Zum 90. Geburtstag von Das Wort, Hilde Domin am 27. Juli das Wirklichkeit sucht

Wolf Scheller

Man hat sie eine Lyrik-Klassikerin ge- Mit ihrem Freund und späteren Ehe- nannt. Aber vor ihrem vierzigsten Le- mann, dem Kunsthistoriker Erwin Walter bensjahr hat Hilde Domin kein einziges Palm, emigrierte sie schon 1932 zunächst Gedicht geschrieben. Das Schreiben be- nach Rom, promovierte in Florenz über gann später. Die Jahre des Exils in Eng- die Staatstheorie in der Renaissance und land und in der Dominikanischen Repub- brachte schließlich auch ihre Eltern dazu, lik lagen hinter ihr. Aus der Kölner Jüdin rechtzeitig illegal nach Holland auszu- Hilde Palm war die Schriftstellerin Hilde wandern. Die Flucht vor dem Nationalso- Domin geworden. zialismus zwang sie zu einer abenteuer- Im Gespräch sagte sie einmal: „Seither lichen Odyssee, die sie in der Folge über ist Schreiben für mich wie Atmen: Man Paris und London schließlich nach Santo stirbt, wenn man es lässt . . .“ Es war die- Domingo führte, von wo sie erst 1954 ser leicht pathetische Bekenntniston, der wieder nach Deutschland zurückkehrte. gelegentlich auch die Freunde der Domin Der kürzlich verstorbene Heidelberger irritierte. Aber sie hat ihr literarisches Philosoph Hans-Georg Gadamer hat Credo immer wieder zu Gehör gebracht, Hilde Domin als „Dichterin der Rück- die Wiederholung nicht scheuend, viel- kehr“ bezeichnet. Das mag ihr selbst auch leicht am deutlichsten in ihrer Dankes- eine sympathische Metapher gewesen rede zur Verleihung des Nelly-Sachs- sein. Doch bei Licht betrachtet, ist Hilde Preises 1983. Aber was sie sich unter der Domin damals vor ihren Landsleuten ge- Verteidigung oder Wiederbelebung der flohen, nicht vor ihrer Sprache. In der hat Lyrik vorstellte, sagte sie schon in ihren sie sich immer aufgehoben gewusst. 1966 zum Buch zusammengefassten Dop- Nicht von ungefähr war sie als Lektorin pelinterpretationen. Zuvor war – 1959 – ihr für Deutsch an der Universität von Santo erster Gedichtband Nur eine Rose als Stütze Domingo tätig. Damit verdiente sie den erschienen. Und Walter Jens meinte da- eigenen und den Lebensunterhalt ihres mals, das Bild der Rose stehe für die deut- Mannes. sche Sprache, an die sich die Dichterin in Zur Lyrikerin wurde sie nach dem den Jahren des Exils habe klammern kön- Tod ihrer Mutter 1951. Sie begann mit nen. Widersprochen hat sie dieser Inter- dem Schreiben, ihr Mann ärgerte sich da- pretation nicht. rüber, aber sie ließ sich von dem einmal Hilde Domin hatte Ende der zwanzi- eingeschlagenen Weg nicht abbringen. ger Jahre in Jura, Soziologie Sie schrieb Gedichte, knapp und präzise: und Politik studiert. Ihr Vater hatte ihr „Gewöhn dich nicht. / Du darfst dich gesagt, er habe sich nie zuerst als Jude, nicht gewöhnen. / Denn eine Rose ist sondern immer als Deutscher betrachtet. eine Rose. / Aber ein Heim ist kein Die Tochter hörte sich die Tiraden Hitlers Heim. // Sag dem Schoßhund Gegen- aus der Nähe an und wusste Bescheid. stand ab / der dich anwedelt / aus den

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Schaufenstern / Er irrt. Du / riechst Gesellschaft“ beschrieb sie die Position nicht nach Bleiben.“ des Lyrikers als die eines „Widerständ- Rückkehr der Schiffe von 1962 und Hier lers“, der sich „auf der Kippe zweier Ge- von 1964 umkreisten die Erfahrung der sellschaftsstrukturen [befindet], Aus- eigenen Sprachodyssee. Höhlenbilder von schau haltend nach einer dritten“. 1968 und Ich will dich (1970) zeigten, wie Die Schülerin von und Hilde Domin zunehmend an Fragen der Karl Mannheim bewahrte sich ein intensi- Entwicklung der Gesellschaft interessiert ves Interesse für Politik, auch einen Sinn war, wie sie aber auch Vollkommenheit für den Widerstand. Ihre Lyrik umarmt im Einfachen suchte, wie sie Genauigkeit die Welt und formuliert zugleich gegen und Alltagsnähe der Sprache zusammen- das Vergessen. Ihre Poetik-Vorlesung an zubringen verstand. der Frankfurter Universität, für die Karl So konnte sie in der 68er-Zeit, als Lyrik Krolow zum Motto „Das Gedicht als Au- verpönt war, ganz bewusst auch ein nicht genblick der Freiheit“ gewählt hatte, ver- intellektuelles Publikum ansprechen. führte sie auch zur Auskunft über ihr ers- Und in ihrem Essay „Wozu Lyrik heute? tes Gedicht: „Es passierte, wie wenn einer Dichtung und Leser in der gesteuerten überfahren wird. Oder wie Liebe...“

Hilde Domin bei einer Lesung in Köln 1994. Foto: Harald Odehnal ACDP

Die politische Meinung Seite 95