Hundert Jahre "Neue Tonhalle" in Zürich : Notizen zur Musikgeschichte Zürichs

Autor(en): Briner, Andres

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Schweizer Monatshefte : Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur

Band (Jahr): 75 (1995)

Heft 10

PDF erstellt am: 24.09.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-165467

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Andres Briner, geboren 1923 In Zürich, lehrte nach seiner Promotion mit einer musikwissenschaftlichen Arbeit einige Jahre an der University of Hundert Jahre «neue Tonhalle» in Zürich

Pennsylvania in Philadelphia Notizen Zürichs und übernahm nach zur Musikgeschichte seiner Rückkehr in die Schweiz die Musikredaktion Vier Tage lang fanden im Oktober 1895 Einweihungskonzerte der 'Neuen Zürcher statt. Johannes Brahms spielte und dirigierte; Friedrich Hegar Zeitung'. Seit dem Rücktritt hatte eine Festouvertüre sein Orchester als Feuilletonredaktor für komponiert. (1988) ist er für Seit 100 Jahren nun ist die Zürcher Tonhalle der berühmteste mehrere musikwissenschaftliche Konzertsaal der Schweiz. Hier wurde Musikgeschichte und musikalische geschrieben — schweizerische und europäische. Publikationen tätig.

L/ie früheste Zürcher «Tonhalle» zerin der grössten Musikbibliothek in der stand auf dem heutigen Sechse- Stadt, als auch die erst acht Jahre alte läutenplatz und war nicht für Töne und Tonhalle-Gesellschaft wie die wichtigsten Chöre schon gar nicht für Musik gebaut. Dieses und die Schulsynode waren vertreten. notdürftig umgebaute «Kornhaus» war Noch wichtiger wurde in den 1870er zwar, als die Seelandschaft und dann auch Jahren allerdings die Errichtung des neuen die von Bürkli gebauten Quaianlagen Konzerthauses, das in Anlehnung an das immer beliebter wurden, zu einem Mittelpunkt umgebaute Kornhaus den Namen der Erholung für die Zürcher «Tonhalle» erhalten sollte. Man diskutierte in geworden, aber seine Akustik muss sehr Zürich verschiedene mögliche Standorte; schlecht gewesen sein. Der 1841 in Basel man dachte an einen Neubau auf dem geborene Friedrich Hegar, der von 1863 an alten Tonhalleplatz, wo auch ein als Konzertmeister des Zürcher Orchestervereins Grossprojekt für eine Verbindung von Theater- und dann als erster Kapellmeister und Konzerthaus, aber noch vor dem Bau des Tonhalle-Orchesters wirkte, schilderte des Stadttheaters, bestand. Die «Neue sie als miserabel. Zürcher Zeitung» setzte sich als einzige Allerdings war Hegar, Chefdirigent der Zeitung, wahrscheinlich weil persönliche Tonhalle-Gesellschaft zwischen 1868 und Verbindungen zum Vorstand der Tonhalle 1906, einer der eifrigsten, die sich für den bestanden, für einen Exklusivneubau der Bau einer neuen, einer eigentlichen «Tonhalle» Tonhalle ein. einsetzten. Er fühlte sich richtigerweise Der damalige Präsident des Tonhalle- berufen, das erste ständige Orchester Vorstands, Karl Keller, liess mitten in den Zürichs in eine professionelle Ära zu führen, Auseinandersetzungen, im Jahr 1873, eine und er wusste, dass dies nur in einem Broschüre erscheinen, die seine expansiven richtigen Konzertbau möglich sein würde. Vorstellungen bekannt machte. Diese Er war sich auch bewusst, dass in Zürich kompakte Schrift, «Einige Gedanken betreffend ein Konservatorium fehlte, das die Zukunft der zürcherischen Berufsmusiker, und damit auch Orchesterspieler, Tonhalle, zur Beherzigung mitgeteilt» bricht ausbilden konnte. So gehörte Hegar zu den eine Lanze für einen Konzertsaal für Gründern der ersten städtischen Musikschule, dreitausend Hörer. Keller dachte an einen Neubau die 1876 ihre Tätigkeit an der Napfgasse in den Anlagen hinter dem Stadthaus, aufnahm. Die Zusammensetzung des in der Gegend des Schanzengrabens. Seit Verwaltungsrats zeigte die enge Verflechtung dem Abtrag der Schanzen war diese von Ausbildung und professioneller Gegend noch wenig in die Planung einbezogen Darbietung, denn sowohl die Allgemeine worden. Ein grosser Pavillon sollte den Musikgesellschaft, damals noch die Besit¬ Restaurationsbetrieb beherbergen, auf den

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keines der vielen Projekte verzichtete. In für noch nicht gelöst. Man holte auf den Erwartungen auf das kommende, Wunsch der «Quai-Direktion» ein «finanzielles eigentlich erst werdende Zürcher Gutachten betreffend die neue Konzertpublikum gingen die Schätzungen weit Tonhalle in Zürich» ein, das bald vorlag. Die auseinander; nicht alle waren so beherzt Einschaltung der Quai-Behörde, der die wie die von Karl Keller. gesamte bauliche Entwicklung am See Übereinstimmung bestand in der oblag, erwies sich als glücklich. Diese Vorstellung, dass die damals aktiven Behörde, der vor der Eingemeindung von Oratorienchöre einen wichtigen Teil der Hörer Enge und Riesbach in die Stadt (1893) ausmachen würden. Der Zeitpunkt für die eine Schlüsselstellung zukam, untersuchte Planung einer neuen Tonhalle war insofern in Zusammenarbeit mit dem Tonhalle- günstig, als in den siebziger und achtziger Vorstand alle Gelände, die in Frage kamen. Jahren die Entwicklung der Orchester Man einigte sich nach gründlichem zu ihrer mittel- und spätromantischen Studium der landschaftlichen, verkehrspraktischen Grösse schon feststand. Friedrich Hegar und finanziellen Aspekte auf den selber, mit den Werken seines Freundes Standort am linken Seeufer, ausserhalb des Johannes Brahms vertraut, machte als Schanzengrabens, der heute noch, innerhalb Komponist bei der farblichen Ausdehnung des der Stadt, der Enge zugehört. Mit den Werken Orchesters mit. Zwar konnte man sich Zwar war so die Standortfrage gelöst, damals noch nicht die Expansionen der seines Freundes aber der Charakter des Baus war noch Orchester der «Neudeutschen», allem nicht entschieden. Das 1889 wurde in vor von Johannes Brahms Jahr Richard Strauss vorstellen, aber man dachte der Tonhalle-Frage ein «heisses». Die Stadt glücklicherweise nicht in feststehenden vertraut, machte Zürich, die den Tonhalle-Vorstand zur Grössen, sondern in Entwicklungen, in die Friedrich Hegar Eile bewegen wollte, kündigte im August man, etwas überproportioniert, auch die den Mietvertrag für das Areal des alten als Komponist Chöre einbezog. Für sie wollte man gute Tonhalleplatzes, des heutigen Sechseläu- Probenräume schaffen. Diese Chöre zeichneten bei der farblichen tenplatzes. Die Quai-Verwaltung war im auch Aktien der Tonhalle-Gesellschaft Oktober bereit, den Platz in der für Ausdehnung des Enge und waren selbstverständlich in den vorbestimmten Zweck zu verkaufen. Orchesters mit. ihrem Vorstand vertreten. Aber die mit der Quai-Verwaltung eng Eine dämpfende Wirkung hatte der verbundene Stadt hatte von ihrer Finanz- und Umstand, dass man in den achtziger Jahren Baukommission ein Gutachten verlangt, in Zugzwang geriet. Die damals noch das beschreiben sollte, wie eine Tonhalle selbständige Gemeinde Enge wollte zu gestalten sei. Offenbar sah die Stadt Gebrauch davon machen, dass im Quai-Vertrag Zürich schon damals die zu gewährende von 1881 eine Konzertinsel im Unterstützung, wenn auch nicht ihre Seegebiet vorgesehen war. Die Gemeinde sah Höhe, voraus. Erst seit sechs Jahren hatte darin eine gute Gelegenheit, auf eigene Art sich die Stadt mit der Tonhalle wirtschaftlich ihren Seeanstoss zu nutzen und auch zu befassen. die Zürcher auf ihre eigene Halbinsel zu In einem Schreiben der Tonhalle-Gesellschaft locken. So musste der Tonhalle-Vorstand, vom 12. November 1889 an die der in der Quai-Kommission vertreten Stadt kommt ein Malaise zum Vorschein. war, handeln. Er schrieb 1887 einen als Die Tonhalle befürchtete, durch den Vertrag «Ideenconcurrenz» bezeichneten Wettbewerb mit der Quai-Verwaltung in ein für eine Tonhalle aus. Zwei Projekte, Abhängigkeitsverhältnis zu geraten. Bis jetzt eines aus Paris und eines aus Berlin, liefen sei die Gesellschaft «in dem ihr zur ein; charakteristischerweise waren beide Verfügunggestellten Gebäude Meister» gewesen Projekte für Konzerthallen ohne besondere (das konnte nicht stimmen, denn im Probemöglichkeiten für Chöre und «Kornhaus» rissen die Klagen über Störungen damit ohne die schweizerische Eigenheit. nicht ab). Zwar sahen die Verantwortlichen Diese Projekte wurden nicht berücksichtigt. der Tonhalle damals in keiner Weise die Subventionen und zukünftigen Ein später, aber richtiger Entscheid Abhängigkeiten des 20. Jahrhunderts voraus, aber sie waren sich im klaren darüber, dass Offenbar scheute man sich auch vor zu eine neue Zeit anbrechen werde. Der hohen Kosten und hielt die Standortfrage Tonhalle-Vorstand gab anmassend an, «eine

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Heimstätte für die wahre musikalische Neue Jonhalle in Zürich, In den Jahren 1890 und 1891 fielen Kunst» errichten zu wollen. Insgeheim Hauptansicht. Quelle: weitere Entscheide. Nachdem in der Nacht wusste er, dass eine solche ohne Baugeschichtliches vom 1. auf den 2. Januar das bisherige Restaurationsbetrieb trotz starker Abstützung Atelier der Stadt Zürich. Musiktheater Zürichs, das «Aktientheater» durch die Chöre nicht zu erreichen sei. an der untern Zäune, niedergebrannt war, Aber er warf der Stadt vor, sie ziele zu sehr willigten die Aktionäre des Theaters auf die Schaffung von «Vergnügungslokalitäten». erstaunlich schnell, am 18. Januar, in die Erhöhung des Aktienkapitals und einen Dieses Argument verdient, betrachtet zu Neubau ein. In diesem Jahr 1890 wurde werden. Es bezeichnet den Punkt gegen die Eingemeindung von 1893 spruchreif; Ende des 19. Jahrhunderts, an dem ernste sie sah ausser der Enge und Riesbach auch Musik, sogenannte E-Musik, sich endgültig minderbemittelte Gemeinden, vor allem vom blossen Vergnügen absonderte. Wiedikon und Aussersihl vor. Allgemein Vorbei war die Zeit der Ländler, Polkas sah man nach der Eingemeindung eine und Walzer, welche, neben wichtigeren Verschiebung der Ausgabenpolitik der Vorhaben, eine breite Hörerschaft beim Stadt voraus. Die Sozialausgaben, vor geselligen Umgang oder auch bei einem allem für die neuen Gemeinden, würden Glas Bier erheitern konnten. Allerdings kräftig steigen, und für kulturelle Anliegen wurde auch die Tonhalle am damaligen würde weniger Geld verfügbar sein. Alpenquai, dem heutigen Mythenquai, mit Sowohl die Stadt wie die Tonhalle- Man einem dem Pariser Trocadero nachgebildeten warf Gesellschaft sahen in schnellem Handeln Pavillon gebaut, in dem der Stadt vor, zu später Stunde einen Ausweg. Nachdem Unterhaltungskonzerte stattfanden und in dem sich Stadtbaumeister Geiser auch für den ge- sie ziele wirtet wurde. Aber diese «unterhaltende» Standort Alpenquai ausgesprochen hatte, Funktion der Tonhalle-Gesellschaft wurde zu sehr auf die beschloss eine Gemeindeversammlung am anlässlich des nun, Neubaus, von den Schaffung von 12. Juli 1891 eine jährliche Subvention Spitzen des Vorstands abgewertet. Man an die Tonhalle von Fr. 300 000.- eine «Vergnügungs- zielte auf eine «Heimstätte für die wahre damals respektable Summe. Ein «Aufruf musikalische Kunst» — die nun als das lokalitäten». zur Gründung einer neuen Tonhalle-Gesellschaft» schlechthin Schöne, Wahre und Gute galt. tat das seinige dazu, um dem Diese ethische Sicherheit, doch wohl auch Bauvorhaben Sympathien zu verschaffen. diese Überheblichkeit, kam später, deutlich Da aber die Zeit drängte, einigte man nach dem Ersten Weltkrieg, wieder sich darauf, jene Wiener Firma Fellner und abhanden. Es ist vor allem das Verdienst Helmer anzufragen, die in einer Rekordzeit des Chefdirigenten , dessen das Stadttheater gebaut hatte. Von Büste im Vestibül steht, dass diese dieser in ganz Europa tätigen Unternehmung Klippe erfolgreich umschifft werden konnte man hoffen, sie werde das konnte. neue Konzerthaus in der nötigen Frist und

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unter Respektierung des Kostenrahmens zu den beiden Tonhallesälen schlechte erstellen. Allerdings musste die Firma, im Akustik hat auch andere Musikveranstaltungen Gegensatz zum Stadttheater, zuerst Pläne nicht ferngehalten. Ein kleiner zeichnen. Sie nahm Augenschein und Kammermusiksaal im Kongresshaus ver- hatte das Leipziger Gewandhaus als Vorbild grösserte damals das Zürcher Raumangebot. im Sinn. Im Sommer 1893 war das Baugespann errichtet, im Oktober 1895 konnte der neue Bau eingeweiht werden. Eine Konzertgesellschaft Dass, im Gegensatz zu anderen Projekten, für die Zukunft Hauptsaal (1440 Plätze), kleiner Saal (600 Plätze) und Pavillon (900 Plätze) auf Die Entwicklung der Tonhalle-Gesellschaft gleicher Ebene lagen und für Festlichkeiten seit 1895 wäre nicht verständlich ohne zusammen benützt werden konnten, jene Zürcher Traditionen und Gegebenheiten, wurde begrüsst. Verbindungsgang und welche das Zürcher Musikleben bis kleiner Saal konnten und können zur dahin mitformten. Im neuen Haus am Erweiterung des grossen Saals genützt werden. Alpenquai blieben die «Gründerchöre», Während Hans Es bestand damals kein Bedarf zur die den Neubau mitgetragen hatten, lange Abhaltung von Konzerten gleichzeitig im Georg Nägeli auch mitbestimmend. Friedrich Hegar war und im kleinen Saal. Diese Idee nicht und sondern grossen noch Männer- nur Geiger Dirigent, wurde später einmal geprüft, liess sich aber auch Komponist und als solcher ein Frauenstimmen nicht verwirklichen. und unvergessener Schöpfer von Chorballaden —

Vier Tage lang fanden im Oktober 1895 nebeneinandergestellt, ein Genre erzählerischer Musik, der die Einweihungskonzerte statt. Hegar hatte damals sehr beliebte Balladendichtung eine Festouvertüre für sein Orchester mit dem Männerchor zusammenbrachte. komponiert; Johannes Brahms spielte und für jedes Diese Chorballaden ohne Instrumentalbegleitungen Texten allem dirigierte; Hegar gab Aufführungen von Geschlecht einen mit vor von Beethovens Neunter Sinfonie. Bald Johann Viktor von Schefjel, Friedrich Rohrer, bewies der Neubau seine Zweckmässigkeit. gleichwertigen Johann Viktor Widmann, Gottfried Keller, Die «Gründerchöre» verlegten ihre Tätigkeit Chor geschaffen Theodor Körner, Conrad Ferdinand dorthin, die Pestalozzi-Gesellschaft Meyer und Eduard Mörike symbolisieren hatte, verlagerte Zürich nahm die Gelegenheit wahr, um die Phase des in der Stadt dominierenden mit Vorträgen und einer Bibliothek sich, je stärker Männerchors. Während Hans Georg Nägeli volkstümlich bildend zu wirken, und nicht das patriotische noch Männer- und Frauenstimmen zuletzt verlockte der Pavillon mit seinem nebeneinandergestellt und für jedes französisch angelegten Garten und seinem Element wurde, Geschlecht einen gleichwertigen Chor eleganten Restaurant die Zürcher der das Interesse geschaffen hatte, verlagerte sich, je stärker Jahrhundertwende einem Besuch. das Element wurde, das zu auf die patriotische Der Neubau hinter den zwischen 1882 Interesse auf die Männerchöre. Als, in und 1887 erstellten Quaianlagen war 1895 Männerchöre. Fortsetzung von Nägelis Gründung, 1876 der schon nicht mehr allein. Ende 1893 waren Männerchor Zürich sein Geburtstagsfest das «Weisse» und das «Rote Schloss» gegen feierte, war diese Formation das dominante die Enge zu gebaut (das rote steht heute Vokalensemble geworden, und Männer noch); zwischen den beiden «Schlössern» planten und regierten denn auch das entstand, die Lücke füllend, zwischen Schicksal der Tonhalle-Gesellschaft und 1896 und 1900 die Galerie Henneberg; des neuen Baus. Wohn- und Geschäftshauskomplexe am Dieser patriarchalen Sphäre entsprach Stadthausquai machten die Gegend belebter. auch der Führungsstil von Friedrich Hegar. Diese bauliche Einheit wurde 1937 Er war ein strenger und guter Orchestererzieher, mit dem Abbruch des Pavillons der Tonhalle ein energischer und umsichtiger durchbrochen; es entstand bis 1939 Organisator, der zielbewusst Ausbildung das Kongresshaus, das bis heute eine und Beruf, vorbereitende Probe und fragwürdige Bauallianz mit den Tonhallesälen Aufführung aufeinander bezog. abgibt. Indessen ist zur Zeit des Umbaus Hegar führte nicht nur Briefwechsel mit des Opernhauses der Kongresshaussaal seinen Musikerkollegen, sondern auch mit auch für konzertante Opernaufführungen Gottfried Keller, Conrad Ferdinand eingesetzt worden, und seine im Gegensatz Meyer, Friedrich Nietzsche und Carl Spitte-

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1er, mit dem Literaturhistoriker Rudolf Nach dem Krieg wandelten sich die Hunziker, mit der Familie Reinhart in Ansprüche an Komponisten; der neuromantische Winterthur und mit zahlreichen Musikern, Gestus verblasste, und eine härtere, Sängern und Instrumentalisten, die er für zwar ironischere, aber unsicherere Zeit zog Zürcher Konzerte einladen wollte (und herauf. Mit Gustav Mahler, richtig erst teilweise auch konnte). Bereits 1865 nach seinem Tod (1911) in der Schweiz vermochte Hegar Johannes Brahms für ein bekannt, dann mit Béla Bartók, Zoltân Konzert zu gewinnen. Brahms dirigierte Kodâly, Igor Strawinsky, Arnold Schönberg, seine D-Dur-Serenade und spielte Alban Berg und Paul Hindemith waren solistisch Bachs Chromatische Phantasie und Musiker aufgetreten, die neuen Vorstellungen mit dem Orchester Schumanns a-moll- folgten. Andreae korrespondierte Klavierkonzert. Es folgten einige weitere mit den meisten von ihnen, zusätzlich mit Zürcher Gastkonzerte mit Brahms, die Schweizer Musikern wie Hans Huber, letzten im Oktober 1895 zur Einweihung Hermann Suter und Willy Burkhard. Andreae des Tonhallebaus. Während Brahms wandte sich 1926, an einem Fest der eben damals sein «Triumphlied» selbst leitete, erst gegründeten Internationalen Gesellschaft finden in diesem Oktober Festkonzerte mit für Neue Musik, Arthur Honeggers Die Zürcher dem gleichen Werk unter der Leitung von «König David» zu und bewies auch sonst statt. Erstaufführung viel Geschick im Umgang mit Neuem. Wo Jene Stabilität, die Hegar in über vierzig Andreae nichts vermochte, oft von Schönbergs sprangen Jahren in der «neuen» Zürcher Tonhalle Gastkonzerte ein. So fand die Zürcher aufrechtzuerhalten wusste, vermochte «Pierrot Lunaire», Erstaufführung von Schönbergs «Pierrot der zweite Chefdirigent, Volkmar Andreae, einem damals Lunaire», einem damals heiss umstrittenen in den dreiundvierzig Jahren zwischen Stück, in einem Konzert des «Vereins heiss umstrittenen 1906 und 1949 fortzusetzen. Andreae war für musikalische Privataufführungen in bereits 1902 zum Dirigenten des Stück, fand Wien» im Dezember 1922 im Kleinen Saal Gemischten Chors der Tonhalle Gastkonzerte des gewählt worden; 1903 1922 im Kleinen statt. Ko- begann er, neben Carl Attenhofer, auch den lisch-Streichquartetts waren ebenfalls Männerchor zu leiten, den er 1904 Saal der Tonhalle Pionierleistungen. übernahm. Man sieht: Auch Andreaes Wirken statt. In der Zeit der beginnenden Avantgarde stand im Zeichen der patriarchalen Ära, blieb aber die wachsende Distanz zwischen die um 1950, zur Zeit seines Rücktritts, Kompositionsalter und Aufführungsdatum allerdings zu Ende ging. Zu den vielen nicht ohne Folgen. Bis um 1900 lag guten Seiten des ausgesprochen weit- und fast überall, so auch in Zürich, das zukunftsoffenen Andreae zählten das Durchschnittsalter der aufgeführten Kompositionen Verantwortungsgefühl seinem Orchester zwischen dem Todesjahr Beethovens gegenüber. Er sass vor Beginn der Proben (1827) und der Gegenwart. In andern meist bereits an seinem Dirigierpult, unterhielt Worten: Die Wiener Klassiker und die sich mit den einziehenden Musikern Romantiker überwogen; Barockmusik wurde und sprach in ihnen die individuellen wenig gespielt. Dann aber hielt die Musiker an. Programmierung gesamthaft immer weniger Auch Andreae war, im Stile seiner Zeit, Schritt mit der Entwicklung der Komposition, kompositorisch tätig, unternahm aber und zugleich verlängerte ein Einbezug wenig, um seine Kompositionen in Zürich barocker Musik die durchschnittliche durchzusetzen. Der Andreae-Nachlass im historische Distanz. Die kompositorisch Stadtarchiv Zürich birgt noch Ungehobenes. neue Musik geriet mehr und mehr in den Indem Andreae in der Zeit des Ruf, nicht «verständlich» zu sein — eine Ersten Weltkriegs den nach Zürich emigrierten Situation, die bis heute nicht überwunden ist. Komponisten und Pianisten Ferruccio Lebhafte Diskussionen wurden und Busoni für ganze Reihen von Gastkonzerten werden innerhalb und ausserhalb des einlud, erkannte er die höhere Tonhalle-Vorstands und der Tonhalle-Gesellschaft Begabung Busonis für die Komposition. Er geführt, um den besten Weg zu war auch überzeugt von der Bedeutung finden, Tradition und Revolution, Weiterbau Max Regers, den er vielfach, als Dirigent, und Umbruch zu versöhnen — oder doch Komponist und Organist, nach Zürich in sinnvolle Beziehung zueinander zu einlud. setzen. Der Wunsch, eine Konzertgesellschaft

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für die Zukunft zu sein, muss sich, neben (von 1957 an als Chefdirigent) einen materiellen Erwägungen, an dieser wichtigen ausgeprägten Charakter zu geben. Es ist Frage bewähren. Der Vorstand der durchaus möglich, dass mit DavidZinman Gesellschaft ist bis heute so zusammengesetzt, von diesem Jahr an eine analoge Phase dass die Subventionsgeber, Kanton beginnt. und Stadt Zürich, aber auch das Personal, Die Tonhallekonzerte sahen sich neben den von der Gesellschaft gewählten damals, in den fünfziger Jahren, voll mit den Mitgliedern vertreten ist. Das Verhältnis Ansprüchen der zweiten Nachkriegszeit hat sich über die Jahre und ungefähr im konfrontiert. Sie waren nun nicht mehr Verhältnis der Subventionshöhen verschoben; die einzigen Veranstalter von Orchesterkonzerten heute (1995/96) werden neben dem in der Stadt. Die Klubhaus- Präsidenten (Dr. Peter Stüber) sieben Konzerte, die nie ein eigenes Orchester Mitglieder von der Gesellschaft, zwei vom durchzuhalten hatten und berühmte Kanton, sieben von der Stadt und zwei Gastorchester einladen konnten, wurden zur vom Personal gewählt. Sieben unter diesen Konkurrenz. Das von Paul Sacher geleitete viva»- neunzehn Mitgliedern bilden einen «Vor- «Musica Collegium Musicum Zürich bereicherte stands-Ausschuss». Konzerte seit 1941 das Zürcher Konzertleben in der Um einem breiteren Publikum Tonhalle; es neben vielen andern Zugang verkörperten wartete, zu Tonhallekonzerten zu ermöglichen, Ur- und Erstaufführungen, 1946 mit der führte man «Populäre Sinfoniekonzerte» in den fünfziger Uraufführung der «Metamorphosen» von ein, die später in die von der Stadt Zürich und sechziger Richard Strauss auf. Andere Kammerorchester besonders subventionierten «Volkskonzerte» traten auf und erweiterten das Jahren den mündeten. An diesen Anlässen konnte Zürcher Spektrum. Die Schweizer Musiker man einerseits mehr experimentieren als in fortschrittlichen sahen sich, ebenso wie die Schweizer den Abonnementskonzerten, andererseits Geist der konzertgebenden Unternehmen, einem mehr Hörer zu geringeren Preisen mit den erhöhten Druck aus dem Ausland ausgesetzt. Hauptwerken von Klassik und Romantik damaligen Der 1895 in Graz geborene Hans bekanntmachen. Nach dem Zweiten Weltkrieg Avantgarde. Rosbaud wurde 1921, nach einem entstanden, in einer gewissen Kompositionstudium bei Bernhard Sekles, Direktor Anlehnung an München, 1955 die «Musica der neugegründeten städtischen Musikschule viva»-Konzerte, die ganz der Gegenwartsmusik in Mainz und Dirigent der dortigen gewidmet waren. Sie verkörperten Sinfoniekonzerte. Nach verschiedenen in den fünfziger und sechziger Jahren den Wirkungsorten, vor allem München und fortschrittlichen Geist der damaligen Baden-Baden, kam Rosbaud nach Zürich. Avantgarde, hatten aber immer um ein In seinen «Musica viva»-Konzerten machte genügend grosses Publikum zu kämpfen. das Tonhalle-Orchester, wohl mehr noch Die sich wandelnden Zeiten waren und als das hörende Publikum, eine unvergess- sind mit den Vorstellungen und Fähigkeiten liche Entwicklung durch. Mit einem der Chefdirigenten verknüpft. vorzüglichen Ohr ausgestattet, gelang es (Nach 1962, nach dem Hinschied von Rosbaud, ein transparentes Orchesterkolorit , vermochten die sich schnell zu erreichen, in dem Klangfarben ihren ablösenden Chefdirigenten Rudolf Kemp e, Eigenwert zurückgewannen. Seine Schule , , Christoph des Hörens wurde, indem er sich immer Eschenbach und nur für wieder neuen Werkkreisen zuwandte, je einige Jahre in Zürich zu halten oder, auch eine Schule der Interpretation. Ein von der andern Seite gesehen, sich mit Gustav-Mahler-Zyklus zwischen 1960 und Zürich abzufinden.) Der direkte Nachfolger 1962 erwies sich als eigentliche Öffnung von Andreae war , der auf dieses sinfonische Werk hin. Seine bei Arnold Schönberg studiert hatte; er Aufführungen der Wiener Klassiker, vor wurde sowohl in seinen innovativen Zügen allem Joseph Haydns, bleiben in ihrer wie in seinen dirigentischen Begabungen Verbindung von Konturierung und nicht voll erkannt und angenommen. Atmosphäre unvergessen. Als Rosbaud Hans Rosbaud, von Erich Schmid selbst zurücktrat — er starb 1962 in Lugano —, war ans Zürcher Pult gewonnen, vermochte für die Zürcher Tonhalle, wie nach dem dann noch einmal einer Epoche (man darf Abschied von Hegar und Andreae, eine sie so nennen), der von 1950 bis 1962 Glanzzeit vergangen.

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