joachim Poß [SPD]: Wo ist eigentlich Herr für wurde unter der Federführung von Theo Waigel der Hinsken? Der ist gar nicht da!) Stabilitäts- und Wachstumspakt in der durch- gesetzt. Er selbst und wir, seine Mitstreiter in der CDU/ bereits in Verbindung mit einer Defizitquote von CSU, konnten uns damals allerdings nicht vorstellen, 2,8 Prozent nach Brüssel gemeldet. Das heißt, Sie haben dass ausgerechnet unser Land einmal so massiv gegen Steuererhöhungen in Ihre Meldungen aufgenommen, das Defizit- und das Schuldenstandskriterium verstoßen von denen Sie genau wussten, dass die CDU/CSU sie wird. letzten Endes nicht mitmacht, weil sie kontraproduktiv sind und Wachstum und Beschäftigung kosten werden. Herr Eichel, Ihr Vorgänger Theo Waigel und unsere Das ist die Wahrheit. damalige Koalition haben die Kriterien eingehalten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unter welchen Umständen? Unsinn!) Diese Aussage ist nicht nur entwaffnend; sie zeigt, dass Sie Einnahmen aus dem Abkassiermodell zulasten Sie verletzen die Kriterien, niemand anders. Das sind die der Bürgerinnen und Bürger, zulasten des Mittelstandes Fakten. Alles andere ist doch üble Nachrede. Sie suchen (B) schon veranschlagt hatten. Ich bin all denjenigen aus den (D) die Schuld immer bei anderen. CDU/CSU-regierten Bundesländern und unseren Mit- (Simone Violka [SPD]: Weil es richtig ist!) gliedern des Vermittlungsausschusses sehr dankbar, die im Vermittlungsausschuss diese Steuererhöhungen Tatsächlich ist Rot-Grün das finanzpolitische Risiko in zum Scheitern gebracht haben. Ihre Geschlossenheit be- Deutschland, niemand anders. wirkte eine große Leistung im Sinne der Bürger, im Sinne von Wachstum und Beschäftigung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hät- Tatsache ist, dass Brüssel ein deutsches Defizit in ten Sie mal miterleben müssen, Herr Höhe von 3,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Michelbach! Lächerlich! – Stephan Hilsberg laufenden Jahr erwartet. Damit werden wir nach 2002 [SPD]: Das glauben Sie doch selber nicht!) die Stabilitätsregeln auch 2003 wieder deutlich brechen. Wir müssen mit mindestens 3,4 Prozent rechnen, wenn Herr Poß hat so getan, als wenn er mit diesem Ver- nicht ein sofortiger Kurswechsel vorgenommen wird. mittlungsergebnis gar nichts zu tun hätte. Herr Poß, ich Herr Eichel, Sie behaupten, dass daran die Länder und habe heute früh gelesen, 30 der 32 Mitglieder des Ver- Kommunen schuld seien. Das ist ein Märchen; denn das mittlungsausschusses, also auch solche aus der SPD, hät- Finanzierungsdefizit des Bundes einschließlich der Sozi- ten diesem Vermittlungsergebnis zugestimmt. Ich sage alversicherungen beträgt, bezogen auf die im Finanzrat es Ihnen deutlich: Sie können sich doch davon gar nicht vereinbarte Bemessungsgröße von 45 Prozent des BIP, absetzen. 4,6 Prozentpunkte. (Joachim Poß [SPD]: Wer macht denn das?) Durch die Bundespolitik sind wir zu einem gesamt- Es ist gut, dass es so gekommen ist. Wir haben eine staatlichen Schuldenstand von 3,4 Prozent und mehr ge- Wertzuwachssteuer auf Immobilien, Aktien und Fonds kommen; dazu trägt allein der Bund 4,6 Prozentpunkte verhindert. Wir haben eine Firmenwagensteuer für Au- bei. Die deutliche Überschreitung der Dreiprozentgrenze ßendienstmitarbeiter verhindert. Wir haben eine Ver- ist letztendlich damit im Zusammenhang zu sehen – trotz schlechterung der Abschreibungen für die Bauwirtschaft der Verschiebebahnhöfe zulasten der Länder und Kom- und für die Investoren verhindert. Wir haben eine Ein- munen. Diese 4,6 Prozentpunkte sind eben zu hoch, um schränkung der Verlustrechnung für die mittelständi- die Schulden bei den Ländern und Kommunen unter die schen Betriebe verhindert; es wäre ein Anschlag auf den Dreiprozentmarke zu senken. Es ist deutlich zu erken- Mittelstand gewesen, wenn er seine Verlustvorträge nen, dass wir die Rahmenbedingungen beim Bund ver- nicht mehr hätte verrechnen können. Außerdem haben ändern und einen Kurswechsel vornehmen müssen. wir eine Kürzung der Eigenheimzulage verhindert. Das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3277

Hans Michelbach (A) hätte die Wirtschaft belastet sowie Wachstum und Be- und drittens auch in der Steuerpolitik die ökonomische (C) schäftigung in Deutschland gekostet. Vernunft walten lassen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Weitere Sprüche!) Die Bundesregierung handelt nicht, sofern sie nicht wie in diesem Vermittlungsverfahren dazu gezwungen Es bedarf einer sofortigen Haushaltskonsolidierung wird, sondern verzögert weiter, reißt neue Löcher auf und eines materiellen Budgetausgleichs beim Gesamt- und bringt Deutschland in eine immer schwierigere wirt- staat ab 2006. Um das Ziel „weniger Staat“ zu erreichen, schaftliche Lage. Wer Steuern erhöht, der erhöht die Ar- muss die Staatsquote bis 2010 auf 40 Prozent gesenkt beitslosigkeit. Lassen Sie deshalb die Finger von Ihren werden. Bei den Steuersenkungen und insgesamt bei der Abkassiermodellen, von Ihren beabsichtigten Steuerer- Steuerpolitik müssen wir immer darauf achten, höhungen. Das muss Ihnen ins Stammbuch geschrieben (Joachim Poß [SPD]: Da ist ja wieder das Zau- werden. berwort: Steuersenkungen! Und dann der Sta- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bilitätspakt!) Ich bin sehr dankbar, dass wir als einen der wesent- dass keine Substanzbesteuerungen vorgenommen wer- lichen Punkte eine Stabilisierung im Bereich der Körper- den. Wir müssen das Steuereinkommen der Bürger und schaftsteuer erreicht haben. Das war sicherlich ein richti- der Betriebe nach ihren Erträgen ausrichten. Man darf ger Kompromiss. Erst die rot-grüne Steuerreform hat ja nicht immer weitere Schnitte in die Substanz der Be- zu diesen Verwerfungen geführt. triebe vornehmen, wenn man immer neue Insolvenzen von Betrieben und den Verlust von weiteren Arbeitsplät- Die Zahlen, die vom Bundesfinanzminister nach zen vermeiden möchte. Brüssel gemeldet wurden, haben von vornherein nicht gestimmt. Es wurde nur noch getrickst, getäuscht und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) verschoben. Angesichts der schlechten politischen Rah- menbedingungen hat niemand 1,5 Prozent oder Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 1,0 Prozent Wachstum als realistisch angesehen. Heute Herr Kollege Michelbach, schauen Sie bitte einmal stehen wir am Rande einer Rezession und müssen uns auf Ihre Uhr! mit 0,4 Prozent Wachstum zufrieden geben. Damit kann man nicht einverstanden sein. Gerade Deutschland muss einen finanzpolitischen Kurswechsel erzwingen. Hans Michelbach (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. (B) (Joachim Poß [SPD]: Aber Herr Michelbach, (D) wer wird denn gleich in die Luft gehen? Greif Ich freue mich, dass uns heute ein Vermittlungser- doch lieber zur HB!) gebnis vorliegt, das für die Ziele Wachstum und Be- schäftigung letzten Endes eine deutliche Orientierung Es muss aufgrund seiner Vorbildfunktion eine stabile schafft. Wir mahnen heute noch einmal an, dass die De- Grundlage für unsere gemeinsame Währung durchsetzen. fizitquote beim Stabilitätspakt eingehalten wird Die CDU/CSU geht – im Gegensatz zum rot-grünen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Steuer- Finanzdesaster – diese Herausforderungen mit einem erhöhungen!) klaren Sanierungskonzept an. und dass wir eine neue steuerpolitische Agenda mit ei- (Joachim Poß [SPD]: Das muss ein Geheim- nem klaren Sanierungsplan für Deutschland auf den Weg papier sein! Geben Sie uns doch dieses Ge- bringen. Unser finanzpolitisches Konzept sieht anders heimpapier!) als das von Herrn Eichel aus, Um die Vertrauenskrise zu beseitigen und Deutschland (Joachim Poß [SPD]: Dann geben Sie es uns aus der Haushalts- und Wachstumsfalle herauszuführen, doch! Wir brauchen das Geheimpapier!) muss ein ehrliches finanzpolitisches Konzept auf den Tisch, das den Bürgern zwar einiges zumutet, ihnen aber das immer nur auf Fiskalismus abzielt und die Wachs- auch eine klare Zukunftsperspektive aufzeigt. tums- und Beschäftigungskräfte außer Acht lässt. Die Sicherung des Stabilitäts- und Wachstumspakts Herzlichen Dank. bedarf grundlegender Wirtschafts- und Strukturrefor- men auf den Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- und Ar- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt beitsmärkten. [Salzgitter] [SPD]: Alles Sprüche! – Joachim Poß [SPD]: Dann geben Sie uns doch das Ge- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr heimkonzept!) Michelbach, das sind doch alles Sprüche!) Deutschland muss mehr dafür tun. Wir müssen erstens Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Haushaltskonsolidierung voranbringen, zweitens we- Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine niger Staat durchsetzen Lötzsch, fraktionslos. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Immer (Joachim Poß [SPD]: Jetzt kommt das noch Sprüche!) PDS-Geheimkonzept!) 3278 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

(A) Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): herzustellen. Ihre große Steuerreform hat die Kommu- (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich nen ruiniert und soziale Schieflagen hervorgerufen. Es wurde gerade gebeten, zu sagen, dass ich von der PDS ist Zeit, dass sich die SPD endlich an ihre Wahlverspre- bin. Das tue ich gern. chen erinnert und die Vermögensteuer wieder einführt. Der Bundeskanzler hat den Krieg im Irak in seiner (Beifall der Abg. [fraktionslos]) Regierungserklärung als einen Grund dafür genannt, die Es ist auch ein Skandal, finde ich, weil die Bundesre- europäischen Konvergenzkriterien zu überdenken. Es ist gierung mit diesen Einnahmen den Wiederaufbau des richtig: Der Krieg ist ein Konjunkturkiller. Klar ist, dass Irak finanzieren will. Da kann ich nur der Ministerin der Krieg das Wirtschaftswachstum gedrosselt hat und Wieczorek-Zeul Recht geben: Wer den Irak zerbombt, damit auch die Arbeitslosigkeit erhöht hat. Die öffentli- der muss auch die finanzielle Verantwortung für den chen Kassen werden also weiter stark belastet. Die Kos- Wiederaufbau übernehmen. – Es kann nicht sein, dass ten des Krieges, die auf den Steuerzahler zukommen, sich einige US-Unternehmen mithilfe ihrer Regierung sind noch gar nicht abzuschätzen. und mit unseren Steuergeldern an diesem Krieg eine gol- dene Nase verdienen. SPD und Grüne haben sich zwar intensiv gegen die- sen Krieg ausgesprochen; aber sie haben bis zum letzten Eine Mehrwertsteuererhöhung ist auch ökonomischer Tag US-Bombern Überflugrechte gewährt und deutsche Unsinn, weil sie die Binnennachfrage weiter drosseln Soldaten in AWACS-Flugzeugen belassen. Damit haben würde, und das würde wiederum mehr Arbeitslosigkeit sie leider den Erwartungen der US-Regierung entspro- bedeuten. chen und als logistisches Rückgrat für diesen Krieg gute Dienste geleistet. Selbst die kleine Schweiz hat mehr Wir als PDS fordern deshalb: keine Mehrwertsteuer- Mut bewiesen; sie hat nämlich der US-Regierung die erhöhung, dafür sofortige Besteuerung von Kapitalge- Überflugrechte verwehrt. sellschaften und Vermögen. Das würde sofort Einnah- men von circa 30 Milliarden Euro pro Jahr ergeben. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Ich greife darum die Forderung des Kanzlers auf: Mut Die Bundesregierung sieht nur zwei Möglichkeiten: zur Veränderung. – Aber es gehört offensichtlich sehr Erhöhung der Steuern oder Erhöhung des Defizits. Wenn viel Mut dazu, soziale Gerechtigkeit wieder herzustel- Sie die Neuverschuldung erhöhen, wie das übrigens ge- len. Ich hoffe, meine Damen und Herren von Rot-Grün, rade der CDU-Ministerpräsident Wulff in Niedersachsen dass Sie diesen Mut endlich aufbringen können. macht, dann bekommen Sie Ärger mit Brüssel, da die (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Neuverschuldung nicht über 3 Prozent steigen darf. Da (B) die Bundesrepublik im Jahr 2003 einen Wert von (D) 3,4 Prozent erreicht und damit bereits im zweiten Jahr Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: das Konvergenzkriterium überschreitet, ist eine weitere Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Axel Neuverschuldung mit Brüssel nicht zu machen. Offen- Schäfer, SPD-Fraktion. sichtlich ist die EU-Kommission nicht bereit, den Irak- krieg als Grund für eine flexiblere Gestaltung der Kon- Axel Schäfer (Bochum) (SPD): vergenzkriterien zu akzeptieren, was ich persönlich übrigens für falsch halte. Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Strikte Einhaltung des europäischen Stabilitäts- und Wachstums- Also bleibt der Bundesregierung nur die Möglichkeit paktes und strenge Anwendung seiner Vorschriften, diese der Steuererhöhung. In der Presse war von einer Erhö- Worte des CDU/CSU-Antrags stehen in krassem Gegen- hung der Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte zu satz zu dem, was Sie an Taten in der aktuellen Politik lesen. Das wäre aus meiner Sicht wirklich ein politischer folgen lassen, nämlich striktes Anhalten und strenges Ein- Skandal und ökonomischer Unsinn, ein Skandal deshalb, wenden: striktes Anhalten der notwendigen Reform- weil Herr Eichel den Kapitalgesellschaften allein im Jahr vorschläge der rot-grünen Bundesregierung und strenges 2000 fast 24 Milliarden Euro Körperschaftsteuer erlas- Einwenden gegen alle zukunftsweisenden Konzepte. sen hat. Im Vermittlungsausschuss hat sich heute Nacht die CDU/CSU durchgesetzt. Sie hat die möglichen Ein- Der vorliegende Antrag ist ohne jede positive Erwar- nahmen aus der Körperschaftsteuer von 15 Milliarden Euro tung, enthält dafür aber umso mehr negative Prophezei- auf 4,4 Milliarden Euro pro Jahr heruntergehandelt. ungen. Am 11. März dieses Jahres schreiben die Unions- parteien: Bereits heute steht so gut wie fest, was mit dem Meine Damen und Herren, ich will Ihnen einmal et- Defizit- und dem Schuldenstandskriterium wird. – Tat- was zur Schlusslichtdebatte sagen, die ich genauso un- sächlich: Bereits 295 Tage vor Ende des Jahres wissen sinnig finde. Ich habe mir heute Morgen in Brüssel eine Sie, liebe schwarze Kolleginnen und Kollegen, wie 2003 niederländische Zeitung gekauft. Da gab es eine große enden wird, nämlich schwarz in schwarz. Schlagzeile: Nederland hekkensluiter in EU. – In ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schiedenen Ländern wird also beschworen, man sei Schlusslicht. Ich weiß nicht, wozu das gut sein soll. Mehr noch, Sie behaupten – ich zitiere –: „Die Bundes- regierung täuscht erneut“. Ich finde, dass die Pläne zur Erhöhung der Mehrwert- steuer auch deshalb ein Skandal sind, weil sich die SPD (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt ja und die Grünen weigern, Steuergerechtigkeit wieder auch!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3279

Axel Schäfer (Bochum) (A) Auch das kennen wir ja schon: erst das tagtägliche (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Hermenau (C) „Lügen, Lügen“-Gerede nach der Wahl, jetzt neue For- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mulierungen in die gleiche Richtung. Dabei geht es nicht Es ist klar: Europa muss in seiner allseits bekannten nur um Worte, es geht auch um die Wirkung dieser schwierigen Wirtschafts- und Finanzsituation gemein- Worte. Wer immer nur schlecht redet, der redet auch sam handeln, zugleich muss jedes Land seinen Ver- schlechte Situationen mit herbei. pflichtungen nachkommen. Genau das tut die Bundesre- (Beifall bei der SPD) gierung, genau das hat Gerhard Schröder am 14. März hier Punkt für Punkt dargelegt. Wir haben an diesem Wer aber über deutsche Europa-Politik ernsthaft disku- 14. März eine Perspektive mit der Agenda 2010 aufge- tieren will, muss die europäische Sicht über Deutschland zeigt. Diese Agenda gibt es mit dem Lissabon-Prozess und dabei auch die Fakten kennen. bereits auch in Europa, der die Gemeinschaft bis 2010 zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissens- Erstens. Bundeskanzler Gerhard Schröder, Finanzmi- basierten Wirtschaft der Welt machen soll, die fähig ist, nister Hans Eichel und alle anderen Verantwortlichen ha- ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum zu realisieren, und ben immer wieder deutlich gemacht, dass der Stabilitäts- der für einen größeren sozialen Zusammenhalt sorgen pakt nicht zur Diskussion steht. Punkt. Warum soll. Basis dafür ist die Verbesserung von Infrastruktur diskutieren wir heute trotzdem? Weil Sie ein Stück öf- und Humankapital. Diese europäischen Ziele sind auch fentliche Verunsicherung wollen – und das in Zeiten, in Grundlage unserer Politik. Lissabon 2010 entspricht in denen die Menschen ein besonderes Sicherheitsbedürf- Deutschland die Agenda 2010. Das packen wir jetzt an; nis haben. Das ist aus meiner Sicht geradezu unverant- damit muss aber auch Mut zur Veränderung einhergehen. wortlich. Dabei wissen wir: Da die Geldpolitik komplett in den (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Händen der EU liegt, muss die Wirtschaftspolitik besser europäisch abgestimmt und zugleich national ausgestal- Zweitens. Portugal, Frankreich und Deutschland lie- tet werden. Deshalb – davon hat hier niemand geredet – gen zurzeit über dem Referenzwert des Maastricht-Ver- hat Bundeskanzler Schröder zusammen mit Tony Blair trages. Die Europäische Kommission hat vorgestern dar- und Jacques Chirac jetzt Maßnahmen vorgeschlagen, gelegt, dass sich die Haushaltslage der Eurostaaten wie die Industrie im internationalen Wettbewerb besser noch verschlechtern und das Defizit aller EU-Staaten in unterstützt werden kann. Alle diese Initiativen wurden diesem Jahr auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf dem EU-Gipfel im März dieses Jahres übernommen. erhöhen wird. Wir haben es also mit verbundenen euro- Der Tenor lautet: Die strukturelle Erneuerung und päischen und nicht mit nationalstaatlichen Problemen zu Modernisierung Europas ist voranzutreiben, um so die (B) tun. Brüssel befürchtet zudem im kommenden Jahr bei (D) Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften weiter Italien eine Überschreitung der Dreiprozentgrenze. In zu steigern, Beschäftigungschancen für alle zu sichern Portugal, Frankreich und Italien regieren bekanntlich und damit auch positive Entwicklungen im Haushaltsbe- christdemokratische und konservative Parteien. Wer als reich zu befördern. Christdemokrat – das sind Sie ja – glaubt, mit einem Fin- ger auf den sozialdemokratischen Finanzminister Ich erinnere hierbei daran, dass Hemmnisse abgebaut Deutschlands zeigen zu müssen, der sollte sich bewusst werden, mit denen die europäische Industrie unter den heu- sein, dass bei ihm drei Finger automatisch auf die eige- tigen Markt- und Wettbewerbsbedingungen noch leben nen Parteifreunde in der Europäischen Volkspartei zu- muss. Es werden keine unnötigen neuen Auflagen geschaf- rückweisen. fen, den Unternehmen also keine neuen Lasten aufgebür- det. Die Märkte werden liberalisiert, also der Binnenmarkt (Beifall bei der SPD) wird besser gestaltet. Die Umsetzung europäischer For- Drittens. Wir kennen die besonderen deutschen schungsergebnisse wird erleichtert, die Biotechnologie Standortfaktoren, insbesondere die jährliche Belastung wird gestärkt, die Beziehungen zwischen Instituten und mit Transferleistungen in Höhe von 75 Milliarden. Wir neuen Unternehmen werden besser verzahnt. Schließlich wissen zugleich – auch das ist deutlich geworden –, dass wird die Finanzierung von Dienstleistungen, die allgemei- Deutschland der größte Nettozahler in der EU mit allein nen wirtschaftlichen Interessen dienen, gesichert. 7 Milliarden im letzten Jahr ist. Wenn wir heute entscheiden wollen, wohin es gehen soll, so müssen wir auch wissen, woher wir kommen, Viertens. Die EU-Kommission hat das deutsche Sta- wie die Grundlagen der europäischen Finanz- und bilitätsprogramm ausdrücklich positiv bewertet und Haushaltspolitik aussehen. Vor fast genau vier Jahren, zugleich daran erinnert, dass die deutsche Volkswirt- am 24./25. März 1999, hat die rot-grüne Bundesregie- schaft trotz ihrer Größe nach wie vor höchst anfällig für rung zu Beginn einer Legislaturperiode, in schwierigen externe Schocks ist. Zu Beginn des Irakkonfliktes hat Zeiten, auf dem Berliner Sondergipfel mit der Agenda Brüssel – bitte vergessen Sie das nicht – erklärt, dass ein 2000 die entscheidende finanzielle und haushaltstechni- Krieg grundsätzlich ein außergewöhnliches Ereignis ist. sche Grundlage auch für die EU-Erweiterung gelegt. Mit anderen Worten: Es wurde ausdrücklich anerkannt, dass sich dadurch Unwägbarkeiten für Stabilität und Im Dezember 2002 hat diese rot-grüne Bundesregie- Wachstum ergeben. – Die EU ist nun einmal komplizier- rung auf dem Kopenhagener EU-Gipfel wiederum – auch ter, als viele in der Union das glauben machen wollen. zu Beginn einer Legislaturperiode, auch in schwierigen Mit strammen Appellen ist es da nicht getan. Zeiten – maßgeblich die Finanzierung für die neuen Län- 3280 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Axel Schäfer (Bochum) (A) der auf den Weg gebracht. Gestern hat das Europäische ben bestanden. Es gibt auch für die Zukunft keine Veran- (C) Parlament der Aufnahme von zehn Mitgliedstaaten zuge- lassung, daran zu zweifeln. stimmt. Das ist ein historischer Erfolg für uns alle. Es ist (Beifall bei der CDU/CSU) eine Leistung dieser Bundesregierung, die vor der Ge- schichte Bestand hat. Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deshalb bleibt festzustellen, dass die Einsicht in die Notwendigkeit des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Stabilitäts- und Wachstumspaktes in Europa vielerorts DIE GRÜNEN) immer mehr abnimmt. Aufgabe der deutschen Bundes- „Demokratie ist eine Frage des guten Gedächtnisses“, regierung wie auch des Deutschen Bundestages sollte es so hat Kurt Schumacher, der frühere SPD-Fraktionsvorsit- deshalb sein, solchen Überlegungen deutlich entgegen- zende im Deutschen Bundestag, einmal formuliert. Der zutreten und sich nicht an einer derart gestalteten De- ehemalige CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende in diesem batte zu beteiligen. Das ist eine Verantwortung, die von Hause, Kollege Wolfgang Schäuble, erklärte am 26. März unserem Land erwartet wird. 1999 in der damaligen Europadebatte zur Agenda 2000 Doch welche Signale gehen von Deutschland aus? – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –: SPD und Bündnis 90/Die Grünen sagen von sich in ih- Aber die Beschlüsse zur Agenda 2000 bleiben hin- rem eigenen Antrag, sich maßgeblich für ein Ende der ter den Notwendigkeiten und hinter den gesteckten Debatte eingesetzt zu haben, in welcher die Kriterien des Erwartungen zurück. Paktes seit Wochen öffentlich diskutiert werden. Herr Poß, Herr Schäfer, Sie haben beide gesagt, keiner stelle Und weiter: den bestehenden Stabilitäts- und Wachstumspakt in- Weil auf dem Berliner Gipfel keine Vereinbarung frage. Gestatten Sie mir deshalb, nachfolgend zwei Pres- über Maßnahmen zu stärkeren nationalen Gestal- semeldungen zu zitieren, die aufzeigen, was Sie gele- tungsmöglichkeiten erreicht worden ist ..., ist dieser gentlich darunter verstehen, Debatten zu diesem Thema Gipfel gescheitert. zu beenden. Beide stammen von Mitte Februar. Die Zahl der Zitate ließe sich beliebig erweitern, aber allein diese Tatsächlich war dieser Gipfel ein großer Erfolg, der beiden machen deutlich, weshalb es uns so schwer fällt, den europäischen Einigungsprozess entscheidend voran- an Ihre Aussagen zu glauben. gebracht hat. Sie haben sich bezüglich der Geschichte geirrt. Es ist klar: Wer, wie Sie heute, am Anfang eines Zunächst zitiere ich die „FAZ“ vom 12. Februar: Prozesses dessen Scheitern erklärt, wird am Ende selbst Am Vortag hatte der SPD-Vorstand über den finanz- scheitern. politischen Kurs beraten. Nach der Sitzung hatte die SPD-Politikerin berichtet, Bundes- (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kanzler Schröder wolle Verhandlungen mit Groß- britannien und Frankreich über eine Lockerung des Wer Anfang 2003 schon erklärt, am Ende des Jahres Konsolidierungskurses in Europa führen. Dies hatte würden wir schlecht dastehen, der steht am Ende selbst jedoch SPD-Generalsekretär bestritten. schlecht da. Am Dienstag bekundete ein Sprecher des Bundesfi- nanzministeriums, die Bundesregierung halte am Wir wollen als Deutsche in Europa gut dastehen, auch Konsolidierungskurs fest. Der SPD-Politiker weil Europa gut für Deutschland ist. Deshalb wird diese ... sagte jedoch, eine Fixierung nur rot-grüne Regierung ihre Politik wie 1998 bis 2002 auch auf die Maastricht-Kriterien sei nicht gewollt. in diesem Jahr für Deutschland in Europa zu einem Er- folg werden lassen. (Zuruf von der CDU/CSU: Was stimmt denn?) Vielen Dank. Sie müssen schon zugeben: Man ist verwirrt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – DIE GRÜNEN) Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das müssen Sie uns aber nicht vorwerfen!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die „Frankfurter Rundschau“ schrieb am gleichen Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Tag: Patricia Lips, CDU/CSU-Fraktion. „Uns ist kein Plan für eine Lockerung des europä- (Beifall bei der CDU/CSU) ischen Wachstums- und Stabilitätspaktes bekannt“, betonte eine Sprecherin des Hauses Eichel. Am Patricia Lips (CDU/CSU): Vortag hatte Schröder hingegen die Debatte über eine Korrektur des Sparkurses als berechtigt be- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und zeichnet und eine europäische Initiative zu diesem Herren! Mit der Einführung des Euro im Rahmen der Thema angekündigt. Wirtschafts- und Währungsunion wurden strikte, für alle verbindliche Regeln festgelegt, um die Stabilität der Weiter im Text: neuen Währung zu garantieren. Gleichzeitig wurden Differenzen in den Aussagen zwischen Eichel und Möglichkeiten geschaffen, um im begründeten Bedarfs- Schröder seien nicht zu erkennen. Sie fall ausnahmsweise und vorübergehend reagieren zu können. Diese Regeln haben bisher alle Bewährungspro- – die Sprecherin – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3281

Patricia Lips (A) könne sich die Sache nur so erklären, dass der Die deutsche Wachstumsschwäche droht die ge- (C) Kanzler missverstanden worden sei. samte europäische Konjunktur in den Abgrund zu ziehen. Es ist schon ein Kreuz mit bestimmten Ämtern. (Zurufe von der SPD: Oh!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Türk [FDP]) – Sie sollten in Ihren Zwischenrufen weniger zynisch Dieses Missverständnis setzt sich mit der Regierungs- sein. Es geht hier um sehr viel. – Diese Aussagen ma- erklärung des Bundeskanzlers vom 14. März fort. Ich zi- chen doch mehr als deutlich, dass wir zwischenzeitlich tiere: nicht mehr Betroffene, sondern vielmehr selbst Teil des Problems geworden sind. Es stünde Ihnen deshalb gut Deshalb halten wir am Ziel der Haushaltskonsoli- an, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungs- dierung und am Stabilitätspakt, den wir vereinbart fraktionen, nun nicht noch zusätzlich den Eindruck zu haben, fest. Nur: hinterlassen – es tut mir Leid, dies sagen zu müssen; aber so ist es –, Sie würden versuchen, Ihr eigenes Un- – jetzt kommt es – vermögen auszutricksen, indem Sie sich daran beteili- Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpretiert gen, die Stabilität unserer Währung neu zu definieren. werden. In Ihrem Antrag sagen Sie noch mehr. Sie sprechen Sie haben Recht, Herr Schäfer: Es geht hier um die Wir- nämlich davon, dass die Bundesregierung mit ihrer An- kung der Worte. Das Signal, das Sie nach draußen sen- nahme des Defizitverfahrens für 2002 ein wichtiges Be- den, ist völlig verwirrend, und das Schauspiel, das Sie kenntnis zum Pakt in seiner bestehenden Form abgege- hier abgeliefert haben, war und ist entwürdigend. ben habe. Ich sage es Ihnen ganz deutlich: Die Regierung hat nicht ein Bekenntnis abgegeben, sondern (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sie ist einer puren Selbstverständlichkeit nachgekom- Jürgen Türk [FDP]) men. Ich erinnere an das Verhalten der Bundesregierung Sind Sie sich eigentlich darüber im Klaren, dass Sie mit im Zusammenhang mit dem blauen Brief vor einem diesen öffentlichen Debatten in den anderen Ländern Jahr: Rollläden runter, Augen und Ohren zu, Annahme von Dankbarkeit über Häme über den deutschen Muster- verweigert – frei nach dem Motto: Wir doch nicht! – Wo schüler bis hin zur Ungläubigkeit über Deutschland so war also Ihr wichtiges Bekenntnis zur Stabilität unserer ziemlich alles ernten, was die Diskussion in Europa noch Währung zum damaligen Zeitpunkt, als Sie den berech- zusätzlich anheizen wird? tigten blauen Brief nicht annahmen? (B) (D) Die aktuelle wirtschaftliche Situation in Deutsch- Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch Ihren land ist verheerend und nachweislich hausgemacht. In heutigen Antrag sind Sie nicht glaubwürdiger geworden. einer Entscheidung des Europäischen Rates wird im Ja- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nuar dieses Jahres ausgeführt, dass die Überziehung des neten der FDP) Etats und die Einnahmeausfälle in Deutschland nur zum Teil mit konjunkturellen Faktoren erklärt werden kön- Eines wird in der Abfolge deutlich: Nicht nur Ihre jüngs- nen. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen – diese ten Äußerungen in der Presse, sondern auch die gesamte Entscheidung bewertet immerhin Ihre Politik –: Ein we- Entwicklung zeigt auf, dass bei Ihnen fast schon System nig mehr Selbstkritik und stille Einkehr hinsichtlich Ih- dahinter steckt, das System, den Stabilitätspakt sehr be- rer eigenen Politik der vergangenen viereinhalb Jahre ist harrlich und mit allerlei beschönigenden Redewendun- an dieser Stelle sicher angebracht. gen durch neue Interpretationen im öffentlichen Be- (Beifall bei der CDU/CSU) wusstsein zu entwerten, Regeln nach Kassenlage zu umgehen oder Verantwortung abzuschieben. Herr Frau Hermenau, Sie haben vorhin sinngemäß gesagt, Eichel, dies haben Sie heute wieder eindrucksvoll getan. dass sich dieses Land seit 1999 auf dem richtigen Weg befindet. Der „Economist“ stellte bereits vergangenes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Jahr zur rot-grünen Politik fest: neten der FDP) Durch die Konjunkturschwäche Deutschlands wird Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brau- Westeuropa im kommenden Jahr das niedrigste chen ein starkes Europa. Der Stabilitäts- und Wachs- Wachstum einer Weltregion aufweisen. Durch die tumspakt bildet die Grundlage der finanzpolitischen Fehler dieser Regierung zieht Deutschland zurzeit Solidarität und des Vertrauens nicht nur zwischen den die Wirtschaft der Europäischen Union in die Tiefe. Staaten der Eurogruppe, sondern vor allem auch auf den Finanzmärkten weltweit. Die Äußerungen in Ihrem An- Das ist die Antwort, die nicht nur wir Ihnen auf Ihre trag sind entweder überflüssig oder Sie wollen doch Aussage geben. Die Situation ist schlimm und bedauer- mehr, als der Pakt schon heute zulässt. Genau dies ist zu lich. Wir wünschten, sie wäre anders. befürchten. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der Generaldirektor für den Binnenmarkt in der EU sagt im aktuellen „Focus“: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. 3282 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

(A) Patricia Lips (CDU/CSU): kommen vom 30. Juli 2002 zwischen der Re- (C) – Ich sage nur noch ein paar Sätze. – Nehmen Sie uns gierung der Bundesrepublik Deutschland und diese Befürchtung! Machen Sie Ihre Hausaufgaben im der Regierung der Französischen Republik Strukturbereich! Das ist das Einzige, was diesem Land über die deutsch-französischen Gymnasien hilft. Unser Antrag wird Ihnen dabei eine psychologisch und das deutsch-französische Abitur wichtige Stütze bieten. – Drucksache 15/717 – Vielen Dank. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ruf von der SPD: Um Gottes willen!) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: d) Beratung des Antrags des Bundesministeriums Frau Kollegin Lips, dies war Ihre erste Rede hier in der Finanzen diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich und wünsche Ihnen politisch und persönlich alles Gute. Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2002 – Vorlage der Haushalts- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – rechnung und Vermögensrechnung des Bun- Joachim Poß [SPD]: Persönlich schon!) des (Jahresrechnung 2002) – Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 15/770 – Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Überweisungsvorschlag: Drucksache 15/541 an die in der Tagesordnung aufge- Haushaltsausschuss führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- ZP 2 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Barbara Wittig, Dr. Dieter Wiefelspütz, Wir stimmen über Tagesordnungspunkt 4 b ab, über Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Franz die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu der Müntefering und der Fraktion der SPD, den Unterrichtung durch die Bundesregierung über die Ent- Abgeordneten Hartmut Büttner, Dr. Angela schließung des Europäischen Parlaments zu der jährli- Merkel, Michael Glos und der Fraktion der chen Bewertung der Durchführung der Stabilitäts- und CDU/CSU, den Abgeordneten Silke Stokar Konvergenzprogramme, Drucksache 15/737. Der Aus- von Neuforn, Volker Beck (Köln), Katrin schuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung, eine Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der (B) (D) Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – NEN sowie den Abgeordneten Gisela Piltz, Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Dr. Max Stadler, Dr. Wolfgang Gerhardt und Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthal- der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs tung der FDP angenommen. eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (6. StUÄndG) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 d sowie – Drucksache 15/806 – die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: Überweisungsvorschlag: 18. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, Innenausschuss des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der b) Erste Beratung des von den Fraktionen der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des NEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare- – Drucksache 15/805 – Energien-Gesetzes Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/810 – Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Rechtsausschuss Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- ten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vor- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung geschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch und des aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit Sozialgerichtsgesetzes einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über- – Drucksache 15/812 – weisungen so beschlossen. Überweisungsvorschlag: Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 i sowie Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung die Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf. Es handelt sich um die c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- sprache vorgesehen ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3283

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wir kommen zunächst zur Abstimmung über Tages- in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen (C) ordnungspunkt 19 a: angenommen. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Dritte Beratung nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzes zur Änderung des Melderechtsrah- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – mengesetzes Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? Der Gesetzent- wurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- – Drucksache 15/536 – men. (Erste Beratung 31. Sitzung) Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 c: Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schusses (4. Ausschuss) richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/822 – (9. Ausschuss) Berichterstattung: – zu der Verordnung der Bundesregierung Abgeordnete Achtundfünfzigste Verordnung zur Ände- Ralf Göbel rung der Außenwirtschaftsverordnung Silke Stokar von Neuforn Gisela Piltz – zu der Verordnung der Bundesregierung Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Einhundertste Verordnung zur Änderung empfehlung auf Drucksache 15/822, den Gesetzentwurf der Ausfuhrliste – Anlage AL zur Außen- in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- wirtschaftsverordnung – gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- – zu der Verordnung der Bundesregierung stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- men? – Enthaltungen? – Damit ist das Gesetz in zweiter Einhundertsechsundvierzigste Verordnung Beratung mit den Stimmen der Koalition und der CDU/ zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Außenwirtschaftsgesetz – Dritte Beratung – Drucksachen 15/291, 15/292, 15/293, 15/763 – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Berichterstattung: (B) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Abgeordneter Erich G. Fritz (D) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen – Der Gesetzent- Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord- wurf ist mit demselben Votum wie in der zweiten Bera- nungen auf den Drucksachen 15/291, 15/292 und 15/293 tung angenommen. nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Wir kommen nun zur Abstimmung über Tagesord- fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- nungspunkt 19 b: schlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des zur Neuordnung des gesellschaftsrechtlichen Petitionsausschusses. Spruchverfahrens (Spruchverfahrensneuord- Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 d auf: nungsgesetz) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 15/371 – ausschusses (2. Ausschuss) (Erste Beratung 25. Sitzung) Sammelübersicht 26 zu Petitionen Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- – Drucksache 15/764 – schusses (6. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- – Drucksache 15/838 – tungen? – Die Sammelübersicht 26 ist mit den Stimmen Berichterstattung: des ganzen Hauses angenommen. Abgeordnete (Hildesheim) Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 e: Dr. Jürgen Gehb Hans-Christian Ströbele Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Rainer Funke ausschusses (2. Ausschuss) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Sammelübersicht 27 zu Petitionen empfehlung auf Drucksache 15/838, den Gesetzentwurf – Drucksache 15/765 – in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da- gen? – Die Sammelübersicht 27 ist ebenfalls mit den gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit Stimmen des ganzen Hauses angenommen. 3284 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 f: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- (C) tungen? – Die Sammelübersicht 33 ist mit den Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- des ganzen Hauses angenommen. ausschusses (2. Ausschuss) Wir kommen zu Zusatzpunkt 3 c: Sammelübersicht 28 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 15/766 – ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Sammelübersicht 34 zu Petitionen tungen? – Die Sammelübersicht 28 ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. – Drucksache 15/831 – Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 g: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht 34 ist mit den Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- des ganzen Hauses angenommen. ausschusses (2. Ausschuss) Wir kommen zu Zusatzpunkt 3 d: Sammelübersicht 29 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 15/767 – ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Sammelübersicht 35 zu Petitionen tungen? – Die Sammelübersicht 29 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. – Drucksache 15/832 – Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 h: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht 35 ist mit den Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der ausschusses (2. Ausschuss) FDP angenommen. Sammelübersicht 30 zu Petitionen Die Fraktion der CDU/CSU hat gebeten, die Sitzung – Drucksache 15/768 – jetzt zu unterbrechen, damit sie eine Fraktionssitzung ab- halten kann. Der Wiederbeginn der Sitzung wird recht- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- zeitig durch Klingelsignal angekündigt. tungen? – Die Sammelübersicht 30 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der Die Sitzung ist unterbrochen. (B) (D) FDP angenommen. (Unterbrechung von 12.33 bis 13.41 Uhr) Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 i: Vizepräsident Dr. : Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Sammelübersicht 31 zu Petitionen Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: – Drucksache 15/769 – Aktuelle Stunde Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- auf Verlangen der Fraktion der FDP tungen? – Die Sammelübersicht 31 ist mit den Stimmen Haltung der Bundesregierung zur Berufung der Koalition und der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU des früheren Bundeswirtschaftsministers angenommen. Werner Müller zum Vorstandsvorsitzenden Wir kommen zu Zusatzpunkt 3 a: des RAG-Konzerns Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der ausschusses (2. Ausschuss) Kollege Rainer Brüderle von der FDP-Fraktion das Wort. Sammelübersicht 32 zu Petitionen (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Die – Drucksache 15/829 – SPD traut sich gar nicht! Sie hat nur einen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Redner und keiner kommt her!) tungen? – Die Sammelübersicht 32 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Rainer Brüderle (FDP): Wir kommen zu Zusatzpunkt 3 b: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind Zeugen eines unglaublichen Skandals. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sammelübersicht 33 zu Petitionen Ich möchte meine Rede mit einem entsprechenden Zitat – Drucksache 15/830 – beginnen: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3285

Rainer Brüderle (A) Ex-Wirtschaftsminister Müller hat dem Ansehen sche Politik erheblich beschädigt wird. Das ist ein mieser (C) der Regierung erheblichen Schaden zugefügt Stil! (Dirk Niebel [FDP]: Und Deutschland!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und Deutschland einen schlechten Dienst erwiesen. Es ist ein pharisäerhaftes Verhalten der Regierung, Dies sagte der damalige Regierungssprecher Uwe- sich im Fall Bangemann aufzublasen – der Regierungs- Karsten Heye, der mit diesen Worten den Wechsel des sprecher drohte sogar rechtliche Konsequenzen an – und EU-Kommissars Bangemann in den Verwaltungsrat ei- hier Mist hoch fünf zu machen und dazu zu schweigen. ner Telekommunikationsgesellschaft kommentiert hat. Man findet dies in Ordnung und sogar die grünen Ober- moralisten finden es gut, dass Herr Müller wieder einen Bangemann war lediglich zuständig für die Deregu- Job hat. Das ist wirklich keine angemessene Verhaltens- lierung eines Marktes. Hier haben wir aber einen weise. ungleich dramatischeren Fall. Herr Müller hat die Ver- längerung der Steinkohlesubventionen in Brüssel per- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sönlich ausgehandelt. Er hat diese Milliardensubvention der CDU/CSU) an die Ruhrkohle AG auszahlen lassen. Es zeigt sich, wie ein Filz aus Montanmitbestimmung, (Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) Gewerkschaften, Sozialdemokraten und von Subventio- nen des Staates abhängigen Unternehmen Sein Haus sprach sich für die Fusion von Eon und Ruhr- gas – das neue Unternehmen hat einen Marktanteil von (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich 85 Prozent – entgegen der Entscheidung des Kartellamts weiß nicht, was Sie wollen!) und entgegen der Empfehlung der Monopolkommission hier ein Netzwerk installiert, das eine der Ursachen dafür aus. Die Delegation auf den Staatssekretär im Wirt- ist, weshalb wir nicht nur im Ansehen, sondern auch bei schaftsministerium wirkt vor diesem Hintergrund umso der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht mehr frü- peinlicher. Das ist die Dimension des Skandals. here Größenordnungen erreichen können. Dies ist die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) teuerste ABM-Maßnahme, die es je in Deutschland gab. Im Eilverfahren wurde die Fusion, die zu einem Un- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ternehmen mit 85 Prozent Marktanteil führte, noch vor der CDU/CSU) der Bundestagswahl durchgezogen. Der Eon-Vorstands- Eine solche Politik ist problematisch. Die Steinkohle- vorsitzende Hartmann ist gleichzeitig der Aufsichtsrats- subventionen müssten aufgrund dieses Verhaltens sofort vorsitzende der Ruhrkohle AG; denn über 40 Prozent (B) gestrichen werden. Sie werden volkswirtschaftlich un- (D) der Anteile an der Ruhrkohle AG hält Eon. Ein Schelm, sinnig verwendet. Wir haben nicht hinreichend Geld für wer Böses dabei denkt. Bildung und Ähnliches; aber im Steinkohlebereich wird (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Gewährung von Subventionen verlängert. Zudem der CDU/CSU) gibt es einen Deal: Die Holländer, die Italiener und die Franzosen dürfen die Zahlung von Dieselsubventionen Im Soldatengesetz und im Beamtenrecht gibt es Kon- an ihre Spediteure zulasten der deutschen Spediteure kurrenzklauseln. Es gibt Tätigkeitsverbote für Beamte bzw. Brummifahrer verlängern, damit wir die Gewäh- und Mitarbeiter oder zumindest Übergangsfristen für rung der unsinnigen Steinkohlesubventionen fortführen den Fall, dass sie im Anschluss an ihre Tätigkeit im öf- können. Derjenige, der dafür die Verantwortung trägt fentlichen Dienst auf dem gleichen Feld tätig werden. und ermöglicht hat, dass die Ruhrkohle AG mithilfe von Bei dem, was hier passiert, gibt es noch nicht einmal Milliardensubventionen arbeiten kann, hat sich quasi eine Schamfrist. Wie will ich das einem kritischen jun- vorher durch die Gewährung von Subventionen für die gen Menschen erklären? Bei ihm muss doch der Ver- Steinkohle seine eigenen Vorstandsbezüge gesichert. dacht aufkommen, hier werde quasi ein ordnungspoliti- scher Judaslohn für vorherige Entscheidungen kassiert, (Dirk Niebel [FDP]: Unglaublich!) indem er anschließend dort Vorstandsvorsitzender wird. Das ist keine Rechtsfrage; das mag rechtlich nicht an- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten greifbar sein. der CDU/CSU) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ach!) Wie verkommen ist die deutsche Politik, dass in ihr so Aber dies ist ein hundsmiserabler Stil. Wie wollen wir etwas möglich ist und die Regierung dazu schweigt! Vertrauen in den Staat und in die Politik schaffen, wenn Wenn es um einen harmloseren Fall geht, der andere be- oberste Führungskräfte in Deutschland, Minister des trifft, wird wochenlang eine Kampagne geführt. Wenn es Bundes, solch eine Verhaltensweise an den Tag legen? um die eigenen Leute geht und Herr Müller dort unterge- Das ist unglaublich. Das ist ein Tiefgang, wie wir ihn in bracht wird, herrscht Funkstille und dann ist alles in Deutschland noch nie erlebt haben. Ordnung und prima. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gemäß Umfragen aller demoskopischen Institute trauen 50 Prozent der Bevölkerung allen Parteien nichts Die Regierung schweigt. Wenn ein solches Vorgehen Rechtes mehr zu. Durch Ihr Verhalten ist wieder ein mit dem Filz aus Gewerkschaften, Mitbestimmung und Stein gelegt worden, mit dem das Vertrauen in die deut- der Ruhrkohle zu tun hat, ist es offenbar in Ordnung. Bei 3286 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Rainer Brüderle (A) anderen Dingen hat man ganz schnell eine hohe Tonlage Wir haben heute Morgen über den Stabilitäts- und (C) und kritisiert es. Wachstumspakt gesprochen; auch das war eine überflüs- sige Debatte, wie sich erwiesen hat. Sie versuchen, von (Dirk Niebel [FDP]: Scheinheiligkeit hoch Ihrer Konzeptionslosigkeit und Schwäche abzulenken. drei!) (Dirk Niebel [FDP]: Sagen Sie etwas zum Wenn Herr Müller Anstand hätte, würde er diese Be- Thema!) rufung nicht annehmen und sagen: Das geht nicht. So kann man nicht vorgehen. Ich kann nicht jahrelang in Deshalb kommen Sie auf das Thema „Berufung von diesem Bereich tätig sein und für ein Mammutunterneh- Herrn Müller zum Vorstandsvorsitzenden der RAG“ für men die Weichen stellen und mich dann anschließend in die Aktuelle Stunde. das offenbar selbst vorbereitete Nest setzen. Ich kann nur sagen: Es entlarvt Sie und stinkt ohne (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ende zum Himmel. Wir haben Ihnen daher nur Folgendes der CDU/CSU) zu erklären: Erstens ist der Vorgang rechtlich einwand- frei. Zweitens, sind der Bundestag und die Bundesregie- Das ist eine moralische Katastrophe. Das ist zutiefst un- rung nicht die Oberaufseher deutscher Unternehmen. anständig und hat mit Ordnungspolitik, mit der Drittens ist es gut, dass wir uns auch dieser Debatte wid- Grundausrichtung der deutschen Wirtschaftspolitik über- men, aber nicht in dem Maße, wie Sie es wünschen; haupt nichts zu tun. Im Gegenteil! denn Sie blasen ein parlamentarisches Instrument auf. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das passt aber zu (Dirk Niebel [FDP]: Finden Sie es gut oder dem Mann!) nicht?) Ich finde es äußerst bedauerlich. Die Regierung hat Draußen im Land fragen die Menschen: Haben die jetzt die Chance, dazu eine Erklärung abzugeben. Beim nichts Besseres zu tun? Wir sagen eindeutig: Ja, wir Fall Bangemann haben Sie die Backen dick aufgeblasen. schon, die FDP offensichtlich nicht. Da sich die CDU/ Bei diesem Fall ging es um vielleicht 5 Prozent von dem, CSU mit fünf Rednern beteiligt, hat offensichtlich auch was jetzt vor uns liegt. Wenn es die Roten betrifft, ist al- die andere Oppositionspartei nichts Besseres zu tun. les in Ordnung. Wenn es um die anderen geht, ist es schändlich. Pfui Teufel! Kehren Sie vor Ihrer eigenen Haustür! Lassen Sie die- sen Unsinn! Lassen Sie uns zu seriöser Politik, zu der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie offensichtlich nicht fähig sind, möglichst bald zu- rückkehren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dirk Niebel [FDP]: Kein Wort zum Thema!) (B) (D) Das Wort hat jetzt der Kollege Wilhelm Schmidt von Dann werden wir der Sache entsprechend Rechnung tra- der SPD-Fraktion. gen.

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): (Dirk Niebel [FDP]: Die SPD kneift! – Weitere Zurufe von der FDP: Feigheit ist das! – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von Herrn Scheinheiligkeit!) Brüderle etwas über Moral und Stilfragen zu hören ist fast witzig. Denn Sie sind diejenigen, die uns am aller- – Ihre Zwischenrufe kennen wir alle schon. Auch das wenigsten belehren sollten. macht die Sache nicht besser. Wir werden uns dieser Ak- tuellen Stunde nicht widmen. (Dirk Niebel [FDP]: Darüber, was Sie hier ma- chen, kann man überhaupt nicht lachen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ Ich könnte Ihnen lange Storys über Herrn Friderichs, Herrn CSU]: Wer die Hosen voll hat, hat nichts mehr Bangemann, Herrn Möllemann und Herrn Haussmann er- zu reden! – Gegenruf des Abg. Wilhelm zählen. Alle sind aus Ihren Reihen. Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Noch ein Mora- (Zuruf von der CDU/CSU: Das rechtfertigt das list!) doch nicht!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Rexrodt ist sicherheitshalber gar nicht hier, damit er auf seine intensive Verflechtung mit der Wirtschaft nicht Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von angesprochen werden kann. Sie sollten uns also gar der CDU/CSU-Fraktion. nichts erzählen. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Ferner denke ich, dass wir im Bundestag wahrhaftig Herr Kollege Schmidt, die Sache ist wirklich nicht Besseres zu tun haben. Es gab gestern eine Aktuelle witzig, Stunde der CDU/CSU. Auch die war wieder ziemlich aufgeblasen. Zum wiederholten Male wurden Haushalts- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Doch!) fragen auf den Tisch gepackt, die Sie alle längst geregelt aber sie stinkt zum Himmel; wissen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der CDU/CSU: Geregelt?) so nehme ich Ihre beiden Begriffe auf. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3287

Hartmut Schauerte (A) Ich wundere mich nicht, dass nur einer von Ihnen re- Das Ergebnis war: Er stand vor einem Problem und (C) det. Die anderen wollten es nicht, weil es ihnen zu pein- hat das nicht selber gemacht, sondern seinem Staatsse- lich ist. kretär Tacke übertragen. Es wurde eine bis heute rechts- widrige Ministererlaubnis erteilt. Das Verfahren ist nur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – beendet worden, weil gekauft wurde, weil die Kläger ge- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völlig gen diese rechtswidrige Entscheidung abgefunden wur- unsinnig!) den. Federführend verantwortlich, Frau Kollegin Ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, dass Sie eines Ta- Hustedt, war Minister Müller. ges die Messlatte gleichmäßig anlegen werden und nicht Jetzt gibt es das Schweigen der Grünen, wie jetzt einmal so und einmal anders. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir be- schäftigen uns nicht mit diesem Unsinn, weil „Das Schweigen der Lämmer“, das Schweigen der Grü- wir Besseres zu tun haben!) nen, das Schweigen der grünen Lämmer: Wo sind Sie mit Ihrem Sauberkeitsanspruch geblieben? Das Problem Deswegen darf ich noch einmal auf den Fall Bangemann wird noch viel größer: Überlegen Sie, was ein normaler abstellen: Beamter zu bedenken hat. Dieser Minister war nicht ein- mal Abgeordneter, er war nur Minister, eigentlich war er Im Jahr 1999 wollte Bangemann zur Telefónica nach Beamter, und was für einer. Spanien. , Ihre tüchtige Ministerpräsiden- tin, sah in Bangemanns Verhalten eine „Verrohung der In § 69 a Bundesbeamtengesetz – Tätigkeit nach Be- Sitten“. endigung des Beamtenverhältnisses – steht: Manche handeln so undurchschaubar wie eh und je Ein Ruhestandsbeamter oder früherer Beamter mit und sind vor allem daran interessiert, irgendwie ir- Versorgungsbezügen, der nach Beendigung des Be- gendetwas für sich herauszuholen. amtenverhältnisses innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren ... außerhalb des öffentliches Dienstes So lautet der Originalton von Heide Simonis. eine Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit auf- Ich könnte jetzt viele andere nennen, zum Beispiel nimmt, die mit seiner dienstlichen Tätigkeit in den Verheugen: Es gab eine Sondersitzung der 15 EU-Bot- letzten fünf Jahren vor Beendigung des Beamten- schafter, um ein Verfahren gegen Bangemann anzustren- verhältnisses im Zusammenhang steht und durch gen, damit ihm die Pensionsansprüche aberkannt wür- die dienstliche Interessen beeinträchtigt werden den. Das war die breite Stimmungslage in der deutschen können, hat die Beschäftigung oder Erwerbstätig- (D) (B) Sozialdemokratie. keit der letzten obersten Dienstbehörde anzuzeigen. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das kön- Hier ist die Bundesregierung gefragt. Die Bundesre- nen wir bei Müller auch machen! Das wäre et- gierung muss sich dazu äußern, ob sie das, was hier pas- was Neues!) siert, begrüßt oder nicht. In der „Süddeutschen Zeitung“ von damals gab es (Dirk Niebel [FDP]: Die kneifen doch!) eine schöne Zusammenfassung; dort heißt es in Bezug Die Berufung erfolgt nicht wegen der schönen Augen auf Ihre Fraktion und Partei: von Herrn Müller, sondern weil er für das Unternehmen Ruhrkohle AG aufgrund seiner früheren Tätigkeit als Empörung löste vor allem aus, dass er damit genau Minister und der damit verbundenen besten Beziehun- in jenem Bereich arbeiten wird, für den er bei der gen zum Haus mit Blick auf die nächsten Subventions- EU seit 1992 die Verantwortung hatte. entscheidungen nützlich sein soll. Das ist eine dienstli- (Dirk Niebel [FDP]: Ach? So ist das?) che Angelegenheit. Wenn das damals galt, dann gilt das auch heute. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Monopolminis- ter Müller ist nun nach einer vierjährigen Entleihung Ihr Minister ist aus der Veba, heute Eon, gekommen und – eine Zeit, in der er die Energiemonopole gestärkt hat – hat vier Jahre als Minister gearbeitet, und zwar erkenn- hoch bezahlt in die Monopole zurückgekehrt. bar monopolnah und liberalisierungsfeindlich. Die Libe- ralisierung der Elektrizitätsmärkte hat in allen Bereichen (Dirk Niebel [FDP]: Das ist Filz!) schweren Schaden genommen. Genau diese Kurve ist er gefahren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das hat nichts damit zu tun, dass wir eine Wechselbe- ziehung zwischen Politik und Wirtschaft wollen. So Er war sehr „nützlich“. Dann kam das Kartellverfahren grob, so plump, so durchsichtig und so voller Bezie- bzw. die Ministererlaubnis. Wir haben ihm schon vor der hungsgeflecht, das der Steuerzahler zu bezahlen hat, ha- Erteilung der Ministererlaubnis gesagt, er möge definitiv ben wir das in diesem Lande noch nicht erlebt. Das ist erklären, dass er bei keinem der in diesem Verfahren Be- ein Anschlag auf Sauberkeit. teiligten später in Lohn und Brot sein wird. Das haben wir ihm öffentlich hier im Haus gesagt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 3288 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Hartmut Schauerte (A) Wenn ich höflich bin, (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das Schwei- (C) gen der grünen Lämmer! Erinnern Sie sich an (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das das Zitat, Frau Hustedt!) können Sie überhaupt nicht!)

sage ich: Es riecht nach einer verfeinerten Art von Kor- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ruption. Wenn ich brutal bin, müsste ich sagen: Dies ist auf höchster Ebene korruptes Verhalten. Anders kann Ich komme gleich noch zu Ihnen, Herr Schauerte. man das nicht bewerten. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tieren hier, ob es verwerflich ist, dass der ehemalige der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Wirtschaftsminister jetzt Chef der RAG wird. In der Tat [SPD]: Das ist doch unglaublich!) sind die Grünen in solchen Dingen moralisch sehr rigide. Ich persönlich zum Beispiel achte sehr penibel darauf, Ich bitte Sie darum, das zu klären. Das ist noch nicht dass ich an meinem Engagement für Erneuerbare Ener- das Ende der Debatte. Sie brauchen nicht zu glauben, gien nichts, aber auch gar nichts verdiene. Weder sitze dass das Thema schnell an Ihnen vorbeiginge, nur weil ich in Aufsichtsräten noch investiere ich zum Beispiel in Sie lediglich einen Redner in die Debatte schicken. Das Windparks oder dergleichen mehr, obwohl viele auf Thema bleibt. Ob sich die Ruhrkohle AG mit einer sol- mich zukommen. chen Entscheidung einen Gefallen in Bezug auf die Durchsetzung ihrer berechtigten Ziele getan hat, wird die (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das reicht nicht Zukunft zeigen. aus, wenn man regiert! – Dirk Niebel [FDP]: Es geht um Herrn Müller!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Fragen Sie mal Herrn Göhner, was der als Hauptge- – Ich weiß. Deswegen diskutiere ich gern über solche schäftsführer eines Verbandes im Plenum Dinge. Immerhin ist gerade das Verhältnis zwischen Ener- macht! Aktuelle Stunden zu diesen Themen giewirtschaft und Politik können Sie jede Woche haben!) (Dirk Niebel [FDP]: Das Interesse bei den Es ist ein unerträglicher Vorgang. Grünen ist nicht groß!) Herr Schmidt, wenn ich Ihnen das noch sagen darf: noch aus der Monopolzeit Was mich besonders stört (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Höchst pro- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wieder blematisch!) (B) brutal?) außerordentlich problematisch – da stimme ich Ihnen (D) – nein, ganz nachdenklich –, ist, dass dieses Thema Ihre zu – und sie sind außerordentlich eng verwoben. Partei angeblich oder tatsächlich überhaupt nicht zu inte- Allerdings diskutiere ich nicht mit der FDP in solch ressieren scheint. In Europa sollen demnächst Kommis- einer Aktuellen Stunde über eine solche Vorlage. Sie sare eine Auszeit von mindestens einem Jahr nehmen weinen scheinheilige Krokodilstränen und zetteln hier müssen. Das ist so eine Art Schamfrist. Sie müssen we- eine verlogene Debatte an. nigstens eine Kurve fahren. Warum machen wir in Deutschland nichts Vergleichbares? Warum sagen wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht, dass eine neue Tätigkeit in einer so unmittelbaren und bei der SPD) Nähe zur vorhergehenden Tätigkeit nicht erlaubt ist? – Es sind doch Sie, die in der Theorie immer ideologisch So jemand muss auf die Wartebank. fordern, wir brauchen fließende Übergänge zwischen Wirtschaft und Politik, einen Austausch der Eliten. Und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: es sind Sie, die das nicht nur fordern, sondern in hohem Herr Kollege Schauerte, die Zeit ist abgelaufen. Maße auch praktizieren. Sie haben den Namen Bangemann schon selbst ins Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Spiel gebracht, wohl wissend, dass dies das beste Bei- Ich komme zum Schluss. – Mindestens das wäre nö- spiel ist. Der kurzfristige Wechsel von der EU-Kommis- tig. Denken Sie einmal darüber nach. sion zur spanischen Firma Teléfonica war seinerzeit ein Riesenskandal. Wir denken über Corporate Governance, über Trans- parenz, über eine neue Unternehmenskultur nach und Ich möchte weitere Beispiele nennen. Sie kennen dann kommen Sie hier mit einer Parteibuchwirtschaft doch bestimmt den Nachwuchsstar und Hoffnungsträger und einer Klüngelwirtschaft, die alles platt macht. Es ist der FDP in Nordrhein-Westfalen, Andreas Reichel, da- peinlich, peinlich, peinlich! mals Mitglied des von Nordrhein-Westfalen. Ich frage Sie: Wo ist der gelandet, nachdem die FDP (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht mehr in den gekommen war?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Rainer Brüderle [FDP]: Wo ist Frau Röstel?) Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/ Er ist Pressesprecher bei der RAG geworden. Und was Die Grünen. hat er – das unterscheidet ihn von Frau Röstel – außer- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3289

Michaele Hustedt (A) dem gemacht? Gleichzeitig war er Schatzmeister bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Herrn Möllemann. und bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Alles Müller, oder was?) (Dirk Niebel [FDP]: Was ist denn jetzt mit Herrn Müller?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Inzwischen ist er zurückgetreten wegen der illegalen Das Wort hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der Finanzgeschäfte von Möllemann. FDP-Fraktion. Ein anderes Beispiel: Ihr Bundestagskollege Rexrodt (Peter Dreßen [SPD]: Die klärt uns jetzt über sitzt in sieben Aufsichtsräten. Unter anderem ist er Teil- Rexrodt auf!) haber der PR-Agentur WMP Wirtschaft, Medien und Politik, bei der er pro Jahr rund 740 000 DM, etwa die Hälfte in Euro, verdient. Gudrun Kopp (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! (Peter Dreßen [SPD]: Erhält, nicht verdient! Liebe Kollegin Hustedt, Sie haben lange über alle mögli- Jetzt wissen wir, wo die Millionen herkom- chen Sachverhalte referiert, ohne sie korrekt zu schildern. men!) Ich erinnere Sie zum Beispiel daran, dass der Kollege Wen berät diese Firma? Sie berät zum Beispiel Firmen Rexrodt nicht Mitglied des Wirtschaftsausschusses ist. wie Eon und BP. Erinnern wir uns an die Debatte über (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ die Eon-Ruhrgas-Fusion im Wirtschaftsausschuss, Herr DIE GRÜNEN]: Das fehlte noch!) Brüderle. Damals sind die Grünen aufgestanden und ha- ben gesagt: Wir wollen über diese weit reichende Ange- In die Debatte eingegriffen hat er seinerzeit bestimmt legenheit diskutieren. Ich bin persönlich auf Sie zuge- nicht. gangen. Daraufhin hat Herr Rexrodt, der an der Beratung Liebe Frau Hustedt, Sie haben es versäumt, sich klar von Eon verdient, während er gleichzeitig Mitglied des zu der Frage zu äußern, wie die Grünen dazu stehen, Bundestages ist, eingegriffen und jede Diskussion im dass Herr Müller zur RAG wechselt. Weil Sie es damit Wirtschaftsausschuss unterbunden. haben bewenden lassen, Ihre persönliche Befindlichkeit (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! zu äußern, will ich Ihnen ein bisschen auf die Sprünge Hört!) helfen: Ihr Kollege Hubert Ulrich, mittelstandspoliti- scher Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, hat sich Öffentlich hat er sich dann geäußert, dass er die Fusion – ich meine, es war in der „Süddeutschen Zeitung“ – von Eon und Ruhrgas voll unterstützt. ganz klar gegen diese neue Jobvermittlung zugunsten (B) (D) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ von Herrn Müller gewandt. DIE GRÜNEN]: Die Hohepriester der Markt- (Dr. [SPD]: War der in der PSA wirtschaft!) oder was?) So ist die Realität: Sie bekleiden die Posten nicht nachei- Genau das ist Gegenstand der heutigen Debatte. Die Prä- nander, sondern gleichzeitig – und beginnen dann hier senz hier im Plenum zeigt, wie sehr das Thema die SPD eine so scheinheilige Debatte. und die Grünen interessiert. Das finde ich mehr als be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schämend. und bei der SPD) (Dirk Niebel [FDP]: Die schämen sich, deswe- Jetzt einmal – Herr Schauerte weiß schon, was nun gen kommen die gar nicht mehr her!) kommt – zur CDU: Im Kern geht es um die Frage: Wem nützt diese No- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ minierung von Herrn Müller als Chef der RAG? In dem DIE GRÜNEN]: Glashaus!) Zusammenhang ist es natürlich interessant, zu wissen, wie es mit der Steinkohlesubvention weitergeht. Wie war das denn da? Ich weiß, dass Sie, Herr 2,6 Milliarden Euro allein in diesem Jahr sind kein Pap- Schauerte, dieser Fusion kritisch gegenübergestanden penstiel; das ist eine Subventionierung von derzeit unge- haben. Aber auch Sie haben einen Maulkorb verpasst be- fähr 80 000 Euro pro Arbeitsplatz. Die Bundesregierung kommen, nämlich von Ihrem Kollegen Wissmann. Herr hat absolut keinen Plan. Sie weiß noch nicht einmal, wie Wissmann ist, wie Sie wissen, Teilhaber einer Kanzlei, es nach dem Jahr 2005 weitergehen soll. die BP vertritt. BP wiederum hat an der Fusion von Eon und Ruhrgas mit verdient, weil sie die Aral-Tankstellen (Beifall bei der FDP) bekommen hat. Das ist mehr als unverantwortlich. Wer glaubt, dass Herr Deshalb sage ich: Die Debatte, die Sie hier führen, ist Müller als RAG-Chef ein Konzept zum Abbau von Sub- hochgradig scheinheilig. ventionen vorlegen wird, der wird eines Besseren belehrt werden. Sie spielen sich einander die Bälle zu, von der (Dirk Niebel [FDP]: Was ist denn jetzt mit einen wie der anderen Richtung. Genau das ist es, womit Herrn Müller?) wir unsere Zukunft verspielen. Einen Anlass für eine Aktuelle Stunde bietet das Ganze (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten in keinem Fall. der CDU/CSU) 3290 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Gudrun Kopp (A) Angesichts des Ministerentscheids des vergangenen Wir von der FDP-Fraktion legen schon seit langem zu- (C) Jahres, an dem Herr Müller ganz entscheidend mitge- kunftsfähige Konzepte dazu vor und fahren in dieser wirkt hat, kann ich aus heutiger Sicht nur sagen – das ist Frage einen stringenten Kurs. meine Überzeugung –: Wir sollten auf Ministerent- Vielen Dank scheide verzichten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der CDU/CSU – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr strin- und solche Eingriffe in das Marktgeschehen nicht länger gent!) zulassen. Dafür gibt es das Bundeskartellamt, das ja sei- nen Aufsichtspflichten auch hervorragend gerecht wird. Dort sollte man tätig werden. Das Instrument des Minis- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: terentscheids ermöglicht, dass die Politik direkt auf Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer Marktentscheidungen einwirken kann. Ich bin davon von der CDU/CSU-Fraktion. überzeugt, das es besser wäre, wenn man dies abschaffen würde. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Zu einem weiteren Punkt: Denken Sie einmal zurück, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- wofür sich Herr Müller als Minister eingesetzt hat! Er ren! Per se ist ein Wechsel von der Politik in die Wirt- hat auf EU-Ebene in Brüssel immer dafür gekämpft schaft oder umgekehrt nicht schlecht. Mehr noch: Wir – das hat Rainer Brüderle eben richtig gesagt –, dass die brauchen in Deutschland dringend eine gegenseitige Be- Subventionen auch weiterhin gezahlt werden dürfen. Im fruchtung und einen Austausch zwischen Politik und Gegenzug wurden – das war eine der Auswirkungen – Wirtschaft. Wohin es führt, wenn der wirtschaftliche Frankreich und Italien Sonderregelungen bei der Mine- Sachverstand in der Politik zu kurz kommt, sieht man ralölsteuer zugestanden. eindrucksvoll an dem Kurs der rot-grünen Bundesregie- rung: Mit einer Mischung aus Murks und Marx und dem (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Herumdoktern an Symptomen, ohne eine klare wirt- DIE GRÜNEN]: So etwas hätte Bangemann schaftspolitische Linie, führen Sie Deutschland nicht nur nie gemacht!) außenpolitisch, sondern auch wirtschaftlich ins Abseits. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Darüber hinaus war Herr Müller verantwortlich für weitere Subventionen. Ich erinnere nur an das Erneuer- Wirtschaftspolitische Kompetenz, Erfahrung oder gar bare-Energien-Gesetz, mit dem er ein weiteres riesen- Führungserfahrung? – Fehlanzeige auf der ganzen Linie! (B) großes Subventionsfass aufgemacht hat. Diese Zusam- Kompetenz – dieses Wort muss man in diesem Fall in (D) menhänge muss man sehen. Anführungszeichen setzen – beschränkt sich bei Ihnen auf die Beteiligung von Gewerkschaftsfunktionären. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Wirtschaftlicher Sachverstand und frisches Blut sind hier DIE GRÜNEN]: Sie machen sich hier doch überfällig. nur lächerlich!) Herr Müller verfügt ohne Zweifel über einen gewis- Ich glaube nicht, dass er nun in der Lage sein wird, Sub- sen Erfahrungsschatz in Politik und Wirtschaft. Er kann ventionen abzubauen und sich auf neue Herausforderun- Kilowatt und Kilowattstunde unterscheiden, vielleicht gen einzustellen, die ein zukunftsfähiges Wirtschaften auch Bilanzen lesen und er weiß, wie Politik funktio- ermöglichen. Das hat direkte Auswirkungen auf die Po- niert. Das ist gut und das kritisiere ich nicht – im Gegen- litik, beeinflusst unseren Haushalt und wird uns zum teil. Es hat aber doch ein sehr starkes Gschmäckle, wie Nachteil gereichen. Herr Müller ist eben kein „Mann für man es im Schwäbischen sagen würde, wenn jemand, alle Fälle“, wie das neulich eine Zeitung getitelt hat. Je- der die Rahmenbedingungen bis vor wenigen Monaten denfalls ist er kein Mann für den Bergbau. Herr Müller wenn nicht gesetzt, so doch zumindest politisch zu ver- ist ein Mann mit Vergangenheit und verkörpert die Ver- antworten hatte – Eon und der Zusammenhang mit der gangenheit noch heute. Kohleförderung wurden genannt –, ein paar Monate spä- ter an die Spitze gerade des Unternehmens berufen wird, Ich glaube, dass der Tatbestand seiner Berufung für das der größte Profiteur der gesamten Aktivitäten im Mi- die Politik insgesamt ein weiteres Maluszeichen ist. Ich nisterium war. gebe Herrn Brüderle wie auch den Vorrednern von der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) CDU/CSU-Fraktion völlig Recht: Wir alle nehmen so Schaden. Ich kann deswegen an den Bundeskanzler, dem Es mag sein, dass dies keine Rechtsfrage ist: zumin- nachgesagt wird, ein besonders gutes Verhältnis zu dest aber moralisch wäre es dringend geboten, zu sagen, Herrn Müller zu haben, nur appellieren, Herrn Müller zu dass man ein solches Amt nicht antritt. In jedem Unter- raten, davon abzusehen, diese Position für sich zu rekla- nehmen gibt es Konkurrenzausschlussklauseln, die so et- mieren. Dies würde Schaden vermeiden helfen. Ich kann was verbieten. Wenn jemand in einem Unternehmen der nur hoffen, dass es demnächst zu einem radikalen Sub- Energieversorgung als Vorstand tätig war, kann er nicht ventionsabbau kommen wird. ohne Weiteres ein halbes Jahr später in einem Konkur- renzunternehmen die gleiche Vorstandstätigkeit ausüben. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Schein- Das gebietet das Recht; vor allem aber gebietet dies auch heilige Bande!) der moralische Anstand. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3291

Dr. Joachim Pfeiffer (A) Neben diesem moralischen Aspekt stellt sich für die müssen wissen, wie es angesichts der Degression mit ih- (C) Ruhrkohle Aktiengesellschaft allerdings auch die Frage, rem Arbeitsplatz weitergeht. ob Herr Müller der richtige Mann ist. Mit stetig wach- Sie sind gefordert, hier endlich Vorschläge zu ma- sender Tendenz werden bereits heute zwei Drittel des chen; dem können Sie nicht mehr ausweichen. Sie müs- Umsatzes der RAG in den Geschäftsfeldern Chemie und sen sich an dieser Diskussion und Debatte beteiligen. Immobilien erwirtschaftet. Nur ein Drittel des Umsatzes wird im Geschäftsfeld Kohle und Bergbau im weiteren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sinne erwirtschaftet. Hier stellt sich doch zu Recht die Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wird Frage, ob der andere einschlägige Kandidat, der jetzt aber bestimmt nicht durch eine Aktuelle schon für den größeren Geschäftsbereich verantwortlich Stunde ausgelöst!) ist, nicht die bessere Wahl für die Ruhrkohle Aktienge- sellschaft gewesen wäre. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach von NEN]: Das haben weder Sie noch wir zu ent- der CDU/CSU-Fraktion. scheiden!) (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das ist auch so ein Das muss das Unternehmen aber selbst entscheiden. unabhängiger Abgeordneter, der nichts mit Verbänden zu tun hat!) Auch der nächste Punkt sollte Sie interessieren; er muss ausgeräumt und geklärt werden. Es liegt doch die Vermutung nahe, dass dieser Deal von langer Hand aus- Hans Michelbach (CDU/CSU): geheckt und vorbereitet wurde. Kann es nicht sein, dass Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- die SPD über ihre fünfte Kolonne – die Gewerkschaften – ren! Es gibt keinen Zweifel: Die Berufung des früheren und die Montanmitbestimmung hier ihre Finger im Spiel Wirtschaftsministers Werner Müller zum neuen Vor- hatte und jetzt ihr parteipolitisch motiviertes Süppchen standschef des Chemie- und Bergbaukonzerns RAG ist kochen will? ein schlimmer Bärendienst für die gesamte deutsche Wirtschaft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die (Lachen des Abg. Wilhelm Schmidt Frage ist durchaus berechtigt! – Dirk Niebel [Salzgitter] [SPD]) [FDP]: Eine Hand wäscht die andere! Man und zeugt von Unsensibilität. Das Verflechtungskartell, kann es nur wiederholen! – Dr. Rainer Wend das zu dieser Berufung beigetragen hat, muss aufgelöst (B) [SPD]: Mach uns fertig! Schlag uns! Peitsch werden. Personeller Austausch von Wirtschaft und Poli- (D) uns! Gib uns Tiernamen! – Ute Kumpf [SPD]: tik? – Ja, aber keine undurchsichtige Kungelei. Wir müs- Der Herr Pfeife!) sen daran interessiert sein, dass diejenigen aus dem Un- – Frau Kumpf, Sie gehören auch zu der Spezies, die au- ternehmertum, aus dem Mittelstand, die sich politisch ßer ihrer Gewerkschaftserfahrung wenig in den Bundes- engagieren, ihre Aktivitäten so durchsichtig gestalten, tag einzubringen hat. wie wir das mit der Veröffentlichung im Bundestags- handbuch machen. Ein Deckmantel an Verflechtungen, Es ist doch auffällig, wie offensichtlich die Gewerk- wie er bei Herrn Werner Müller zu beobachten ist, kann schaften den Herrn Müller hier auf den Thron gehoben dagegen nicht gutgeheißen werden. haben. Dies muss geklärt werden. Es ist Ihre und nicht unsere Aufgabe, dies zu tun. Dem können Sie nicht aus- Diese heutige Debatte weichen, indem Sie sich nicht an der Debatte beteiligen (Ute Kumpf [SPD]: Ist unnötig!) und indem Sie versuchen, diesem Thema aus dem Weg zu gehen. ist wichtig und notwendig. Wir brauchen Sauberkeit in der Wirtschaft und in der Politik. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wol- len die Gewerkschaften weghaben!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Abschließend fordere ich die Bundesregierung auf [SPD]: Kehren Sie mal vor Ihrer eigenen Tür!) – Frau Kopp hat es bereits angesprochen –, schnellst- möglich ernsthafte Verhandlungen über den Anschluss Darauf haben unsere Bürger Anspruch. Dies darf nicht an den Kohlekompromiss über das Jahr 2005 hinaus zu einfach abgetan werden; denn der Bürger und die mittel- führen und diesem Haus endlich einmal Vorschläge zu ständischen Betriebe zahlen sonst die Zeche. unterbreiten. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sagen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie verwurs- Sie doch mal etwas zu den Arbeitgeberverbän- den, Herr Michelbach!) ten alle Themen an der falschen Stelle!) Die unternehmerische Ethik – Vorbild für die soziale Die Beschäftigten der RAG haben Anspruch auf Pla- Marktwirtschaft – wird durch solche Vorgänge schwer- nungssicherheit – nicht nur Herr Müller, der diese in Form wiegend beschädigt. eines Fünfjahresvertrages als Vorstandsvorsitzender er- hält. Die Kumpels, die in diesem Bereich beschäftigt sind, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: haben Anspruch auf eine verlässliche Perspektive. Sie Pharisäer!) 3292 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Hans Michelbach (A) Natürlich ist es in Ordnung, wenn sich jemand aus der von Mannesmann kein kritisches Wort hervorgebracht (C) Politik ehrenamtlich engagiert. Das Engagement muss hat. nur bekannt gemacht werden. Wir müssen deutlich machen, dass die insbesondere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im Bundeswirtschaftsministerium beschlossenen Beihil- fen und zukünftigen Subventionen zulasten der Steuer- Ganz anders aber war es bei diesem Verflechtungskar- zahler, zulasten der Haushaltskonsolidierung und zulas- tell. Als Mittelständler bin ich über diese unsaubere Pos- ten der Zukunftsfinanzierung unseres Landes gehen. tenschieberei zutiefst betroffen. Dem Unternehmertum Deswegen ist dies ein wichtiger Anlass, darüber zu re- wird nachhaltiger Schaden zugefügt. Alle Kräfte dieses den, ob hier ein Verstoß gegen solche Regelungen vor- Hauses sollten daran interessiert sein, dass diese Sachen liegt. aufgedeckt, beim Namen genannt und rückgängig ge- macht werden. Deshalb bin ich für die heutige Gelegen- (Beifall bei der FDP) heit ausgesprochen dankbar. Die Bundesregierung ist gut beraten, ein beamtenrechtli- Anlass, kritische Fragen zu stellen, gibt es genug: Hat ches Verfahren gegen Herrn Müller anzustrengen. Das Herr Müller seinen neuen Chefsessel durch eine Schmie- kann man und das muss man verlangen, um Sauberkeit renkomödie erreicht? Ist es inzwischen so weit gekom- und Durchsichtigkeit in dieser Frage herzustellen. men, dass in Deutschland Mitglieder der Bundesregie- rung käuflich sind? Hat sich Herr Müller einen Herzlichen Dank. wohldotierten Arbeitsplatz in der Energieindustrie schon (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zu seiner Zeit als Bundeswirtschaftsminister durch Will- neten der FDP) fährigkeit gesichert? (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist eine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: unbewiesene Behauptung! Unglaublich!) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Bietmann von Ist Müllers neue Position ein Dankeschön aus der Ener- der CDU/CSU-Fraktion. giebranche an den ehemaligen Bundeswirtschaftsminis- ter, weil er ihnen seinerzeit gefällig war? Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bewei- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und sen Sie das!) Kollegen! Vor wenigen Wochen verkündete ausgerech- net die IG Bergbau-Chemie-Energie als erste die Nach- – Herr Schmidt, Sie fordern Beweise. Solche Fragen richt, man habe mit dem ehemaligen Bundeswirtschafts- (B) werden doch noch erlaubt sein. Darauf erwarten wir minister einen geeigneten Vorstandsvorsitzenden (D) Antworten. gefunden. Die erstaunte Öffentlichkeit musste zur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kenntnis nehmen, dass in einem der größten deutschen der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Unternehmen nicht die Eigentümerseite, sondern die Ge- [SPD]: Das war doch keine Frage, das war werkschaften den Vorstandsvorsitzenden proklamieren. eine Unterstellung!) Wirft aber der geneigte Betrachter einen genaueren Wenn Sie es ehrlich meinen, dann schlage ich Ihnen vor, Blick auf die Eigentümerseite, dann schlägt bei Kenntnis diese Fragen dem Bundeskanzleramt zu stellen. Die Mi- wirtschaftlicher Zusammenhänge sein Erstaunen in fra- nistererlaubnis, die von Bundeswirtschaftsminister gendes Entsetzen um; denn mit RWE und Eon hat die Müller erteilt wurde, stinkt geradezu zum Himmel. RAG genau die Eigentümer, die in den zurückliegenden Diese Sache, die wie geschaffen ist für ein Drehbuch Jahren den größten energiewirtschaftlichen Milliarden- zum Thema Genossenfilz und Gewerkschaftskungelei in deal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einer Konzernwirtschaft, muss geklärt werden. Sonst er- verabredet haben. Dieser Milliardendeal war von der Zu- hält unser Land den Geschmack einer Bananenrepublik. stimmung eben des Ministeriums abhängig, dessen Mi- Das können wir nicht dulden, daran können wir kein In- nister heute an die Spitze des durch die Zustimmung neu teresse haben. gestalteten RAG-Konzerns rückt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Es ist unbestreitbar völlig unvertretbar, dass ein ehe- der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] maliger Bundeswirtschaftsminister die Führung eines [SPD]: Reden Sie jetzt für die Arbeitgeberver- Konzerns übernimmt, der in der jetzigen Struktur mit bände?) seiner neuen Tochter Degussa nur deshalb zustande ge- kommen ist, weil im Interesse der heutigen Eigentümer Ich kann deutlich sagen: Bundeskanzler Schröder und des Unternehmens eine Ministererlaubnis erteilt wurde, Bundeswirtschaftsminister Clement tragen daran eine die alle Bedenken der Kartellbehörde und der Verbrau- klare Mitschuld. Sie haben dieses Verflechtungskartell cherverbände hinsichtlich einer Monopolbildung im Ener- gutgeheißen und unterstützt. Die Paten hierfür sitzen im giemarkt in den Wind geschlagen hat. Bundeskanzleramt. Das zeigt das wahre Gesicht dieser Regierung. Die Reaktion der SPD zeigt, dass Sie betrof- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – fen sind und zunächst einmal keine Klärung wollen. Das Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- habe ich auch früher schon festgestellt, als der Bundes- NEN]: Das hätten Sie damals sagen sollen! Da kanzler bei der 60-Millionen-Abfindung von Herrn Esser haben Sie nur geschwiegen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3293

Dr. Rolf Bietmann (A) – Das ist ein politisch skandalöser Fall, Frau Hustedt. desregierung zu geben. Verweigern Sie sich dem, haben (C) Sie jeden Anspruch auf moralisch bewertende Kritik in Die Politik – das sage ich an die Grünen gerichtet – der Politik verloren. So wie im Fall Müller, meine Da- nimmt schweren Schaden, wenn in den deutschen Me- men und Herren, geht es in Deutschland wahrhaft nicht. dien der Eindruck kommentiert wird, die Amtshandlung der Erteilung der Ministererlaubnis könnte in einem Zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sammenhang mit der Berufung des Ministers zum Vor- standsvorsitzenden des von der Entscheidung betroffe- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen Konzerns stehen. Dieser Vorgang wird das Vertrauen Das Wort hat jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill von in die Politik, insbesondere aber das Vertrauen in die rot- der CDU/CSU-Fraktion. grüne Bundesregierung, weiter schwer erschüttern. Lassen Sie mich noch etwas ausführen. Der Kollege Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Schauerte hat auf die im Beamtenrecht vorgesehene Re- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das gelung hingewiesen, dass innerhalb von fünf Jahren Schweigen der Sozialdemokraten sagt mehr, als wenn nach dem Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis hier fünf Verteidigungsreden gehalten worden wären. Sie keine Tätigkeiten aufgenommen werden dürfen, die haben in dieser Auseinandersetzung offensichtlich möglicherweise zu Interessenkollisionen führen. Für schlechte Karten. Minister gilt zwar das Ministergesetz, das keine entspre- chende Regelung beinhaltet. Aber eigentlich müssten (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. gerade für die Spitzenstaatsdiener solche Interessen- Rainer Brüderle [FDP]) kollisionen ausgeschlossen werden. Was für den ein- Sehen Sie sich an, was die Kollegin Hustedt und der fachen deutschen Beamten gilt, muss erst recht für die Kollege Schmidt hier vorgetragen haben: Man zeigt mit Minister gelten. Empörung auf einen Fall, den man für besonders (Beifall bei der CDU/CSU) schlimm hält, und rechtfertigt damit das eigene Verhal- ten. Das ist der Vorgang, der hier heute stattgefunden Wenn man sich dann gut meinend fragt, ob es einen hat. Darf ich also davon ausgehen, dass Frau Hustedt zwingenden sachlichen Grund für die Berufung von und auch Herr Schmidt der Meinung sind, weil es den Herrn Müller gibt, dann stößt man auf die Begründung, Fall Bangemann gibt, den sie als so schlimm bezeichnet er sei ein ausgewiesener Energieexperte. Diese Begrün- haben, dürfe man sich gleichermaßen wie die FDP ver- dung ist aber absolut untauglich; halten? (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sie ist auch (B) (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) falsch!) NEN]: Ich habe gesagt, was Sie tun, ist schein- denn ein Blick auf die Ausrichtung der RAG zeigt, dass heilig!) 75 Prozent des Umsatzes der neu gestalteten RAG nichts Frau Hustedt, ich rate Ihnen dringend, das, was Sie hier mehr mit Energie zu tun haben, weil der Schwerpunkt zur WMP vorgetragen haben, sofort wieder zu verges- dieses Konzerns auf der Chemie und – man höre und sen. Denn der Medienberater der Länder Brandenburg staune – auf Immobilien liegt. Mir ist aber von den Qua- und Berlin, Mitarbeiter von WMP, ist jemand, der auf litäten des Herrn Müller im Immobiliensektor oder in der Kosten des Berliner Senats und der Berliner Bürger Chemie wahrhaft nichts bekannt. großzügige PR für Berlin und Brandenburg macht. Wenn Einzig richtig an dem Erklärungsversuch ist die Tatsa- Sie schon solche Gesellschaften nennen, dann sollten Sie che, dass Herr Müller – damit kommen wir zur Politik – auch nicht vergessen, dass einer Ihrer schönen Abende aus Treue gegenüber der ihn berufenden Gewerkschaft zum EEG von einer Rechtsanwaltskanzlei gesponsert und sicherlich auch der nordrhein-westfälischen SPD al- worden ist. les daransetzen wird, den defizitären Bereich der Stein- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kohle über das Jahr 2005 hinaus durch milliarden- NEN]: Das stimmt überhaupt nicht! Das ist schwere Subventionen zulasten der Steuerzahler eine Lüge!) künstlich am Leben zu halten. Diese Subventionspolitik ist gesamtwirtschaftlich nicht vertretbar und schädigt Ich finde außerdem, dass wir über die Fusion von Eon den Standort Deutschland dauerhaft. und Ruhrgas in diesem Zusammenhang gar nicht unbe- dingt reden sollten; das ist bei der Sache mit Herrn (Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU]) Müller jetzt gar nicht so sehr die Frage. Wir reden dann Aber so zynisch es auch klingen mag: Hier schließt nämlich über den falschen Verursacher des Ganzen. sich wieder der Kreis. Denn letztlich zahlt der Steuerzah- Lange bevor der Antrag beim Bundeswirtschaftsminister ler den Preis für einen politisch gewollten gigantischen und beim Bundeskartellamt eingegangen war, hat der Wirtschafts- und wohl auch Personaldeal. Bundeskanzler auf einer Betriebsräteversammlung im Oktober 2001 öffentlich gesagt, er sei für eine Fusion CDU und CSU – da können Sie noch so viel kritisie- von Eon und Ruhrgas. Die Begründung, die man dafür ren – fordern die Bundesregierung auf, diesen Vorgang nennen kann, ist durchaus diskutabel. Sie ist unabhängig wirklich schonungslos offen zu legen und dem Deut- von der Diskussion über die Märkte im innerdeutschen schen Bundestag Auskunft über erkennbare Interessen- Bereich, die Hartmut Schauerte und Hans Michelbach kollisionen eines früheren Mitglieds der rot-grünen Bun- hier vorgetragen haben. Der Punkt ist: Diesen Fall hat 3294 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Kurt-Dieter Grill (A) nicht irgendeine anonyme SPD zu verantworten; die Sa- aller Männer an die Spitze gesetzt worden ist. Man kann (C) che hat einen Namen und der heißt Gerhard Schröder. nur sagen: Schade, dass es so weit kommen konnte. Werner Müller ist ein Protegé des Bundeskanzlers. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Man könnte sich noch darüber unterhalten, ob Werner Die Aktuelle Stunde ist beendet. Müller an dieser Stelle richtig ist, wenn er eine Erfolgs- bilanz als Manager und Politiker vorzulegen hätte. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das wäre Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- mal was!) gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der Krankenpflege sowie Aber Herr Müller ist – das ist das Erste – Anfang der zur Änderung des Krankenhausfinanzierungs- 90er-Jahre aus dem Vorstand der VKA mit einer Millio- gesetzes nenabfindung entlassen worden, weil die Veba keinen Bedarf mehr für einen Manager von der Qualität des – Drucksache 15/13 – Herrn Müller hatte. (Erste Beratung 16. Sitzung) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Und jetzt Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- wird er Chef!) ses für Gesundheit (13. Ausschuss) Das Zweite ist, dass sich Herr Müller, wie die Zeitun- – Drucksache 15/804 – gen hier und da berichteten, selber als Nachfolger von Herrn Harig, von Herrn Goll und anderen ins Gespräch Berichterstattung: hat bringen lassen. Abgeordnete Monika Brüning Und schließlich – das ist das Dritte – sollte man sich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die einmal die Erfolgsbilanz von Werner Müller in seinem Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Amt ansehen: Die 4,6 Millionen Arbeitslosen sind die höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Folge nicht irgendeiner Wirtschaftspolitik in diesem Lande, sondern sind die Folge seiner Wirtschaftspoli- Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin spricht tik. für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssek- retärin Marion Caspers-Merk. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (D) Wo sind denn, so könnte man noch fragen – ich habe das Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der in diesem Hause oft genug getan –, die Konzepte seiner Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung: Energiepolitik? Fragmente hat er vorgelegt und für das, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! was er draußen vertreten hat, hat er in diesem Hause Nach politischem Streit in der Aktuellen Stunde kom- keine Mehrheit auf dieser Seite des Hauses gehabt. Rot men wir nunmehr zur abschließenden Beratung über ei- und Grün haben die energiepolitischen Ansichten dieses nen Gesetzentwurf, der im federführenden Ausschuss im Mannes nie mitgetragen. Konsens verabschiedet wurde. Das zeigt, dass wir ange- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sichts der neuen Herausforderungen der Pflegeberufe NEN]: Das stimmt!) imstande sind, zwei Schritte gemeinsam zu gehen: ers- tens die Pflegeberufe zu modernisieren und ihnen eine Wo also ist der Erfolg des Wirtschaftsministers Müller, Zukunftsperspektive zu geben sowie zweitens durch mo- der ihn berechtigen würde, in eine leitende Funktion ein- derne Finanzierungsinstrumente dafür zu sorgen, dass zutreten? künftig die Einrichtungen, die nicht ausbilden, finanziell Ein Letztes – es ist ja schon eine Reihe von Argumen- nicht mehr besser gestellt sind als diejenigen, die ausbil- ten dazu vorgetragen worden –: Es gibt die gute Regel, den. wonach ehemalige Minister nicht in den Ausschuss ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hen sollten, für den sie als Minister sozusagen zuständig waren, um die Beamten, die ehemaligen Mitarbeiter, Ich möchte mich zuallererst bei den Kolleginnen und nicht in Verlegenheit zu bringen. Jetzt geht ein Mann an Kollegen der Koalitionsfraktionen und der Opposition die Spitze eines Konzerns, der auch mit Beamten ver- für die konstruktive und gute Beratung bedanken. Wir handeln muss, die vorher im Ministerium seine Unterge- haben auch im Dialog mit den Pflegeverbänden einiges benen waren. Wie sollen so objektive und faire Verhand- an Verbesserungen auf den Weg gebracht. Ich möchte lungen zustande kommen? Hier werden doch Menschen mich bedanken für die große Geduld, die die Kollegin- durch Personalauswahl unter Druck gesetzt. nen und Kollegen bei den zahllosen Fachgesprächen hat- ten. Es ist ein guter Tag, wenn wir heute in zweiter und Ich möchte gar nicht herumstänkern, sondern lediglich dritter Lesung über den vorliegenden Gesetzentwurf ab- feststellen: Das Ergebnis des hier zur Diskussion stehen- schließend beraten und ihn verabschieden. den Deals ist, dass der RAG und damit auch der deut- schen Steinkohle – die hier vertretenen Anliegen sind (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ durchaus berechtigt – und den Kumpels der schlechteste DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3295

Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk (A) Das Gesetz wird nach 17 Jahren Stillstand in der Die schulische und praktische Ausbildung steht (C) Krankenpflegeausbildung von vielen, die in der Pflege fortan unter der Gesamtverantwortung der Schulen. Zu- aktiv sind und die sich mit der Situation in der Pflege dem gibt es verbindliche Regelungen zur Unterstützung auseinander setzen, für dringend erforderlich gehalten. der praktischen Ausbildung durch Praxisbegleitung der Es ist auch deutlich geworden, dass es in dieser Zeit Ent- Schulen und Praxisanleitung in den Einrichtungen. Auf wicklungen in den Pflegewissenschaften gegeben hat. diesem Wege stellen wir eine sinnvolle Verbindung von Diese sind wie der Aspekt der Eigenständigkeit der Theorie und Praxis sicher, denn heute gehört beides zu Pflege in das Gesetzgebungsverfahren eingeflossen. einer guten Ausbildung. Mit der Novellierung der Krankenpflegeausbildung Ein wichtiger Punkt der Ausschussberatung waren die wollen wir langfristig Bedingungen dafür schaffen, dass Mehrkosten, die den Krankenhäusern durch die verbes- erstens auch in Zukunft eine qualitativ hochwertige pfle- serte Ausbildung entstehen. Es bestand Einigkeit darü- gerische Versorgung unter veränderten Rahmenbedingun- ber, dass die Finanzierung dieser Mehrkosten durch die gen sichergestellt ist. Wir wollen zweitens, dass der Pfle- gesetzliche Krankenversicherung auf Dauer gewährleis- geberuf für junge Menschen attraktiver wird und dadurch tet sein müsse. Nur so können wir die Ausbildungsbe- einem allgemeinen Fachkräftemangel vorgebeugt wird. Es reitschaft der Krankenhäuser erhalten. Sie mit Mehrkos- herrscht schon heute in einigen Gebieten ein großer Fach- ten zu belasten wäre gerade in einer Situation, in der wir kräftemangel. Dies hängt auch damit zusammen, dass die- darum werben müssen, dass mehr ausgebildet wird, kon- ser Beruf gesellschaftlich nicht ausreichend gewürdigt traproduktiv. und nicht für attraktiv gehalten wird. Mit der neuen an- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ spruchsvollen Ausbildung, die wir nun festlegen, sind wir DIE GRÜNEN) auf dem richtigen Weg. Wir wollen drittens ein erweitertes Verständnis der Pflege in der Ausbildung schaffen. Auch In den Ausschussberatungen wurden entsprechende Än- diesem Belang wird der Gesetzentwurf gerecht. derungen des Gesetzentwurfes vorgeschlagen, die dies sicherstellen. Ich appelliere daher an dieser Stelle an die Die Anhörung im Februar dieses Jahres hat gezeigt, Krankenhäuser und deren Ausbildungsbereitschaft: Stel- dass alle Sachverständigen die Novellierung der Kran- len Sie ein bedarfsgerechtes Ausbildungsangebot sicher. kenpflegeausbildung für dringend notwendig erachten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns ge- Wir waren uns nach dieser Anhörung sowohl im Mi- meinsam sehr wachsam sein, denn gerade im Moment er- nisterium als auch im Fachausschuss über die wesentli- leben wir – dies wird uns auch aus der Praxis berichtet –, chen Inhalte des Gesetzes einig: dass Ausbildungskapazitäten teilweise verringert wer- den. Wir sollten uns gemeinsam dafür stark machen, dass (B) Erstens. Es bleibt bei zwei Berufsbildern für die (D) Kranken- und Kinderkrankenpflege. Allerdings enthält die Kapazitäten ausgeweitet werden. Durch die gemein- die Ausbildung künftig weitgehend gemeinsame Ausbil- samen Finanzierungspools und die Überleitungsvor- dungsanteile. Den besonderen Erfordernissen einer kind- schriften müssen wir jetzt die klare Botschaft vermitteln, gerechten Versorgung tragen wir durch die Spezialisie- dass es unser Wunsch ist, dass in Zukunft mehr und qua- rung in der zweiten Phase Rechnung. litativ hochwertig ausgebildet wird. Zweitens. Die neuen Berufsbezeichnungen „Gesund- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heits- und Krankenpfleger/in“ sowie „Gesundheits- und DIE GRÜNEN) Kinderkrankenpfleger/in“ unterstreichen bereits sprach- Die Erfahrungen mit der integrierten Ausbildung, wie lich den erweiterten Ansatz in der Krankenpflege. wir sie heute beschließen, könnten gemeinsam mit der Drittens. Die Ausbildungsziele werden den neuen An- neuen bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung und forderungen angepasst. Dabei wird der eigenständige den zur Erprobung generalistischer Ausbildungen vor- Aufgabenbereich der Pflege hervorgehoben. Es wird handenen Modellklauseln auch die Grundlage dafür sein, klargestellt, dass die Pflege nicht auf den kurativen As- zu einem späteren Zeitpunkt verantwortlich über die pekt beschränkt ist. Krankenpflege beinhaltet fortan weitere Entwicklung der Pflegeberufe zu entscheiden. auch präventive, rehabilitative und palliative Maßnah- Wir sind uns einig, dass es dringend notwendig ist, men. Krankenpflege unterliegt so einem umfassenden die Ausbildung der Pflegekräfte zu modernisieren. Wir Ansatz. Es handelt sich um eine qualitativ hochwertige, haben beim Thema Ausbildungsnovellierung einen brei- anspruchsvolle Ausbildung, die in aller Regel von sehr ten Konsens erreicht. Es hat sich ausgezahlt, dass der engagierten Menschen gewählt wird. Dem wollen wir Gesetzentwurf in enger Abstimmung mit Verbänden und durch die Ausbildungsneuordnung mehr Raum geben. mit den Bundesländern erarbeitet wurde. Wir schaffen in einem wichtigen Bereich einen modernen Ausbildungs- (Beifall bei der SPD) rahmen und auch eine vernünftige Finanzierung für die Viertens. Die praktische Ausbildung findet nicht mehr Zukunft. Lassen Sie uns gemeinsam dafür werben, dass nur in Krankenhäusern, sondern auch in geeigneten am- die Fachkräfte, die in der Pflege eine gute Arbeit leisten, bulanten oder stationären Pflege- oder Rehaeinrichtungen auch in Zukunft eine Chance haben. statt. Auch dies ist wichtig, denn gerade die ambulanten Vielen Dank. Einrichtungen sollen sich in Zukunft mehr entfalten kön- nen. Deswegen sollen sie auch für die Ausbildung zur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verfügung stehen. DIE GRÜNEN) 3296 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bedeutet, dass in knapp 15 Jahren ein Anteil an der Be- (C) Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Brüning von völkerung pflegebedürftig sein wird, der etwa der Bevöl- der CDU/CSU-Fraktion. kerung der Stadt Berlin entspricht. Die hohe Personalfluktuation und die vielfach man- Monika Brüning (CDU/CSU): gelnde Attraktivität der Krankenpflege tun ein Übriges, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dass sich die Schere zwischen dem Bedarf an Pflegeper- Meine Damen und Herren! Das Gesetz über die Berufe sonal und dem Bestand an vorhandenem qualifizierten in der Krankenpflege, das wir heute in abschließender Personal weiter öffnet. Lesung beraten, ist angesichts der steigenden Lebenser- Die Verweildauer der ausgebildeten Pflegekräfte im wartung der Bevölkerung und der veränderten gesell- Beruf ist kurz. Bei der Alterszusammensetzung der be- schaftlichen Rahmenbedingungen von zentraler Bedeu- rufstätigen Pflegekräfte ist auffällig, dass ab dem mittle- tung. Die Pflege kranker und schwacher Menschen ist ren Lebensalter von etwa 30 bis 40 Jahren nur wenige elementarer Bestandteil jeder sozialen Gesellschaft. Das anzutreffen sind. Grund dafür sind eine hohe Drop-out- berufliche Pflegen ist somit nicht nur ein Beruf, sondern Rate in den Pflegeberufen und die nach dem Berufsein- auch ein gesellschaftlicher Auftrag. Dieser Auftrag er- tritt immer früher auftauchenden Burn-out-Syndrome. gibt sich aus der Verpflichtung zur Fürsorge für Hilfsbe- Diese Fluktuation führt unter anderem dazu, dass die dürftige und ist Ausfluss des im Grundgesetz veranker- durch Erfahrung erworbene Kompetenz für den Beruf ten Sozialstaatsprinzips. verloren geht. Die Krankenpflege blickt auf eine lange Tradition Maßnahmen, die den Verbleib im Beruf fördern, sind zurück. Schon im alten Griechenland gab es Heilpläne, auch aus ökonomischer Sicht zu unterstützen; denn eine die Elemente der heutigen Krankenpflege enthielten. dreijährige Ausbildung kostet insgesamt circa 50 000 Eine ganz besondere Bedeutung für die Entwicklung der Euro pro Person. Daher muss dringend über geeignete abendländischen Pflege und insbesondere der Kranken- Maßnahmen nachgedacht werden, um die Bereitschaft, pflege hat das mit der Entstehung des Christentums ver- im Beruf zu verbleiben oder in ihn zurückzukehren, zu bundene Ideal der Nächstenliebe. Dieser Nächstenliebe erhöhen. Die entsprechenden Maßnahmen sollten insbe- entsprang die praktische Karitas, der Dienst am Men- sondere die Vereinbarkeit von Beruf und Familie im schen, eine wichtige Grundlage der Krankenpflege, die Blick haben. heute aufgrund von Finanzmangel leider häufig vernach- lässigt wird. (Beifall des Abg. Dr. Hermann Kues [CDU/ CSU]) (B) Die organisierte Krankenpflege in Krankenhäusern (D) hat ihren Ursprung im frühen Mittelalter. Bereits vor Außerdem muss ein höherer Anteil junger Menschen über 500 Jahren, im Jahre 1452, entstand die erste deut- für den Pflegeberuf geworben werden. Nur so kann der sche Hebammenordnung zur Festschreibung einer Aus- wachsende Bedarf an Pflegekräften gedeckt werden. Das bildung im Kranken- und Pflegebereich. Im Jahre 1782 wird jedoch nur möglich sein, wenn die Attraktivität des wurde in Deutschland die erste Krankenpflegeschule, Berufsbildes erhöht wird. damals Krankenwärterschule genannt, gegründet. Zu- nächst bildete sie nur Männer aus. Ab 1801 existierte Das Krankenpflegegesetz von 1985 ist nicht mehr ge- eine weitere Schule für Frauen. Damals herrschte ein eignet, diese gravierenden Probleme zu lösen. Es ent- großer Mangel an ausgebildetem Pflegepersonal; denn spricht nicht mehr den Erfordernissen, die der demogra- immer mehr Menschen ließen sich im Krankenhaus be- phische Wandel an die Krankenpflege stellt. Auch das handeln. Aufgabenspektrum im Pflegebereich hat deutlich zuge- nommen. Schließlich haben sich die medizinischen und Auch heute konstatieren wir in Deutschland einen technischen Möglichkeiten weiterentwickelt. Mangel im Pflegebereich, der angesichts von drohenden Nullrunden, die mittlerweile Gott sei Dank zurückge- Das mittlerweile 18 Jahre alte Gesetz soll nun endgül- nommen wurden, hoffentlich bald etwas abgeschwächt tig den neueren Anforderungen angepasst werden. Insbe- wird. sondere die Finanzierung der Ausbildung neuer Fach- kräfte stellt ein Problem dar. Der Faktor Ausbildung ist (Beifall bei der CDU/CSU) in den vergangenen Jahren mehr und mehr zum Wettbe- In Deutschland benötigt ein stetig steigender Bevölke- werbsnachteil der ausbildenden Krankenhäuser gewor- rungsanteil professionelle Pflege. Ende 1999 waren über den. 2 Millionen Menschen im Sinne des Krankenpflegege- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) setzes pflegebedürftig. Davon wurde knapp die Hälfte – immerhin über 1 Million Menschen – von Fachkräften Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt daher die Einfüh- der Krankenpflege versorgt. rung der Fondsfinanzierung. Der Bedarf an qualifizierten Pflegekräften wird in Die Ausbildungsstätten befinden sich überwiegend in den kommenden Jahren stark ansteigen. Für 2020 pro- der Trägerschaft von Krankenhäusern. Die Finanzierung gnostiziert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung einer Krankenpflegeschule erfolgte bisher anteilig aus einen Anstieg der Zahl pflegebedürftiger Menschen auf dem Budget des jeweiligen Krankenhauses. Nach der 3,3 Millionen und für 2050 auf sogar 4,7 Millionen. Das neuen Regelung erhalten die ausbildenden Schulen nun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3297

Monika Brüning (A) mehr gesonderte Zahlungen aus dem so genannten Aus- Bei aller Beschäftigung mit finanziellen Aspekten der (C) gleichsfonds, an dem sich alle Häuser beteiligen müssen. Ausbildung der Pflegekräfte dürfen aber die Belange der Pflegebedürftigen nicht aus dem Blick geraten. Lassen Wir begrüßen sehr, dass auf unseren Hinweis hin auch Sie mich daher noch auf einen weiteren Aspekt der Pfle- die Finanzierung der Ausbildung in den Krankenhäusern geausbildung zu sprechen kommen, der zunehmend an für die Zeit bis 2005 gesichert wurde. Dies geschieht Bedeutung gewinnt: die transkulturelle Pflege. Die durch die gleichzeitige Änderung der Bundespflegesatz- Ausbildung der Pflegekräfte berücksichtigt den kulturel- verordnung und des Krankenhausentgeltgesetzes. Ohne len Einfluss auf die Pflegebeziehung und die Genesung diese Änderungen wären die Folgen dramatisch gewe- nur in geringem Umfang. sen. In den Jahren 2003 und 2004 wären mit hoher Wahrscheinlichkeit weniger neue Ausbildungsplätze be- In Deutschland leben zurzeit 7,3 Millionen Menschen reitgestellt worden. ausländischer Abstammung. Die Tendenz ist steigend. Auch sie werden krank und müssen gepflegt werden. Eine große Errungenschaft in unserem Sozialstaat ist Eine angemessene Pflege muss den kulturellen Hinter- die Möglichkeit, sich als Pflegebedürftiger in den ge- grund des Patienten berücksichtigen. Krankenschwes- wohnten vier Wänden pflegen zu lassen. Wie Sie alle tern und Krankenpfleger müssen sich vermehrt in andere wissen, wird diese Möglichkeit vermehrt in Anspruch Kulturen hineindenken. Aus eigener Erfahrung weiß ich, genommen. Daher ist es richtig und wichtig, dass die wie viel unterschiedliche Kulturen heutzutage allein Ausbildung teilweise auch im ambulanten Bereich beim Personal eines Krankenhauses vertreten sein kön- stattfindet. Einen wesentlichen Punkt in diesem Zusam- nen. In dem mir bekannten Krankenhaus handelt es sich menhang hat die rot-grüne Mehrheit aber nicht aufge- immerhin um Menschen aus 22 verschiedenen Nationen, griffen: die Einbeziehung ambulanter Dienste in die Fi- die sich im Arbeitsprozess 24 Stunden lang um die Be- nanzierung der Krankenpflegeausbildung. dürfnisse von durchschnittlich 400 Patienten kümmern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Diese kulturelle Vielfalt stellt eine enorme Bereiche- Werner Lensing [CDU/CSU]: Unverantwort- rung für die Betreuung der Patienten dar. Sie verbessert lich!) die sprachliche Verständigung mit den Patienten. Darü- Wo bleibt die Beteiligung derjenigen an den Kosten der ber hinaus vereinfacht sie Anamnese und Kontrolle der Ausbildung, die vom Einsatz der Krankenpflegeschüle- Behandlungserfolge. Wir müssen uns sehr bald sehr rinnen und -schüler in ihren Einrichtungen direkt profi- ernsthaft Gedanken über kulturvergleichendes Denken tieren? Ich habe auf diesen Punkt bereits in der ersten machen. Methodisch muss dies auch in der Grund-, Fort- Lesung im Dezember 2002 und in den Ausschusssitzun- und Weiterbildung gelehrt und dann genutzt werden. (B) gen hingewiesen. Leider ist insoweit kein Fortschritt zu Schwierigkeiten bestehen allgemein darin, dass ein (D) erkennen. Mensch umso stärker vom Pflegepersonal abhängig Das geltende Gesetz über die Krankenpflegeausbil- wird, je höher sein Pflegebedarf ist. Seine persönliche dung ist seit knapp 18 Jahren in Kraft. Die verstrichene Integrität und Intimsphäre könnten erheblich gefährdet Zeit hat viele Veränderungen mit sich gebracht. Ich werden, wenn persönliche Grenzen nicht respektiert und bitte Sie alle daher, mit weiteren Anpassungen dieses Nähe und Distanz einseitig von den Pflegenden her be- Gesetzes an die Realitäten im Krankenpflegebereich stimmt werden. Es gilt, die Würde des Patienten zu ach- nicht noch einmal 18 Jahre zu warten; denn die Kranken- ten und zu wahren. Daher müssen die Pflegekräfte zu- pflege unterliegt einem ständigen Wandel. Die nächsten künftig noch mehr zur Interaktion und Kommunikation Herausforderungen stehen schon vor der Tür. Es ist ins- befähigt werden, um der Individualität des Patienten an- besondere erforderlich, eine bedarfsgerechte Steuerung gemessen begegnen zu können. in den Berufen sicherzustellen und damit eine gute und Ich möchte mit einem Zitat von James Allen schlie- dem aktuellen medizinischen Stand entsprechende Be- ßen: treuung der Kranken und Pflegebedürftigen zu gewähr- leisten. Diese Steuerung muss zeitnah geschehen. Die Zukunft beginnt heute. Leben heißt denken und handeln. Denken und handeln aber heißt verändern. So sollten beispielsweise die operativen technischen Assistenten möglichst bald eine staatlich anerkannte Be- Herzlichen Dank. rufsbezeichnung erhalten und sollte die entsprechende (Beifall bei der CDU/CSU) Ausbildung gesetzlich geregelt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Selg von Aufgrund der sich ständig erweiternden pflegerischen Bündnis 90/Die Grünen. und medizinischen Erkenntnisse ist auch über eine stär- kere wissenschaftliche Ausrichtung der Pflegeberufe nachzudenken. Die Pflegeausbildungen können nicht Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): noch weitere Jahrzehnte außerhalb des öffentlichen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Schul- und Hochschulwesens oder ohne klare Anbin- Kollegen! Wir haben hier heute über einen Gesetzentwurf dung daran fortgeführt werden. Darüber hinaus sind zur Änderung der Krankenpflegeausbildung zu entschei- auch die Pflegeberufe in größere gesellschaftliche Zu- den. Das betrifft mich ganz persönlich, die ich den Beruf sammenhänge zu stellen. seit 24 Jahren ausübe, und mit mir viele Kolleginnen und 3298 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Petra Selg (A) Kollegen draußen. Wir alle hoffen nämlich, dass es in an die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft (C) Zukunft mehr Kollegen werden, wenn wir die Attraktivi- zu denken – gerecht werden. Das tun wir mit diesem Ge- tät dieses Berufes steigern. Ich habe 17 Jahre darauf ge- setzentwurf, indem wir eine gute Ausbildung ermög- wartet, dass ein solches Gesetz kommt. Ich bin sehr lichen und damit die Attraktivität des Berufes steigern. dankbar und froh darüber, dass es jetzt endlich so weit ist. Vieles von dem, was durch dieses neue Gesetz er- reicht wird, wurde vorher schon genannt: Es sind mehr In einer Fachzeitschrift stand, dass mehr als 40 000 Stel- Unterrichtsstunden vorgesehen; die Schulen werden len im Pflegebereich aus verschiedenen Gründen nicht selbstständiger, weil sie die Gesamtverantwortung für besetzt werden können. Das sind alarmierende Zahlen. die praktische und theoretische Ausbildung bekommen; Der zitierte Artikel zeigt dabei auf, dass es vielfältige wir werden Modellprojekte einrichten, in denen gemein- Ursachen für einen zunehmenden Personalmangel gibt, same Konzepte für Kranken- und Altenpflege entwickelt und macht deutlich, dass eine Verbesserung der Situation werden; wir steigern die Durchlässigkeit in den tertiären in der Krankenpflege eigentlich nur über eine Steigerung Bereich, indem Pflegende zu Studiengängen zugelassen des Ansehens der Pflegeberufe zu erreichen ist. Dazu werden. All das sind Dinge, die dringend notwendig muss man aber bei der Ausbildung ansetzen. Genau das sind. Pflege wird in Zukunft nicht mehr nur als statio- tun wir heute mit diesem Gesetzentwurf. näre Pflege in Krankenhäusern stattfinden, sondern auch in der Prävention, in der Rehabilitation und vor allen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dingen im ambulanten Bereich, der in Zukunft immer und bei der SPD) wichtiger werden wird. Fraktionsübergreifend bestand große Einigkeit, was ja Ein bisschen Wasser muss ich allerdings in den Wein leider hier nur zu selten vorkommt. gießen. Nach 24 Jahren eigener Berufserfahrung möchte (Werner Lensing [CDU/CSU]: Liegt immer an ich hier nicht behaupten, dass alles ganz wunderbar sei. den Vorlagen!) (Detlef Parr [FDP]: Das ist realistisch!) – Natürlich gibt es ab und zu auch andere Gesetze; das Aber ich denke, nach 17 Jahren ist dies ein erster Schritt weiß auch ich. – Die Anhörung zu diesem Gesetzent- in die richtige Richtung, und wir werden das weiterentwi- wurf hat gezeigt, dass es dringenden Handlungsbedarf ckeln. In § 3 wir ein Ausbildungsziel festgelegt, das ei- gibt. nen umfangreichen eigenverantwortlichen Aufgabenbe- Auf die Finanzierung und andere Dinge, bei denen reich vorsieht. Das verleiht dem Beruf endlich mehr dieses Gesetz ganz klar Lücken offen lässt, möchte ich Gewicht. Besonders wichtig finde ich, dass wir hier vor- (B) jetzt gar nicht näher eingehen. Aber, liebe Frau Brüning, anschreiten; denn gerade in der Krankenpflege gibt es Tä- (D) auch Sie wissen, dass viele dieser Dinge eigentlich in die tigkeiten, die examinierten Kräften vorbehalten werden Kompetenz der Länder fallen. So hoffe ich, dass wir müssten, so wie es bei den Hebammen und vielen ande- auch in diesem Punkte weiter vorankommen. ren Heilberufen bereits der Fall ist. Ich denke, wir brau- chen diese Regelung der der Pflege vorbehaltenen Tätig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keiten ganz dringend, um eine Abgrenzung nicht nur nach und bei der SPD – Monika Brüning [CDU/ oben zu den Ärzten – denn wir sind als Pflegekräfte nicht CSU]: Sie sollten den Anstoß geben!) die Gehilfen des Arztes, wie es in manchen Fernsehsen- Wir legen dafür hier den Grundstein, die Gespräche dungen gern dargestellt wird –, sondern auch nach unten müssen dann aber weitergehen. zu den geringer qualifizierten Kräften zu schaffen. Pflegen kann jeder – das hört man leider immer noch Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir haben heute allzu oft in unserer Gesellschaft. Dagegen käme wohl Morgen fraktionsübergreifend – das finde ich ganz her- keiner auf die Idee, zu sagen, Haare schneiden oder ein vorragend – begonnen, Gespräche mit dem Ministerium Auto reparieren könne jeder. Dabei reduziert sich das und dem Deutschen Pflegerat darüber zu führen, wie Verständnis des Wortes „Pflege“ in der Gesellschaft lei- man diese Aufgaben definieren könnte. Wir werden das der häufig immer noch nur auf Pflege im letzten Ab- weiterentwickeln. Diese Entwicklung ist dringend not- schnitt des Lebens, nämlich die Altenpflege. Ich glaube wendig. Weitere Gespräche dazu wird es im September deshalb, dass wir dringend einen Bewusstseinswandel geben. Ich lade Sie alle herzlich dazu ein, an einer Wei- bezüglich des Wortes „Pflege“ herbeiführen müssen, terentwicklung und somit an der Steigerung der Attrakti- denn dabei geht es um mehr als nur um zielbestimmte vität dieses Berufs, der in unserer Gesellschaft unglaub- Erhaltung körperlicher Funktionen. Pflege umfasst viele lich wichtig ist, mitzuwirken. psychische und soziale Elemente und sollte deshalb Danke. ganzheitlich als ein Beruf verstanden werden, der sich um Menschen in verschiedenen Lagen kümmert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred Angesichts des Personalmangels, der in der Kranken- Grund [CDU/CSU]) pflege herrscht – das ist ein Berufszweig mit einer Ar- beitslosenquote von gerade einmal 2,5 Prozent, Tendenz fallend –, ist es heute besonders wichtig, dass wir den ho- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hen Arbeitsbelastungen in diesem Beruf – da ist wiederum Das Wort hat der Kollege Detlef Parr von der FDP- die Tendenz steigend, man braucht nur an die DRGs oder Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3299

(A) Detlef Parr (FDP): Personal auszustatten und dieses angemessen zu bezah- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist len das andere. Was nutzt unserem Gesundheitswesen wirklich erfreulich, dass es in diesen gesundheitspoli- qualifiziertes Personal, wenn dieses aus Erschöpfung tisch sehr stürmischen Zeiten ein Thema gibt, das nicht und Resignation den Arbeitsplatz nach kurzer Berufstä- streitig ist. Auch wir begrüßen, dass es mit dem Kran- tigkeit verlässt? Was nutzt qualifiziertes Personal, wenn kenpflegegesetz zu einer Modernisierung der Kranken- von der Politik verordnete Nullrunden die Krankenhäu- pflegeausbildung kommt. Das war lange überfällig. Kol- ser zu weiterem Stellenabbau zwingen? legin Selg hat das gerade sehr plastisch dargestellt. Der Blick zurück auf die gestrige Sitzung des Vermitt- Das Gesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die lungsausschusses ist aus Sicht der FDP erfreulich. Es hat Qualität der Ausbildung wird steigen. Das werden wir sich gelohnt zu kämpfen. Wir haben nämlich erreicht, durch unser Abstimmungsverhalten unterstützen; wir dass neben den Krankenhäusern, die sich im Jahr 2003 stimmen dem Gesetz zu. Die fachlichen Kompetenzen freiwillig am Fallpauschalensystem beteiligen, auch die werden auf gesundheitsfördernde, präventive, rehabilita- Krankenhäuser von der Nullrunde befreit sind, deren tive und palliative Inhalte ausgeweitet. Vor allem durch Leistungen insgesamt aus medizinischen Gründen oder die Ausdehnung der praktischen Ausbildung im ambu- wegen einer Häufung von schwer kranken Patienten mit lanten Bereich wird den modernen Herausforderungen dem Fallpauschalenkatalog noch nicht sachgerecht ver- an die Krankenpflege Rechnung getragen. gütet werden können. Ein Problem gibt es allerdings. Mit der Zusammen- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne führung der Krankenpflege- und der Kinderkrankenpfle- Kastner) geausbildung in den ersten Ausbildungsjahren – hier Schon im Hinblick auf den demographischen Fak- muss konsequenterweise auch die Altenpflegeausbil- tor werden Pflegekräfte in Zukunft mehr gebraucht denn dung mit einbezogen werden – wird der Weg in eine ein- je; Frau Staatssekretärin hat schon darauf hingewiesen. heitliche Grundausbildung für die Pflegeberufe einge- Die Herausforderungen, die sich aus dem demographi- schlagen. In der Anhörung ist die berechtigte Frage schen Faktor ergeben, sind so groß, dass sie durch dieses aufgeworfen worden, inwieweit damit den diversifizier- Gesetz wohl kaum gemeistert werden können. Es bedarf ten Anforderungen an die einzelnen Berufsbilder Rech- eines grundlegend neuen Reformkurses. Sonst laufen nung getragen wird. Die Fachverbände sind hier sehr un- wir in einen Pflegenotstand und nicht zuletzt in einen terschiedlicher Meinung. Ich finde, wir sollten den heute Versorgungsnotstand, dessen Dramatik wir alle nicht igno- eingeschlagenen Weg auf jeden Fall nach einem be- rieren sollten. stimmten Erfahrungszeitraum kritisch überprüfen. (B) (Beifall bei der FDP) (D) Ein weiteres Manko des Gesetzentwurfes ist bereits angesprochen worden, nämlich die Regelung der Ich hoffe, Frau Staatssekretärin, dass Sie dies bei Ihrer Finanzierung des entstehenden Mehraufwandes. Vor al- angekündigten Gesundheitsreform mit bedenken. lem die Ausbildung in ambulanten Einrichtungen außer- halb der Krankenhäuser muss von diesen selbst geschul- Wenn man auf die Ergebnisse der Rürup-Kommis- tert werden. Der Gesetzentwurf sieht eine Anhebung des sion, die gestern vorgestellt wurden, schaut Stellenschlüssels vor, der die Krankenkassen mit (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das war eine 100 Millionen Euro zusätzlich belastet. Die Kranken- Lachnummer!) häuser bezweifeln, dass diese Summe reichen wird. Wir können nur hoffen, dass diese neuen finanziellen und lo- und wenn man die persönliche Bewertung der Gesund- gistischen Belastungen sie nicht dazu veranlassen, sich heitsministerin hört, dann muss man sagen, dass nichts aus der Krankenpflegeausbildung immer stärker zurück- Gutes zu erwarten ist. Mit dem Y-Modell wird der Öf- zuziehen. Auch diese Entwicklung müssen wir sorgfältig fentlichkeit ein X für ein U vorgemacht, verfolgen und zu gegebener Zeit wieder auf den Prüf- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aktenzeichen stand stellen. Eine bessere Ausbildung nutzt wenig, XY ungelöst!) wenn Ausbildungsplätze gestrichen werden. frei nach Goethes Faust: Da steh ich nun, ich armer Tor, Es ist auch stark zu bezweifeln, liebe Kolleginnen und und bin so klug als wie zuvor. Kollegen von Rot-Grün, ob Sie mit dem Gesetz Ihre Zielvorgabe einer Steigerung der Attraktivität der Pfle- (Klaus Kirschner [SPD]: Selbsterkenntnis! – geberufe erreichen werden. Das verlangt nämlich mehr Heiterkeit bei der SPD – Wolfgang Zöller als eine Ausbildungsreform oder eine Namensänderung [CDU/CSU]: Er freut sich so, dass das nichts von der heute offensichtlich nicht mehr geliebten Be- geworden ist!) zeichnung „Schwester“ hin zu „Pflegerin“ und auch mehr als einen zusätzlich eingebrachten Entschließungs- – Herr Kirschner, es fehlt allen Beteiligten offensichtlich antrag, der beabsichtigt, die akademische Weiterqualifi- der Mut zierung zu fördern. Es verlangt vor allem, Frau Staats- (Gudrun Scheich-Walch [SPD]: Wir hätten es sekretärin – da reichen Appelle nicht aus –, die nie gewagt, Sie als Tor zu bezeichnen!) Arbeitsbedingungen für die Pflegeberufe und die medi- zinischen Berufe in den Krankenhäusern zu verbessern. – darin müssten wir uns eigentlich einig sein –, an- Qualifikation ist das eine, die Stationen mit ausreichend stelle eines Sammelsuriums von faulen professoralen 3300 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Detlef Parr (A) Kompromissformeln eine wirklich nachhaltige und in mehr Koordinierung und Kooperation, aber auch mehr (C) sich geschlossene Konzeption vorzulegen. Beratung und Anleitung aller an der Pflege Beteiligten erreichen. Wir wollten ferner die Gestaltung von ver- (Erika Latz [SPD]: War das jetzt die Selbst- netzten pflegerischen Prozessen in Angriff nehmen, und erkenntnis?) zwar auf den unterschiedlichsten Ebenen. Deshalb bin Meine Damen und Herren von Rot-Grün, mit einem sol- auch ich froh – ich betone das ebenso –, dass wir diesen chen Verhalten wird seit Jahren Chance um Chance ver- Gesetzentwurf fraktionsübergreifend sehr sachlich und spielt. Es muss endlich eine klare, grundsätzliche Kurs- immer zielorientiert beraten haben. entscheidung geben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Erika Latz [SPD]: Das machen wir schon!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Detlef Parr [FDP]: Das lag an der Federfüh- Man darf sich nicht mit dem Y-Modell aus der Verant- rung, Frau Kollegin!) wortung stehlen. Es darf sich niemand mehr in diesem Hause vor klaren und reformfreudigen Positionen drü- – Vielen Dank, Herr Kollege Parr. cken. Lassen Sie mich ein paar wichtige Punkte der Reform (Erika Lotz [SPD]: Wir drücken uns nicht!) genauer betrachten. Zunächst etwas zum Ausbildungs- Ich hoffe, dass die Diskussion im Mai/Juni zu einem ziel und zur Neufassung: Der neue Ansatz in der Pflege guten Ergebnis führen wird, das genauso gut ist wie das unterstreicht, wie schon Frau Selg sagte, den präventi- Gesetz, das wir heute verabschieden. Es wäre schön, Sie ven, gesundheitsfördernden, rehabilitativen und palliati- würden häufiger Gesetzentwürfe einbringen, denen wir ven Anspruch als wichtige Aspekte einer ganzheitlich zustimmen können. ausgerichteten Pflege. Wichtige Erkenntnisse der Pflege- wissenschaft haben Einzug in die Ausbildung gehalten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Der eigenständige Bereich der Pflege wird explizit be- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- tont. NISSES 90/DIE GRÜNEN – Erika Lotz [SPD]: Da müsst ihr auch mitspielen! Damit wird nicht nur den stark veränderten Rahmen- bedingungen in der Pflege Rechnung getragen. Vielmehr Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wird damit auch das eigene Berufsverständnis vieler Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger umgesetzt, die Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Margrit ihre Aufgabe längst nicht mehr allein auf den kurativen Spielmann, SPD-Fraktion. Aspekt begrenzt sehen. Krankenpflegerinnen und -pfle- (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – ger nehmen schon jetzt ihre Rolle zum Beispiel als (D) Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Frau Berater und Anleiter von Patienten und Angehörigen Spielmann, bei den Kindern müssen wir auch wahr. Sie sind Organisator bei der Gestaltung der pflege- noch etwas gemeinsam machen! – Werner rischen Arbeit und des gesamten pflegerischen Pro- Lensing [CDU/CSU]: Das ist doppeldeutig!) zesses. Die neue Berufsbezeichnung „Gesundheits- und Dr. Margrit Spielmann (SPD): Krankenpfleger“ macht diese Neuausrichtung, so mei- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nen wir, auch nach außen hin deutlich. Ich hoffe sehr, Kollegen! Meine Damen und Herren! Auch ich und mit dass sich diese Bezeichnung, auch wenn sie zugegebe- mir meine Fraktion sind natürlich froh, dass wir heute nermaßen ziemlich lang ist, schnell durchsetzen wird. die Neuordnung der Krankenpflegeberufe beschließen. Denn ich bin sicher, dass es damit leichter sein wird, die Mit dieser Neuordnung beschreiten wir – das wurde Neuausrichtung nach allen Seiten hin deutlich zu ma- schon gesagt – einen Weg zu mehr Qualität und zu der chen. unbedingt notwendigen Anpassung der Krankenpflege- ausbildung an die heutige Pflegewirklichkeit. Dies ist (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE angesichts der immensen Bedeutung, die der Gesund- GRÜNEN und der FDP) heits- und Krankenpflege in unserer Gesellschaft zu- Wir brauchen selbstbewusste Gesundheits- und Kran- kommt, von besonderer Dringlichkeit. Ich sage auch: Es kenpflegerinnen und -pfleger, die ihren Beruf eigenver- ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. antwortlich, selbstständig und in guter Zusammenarbeit Ich möchte zu Beginn einen Dank an all jene ausspre- mit einem oftmals multiprofessionellen Team ausführen chen, die sich in besonderer Weise für diese Neuordnung können. Dafür soll die Ausbildung den Weg bereiten. eingesetzt haben, die den großen Abstimmungsbedarf, den wir gemeinsam zu schultern hatten, stets mit Weit- Ich halte es für gut und richtig, dass wir weiterhin sicht vorbereitet und realisiert haben und die stets das zwei Berufsbilder mit unterschiedlichen Berufsbezeich- Ziel im Auge hatten, eine praktikable Novellierung der nungen für die allgemeine Krankenpflege und die Kin- Krankenpflegeberufe auf den Tisch zu legen. derkrankenpflege haben. Die Ausbildung sieht künftig – darauf wurde schon hingewiesen – einen gemeinsamen Wir wollten – darauf konzentrierte sich unser gemein- Teil mit anschließender Differenzierungsphase vor. So sames Handeln – mehr berufliche Handlungskompetenz können wir weiterhin den ganz speziellen Anforderun- im Sinne von prozesshafter und zielgerichteter Pflege, gen, die an die zukünftigen Gesundheits- und Kinder- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3301

Dr. Margrit Spielmann (A) krankenpflegerinnen und -pfleger gestellt werden, ge- Man sollte über die in der Tat oftmals schlechte (C) recht werden. finanzielle Ausstattung noch einmal beraten. Deshalb möchte ich einen Appell an die Zuständigen in den Län- Ich halte die Aufrechterhaltung der Differenzierung dern richten: Nur gemeinsam können wir es schaffen, der Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger gerade vor genügend motivierten Nachwuchs für den Beruf zum dem Hintergrund unserer Forderung nach einer guten, Gesundheits- und Krankenpfleger heranzuziehen. Es ist kindgerechten medizinischen Betreuung im ambulanten, wichtig, Herr Parr, dass die Länder die Attraktivität der im rehabilitativen, aber auch im palliativen Bereich für Krankenpflegeberufe auch dadurch steigern, dass sie für besonders wichtig. Die Pflege und Versorgung kranker ausgebildete Pflegefachkräfte ohne Hochschulreife den Kinder bedarf einer speziellen Ausbildung. Zugang zu Pflegestudiengängen auf Hoch- und Fach- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hochschulebene ermöglichen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie bedarf aber auch vor dem Hintergrund unseres An- DIE GRÜNEN – Werner Lensing [CDU/ trages im vergangenen Jahr in Zukunft unserer Aufmerk- CSU]: Sehr gut!) samkeit und der Formulierung entsprechender gesund- heitspolitischer Ziele zur Verbesserung der Versorgung Weiterhin sollte durch ergänzende Bildungsangebote von Kindern und Jugendlichen auf den unterschiedlichs- die Chance eröffnet werden, die Fachhochschulreife ten Ebenen. während der Ausbildung zu erwerben. Das ist übrigens auch ein ausdrücklicher Wunsch der Pflegeverbände. Im vorliegenden Gesetzentwurf, Herr Parr, sind Modellklauseln vorgesehen, sodass generalistische Die beste Gewähr – das haben wir vielleicht alle am Ausbildungsmodelle durchaus erprobt werden können eigenen Leib gespürt – und sozusagen das Fundament und auch sollen. An weitergehende Reformen der Pfle- für eine erfolgreiche pflegerische Versorgung ist eine geberufe gerade auch im Hinblick auf eine europarecht- gute qualifizierte Ausbildung. Ich bin zuversichtlich, liche Angleichung ist damit sehr wohl gedacht. Wir kön- dass die Novellierung, die wir heute besprechen, genau nen diese Reformen somit in Angriff nehmen, sollten dazu beitragen wird. Packen wir es an! Ich hoffe, wir tun aber zunächst ausreichend Erfahrungen mit diesem Ge- es gemeinsam. Herzlichen Dank für den konstruktiven setz sammeln und vor allen Dingen die Neuregelungen Dialog zu diesem Gesetz. im Altenpflegegesetz genauer betrachten. Vielen Dank. Durch die Novellierung der Krankenpflegeaus- (Beifall im ganzen Hause) bildung wird vorgesehen – auch dies sagte die Staats- sekretärin schon sehr differenziert –, dass ein Teil der (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D) Ausbildung außerhalb des Krankenhauses in ambu- lanten, teilstationären und stationären Pflegeeinrichtun- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege gen oder in Rehabilitationseinrichtungen durchgeführt Werner Lensing, CDU/CSU-Fraktion. wird. Damit wird für die angehenden Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger die Möglichkeit ge- Werner Lensing (CDU/CSU): schaffen, während ihrer Ausbildung umfassende Kennt- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nisse und Erfahrungen sowohl in der Prävention und Herren! Wer von Ihnen kennt nicht die viel zitierte und der Rehabilitation als auch in der palliativen Medizin zu dem Philosophen Arthur Schopenhauer zugeschriebene sammeln. Aussage und korrekte Feststellung: Der ganzheitliche Ansatz der Pflege wird mit dem Die Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Ge- Ausbildungseinsatz in den unterschiedlichsten Gesund- sundheit ist alles nichts. heitseinrichtungen unterstrichen. Hier, so meine ich, be- darf es sicher eines guten Abstimmungsprozesses zwi- Ich denke, vor dem Hintergrund dieser Lebenserfah- schen allen an der Ausbildung Beteiligten. Pflege leistet rung offenbart sich die besondere Aufgabe derjenigen, damit – ich denke, das ist etwas ganz Wichtiges – einen die sich um Kranke und Schwache sorgen. Diese han- wesentlichen Beitrag zur Vernetzung von Gesundheits- deln zumindest nicht nur aus beruflichen Gründen, son- einrichtungen. Der Ausbildungseinsatz im ambulanten dern vornehmlich aus Gründen der eigenen Berufung. Bereich ist auch deshalb so immens wichtig, da wir in Schon deswegen haben diese unsere volle Aufmerk- diesem Bereich weiterhin einen steigenden Bedarf an samkeit und Unterstützung bei der Vorbereitung und professionellen Gesundheits- und Krankenpflegern ha- Ausbildung ihrer schwierigen Tätigkeit verdient. Infol- ben. Viele Menschen in diesem Land könnten heute ohne gedessen muss es eine zwingende und unverwechselbare professionelle Unterstützung durch Krankenpflegerin- Aufgabe der Politik sein, einen eigenen Anteil zu einer nen oder Krankenpfleger nicht mehr in den eigenen vier Qualitätsverbesserung der Ausbildung sowie zu einer Wänden wohnen. Die ambulanten Pflegedienste leisten gesteigerten Attraktivität der pflegerischen Berufe ein- dort einen unermesslich großen Beitrag zur Erhaltung zubringen. der Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehöri- gen. Das möchte ich hier noch einmal betonen und ihnen Daher teile ich die Auffassung vieler, nach der das unsere Hochachtung dafür aussprechen. Krankenpflegerecht an die veränderten Verhältnisse anzupassen ist. Das gilt besonders mit Blick auf die (Beifall im ganzen Hause) Tatsache, Pflegeleistungen nicht mehr nur auf die 3302 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Werner Lensing (A) Krankenhäuser zu konzentrieren, sondern zunehmend Weg der dualen Ausbildung nicht sofort eine Ausbildung (C) auch auf den ambulanten Bereich und die häusliche zur Pflegerin bzw. zum Pfleger beginnen können? Pflege auszudehnen. Kranke hingebungsvoll und verantwortlich pflegen zu können ist nicht allein an ein hohes theoretisches Wis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sen, sondern vor allem an die soziale Kompetenz und die Ich befürworte die Differenzierung der Pflege- Zuverlässigkeit eines jeden gebunden. ausbildung in einen allgemeinen Teil und in eine Diffe- Ich fordere deshalb: Schneiden wir endlich den alten renzierungsphase, in der die praktische und schulische Zopf ab, der seit mindestens einer Generation geflochten Ausbildung auf die Abschlüsse in den einzelnen Berufs- wird, und lassen Sie uns für die Krankenschwestern und feldern hin spezialisiert wird. Das ist heute schon zu Krankenpfleger einen wirklich attraktiven Weg zur Recht angeklungen. beruflichen Weiterqualifizierung finden. Dazu gehört Dies darf aber nicht zu einer generalisierten Ausbil- auch, über die Frage nachzudenken: Warum sollte eine dung führen, im Gegenteil: Auf eine Basisausbildung, erfahrene OP-Schwester nicht die direkte Zulassung zu welche die Pflege von Menschen aller Altersklassen und einem Medizinstudium erhalten? Sie weiß doch am Versorgungsbereiche umfasst, sollten Stufen folgen, die ehesten, was sie im Studium zu erwarten hat. ein solides Wissen – natürlich auf dem Stand der neues- Die Durchlässigkeit, die es in anderen Berufen schon ten Forschung – in den speziellen Fachbereichen vermit- längst gibt, muss auch endlich in den Kranken- und Pfle- teln. Wir begrüßen seitens der CDU/CSU, dass an dem geberufen Einzug halten, zumal die Pflegeberufe über Grundsatz festgehalten wird, die Ausbildung praxisnah ein enormes Zukunftspotenzial verfügen. durchzuführen. Mein Fazit: Als richtungsweisend erachte ich persönlich die Eta- blierung einer gegebenenfalls theoriegeminderten, ver- Erstens. Die gegenwärtigen Reformbestrebungen sind kürzten Ausbildungsform in der Krankenpflege. Hät- durchaus geeignet, die Struktur der Krankenpflegeschu- ten wir für unsere dualen Ausbildungsberufe ein len und der sonstigen Schulen für Gesundheitsfachbe- modulares System, könnten wir etwa 100 000 mehr rufe zu verbessern. praktisch begabten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz verschaffen. Zweitens. Noch immer fehlt der mutige Schritt, einge- fahrene Wege zu verlassen und das Berufsfeld der Kran- Die Ausbildung in den Gesundheitsberufen ist selbst- kenpflege für die Schwestern und Pfleger dynamischer verständlich eine berufliche Ausbildung. Die Standards und durchlässiger zu gestalten. der Ausbildung an Krankenpflegeschulen sollten des- (B) halb auch den Anforderungen entsprechen, die an die be- Drittens. Nur durch ein vielfältiges Angebot an Mög- (D) rufliche Bildung gestellt werden, unter anderem im Hin- lichkeiten zur Fort- und Weiterbildung kann aus dem blick auf die Einbeziehung allgemeinbildender Fächer Einstieg in die Pflegetätigkeit ein Start in die gesund- und der Sprachen. Das gilt nicht zuletzt für alle Lehre- heitsberufliche Karriere werden. rinnen und Lehrer, die nach der Rahmenverordnung Ich danke Ihnen. der Kultusministerkonferenz und nach den Prüfungsord- nungen für Lehrer in den einzelnen Ländern auszubilden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sind. Ein wesentlicher Punkt sollte dabei sein, dass der bei Abgeordneten der SPD) allgemein bildende und der fachtheoretische Unterricht durch Lehrkräfte mit Universitätsabschluss der entspre- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chenden Fachrichtung zu sichern sind. Ich schließe die Aussprache. Überdies erscheint es sinnvoll, Ausbildungsver- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- bünde herzustellen, in denen eine Krankenpflegeschule desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über für mehrere Krankenhäuser zuständig ist, die dann auch die Berufe in der Krankenpflege sowie zur Änderung des die praktische Ausbildung übernehmen. Die Zentralisie- Krankenhausfinanzierungsgesetzes, Drucksache 15/13. rung der schulischen Ausbildung könnte dazu beitragen, Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Schulgrößen zu schaffen, die den effizienten und sinn- empfiehlt unter Nummer 1 seiner Beschlussempfehlung vollen Einsatz von Lehrkräften zulassen. Bekanntlich ar- auf Drucksache 15/804, den Gesetzentwurf in der Aus- beiten größere Schulen wirtschaftlicher. Die Zuständig- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die keit solcher Schulen für mehrere Krankenhäuser kann dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen durch eine Rotation der Auszubildenden Probleme ver- wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- meiden helfen, die sich in der praktischen Ausbildung haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- aus der zunehmenden Spezialisierung der Krankenhäu- ratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- ser ergeben könnten. In den neuen Bundesländern sind men. solche zentralen Ausbildungsverbünde in der Praxis be- reits erprobt. Dritte Beratung Frau Staatssekretärin, ich möchte auch erwähnen, wo und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- wir bei aller Übereinstimmung auch Nachteile erkennen. setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Ich frage daher: Wieso sollte ein junger Mensch mit stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Hauptschulabschluss in Anlehnung an den anerkannten ist mit demselben Stimmenergebnis angenommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3303

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Unter Nummer 2 seiner Beschlussempfehlung auf nern gemäß ihren Kapitalanteilen getroffen werden und (C) Drucksache 5/804 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- von sonst niemandem. schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- Wir sollten hier nicht den Fehler begehen, die Festle- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei gung von langfristigen gesetzlichen Rahmenbedingun- Enthaltung der CDU/CSU und der FDP angenommen. gen von derzeitigen oder kurz- bzw. mittelfristigen Marktverhältnissen abhängig zu machen. Vielmehr stellt Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: eine vernünftige Regelung in diesem Bereich eine Maß- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten nahme dar, die zur Überwindung der derzeitigen Kapi- Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Veronika talmarktschwäche beitragen kann. Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Beifall bei der CDU/CSU) tion der CDU/CSU Vor diesem Hintergrund ist der von der EU-Kommission Abschluss der europäischen Übernahmericht- präsentierte Vorschlag zur Regelung öffentlicher Über- linie anstreben nahmeangebote zu bewerten und zu kritisieren. – Drucksache 15/539 – Bevor ich auf die im Entwurf enthaltenen Punkte im Überweisungsvorschlag: Detail eingehe, scheint mir wichtig, noch einmal klarzu- Finanzausschuss (f) stellen, dass sich die geplante Richtlinie lediglich auf Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit privatrechtliche Übernahmehindernisse bezieht und Fra- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gen zum niedersächsischen VW-Gesetz oder zu von Haushaltsausschuss staatlichen Stellen gehaltenen so genannten Goldenen b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Aktien – „golden shares“ – nicht Gegenstand dieser richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Richtlinie sind. Diese Fragen des öffentlichen Rechts der Unterrichtung durch die Bundesregierung sollen in Zukunft durch Vertragsverletzungsverfahren systematisch überprüft werden. In dieser Richtlinie wird Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen hierzu lediglich eine öffentliche Verlautbarung entspre- Parlaments und des Rates betreffend Über- chender Rechte gefordert. nahmeangebote Nun aber zu der Frage, die für die Beurteilung des KOM (2002) 534 endg.; Ratsdok. 12846/02 Richtlinienvorschlags entscheidend ist: Würde eine Um- – Drucksachen 15/339 Nr. 2.7, 15/606 – setzung des Richtlinienentwurfs im Falle öffentlicher Übernahmeangebote gleiche Voraussetzungen für alle (B) Berichterstattung: Unternehmen in der Europäischen Union schaffen? Zur (D) Abgeordnete Reinhard Schulz (Everswinkel) Beantwortung dieser Frage darf ich die Bundesregierung Leo Dautzenberg zitieren: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Der Kommissionsvorschlag der Übernahmerichtli- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich nie wird in seiner jetzigen Fassung dem Anspruch, höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ein einheitliches „level playing field“ und damit Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, nicht Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion. gerecht. So äußerte sich das Bundesministerium der Finanzen Leo Dautzenberg (CDU/CSU): in seinen Stellungnahmen sowohl dem Finanzausschuss Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die des Deutschen Bundestages als auch den deutschen Ab- Schaffung eines gemeinsamen europäischen Kapital- geordneten im Europäischen Parlament gegenüber. marktes ist in diesem Hause und auch in anderen euro- Diese Meinung wird in der Beschlussempfehlung des päischen Parlamenten ein fraktionsübergreifendes Ziel. Finanzausschusses auf Drucksache 15/606 bekräftigt. Nur wenn wir dieses Ziel erreichen, können wir das Po- Auch der Antrag von CDU/CSU – Drucksache 15/539 – tenzial der Wirtschafts- und Währungsunion voll aus- unterstützt ausdrücklich diese Haltung. schöpfen und damit die Dynamik der europäischen und Einigkeit zwischen den Fraktionen besteht nicht nur vor allem der deutschen Wirtschaft stärken. in der Beurteilung, sondern auch in der Begründung der- Uns allen ist klar, dass die Beseitigung von privat- selben. Der Knackpunkt aus deutscher Sicht ist – auf- rechtlichen Übernahmehindernissen ein wesentlicher grund des interfraktionellen Konsens in dieser Frage Teil dieser Bemühungen zur Vervollständigung des EU- muss ich das nicht weiter ausführen –, dass die im deut- Binnenmarktes ist. Der neudeutsche Begriff des so ge- schen Unternehmensrecht vorgesehenen Schutzmecha- nannten „level playing field“ beschreibt den Zustand, der nismen wie Vinkulierung oder Vorratsbeschlüsse ab- mit Blick auf das europäische Übernahmerecht unser geschafft werden sollen, während Schutzmechanismen, Ziel sein muss: gleiche Bedingungen für grenzüber- die in anderen Staaten üblich sind – ich nenne als Bei- schreitende Unternehmensübernahmen und Fusionen in spiel Mehrfachstimmrechte –, in Zukunft lediglich ei- Europa, unabhängig vom Herkunftsland der beteiligten nem Prüfauftrag unterzogen werden sollen. Dies wider- Unternehmen. Schlussendlich muss die Entscheidung spricht dem angestrebten Ziel, einen einheitlichen über ein Übernahmeangebot immer von den Anteilseig- Rechtsrahmen herzustellen. 3304 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Leo Dautzenberg (A) Die Begründungen, die von der Kommission für diese als es sich die Staaten der EU mit dieser Richtlinie zu ge- (C) Ungleichheit vorgebracht werden, sind dabei alles an- ben gedenken. dere als überzeugend. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der CDU/CSU) des Abg. Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dies wird auch in anderen nationalen Parlamenten und im Europäischen Parlament so gesehen. Außerdem bin Die Richtlinie darf nur bei Unternehmen aus den Dritt- ich der Ansicht – ich denke, das trifft auf alle Mitglieder staaten Anwendung finden, die sich reziprok auch für des Hauses zu –, dass die Kommission die von deutscher Übernahmewünsche aus der EU öffnen. Diese Rezipro- Seite erbrachten Vorleistungen zu wenig honoriert hat. zität muss schon deswegen gegeben sein, damit es nicht so weit kommt, dass für unsere Unternehmen die Richt- Trotz all dieser Übereinstimmungen in den grundle- linie gilt, die Unternehmen aus den Drittstaaten aber genden Kritikpunkten hielten und halten wir die Be- nicht diese Übernahmevoraussetzungen haben. Im An- schlussempfehlung, die von den Vertretern von SPD und trag von Rot-Grün ist zu diesem Punkt nichts zu finden, Grünen im Finanzausschuss verabschiedet wurde, nicht sodass die Bundesregierung bei den anstehenden Ver- für zustimmungsfähig, und zwar aus zwei Gründen: handlungen auf EU-Ebene bisher nicht ihr volles Ge- Der erste Grund ist, dass die Empfehlung von Rot- wicht einbringen konnte, da ihr die Unterstützung des Grün nicht den Stand der Verhandlungen berücksichtigt, gesamten Hauses in diesem Punkt fehlt. der zwischen Vertretern der Kommission auf der einen (Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und des Europäischen Parlaments auf der anderen Seite NEN]: Lesen Sie doch einmal den Schluss- seit Vorstellung des Richtlinienentwurfs erreicht wurde. satz!) Dieser Annäherungsprozess zwischen Parlament und Kommission in dieser Frage ist übrigens eminent wich- Ebenso wenig beziehen sich SPD und Grüne in ihrer tig. Das hat uns die Erfahrung aus dem Jahr 2001 ge- Empfehlung auf sonstige strittige Detailfragen. Aber lehrt, als die damals formulierte Übernahmerichtlinie im vielleicht haben Sie bei Abfassung des Antrags den Europäischen Parlament ganz knapp abgelehnt wurde. Richtlinienentwurf noch nicht richtig gelesen. So ist bei- Deshalb sollten wir als Deutscher Bundestag unseren spielsweise die von der Kommission vorgeschlagene Re- Beitrag zu dieser Annäherung leisten, indem wir die gelung über die Bestimmung der bei grenzüberschreiten- Kommission in die richtige Richtung lenken. den Übernahmen zuständigen Aufsichtsbehörde viel zu kompliziert. Hier gilt es, eine Regelung zu finden, nach Der zuständige Kommissar Bolkestein ist mittler- der das Unternehmen des Ziellandes der Aufsicht unter- weile offensichtlich dazu bereit, auch die in anderen liegt. (B) Staaten üblichen Übernahmehemmnisse in die Richtlinie (D) einzubeziehen. Wie der Berichterstatter im Europäischen Darüber hinaus ist die Preisreferenzperiode, die in der Parlament, der Kollege Klaus-Heiner Lehne, geäußert Richtlinie vorgesehen ist, viel zu lang. Es kann nicht hat, sollen nach einer Übergangsfrist bis 2010 nur noch sein, dass Durchschnittspreise für eine zu lange Zeit- so genannte Doppelstimmrechte erhalten bleiben. Wie achse ermittelt werden, wodurch gewisse Gegebenheiten Sie an der Jahreszahl sehen, ist die Beschlussempfehlung nicht widergespiegelt werden. Wenn wir die momentane von Rot-Grün – sie geht vom Jahr 2008 aus – in diesem Phase betrachten, dann wissen wir, dass eine viel zu Punkt nicht auf dem neuesten Stand. lange Referenzperiode für bestimmte Übernahmen schädlich wäre. (Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie sind es auch nicht! Es ändert sich Diese Liste der Detailfragen ließe sich bis hin zur nämlich täglich!) Frage des Squeeze-out, also der Abfindung von Kleinak- tionären, zu der Sie nichts gesagt haben, fortsetzen. Von Wir würden uns jedoch freuen, wenn Sie diesbezüglich daher ist unser Antrag, der bei diesen Verhandlungen hellseherische Fähigkeiten gezeigt haben und es zu einer eine Grundlage und Unterstützung für die Bundesregie- Verkürzung des Zeitraums kommt. rung darstellt, weiter gehend und konkreter. Deshalb darf Unser Antrag unterstützt in diesem Punkt die Position ich Sie bitten, unserem Antrag zuzustimmen. des Europäischen Parlaments. Mit ihm erhöhen wir den Vielen Dank. Druck auf alle Seiten – insbesondere auf die Kommis- sion –, sich stärker hin zu einem echten „level playing (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) field“ zu bewegen. Der zweite Grund, der gegen die Empfehlung von Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: SPD und Grünen, aber für unseren Antrag spricht, be- Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Schultz, steht darin, dass unser Papier auch auf Punkte eingeht, SPD-Fraktion. die jenseits der Problematik des „level playing field“ zu (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ich hoffe, er kritisieren und zu klären sind. Dementsprechend sind hat mich verstanden!) wir der Auffassung, dass ein Beschluss des Deutschen Bundestages die Bundesregierung in ihrem berechtigten Anliegen unterstützen muss, europäische Unternehmen Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): vor Übernahmen aus solchen Drittstaaten zu schützen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die ein weit weniger liberales Übernahmerecht haben, Lieber Leo Dautzenberg, ich habe dich sehr wohl ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3305

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) standen. Das Wichtigste an deiner Botschaft war, dass denn oft sind damit erworbene Eigentumsrechte verbun- (C) wir auch vor dem Hintergrund globaler Entwicklungen den, die sich im Preis niedergeschlagen haben. und unabhängig davon, dass es zwei verschiedene Texte zur Abstimmung gibt, beim europäischen Übernahme- Ich könnte Ihnen zig Beispiele von internationalen recht – ein wichtiges Thema – relativ nah beieinander und nationalen Unternehmensübergängen aus jüngster sind; dies war bereits im Ausschuss erkennbar. Insofern Zeit aufzeigen, bei denen die Preisfindung nicht zuletzt denke ich, dass das, was der Bundestag mit seinem Ge- auch davon abhing, welche Rolle der dann verbliebene wicht in die Waagschale wirft, in der Sache Unterstüt- Minderheitseigner unternehmerisch spielen konnte. zung findet. Das wird auf der europäischen Ebene auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) so ankommen. Ein anderer wichtiger Punkt ist – darin sind wir uns Natürlich bedeutet die Richtlinie im Hinblick auf völlig einig –, dass nicht innerhalb von Europa Spielre- mögliche feindliche Übernahmen einen großen Fort- geln geschaffen werden sollten, die die Bestimmungen in schritt. Die Regelungen zu öffentlichen Übernahmean- Deutschland, die sich traditionell aus Unternehmenssat- geboten, wesentlichen Dingen des Minderheitenschutzes zungen entwickelt haben oder aber durch den Bundestag und grundsätzlichen Fragen der Objektivierung der Be- beschlossen worden sind, außer Kraft setzen, während wertung von Minderheitenanteilen stellen positive An- zum Beispiel in Skandinavien oder Frankreich die Be- sätze dar. Die Bundesregierung hat sich in diesen Fragen stimmungen ungeschmälert erhalten bleiben. Wenn zum gut positioniert. Beispiel die Richtlinie nach dem neuesten Stand in Kraft Wir sind nicht grundsätzlich gegen grenzüberschrei- gesetzt würde, dann würde eine Wagenburg aus nationa- tende Übernahmen. lem Recht und selbst geschaffenem Unternehmensrecht in einigen Ländern geradezu zementiert, während bei uns (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die können Mauern abgerissen würden, wodurch Unternehmens- Sie auch nicht verhindern!) übergänge erleichtert würden. Wir wollen innerhalb Europas ein faire Situation. Wir sind im Gegenteil dafür, dass die Übernahme von Unternehmen, also der Kauf und Verkauf von Unterneh- Es geht aber natürlich nicht nur um Europa; darauf men und Unternehmensanteilen, erleichtert wird. Das werden auch die Redner nach mir hinweisen. In der Ver- haben wir durch ein modernes Unternehmensteuerrecht, gangenheit gab es eine Reihe von interessanten Unter- durch das der steuerfreie Übergang einer Unternehmens- nehmensübergängen, insbesondere zwischen den Verei- beteiligung auf ein anderes Unternehmen ermöglicht nigten Staaten und Europa bzw. Deutschland. Das wird, nachgewiesen. Übernahmerecht in den Vereinigten Staaten ist relativ (B) (D) Es stellt sich letztendlich die Frage, wie dies im inter- starr. Amerikanische Unternehmen werden geschützt. nationalen Verkehr gestaltet wird. Es geht nicht darum, Ein amerikanisches Management, das sich gut positio- wie man die Änderungen der Beherrschungs- und niert, kann durch Vorgänge auf dem Kapitalmarkt nicht Machtverhältnisse, die mit einer Veränderung der An- in eine Lage gebracht werden, in der es zu einer feindli- teilsmehrheit verbunden sind, politisch bewertet, son- chen Übernahme kommen könnte. Das ist nicht gut. dern es geht darum, ob Minderheitsaktionäre generell (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wieso hat es geschädigt werden oder ob durch die mangelnde Trans- dann welche gegeben?) parenz ein weiterer politischer Schaden entsteht. Inso- fern geht es uns nicht um die Verteidigung von Besitz- – Natürlich hat es welche gegeben, aber es waren keine ständen, die sich in Unternehmenssatzungen und von feindlichen Übernahmen. Die großen Unternehmens- mir aus auch in das Aktienrecht oder in andere Rechts- übergänge, die zum Beispiel deutsche Unternehmen in felder eingeschlichen haben. Uns geht es ausschließlich Amerika zustande gebracht haben, waren vielleicht im darum, dass man vernünftig bewertet, wie Unterneh- Ergebnis für einige Beteiligte nicht sehr freundlich – ich mensübergänge zustande kommen. erinnere an das Beispiel Chrysler –, aber es waren freund- schaftlich ausgehandelte Übergänge. Dazu bedurfte es Dabei sind natürlich auch Rechtsgüter gegeneinander keiner Verteidigungsmechanismen. Eine feindliche Über- abzuwägen. Wenn ein bisheriger Mehrheitsaktionär nahme gegen den Willen des Managements ist in den Ver- seine Mehrheit verkauft und sich auf eine qualifizierte einigten Staaten praktisch nicht möglich. Minderheitsposition zurückzieht – „qualifiziert“ heißt, dass er aus guten Gründen selbst Unternehmer bleibt –, Ein europäisches Übernahmerecht aber, das letztend- kann ein Vertrag darüber abgeschlossen werden, wie die lich für alle und international gilt, wäre ein Einfallstor neue Mehrheit mit ihrer Mehrheit umzugehen hat und für diejenigen, die sich außerhalb der EU hinter nationa- welche Sonderrechte die Minderheit hat. Dies ist ein völ- lem Recht verschanzt haben, um hier beliebig einzufal- lig freier Vertrag, der, wenn Restriktionen damit verbun- len. Insofern, lieber Herr Dautzenberg, ist natürlich der den sind, in der Regel sogar Einfluss auf den Kaufpreis Hinweis völlig richtig, dass wir Reziprozität brauchen. hat, der für die Mehrheitsbeteiligung zu entrichten ist. Dies darf aber nicht nur bilateral der Fall sein; dafür ist Man kann nicht einfach blind sagen, dass jede Art einer das Thema zu komplex. Bevor eine solche Richtlinie in Stimmrechtsbeschränkung, einer Beschränkung des Kraft gesetzt wird, brauchen wir nicht nur auf europäi- Mehrheitsstimmrechts usw. immer automatisch damit scher Ebene, sondern auch auf globaler Ebene eine Har- verbunden ist, dass der freie Kapitalverkehr, die Nieder- monisierung des Übernahmerechts zwischen den wich- lassungsfreiheit oder was auch immer beschränkt ist; tigsten Industriestaaten innerhalb der OECD. 3306 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Das sind die Gründe, weswegen wir die Übernahme- kann. Wir, die FDP-Fraktion, sind jedenfalls sehr daran (C) richtlinie in der jetzigen Fassung nicht mittragen und uns interessiert, dass sich diese Übernahmemöglichkeiten er- auch gegen diesen Punkt besonders wehren. Wir können öffnen und sich die Chance bietet, unsere Unternehmen uns nicht auf sämtliche Details einlassen; denn das be- wettbewerbsfähig zu gestalten, auch gegenüber amerika- deutete für unseren Standort ein hohes Risiko. nischen und asiatischen Unternehmen, damit sie bei ei- nem rechtlichen Fairplay in Zukunft möglicherweise Vielen Dank. auch solche Unternehmen übernehmen können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herzlichen Dank. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Pinkwart, FDP-Fraktion. Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bünd- nis 90/Die Grünen. Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ausführungen meiner Vorredner haben gezeigt, dass das Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir disku- Thema Übernahme in der Darstellung immer mit Angst tieren im Prinzip über den nächsten Schritt im Zusam- und Schrecken verbunden ist. Dies gilt besonders in ei- menhang mit dem europäischen Binnenmarkt. Ein we- ner Situation, in der wir feststellen müssen, dass gerade sentlicher Schritt in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutsche Unternehmen erheblich unterbewertet sind. war die langsame Angleichung der Steuergesetzgebung. Dies stellt im Moment das wesentliche Übernahmepro- Ein weiterer wesentlicher Schritt war die Einführung des blem dar. Ich habe große Zweifel, ob das, was gestern im Euro. Vermittlungsausschuss vereinbart worden ist, einen Bei- Nun sind wir dabei, die Kapitalmärkte europaweit zu trag dazu leisten kann, dass dieses Problem entschärft harmonisieren. Auch das ist ein sehr wichtiger Schritt; wird. Im Gegenteil: Man muss befürchten, dass die deut- denn ich denke, gerade offene Kapitalmärkte tragen dazu schen Kapitalgesellschaften dadurch weiteren Schaden bei, dass die Unternehmenslandschaft mit dem notwen- nehmen und sich deren Unterbewertung fortsetzt. digen Kapital versorgt werden kann. Ohne Kapital kann (Beifall bei der FDP) nun einmal keine Volkswirtschaft funktionieren. Dabei geht es in starkem Maße darum, den deut- (B) Ansonsten aber haben Übernahmen nicht nur negative (D) Folgen, sondern können in positiver Hinsicht – wenn schen Aktienmarkt zu fördern, der in den vergange- wir unsere Unternehmen hinreichend wettbewerbsfähig nen Jahren bekanntlich enorm unter Druck geraten ist. machen, können wir das so interpretieren – neue Unter- Er ist stärker unter Druck geraten als beispielsweise der nehmenskonzepte, neue Ideen und frisches Kapital für US-amerikanische Kapitalmarkt. Ich erinnere nur da- die Unternehmen bedeuten. Damit wird im Ergebnis eine ran, dass der Dow Jones von 11 000 auf 8 000 Punkte Stärkung des Finanzplatzes erreicht. Hiervon können gefallen ist. Der DAX ist von 8 000 auf 2 500 – zeit- nicht nur die Unternehmensleitung und die Aktionäre weise sogar auf 2 000 – Punkte gefallen. der beteiligten Unternehmen, sondern natürlich auch die (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: So schnell wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Unternehmen die Regierung!) profitieren. Das heißt, der deutsche Aktienmarkt ist – das gilt auch Deshalb wäre es unserer Ansicht nach falsch, Über- für die anderen europäischen Aktienmärkte – nicht so nahmen staatlich zu regulieren oder gar rechtliche stabil wie die US-amerikanischen Märkte. Das hat seine Rahmenbedingungen zur Abwehr von Übernahmen, Gründe. Mehrfachstimmrechte oder Stimmrechtsbeschränkungen einzuführen; denn dies beeinträchtigt einen funktionie- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist richtig!) renden Finanzplatz. Aus diesem Grunde haben wir in der Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass dies schon ein- vorvergangenen Legislaturperiode mit dem KonTraG mal anders war, was die wenigsten wissen. 1914 beispiels- von 1997 konsequenterweise die Mehrfachstimmrechte weise hatte Deutschland mehr börsenorientierte Unter- beseitigt. Im Kontext der anstehenden Liberalisierung nehmen als die USA. Durch die Weltkriege ist zwar sehr auf diesem Gebiet in Europa ist es deshalb nur kon- viel Schaden entstanden, aber das gilt für ganz Europa. sequent, darauf hinzuwirken, dass bei Schaffung eines Wir müssen daran arbeiten, dass sich die gegenwärtige Si- einheitlichen europäischen Rahmens im Bereich der Un- tuation wieder bessert. Die großen Probleme vor allem der ternehmensübernahmen auch in anderen Ländern beste- kleinen und mittleren Unternehmen liegen schließlich vor hende Mehrfachstimmrechte unterbunden werden. allem in der Kapitalbeschaffung. Bundesdeutsche Unter- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Heinz nehmen sind heute zu einem großen Teil kreditfinanziert, Seiffert [CDU/CSU]) angelsächsische Unternehmen hingegen aktienfinanziert. Wir müssen die Aktienfinanzierung fördern. Das Gleiche gilt auch für die Reziprozität, die selbst- verständlich sein sollte, wenn in Europa ein einheitliches (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber die und sehr liberales Übernahmerecht ermöglicht werden Rahmenbedingungen fehlen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3307

Hubert Ulrich (A) Diese hängt im starken Maße mit der Freizügigkeit, zu- res Unternehmen einkauft, über einen längeren Zeitraum (C) mindest innerhalb der Europäischen Union, zusammen. einen Preis bilden muss, und zwar über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten. Das ist eine sehr vernünf- Wie bereits von allen anderen Rednern angesprochen tige, eine sehr gute Regelung, die mit dem heutigen deut- wurde, ist die Reziprozität sehr wichtig. Die US-ameri- schen Recht durchaus korrespondiert. kanischen Märkte sind völlig abgeschottet. Es geht nicht an, dass die europäischen Staaten ihre Märkte nach au- Damit sind wir beim Squeeze-out, dem zweiten ßen öffnen, während andere Staaten das unterlassen. Wie Schritt. Das bedeutet, dass durch diese von der EU vor- wir innerhalb Europas vorgehen, ist aber eine andere geschlagene Regelung insbesondere der deutsche Klein- Frage, um die es heute im Rahmen der europäischen aktionär einen fairen Marktpreis erhält. Genau das will Übernahmerichtlinie geht. Dabei vertreten die einzelnen die CDU/CSU konterkarieren. Es erschließt sich mir Nationalstaaten ihre speziellen Interessen. nicht, wohin Sie an dieser Stelle wollen. Was unser VW-Gesetz ist, sind in anderen Staaten die Das heißt – das wurde vom Kollegen von der SPD ge- Doppelstimmrechte. Dabei muss stark differenziert sagt –, dass die derzeitige Übernahmerichtlinie, die noch werden. Zum Beispiel dürfen die Mehrfachstimmrechte nicht dazu führt, dass wir in Europa wirklich gleiches in den skandinavischen Ländern nicht mit dem in Frank- Recht haben, von den Koalitionsfraktionen zu Recht ab- reich bestehenden Doppelstimmrecht gleichgesetzt wer- gelehnt wird. Sie wird so lange abgelehnt, bis wir wirk- den. Letzteres bedeutet nur, dass derjenige, der seine Ak- lich einen Vorschlag auf dem Tisch liegen haben, der in- tien länger als zwölf Monate hält, ein Doppelstimmrecht nerhalb der Europäischen Union gleiche Bedingungen erhält. Damit wird das Zocken an den Aktienmärkten ein für alle schafft. Dann kann die Koalition einer solchen wenig eingeschränkt. Vorgabe auch folgen. In Skandinavien – die Familie Wallenberg ist ein be- Vielen Dank. kanntes Beispiel – gibt es ein bis zu 40faches Stimm- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN recht. Das geht nicht an. Aber soweit mir bekannt ist, hat und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der die Europäische Union diese skandinavischen Mehrfach- CDU/CSU) stimmrechte inzwischen unterbunden. Um diese kann es deshalb nicht mehr gehen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir werden uns aber auch in Zukunft nur schwer ge- gen die Einführung dieser EU-Richtlinie wehren können. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär bei Ich nenne nur das Stichwort „Goldene Aktien“, die es der Bundesministerin der Justiz, Alfred Hartenbach. (B) heute noch in vielen europäischen Staaten gibt. In den (D) nächsten Jahren werden aber 99 Prozent dieser Aktien Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- verschwinden. Sie werden von der Kommission nur desministerin der Justiz: noch in einem sehr engen Rahmen zugelassen werden, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen zum Beispiel aus Gründen der nationalen Sicherheit. und Kollegen! Ich begrüße es, dass der Finanzausschuss Auch unser VW-Gesetz wird – das dürfte Ihnen bekannt mehrheitlich die Forderung der Bundesregierung stützt, sein – seit mehreren Wochen von der Europäischen und empfinde es als erfreulich, dass der Antrag der Kommission beklagt. Auch das wird fallen. CDU/CSU zumindest Flankenschutz gewährt. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ GRÜNEN]: Das werden wir verteidigen!) CSU]) Da müssen wir uns etwas einfallen lassen. Insofern wer- In ihren zentralen Forderungen stimmen beide Vorla- den wir uns in Deutschland Gedanken machen müssen, gen überein. Die künftige Übernahmerichtlinie muss wie wir unser Aktienrecht europäischem Niveau anglei- auch und gerade im Hinblick auf die Mehrstimmrechte chen. In diesem Zusammenhang muss man durchaus ein einheitliches Level Playing Field für Übernahmen über das französische System mit Doppelstimmrechten schaffen. Was meinen wir mit diesem Begriff? Es darf nachdenken. Denn dieses System scheint von der Kom- nicht sein, dass die Spielregeln für eine Übernahme in mission akzeptiert zu werden. Das wäre ein gewisser Er- den verschiedenen Staaten unterschiedlich bleiben. satz für das heutige VW-Gesetz. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!) Was mich aber am Antrag der CDU/CSU-Fraktion Diesem Ziel wurde der Kommissionsentwurf zur gewundert hat – das möchte ich schon einmal anspre- Übernahmerichtlinie vom vergangenen Herbst nicht ge- chen –, ist der vorletzte Punkt. Da geht es um die so ge- recht. Seine Umsetzung würde ungleiche Ausgangs- und nannte Preisreferenzperiode. Wenn ich ernst nehme, Wettbewerbsbedingungen für Unternehmensübernah- was hier steht, dann fordert die CDU/CSU, dass eine men in Europa schaffen. Durch die vorgesehene Rege- Übernahme zum geringsten Preis erfolgen soll, wenn es lung würden deutsche Unternehmen zum Verzicht auf zu einer feindlichen Übernahme kommt. Abwehrmöglichkeiten gegen feindliche Übernahmen ge- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein!) zwungen, während zugleich den Unternehmen anderer Mitgliedstaaten weiterhin gestattet wäre, sich durch – Doch, das steht da drin. Gerade die Preisreferenz- Mehrstimmrechte effektiv gegen solche Übernahmen ab- periode bedeutet ja, dass derjenige, der sich in ein ande- zuschotten. 3308 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Die Bundesregierung setzt sich bei den Verhandlun- die Volkswagenwerke aus dem Nichts und über viele (C) gen daher primär für eine echte europäische Harmoni- Jahre mit großem Einsatz aufgebaut. Dies sollte sich bei sierung ein. Auch Mehrstimmrechte müssen im Über- der Privatisierung widerspiegeln, und zwar in der Ein- nahmefall außer Kraft gesetzt werden können. Zugleich richtung einer Volkswagen-Stiftung, die dem Allgemein- sollte die Liberalisierung innerhalb von Europa aber Bie- wohl verpflichtet war und noch immer ist, sowie in der tern aus Drittstaaten, die selbst über wirkungsvolle Ab- Schaffung und Erhaltung der Volksaktie VW. Das ist der wehrinstrumente verfügen, nicht zugute kommen. Es Sinn der beanstandeten Regelung und das werden wir geht also auch um ein internationales Level Playing der Kommission mit Nachdruck verständlich machen. Field. Ich hoffe sowohl in diesem Bereich als auch bei unseren Bemühungen um eine faire Übernahmerichtlinie auf die Unseren Bemühungen war leider nicht sofort Erfolg volle Unterstützung dieses Hauses. beschieden. Inzwischen hat die amtierende griechische Präsidentschaft aber erfreulicherweise den Gedanken ei- Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben, und ner echten Harmonisierung aufgegriffen und in einem wünsche uns weiterhin gute Beratungen. neuen Vorschlag die Berücksichtigung der Mehrstimm- Vielen Dank. rechte vorgeschlagen. Auch andere Mitgliedstaaten be- grüßen diesen Vorschlag der Präsidentschaft genauso (Beifall im ganzen Hause) wie wir. Auch die Kommission und maßgebliche Stim- men im Europäischen Parlament stützen diesen griechi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schen Vorschlag. Nächster Redner ist der Kollege Stefan Müller, CDU/ Auf deutlichen Widerstand stößt der neue Ansatz al- CSU-Fraktion. lerdings bei den skandinavischen Ländern, weil gerade dort Mehrstimmrechte weit verbreitet sind. Nun hat al- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): lerdings die Präsidentschaft angesichts der im Übrigen Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Es gibt derzeit im großen Zustimmung erkennen lassen, dass sie gewillt ist, Wirtschaftsgebiet der Europäischen Union noch immer ihrem Vorschlag zum Erfolg zu verhelfen. Das ist für die zum Teil gravierende Unterschiede bei den Rechtsvor- Beratungen in Brüssel nützlich. Allerdings weiß heute schriften zur Firmenübernahme. Es wird Zeit, auch für noch niemand, wie das Ergebnis sein wird. Sollte die den Bereich der Firmenübernahmen eine einheitliche eu- von uns angestrebte europäische Harmonisierung nicht ropäische und vor allem eine ausgewogene Regelung zu erreichbar sein, dann muss es den Mitgliedstaaten auch finden, die den wirtschaftlichen Notwendigkeiten der in Zukunft gestattet werden, ihre jeweiligen Abwehr- heutigen Zeit gerecht wird. Ziel – ich denke, darüber (B) möglichkeiten beizubehalten. Für Deutschland hieße sind wir uns in diesem Hause einig – muss die Schaffung (D) das: Es bleibt bei den bisherigen Regelungen des Wert- eines so genannten Level Playing Field für alle Mitglied- papiererwerbs- und Übernahmegesetzes, also bei der staaten sein, bei dem durch den Abbau von Sonder- Möglichkeit für die Vorstände und die Aufsichtsräte, Ab- vorschriften Wettbewerbsgleichheit auf diesem Gebiet wehrmaßnahmen zu ergreifen. hergestellt wird. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion be- An dieser Stelle möchte ich dem Berichterstatter zur grüßt die Abschaffung von Rechtsbarrieren und die Übernahmerichtlinie im Europäischen Parlament, dem Schaffung eines vollständigen Level Playing Field auf Kollegen Lehne, sehr herzlich für seine konstruktive Zu- europäischer Ebene. sammenarbeit danken. Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass (Beifall im ganzen Hause) Deutschland in der Vergangenheit schon sehr große An- strengungen diesbezüglich unternommen hat. Nur, wir Wir haben in vielen, wenn auch nicht in allen Fragen müssen auch feststellen, dass es nicht bei dem einseiti- übereinstimmende Vorstellungen. Auch Ihnen, meine gen Geben unsererseits bleiben darf. Spätestens seit der lieben Kolleginnen und Kollegen aus dem Finanzaus- Übernahme von Mannesmann durch Vodafone wissen schuss, danke ich und bitte um weitere Unterstützung wir, wie wichtig eine einheitliche Verordnung ist. unserer Linie. (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das Herr Kollege Dautzenberg, Sie haben eben das wäre nicht verhindert worden!) VW-Gesetz angesprochen. Mit Blick auf unser nationa- Natürlich ist es noch immer schmerzhaft, wenn ein alt- les Recht denke ich übrigens nicht, dass wir das VW-Ge- eingesessenes deutsches Unternehmen durch eine auslän- setz in einen Zusammenhang mit der Diskussion über dische Firma übernommen wird. Aber daran werden wir die Übernahmerichtlinie bringen sollten. Die Kommis- uns in Zukunft vermutlich gewöhnen müssen, und zwar sion stellt dieses Gesetz mit ihrem Abmahnschreiben nicht nur – das ist hier schon mehrfach angesprochen wor- vom März dieses Jahres infrage – Herr Dautzenberg, Sie den – auf europäischer Ebene. Entscheidend für unsere haben das schon herausgearbeitet –, weil es angeblich Wirtschaft und den Standort Deutschland ist dann nicht primäres EU-Recht, die Regeln der Kapitalverkehrsfrei- mehr, in wessen Hand sich ein Unternehmen befindet, son- heit, verletze. Das ist aber nicht die Intention des VW- dern allein die Tatsache, wie viele Arbeitsplätze durch eine Gesetzes. Es geht dort vielmehr um eine nur aus der His- Übernahme gesichert bzw. geschaffen werden können. torie verständliche Ordnung der Eigentumsverhältnisse und Verantwortlichkeiten aus der Zeit der Privatisierung Vor diesem Hintergrund sollten auch die Widersacher ei- der Gesellschaft. Die Belegschaft hatte nach dem Krieg ner Verordnung keine Angst vor einer diesbezüglichen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3309

Stefan Müller (Erlangen) (A) Neuregelung haben; denn wenn wir es schaffen, den gesehenen Frist bis 2010 eine Überprüfung der einzelnen (C) Wirtschaftsstandort Deutschland in Zukunft attraktiver Sondertatbestände vorzunehmen und diese nach Mög- zu gestalten, dann sehe ich in dieser neuen Richtlinie lichkeit schon vorher auslaufen zu lassen. auch für unsere Unternehmen mehr Chancen als Risiken auf dem europäischen Markt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ebenso muss es unser gemeinsames Ziel sein, diese Natürlich fielen unter die Durchbrechungsregel – das Richtlinie so schnell wie möglich in Kraft zu setzen und ist auch schon angesprochen worden – auch die letzten zu einer tragfähigen gemeinsamen Lösung zu kommen. verbleibenden deutschen Sonderregelungen wie bei- spielsweise die Vorratsbeschlüsse, was aber im Sinne ei- (Beifall bei der CDU/CSU) ner Vereinheitlichung für uns hinnehmbar wäre und auch Ich habe mir noch einmal angeschaut, wie lange wir in vorgesehen ist. Ich meine schon, dass Deutschland als Europa schon über diese Richtlinie diskutieren. Bereits größtes und wirtschaftlich bedeutendstes Mitgliedsland in den 80er-Jahren gab es die ersten Vorschläge für eine der Europäischen Union in diesem Prozess eine der trei- Harmonisierung der einzelnen Rechtsvorschriften; da- benden Kräfte bleiben muss. Wir unterstützen daher – ich mals wurden die ersten Vorstöße gewagt, um zu einer glaube, darüber sind wir uns in diesem Hause einig – Vereinheitlichung zu kommen. Letztlich hat es nun bis grundsätzlich die Bemühungen der Europäischen Kom- zum Oktober letzten Jahres gebraucht, bis von der Euro- mission auf diesem Gebiet. päischen Kommission ein neuer Entwurf vorgelegt wer- Sorge bereitet uns allerdings immer noch, dass die den konnte. Kommission aus Gründen einer meiner Meinung nach Dieser Entwurf stellt für die deutsche Seite sicherlich zweifelhaften Kompromissbereitschaft an Art. 11, also eine Verbesserung gegenüber den bisherigen Richtlinien an den Mehrheitsstimmrechten, festhalten möchte. Ich und Vorschlägen dar, ist aber gleichwohl noch nicht be- halte es für wenig zielführend, dass die Kommission an- friedigend. Insbesondere in Bezug auf Art. 11, der die gekündigt hat, sie werde nach fünf Jahren die Umset- Unwirksamkeit der Beschränkung der Übertragung von zung der Richtlinie überprüfen. In diesem Punkt stimme Wertpapieren und Stimmrechten vorsieht, haben wir ich einmal mit der Bundesregierung überein, dass eine meiner Meinung nach noch erheblichen Diskussionsbe- Überprüfung nach fünf Jahren grundsätzlich nichts an darf; denn solange in anderen Ländern die Möglichkeit nachteiligen Auswirkungen insbesondere für die deut- besteht, sich gegen Übernahmen abzuschotten, kann schen Unternehmen zu ändern vermag. auch von der deutschen Wirtschaft nicht verlangt wer- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den, keine geeigneten Gegenmaßnahmen einzuleiten. Allein der Grundsatz der Waffengleichheit gebietet es, (B) Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass in diesem Zeit- (D) allen Unternehmen in Europa die gleichen Chancen zu raum schon erhebliche Veränderungen zum Nachteil un- bieten. serer Wirtschaft eingetreten sein könnten. Eine angekün- (Beifall im ganzen Hause) digte Überprüfung nach fünf Jahren bedeutet auch nicht, dass die betroffenen Länder dann von ihrer heute schon Die Kollegen in Brüssel haben immer noch mit erhebli- artikulierten Meinung abgehen werden. chem Widerstand insbesondere aus den drei skandinavi- schen Ländern zu kämpfen, denen auch die Einbeziehung Nach Ansicht der Kommission haben Doppel- und ihrer Mehrfachstimmrechte in die Durchbrechungsregel Mehrfachstimmrechte lediglich eine Bedeutung für die deutlich zu weit geht und die bereits erheblichen Wider- Unternehmensfinanzierung. Es gäbe demnach keinen stand angekündigt haben. Auch Frankreich versucht, Beweis dafür, dass etwaige negative Auswirkungen auch seine nationalen Regelungen der doppelten Stimmrechte im Falle von Unternehmensübernahmen stattfänden. nicht dieser Regelung zu unterwerfen. Ich gebe die Hoff- An dieser Stelle muss noch einmal deutlich festgehal- nung nicht auf, dass wir trotz dieser Widerstände und ten werden, dass diese Erkenntnis der Kommission ganz Meinungsverschiedenheiten zu einem einheitlichen im Gegensatz zu dem steht, was die Kommission selbst Standard in Europa kommen können. in einem von ihr in Auftrag gegebenen Gutachten vom In diesem Prozess muss selbstverständlich auch ge- 10. Januar 2002 veröffentlicht hat, in dem Aktien mit würdigt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland Doppel- und Mehrstimmrechten eindeutig als Haupthin- die von mir schon angesprochenen Vorleistungen bereits dernis für Übernahmeangebote eingestuft wurden. Der erbracht hat. Uns muss auch von daher daran gelegen Kommission ist daher zu empfehlen, auf eine spätere sein, auf ein zeitnahes Auslaufen von Sonderregelungen Überprüfung zu verzichten und den Anregungen der Ex- im Ausland hinzuwirken. perten schon heute Folge zu leisten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich stelle hier deutlich fest: Es ist für deutsche Unter- Uns nützt keine Übernahmerichtlinie, deren materiel- nehmen nicht hinzunehmen, wenn die skandinavischen ler Teil zwar endlich einen europaweiten Fortschritt mit Länder sowie Frankreich und die Niederlande durch sich bringt, aber bewirkt, dass die Unternehmen mit for- Mehrfachstimmrechte bzw. Stiftungszertifikate eine ein- malen Hindernissen, beispielsweise mit unübersichtli- heitliche Regelung zulasten der deutschen Unternehmen chen Kompetenzzuweisungen bei den Aufsichtsbehör- unterlaufen. Besonders vor diesem Hintergrund halte ich den, mehr Zeit als mit den Übernahmegesprächen selbst es für außerordentlich wichtig, noch vor Ablauf der vor- verbringen. 3310 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Stefan Müller (Erlangen) (A) Ich bin damit beim Thema Aufsichtsorgane. Es ist che ist: Von den zehn größten Übernahmefällen der letz- (C) wichtig, dass sich auch aus dieser Richtlinie eine Verein- ten Jahre waren sieben transatlantisch. Das zeigt die Be- fachung ergibt, um einen unnötigen Wirrwarr und unnö- deutung des Übernahmerechts im Verhältnis zu den tige Kompetenzstreitigkeiten bei den Überwachungsbe- Vereinigten Staaten. hörden zunichte zu machen. Deswegen bin ich schon der Die Folgen der geplanten EU-Regelung sind schnell zu Meinung, dass die Zuständigkeiten für diese Übernah- beschreiben: Für amerikanische oder auch japanische Un- men und für die Aufsicht den Aufsichtsbehörden des ternehmen wäre es ein Leichtes, europäische Konzerne Landes, in dem sich das Zielunternehmen befindet, zu- feindlich zu übernehmen. Umgekehrt wäre dies kaum zuordnen sind. möglich. Deshalb meine ich: Die im Entwurf der EU- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Übernahmerichtlinie vorgesehenen Art. 9 und Art. 11 sollten ersatzlos gestrichen werden. Damit wäre weiter- Aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion befin- hin gewährleistet, dass Abwehrmaßnahmen durch Auf- den wir uns mit einer einheitlichen Übernahmerichtlinie sichtsrat und Vorstand beschlossen werden können. auf dem richtigen Weg zur Stärkung eines gemeinsamen Gleichzeitig wäre dies ein Garant für die Beteiligung der europäischen Binnenmarktes, der uns die Möglichkeit Arbeitnehmervertreter. geben könnte, die Vorteile der Wirtschafts- und Wäh- rungsunion für uns voll zu nutzen. Wir fordern die Bun- Ziel der Richtlinie muss sein, gleiche Bedingungen zu desregierung daher noch einmal nachdrücklich auf, sich schaffen, und dies, ohne in gewachsene und bewährte In- noch deutlicher als bisher für die Belange der deutschen dustrie- und Unternehmenskulturen einzugreifen. Dies Unternehmen einzusetzen und alles dafür zu tun, unseren gilt auch für die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmerin- Firmen auf dem europäischen Markt dieselben Möglich- nen und Arbeitnehmer. Information, Konsultation und keiten zu bieten, die ausländische Unternehmen hier bei Mitbestimmung haben in einer Reihe europäischer Län- uns haben. der eine lange Tradition, insbesondere bei uns in Deutschland. Das gehört zu unserer sozialen Orientie- Ich danke Ihnen. rung und zu unserer politischen Demokratie. Fragen wir (Beifall bei der CDU/CSU) uns doch einmal: Wie wären denn struktureller Wandel und Rationalisierungsprozesse in unserem Land und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: auch in manch anderem Land in Europa abgelaufen, wenn wir nicht tagtäglich die Balance zwischen Kapital Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hans- und Arbeit und damit auch die soziale Verantwortung für Jürgen Uhl, SPD-Fraktion. Arbeitsplätze und Standortregionen praktizieren müss- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten? (B) (D) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hubert Hans-Jürgen Uhl (SPD): Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Nicht zuletzt aus diesem Grund enthält das deutsche Herren! Lassen Sie mich gleich zu Beginn feststellen: Übernahmerecht einen Zustimmungsvorbehalt des Auf- Der Entwurf für eine EU-Übernahmerichtlinie ist im sichtsrats bei Verteidigungsmaßnahmen. Mit einer Über- Kern unausgewogen und schafft kein Level Playing tragung des Entscheidungsrechts über Abwehrmaßnah- Field, also keine fairen, keine gleichen Bedingungen. men auf die Hauptversammlung würde eine Gegenwehr Herr Müller, ich kann das, was Sie gesagt haben, nur gefährlich eingeschränkt. Anders gesagt: Wer zu spät bestätigen: Das, was im Augenblick in der Mache ist, kommt, den bestraft Herr Bolkestein. führt nicht zur Waffengleichheit. Der Brüsseler Entwurf greift mit seiner Stillhalte- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der pflicht in gewachsene und zu Recht bestehende Mitbe- CDU/CSU – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: stimmungsstrukturen ein. Das müssen wir uns einmal Dann unterstützen Sie unseren Antrag!) praktisch vorstellen. Da muss ein Unternehmen Tau- sende Aktionäre innerhalb kürzester Zeit zusammen- Die Möglichkeiten der Abwehr feindlicher Übernah- rufen, um deutlich zu machen, dass man feindlich über- men sollen bei Skandinaviern und Deutschen entfallen. nommen werden kann. Die praktischen Probleme sowie Franzosen und Niederländer sollen Mehrfachstimm- auch die verheerende Wirkung in der Öffentlichkeit und rechte und Stiftungslösungen, also ihre nationalen Ab- auf dem Kapitalmarkt können wir uns alle wohl leicht wehrinstrumente, behalten. ausmalen. Auch der zweite Anlauf von EU-Kommissar Bolkestein Unser nationales deutsches Übernahmerecht ist gut. schafft keine fairen Wettbewerbsbedingungen, nicht Unsere Verteidigungsrechte sind richtig. Es gibt keinen innerhalb der EU und schon gar nicht gegenüber ameri- Grund, das zu ändern. Ebenso wirkungsvolle Verteidi- kanischen Unternehmen. Gerade in den USA gibt es eine gungsmöglichkeiten haben in anderen EU-Staaten Tradi- Vielzahl von Instrumenten zur Abwehr feindlicher Über- tion. Warum sollten sie alle so einfach über Bord gewor- nahmen. In den Vereinigten Staaten wird dem Leitungs- fen werden? organ der Zielgesellschaft ein weiter Spielraum für Ab- wehrmaßnahmen eingeräumt. Diese variieren von Fragen wir uns weiter: Warum sollen wir denn be- Bundesstaat zu Bundesstaat zum Teil sehr stark. Das ist währte industrielle Beziehungen in Deutschland der neo- eine weitere Hürde für übernahmewillige Dritte. Tatsa- liberalen Ideologie eines EU-Kommissars opfern? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3311

Hans-Jürgen Uhl (A) Meine Damen und Herren, wir führen hier keine und europäischen Unternehmen wirkungsvoll vor feind- (C) akademische Diskussion über abstrakte Modellvorstel- lichen Übernahmen schützt. lungen. Es geht um konkrete Gefahren für deutsche und Vielen Dank fürs Zuhören. europäische Unternehmen und damit um die Frage, ob betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten auch künftig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit einer sozialen Verpflichtung für Beschäftigung und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Standortregionen verknüpft werden. Ich frage: Wollen wir das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes – Eigen- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tum verpflichtet – weiterhin ernst nehmen oder wollen wir eine Unkultur des Heuerns und Feuerns wie in den Herr Kollege Uhl, das war Ihre erste Rede in diesem USA? Das sind zwei verschiedene Welten mit unter- Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und schiedlichen historischen Bezügen. Das Sozialstaats- wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute. modell Europa ist es wert, meine ich, verteidigt zu wer- (Beifall) den. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der SPD) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Weil wir jene Unkultur in Europa nicht wollen, muss die Drucksache 15/539 an die in der Tagesordnung aufge- Chance für eine Balance zwischen Kapital- und Arbeit- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- nehmerinteressen auch weiterhin gewahrt bleiben. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Fakt ist: Große deutsche Industriekonzerne sind po- so beschlossen. tenzielle Übernahmekandidaten. Das wird deutlich, Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz- wenn wir uns den Börsenwert anschauen. Der Börsen- ausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesre- wert von Daimler-Chrysler, BMW und Volkswagen mit gierung über den Vorschlag für eine Richtlinie des Euro- zusammen weit über 1 Million Beschäftigten und mit päischen Parlaments und des Rates betreffend vielen Standorten in der ganzen Welt liegt unter dem Übernahmeangebote, Drucksache 15/606. Der Aus- Börsenwert des Handyherstellers Nokia. schuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. (Zuruf von der CDU/CSU: Zurzeit!) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- Das zeigt: Da stimmt die Welt nicht. Die Börsenkapitali- probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist sierung von Toyota liegt auch weit über dem gemeinsa- mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der men Wert der drei deutschen Automobilkonzerne. CDU/CSU und der FDP angenommen. (B) (D) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Woran liegt Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: das?) a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Deshalb dürfen wir es nicht allein den Kapitalmärkten und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN überlassen, Entscheidungen über die Zukunft von Indus- Bundeseinheitliche Praxis bei der Einbürge- triestandorten in Deutschland und Europa und damit rung von Unionsbürgern herstellen – Hinder- über das Schicksal von Millionen von Beschäftigten und nisse beseitigen ihren Familien zu treffen. – Drucksache 15/762 – Für uns gilt: Industriepolitik ist Standortpolitik, Be- schäftigungspolitik und auch Sozialpolitik. Deshalb Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) – Herr Ulrich, das sage ich auch an Ihre Adresse – wer- Rechtsausschuss den wir auch das VW-Gesetz verteidigen. Es wird nicht Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union fallen. Es muss verteidigt werden, weil es vernünftig b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst ist. Burgbacher, Gisela Piltz, Dr. Max Stadler, weite- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hubert rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich Umsetzung der deutsch-französischen Initia- habe auch nicht darum gebeten, dass es fällt!) tive zur Gewährung einer doppelten Staats- Weder Frankreich noch die USA kämen auf die Idee, angehörigkeit ihre nationalen industriepolitischen Positionen aufzuge- – Drucksache 15/362 – ben. Warum sollten wir das tun? Die volkswirtschaft- liche Bedeutung und die Vernunft fordern, dass unsere Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) großen Industrieunternehmen auch weiterhin aus Rechtsausschuss Deutschland und nicht aus Detroit, New York oder Tokio Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gesteuert werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall bei der SPD) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Darum gehe ich davon aus, dass sich die Bundesregie- rung bei der kommenden Tagung des Rates deutlich für Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege eine Lösung stark machen wird, die unsere deutschen Sebastian Edathy, SPD-Fraktion. 3312 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

(A) Sebastian Edathy (SPD): Insbesondere in Bayern ist leider entgegen den gesetz- (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lichen Bestimmungen Für die heutige Debatte gibt es einen einfachen und zu- (Dr. [SPD]: Habe ich mir gleich gewichtigen Grund: Als Bundesparlament haben gedacht!) wir neben der Schaffung von Bundesrecht auch die Auf- gabe, auf seine einheitliche Umsetzung zu achten. Insbe- einbürgerungswilligen EU-Bürgern die Beibehaltung ih- sondere dann, wenn die Ausführung geltenden Rechtes rer Staatsangehörigkeit verweigert worden. Dies ist nicht mit erheblichen Folgen für Bürgerinnen und Bürger ver- nur völlig unverständlich, sondern ein Unding. bunden ist, müssen, egal ob in Kiel oder München, glei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ che Kriterien gelten. DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Im Rahmen der Reform des deutschen Staatsangehö- Bayern ist immer vorbildlich!) rigkeitsrechtes im Jahre 1999 hat der Bundestag nicht Inzwischen liegen zahlreiche Fälle unzutreffender zuletzt einen wesentlichen Beitrag zur Förderung des Auslegungen des § 87 Abs. 2 des geltenden Ausländer- Kerngedankens der Europäischen Union, nämlich zum gesetzes vor, in dem genau diese Hinnahme von Mehr- Erreichen des Ziels einer weitgehenden rechtlichen Gleichstellung geleistet. Im Ausländerrecht ist seitdem staatigkeit bei EU-Bürgern, mit deren Ländern Gegen- Folgendes festgeschrieben: Wir verzichten bei der Ein- seitigkeit für deutsche Staatsangehörige besteht, geregelt bürgerung von Staatsangehörigen anderer EU-Län- ist. Dies hat nicht zuletzt zu diplomatischen Beschwer- der auf die Abgabe ihrer bisherigen Staatsangehörigkeit, den seitens einiger Herkunftstaaten geführt. Deshalb ist wenn in dieser Hinsicht seitens des Herkunftslandes an dieser Stelle im Deutschen Bundestag die Anmah- ebenso verfahren wird. nung einer einheitlichen Anwendung des Bundesrech- tes durch die Behörden der Bundesländer dringend ge- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Sehr gut!) boten. Dieser Wille des Gesetzgebers findet sich auch in der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gesetzesbegründung, in der festgehalten wird, es gebe in DIE GRÜNEN) diesen Fällen ein Es ist nicht akzeptabel, dass Antragsteller in ein anderes fehlendes öffentliches Interesse an der Vermeidung Bundesland ziehen müssen, um einen vom Bundesge- von Mehrstaatigkeit. setzgeber eingeräumten Anspruch geltend machen zu Wörtlich heißt es dort weiter: können. Bei Ausländern, die Staatsangehörige eines anderen (Zuruf von der SPD: Unmöglich!) (B) Mitgliedstaats der Europäischen Union sind, be- (D) steht bereits eine weitgehende Inländergleichbe- So hat in der letzten Woche der Bayerische Verwaltungs- handlung. Das Interesse am Erwerb der deutschen gerichthof entscheiden müssen, dass ein griechischer Staatsangehörigkeit unter Aufgabe der bisherigen EU-Bürger mit seinem Begehren, bei der Einbürgerung ist daher für EU-Ausländer gering, woraus sehr seine griechische Staatsangehörigkeit beibehalten zu niedrige Einbürgerungsquoten resultieren. Im Hin- können, Recht hatte. Dies war ihm zuvor von bayeri- blick auf das Ziel der europäischen Integration soll schen Behörden verweigert worden. der Anreiz zum Erwerb der deutschen Staatsange- (Rüdiger Veit [SPD]: Kaum zu glauben!) hörigkeit dadurch verstärkt werden, dass der Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit Eigentlich könnte man sagen, die Staatsregierung in nicht gilt, wenn Gegenseitigkeit besteht. München sollte froh sein über jeden, der freiwillig ein Bayer werden will. Aber ganz im Ernst: Man kann doch Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch ganz wohl mindestens erwarten, dass geltendes deutsches eindeutig: Wer das Zusammenwachsen Europas beför- Recht auch in Bayern zur Anwendung kommt. dern will und zudem will, dass auf Dauer in Deutschland lebende EU-Bürger unbürokratisch die Möglichkeit zur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rechtlichen Gleichstellung erhalten sollen, der muss sie DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: in der Gemeinschaft der deutschen Staatsbürger will- Deswegen haben wir in Bayern auch den größ- kommen heißen, ohne ihnen den Verzicht auf die bishe- ten Zulauf!) rige Staatsangehörigkeit abzuverlangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf Bundesebene ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Weg zu einer menschennahen Einbürgerungspolitik DIE GRÜNEN) nicht mit dem Beschluss des neuen Staatsangehörig- Das ist, wenn ihr Herkunftsstaat mit deutschen Staatsan- keitsrechts beendet worden. gehörigen ebenso verfährt, nicht nur so gewollt, sondern (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: In Bayern und geltendes Recht. in Baden-Württemberg auch nicht!) Freilich – das ist der Grund für diese Debatte – Bis Ende des letzten Jahres galt aus deutscher Sicht die scheint das Wissen um diese Tatsachen in manchen, vor wechselseitige Hinnahme von Mehrstaatigkeit innerhalb allem wohl süddeutschen Amtsstuben noch nicht hinrei- der Europäischen Union für Griechenland, Großbritan- chend verbreitet zu sein. nien, Irland und Portugal sowie eingeschränkt für die (Dr. Peter Danckert [SPD]: Wo?) Niederlande. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3313

Sebastian Edathy (A) In der deutsch-französischen Erklärung zum das neue Staatsbürgerschaftsrecht in Deutschland ge- (C) 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages Anfang dieses Jahres prägt. haben Staatspräsident Chirac und Bundeskanzler Schröder unter anderem erklärt: „Wir müssen unseren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bürgerinnen und Bürgern auch die Staatsbürgerschaft DIE GRÜNEN) beider Länder ermöglichen, soweit sie das wünschen.“ Mit dem vorliegenden Antrag der Koalition bekräfti- Aus diesem Grund ist die SPD-Bundestagsfraktion gen und fordern wir zweierlei: der Bundesregierung dankbar, dass sie das vor 40 Jahren Erstens. Wir fordern Bundesregierung und Bundes- entstandene Europaratsübereinkommen über die Verrin- länder auf, dafür zu sorgen, dass die zuständigen deut- gerung der Mehrstaatigkeit aufgekündigt hat. Seitdem schen Verwaltungsstellen auf der Grundlage der Gegen- besteht die wechselseitige Möglichkeit des Beibehalts seitigkeit bei der Einbürgerung von Unionsbürgern der der bisherigen Staatsangehörigkeit Beibehaltung der bisherigen Staatsangehörigkeit unbü- (Ernst Burgbacher [FDP]: Nein! Das stimmt rokratisch zustimmen, so wie das im Ausländergesetz doch nicht!) vorgesehen ist. auch mit Blick auf Frankreich, Belgien, Italien und Zweitens. Im Staatsangehörigkeitgesetz – auch das ist Schweden. Derzeit erfüllen nur noch fünf der 14 anderen uns sehr wichtig – ist die Möglichkeit vorgesehen, dass EU-Mitgliedstaaten die entsprechenden Voraussetzun- von unseren Behörden deutschen Bürgern, die sich in ei- gen nicht. Dies sind Dänemark, Finnland, Luxemburg, nem anderen Land einbürgern lassen wollen, die Bei- Österreich und Spanien. behaltung der deutschen Staatsangehörigkeit gestattet (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Vor allem die werden kann. Unser Antrag fordert, dass diese Beibehal- Luxemburger! Wovon träumen Sie denn, Herr tungsgenehmigung bei der Einbürgerung Deutscher in Edathy?) anderen EU-Staaten generell ermöglicht wird. Ich hoffe namens meiner Fraktion, dass bald auch in die- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann müssen wir sen fünf Ländern bei dortigen Einbürgerungen von Deut- § 25 ändern!) schen die Möglichkeit zur Beibehaltung der deutschen – Herr Geis, ich wundere mich, dass Sie einen so pro- Staatsangehörigkeit geschaffen wird und damit umge- gressiven Vorschlag machen, aber ich werde Sie beim kehrt auch bei uns. Wort nehmen. Ich lade alle herzlich ein, diese Debatte Es war übrigens – das sage ich an die Reihen der miteinander zu führen. CDU/CSU-Fraktion gewandt – der CDU-Abgeordnete (B) (D) , der vor 50 Jahren in einer Bundestagsde- Liebe Kolleginnen und Kollegen, 1913 hat der SPD- batte Folgendes beklagte: Abgeordnete Otto Landsberg im Reichstag folgende Frage gestellt: „Sind denn die Menschen der Gesetze Eine doppelte Staatsangehörigkeit, etwa die deut- und der Verträge wegen da oder umgekehrt die Gesetze sche und die österreichische, ist unmöglich. ... Und und Verträge der Menschen wegen?“ das in der Zeit des Sich-Näherkommens der euro- päischen Völker! (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist eine Phrase!) Eine noch immer durchaus aktuelle Aussage! – Das ist keine Phrase, das ist Bestandteil einer demo- 1953 sagte Carlo Schmid in derselben Debatte für die kratischen und menschennahen Politik, Herr Geis. Wir SPD-Fraktion: machen Gesetze für die Menschen. Wenn wir ein enges, ein etatistisches, nur vom (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Machen Sie Staate aus gesehenes Staatsangehörigkeitsrecht ha- mal eine Nummer kleiner, Herr Edathy!) ben, werden wir versucht sein, auch in den Bezie- hungen von Staat zu Staat und von Volk zu Volk – Selbst für Herrn Grindel, auch wenn es manchmal exklusiv zu denken. Haben wir aber ein individua- schwer fällt. listisches, das heißt weltbürgerliches Staatsangehö- rigkeitsrecht, dann werden wir auch in den Bezie- Die Antwort der Koalition auf die Frage von Otto hungen von Staat zu Staat leichter gesinnt sein, Landsberg ist eindeutig: Für uns steht der Mensch im weltbürgerlich zu denken. Mittelpunkt. Ich würde es begrüßen, wenn sich im Zuge der anstehenden Beratungen im Innenausschuss (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hat doch auch die zwei übrigen Fraktionen dem Antrag der Ko- nichts mit der Staatsbürgerschaft zu tun!) alition anschließen würden. Denn hier geht es nicht Und fängt nicht jedes weltbürgerliche Denken – und um eine Frage, die wir zum Gegenstand von Parteien- das heißt doch auf unserem Kontinent: europäi- streit machen sollten. Hier geht es darum, als Gesetz- sches Denken – damit an, dass man es für möglich geber deutlich zu machen, dass Deutschland ein mo- hält, dass einer mehrere Staatsangehörigkeiten be- dernes, ein liberales und nicht zuletzt ein europäisches sitzen kann? Land ist. Meine Damen und Herren, Carlo Schmid hatte Recht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Genau davon, von der Orientierung am Menschen, ist DIE GRÜNEN) 3314 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Sebastian Edathy (A) Ich hätte eigentlich noch zwei Minuten Redezeit. Frau Der FDP-Antrag ist unserer Auffassung nach über- (C) Präsidentin, vielleicht kann mir diese Zeit bei der nächs- flüssig. Durch die Kündigung des Übereinkommens ten Rede angerechnet werden. des Europarats zur Verringerung der Mehrstaatig- keit durch Deutschland hat dieses Abkommen zwischen Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Deutschland und Frankreich tatsächlich keine Wirkung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mehr. Franzosen werden in Deutschland eingebürgert, DIE GRÜNEN) ohne dass sie ihre alte Staatsbürgerschaft aufgeben müs- sen, und umgekehrt. Mit Ausnahme von Bayern und Ba- den-Württemberg gehen alle Bundesländer davon aus, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass insoweit Gegenseitigkeit im Sinne des § 87 Abs. 2 Herr Kollege Edathy, das wird nicht funktionieren. Ausländergesetz gegeben ist. Über dieses Problem der Ich denke aber, die Kolleginnen und Kollegen sind dank- Gegenseitigkeit gibt es in der Tat unterschiedliche Aus- bar, wenn ein Thema in kürzerer Zeit abgehandelt wird. legungen und auch Gerichtsentscheidungen. Mein Kol- Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel, lege Nobert Geis wird dazu noch das Notwendige sagen. CDU/CSU-Fraktion. Herr Burgbacher, da Sie diese baden-württembergi- sche Praxis nicht für richtig halten, möchte ich Sie daran Reinhard Grindel (CDU/CSU): erinnern, dass die FDP an der baden-württembergischen Landesregierung beteiligt ist. In rechts blinken Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- und hier in Berlin links abbiegen ist kein klarer Kurs. legen! Das Staatsbürgerschaftsrecht ist keine kleine Das finde ich nicht richtig. Münze. Es ist in einer Demokratie wichtig, dass klar ab- grenzbar ist, wer zum Staatsvolk gehört und wer nicht. Auch der Antrag von SPD und Grünen zielt auf Bay- Dass unser Staatsangehörigkeitsrecht so kompliziert ist ern und Baden-Württemberg und auf den Abbau weite- und dass jede zweite Einbürgerung mittlerweile unter rer bürokratischer Hemmnisse. Was Sie damit eigentlich Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft erfolgt meinen, Herr Edathy, ist hier völlig nebulös geblieben. – das bedeutet, es gibt nur eine halbe Hinwendung zu Wahrscheinlich wollen Sie damit das so genannte unserem Staatswesen –, Gegenseitigkeitserfordernis infrage stellen. Unabhän- (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gig von der Auslegung des § 87 Abs. 2 bleibt eines fest- DIE GRÜNEN) zuhalten: Wenn man praktisch alle EU-Bürger zu dop- pelten Staatsbürgern machen würde, dann wäre das eben bleibt ein großes Problem und zeigt, wie richtig es war nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Ihnen geht (B) und ist, dass CDU und CSU das rot-grüne Staatsbürger- es um zusätzliche Mehrstaatigkeit. Genau das wollen wir (D) schaftsrecht abgelehnt haben. nicht; wir sind dagegen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy [SPD]: Mir geht es um die Umsetzung des gel- hat bei der Verabschiedung des neuen tenden Rechts!) Staatsangehörigkeitsrechts 1999 – Herr Edathy, Ihre Zi- tate reichen sehr weit zurück; deshalb zitiere ich eine Man muss sich doch folgende Fragen stellen: Was ist Aussage, die erst vier Jahre zurückliegt – beteuert: Die nach der Osterweiterung? Herbeiführung möglichst vieler doppelter Staatsbürger- schaften ist nicht unser Ziel. – Die Wirklichkeit sieht (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) heute anders aus. Was ist zum Beispiel im Falle eines EU-Beitritts der CDU und CSU haben damals auch die doppelte Türkei? Wer so freigebig mit der Staatsbürgerschaft um- Staatsbürgerschaft für EU-Bürger kritisch gesehen, weil geht, der hat nicht begriffen, dass Integration etwas mit mehrere Pässe eben nicht Ausdruck für besondere euro- gemeinsamer Sprache, mit schulischem und kulturellem päische Integration sind. Wenn das richtig wäre, Herr Miteinander und mit der Achtung von Gesetzen zu tun Edathy, dann wäre Otto von Habsburg, der drei Staatsan- hat, aber nicht – das wäre viel zu billig – mit dem Dop- gehörigkeiten besitzt, auch ein dreimal so guter Europäer pelpass. wie . – Ich wundere mich, dass jetzt nicht (Widerspruch des Abg. Sebastian Edathy der Zwischenruf von den Grünen kommt: Da haben Sie [SPD]) völlig Recht. – Eine doppelte Staatsbürgerschaft schafft doppelte Loyalitäten. Das wollen wir nicht. Integration ist viel mehr, Herr Edathy. (Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: (Beifall bei der CDU/CSU) Für Europa reicht doch eine Loyalität!) Es muss auch erlaubt sein, darauf hinzuweisen, wel- Eine verbesserte EU-Staatsbürgerschaft könnte in die- che Konsequenzen der Doppelpass im Bereich der Be- ser Frage Klarheit schaffen. Wir werden abwarten, wel- kämpfung von Kriminalität hätte. Ein Angehöriger der ches Ergebnis die Beratungen im Konvent hervorbrin- Mafia, der den Doppelpass besitzt, kann eben nicht ab- gen. geschoben werden. Für Ihren Antrag werden sich die Si- cherheitsbehörden schwer bedanken. Nun zu den beiden vorliegenden Anträgen im Einzel- nen. (Widerspruch bei SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3315

Reinhard Grindel (A) In Ziffer 3 des Antrages von SPD und Grünen wird die großen politischen Schlammschlachten um den Dop- (C) von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Fünf EU- pelpass geführt haben Staaten, nämlich Spanien, Finnland, Dänemark, Öster- reich und Luxemburg, lassen Mehrstaatigkeit grundsätz- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sie haben lich nicht zu. Da läuft Ihr Antrag sozusagen wegen Un- vielleicht geschlachtet! Wir nicht!) möglichkeit ins Leere. und Herr Stoiber aus Bayern äußerte, die doppelte Ich will aber auch sagen – denn Sie, Herr Edathy, ha- Staatsbürgerschaft sei gefährlicher als die RAF. ben das angesprochen –, dass wir als CDU/CSU nicht Nun kann man drei Jahre nach der Reform des Staats- bereit sind, auf die Beibehaltungsgenehmigung zu ver- bürgerschaftsrechts vielleicht feststellen, dass das zichten, weil es im Falle der Annahme einer neuen Abendland und auch Deutschland nicht untergegangen Staatsangehörigkeit schon richtig ist, den deutschen sind. Staatsbürger an seine Bindungen an Deutschland zu er- innern. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Lassen Sie doch solche Totschlagsargumente! Das ist doch Problematisch ist in diesem Zusammenhang übrigens nicht seriös!) schon, dass es nach Ihrer Auffassung zwar den deutsch- französischen Doppelpass geben soll, es aber wegen Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir heute etwas gelas- der geschilderten Rechtslage keinen Doppelpass im Hin- sener über diesen Sachverhalt sprechen können. Aber es blick auf Österreich, Spanien oder Dänemark geben scheint immer noch so zu sein, dass Sie sich – im Süden kann. Hier schaffen Sie Europäer erster und zweiter Ord- noch mehr –, wenn es um europapolitische Offenheit nung. Genau das sollte man nicht tun. Deshalb ist es geht, ungeheuerlich schwer tun. Ich bin da allerdings richtig, auf eine einheitliche EU-Staatsbürgerschaft zu ganz ruhig. Ich gehe davon aus, dass die Gerichte den warten. Ländern Baden-Württemberg und Bayern schon zeigen werden, was Bundestreue bedeutet. Ich bin mir ganz si- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: cher: Da die Rechtslage so eindeutig ist, wird die Frage des Doppelpasses für EU-Bürger auf dem Prinzip der Herr Kollege Grindel, darf ich Sie einmal unterbre- Gegenseitigkeit, wenn sie nicht politisch entschieden chen: Der Herr Kollege Edathy möchte eine Zwischen- wird, eben durch die Gerichte geklärt. Das ist nicht frage stellen. schön für die Politik. Aber das scheint in diesem Fall un- umgänglich zu sein. Reinhard Grindel (CDU/CSU): (Zuruf des Abg. Sebastian Edathy [SPD]) (B) Ich möchte im Zusammenhang vortragen. (D) Nun zu dem großen Popanz, den Sie in Bezug auf die Was steckt also in Wahrheit hinter dem Antrag von Frage der Mehrstaatigkeit aufbauen. Wir haben in der SPD und Grünen? Es geht Ihnen nicht um Integration. Tat in den Jahren 2000 und 2001 eine hohe Zahl von Es geht Ihnen schon gar nicht um Europa. Es geht Ihnen Einbürgerungen unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit darum, mit allen Mitteln sicherzustellen und alle Hebel gehabt, und zwar bei etwa 40 Prozent der Einbürgerun- in Bewegung zu setzen, dass es künftig wieder mehr in gen. Das hatte damit zu tun, dass wir Einbürgerungen der Wahlkasse klingelt. von Kindern im Alter von null bis zehn Jahren vorge- nommen haben, dass wir viele Altfälle aufgearbeitet ha- (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der ben und dass wir gerade in den Jahren 2000 und 2001 SPD: Oh!) eine große Zahl von anerkannten Asylbewerbern, denen Weil Ihnen die alten sozialdemokratischen Wähler weg- nicht zugemutet wird, zu dem Konsulat ihrer Verfolger laufen, weil Fritz, Willi und Jupp längst CDU wählen, zu gehen und dort ihre Staatsbürgerschaft aufzukündi- sollen das jetzt Pierre, Pjotr und Hassan ausgleichen. Mit gen, eingebürgert haben, sodass man sagen kann: Für uns ist das nicht zu machen! viele Menschen ist hier in Deutschland die Tür dafür ge- öffnet worden, nicht nur Bewohner, sondern auch Bürger (Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy zu sein. [SPD]: Das ist Demagogie! Unglaublich! Schämen Sie sich!) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hat doch nichts mit dem Doppelpass zu tun! Die wären auch so eingebürgert worden!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin – Das hat sehr viel mit der Frage der Hinnahme von Marieluise Beck. Mehrstaatigkeit zu tun; ich habe Ihnen das gerade er- klärt. Zum Glück sind es auch immer wieder Anwälte aus der Union, gerade aus Ihren Reihen, gewesen, die Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bun- Iraner vertreten und gesagt haben: Könnt ihr uns nicht desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; helfen? Seit fünf oder sieben Jahren betreuen sie Klien- Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht- ten, die vergeblich versuchen, aus der iranischen Staats- linge und Integration: bürgerschaft entlassen zu werden. Jeder weiß, dass es Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! keine Entlassung geben wird. Trotzdem trietzten die Ich erinnere mich noch an die Zeiten, in denen wir hier Behörden diese Menschen weiter und aufgrund der 3316 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Parl. Staatssekretärin Marieluise Beck (A) Halsstarrigkeit der Behörden gab es keine Einbürgerung Grenzüberschreitung. Sie sollten sich gegenseitig Bür- (C) in Deutschland. gerrechte einräumen. Das ist ein weiterer Schritt auf dem Weg des zusammenwachsenden Europas. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – (Ernst Burgbacher [FDP]: Da sind wir uns Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat doch nichts einig!) mit der EU-Staatsbürgerschaft zu tun! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es geht nicht Eines fernen Tages werden wir dann vielleicht einmal um den Iran, es geht um EU-Bürger!) eine europäische Staatsbürgerschaft haben. – Diese Menschen sind auch so genannte Doppelstaater. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Die haben wir ja schon!) Sie haben offensichtlich Probleme, sich mit modernen Entwicklungen auseinander zu setzen. In Deutschland Die rechtlichen Grundlagen sind nach der Reform des gibt es inzwischen 700 000 Kinder aus binationalen Fa- Staatsbürgerschaftsrechts eindeutig: Innerhalb der Euro- milien, die Doppelstaater sind, weil sie in Deutschland päischen Union ist bei Gegenseitigkeit Mehrstaatigkeit geboren wurden. Die Anzahl dieser Kinder wächst Jahr hinzunehmen. Bayern und Baden-Württemberg werden für Jahr, weil die Anzahl der binationalen Verbindungen sich gegen solche Entwicklungen noch einige Zeit sträu- wächst. Die Menschen sind nämlich deutlich kosmopoli- ben können. Da Deutschland aber ein Rechtsstaat ist, tischer als Sie von der Union. Sie scheren sich überhaupt wird das sicherlich bald ein Ende haben. nicht um die von Ihnen aufgeworfenen Loyalitätsfragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Grenzen sind nicht nur für die Waren, sondern und bei der SPD) auch für die Menschen offen. Die Zahl der Menschen, die grenzüberschreitende Verbindungen eingehen, Ehen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schließen und Kinder bekommen, nimmt zu. Alle Kinder Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher, aus diesen Verbindungen haben einen Doppelpass. Ich FDP-Fraktion. halte es für irrwitzig, davon zu sprechen, dass diese Kin- der nur eine halbe Hinwendung zu Deutschland hätten und nur halb loyal sein könnten. Was Sie sagen, ist ein- Ernst Burgbacher (FDP): fach Unsinn. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatssekretärin Beck, ich beginne da, wo (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie aufgehört haben. Es ist völlig richtig – darauf zielt und bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ unser Antrag –: Wir wollen die doppelte Staatsangehö- (B) (D) CSU]: Es geht doch um den Antrag! Sagen Sie rigkeit für Deutsche und Franzosen. Das, was in der etwas zu den EU-Bürgern! – Weiterer Zuruf Gemeinsamen deutsch-französischen Erklärung zum von der CDU/CSU: Vollkommen daneben!) 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags stand, soll umge- Ich möchte einen weiteren Punkt aufgreifen. Die setzt werden. Ich zitiere: Doppelbödigkeit, die in dieser Debatte zum Ausdruck Wir müssen unseren Bürgerinnen und Bürgern auch kommt, ärgert mich ausgesprochen stark. Bitte gehen Sie die Staatsbürgerschaft beider Länder ermöglichen. einmal darauf ein, weshalb Sie 1,2 Millionen Spätaus- siedlern die deutsche Staatsbürgerschaft unter Beibehal- Das heißt, dass es heute noch nicht so ist. Herr Edathy, tung ihrer russischen oder polnischen Staatsbürgerschaft Sie müssen den bestehenden Rechtszustand korrekt ermöglicht haben. wahrnehmen. (Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist nicht unser (Beifall bei der FDP – Sebastian Edathy Thema! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie ken- [SPD]: Das ist geändert worden, Herr nen unsere Verfassung nicht! Lesen Sie doch Burgbacher!) in der Verfassung nach!) – Seither ist überhaupt nichts geändert worden. Ich habe damit nie ein Problem gehabt. Sie müssen nur Die Bundesrepublik Deutschland hat den Vertrag ge- beides mit gleicher Elle messen: kündigt – das ist völlig richtig –, allerdings schon lange (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie kennen die vorher. Frankreich – ich habe mich bei der Botschaft Verfassungslage nicht! Das ist ein Minus für heute noch einmal erkundigt – hat diesen Vertrag noch Sie!) nicht gekündigt. Bei dem einen von geteilter Loyalität zu sprechen und (Zuruf des Abg. Sebastian Edathy [SPD]) bei dem anderen nicht, geht nicht. – Nein. – Deshalb gilt er für Frankreich formal nach wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. und bei der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich schenke Ihnen ein Grundgesetz!) Der gegenwärtige Zustand ist wie folgt: Einige Län- der akzeptieren das, gewähren aber keinen einklagbaren Hier geht es um einen deutsch-französischen Vor- Rechtsanspruch auf die Doppelstaatsangehörigkeit. Das schlag. In Deutschland leben 112 000 Franzosen und ist zum Beispiel bei Frankreich der Fall. Deshalb halten 150 000 Deutsche leben in Frankreich. Das ist ein Stück wir es für richtig, hier einen rechtlich einwandfreien Zu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3317

Ernst Burgbacher (A) stand herzustellen. Darum geht es uns mit unserem An- Norbert Geis (CDU/CSU): (C) trag. Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten (Beifall bei der FDP) Damen und Herren! Ich kann an die Rede von Herrn Burgbacher anknüpfen. Wir wollen ebenfalls, dass Ich sage auch ganz deutlich an die Kollegen von CDU/ § 87 Abs. 2 Ausländergesetz, nach dem die Erlangung CSU gerichtet: Wir wollen, dass Deutsche und Franzosen der doppelten Staatsangehörigkeit für Bürger der EU beide Staatsangehörigkeiten bekommen können möglich ist, auch zwischen Deutschland und Frankreich (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wir wollen es Geltung haben soll, aber unter der Voraussetzung der nicht!) Gegenseitigkeit, wie es im Gesetz steht. Diese Voraus- setzungen sind nach meiner Auffassung – das haben Sie – Frau Staatssekretärin, Sie haben die Zahlen genannt, auch angedeutet – heute noch nicht gegeben. Ich möchte wie viele im jeweils anderen Land leben –; denn das ist auch ausführen, warum ich der Auffassung bin, dass bedeutsam für die deutsch-französische Freundschaft diese Voraussetzungen heute noch nicht vorliegen. und das wollen wir auch dokumentieren. Lassen Sie mich aber nun zum Antrag der SPD kom- Herr Edathy, wir lehnen Ihren Antrag gar nicht von men. Mit dem Ansatz der FDP kann man sich sehr wohl vornherein ab. Wir werden ihn im Ausschuss sehr offen auseinander setzen. Im Antrag der SPD dagegen geht es diskutieren. Wir haben im Grunde das gleiche Ziel, ha- darum, die doppelte Staatsangehörigkeit generell einzu- ben aber unterschiedliche Ansichten hinsichtlich des au- führen. – Das wollten Sie immer; Frau Beck hat es eben genblicklich herrschenden Rechtszustands. Wir sollten auch gesagt. – Dieses Ziel ist bereits Inhalt des ersten im Ausschuss ganz sachlich und ohne große Polemik Koalitionsvertrages zwischen SPD und Grünen vom (Rüdiger Veit [SPD]: Es sollte trotzdem mög- 22. Oktober 1998. Das kam auch in dem ersten Entwurf lich sein, eine Meinung herzustellen!) des Staatsangehörigkeitsrechts vom 13. Januar 1999 zum Ausdruck. Erst aufgrund der Unterschriftenaktion darangehen, die geltende Rechtslage zu klären. und des Wahlausgangs in Hessen – es ist gut, wenn man Im Staatsangehörigkeitsrecht, dem die FDP zuge- daran einmal erinnern darf – sind Sie zu der Überzeu- stimmt hat, steht sehr deutlich: Hinnahme doppelter gung gekommen, dass das so nicht geht. Damit blieb es Staatsangehörigkeit auf Gegenseitigkeit. Gegenseitig- bei dem Grundsatz der Vermeidung der doppelten keit kann aber nicht heißen, dass dies in dem einen Land Staatsangehörigkeit. Sie haben es eingesehen und sich geduldet wird und in dem anderen nicht. eines Besseren belehren lassen. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!) Aber in Ihrem heutigen und jetzt zu diskutierenden (B) Antrag beginnen Sie wieder mit dem alten Spiel. Sie (D) Gegenseitigkeit muss ein rechtlich einwandfreier Zu- wollen – Frau Beck, in Ihrem Redebeitrag haben Sie ge- stand sein. Darauf legen wir Wert. nau das Gleiche gesagt – im Grunde die doppelte Staats- angehörigkeit generell einführen. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie und auch die Kolleginnen und Kollegen von der Union ganz herzlich, (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ keinen falschen Zungenschlag in die Diskussion zu brin- DIE GRÜNEN]: Das habe ich mit keinem gen. Wir sind in Europa zum Glück ein ganzes Stück Wort gesagt!) weiter. In der europäischen Verfassung haben wir bereits die europäische Staatsangehörigkeit verankert. Ange- Dabei machen wir nicht mit, weil wir der Meinung sind, sichts der engen Beziehungen zwischen Deutschland dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck einer besonderen und Frankreich halte ich es für eine Selbstverständlich- Bindung des einzelnen Mitgliedes des jeweiligen Volkes keit, dass der Franzose, der bei uns lebt, die deutsche zu seinem Staat ist. Deswegen gibt es die Staatsangehö- Staatsangehörigkeit und damit auch das Wahlrecht be- rigkeit überhaupt. Es gibt eine Loyalität des Staatsbür- kommt und umgekehrt für den Deutschen in Frankreich gers gegenüber seiner Staatsregierung, gegenüber sei- das Gleiche gilt. nem Staat. Wir sollten hier keine alten Diskussionen und Vorur- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: teile aus der Schublade holen, sondern offen darangehen, die rechtlichen Voraussetzungen zu prüfen. Ich denke, Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage dass wir am Schluss zu einer gemeinsamen Lösung im des Kollegen Edathy? Sinne der Menschen in unserem Land kommen können. Herzlichen Dank. Norbert Geis (CDU/CSU): Bitte sehr. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sebastian Edathy (SPD): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Geis, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Gegenstand des vorliegenden Antrages von Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege SPD und Bündnis 90/Die Grünen im ersten Punkt ist, dass Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion. wir die Wahrung geltenden Rechtes im Verwaltungsvoll- (Beifall bei der CDU/CSU) zug der Länder sichern wollen? Es geht um nicht mehr 3318 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Sebastian Edathy (A) und nicht weniger, als § 87 Abs. 2 des Ausländergesetzes, Das Volk bildet seinen Willen durch die Demokratie. Sie (C) der beschlossen ist, auch mit Leben zu füllen. können sich als parlamentarische repräsentative Demo- kratie nicht einfach über das Volk hinwegsetzen, von Sind Sie außerdem bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dem Sie Ihre Legitimation beziehen. Das ist ein wichti- dass wir im zweiten Punkt etwas fordern, das gerade bei ger Gedanke, den Sie einmal beherzigen sollten. CDU und CSU auf Sympathie stoßen müsste? Wir wollen nämlich verstärkt darauf achten, dass Deutsche, die sich Wir dürfen und müssen an der deutschen Staatsange- in anderen EU-Staaten, die bislang nicht die Mehrstaatig- hörigkeit festhalten. Deswegen ist es erforderlich, dass keit akzeptieren, einbürgern lassen wollen, jedenfalls wir die doppelte Staatsangehörigkeit nicht in einem sol- nicht aufgrund deutscher Verwaltungsentscheidungen ge- chen Ausmaß zulassen, wie Sie es gern haben möchten. zwungen werden, die deutsche Staatsangehörigkeit auf- zugeben. (Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy [SPD]: Das ist doch Quatsch!) Norbert Geis (CDU/CSU): Die doppelte Staatsangehörigkeit schafft nun einmal Dann hätten Sie eigentlich einen Vorschlag für eine Loyalitätskonflikte. Die Aufspaltung in Nur-Deutsche, entsprechende Gesetzesänderung vorlegen müssen, be- die auf Gedeih und Verderb mit Deutschland und mit vor Sie Ihren Antrag gestellt haben. Sie können diesen dem Schicksal des deutschen Volkes verbunden sind, Antrag doch nicht losgelöst sehen von Ihrer übrigen und in Auch-Deutsche mit einer zweiten Staatsangehö- Politik im Bereich der Staatsangehörigkeit und des Aus- rigkeit, die gehen können, wenn es brenzlig wird, hält länderrechts. auf Dauer kein Volk und keine Gesellschaft aus. Deswe- gen müssen wir daran festhalten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Sebastian Edathy [SPD]: Für diesen Quatsch Es gibt genug Beispiele dafür, dass Sie die doppelte haben Sie nicht einmal in den eigenen Reihen Staatsangehörigkeit nicht nur erleichtern, sondern prinzi- eine Mehrheit! Was heißt „auf Gedeih und piell ermöglichen wollen. Sie wollen prinzipiell jedem, Verderb“? – Gegenruf des Abg. Reinhard der nach Deutschland kommt, die doppelte Staatsange- Grindel [CDU/CSU]: Auf Gedeih und Verderb hörigkeit anbieten. muss ich mit Ihnen hier sitzen, Herr Edathy!) (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme DIE GRÜNEN]: Wo steht denn das, bitte auf das zurück, was Herr Burgbacher gesagt hat. Wir schön? – Gegenruf des Abg. Reinhard Grindel sind für die Durchsetzung des § 87 Abs. 2 Ausländer- [CDU/CSU]: Das ergibt sich doch aus Ihrem gesetz. § 87 Abs. 2 Ausländergesetz ist aber eine Aus- (D) (B) Antrag!) nahme von der Regel. § 85 ist die Regel, die besagt, dass derjenige, der die deutsche Staatsangehörigkeit anstrebt, Sie können diesen Antrag nicht von Ihrer Politik loslö- sie nur erlangen kann, wenn er die alte Staatsangehörig- sen. Wenn Sie mir das nicht abnehmen, bitte ich Sie: Le- keit, seine Herkunftsstaatsangehörigkeit, aufgibt. sen Sie Ihren Koalitionsvertrag vom 22. Oktober 1998! (Sebastian Edathy [SPD]: In § 87 steht: „abgese- (Sebastian Edathy [SPD]: Sie reden nicht zum hen, wenn“! Das ist aber geltendes Recht!) Thema! Das ist das Problem!) § 87 macht davon eine Ausnahme; das ist richtig. In § 87 Lesen Sie Ihren ersten Entwurf zum Staatsangehörig- Abs. 2 heißt es: Ein EU-Bürger kann die deutsche keitsrecht und lesen Sie die Begründung des Antrages, Staatsangehörigkeit erwerben und seine alte Staatsange- über den wir heute debattieren! Dann werden Sie mir hörigkeit beibehalten, wenn Gegenseitigkeit verbürgt ist. Recht geben müssen. Es ist so; das halten wir fest. Aber wir wollen das nicht. (Sebastian Edathy [SPD]: Das ist ein An- spruch, keine Kann-Regelung!) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Lesen Sie doch erst einmal den Antrag!) Diese Gegenseitigkeit haben wir im Verhältnis von Deutschland zu anderen EU-Ländern noch nicht. Unter – Ich weiß ja, dass Sie sich jetzt dagegen wehren. Aber Gegenseitigkeit verstehe ich Gleichwertigkeit. Das verhalten Sie sich doch danach. Sie wollen im Prinzip heißt, dass ein Deutscher, der im Ausland die ausländi- nicht nur die Erleichterung der doppelten Staatsangehö- sche Staatsangehörigkeit anstrebt, dort genauso schwere rigkeit, sondern Sie wollen sie generell ermöglichen. Da- oder leichte Voraussetzungen haben muss wie ein Aus- gegen wehren wir uns, weil wir glauben, dass das mit länder in Deutschland. Das ist aber nicht der Fall. In dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht und mit unse- Deutschland ist es so, dass, wenn alle gesetzlichen Vor- rem Demokratieverständnis nicht vereinbar ist. aussetzungen erfüllt sind, ein Anspruch auf Einbürge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rung besteht. Demokratie setzt das Volk voraus. Demokratie ist (Sebastian Edathy [SPD]: Na also!) nicht die Herrschaft der Bevölkerung, sondern die Herr- schaft des Volkes. In allen anderen EU-Ländern wird eine Ermessensent- scheidung getroffen. Das ist ein wesentlicher Unter- (Sebastian Edathy [SPD]: Und wie definieren schied. In manchen Ländern, zum Beispiel in Frank- Sie das Volk?) reich, besteht noch nicht einmal die Möglichkeit, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3319

Norbert Geis (A) Rechtsmittel einzulegen, wenn die Ermessensentschei- stellen. Dafür stellt der Bund ungefähr 500 Millionen (C) dung abschlägig ist. Euro an Steuermitteln zur Verfügung. Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass eine (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegenseitigkeit noch nicht gegeben ist. Es muss unser Schon falsch! – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Bestreben sein, zu dieser Gegenseitigkeit zu kommen. [SPD]: Falsche Zahl!) Dazu müssen bilaterale Verträge geschlossen werden Für jede einzelne Statistik gibt es darüber hinaus – auch und § 25 des Staatsangehörigkeitsrechts, der vorsieht, das muss man wissen – eine eigene Rechtsgrundlage. Da dass derjenige die deutsche Staatsangehörigkeit verliert, kann ich nur sagen: Willkommen im Bürokratietollhaus der eine fremde Staatsangehörigkeit annimmt, muss ge- Deutschland! ändert werden. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Sebastian Edathy [SPD]: Ich dachte, Sie woll- Eine Minute geredet und schon falsch!) ten keine Mehrstaatigkeit! Das ist doch nur Hinhalterei!) Deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion dieses Thema aufgegriffen. Das alles ist bis jetzt noch nicht geschehen. Deswegen ist die Haltung von Bayern und Baden-Württemberg völ- Wir haben, wie Sie wissen, auch eine Initiative dazu lig korrekt und rechtens. gestartet und eine Homepage unter www.wirmachensein- facher.de eingerichtet. Danke schön. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy Sensationell!) [SPD]: Siehe Verwaltungsgerichtsentschei- dung Bayern letzte Woche!) Viele Bürgerinnen und Bürger haben uns hier in den letz- ten Wochen und Monaten Vorschläge unterbreitet. Eines der Themen, das immer wieder genannt wurde – das Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: muss man zur Kenntnis nehmen –, war das Statistikun- Ich schließe die Aussprache. wesen in Deutschland. Es ist also vollkommen richtig, dass wir das Thema aufgegriffen haben, uns vorgenom- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf men haben, mit diesem Antrag die Zahl der Statistiken den Drucksachen 15/762 und 15/362 an die in der Tages- zu reduzieren, und ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Überweisungen so beschlossen. Mit Ihrem Antrag reduzieren Sie keine Statisti- (B) ken!) (D) Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: die Bundesregierung aufgefordert haben, entsprechend Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit tätig zu werden. Homburger, Rainer Funke, Rainer Brüderle, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Statistiken reduzieren – Unternehmen entlas- ten – Bürokratie abbauen An Ihrer Stelle würde ich mich darüber nicht aufregen und ständig Zurufe machen; denn es ist kein unanständi- – Drucksache 15/752 – ges Anliegen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Innenausschuss Aufregen sieht bei uns anders aus!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Auch Ihr Minister Clement hat ganz klar gesagt, dass er Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Bürokratie abbauen will. FDP fünf Minuten Redezeit erhalten soll. – Ich höre kei- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Sehr gut!) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Er hat im vergangenen Jahr vollmundig angekündigt, Birgit Homburger, FDP-Fraktion. dass er die Pflichten zum Abfassen statistischer Berichte überprüfen wolle und die Wirtschaft davon spürbar ent- Birgit Homburger (FDP): lasten wolle. Es hieß, er wolle dazu ein Sofortpro- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gramm vorlegen. Das Anliegen kann also gar nicht so Wir haben heute erneut die Möglichkeit, über einen An- unanständig sein, wenn Herr Clement das Gleiche will trag zum Bürokratieabbau zu debattieren. Dieser wird wie die FDP. Doch bei einem Sofortprogramm gehen wir heute von der FDP-Bundestagsfraktion eingebracht. davon aus, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot- Grün, dass es sofort ausgearbeitet wird. Bis jetzt haben (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie aber noch nichts vorgelegt. Deswegen fordern wir Sagenhaft!) die Bundesregierung auf, dem Deutschen Bundestag endlich eine entsprechende Vorlage zu unterbreiten. Im Statistischen Bundesamt sind 2 800 Mitarbeiter beschäftigt, die jährlich circa 350 Bundesstatistiken er- (Beifall bei der FDP) 3320 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Birgit Homburger (A) 62 jährliche und unterjährliche Erhebungen richten Berichtspflichten – unterhalb dieser sind die Unterneh- (C) sich an die Unternehmen. Besonders für kleine und mitt- men nicht berichtspflichtig – nicht abgeschafft, sondern lere Unternehmen bedeuten statistische Erhebungen eine angehoben werden. Wenn es der Bundesregierung mit besondere Kostenbelastung. Die Aufstellungen von dem Abbau von Bürokratie wirklich Ernst ist, dann muss Monats-, Vierteljahres- und Jahresstatistiken werden sie schnell handeln. Clement ist im letzten Jahr als Tiger von den Unternehmen, die zu diesen Auskünften ver- gestartet und zwischenzeitlich als Bettvorleger gelandet. pflichtet sind, als sehr belastend empfunden. Gut jedes dritte Unternehmen empfindet die hieraus resultierende (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Fritz Belastung als hoch oder sehr hoch. Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?) (Beifall des Abg. Dr. Max Stadler [FDP]) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich Insbesondere die mittleren Unternehmen fühlen sich kann Ihnen nur sagen: Nehmen Sie die Chance wahr, die in erster Linie durch die Pflichten zur Berichterstattung Sie durch den Antrag der FDP erhalten! Tun Sie das, was für die amtliche Statistik belastet. Allein bei den Lohn- Sie genauso wie wir für richtig halten – jedenfalls erklä- und Gehaltskosten werden vier Erhebungen durchge- ren Sie das in der Presse –: Entlasten Sie die kleinen und führt. Das muss man sich einmal vorstellen! Dazu zählen mittleren Betriebe von Bürokratie! die Kostenstrukturerhebung, die Verdiensterhebung, die Arbeitskostenerhebung und die Gehalts- und Lohnstruk- Vielen Dank. turerhebung. Immer wieder kommt es dabei zu Doppel- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) erhebungen. Häufig werden Daten abgefragt, die den Unternehmen gar nicht vorliegen und die sie mit sehr viel Aufwand ermitteln müssen. Wenn den Firmen dabei Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: aber ein Fehler unterläuft und sie die gesetzlichen oder Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Sigrid die von den Behörden gesetzten Fristen nicht einhalten, Skarpelis-Sperk, SPD-Fraktion. riskieren sie nach § 23 des Bundesstatistikgesetzes ein Bußgeld. Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Hier muss ich Ihnen sagen: Wir befinden uns in einer Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Statistik Situation, in der wir gerade die kleinen und mittleren Be- ist weder in der Politik noch in der Öffentlichkeit noch triebe von dieser Vielzahl an Doppelerhebungen und – das habe ich gerade von einem Kollegen gehört – im teilweise auch unsinnigen Erhebungen entlasten müssen. Studium an den Universitäten ein besonders beliebtes Wir müssen ihnen Zeit zurückgeben, damit sie andere Thema. Vielen erscheint sie nur als eine kostspielige (B) Dinge für ihre Betriebe tun können, die dringend not- Erbsenzählerei auf Kosten der Steuerzahler und als ein (D) wendig sind. Folterinstrument von Zahlenfetischisten und grauen Her- ren mit Ärmelschonern, die hinter noch graueren (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Schreibtischen sitzen. Noch viel schlimmer ist das durch der CDU/CSU) viele Bonmots zum Ausdruck gebrachte und verbreitete Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: Die Bäcker er- Misstrauen bezüglich des Wahrheitsgehalts von Statisti- zählen mir, dass eine Erhebung vorgenommen wird. In ken, so zum Beispiel in dem berühmten Churchill-Aus- dieser wird abgefragt, wie viel Öl für die Öfen und wie spruch, dass er nur an Statistiken glaubt, die er selbst ge- viel weißes und dunkles Mehl verbraucht und wie viele fälscht habe. Brötchen und Brote damit gebacken werden. Frau Kollegin, das Überraschende ist, dass Statistiken (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: trotzdem sehr gefragt sind. Laut Johann Hahlen, dem Und wie viele Schnecken!) Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, hat beson- ders die Nachfrage aus der Wirtschaft und von Unterneh- – Genau, Herr Kuhn; es wird auch abgefragt, wie viele men nach Daten seines Amtes lawinenartig zugenom- süße Teilchen und Kuchen damit gebacken werden. – Ich men. Das hat einen guten Grund: Trotz aller Vorurteile frage mich, wofür das alles abgefragt wird. Wenn das sind Statistiken ein Schlüsselinstrument für die Wil- niemand erklären kann, dann – das muss ich Ihnen ganz lensbildung in der Politik, der Wirtschaft und der Ge- klar sagen – sollten wir in der Politik gemeinsam agieren sellschaft; denn nur aufgrund einer zuverlässigen Daten- und dafür sorgen, dass das abgeschafft wird und die Un- basis kann der wirtschaftliche und gesellschaftliche ternehmen von einem solchen Unsinn entlastet werden. Wandel erfasst und von Ökonomen und Gesellschafts- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wissenschaftlern in Wissenschaft, Unternehmen und Ad- ministration analysiert werden. Im Übrigen ist der Aufwand auch für die Behörden groß. Deswegen sagen wir ganz klar: Die Bundesregie- Ohne zuverlässige Informationen können keine ratio- rung muss endlich aufhören, immer nur davon zu reden, nalen Entscheidungen getroffen werden. Das dürfen wir dass sie hier etwas tun will. Sie muss endlich handeln. jetzt beim Finanzsystem und aufgrund einiger fürchter- Sie muss Maßnahmen dafür ergreifen, dass Doppelerhe- licher Fehlentscheidungen auf den europäischen und in- bungen unter allen Umständen vermieden werden, und ternationalen Kapitalmärkten feststellen. Dies wissen sie muss prüfen, ob Vollerhebungen zu Stichprobenerhe- Investmentgesellschaften, Banken, multinationale Öl- bungen gemacht werden können. Außerdem sollte dar- konzerne und Produzenten von Konsumgütern. Die IT- auf geachtet werden, dass die Grenzen für unterjährige Branche hat das für ihren Bereich auf die treffliche For- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3321

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (A) mel gebracht: Garbage in, Garbage out. Auf Deutsch (Birgit Homburger [FDP]: Was sagt denn Herr (C) heißt das: Wenn ich mein System nur mit Informations- Clement dazu?) mist füttere, kann als Ergebnis auch nur Mist heraus- zuverlässig und grundsätzlich kostenlos für jeden Bür- kommen. ger, jedes Unternehmen und die Wissenschaft. Dessen Nur die Politik in Deutschland hat das fast zwei Jahr- Qualität und Zuverlässigkeit als Informationsinstrument zehnte unter Ihrer Amtszeit anders gesehen. Die deutsche sind für Politik, Wirtschaft, Verbände und jeden einzel- Statistik ist in punkto Aktualität weit hinter die USA und nen Bürger zentral. leider auch deutlich hinter die EU-Partnerländer zurück- Die britische Regierung hat deswegen in einem viel gefallen. Als wir die Regierung übernommen haben, war beachteten Grünbuch festgestellt, die amtliche Statistik es doch nachgerade peinlich, dass die Bundesbank und sei „a matter of trust“, also eine Frage des Vertrauens. die Europäische Zentralbank von der deutschen Politik Damit dieses Vertrauen erhalten bleibt und das Datenan- mit deutlichen Mahnungen eine Verbesserung der Daten- gebot aktuell und zuverlässig ist, muss sich die amtliche basis eingeklagt haben und die europäischen Finanzmi- Statistik in ihrem Angebot – jetzt kommen wir zum nister, der Ecofin-Rat, am 29. September 2000 einen Ak- Kernpunkt – kontinuierlich an gesellschaftliche und tionsplan mit detaillierten Angaben beschließen mussten, wirtschaftliche Veränderungen anpassen. welche Staaten in welchem Bereich nun endlich ihre Sta- tistiken zu verbessern und anzupassen hätten. Seither gibt (Birgit Homburger [FDP]: Das bestreitet doch es vierteljährlich einen Bericht darüber, welche Staaten kein Mensch!) ihre Hausaufgaben gemacht haben und welche nicht. Das haben Sie in Ihrer Regierungszeit versäumt, was Ih- Dieser europäische Aktionsplan war und ist wichtig, nen international bestätigt worden ist. weil (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) eine genauere und innovative Erfassung und Ana- lyse des rapiden gesellschaftlichen Wandels durch Es ist doch einfach blamabel, wenn einem Land wie ein enges Zusammenwirken von unabhängiger Wis- Deutschland gesagt werden muss, es möge seine Haus- senschaft und unabhängiger Statistik die Politik aufgaben machen und bitte das Niveau von Portugal zielgenauer machen. Nur so können die komplexen oder Griechenland anstreben. Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungsent- (Birgit Homburger [FDP]: Sie reden am wicklung, Strukturänderungen der Wirtschaft, Aus- Thema vorbei!) bildungssystem, Beschäftigung und sozialer Siche- (B) rung richtig verstanden und aufbereitet werden, um Es ist doch absurd, wenn die Deutsche Bundesbank und (D) darauf erfolgreiche Politik aufzubauen. die Europäische Zentralbank anmahnen, die entspre- chenden Daten zu liefern. Wir müssen die Fehler Ihrer So die Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn. Regierungszeit ausbügeln und uns dafür noch Vorwürfe Fehlen nämlich zuverlässige Daten, so kommt es zu ei- anhören. ner erheblichen Erhöhung der Unsicherheit. Das kann für alle, die Entscheidungen fällen müssen, sehr teuer (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sagen Sie werden. nichts gegen Griechenland! Kein deutscher Hochmut!) Die Enquete-Kommission „Globalisierung der – Herr Schauerte, das gehört sich nicht. Sie haben in der Weltwirtschaft“ hat zum Beispiel in ihrem Schlussbe- Enquete-Kommission den Beschluss mitgetragen, aus richt im Juni 2002 parteiübergreifend und einstimmig, dem ich Ihnen vorgelesen habe. liebe Frau Kollegin, also mit Zustimmung der FDP-Ver- treter, das unzureichende Datenmaterial bei der staatli- Sprechen wir nun über die Belastungen. Wenn statisti- chen Erfassung der Globalisierung beklagt: sche Erhebungen gemacht werden, hat man zwei, sich zum Teil widersprechende Anforderungen unter einen Die Enquete-Kommission hat ... immer wieder fest- Hut zu bringen. Die amtliche Statistik muss möglichst stellen müssen, dass wichtige Daten zur Beurtei- effizient sein und die Befragten möglichst gering belas- lung von Globalisierungstatbeständen und -trends ten; darin sind wir alle einer Meinung. nicht in der notwendigen Form zur Verfügung stan- den. Zwar gibt es eine Fülle von statistischen Da- (Birgit Homburger [FDP]: Umso besser!) ten, die von vielen nationalen, internationalen und Die Statistik muss sich zudem an den Bedürfnissen der supranationalen Stellen veröffentlicht werden, aber Benutzer orientieren. Das ist nicht neu. Die rot-grüne allzu häufig sind sie nicht ausreichend aussagekräf- Bundesregierung hat sich seit ihrer Amtsübernahme da- tig. … Für manche Fragen fehlen Daten völlig, an- rum bemüht, die Statistik zu reformieren und den Anfor- dere Daten weisen Mängel in der Tiefengliederung derungen der Zeit anzupassen. Sie hat also jene Schritte, auf. die in dem Antrag der FDP unter dem marktschreieri- schen Titel „Statistiken reduzieren – Unternehmen ent- Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass in einem lasten – Bürokratie abbauen“ gefordert werden, längst demokratischen Staat eine allgemein zugängliche Infor- unternommen. mationsquelle wie die amtliche Statistik, die allen um- sonst zur Verfügung steht, ein öffentliches Gut ist: (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!) 3322 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (A) Was ist bisher auf Initiative der Bundesregierung er- für den Bürokratieabbau generell, die nicht wir zu ver- (C) folgt? Erstens. Sie hat längst – und zwar sofort nach ihrem antworten haben, sondern die in dem föderalen Hickhack Amtsantritt – grundsätzliche Überlegungen angestellt, begründet sind. wie die informationelle Infrastruktur in Deutschland (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) verbessert werden kann. Dazu hatte die Forschungsminis- terin eine eigene Kommission eingerichtet, die ihren Be- Mit diesem Verwaltungsdatenverwendungsgesetz richt am 31. März 2001 übergeben hat. sollte auch untersucht werden, ob sich Daten für Zwecke der Konjunkturstatistik eignen und ob dadurch Erhebun- Zweitens. Zusätzlich hat im Juni 2002 der Statistische gen ersetzt werden können. Außerdem ist geplant, die Beirat – das grundsätzlich berufene Gremium von Nut- Handwerkszählung durch eine Auswertung des von den zern, Befragten und Produzenten der Bundesstatistik – Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder geführ- der Bundesregierung einen Bericht mit dem Titel „Emp- ten Statistikregisters zu ersetzen, um zum Beispiel rund fehlungen zur Weiterentwicklung der amtlichen Statis- 560 000 Handwerksunternehmen von dieser Totalbefra- tik“ vorgelegt. In dem Bericht stellte der Beirat fest, dass gung zu entlasten. bereits die Hälfte der 38 Empfehlungen aus dem Jahre 1999 umgesetzt war. Darunter fallen Maßnahmen zur ra- Des Weiteren ist noch die Vergabe einer Belastungs- tionelleren Gestaltung der statistischen Arbeit und Ver- studie im Gespräch. Diese ist bisher am Widerstand der besserung der Rahmenbedingungen, zur Einschränkung Statistischen Landesämter gescheitert. Auch dafür ist der und Einstellung bestehender Statistiken sowie Prüfauf- Bund nicht verantwortlich. träge zu Berichtssystemen. Sehr geehrte Frau Kollegin, Ich komme deswegen zu der Schlussfolgerung: Der dem Bericht zufolge ist alles, was Sie fordern, bereits Antrag der FDP geht an wesentlichen Problemen vorbei, umgesetzt worden. (Birgit Homburger [FDP]: Wie die Rede der (Birgit Homburger [FDP]: Das sehen die Be- SPD!) troffenen aber anders!) die bei der Erneuerung der Statistik in der kommenden Weitere 17 Empfehlungen waren noch in Bearbei- Wissens- und Informationsgesellschaft auftreten. Die tung. Alles zusammengenommen ist also weit mehr er- FDP vergisst, dass Wissen nicht eine Quantité néglige- folgt, als mit den im FDP-Antrag erwähnten, in den ver- able ist, sondern zu einem Produktionsfaktor avanciert gangenen fünf Jahren abgeschafften neun Statistiken ist. In den Punkten, in denen der Antrag vernünftige Vor- suggeriert wird. Frau Kollegin, Sie sind in der Statistik schläge enthält, sind diese nichts Neues und das meiste nicht auf der Höhe der Zeit! davon ist schon auf den Weg gebracht worden. Nimmt man die Statistikbereinigungsgesetze des letz- (B) (Beifall bei der SPD) (D) ten Jahrzehnts, die Tests mit der bundeseinheitlichen Wirtschaftsnummer für Unternehmen, Betriebe und sonstige wirtschaftlich Tätige sowie das Kernprojekt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: „Vereinfachung der amtlichen Statistik“ aus dem im Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander Februar 2003 von der Bundesregierung beschlossenen Dobrindt. Masterplan Bürokratieabbau hinzu, so fragt man sich nach dem Sinn des von der FDP eingebrachten Antrags (Beifall bei der CDU/CSU) und der darin aufgelisteten Forderungen. Alexander Dobrindt (CDU/CSU): (Zuruf von der SPD: Nicht nur bei denen!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Viel wichtiger wäre es, sich auch in den Bundesländern Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie am Wochenende gemeinsam mit uns für die Verabschiedung des Verwal- alle wieder in ihren Wahlkreis gehen und mit den Bür- tungsdatenverwendungsgesetzes – das ist ein schreck- gern und den Unternehmern reden, dann stellen Sie fest, lich langer Name für ein Gesetz – einzusetzen. dass neben der berechtigten allgemeinen Unzufrieden- heit über diese Bundesregierung ein weiteres Thema im- (Dr. [FDP]: Ihre lange Rede sit- mer wieder artikuliert wird, nämlich das Übermaß an bü- zen wir auch aus!) rokratischen Regelungen und im besonderen die Flut an Denn damit könnte ein gewaltiger Schritt zur Entlastung statistischen Meldungen. Es geht dabei inzwischen um der Befragten – auch der kleinen und mittleren Unter- weit mehr als um die faktische Bewältigung dieser Sta- nehmen – erfolgen. Stattdessen gibt es ein dauerndes tistiken, die immer auch mit finanziellen Belastungen Hickhack mit den Bundesländern. Ich habe übrigens ei- verbunden sind. Nein, die statistische Auskunftspflicht nen wunderschönen Brief aus dem Land Baden- in Deutschland hat sich zu einem psychologischen Pro- Württemberg gelesen, in dem der zuständige Minister blem entwickelt. angeordnet hat: Diese Statistik darf nicht geändert wer- Viele Betriebe sehen darin eine unzumutbare Gänge- den; diese Änderung darf nicht vorgenommen werden lung durch den Staat, die die Unternehmen – ich spreche und an dieser Stelle gibt es ein Problem. hier in erster Linie von den mittelständischen Unterneh- Die Bundesregierung ist insofern nicht an den Verzö- men – Zeit und Geld kostet, was angesichts trüber Kon- gerungen schuld. Das stelle ich nachdrücklich fest. Es junkturprognosen oft sogar für den Fortbestand eines gibt eine Fülle von Verzögerungen für die Reduzierung Betriebes entscheidend sein kann. Allein die Tatsache, von Statistiken, für die Entlastung der Unternehmen und dass sich der Deutsche Bundestag mit Bürokratieabbau Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3323

Alexander Dobrindt (A) und der Reduzierung von Statistiken beschäftigt, löst bei um die Arbeitslosigkeit von 4,6 Millionen Menschen zu (C) einer Reihe von Unternehmen reine Angstschweißreakti- bekämpfen. onen aus. Das muss uns auch nicht verwundern; denn in dem Maße, in dem wir zum wirtschaftlichen Schlusslicht (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Wir gucken in Europa geworden sind, haben wir uns zum Weltmeis- mal, wie die in Bayern vorangehen!) ter der bürokratischen Hürden hochgearbeitet. Die Bundesregierung – ich komme schon zu Ihnen – Über 85 000 Gesetze, Verordnungen und Einzelvor- hat im letzten Jahr einen Masterplan für Bürokratieabbau schriften gibt es inzwischen in Deutschland. Diese Bun- versprochen. Inzwischen hat das Bundeskabinett Eck- desregierung hat in den letzten Jahren maßgeblich dazu punkte daraus verabschiedet. Auf der Internetseite des beigetragen, dass es noch mehr und nicht weniger ge- Innenministeriums lässt sich lesen, dass an dem umfas- worden sind. senden Sofortprogramm fünf Ministerien beteiligt sind. Anschließend ist zu lesen: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Um Wachstum und Beschäftigung in Deutschland zu fördern, wird die Bundesregierung Bürokratie Die Zahlen sprechen für sich: 400 neue Gesetze, weiterhin konsequent abbauen. 1 300 Rechtsverordnungen. Wenn man von der Einberu- fung einer weiteren Kommission spricht, dann schauen Solche Ankündigungen treiben dem Mittelstand und Sie sich einmal die Reaktion der Menschen an, die Sie den Menschen in Deutschland, wie so oft während Ihrer erleben werden. Regierungszeit, den Angstschweiß ins Gesicht. Wenn Sie damit ausdrücken wollen, dass Sie so weitermachen Aber immerhin: Das Problem ist zum Teil erkannt wie bisher, dann scheinen Sie auch das Problem nicht worden und Minister Clement hat bei der Aussprache wirklich verstanden zu haben. Wenn Sie Wachstum und zur Regierungserklärung am 30. Oktober letzten Jahres Beschäftigung in Deutschland fördern wollen, dann er- verkündet: greifen Sie endlich die notwendigen Maßnahmen. Heben Wir müssen den Prozess der Überwindung von Sie das Kündigungsschutzgesetz für Neueinstellungen Überbürokratie in Deutschland wirklich mit neuen bei Betrieben mit unter 20 Beschäftigten auf, lassen Sie Ideen voranbringen. Der Wettbewerb der Ideen ist die betrieblichen Bündnisse für Arbeit zu, stellen Sie die eröffnet. Kleinbetriebe von statistischen Auskunftspflichten weit- gehend frei. Wir von der Union haben inzwischen eine ganze Reihe von Ideen und zentralen Themen angesprochen, Ich kann auch aus persönlichen Erfahrungen berich- wie zum Beispiel die verstärkte Befristung von Geset- ten. Vier Statistiken müssen parallel in meinem Unter- (B) (D) zen, die Einführung von Experimentier- und Öffnungs- nehmen erfasst werden. Wenn man an geeigneter Stelle klauseln und die Einberufung eines Parlamentsausschus- kritische Anmerkungen dazu macht, dann bekommt man ses, der die spezifische Aufgabe hat, die Antwort zu hören, dass man froh sein müsse, dass es nicht noch mehr seien. Wenn auch noch ein kleiner Feh- (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Was hat ler vorhanden ist, dann wird man aufgefordert, das beim das mit der Statistik zu tun?) nächsten Mal gefälligst richtig zu machen. So geht man Bürokratieabschätzungen abzugeben und an den sich mit Menschen bei uns um, die Arbeitsplätze schaffen Bürger und Unternehmen wenden können, um auf nicht und für Beschäftigung sorgen. hinnehmbare bürokratische Gesetzesfolgen hinzuweisen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Derjenige, der Bürokratie schafft, muss sie auch wie- Aber die Bürgerbeteiligung ist beim Thema Büro- der abbauen. Deswegen sind Sie aufgefordert, hier end- kratieabbau bei den Regierungsfraktionen gar nicht so lich tätig zu werden. Wie sieht es denn mit dem Zeitplan erwünscht. Anders ist es auch nicht zu erklären, dass in für den Masterplan Bürokratieabbau aus? Am 26. Fe- der letzten Version ihres Koalitionsvertrags genau dieses bruar dieses Jahres war der Beginn des Sofortpro- Thema herausgestrichen worden ist. gramms. Es wurde anschließend eine entsprechende Geschäftsstelle im Innenministerium eingerichtet. Am In Bayern sind inzwischen Hunderte von Unterneh- 1. April dieses Jahres sind angeblich – darüber hätte ich men und Bürgern dem Aufruf der Staatsregierung ge- heute gerne etwas gehört – mindestens drei Vorhaben folgt und haben sich aktiv dem Thema Bürokratieabbau zum Bürokratieabbau je Ressort genannt worden. An- gewidmet. 700 Praxisvorschläge sind bisher erarbeitet schließend fand die erste Sitzung des Staatssekretäraus- worden. Das zentrale Ergebnis steht fest: In Deutschland schusses statt. Wir hätten auch hier gerne etwas darüber gehen viel zu viele produktive Energien durch übermä- gehört, was das ist und was dieser Ausschuss tut. Das Er- ßige Bürokratie verloren. gebnis scheint eher dürftig zu sein. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Belastungen des Mittelstandes mit Vorschriften Das sind Energien, die wir dringend bräuchten, um – angefangen mit Brüssel bis hin zu den Kommunen – die Wachstumskräfte in Deutschland wieder sprießen zu lassen den Firmen immer weniger Luft zum Atmen. lassen. Bringen Sie doch endlich ein Bürokratiewu- Alle 15 Minuten geht in der Bundesrepublik Deutsch- cherabbaugesetz in den Bundestag ein. Das wäre der land ein Unternehmen in die Insolvenz. Wenn Sie nicht richtige Schritt. Das wäre ein entscheidender Beitrag, endlich die dringendsten Maßnahmen ergreifen, wird 3324 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Alexander Dobrindt (A) der Mittelstand, das Rückgrat unserer Wirtschaft, zu- Ländern geklärt. So ist es und so wird es gemacht. (C) sammenbrechen. Punkt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich darf abschließend nochmals Wirtschaftsminister Clement zitieren. Er hat am 30. Oktober letzten Jahres Zum Abschluss möchte ich noch etwas an die Adresse gesagt: „Was geht, ist eine deutliche Reduzierung statis- der FDP sagen. Wenn man eine schlechte Strategie ge- tischer Meldungen.“ Legen Sie los. Wir werden Sie da- wählt hat – ich war zwölf Jahre lang Vorsitzender einer ran nicht hindern. Oppositionsfraktion; deswegen verstehe ich etwas von dem Geschäft –, dann ist man leicht versucht, folgender- Danke schön. maßen vorzugehen: Man schaut, was die Regierung oh- nehin schon macht, stellt dann schnell einen Antrag und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sagt, es müsse endlich etwas geschehen. Das ist eine Beschäftigungstherapie, mit der Sie öffentlich Ein- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: druck machen wollen. Das ist aber nur hohler Wind und Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn. bringt in der Sache überhaupt nichts. (Birgit Homburger [FDP]: Was ist denn Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „hohler Wind“?) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So verhält es sich auch mit Ihrem Antrag. Alle, die et- Wenn man den FDP-Antrag liest – um an die Ausführun- was davon verstehen, wissen, dass sich die Regierung gen meines Vorredners anzuknüpfen –, dann stellt man dieses Themas angenommen hat und es längst vielfältige fest, dass es dort um etwas anderes geht als das, wovon Gespräche zwischen Bundes- und Landesstatistikern Sie, lieber Kollege, gesprochen haben. Es geht um das gibt. Aber Sie tun so, als hätten Sie alles neu erfunden, Statistikwesen in Deutschland und dessen Auswirkun- und stellen einen Antrag. Da Sie offenbar so viel Zeit ha- gen auf die Wirtschaftsbetriebe. Ihre Rede wäre vor drei ben, Frau Homburger, kann ich das ja verstehen. Ich Wochen angemessen gewesen; denn damals ging es ge- kann aber nicht verstehen, warum Sie das ganze Haus nerell um Bürokratieabbau. Aber das schadet ja nichts. mit solchen überflüssigen Anträgen aufhalten. Diese Vielleicht haben Sie Ihre damalige Rede recycelt. Frage ist bisher nicht beantwortet. Ich halte es für nicht zielführend, wenn die Opposi- Danke schön. tion ständig sagt, wir machten alles falsch, während die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) (B) Regierung das Gegenteil behauptet. Bei nüchterner Be- und bei der SPD – Birgit Homburger [FDP]: trachtung stellt man fest, dass es um einen klassischen Wir sind uns mit der SPD einig, dass etwas ge- Zielkonflikt geht. Wir, die Politiker, sowie viele Unter- schehen muss!) nehmer und Vertreter der Unternehmensverbände wollen qualifiziertes Datenmaterial zur Begleitung und Beurtei- lung dessen, was wirtschaftlich und wirtschaftspolitisch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: richtig ist. Wir brauchen verlässliche Konjunkturdaten; Das Wort hat jetzt der Kollege Schauerte. deshalb ist es schlecht, wenn es statistische Fehlerquel- len gibt oder wenn die Daten unzureichend sind. Das ist (Dr. Uwe Küster [SPD]: Schauerlich, schauer- die eine Seite. Auf der anderen Seite nervt es viele Be- lich!) triebe in Deutschland – es geht um eine beträchtliche Zahl –, wenn sie regelmäßig Fragen beantworten und bei Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Fehlern mit den von Ihnen geschilderten Sanktionen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- rechnen müssen. Zum Teil sind die Fragen schwer zu be- lege Kuhn, wie unnütz hier die Zeit verbracht wird, antworten. Man weiß ja aus eigener Lebenserfahrung, hängt von jedem Debattenredner selbst ab. Sie hätten aus dass es einen ärgert, wenn einem eine Frage gestellt Ihrer Redezeit etwas machen können. wird, die man nicht beantworten kann. Außerdem entste- hen den Betrieben aufgrund der statistischen Erhebun- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und gen Kosten und Zeitverluste. Das ist der Zielkonflikt. der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Zwei Finger nehmen und in die Mitte des Gesichts führen!) Nun versucht die Regierung – ein entsprechender Ge- setzentwurf liegt bereits auf dem Tisch; über ihn wird Ich bin für jede Gelegenheit dankbar, über dieses noch im Ausschuss beraten werden –, ein anderes Ver- wichtige, aber auch ärgerliche Thema zu sprechen. Da- fahren zu finden, in dessen Rahmen weniger Primärda- bei gibt es für mich keine erste und zweite Vaterschaft. ten und mehr Sekundärdaten, so genannte Verwaltungs- Wir alle wissen, dass es im Hinblick auf die Statistiken daten, erhoben werden, sodass man qualifizierte wie auf die Bürokratie insgesamt ein dickes Problem Informationen für die Konjunkturstatistiken hat und die gibt. Ich erinnere nur daran, dass der Bundeskanzler in Wirtschaft weniger nerven muss. Wir machen das auch. seiner ersten Regierungserklärung den Bürokratieabbau Das einzige Problem ist jetzt noch die Auseinanderset- zu einem seiner zentralen Anliegen gemacht hat. Das Er- zung mit den Ländern über die Kostenverteilung. Diese gebnis war das Gegenteil. Ich füge hinzu: mea culpa; wird noch einmal überprüft und gemeinsam mit den auch in unserer Regierungszeit ist der Bürokratieabbau Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3325

Hartmut Schauerte (A) überhaupt nicht ausreichend gelungen. Niemand von uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fritz (C) hat Veranlassung, zufrieden zu sein. Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir machen es doch schon!) Aber das Problem ist eher größer als kleiner gewor- den. Ich verdeutliche dies an wenigen Zahlen, damit man – Nein, es fehlt noch der nötige Nachdruck. ein Gefühl für dieses Problem bekommt: In der 8. Wahl- Ich schildere Ihnen ein paar Ansätze, die heute noch periode wurden 237 Gesetze verabschiedet, in der fehlen. Die CDC/CSU-Fraktion hat ein Programm mit 9. Wahlperiode 97, in der 10. Wahlperiode 256, in der dem Titel „Bürokratie abbauen – nicht reden, handeln 11. Wahlperiode 293. Dann kam die Wiedervereinigung und den mutigen Wurf wagen“ verabschiedet. In ihm mit dem unvermeidlich hohen Anpassungsbedarf. In der geht es darum, geltende Vorschriften auf den Prüfstand 12. Wahlperiode schnellte die Zahl auf 460 hoch, in der zu stellen. In Zukunft muss geregelt sein, dass man für 13. Wahlperiode sank die Zahl wieder auf 400. Dann jede neue Vorschrift die Abschaffung zweier Vorschrif- kam Ihre erste Regierungsperiode, in der Sie die Zahl ten vorschlägt. Dies führt zu einem hohen Disziplinie- der Gesetze auf den absoluten Spitzenwert von 489 er- rungserfolg bei jedem, der ein neues Gesetz will. höhten. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE Völlig willkürliche Zahl!) GRÜNEN]: Das war der Reformstau!) – Wir können auch drei nehmen, wenn Ihnen das zu we- Es ist aber nicht nur die Zahl der Gesetze, sondern es nig ist. Ich will nur, dass wir an dieser Stelle irgendetwas sind auch die damit einhergehenden Belastungen gestie- machen. gen, obwohl wir alle davon reden, dass hier eine Redu- zierung notwendig ist. Das kann uns nicht zufrieden stel- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: len. Sie wollen einfach irgendetwas machen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich nenne Ihnen noch eine willkürliche Zahl: Wir wollen, dass alle Verordnungen, die vor dem 1. Januar Daher haben wir auch ein paar Probleme damit, jetzt 1980 erlassen wurden, zum 31. Dezember 2004 ersatzlos Ihren Ankündigungen Glauben zu schenken. Unsere außer Kraft treten. Wissen Sie was? Würde man so ver- besten Wünsche, Hoffnungen und Gebete begleiten Sie. fahren, würde in Deutschland nichts passieren. Sie müss- Wir möchten, dass auf diesem Gebiet etwas passiert. Im ten schon beweisen, dass das Gegenteil der Fall ist. Moment stellen Sie auf Bundesebene die Regierung. Beispielsweise hat das Saarland in diesem Bereich (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wirklich große Erfolge erzielt. Die neue Regierung von Was heißt „im Moment“? – Gegenruf von der (B) Ministerpräsident Müller hat dieses Problem angepackt (D) CDU/CSU: Nicht mehr lange!) und ist bisher weitergekommen, als man gedacht hat. – Ja, das wird nicht mehr lange dauern. – Sie sind gegen- Schicken Sie Ihre Mitarbeiter einmal dorthin, um sich über der europäischen Ebene sprachfähig, was bei die- das anzuschauen! Warum macht man auf der Bundes- sem Thema nicht zu unterschätzen ist. Hier sind wir als ebene nicht etwas Ähnliches? Opposition fast einflusslos; wir können kaum etwas ge- Verfallsautomatismus: stalten. Aber wir haben eine Mitverantwortung in den Ländern. Hier könnte doch eine große Koalition zum Alle Verwaltungsvorschriften sind künftig fünf wirksamen Abbau der Bürokratie zustande kommen. Jahre nach ihrem In-Kraft-Treten daraufhin zu Wer hindert uns denn daran, dieses Thema wirklich ernst überprüfen, ob sie weiterhin Bestand haben sollen. zu nehmen? Wir müssen entsprechende Selbstbindungen des Parla- Dass die Bürokratie eine unerträgliche Belastung dar- ments, des Gesetzgebers beschließen, damit auf diesem stellt, die sich auf vieles wie Mehltau legt, dass wir bei je- Gebiet wirklich einmal etwas passiert. der Angstsituation in Deutschland einen unglaublichen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zusätzlichen Wust an neuer Bürokratie produzieren, ohne neten der FDP) irgendwo etwas wegzunehmen, kann uns doch nicht zu- frieden machen. Wenn wir nur einmal nachvollziehen, Wir sind zu bequem, wir lassen die Dinge laufen und was bei irgendwelchen Lebensmittelskandalen – ich wundern uns dann. denke hier nur an die BSE-Krise – und Gesundheitspro- Stichwort Genehmigungsverfahren: Was passiert blemen an neuer Bürokratie entsteht und was wir in der beim Richterrecht? Um dort zu fundamentalen Änderun- Finanzwirtschaft an neuen Bürokratien aufbauen, wenn gen zu kommen, müssen wir gemeinsam einen Ansatz es eine große Pleite im Land gibt – das reicht bis hin zu verfolgen. Vernünftige Menschen dürften darüber ei- Basel II und den damit zusammenhängenden Konse- gentlich keinen ideologischen Streit führen. Anders ver- quenzen –, dann können wir uns doch nicht gemütlich hält es sich, wenn man sagt: Dieser Staat ist neugierig; zurücklehnen. dieser Staat will immer mehr wissen; dieser Staat will Insofern macht es überhaupt keinen Sinn, zu fragen, immer mehr planen. Das war der Ansatz von Frau wie man überhaupt einen solchen Antrag stellen könne. Skarpelis-Sperk, die im Grunde genommen die Auffas- Sie hätten den Antrag stellen können, wir hätten ihn stel- sung vertreten hat, wir brauchten von allem mehr, bis zur len können, die FDP hat ihn stellen können. Wir müssen Regierungsübernahme von Rot-Grün habe es zu wenig das Thema ernst nehmen. gegeben. Das war ihr Vorwurf, ein ganz interessanter 3326 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Hartmut Schauerte (A) Beitrag zum Thema Entbürokratisierung. Dann haben Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) Sie ausgerechnet Griechenland als Beispiel genannt. Sie Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre möchten nicht, dass zu diesem Land ein Vergleich gezo- keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so. gen wird, was ich bei Ihnen persönlich gar nicht ver- stehe. Das ist doch in Ordnung, es ist keine Diskriminie- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die rung anderer Länder! Abgeordnete Margrit Wetzel.

Wir können heute feststellen, dass diejenigen Länder, Dr. Margrit Wetzel (SPD): die weniger Bürokratie haben, arbeitsmarktpolitisch, wirtschaftspolitisch und wachstumsmäßig erfolgreicher Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! als diejenigen sind, die viel Bürokratie haben. Stellen Sie sich vor, dass Sie am PC sitzen und „Daten- service“ anklicken. Die Frage „Nutzungsbedingungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) akzeptieren?“ beantworten Sie mit Ja und es erscheint eine Karte „Bund, Länder, Regionen“. Per Mausklick Gerade deswegen sollten wir uns mit diesen Ländern kommen Sie immer tiefer in den Datensatz, bis Sie einmal vergleichen und uns die Fragen stellen: Warum schließlich auf einer Karte Ihre Stadt, Ihren Landkreis funktioniert es denn da und warum ist es bei uns so kom- oder Ihr Dorf sehen. Die Menüleiste bietet Ihnen wichtige pliziert? Ich will das nicht vertiefen. Themenfelder an, offene Stellen auf dem Arbeitsmarkt, wichtige Daten aus der Land- und Forstwirtschaft, Kli- Uns in der Union wäre sehr lieb, wenn diese kleine madaten, Wetterdaten, Umweltdaten, Raumplanungsda- Debatte dazu beitragen würde, dass wir anfangen, dieses ten, Verkehrsdaten, Navigationsdaten und Bodennut- Thema wirklich ernst zu nehmen. Wir haben bei keinem zungsdaten. Bund, Länder und Kommunen speisen Thema in der Vergangenheit so viel gelogen wie bei dem tagesaktuell qualitätsgesicherte Daten ins Netz ein und des Bürokratieabbaus. Wir alle haben darüber geredet; Sie haben den Zugriff auf alle Daten, die Ihr Herz be- aber wir alle sind die Lösung dieses Problems nicht gehrt, und zwar als Überlagerung topographischer Kar- wirklich konsequent angegangen und wir alle haben ten anschaulich dargestellt. nicht mutig in die Strukturen eingegriffen, weil wir Poli- tiker uns diesbezüglich fast ohnmächtig fühlten. Ich Habe ich damit bei Ihnen als Nutzer oder als Verbrau- möchte nicht, dass das so weitergeht. cher Wünsche geweckt? Leider sind wir noch nicht so weit – leider. Glauben Sie, dass unsere moderne IT-Ge- Ich will, dass wir gemeinsam mit den Beamtenappa- sellschaft ohne diese Entwicklung auskommt? Wissen raten diesen Moloch ausdünnen, um die Bürokratie Sie, wie viele kleine und mittlere Unternehmen nur da- schlanker, effektiver und beherrschbarer zu machen. rauf warten, all die Techniken und Dienstleistungspakete (B) Fangen Sie damit an! Unsere Gebete, unsere Hoffnungen rund um diesen Zukunftsmarkt zu entwickeln, und wie (D) und unsere besten Wünsche begleiten Sie. Wir werden viele Arbeitsplätze damit geschaffen werden können? Sie nicht stören. Aber seien Sie einmal ein bisschen mu- Wissen Sie, dass viele potenzielle Anbieter von Daten tig! kaum über die Wünsche der Nutzer informiert sind und dass viele potenzielle Nutzer viel zu wenig darüber wis- Herzlichen Dank. sen, woher sie die benötigten Daten erhalten können? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Umsatz der Geoinformationswirtschaft in Deutschland liegt unter 100 Millionen Euro, aber das zu- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: künftig bei uns zu erschließende Marktpotenzial wird auf fast 7 Milliarden Euro geschätzt. Es lohnt also, sich Ich schließe damit die Aussprache. mit diesem wichtigen Zukunftsmarkt zu befassen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Das haben wir als Parlament vor zwei Jahren das erste Drucksache 15/752 an die in der Tagesordnung aufge- Mal getan, um die Aktivitäten der Bundesregierung und führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan- des von ihr eingesetzten Interministeriellen Ausschus- den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung auch ses für Geoinformationswesen – kurz „IMAGI“ ge- so beschlossen. nannt – zu begleiten und zu unterstützen. Was alles in- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: zwischen an Fortschritt und Verbesserung erreicht wurde, kann Staatssekretär Körper für das BMI viel au- Beratung des Antrags der Abgeordneten thentischer vermitteln. Deshalb bleibt mir an dieser Stelle Dr. Margrit Wetzel, Klaus Brandner, Doris nur, einen überzeugten und ganz herzlichen Dank an all Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu richten, die in der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Thea den Ministerien und Behörden so engagiert und motiviert Dückert, Volker Beck (Köln), Hans-Josef Fell, und auch nachdrücklich an diesem Thema arbeiten. Sie weiterer Abgeordneter und der Fraktion des haben es verdient, dass ihr Einsatz von der Öffentlichkeit BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN wahrgenommen wird. Wir als Koalitionsfraktionen wol- len mit der heutigen Debatte auch zum Ausdruck brin- Nutzung von Geoinformationen in Deutsch- gen, dass wir das in höchstem Maß würdigen. land voranbringen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Drucksache 15/809 – DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3327

Dr. Margrit Wetzel (A) – Danke für die Unterstützung. Sie gilt den Mitarbeite- Zusammenhang kann ich nur nachdrücklich auf die her- (C) rinnen und Mitarbeitern der Ministerien. vorragenden Erfahrungen verweisen, die wir beim Bun- deswirtschaftsministerium gerade mit dem maritimen Nun zum Blick nach vorn; denn wir als Parlament Koordinator gemacht haben. Dies kann ein Beispiel da- wollen ja unterstützen. Bund, Länder und Kommunen für sein, wie auch im Geoinformationsmarkt eine opti- sind die größten Halter und Erheber unterschiedlichster male Zusammenarbeit zwischen Behörden und der Wirt- Geodaten. Nutzer oder Anwender orientieren sich aber schaft erfolgen kann. Deshalb bitte ich das Haus ganz weder an Ländergrenzen noch am föderalen System oder herzlich um Zustimmung zu unserem Antrag. an der kommunalen Selbstverwaltung. Nutzer erwarten Transparenz, schnellen, einfachen und preiswerten Zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gang zu allen Daten, die zudem kompatibel, miteinander DIE GRÜNEN) verknüpfbar und für vielseitige Nutzungen verfügbar sein sollen. Weil wir immer wieder feststellen, dass das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: leider noch nicht umfassend möglich ist, sondern insbe- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Vera Dominke. sondere die unterschiedlichen Zuständigkeiten zu Stol- persteinen werden, bitten wir die Bundesregierung, uns einen Bericht darüber zu geben, welche Probleme bei der Vera Dominke (CDU/CSU): Koordination des Geoinformationsmarkts auf Bundes- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und Länderebene noch bestehen. Seit gestern liegt uns der Antrag von Rot-Grün „Nutzung von Geoinformationen in Deutschland voranbringen“ Wir wollen Transparenz und einfache Weitergabe von auf dem Tisch. Ein hehres Ziel, ein Ziel, dem auch wir Daten möglich machen. Das Informationsfreiheitsgesetz, uns verpflichtet fühlen, ein Ziel, dessen parlamentari- das wir so bald wie möglich in den Bundestag einbrin- sche Behandlung die Fraktion der CDU/CSU in der letz- gen wollen, aber auch E-Pricing-Modelle mit einheitli- ten Legislaturperiode vor drei Jahren mit ihrer Großen chen Abgaberegelungen sollen die Eintrittsbarrieren Anfrage „Nutzung der Geoinformationen in Deutsch- beim Geoinformationsmarkt senken. Möglicherweise land“ angeschoben hat. kann es über das Internet sogar zu einer unentgeltlichen Grundversorgung mit Geodaten kommen; das wollen Worum geht es dabei? Geoinformationen sind orts- wir zumindest gern geprüft wissen. und raumbezogene Daten, die heute auf allen Ebenen, in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung, und in unser Sicherlich besteht auch Konsens darüber, dass in das aller täglichem Leben von Bedeutung sind: ob Radwan- Notfallvorsorgeinformationssystem, dessen Geofachda- derkarte oder Raumplanung, ob Navigationssystem im ten überwiegend von den Ländern erfasst werden, alle PKW oder Landesverteidigung, ob Naturschutz oder (B) (D) notwendigen und wichtigen Daten einfach und schnell Hochwasserkatastrophe – in nahezu allen Bereichen ba- eingebracht werden und sowohl Bundes- als auch Län- sieren die entscheidenden Daten und Systeme auf Geoin- derbehörden zur Verfügung stehen müssen. formationen. In der Geoinformation steckt ein gewalti- Wir nehmen die Aktivitäten auf der Arbeitsebene von ges wirtschaftliches Potenzial, das darauf wartet, in Bund und Ländern, die die Entwicklung des Geodaten- Deutschland stärker als bisher aktiviert zu werden. markts voranbringen, mit großer Zufriedenheit zur Vor zwei Jahren hatte die CDU/CSU-Fraktion einen Kenntnis und bitten deshalb die Bundesregierung, diese Entschließungsantrag eingebracht, der konkrete und ziel- Bemühungen durch die Einladung der Länder zu einer führende Maßnahmen hierzu beinhaltete. Rot-Grün ver- strategischen GDI-Deutschland-Konferenz zu unterstüt- hinderte die Verabschiedung dieses Antrages. zen. (Widerspruch bei der SPD) Die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft – das hat auch die vom Bundeswirtschaftsminister in Auftrag ge- Der Parlamentarische Staatssekretär Körper sprach da- gebene Studie gezeigt – kann intensiviert werden und mals mit großen Worten davon, wofür die Bundesregie- Nutzen für alle Beteiligten bringen. Dies sollte zum ei- rung alles sorgen werde. nen durch Public Private Partnership geschehen, in der (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das macht er sich Kreativität, Flexibilität und Marktnähe der kleinen öfter! Darin ist er groß!) und mittleren Unternehmen voll entfalten können. Zum anderen wird – davon gehen wir aus – der wechselseitige Heute, gerade einmal zwei Jahre später, scheint urplötz- Austausch des IMAGI mit der Wirtschaft in einem Kura- lich die Untätigkeit der Bundesregierung so dramatisch torium neue Impulse und Transparenz für beide Seiten geworden zu sein, dass sich die Koalitionsfraktionen ge- bringen und dazu führen, dass Angebot, Nachfrage und nötigt sehen, in nur zwei Tagen einen Eilantrag durchzu- Entwicklung des Geoinformationsmarkts noch besser an peitschen, in dem die Bundesregierung aufgefordert den Bedürfnissen der Anwender und den Möglichkeiten wird, tätig zu werden. der Anbieter ausgerichtet werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Benennung eines Government-to-Business-Mo- Das tut auch Not. Wurde vor zwei Jahren von Rot-Grün derators als zentralen Ansprechpartner des Bundes für noch begrüßt, dass der IMAGI die Konzeption eines effi- Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft, der auch die zienten Geodatenmanagements des Bundes erarbeitet nationalen Interessen Deutschlands in der Geoinformati- habe und gegenwärtig mit dessen Umsetzung befasst sei, onswirtschaft vertritt, halten wir für hilfreich. In diesem wird in dem heute vorliegenden Antrag als deutlicher 3328 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Vera Dominke (A) Fortschritt festgestellt, dass der IMAGI die bereits exis- Deutschland wirklich vorwärts bringt. In seiner jetzigen (C) tierende Konzeption für das Datenmanagement zu einer Form können wir dem Antrag nicht zustimmen. Konzeption der Dateninfrastruktur weiterentwickelt und eine Strategie für die Umsetzung beschlossen hat. Von Vielen Dank. der vor zwei Jahren bevorstehenden tatsächlichen Um- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) setzung ist heute nicht mehr die Rede. Um zu allen Positionen dieses Antrages etwas zu sa- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gen, reicht die Redezeit leider nicht aus. Aber auf einige Liebe Frau Kollegin Dominke, wir gratulieren Ihnen Punkte will ich hier doch noch kurz hinweisen: im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede. An mehreren Stellen dieses Antrages schimmert (Beifall) durch, dass an der Länderkompetenz für das amtliche Vermessungswesen gerüttelt werden soll. Das ist mit uns Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Josef Fell. nicht zu machen. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und Kol- legen! Geoinformationen stellen eine wichtige Datenba- Die Forderung nach Einsetzung eines Kuratoriums, sis dar. Sie machen Planungen zielgenau und effektiv. um die Wirtschaft stärker einzubeziehen, erscheint äu- Rot-Grün hat die Bedeutung der Geoinformationen stets ßerst unausgegoren. Was soll ein solches Kuratorium erkannt und ernst genommen. Dafür, Frau Dominke, tun? Wer soll ihm angehören? Welche Kompetenzen braucht es nicht die Aufforderung der Union. Ihre Ab- sind ihm zugedacht? Sinnvoller wäre es zum Beispiel, lehnung auch einzelner wichtiger Punkte dieses Antrags den IMAGI zu einer Arbeitsgruppe umzugestalten, in die zeigt wiederum, dass Sie es mit dem Ausbau der Nut- Wissenschaft, Wirtschaft und, viel stärker als bisher, die zung von Geoinformationen nicht sehr ernst meinen. Länder integriert werden, statt eine zusätzliche dritte In- stitution einzurichten. Rot-Grün hingegen hat die Möglichkeiten der Erfas- sung von Geoinformationen stetig ausgeweitet. Vor (Beifall bei der CDU/CSU) allem in der Forschungsförderung wurde darauf Wert gelegt. Ich erinnere nur an den Ausbau der Satellitenbe- Statt die Benennung eines G2B-Moderators zu for- obachtung, zum Beispiel über Envisat, oder auch die dern, wie es im Antrag steht – wer weiß schon, was das kontinuierliche Verdichtung von Messstationen, bei- ist? –, sollte besser die Forderung, die auch der Dachver- spielsweise bei der Erfassung von Umweltdaten. (B) band DDGI stellt, nach einem hochrangigen Beauftrag- (D) ten umgesetzt werden. In den verschiedensten Bereichen liefern Geoinfor- mationen die entscheidende Planungsbasis. Dazu gehö- (Zuruf von der SPD: Machen wir doch!) ren so wichtige Felder wie der Hochwasserschutz und – Das steht im Antrag noch nicht drin. die Hochwasserwarnung, Waldschadensüberwachung, Gewässergüte, Luftreinhaltung oder andere Umwelt- Was ist mit der „partnerschaftlichen Zusammenarbeit schutzdaten, zum Beispiel auch für die Klimaforschung. mit KMU im Bereich des Vertriebsstrukturenaufbaus“ Besonders bedeutsam sind Geoinformationen neben dem gemeint? Was steckt in Wirklichkeit dahinter? Umweltschutz aber auch für Planungen in der Landwirt- Schließlich ein letztes Beispiel für die Unausgegoren- schaft, für den Verkehr, in der Raumordnung und für vie- heit dieses Antrages. Im Forderungskatalog für die Bun- les mehr. desregierung erscheint die baldige Verabschiedung eines Aufgrund der heutigen, umfassend ausgeweiteten Informationsfreiheitsgesetzes. Meine Damen und Her- Möglichkeiten liegen eine Fülle von Daten vor, die auf- ren, seit wann verabschiedet die Bundesregierung Ge- gearbeitet und zur Verfügung gestellt werden müssen. setze? Das fällt noch immer in die Kompetenz dieses Sie bieten eine hervorragende Basis für eine wirtschaft- Hauses. liche Nutzung mit der Option neuer Wertschöpfung und (Beifall bei der CDU/CSU) der Schaffung neuer qualifizierter Arbeitsplätze sowie innovativer Produkte. Es liegt auf der Hand, dass dieser Antrag in keiner Weise beschlussreif ist. Er bedarf der gründlichen Bera- Zurzeit können längst nicht alle Geoinformationen tung im Fachausschuss. Das Thema ist viel zu wichtig genutzt werden. Aber in den letzten Jahren wurden die und zu bedeutsam, um es in einer Hopplahopp-Aktion Verarbeitungs- und Nutzungsmöglichkeiten vor allem durchzupeitschen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen durch die Arbeit des Interministeriellen Ausschusses für auf der linken Seite des Hauses, warum eigentlich diese Geoinformationswesen Zug um Zug verbessert. Diese Eile? Was treibt Sie zu solcher Hektik? Warum fürchten Erfolge gilt es auszuweiten. Im vorliegenden Antrag der Sie die Diskussion im Ausschuss? Honi soit qui mal y Koalitionsfraktionen werden dazu entsprechende Vor- pense. schläge gemacht. Sie dienen zur Unterstützung und Ver- tiefung der bisherigen Arbeit der Bundesregierung. Eine Wir beantragen Ausschussüberweisung, um im Fach- wichtige Aufgabe wird es sein, die Koordinierung des ausschuss mit der gebotenen Gründlichkeit eine runde Geoinformationswesens auf Bundes- und Länderebene Sache zu erarbeiten, die die Geoinformationen in zu verstärken. Auch die unentgeltliche Grundversorgung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3329

Hans-Josef Fell (A) mit Geodaten, zum Beispiel über das Internet, sollte kommen. Aber mich stört das Déjà-vu-Erlebnis in dieser (C) deutlich ausgeweitet und verbessert werden. Die zügige Angelegenheit: Bereits im Februar 2001 haben die Koa- Verabschiedung eines Informationsfreiheitsgesetzes litionsfraktionen die Einrichtung des Interministeriellen wird weitere Möglichkeiten bieten. Ausschusses für Geoinformationswesen begrüßt und eine bessere Koordinierung des Geoinformationswesens Aus der Sicht von Bündnis 90/Die Grünen hat der in Deutschland gefordert. Diese Forderung kommt im weitere Ausbau des deutschen Notfallvorsorge-Infor- Punkt a Ihres Antrags erneut vor. mationssystems eine besondere Bedeutung. Gerade die Hochwasserkatastrophen der letzten Monate zeigen, dass Verbesserung der Anwenderfreundlichkeit und Er- weitere Verbesserungen notwendig sind. Informationslü- leichterung des Zugangs haben Sie schon vor zwei Jah- cken gab es zum Beispiel beim fränkischen Hochwasser ren gefordert. Diese Forderung findet sich im Punkt b im Januar dieses Jahres. Verbesserungen lassen sich mit Ihres Antrags. Auch gegen den Ausbau des deutschen Not- dem Ausbau der Datenerfassung, der Datenverarbeitung fallvorsorge-Informationssystems – das ist der Punkt c – ha- und der Datenauswertung schaffen. Eine verbesserte Da- ben wir inhaltlich nichts zu sagen. Aber angesichts der tenlage zur Hochwasserwarnung hilft aktuelle Schäden Hochwasserkatastrophen, die wir vor einigen Monaten vermeiden und ergibt zudem Erkenntnisse für einen ver- erlebten, ist wohl klar, dass es wesentlich besser gewe- besserten Hochwasserschutz. sen wäre, wenn gerade an dieser Stelle alles ein wenig schneller gegangen wäre. Damit das wirtschaftliche Potenzial von Geoinforma- tionen wirklich genutzt werden kann, ist eine verstärkte (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kooperation mit der Wirtschaft anzustreben. Vor allem Unter Punkt d Ihres Antrages wird die Einberufung auch kleine und mittlere Unternehmen müssen in die einer Bund-Länder-Konferenz und unter Punkt e eine Lage versetzt werden, kostengünstig und unbürokratisch bessere Einbeziehung der Wirtschaft gefordert. Das ist auf die für sie interessanten Geoinformationen zurück- zwar interessant, aber nicht gerade neu. greifen zu können. In dem von Rot-Grün heute vorgelegten Antrag zur Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nutzung von Geoinformationen werden umfassende und Frau Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischen- detaillierte Vorschläge gemacht, um eine verstärkte Nut- frage des Kollegen Reichenbach? zung zu ermöglichen. Die Umsetzung dieser Vorschläge wird einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Notfallvorsorge und der Umweltbeobachtung, zur Um- Ulrike Flach (FDP): weltverbesserung sowie zur Schaffung von neuen Ar- Ja, gerne. (B) beitsplätzen mithilfe gezielter Planungen für Infrastruk- (D) turmaßnahmen oder von neuen Produkten und Gerold Reichenbach (SPD): Dienstleistungen leisten. Frau Kollegin, haben Sie zur Kenntnis genommen, Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Union, dass das System schon seit geraumer Zeit im Netz ist es mit dem Ausbau des Geoinformationssystems ernst und dass das Problem eher darin liegt, dass die Plattform meinen, dann können Sie unserem Antrag nur zustim- nicht ausreichend von denen genutzt wird, die die Daten men; denn er wird weitere Verbesserungen ermöglichen. zur Verfügung stellen müssten, nämlich von denen, de- nen nach dem Grundgesetz der Katastrophenschutz ob- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liegt? und bei der SPD) Ulrike Flach (FDP): Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Lieber Kollege, selbstverständlich nehme ich das zur Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach. Kenntnis; ich habe kein Problem damit. Für mich ist aber entscheidend, dass im Parlament offensichtlich im- Ulrike Flach (FDP): mer wieder routinemäßig Forderungen erhoben werden, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vor- die aber in der Praxis – das sage ich in Richtung von liegende Antrag enthält eine Reihe von richtigen und Herrn Körper – nicht umgesetzt werden, sodass wir uns sinnvollen Aussagen und Forderungen, ständig mit den gleichen Themen befassen müssen. (Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) DIE GRÜNEN]) Wir von der FDP wollen, dass die Vorschläge umgesetzt werden, damit die Menschen einen Nutzen von diesem denen natürlich auch die FDP zustimmen kann, zumal System haben. Genau das passiert offensichtlich nicht. wir in der Vergangenheit eine ganze Reihe von entspre- Ich könnte Ihnen vorlesen, was Sie uns nunmehr zum chenden Anträgen zu diesem Thema gestellt haben, die dritten Mal in diesem Parlament vorlegen, ohne dass von Ihnen – so ähnlich konnte es Frau Dominke bei An- sich etwas bewegt. trägen der CDU/CSU-Fraktion erleben – natürlich global abgelehnt wurden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frau Dr. Wetzel, ich schätze Ihr Engagement auf die- Die Verbesserung der Nutzbarkeit für die Wirtschaft sem Gebiet. Wir wollen alle gemeinsam zum Erfolg haben Sie vor zwei Jahren gefordert. Neu ist die Forde- 3330 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Ulrike Flach (A) rung nach der Gründung von drei zusätzlichen Gremien; infrastruktur ist einer der zentralen Bausteine der (C) Sie wollen nämlich ein Kuratorium für IMAGI, einen Fortentwicklung der Konzeption des Geodatenmanage- G2B-Moderator und die Einrichtung zentraler Vertriebs- ments des Bundes. Hingewiesen wird auch auf die zahl- stellen in den Fachbehörden des Bundes. Da zahlreiche reichen, teilweise unter Einbeziehung der Länder durch- Gremien bereits neu gegründet wurden – das ist das Ein- geführten Pilotprojekte. Man muss diesen Antrag also zige, was in den letzten Jahren gelaufen ist –, frage ich richtig lesen. mich, was diese Forderung zur Vereinfachung und zur Verbesserung der Nutzerfreundlichkeit beitragen soll. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich halte dies aus Sicht der FDP eher für einen Gremien- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – GAU als für eine Verbesserung der Situation. Ulrike Flach [FDP]: Aha!) (Beifall bei der FDP) Ich finde es sehr erfreulich, dass das aufgebaute Metainformationssystem für Geodatenbestände des Bun- Nach dieser kurzen Zusammenfassung der im vorlie- des nach einem erfolgreichen Probelauf schon im Som- genden Antrag gestellten Forderungen frage ich Sie, mer dieses Jahres in den Wirkbetrieb gehen wird. Schon Frau Dr. Wetzel: Was haben Sie eigentlich in den ver- heute ist dieses Metainformationssystem, in dem man gangenen zwei Jahren gemacht, dass Sie uns diese alten „Daten über Daten“ erhält, für jedermann über das Inter- Schoten wieder auf den Tisch legen? net verfügbar. Dies ist eine sachdienliche Maßnahme, (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Das ist nicht alt!) die wir durchgeführt haben. Im Augenblick ist dies noch in eingeschränkter Form möglich. Deshalb ist schon der Die Koordination zwischen Bund und Ländern klappt zweite Schritt in Angriff genommen worden: In Koope- offenbar immer noch nicht. Die Einwürfe der Kollegin ration mit einigen Ländern wird eine Verknüpfung der Dominke lassen natürlich bei mir eine Art Warnlicht auf- auf Landes- und kommunaler Ebene vorhandenen Meta- leuchten, dass es offensichtlich nicht besser wird. Worin informationssysteme entwickelt und erprobt. Dies ist ein liegt eigentlich das Problem? weiterer, konkreter Schritt. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nehmen Sie einmal die Schärfe aus der Rede!) Bei der Harmonisierung und Optimierung der admi- nistrativen Vorgaben für den Bezug und die Abgabe von Liegt es wirklich daran, dass sich die Länder nach wie Geodaten wurde ebenfalls ein großer Schritt nach vorne vor nicht bewegen? Warum müssen wir uns immer wie- getan. Die Rahmenrichtlinie des IMAGI für „Entgelte der mit Forderungen dieser Art auseinander setzen? Ich und Abgabebedingungen für Geodaten“ wurde verab- erwarte von Herrn Körper, dass er uns einmal sagt, wo- schiedet. Sie ist im Januar dieses Jahres in Kraft getreten ran es hapert. und gilt für alle Bundesbehörden. Darin wird unter ande- (B) (D) rem eine Kategorisierung von Geodaten vorgenommen, (Dr. Uwe Küster [SPD]: Der sagt es Ihnen die nach Grundversorgung, Standardversorgung und auf- gleich!) traggeberspezifischer Versorgung gegliedert wird. Wer ist denn wirklich schuld? Ich erwarte natürlich mit Spannung, was Sie uns gleich erzählen werden. Verbunden sind diese Kategorien mit einer Festlegung der Entgelte. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass Sie das Anträge- schreiben lassen und dass Sie handeln. Denn natürlich (Ulrike Flach [FDP]: Warum haben wir denn sind wir mit Ihnen der Meinung, dass wir Geoinformati- dann den Antrag?) onen brauchen – und das schnell. – Frau Flach, wenn Sie etwas fragen wollen, dann stellen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie eine Zwischenfrage! – Jeder Nutzer kann dem der- zeit erstellten Geodatenkatalog des Bundes entnehmen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ob die für ihn interessanten Geodaten kostenfrei sind Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta- oder mit welchen Kosten er beim Bezug der Geodaten zu rische Staatssekretär Körper. Er kann dann gleich auf rechnen hat. Ihre Fragen antworten. Zur Förderung und Weiterentwicklung der Anwen- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Große Erwar- derfreundlichkeit der Geodateninfrastruktur Deutschland tung!) möchte ich hervorheben, dass ganz intensiv an der Fer- tigstellung des Internetportals GeoPortal.Bund gearbeitet wird. Auch der weit größere, erweiterte Teil des Portals, Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- aus dem nicht nur Metadaten, sondern auch Geodaten desminister des Innern: verfügbar sind, soll noch im Herbst öffentlich verfügbar Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich sein. Schon im Sommer dieses Jahres wird auch das On- glaube, in dem vorliegenden Antrag wird ein guter Über- linebestellsystem des Geodatenzentrums des Bundes, blick über die zahlreichen Maßnahmen der Bundesregie- das der Öffentlichkeit auf der CeBIT vorgestellt wurde, rung gegeben, die seit der letzten Entschließung in die- freigegeben werden. Sie sehen, es geht voran und es sem Zusammenhang im Geoinformationswesen erreicht wird konkret gehandelt. Das ist gut so. wurden. In ihm wird der Entwicklungsstand der ange- strebten und teilweise im Aufbau befindlichen Geoda- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten teninfrastruktur sehr deutlich aufgezeigt. Die Geodaten- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3331

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) Es gibt noch andere Initiativen und Entscheidungen, Die Antwort der Bundesregierung auf die Große An- (C) auf die ich jetzt nicht näher eingehen möchte. Den For- frage unserer Fraktion war umfassend und hat Anlass zur derungskatalog aus dem Antrag möchte ich insbesondere Hoffnung gegeben, weil Sie sich dort ausdrücklich zum dazu nutzen, um auf die Verbesserungsfähigkeit der Ko- Kabinettsbeschluss der Kohl-Regierung bekannt haben. ordinierung des Geoinformationssystems beim Aufbau Dieser Kabinettsbeschluss hat etwas vorangebracht. Wir der Geodateninfrastruktur hinzuweisen. Ich halte die la- können feststellen, dass IMAGI tätig war und dass sich pidare, fast polemische Bemerkung der CDU-Kollegin die Länder selbstverständlich in der gebotenen Weise zu den Zuständigkeiten von Bund und Ländern umfassend daran beteiligt haben. schlichtweg für falsch. Die Politik der jetzigen Regierung hat das Thema lei- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist keine der nicht ausreichend befördert. Bei entsprechendem Polemik!) Einsatz des zuständigen Bundesinnenministers Schily für dieses wichtige Thema könnten wir schon über zwei Für die Zwischenfrage des Kollegen Reichenbach bin Jahre weiter sein. ich sehr dankbar: Ein Geodateninformationssystem ist nur so gut wie die Daten, mit denen es unterfüttert wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dafür sind auch die Länder zuständig. Es darf nicht der Die Harmonisierung und Optimierung der administrati- Beliebigkeit der Länder überlassen bleiben, welche In- ven Vorgaben enden nun einmal nicht bei der Regelung formationen hinzukommen. Es geht in der Tat um eine der Entgelte und Abgabebedingungen für Geodaten. Es verbesserte Koordinierung. Das ist der Kern dieses An- reicht auch nicht aus, die Einbeziehung der Länder in die trages, den wir umsetzen wollen. Arbeit des IMAGI zu begrüßen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vielmehr wäre es wichtig gewesen – Herr Parlamen- DIE GRÜNEN) tarischer Staatssekretär, ich zitiere aus Ihrer Antwort –, Ich will nicht über Schuld oder Nichtschuld sprechen. die „nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes zu- Das wäre völliger Käse. Ich will die Verantwortlichkei- ständigen Länder“ weiter zu fördern. Die Länder brin- ten benennen, die es in diesem Zusammenhang gibt. Ich gen sich seit Jahren über die Arbeitsgemeinschaft der will nicht den Eindruck erwecken, dass es falsche Ver- Vermessungsverwaltungen ein. Die Länder werden in antwortlichkeiten gibt. Die Länder sind mit im Boot und Kürze mit Unterstützung des Bundesamtes für Kartogra- haben es mit in der Hand, ob es funktioniert oder nicht. phie und Geodäsie den satellitengestützten Positionie- Der Bund hat seine Hausaufgaben erledigt. Wir werden rungsdienst – SAPOS – der AdV für Navigation und diese wichtigen Zugangsmöglichkeiten weiterentwi- Vermessung bundeseinheitlich realisieren. Der Vertrag (B) ckeln. hierzu wurde vor kurzem auf der Hannover Messe unter- (D) zeichnet. (Vera Dominke [CDU/CSU]: Note sechs!) In Ihrem Antrag findet sich kein Wort darüber. Sie Dafür brauchen wir die Mitarbeit aller und keine polemi- verlieren kein Wort über die für Notfall- und Katastro- schen Bemerkungen. phendienste notwendigen georeferenzierten Hausnum- mern, die parzellenscharf nachgewiesen werden können. Vielen Dank. Auch hierzu liegt von den Ländern ein unterschriftsreifer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vertrag vor. DIE GRÜNEN) Warum haben Sie in Ihrem Antrag kein Wort über die „Shuttle Radar Topography Mission“ verloren? Wo blei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ben Ihre Aussagen über und die Finanzmittel für Galileo? Das Wort hat die Abgeordnete Marion Seib. Die Geodateninfrastruktur muss in einem dauerhaften Bezug zur Erde stehen. Marion Seib (CDU/CSU): Wer Ihren Antrag nach fachlichen Gesichtspunkten durchforstet, dem bleiben nur folgende Rückschlüsse üb- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten rig: Kolleginnen und Kollegen! Wer oder was hat Sie, ge- ehrte Damen und Herren von Rot-Grün, eigentlich auf- Erstens. Sie bejubeln die Leistungen, die durch mu- geweckt? Der Weckvorgang hat Sie offensichtlich so er- tige Entscheidungen der Kohl-Regierung angestoßen schreckt, dass Sie glatt vergessen haben, dass wichtige wurden. Themen von nationaler Bedeutung zuerst im zuständigen Ausschuss diskutiert werden müssen. Zweitens. Sie bejubeln Metainformationssysteme für Geodatenbestände in Bundeszuständigkeit, obwohl dies (Beifall bei der CDU/CSU) heute bei einer modernen Verwaltung bereits zur Selbst- verständlichkeit gehört, und zwar auch deshalb, weil es Oder ist Ihnen vielleicht gar nicht mehr bewusst, welcher um eine zigfache Aufsplitterung in vielfältige Fachkom- Ausschuss für das Thema Geodaten zuständig ist? Woll- petenzen geht. ten Sie dem Wirtschaftsausschuss oder dem Innenaus- schuss das Thema nicht anvertrauen, sodass Sie sofort Drittens. Sie bejubeln die Leistungen der Länder, las- mit Hektik im Bundestag einen Antrag einbringen muss- sen in Ihrem Antrag aber dennoch nichts unversucht, die ten? Zentralisierung zu fördern. 3332 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Marion Seib (A) Viertens. Sie fordern einen so genannten G2B-Mode- Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (C) rator. Damit wollen Sie das Projektmanagement implan- SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, tieren, das Ihnen in der Studie empfohlen wurde. Sie Volker Beck (Köln), Cornelia Behm, weiterer bleiben aber die Auskunft über die Ausschreibungsbe- Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- dingungen zur Besetzung dieser Stelle schuldig. Haben SES 90/DIE GRÜNEN Sie etwa schon einen Bewerber in der Hinterhand? Initiative zur Gründung einer Internationalen Fünftens. Ihre Forderung gegenüber Ihrer Regierung Agentur zur Förderung der Erneuerbaren nach einer schnellen Realisierung der Datenbereitstel- Energien (International Renewable Energy lung lässt die Vermutung aufkommen, dass es hier auch Agency – IRENA) um Vertriebsmonopole für Softwaresysteme geht. Wenn dem so wäre, bliebe die Frage offen, welche Ausschrei- – Drucksache 15/811 – bung wo gelaufen ist, um dieses Problem zu lösen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Sechstens. Die aus einer vom Wirtschaftsminister Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre wahrscheinlich freihändig vergebenen nordrhein-westfä- keinen Widerspruch, dann verfahren wir auch so. lischen Studie abgeschriebenen Handlungsempfehlun- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst gen geben auch keine Auskunft darüber, wie beim Erfas- der Abgeordnete Hermann Scheer. sen, Handeln und Verwalten der Geoinformationen die privaten Dienstleister und die Wissenschaft eingebun- Dr. Hermann Scheer (SPD): den werden sollen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die bei- Meine zentrale Forderung lautet deshalb: Der Inter- den Anträge stehen in einem gedanklichen Zusammen- ministerielle Ausschuss für Geoinformationswesen muss hang, wie sich unschwer feststellen lässt. Ich möchte so- für Wirtschaft und Wissenschaft geöffnet werden. Dies wohl dazu, welchen Sinn die Konferenz hat, als auch zu brächte Transparenz. Deshalb, meine sehr geehrten Kol- IRENA, der Internationalen Agentur zur Förderung der leginnen und Kollegen, wäre es besser gewesen, Sie hät- Erneuerbaren Energien, einige begründende Worte sa- ten hier nicht nur Beschreibungen von Verwaltungssitua- gen. Ich möchte auch sagen, warum wir vonseiten des tionen geliefert, sondern klar dargestellt, auf welchen Parlaments die Initiativen unterstützen und vorantreiben Wegen Sie die Länder fördern wollen, damit diese ihren sollten. Zuständigkeiten besser nachkommen können. Es wäre wichtig gewesen, bekannt zu geben, welche Instrumente 1992, als die Agenda 21 verabschiedet worden ist, Sie den Ländern dazu an die Hand geben wollen. Schade fehlte in diesem berühmten und ansonsten sehr wichti- um die vertane Chance. gen und guten Dokument die Bezugnahme auf das Welt- (B) energieproblem, obwohl es das Schlüsselproblem für die (D) Vielen Dank. Weltökologie und für die Entwicklung vieler Länder von (Beifall bei der CDU/CSU) entscheidender Bedeutung ist. Bekanntlich geht ohne Energie nichts. Es ist unvorstellbar und auch vom Poten- zial her unmöglich, die Energieversorgung, wie sie heute Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dominant ist und bei der die Industrieländer die meiste Ich schließe damit die Aussprache. Energie verbrauchen, auf die ganze Welt zu übertragen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Zehn Jahre später wurde auf der Rio-plus-10-Konfe- Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, renz in Johannesburg dieser Mangel der Agenda 21 beho- Drucksache 15/809, mit dem Titel „Nutzung von Geo- ben. Es bildete sich sogar eine andere Art der Koalition informationen in Deutschland voranbringen“. Wer von der Willigen, eine Gruppe von Ländern – inzwischen Ihnen stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – sind es über 100 –, die gesagt haben: Wir müssen hier so- Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der gar mehr tun, als in dem Schlussdokument von Johan- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU nesburg vereinbart wurde. Aber die Situation ist nun ein- bei Enthaltung der FDP angenommen. mal so: Auch wenn der Geist inzwischen williger geworden ist, sind die Initiativen, bezogen auf die inter- Ich rufe die Zusatzpunkte 5 und 6 auf: nationale Situation, noch weitgehend schwach. Weltweit ZP 5Beratung des Antrags der Abgeordneten wächst der Energiebedarf immer noch wesentlich schnel- Dr. Hermann Scheer, Doris Barnett, Dr. Axel ler als der Zuwachs der Nutzung Erneuerbarer Energien, Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der obwohl es zwei objektive Grenzen des herkömmlichen SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Energieeinsatzes gibt, die mit der Reservelage und mit Hans-Josef Fell, Undine Kurth (Quedlinburg), der Belastbarkeit der Ökosphäre zusammenhängen. weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Deswegen wird diese Konferenz im Wesentlichen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN vier Aufgaben haben: Internationale Konferenz für Erneuerbare Energien Erstens. Das Zutrauen in die weit unterschätzten Möglichkeiten der Erneuerbaren Energien muss gestärkt – Drucksache 15/807 – werden. ZP 6Beratung des Antrags der Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Hermann Scheer, Doris Barnett, Dr. Axel DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3333

Dr. Hermann Scheer (A) Zweitens. Es darf nicht nur darüber diskutiert werden, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) welche Nachteile finanzieller oder ökonomischer Art DIE GRÜNEN) – vermeintliche ökonomische Belastungen – es unmög- lich machen würden, beschleunigt Erneuerbare Energien zumindest soweit es um ihr technisches Entwicklungs- einzuführen. Gesprochen werden muss auch über die programm geht. Wir leisten jährlich einen Mitgliedsbei- ökonomischen Vorteile umfassender Art, damit sie den trag in Höhe von 25 Millionen Euro. Die Hälfte des ge- Entscheidungsträgern und den Gesellschaften dieser samten Budgets der IAEA geht in die technischen Welt klar werden. Angesichts der extremen Energieim- Entwicklungsprogramme, also in die Ausbildung und portabhängigkeit von Drittweltländern, die sich diese gar das Training von Wissenschaftlern und Experten – welt- nicht mehr leisten können, muss neben dem umweltpoli- weit, bis nach Afrika, obwohl dort nie ein solches Kraft- tischen Aspekt auch über den entwicklungspolitischen werk stehen wird –, welche sich der Förderung der Aspekt gesprochen werden. Atomenergie widmen. Eine solche Agentur muss wesentlich dazu beitragen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass das überwunden wird, was eine weltweite Einfüh- DIE GRÜNEN) rung Erneuerbarer Energien hauptsächlich verhindert. Drittens. Da, wo Initiativen stattgefunden haben, Man braucht für eine weltweite Einführung Erneuerbarer müssen die Erfolge der Politik einem Vergleich unterzo- Energien aufgrund ihres dezentralen Charakters näm- gen werden, damit im Sinne eines produktiven Weltföde- lich viele Menschen, die damit umzugehen gelernt ha- ralismus der eine vom anderen die guten Ansätze lernen ben. Es muss die Ausbildung von Ingenieuren, Architek- kann. ten, Handwerkern und Wissenschaftlern – das, was man international die „human capacity“ nennt – vorangetrie- Viertens. Es muss darüber gesprochen werden, was ben werden. Das ist eine globale Ausbildungsaufgabe. aus eigener Kraft realisiert werden kann. Denn es ist un- denkbar, die Weltenergieversorgung nur mit den her- Es geht nicht um Projektförderung oder die Finanzie- kömmlichen Methoden gesonderter Förderprogramme rung; dafür gibt es schon Institutionen. Es geht darum, oder Subventionen auf Erneuerbare Energien umzustel- dass man subsidiär dort tätig wird, wo bisher nichts ge- len, was das eigentliche Ziel ist. Die Wirtschaftsordnun- schehen ist. Es gibt zwar hier und dort Initiativen, aber gen müssen sich darauf entsprechend einrichten, gerade wenn man die globale Landkarte betrachtet, ist in dieser wenn sie die Vorteile erkennen. Schlüsselfrage eigentlich bisher noch nicht viel gesche- hen. Deshalb bedürfen wir einer solchen Initialzündung. Was die Einrichtung einer Internationalen Agentur für Mit dieser deutschen, aber weltweit angelegten Initiative Erneuerbare Energien angeht, so ist dafür ein zwingen- machen wir einen großen Schritt nach vorne. Sie ist in- (B) des Erfordernis gegeben, das international bisher noch ternational angelegt. Alle Länder sind eingeladen, dort (D) nicht ausreichend erkannt worden ist. UN-Organisatio- Mitglied zu werden, auch wenn dem am Anfang nicht nen haben viele Aufträge, aber sie sind nicht auf diese alle folgen werden. Bei der IAEA waren es am Anfang Frage spezialisiert, auch nicht von ihrem Statut her. Es 17 Mitglieder, nun sind es 130. Diese Entwicklung wird gibt im internationalen Institutionensystem eine Reihe bei der Agentur für Erneuerbare Energien mindestens von Regierungsorganisationen, die sich mit der Energie- genauso positiv sein. versorgung beschäftigen, etwa die Internationale Atom- Danke schön. energieagentur, die sich die Atomenergieförderung zur Aufgabe gemacht hat, oder die Internationale Energie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ agentur, deren eigentliche Aufgabe die Sicherheit der DIE GRÜNEN) Versorgung mit fossilen Energien ist. Eine Regierungs- organisation – nur um diese geht es mir; Nichtregie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rungsorganisationen für erneuerbare Energien gibt es kontinental und weltweit – für diesen speziellen Bereich Das Wort hat die Abgeordnete Kristina Köhler. gibt es aber noch nicht. Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Es ist ein nicht mehr tragbarer Zustand, dass sich der Förderung der Energien, auf denen die Hoffnung der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ent- Welt liegt und liegen muss, keine institutionelle Kraft scheidende Frage in der heutigen Debatte ist nicht, ob es widmet, die dies vorantreibt. Mit der Einrichtung einer sinnvoll ist, den Transfer Erneuerbarer Energien in Ent- solchen Agentur geht es zunächst einmal darum, die „in- wicklungs- und Schwellenländer zu fördern. Natürlich stitutionelle Waffengleichheit“, um den Begriff hier ein- ist das sinnvoll; mal zu benutzen, herzustellen. Eine Agentur, die von ih- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ren Statuten her auf Erneuerbare Energien konzentriert ist, wäre weltweit ebenso ein Signal, wie es in den 50er- denn die Sicherstellung einer Versorgung mit nachhalti- Jahren, als man die Weltenergiezukunft noch bei der ger Energie in diesen Ländern ist eine der grundlegenden Atomenergie suchte, die 1957 gegründete Internationale Voraussetzungen für deren wirtschaftliche und soziale Atomenergieagentur war. Wer die Notwendigkeit einer Entwicklung, für Armutsbekämpfung und Friedens- IRENA bestreitet, müsste konsequenterweise – das muss sicherung sowie für die Erschließung künftiger Export- man allen sagen – gleichzeitig die Forderung erheben, märkte, wovon nicht zuletzt die westlichen Industriena- die Internationale Atomenergieagentur aufzulösen, tionen profitieren werden. Die entscheidende Frage ist 3334 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Kristina Köhler (Wiesbaden) (A) vielmehr, mit welchen Instrumenten und mit welchen gie-Institut, das sich der Aus- und Weiterbildung im (C) Kosten-Nutzen-Relationen wir das tun wollen. Ausland widmet. Zweitens gibt es das Internationale Transferzentrum für Umwelttechnik, das sich seit 1996 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) genau dem widmet, was Sie für diese Agentur vorsehen. Wir müssen also die verschiedenen Instrumente mit- Drittens gibt es die Vereinten Nationen, die im Rahmen einander vergleichen und gegeneinander abwägen. Ge- der UNEP-Programme an der Erforschung und Durch- nau das vermisse ich in Ihrem Antrag. Wenn es Ihnen setzung Erneuerbarer Energien arbeiten. Viertens gibt es tatsächlich um Klimaschutz, Ressourcenschonung, Ar- das 1990 gegründete UNEP Collaborating Centre on En- mutsbekämpfung und eine langfristige Energieversor- ergy and Environment, das sich dem Wissenstransfer gung gehen würde, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, über Erneuerbare Energien widmet. Fünftens gibt es das dann würde sich die von Ihnen geplante Agentur nicht von der UN initiierte AREED-Projekt in Afrika, durch ausschließlich dem Transfer Erneuerbarer Energien wid- das regionale Unternehmen, die sich im Bereich der Er- men. neuerbaren Energien engagieren wollen, unterstützt wer- den. (Ulrike Mehl [SPD]: Sondern?) (Beifall bei der CDU/CSU) Der Aufbau einer Versorgung mit Erneuerbaren Energien ist Teil eines nachhaltigen Energieversorgungskonzeptes, Statt mit IRENA nun eine zusätzliche, kosteninten- aber eben nicht mehr als ein Teil. Die einseitige Ausrich- sive Institution zu schaffen, wäre es sehr viel sinnvoller, tung auf Erneuerbare Energien ist der falsche Weg, um diese bestehenden Institutionen besser miteinander zu eine nachhaltige Energieversorgung sicherzustellen. vernetzen und ihre Agenda, wo nötig, zu erweitern. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau so ist es!) Was ist beispielsweise mit den immensen CO2-Ein- sparpotenzialen, die durch die Weiterentwicklung fossi- Dieser Meinung ist übrigens auch das Darmstädter Öko- ler Technologien erreicht werden können, was teilweise Institut. wesentlich kostengünstiger ist als der Ausbau bei den Erneuerbaren Energien? Wollen Sie dies den Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter lungsländern vorenthalten? Paziorek [CDU/CSU]: Erstaunlicherweise, aber es ist so!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: So jung und schon so alt! Das ist ja schrecklich!) Zugegeben: Eine neue Agentur zu schaffen lässt sich na- türlich sehr viel publikumswirksamer inszenieren, als (B) Was ist mit den konventionellen Energien, die Ressour- eine Institution auszubauen, die es bereits gibt. IRENA (D) cen schonend und wirtschaftlich eingesetzt werden kön- ist ja auch ein sehr schöner Name. Wir sollten uns von nen, was in den Entwicklungsländern sehr sinnvoll sein schönen Namen aber nicht zu viel versprechen. Dies könnte? Davon ist in Ihrem Antrag kein Wort zu finden. zeigt ebenfalls die vor allen Dingen durch Wohlklang Wirtschaftlichkeit und Kosteneffizienz gehören auch beeindruckende Task Force Erneuerbare Energien, zu einer nachhaltigen Energiepolitik und dürfen nicht die 2001 von der G 8 auf der Weltenergiekonferenz in hinter ideologischen Scheuklappen und einer unkriti- Buenos Aires initiiert wurde. Damals wurde ein Finanz- schen Euphorie für Erneuerbare Energien verschwinden. bedarf bis zum Jahre 2020 von mehreren 100 Milliarden (Beifall bei der CDU/CSU) US-Dollar veranschlagt. Schauen wir in den Koalitions- vertrag, stellen wir fest, dass Sie für den Ausbau Erneu- Wirtschaftlichkeit und Kosteneffizienz werden wir erbarer Energien und die Steigerung der Energieeffizienz aber nur mit einem Energiemix erreichen sowie mit einer in den Entwicklungsländern in den nächsten fünf Jahren an Effizienzgesichtspunkten orientierten Förderung Er- jeweils 500 Millionen Euro veranschlagen. Dies ist nun neuerbarer Energien. Wir wollen doch nicht auf interna- wirklich nur ein äußerst kleiner Bruchteil der von der tionaler Ebene die Fehler wiederholen, die wir in Task Force Erneuerbare Energien veranschlagten Deutschland mit unserer Subventionspolitik beispiels- Summe. An dieser Stelle zeigt sich, wie weit der rot- weise bei der Windenergie machen. Diese Art der Sub- grüne Anspruch und die finanzielle Wirklichkeit ausein- ventionspolitik ist kein Exportschlager. ander klaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) neten der FDP) Neben einer differenzierten Betrachtungsweise ver- Wenn Nachhaltigkeit mehr sein soll als eine Wort- misse ich bei Ihnen auch eine realistische Bestandsauf- hülse, dann müssen wir die umwelt- und entwicklungs- nahme. Eine Initiative zur Gründung einer internationa- politischen Instrumente einer Kosten-Nutzen-Analyse len Agentur zur Förderung Erneuerbarer Energien ist ja unterziehen. Einer solchen Analyse hält IRENA nicht nun kein sonderlich origineller Gedanke. stand. (Anke Hartnagel [SPD]: Aber sinnvoll!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es gibt weltweit sehr viele Institutionen und Projekte, neten der FDP – Ulrike Höfken [BÜND- die sich dieser Frage widmen. Ich möchte Ihnen nur fünf NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Argumente auch davon nennen: Es gibt erstens das Deutsche Windener- nicht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3335

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: In diesem Zusammenhang halte ich die IRENA für (C) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt. ein absolut notwendiges Instrument. Sie verlangen, die Instrumente abzuwägen. Was haben wir denn gemacht? Seit Jahren wägen wir die Instrumente ab, und zwar so Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lange, bis sie auf dem Niveau sind, in dem Sie jetzt in die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vor- Diskussion einsteigen. Wir sind nach den Jahren der Ab- bereitungen für die Internationale Konferenz für Erneu- wägung zu dem Ergebnis gekommen: Zusätzlich zu den erbare Energien, zu der Bundeskanzler Schröder in Jo- bestehenden Institutionen bedarf es einer IRENA, gerade hannesburg eingeladen hat, laufen auf Hochtouren. Über weil es für den atomaren und den fossilen Bereich ver- 100 Länder haben schon signalisiert, dass sie dabei sein gleichbare Institutionen gibt. Damit ziehen wir gleich wollen. Mit ihnen zusammen werden wir die Agenda und machen deutlich: Bei der weltweiten Vertretung der dieser internationalen Konferenz festlegen. Konzepte der Erneuerbaren Energien soll Waffengleich- Ich glaube, das ist ein bedeutender Hoffnungsschim- heit herrschen. mer. Wenn wir in die Zeit nach dem großen Aufbruch in (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Rio zurückblicken, stellen wir fest, dass die Umweltkon- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) ferenzen deutlich an Dynamik verloren haben. Nunmehr haben wir einen neuen Ansatz gewählt, indem wir sagen: Eine entsprechende Institution für die fossilen Energien Lasst uns diejenigen zusammensuchen, die nicht immer – falls Sie das nicht wissen – gibt es doch längst. über die Lasten klagen, wenn es um den Klimaschutz Die IRENA soll in bilateralen Gesprächen gegründet geht, sondern die sich – zum Beispiel für die wirtschaft- werden. Wir werden versuchen, möglichst viele Staaten liche Entwicklung – auch etwas davon versprechen. davon zu überzeugen, diese internationale Agentur mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns zusammen zu gründen. Sie soll vor allen Dingen sowie bei Abgeordneten der SPD) dazu dienen, den Technologie- und den Know-how- Transfer zu organisieren. Hermann Scheer hat eben Bundeskanzler Schröder hat der Staatengemeinschaft vollkommen richtig gesagt, dass es einen großen Unter- diesen Ansatz angeboten. Dieser wird auch aufgegriffen, schied macht, ob man große Kraftwerke baut oder de- aber leider nicht von Ihnen. Ich finde es sehr bedauerlich zentral Erneuerbare Energien einsetzen möchte. Es und schade, dass Sie sich an der IRENA abgekämpft bedarf umfassender Schulungsprogramme für die Men- – dazu sage ich gleich noch etwas –, zur Konferenz aber schen vor Ort, damit sie eine Biogasanlage auch fahren kein einziges Wort gesagt haben. können; denn so einfach ist das nicht. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Kommt (B) Die IRENA soll darüber hinaus dazu dienen, den (D) noch! Wir machen das arbeitsteilig!) Drive, der von dieser Konferenz ausgeht, kontinuierlich Ich möchte Sie ausdrücklich dazu einladen, dass wir als weiterzutragen, damit auf diese Weise neue Impulse und Parlament diese Konferenz gemeinsam begrüßen, auf Debatten über die richtigen Instrumente angeregt wer- den Weg bringen und positiv begleiten. den. Es ist nun nicht mehr die Zeit, darüber zu diskutie- ren, ob wir eine IRENA brauchen, sondern es ist Zeit, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Ärmel hochzukrempeln, um mit den Ländern der sowie bei Abgeordneten der SPD) Welt, die mit uns gemeinsam vorangehen wollen, diese Mit dieser Konferenz wollen wir zeigen, dass sich Institution zu gründen. Klimaschutz auch wirtschaftlich lohnt und er eine Danke. Chance für die wirtschaftliche Entwicklung bietet. Er bietet die Chance, vom Öl wegzukommen; das ist aktuell (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine sehr wichtige Diskussion. Wir müssen die Abhän- und bei der SPD) gigkeit von krisengeschüttelten Regionen überwinden. Im „long run“ wollen wir erst 50 Prozent und dann Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: 100 Prozent der Bevölkerung mit Strom, Wärme und Es spricht jetzt die Abgeordnete Angelika Treibstoff von heimischen Erneuerbaren Energieträgern Brunkhorst. versorgen. Wir wollen auch aufzeigen, dass die Erneuer- baren Energien ein großes Potenzial zur Bekämpfung der Armut haben. Viele Menschen in der Welt sind eben Angelika Brunkhorst (FDP): noch nicht an große Energieversorgungssysteme ange- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- schlossen. Die dezentralen Erneuerbaren Energien bieten legen! Im Sinne einer guten internationalen Politikkoor- eine gute Chance, diese Menschen preiswert in den Ge- dinierung bestehen bei der FDP gegen die Internationale nuss von Strom und Wärme kommen zu lassen. Konferenz zur Förderung Erneuerbarer Energien, die für nächstes Jahr in geplant ist, prinzipiell keine Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denken. Ich muss allerdings dazu sagen, dass uns die sowie bei Abgeordneten der SPD) Eile und die Kombination mit dem Antrag zur IRENA, Wir hoffen, dass diese Konferenz eine Aufbruchstim- der Internationalen Agentur zur Förderung Erneuerbarer mung initiiert, damit die Staaten zusammenarbeiten und Energien, stutzig macht. Wir fragen uns in diesem Zu- Bremser keine Chance mehr haben, um so den Klima- sammenhang: Gibt es nicht schon genügend außerparla- schutz voranzutreiben. mentarische Gremien in Deutschland, deren Bedeutung 3336 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Angelika Brunkhorst (A) oftmals wirklich fragwürdig ist? Die FDP kritisiert, dass Ich denke, das ist der Bedeutung des Themas nicht ange- (C) unter dieser Regierung verstärkt eine Entparlamentari- messen. sierung politisch wichtiger Entscheidungsbereiche statt- (Beifall bei der FDP) findet. Die Liberalen werden einen solchen Blankoscheck (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auf keinen Fall ausstellen. der CDU/CSU) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen haben uns also (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mit der IRENA noch kurz vor Ostern ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert. Das stellt sich für uns so dar: Wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: müssen noch schnell einen Antrag machen, damit wir Das Wort hat die Kollegin Anke Hartnagel. das Parlament im Boot haben und frei nach dem Mär- chen vom Hasen und dem listigen Igel sagen können: Wir sind schon hier. Ich meine, es mangelt Ihnen an der Anke Hartnagel (SPD): gebotenen Sorgfalt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin etwas erstaunt darü- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ber, wie die Debatte gegenwärtig vonseiten der CDU/ der CDU/CSU) CSU und der FDP geführt wird. Ich kann mich daran er- Erstens. Die Einrichtung dieser Internationalen Agen- innern, dass in der jüngsten Sitzung des Umweltaus- tur ist präjudizierend für ähnliche Einrichtungen in ande- schusses festgehalten wurde, man wolle gemeinsam an ren Politikbereichen. die Überarbeitung des EEG herangehen und man sei sich einig über die Bedeutung der nachhaltigen Energien. (Anke Hartnagel [SPD]: Wie kommen Sie Aber die Argumente in dieser Diskussion verfolgen die denn darauf? Die gibt es schon!) entgegengesetzte Richtung. Das verstehe ich nicht. Eine Gründung ist mit erheblichem Finanzbedarf ver- (Beifall bei der SPD – Dr. Peter Paziorek bunden, und zwar bei einem ständig sinkenden Umwelt- [CDU/CSU]: Das ist dann aber nicht richtig budget. verstanden worden! Das EEG hat nichts mit IRENA zu tun!) Zweitens. Die Frage, ob man die IRENA überhaupt braucht oder ob diese Funktion nicht von dem ohnehin – Ich glaube schon. Es hat durchaus mit nachhaltigen (B) geplanten Begleitkreis für die internationale Konferenz Energien zu tun. Es geht darum, die Versorgung mit (D) in Bonn übernommen werden kann, stellt sich hier ganz nachhaltigen Energien auf internationaler Ebene – ob in dringend. Da die Kollegin von Bündnis 90/Die Grünen, Osteuropa oder in Entwicklungsländern – mit vernünfti- Frau Hustedt, eben erklärt hat, IRENA sei so wichtig, gen Konzepten umzusetzen. frage ich mich: Warum wurde der Antrag nicht dem übli- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Aber nicht chen Beratungsverfahren im Umweltausschuss unterzo- so!) gen? Darum geht es. Drittens. Eine Spezialagentur für spezifische Energie- arten leidet aus Sicht der Liberalen an demselben Man- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Grundsätz- gel wie das EEG insgesamt: Es werden selektiv einzelne lich ja!) Energieformen bevorzugt. Dies führt zu einer Ungleich- Das bedeutet eigentlich, dass Sie, wenn Sie das EEG behandlung der Energieträger, die wir uns angesichts der überarbeiten wollen, den nachhaltigen Energien eine anstehenden Probleme der globalen Klima- und Energie- große Priorität einräumen wollen. Aus Ihren Ausführun- politik nicht leisten können. gen geht das aber nicht hervor. Lassen Sie mich das präzisieren: Zum einen wissen Ich verstehe auch Ihre Äußerung nicht, Frau wir nicht, was IRENA eigentlich kosten soll. Das wollen Brunkhorst, dass das Parlament nicht beteiligt werde. Sie der Regierung überlassen. Dieses Vorgehen ist nicht Schließlich können wir die Agentur gar nicht einsetzen. rechtmäßig. Ich denke, wenn der Bundestag über die Ich denke, dass es richtig ist, einen Antrag einzubringen, Einrichtung der Agentur abstimmen soll, müssen Sie in dem die Regierung aufgefordert wird, dies zu tun. Da- dem Parlament einen bezifferbaren Vorschlag machen. von sollten wir nicht abrücken. Eine Entpolitisierung (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Beim einem kann ich nicht erkennen; denn die Parlamentarier sind Gesetz, aber nicht bei einer Resolution!) sehr wohl an der Vorbereitung beteiligt. Insofern weiß ich nicht, worin die Entpolitisierung bestehen soll. Zum anderen ist der Antrag, wie ich meine, parlamenta- risch unangemessen, weil Sie es ohne weiteres der Re- Ich möchte noch einige Ausführungen machen. Die gierung überlassen wollen, die Agentur einzusetzen. Förderung regenerativer Energien ist untrennbar mit der Eine weitere Spezifizierung findet nicht statt. Armutsbekämpfung verknüpft. Wir, die Industrielän- der, tragen dabei eine große Verantwortung. Deswegen (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist es notwendig, dass wir uns gemeinsam mit den Ent- muss ja auch nicht sein!) wicklungsländern an einen Tisch setzen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3337

Anke Hartnagel (A) Die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns der Welt- können und müssen voneinander lernen. Ein Export von (C) gemeinschaft wurde gerade in Johannesburg wieder Know-how ist natürlich wichtig, aber er macht nur Sinn, deutlich. Bundeskanzler Schröder hat dort zu einer inter- wenn die ökonomischen, ökologischen und kulturellen nationalen Konferenz nach Deutschland eingeladen. Gegebenheiten in den jeweiligen Ländern berücksichtigt Schon im kommenden Frühjahr – ich begrüße es, dass es werden. Darum ist es auch so wichtig, dass auf der Kon- so schnell geht – wird diese Konferenz stattfinden. Das ferenz nicht nur die Regierungsvertreter aller beteiligten heißt, diese Bundesregierung nimmt ihre Verantwortung Länder zusammenkommen, sondern auch Nichtregie- wahr. rungsorganisationen und Interessenvertreter der priva- ten Wirtschaft. Darüber hinaus ist es ein ebenso wichti- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Michaele ger Schritt, dass parallel zur Konferenz die Initiative für Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) eine Internationale Agentur für Erneuerbare Energien, Die deutschen Erfolge bei der Förderung Erneuerbarer die IRENA, realisiert wird. Energien sind nicht ohne Grund auf dem Johannesburger Gipfel als weltweit beispielhaft bewertet worden. Ich komme zum Schluss und möchte nur noch eine Bemerkung machen. Wir können all diese Probleme und Zur Konferenz: Wichtig für das Parlament ist – ich Vorhaben, die wir jetzt dargelegt haben, nur bewältigen habe das eben bereits ausgeführt –, dass neben der Deut- und die globale nur dann vorantreiben, schen Energie-Agentur, deutschen Organisationen und wenn wir uns gemeinsam anstrengen. Die Konferenz Unternehmen, die auf dem Gebiet der Erneuerbaren und die internationale Agentur sind entscheidende Energien tätig sind, Umweltschutzverbänden und Organi- Schritte auf diesem Wege. Ich bitte Sie, meine Damen sationen der Entwicklungszusammenarbeit auch die Par- und Herren von der Opposition, das zu bedenken und in lamentarierinnen und Parlamentarier aller Fraktionen in Ihre Überlegungen einzubeziehen. die weitere Vorbereitung der Konferenz einbezogen wer- den. Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben Vielen Dank. also die Möglichkeit der kritischen und konstruktiven Be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gleitung zur Vorbereitung der Konferenz. Nutzen wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) diese Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen, anstatt uns zu beklagen, dass wir nicht beteiligt würden! Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ralf Brauksiepe. Mit dieser Konferenz geben wir einen internationalen (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Anstoß zum weltweiten Ausbau der Erneuerbaren Ener- (D) gien. Zukunftsenergien sind das Mittel, Armut zu be- Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): kämpfen und gleichzeitig Klima und Umwelt zu schüt- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zen. Denn eines muss uns allen klar sein: Zwei Mit zunehmendem Abstand zur Kioto-Konferenz wird Milliarden Menschen haben derzeit keinen Zugang zu immer deutlicher, wie bedeutsam die damals gefassten Energie. Das muss man sich vorstellen. Dieser Zugang Beschlüsse waren, die ganz wesentlich von der damali- ist aber unerlässlich für den wirtschaftlichen Fortschritt, gen Bundesumweltministerin Angela Merkel geprägt die Entwicklung eines Gesundheitswesens und eines Bil- und initiiert worden sind. dungssystems, kurz gesagt: für die Bekämpfung der Ar- mut. Erst wenn es den Entwicklungsländern gelingt, ihre (Beifall bei der CDU/CSU) heimische Erneuerbare Energie zu nutzen, werden Sie aus der Energie- und damit aus der Armutsfalle heraus- In der Kontinuität dieser Politik sind wir auch heute kommen. Um auch dies klar zu sagen: Atomenergie fest entschlossen, die vorhandenen Potenziale für den kann hierbei nicht die Lösung sein. Ausbau Erneuerbarer Energien weltweit zu nutzen. An- gesichts von zwei Milliarden Menschen, die weltweit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keinen regelmäßigen Zugang zu Energie haben, haben des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir dazu gar keine Alternative. Deswegen, Frau Kolle- Auch fossile Energien sind keine Alternative. Wie gin Hustedt, ist der Begriff der „Waffengleichheit“, den sich die Abhängigkeit gerade vom Öl auswirkt, können Sie hier eingeführt haben, der völlig falsche Ansatz. Es wir momentan täglich am Fernseher verfolgen. Wenn die geht nicht darum, die einen Energieträger als Waffe ge- Weltgemeinschaft die globale Energiewende mit allen gen die anderen einzusetzen. Wir brauchen sie alle, wenn ihr zur Verfügung stehenden Mitteln einleitet, können wir zwei Milliarden Menschen ohne Zugang zu Energie Konflikte um erschöpfliche – sprich: fossile – Energie- mit Energie versorgen wollen. Das ist unser Ansatz. träger vermieden werden. Das verdeutlicht: Erneuerbare (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Energien haben eine friedenstiftende Wirkung. Angelika Brunkhorst [FDP]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dabei ist es notwendig, mit dem gebotenen Augen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) maß vorzugehen. Ich verstehe, dass Sie uns nicht glau- Lassen Sie mich noch einen Punkt unterstreichen. Es ben, aber ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen, was kann nicht darum gehen, dass die Industrieländer den beispielsweise die Europäische Kommission in der Entwicklungsländern ihre Technologien aufdrängen. Wir Vorbereitung des Johannesburg-Gipfels im letzten Jahr 3338 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Dr. Ralf Brauksiepe (A) völlig zu Recht festgestellt hat. Dort heißt es, dass – ich beiten, weil wir uns aus Erfahrung versprechen, dass sol- (C) zitiere – che Konferenzen auch dringend benötigte Impulse für das politische Handeln in der Zeit danach setzen werden. der erwartete Anstieg des Energieverbrauchs in den Entwicklungsländern nicht hauptsächlich durch die (Beifall bei der CDU/CSU) erneuerbaren Energien abgedeckt werden kann, die für viele dieser Länder derzeit unerschwinglich Ich möchte Ihnen aber auch deutlich sagen, was uns sind. an Ihrem Antrag zu dieser internationalen Konferenz stört. Hieran wird wieder die Tatsache sehr deutlich Deswegen ist es so notwendig, sämtliche Maßnahmen – das werfe ich Ihnen vor –, dass Sie alle wichtigen glo- zur Steigerung der Energieeffizienz bei allen Energie- balen Fragen letztlich immer unter innenpolitischen As- trägern weltweit entschlossen zu nutzen. pekten beantworten. Zur Vollständigkeit dieser Situationsbeschreibung ge- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist hört eben auch, dass die fossilen Energieträger, die in richtig!) vielen Entwicklungsländern unter günstigen geologi- Das begann ja mit dem von Ihnen gerühmten Besuch des schen Rahmenbedingungen reichlich vorhanden sind, Bundeskanzlers in Johannesburg. Der wahlkämpfende bei der Energieversorgung der Menschen gerade auch in Bundeskanzler hat seine damalige Rede ganz bewusst in den Entwicklungsländern eine unverzichtbare Rolle deutscher Sprache gehalten, obwohl Deutsch keine Kon- spielen und auch in Zukunft spielen werden. Deswegen ferenzsprache war. Er hat dies nicht getan, weil er nicht kann es nicht darum gehen, eine ideologisch geprägte in der Lage gewesen wäre – das war nicht das Problem Debatte über Wert oder Unwert einzelner Energieträger –, einen fünfminütigen englischsprachigen Text vom zu führen. Blatt abzulesen. Er hat das vielmehr getan, weil sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- seine Rede nicht in erster Linie an die Teilnehmer der neten der FDP) Konferenz in Johannesburg, sondern an die deutsche Öf- fentlichkeit gerichtet hat. Die Art und Weise, wie Sie Entscheidend ist doch vielmehr, dass die Energieversor- Klimapolitik betreiben, ist das Problem. gung einer weiterhin wachsenden Weltbevölkerung auf Nachhaltigkeit aufgebaut wird. Nachhaltigkeit ist aber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – kein Synonym für Erneuerbare Energien. Auch hier ver- Widerspruch bei der SPD) weise ich Sie auf das, was die Europäische Kommission, Daher müssen wir Ihren Antrag ablehnen, in dem Sie be- die Sie in Ihre Planungen einbeziehen wollen, dazu fest- haupten – ich weiß, das tut weh –, dass der Bundeskanz- gestellt hat: Die traditionelle Form des Einsatzes von Bio- ler mit dieser Art des Auftretens großen Anklang gefun- (B) masse in weiten Teilen Afrikas ist eben nicht nachhaltig. (D) den hätte. Seine Art hat auf die Teilnehmer dieser Ähnliches kann man über die Wasserkraft sagen. Außer- Konferenz eher abstoßend gewirkt. Für uns ist es auch dem wird kein verantwortlicher Politiker ernsthaft den nicht akzeptabel – um es ganz deutlich zu sagen –, dass Versuch unternehmen wollen, den Entwicklungslän- Sie versuchen, durch die Schaffung oder die Nutzung dern, die sich selbst preiswert mit fossilen Energieträ- solcher internationalen Ereignisse davon abzulenken, gern versorgen können, die Nutzung der vorhandenen dass Sie Ihre Hausaufgaben nicht erledigen. Potenziale auszureden. Es geht hier also auch um die Entwicklung und Verbreitung von Technologien für eine (Anke Hartnagel [SPD]: Sie haben überhaupt möglichst saubere Nutzung von Kohle, Öl und Gas. nichts begriffen!) Frau Kollegin Hartnagel, Sie waren in der letzten Le- Zum Abschluss möchte ich Ihnen ein paar einschlä- gislaturperiode ja noch nicht Mitglied des AwZ. Deshalb gige und beeindruckende Zahlen zu den Ausgaben des sage ich Ihnen: Der AwZ hat zum Beispiel Anhörungen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenar- zum Thema Megacities durchgeführt, die ein immer beit und Entwicklung im Bereich der bilateralen techni- größer werdendes Problem in den Entwicklungsländern schen und finanziellen Zusammenarbeit im Jahr 1998 sind. Man wird nicht alle Megacities nur mit Erneuerba- und – damit Sie vergleichen und sehen können, wohin es ren Energien versorgen können. Hier braucht man einen geht – im Jahr 2003 nennen. Die Ausgaben für den Um- sinnvollen Energiemix. Genau um den geht es uns. welt- und Ressourcenschutz im Entwicklungshilfehaus- halt betrugen 1998 420 Millionen Euro, 2003 nur noch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – 372 Millionen Euro. Für Bildung wurden 1998 146 Mil- Anke Hartnagel [SPD]: Es geht nicht um die lionen Euro ausgegeben. 2003 sind es nur noch 111 Mil- Megacities!) lionen Euro. Die Ausgaben für die Bevölkerungspolitik Jetzt komme ich auf die für das nächste Jahr geplante betrugen 1998 69 Millionen Euro, 2003 nur noch internationale Konferenz für Erneuerbare Energien zu 58 Millionen Euro. sprechen. Frau Kollegin Hustedt, in meiner Fraktion sind (Ulrike Mehl [SPD]: Nehmen Sie mal die fast fünfmal so viele Abgeordnete wie in Ihrer. Deswe- Zahlen von 1997!) gen muss nicht jeder von uns – ich bitte um Ihr Verständ- nis – das gesamte Thema abarbeiten. Ich möchte Ihnen Die Ausgaben für Energieerzeugung und -versorgung in nur so viel dazu sagen: Wir unterstützen grundsätzlich der Entwicklungszusammenarbeit – das ist ein ganz diese Konferenz und sind auch bereit, in dem von Ihnen wichtiger Kernbereich – betrugen 1998 133 Millionen angeregten nationalen Begleitkomitee engagiert mitzuar- Euro. Im Haushalt 2003 sind nur noch 72 Millionen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3339

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Euro eingestellt. Das ist die bittere Realität Ihrer Politik. breite Aufbruchstimmung für technologische Innovatio- (C) Wir werden es nicht zulassen, dass Sie von diesem Ver- nen ist deshalb notwendig.“ In diesem Ton ging es eine sagen durch internationale Konferenzen und festliche ganze Zeit lang weiter. Empfänge ablenken. Nicht Reden, sondern Handeln ist Solche Worte hören wir zwar gern, aber wir hören sie gefragt. Darauf kommt es an und daran werden wir Sie auch schon seit langem. messen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. Dann allerdings, wenn es um die Umsetzung, um prakti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sches Handeln, geht – auch das ist heute Morgen schon gesagt worden –, bleibt von alledem relativ wenig übrig. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Negativstes Beispiel dafür ist die Biotechnik. Ich schließe die Aussprache. Mehrfach hat Ihr Bundeskanzler die Biotechnologie Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der als die Schlüsseltechnologie dieses Jahrhunderts be- Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf zeichnet. Doch zumindest im Bereich der Biotechnik Drucksache 15/807 mit dem Titel „Internationale Konfe- halten Sie diesen Beritt verschlossen. Sie haben diese renz für Erneuerbare Energien“. Wer stimmt für diesen Technologie weggeschlossen und unternehmen alles, um Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der den Schlüssel versteckt zu halten. Dabei hat Ihre Bun- Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- desregierung selbst im europäischen Ministerrat erklärt, gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen das Moratorium zur Forschung und Entwicklung gen- worden. technisch verbesserter Pflanzen sei rechtswidrig. Die Bundesregierung hat die europäische Vereinbarung von Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von Lissabon, in der gesamten Biotechnik bis zum SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/811 Jahre 2010 weltweit führend zu sein, mit ausgehandelt mit dem Titel „Initiative zur Gründung einer Internatio- und ohne Wenn und Aber unterschrieben. nalen Agentur zur Förderung der Erneuerbaren Ener- gien“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt da- Doch das politische Handeln sieht völlig anders aus: gegen? – Das Moratorium, also der Stopp von Forschung, Ent- wicklung und wirtschaftlicher Anwendung, hat die Auf- (Anke Hartnagel [SPD]: Beschämend, das ist bruchstimmung und die Aufholjagd der 90er-Jahre in richtig beschämend!) Deutschland wie in Europa beendet. So ist nach Feststel- Enthaltungen? – Auch dieser Antrag ist mit den Stim- lung der EU zum Beispiel die Zahl der Freisetzungsan- (B) men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von träge in der Forschung seit 1998 um sage und schreibe (D) CDU/CSU und FDP angenommen worden. 76 Prozent zurückgegangen. In Deutschland ist sie sogar noch stärker zurückgegangen. Die EU-Kommission Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: stellte in ihrem Forschungsfortschrittsbericht vom März Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. 2003 – er ist nur wenige Tage alt – fest, dass die neu ge- Carstensen (Nordstrand), Albert Deß, Helmut gründeten, jungen Unternehmen der Biotechnikbranche Heiderich, weiterer Abgeordneter und der Frak- – darauf haben auch die Regierungsfraktionen heute tion der CDU/CSU Morgen hingewiesen – stark einbrechen, Insolvenz erlei- den oder gänzlich ins Ausland verschwinden. Hürden für die Biotechnik abbauen Deshalb, so meinen wir, muss sich die Bundesregie- – Drucksache 15/803 – rung intensiv für die umgehende Aufhebung des Morato- riums einsetzen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider- (Beifall bei der FDP) spruch erhebt sich dagegen nicht. Dann verfahren wir so. Sie darf diese Aufhebung nicht wieder an neue, auf- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst schiebende Bedingungen knüpfen, wie es Ministerin der Abgeordnete Helmut Heiderich. Künast vor wenigen Tagen mit der Feststellung andeu- tete, erst müssten alle EU-Richtlinien, die es in diesem Helmut Heiderich (CDU/CSU): Aufgabenfeld gebe, in Kraft sein, dann könne man da- rüber reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wäre Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- tatsächlich das Ende jeder positiven Entwicklung in die- gen! Zu Beginn der heutigen Plenarsitzung hat der Bun- sem Technologiebereich. destag über die technologische Leistungsfähigkeit unse- res Landes debattiert. Dabei sind von führenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Personen der rot-grünen Koalition deutliche und hehre Man denke nur daran, dass die Bundesregierung die Um- Worte vorgetragen worden. Zwei Beispiele: „Aus unse- setzung der EU-Richtlinie seit 1998 vor sich herschiebt. rem Land muss mehr an technologischen Innovationen Dazu hat die EU in ihrem Fortschrittsbericht gesagt, dies kommen“, äußerte Ex-Grünen-Chef Kuhn. „Wir wissen, bremse jede weitere Entwicklung in diesem Bereich. dass Technologie in großem Stil gekauft werden muss, weil wir sie nicht mehr selbst haben“, sagte SPD-Frakti- Am 24. April 2003, also in genau 14 Tagen, veranstal- onschef Müntefering. Seine Folgerung lautete: „Eine tet die EU-Kommission eine Tagung über die neuesten 3340 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Helmut Heiderich (A) Forschungsergebnisse zur Koexistenz von gentechni- von dem Anbau auf einer Fläche von 10 000 Hektar die (C) schem und nicht gentechnischem Pflanzenbau. Auch das Rede. Diesen Anbau hat man der Industrie auch zugesi- ist ein Grund, weshalb wir diesen Antrag heute in das chert. Was wir jetzt sehen, ist das Ergebnis von zweiein- Plenum eingebracht haben. halb Jahren Regierungshandeln in diesem Land. Die Bundesregierung ist nun gefordert, eine zügige Aber – deswegen habe ich es eben gesagt – Green- Verabschiedung von Leitlinien auf der Grundlage gesi- peace hat dieses Versuchsfeld bereits wieder zerstört und cherter Erkenntnisse zu fordern und zu fördern. Sie ist unbrauchbar gemacht. jedoch nicht gefordert, Detailfragen, zum Beispiel nach (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ungeheuer!) den Einzelheiten der Haftungsregelungen, zur Vorbedin- gung für die weitere Entwicklung zu machen. Es würde Das geschah mit der interessanten und, wie ich finde, un- Jahre dauern, bis sich die gesamte EU auf detaillierte Be- glaublichen Begründung, die von uns, dem Gesetzgeber, stimmungen tatsächlich einigen könnte. In diesem Be- geschaffenen rechtlichen Regeln seien für Greenpeace reich muss jetzt nach dem Subsidiaritätsprinzip gehan- nicht ausreichend. delt werden, zumal wir in Deutschland bereits ein (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja, das umfassendes und ausreichendes Haftungsrecht für all sagen die!) diese Fragen haben. Greenpeace hat sein eigenes Rechtsverständnis, welches (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – über dem des Deutschen Bundestages steht! Greenpeace Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- meint aus diesem Verständnis heraus, man könne Felder NEN]: Also nein! Sonst immer europäisch und verwüsten und das Eigentum anderer Leute beschädigen. jetzt will er das Subsidiaritätsprinzip!) Ich glaube, das kann so nicht hingenommen werden. – Verehrte Frau Höfken, interessanterweise hat das sogar (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihr Kollege Trittin festgestellt und bestätigt. Wie ich ei- ner Meldung des VWD vom 24. März dieses Jahres ent- Ich fordere auch von Ihnen, von den Fraktionen der Grü- nehme – sie ist also ganz aktuell –, hat er Folgendes ge- nen, der SPD, aber auch von der Bundesregierung, dass sagt – ich zitiere –: Sie sich von diesem Handeln deutlich distanzieren und klar sagen, dass es in Deutschland nicht so weitergehen Auch für die EU-weite Regelung von Schäden darf. durch gentechnisch veränderte Organismen (GVO) sei von deutscher Seite kein Bedarf. In Deutschland Man darf nicht immer wieder das Argument hervor- … sei dieser Bereich durch die zivilrechtliche Haf- holen – es kam heute Morgen vom Kollegen Fell, der gerade gegangen ist –, die Bevölkerung wolle keine (B) tung geregelt. (D) Gentechnik und deswegen brauche man sie nicht weiter- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zuentwickeln. Dies ist falsch, weil wir seit Jahren Tau- NEN]: Das trifft nur einen anderen Sachver- sende Tonnen an gentechnisch erzeugten Futtermitteln halt!) nach Deutschland importieren und in der Landwirtschaft Also, auch Herr Trittin hat gelegentlich einmal Recht. und in der Industrie einsetzen. Ich glaube, dort hat er eine richtige Äußerung getroffen. (Zuruf des Abg. [SPD]) Ich meine, an dieser Stelle eine neue Diskussion und eine Verzögerungsdebatte zu eröffnen würde Deutsch- – Ich habe Sie akustisch leider nicht verstehen können. land und die Europäische Union von ihren selbst ge- (Gustav Herzog [SPD]: Hat der Verbraucher steckten Zielen für den Zeitraum bis 2010 vollends ab- diese Tonnen bestellt?) bringen. – Verbraucher haben die bestellt – richtig –, Wo heute Forschung und Entwicklung verschwinden – dessen müssen wir uns doch immer bewusst sein –, (Lachen des Abg. Matthias Weisheit [SPD]) verschwinden morgen auch die Arbeitsplätze. nämlich Verbraucher, die als Landwirte diese Mittel ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) setzen; ich komme gleich noch darauf zurück. Verehrter Herr Kollege, Sie werden heute kaum noch einen Käse Ich meine, Sie müssten aus Erfahrung klug geworden aus dem Regal nehmen können, der nicht mit gentech- sein. nisch hergestelltem Lab erzeugt worden ist; Sie wissen das alles. Es kann auch nicht hingenommen werden – ich greife ein tagesaktuelles Thema auf –, was die – ich sage das (Matthias Weisheit [SPD]: Das hat mit ganz bewusst – Krawallorganisation Greenpeace vor- Biotechnik nichts zu tun!) gestern wieder angestellt hat. Erstmals hat das Sie wissen, dass Produkte der Gentechnik längst im Robert Koch-Institut nach ausführlicher wissenschaftli- Lande vorhanden sind. Sie behaupten aber immer, das cher und rechtlicher Prüfung den Versuchsanbau eines sei etwas, was man in diesem Land nicht einführen pilzresistenten GVO-Weizens genehmigt, und das – bitte dürfe. hören Sie gut zu! – für ein Areal von zehn mal 19,5 Me- tern; das entspricht der Größe eines Vorgartens. So viel Durch das Moratorium, das durch Ihre Bundesregie- ist vom großflächigen Programm des Kanzlers von der rung mit verursacht ist, haben die Bürger bis heute kei- EXPO 2000 offensichtlich übrig geblieben. Damals war nerlei praktischen Vergleich zwischen Produktlinien un- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3341

Helmut Heiderich (A) terschiedlicher Art. Deswegen kann man mit diesem Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der (C) Argument im Prinzip gar nicht kommen. Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Obwohl dieser Vergleich bis heute nicht möglich ist, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um zeigen die Umfragen aus neuester Zeit, dass die Akzep- gleich mit einer Legendenbildung aufzuräumen: Herr tanz der Gentechnik zunehmend größer wird. Das zei- Kollege Heiderich, nicht das Moratorium hat den An- gen nicht nur die Umfragen in Deutschland; das zeigen bau gentechnisch veränderter Pflanzen in Europa ge- auch Umfragen in der EU im Übrigen. Sie kennen die stoppt, sondern eine klare Entscheidung der Verbraucher. letzte Allensbach-Studie zu diesem Thema. Auch in der Dieses Moratorium ist auf Druck einiger Regierungen in grünen Gentechnik – das ist darin ausdrücklich abgefragt Brüssel zustande gekommen, weil die Verbraucherinnen worden – sehen die Menschen inzwischen mehr Vorteile und Verbraucher die schleichende Einführung der grü- als Nachteile. nen Gentechnik, die in anderen Teilen der Welt möglich Wir sind deshalb als Entscheidungsträger aufgeru- war, in Europa nicht wollten. fen, dem aktuellen Argument des EU-Forschungskom- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- missars Busquin vom vergangenen Freitag zu folgen. NEN]: Gegen die Freiheit gerichtet!) Busquin hat das folgendermaßen formuliert – ich zi- tiere –: Ich bin froh darüber, dass wir in der erweiterten Euro- päischen Union einen Binnenmarkt von beinahe einer Neue gentechnische Verfahren bieten ein immer halben Milliarde Menschen haben, die es sich nicht ge- größeres Potenzial für die umweltfreundliche, ver- fallen lassen, dass irgendwelche großtechnologischen braucherorientierte Sortenzüchtung. Unternehmen ihnen Dinge vorsetzen, sondern die als Verbraucherinnen und Verbraucher ihren klaren Willen Diesem Argument braucht man nichts hinzuzufügen. zum Ausdruck bringen. – Das also führte vor einigen In den 90er-Jahren – ich will noch einmal daran erin- Jahren zu dem Moratorium. nern – haben wir mit dem Bio-Regio-Wettbewerb eine Im Übrigen ist es nur ein De-facto-Moratorium, weil tolle Aufholjagd geschafft: Neue Unternehmen entstan- die Kommission rein rechtlich jederzeit die Möglichkeit den, Netzwerke wurden geknüpft, private und öffentli- hätte, es zu umgehen. Sie ist aber klug beraten, es nicht che Forschungsaktivitäten waren weltweit an der Spitze zu tun. Sie weiß, dass die Bürgerinnen und Bürger in Eu- dabei. Auch hierbei lässt es die Bundesregierung an ropa als Verbraucherinnen und Verbraucher überhaupt Fortsetzung fehlen. Insbesondere fehlt es an Konzepten, kein Interesse daran haben, dass große multinationale um die bisher erreichten Erfolge zu verstetigen und den Konzerne ihre Belange in den Vordergrund schieben. (B) Spitzenleistungen, die in einzelnen Regionen erreicht (D) worden sind, auch international das Mithalten im Wett- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bewerb zu ermöglichen. und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Es ist nicht richtig, was Sie da sagen! Dies ist nicht nur eine Frage des Geldes, das ist auch Das wissen Sie doch!) eine Frage der Konzeption und es ist eine Frage des Sichkümmerns um die Probleme. Ich möchte Sie von Ein zweiter wichtiger Punkt: Sie haben gesagt, die hier aus dazu aufrufen: Suchen Sie jetzt nicht wieder Akzeptanz für die grüne Gentechnik werde größer. Ein nach Ausreden, um Entwicklungen zu verhindern, füh- Blick in die Reihen der Union macht zweierlei deutlich: ren Sie nicht wieder Diskussionen auf grundsätzlichen Die Akzeptanz ist nicht so besonders groß, denn es ist ideologischen Ebenen, sondern handeln Sie, um die von kaum jemand da. uns und von Ihnen selbst gesteckten Ziele der europäi- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schen Agenda 2010 – das Wort ist inzwischen Mode ge- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Helmut worden – zu erreichen, Heiderich [CDU/CSU]: Bei Ihnen sind es auch nicht sehr viel mehr!) (Beifall bei der CDU/CSU) Bemerkenswerter ist aber, dass sich die Kolleginnen und damit wir Zukunftsentwicklung und Arbeitsplätze bei Kollegen aus dem Agrarausschuss verstecken. Ich suche uns im Lande schaffen und von den Entwicklungen in sie hier vergeblich. anderen Regionen des Erdballs nicht weiter abgehängt werden! Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie stim- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Wir sind men dementsprechend unserem Antrag zu. da!) Vielen Dank. – Die von der Union. – Ich weiß auch, warum sie sich verstecken: Weil die Position, die die Union in ihrem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- Antrag formuliert, nicht einmal vom Deutschen Bauern- chen des Abg. Matthias Weisheit [SPD]) verband getragen wird. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Der sitzt aber Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: auch nicht in unserer Fraktion!) Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentari- Die Schleusen für die grüne Gentechnik zu öffnen sche Staatssekretär Matthias Berninger das Wort. würde bedeuten, dass man die Interessen derjenigen 3342 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Parl. Staatssekretär Matthias Berninger (A) Landwirte, die gentechnikfrei produzieren wollen – die Nach der gleichen Philosophie soll nun der Anbau (C) Mehrheit der Bäuerinnen und Bauern in Deutschland betrieben werden: Jeder soll zwar gentechnikfrei an- wollen gentechnikfrei produzieren –, den Interessen der- bauen können, aber derjenige, der das unbedingt will, jenigen opfert, die sagen, dass sie das Neue einmal aus- soll selber dafür sorgen, dass seine Produkte nicht von probieren wollen. Die Bundesregierung setzt auf Wahl- gentechnisch veränderten Produkten beeinflusst werden. freiheit. Das kann es ja wohl nicht sein: Obwohl die breite Mehr- heit der Landwirte für gentechnikfreien Anbau ist, soll (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sie von einer Minderheit, die zusammen mit Monsanto sowie bei Abgeordneten der SPD – Helmut und anderen großen Unternehmen versucht, die Gen- Heiderich [CDU/CSU]: Nicht nur sie!) technik einzuführen, gezwungen werden, ihre Produk- tionsmethoden zu verändern und wirtschaftlichen Scha- Um Wahlfreiheit sicherzustellen, muss man aber gerade den hinzunehmen. bei der Einführung der Gentechnik dafür Sorge tragen, dass diejenigen, die sich für gentechnikfreien Anbau ent- Das ist unausgewogen scheiden, das auch tun können, ohne wirtschaftlichen (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schaden zu erleiden. NEN]: Und bauernfeindlich!) (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Richtig!) und widerspricht den Verbraucherrechten und auch dem Nehmen Sie die große Gruppe der Landwirte, die Recht auf Wahlfreiheit. Das ist der Grund, warum wir heute beispielsweise Raps anbaut, welcher dann nachher hier eine Regelung vonseiten der Kommission erwarten in Margarine verarbeitet wird. Große Konzerne wie Uni- und gemeinsam mit der Kommission für eine einheitli- lever zum Beispiel haben sich ja entschieden, gentech- che europäische Regelung eintreten. nikfreie Margarine auf den Markt zu bringen. Wenn in ei- Egal, was wir machen und wie wir handeln, immer er- ner Region, die für Unilever produziert, jemand damit hebt die Opposition die Forderung nach einheitlichen eu- anfangen würde, gentechnisch veränderten Raps in gro- ropäischen Regelungen. In ihrem Antrag zur Freigabe ßem Stil anzubauen, weil er wie der Kollege von der der Gentechnik heißt es dann aber plötzlich: Subsidiari- Union der Meinung ist, man müsse jetzt einmal richtig tät sei nötig, wir sollten einmal Tempo machen und nicht loslegen, haben alle anderen ein massives wirtschaftli- auf europäische Regelungen warten. ches Problem. Das ist der Grund, warum Bundesministe- rin Künast sehr klar sagt: Die Fragen, wie die Koexistenz (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von gentechnikfreier und auf Gentechnik basierender NEN]: Genau, national! Pfui!) Produktion verbindlich geregelt wird und wie klar doku- Diese Doppelzüngigkeit kritisiere ich. Sie ist auch der (B) (D) mentiert wird, wo gentechnisch veränderte Organismen Grund dafür, warum ich glaube, dass Sie mit Ihrer Poli- angebaut werden, sind so wichtig und zentral, dass sie tik nicht die Interessen der bäuerlichen Landwirtschaft, erst geklärt werden müssen, bevor man das Moratorium sondern die Interessen einer Agrarindustrie vertreten, die aufhebt. in großen Strukturen organisiert ist. Sie werden Ver- ständnis dafür haben, dass wir ein solches Vorgehen ab- (Beifall des Abg. lehnen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich danke für die Aufmerksamkeit. Diese Auffassung wird von vielen europäischen Regie- rungen geteilt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Helmut Heiderich [CDU/ Ich will noch eines hinzufügen: Hierbei handelt es CSU]: Wir reden gerade von deutschen Unter- sich nicht, wie Sie meinen, um eine Verzögerungstaktik; nehmen und nicht von der Agrarindustrie!) vielmehr hat die Bundesregierung ihre Hausaufgaben bezüglich der Frage, wie Koexistenz realisiert werden Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kann, gemacht. Wir haben uns im Gegensatz zu Ihnen Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Happach- massiv dafür eingesetzt, dass klare Kennzeichnungs- Kasan. regeln eingeführt werden. Ich freue mich, wenn sich Eu- ropäisches Parlament und Kommission auf klare Grenz- werte für die Kennzeichnung gentechnisch veränderter Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Organismen verständigen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kollege Berninger, Sie haben, wie ich meine, an Dazu noch eine Bemerkung: Als wir die Kennzeich- den Problemen Deutschlands vorbei- und ausschließlich nungspflicht eingeführt haben, sagte die Gentechnik- für eine rot-grüne Klientel geredet. lobby, das sei kein Problem, und forderte, alle gentech- nikfreien Produkte zu kennzeichnen, die gentechnisch (Beifall bei der CDU/CSU) produzierten sollten stattdessen einfach so auf den Markt Sie verspielen mit Beiträgen wie dem, den Sie gerade ab- kommen. Sie wäre also damit einverstanden gewesen, gegeben haben, Deutschlands Zukunft. alle gentechnikfreien Produkte zu kennzeichnen. Ich will das durchaus näher begründen: Deutschland (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Stimmt doch droht gemeinsam mit elf anderen Ländern eine Klage gar nicht! Ist schlicht falsch!) vor dem Europäischen Gerichtshof, wenn nicht umge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3343

Dr. Christel Happach-Kasan (A) hend die EU-Richtlinie über die Freisetzung von gen- Die grüne Gentechnik – das zeigt der Zickzackkurs (C) technisch veränderten Organismen umgesetzt wird. So der Regierung – ist für Rot-Grün ein äußerst schwieriges lautete eine Meldung von heute. Schade, dass Sie nicht Thema. Die SPD wird an ihrem Erfolg beim Abbau der näher darauf eingegangen sind. Auch wenn dies nicht Arbeitslosigkeit gemessen – bisher Fehlanzeige. Die das erste Klageverfahren wäre, stellt sich für mich die Grünen bedienen mit etwas mehr Erfolg die Klientel der Frage, welchen Sinn es macht, diese Klage abzuwarten, Bedenkenträger. Zusammen reicht es weder in Hessen statt endlich die Richtlinie umzusetzen. Die Bundesre- noch in Niedersachsen zur Regierung. Neue Arbeits- gierung konnte in ihrer Antwort auf meine Kleine An- plätze können in einem Hochlohnland wie Deutschland frage keine einzige Schädigung von Mensch oder Um- insbesondere in der Entwicklung und Anwendung neuer welt durch transgene Pflanzen benennen. Sie haben die Technologien entstehen. Wir brauchen neue Arbeits- Antwort unterschrieben, Kollege Berninger. Die grüne plätze; das sollte in diesem Hause jedem klar sein. Gentechnik führt somit nicht zu Gesundheits- oder Um- Bei der roten Gentechnik haben in Hessen gerade die weltschäden. Das ist eine gute Nachricht, wenn auch Grünen dafür gekämpft, dass Deutschland seine For- nicht für Rot-Grün. Schließlich werden in sieben Län- schungsergebnisse nur zu einem geringen Anteil zur dern auf fast 60 Millionen Hektar transgene Pflanzen an- Entwicklung von marktfähigen Produkten nutzen gebaut. Es gibt somit ausreichende und offensichtlich konnte. Bei der grünen Gentechnik tun sich die Grünen gute Erfahrungen im Umgang mit transgenen Pflanzen. dabei hervor, die Entwicklung von Produkten und auch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die notwendige Forschung ins Ausland zu verdrängen. Dafür gibt es konkrete Beispiele. Ich fordere meine Kol- Der Anbau von goldenem Reis in Asien kann helfen, legen aus Schleswig-Holstein auf, für Arbeitsplätze in Menschen vor Erblindung zu schützen. unserem gemeinsamen Bundesland zu kämpfen. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) NEN]: So ein Quatsch!)

Goldener Reis ist eine transgene Sorte. Es gibt somit Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sehr gute Gründe, den Anbau von transgenen Pflanzen zu fördern, statt ihn zu verhindern. Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit, Sie sind schon weit drüber. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In der Öffentlichkeit – auch dazu hätte ich Ausführun- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): gen von einem Vertreter der Bundesregierung erwartet – Ja, ich komme zum Schluss. – Ein führendes nord- setzt sich allmählich die Meinung durch, dass gentech- (B) deutsches Pflanzenzuchtunternehmen, das in Schleswig- (D) nisch veränderte Pflanzen kein erhöhtes Risiko bedeu- Holstein und in Mecklenburg-Vorpommern jeweils einen ten. Auch der äußerst diskrete Umgang der Bundesregie- Standort hatte, hat die Entwicklung transgener Sorten rung mit den Ergebnissen einer Allensbach-Studie, die nach Kanada ausgelagert. Ende 2001 veröffentlich wurde und dies belegt, kann da- ran nichts ändern. Es gibt somit auch eine öffentliche (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: So sieht die Akzeptanz für einen verantwortungsvollen Umgang mit Realität aus!) transgenen Pflanzen. Kämpfen Sie für Arbeitsplätze in unserem Land! Der Zickzackkurs der Bundesregierung bei der grü- Mit Ihrer Politik kann es nicht gelingen, Arbeitsplätze nen Gentechnik ist nicht zu übersehen. Schröder wollte bei uns zu erhalten. Die SPD wird sich entscheiden müs- den kritischen Dialog, herausgekommen ist eine Funda- sen, ob sie ihre Politik an den Interessen der Menschen mentalopposition. Aber inzwischen plant Ministerin im Lande oder an denen ihres grünen Koalitionspartners Künast den geordneten Rückzug. Die Forderung nach ausrichtet. Nulltoleranz für zufällige Beimischungen wird von ihr nicht aufrechterhalten. Gut so! Der Schwellenwert von Ich danke für die Aufmerksamkeit. 0,9 Prozent ist akzeptiert. Nun will die Ministerin über (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Haftungsregelungen eine neue Hürde aufbauen. Dabei ist Deutschland auch in dieser Frage kein rechts- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: freier Raum. Kollege Heiderich hat darauf hingewiesen. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias Es wird zu prüfen sein, inwieweit unterschiedliche Züch- Weisheit. tungsmethoden unterschiedliche rechtliche Regelungen erfordern. Ministerin Künast hat im „Spiegel“ erklärt, dass Verbraucher, die sich für gentechnikfreie Lebensmit- Matthias Weisheit (SPD): tel entscheiden, auf keinen Fall mehr zahlen sollen – eine Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tolle Forderung. Dabei weiß sie genau, dass schon jetzt Der vorliegende Antrag ist von der Überschrift her eine das Gegenteil gilt. GVO-freies Soja kostet pro Tonne zwi- Mogelpackung; denn in der Überschrift steht Biotechnik, schen 5 und 25 Euro mehr als anderes Soja, so die Ant- im Antrag selber ist ausschließlich von grüner Gentech- wort der Bundesregierung auf meine Anfrage. Trotzdem nik die Rede. sagt Ministerin Künast im „Spiegel“ solchen Unsinn. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Ist das keine (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Na, na!) Biotechnik?) 3344 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Matthias Weisheit (A) – Doch, natürlich, aber Biotechnik ist sehr viel weiterge- Umweltschäden lassen sich nicht von vornherein aus- (C) hend als grüne Gentechnik. Sie hätten anstandshalber schließen. Ich bin daher der Meinung, dass wir bei der doch wenigstens hineinschreiben können, um was es Ih- Haftung auf europäische Regelungen drängen müssen nen geht. Weil Sie das nicht getan haben, ist es eine Mo- und dass wir uns nicht auf nationale Regelungen be- gelpackung. schränken dürfen. Ich finde es übrigens ganz toll, dass Sie im Zusammenhang mit der Koexistenz das Subsidia- Sie haben mit dem Lab und den Fermenten ein bio- ritätsprinzip anwenden wollen. Wenn wir das machen technologisches Beispiel gebracht, Herr Heiderich; dafür würden, dann wären Sie die Ersten, die schreien würden: war ich Ihnen richtig dankbar. Das ruft in der Tat in der Wettbewerbsnachteile für die deutsche Landwirtschaft! Bevölkerung keine Probleme hervor. Aber bei dem, was an Saatgut und Pflanzen auf den Acker kommt, sieht es Das kann nicht unser Ziel sein. Das Ziel muss viel- schon anders aus. Europaweite Umfragen zeigen, dass mehr sein, Mindestvereinbarungen auf europäischer die Skepsis und die Ablehnung der grünen Gentechnik Ebene zu haben. Zum Beispiel machen Pollen nicht an im Vergleich zur Befürwortung weit überwiegen. den Grenzen halt. Für den im Elsass angebauten Raps oder Mais existiert die Grenze am Rhein nicht. Die Pol- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Lassen Sie len können einfach zu uns herüberfliegen. Beispiele von die Praxis zu! Dann können die Bürger selbst größeren Dimensionen: Staub gelangt ab und zu von der entscheiden!) Sahara über das Mittelmeer und die Alpen bis zu mir nach Hause. Über London befinden sich immer wieder Ich komme zum nächsten Punkt. Die zur Verabschie- gewaltige Pollenkonzentrationen von Raps, obwohl in dung anstehende EU-Kennzeichnungs- und Rückver- London und in der direkten Umgebung kein Raps ange- folgbarkeitsverordnung ist ein wichtiger Fortschritt, baut wird. Im Hinblick auf Haftungsregelungen muss weil sie eine Kennzeichnung auch für gentechnisch ver- man also internationale – zumindest europäische – Ver- änderte Futtermittel vorschreibt. Vom In-Kraft-Treten einbarungen treffen und kann diese Fragen nicht bloß dieser Verordnung hängt die von Ihnen, Frau Happach- auf der nationalen Ebene regeln. Kasan, angemahnte Umsetzung der EU-Freisetzungs- richtlinie ab, die im Vergleich zur alten, bereits abgelös- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms) ten Regelung hinsichtlich der Monitoring-Anforderun- Ihrer Forderung nach Aufhebung des Moratoriums gen einen erhöhten Sicherheitsstandard bietet. Sobald und der Wiederaufnahme der Zulassung von gentech- die EU-Rückverfolgbarkeitsverordnung steht, werden nisch veränderten Pflanzen können wir so lange nicht wir diese Richtlinie umsetzen. Es sind zwar noch klei- entsprechen, solange die Verordnung zur Kennzeichnung nere Auseinandersetzungen mit dem Parlament zu er- und Rückverfolgbarkeit noch kein geltendes Recht ist (B) warten. Aber ich hoffe, dass die noch offenen Fragen ge- und die Freisetzungsrichtlinie noch nicht umgesetzt ist. (D) löst werden können. Anschließend, wenn also diese Voraussetzungen erfüllt sind, und nicht vorher kann man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Richtlinie umsetzen und das De-facto-Moratorium DIE GRÜNEN – Helmut Heiderich [CDU/ aufheben. CSU]: Sie sind selber in der Verantwortung!) – Ich habe doch gesagt, dass man sie jetzt umsetzen Lassen Sie mich noch etwas zur Haftungsfrage sa- kann. gen. Die in Ihrem Antrag vertretene Ansicht, dass sich das Haftungsrisiko nur auf wirtschaftliche Schäden be- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sie setzen sie schränkt und dass die Frage des Haftungsrisikos bei uns doch nicht um!) gelöst sei, kann ich nicht teilen. Die Zulassungsverfah- – Doch, wir werden sie umsetzen; Sie werden sich noch ren dienen dazu, Schäden für die menschliche Gesund- wundern. heit und für die Umwelt zu vermeiden. Man kann sie aber nicht völlig ausschließen. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Prima!) Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den vom Auch steht noch die Klärung von Fragen bezüglich Ko- Bundestag in Auftrag gegebenen Bericht des Büros für existenz und Haftung aus. Es geht nicht nur um Rechts- Technikfolgenabschätzung „Risikoabschätzung und sicherheit für die Gentechnikbranche, sondern auch um Nachzulassungsmonitoring transgener Pflanzen“ vom Klarheit und Rechtssicherheit für Bauern und Ver- November 2000. Darin heißt es, dass es sich bei den braucher. Umweltwirkungen von Freisetzungen um „unspezifische Mich wundert es schon, dass auf dem vorliegenden biologische Phänomene handelt, die von einer Vielzahl Antrag die Namen aller CDU/CSU-Verbraucherschützer wechselwirkender Faktoren abhängig sind und die trotz stehen, die ansonsten sehr kritisch sind, was den Ver- teilweise jahrzehntelanger Forschung in vielen Aspekten braucherschutz angeht. In diesem Zusammenhang haben nur unvollständig verstanden sind“. sie ihre Vorbehalte wohl völlig vergessen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Es muss klar sein: Wenn ich als Verbraucher – aus Helmut Heiderich ([CDU/CSU]: Das ist Öko- welchem Grund auch immer – keine gentechnisch verän- Institut Freiburg!) derten Produkte haben will, dann muss ich mich darauf verlassen können, dass in dem Lebensmittel, in dem Pro- Wenn dem so ist, dann ist die Frage nach der Haftung dukt, das ich einkaufe, kein gentechnisch veränderter nicht ganz so einfach zu beantworten. Organismus enthalten ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3345

Matthias Weisheit (A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dann muss Titel „Hürden für die Biotechnik abbauen“. Wer stimmt (C) man 0,0 machen!) für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitions- – Natürlich beinhalten solche Produkte zugegebenerma- fraktionen bei Zustimmung von CDU/CSU und FDP ab- ßen gentechnisch veränderte Organismen bis zu dem gelehnt. festgelegten Grenzwert von 0,9 Prozent. Auf genau diese Argumentation konnte man warten: Ein bisschen lasst Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: ihr ja zu; dann könnt ihr es ja ganz zulassen. Das ist die Strategie, die einmal ein Konzern gefahren hat: Sie woll- Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- ten sich auf die Gentechnik einlassen und haben ver- regierung sucht, solche Produkte zu verkaufen. Das ist ihnen nicht Bericht der Bundesregierung über ihre Ex- gelungen. Deshalb haben sie dies schnell wieder einge- portpolitik für konventionelle Rüstungsgüter stellt. im Jahre 2001 (Rüstungsexportbericht 2001) Durch die Hintertür geht das nicht. Für den Verbrau- – Drucksache 15/230 – cher muss klar sein, welche Produkte er kauft. Überweisungsvorschlag: (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das ist doch Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) unstreitig!) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Mich wundert es, wie gesagt, dass die Namen aller Ver- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe braucherschützer der CDU/CSU auf dem Antrag stehen. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Dass Ihr Name, Herr Heiderich, darauf steht, hat mich natürlich nicht gewundert. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Es bleibt noch ein Punkt, der mich angesichts Ihrer höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Forderungen etwas stutzig gemacht hat: die klare Unter- stützung der Biotechbranche. Zunächst einmal ist das Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das wieder eine Mogelpackung. Nach Lesen des Antrages Wort für die Bundesregierung der Parlamentarische stellt sich die klare politische Unterstützung der grünen Staatssekretär Gerd Andres. Gentechnikbranche bzw. von ein paar Saatgutherstellern heraus, die sich darauf spezialisiert haben. Dies zu tun, Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- so meine ich, ist weder Sache einer Regierung noch Sa- nister für Wirtschaft und Arbeit: che des Parlamentes. Wenn wir die richtigen Rahmen- (B) bedingungen schaffen – wir sind gerade dabei –, dann Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der (D) muss die Branche selber für Akzeptanz sorgen. Das ist Rüstungsexportbericht 2001, den ich Ihnen hier kurz wohl der richtige Weg. vorstellen will, ist der dritte seiner Art. Mit ihm legt die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag Rechen- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Aber Ihr Bundes- schaft über die Rüstungsexportpolitik des Jahres 2001 kanzler hat das doch gefordert!) ab. Diese Debatte findet vor dem Hintergrund des Krie- Wenn Sie die Unterstützung so verstehen sollten ges im Irak statt. Dies verleiht dem Rüstungsexportbe- – auch das könnte man herauslesen –, dass die Regie- richt besondere Aktualität. Der neue Bericht zeigt, dass rung zur Werbeagentur für diese Branche werden soll, die Bundesregierung im Jahre 2001 wieder eine verant- wortungsvolle Rüstungspolitik verfolgt hat, gerade auch (Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann mit Blick auf Staaten in der Konfliktregion, deren Politik [FDP]) zur besonderen Sorge Anlass gibt. dann wäre das schon aus sachlichen Gründen ein Grund Bei aller Zurückhaltung sind jedoch gleichzeitig die genug, Ihren Antrag abzulehnen. bündnispolitischen Verpflichtungen unseres Landes zu Ich hätte noch eine Redezeit von zwei Minuten. Ich berücksichtigen. Deutschland muss, insbesondere im verzichte darauf, weil ich den vorliegenden Antrag von Rahmen von EU und NATO, als verlässlicher Kooperati- vornherein für nicht beratungswürdig gehalten habe. Wir onspartner für gemeinsame Rüstungsprojekte zur Verfü- müssen aber darüber beraten. gung stehen und übernommene Verpflichtungen in die- sem Rahmen erfüllen. Diese Haltung, die Offenheit Ich danke für die Aufmerksamkeit und verschenke die gegenüber EU-, NATO- und der NATO gleichgestellten restlichen zwei Minuten meiner Redezeit. Ländern – dabei handelt es sich um Australien, Japan, Neuseeland und die Schweiz – einerseits und die Zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rückhaltung gegenüber sonstigen Ländern andererseits, DIE GRÜNEN – Helmut Heiderich [CDU/ prägt das mit dem Rüstungsexportbericht 2001 unter- CSU]: Wunderbar!) breitete Zahlenmaterial.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der Bericht soll die Exportkontrollpolitik der Bun- Ich schließe die Aussprache. desregierung transparent machen. Die Darstellung der rechtlichen und politischen Entscheidungsgrundlagen Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der für die Rüstungspolitik steht dabei im Mittelpunkt. Diese Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/803 mit dem Darstellung wird durch tabellarisch aufbereitetes 3346 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Zahlenmaterial sowohl zu erteilten Ausfuhrgehmigun- Dagegen haben sich die Genehmigungswerte für Aus- (C) gen als auch zu tatsächlichen Ausfuhren ergänzt. fuhren in die anderen Länder, die so genannten Drittlän- der, mehr als verdoppelt. Dafür kann ich eine Erklärung Im Interesse der Transparenz ermöglicht der Bericht liefern: Diese Steigerung beruht im Wesentlichen auf ei- zudem einen Überblick über die Entwicklung der ner Genehmigung für die Lieferung von drei U-Booten Genehmigungen und tatsächlichen Ausfuhren in den an Südkorea. Auch hinter dieser Verdoppelung verbirgt Jahren 1996 bis 2001. Das Bild wird, wie schon im Vor- sich also kein großartiger, schlimmer Tatbestand, son- jahr, durch eine Strafverfolgungsstatistik, Abschnitte dern er ist damit einfach erklärt. über an andere Länder geleistete militärische Ausrüs- tungshilfen sowie über neu abgeschlossene regierungs- Auch für Sammelausfuhrgenehmigungen ist ein amtliche Kooperationen im Rüstungsgüterbereich mit deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Diese Genehmigun- deutscher Beteiligung ergänzt. gen werden für Ausfuhren im Rahmen von Kooperati- onsprojekten mit EU- und NATO-Ländern erteilt. Sie er- Ein besonderes Kapitel des Rüstungsexportberichts möglichen den vereinfachten Warenaustausch zwischen ist der Genehmigungspolitik bei der Ausfuhr von den Kooperationspartnern und stellen somit unter ande- Kleinwaffen gewidmet. Damit würdigt die Bundesregie- rem ein wichtiges Instrument für die Entwicklung einer rung die herausgehobene Bedeutung der Kleinwaffen- gemeinsamen europäischen Rüstungsindustrie dar. Der problematik. Im Jahr 2001 hat zu diesem Thema eine Anstieg beruht unter anderem auf den Fortschritten im große UN-Konferenz in New York stattgefunden, bei der Eurofighter-Programm, für das verstärkt auf Sammelaus- wir uns zusammen mit unseren europäischen Partnern fuhrgenehmigungen zurückgegriffen wurde. für eine stringente Exportpolitik bei dieser Waffenkate- gorie eingesetzt haben. Im Nachgang beteiligt sich Der Rüstungsexportbericht beschäftigt sich erneut mit Deutschland maßgeblich an verschiedenen internationa- den viel beachteten internationalen Vergleichsstatistiken, len Initiativen zu dieser Problematik. Diese Bemühun- die ein Länderranking vornehmen. Unsere Untersu- gen werden auf der UN-Folgekonferenz im Juli 2003 in chungen führen zu dem Ergebnis, dass bislang ein seriö- New York ihre Fortsetzung finden. ser Vergleich der bedeutenden Exportländer nicht mög- Ich möchte nun kurz auf die Zahlen des Berichts ein- lich ist. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Statistiken gehen. Mir ist natürlich bewusst, dass es nie ganz unpro- unterschiedliche Begrifflichkeiten verwenden und in der blematisch ist, mit Statistiken einen Nachweis führen zu Bewertung einzelner Ausfuhren sehr unterschiedlichen wollen – vor knapp zwei Stunden haben wir hier eine Regeln folgen. Transparenz und Vergleichbarkeit setzen Parlamentsdebatte zu anderen Fragen der Statistikfüh- insoweit eine gewisse internationale Harmonisierung vo- rung gehabt –; das gilt insbesondere dann, wenn die raus. Wir unterstützen entsprechende Bestrebungen, (B) Datenbasis schmal und daher anfällig für zufällige doch sind greifbare Ergebnisse in diesem Zusammen- (D) Schwankungen ist. Dies ist bei den Zahlen des Rüs- hang nur in kleinen Schritten zu erwarten. tungsexportsberichts der Fall. Sie zeigen allerdings – in- (Abg. [CDU/CSU] telefoniert) soweit lässt sich in der Tat eine klare Aussage treffen –, dass der Anteil der Rüstungsexporte an den deutschen Bei aller somit gebotenen Vorsicht – – Frau Kollegin, Gesamtausfuhren sehr gering – um nicht zu sagen: au- wenn Sie etwas leiser telefonieren könnten, dann müsste ßerordentlich gering – ist. Das Zahlenwerk lässt aber ich Ihr Gespräch nicht mithören. darüber hinaus den restriktiven Ansatz unserer Export- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie könnten kontrollpolitik erkennen. auch ein bisschen engagierter vortragen! – Bei den Kriegswaffen, also den Rüstungsgütern, die, Heiterkeit) grob gesprochen, als Waffen angesehen werden können, – Ich halte das für eine schwierige Materie. Eine schwie- liegen statistische Daten für die tatsächlich erfolgten rige Materie muss man hier nicht echauffiert oder sonst Ausfuhren vor. Der Anteil der tatsächlich erfolgten Aus- wie vortragen. fuhren lag im Jahr 2001 bei nur 0,06 Prozent. Er ist da- mit gegenüber dem Vorjahr erneut gesunken, und zwar (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Er muss beim um 0,11 Prozent. Der Gesamtwert aller ausgeführten Lesen nachdenken!) Kriegswaffen betrug 718,4 Millionen DM. Da sich der Bericht auf das Jahr 2001 bezieht, spreche ich nicht von Es geht vielmehr darum, die Fakten darzustellen. Euro, sondern von D-Mark. Auch dieser Wert ist gegen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) über dem Vorjahr, also dem Jahr 2000, erneut zurückge- gangen, und zwar um 46 Prozent. Im Übrigen: Wenn die Kollegin Interesse hätte, dann würde sie zuhören und nicht telefonieren. Das ist ja auch Bei den Genehmigungen für Ausfuhren liegen für alle ein Problem. Rüstungsgüter, also sowohl für Kriegswaffen als auch für alle sonstigen Rüstungsgüter, statistische Angaben Bei aller somit gebotenen Vorsicht dürfte Deutschland vor. Im Berichtsjahr wurden Einzelausfuhrgenehmi- nach meiner Einschätzung aber um einiges hinter den gungen im Wert von 7,209 Milliarden DM erteilt. Dieser USA, Russland, Frankreich und wohl auch Großbritan- Wert liegt deutlich über dem Wert des Vorjahres. Die Ge- nien liegen. Das schließt nicht aus, dass hier auch noch nehmigungswerte für die Ausfuhr in EU-, NATO- und andere Länder zu nennen wären, deren Statistiken sich gleichgestellte Länder blieben dabei praktisch unverän- aber einer vergleichenden Betrachtung gänzlich entzie- dert. hen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3347

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) (Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Also etwa in diesem Bereich bereits eine sehr verantwortungsvolle (C) Nordkorea!) und restriktive Politik gemacht wurde. – Stimmt, Herr Kollege Polenz. Dem Rüstungsexportbericht zufolge sind die Einzel- genehmigungen von 5,6 Milliarden DM im Jahr 2000 Hauptempfänger deutscher Rüstungsgüter sind in al- auf 7,2 Milliarden DM im Jahr 2001 gestiegen. Die lererster Linie unsere EU- und NATO-Partner. Mehr als Sammelausfuhrgenehmigungen sind von 3,7 Milliar- 80 Prozent des Gesamtwertes der erteilten Genehmigun- den DM in 2000 auf 7,5 Milliarden DM in 2001 gestie- gen entfallen auf Ausfuhren in EU-, NATO- und gleich- gen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Anteil der Ex- gestellte Länder. Dies lässt zum einen die grundsätzlich porte, die nach dem Außenwirtschaftsgesetz genehmigt restriktive Genehmigungspolitik gegenüber den anderen werden müssen, damit um 29 Prozent. Sie haben zum Ländern erkennen. Zum anderen wird dadurch aber auch Verhältnis zwischen Genehmigungen und Ausfuhren et- die Einbindung Deutschlands in partnerschaftliche Ko- was gesagt, das wir gerne zugestehen wollen. operationen deutlich, was sich insbesondere an dem ho- hen Wert für Sammelausfuhrgenehmigungen ablesen Die deutschen Rüstungsexporte bewegen sich also lässt. weiter auf einem durchaus gewohnten Niveau. Deutsch- land rangiert nach wie vor an fünfter Stelle nach den Wie gesagt, die Berufung auf Statistiken ist nie ganz USA, Russland, Frankreich und Großbritannien. Ich will unproblematisch. Der Rüstungsexportbericht, den ich Ih- im Folgenden einmal versuchen, die Aussagen im Rüs- nen hier kurz vorgestellt habe, zeigt nach meiner Über- tungsexportbericht mit Ihren eigenen Ansprüchen zu zeugung aber durchaus, dass die Bundesregierung eine vergleichen. überlegte und äußerst zurückhaltende Exportkontrollpo- litik betrieben und damit die Vorgaben der von ihr ge- Die Kriterien Menschenrechtsstatus, innergesell- schaffenen politischen Grundsätze erfüllt hat. Dass sie schaftliche Lage und regionale Sicherheit im Empfän- damit auch ihre aus der Kooperation mit anderen Län- gerland haben im Jahr 2001 sicher keine ausreichende dern erwachsenen Verpflichtungen zu berücksichtigen Berücksichtigung gefunden. So hat es auch diesmal Lie- hatte, habe ich bereits erwähnt. ferungen in die Türkei oder nach gegeben. Die Türkei ist das fünftwichtigste Bestimmungsland bei er- Meine Damen und Herren, wir sind gut beraten, wenn teilten Einzelgenehmigungen und achtgrößter Empfän- wir diese Politik auch in Zukunft mit Augenmaß fortset- ger kommerzieller Ausfuhren von Kriegswaffen. Israel zen. Genau das werden wir auch tun. ist der neuntgrößte Empfänger kommerzieller Ausfuhren von Kriegswaffen. Es wurden außerdem Ausfuhrlizen- Ich danke Ihnen herzlich. zen für Kleinwaffen wie Sturm- und Maschinengewehre, (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Pistolen und Munition erteilt, auch in offensichtliche (D) DIE GRÜNEN) Krisengebiete wie Bangladesch mit 129 Genehmigun- gen und Nepal mit neun Genehmigungen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat den rot-grü- nen Versuch, der Öffentlichkeit mit der Verabschiedung Das Wort hat der Kollege Erich Fritz von der CDU/ der politischen Grundsätze für den Import von Kriegs- CSU-Fraktion. waffen und sonstigen Rüstungsgütern weiszumachen, es gäbe wenige exklusive Kriterien, ohnehin von Anfang Erich G. Fritz (CDU/CSU): an als eine sehr populistische Maßnahme angesehen. Es geht nämlich in jedem Einzelfall um eine Abwägung, ob Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- es außenpolitisch sinnvoll ist, eine Genehmigung zu er- gen! Herr Staatssekretär, Sie haben gerade die Begriffe teilen oder nicht. Darum kommt niemand herum, selbst Aktualität und Transparenz benutzt. Aktuell ist dieser wenn er sich noch so schöne Kriterien gibt. Einen voll- Bericht nun wirklich nicht. Er war im Mai im Ministe- ständigen objektiven Entscheidungskatalog kann es rium fertig. Im Juni konnten wir die Zahlen von SIPRI demnach nicht geben. Wie inkonsequent die Politik von lesen; da war schon klar, dass Deutschland im Jahr 2001 Rot-Grün ist und wie weit Anspruch und Wirklichkeit mit Ausfuhren in Höhe von 675 Millionen US-Dollar der auseinander liegen, zeigen die genannten Lieferungen. fünftgrößte Rüstungsexporteur gewesen ist. Im Dezember haben wir dann den Bericht der Bundesregierung bekom- Ein weiteres Beispiel ist Taiwan. Das Exportverbot, men. Seit dem 18. Dezember liegt er jetzt dem Bundestag so können wir Pressemitteilungen vom 29. Januar 2003 vor. Dieser Rüstungsexportbericht 2001 kommt also entnehmen, ist nicht so restriktiv, wie es die Bundesre- schon sehr spät, noch später als die ersten beiden Be- gierung vorgibt. Während die Bundesregierung den richte, die auch schon spät vorgelegt wurden. Woran Wunsch des Kieler U-Boot-Herstellers HDW und seines mag das gelegen haben? Der eigentliche Vorlagetermin US-Partners nach Lieferung von U-Booten bzw. U-Boot- wäre zur Zeit der Bundestagswahl gewesen. Das passte Antrieben nach Taiwan abgelehnt und dabei auf ihre vielleicht nicht ganz gut. Rot-Grün konnte und wollte Ein-China-Politik verwiesen hat, – die wir teilen –, ist den Wählern und Wählerinnen wahrscheinlich nicht so zur gleichen Zeit die Zahl der Genehmigungen für die einfach sagen, dass das, was sie zur Rüstungsexportpoli- Lieferung von Rüstungsgütern von 17 Genehmigungen tik versprochen hatten, in ihrer Regierungszeit nicht um- in 2000 auf 34 Genehmigungen in 2001 angestiegen. gesetzt wurde. Es wird weiter gemacht wie bisher, was ja Wohlgemerkt: Es mag gute Gründe für diese Genehmi- nichts anderes belegt, als dass auch in der Vergangenheit gungen geben und wir wollen sie gar nicht kritisieren. Es 3348 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Erich G. Fritz (A) geht nur darum, dass immer bestimmte Ansprüche erho- Wir fordern – Herr Staatssekretär, das ist die Antwort (C) ben und hehre Ziele formuliert werden, die in der Praxis auf Ihre Frage – eine gemeinsame europäische Rüs- oft nicht so eingehalten werden, wie Sie es den Men- tungspolitik. Das tun wir nicht erst seit heute. Ich finde schen weismachen wollen. es schön, dass sich die Bundesregierung in dieser Woche durch mehrere Äußerungen dazu bekannt hat, unter den Bei den Entwicklungsländern – auch dieser Frage neuen sicherheitspolitischen Bedingungen einiges von muss man nachgehen – stimmt tatsächlich das, was der dem zu tun, was sie bisher versäumt hat. Ich halte es Staatssekretär vorgetragen hat. Die meisten Exporte ge- auch für sinnvoll, über die Einrichtung einer europä- hen zwar in NATO-Staaten und NATO-vergleichbare ischen Rüstungsagentur nachzudenken. Das halte ich für Staaten, in Industrieländer und an osteuropäische Über- einen sinnvollen Ansatz, der im Übrigen von der CDU/ gangsstaaten; aber immerhin gibt es auch Kriegswaffen- CSU-Fraktion – ich nenne nur ; aber auch lieferungen im Wert von 3,9 Millionen DM – zugegebe- andere haben daran mitgewirkt – entwickelt worden ist. nermaßen keine bedeutende Größenordnung – in Wir brauchen über die Dual-Use-Verordnung hinaus eine Entwicklungsländer. Zu diesen Ländern gehören Süd- gemeinsame europäische Exportregelung. Die bisheri- afrika, Tansania, Thailand oder Ecuador, bei denen eine gen Selbstverpflichtungen reichen nicht aus. Wir brau- Lieferung nicht ganz unproblematisch ist. chen eine einheitliche Struktur bei der europäischen Im Übrigen ist in der Zukunft mit einem Anstieg von Rüstungsindustrie. Denn wir müssen feststellen, dass es Kriegswaffenexporten in Drittländer zu rechnen. Es sind in einigen Ländern – Deutschland gehört nicht dazu –, nämlich bereits Verträge abgeschlossen worden, die bis- entsprechend der ursprünglichen Ausrichtung der Rüs- her nur keinen Niederschlag im Rüstungsexportbericht tungswirtschaft, noch immer Überkapazitäten gibt und gefunden haben. Diese Exporte beschränken sich aber dass dies nach wie vor zu einem Exportdruck führt. – Gott sei Dank – auf den Marinebereich, sodass sich Diese müssen wir gemeinsam abbauen. Wir müssen die Befürchtungen, die man unter entwicklungspolitischen Bedürfnisse auf das ausrichten, was im Bündnis und was Gesichtspunkten anführen kann, nicht stellen. Als Emp- für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und fängerländer sind Südafrika und Malaysia zu nennen. eine europäische Verteidigungspolitik nötig ist. Zur Frage der Transparenz. Im Rüstungsexportbe- Um das alles müssen wir uns ernsthaft bemühen; richt bleibt nach wie vor vieles im Dunklen. Der Bericht denn es geht auch darum, ob man entscheidenden politi- schlüsselt zwar genehmigte Listenpositionen sowie An- schen Einfluss behält. Ich denke zum Beispiel an die zahl und Gesamtwert der Genehmigungen nach Empfän- Ausstattung der neuen NATO-Mitglieder. Wir haben uns gerländern auf – das ist Anlage 5 –, aber eine weitere zwar sehr für deren Mitgliedschaft eingesetzt, haben es Aufschlüsselung innerhalb der Listenpositionen erfolgt aber nicht geschafft, dass der Auftrag für die Moderni- (B) nur teilweise. Unzureichend sind auch die Informationen sierung der polnischen Luftwaffe an die EADS geht. (D) hinsichtlich der genauen Beschreibung und der Stück- Er ist an Lockheed Martin gegangen. Dabei kommt die zahl der genehmigten und tatsächlich gelieferten Güter Frage auf, ob wir nicht aus künstlicher Zurückhaltung sowie hinsichtlich des Endverbleibs. Angesichts dessen, heraus Chancen versäumen, die nicht nur wirtschaftliche dass die Kollegen von den Grünen und der SPD vor der Möglichkeiten eröffnet hätten, sondern auch politische Bundestagswahl dazu gesagt haben, man wolle das sehr Einflussnahme und Gestaltung möglich gemacht hätten. verfeinern und verbessern – ich denke nur an die Äuße- Zusammenfassend möchte ich sagen: Es müsste doch rungen von Herrn Wend, im Wirtschaftsausschuss –, möglich sein, wenn Nichtregierungsorganisationen das muss ich feststellen: Nichts ist in dieser Hinsicht pas- schaffen, dass auch eine Regierung in der Lage ist, den siert. Bundestag zeitnah über die Exportpolitik zu informieren. Damit es in dieser Frage kein Missverständniss gibt, Ich hoffe, dass die nächsten beiden Berichte nicht erst in möchte ich betonen: Das sind keine Forderungen, die die eineinhalb Jahren folgen, sondern in wenigen Monaten. CDU/CSU-Fraktion erhoben hat. Es sind vielmehr Ihre Vielen Dank. eigenen Kriterien, an denen ich Sie messe. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ( [Wiesloch] [SPD]: Herr neten der FDP) Fritz ist links von uns!) Wir sind der Meinung, dass wir in der Rüstungsex- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: portkontrollpolitik vor allen Dingen gegenüber der Öf- Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei fentlichkeit klarstellen müssen: Es ist ein Politikbereich, vom Bündnis 90/Die Grünen. in dem sich Außenpolitik, nationale Interessen und Bündnisinteressen mit wirtschaftlichen Interessen ver- binden, die wirtschaftlichen Interessen aber nicht im Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vordergrund stehen dürfen. Aber vom Umsatz her, der in Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diesem Bereich erzielt wird, und dessen Bedeutung für alle empfinden sicher Freude und Erleichterung über den die Außenwirtschaft kann wirklich niemand behaupten, Kollaps des Saddam-Hussein-Regimes und über das dass wir darauf abstellen würden. Sie aber stellen immer Ende der Kämpfe um Bagdad. Angesichts der vielen eine überhöhte Moral auf, der Sie regelmäßig nicht ge- Tausenden Verletzten und Toten, die diese Invasion ge- recht werden. Das ist kein guter Weg, weil Sie auf diese kostet hat, und angesichts der vielen frühen Fehler, die Weise falsche Signale geben. zum Wachsen dieses Regimes und zur Katastrophe die- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3349

Winfried Nachtwei (A) ses Krieges beigetragen haben, ist die Freude für viele einen erfreulichen Tiefstand erreicht; sie liegt so tief wie (C) aber durch Zorn getrübt. seit vielen Jahren nicht mehr. 93 Prozent der tatsächli- chen Ausfuhr von Kriegswaffen gehen in NATO- und Der Angriff auf den Irak wurde mit seiner Kriegspoli- EU-Staaten. Bei den Genehmigungen zur Ausfuhr von tik und seinem Streben nach Massenvernichtungswaffen Rüstungsgütern insgesamt gab es einen Anstieg um ins- begründet. Doch woher hatte der Irak diese Fähigkeiten? gesamt 29 Prozent. Der Grund, die Lieferung von drei Der Irak konnte seine zerstörerischen Fähigkeiten nur U-Booten an Südkorea, ist vorhin genannt worden. aufbauen, weil ihm in den 80er-Jahren Staaten in Ost und West, von der Sowjetunion über die USA und Im Jahre 2001 machte die Ausfuhr von Rüstungsgü- Frankreich bis zur Bundesrepublik, entscheidend dabei tern 0,06 Prozent des deutschen Gesamtexportes aus. halfen. Wenn wir Krisen- und Kriegsvorbeugung heute Laut einer Statistik des Londoner Instituts für Strategi- ernst nehmen, müssen wir auch eine restriktive Rüs- sche Studien hatte Deutschland im Jahre 2000 einen tungsexportpolitik betreiben. Das ist kein Moralismus, Marktanteil von 2 Prozent an den internationalen Waf- sondern ein weitsichtiger Realismus. fenlieferungen. Das sind Belege dafür, dass die Bundes- republik eine im internationalen Vergleich restriktive (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen Rüstungsexportpolitik betreibt. [Wiesloch] [SPD]) (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Wie schon immer!) Angesichts der engen europäischen und transatlanti- schen Verflechtungen wird die internationale Exportkon- In Teilbereichen – in etlichen Empfängerländern und vor trolle immer wichtiger. Sie von der Opposition drängeln allem im Bereich der Kleinwaffen – tun sich aber nichts- immer wieder – heute haben Sie das natürlich nicht ge- destoweniger Probleme auf: tan –, wir müssten die Regeln für die deutschen Rüs- tungsexporte lockern, um kooperationsfähig zu sein. Das Zum Beispiel wurden in der Kohl-Ära Lizenzen für führt in die falsche Richtung. Kleinwaffenproduktionen, die nicht mehr rückholbar sind, grob fahrlässig nach Saudi-Arabien vergeben. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Wo machen wir Hieraus ergeben sich deutliche Konsequenzen für künf- das denn? Das ist völlig falsch! Das können tige Lizenzvergaben. Für mich ist es nicht nachvollzieh- Sie nicht belegen!) bar, dass es aktuell Lieferungen von kleinen Waffen und In einem größeren und zusammenwachsenden Europa kleinen Kriegswaffen an dieses saudi-arabische System brauchen wir eine europäische Rüstungsexportpolitik, gibt. die sich am Anspruch der gemeinsamen Außen- und Si- (Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Herr Fischer cherheitspolitik, der Kriegsverhütung, orientiert. (B) hat zugestimmt!) (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ein anderes Beispiel sind die Kleinwaffen. Es ist aus- gesprochen zu begrüßen, dass die Bundesregierung Herr Kollege Nachtwei, erlauben Sie eine Zwischen- 400 000 ausgemusterte G-3-Gewehre der Bundeswehr in frage des Kollegen Polenz? den nächsten Jahren zerstören wird. Beunruhigend ist aber der deutliche Anstieg der Exporte von Kleinwaffen. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es wirkt für mich auch nicht beruhigend, dass ein erheb- Er ist doch gleich an der Reihe, seine Rede zu halten. licher Teil der Handfeuerwaffen in die USA, die Heimat In die kann er alles, was er sagen möchte, hineinpacken. von Michael Moore, geht. (Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Dann mache (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) ich eine Kurzintervention! Das dauert länger! – Eine restriktive und transparente Rüstungsexportpoli- Hans-Michael Goldmann [FDP]: So viel zur tik braucht einen wirksamen Rechtsrahmen. Heute ist es Wahrheit!) so, dass im Außenwirtschaftsgesetz und im Kriegswaf- fenkontrollgesetz unterschiedliche Genehmigungsstan- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dards stehen. Die Ausfuhr von Kriegswaffen ist verbo- Es wird keine Zwischenfrage zugelassen. ten, es sei denn, es gibt dafür eine ausdrückliche Genehmigung. Nach dem Außenwirtschaftsgesetz ist die Ausfuhr von Rüstungsgütern, die nicht als Kriegswaffen Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): definiert sind, jedoch grundsätzlich zu genehmigen. Die Wie die so genannten Denial-Konsultationen zeigen, Bundesregierung muss häufig vor Gericht nachweisen, gibt es durchaus Staaten, die mit bestimmten Exportge- dass der beantragte Export zu einer konkreten Störung nehmigungen noch zurückhaltender als die Bundesrepu- des Zusammenlebens der Völker führt oder die auswärti- blik umgehen. Mit den überarbeiteten politischen Grund- gen Beziehungen erheblich stört. Diese Praxis ist unserer sätzen haben wir einen guten Rahmen für die Auffassung nach untragbar. Die Freiheit des Handels Rüstungsexporte geschaffen. darf nicht für Rüstungsgüter gelten. Wir brauchen eine Regelung, wonach jegliche Ausfuhr von Rüstungsgütern Als Parlamentarier nehmen wir zur Kenntnis, dass einer Genehmigung bedarf. sich das Export- und Genehmigungsvolumen im Be- richtszeitraum in der bisherigen Bandbreite bewegt. Bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der tatsächlichen Ausfuhr von Kriegswaffen haben wir sowie bei Abgeordneten der SPD) 3350 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Winfried Nachtwei (A) Lassen Sie mich zum Schluss noch auf das bisher vor- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE (C) liegende Format der deutschen Rüstungsexportberichte GRÜNEN]: Einiges!) eingehen. Hier hat sich in den vergangenen Jahren si- Gibt es unter Rot-Grün weniger Rüstungsexporte? Es hat cherlich einiges verbessert. Aus bündnisgrüner Sicht ist sich zwar etwas geändert, aber es gibt nicht weniger der Informationsgehalt des Berichts jedoch immer noch Rüstungsexporte. Geändert hat sich vor allem, dass die verbesserungsfähig. Unser Ziel ist es, dass sich der deut- Rüstungsexportpolitik von Rot-Grün inkonsequent ist. sche Exportbericht mindestens an den jeweils transpa- Dadurch kommt es immer wieder zu größeren außenpo- rentesten Beispielen anderer EU- oder NATO-Partnern litischen Irritationen. anlehnt. Man könnte bei der Rüstungsexportpolitik der Bun- Vor dem Hintergrund der Weiterverbreitung von Mas- desregierung durchaus den Eindruck bekommen, dass senvernichtungswaffen wird es zunehmend wichtiger, bei Kaufanfragen seitens der NATO-Partner ein beson- dass künftige Rüstungsexportberichte verstärkt auf den ders strenger Maßstab angelegt wird. Ich erinnere nur an Bereich von Dual-Use-Exporten eingehen. Restriktive die türkische Anfrage zum Kampfpanzer Leopard 2, die Rüstungsexportkontrolle, vertragsgestützte Abrüstungs- nach langem Hin und Her letztendlich zur Ablehnung und Rüstungskontrolle sowie Nichtverbreitung sind zen- durch die Bundesregierung führte. Demgegenüber er- trale Elemente einer vorbeugenden und gemeinsamen hielt die Republik Korea Rüstungsgüter in Milliarden- Sicherheitspolitik. Sie angesichts des abschreckenden höhe. Ich möchte hier nur am Rande anmerken, dass die Beispiels des Irakkriegs zu stärken ist das Gebot der Türkei damals mit Nebelwurfkörpern und anderen Stunde. Kleinteilen abgespeist wurde. Ich glaube, das sagt viel Danke schön. über das Verständnis dieser Regierung von NATO-Part- nerschaft aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Erich G. Fritz [CDU/CSU]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: In diesem Zusammenhang kann auch die obskure Art Das Wort hat der Kollege Harald Leibrecht von der und Weise der Lieferung der „Patriot“-Raketen, die auf FDP-Fraktion. dem Weg nach Israel einen Umweg über Holland ma- chen mussten, nicht mehr verwundern. Harald Leibrecht (FDP): Rüstungsexporte werden auf absehbare Zeit weiter stattfinden. Das ist uns klar; davon bin ich überzeugt. (B) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Aber natürlich bin ich darüber nicht erfreut. (D) Herren! Deutschland muss und wird auf diesem Pfad unverän- Im internationalen Rüstungshandel der 90er-Jahre dert eine marginale Rolle spielen. Das ist aber beileibe ... spielen Deutschland und die deutsche Industrie kein rot-grünes Verdienst. Wäre diese Bundesregierung nur eine marginale Rolle ... Anders als die öffentli- verantwortungsbewusst, hätte sie längst eine engere Zu- che Diskussion oft nahe legt, gilt dies insbesondere sammenarbeit mit allen EU-Partnern auf den Gebieten für den Export konventioneller Waffensysteme in der Rüstungsentwicklung, der Rüstungsproduktion, Entwicklungsländer. beim Rüstungsexport, bei der Rüstungskontrolle wie Zu diesem Ergebnis kam die Stiftung Wissenschaft und auch bei der Abrüstung angestrebt. Politik im Juni 2001. Diese Aussage hat natürlich unver- Herr Andres, Sie haben vorhin zu Recht bemängelt, ändert Gültigkeit. Das wird seitens der FDP ausdrück- dass es viel zu wenig Zusammenarbeit und gemeinsam lich begrüßt. formulierte Kriterien gibt. (Beifall bei der FDP) (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das war Selbst- Wir waren und sind der Auffassung, dass Rüstungsex- kritik!) porte weltweit reduziert und Rüstungsexportkontrollen Aber Sie stellen schließlich die Regierung. Sie können auf regionaler und internationaler Ebene konsequent insofern Abhilfe schaffen und das Thema mit Ihren Kol- ausgebaut werden müssen. legen in anderen EU-Staaten erörtern. Wir reden heute über den Rüstungsexportbericht (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Erich G. 2001. Herr Andres, besonders aktuell ist er nicht; das ha- Fritz [CDU/CSU]) ben wir schon gehört. Die gerade zitierte Aussage der Stiftung Wissenschaft und Politik bezog sich auf die Rüstung muss in ihrer Gesamtheit gesehen werden 90er-Jahre, also auf die Zeit, als Deutschland noch von statt in einzelnen Teilen. Ich glaube, dass auch Deutsch- CDU/CSU und der FDP regiert wurde. Wir alle können land hierbei zu Kompromissen bereit sein muss. Als uns noch sehr gut daran erinnern, wie es damals vonsei- Mitglied der EU muss Deutschland eine europäische ten der SPD und der Grünen massive Kritik ob der ex- Rüstungsindustrie anstreben und als Grundlage hierfür tensiven Rüstungsexportbewilligungen der Bundesregie- einheitliche europäische Kriterien für den Rüstungsex- rung gab. port schaffen. Es reicht nicht, wenn die Regierung beim Thema Rüstungsexport den Mund voll nimmt, aber nicht Was hat sich seither geändert? entsprechend handelt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3351

Harald Leibrecht (A) Die Bundesregierung muss sich auch den Vorwurf der tiert, halte ich für durchaus bemerkenswert. Man ge- (C) „taz“ gefallen lassen, die am 4. Februar feststellte: „Der winnt den Eindruck, dass damit versucht wird, bei einer deutsche Rüstungsexport boomt weiter.“ Diese Aussage unstrittigen Materie noch irgendetwas zu finden, an dem wie auch der Bericht, dessen Lektüre ich empfehle, ma- man herummäkeln kann. chen deutlich, wie sehr die Wähler in diesem Bereich von der rot-grünen Regierung enttäuscht sind. Aus unserer Sicht – das möchte ich betonen – hat die Bundesregierung mit der Verabschiedung der politi- Ich danke Ihnen. schen Grundsätze für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern für eine erhebliche Ver- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Erich G. besserung der Transparenz in der Rüstungspolitik ge- Fritz [CDU/CSU]) sorgt.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD) Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Pflug von der Die Entscheidungen über Rüstungsexportvorhaben SPD-Fraktion. werden durchaus unter außen-, sicherheits- und bündnis- politischen Interessen unter Beachtung der Menschen- Johannes Pflug (SPD): rechte gewürdigt, Herr Kollege Fritz. Ihre Bemerkung, dass Ihre Ausführungen keine Forderung der Unions- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und fraktion darstellen, habe ich zunächst nicht verstanden. Herren! Ich hatte ursprünglich geglaubt, der vorliegende Ich war völlig verwirrt und habe zunächst geglaubt, Ihr Bericht sei ziemlich unstrittig. Ich habe mich aber eines Redebeitrag entspreche der Politik der CDU/CSU. Sie Besseren belehren lassen müssen. Der Kollege Fritz hat haben das aber richtig gestellt; Sie haben sich gewisser- angemahnt, dass dieser Bericht zu spät kommt. maßen als neutraler Beobachter geäußert. Nehmen Sie (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Aber sicher!) bitte zur Kenntnis, dass es sich um einen Abwägungs- vorgang zwischen den von mir genannten verschiedenen Zugegeben, Herr Kollege Fritz, er kommt relativ spät. Belangen – der Außen- und Sicherheitspolitik und den Aber ich habe mich bei dieser Gelegenheit gefragt, wann bündnispolitischen Interessen unter Beachtung der Men- wir wohl den ersten Bericht der Regierung Kohl zu ihren schenrechte wie auch der ökonomischen Interessen – Rüstungsmaßnahmen vorgelegt bekommen. Darauf war- handelt. Die Forderung, auch die ökonomischen Interes- ten wir bis heute. sen zu beachten, ist Ihnen sicherlich nicht fremd. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das musste jetzt Mit Ausfuhrvorhaben, die im Hinblick auf das Emp- kommen!) (B) fängerland oder das Rüstungsgut von besonderer Bedeu- (D) Im Übrigen diskutieren wir die Berichte – derzeit liegt tung sind, wird der Bundessicherheitsrat befasst. Zu- uns der dritte Bericht vor – nur deshalb, weil wir damals sätzlich zu den bisher in diesem Gremium vertretenen aufgrund des Antrags der Türkei auf Panzerlieferung die Ressorts nimmt nun auch – das ist ebenfalls neu – das Konsequenzen gezogen haben, dass dafür politische Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Grundsätze formuliert werden müssen. Das haben wir und Entwicklung teil, um besonderen entwicklungspoli- auch getan. tischen Aspekten Rechnung zu tragen. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Die gab es vorher Die Bundesregierung hat mit den neuen Richtlinien auch schon! – Gegenruf des Abg. eine optimale Balance bei diesem sicherlich nicht einfa- [SPD]: Aber die waren 20 Jahre alt!) chen Thema gefunden. Mit den neuen Richtlinien ist es nach unserer Meinung gelungen, das Verfahren bei den – Aber sie sind dann, wie ich meine, durchaus vernünftig Rüstungsexporten an zusätzliche politische Kriterien an- überarbeitet worden. Herr Kollege Fritz, auch Sie hätten zupassen und dabei gleichzeitig die Wettbewerbsfähig- 1992, als Ihre Regierung Panzer nach Saudi-Arabien ge- keit der deutschen Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Mehr liefert hat, einen guten Anlass gehabt, die Grundsätze zu Transparenz und klare Kriterien sind kein Nachteil, son- überarbeiten. Es hätte sich sicherlich eine spannende dern ein guter Vertrauensschutz für die deutsche Wirt- Diskussion ergeben, wenn uns daraufhin ein Rüstungs- schaft, auch hinsichtlich der Kooperationsfähigkeit der bericht vorgelegt worden wäre. deutschen Unternehmen in einer doch stark zusammen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wachsenden internationalen Rüstungswirtschaft. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist ein Es wäre gut, wenn er uns jetzt noch nachgeliefert würde. eigenes Kapitel!) Ich kann Ihnen für die Koalition versichern, dass wir so- Entgegen der in solchen Debatten immer wieder vorge- gar noch heute, nach elf Jahren, über diesen Bericht dis- tragenen Kritik – gerade vonseiten der Opposition – ha- kutieren würden. ben sich die Richtlinien nach unserer Auffassung durch- (Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Nein! – Erich aus bewährt. G. Fritz [CDU/CSU]: Trotzdem ist das ein Ge- Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass der schichtsbuch, das jetzt vorgelegt wird!) letzte Bericht in der Folge der Aussprachen in den zu- Man muss das schon richtig würdigen. Auch dass der ständigen Ausschüssen verbessert wurde. Zusätzliche In- Kollege Leibrecht von der FDP plötzlich die „taz“ zi- formationen wurden damals aufgenommen. So wird zum 3352 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Johannes Pflug (A) Beispiel über eine Strafverfolgungsstatistik, über militä- (Gernot Erler [SPD]: Was lesen Sie, Herr (C) rische Ausrüstungshilfen, die andere Länder erhielten, Kollege! Ich bin erstaunt!) sowie über neu abgeschlossene regierungsamtliche Ko- operationen im Rüstungsbereich mit deutscher Beteili- Die Schlagzeilen spiegeln die Wirklichkeit. Die Rüs- gung berichtet. Ebenfalls neu ist im Rüstungsexportbe- tungsexportpolitik der Bundesregierung ist keineswegs richt ein Kapitel über die Genehmigungspolitik bei der so klar und stringent, wie es die Vorredner hier gern dar- Ausfuhr von Kleinwaffen. gestellt hätten. Ich will Ihnen ersparen, die Zahlen noch einmal auf- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das zulisten. Der Staatssekretär hat das gemacht. Ich halte war eine massive Kritik! – Winfried Nachtwei fest, dass aus unserer Sicht gerade die neuen Kriterien [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss beachtet worden sind und dieses auch für das Parlament sich nur etwas Mühe beim Lesen des Berichts ein wesentlicher Fortschritt ist. geben!) Der Rüstungsexportbericht belegt, dass die Bundesre- Ich meine auch, dass wir jetzt nicht künstlich Unter- gierung entsprechend ihrem Bekenntnis in ihren politi- schiede herbeireden sollten, die es in der Sache nicht schen Grundsätzen eine restriktive Exportkontrollpolitik gibt. Deshalb will ich doch festhalten: Wir haben eine betrieben hat. Herr Andres hat darauf aufmerksam ge- breite Übereinstimmung im Bundestag, dass Deutsch- macht. Sie verfolgt gleichzeitig eine Politik, die dem Ge- land eine restriktive Rüstungsexportpolitik betreiben danken der Kooperation, insbesondere mit unseren euro- soll. päischen Nachbarn, Rechnung trägt. Deshalb findet (Beifall des Abg. Erich G. Fritz [CDU/CSU]) diese Politik auch unsere volle Zustimmung. Die vorhin nicht zugelassene Zwischenfrage, Herr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollege Nachtwei, wäre gewesen, dass Sie bitte eine DIE GRÜNEN) Quelle für Forderungen der Union hätten benennen sol- len, die Restriktionen zu lockern. Die hätten Sie wahr- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: scheinlich nicht benennen können, Das Wort hat jetzt der Kollege Ruprecht Polenz von (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE der CDU/CSU-Fraktion. GRÜNEN]: Einige Kollegen im Verteidi- gungsausschuss!) Ruprecht Polenz (CDU/CSU): denn dem Rüstungsexportbericht liegt der Verhaltens- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie kodex der Europäischen Union zur Waffenausfuhr (B) mich zwei kurze Vorbemerkungen machen. Herr Kollege zugrunde. Dieser Kodex stammt vom 8. Juni 1998 und (D) Pflug, ich teile Ihre Leidenschaft für rückwärts gewandte wurde von der damaligen CDU/CSU-geführten Bundes- Debatten nicht. Wir sollten uns doch einig sein, dass wir regierung maßgeblich mit herbeigeführt. Der europäi- gemeinsam den Wunsch haben, über die nächsten Be- sche Code of Conduct ist dann durch die politischen richte zeitnäher zu diskutieren. Das sollte machbar sein. Grundsätze ergänzt worden, auf die Sie von der Regie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – rungsseite alle so stolz sind. Unklar bleibt allerdings Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist keine un- auch bei der Lektüre des Berichts, ob sich für die Geneh- zumutbare Forderung! – Winfried Nachtwei migungspraxis aus diesen politischen Grundsätzen ir- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Okay!) gendetwas konkret ergeben hat, was sich nicht auch aus dem europäischen Verhaltenskodex sowieso ergeben Die zweite Vorbemerkung: Ich würde gerne sehen, hätte. Es gibt dazu im Bericht keine Angaben. dass ein Wunsch der Kirchen bei der Erstellung der künftigen Berichte aufgegriffen wird. Die haben vorge- Nur an einer Stelle wird auf die besondere Bedeutung schlagen, dass bei Rüstungsexporten außerhalb der des Punktes III.7 der Grundsätze hingewiesen. Nach NATO in dem Bericht die zugrunde liegenden außen- dem 11. September sei deutlich geworden, dass bei Ex- und sicherheitspolitischen Gesichtspunkte erläutert wer- portentscheidungen auch berücksichtigt werden müsse, den sollten. Das wäre auch ein Beitrag zu etwas mehr ob das Empfängerland bisher den Terrorismus oder die Transparenz. internationale Kriminalität unterstützt habe. Wenn dem so sei, dürfe in solche Länder nicht exportiert werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ich bin ziemlich sicher, dass das auch die europäischen Harald Leibrecht [FDP]) Verhaltenskodizes nicht erlauben. Der Bericht hat ja eine recht gemischte Presse bekom- (Gernot Erler [SPD]: Die sind bloß nicht men. Man musste bis Dezember zurückgehen, um sich verbindlich, Herr Kollege!) das Presseecho anzuschauen. Der „Stern“ hat geschrie- ben: „Die rot-grüne Bundesregierung von Kanzler Falls die politischen Grundsätze der Bundesregierung Gerhard Schröder hat im Jahr 2001 den Waffenexport tatsächlich etwas anderes bewirken würden, als der euro- spürbar erleichtert.“ Das „Handelsblatt“ hatte die päische Verhaltenskodex sowieso vorschreibt, dann Schlagzeile: „Rot-Grün auf Zickzackkurs – 34 Rüs- könnte es – damit möchte ich mich jetzt auseinander set- tungsexporte nach Taiwan.“ Die „Frankfurter Rund- zen – Probleme mit dem Ziel geben, die Rüstungspolitik schau“ hat geschrieben: „Weniger Kriegswaffen expor- der Europäer stärker als bisher zu koordinieren. Dieses tiert.“ Ziel ist sinnvoll; denn die Leistungs- und Wettbewerbs- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3353

Ruprecht Polenz (A) fähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie lässt sich sich dann dreimal überlegen werden, ob sie ein solches (C) nur so erhalten und verbessern. Wir brauchen mehr Ko- Risiko eingehen oder von vornherein auf eine Bestellung operation, Zusammenschlüsse und Fusionen innerhalb verzichten. der europäischen Rüstungsindustrie. Das bedeutet, dass die Konzerne umgebaut werden müssen. Bisher hat Das sind Zielkonflikte, um die Sie sich nicht herum- man in Projekten gedacht und die Aufgaben auf Firmen mogeln können nach dem Motto, Herr Staatssekretär: in verschiedenen Ländern verteilt. Der Rüstungsexportbericht ist für die Grünen und im Verteidigungsausschuss kümmern wir uns um eine euro- In Zukunft wird man innerhalb der länderübergreifen- päische Rüstungsagentur und nicht mehr um das, was den Konzerne Strukturen verändern und Kompetenzzen- wir Herrn Nachtwei und seinen Kollegen versprochen tren schaffen, in denen bestimmte Fähigkeiten – zum haben. Beispiel die Mikroelektronik oder die Stealth-Technik – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gebündelt werden. Die Zulieferung erfolgt dann inner- halb europäischer Firmen und nicht mehr zwischen euro- Zu der Forderung nach mehr Stetigkeit gehört auch, päischen Ländern. Es wird nur der Firmenstandort – da- dass nicht nur die Entscheidungen selbst nach sachlichen rauf kommt es mir an – diese Umstrukturierung Gründen getroffen werden müssen. Auch die Entschei- überleben, der zulieferfähig ist. In Zukunft wird es also dungsverfahren dürfen nicht durch sachwidrige Erwä- konzerninterne Zulieferungen von Rüstungsgütern nach gungen bestimmt werden. So ist der Termin einer Bun- Großbritannien, Spanien oder Frankreich geben. Die destagswahl kein sachlich erhebliches Kriterium für Entscheidung über eine eventuelle Ausfuhr in Drittlän- Rüstungsexporte; schon gar nicht darf der Termin eines der wird dann in diesen Ländern getroffen, und zwar im grünen Parteitages irgendwelchen Einfluss auf den Zeit- Rahmen des europäischen Code of Conduct und nicht punkt der Entscheidung über Rüstungsexporte haben. Es nach den politischen Grundsätzen der Bundesregierung. gibt aber immer wieder Klagen darüber – dies spricht sich herum –, dass signalisiert werde, der Antrag könne (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das, was die erst nach einem grünen Parteitag positiv beschieden wer- nicht kapieren!) den. Eine europäische Verteidigungsunion und ein europäi- (Beifall des Abg. Erich G. Fritz [CDU/CSU]) scher Beschaffungsmarkt sind nur machbar, wenn ein Teil der nationalen Souveränität im Vertrauen auf gleich Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren: Es gerichtete Interessen innerhalb Europas aufgegeben wird besteht bei uns allen eine grundsätzliche Übereinstim- und wenn es einen europäischen Binnenmarkt für Rüs- mung darin, dass Deutschland weiterhin eine restriktive (B) tungsgüter gibt. Daran wird kein Weg vorbeigehen. Rüstungsexportpolitik betreiben muss. Dabei können wir (D) aber keinen Sonderweg in Europa einschlagen, wenn wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auf dem Weg zu einer europäischen Rüstungsindustrie weiter vorankommen wollen. Nur dieser Weg wird dazu führen, dass Europa für seine Verteidigung auch die Basis einer leistungsfähigen Vielen Dank. Rüstungsindustrie erhalten kann, dass wir in Europa schrittweise unnötige Doppel- und Dreifachstrukturen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im Verteidigungsbereich zugunsten gemeinsamer Ein- richtungen aufgeben können, dass angesichts knapper Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kassen die Haushalte entlastet werden können und dass Ich schließe die Aussprache. der europäische Pfeiler innerhalb der NATO tragfähiger und belastbarer gestaltet werden kann. Das bedeutet aber Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf für die Rüstungsindustrie und die Rüstungsexportpolitik Drucksache 15/230 an die in der Tagesordnung aufge- den Verzicht auf einen deutschen Sonderweg innerhalb führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Europas. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir brauchen – damit komme ich zum letzten Punkt – auch mehr Stetigkeit in der Rüstungsexportpolitik Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: nach dem Motto: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wenn die Ausfuhr von Rüstungsgütern in ein Drittland geneh- Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD migt worden ist, dann müssen damit grundsätzlich auch und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- die späteren Lieferungen von Ersatzteilen und notwendi- brachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ver- gem Zubehör genehmigt werden. Denn welche Folgen ordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in der hat es, wenn das anders gehandhabt wird, weil zum Bei- vertragsärztlichen Versorgung spiel das Bestimmungsland Jahre später auf einmal zu – Drucksache 15/800 – einer Krisenregion gehört? Gerade das ist ja der Fall, für den das betreffende Land mit der Waffenbeschaffung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung vorsorgen wollte. Wenn dann die Ersatzteile nicht gelie- fert werden können, dann wird sich künftig nicht nur das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die betreffende Land andere Lieferanten suchen. Das wird Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre sich auch bei anderen Interessenten herumsprechen, die keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. 3354 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kommission zur Erarbeitung der Positivliste einen ein- (C) Kollege Horst Schmidbauer von der SPD-Fraktion das stimmigen Beschluss gefasst hat. Wort. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das kommt darauf an, wen ihr in die Kommission hinein- Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): setzt!) Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sehen Sie Da die Kommission nicht unbedingt homogen zusam- es mir bitte nach, dass wir am heutigen Tag eine gewisse mengesetzt ist, spricht dies für den verantwortlichen Lei- Genugtuung empfinden. Wir haben über viele Jahre Hin- ter dieser Kommission, für Professor Schwabe, der es dernisse ausgeräumt und Steine beseitigt, die den Weg mit seiner fachlichen Kompetenz und seiner hohen per- zu einer Positivliste auch in Deutschland verbauten. Wir sönlichen Integrität fertig gebracht hat, dass diese Posi- sind sicher, dass am heutigen Tage auch in Deutschland tivliste einstimmig auf den Weg gebracht worden ist. Da- eine Erfolgsstory für die Positivliste beginnt. mit bekommt sie Gewicht und dem Anliegen wird (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Gott bewahre Nachdruck verliehen. uns vor dem Schwachsinn!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ist sie jetzt zu- Wir empfinden Genugtuung, weil wir gleich dreimal stimmungspflichtig oder nicht?) positive Wirkung erzielen: Wir stellen auf dem schwieri- Es gibt eine weitere große Gruppe, die das Einbringen gen Sektor der Arzneimittel in Deutschland Transparenz eines Gesetzentwurfs, der die Einführung einer Positiv- her, wir bewirken eine Qualitätsverbesserung und wir liste vorsieht, in den Deutschen Bundestag mit Genug- können mit der Positivliste letztendlich auch Geld spa- tuung zur Kenntnis nimmt, nämlich die deutsche Ärzte- ren. schaft. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie wissen ge- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Die nau, dass das Gegenteil der Fall ist!) Osteoporosekranken sind es nicht! Das Diese Genugtuung empfindet sicherlich auch jemand, stimmt! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Er- der heute hier nicht anwesend ist, sondern sich wahr- klären Sie das mal den Osteoporosekranken!) scheinlich in aufhält. Es handelt sich um Ich darf in Erinnerung rufen, dass die deutsche Ärzte- Professor Ulrich Schwabe, der für die Kommission schaft auf mehreren Ärztetagen seit 1999 die Positivliste verantwortlich war. Es ist ihm sicherlich sehr wichtig, gefordert hat. dass sein Lebenswerk jetzt mit dieser Positivliste ge- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Weil (B) krönt wird. Wir haben natürlich nicht vergessen, Kollege (D) Zöller, dass Sie von der CDU/CSU mit Herrn Seehofer Sie sie budgetieren!) an der Spitze Professor Schwabes Lebenswerk seinerzeit Ich zitiere aus dem Beschluss des 102. Deutschen Ärzte- zerstört haben. tages 1999: (Lachen bei der CDU/CSU) Die Delegierten des 102. Deutschen Ärztetages un- Professor Schwabe hatte die Positivliste 1995 fertig. terstützen eine am jeweiligen aktuellen Wissens- stand orientierte Liste verordnungsfähiger Arznei- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Vier Großkon- mittel als ein wirkungsvolles Mittel zur rationellen zerne hätten noch geliefert und 600 kleine Be- Arzneitherapie. triebe hätten Sie kaputtgemacht!) Begründung: Sie haben seinerzeit einen Rechtsbruch begangen. Eine derartige, von einer unabhängigen Kommis- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was? – sion zu erarbeitende Liste trägt zu einer Arzneimit- Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Vor- telverordnung bei, die allen Patienten eine an den sicht, Herr Schmidbauer!) Maßstäben von Notwendigkeit, Sicherheit und Kos- tenbewusstsein orientierte Therapie garantiert. Obwohl die Positivliste beschlossen war, haben Sie sie durch den Staatssekretär schreddern lassen. Eine derartige Positivliste führt zudem zur besseren Abstimmung zwischen stationärer und ambulanter (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das war eine Arzneimitteltherapie. gute Tat!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Erklären Sie Diese geschredderte Positivliste haben Sie seinerzeit das einmal den Osteoporosekranken!) – diese makabre Geschichte zeigt auch Ihr Parlamenta- rismusverständnis – dem Geschäftsführer eines Pharma- Diese Forderung zieht sich wie ein rotes Band bis zum verbandes als Geburtstagsgeschenk übergeben. Das war letzten Ärztetag. Ich bin froh darüber, dass wir damit ei- am 15. Mai 1995. Diesen Tag sollte man nicht vergessen. nem wichtigen Anliegen der Ärzteschaft in Deutschland endlich Rechnung tragen können. Wir haben Anlass, Professor Schwabe für seine Kom- missionsarbeit zu danken. Er hat es in einer Zeit, in der (Beifall bei der SPD – Annette Widmann- wir in diesem Parlament mit Kommissionen nicht durch- Mauz [CDU/CSU]: Es sollte doch um die Pa- gehend positive Erfahrungen machen, erreicht, dass die tienten gehen! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3355

Horst Schmidbauer (Nürnberg) (A) Ihnen geht es um die Ärzte, nicht um die Pa- auf zwei andere europäische Länder verweisen: In Groß- (C) tienten!) britannien gibt es 14 021 Arzneimittel und in Schweden 3502. Ich möchte aus einem Urteil des Bundesverfassungs- gerichts zitieren: (Erika Lotz [SPD]: Hört! Hört!) Die durch Information bewirkte Transparenz dient Angesichts dessen haben wir allen Anlass dazu, zu sa- damit zugleich der Qualität und Vielfalt der Pro- gen: Wir bringen das Minimum dessen auf den Weg, was dukte und einer am Nachfrageverhalten orientierten wir an Transparenz schaffen müssen. Preisbildung von Seiten der Anbieter. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ist der Markt unübersichtlich und fallen – wie im DIE GRÜNEN) System der gesetzlichen Krankenversicherung – Nachfrage, Anspruchsberechtigung und Kostentra- Zur Qualität: Der Nutzen von Arzneimitteln ist an- gung auseinander, kann ein – an den Regeln des hand kontrollierter Studien zweifelsfrei belegt. Wir sind Marktes gemessen – rationales Verhalten der betei- den Menschen angesichts der schwierigen Situation ligten Personen auch dadurch bewirkt werden, dass mangelnder Transparenz Hilfe schuldig. Allem Gejam- die Angebotsvielfalt strukturiert wird, indem die mer zum Trotz wird es dabei bleiben, dass wir Geld spa- Klassifizierung in identische, teilidentische oder ren werden. vom Nutzen her ähnliche Produkte erkennbar wird. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ich nehme Sie Dann ermöglicht ein Preisvergleich, der auf eine im nächsten Jahr beim Wort! Sie werden gar Standardmenge bezogen wird, eine Entscheidung nichts sparen! Sie werden mehr bezahlen!) unter Berücksichtigung der Kosten-Nutzen-Rela- tion. 1,7 Milliarden Euro werden ersetzt. Wir wissen natür- lich, dass ein Substitutionseffekt da ist, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Interessant ist, dass nicht einmal jemand von der Regierung (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aha! Teurere da ist!) Arzneimittel mit höheren Nebenwirkungen für die Patienten!) Die Orientierung an den Bedingungen des Preis- wettbewerbs ist der vom Gesetzgeber vorgesehene dass auch andere Arzneimittel verordnet werden. Aber Weg, um den Gesetzesadressaten die Beachtung des ich denke, man kann sich auf die Fachleute verlassen. ihnen rechtlich vorgegebenen Grundsatzes der Die Fachleute sagen: Netto bleiben 800 Millionen Euro Wirtschaftlichkeit zu ermöglichen. Dies dient dazu, übrig. Das ist ein Betrag, den wir zu berücksichtigen ha- (B) das Leistungssystem der Krankenversicherung ben. Es geht nicht nur um Transparenz und Qualität, son- (D) funktionsfähig zu halten. dern auch um einen wirtschaftlichen Effekt. Weiter heißt es: (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Es Die Berufsfreiheit der Pharmaunternehmen wird fragt sich nur, ob positiv oder negativ! – nicht berührt. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Staatsmedizin, Listenmedizin, das ist Ihre Richtung!) Ich habe aus dem Urteil des Bundesverfassungsge- richts zur Festsetzung von Festbeträgen für Arznei- Wegen der medizinischen Notwendigkeit, der Sicher- mittel zitiert. Ich sage ganz deutlich: Das Bundesverfas- heit und der günstigen Kosten ist es wichtig, dass wir die sungsgericht hat uns das Gebot auferlegt, Transparenz in Arzneimittel-Positivliste jetzt auf den Weg bringen. Es Deutschland herzustellen und die Qualität erfassbar und ist ein guter Weg, der auch rechtlich sauber und abgesi- nachvollziehbar zu machen. In diesem Urteil des Bun- chert ist. Wenn alle dem Gebot des Bundesverfassungs- desverfassungsgerichts steht ganz deutlich, dass im Inte- gerichts folgen würden, dann hätten wir auch keine Pro- resse der Funktionsfähigkeit des solidarischen Systems bleme im Land. für die Krankenkassen ein Wirtschaftlichkeitsgebot be- Vielen Dank. steht. Diesem Gebot haben wir uns zu stellen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihre Liste wird DIE GRÜNEN) die Kassen teuer zu stehen kommen!) Zusammengefasst: Ich glaube, wir schaffen damit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: endlich Transparenz in Deutschland. Die Anzahl der Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolf Bauer von Arzneimittel in Deutschland soll von 40 000 auf 20 000 der CDU/CSU-Fraktion. zurückgehen. Damit sorgen wir für einen überschauba- ren Bereich. Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann brauchen Sie nach Ihrer Rechnung nur noch die Hälfte!) Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es wäre jetzt natürlich ganz reizvoll, wie in der vorigen Wo- Ich kann dieses Gejammer und Getöse nicht mehr hören; che auch, auf die SPD einzugehen, aber, Herr schließlich sind wir mit diesen 20 000 Arzneimitteln in Schmidbauer, nur eine Bemerkung dazu: Ich habe immer Europa nach wie vor an der oberen Grenze. Ich möchte gedacht, dass wir Politik für Bürger machen. Seit wann 3356 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Dr. Wolf Bauer (A) machen wir denn Politik, um Lebenswerke zu voll- Das stimmt auch wieder nicht mit dem überein, was hier (C) enden? Das ist wirklich etwas Neues. gesagt worden ist. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Woher will das Gesundheitsministerium wissen, wel- der FDP) che Substitutionseffekte sich einstellen? Sie wissen genauso wie ich, dass die frühere Gesund- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) heitsministerin mit der Einführung der Erstens steht fest, dass mit der Einführung der Posi- Positivliste gescheitert ist. Sie hat nachher zwar die tivliste schwach wirkende Arzneimittel durch stärkere Grundlage dafür geschaffen, aber mit der Einschrän- ersetzt werden. kung, dass eine Positivliste im Bundesrat zustimmungs- bedürftig ist. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mit stärkeren Nebenwirkungen!) Nun gibt es eine Rechtsförmlichkeitsprüfung des Bundesjustizministeriums. Sie bestätigt letztlich auch, Soll dann etwa auf Spatzen nur noch mit Kanonen ge- dass die Zustimmung des Bundesrats notwendig ist. schossen werden? Ist das eine sinnvolle Gesundheitspo- Wenn Sie uns jetzt Rechtsbruch vorwerfen, dann ist das litik? Induzierte Substitutionseffekte, die der Erkran- schon interessant; denn Ihre Gesundheitsministerin will kungsschwere nicht angemessen sind, sind als mit einem Trick versuchen, am Bundesrat vorbeizukom- Qualitätsverschlechterung und nicht als Qualitätsverbes- men. Wenn überhaupt, dann ist das der Rechtsbruch. serung anzusehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber lassen wir es einmal dahingestellt sein, ob die Zweitens steht fest, dass die Nebenwirkungen eines fragwürdige Konstruktion, die jetzt vorgesehen ist, je- Arzneimittels mit der Stärke seiner Wirkstoffe überpro- mals Gesetz wird. Viel interessanter ist, was die Bundes- portional steigen. gesundheitsministerin eigentlich damit erreichen will. (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Wo Mittlerweile wird zugegeben – ursprünglich war das steht denn das? – Weiterer Zuruf von der SPD: nicht so –, dass es nicht nur um Qualitätssteigerung, Das steht da doch gar nicht drin! – Gegenruf sondern auch um Kostendämpfung geht. Das ist auch in des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie Ordnung; wir haben nichts dagegen. Nur ist das Instru- kennen die eigene Liste nicht!) ment der Positivliste – wie übrigens alle anderen Instru- mente, die Sie bisher vorgestellt haben – völlig un- Ich weiß nicht, warum Sie das wollen. Das kann doch brauchbar. auch nicht Sinn und Zweck der Sache sein. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drittens steht fest, dass Ärzte und Patienten in aller Regel auf teurere Medikamente ausweichen und dass es Es ist völlig uninteressant, wie viele Medikamente unter dem Strich keine Ersparnis gibt. Was da mögli- letztlich auf dem Markt sind; wichtig ist nur, dass wir cherweise an zusätzlichen Kosten auf uns zukommt, ist dem Arzt die Möglichkeit geben, das einzusetzen, was gar nicht bekannt. Offensichtlich soll es auch gar nicht für die Therapie seines Patienten letztlich das Richtige bekannt gemacht werden. ist. Ich will Ihnen damit nur sagen: Das Problem – ich habe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) es eben schon einmal angesprochen – kann relativ ein- fach gelöst werden. Warum soll der Arzt nicht entschei- Besser, als es in der gestrigen Ausgabe der „FAZ“ den, welches Medikament für seinen Patienten das rich- zum Thema Positivliste formuliert worden ist, kann man tige und sinnvollste ist? So einfach ist das letztendlich. es gar nicht formulieren – das erinnert an das, was Sie zum Lebenswerk gesagt haben, Herr Schmidbauer –: (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist Thera- piefreiheit!) Herzensangelegenheiten … vernebeln die Sinne und verschleiern den Blick auf die Realität. Ihr Gesetzentwurf ist übrigens auch ein typisches Bei- spiel dafür, was die SPD unter Stärkung der Patienten- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) rechte versteht. Wir können hier einmal demonstrieren, Wir könnten noch lange über die Zahlen und das Ein- dass genau das Gegenteil der Fall ist. Arzt und Patient sparvolumen streiten, das erreicht werden soll. Da es müssen die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich einer The- ein schöner Abend ist, will ich davon absehen. Nur noch rapie haben, denn die, welche für den einen Patienten so viel – das ist vielleicht ganz interessant –: Nach mei- eine zweckmäßige therapeutische Alternative ist, kann nen Informationen soll bei einer Anhörung des BMGS für einen anderen, Herr Schmidbauer, zum Beispiel ein am 17. März 2003 der neue Abteilungsleiter Franz allergiebedingtes Risiko beinhalten, das bis hin zum al- Knieps gesagt haben, dass jedwede wirtschaftliche Be- lergischen Schock führen kann. Man muss doch einfach trachtungsweise der Positivliste weitgehend Spekulation berücksichtigen, dass man nicht alles per Listenmedizin ist. regeln kann. (Beifall bei der CDU/CSU) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Rich- tig! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mehr als bedenklich ist auch, dass über eine solch Schmidbauer ist laut Knieps ein Spekulant!) komplizierte Materie nicht Spezialisten, sondern dem- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3357

Dr. Wolf Bauer (A) nächst Parlamentarier entscheiden müssen. Es handelt ministerium die eine Abteilung nicht weiß, was die an- (C) sich ja hier um ein Gesetz, das letztendlich vom Parla- dere vorhat bzw. tut. Das wiederum liegt natürlich an der ment beschlossen werden muss. Das ist eine sehr frag- Führungsschwäche der Leitung, die ja mittlerweile hier würdige Konstruktion. Sie wissen doch genau wie wir vertreten ist. auch, dass sehr viele Facharztgruppen dagegen Sturm (Heiterkeit bei der CDU/CSU) laufen: Nehmen Sie die Internisten, Diabetologen, Kin- derärzte, Dermatologen, Orthopäden usw. Alles muss heute auf Evidenz basieren: Immer mehr Reglementierung, immer mehr Bürokratismus, immer (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die wollen sie mehr Einfluss des Staates sind demzufolge die evidenz- doch alle abschaffen!) basierten Leitlinien der Gesundheitspolitik von Rot- Sie tun das zu Recht, denn sie befürchten, dass sie ihre Grün. Auf dem Arzneimittelmarkt brauchen wir aber wie Patienten nicht mehr optimal und individuell versorgen im gesamten Gesundheitswesen statt mehr Regulierung können. Durch die Ausgrenzung von Arzneimitteln wer- mehr Wettbewerb. Zusammen mit mehr Transparenz den insbesondere chronisch Kranke betroffen, die ihre und Eigenverantwortung des Einzelnen wird sich auch Arzneimittel dann aus eigener Tasche bezahlen müssen. hier Qualität durchsetzen und damit auch das effizien- teste Arzneimittel. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch brauchen wir nicht immer neue Institutionen Wollen die Koalitionsfraktionen wirklich, dass unsere und Kommissionen. Bei der Vielfalt – das hat ja auch GKV-Versicherten immer mehr zu Patienten zweiter bei Ihnen eben ein wenig angeklungen – ist dann dem- Klasse werden? Offensichtlich wird das angestrebt. nächst wohl eine Kommissionskoordinierungskommis- (Zuruf von der SPD: Schämen Sie sich für sion erforderlich. diese Panikmache!) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Schon wie- In der „Ärzte Zeitung“ von heute wird nicht nur ganz der eine! – Heiterkeit bei der CDU/CSU) speziell davor gewarnt, einen Wirkstoff wie zum Bei- Welche Institutionen haben wir bereits und welche sollen spiel Benfotiamin für Diabetiker auszugrenzen, sondern noch kommen, immer vorausgesetzt, dass Rot-Grün mit es wird auch ganz allgemein gesagt – ich zitiere –: seiner Regulierungswut so weitermacht? Es beginnt mit Es sei ein Rückschritt in der Diabetesbehandlung einer Ethikkommission, dann haben wir ein Bundesinsti- zu erwarten, wenn die Positivliste Wirklichkeit tut für Arzneimittel und Medizinprodukte, das Arznei- werde … mittel zulässt; wir haben den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen; wir haben die Arzneimittelkommis- Weil wir gerade bei den Antidiabetica sind, lassen Sie (B) sion der deutschen Ärzteschaft und letztendlich eine (D) mich noch auf Folgendes hinweisen: Acarbose – be- Kommission, die die Negativliste aufstellt. kannter unter dem speziellen Namen Glucobay – wird im Entwurf der Positivliste von 2001 noch aufgeführt. (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Die Seit April 2002 wird es in den jeweiligen Entwürfen fällt ja weg!) nicht mehr aufgeführt, obwohl sich die Aufnahmekrite- Die letztgenannte Kommission soll jetzt umgewandelt rien im Gesetz in der Zwischenzeit nicht verändert ha- werden in ein Institut für Arzneimittelverordnung, das ben. Interessanterweise ist allerdings die Acarbosebe- die Positivliste herausgibt. handlung wichtiger Bestandteil aller existierenden Leitlinien zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2. Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumenta- Also auch das stimmt nicht überein. tion und Information wird die Positivliste erarbeiten. Al- lein dieser Bürokratismus wird 540 000 Euro kosten. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es! – Auch das ist letztlich kein Einsparpotenzial. Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Da weiß die Rechte nicht, was die Linke tut!) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Rürup hat auch 1 Million Euro gekostet und nichts Interessanterweise werden Patienten, die Acarbose ver- gebracht!) ordnet bekommen, nicht von Disease-Management- Programmen ausgeschlossen. Auf der einen Seite wol- Ich will gar nicht davon sprechen, dass demnächst das len Sie zwar diese Disease-Management-Programme, Zentrum für Qualität in der Medizin hinzukommen soll. (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Meine Damen, meine Herren von der linken Seite des Qualität!) Hauses, der Masterplan Bürokratieabbau dieser Bundes- regierung lässt bei all dem, was wir hier zu erwarten ha- auf der anderen Seite konterkarieren Sie sie aber mit der ben, grüßen! Positivliste. An diesem Beispiel ist auch zu erkennen, dass die Positivliste und Disease-Management-Pro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gramme nicht aufeinander abgestimmt sind. Die Kompa- Nicht zuletzt aus dieser Auflistung ist unschwer zu er- tibilität ist nicht gewährleistet. kennen, dass eine zeitnahe Aktualisierung der Positiv- Das Durcheinander wird komplett, wenn demnächst liste mehr als problematisch ist. Nicht alle gerade zuge- noch das Zentrum für Qualität in der Medizin hinzu- lassenen patentgeschützten Arzneimittel sind auf der kommt. Man kann sich hier wirklich des Eindrucks nicht Positivliste zu finden. Ich sage es noch einmal: Zugelas- erwehren, dass auch in diesem Bereich im Gesundheits- sen sind sie, aber aufgeführt nicht. Das BMGS führt 3358 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Dr. Wolf Bauer (A) damit das bewährte Zulassungsinstrumentarium, ja die ment, das mehr Qualität, mehr Wirtschaftlichkeit und (C) Existenzberechtigung seiner eigenen Behörde, nämlich mehr Transparenz bringt. Deswegen sollten wir uns da- des BfArM, ad absurdum. rauf verständigen können. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) Ich sage ausdrücklich an die Adresse der Opposition: Ich denke nicht, dass die Positivliste im Jahre 2003 noch Es ließe sich auch zu diesem Bereich noch viel sagen. ein Thema für Kulturkämpfe sein sollte. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Positivliste – das wird von vielen bestätigt – Arbeitsplätze gefährdet (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und wahrscheinlich zum Arbeitsplatzabbau führen SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) wird. Sie müssen daran denken, dass vor allem mittel- Wir sind nicht mehr im Jahre 1995. Das Schreddern mag ständische Betriebe betroffen sind, damals für Sie wichtig gewesen sein, aber heute sollten (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Die Sie das mit etwas kühlerem Kopf betrachten. haben sie sowieso vergessen!) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Es weil sie durch eine eingeschränkte Produktpalette beson- geht weder um Lebenswerke noch um Kultur- ders darunter leiden. kämpfe, sondern um die Versorgung!) Ich komme nun noch zu den Alternativen. Zuvörderst Herr Kollege Bauer, die Positivliste ist nun gerade brauchen wir endlich das Gesamtkonzept für die kein Beispiel für die von Ihnen immer wieder beschwo- Gesundheitspolitik, das wir seit Jahren immer wieder rene Staatsmedizin, eingefordert haben. Das ist Aufgabe der Regierungsko- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Was alition bzw. der Bundesregierung selbst. Nun ist ange- denn sonst?) kündigt, dass es demnächst kommen wird – ich hoffe, bald. sondern sorgt schlicht und ergreifend für mehr Rationali- tät im Leistungsgeschehen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das Konzept XY ungelöst!) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Was ist denn daran rational?) Es macht auch keinen Sinn, dass permanent Struktu- ren zerschlagen werden, ohne dass man weiß, was man Vielleicht sollte es Ihnen zu denken geben, dass die dagegengesetzt haben will. Ich denke dabei zum Beispiel Ärzte dafür sind. an das Budgetaufhebungsgesetz, das zwar durchgeboxt worden ist, bei dem aber keiner die Folgen kannte. Das (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Hören Sie doch mal auf die Patientengruppen!) (B) Ganze ist ins Gegenteil umgeschlagen. (D) Wenn ich von bewährten Strukturen spreche, dann Sie hören doch sonst so gerne auf die Leistungserbrin- meine ich natürlich auch die Negativliste. Wir können ger. doch mit der Negativliste alle Probleme lösen, die ins Im Übrigen stimmt auch Ihr Einwand nicht, alles Haus stehen, würde teurer, weil immer nur nach teureren Medikamen- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es! Die ten gegriffen würde, wenn ein bestimmter Wirkstoff kennen die eigenen Gesetze nicht, das ist das nicht mehr auf der Positivliste zu finden sei. Woher neh- Problem!) men Sie das? Auf der Positivliste befinden sich Wirk- stoffe nicht nur mit einem breiten Wirkungsspektrum, und wir können sie damit effektiver lösen. sondern auch unterschiedlicher Preisklassen. Es gibt so- gar ein Nebeneinander der klassischen Schulmedizin So bleibt mir nur, noch einmal auf die „FAZ“ vom und der alternativen Arzneimittel. Das heißt, hier beste- 9. April zurückzukommen, in der es heißt – da kann ich hen therapeutische Alternativen. Es gibt überhaupt kei- nur beipflichten –: Das gesamte Gesetz gehört in den nen Anlass, anzunehmen, dass ausgerechnet durch die Schredder und nicht ins Parlament. Positivliste alles teurer würde. Im Gegenteil, wir ver- Vielen Dank. sprechen uns davon Einsparungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dementsprechend befürchtet die Pharmaindustrie Einbußen. Wahr ist, dass einige Betriebe tatsächlich Ein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bußen erleiden werden; das ist nicht zu bestreiten. Aber ich erinnere auch daran, dass die gesetzliche Kranken- Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von kasse natürlich kein Instrument der Wirtschaftsförderung Bündnis 90/Die Grünen. darstellt.

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Aber auch nicht der Arbeitsplatzvernichtung!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Positivliste werden die in Deutschland auf dem Markt Wir sollten uns aber auch vor Augen halten, dass der Wi- befindlichen 40 000 Arzneimittel auf die reduziert, die derstand der Pharmaindustrie gegen die Positivliste im wirksam und zweckmäßig einsetzbar sind und deswegen Grunde genommen kurzsichtig ist; denn eine Verbesse- auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung ver- rung der Arzneimittelqualität in Deutschland ist wichtig ordnet werden dürfen. Es handelt sich um ein Instru- für die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3359

Birgitt Bender (A) Was ist in Deutschland in den letzten Jahrzehnten pas- ben zu dürfen1). Ich bitte um Ihr Einverständnis. Damit (C) siert? Deutschland war einmal berühmt dafür, die Apo- schließe ich die Aussprache. theke der Welt zu sein. Aber in den letzten 20 Jahren hat die deutsche Arzneimittelindustrie stark an Boden verlo- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- ren. Warum? Weil auf dem deutschen Markt alles absetz- wurfs auf Drucksache 15/800 an den in der Tagesord- bar war und deswegen der Impuls für Innovationen nung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es fehlte. Selbst eine vom VFA in Auftrag gegebene Studie dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. zeigt, dass von den fünf Ländern, die deutlich höhere Dann ist die Überweisung so beschlossen. Forschungsaktivitäten als Deutschland zeigen, drei Län- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: der eine Marktregulierung durch eine Positivliste ken- nen. Es geht also nicht darum, die Pharmaindustrie von Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten dieser Positivliste zu verschonen. Es liegt eher in ihrem Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der eigenen längerfristigen Interesse, dass dafür gesorgt §§ 1360, 1360 a BGB wird, dass Qualität den Markt in Deutschland bestimmt. – Drucksache 15/403 – Auch die Versicherten und die Patientinnen und Patien- ten haben daran ein großes Interesse. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Als erste Rednerin hat die Kollegin Sabine Bätzing Wir folgen dem Beispiel dieser drei Länder und darü- von der SPD-Fraktion das Wort. ber hinaus dem Beispiel von Belgien, Finnland, Frank- reich, Griechenland, Italien, Österreich, Portugal, Spa- Sabine Bätzing (SPD): nien und der Schweiz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Weg so katastrophal sein soll, wie von der Oppo- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sition behauptet. Kollegen! Bei allem gebührenden Respekt vor der Geset- zesinitiative des Bundesrates muss ich heute leider fest- Ich will hervorheben – das ist ein wichtiger Punkt –, stellen: Aus dem Süden gibt es nichts Neues. So hat der dass die Positivliste auch die Therapievielfalt sichert. uns vorliegende Gesetzentwurf, der auf Initiative von Ba- Sowohl die Arzneimittel der Schulmedizin als auch die den-Württemberg eingebracht wurde, denselben Wort- alternativen Arzneimittel finden sich auf dieser Liste. Ich laut wie ein Gesetzentwurf aus der 14. Legislaturperiode, will deutlich sagen, dass die Polemik gegen die angebli- der der Diskontinuität verfiel. Hoffnungen, dass es sich che Schamanenmedizin – entsprechende Briefe haben hierbei um eine echte Verbesserung der Rechtsstellung (B) (D) uns dieser Tage erreicht – völlig fehl am Platz ist. Dieje- von Ehepaaren handeln würde, müssen – leider – begra- nigen, die solche Briefe schreiben, sollten sich vor Au- ben werden. gen halten, dass diese Mittel von großen Teilen der Be- völkerung gewünscht und angewandt werden und dass Aber lassen Sie mich von vorne anfangen: Vor dem sie in der Regel preiswerter und ärmer an Nebenwirkun- Hintergrund des erforderlichen Bürokratieabbaus und gen sind. Ich sage aber auch deutlich: Sie wirken. der von uns allen kritisierten Paragraphendichte liegt es in der Verantwortung der Gesetzgeber, kritisch zu prü- Lassen Sie mich an dieser Stelle noch bemerken, dass fen, ob ein neues Gesetz überhaupt erforderlich ist. der Vorschlag der Rürup-Kommission, nicht rezept- Von daher überlegt man zunächst immer: Welches Ziel pflichtige Arzneimittel künftig von der Erstattung aus- soll das neue Gesetz verfolgen? Diese Frage habe auch zunehmen bzw. mit 100 Prozent Zuzahlung zu belegen, ich mir gestellt. keine gute Idee ist. Allein die Frage, was gefährlich ist, entscheidet über die Rezeptpflicht. Das gehört zum Ge- Zugegeben, der erste flüchtige Blick in den Gesetz- fahrenabwehrrecht. Vielmehr entscheidet die Frage, was entwurf kann einem die Realität verklären. So könnte von Nutzen ist, darüber, ob die Kosten für ein Arzneimit- man meinen, dass mit diesem Gesetz wirklich etwas zur tel von der Krankenkasse getragen werden. Deswegen Verbesserung der Rechtsstellung des haushaltsfüh- sollten wir hier keine Änderung vornehmen. renden Ehegatten im Verhältnis zum erwerbstätigen Partner getan wird, soll doch jedem Ehegatten ein Das Nebeneinander verschiedener Therapieansätze „Recht auf angemessene Teilhabe an den Einkünften, die auch im Arzneimittelbereich schafft produktive Konkur- dem Unterhalt zu dienen bestimmt sind“, zuerkannt wer- renz. Die Opposition behauptet doch immer, sie sei für den und ist doch daneben ein Anspruch auf Erteilung der Wettbewerb. Genau den gibt es hier. Deswegen ist die Auskunft über die Einkommens- und Vermögenssitua- Positivliste ein wichtiger Baustein zur Verbesserung der tion vorgesehen. Klingt plausibel! So plausibel, dass Leistungen unseres Gesundheitswesens. man Hoffnung schöpfen kann für die Ehen, in denen der erwerbstätige Partner bisher auf dem Portemonnaie sitzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und es nur widerwillig öffnet? – Nein, nicht wirklich. und bei der SPD) Denn bei genauerem Vergleich erkennt man, dass genau diese Möglichkeiten, wie sie hier gefordert werden, be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: reits bestehen. Sie sind überflüssig. Der Kollege Dr. Dieter Thomae hat wegen der ver- schobenen Debatte gebeten, seine Rede zu Protokoll ge- 1) Anlage 2 3360 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Sabine Bätzing (A) Die §§ 1360 und 1360 a BGB legen bereits ausdrück- überzeugt, bei den finanziellen Auswirkungen weist er (C) lich fest, dass die Ehegatten einander zum Unterhalt ver- aber darauf hin, dass die Anzahl der entsprechenden Ge- pflichtet sind. richtsverfahren und damit die Kosten aufgrund der vor- gesehenen Änderungen kaum zunehmen werden. (Dirk Manzewski [SPD]: So ist es!) Da frage ich mich: Was denn nun? Ist dies alles nur Darüber hinaus besagt sogar die ständige Rechtspre- schöne Fassade und Augenwischerei? Wenn es uns wirk- chung dazu, dass der angemessene Unterhalt der Familie lich um eine Verbesserung der Situation der Hausfrauen- alles umfasst, was nach den Verhältnissen der Ehegatten ehe geht, können wir es uns nicht erlauben, uns solche erforderlich ist, um die Kosten des Haushaltes zu bestrei- faulen Eier ins Nest zu legen. Damit werden wir unserer ten und die persönlichen Bedürfnisse der Ehegatten zu Verantwortung nicht gerecht. befriedigen, sogar einschließlich eines Taschengeldes. Die Rechtsstellung der Eheleute wird durch den Gesetz- Schritte, die zur Verbesserung der Rechtsstellung des entwurf also de facto nicht verbessert. Auch die Umbe- haushaltsführenden Ehegatten im Verhältnis zum er- nennung des Auskunftsanspruches führt zu keiner ech- werbstätigen Partner beitragen, werden wir begrüßen. ten Verbesserung der bestehenden Rechtslage. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Was sind (Beifall bei der SPD) denn Ihre Vorschläge?) Ändert man also nur die Verpackung und gibt dem Aber Regelungen mit alleinig klarstellendem Charakter Kind einen anderen Namen oder was bringt der Gesetz- sollten sich in unser bewährtes System einfügen. entwurf den Ehepartnern wirklich? „Partner“ ist in die- Partnerschaft, Vertrauen und Respekt sind die Grund- sem Zusammenhang ein gutes Stichwort. Denn benötigt lagen einer intakten Familie. Davon lebt eine Ehe. Sind eine Partnerschaft, eine intakte Ehe – nur über diese sie nicht vorhanden, helfen auch keine Paragraphen und sprechen wir bei den Regelungen der §§ 1360 ff. BGB – leeren Worthülsen. zusätzliche Regelungen und Eingriffe vom Staat? Trauen wir unseren Ehepaaren nicht mehr zu, ihre persönlichen Danke schön. Angelegenheiten – dazu zähle ich auch die familiären Fi- (Beifall bei der SPD) nanzverhandlungen – in eigener Verantwortung mit dem nötigen Vertrauen und Respekt in ihren eigenen vier Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wänden zu führen? Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold von der (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ CDU/CSU-Fraktion. DIE GRÜNEN]: Das wäre schön!) (B) (D) Ich gebe – wenn auch ungern – zu, dass es immer Ute Granold (CDU/CSU): noch Ehen gibt, in denen den Frauen zu Monatsbeginn Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren Kol- das knapp bemessene Haushaltsgeld auf dem Küchen- legen! Der über das Land Baden-Württemberg und den tisch abgezählt wird. Wenn es hoch kommt, gibt es dazu Bundesrat eingebrachte Gesetzentwurf zur Änderung der vielleicht noch ein Taschengeld. Zweifelsohne entspricht §§ 1360 und 1360 a BGB trägt dem Gedanken der ehe- dies nicht der modernen Auffassung von einer partner- lichen Teilhabe am Familienunterhalt in verbesserter schaftlichen Beziehung. Aber werden wir diese Fami- Weise Rechnung und stärkt so die Ehe in ihrem Wesen liensituation durch neue Paragraphen verändern können, als gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Mann und neue Paragraphen, die – ich betone es noch einmal – in- Frau, verfassungsrechtlich geschützt in den Art. 6 und 3 haltlich nichts Neues konkret regeln, sondern nur etwas Grundgesetz. klarstellen? Pure Worthülsen sollen also plötzlich den Alleinverdienern die Spendierhosen überstülpen. Ent- Der Gesetzgeber hat bewusst auf ein Leitbild der Ehe schuldigen Sie, meine Damen und Herren, aber daran verzichtet und es den Eheleuten überlassen, eine ange- habe ich große Zweifel. messene Regelung für das partnerschaftliche Zusam- menleben zu finden. So ist es nur natürlich, dass eine (Beifall bei der SPD) Vielzahl von Lebensformen in unserer sich stetig wan- delnden Gesellschaft mittlerweile Realität ist. Noch mehr Zweifel an dem Entwurf kommen jedoch auf, wenn man dessen Begründung und die anschlie- Die Erwerbstätigkeit beider Ehepartner ist heute ein ßende Erläuterung zu den Auswirkungen des Gesetzes mehrheitlich gewählter Lebensentwurf. Neben Doppel- auf die Länderhaushalte liest. So wird in der Begrün- verdiener- und Zuverdienerehen – in der Regel arbeiten dung gesagt, dass die Ehepartner durch die Gesetzesän- hier die teilzeitbeschäftigten Ehefrauen mit – sind ein derung dazu ermutigt würden, vor Gericht ihren Ehepart- Drittel der Ehen so genannte Haushaltsführungsehen, in ner zum Beispiel auf Kontenauskunft zu verklagen, da denen nur ein Ehepartner – in 80 Prozent der Fälle ist es der Anspruch nun im Gesetz klargestellt sei. Wir haben der Mann – erwerbstätig ist. Den Familien- und Haus- vorhin von Vertrauen und Respekt in einer intakten Ehe frauen – natürlich auch den in diesem Beruf arbeitenden gesprochen. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass man Männern, aber auch den Teilzeiterwerbstätigen – steht eine Auskunft von seinem Ehepartner vor Gericht ein- aufgrund der derzeitigen Gesetzeslage ein Anspruch auf klagt? – Nein. Selbst der Bundesrat als Gesetzesinitiator ein angemessenes Wirtschaftsgeld in eigenständiger Ver- glaubt daran in letzter Instanz nicht. In der Begründung waltung, bemessen nach den ehelichen Lebensverhält- ist er von seiner eigenen Argumentation noch halbwegs nissen, zu. Aus der Verpflichtung zur ehelichen Lebens- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3361

Ute Granold (A) gemeinschaft leitet sich, von der Rechtsprechung Einkünften, die dem Familienunterhalt zu dienen be- (C) anerkannt, ein Informationsanspruch in groben Zügen stimmt sind – auch wenn nur einer der Ehegatten über über den wesentlichen Bestand des Vermögens und der solche Einkünfte verfügt. Einkünfte ab. Im Steuerrecht beim Ehegattensplitting, im Versor- Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil gungsausgleich und beim Zugewinn ist die Teilhabe am vom 28. Februar 2002 zum nachehelichen Ehegattenun- gemeinsam Erwirtschafteten gesetzlich geregelt. Wir ha- terhalt festgestellt – ich zitiere –: ben jetzt die Chance, dies im Gesetz klarzustellen und die nicht Erwerbstätige – in der Regel ist es die Ehefrau – Kindererziehung und Haushaltsführung stehen rechtlich zu stärken, ihre Stellung als haushaltsführende gleichwertig neben der Beschaffung des Einkom- Partnerin aufzuwerten, so wie es das Verfassungsgericht mens. Daraus erfolgt der Anspruch auf gleiche Teil- bereits festgeschrieben hat. habe am gemeinsam Erwirtschafteten während und nach der Ehe. Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung: Lassen wir ganz schnell das entwürdigende (Joachim Stünker [SPD]: Haben wir schon!) Taschengeld für die Familien- und Hausfrauen in der Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 Versenkung verschwinden! In einer partnerschaftlichen Grundgesetz schützt die Ehe als Lebensgemein- Ehe ist kein Platz für Bittsteller. Die Basis ist vielmehr schaft gleichberechtigter Partner. Gleichberechtigung: Beteiligung statt Taschengeld; denn Letzteres bekommen Kinder. Kommen den Ehegatten gleiches Recht und gleiche Verantwortung bei der Ausgestaltung ihres Ehe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Familienlebens zu, so sind auch die Leistun- Wir diskutieren dieser Tage über den Bericht der Bun- gen, die sie jeweils im Rahmen der von ihnen in ge- desregierung zum Stand der Beseitigung jeder Form der meinsamer Entscheidung getroffenen Arbeits- und Diskriminierung von Frauen und das Bemühen um Aufgabenzuweisungen erbringen, als gleichwertig Gleichberechtigung und Gleichstellung. Heute haben wir anzusehen; so haben beide Ehegatten grundsätzlich die Möglichkeit, einen kleinen Beitrag zu leisten, ein Si- auch Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam gnal zu setzen, eine gesetzliche Klarstellung vorzuneh- Erwirtschafteten, das ihnen zu gleichen Teilen zu- men, die nichts kostet, die aber einen großen Erfolg zuordnen ist. Dies gilt nicht nur für die Zeit des Be- bringt: nämlich endlich die Aufwertung der Hausfrauen- stehens der Ehe, sondern entfaltet seine Wirkung tätigkeit. Gleichberechtigung ist doch nur dann wirklich auch nach Trennung und Scheidung der Ehe. gewährleistet, wenn Gleichwertigkeit besteht und die Die Konsequenz hieraus für den Gesetzgeber ist, was Rahmenbedingungen stimmen. Der Beitrag des haus- (B) (D) heute Gegenstand der Beratung ist. Was für Trennung haltsführenden Ehegatten in der Partnerschaft ist ebenso und Scheidung bereits gesetzlich geregelt ist, muss auch viel wert wie der des in Teilzeit oder Vollzeit tätigen während der Ehe gelten: Auskunftspflicht beider Part- Ehegatten. ner über ihr Einkommen, um ihnen gleichberechtigt eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Übersicht über ihre finanzielle Situation zu ermöglichen. Transparenz in finanziellen Angelegenheiten ist ein klei- Wir haben uns als Politiker und Gesetzgeber um alle Le- ner Schritt zu mehr Partnerschaftlichkeit in der Ehe. Da- bensformen zu kümmern, damit die Wahlfreiheit auch mit wird ein Signal gesetzt, das gesellschaftspolitisch wirklich eine solche ist. vonnöten ist. Herzlichen Dank. Wer moniert, dass solche Selbstverständlichkeiten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht in gesetzliche Regelungen aufgenommen werden sollen, muss sich fragen, warum andere Selbstverständ- lichkeiten, etwa dass Ehefrauen in der Ehe nicht verge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: waltigt werden dürfen, vor noch nicht allzu langer Zeit Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe- in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurden. Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen. Die Erfahrung der Fachverbände in ihrer alltäglichen Beratungspraxis zeigt, dass die Familien- und Haus- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE frauen über die finanziellen Verhältnisse oft nicht oder GRÜNEN): nur unzureichend informiert sind, was sich im Übrigen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der bei späteren Trennungen in sich mittlerweile häufenden vorgelegte Gesetzentwurf bezieht sich auf Ehen, in de- Auskunftsklagen bei Familiengerichten bestätigt. Noch nen eine traditionelle Rollenteilung zwischen den Ge- gravierender ist, dass in nicht wenigen Fällen unzurei- schlechtern besteht: Der Mann verdient das Geld, die chende finanzielle Mittel zur Haushaltsführung und zum Frau bleibt zu Hause. Der Entwurf zielt darauf ab, die Si- persönlichen Bedarf zur Verfügung stehen. tuation der nicht erwerbstätigen Ehegatten zu verbes- sern. Zu 75 Prozent sind das die Frauen. Gerade vor dem Hintergrund der Gleichwertigkeit von Familien- bzw. Hausfrauen und erwerbstätigen Erfreulicherweise – da gebe ich Ihnen Recht, Frau Ehegatten müsste zumindest die Klarstellung einer Bätzing – hat sich innerhalb der letzten Jahre einiges Selbstverständlichkeit hier ohne Debatte möglich sein, zum Positiven verändert; denn zunehmend teilen vor al- nämlich das Recht auf angemessene Teilhabe an den lem jüngere Paare gleichberechtigt ihre Aufgaben und 3362 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Irmingard Schewe-Gerigk (A) ihr Einkommen – aber eben nur die jüngeren. Dennoch Ich frage mich aber: Was passiert konkret in der Pra- (C) ist heute noch in 27 Prozent der Ehen nur ein Ehegatte xis, wenn ein Mann der Ehefrau nicht sagen will, wie erwerbstätig, in der Regel der Mann. 1997, als der Ge- hoch sein Einkommen ist, oder wenn er bewusst falsche setzentwurf geschrieben wurde, waren es noch 31 Pro- Aussagen macht? Ein Recht auf Einsicht der Bankbelege zent. Aber auch wenn dieser Trend anhält, müssen wir hat die Ehefrau auch nach diesem Gesetzentwurf nicht. alles dafür tun, den partnerschaftlichen Umgang der Hier bleibt den Frauen dann nur der Weg zum Gericht. Ehegatten miteinander zu stärken. Sehr verehrte Kolle- Auch wenn vielleicht nicht viele Frauen diesen Schritt ginnen und Kollegen, hier haben wir ein gemeinsames wagen, so ist es doch wichtig, dass faktisch die Möglich- Ziel. Jedoch bin ich mir nicht sicher, ob der von Ihnen keit besteht. Trotzdem bin ich sicher, dass sehr viel mehr vorgeschlagene Weg auch zielführend ist. Ehefrauen entsprechende Informationen einfordern wer- den, wenn sie wissen, dass sie auch das Recht dazu ha- Obwohl Ehefrauen seit 1977 das Recht haben, ohne ben. Man kann nicht von symbolischem Recht sprechen, Zustimmung des Ehemannes berufstätig zu sein, über- wie es zum Teil gemacht wird. Ich glaube, es ist eine nimmt noch immer fast jede dritte Ehefrau ausschließ- Stärkung der Frauen in dieser Situation. lich Hausarbeit und Kindererziehung. In Zahlen ausge- drückt sind das in der Bundesrepublik Deutschland Zusammenfassend kann man sagen: Das Ziel des Ge- knapp 4 Millionen Frauen. Dies tun viele allerdings setzes, eine rechtliche Stärkung der nicht erwerbstätigen nicht freiwillig; denn Untersuchungen haben gezeigt, Ehefrauen, wird von meiner Fraktion unterstützt. Aller- dass 70 Prozent der nicht erwerbstätigen Mütter gerne dings gibt es weiteren Klärungsbedarf, damit die Rege- neben der Kindererziehung weiterhin ihrem Beruf nach- lungen nicht zu einem Bumerang für die Frauen werden. gehen würden. Ich glaube, es wird wichtig sein, dass wir in den Aus- schussberatungen mit den Berichterstatterinnen und Be- (Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP]) richterstattern nach Wegen suchen, wie wir diesem Ziel nahe kommen. In vielen Familien ist durch diese Aufgabenteilung auch die Dominanz in den Familien klar festgeschrieben, Ich freue mich schon auf die Zusammenarbeit mit al- ganz nach dem Motto: Wer das Geld hat, hat das Sagen. len Kolleginnen des Hauses mit dem Ziel, die Rechte der Fakt ist, dass jede zweite Hausfrau mit ihrer finanziellen nicht erwerbstätigen Ehefrauen zu stärken. Obwohl es Beteiligung nicht zufrieden ist. Hier setzt der vorlie- immer weniger werden, was sicherlich erfreulich ist, gende Gesetzentwurf an: Er will Hausfrauen in Finanz- bleibt dies ein wichtiges Ziel. fragen rechtlich besser stellen. Frauen sollen ein Teilha- Herzlichen Dank. berecht an den Einkünften des Ehegatten sowie einen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (B) Anspruch auf Auskunft über den Verdienst des Partners (D) haben. bei der CDU/CSU und der FDP)

Durch das vorgesehene Teilhaberecht würde der nicht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: erwerbstätigen Ehegattin signalisiert, dass sie für ihren Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk von der persönlichen Bedarf nicht nur Bittstellerin für ein Ta- FDP-Fraktion. schengeld ist, das ihr der Ehemann großzügig überlässt, sondern dass ihr selbstverständlich der angemessene Teil der Einkünfte zusteht. Problematisch könnte in diesem Sibylle Laurischk (FDP): Zusammenhang jedoch die rechtliche Stellung gegen- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ge- über Gläubigern werden. Denn wird der Ehefrau ein setzentwurf des Bundesrates enthält eine klarstellende symbolisches Teilhaberecht eingeräumt, würde es künf- Änderung der §§ 1360 und 1360 a BGB, der zufolge die tig Gläubigern der Ehefrau erleichtert, den Unterhaltsan- Position des nicht erwerbstätigen Ehegatten als haus- spruch zu pfänden. Das müssen wir eingehend prüfen, haltsführender oder lediglich hinzuverdienender Partner wenn wir eine tatsächliche Verbesserung für die Frauen verbessert und gestärkt werden soll. In der Regel handelt erreichen wollen. es sich dabei um Ehefrauen, wobei nicht zu verkennen ist, dass angesichts einer sich ändernden gesellschaftli- Das zweite Element des Entwurfs, das Auskunfts- chen Haltung zur Ehe auch zunehmend Männer den anspruchsrecht der nicht verdienenden Ehegattin, Haushalt führen oder lediglich hinzuverdienen, während schätze ich als Vorteil für die Frauen ein. Derzeit exis- die Ehefrau Hauptverdienerin ist. Aufgrund einer sich tiert ein allgemeiner Informationsanspruch über das Ein- ständig verschärfenden Arbeitsmarktsituation wird dies kommen und das Vermögen des Ehemannes. Der Ehe- in Zukunft noch häufiger der Fall sein, zumal Frauen in mann kann aber darauf verweisen, dass sein Geld seine zunehmendem Maße gut ausgebildet sind. Sache sei. Mit der Einführung eines echten Auskunftsan- spruchs soll dieses Informationsdefizit der nicht verdie- In § 1353 BGB steht die Definition der ehelichen Le- nenden Ehefrau aufgehoben werden. Eine getrennt le- bensgemeinschaft, worin auch die wechselseitige Ver- bende oder geschiedene Ehegattin besitzt dieses Recht antwortung festgelegt ist. Daraus ist seitens der Recht- und ich sehe nicht ein, weshalb eine Ehefrau weniger sprechung ein Auskunftsanspruch auf Unterrichtung Rechte haben sollte. über die wechselseitige Einkommenssituation in groben Zügen definiert worden. Im Unterschied hierzu gibt das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bürgerliche Gesetzbuch den getrennt lebenden oder ge- bei der CDU/CSU und der FDP) schiedenen Ehegatten einen Auskunftsanspruch im Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3363

Sibylle Laurischk (A) Detail, der einklagbar und durchsetzbar ist. Die Aus- Sibylle Laurischk (FDP): (C) kunftsrechte von getrennt lebenden und geschiedenen Eine eindeutige Entscheidungsbasis aufgrund detail- Ehegatten sind also rechtlich stärker normiert. lierter Informationsmöglichkeiten über das Familienein- kommen brauchen Frauen und Männer nicht zuletzt auch Man kann zu Recht große Zweifel haben, ob ein Aus- bei einer eigenständigen und selbstbewussten Vermö- kunftsanspruch unter Ehegatten, wie im Bundesratsent- gensplanung, die nur dann ernsthaft möglich ist, wenn wurf vorgeschlagen, in der Rechtspraxis umzusetzen ist. sie in Kenntnis aller wirtschaftlichen Faktoren getroffen Ein Ehepartner, der Informationen über das Einkommen werden kann. Der Gesetzentwurf aus Baden-Württem- seines Partners haben will, würde sich im Interesse des berg – ich freue mich über die Anwesenheit von Frau Rechtsfriedens sehr überlegen, ob er oder sie zur Durch- Ministerin Werwigk-Hertneck – berücksichtigt unter die- setzung eines Auskunftsanspruchs den anderen tatsäch- sem Aspekt die Situation von Eheleuten, die gleichbe- lich verklagen will. Es bleibt also die Frage zu stellen, rechtigt in der Ehe leben wollen und sich nicht gegen die wo die Bedeutung der Gesetzesvorlage liegt und ob Ehe entscheiden wollen. diese rechtspolitisch klug ist. Es bleibt zu hoffen, dass aus dem Bundesjustizminis- (Dirk Manzewski [SPD]: Genau!) terium neue Vorschläge kommen. – Frau Bätzing, Sie hatten ja gerügt, dass nichts Neues vorgelegt worden sei. Wenn die Zielsetzung tatsächlich die ist, Ehepartnern – Ich wünsche mir, dass die Bundesjustizministerin den die wechselseitigen Auskunftsklagen schmackhaft zu Gesetzentwurf aus dem Bundesrat aktiv fördert und ihn machen, ist eine Ergänzung der §§ 1360 und 1360 a nicht in der familienpolitischen Schublade liegen lässt. BGB kritisch zu beurteilen. Danke schön. (Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, Eheleute, der CDU/CSU) die grundsätzlich zu vertrauensvollem und solidarischem Handeln aufgerufen sind, miteinander in Streit zu füh- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ren. Sollte aber Zielsetzung sein, ein Signal zu setzen, das die Eheleute in gemeinsamer Verantwortung umset- Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker von der zen müssen, dann ist die vom Bundesrat vorgeschlagene SPD-Fraktion. Ergänzung der § § 1360 und 1360 a BGB möglicher- weise sinnvoll. Joachim Stünker (SPD): (B) Die gesellschaftliche Realität sieht mittlerweile so Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (D) aus, dass immer weniger Ehen geschlossen werden und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem Gesetz- Ehen immer häufiger geschieden werden. Außerdem ist entwurf des Bundesrates, der von Baden-Württemberg die demographische Entwicklung in Deutschland ein- eingebracht worden ist. Dieser stimmt mit dem Gesetz- deutig so, dass immer weniger Kinder geboren werden. entwurf überein, mit dem wir uns am 13. Oktober 2000, Frauen werden zunehmend älter, bis sie sich erstmals also noch in der letzten Wahlperiode, in erster Lesung entschließen, ein Kind zu bekommen. 40 Prozent der beschäftigt haben. Damals herrschte Übereinstimmung Akademikerinnen in Deutschland haben keine Kinder. darüber – das war in allen Reden nachzulesen; ich habe Diese demographisch problematische Entwicklung mir die Mühe gemacht –, dass niemand diesen Entwurf hängt auch damit zusammen, dass die so genannte Haus- weiterverfolgen wollte. Der Entwurf war damals bereits frauen- und Hinzuverdienerehe für Frauen an Bedeutung in erster Lesung durchgefallen – und das, wie ich meine, verliert. Die Ehe bietet zunehmend nicht mehr den trag- zu Recht. fähigen Boden, um Kinder zu erziehen, ohne die Dop- (Sibylle Laurischk [FDP]: Das ist schlichtweg pelbelastung der Berufstätigkeit auf sich zu nehmen, falsch!) weil die Entscheidung zu einer solchen Familienführung den Frauen – aber nicht nur ihnen – schwer fällt. Dabei Seinerzeit hat die von uns allen sehr geschätzte Kolle- ist sicherlich auch von erheblicher Bedeutung, dass gin Margot von Renesse, die in ihrer zwölfjährigen Mit- Frauen eine Entscheidungsbasis für die Wahl brauchen, gliedschaft im Deutschen Bundestag, was die Gleichstel- Hausfrau oder eine nur in geringem Umfang berufstätige lung von Mann und Frau angeht, sehr segensreich Frau und Mutter sein zu wollen. gewirkt hat, folgende Überschrift gefunden: Man will et- was für Frauen tun. Aber man will in Wirklichkeit nur so Aber auch in einer ganz anderen familiären Situation tun, als ob man etwas täte. brauchen sie klare Informationsmöglichkeiten hin- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sichtlich ihrer Unterhaltsansprüche, nämlich um die Ent- scheidung treffen zu können, wenn sie wegen der Ver- Man will das klarstellen, was schon lange geltendes sorgung alter Eltern oder sonstiger hilfsbedürftiger Recht ist. Das ist in den Reden heute Abend auch wieder Familienmitglieder zu Hause bleiben wollen. deutlich geworden, es sei denn, ich bin intellektuell nicht in der Lage gewesen, diesen zu folgen. All das, was vor- getragen wurde, ist schon heute geltendes Recht, gel- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tende Rechtsprechung und in einer intakten Ehe kein Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. Problem. Von daher stellt sich die Frage, warum man mit 3364 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Joachim Stünker (A) einem neuen Satz 3 im § 1360 BGB bestehendes Recht Begründung ist aber zu entnehmen, dass Sie genau das (C) noch einmal klarstellen muss. nicht wollen. Diesen Schritt wollen Sie letzten Endes nicht gehen. Das eine geht aber nicht ohne das andere. (Ina Lenke [FDP]: Weil es notwendig ist!) Meine zweite Anmerkung dazu: Ich war neun Jahre Eine solche Gesetzgebung ist letzten Endes unsinnig lang Familienrichter. Frau Kollegin Laurischk, es ist mir (Ina Lenke [FDP]: Sie ist nicht unsinnig!) wirklich schleierhaft, wie sich die Gerichte einer solchen Regelung in der Praxis annehmen sollen. Wenn wir sol- und für das juristische Handwerk absolut fatal. che Prozesse fördern, sollten wir uns im Ergebnis auch (Beifall bei der SPD – Ina Lenke [FDP]: Dass über den nachehelichen Ehegattenunterhalt und über da auch noch Frauen mitmachen, wundert Auskunftsansprüche bei getrennt Lebenden unterhalten. mich sehr!) (Ina Lenke [FDP]: Typisch Mann! – Sibylle Es stellt sich die Frage nach der praktischen Rele- Laurischk [FDP]: Sie haben nicht zugehört!) vanz einer solchen Klarstellung, die laut der Begrün- dung in das Gesetz hineingeschrieben werden soll. Fra- Für diese haben wir das alles im Gesetz geregelt. gen wir also, ob es in der Lebenswirklichkeit praktische Mit dem Vorschlag, den Sie hier vorlegen, geben Sie Gründe dafür gibt! Laut einer repräsentativen Umfrage den Frauen Steine statt Brot. des Forsa-Instituts, die im Auftrag der Zeitschrift „Frau im Spiegel“ durchgeführt wurde, wirtschaften nur noch (Lachen der Abg. Ina Lenke [FDP]) 16 Prozent der deutschen Frauen mit Haushaltsgeld und Sie tun genau das, was Frau von Renesse gesagt hat: Sie lediglich 12 Prozent erhalten Taschengeld. In der Mehr- tun so, als würden Sie etwas tun. In Wirklichkeit ist das zahl der Partnerschaften sind die Haushaltsfinanzen ein retardierter Vorschlag. mittlerweile ein Gemeinschaftsthema geworden. Schönen Dank. (Dirk Manzewski [SPD]: Richtig!) (Beifall bei der SPD) 85 Prozent der Frauen treffen gemeinsam mit ihrem Partner Entscheidungen über Anschaffungen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dirk Manzewski [SPD]: Das ist Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen einer modernen Ehe!) von der CDU/CSU-Fraktion. 83 Prozent der Frauen sind über den Verdienst des Man- nes im Bilde und 61 Prozent müssen keine Rechenschaft (B) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): (D) darüber ablegen, wofür sie Geld ausgeben. Das ist die moderne Ehe. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Familienrecht, der (Beifall bei der SPD) vom Bundesrat in den Bundestag eingebracht worden ist Sie haben heute ein tradiertes und überkommenes Bild und auf eine Initiative des Landes Baden-Württemberg von der Ehe dargestellt, wie es der Wirklichkeit im zurückgeht, geht es um eine gesellschaftspolitische 21. Jahrhundert letzten Endes nicht mehr entspricht. Frage. Es geht um die Gesellschaftspolitik, weil dieser Gesetzentwurf die wirtschaftliche und finanzielle Aner- (Dirk Manzewski [SPD]: So sind halt die Vor- kennung der Haushaltstätigkeit in der Ehe und damit in stellungen der Union!) der Regel auch in der Familie beinhaltet. Diese Tätigkeit Denjenigen, die immer nach Entbürokratisierung ru- wird in vier von fünf Fällen von der Ehefrau geleistet; fen, sage ich Folgendes: Wir als Gesetzgeber sollten uns die Ehemänner sind immer noch in der Minderheit. wirklich davor hüten, mit gesetzgeberischen Maßnah- (Ina Lenke [FDP]: Richtig!) men in die durch Art. 6 Grundgesetz geschützte Privat- heit der intakten Ehe – darum geht es hier – hineinzure- Das Interessante und ein wenig auch das Erschre- gieren. ckende an dieser Debatte ist, dass es offensichtlich Un- terschiede in der Beurteilung der sozialen Wirklichkeit gibt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Stünker, erlauben Sie eine Zwischen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) frage der Kollegin Lenke? Wir haben auch heute wieder unverbindliche Schönwet- terreden über die Partnerschaft, den Wert der Haushalts- Joachim Stünker (SPD): tätigkeit und die Anerkennung, die ihr zukommt, gehört. Nein. – Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei (Joachim Stünker [SPD]: Das ist geltendes Dinge dazu sagen: Recht!) Erste Anmerkung: Frau Ministerin, wenn Sie Ihren Auch Sie haben heute wieder eine solche Rede auf teil- Gedanken, eine Klarstellung im § 1360 BGB vorzuneh- weise sehr bescheidenem Niveau gehalten, wie ich sagen men, logisch zu Ende denken, dann müssten Sie konse- muss. quenterweise zu der Meinung kommen, auch das eheli- che Güterrecht entsprechend ändern zu wollen. Ihrer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3365

Dr. Norbert Röttgen (A) Frau Bätzing hat gerühmt, dass die Ehefrau in der Wirk- scheidung des Bundesverfassungsgerichts zitiert. Am (C) lichkeit sogar ein Taschengeld bekommen könne. Welch 28. Februar 2002 hat das Bundesverfassungsgericht in eine Großtat im 21. Jahrhundert! Der Kollege Stünker dieser Sache geurteilt hat erklärt, wir hätten nur noch moderne Ehen, in der (Joachim Stünker [SPD]: Das ist Rechtspre- alle gleichberechtigt partizipieren, alles sei bestens, es chung!) gebe überhaupt keine Defizite in der Anerkennung und daher auch keinen Handlungsbedarf. Das bestätigt im und im Grunde genommen genau das beschlossen, was Grunde nur meine generelle These, dass die eigentlich jetzt im Gesetzentwurf steht. Das sollten Sie sich einmal strukturkonservative Fraktion auf der linken Seite dieses durchlesen. Das Bundesverfassungsgericht ist also mit Hauses angesiedelt ist. Sie sind die Status-quo-Partei. seiner Wertung auf der Seite des Bundesrates. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Das Verdienstvolle des Gesetzentwurfs des Bundes- Joachim Stünker [SPD]: Lesen Sie einmal rates ist, dass die Ebene der schönen und folgenlosen nach, was der Herr Pofalla dazu gesagt hat!) Worte verlassen und das Mittel des Rechts gewählt wird, um der Anerkennung Ausdruck zu geben. Das ist das Wir haben uns überlegt: Lohnt es sich überhaupt, hier Entscheidende, das ist die wesentliche Veränderung. Die darüber zu reden? Wir waren der Auffassung, dass es gut Möglichkeiten des Gesetzgebers, auf die soziale Wirk- ist, heute darüber zu debattieren. Ich wusste aber gar lichkeit und das Bewusstsein einzuwirken und Anerken- nicht, wie gut das ist. Frau Schewe-Gerigk, ich teile nung zu verschaffen, sind begrenzt. Es ist die privatauto- nicht alles, was Sie gesagt haben. nome Entscheidung der Eheleute, wie sie ihre Ehe (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ gestalten. Man kann gesellschaftliche Anerkennung DIE GRÜNEN]: Das kommt schon mal nicht rechtlich erzwingen. Aber das, was der Gesetzge- vor!) ber kann, nämlich mit der Ausdrucksform des Rechts Anerkennung zu verschaffen, sollte er tun. Das ist unsere Dies gilt insbesondere für die Tatsache – ich will es ein- Auffassung. Darum befürworten wir diesen Gesetzent- mal freundlich formulieren –, dass Sie sich ein Urteil wurf. darüber anmaßen, wie andere ihre Ehe führen sollen. Ich führe keine Alleinverdienerehe. Aber in der Familie mei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ner Frau gibt es ein solches Modell. Meine Schwägerin Wir appellieren an die einzige Fraktion dieses Hauses, hat sich als promovierte Akademikerin aus freier Wahl die den Gesetzentwurf ablehnt, sich konstruktiv an der dafür entschieden und sagt: Wir haben vier Kinder und Beratung zu beteiligen. Verweigern Sie bitte nicht nur das ist es, was ich mir wünsche. Ich finde, keiner sollte deswegen die Unterstützung, weil Sie diesen Entwurf sich das Recht herausnehmen, darüber ein Urteil zu spre- (B) nicht eingebracht haben. (D) chen. Überlassen Sie diese autonome Entscheidung den Ehepartnern! (Dirk Manzewski [SPD]: Sie müssen sich ge- fallen lassen, dass Sie ein Wendelhals sind!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie uns hier zusammenarbeiten! Ich freue mich Das hat mich an Ihrem Beitrag gestört. Aber ich glaube, darüber – das will ich hier zum Ausdruck bringen –, dass dass sich das nicht unbedingt im Gesetzentwurf auswir- alle anderen Fraktionen diesem Gesetzentwurf grund- ken muss; denn er gilt nur für diejenigen, die sich für sätzlich – über Details muss geredet werden – positiv eine solche Lebensweise entscheiden. gegenüberstehen. Das ist ein gutes Signal. Es stimmt Es gibt eine Diskrepanz zwischen den unverbindli- hoffnungsvoll, dass am Ende ein gutes Ergebnis heraus- chen Reden und der sozialen, wirtschaftlichen und finan- kommt. ziellen Wirklichkeit; das ist überhaupt nicht zu bestrei- Herzlichen Dank. ten. Reden Sie einmal mit Anwälten für Familienrecht! Sie werden Ihnen bestätigen, dass Ehefrauen quer durch (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ alle Bevölkerungsschichten oft noch nicht einmal wis- DIE GRÜNEN und der FDP) sen, was ihr Ehemann im Monat verdient. In den Bera- tungen vor der Scheidung werden die Ehefrauen gefragt, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ob sie die Steuererklärung nicht unterschrieben hätten, Das Wort hat jetzt die Justizministerin des Landes weil man dann die Höhe des Verdienstes hätte sehen Baden-Württemberg, Corinna Werwigk-Hertneck. müssen. Die Antwort ist dann, dass sie die Steuererklä- rung ohne hinzuschauen unterschrieben hätten. Das ist die Wirklichkeit, nicht nur, aber auch in Deutschland. Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin (Baden- Dass Sie in der SPD generationen- und geschlechtsüber- Württemberg): greifend davor die Augen verschließen, ist eine erschre- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ginge mit ckende Tatsache; das muss ich schon sagen. diesem Gesetzentwurf, wenn er Gesetz würde, ein Ruck durch die Machos oder handelt es sich dabei um „eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Art Gedichtvortrag zum Muttertag“, neten der FDP – Dirk Manzewski [SPD]: Sie sind völlig weltfremd!) (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) In dieser Sache hat es übrigens eine rechtliche Verän- wie es Margot von Renesse in der Bundestagsdebatte am derung gegeben. Die Kollegin Granold hat aus der Ent- 13. Oktober 2000 formuliert hat? Ich habe das Protokoll 3366 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003

Ministerin Corinna Werwigk-Hertneck (Baden-Württemberg) (A) auch gelesen, Herr Stünker. Darin steht etwas völlig an- Sie haben Recht, Herr Stünker: Die Hausfrauenehe (C) deres, als Sie ausgeführt haben. entspricht längst nicht mehr allen ehelichen Lebensver- hältnissen. Die Zahl der partnerschaftlichen Beziehun- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gen nimmt zum Glück zu, aber es gibt noch sehr viele Joachim Stünker [SPD]: Das ist eine wilde Ehen, in denen das anders ist. Wir Politikerinnen und Po- Behauptung, die Sie aufstellen! – Gegenruf der litiker sprechen immer wieder gerne davon, die Familien Abg. Ina Lenke [FDP]: Sie haben es nicht rich- zu stärken. Dann müssen wir aber auch Frauen stärken, tig gelesen!) die sich ganz für die Familie entscheiden. Sonst bleiben Ich nehme es jungen Frauen nicht übel, wenn sie den es wieder einmal nur hohle Worte. idealen Traum der partnerschaftlichen Ehe postulieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Aber ich bin doch etwas verwirrt, was die SPD zu die- sem Thema wirklich meint; denn ich habe auch die Stel- Herr Stünker, Ihre Meinung, dass auch die Errungen- lungnahme der Bundesregierung aus diesem Jahr sorg- schaftsgemeinschaft erwogen und die Zugewinnge- fältig gelesen, aus der ein anderes Ehebild hervorgeht. meinschaft daher wieder auf den Prüfstand gestellt wer- Danach muss sich diese Regelung – also der Gesetzes- den müsste, teile ich nicht. Ich meine vielmehr, Ihre vorschlag des Bundesrates – nämlich in ein „bewährtes Argumentation entlarvt eine bestimmte Denkweise. System des Familienunterhaltes einfügen. In diesem Denn wenn man nur wissen will, wie viel Geld monat- System stehen sich die Ehegatten nicht mit individual- lich zur Verfügung steht, dann heißt das noch lange rechtlichen, auf die persönliche Nutzenmehrung gerich- nicht, dass der gesamte gesetzliche Güterstand geändert teten Ansprüchen gegenüber, sondern sie stellen ihre werden muss. persönlichen Interessen hinter die Verwirklichung der gemeinsamen und partnerschaftlich bestimmten Ziele (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der Familie zurück“, Er muss vielleicht auf europäischer Ebene geändert wer- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den. Ich trete sehr dafür ein, dass wir Überlegungen da- NEN]: Das hört sich aber gut an!) rüber anstellen, wie ein europäisches Gesetzbuch konzi- piert werden könnte. Dabei geht es um äußerst wichtige und zwar in der Regel auf Kosten der Frauen! familienrechtliche Fragen. Ich war 20 Jahre lang Fachanwältin für Familienrecht Ich werbe dafür, das über den Bundesrat eingebrachte und habe selbst Beratungen durchgeführt. Was Sie sag- Gesetzesvorhaben – es ist sehr wichtig; deswegen be- ten, Herr Dr. Röttgen, ist völlig richtig. Die Anwaltschaft danke ich mich dafür, dass ich als Beauftragte des Bun- (B) kann die genannten Beispiele bestätigen. desrates hier sprechen kann – zu unterstützen und ange- (D) Das Bundesverfassungsgericht hat deswegen in Über- messen zu beraten. Sie, Frau Schewe-Gerigk, haben einstimmung mit der vorherigen Rechtsprechung eine – wie auch Frau Renesse vor zweieinhalb Jahren – ver- angemessene Teilhabe gefordert; insofern haben Sie sprochen: Wir werden das Vorhaben wohlwollend und Recht, Herr Stünker. Aber wie wird eine solche Teilhabe ernsthaft prüfen. Ich hoffe daher sehr, dass wir in den erreicht? Es gibt keinen Auskunftsanspruch. Auch wenn weiteren Beratungen ein Stückchen vorankommen. zum Beispiel eine Professorenfrau, die zwar ihren Mann Herzlichen Dank. liebt und gerne mit ihm Weltreisen macht, aber immer noch mit 500 Euro Taschen- bzw. Haushaltsgeld aus- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie kommen muss, selbst wenn die Kinder bereits das Stu- der Abg. Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/ dium abgeschlossen haben, zaghaft nachfragt, wie viel DIE GRÜNEN]) ihr Mann verdient, dann ist es wichtig, dass er seine Ge- haltsabrechnung vorzeigt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Joachim Stünker [SPD]: Dafür gehen wir zum Ich schließe die Aussprache. Gericht!) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Mit der im vorliegenden Gesetzentwurf getroffenen wurfs auf Drucksache 15/403 an die in der Tagesord- Klarstellung und der Bezugnahme auf § 1605 BGB wird nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es diese Auskunftspflicht geregelt. Sicherlich fällt es vie- anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann len Männern schwer, ihre Verhältnisse offen zu legen. ist die Überweisung so beschlossen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]) ordnung. Darauf hat übrigens auch eine sehr alte ehemalige Bun- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- destagsabgeordnete, Frau Dr. Diemer-Nicolaus, hinge- tages auf morgen, Freitag, den 11. April 2003, 9 Uhr, wiesen, als sie hörte, dass ich diesen Gesetzentwurf er- ein. neut auf die Tagesordnung des Bundesrates setzen ließ. Sie hat mir erzählt: Frau Kollegin, ich habe es schon Die Sitzung ist geschlossen. 1957 versucht, aber die Männer wollten den Frauen da- mals noch keine Einsicht in die Unterlagen gewähren. (Schluss: 21.04 Uhr) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2003 3367

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten einen Vorschlag zu machen wie unser Gesundheitswesen zukunftsfähig gemacht werden kann.

entschuldigt bis Die FDP lehnt die Einführung einer solchen Liste Abgeordnete(r) einschließlich ebenso strikt ab wie die Fortsetzung der untauglichen Kostendämpfungspolitik der vergangenen Jahre, die im Bellmann, Veronika CDU/CSU 10.04.2003 Zuge der Gesundheitsreform als Strukturverbesserun- gen verkauft werden sollen. Ich bin mir ziemlich sicher, Breuer, Paul CDU/CSU 10.04.2003 dass das Gesundheitsministerium mit seinem Konstrukt, Fahrenschon, Georg CDU/CSU 10.04.2003 die Zustimmungspflichtigkeit des Bundesrates allein auf die Änderung bzw. Ergänzung der Positivliste durch Feibel, Albrecht CDU/CSU 10.04.2003 Rechtsverordnung zu beschränken, nicht erfolgreich sein Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 10.04.2003** kann. Eine Liste, die nicht aktualisierbar ist, weil die Länder nicht mitspielen, ist von vornherein zum Schei- Gutting, Olav CDU/CSU 10.04.2003 tern verurteilt. Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 10.04.2003 Laut Aussagen des Gesundheitsministeriums sollen Dr. Köhler, Heinz SPD 10.04.2003 mit dieser Liste Einspareffekte von rund 800 Millionen Euro erzielt werden. Genau das ist aber nicht bewiesen. Koppelin, Jürgen FDP 10.04.2003 Wenn die Auswahl an Arzneimitteln reduziert wird, Kramme, Anette SPD 10.04.2003 heißt das nicht, dass auch weniger Medikamente einge- nommen werden. Eingenommen werden nur andere Me- Dr. Lammert, Norbert CDU/CSU 10.04.2003** dikamente und die sind manchmal auch noch teurer als das, was man aus der Erstattungspflicht gestrichen hat. Lintner, Eduard CDU/CSU 10.04.2003* Außerdem: Müller, Hildegard CDU/CSU 10.04.2003 Erstens. Die Positivliste stellt eine Gefährdung für die Oßwald, Melanie CDU/CSU 10.04.2003 Arzneimittelforschung und die Innovation neuer Pro- Raidel, Hans CDU/CSU 10.04.2003** dukte dar.

(B) Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 10.04.2003 Zweitens. Die Positivliste verursacht einen immensen (D) bürokratischen Aufwand, dem kein entsprechender Nut- Schmidt (Eisleben), SPD 10.04.2003 zen gegenüber steht. Überflüssige Kosten: mindestens Silvia 540 000 Euro jährlich. Thiele, Carl-Ludwig FDP 10.04.2003 Drittens. Die Positivliste gefährdet die Therapiefrei- Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 10.04.2003** heit im Bereich der Arzneimittel und belastet das Ver- DIE GRÜNEN trauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Dr. Zöpel, Christoph SPD 10.04.2003** Viertens. Die Positivliste führt zu sozialen Härten, weil ausgegrenzte Arzneimittel von den Patienten zu hundert Prozent aus der eigenen Tasche bezahlt werden müssen. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Fünftens. Positivliste ist medizinisch nicht zu verant- ** für die Teilnahme an der 108. Jahreskonferenz der Interparlamenta- worten, denn in letzter Konsequenz bedeutet sie verbind- rischen Union liche Therapiestandards, obwohl es den Standardpatien- ten nicht gibt. Sechstens. Die Positivliste ist angesichts der Komple- Anlage 2 xität des deutschen Arzneimittelmarktes nicht in der Zu Protokoll gegebene Rede Lage, ein medizinisch verantwortbares Abbild der Mög- lichkeiten der Arzneimitteltherapie zu gewährleisten. zur Beratung über den Entwurf eines Gesetzes über die Verordnungsfähigkeit von Arzneimit- Siebtens. Die Positivliste stellt den Stellenwert der teln in der vertragsärztlichen Versorgung (Ta- Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen infrage, indem sie diese für die Behandlung der Patienten so gesordnungspunkt 17) wichtigen Arzneimittel stigmatisiert. Dr. Dieter Thomae (FDP): Der Gesetzentwurf zur Kurzum: Die Liste steht einer effektiven und effizien- Einführung der Positivliste, der uns heute beschäftigt, ten Arzneimittelversorgung entgegen und ist ordnungs-, passt in die Reihe dirigistischer Kostendämpfungsmaß- innovations- und industriepolitisch im höchsten Maße nahmen, die das Ministerium in der letzten Zeit ergriffen bedenklich. Das beweisen nicht zuletzt die zahlreichen hat und wie sie jetzt von der Rürup-Kommission als So- Hilfe suchenden Schreiben, die wir von Patienten erhal- fortmaßnahmen vorgeschlagen werden, weil die Kom- ten, die ihr Präparat auf der Positivliste nicht mehr wie- mission sich um ihre eigentliche Aufgabe gedrückt hat, derfinden. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 44 ISSN 0722-7980