Nach Kolonialakteuren benannte Straßen in Hamburg

Freie und Hansestadt Hamburg Behörde für Schule und Berufsbildung Landeszentrale für politische Bildung 1

Einleitung

eit Jahren versuchen die Black Community und andere zivilgesell- S schaftliche Organisationen für das Thema „koloniale Straßenna- men“ ein Bewusstsein in der Öffentlichkeit zu schaffen – und dies nicht nur in Hamburg. So zeigten z. B. der Verein Berlin Postkolonial e.V. und afrika-hamburg.de 2013 im Hamburger Kunsthaus die Wander- ausstellung „freedom roads! Koloniale Straßennamen . postkoloniale Erinnerungskultur“. (Siehe dazu unter www.freedom-roads.de) Außer- dem widmen sich entsprechende Stadtteilrundgänge und künstlerische Installationen diesem Thema. Und auch im politischen Raum wird über die nach Kolonialakteuren benannten Straßen debattiert. (Siehe dazu das Kapitel „koloniale Straßennamen“ von Frauke Steinhäuser.) Zu diesem Themenkomplex muss noch viel geforscht werden. Des- halb kann an dieser Stelle auch kein umfassender Überblick über alle Straßen vorgelegt werden, die in Hamburg nach Kolonialakteuren be- nannt wurden. HMJokinen hat unter Mitarbeit von Frauke Steinhäu- ser sechzehn ausführliche Biographien von Kolonialakteuren verfasst, nach denen in Hamburg Straßen heißen – Frauke Steinhäuser eine wei- tere. Des Weiterem sind hier Straßennamen aufgeführt, bei denen sich Hinweise auf koloniale Verbindungen zeigen. (Hier müsste zu dieser Themenstellung noch weiter geforscht werden). Im Internet unter „Koloniale Spuren im öffentlichen Straßenraum – Personen“ und unter www.freedom-roads.de werden noch weitere Hamburger Straßennamen aufgeführt, die nach Kolonialakteuren be- nannt sind. Siehe auch zu weiteren Straßennamen, die nach Männern benannt sind: www.hamburg.de/maennerstrassennamen/ 2

Hamburg und sein koloniales Erbe von Frauke Steinhäuser

b Dominikweg, O‘Swaldkai oder Schimmelmannallee, ob Wiß- O mannstraße, Woermannstieg oder Godeffroystraße – in Hamburg gibt es eine Vielzahl von Straßen und Plätzen, die nach Kolonialakteu- ren benannt sind. Nach Hamburger Kaufleuten, Bankiers oder Reedern zum Beispiel, deren wirtschaftlicher Erfolg auf Kolonialgeschäften be- ruhte. Auf majestätischen Viermastern ließen sie Zucker und Kakao, Kaffee und Gewürze aus fernen Ländern in den Hamburger Hafen bringen, in den prächtigen Backsteinhäusern der Speicherstadt lagern und in gemütlichen Kolonialwarenläden verkaufen. Mit den wohl ver- dienten Einnahmen errichteten sie sich dann imposante Landhäuser an der Elbchaussee oder Villen in Harvestehude und trafen sich zum Ge- schäfteanbahnen im Kaffeehaus um die Ecke von Rathaus und Börse. Eine romantische Geschichte, die jedoch ins Reich der Mythen gehört. Denn sie hat eine Schattengeschichte, eine, die mit Verdrängen und Vergessen einhergeht. Die Welt der Hamburger Kolonialkaufleute war alles andere als heil. Ihr wirtschaftlicher Erfolg beruhte in vielen Fällen auf der Aus- beutung unzähliger Menschen in Übersee, auf der Aneignung von gan- zen Landstrichen und auf Gewalt. Genau wie ihre Standesgenossen in England oder Frankreich machten sie dabei nicht nur Geschäfte. Sie waren überzeugt von der Überlegenheit der „weißen Rasse“, Afrikaner- innen und Afrikaner galten ihnen als kulturlos und mussten zivilisiert werden. Ebenso dachten die Offiziere, die in deutschen Kolonien Zivi- listen folterten und massakrierten, oder die „Forscherinnen“ wie etwa Amalie Dietrich und „Forscher“, die mit ihren Expeditionen weitere Inbesitznahmen in Übersee vorbereiteten. Der Kolonialismus war somit für einzelne Kolonialkaufleute nicht nur ein Wirtschaftsfaktor, sondern auch eine Geisteshaltung und ein Weltbild – das sich im Deutschen Kaiserreich mit dem zunehmen- den Streben nach Weltgeltung und nationaler Größe immer weiter ausbreitete und kaum auf Widerspruch traf. Vereinzelt gab es aller- dings durchaus öffentliche Kritik an den kolonialen Unternehmungen. SPD-Abgeordnete wie August Bebel oder Georg Ledebour setzten im 3

Reichstag der herrschenden Kolonialbegeisterung eine realistischere Sicht entgegen und prangerten die brutale deutsche Kriegsführung und „Ausrottung“ (so August Bebel) der Herero und Nama im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ (1904–08) massiv an. Kritik an dem deut- schen Vorgehen kam auch aus den Reihen der Zentrumspartei, und zwar von dem Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger, der sich damit gegen eigene Parteifreunde stellte.1 Kritik äußerten auch die Ko- lonisierten selbst – ganz offiziell zum Beispiel die Duala-Führer aus Kamerun, die Petitionen in deutscher Sprache an den Reichstag und Delegationen nach Berlin schickten. In Hamburg sind nach verschiedenen Hamburger Kolonialkaufleu- ten, „Eroberern“, Militärs und „Forscherinnen“ und „Forschern“ Stra- ßen benannt. Als „Menschenschinder“ hat das Hamburger Abendblatt manche dieser Kolonialakteure bezeichnet.2 Und die Hamburger Mor- genpost nannte diese Straßen „Straßen der Schande“.3 Straßen, die nach Personen benannt sind, ehren diese, geben ihnen einen bedeutenden Platz in der städtischen Erinnerungslandschaft. Bisherige Forschungen nennen für Hamburg über 100 Namen, die auf der Website des Ausstellungsprojekts „freedom roads!“ veröffentlicht sind.4 Von den hier nachzulesenden ausführlichen 17 Biografien sind manche von ihnen eingebunden in weltweit vernetzte Familien- und Handelsdynastien, deren Geschäftstätigkeiten vom 18. Jahrhundert bis in die heutige Zeit reichen. Auch liegt der Fokus bei den Biographien auf den kolonialen Aktivitäten der Protagonisten, die andere Biografen oft ausblenden- woran sich auch zeigt, dass biografische Geschichts- schreibung aktuelle Forschungsdiskussionen widerspiegeln kann. Das Verfassen der Biographien von Kolonialakteuren verlangt nicht nur das Finden, Deuten und gegen den Strich Lesen hiesiger, weißer Quellen. Genauso wichtig ist es, die Sichtweise von Menschen aus den kolonisierten Ländern gleichwertig einzubeziehen. Noch ein weiterer Aspekt muss berücksichtigt werden: Die in ko- lonialen Zusammenhängen ausgebeuteten, verfolgten, ermordeten Menschen waren nicht nur Opfer. Es gab auch entschiedenen Wider- stand, und auch dieser muss erforscht und erzählt werden. Es sind also komplexe Recherchen erforderlich, um die Aktivitäten der mit Straßen- namen geehrten Kolonialakteure in einen globalen wirtschaftlichen, kolonialpolitischen und militärischen Kontext stellen zu können. Diese wissenschaftliche Forschungsarbeit müsste für weitere Kolonialakteu-

Quellen: den 1870er bis in die 1930er Jahre, 2 Katja Engler: Menschenschin- 1 Vgl. Michael Schubert: Der Stuttgart, 2003; Frank Oliber Sobich: der als Namensgeber für Straßen, schwarze Fremde: Das Bild des „Schwarze Bestien, rote Gefahr“. in: Hamburger Abendblatt, 2.9.2013, Schwarzafrikaners in der parlamen­ Rassismus und Antisozialismus im Onlinefassung, URL: http://kurzurl. tarischen und publizistischen Kolo­- deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. net/CKbpM (letzter Zugriff 14.12.2014) nialdiskussion in Deutschland von M., 2006. 3 Malte Steinhoff: Das sind 4

re fortgesetzt werden, nach denen in Hamburg Straßen benannt sind. Für eine solche Arbeit braucht es ein Forschungsprojekt, das auch den Austausch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den ehe- mals kolonisierten Ländern ermöglicht. Noch ein Hinweis zur Schreibweise mancher Begriffe in diesem Kapitel, dem daran anschließenden Text von Ginnie Bekoe aus dem Beirat der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISDBund) sowie in den kolonial-biografischen Texten: „Schwarz“ ist stets groß geschrieben und weiß kursiv. Diese Schreibweisen sind üblich in der postkolonialen Fachliteratur. Sie sollen andeuten, dass „Schwarz“ und „weiß“ keine äußerlichen Zuschreibungen sind, sondern Konstrukte, und dass Weißsein ein Gewaltverhältnis markiert.

Alfred Graf von Waldersee, ein brutaler Militär Der Zeitraum, in dem die meisten vorhandenen Straßenbenennun- gen nach Kolonialakteuren erfolgten, reicht vom 19. Jahrhundert bis in die 1950er-Jahre. Dabei gibt es zeitliche Schwerpunkte. Eine erste Häufung findet sich kurz vor und im Deutschen Kaiserreich. Das ist nicht verwunderlich, „erwarb“ das Deutsche Reich doch ab 1884 eige- ne Kolonien, darunter unter anderem „Deutsch-Südwest-Afrika“ (heute Namibia), „Deutsch-Ostafrika“ (heute Tansania, Ruanda, Burundi), Kamerun, Kiautschou in China sowie Samoa und weitere Inseln im Pazifik. Im heutigen Hamburger Stadtteil Othmarschen beispielswei- se wurde noch zu Lebzeiten Alfred Graf von Waldersees (1832–1904); damals gehörte Othmarschen noch zu Altona/Preußen) eine Straße nach ihm benannt. Der Oberbefehlshaber der internationalen Truppen im „Boxerkrieg“ 1900/1901 wurde damit zwei Jahre nach der Verlei- hung (1896) der preußischen Ehrenbürgerwürde „in Anerkennung sei- ner in Krieg und Frieden um das Vaterland erworbenen Verdienst und seiner zum Wohle der Stadt Altona gewidmeten Anteilnahme“ sowie zwei Jahre nach der Verleihung der Ehrenbürgerwürde durch die Stadt Hamburg – weil er sich „im Interesse der Erhaltung des Weltfriedens“ verdient gemacht hätte – erneut geehrt. Dabei hatte er das geltende Völkerrecht ignoriert, war verantwortlich für zahlreiche Massaker am chinesischen Volk sowie für Plünderungen von chinesischem Kultur- gut gewesen. Der englische Historiker John C. G. Röhl bezeichnet ihn in seiner Biographie über Kaiser Wilhelm II. als „reaktionären Antise- miten“ und als „Kriegsbessenen“6, der sich gegen Bismarcks Politik des

Hamburgs Straßen der Schande, in: kolonialen straßennamen, s. URL: kolonierten Orten und Familien be­ Hamburger Morgenpost, 5.4.2011, http://www.freedom-roads.de/ nannt sind, nicht nur nach einzelnen Onlinefassung, URL: http:// frrd/staedte.htm (letzter Zugriff: Männern und Frauen. kurzurl.net/a5OZn (letzter Zugriff 14.12.2014) In den 100 Straßenna­ 5 Till Spurny: Die Plünderung von 14.12.2014) men sind auch Straßen aufgeführt, Kulturgütern in Peking 1900/1901, 4 freedom roads! städte mit die nach Ländern, Kolonialwaren, Berlin 2008; James L. Hevia: Krieg 5

Gleichgewichts der Mächte stellte und wusste, „(…) dass sich der von ihm befürwortete ‚Präventiv‘-Krieg Deutschlands und Österreichs ge- gen Frankreich und Russland fast zwangsläufig zu einem ‚Weltbrand‘ ausweiten könnte.“7

Kolonialhandelsherren Während Waldersee explizit für seine Rolle im kolonialen Zusammen- hang ausgezeichnet wurde, ist dies bei den Kolonialhandelsherren, nach denen in Hamburg Straßen benannt sind, nicht der Fall. Gewür- digt wurden sie beispielsweise für ihren unternehmerischen Erfolg, ihre Wohltätigkeit oder wegen ihrer politischen Ämter, die sie zum Bei- spiel als Bürgermeister oder Senatoren innehatten. Um welchen Preis jemand aber als Unternehmer so erfolgreich werden konnte oder wie das Vermögen zustande kam, dass es ihm ermöglichte, sich als wohl- tätig zu erweisen, wurde bei der Entscheidung zur Benennung solcher Straßen nicht hinterfragt – auch hier entsprechend dem damals herr- schenden Zeitgeist, bei dem die Stimmen der Mahner und Sozialkriti- ker gern ignoriert wurden, weil sie dem kapitalistischen Wirtschafts- denken entgegenstanden. Als erster Hamburger Großindustrieller etwa wurde Heinrich Christian Meyer, genannt Stockmeyer, mit einer Stra- ßenbenennung gewürdigt. Als patriarchalischer Fabrikbesitzer richtete er für seine Arbeiter zwar eine Krankenkasse ein, räumte ihnen an- sonsten aber wenig Rechte ein und zahlte Löhne am Rande des Exis- tenzminimums. Sein Geld verdiente er unter anderem mit der Herstel- lung von Spazierstöcken, deren Griffe aus Elfenbein bestanden – das in Afrika von fast immer versklavten Menschen in Elfenbeinkarawanen aus dem Landesinneren zu Fuß an die Küste gebracht wurde. Ein an- deres Beispiel ist Ferdinand Laeisz , Mitbegründer der Hapag-Reederei. Seine Schiffe brachten Baumwolle, Tabak und Reis von Plantagen, auf denen Versklavte oder Zwangsverpflichtete arbeiten mussten, und be- förderten aus diesen Rohstoffen hergestellte Waren in die umgekehrte Richtung.

Carl Hagenbecks rassistische „Völkerschauen“ Eine besondere Rolle unter den Hamburger Kolonialakteuren, nach denen Straßen benannt wurden, spielt Carl Hagenbeck. Heute vor al- lem als Zoodirektor bekannt, machte er sich zu Beginn des 20. Jahr- als Expedition. Die alliierten Berlin 2007, S. 123ff.; Susanne Kuß: Aufl., München 2001, S. 494. Truppen unter Alfred Graf von Deutsche Strafexpeditionen im 7 John C. G. Röhl, a.a.O., S. 615f. Waldersee, in: Mechthild Leutner, Boxerkrieg, in: Mechthild Leutner, Klaus Mühlhahn (Hrsg.): Kolonial­ a.a.O., S. 135ff. krieg in China. Die Niederschlagung 6 John C. G. Röhl: Die Jugend des der Boxerbewegung 1900–1901, Kaisers. 1859 bis 1888. 2. durchges. 6

hunderts einen Namen als Veranstalter von „Völkerschauen“, so die Historikerin Susanne Heyn, kommerziell ausgerichteten Zurschaustel- lungen von Menschen unter anderem aus Lappland und Dahomey in Afrika in Kulissen, die vermeintlich ihren heimischen Lebensumstän- den ähnelten. Die „Völkerschauen“ gaben „Menschen afrikanischer Herkunft durchaus Handlungsspielräume und ermöglichten ihnen die Migration nach Hamburg. Gleichzeitig aber wurden die Darstellenden zu Schauobjekten degradiert. Den Besucherinnen und Besuchern wur- de in Hamburg eine Welt voller Klischees über Afrika vermittelt, die wenig mit der Realität gemein hatte und sich nur zu gut in rassistische Denkmuster einpasste.“8

Umbenennungspläne in der NS-Zeit Eine weitere Häufung von Straßenbenennungen mit Kolonialbezug lässt sich in der NS-Zeit beobachten. Dazu gehörte die Tangastraße in Jenfeld, die an den Sieg der deutschen „Schutztruppe“ 1914 gegen britische Truppen in Tanga, im ehemaligen „Deutsch-Ostafrika“ erin- nern sollte. Vor dem Hintergrund der Pläne der Nationalsozialisten, die deutschen Kolonien in Afrika zurückzufordern und ein afrikani- sches Großreich („Deutsch-Mittelafrika“) zu errichten, entstand zudem Ende 1938 für Wandsbek eine lange Liste mit Namensvorschlägen für Straßenbenennungen, die explizit Bezug zu den einstigen deutschen Kolonien in Afrika hatten: Askaristieg, Kameruneck, Gustav-Nachti- gal-Straße, Karl-Peters-Straße, Lüderitzweg, Südwestkamp, Togoweg, Waterberg und Wißmannstraße.9 Der Zweite Weltkrieg verhinderte al- lerdings die Umsetzung dieser Pläne.

Kolonialverherrlichung in der Nachkriegszeit Nach der Befreiung Hamburgs durch die britische Armee im Mai 1945 sollten sämtliche politisch nicht mehr tragbare sowie sämtliche militä- rische Straßennamen ersetzt werden. Im Zuge dessen wurde die Wal- derseestraße in Lokstedt in Brunsberg umbenannt. Der Grund dafür war aber nicht Alfred Graf von Waldersees militaristische Biographie, sondern, dass im Stadtteil Othmarschen bereits eine Straße nach Wal- dersee hieß (die es heute noch gibt). Nach Kriegsende wurden alle Dop- pel- oder Mehrfachbenennungen von Straßen abgeschafft, die nach den Eingemeindungen im Zuge des Groß-Hamburg-Gesetzes 1937 aufgetre-

8 Susanne Heyn: Inszenierte 9 Kathrin Treins: Hamburgs „Ko­ Exotik, in: Rita Bake (Hrsg.): Ham­- lonialviertel“, Ausstellung freedom burg – Sansibar – Sansibar – Ham­ roads! burg: Hamburgs Verbindungen zu Ostafrika seit Mitte des 19. Jahrhun­ derts. Hamburg 2009, S. 89. 7

ten waren und die die Nationalsozialisten nicht mehr beseitigt hatten. Grundsätzlich stand Waldersee auf der Liste der Straßennamen, die beibehalten werden sollten, obwohl sie aus dem Militärzusammen- hang stammten. Denn die Walderseestraße und andere militärische Straßennamen waren bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus be- nannt worden. Sie gehörten deshalb „zur Geschichte“ und nicht in den Kanon der Straßen, die in der Nachkriegszeit deshalb umzubenennen waren, weil sie während der NS-Zeit benannt worden und nun nicht mehr tragbar waren.10 Auch in der Nachkriegszeit wurden weiterhin Straßen nach Kolo- nialakteuren benannt, und zwar auch hier viele davon in Wandsbek. Dazu schreibt die Afrikanistin Kathrin Treins: „So ehrt der Bezirk seit 1947 mit einem Dominikweg den berüchtigten Offizier Hans Domi- nik. 1950 wurde in Wandsbek die Wißmannstraße eingeweiht, die an den Kolonialgouverneur Hermann Wissmann11 erinnert. Zudem kam der Kolonialwissenschaftler Georg Schweinfurth 1951 in Tonndorf als ,Afrikareisender‘ zu Ehren. Weitere drei Straßen wurden nach dem Wandsbeker Schlossherrn Heinrich Carl Schimmelmann benannt, der sein immenses Vermögen als transatlantischer Menschenhändler machte. Nach Einzug der Bundeswehr 1958 erhielten sogar die Let- tow-Vorbeck- und die Estorff-Kaserne ihre Namen aus der NS-Zeit zu- rück.“12 Unter der britischen Besatzung Hamburgs hießen sie St Andrew‘s Barracks (nach dem Apostel Andreas) bzw. St Patrick‘s Barracks (nach dem irischen Nationalheiligen Patrick). Paul von Lettow-Vorbeck und Ludwig von Estorff waren Kommandeure der ehemaligen deutschen „Schutztruppe“ in der früheren Kolonie „Deutsch-Ostafrika“.

Blankenese, Harburg und der Hafen Weitere Hamburger Stadtteile, in denen überdurchschnittlich viele Ver- kehrsflächen nach Kolonialakteuren benannt wurden, sind Blankene- se, Harburg und das Hafengebiet. Blankenese, weil dort vermögende Reeder und Kolonialkaufleute wie Johan Cesar Godeffroy prachtvolle Landhäuser für sich bauen ließen; Harburg, weil es bereits 1860 – als noch zum Königreich Hannover gehörende Stadt – der größte deutsche Industriestandort für die Kautschuk- und Palmölverarbeitung war. Zu den Kolonialakteuren, nach denen im Bezirk Harburg Straßen benannt wurden, zählen die beiden Palmölfabrikanten Gottlieb Leonhard Gai-

10 StaH 133-1 II (Staatsarchiv Army oft the Rhine] Locations, he Rhine] LOcations, URL: www. Hamburg II) 36. URL: www.baor-locations.org/ baor-locations.org/StAndrewsBks. 11 Auf dem Straßenschild in Ham­ StPatricksBks.aspx.html (letzte aspx.html (letzte Aktualisie­ burg „Wißmann“ geschrieben. Aktualisierung 30.5.2012; letzter rung 30.5.2012; letzter Zugriff 12 Kathrin Treins, a.a.O.; „St. ZUgriff 25.12.2014); „St Andrew’s 25.12.2014) Patrick’s Barracks“, BAOR [British Barracks“, BAOR [British Army oft 8

ser und Friedrich Thörl sowie Heinrich Christian Meyer, dem mit der Harburger-Gummi-Kamm-Compagnie die erste deutsche Hartkaut- schukfabrik gehörte. Im Hafengebiet schließlich finden sich zahlreiche Straßen, die nach ehemaligen deutschen Kolonien heißen, in denen Hamburger Kaufleu- te Geschäfte machten: beispielsweise Kamerunweg (seit 1922), Kame- runkai (seit 1951), Am Kamerunkai (seit 1958) und Togokai (seit 1922) oder allgemein Afrikastraße (seit 1927) und Asiakai (seit 1888). Letzte- rer passt in die Reihe der Namen, die der damalige Hamburger Bürger- meister Johannes Versmann ab 1887 für neue Hafenanlagen vorschlug, um an die „überseeischen Handelsbeziehungen“ der Hansestadt zu er- innern: Afrikakai, Indiakai, Amerikahafen und Panamakai. Mit Aus- nahme des Asiakais wurde jedoch keiner dieser Vorschläge umgesetzt.

Nostalgisches Kolonialflair in der HafenCity Auf Versmanns Straßennamensliste standen allerdings nicht nur geo- grafische Namen, sondern ebenso die von „Weltentdeckern“. Auch das blieb damals Wunschdenken, weil es zu keinen solchen Straßenbenen- nungen kam. Mehr als hundert Jahre später wurde die Idee dann aber doch noch Wirklichkeit: in Hamburgs neuem Stadtteil, der HafenCity. Ob Magellan-Terrassen, Vasco-Da-Gama-Platz oder Marco-Polo-Ter- rassen – koloniale Welteroberer fanden im Hamburg des 21. Jahrhun- derts ihren Platz. Auf ihrer Website bezeichnet die HafenCity Hamburg GmbH sie als „große Entdecker“, die „symbolisch für die Erkundung weltweiter Handelswege stehen“.13 Dass, wie aus der einschlägigen For- schungsliteratur bekannt, mit diesen „Entdeckern“ das Zeitalter von Kolonialismus und Versklavung begann – mit Auswirkungen bis in die heutige Zeit –, bleibt unerwähnt. Dazu der Historiker Reinhard Wendt: „Seit dem 15. Jahrhundert suchten Portugiesen und Spanier nach ei- nem direkten Zugriff auf die Reichtümer Asiens. Sie erschlossen einen Seeweg nach Indien rund um Afrika und stießen bei der Erkundung einer Westroute zu den Gewürzinseln beiläufig auf Amerika. Der Pro- zess der europäischen Expansion hatte begonnen. Häufig war er von Krieg und Gewalt begleitet. In seinem Verlauf entwickelten sich vielfäl- tige asymmetrische Wechselbeziehungen und Herrschaftsverhältnisse zwischen Europa und der Welt. Sie lassen sich zusammenfassend als Kolonialismus und Imperialismus in formeller wie informeller Gestalt bezeichnen.“14

13 URL: www.hafencty.com/de/ (EGO), hrsg. vom Institut für Euro­ S. 34ff.; Wolfgang Reinhard: Die faq-konzepte-planung/wie-kom­ päische Geschichte (IEG), Mainz, Alte Welt bis 1818, Stuttgart 1983. men-die-strassen-zu-ihren-namen. 2010-12-03, URL: www.leg-ego-eu/ (Geschichte der europäischen Ex­ html (letzter Zugriff 14.12.2014) wendtr-2010-de; vgl.: außerdem pansion, Bd. 1.); Benedikt Stuchtey: 14 Reinhard Wendt: Herrschaft, Jürgen Osterhammel, Kolonialismus, Kolonialismus und Imperialismus in: Europäische Geschichte Online 6. durchges. Aufl., München 2009, von 1450 bis 1950, in: Europäische 9

Was Weltoffenheit und Weltläufigkeit signalisieren soll, erscheint für viele, die sich kritisch mit der Kolonialgeschichte beschäftigen, als einseitiges Geschichtsbild aus der Perspektive weiß-europäischer Men- schen und verdeutlicht eine nicht vorhandene Sensibilität für die Sicht- weisen und Erinnerungskulturen der Nachkommen der Kolonisierten. Oder, wie die Journalistin Anke Schwarzer über die HafenCity schrieb: „Dort gibt es Geschichtsbewusstsein von vorgestern für die Stadt von morgen.“15

Aufarbeitung des kolonialen Erbes Seit vielen Jahren engagieren sich verschiedene Hamburger Organi- sationen und Einzelpersonen – darunter der Arbeitskreis Hamburg Postkolonial, www.hamburg-postkolonial.de, das Eine Welt Netzwerk Hamburg, www.ewnw.de, und das Kunstprojekt afrika-hamburg.de – intensiv für eine öffentliche Auseinandersetzung über nach Kolonial- akteuren benannte Straßen und Plätze und damit für eine Dekoloni- sierung des Stadtraums. Eine Folge dieses Engagements war 2012 der Beschluss des Bezirksamts Wandsbek, die Wißmannstraße und den Dominikweg umzubenennen16 (siehe: Straßennamen nach Kolonialak- teuren, online). Die Umbenennung steht allerdings noch aus. Eine hamburgweite Öffentlichkeit erreichte das Thema der kolo- nialen Straßennamen im August und September 2013 durch die Wan- derausstellung „freedom roads! koloniale straßennamen. postkoloniale erinnerungskultur“ im Kunsthaus Hamburg.17 Kooperationspartner wa- ren unter anderem der Arbeitskreis Hamburg Postkolonial, die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland ISD, der Zentralrat der Afrikani- schen Gemeinde in Deutschland, das Eine Welt Netzwerk Hamburg, die KZ-Gedenkstätte Neuengamme, die Evangelische Akademie der Nord- kirche – Erinnerungskultur und das Konfuzius-Institut der Universität Hamburg. Die Ausstellung signalisierte unmissverständlich auch eines: Das ist eure Geschichte, arbeitet sie auf! Mit „eure“ sind hier die Nach- kommen der Kolonialherren, sind die weißen Deutschen gemeint.

Perspektivwechsel – weiterer Umgang mit nach Kolonialakteuren benannten Straßen Die deutsch-ghanaische Wissenschaftlerin, Aktivistin und Dichterin May Ayim (1960–1996) kritisierte bereits Anfang der 1990er-Jahre

Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Vergangenheiten – (post) imperiale Nostalgie: Die neue HafenCity in Institut für Europäische Geschichte Gegenwart, Berlin 2010, S. 7ff. (Stu­ Hamburg würdigt den Geist des (IEG), Mainz 2010-12-03, URL: www. dien des Frankreich-Zentrums der Kolonialismus, in: Klare Fronten – leg-ego.eu/stuchteyb-2010-de Albert-Ludwig-Universität Freiburg, Alte und neue Grenzregimes, iz3w, (letzter Zugriff 19.12.2014); Jörg Bd. 19.) Nr. 318/2010, S. 44. Onlinefassung, Leonhard, Rolf G. Renner: Koloniale 15 Anke Schwarzer: Moderne URL: www.izew.org/zeitschrift/aus­ 10

deutlich die Beibehaltung kolonialer Straßennamen und Denkmäler, weil durch diese „die Kolonialisten noch immer glorifiziert und Ko- lonialisierte weiterhin gedemütigt werden“.18 Wie sie es erlebt, durch Hamburg zu gehen und überall auf Spuren des Kolonialismus zu tref- fen, beschreibt im Anschluss an diesen Text eindringlich Ginnie Be- koe, Beiratsmitglied der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD Bund). Heute stellt sich die Frage: Welche inhaltlichen Kriterien sollten bei der Entscheidungsfindung für eine Umbenennung gelten? Straßenumbenennungen sind oft Ausdruck eines veränderten Ge- denkens und einer veränderten Sichtweise auf ein Ereignis oder ei- nen Prozess in der Vergangenheit – in diesem Fall auf den Kolonia- lismus. Wenn es zu einer Umbenennung kommt, wird damit in die Erinnerungskultur eingegriffen, indem Orte und Personen aus dem Ge- schichtsbild einer Stadt gelöscht werden. Denn Straßennamen spiegeln das Geschichtsbewusstsein und die Geschichtspolitik der Zeit wider, in der die Benennungen – und Umbenennungen – erfolgen. Deshalb sollten bei Straßenbenennungen die bisherigen Namen nicht lediglich durch andere ersetzt werden, so als hätte es die alten nie gegeben. Vielmehr sollte der „alte“ Name erklärt, d. h. die Bevölkerung über ihre koloniale Geschichte aufgeklärt werden. So sprechen sich die Selb- storganisationen von Schwarzen Menschen und von People of Colour sowie postkoloniale Initiativen für die kritische Kommentierung von Straßen mit Kolonialbezug aus und nur in besonderen Fällen wie etwa in Hamburg beim Dominikweg und der Wissmannstraße auch für die Umbenennung. In München beispielsweise werden seit 2009 – als nach heftigen Diskussionen errungener Kompromiss – die kolonialen Aktivitäten des jeweiligen Straßennamensgeber durch ein neu hinzugefügtes Schild unter der immer gleich lautenden Überschrift „Kolonialgeschichte offenlegen“ erläutert.19 Der Münchner Ausländerbeirat, in dem viele migrantisch-diasporische Initiativen vertreten sind, ist mit dieser Lö- sung jedoch nicht einverstanden. Er hat Mitte 2013 beantragt, zumin- dest diejenigen Straßen umzubenennen, die das Münchner Stadtarchiv 2004 als besonders problematisch eingestuft hatte, weil sie an Hans Dominik, von Gravenreuth und Hermann von Wissmann erinnern. Entschieden war bis Ende 2014 noch nichts. Wird tatsächlich eine Umbenennung beschlossen, stellt sich die Frage nach alternativen Namensgeberinnen oder Namensgebern. Hier gaben/318_grenzen_und_migrati­ Gremiums Bezirksversammlung am to020.asp?TOLFDNR=37446#sear­ on/fab (letzter Zugriff 14.12.2014). 22.11.2012, Tagesordnungspunkt chword 16 Freie und Hansestadt Ham­ 3.3: 19/2916, Umbenennung des Do­ 17 URL: www.freedom-roads.de burg, Bezirksamt Wandsbek, Be- minikweges und der Wißmannstra­ (letzter Zugriff 14.12.2014) zirksversammlung, Auszug aus der ße, Onlinefassung, https://sitzungs­ 18 May Ayim, Das Jahr 1990. Hei­ Niederschrift der 17. Sitzung des dienst-wandsbek-hamburg.de/bi/ mat und Einheit aus afro-deutscher 11

forschen Selbstorganisationen von Schwarzen Menschen und von Peo- ple of Colour sowie postkoloniale Initiativen fordern, dass es von den migrantisch-diasporischen Communities benannte Persönlichkeiten sein sollen – um die Opfer des Kolonialismus zu ehren oder um die Menschen zu würdigen, die antikolonialen Widerstand leisteten. Ein gelungenes Beispiel einer Straßenumbenennung findet sich in Berlin. 2010 haben die Gremien der Schwarzen und afrikanischen Selbstorganisationen erreicht, dass das Gröbenufer in May-Ayim-Ufer umbenannt wurde. Otto von Groeben hatte 1683 das Sklavenfort „Groß-Friedrichsburg“ an der Guineaküste errichten lassen. Heute wird mit dem Straßennamen May Ayim gewürdigt, die Schwarze Ak- tivistin, Dichterin und Wissenschaftlerin. Eine Stele informiert vor Ort über die Hintergründe der Umbenennung.

Notwendige Auseinandersetzung Gerade wenn wir als Hamburgerinnen und Hamburger unsere be- hauptete Weltoffenheit einlösen wollen, ist es dringend nötig, das ko- loniale Erbe der Stadt – das sich unter anderem in den vorhandenen Straßennamen ausdrückt – intensiv zu erforschen und öffentlich zu diskutieren. Dafür ist zugleich ein Perspektivwechsel erforderlich: Es müssen auch die Sichtweisen der Menschen einbezogen werden, die als Nachkommen der Kolonisierten in Hamburg leben und täglich mit dem Verdrängen und Vergessen der Kolonialgeschichte sowie mit dem Glo- rifizieren der Menschen konfrontiert sind, die ihre Vorfahren drang- saliert, ausgebeutet und ermordet haben. Oder wie der Hamburger Migrationsforscher und Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Louis Henri Seukwa, es formulierte: Die Notwendig- keit, sich mit dem Thema Kolonialismus zu befassen, „begründet sich unter anderem darin, dass in einer Welt zunehmender Wechselwirkun- gen die Nachkommen der Opfer und der Täter auf die eine oder andere Art zum Zusammenleben aufgerufen werden.“20+21

Perspektive, in: Ika Hügel (Hrsg.): sein koloniales Erbe“ beschäftigt. Des Weiteren zwei Links zu zwei Entferne Verbindungen, Rassismus, Die entsprechenden Drucksachen Pressemeldungen der „Initiative Antisemitismus, Klassenunterdrü­ (Antrag-Drs. 20/8148; das bürger­ Schwarzer Menschen in Hamburg ckung, Berlin 1993, S. 206–220. schaftliche Ersuchen an den Senat (ISD-Bund und Regionalgruppe 19 Koloniale Straßennamen in – Drs. 20/12383; die Antwort des Hamburg“), des „Arbeitskreises München, Dokumentation des Be- Senats – Drs. 20/14088; die Befas­ Hamburg Postkolonial“, des „Zent­ schlusses vom Ausländerbeirat der sungen im Kulturausschuss damit ralrats der Afrikanischen Gemeinde Landeshauptstadt München zur Ent- – Drs. 20/3752; Stand Dezember in Deutschland“, des „Afrika Bunds kolonialisierung der Münchner Stra­ 2014) sind in der Parlamentsdaten­ (Hamburg)“, des „Afrikarats-Nord“, ßennamen, München 2013, S. 30ff. bank der Hamburgischen Bürger­ des „Arca-Afrikanischen Bildungs­ 20 Projekt afrika-hamburg.de. schaft hinterlegt und über den Link zentrums Hamburg“ als Reaktion Erinnern, Gestalten, Debattieren, https:// www.buergerschaft-hh. darauf. Intervenieren, URL: http://www.afri­ de/parldok/erreichbar. Unter dem www.hamburg-postkolonial.de/ ka-hamburg.de/postcolonial.html Stichword „Dokumentennummer“ PDF/PMkolonialeVergangenheit.pdf 21 Auch die Hamburgische muss die Drucksachennummer isdonline.de/pressemitteilung-de­ Bürgerschaft und der Senat haben eingegeben werden, ein PDF des colonize-hamburg-not-about-us­ sich mit dem Thema „Hamburg und Dokuments wird dargestellt. not-without-us 12

Stadtbild (post?-)kolonial von Ginnie Bekoe

ls ich ein Kind war, litt ich sehr darunter, dass Menschen Probleme A mit meinem Namen hatten. Ich musste immer und immer wieder erklären, wie er ausgesprochen wird. Ich träumte davon, später einmal berühmt zu sein. Dann gäbe es ein Museum, mit meinen Erfindungen und eine Straße, die nach mir benannt ist. Und vor allem wüsste je- de_r, wie mein Name ausgesprochen wird. In Hamburg durch die Straßen zu gehen, macht mich glücklich. Ich liebe es, im Bus zu stehen und zu zählen, wieviele andere Persons of Color und Schwarze im selben Bus fahren. Es erfreut mein Herz, auf dem Spielplatz natürlich Schwarze Kinder spielen zu sehen, beim Einkaufsladen selbstverständliche koschere und halal Lebensmittel kaufen zu können, bei der Ärztin natürlich mehrere Sprachen zu hören und zu lesen: Die gewachsene, normale Vielfältigkeit zu spüren. Wir bilden das Stadtbild mit, wir nicht-weißen Personen. Viele Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen wie ich. Das Fernsehen, die Wer- bung, die Medien mögen behaupten, es gäbe uns nicht; nur verfälschte Stereotypen. Auf Hamburgs Straßen sehe ich: Wir sind ein fester Be- standteil der Stadt, des Landes, der Kultur. Ich fühle mich im Stadtbild repräsentiert. Ich fühle mich aufgehoben. Ich fühle mich zuhause. Durch Hamburgs Straßen zu gehen, macht mich unglücklich. Ich gehe am Vespucci- und am Columbushaus vorbei zum Kaiserkai, Vasco- da-Gama-Platz, den Magellan-Terrassen, Marco-Polo-Terrassen. Straßen und Häuser, von denen die meisten erst vor ungefähr zehn, nämlich 2005, ihre Namen verliehen bekamen. Fahre mal am Bismarck-Denk- mal vorbei, gehe durch die Reventlowstraße und die Walderseestraße, durch die Schimmelmann würdigenden Straßen, Wißmannstraße, Ha- genbeckallee. Durch die Godeffroystraße und den Dominikweg. Stra­- ßen, welche teilweise erst nach dem Zweiten Weltkrieg benannt wur- den und deren Namen seitdem unreflektiert bestehen geblieben sind. Ich denke an die „niedergeschlagenen Aufstände“, die Genozide waren, an Kämpfer_innen, die ihre Wohnorte und Leben und „Schutztruppen“, die Profite verteidigten. An die Millionen von ermordeten, gelynchten, versklavten, ausgebeuteten, vergewaltigten, ver­schleppten Menschen,

Quellen: dies als „kollektive Erinnerungen bio­graphy [...] but rather an accu­ 1 https://www.iz3w.org/ an Kolonialismus“, welche durch muluation of violent events that at zeitschrift/ausgaben/318_gren­ Alltagsrassimus reinszeniert und the same time reveal an historical zen_und_migration/fab (Abgerufen stetig aktualisiert werden. pattern of racial abuse involving not 14.12.2014) „Everyday racism is not a single only the horrors of racist violence, 2 Grada Kilomba klassifiziert violent event in one’s individual but also the collective memories of 13

und sehe prachtvolle Fassaden, neugebaute Residenzen, neue Schrift- züge. Die damalige Kultursenatorin Karin von Welck sagte1 im Hinblick auf die 2005 eingeweihten neuen Straßen in der HafenCity: „Ich freue mich sehr, dass das Westgebiet [der HafenCity] mit den ersten drei Na- mensgebungen [Ferdinand Magellan, Marco Polo und Vasco da Gama] eine so geschichtsträchtige Identität erhält. Straßennamen prägen und gestalten eine Stadt. Sie bilden auch Stadtgeschichte ab und können – wie in diesem Fall – besondere Impulse für die Zukunft geben.“ Wessen Identität? Wessen Zukunft? Jeder Schritt durch diese Straßen ein Tritt ins kulturelle Gedächtnis, eine Erneuerung kollektiven Traumas.2 Unsere Geschichten zählen nicht. Wir sind unsichtbar, wenn ein Eroberer zum „Entdecker“ stilisiert wird. Wir zählen nicht, wenn ein Wegbereiter von Versklavung und Ausbeutung nur mehr ein „Seefah- rer“ ist. Wir sind wertlos, wenn die Ehrung einer Person Entwürdigung von Millionen bedeutet. Wenn ich in Hamburgs Straßen schaue, sehe ich mich im Stadtbild. Wenn ich Hamburgs Straßen anschaue, bin ich unsichtbar. Es fehlen Perspektiven. Hamburg hat sehr profitiert an dem Leid anderer Men- schen und Länder; ja Kontinente. Kolonialismus als irgendetwas ande- res zu bezeichnen, bedeutet Unsichtbarmachen dessen, was dahinter stand: Ideologien und Dogmen, die aussagten, dass manche Menschen weniger wert sind als andere. Mehr noch: Wenn Menschen Ware sind, sind sie keine Menschen mehr. Kolonialismus funktioniert nur durch Rassismus. Hamburgs Straßen spiegeln diese Gedanken wider, wenn sie Na- men derjenigen tragen, welche die menschenverachtenden Ideologien in die Welt getragen haben und maßgeblich daran beteiligt waren, sich auf eine Art und Weise zu bereichern, die heute undenkbar sein sollte. Hamburgs Straßen zeigen mir, dass dieses Wissen noch unhinterfragt repräsentiert und präsent ist. Kien Nghi Ha sagt „[D]ie Schwarzen Subjekte, die oftmals auch als Opfer widerständig gehandelt haben, [werden] durch die Tätervereh- rung in den hegemonialen Diskursen erneut viktimisiert.“3 Wenn ich durch Hamburgs Straßen gehe, fühle ich uns repräsen- tiert. Ich möchte uns auch in Hamburgs Straßennamen repräsentiert und respektiert sehen. Heute träume ich nicht mehr davon, eine Straße nach mir benannt zu haben. Heute träume ich davon, dass die Impulse, welche die Zukunft bilden, auch von widerständigen, geschichtsträch- tigen Identitäten gegeben werden. colonial trauma.“ („[...] the collecti­ S. 133.) seinsforschung in Deutschland. ve historical trauma of slavery and 3 Ha, Kien Nghi: Macht(t)raum(a) 2. überarbeitete Auflage. Münster colonialism restaged in everyday Berlin – Deutschland als Kolonial- 2009, S. 105. racism, [...]“, in ihrem Werk Plantati- gesellschaft, in: Maureen Maisha on Memories. Episodes of Everyday Eggers u. a. (Hrsg.): Mythen, Mas- Racism. 2nd Edition. Münster 2010, ken und Subjekte. Kritische Weiß- 14 | Biographien von A bis Z

Amalie-Dietrich-Stieg des Erscheinens des Buches „Amalie Dietrich. Barmbek-Nord, seit 1968; benannt nach Amalie Ein Leben erzählt von Charitas Bischoff“. Doch Dietrich, geb. Nelle (21.5.1821 Siebenlehn/ bereits 1912 äußerte der Direktor des Bota- Sachsen–9.3.1891 Rendsburg), Botanikerin, nischen Gartens in Melbourne, J. H. Maiden, Forschungsreisende, Kustodin des Museums für Zweifel an der Wahrheit der von Amalie Die- Natur- und Völkerkunde in Hamburg trichs Tochter Charitas Bischoff (1848–1925) (siehe: Charitas-Bischoff-Treppe) aufgezeichneten Nach alten Stadtplänen muss das Kontorhaus Lebensgeschichte, die ein Bestseller geworden der Firma Godeffroy gegenüber dem heutigen war, der auch in Schulen gelesen und immer Speicher W in der Hamburger Speicherstadt ge­- wieder aufgelegt wurde; zuletzt auf Betreiben standen haben, bevor es 1886 im Zuge des von Anna Seghers und Günter Wirth 1979 in Baus der Speicherstadt der Spitzhacke zum der DDR: „Jeder, der das australische Leben Opfer fiel. Hier konnte man in den 70-er Jah- und die Flora kennt, wird feststellen, dass die ren des 19. Jahrhunderts die Naturforscherin Briefe, wie sie publiziert worden sind, von Amalie Dietrich treffen, deren Lebensarbeit das einer Person stammen, die Australien nicht „Museum Godeffroy“ bewahrte. gesehen hat.“1 Diese Zweifel wurden von der „Wir Aeltere kennen sie ja noch alle, die australischen Forscherin Ray Sumner bestä- bescheidene Frau in dem dürftigen Kleide, mit tigt, die 1988 nachwies, dass die Briefe zahlrei- dem verwetterten Gesicht und den gescheiten, che botanische Fehlinformationen enthalten, so überaus guten Augen, die ständige Zuhö- die Amalie Dietrich nicht unterlaufen wä­ rerin unserer öffentlichen Vorlesungen in den ren. Stattdessen entdeckte Ray Sumner zum achtziger Jahren, die fleißige Arbeiterin an Teil wörtliche Zitate aus dem populären Buch den Sammlungen des Museums Godeffroy und „Unter Menschenfressern“ von Carl Sophus des Botanischen Museums. Über ihre eigenen Lumholtz. Aber nicht nur die angeblich au- Schicksale hörte man manches; vielerlei daran thentischen Briefe von Amalie Dietrich sind in der Form alberner und herzlos verdrehter erfunden, auch der übrige Text erscheint häu- und weiter verbreiteter Legenden; einer so selt- fig wie die Projektion einer unglücklichen, samen Frau, die ein Jahrzehnt lang das Leben bei fremden Leuten herumgereichten Tochter. eines Hinterwäldners geführt hatte (...), der Dennoch wird bis zum heutigen Tage immer konnte Herz- und Verständnislosigkeit man- wieder – wenn auch mit aller Vorsicht – aus ches anhangen. Wer sich aber um die Wahr- dem Buch zitiert und so die Sichtweise Cha- heit über Frau Dietrich bekümmerte – und ihr ritas Bischoffs auf ihre Eltern weitergetragen. beredtester Anwalt war unser Neumayer –, der 1846 heiratete die Nellen Malle, wie die fand für manche Eigenart und Absonderlich- Tochter des Beutlermeisters Gottlieb Nelle keit der Frau die Erklärung in ihrer Lebens- aus dem sächsischen Siebenlehn genannt wur­- geschichte“, schrieb der hauptamtliche Kustos de, den Apotheker und Naturaliensammler des Hamburger Zoologischen Museums, Dr. Wilhelm August Salomon Dietrich. Der kennt­ Johann Georg Pfeffer, am 27. November 1909 nis­reiche Mann, der mit Professoren und Stu- im „Hamburger Correspondenten“ anlässlich denten der Forstakademie Tharandt und Se- 15 | Biographien von A bis Z

minaristen und ihren Lehrern Exkursionen in te, seine Frau sei gestorben. Man trennte sich den Zellaer Wald machte und mit den Haus- zum zweiten Mal. lehrern der benachbarten Güter verkehrte, lei- Auf einer Verkaufsreise nach Hamburg tete auch seine junge Frau zum Pflanzen- und lernte Amalie Dietrich durch einen ihrer Kun- Insektensammeln an. Bald beherrschte die ge- den, den Kaufmann Dr. Heinrich Adolf Meyer lehrige Schülerin die Erstellung von Herbari- (siehe: Meyerstraße), Johan Cesar Godeffroy (sie- en, das Trocknen, Bestimmen, Aufkleben und he: Godeffroystraße) kennen. Der wohlhaben- Beschriften der Pflanzen ebenso wie den Um- de Kaufmann und Kryptogamenspezialist Dr. gang mit Kunden und ihren Bestellungen. Als Hein­rich Adolf Meyer hatte sich ihrer ange- Anschauungsmaterial waren Herbarien bei nommen und sie an den Überseehändler Caes- Universitäten und wissenschaftlichen Institu- ar Godeffroy vermittelt, der ein Museum für ten, Schulen, Apotheken, Botanischen Gärten, Natur- und Völkerkunde errichten wollte. aber auch bei Privatgelehrten und Sammlern Der „König der Südsee“, wie er genannt begehrt. Das Interesse an unbekannten Pflan- wurde, besaß umfangreiche Sammlungen aus zen war groß und das Ordnen der Fülle seit Naturalien und ethnographischen Objekten, Carl von Linné (1707–1778) zum Hauptziel die er anfänglich von seinen Kapitänen, später der Botanik geworden. Dennoch war das Le- auch von speziell zu diesem Zweck engagier- ben des Paares finanziell und körperlich be- ten Forschern und Sammlern zusammentra- schwerlich. Und als Wilhelm Dietrich mit dem gen ließ. Die zunächst auf einem Speicher sei- aus guten Gründen entlassenen Hausmädchen nes Kontorhauses eingelagerten Sammlungen nach Berlin reiste, floh Amalie Dietrich mit ließ Godeffroy 1860/61 von dem jungen Na- ihrer kleinen Tochter Charitas zu ihrem Bru- turforscher Eduard Graeffe aus Zürich ordnen der Karl nach Bukarest. Bei dem angesehenen und machte sie öffentlich zugänglich. Amalie Handschuhmacher hätte sie ein sorgenfreies Dietrich erbot sich, für ihn zu arbeiten. Und Leben gehabt, aber es trieb sie nach Hause zu- während die Tochter unter der Obhut des Ehe- rück, und die gemeinsame Arbeit begann aufs paares Dr. Meyer in Hamburg zurückblieb, Neue. Doch schon bald zog Wilhelm Dietrich landete Amalie Dietrich am 7. August 1863 auf sich von den wochenlangen, anstrengenden dem Segelschiff „La Rochelle“ in Brisbane. Fußmärschen immer mehr zurück. 1857 reis- Zehn Jahre lang sollte sie die Nordostküs- te Amalie Dietrich zum ersten Mal alleine. Elf te Australiens erforschen und Pflanzen, Tie- Wochen lang wanderte sie mit ihrem Hund re und ethnographisches Material sammeln, Hektor, dem sie einen Handwagen vorspannte, präparieren und nach Hamburg schicken. bergauf und bergab durchs Salzburger Land, Allein in der Umgebung von Brisbane sam- um seltene Alpenpflanzen zu sammeln. Als melte sie über 600 Pflanzen in so vielen Ex- sie 1861 von einer Reise nach Holland, wo sie emplaren, dass Caesar Godeffroy nach drei Jah- Meerespflanzen gesammelt hatte, wegen eines ren Herbarien zum Verkauf erstellen lassen schweren Nervenfiebers verspätet zurück- konnte: „Neuholländische Pflanzen, gesam- kam, hatte Wilhelm Dietrich sich beim Grafen melt von Amalie Dietrich am Brisbane river, Schönberg als Hauslehrer verdingt. Er glaub- Col. Queensland im Auftrage der Herren Joh. 16 | Biographien von A bis Z

Ces. Godeffroy & Sohn in Hamburg“. Gewor- ist aber bereits gedruckt und zu Anfang Feb- ben wurde dafür in der „Flora“: „Ausgabe I ruar wird er sicherlich fertig sein. Der Katalog enthält sämtliche Farren und Polypetalen, wird über 7000 Nummern enthalten, wovon außerdem die Monochlamyden und Gamope- Sie wohl den dritten Teil geliefert haben. Für talen, von Prof. Dr. H. G. Reichenbach fil. be- den folgenden Katalog liefern Sie hoffentlich stimmt. Es können Sammlungen bis cirka 350 die Hälfte, so muß es kommen, gute Frau Die- Arten geliefert werden und ist der Preis einer trich! Centurie auf zehn Thaler preuss. Crt. festge- Ihre Vogelbälge sind schon recht gut und setzt.“ Und nach Australien schrieb Godeffroy werden Sie ferner bemüht bleiben, es noch am 31. Dezember 1868 drängend: „Frau Ama- immer besser zu machen. Zum Jahreswechsel lie Dietrich! Wir schrieben Ihnen am 3. ds. lfd. senden wir Ihnen unsere besten Glückwün- eine Abschrift und empfingen seitdem Ihren sche und grüßen Sie aufs freundlichste Joh. lieben Brief vom Lake Elphinstone vom 29. Ces. Godeffroy.“1 August. Sie scheinen dort recht fleißig zu sein Neben H. G. Reichenbach, dem Direktor und viel zu sammeln, was uns große Freude des Botanischen Gartens in Hamburg, be- macht und sehen wir verlangend Ihren Sen- stimmten renommierte Wissenschaftler aus dungen entgegen. Leipzig, Halle, Berlin, Kopenhagen und Lon- Die Herren Rabone Jeez (oder Feez – unle- don die Ausbeute von Amalie Dietrichs Expe- serlich. G.W.) u. Co. in Sydney melden uns mit ditionen. Immer wieder wurden dabei auch uns. Schiffe ‚Cesar Godeffroy‘ 4 Kisten von Ih- Pflanzen oder Tiere nach ihr benannt wie nen an uns abgeschickt zu haben, die Herren Drosera dietrichiana, der Sonnentau, oder die erwähnen aber nicht der lebenden Eidechsen. Wespenarten Nortonia amaliae und Odynerus Mit der ‚Viktoria‘ sandten wir, wie auch be- dietrichianus. Z. T. verlief die Bestimmung der reits früher berichtet, ein ansehnliches Quan- von Amalie Dietrich gesammelten Objekte al- tum Verpackungsmaterial aller Art für Sie an lerdings auch recht schleppend, so dass viele die Herren B. Amsberg u. Co. und werden wir von ihr entdeckte Pflanzen anderen Sammlern mit dem ersten Frühjahrsschiffe eine ferner zugeschrieben wurden, auch wenn diese sie große Sendung an Sie abrichten. erst später mitgebracht hatten. Wir werden überhaupt dafür sorgen, daß Amalie Dietrich erhielt von Herrn Godef- Sie nie Mangel an Material haben und verspre- froy auch den Auftrag, Schädel und Skelette chen wir uns viel von Ihren Forschungen am der australischen Ureinwohner mitzubringen. Lake Elphinstone und dessen Umgebung. Zu Um an die Knochen und Schädel heranzukom- viel können Sie uns nicht senden, also nur im- men, ließ Amalie Dietrich Grabstätten von mer tapfer gesammelt, und Sie müssen beson- Aborigine plündern und sogar einen Abori- ders den Süßwasserfischen und Krebsen Ihre gine erschießen. „Amalie Dietrich stiehlt für Aufmerksamkeit schenken. Cesar [Godeffroy] Leichen von Totenbäumen Der Katalog IV [1864–1884 erschienen in und von Friedhöfen. 14 Heften 9 Verkaufskataloge aus Doubletten] Kinderskelette könne sie leicht bekom- macht immer noch viel Arbeit. Über die Hälfte men, ‚denn die Leichen der Kinder werden

Quellen: 1 Zit. aus dem Anhang von: Amalie Dietrich: Ein Leben erzählt von Charitas Bischof. Mit einem Nachwort hrsg. Von Günther Wirth. Berlin 1977. 17 | Biographien von A bis Z

meist nur in einem hohlen Baum gesteckt, der nichtet. Erhalten blieben die Katalogzettel. mit rot und weißer Farbe bestrichen wird‘, Auch die zoologische Sammlung erlitt erheb- schreibt sie ihrer Tochter Charitas. Krieger liche Einbußen. Hamburg erwarb die Herba- dagegen werden sehr feierlich in Baumwip- rien, die zoologische Sammlung sowie Reste feln aufgebahrt. Die Ureinwohner fürchten, der ethnographischen Sammlung. Auch hier daß ihre toten Angehörigen in Europa weiße wurde vieles im Krieg zerstört. Erhalten blieb Männer werden und als solche schwer arbei- vor allem das Herbarium des Botanischen Mu- ten müssen. Sie begraben sie jetzt versteckt in seums, das heute im Institut für Allgemeine flachen Hügeln, ‚häufig in Ameisenhaufen, vor Botanik verwahrt wird, und die entomologi- deren Eingang sie dann einige große Steine le- sche Sammlung im Zoologischen Institut. gen‘.“2 Die größte Ehrung, die Amalie Dietrich 1873 kehrte Amalie Dietrich auf der „Su- vermutlich zuteil wurde, war die Ernennung sanne Godeffroy“ nach Hamburg zurück – im zum ordentlichen Mitglied des entomologi- Gepäck einen Keilschwanz und einen australi- schen Vereins in Stettin im Jahre 1867. Frau- schen Seeadler, die sie dem Zoo schenkte. Sie en konnten in dieser Zeit eigentlich noch kein erhielt im „Museum Godeffroy“ eine Anstel- Mitglied in wissenschaftlichen Vereinen wer- lung auf Lebenszeit und betreute ihre Samm- den. lungen. Die „Acacia Dietrichiani“ und die „Bono- Als Joh. Ces. Godeffroy & Sohn 1879 auf mia Dietrichiana“ und zwei Algenarten wur- Grund fehlgeschlagener Investitionen in Mi- den nach ihr benannt. nenaktien Konkurs anmelden mussten, wur- Amalie Dietrich starb am 9. März 1891 den die Sammlungen des Museums verkauft, an einer Lungenentzündung, als sie bei ihrer die Sammlung Dietrich dabei auseinander Tochter in Rendsburg zu Besuch weilte. gerissen. „Das Naturhistorische Museum zu Text im Wesentlichen: Brita Reimers Hamburg übernahm die zoologische Samm- lung (…), später auch die Mineralien und die Schädel und Skelette. Waffen, Geräte, Kanus kaufte das Museum für Völkerkunde Leipzig. (…) Amalie Dietrich zog in ein städtisches Stift. Das Botanische Museum stellte sie als Kustodin ein. Doch als sie zu einem Kongreß der Anthropologischen Gesellschaft in Berlin fuhr, ließ der Pförtner sie nicht ins Gebäude – für Frauen verboten. Sie blieb am Eingang, gab nicht nach, schließlich holte er den Vorsit- zenden der Gesellschaft. Die Forscher feierten sie stehend mit Ovationen.“2 Die anthropologische Sammlung von Ama- lie Dietrich wurde im Zweiten Weltkrieg ver-

2 Gabriele Hoffmann: Das Haus an der Elbchaussee . Die Godeffroys – Aufstieg und Niedergang einer Dynastie. Hamburg 1998, S. 299. Gabriele Hoffmann, a.a.O., S. 435. 18 | Biographien von A bis Z

Baurs Park Baur wollte 1782 gemeinsam mit Hein- Blankenese, seit 1922; benannt nach: Georg rich Sieveking in Guinea 700 Sklavinnen und Friedrich Baur (1768–1865), Grundstückeigen- Sklaven kaufen. Von Bordeaux sollte ein Schiff tümer, Kaufmann neutrale Waren nach Guinea und von dort Georg Friedrich entstammte einer Altonaer Bür- Sklaven nach S. Domingo bringen. Von dort germeister- und Senatorenfamilie. Er absolvier- sollte es zurück nach Hamburg wieder mit neu- te ein Jurastudium in Göttingen und wurde tralen Waren gehen. Sieveking und Baur fan- Kaufmann. Gemeinsam mit seinem Bruder den, wegen der zu erwartenden hohen Krank- Johann Heinrich Baur (siehe: Baurstraße) über- heits- und Todesrate unter den Sklaven, keine nahm er die Leitung des von dem Großvater Versicherung, die das Vorhaben zu einem ver- errichteten Unternehmens für Geld- und Wa- nünftigen Preis versichern wollte. Gleichzeitig renhandel. Später führte Georg Friedrich Baur nahte das Ende des Unabhängigkeitskrieges, das Unternehmen allein bzw. mit zwei seiner was wiederum für die dänische Schifffahrt das Söhne als Handels-, Bank- und Reedereiunter- Ende ihrer „goldenen Jahre“ bedeutete. Des- nehmer weiter. halb nahmen Sieveking und Baur Abstand von Georg Friedrich Baur erlangte zu großem ihrem Vorhaben. Heinrich Sieveking schreibt Reichtum. Seine Enkelin schrieb über ihn: selbst dazu in seinem Bericht über das Han- „Mein Großvater und seine nächsten sahen delshaus Voght (Caspar Voght, siehe: Ba­ron-Voght- sich als die erste Familie der Welt an und wa- Straße) und Sieveking: „Baur hat eine schöne ren unzugänglich, verschlossen und ängstlich zweigedeckte Fregatte von 150 Last, er fordert bemüht, nicht mit dem niederen Stande in Be- dafür 4500 Banco per Monat. Dann kann das rührung zu kommen. Eins der Merkmale der Schiff hingehen, wohin es soll. Von anderer Familie war übrigens tiefe Melancholie, die Seite war am 29.3. ein Schiff von 120 Last zu auch teilweise wohl die Ursache gewesen war, 3500 Mark Banco per Monat angeboten ohne daß man nie mit Fremden zu tun haben woll- die inwendige Ausrüstung, die Bretter, eiser- te, sondern sich selbst genug war. nen Schlösser [für Sklavenschiffe wichtig] (…) Mein Großvater (…) hatte angebore- und was mehr dazu gehörte. Es handelte sich nen Geschmack und Kunstsinn (…). Er war darum, neutrale Waren von Bordeaux nach eigen und schwierig, und seine Kinder lebten Guinea zu bringen, von da mit Negern nach in ewiger Furcht vor ihm. Er liebte diese seine Santo Domingo zu fahren und mit neutralen Kinder aus Pflicht und gab ihnen die beste Er- Waren zurück nach Hamburg.“2 Dafür sollte ziehung. Für die Töchter hielt er Gouvernan- ein französisches Schiff mit neutraler däni- ten für verschiedene Sprachen und Hofmeister scher Flagge segeln. Sinapius, der Agent des für die Söhne (…). Aber seine Kinder liebko- Handelshauses in Ostende bekam letztendlich sen – das tat er nie (…). Man konnte meinen Skrupel und schrieb: „ich hasse diesen Handel Großvater keinen Tyrannen oder Despoten von ganzem Herzen.“3 nennen, er war nur aus der alten Schule; wo Verheiratet war Georg Friedrich Baur seit der Vater alles bestimmte und wo die Kinder, 1797 mit seiner Cousine Marianne Heise (1781– ohne zu räsonnieren, zu gehorchen hatten.“1 1851), Tochter des Hamburger Senators und

Quellen: sub.uni-hamburg.de/subhh/ Studien zu Caspar von Voght., 1 Julie Grüner geb. Raeder: cntmng:jsessionid=49348191E­ S. 114. Erinnerungen an das Haus meiner A3381401E927B9FF4FE8297.jvm1?­ Grosseltern Baur im Dänischen type=pd&did=c1:25292) Altona. Hamburg 1965, S. 23f. 3 Susanne Woelk: Der Fremde 2 Heinrich Sieveking agora. unter den Freunden. Biographische 19 | Biographien von A bis Z

späteren Bürgermeisters Arnold Heise (1747– Angst, daß ihre Anordnungen nicht pünktlich 1834) (siehe: Arnold-Heise-Straße). Zum Zeitpunkt ausgeführt würden, (…).“4 der Eheschließung war Marianne knapp sechs­- Über das Vermögen ihres Mannes wusste zehn Jahre alt und soll davor schon einmal die Ehefrau nicht Bescheid. „Sie selbst hatte nie verlobt gewesen sein. Das Paar bekam elf Kin- eine größere Summe zu ihrer Verfügung. Mein der. Ihre Enkelin erinnert sich: „Sie [die Groß- Großvater ließ jeden Sonnabend alle Rechnun- mutter] hatte sich – mit einigen Ausnahmen gen des Hauses bezahlen und schenkte ab und – nicht so viel aus ihren Kindern gemacht, zu seiner Frau ein paar hundert Mark zum aber sie erfüllte ihre Pflicht ihnen gegenüber. Verschwenden.“4 Im Alter von etwa vierzig Jahren wurde sie Anlässlich der Goldenen Hochzeit des schon gichtkrank (…). Sie saß immer in einem Paares wurde er zum Konferenzrat ernannt. samtenen Rollstuhl, und zwei Personen muß- Die Familie lebte an der Palmaille. Dort ten sie in einem Klappstuhl die Treppen hin- hatte Baur von dem Baumeister C. F. Hansen auf- und hinuntertragen. Meine Großmutter ist zehn große Häuser bauen lassen. eine tüchtige Hausmutter gewesen, und bei all Das Haus an der Palmaille wurde im Win- ihrer Kränklichkeit hat sie den Haushalt doch ter ständig bewohnt. Im Sommer lebte die Fa- selbst geleitet und wollte über alles Bescheid milie von Dienstag bis Sonnabend in einem wissen, führte selbst die Rechnung und be- Landhaus in Blankenese (heute Baur’ Park). stimmte das Essen. Aber sie lebte in ständiger

4 Julie Grüner, a.a.O., S. 35. 20 | Biographien von A bis Z

Dominikweg innere zu den fruchtbaren Hängen des Kame- Jenfeld, seit 1947; benannt nach Hans Dominik runbergs freikämpfen. (1870–1910), Major, Truppenführer In ihrem ersten Einsatz bekämpfte die Friedrich Wilhelm Hans Dominik schlug eine Lauf- „Schutztruppe“ die Händler der Abo, die sich bahn bei einem branden-burgischen Regiment strikt verweigerten, vom Zwischenhandel ab- ein, wo er 1890 zum Leutnant ernannt wur- zulassen. Dominiks Befehl: „Fernhalten der de, dann bewarb er sich für einen Einsatz im Aboleute vom Fluss, ihrer Lebensader.“ Da- Ausland. Als Hauptmann Curt von Morgen, bei ging seine rund 120 Mann starke, schwer der aus dem gleichen Regiment stammte, 1894 bewaffnete Einheit nach der Taktik der „ver- für Kamerun eine koloniale „Schutztruppe“ – brannten Erde“ vor. Dominik befahl die „Fest- eine dem Kaiser unterstellte Militäreinheit aus setzung im Gebiet des Feindes, Verwüstung deutschen Offizieren und afrikanischen Söld- seiner Siedelungen und Pflanzungen und un- nern – zusammenstellte, ernannte er Domi- ausgesetztes Aufstöbern, bis um Frieden ge- nik zu seinem Adjutanten. Die „Schutztruppe“ beten wird“, denn die Kolonisierten „müssen sollte den Widerstand der lokalen Bevölke- wissen, dass ich ihr Herr und der Stärkere rung gegen die koloniale Expansion brechen bin, solange sie das nicht glauben, müssen sie und Kriegsgefangene zur Arbeit auf den Plan- es eben fühlen, und zwar hart und unerbitt- tagen der deutschen Großgrundbesitzer zwin- lich, so dass ihnen für alle Zeit das Auflehnen gen. vergeht“. Frei nach seinem Leitspruch „Nicht Die Hamburger Handelshäuser Adolph rechts geschaut, nicht links geschaut, vorwärts Woer­mann (siehe: Woermannstieg und Woermanns­- – geradeaus, auf Gott vertraut und durch!“ hin- weg) und Jantzen & Thormählen hatten sich be­- terließ er eine Spur der Verwüstung. reits 1862 mit Faktoreien an der Kamerunküste Den Bakweri (Kpe) unter ihrem König festgesetzt. Der einheimische Zwischenhan­del Kuv’a Likenye war es 1891 gelungen, die deut- zwischen Binnenland und Küste, der die Wa- sche Kampftruppe in die Flucht zu schlagen. ren verteuerte, war ihnen ein Dorn im Auge. Dominiks „Strafexpedition“ am Kamerunberg Um ihre Einflusssphäre zu erweitern, versuch­ sollte nun vor allem ein Rachefeldzug werden. ten sie seit geraumer Zeit, Reichskanzler Bis- Gegen die schwer bewaffnete „Schutztrup- marck (siehe: Bismarckstraße und Bismarck­stein) pe“ konnten sich die Bakweri nicht mehr be- von der Notwendigkeit der Gründung einer haupten. Die Besiegten ließen sich aber nicht Kolonie in Kamerun zu überzeugen. Den Kö- verbiegen, lieber verließen sie das Land ihrer nigshäusern Bell und Akwa hatten sie betrü- Vorfahren, das sie ernährt hatte; Kuv’a Like- gerische „Schutzverträge“ zur Un­terschrift vor­- nye starb auf der Flucht. Wer dennoch blieb, gelegt. Bei der Berliner Afrika-Konferenz 1885, wurde in Ketten zur Zwangsarbeit auf den welche die Hamburger Händler eingefädelt hat ­ Großplantagen verschleppt oder in Reserva- ten, wurde schließlich ihrem lang gehegten te in unfruchtbaren Randlagen des Kame- Wunsch entsprochen. Nun soll­te die militäri­ rungsbergs getrieben. In Gbea, dem einstigen sche Intervention den unerwünschten Zwischen­ Wohnort der Bakweri, der 1894 von Dominiks handel ausschalten und den Weg ins Landes- Truppen in Schutt und Asche gelegt worden

Quellen: gen_%C3%BCber_die; www.mopo. Band I, S. 471 (Dominik); Fritz May­ https://openlibrary.org/books/ de/nachrichten/benannt-nach- wald: Die Eroberer von Kamerun. OL14015977M/Jaunde-Texte_ sklavenhaendlern-und-moerdern- Berlin, [ca. 1933]. Deutschlands von_Karl_Atangana_und_Paul_ das-sind-hamburgs-strassen-der- Kolonialherren, Bd 2; Dibussi Messi_nebst_experimental­ schande,5067140,8301052.html; Tande: Bakweri armed resistande phonetischen_Untersuchun­ Deutsches Kolonial-Lexikon (1920), to German colonialism 1891–1894, 21 | Biographien von A bis Z

war, entstand in luftigen Höhen der deutsche Dominik hatte eine Tochter mit Namen Verwaltungssitz Buea. Den verschwenderisch Marie Ngono, die nach seinem Tod 1911 gebo- ausgestatteten Gouvernementpalast („Puttka- ren wurde. mer-Schlösschen“) mussten gefangene Bakwe- Bis 1914 waren 90 000 Hektar Land rund um ri bauen. den Kamerunberg von der Kolonial­verwaltung Als der bewaffnete Kampf der Bevölkerung enteignet und zu Spottpreisen an Aktiengesell- nur noch wenig erfolgreich war, zogen sich die schaften verkauft. An den Konzessionsgesell- Kolonisierten zurück auf gewaltlose Formen schaften Kamerun Land- und Plantagengesell- des Widerstands. Die Königshäuser Bell und schaft, Westafrikanische Pflanzungsgesellschaft Akwa verfassten Petitionen und schickten Dele- Victoria, Gesellschaft Nord- West-Kamerun, Ka- gationen nach Berlin, um sich über Kettenhaft, merun-Land-und-Plantagengesellschaft, Kame- Zwangsarbeit und Prügelstrafe zu beschweren. run-Tabakbau-Gesellschaft, Gesellschaft Süd-Ka- Wegen dieser Eingaben wurde immerhin der merun, Moliwe-Gesellschaft waren Hamburger verhasste Gouverneur Jesco von Puttkamer Handelshäuser und rheinische Schwerindustriel- abberufen. Doch schließlich wurde der wich- le als Großaktionäre beteiligt. tigste Douala-Fürsprecher, König Rudolf Manga 1912 stiftete die Gesellschaft Süd-Kame- Bell, der die Einhaltung der mit den Hamburger run Dominik ein Denkmal in Kribi; ein zwei- Handelshäusern abgeschlossenen „Schutzver- tes Denkmal für Yaoundé kam wegen des Ers- träge“ umsichtig aber beharrlich einforderte, ten Weltkriegs nicht zur Aufstellung. Um 1930 wegen „Hochverrats“ zum Tode verurteilt. wurden die Standbilder mit der Woermann-Li- 1896 übernahm Dominik die Leitung der nie nach Hamburg verschifft. Die Statue aus Militärstation Jaunde (Yaoundé), 1898/1899 Yaoundé wurde 1935 vor der Universität Ham- befehligte er „Strafexpeditionen“ gegen die burg gegenüber dem Wißmann-Denkmal (sie- Wute und Bakoko. Sein brutales Vorgehen he: Wißmannstraße) aufgestellt. 1968 stürzten stieß jetzt auch im Berliner Reichstag auf Pro- Studierende die Denkmäler Dominiks und test. Bismarck sah sich veranlasst, Dominik Wißmanns von ihren Sockeln. Beide wurden zu rügen, als ruchbar wurde, dass er gefan- im Keller der Sternwarte Bergedorf eingela- gene Frauen an die Soldaten seiner Hilfstrup- gert, wo sie sich noch heute befinden. pe „verschenkte“. Dominik wurde abberufen, Deutschlands koloniale Eroberung Kame- kehrte aber schon 1903 nach Kamerun zurück, runs führte zu weit über hundert bewaffneten um den Posten als Verwaltungschef für den Auseinandersetzungen. Wegen der unerbittli- Jaunde-Bezirk zu übernehmen. 1910 wurde er chen Menschenjagd, wegen Mord, Folter, Kopf- zum Major befördert, wenige Monate später steuer und Zwangsarbeit lebt die Figur des Ma­- schlug er den Aufstand der Makaa am oberen yor Dzomnigi oder Doumniki als Schreckens- Nyong nieder. Aufgrund gesundheitlicher Pro- mythos in Erinnerung der kamerunischen Be- bleme trat Dominik im November 1910 eine völkerung fort. Hingegen werden die Führer des Schiffsreise nach Europa an. Im Alter von 40 Verteidigungskampfes Kuv’a Likenye in Buea Jahren starb er vier Wochen später auf See vor und Asunganyi in den Bangwa-Bergen als Hel- der guineischen Küste. den verehrt.

BLCC Communications Department bekannteste Kameruner Offizier, in: Kamerun, www.freiburg-postkoloni­ (Hrsg.), 2006, PDF-Download: www.traditionsverband.de/maga­ al.de/Seiten/Moehle-Kamerun276. www.blccarchives.org/2006/07/ zin/dominik.html (letzter Zugriff htm (letzter Zugriff 20.9.2014); bakweri_armed_r.html#more (letz­ 20.9.2014); Heiko Möhle: Eine Prof. Albert Gouaffo sowie Dr. ter Zugriff 20.9.2014); Wolfgang endlose Geschichte – Nachwirkun­ Stefanie Michels, Tafeltexte aus der Herterich: Hans Dominik – der gen des deutschen Kolonialismus in Ausstellung „freedom roads! kolo­ 22 | Biographien von A bis Z

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich der Widerstand gegen die neuen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich fort. Kame- run errang seine Unabhängigkeit 1960 für das französische und ein Jahr später für das briti- sche Territorium. Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser

niale straßennamen • postkoloniale erinnerungskultur“, 2013; Edwin Ardener: Kingdom on Mount Came­ roon: Studies in the History of the Cameroon Coast 1500–1970, 2003. 23 | Biographien von A bis Z

Donnerstraße Banker: Er besaß eigene Schiffe, handelte mit Ottensen, seit 1865; benannt nach der Familie Tabak, Zucker und Kaffee, die unter Aus- Donner, besonders nach Conrad Heinrich beutung der einheimischen Bevölkerung aus Donner (1774–1854) Übersee nach Hamburg kamen, und sicherte als eine Art Bürge den Warenhandel finanzi- Der Kaufmann Conrad Hinrich Donner gründete ell ab. Als besonders einträglich erwiesen sich 1798 die Handelsfirma „Conrad Hinrich Don- nach dem Ende des Dritten Koalitionskrieges ner“ und dann die „Conrad Hinrich Donner 1805 das Zucker- und das Kaffeegeschäft. Bank“. Conrad Hinrich Donner zählte bald „zu den Conrad Hinrich Donner (1774–1854) war reichsten Leuten der Hamburger Börse“. Darü- seit 1804 verheiratet mit Elisabeth Willink ber hinaus betrieb er Lager für Wein, Brannt- (1784–1826), Tochter des Hamburger Kauf- wein und Essig und gründete um 1811 an der manns Barend (Bernhard) Willink und Sophia großen Elbstraße eine „Tobacksfabrik“. Elisabeth, geb. Beets. Das Paar hatte fünf Kin- Mit der Zeit wurde das Bankgeschäft im- der. Zwei von ihnen starben bereits im Kindes­ mer wichtiger, bis die Firma C. H. Donner nur alter. noch als Bankhaus unter dem Namen „Conrad Conrad Hinrich Donner trat nach seiner Hinrich Donner Bank“ tätig wurde, die u. a. Lehre bei dem Altonaer Handelsherrn Johann Staatsanleihen für den dänischen König auf- Daniel Lawaetz (siehe: Lawaetzweg) als Kauf- legte. Donners Reichtum ermöglichte es ihm, mann in die Dansk Asiatisk Kompagni (Dä- großzügig für wohltätige Zwecke zu spen- nisch-Asiatische Handelskompanie) ein und den. Er unterstützte u. a. die Altonaer Sonn- reiste wiederholt nach Süd- und Südostasien tagsschule zur fachlichen Weiterbildung von (in das einstige Ostindien), außerdem nach Handwerkern und Künstlern. Madagaskar und Saint Thomas, einer Kari- Sein Firmennachfolger wurde sein Sohn bikinsel, die zur damaligen Kolonie Dänisch- Bernhard Donner (1808–1865). Als dieser 1865 Westindien gehörte. Handelskompanien waren im Alter von 57 Jahren verstarb, bedachte er staatlich geschützte, privilegierte und mono- in seinem Testament seine Frau Helene (sie- polisierte Zusammenschlüsse von Großkauf- he: Helenenstraße) mit einer großzügig bemes- leuten, die in Übersee befestigte Stützpunkte senen Rente, verbunden mit dem Wohnrecht mit eigener Flotte, Münz- und Gerichtshoheit im Haus an der Palmaille und in Neumühlen. unterhielten. Sie setzten ihre Handelspolitik Seinen beiden Töchtern Harriet, geboren 1841, durchaus auch mit Gewalt durch, was von und Esther, geboren 1851, vermachte er je eine bewaffneten Raubüberfällen bis hin zur Er- halbe Million Banco: auszuzahlen nach Voll- mordung von Bewohnerinnen und Bewohnern endung ihres 40. Lebensjahrs. Seine zwei jün- kleinerer Inselstaaten reichte. Außerdem wa- geren Söhne Bernhard Carl, geboren 1849, und ren sie am Sklavenhandel beteiligt. Richard Henry, geboren 1855, erhielten je eine 1798 gründete der damals 24-jährige Con- Million Mark Banco, die sie nach Ablauf ihres rad Hinrich Donner in Altona die Firma C. H. 26. Lebensjahres ausgezahlt bekommen soll- Donner und betätigte sich fortan als Merchant ten. Der älteste Sohn Conrad Hinrich, geboren

Quellen: Hinrich Donner Bank, Hamburg, htm (letzter Zugriff 21.11.2014); Bruno W. F. Andresen: Mit Steh­ 1998; Hildegard von Marchtaler: Maria Möhring: 175 Jahre Conrad pult und Tintenfaß, Erinnerungen „Donner, Conrad Hinrich", in: Neue Hinrich Donner. Hamburg 1973 aus dem Kontor einer Hamburger Deutsche Biographie 4 (1959), S. (Veröff. d. Wirtschaftsgeschichtl. Merchant-Bank, Hamburg 1984; 73, Onlinefassung, URL: www.deut­ Forschungsstelle e.V., Hamburg); Kristina Dörge: 200 Jahre Conrad sche-biographie.de/pnd135707099. Jürgen G. Nagel: Abenteuer Fern­ 24 | Biographien von A bis Z

1844, bekam die Firma und zwei Millionen hörte Conrad Hinrich Donner zu den zwanzig Mark Banco sowie den Grundbesitz in Altona, reichsten Männern der Welt mit einem Vermö- Neumühlen, Bredenbek und Rethwisch. gen von 400 Millionen Mark. Conrad Hinrich Donner war beim Tod sei- Wie auch seine Mutter Helene Donner und nes Vaters Bernhard Donner noch nicht voll­- viele der durch Waren- und Geldwirtschaft zu jährig und befand sich auch noch in der kauf- Reichtum gekommenen Kaufleute, gab Con- männischen Ausbildung. Erst nachdem er 25 rad Hinrich Donner einen Teil seines erwirt- Jahre alt und damit volljährig geworden war, schafteten Geldes für wohltätige Zwecke aus. konnte 1870 die Firma an ihn übergeben wer- Als seine Mutter schwer erkrankte, gelobte der den. Bis dahin wurde sie von der verwitweten zum Freiherrn geadelte Sohn im Falle ihre Ge- Frau Etatsrätin Helene Donner in Güterge- nesung, Altona ein Krankenhaus zu schenken. meinschaft mit ihren Kindern betrieben, d. h. Nachdem Helene Donner genesen war, lehnte die Arbeit übernahmen die beiden Firmen-Pro- die Stadt Altona das Angebot dankend ab, weil kuristen. sie solch einen Bau als ihre eigene Angelegen- 1871 verlegte Conrad Hinrich Donner die heit betrachtete. So ließ Conrad Hinrich Don- Bank nach Hamburg. Zwei Jahre später heira- ner gemeinsam mit seiner Frau Bodil für das tete er Bodil Gräfin von Holstein-Holsteinborg, Kirchspiel Othmarschen die Christuskirche eine Enkelin von Sophie Elisabeth Donner, errichten, für die bereits seine Mutter Helene der Tochter seines Großvaters Conrad Hinrich eine Geldsumme gegeben hatte. Auch über- Donner. Einen Monat vor seiner Hochzeit er- nahmen er und seine Mutter für mehrere Jahre hielt er den preußischen erblichen Adelstitel. die Besoldung des Pfarrers. Geschäftlich stand die Wareneinfuhr aus Conrad Hinrich Donner ließ auch das Er- Übersee weiterhin an wesentlicher Stelle. Spä- holungsheim in Döse an der Nordsee erbauen ter wurde die Reederei aufgegeben, es kam und dem Altonaer Kinderhospital übereignen. der Handel mit Petroleum hinzu. 1894 war Für den Unterhalt der dort untergebrachten Conrad Hinrich maßgeblich an der Gründung Kinder kam die Etatsrätin-Donner-Gedächt- der Hamburgischen Electricitäts-Werke betei- nis-Stiftung auf, die der Sohn eigens für diesen ligt. Inzwischen war auch sein jüngere Bruder Zweck errichtet hatte. Henry Firmenteilhaber geworden. Text: Frauke Steinhäuser und Rita Bake 1899 gründete Conrad Hinrich Donner mit anderen Kaufmännern in La Paz die Vereini- gung zur Ausbeutung der Gummivorkommen in Bolivien. Hinzu kam der Handel mit Baum- wolle, importiert aus den Südstaaten der Ver- einigten Staaten von Amerika, aus Indien und Ägypten; Kaffee kam aus Brasilien und Häute aus China und Argentinien. Gleichzeitig ent- wickelte sich die Bank bis 1914 zu einem der größten deutschen Geldhäuser. Um 1900 ge-

handel. Die Ostindienkompanien, sie wohnen, und der Nummer ihrer Darmstadt 2007; Altonaisches Wohnungen. Alphabetteil Cardi­ Adress-Buch für 1811 Personen- und nahl, Onlinefassung, URL: http:// Firmenverzeichnis: Verzeichniss kurzurl.net/7sgPS (letzter Zugriff aller Einwohner, ihrer Namen, 21.11.2014) ihres Gewerbes, der Gassen wo 25 | Biographien von A bis Z

Gaiserstraße Unternehmen gegenüber der Konkurrenz im- Harburg, seit 1950; benannt nach Gottlieb mens erfolgreich und konnte die starke Nach- Leonhard Gaiser (1817–1892), Kaufmann und frage nach Ölen in Deutschland befriedigen. Ölmühlenbesitzer Doch es trieb die lokale afrikanische Produkti- on in den Ruin – eine Folge kolonialer Ausbeu- 1859 gründete Gaiser zusammen mit Franz Set­- tung und typisch für die ungleichen Handels- tels die Ölmühle Gaiser & Co. in Harburg, ab beziehungen zwischen Europa und Afrika. 1866 führte er als Alleininhaber das Einkaufs- Als Schmiermittel für Maschinen, in der haus G.L.Gaiser in Hamburg. Damals gehör- Lebensmittelindustrie, Pharmazie und Kosme- te Harburg zu Preußen und war Mitglied im tikbranche fand das Palmöl reißenden Absatz. Deutschen Zollverein. Damit bot sich ein gro- Der Standort Harburg stieg auf zu einem der ßer Absatzmarkt im Hinterland – ein entschei- wichtigsten europäischen Zentren zur Vere- dender Standortvorteil, den Hamburg noch delung von Palmöl und auch Kautschuk. G. L. nicht hatte. Gaiser wuchs zum führenden Firmen-imperi- Franz Settels war 1865 aus dem gemein- um in Nigeria und zum größten Palmkernim- sam mit Gaiser geführten Ölmühlenbetrieb porteur in Deutschland auf. 1876 verließ Witt ausgestiegen. Im Jahr darauf stellte Gaiser die das Unternehmen. Produktion komplett um, denn bedingt durch In Westafrika leistete die Bevölkerung die industrielle Entwicklung konnte mit ein- Widerstand gegen unrechtmäßige Gebietsan­ heimischen Saaten die stark wachsende Nach- sprüche der kolonialen Kaufleute. Im Vorfeld frage nach pflanzlichen Ölen nicht mehr be- der Berliner Afrika-Konferenz 1884 hatte Bis- friedigt werden. Gaiser beschloss deshalb, nur marck (siehe: Bismarckstraße und Bismarckstein) noch tropische Rohstoffe zu verarbeiten, die beauftragt, die privaten „Er­- aufgrund der niedrigen Löhne in den Ländern werbungen“ hanseatischer Handelsherren un­ des Südens obendrein günstiger waren. Er be- ter kaiserlichen Schutz zu stellen. Mit Flag- zog Palmölkerne (Kopra) von dem Hamburger genhissungen und Kanonenbooten als Droh- Händler O’Swald & Co. (siehe: O’Swaldstraße) in kulisse sicherte Nachtigal im Wettlauf mit Lagos und Palma in Nigeria, die er über seine Großbritannien strategisch wichtige Gebie- Firma G.L.Gaiser importierte. Weitere Liefe- te für die nachfolgende Kolonisierung. Nun rungen aus Ouidah im Königreich Dahomey mischte sich auch Kaufmann Gaiser aktiv in (heute Benin) kamen hinzu. Aus Hamburg ex- die deutsch-koloniale Expansion ein. Im Ja- pedierte Gaiser Spirituosen, Tabak, Gewehre nuar 1885 schloss er mit König Amapetu von und Schießpulver nach Afrika. Mahin einen Vertrag, wonach der lange Küs- 1869 erwarb er die O’Swaldschen Nieder- tenstreifen zwischen Abejamura und Abo- lassungen in Nigeria und führte sie zusammen tobo östlich von Lagos, inmitten einer britisch mit John Witt unter dem Firmennamen Gaiser kontrollierten Region, gegen „5 Stück Seide, & Witt weiter. Die Palmkerne wurden impor- 5 Fässer (Puncheon, je etwa 300 Liter Inhalt) tiert und mit der „Gaiser-Methode“ erst in Har- Rum und 100 Kisten Gin“ in deutschen Ko­- burg gepresst. Das neue Verfahren machte das lo­nialbesitz übergehen sollte. Erst im März

Quellen: wumi: The Colonial Contest for the in: Neue Deutsche Biographie 6 Heiko Möhle (Hrsg.): Branntwein, Bi­ Nigerian Region 1884–1900, Müns­ (1964), S. 39f., Online-Fassung: beln und Bananen, Neuaufl., Berlin ter 2002; Norbert B. Wagner: Archiv www.deutsche-biographie.de/ 2011; Rudolf Fitzner: Deutsches des Deutschen Kolonialrechts, 2., pnd136350100.html (letzter Zugriff Kolonial-Handbuch, 2., erw. Aufl., berichtigte Aufl., Brühl 2008; Ernst 12.8.2014); Kolonial-Wirtschaft­ Berlin, 1901, S. 44; Olayemi Akin­ Hieke: „Gaiser, Gottlieb Leonhard“, liches Komitee Wirtschaftlicher 26 | Biographien von A bis Z

konnte Nachtigal den „Mahinstrand“ unter wie der Hamburger Firmenteilhaber und NS- den „Schutz“ des Deutschen Reiches stellen. Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht es Doch der Gaisersche Kolonialbesitz währ- formulierte – die „Rückeroberung Nigerias“ te nicht lange: im Rahmen eines Kolonial- einzuleiten. Schacht kündete: „Kolonien sind ausgleichs verzichtete das Deutsche Reich im für Deutschland eine Lebensnotwendigkeit. Oktober 1885 auf alle Gebietsansprüche in Wenn man sie durch Verhandlungen gewin- Nigeria, dafür erkannte Großbritannien alle nen kann, wollen wir verhandeln. Wenn das von Nachtigal „erworbenen“ Kolonialgebiete aber nicht möglich ist, dann müssen wir sie in Kamerun an – ein Anlass für Gaiser, seine mit Gewalt nehmen.“ Doch solche Drohgebär- Handelstätigkeit auf Kamerun auszudehnen. den liefen ins Leere, sie scheiterten schlicht Nach seinem Tod 1892 übernahm sein an der Unwilligkeit des britisch regierten Ni- Schwager Johann Martin Brettschneider das gerias, mit dem Unternehmen ins Geschäft Einkaufshaus G.L.Gaiser. Die Ölmühle Gaiser zu steigen. 1955 ging G.L.Gaiser in Konkurs. & Co. verkaufte er an den Harburger Konkur- 1960 wurde Nigeria ein unabhängiger Staat, renten Friedrich Thörl (siehe: Thörlstraße). 1902 1960/1961 konnte sich Kamerun vom franzö- gründete Brettschneider in Kamerun die Ham- sischen und britischen Mandat befreien. burg-Afrika-Gesellschaft m.b.H., die sich auf Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser den Handel mit Kautschuk spezialisierte. Die lokale Bevölkerung sah sich von den deutschen Konzessionsgesellschaften rück- Informationen zum Ehe- und Familienleben sichtslos ausgebeutet. Gouverneur Jesco von Puttkamer beschrieb die Situation: die Koloni- Gottlieb Leonhard Gaiser war seit 1854 mit Mar- sierten in Kamerun „mussten laufend Strafar- garetha Dorothea, geb. Brettschneider (1825– beiter stellen, um die Entschädigungsansprü- 1900) verheiratet, Tochter eines Gastwirtes und che der Firmen zu erfüllen; sie betrachten das Witwe des Kaufmanns Joh. Wilh. Ulrich Rengs- als eine Art Sklaverei nach portugiesischem torff. Das Paar hatte keine Kinder. Frau Gaiser Muster“. stiftete für das Krankenhaus Betha­nien, das 1904/1905 kam es in Kamerun vermehrt von Diakonissen geleitet wurde, den Kinder- zu antikolonialen Erhebungen, bei denen die pavillon. Faktoreien auch der Hamburg-Afrika-Gesell- schaft in Flammen aufgingen. Zwei Jahre brauchte die deutsche „Schutztruppe“, um den Widerstand niederzuschlagen, auf die zahl- reiche weitere Aufstände erfolgten. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 gehörte das Handelshaus G.L.Gaiser zu den führen- den Unternehmen in Nigeria und Kamerun. In den 1930er-Jahren wurde G.L.Gaiser von einem Firmenkonsortium übernommen, um –

Ausschuß der Deutschen Kolo­ African Pilot, 1963; Ernst Hieke: Mahinland, Wikipedia, URL http:// nialgesellschaft Berlin (Hrsg.): G.L. Gaiser. Hamburg – Westafri­ de.wikipedia.org/wiki/Mahinland, Kolonial-Handels-Adressbuch 1909, ka, 100 Jahre Handel mit Nigeria, (letzter Zugriff: 8.12.2014). 13. Jg.; Die Zeit, Nr. 39/1956 vom 1949; afrika-hamburg.de, www. 27.9.1956; Der Spiegel, Nr. 4/1964 afrika-hamburg.de/globalplayers2. vom 22.01.1964; dazu auch: West html (letzter Zugriff 6.11.2014); 27 | Biographien von A bis Z

Gayens Weg tung vom 31. Mai 1843, nach Eberstein). Nach Bahrenfeld, seit 1939; benannt nach Theodor und nach beraubten die ausländischen Mächte Alexander Gayen (1824–1900), Kaufmann, Ostasien großer Teile seiner staatlichen Souve- Reeder, Konsul, hatte in Bahrenfeld großen ränität. Die Gayenschen Schiffe befuhren mit Grundbesitz Zwischenstation in Indien vor allem die chine- Siehe auch: Theodorstieg und Theodorstraße sische Küste von Singapur über Hongkong bis an die Mündung des Amur in Russland. Im folgenden Text wird das N-Wort im histori- 1867 war die Firma Jan Tekker Gayen mit schen Zitat voll ausgeschrieben.* zehn Schiffen Altonas größte Segelschiffsree- derei, noch vor Conrad Hinrich Donner (sie- Theodor Alexander Gayen war ein Enkel des erst- he: Donnerstraße) und J. C. D. Dreyer – da war mals 1802 in Altona erwähnten Kapitäns Jan Theodor Gayen bereits seit drei Jahren Vor- Tekker Gayen und ein Sohn des Altonaer Ree- steher der in Altona von Kaufleuten und Ge- ders, Brennerei- und Essigfabrikbesitzers Jan werbetreibenden gegründeten Gesellschaft für Peter Albert Gayen. Er baute die väterliche Commercierende und seit einem Jahr Mitglied Reederei weiter aus und schickte deren Schiffe des Königlichen Kommerz-Kollegiums, das nicht nur wie zuvor nach Portugal und Spani- sich für die Interessen der Altonaer Kaufleute en, sondern nach seiner Ernennung 1858 zum und Fabrikanten einsetzte. Konsul des Staates Buenos Aires und später der Ab 1867 begann Theodor Gayen auch im Republik Argentinien auch nach Südamerika. großen Stil Land in Bahrenfeld zu erwerben. Den größten Teil der Ladung bildeten stets Seine Handelsgeschäfte verliefen immer Spirituosen aus der 1838 von Theodor Gay- nach dem gleichen Prinzip: Die Gayenschen ens Vater erworbenen Brennerei an der Gro- Schiffe fuhren leer von Altona aus nach Ham- ßen Elbstraße. 1855 stieg er dort selbst als burg, wurden dort mit Schwergut wie Eisen, Kompagnon ein. Mit Beginn der 1860er-Jah- Beton, Holz und Papier beladen, brachten die re wandte sich die Firma der Frachtreederei Fracht zurück nach Altona und liefen dann, zu. Man vercharterte die Schiffe und diese, beladen mit Spirituosen, nach Übersee aus. so einer der Kapitäne, „fuhren dorthin, wo Nach Löschen dieser Fracht nahmen die Ka- man das meiste Geld verdienen konnte“. Das pitäne dortige Waren an Bord – Rohstoffe, meiste Geld brachte in jener Zeit vor allem die die unter Ausbeutung von Mensch und Natur ostasiatische Küstenfahrt: „Freudige Bewe- abgebaut wurden, um wiederum in Europa gung ergriff bald den ganzen Handelsstand lukrativ weiterverarbeitet zu werden. Doch der europäisch zivilisierten Welt. Auch der Gayens Schiffe brachten nicht nur Rohstoffe Deutsche, der sonst teils aus eigener Schuld, aus Übersee nach Altona, sondern auch leben- teils von den Verhältnissen gezwungen, al- de Fracht: „Hier [vom Gayenschen Privathaus lenthalben zurückbleibt, machte sich jetzt (...) an der Klopstockstraße gegenüber der Kirche, sehr frühzeitig auf die Beine, um auch seinen Anm. d. Verf.] konnte man das lebhafte Ge- Anteil an dem neueröffneten Handelsparadie- wimmel am Hafen sehen und nach den väter- se zu erhalten“ (Augsburger Allgemeine Zei- lichen Schiffen Ausschau halten. Und was gab

* Hinter dem N-Wort steckt die sentheorien“ auf. Das Wort wird im Quellen: Bezeichnung „Neger“, die stark dis­ vorliegenden Text ausschließlich im Staatsarchiv Hamburg (StaH) kriminierend ist. Das N-Wort tauchte historischen Zitat ausgeschrieben, 424-88/63 Nachläss Gayen 1–3; erstmalig im Zusammenhang mit weil damit deutlich gemacht werden StaH 731-8 Zeitungsausschnitts­ dem transatlantischen Menschen­ soll, wie rassistisch gedacht und sammlung A757 Gayen, Familie handel, mit Kolonialismus und „Ras­ gehandelt wurde. Gayen; Hildegard von Marchtaler: 28 | Biographien von A bis Z

es nicht zu staunen, wenn erst die Kapitäne te er mit seinen Holzseglern Konkurs anmel- mit den merkwürdigstem Herrlichkeiten aus den. Fortan verdiente die Firma ihr Geld nur aller Herren Länder von Bord kamen und alle noch mit dem Export von Spirituosen. Dabei Raritäten oben im zweiten Stock des Hauses erweiterte sie nach und nach ihr Absatzge- in einem saalartigen Zimmer, das mit Bil- biet: In Altona gebrannter Schnaps ging nach dern der Schiffe ausgeschmückt war, aufge- Japan, China, Brasilien, Uruguay und auf die baut wurden. Einmal brachte einer der Kapi- Kanarischen Inseln, außerdem in die Karibik täne einen jungen Neger mit, ein anderes mal nach Saint Thomas sowie nach New Orleans, ein kleines lebendiges Äffchen. Die anfängli- Australien, in das damalige Britisch-Indien, che Freude darüber erlosch aber bald, als sich nach Hongkong und in die Südsee. Zurück be- herausstellte, dass der Negerjunge frech und förderten die Schiffe weiterhin Rohstoffe unter ungebärdig war und der Affe wie ein Rabe Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung. nicht nur Lebensmittel sondern auch noch al- Das einträgliche Geschäft brachte Theodor les, was glänzte, stahl und in raffinierter Wei- Gayen ein Vermögen ein. Damit erwarb er se in seiner Schlafstelle versteckte. Die Kinder günstig große Ländereien in Bahrenfeld und waren schließlich herzlich froh, als beide Un- spekulierte mit deren Wertsteigerung. Ihm holde weggeholt wurden.“ (Marchtaler, S. 42). gehörte fast der gesamte heutige Altonaer Was mit dem seiner vertrauten Umgebung ent- Volkspark. Auch ermöglichte ihm diese durch rissenen Jungen anschließend passierte, dazu Kolonialgeschäfte erworbenen Einnahmen, hüllte man sich in Schweigen. sich wohltätig zu zeigen: Er war einer der Vor- So genau er seine Handelsinteressen ver- steher des Altonaer Stadtarmenwesens sowie folgte und absicherte – die Folgen des Auf- Vorsteher der Versorgungsanstalt für Schwa- kommens von Eisenseglern und vor allem der che, Alte und unheilbar Kranke. Dampfschifffahrt erkannte Theodor Gayen Text: Frauke Steinhäuser nicht rechtzeitig. Ende der 1870er-Jahre muss-

Die Gayen und ihre Firma Jan Tekker tingen, 2006, B. 3, S. 131f.; Bernd Deutsches Historisches Museum, Gayen. Reederei in Altona seit 1790, Eberstein: Kaufleute, Konsuln, Kapi­ Berlin, 1998. Hamburg, 1955; „Gayen, Theodor täne. Frühe deutsche Wirtschaftsin­ Alexander“, in: Franklin Kopitzsch, teressen in China, in: Tsingtau, ein Dirk Brietzke (Hrsg.), Hamburgische Kapitel deutscher Kolonialgeschich­ Biografie. Personenlexikon, Göt­ te in China. 1897–1914. Ausst.-Kat., 29 | Biographien von A bis Z

Godeffroystraße Bank. Nach der weltweiten Handelskrise 1857 Blankenese, seit vor 1928, benannt nach Joh. konzentrierte er sich auf das kurz zuvor aufge- Caesar Godeffroy (1813–1885), Reeder, Kauf- nommene Südseegeschäft. Von Apia aus, der mann, Präses der Handelskammer (1845); Hauptstadt Samoas, überzog er fast den ge- Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft samten Südseeraum mit einem Netz aus über (1859–1864). 45 Handelsagenturen und Plantagen, vor al- Siehe auch: Amalie-Dietrich-Stieg lem zur Herstellung von Kopra, getrocknetem Joh. Caesar Godeffroy stammte von Hugenotten Kokosnussfleisch, aus dem Kokosöl gewonnen aus La Rochelle ab, die als Reeder und Kauf- wird. 27 große Segelschiffe, neun davon auf leute durch Handel vor allem mit Westindien der „Godeffroys Werfte Reiherstieg" in Ham- und durch Plantagenbesitz in der ehemali- burg-Wilhelmsburg gebaut, brachten die Wa- gen holländischen Sklavenkolonie Surinam zu ren nach Europa. Damit wurde er zum Wegbe- Reichtum gekommen waren. Godeffroy be- reiter der kolonialen Expansion des Deutschen suchte das Katharineum zu Lübeck, absolvier- Reichs in der Südsee. Dies ging einher mit te eine Kaufmannslehre und trat 1837 in die der Verdrängung der einheimischen kleinen väterliche Firma Joh. Ces. Godeffroy & Sohn Händler, sodass bald wenige Firmen aus Euro- ein. Nach dem Tod des Vaters baute er, unter- pa den Südseeraum beherrschten. stützt durch Familienmitglieder vor Ort, den Außer für den Handel interessierte sich Handel mit Süd- und Mittelamerika, Austra- Godeffroy für die Naturwissenschaft und wies lien, Indien und Südafrika aus, beteiligte seine Kapitäne an, so viele Naturobjekte wie sich am lukrativen Transport goldsuchender möglich von ihren Fahrten mit nach Hamburg Auswanderer nach Australien und Kalifor- zu bringen. 1860 beauftragte er den Zoolo- nien. Zügig verwandelte er die Firma in ein gen Eduard Graeffe, mit dem Material ein weltweit agierendes Handelsimperium. Wahr- naturwissenschaftlich-ethnografisches Muse- zeichen des Wohlstands der Familie war das um aufzubauen, das „Museum Godeffroy“. Es prunkvolle weiße Landhaus an der Elbchaus- wurde eines der größten naturkundlichen Pri- see 499, das sein Großvater Cesar IV. Godef- vatmuseen weltweit. Um seine Sammlungen froy 1789 inmitten eines Parks in Dockenhu- stetig zu erweitern, sandte Godeffroy zwanzig den bei Blankenese hatte errichten lassen. Er Jahre lang Forscher in die Südsee und nach selbst ließ dort ein Hirschgehege anlegen, das Australien, unter ihnen als einzige Frau die dem Park seinen heutigen Namen gab. Naturforscherin Amalie Dietrich (siehe: Ama- 1845 wurde er zum Präses der Handels- lie-Dietrich-Stieg). Von 1863 bis 1873 sammelte kammer Hamburg gewählt, 1846 zählte er zu sie in seinem Auftrag im Küstengebiet von den Gründern des Elbkupferwerks, aus dem Queensland allerdings nicht nur botanische die Norddeutsche Affinerie hervorging (heute Objekte. Sie war auch angehalten, menschli- Aurubis). Dort wurde aus den Erzen, die mit che Überreste von Verstorbenen – Schädel, Schiffen der Firma Godeffroy aus Chile und Skelette, Haut – mitzunehmen. Mit Nachdruck Australien kamen, Kupfer gewonnen. 1856 ge- schrieb Godeffroy ihr am 20. Januar 1865: hörte er zu den Gründern der Norddeutschen „Wir (...) möchten Sie nochmals bitten, nicht

Quellen: Zugriff 30.12.2014); Golf Dornseif: Kopfjäger und Grabräuber im Käthe Molsen: Godeffroy, Johann Deutsche Handelsherren in der vor­ Kolonialdienst der Wissenschaften, Cäsar, in: Neue Deutsche Biogra­ kolonialen Südsee, PDF-Download PDF-Download von: www.golf-dorn­ phie 6 (1964), S. 494f., Onlinefas­ von: www.golf-dornseif.de/artikel/ seif.de/artikel/Schutzgebiete_all­ sung, URL: www.deutsche-biogra­ Pazifische_Inselgebiete (letzter gemein (letzter Zugriff 30.12.2014); phie.de/pnd116695617.html (letzter Zugriff 30.12.2014); Golf Dornseif: Paul Turnbull: Ancestors, not 30 | Biographien von A bis Z

nur Skelette von dort vorkommenden großen eine Finanzhilfe ab, dann der Reichstag. Ende Säugetieren, sondern auch möglichst Skelette 1879 stellte die Firma Godeffroy ihre Zahlun- und Schädel von den Eingeborenen sowie auch gen ein, 1913 wurde sie aus dem Handelsre- deren Waffen und Geräte zu senden. Diese Sa- gister gelöscht. Das Stammhaus und das Mu- chen sind sehr wichtig für die Völkerkunde.“ seumsgebäude am Alten Wandrahm mussten Die Völkerkunde jener Zeit war von Charles um 1885 dem Bau der Speicherstadt weichen. Darwins rassistischer Abstammungstheorie Die Museumsbestände wurden verkauft: Die beeinflusst. Sie wollte durch anthropologi- ethnografisch-anthropologische Schausamm- sche Untersuchungen die vermeintliche Über- lung erwarb das Museum für Völkerkunde zu legenheit des weißen Mannes beweisen und Leipzig, die Herbarien übernahm das damals verlangte dazu große Mengen menschlichen gerade neu gegründete Naturhistorische Mu- „Materials“ aus außereuropäischen Ländern. seum in Hamburg. Während des II. Weltkriegs So bot Godeffroy alles, was er nicht für seine wurden beide Bestände zerstört. Doch durch eigenen Sammlungen brauchte, per Katalog Godeffroys weit verbreiteten Kataloghandel anderen Museen und universitären Instituten finden sich in vielen naturwissenschaftlichen zum Kauf an. Ein einträgliches Geschäft: Ein und ethnologischen Museen noch heute Ob- Schädel aus Rockhampton, Australien, etwa jekte aus seinen Beständen. Nur sehr zögerlich kostete 600 Silbergroschen. Zu seinen Kun- haben deutsche Museen mittlerweile begon- den zählten Rudolf Virchow von der Berliner nen, die Herkunft der menschlichen Überreste Charité und der Direktor des Berliner Natur- in ihren Sammlungen zu erforschen – mit dem kundemuseums Wilhelm Peters. Mindestens Ziel, den Aborigines die Gebeine ihrer Vorfah- acht Skelette von Aborigines, von denen zwei ren zurückzugeben, damit diese in Würde be- namentlich bekannt waren, einen Schädel und erdigt werden können. eine präparierte Haut schickte Amalie Dietrich Text: Frauke Steinhäuser aus Australien an das Museum Godeffroy. Bei ihrer unermüdlichen Suche scheute sie auch nicht davor zurück, Gräber zu plündern. Hart- näckig hält sich das Gerücht in der indigenen Bevölkerung, das die „Angel of Black Death“ Genannte sogar die Tötung eines Mannes an- geordnet hätte, um an sein Skelett heranzu- kommen. 1878 geriet die Firma Joh. Ces. Godeffroy & Sohn in existenzielle Schwierigkeiten. Ur- sachen waren spekulative globale Geschäfte und eine dünne Kapitaldecke. Da half auch Bismarcks Intervention nicht mehr, die Unter- stützung der Firma sei eine nationale Pflicht. Erst lehnte die hamburgische Kaufmannselite

Specimens. Reflections on the 1997, www.jcu.edu.au/aff/history/ schweig, 1976, auf: www.hahn-god­ Controversy over the Remains of articles/turnbull.htm (letzter Zugriff effroy.de/15.html (letzter Zugriff Aboriginal People in European 30.12.2014); Hugenotten in Ham­ 30.12.2014); Matthias Glaubrecht: Scientific Collections Department burg, Stade, Altona. Tagungsschrift Der Schatz des Herrn Godeffroy, in: of History and Politics, James Cook zum Deutschen Hugenottentag Die Zeit, Nr. 34/2013 vom 23. August University of North Queensland, Hamburg, 23.–26. April 1976, Braun­ 2013, www.zeit.de/2013/34/godeff­ 31 | Biographien von A bis Z

roy-naturaliensammlung-naturkun­ Frage der deutschen Handelsinter­ Scheps: Das verkaufte Museum. demuseum-hamburg (letzter Zugriff essen in der Südsee, in: Zeitschrift Die Südsee-Unternehmungen des 30.12.2014); Matthias Glaubrecht: des Vereins für Hamburgische Ge- Handelshauses Joh. Ces. Godeffoy & Der Beutezug, in: Geo, 03 (2011), schichte, Band 81 (1995), S. 129–155; Sohn, Hamburg, und die Samm­ S. 118–131; Matthias Glaubrecht: Als Helene Kranz (Hrsg.): Das Museum lungen „Museum Godeffroy“, Kel­ Sammlerin in Australien. Das dunkle Godeffroy 1861–1881. Naturkunde tern-Weiler, 2005, Abhandlungen d. Geheimnis der Amalie Dietrich, und Ethnographie der Südsee, Aus­ Naturwissen-schaftlichen Vereins in in: Der Tagesspiegel, 23.6.2013; st.- Kat., Hamburg, 2005; Journal Hamburg (NF) 40; Hermann Kellen­ Deutsches Kolonial-Lexikon, hrsg. des Museum Godeffroy, Bd 3, Heft benz: Deutsche Plantagenbesitzer v. Heinrich Schnee, Leipzig 1920, 10, www.biodiversitylibrary.org/ und Kaufleute in Surinam vom Ende Band I, S. 300f.; Emil Krauß: Deut­ item/151126#page/7/mode/1up des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhun­ sche Handels- und Plantagen-Ge­ (letzter Zugriff 30.12.2014); Richard derts, in: Jahrbuch für Geschichte sellschaft der Südsee-Inseln zu Hertz: Das Hamburger Seehan­ von Staat, Wirtschaft und Gesell­ Hamburg, www.ub.bildarchiv-dkg. delshaus J.C. Godeffroy und Sohn. schaft in Lateinamerika, 3 (1966); uni-frankfurt.de/Bildprojekt/ 1766–1879, Veröffentlichungen Gabriele Hoffmann: Das Haus an der Lexikon/php/suche_db.php?such­ des Vereins für Hamburgische Ge­ Elbchaussee. Die Geschichte einer name=Deutsche_Handels-_und_ schichte, Bd IV, Hamburg, 1922; Kurt Reederfamilie, 8. Aufl., München, Plantagen-Gesellschaft (letzter Zu­ Schmack: J. C. Godeffroy &Sohn. 2000; Mordakte Museum, Terra-X, griff 30.12.2014); Ales Skivan: Das Kaufleute zu Hamburg, Leistung u. ZDF, www.zdf.de/terra-x/angel-of- hamburgische Handelshaus Johann Schicksal eines Welthandelshau­ black-death-5413172.html (letzter Caesar Godeffroy & Sohn und die ses, Hamburg, 193, S. 282 f.; Birgit Zugriff 30.12.2014)

Das Eheleben Cesar Godeffroy‘s lassener wird, auch weitschreifiger, wird Ces- Cesar Godeffroy war verheiratet mit Emily, ar schneller und härter.“2 geb. Hanbury (1815–1894). Dazu schreibt die Über das Leben der Frauen aus den groß- Historikerin Gabriele Hoffmann: „Er hat sich bürgerlichen Hamburger Kreisen der dama- in die Frau verliebt, die seine Eltern für pas- ligen Zeit schreibt Gabriele Hoffmann: „Die send halten, und auch Emily hat sich so ver- Öffentlichkeit ehrt Frauen, die wie Emily liebt, wie ihre Eltern, der Kaufmann und eng- Godeffroy née Hanbury Ansehen und Würde lische Geschäftsträger Frederik Hanbury und ihrer Familie und Firma vertreten. Man grüßt seine Frau Anna, es sich nicht besser wün- höflich, wenn sie in ihren Equipagen durch schen könnten.“1 Das Paar bekam fünf Kin- die Straßen fahren. (…) Emmy, ihre Freundin- der. Cesar Godeffroys Part am Familienleben: nen und die Töchter gehen zu Vorträgen und „Im Herbst geht Cesar auf die Jagd – ‚mehr Konzerten, besuchen Theater, Kostümfeste, wie ich es eigentlich mit dem Familienleben Bälle. Sie besitzen Kleider aus feingestreiftem verträglich finde‘, meint seine Mutter. Cesar Taft, aus mattschimmerndem Atlas, aus da- entzieht sich seiner Frau. Ihr Alltag dreht sich maszierter Seide. (…) Die Damen sind kostbar in altgewohnten Bahnen, um Kinder und Klei- gekleidet, doch die Gespräche mit ihnen sind der. Sein Leben wird immer ereignisreicher, er für Männer oft langweilig. (…) Kriegszeiten ist angespannt und kann sich schwer auf das sind für Damen große Zeiten. Sie dürfen ihr freundlich-gleiche Leben mit kleinen Kindern Organisationstalent entfalten und mit wichti- umstellen. Während Emmy geduldiger und ge- gen Herren der Stadt verhandeln. Damen aus

Quellen: 1 Gabriele Hoffmann: Das Haus an der Elbchaussee. Die Godeffroys – Aufstieg und Niedergang einer Dynastie. Hamburg 1998, S. 78. 2 G. Hoffmann, a.a.O., S. 89. 32 | Biographien von A bis Z

mehreren Hilfsvereinen wollen einen elegan- men „die Gläubiger Schröder, Gossler, Boten, ten Basar veranstalten und Herr Streits stellt Adolph Woermann (siehe: Woermannstieg und den Eßsaal seines Hotels am Jungfernstieg zur Woermannsweg) und Etatsrat Donner (siehe: Verfügung. Vierzehn Tische reichen kaum für Donnerstraße) den Park [des Godeffroyschen alle Spenden. In der Mitte des Saals sind die Anwesens an der Elbchaussee] gegen Forde- Handarbeiten der Damen der herzoglichen Fa- rungen an die Firma Godeffroy. Sie schließen milie ausgestellt. Die Herren überbieten sich einen Vertrag mit Cesar: Er und Emmy dürfen bei der Versteigerung. (…). Dann ist der Krieg noch zehn Jahre dort bleiben. (…) Cesar und vorbei, und die Damen und ihre Töchter fallen Emmy leben von der Rente aus Emmys Kapital, in den alten beschäftigten Müßiggang zurück. das ihr erhalten geblieben ist, und Einkünften Pauline Ruperti geb. Merck, H. J. Merck & Co., aus etwas Grundbesitz, den Cesar ihr einmal [siehe: Ernst-Merck-Brücke und Ernst-Merck-Straße] geschenkt hat. (…).“4 Nach dem Tod Cesar seufste einmal: ‚Ach, daß der liebe Gott uns so Godeffroys im Jahre 1885, blieb die 70-jährige viel irdische Güter gegeben hat, daß mir alles Emmy „im Landhaus an der Elbchaussee. Die abgenommen wird und ich selbst zu wenig zu verblüffte Familie erlebte, wie sie scheinbar tun habe – ich wäre gewiß glücklicher, wenn jünger wurde, staunte über ihre Rüstigkeit. Sie wir weniger hätten!‘“3 hielt Haus und Park für ihre Enkel.“4 Später, Als die Geschäfte schlechter liefen, muss- im Alter von 76 Jahren, verkaufte sie das Haus te Emmy Godeffroy mit einem Viertel des von und den Park und zog mit ihrer Jungfer in eine ihrem Gatten bisher „bewilligten“ Haushalts- Wohnung an der Heimhuderstraße 84, zwei geldes auskommen. Jahre später in die Magdalenenstraße. Nachdem Cesar Godeffroy 1879 mit sei- ner Firma Konkurs gemacht hatte, übernah-

3 G. Hoffmann, a.a.O., S. 264ff. 4 G. Hoffmann, a.a.O., S. 418 und 420. 33 | Biographien von A bis Z

Hagenbeckallee mus befriedigen, zudem kolonialrassistisches Stellingen, seit 1928, benannt nach Carl Überlegenheitsgefühl gegenüber „fremden Völ­- Hagenbeck (1844–1913), Tierhändler, „Völker- kern“ bestätigen, die als vermeintlich „primi- schau“-Ausrichter sowie Gründer und Zoodirek- tiv“ und „naturnah“ vorgeführt wurden, un- tor des Hagenbeck Tierparks geachtet ihrer tatsächlichen Lebensumstände. Siehe auch: Hagenbeckstraße, Stellingen (1949) Entsprechend hatte etwa die Schau 1899 den Siehe auch: Jacobsenweg, Stellingen, seit 1964, marktschreierischen Titel „Wildes Afrika“. Die benannt nach Adrian Jacobsen (1853–1947), gewollte Dramatik der Darbietungen beschrieb Forschungsreisender im Auftrag vom Tierpark Hagenbeck in seinen Lebenserinnerungen: Hagenbeck und Anwerber für die „Völker- „So ,überfielen‘ plötzlich zu Beginn des Spiels schauen“ Sklavenhändler dieses friedliche Dorf. Araber hoch zu Dromedar umritten mit Geschrei und 1866 übernahm Carl Gottfried Wilhelm Heinrich Gewehrgeknatter die eben noch schmausen- Hagenbeck von seinem Vater, dem ehemaligen den Dorfbewohner. (…) Dann erschienen euro­- Fischhändler Gottfried Claes Carl Hagenbeck, päische Tierfänger, verjagten in einem Feuer­ dessen Tierhandlung auf dem Spielbudenplatz gefecht die räuberischen Beduinen und an- in Hamburg-St. Pauli. In dieser Zeit wurden schließend gab es ein großes Friedensfest, bei zahlreiche zoologische Gärten gegründet; die dem unter heimischer Musikbegleitung ge- Nachfrage nach exotisch wirkenden Schau­ tanzt und alle Riten eines echt sudanesischen tieren wuchs. Carl Hagenbeck schickte eigene Stammesfestes beobachtet wurden.“ Zugleich Tierfänger zunächst nach Afrika, dann auch wird hier der Kolonialmythos vom vermeintli- auf andere Kontinente. chen „Sklavenbefreier“ aus Europa mit trans- Doch bald ließ das Publikumsinteresse an portiert. seinen Tieren nach, und der Zoobetreiber sah Hagenbecks Schauen zielten auch darauf sich nach einer zusätzlichen Erwerbsquelle um. ab, Kolonialbegeisterung in der Bevölkerung Für seine erste „Völkerschau“ 1875, in der Men- zu wecken. 1896 stellte Hagenbeck auf der schen wie Tiere ausgestellt wurden, brachte er Berliner Kolonialausstellung mehr als hun- sechs Angehörige der Sámi und eine Herde von dert Menschen aus den deutschen „Schutzge- dreißig Rentieren nach Hamburg. Hagenbeck bieten“ aus. Zu seinem engeren Mitarbeiter- vermarktete sie als „Lappländer“-Familie und stab zählte auch der Kolonialenthusiast und präsentierte sie vor einer Kulisse, die angeblich „Rassetheoretiker“ Alexander Sokolowsky, der ihrem heimischen Lebens-umfeld ähnelte. In eine Biographie über Hagenbeck schrieb. Kon- den darauf folgenden „Völkerschauen“ traten kret unterstützt wurde auch der Kolonial- Familien und Gruppen auf, die er in den kolo- krieg: Mit dem Verkauf von tausend Drome- nisierten Ländern Indien, Ceylon und Samoa, daren an die kaiserliche „Kamelreiter“-Truppe Kamerun, Somalia, Dahomey (heute Benin) in „Deutsch-Südwestafrika“ (heute Namibia) und im Sudan anwerben ließ. machte der Zoodirektor nebenbei gute Ge- Die „Völkerschauen“ sollten das voyeuris- schäfte. Die schnell laufenden Tiere wurden tische Bedürfnis des Zuschauers nach Exotis- im Kolonialkrieg 1904–1907 und beim an-

Quellen: lungen der Berliner Gesellschaft 1909, Onlinefassung, URL: https:// Caroline Schmidt-Gross: Tropenzau­ für Anthropologie, Ethnologie archive.org/details/vontierenund­ ber um die Ecke. Völkerschauen bei und Urgeschichte, Berlin, Vol. 12, mens00hageuoft (letzter Zugriff Hagenbeck, in: Heiko Möhle (Hrsg.), 1880, S. 270; Carl Hagenbeck: Von 20.9.2014); Erna Mohr, Hagenbeck, Branntwein, Bibeln und Bananen, Tieren und Menschen. Erlebnisse Carl Gottfried Wilhelm Heinrich. In: 3. Aufl., Berlin 2011; Verhand­ und Erfahrungen, Neuaufl., Berlin, Neue Deutsche Biographie (NDB). 34 | Biographien von A bis Z

schließenden Völkermord an den Herero und stellt hatte. Im Berliner Zoologischen Garten Nama eingesetzt. besuchten an einem einzigen Tag 16 000 Men- Hagenbecks Agenten gingen bei der An- schen die Schau. „Sie kamen in unsere Behau- werbung nicht selten gewalttätig vor. Häufig sung, um das Kajak in Augenschein zu neh- wurden Familien unter falschen Versprechun- men, sofort war alles voller Menschen und wir gen angelockt, zuweilen sogar entführt, die konnten uns überhaupt nicht mehr bewegen. Schädel ihrer Vorfahren aus den Grabstätten Unsere Herren Schoepf und Jacobsen schrien gleich mit geraubt. Aus den im Zoo zur Schau herum (...) sie baten mich, alle rauszuschmei- Gestellten wurden schließlich „Forschungs- ßen. Ich tat, was ich konnte. Ich griff meine objekte“ einer rassistischen „Wissenschaft“. Peitsche und die Grönländer Seehundharpune Hagenbeck führte sie Instituten zu, in denen und erschreckte sie.“ Am 7. November 1881 Anthropologen, Ethnologen und Mediziner sie sah sich die „Feuerländer“-Gruppe in Berlin untersuchten. Im Gegenzug gaben die „For- mit 37 000 teilweise betrunkenen und pöbeln- schungsergebnisse“ den „Völkerschauen“ ei- den Zoobesuchern konfrontiert. nen Anstrich von vermeintlicher „Seriosität“. Lebensbedrohlich für die „Völkerschau“- Welche Tortur die erzwungenen Untersuchun- Teilnehmenden war die mangelhafte medizi- gen, welches Trauma die entwürdigenden Kör- nische Versorgung. Nach viermonatigem Auf- pervermessungen bedeuteten, klingt nach im enthalt starben 1881 alle acht Mitglieder der überheblichen Bericht Rudolf Virchows, Arzt beiden Inuit-Familien, weil Hagenbecks Agent und Vorsitzender der Berliner Gesellschaft für und Menschenfänger Johan Adrian Jacobsen Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. „vergessen“ hatte, sie gegen Pocken zu imp- 1880 versuchte er die Inuk Paingo von der „Es- fen. Kurz vor seinem Tod schrieb Ulrikab in kimo-Truppe“ zu vermessen. Virchow schil­ sein Tagebuch: „Ich sehne mich nicht nach ir- dert die Situation: „Sowie es an die Körper- dischen Gütern, ich sehne mich nur danach, messungen ging, fing sie an zu zittern und meine Verwandten wiederzusehen, die weit geriet in höchste Aufregung. Während ich die weg sind (...)“. Einige Monate später verloren Klafterlänge feststellen wollte und ihre Arme fünf Personen aus der „Feuerländer-Völker- horizontal ausstreckte, was ihr wohl im gan- schau“ (indigene Kawesqar und Yaghan) ihr zen Leben noch nicht vorgekommen war, be- Leben. Sie starben an Masern, Lungenentzün- kam sie plötzlich den Anfall: Sie sprang mit dung oder schlichtweg an den Veranstaltungs- beiden Beinen in einer zusammengebückten strapazen. Ihre sterblichen Überreste wurden Stellung im Zimmer umher (…) Sie schrie (…) 2010 nach Südchile repatriiert und in einem es war ein höchst widerwärtiger Anblick.“ würdevollen Staatsakt begraben. Zu dieser „Eskimo-Truppe“ gehörte auch Als der Platz auf Hamburg-St. Pauli zu Abraham Ulrikab, der ein Tagebuch hinterließ. klein wurde, zog Hagenbeck 1907 nach Stel- Darin beklagt er sich über die eintönige Arbeit, lingen im preussischen Altona um. Dort er- das ungewohnte Essen, den Großstadtlärm öffnete er den ersten gitterlosen Tierpark der und vor allem das bedrängende Publikum in Welt, in dem er Tiere in einem der Natur nach- einer Welt, die er sich als „zivilisiert“ vorge- empfundenen Lebensraum präsentierte. Die

Bd. 7, Berlin, 1966, S. 487f.; Philipp Völkerzoo. Zum hundertsten Ge­ tut für Europäische Geschichte Dorestal: Repräsentationen des burtstag von Hagenbecks Tierpark, (IEG), Mainz (Hrsg.), Europäische „Exotischen“. „Gezähmte Wilde“ in: sopos, 7/2007; Anne Dreesbach, Geschichte Online (EGO), 2012-02- und „Völkerschauen“ in Deutsch­ Kolonialausstellungen, Völker­ 17, URL: http://www.ieg-ego.eu/ land, in: analyse & kritik, Nr. 504, schauen und die Zurschaustellung dreesbacha-2012-de (letzter Zugriff 17. März 2006; Utz Anhalt, Der des „Fremden“, in: Leibniz-Insti­ 20.9.2014); Anne Dreesbach: Ge­ 35 | Biographien von A bis Z

„Völkerschauen“ setzte er in Stellingen fort. Informationen zum Ehe- und Familienleben Zwischen 1874 und 1930 wurden in Deutsch- land rund vierhundert Menschengruppen in Verheiratet war Carl Hagenbeck seit 1871 mit „Völkerschauen“ gezeigt, mehr als hundert Amanda, geb. Mehrmann (1849–1939), Toch- solcher Schauen veranstaltete allein die Firma ter eines Zigarrenarbeiters und späteren Kauf- Hagenbeck. Der clevere Geschäftsmann wuss- manns. Das Paar bekam fünf Söhne, zwei von te die kolonial geprägten Erwartungen des ihnen starben sehr früh, und fünf Töchter. deutschen Massenpublikums geschickt zu be- Carl Hagenbecks Urururenkelin Caroline Ha- dienen, was zum großen kommerziellen Erfolg genbeck (1959–2005) wurde im Alter von 23 führte. Ein gutes Geschäft von einer Million Jahren Chefin des Hagenbecks Tierparks und Reichsmark machte er beispielsweise mit der damit jüngste Tierparkchefin Europas. Wanderausstellung in Paris. In keinem Ver- hältnis dazu stand der geringe Lohn, den die vermarkteten Menschen bekamen. Trotz der Begeisterung, auf die Hagen- becks „Völkerschauen“ beim Publikum stie- ßen, gab es auch zeitgenössische Kritik. Die Magdeburger Zeitung schrieb am 20. No- vember 1880: „Für unser Empfinden hat dies Menschenausstellungsgeschäft an sich etwas außerordentlich Abstoßendes. Allein diese Menschenkinder (...) so mitten hinein in die zoologischen Gärten als Ausstellungsobjekte zu bringen, das scheint uns der Anthropolo- gie, das scheint uns der Wissenschaft und der Lehre vom Menschen und seinem eigentlichen Wesen ganz und gar nicht zu entsprechen." Auch der Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn fand deutliche Worte: „(…) Menschen- schau. Das bedeutete, eine Handelsagentur oder der Impresario für willenlose, halbver- kaufte, halbbestochene Menschen vermittelte dem halbwissenschaftlichen Institut die Ein- wanderung einer Gruppe von Afrikanern, In- dios, Südseeinsulanern oder Ceylonesen.“ Text: HMJokinen; Mitarbeit: Frauke Steinhäuser

zähmte Wilde. Die Zurschaustellung ce=gbs_ge_summary_r&cad=0#­ Abraham Ulrikab im Zoo: Tagebuch „exotischer Menschen in Deutsch­ v=onepage&q&f=false (letzter eines Inuk, Linden, 2007; Alexander land 1870–1940, Frankfurt a. M., Zugriff 9.11.2014); Johan Adrian Sokolowsky, Carl Hagenbek und 2005, URL: http://books.google. Jacobsen: Unter den Alaska-Eski­ sein Werk, Leipzig, 1928. de/books?id=CvJCaaidVZIC&print­ mos. Erlebnisse und Forschungen, sec=frontcover&hl=de&sour­ Berlin, nach 1881; Hartmut Lutz, 36 | Biographien von A bis Z

Heinrich-Traun-Platz Sundainseln. Nachdem die dortigen Bestän- Fuhlsbüttel, seit 1910; benannt nach de durch Raubbau erschöpft waren, wandte Dr. Heinrich Traun (1838–1909), Senator, sich Heinrich Traun nach Afrika. 1883 legte Inhaber der Harburger Gummi-Kamm- die Gummi-Kamm zunächst in Bissao (Por- Compagnie tugiesisch-Guinea) eine Faktorei an, es folg- Siehe auch: Heinrich-Traun-Straße, Fuhlsbüttel ten weitere im damaligen Deutsch-Ostafrika (1910). und an der afrikanischen Westküste. So unter- stützte die Gummi-Kamm 1899 eine vom deut- Heinrich Traun war der Sohn von Bertha Ronge, schen Kolonialwirtschaftlichen Komitee orga- geschiedene Traun, geborene Meyer. (Siehe nisierte Kautschuk-Expedition, um „die besten auch: Traunweg, in Bd. 2.: Ein Gedächtnis der Stadt. Kautschukvarietäten aus fremden Kolonien Nach Frauen benannte Straßen in Hamburg) (siehe nach den deutschen Schutzgebieten zu über- auch: Stockmeyerstraße; siehe auch: Meyerstraße) führen und eine geregelte Kautschuk-Groß- Heinrich Traun übernahm 1883 die Lei- kultur in Kamerun und Togo in die Wege zu tung der von seinem Vater Friedrich und leiten“. Die Bevölkerung, darunter Frauen und seinen beiden Onkeln Heinrich Christian Me- Kinder, wurde zum Gummischneiden und zu yer jr. und Heinrich Adolph Meyer gegründe- Trägerdiensten gezwungen. Oft mussten sie ten Harburger Gummi-Kamm-Compagnie, der zehn Stunden am Tag bis zu 44 Kilogramm ers­ten Hartkautschukfabrik Deutschlands. Ab tragen, wodurch auch ihre eigene Landwirt- 1902 trug sie den Namen Dr. Heinrich Traun & schaft brach lag. Afrikanische Produzenten Söhne, im selben Jahr wurde die Handelsfirma und Lieferanten wiederum mussten ihren Traun, Stürcken & Co. rechtlich davon getrennt. Kautschuk für geringste Bezahlung in den Naturkautschuk war ab Mitte des 19. Jahrhun- deutschen Faktoreien abliefern. 1904/05 lehn- derts ein knapper und begehrter Rohstoff, aus te sich die Bevölkerung gegen diese Zustände dem die Compagnie u. a. Kämme und Pfei- auf. Die deutschen „Schutztruppen“ brauchten fenspitzen, Handgriffe für Spazierstöcke so- zwei Jahre, um sie niederzuschlagen. wie Industrieprodukte herstellte. Anfangs ver- Text: Frauke Steinhäuser wendete sie zumeist Rohkautschuk von den

Quellen: rika, Neuaufl., Berlin 2011, S. 47ff.; risch-biographische Blätter, Berlin, Heiko Möhle: Raubbau an Mensch Rudolf Schlechter: Westafrikanische 1905/06, Bd. 7, Der Staat Hamburg, und Natur, Landkonzessionen für Kautschuk-Expedition 1899/1900, Lfg. 2, Onlinefassung URL: http:// die Jagd nach Elfenbein und Kaut- Berlin, 1900 (Deutsches Kolonialb­ resolver.sub.uni-hamburg.de/goo­ schuk, in: Heiko Möhle (Hrsg.): latt; Beilage); Kautschukwerke Dr. bi/PPN683965336 (letzter Zugriff Branntwein, Bibeln und Bananen. Heinr. Traun & Söhne, vorm. Harbur­ 20.11.2014). Der deutsche Kolonialismus in Af­ ger Gummi-Kamm-Co., in: Histo­ 37 | Biographien von A bis Z

Laeiszstraße als zehn Jahre gehörte er zum Direktorium St. Pauli, seit 1861; benannt nach Ferdinand dieser führenden Reederei. Die Hapag richtete Laeisz (1801–1887), Reeder, Konsul. Ihren einen Liniendienst zwischen Hamburg und Namen erhielt die Straße im Jahr der Einwei- New York ein; aus Nordamerika kamen Roh- hung des von Laeisz begründeten Ferdin- stoffe, die von den Sklavenplantagen stamm- and-Laeisz-Stifts, der sich dort befand ten: Baumwolle, Tabak und Reis; die daraus veredelten Waren gingen zurück. Die Fertig- Nach kurzer Schulzeit absolvierte Laeisz in produkte nach Übersee nahmen weitaus we- Berlin eine Lehre als Buchbinder. Dabei lern- Cargoraum ein, sodass auswandernde te er, Zylinderhüte aus Seide anzufertigen. Passagiere mitgenommen werden konnten. 1824 kehrte er nach Hamburg zurück, um Die Passagierbeförderung erwies sich schließ- das väterliche Geschäft mit Lumpen und Com- lich als weitaus profitabler als der Warenver- missionen in der Straße Kurze Mühren zu kehr. Um möglichst viele Menschen im Schiffs- übernehmen. 1826 erwarb er das Hamburger raum unterzubringen, zogen die Reedereien Bürgerrecht. Das Geschäft lief jedoch mehr Zwischendecks ein, die sich bei Bedarf schnell schlecht als recht, und so konzentrierte er sich wieder abbauen ließen. Die Reisebedingungen ganz auf die Herstellung farbiger Seidenzy­ für die Passagiere, die sich nur eine Fahrkar- linderhüte. Damit war er so erfolgreich, dass te unter Deck leisten konnten, waren kaum aus- ihn die Hamburger Hutmacherzunft 1826 als zuhalten: Platzmangel, schlechte Belüftung, Meister anerkannte, und so konnte er einen armselige Ernährung und Hygiene. Nicht we- Hutladen mit Fabrikation am Jungfernstieg er- nige Reisende überlebten die wochenlange öffnen. Mit 27 Jahren war Laeisz schon 1828 Überfahrt nicht. Sohn Carl Heinrich Laeisz, auf Expansionskurs: Er weitete sein Geschäft der 1852 in die Firma einstieg, gründete die auf den südamerikanischen Markt aus, da dort eigene Reederei F. Laeisz. 1870 betrieb das Fa- ein Markt mit wohlhabenden Kolonialhänd- milienunternehmen sechzehn Segelschiffe, die lern und Großgrundbesitzern vorhanden war. Kolonialwaren aus Jakarta, Singapur, Hong- In Bahia/Brasilien eröffnete er eine Filiale für kong und Australien holten. Aus Honolulu Zylinderhüte und Gemischtwaren. Auch die wurden Zucker und Walöl importiert, aus Me- Handelsniederlassungen in Chile, Peru, Ecua- xiko Kupfer- und Silbererz, aus Costa Rica dor und auf den Philippinen entwickelten sich Kaffee. Carl Laeisz gehörte zu den Gründern ganz positiv, während das Geschäft in Ve- der Deutsch-Ostafrika-Linie, war Anteilinhaber nezuela ein Misserfolg wurde. Viele Kunden an der Afrikanischen Dampfschiffs-Actiengesell- bezahlten in Naturalien, die sie den langen schaft Woermann-Linie und Mitglied des Kolo- Weg über den Atlantik schickten, und so sat- nialvereins; sein Nachkomme Carl Ferdinand telte Laeisz um: Für sein neues Im- und Ex- Laeisz wirkte im Flottenverein und in der portgeschäft ließ er 1840 ein eigenes Segel- Deutschen Kolonialgesellschaft in Hamburg schiff für 42 000 Mark Banco bauen. 1847 war mit. Die drei Generationen, die nun zusam- er Mitgründer der Hamburg-Amerikanischen menarbeiteten, beteiligten sich an zahlreichen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag); mehr weiteren Schifffahrtsunternehmen. Um 1860

Quellen: eines alten Hamburgers. Hamburg uni-hamburg.de/volltexte/2008/18/ Heiko Möhle (Hrsg.): Branntwein, 1891; Johannes Gerhardt: Sophie pdf/HamburgUP_MfW02_Laeisz. Bibeln und Bananen. Der deut­ Christine und Carl Heinrich Laeisz. pdf (letzter Zugriff 11.11.2014); sche Kolonialismus in Afrika. Eine Eine biographische Annäherung Hamburger Adressbücher 1823- Spurensuche, Neuaufl., Berlin, an die Zeiten und Themen ihres 1827; Inge Hinrichsen: Tante Tine 2011; Erinnerungen aus dem Leben Lebens, Hamburg 2007, hup.sub. erzählt, Books on Demand, 2000; 38 | Biographien von A bis Z

wur­den in der Atacama-Wüste im heutigen engstem Raum, häufig ohne Betten und hygie- Nordchile umfangreiche Salpeter-, Silber- und nische Vorrichtungen. Der Akkordlohn wurde Kupfer-, in der Küstenregion riesige Guanovor- nicht in Geld ausgezahlt, sondern in betriebs- kommen entdeckt. Für die aus Salpeter und eigenen Münzen, die nur in den überteuerten Guano gewonnenen Nitrate, aus denen Pflan- Läden der Minengesellschaften gültig waren. zendünger, Schießpulver und Sprengstoff her- Pablo Neruda, Dichter, Nobelpreisträger und gestellt werden konnten, eröffnete sich ein Senator für die nordchilenischen Provinzen, enormer Markt auf den großen Latifundien in bereiste in den 1940er-Jahren die Atacama- Südchile, in der Landwirtschaft in Deutsch- Wüste und prangerte die ungesunden Arbeits- land und auch in den Kolonialkriegen in Afri- bedingungen an, die noch immer in den ver- ka. Deutsche, englische und chilenische Ge- bliebenen Minen herrschten. Mit seinem Ge- sellschaften überzogen die Wüste mit über dicht setzt er zugleich dem Minen­arbeiter, den hundert Salpeterminen. Zu den großen Salpe- er Maestro Huerta nennt, ein trauriges Denk- terminenbesitzern gehörten die Hamburger mal: „Antimon zerfraß seine Innereien. / Er Handelshäuser Rob. M. Sloman (siehe: Sloman- wurde so mager, dass man Angst bekam. / Die stieg und Slomanstraße) sowie Fölsch & Martin. Beine zerlöchert, / konnte er kaum noch lau- Unter der Flagge der Reederei F. Laeisz fuhr fen. / Und er war so groß, / ein klappriger 1862 der erste eigene Schiffsneubau die chile- Geist / (...) Sein dreißigstes Geburtsjahr über- nische Hafenstadt Valparaiso an. Bald verkehr­ lebte er nicht, / frage nicht, wo sein Grab liegt, ten die Frachtschiffe von F. Laeisz regelmäßig / keiner wird es wissen, / der Wind nagt an zwischen Chile und Hamburg. Seit 1938 erin- den Kreuzen, / der Sand deckt sie zu.“ Die bri- nert die Valparaisostraße in Bahrenfeld an die tische Seeblockade im Ersten Weltkrieg berei- „überseeischen Handelsbeziehungen“. Wäh- tete den Salpeterfahrten der Hamburger Ree- rend die „Salpeterbarone“ in den chilenischen dereien ein jähes Ende, und mit der Erfindung Hafenstädten im Luxus lebten und die Salpe- des synthetischen Nitrats kam der Salpeterim- terfahrten den Reedereien hohe Erträge ein- port ganz zum Erliegen. Pedro Bravo Elizon- brachten, waren die Arbeits- und Wohnver- do, Schriftsteller aus der Hafenstadt Iqueque, hältnisse für die etwa 70 000 überwiegend beschreibt die große Hungersnot, welche die indigenen Wanderarbeiterinnen und -arbeiter Schließung der nordchilenischen Salpetermi- katastrophal. Die Salpeterminen befanden sich nen zur Folge hatte: „Eine lange Karawane von in einer der trockensten Gegenden der Erde: Frauen und Kindern, alten und jungen Män- tagsüber sengende Hitze, nachts Temperatu- nern vagabundierte durch die Straßen und ren um den Gefrierpunkt. „Überall, wohin man flehte um Barmherzigkeit (…) Ich sah die Bür- blickt, nur Sand und Steine, Schutt und Geröll ger erzittern, die Schacherer der Siedlung. In und weißer Salpeter, der in der Sonne glit- panischer Angst befürchteten sie, dass das zert“, beschrieb 1919 der Reisende Kurt Faber Heer der Hungernden ihre Geschäfte und Geld- die trostlose Wüste, „Hier, in dieser Einöde, ist schränke plündern würde. (…) Aber das Volk die Einsamkeit selbst zu Hause.“ In den Bara- ging an den aristokratischen Palästen, an den ckensiedlungen lebten die Arbeiterfamilien auf schamlos ausgestellten Waren vorbei, ruhig

Gerhard Ahrens: „Laeisz, Ferdin­ in die Welt, Hamburg 2007; Pablo der Wüste, URL: www.krieg-nol­ and“, in: Neue Deutsche Biographie Neruda: Canto General XII, „La te.de/301,0001 (letzter Zugriff 13 (1982), S. 399, Onlinefassung: Despreciada Mine“, Antofagasta; 12.11.2014). www.deutsche-biographie.de/ Robert Krieg, Monika Nolte: Film pnd119339722.html; Hans Hermann Weißes Gold. Salz der Wüste, 2001; Groppe, Ursula Wöst: Über Hamburg Website zum Film Weißes Gold. Salz 39 | Biographien von A bis Z

und ernst. Dieser Bericht wird eine Auslese Gesellschaftsanteile der Reederei F. Laeisz. des proletarischen Elends sein, eine schallen- 2003 ging das erste Bananenvollcontainer- de Ohrfeige in das Gesicht einer Schur­ken­ schiff der Welt vom Stapel. Insgesamt hat die gesellschaft (...).“ Ab 1907 nahm die Reederei Reederei F. Laeisz in ihrer hundertjährigen F. Laeisz Fahrten nach der deutschen Kolonie ­Geschichte 86 Segelschiffe (Flying-P-Linie) so- Kamerun auf. 1912 gründete der Firmenpart- wie 90 Dampf- und Motorschiffe betrieben. ner Paul Ganssauge im Kontorhaus Laeiszhof Ferdi­nand Laeisz war lange Zeit Abgeordneter an der Trostbrücke die Afrikanische Frucht- der Hamburgischen Bürgerschaft und ab 1871 Compagnie (A.F.C.), die große Bananenplan- mehrmals ihr Alterspräsident. Wie so viele tagen am Kamerunberg aufkaufte. Ab 1914 Hamburger Kaufleute, die im Kolonialgeschäft importierte die A.F.C. auf zwei mit modernen reich geworden waren, spendete auch Laeisz Kühlanlagen ausgerüsteten Dampfschiffen die für wohltätige Zwecke: für das Schiffsrettungs­ „deutsche Kamerun-Banane“ nach Hamburg. wesen und 1860 für den Bau eines Armenstifts Auch hier unterbrach der Erste Weltkrieg die an der Straße, die ein Jahr später nach ihm Fahrten, und der als Bananendampfer gebaute benannt wurde. Carl Heinrich Laeisz verfügte Pungo wurde zum Hilfskreuzer Möwe umge- in seinem Testament die Stiftung von 1,2 Mil- rüstet und für Kampfhandlungen in Ostafrika lionen Mark für den Bau der Laeiszhalle (Mu- eingesetzt. 1925 erlaubte die Siegermacht Groß­ sikhalle Hamburg), seine Witwe Sophie Laeisz britannien den deutschen Gesellschaften den stockte die Spende auf zwei Millionen Mark Rückkauf der Bananenplantagen. 1929 begann auf. der Bau einer eigenen Bananenflotte, 1930 wur­ Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser den die Reederei F. Laeisz, die A.F.C. und die firmeneigene Westafrikanische Pflanzungsge- sellschaft Bibundi WAPB in eine Aktiengesell- schaft umgewandelt. 1939 importierte das Un- ternehmen 3,6 Millionen Büschel Bananen; etwa 35 Prozent wurden mit den Schiffen der A.F.C. aus Kamerun verschifft. 1940 unter- brach der Zweite Weltkrieg das einträgliche Kolonialgeschäft. Sohn Willi Ganssauge unter- stützte NS-kolonialinteressierte Ämter in Ham­ burg. Nach der Okkupation Frankreichs hatte Ganssauge schon die Einverleibung der fran- zösischen Unternehmen in Kamerun vor Au- gen. Ab 1945 baute er die zerbombte Firma in Hamburg und die überseeischen Pflanzungen wieder auf. Die A.F.C. importiert heute die Ba- nane der Marke „Onkel Tuca“ aus Südame­ rika. 1999 übernahm die Familie Schües alle 40 | Biographien von A bis Z

Informationen zum Ehe- und Familienleben der Erziehung der Enkel half. Diese Frau hieß Ida Neubauer. Sie hatte einst im Frauenchor Ferdinand Laeisz war seit 1826 verheiratet von Brahms gesungen (siehe: Brahmsallee in Bd. mit Johanna Ulrike Catharina (1806–1889), 3 online). Kurz vor dem Tod des Gatten war Tochter des Hutmachers Nicolaus Carl Heinrich 1901 die Sophie-Laeisz-Stiftung gegründet Creutzburg und seiner Frau Magdalena Schüll. worden, deren Vorsitzende Sophie Laeisz bis Das Paar bekam einen Sohn: Carl Heinrich. zu ihrem Tod war. Der Zweck der Stiftung be- Carl Heinrich Laeisz (1828–1901) war seit 1852 stand in der Unterhaltung und Fortführung verheiratet mit Sophie Christine, geb. Knöhr des F.-Laeisz-Stiftes. Hierbei handelte es sich (1831–1912), Tochter eines Schiffsmaklers. We- um ein Wohnstift für ca. 90 Menschen, die gen ihrer krausen Haare wurde Sophie Laeisz durch unverschuldetes Unglück in Bedräng- Pudel genannt. Ihr Schwiegervater benannte nis geraten waren. Carl Laeisz und seine Frau sein erstes Segelschiff, das 1856 in der Ham- hatten außerdem testamentarisch eine Summe burger Stülcken-Werft vom Stapel lief, nach von 1 200 000 Mark für eine Art Denkmalset- seiner Schwiegertochter und ließ auf einem zung, den Bau der Hamburger Musikhalle, be- Giebel seines 1897/98 erbauten Kontorhauses, stimmt. Der Bau erforderte aber weitaus höhe- des „Laeiszhofes“ an der Trostbrücke 1, die Fi- re Summen, die Sophie Laeisz nach dem Tode gur eines Pudels setzen. Später begannen die ihres Mannes großzügig nachbewilligte. Dar- Namen aller 84 Laeisz-Segler mit dem Buch- über hinaus war sie auch im Frauenhilfsverein staben „P“ (Flying-P-Liners). Sophie Laeisz war tätig und erhielt dafür 1871 das Eiserne Kreuz im Frauenhilfsverein tätig und erhielt dafür für Frauen. Über das soziale Engagement der 1871 das Eiserne Kreuz für Frauen. Mit ihrem Laeisz‘ schreibt Johannes Gerhardt: „Es bleibt Mann Carl Heinrich hatte sie einen Sohn: Carl festzuhalten, dass Ferdinand, Carl und Sophie Ferdinand (1853–1900). Dieser heiratete Cle- Laeisz – ganz typisch für in der ersten Hälfte mentine, geb. Klée (1861–1890), Tochter des des 19. Jahrhunderts geborene Angehörige des Kaufmanns Rudolf Klée und Clementine, geb. Wirtschaftsbrügertums – soziales Elend nicht Walte. Das Paar bekam zwei Söhne, die nach als strukturelles, sondern als privates Problem dem Tod der Eltern von der Großmutter Sophie aufgefasst haben. Deshalb setzten sie sich für Laeisz aufgezogen wurden. Ein Jahr nach dem eigeninitiatives Handeln vermögender Privat- Tod des Sohnes verstarb der Ehemann. Sophie personen ein. Die Schutzbedürftigkeit der Be- Laeisz wurde Inhaberin der Firma. Bis zum troffenen sahen sie dementsprechend in erster Tod ihres Mannes hatte Sophie L. mit ihm am Linie als eine individuelle im Rahmen der Ar- Neuen Jungfernstieg gewohnt und im Sommer menfürsorge.“1 am Harvestehuder Weg. Nachdem sie Witwe Text: Dr. Rita Bake geworden war, ließ sie sich als Altersruhesitz eine Villa am Harvestuder Weg 8a bauen. Dort wohnte sie im Erdgeschoss und ihre Enkel teilten sich das Obergeschoss. Sophie Laeisz beschäftigte eine Gesellschafterin, die ihr bei

Quellen: sche Wissenschaftliche Stiftung) 1 Johannes Gerhardt: Sophie Christine und Carl Heinrich Laeisz. Eine biographische Annäherung an die Zeiten und Themen ihres Lebens. Hamburg 2007, S. 37. (Hamburgi­ 41 | Biographien von A bis Z

Meyerstraße machen, bevor er in das Unternehmen eintrat. Heimfeld, seit 1890; benannt nach Heinrich So studierte er ab 1851 das neue Fach Chemie Christian Meyer (1832–1886), Stockfabrikant bei Justus Liebig an der Universität Gießen. (Rohr-, Stock- und Fischbeinfabrik) an der Das Erlernte sollte der eigenen Warenproduk- Nartenstraße 21/2 tion zugutekommen. Nach dem Studium ging Siehe auch: Traunweg, Bruder von Heinrich er nach England, dem damaligen Zentrum der Adolph Meyer, in Bd. 2 der Publikation „Ein industrialisierten Welt, und kehrte 1853 von Gedächtnis der Stadt. Nach Frauen benannte London nach Hamburg zurück, wo er nun in Straßen in Hamburg. die Geschäftsleitung des Familienbetriebs ein- Siehe auch: Charitas-Bischoff-Treppe, in Bd. 2 stieg. der Publikation „Ein Gedächtnis der Stadt. Nach Die Rohstoffe importierte die Fabrik aus Frauen benannte Straßen in Hamburg. den Kolonien der europäischen Großmächte; Siehe auch: Amalie-Dietrich-Stieg, in Bd. 2 der eigene Handelsniederlassungen wurden in Publikation „Ein Gedächtnis der Stadt. Nach Südafrika, Ägypten, Indien, Hongkong und Frauen benannte Straßen in Hamburg. Thailand gegründet. Das „Malakkarohr“ für die Spazierstöcke und das als Sitzgeflecht ver- Heinrich Christian Meyer war der Sohn des Ham- wendete Rattan wurden aus südostasiatischen burger Großindustriellen gleichen Namens Ländern über Holland nach Hamburg im- (1797–1848), der auch als „Stockmeyer“ be- portiert. Malakka, einst von den Holländern kannt war (siehe: Stockmeyerstraße). Dieser hatte annektiert, gehörte ab 1824 bis zur Unabhän- 1817 in der Hamburger Altstadt einen Hand- gigkeit 1957 zur britischen Kronkolonie Straits werksbetrieb für die Herstellung von Spazier- Settlements. Malaka (malaiisch: Melaka) ist stöcken und Regenschirmen mit elfenbein- heute Stadt und Bundesstaat in Malaysia. verzierten Knäufen gegründet. 1836 war die 1864 gründete Heinrich Adolph Meyer eine kleine Manufaktur zu einem Industriebetrieb eigene Fabrik zur Elfenbeinverarbeitung („El­- mit rund 300 Beschäftigten mit Sitz auf Gras- fen­beinmeyer“) in Hamburg-Barmbek. Für die brook expandiert, in dem die Rohstoffe Stuhl- Einfuhr aus der damaligen Kolonie „Deutsch- rohr, Elfenbein und Fischbein (Walfischbar- Ostafrika“ (heute Tansania, Ruanda, Burundi) ten) verarbeitet wurden. eröffneten die Hamburger Brüder eine Han- Nach dem Tod des Vaters 1848 ging die Fir- delsniederlassung auf Sansibar. Heinr. Ad. ma zunächst an den zehn Jahre älteren Bruder Meyer war Ende des 19. Jahrhunderts Europas Heinrich Adolph und den Schwager Friedrich größter Produzent von Luxusartikeln aus El- Traun (siehe auch: Traunweg in Bd. 2 der Publikati- fenbein. Die Faktorei auf Sansibar rüstete lan- on „Ein Gedächtnis der Stadt. Nach Frauen benannte ge Karawanen mit bis zu 600 Trägern aus. Ihre Straßen in Hamburg“ und Heinrich-Traun-Platz) über. Agenten kauften die Elfenbeinbestände an den Heinrich Christian Meyer selbst war zwar seit Hauptsammelplätzen an der ostafrikanischen seiner Kindheit mit der väterlichen Firma ver- Küste auf. Zwischen 1840 und 1890 verdrei- traut und hatte auch schon im Betrieb mitge- fachte sich die Gesamteinfuhr von Elfenbein arbeitet, doch er sollte zuerst eine Ausbildung über Hamburg auf 18 200 kg pro Jahr; der Kilo-

Quellen: H. C. Meyer jr., in: Historisch-bio­ 10.9.2014); Arnold Otto Meyer, in: Dieter Rednak: Heinrich Christian graphische Blätter, Berlin, 1905/06, Historisch-biographische Blätter, Meyer (1797–1848) – genannt Bd. 7, Der Staat Hamburg, Lfg. 2, Berlin, 1905/06, Bd. 7, Der Staat „Stockmeyer“. Vom Handwerker Onlinefassung URL: http://resol­ Hamburg, Lfg. 1, Onlinefassung URL: zum Großindustriellen, eine bieder­ ver.sub.uni-hamburg.de/goobi/ http://resolver.sub.uni-hamburg. meierliche Karriere. Hamburg, 1992; PPN683965336 (letzter Zugriff de/goobi/PPN683963104 (letzter 42 | Biographien von A bis Z

preis kletterte von 10 auf 25 Mark. Von 1880 an gelungen, Naturkautschuk zu vulkanisieren wurden durchschnittlich 65 000 Elefanten pro und somit als Gummi für die Reifenherstellung Jahr abgeschlachtet. Die Stoßzähne mussten der rasant wachsenden Autoindustrie nutz- aus immer weiter entfernten Regionen in den bar zu machen. Als ab 1850 Hartgummi auf Savannen und Urwäldern geholt werden. Den den Markt kam, befürchtete Heinrich Christi- Handelshäusern war nicht entgangen, dass an Meyer Konkurrenz zum Werkstoff Fisch- sich die Elefantenbestände dramatisch dezi- bein. Daher erwarb er 1851 die Europa-Lizenz mierten. Im Geschäftsbericht der Firma Heinr. zur Produktion von Hartgummi. Als Fischbei- Ad. Meyer 1889 wurde bedauert: „Wahrlich nersatz eignete sich Hartgummi kaum, dafür ein trauriges Bild der Hinschlachtung dieses ließen sich daraus hochwertige Kämme her- größten Repräsentanten einer aussterbenden stellen. Thierwelt (...)“. Dem aufstrebenden Ham- Naturkautschuk war wie Elfenbein ein burger Fabrikanten schien die Lösung schon knapper und begehrter Rohstoff, der anfangs nahe: die Zähmung des afrikanischen Elefan- aus Kolumbien und Panama importiert wurde. ten, die den Bestand sichern sollte. Nachdem die dortigen Wildkautschukbestän- Der Raubbau in Ostafrika hatte gravieren- de ausgebeutet waren, ging in Brasilien der de Folgen für Mensch und Natur. Entlang der Raubbau weiter. Für den Nachschub zwangen Karawanenrouten wurden die Kolonisierten die Agenten der Kolonialkaufleute die indigene häufig zu extrem anstrengenden Trägerdiens- brasilianische Bevölkerung mit Waffengewalt, ten gezwungen. Das gewaltsame Vordringen immer weiter in den Urwald vorzudringen. der europäischen Händler, die zunehmende Der Kongo mit seinen riesigen Beständen an Militarisierung weiter Regionen des Binnen- Wildkautschuk wurde ab 1885 zur Privatkolo- landes, die Überfälle auf die Dörfer und die nie des belgischen Königs Leopold II. Wer die Ausschaltung des lokalen Zwischenhandels Kautschukerntequoten nicht erfüllte, wurde führten zu Hungersnöten und Epidemien. Als verstümmelt oder getötet. Die Hälfte der kon- sich 1888 die Bevölkerung gegen die aggres- golesischen Bevölkerung, etwa zehn Millionen sive Landnahme durch die Deutsch-Ostafrika­ Menschen, wurde ermordet. Die „Kongo-Gräu- nische Gesellschaft (DOAG) von Carl Peters el“ konnten nur unter öffentlichem Druck ge- erhob, war es der Agent G.W.H. Westendarp stoppt werden. In den deutschen Kolonien in der Firma Heinr. Ad. Meyer, der ausdrücklich Afrika gründeten Hamburger Handelshäuser um eine militärische Offensive aus Deutsch- groß angelegte Kautschukplantagen und han- land bat. Die „Schutztruppe“ unter Hermann delten auch mit geschmuggeltem Kautschuk Wissmann (siehe: Wißmannstraße) und die kai­- aus dem Kongo. serliche Marine schlugen den sog. „Araber- 1854 hatte H.C.Meyer jr. die Stockproduk­ Aufstand“ blutig nieder; zahlreiche „Strafex- tion und Stuhlrohrverarbeitung nach Harburg peditionen“ ins Landesinnere verfolgten der verlegt. Die Stadt im Königreich Hannover bot Taktik der „verbrannten Erde“. als Industriestandort im Vergleich zu Ham- Mitte des 19. Jahrhunderts war es dem burg entscheidende Vorteile: Sie gehörte zum US-amerikanischen Erfinder Charles Goodyear Deutschen Zollverein und verfügte über einen

Zugriff 10.9.2014); Hans-Dieter geschichte/frame_kautschuk. org/Lueger-1904/A/St%C3%B6cke; Feger: Geschichte und wirtschaft­ htm (letzter Zugriff 1.9.2014); T.F. „Meyers Park“, online unter: www. liche Entwicklung des Kautschuks, Hanausek: „Stöcke“, in: Otto Lueger hamburg.de/parkanlagen/3068184/ Innsbruck, 1973, Zusammenfas­ (Hrsg.), Lexikon der gesamten Tech­ meyers-park/; Heiko Möhle: sung online unter www.ahauser. nik, 2. Aufl., Stuttgart, 1904-1920, Branntwein, Bibeln und Bananen, de/deutsch/services/Kautschuk­ Onlinefassung, URL: www.zeno. Hamburg, 1999; Museum der Arbeit, 43 | Biographien von A bis Z

weiten Absatzmarkt im Hinterland. Für die en. Der Park ist heute ein Naherholungsgebiet Hartgummiproduktion kaufte das Unterneh- im Besitz der Stadt Hamburg, die ehemalige men nun ein großes Grundstück an der Nar- Kaufmannsvilla jetzt Verwaltungsgebäude des tenstraße und baute eine neue Fabrik, die Krankenhauses Mariahilf. Harburger Gummi-Kamm-Compagnie. Weitere 1873 übernahmen die Söhne Friedrich Industrien zogen nach, der Hafen wurde er- Trauns die Harburger Gummi-Kamm-Compag- weitert. Harburg avancierte bis Anfang des nie und schieden aus der Firma H.C.Meyer jr. 20. Jahrhunderts zu einem in Europa führen- Aus. Damit wurde Heinrich Christian Me­yer den Zentrum für Kautschuk- und Palmölver- alleiniger Inhaber. Er leitete noch den Firmen- arbeitung. umzug nach Harburg ein, bevor er mit 54 Jah- In dieser Zeit kamen Holzstühle mit Rat- ren starb. Seeblockaden im Ersten Weltkrieg tansitz in Mode, woran H.C.Meyer jr. gut ver- verhinderten Stuhlrohrlieferungen aus Asien, diente. Sie entwickelte sich zur weltgrößten was den sukzessiven Niedergang der Firma Stuhlrohrfabrik mit rund 1000 Mitarbeitern. einleitete. An H.C.Meyer jr. erinnert heute nur Das Stuhlrohr bezog sie nun unter Ausschal- noch ein kleines Gebäude an der Nartenstraße tung der ostindischen Händler direkt von in Harburg. Behn, Meyer & Co., ihrem Agenten in Singapur. In der benachbarten Lagerhalle der Firma Diese erste deutsche Handelsniederlassung in H. D. Cotterell & Co. in der Nartenstraße brach dem asiatischen Stadtstaat hatten Hambur- am 3.1.2012 ein gigantisches Feuer mit gravie- ger Kaufmänner Theodor August Behn und renden Folgen für die Umwelt aus. 2000 Ton- Valentin Lorenz Meyer bereits 1840 gegrün- nen Kautschuk und 10 000 Liter Heizöl fachten det. 1895/96 erwarb H.C.Meyer jr. selbst ein einen Großbrand an und hinterließen, mit dem Grundstück in Singapur und baute dort eine Löschwasser vermischt, eine zähklebrige Mas- Wasch- und Schwefelanlage. Nach den Statio- se, die in die Siele und Fleete floss. Offenbar nen Singapur und Harburg wurden die Rohr- hatte das Unternehmen keine behördliche Ge- halbfabrikate zur Fertigung an das Tochterun- nehmigung zur Lagerung von Kautschuk. ternehmen in New York verschifft. Zwischen Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser 1864 und 1873 stieg der Nettogewinn des Un- ternehmens aus der Stuhlrohrverarbeitung von 4677 auf 245 667 Mark Banco an. Im Stil der „Villa Hügel“ des Essener Groß- industriellen Alfred Krupp ließ Heinrich Chris- tian Meyer 1869 die „Villa Meyer“ inmitten eines weitläufigen Harburger Parkgeländes bau­-

New-York Hamburger Gummi-Waa­ books.google.de/books?id=O­ (letzter Zugriff 15.11.2014); Hambur­ ren Compagnie, Onlinefassung URL: DQIWyaZ3q8C&pg=PA86&l­ ger Abendblatt, Abgebrannte Halle: http://www.museum-der-arbeit. pg=PA86&dq=heinrich+adol­ War die Lagerung von Kautschuk de/de/staendige-ausstellungen/ ph+meyer+elfenbein&sour­ illegal?, http://www.abendblatt. new-york-hamburger-gummi-waa­ ce=bl&ots=7IErQUVDpD&sig=aWz­ de/hamburg/article2155859/ ren-compagnie.htm#.VGclQCi9cXI 8Kg2_kBnJ8T4CuuK27fg8UFA&hl=­ Abgebrannte-Halle-War-die-Lage­ (letzter Zugriff 15.11.2014); Eckhard de&sa=X&ei=4UpnVK-YEMK-PIb0g­ rung-von-Kautschuk-illegal.html Freiwald, Gabriele Freiwald: MAH&ved=0CDMQ6AEwBg#v=one­ (letzter Zugriff 15.12.2014) Hamburgs alte Fabriken – einst und page&q=heinrich%20adolph%20 jetzt, S. 86, Onlinefassung URL: meyer%20elfenbein&f=false 44 | Biographien von A bis Z

Neumann-Reichardt-Straße auf 60 000 Quadratmeter ausdehnte. 1923 wa- Wandsbek, seit 1917; benannt nach Dr. h. c. ren rund 4000 Arbeiterinnen und Arbeiter be- Friedrich Neumann Reichardt (1858–1942), schäftigt. Damit war Kakao-Kompagnie Theo- Besitzer der Reichardt-Kakao-Werke dor Reichardt die größte Kakao verarbeitende in Wandsbek Fabrik Deutschlands und der größte Arbeitge- ber in Wandsbek. Überall im Deutschen Reich Im folgenden Text wird das N-Wort im histori- wurden Verkaufsfilialen eröffnet. Exporte gin- schen Zitat voll ausgeschrieben.* gen vor allem nach England; für den umfang- reichen Zollverkehr wurde im Werk eine eige- 1892 gründete Friedrich Neumann zusammen mit ne Zollabfertigungsstelle eingerichtet. Auf den seinem Schwiegervater in Halle an der Saale ersten Blick scheint Theodor Reichhardt ein die Kakao-Versand-Kompagnie Theodor Reich­ fürsorglicher Arbeitgeber gewesen zu sein. In ardt. Da Hamburg seinerzeit zu den welt- seinem Werk gab es kostenlose Arbeitsklei- weit wichtigsten Rohkakaomärkten gehörte, dung, eine „Speiseanstalt“, Schwimmbäder für verließ die Firma 1898 Halle und zog nach Frauen und Männer, eine Arbeiterunterstüt- Wandsbek, damals eine preußische Stadt in zungskasse sowie einen „Wirtschaftsverein“, Hamburgs Nähe. An der Brauereistraße ließ in dem die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- man eine Fabrik bauen und nannte sich von nehmer „Bedarfsartikel für Haus und Küche“ nun an Kakao-Kompagnie Theodor Reichardt zu Großhandelspreisen kaufen konnten. Das GmbH. Ihr Ziel war es, so die Festschrift zum Reichardt-Heim, ein ehemaliges Waldhotel in 25-jährigen Firmenjubiläum 1917, Kakao nicht Marienthal, bot unverheirateten Arbeiterinnen mehr als Luxusprodukt zu vermarkten, son- preiswerten Wohnraum. Anlässlich des Firmen­- dern als „Volksgetränk“. Die starken auslän- jubiläums 1917 verlieh die Reichsregierung dischen Konkurrenten, die Niederlande und dem Unternehmer „in Anerkennung seiner die Schweiz, sollten dabei vom deutschen großen volkswirtschaftlichen Verdienste und Markt verdrängt werden. Mit Kakao aus den seiner bedeutsamen sozialen Bestrebungen“ afrikanischen Kolonien wollte Neumann eine das Privileg, den doppelten Nachnamen Neu- „wahrhaft deutsche Industrie schaffen“. Dieser mann-Reichardt führen zu dürfen. Die „sozia­ „patriotischen Tat“ widmete das Wandsbeker len Bestrebungen“ entsprachen allerdings ganz Unternehmen eine Postkartenserie, die auch dem streng patriarchalischen Verständnis von Arbeiter in Kamerun bei der Kakaoernte und Unternehmern jener Zeit: Arbeitsschutz und beim Tragen der schweren Kakaobohnensäcke bessere Entlohnung gegen Gehorsam und lan- ins Bild setzte. Es war seinerzeit üblich, Scho- ge Werktage. Gewerkschaftliche Aktivitäten kolade lose zu verkaufen. Die Reichardt-Kom- waren im Werk ausdrücklich verboten. 1905 pagnie bot sie erstmalig verpackt an, um die musste sich die Arbeiterschaft in einem zwei Frische zu erhalten – mit Erfolg, denn das Monate dauernden Streik gegen Misshandlun- Unternehmen konnte bald expandieren. Die gen durch Vorgesetzte wehren. Stammfabrik wuchs um weitere Gebäude zu Der Kakao für die Schokoladenprodukte einem eigenen Stadtteil in Wandsbek, der sich kam zunächst aus den portugiesischen und

* Hinter dem N-Wort steckt die und „Rassentheorien“ auf. Das teure gedacht und gehandelt haben. Bezeichnung „Neger“, die stark Wort wird im vorliegenden Text Quellen: diskriminie-rend ist. Das N-Wort ausschließlich im historischen Zitat Jörg Beleites: Schokolade aus tauchte erstmalig im Zusammen­ ausgeschrieben, weil damit deutlich Wandsbek. Aus der Industriege­ hang mit dem trans-atlantischen gemacht werden soll, wie rassis­ schichte unseres Stadtteils, in: Menschenhandel, mit Kolonialismus tisch die beschriebenen Kolonialak­ Wandsbek informativ, Bd. 9 (1995), 45 | Biographien von A bis Z

britischen Kolonien in Westafrika; Einfuhren 1902 wurde Buea Hauptstadt und Sitz der Ko- aus den deutschen Kolonien Kamerun und lonialverwaltung. Den prächtigen Gouvernem- Togo nahmen jedoch stetig zu. Von den 50 000 entspalast („Puttkamer-Schlösschen“, genannt Ton­nen Kakao, die das Deutsche Reich 1913 nach dem berüchtigten Gouverneur Jesco von importierte, fielen rund 7000 Tonnen auf die Puttkamer) mussten gefangene Bakweri bauen. Wandsbeker Firma, was drei Prozent der welt- In weiteren Regionen dauerte die Gegen- weiten Ernte ausmachte. Am fruchtbaren Ka­ wehr gegen die koloniale Expansion an: Bis me­runberg hatten die Hamburger Großhan- 1908 kam es in Kamerun zu weit über 100 delshäuser Adolph Woermann (siehe: Woer­ militärischen Auseinandersetzungen, in Togo mann­stieg) und Jantzen & Thormählen, gestützt­ zu mindestens 30. In der „Schutztruppe“ rebel- auf die reichsdeutsche Marine, Plantagen lierten afrikanische Soldaten gegen die Schi­- zwangsweise „erworben“ und drei Handels- kanen und Prügelstrafen der deutschen Vor- gesellschaften gegründet. 1899 wurden die­se gesetzten. Schließlich konnte die deutsche zum ge­mein­samen Plantagenunternehmen Kolonialverwaltung 1896 die Enteignung des Moliwe-Gesellschaft mit einer Betriebsfläche fruchtbaren Kulturlandes am ganzen Kame- von 14 000 Hektar zusammengelegt. runberg melden. Die Bakweri, die überlebt Gegen den Landraub leisteten die vor Ort hatten, mussten ihr bewirtschaftetes Land ver- lebenden Bakweri (Kpe) entschiedenen militä- lassen. Ihnen wurden „Eingeborenenreservate“ rischen Widerstand. Unter dem Feldherr Kuv’a zugewiesen, Kleinparzellen zur Eigenversor- Likenye war ihr bewaffneter Freiheitskampf gung in kargen Randlagen. lange erfolgreich. In einem Gefecht vor Gbea Das Kolonialgouvernement verkaufte das (Buea), der größten Ortschaft am Kamerunberg, eroberte Land an einige wenige große Aktien- töteten sie 1891 den Kommandeur der deut- gesellschaften, hinter denen allen voran die schen „Schutztruppe“, Karl von Graven­reuth. hanseatischen Kaufleute und Großindustriel­le Ende 1894 mussten die Bakweri schließlich vor aus dem Rheinland standen. Den Investoren der deutschen Übermacht kapitulieren; Gbea wurden großflächige Ländereien zu extrem wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die deut- niedrigen Preisen angeboten sowie militäri- sche Kolonialtruppe erschoss fast alle Männer, scher Schutz und billige Arbeitskräfte zugesi- und die Frauen wurden als „Soldatenweiber“ chert. Der lokalen Bevölkerung hingegen wur- zur Prostitution gezwungen. Kuv’a Likenye de der Kakaoanbau verboten, dafür wurden starb auf der Flucht. Hans Dominik (siehe: Do- die enteigneten Kleinbauern auf den Plantagen minikweg), Hauptmann in der „Schutztruppe“, zur Lohnarbeit verpflichtet. Der Basler Missi- prahlte damit, dass die Bewohnerschaft von onar Friedrich Lutz notierte: „Die meisten Gbea nun „kaum mehr als dem Namen nach Dörfer waren große, stattliche Bakwiri-Dörfer vorhanden“ sei. Dominik war in ganz Kamerun [sic]. Wo sie ehedem standen, erblickt man für seine Terrormethoden gefürchtet. Bis heu- heute nur noch Kakaopflanzungen. (…) [Es] te steht die Figur des Mayor Dzomnigi im kol- ist in den Landkommissionen offen ausgespro- lektiven Gedächtnis der Bevölkerung in Süd- chen worden: ,Die Schwarzen sind von uns be- kamerun für Mord, Folter und Zwangsarbeit. siegt und als Besiegte sind sie rechtlos.‘“

11, S.14-15; Das Reichardtwerk Hamburg, 1917, PDF-Download: Bananen. Der deutsche Kolonialis­ 1892-1917, Denkschrift anläßl. d. Staats- und Universitätsbibliothek mus in Afrika. Eine Spurensuche, 25-jähr. Bestehens des Reichardt­ Hamburg, B 1946/476, http:// Neuaufl., Berlin, 2011, S. 54ff., werkes in Wandsbek, Reichardtwerk resolver.sub.uni-hamburg.de/ 61; Thorsten Altena: „Ein Häuflein Wandsbek, Kakao-Compagnie goobi/PPN77380109X ; Heiko Möhle Christen mitten in der Heidenwelt Theodor Reichardt Wandsbek, (Hrsg.): Branntwein, Bibeln und des dunklen Erdteils": Zum Selbst- 46 | Biographien von A bis Z

Die Bakweri leisteten von nun an passiven beitskräften. Die brutalen Rekrutierungsme- Widerstand, und um sich dem Arbeitszwang thoden und die Schikanen, die harte Arbeit zu entziehen, wanderten ganze Dorfschaften und die schlechte Ernährung führten überall aus. Den Mangel an Arbeitskräften versuchte am Kamerunberg zu hohen Todesraten. Wer die Kolonialverwaltung auszugleichen, indem konnte, versuchte zu fliehen, ganze Regionen sie Menschen aus entfernteren Regionen und wurden entvölkert. anderen Kolonien holte, doch auf Dauer war Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs blie­- die aufwendige Anwerbung wenig wirksam. ben die Kakaolieferungen aus, die Schoko­ Besorgt um Kakaolieferungen trieben die ladenproduktion in Wandsbek musste vor­ Reichhardt-Werke aggressive Kolonialpropag- übergehend eingestellt werden. Und es kriselte anda. 1908 forderte das Unternehmen in der weiter: Ende 1925 führten Absatzschwierig­ Zeitung Wandsbecker Bothe: „Wir müssen An- keiten zu einer erneuten Stilllegung der Reich­- spruch auf die Arbeitskraft der Neger erheben, ardt-Werke, 2800 Arbeitskräfte – von ihnen soll nicht unsere Kolonie zu einem Negerver- wohnte fast die Hälfte in Wandsbek – wurden sorgungsheim werden.“ entlassen. 1928 wurde die Kakao-Kompagnie Nun griff das Gouvernement unter Jesco Reichhardt an den Kölner Schokoladenriesen von Puttkamer zu noch rabiateren Methoden. Stollwerck verkauft und das Wandsbeker Werk Um die lokale Subsistenzwirtschaft gänzlich abgewickelt. Die meisten Werkgebäude sind zu vernichten und die lokale Bevölkerung an der Neumann-Reichhardt-Straße erhalten „durch Hunger zur Arbeit“ zu treiben, ließ die geblieben, heute beherbergen sie Büros und Kolonial-verwaltung Dörfer und Felder nie- kleine Handwerksbetriebe. Auf dem benach- derbrennen, Folterungen waren an der Tages- barten Fabrikgelände etablierte sich ab 1940 ordnung. Die „Schutztruppe“ machte Jagd auf die Im- und Exportfirma Herbert Stockmann, Arbeitskräfte, vor allem auf Kinder, die sich die anfangs mit Südfrüchten handelte und nicht wehren konnten und die als besonders dann ab 1949 Süßigkeiten und Schokolade pro­- fleißig galten. Die Zwangsverpflichteten er- duzierte. Heute hat das Nestlé Chocoladen- wartete eine Sechs-Tage-Woche mit einer täg- Werk dort seinen Sitz. lichen Arbeitszeit von bis zu 18 Stunden und Nach dem Ersten Weltkrieg bot die briti­ ein Lohn am Rande des Existenzminimums. sche Mandatsmacht den Plantagenbesitzern Auf den Pflanzungen der Handelsgesellschaf- den Rückkauf ihrer Ländereien am Kamerun­ ten, welche die Wandsbeker Reichhardt-Wer- berg an. Doch damit nicht genug: Die Han- ke mit Kakao belieferten, waren körperliche delsgesellschaften enteigneten weiteren Grund Strafen an der Tagesordnung. Die Westafrika- und Boden in die Reservate hinein und ver- nische Pflanzungsgesellschaft Bibundi WAPB/ drängten die lokale Bevölkerung in immer en­- Jantzen & Thormählen ließ einen „Hunger­ gere Räume. Ab 1933 bekannten sich die meis- turm“ bauen, in dem unwillige Arbeiterinnen ten deutschen Pflanzer zum Nationalsozia- und Arbeiter eingesperrt wurden. Auf der lismus und träumten von der Rückeroberung Plantage von Adolph Woermann starben 1913 Kameruns. 1947 gründete die britische Kolo- innerhalb von sieben Monaten 65 von 213 Ar- nialverwaltung den Großkonzern Cameroons

und Fremdverständnis protestan­ Kamerun, in: iz3w Nr. 276 (2004), mann – Nestlé: die großen Drei, tischer Missionare im kolonialen S. 20-23, URL: www.sopos.org/ an der Neumann-Reichardt-Straße Afrika 1884-1918, Münster, 2003; aufsaetze/40c614b891422/1.phtml beginnt Wandsbeks Schokoladen­ Heiko Möhle, Stefanie Michels: Eine (letzter Zugriff 27.11.2014); StaH seite, in: Wandsbek informativ: endlose Geschichte. Nachwirkungen 422-11 Neumann Reichardt A I e 9; der Wandsbecker Bothe; die des deutschen Kolonialismus in Helmuth Fricke: Reichardt – Stock­ Monatszeitschrift für Wandsbek 47 | Biographien von A bis Z

Development Corporation (CDC), der die Plan- ­ wegung 1891–1894 gegen die deutsche Kolo- tagen am Kamerunberg verwaltet. CDC blieb nialherrschaft, der bis heute geehrt wird. Ein nach der Unabhängigkeit des Landes 1960/ Bakweri-Lied erinnert an ihn: „Lo! Die Hände, 1961 weiter erhalten und wurde 1994 priva­ welche den Speer hoch hielten / Welche das tisiert. Zu allen Zeiten haben die Bakweri Gewehr luden / Lo! Die furchterregende Stim- die Rückgabe des Landes ihrer Vorfahren ge- me, welche brüllte / Welche die Menge davon fordert, bislang ohne Erfolg. Unvergessen ist jagte / Der Held bleibt unsterblich. Kuv’a Likenye, der Führer der Widerstandsbe- Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser

(mit Hinschenfelde), Marienthal, burg, [Informationsbroschüre über Claims Committee (BLCC), 2006, Jenfeld, Tonndorf, Farmsen-Berne die Firma], Wandsbek, 1924; Ka­ URL: www.blccarchives.org/files/ und Eilbek, Hamburg, Bürgerverein kao-Compagnie Theodor Reichardt bakweri_resistance_to_germans. Wandsbek, Bd. 16 (2001), Heft 9, S. (Hrsg.): Nahrungsmittel-Warte, pdf (letzter Zugriff 29.11.2014); Al­ 20-21: Kakao-Compagnie Theodor Blätter für Bekämpfung aller Nah­ bert Gouaffo: Hans Dominik und die Reichardt; Kakao-Compagnie Theo­ rungsmittel-Entwertung, Wandsbek, Kolonisierung Kameruns, Ausstel­ dor Reichardt Wandsbek, gewidmet 1908-1913; Dibussi Tande: Bakweri lung freedom roads! 2013 von der Kakao-Kompagnie Theodor Armed Resistance to German Colo­ Reichardt G.m.b.H. Wandsbek-Ham­ nialism, 1891-1894, Bakweri Land 48 | Biographien von A bis Z

Nöltingstraße nach Haiti. Von dort sowie von den dänisch- Ottensen, seit 1951; benannt nach Emile Nölting westindischen und weiteren benachbarten In­- (1812–1899), Kaufmann und Merchant Banker seln wurden Kolonialwaren wie Zucker, Baum- wolle, Kaffee, Tabak und Sisal, die von den Jacques Emile Louis Alexandre, genannt Emile, Sklavenplantagen kamen, nach Hamburg ver- war der älteste Sohn des Kaufmanns Carl Jo- schifft. Dänemark hatte als erstes Land ab seph Nölting und dessen Frau Henriette. 1816 1792 den Sklavenhandel verboten. Impulsge- zogen Carl und Henriette Nölting mit ihren bend mögen die seit 1733 wiederholten Auf- Kindern von Mannheim nach Hamburg, wo stände auf den eigenen westindischen Inseln Carl Nölting 1820 eine Stelle als Senatskanzlist gewesen sein ebenso wie die Haitianische bekam. Ab 1829 machte Emile Nölting bei der Revolution 1791–1793. Auf der französischen Hamburger Firma Tanner & Brook eine kauf- Zuckerinsel hatten sich die versklavten Men- männische Lehre und fand dann eine Stelle im schen aus eigener Kraft dauerhaft befreien Kontor von Joh. Dan. Schirmer, das Schiffe und können. Der Schwarze General François-Do- Frachten hauptsächlich zu den dänisch-wes- minique Toussaint Louverture, der die Re- tindischen Inseln in der Karibik makelte. volution führte, wird heute mit Denkmälern 1836 zog es den 24-Jährigen, der die fran- in verschiedenen Ländern gewürdigt. In den zösische Sprache gut beherrschte, nach Haiti, dänischen Kolonien existierte die Sklaverei wo er in der Hauptstadt Port-au-Prince bei J. R. faktisch bis mindestens 1848. Um den Arbeits- Bernard&Co. angestellt wurde. Zwei Jahre kräftemangel, der nach der Abolition herrsch- später heiratete er dort Florida Richeux, Toch­- te, auszugleichen, warben die Plantagenbesit- ter eines vermögenden Plantagenbesitzers. Aus zer Menschen aus den kolonisierten Ländern der Ehe gingen drei Söhne hervor. Vermutlich Asiens an und führten neue Formen extrem finanziell unterstützt durch den Schwiegerva- ungleicher Kontraktarbeit ein. Von Zwangsar- ter, konnte Nölting sich 1840 als Teilhaber in beit bzw. von niedrigem Lohnniveau profitier- die Firma J.R.Bernard&Co. einkaufen. 1844 ten auch Nöltings Niederlassungen. eröffnete er mit seinem Schulfreund Julius 1846 starb Emile Nöltings Ehefrau Florida. Friedrich Wilhelm Reimers die Firma Nölting, 1850 heiratete er die in Port-au-Prince geborene Reimers & Co. in Port-au-Prince mit Niederlas­ Louise Alexandrine Clara Windsor. Aus dieser sungen in Cap-Haïtien und auf der dänisch- Ehe stammten zwei Töchter. Der Hamburger westindischen Insel St. Thomas, deren Hafen Kaufmann pflegte enge Beziehungen zum hai­ ein Knotenpunkt des karibischen Schiffsver- tianischen Präsidenten, dem späteren Kaiser kehrs war. Mit Reimers und dem Kaufmann Faustin I., was zweifelsohne günstig auf seine Hermann Münchmeyer, der 1848 aus Haiti zu- Handelsunternehmungen wirkte. Faustin-Élie rückgekehrt war, gründete Nölting das Han- Soulouque ließ sich 1852 krönen und führte delskontor Münchmeyer, Reimers & Nölting in ein diktatorisches und verschwenderisches Hamburg. Aus der Hansestadt exportierten die Regime. Clara Nölting gehörte zum Kreis der Geschäftspartner Eisenwaren, Hüte, bedruck- Hofdamen im Palast. Als Faustins Thron zu te Baumwollstoffe und alkoholische Getränke wanken begann, als die Insel im Machtkampf

Quellen: Disconto-Bank 1870–1920/23: Bank- Köln, 2011, S. ; Laurent Dubois: Haiti. Heiko Möhle (Hrsg.): Branntwein, geschichte als Systemgeschichte, The Aftershocks of History, New Bibeln und Bananen. Der deut­ Stuttgart 2004; Julia Laura Risch­bie- York, 2012; Eberhard von Wiese: Hier sche Kolonialismus in Afrika. Eine ter: Mikro-Ökonomie der Globalisie­ ist das Paradies. Schicksale am Har- Spurensuche, Neuaufl., Berlin, 2011; rung: Kaffee, Kaufleute und Konsu­ vestehuder Weg, Frankfurt 1967, S. 31; Detlef Krause: Die Commerz- und menten im Kaiserreich 1870–1914, Hans-Jörg Nölting: „Die Geschichte 49 | Biographien von A bis Z

nicht zur Ruhe kam, litten auch die Geschäfte merz- und Discontobank (später Commerz- der kaisertreuen Kolonialkaufleute. 1853 ver- bank) und der London und Hanseatic Bank, ließ Nölting Haiti und zog mit seiner Familie als Mitbegründer der Bavaria Brauerei und des in die Hauptstadt der englischen Textilindus- Hamburger Freihafens gewann Nölting unauf- trie, Manchester, von wo aus er weiterhin Han- haltsam an Prestige. 1877 war er Mitglied des del mit Haiti betrieb. Nach drei Jahren kehrte Gründungskomitees des katholischen Mari- er schließlich nach Hamburg zurück. In der enkrankenhauses in Hamburg, 1883 konver- ersten Weltwirtschaftskrise von 1857 gingen tierte er schließlich selbst zum katholischen viele Hamburger Kaufleute bankrott, auch Nöl-­ Glauben. Daraufhin schenkte er der Gemeinde ting, Reimers und Münchmeyer mussten ihr St. Marien in Altona das Grundstück an der Firmennetzwerk zwischen Hamburg und Hai­ Reitbahn, auf dem heute das Pfarrhaus steht. ti liquidieren. In dieser Zeit der boomenden 1890 übertrug er seinem Sohn Edgar die Firma Industrialisierung, der fallenden Handelsbe­ Emile Nölting & Co. Als er 1899 starb, hinter- schränkungen und der rasanten Öffnung neuer ließ er seinen Erben über acht Millionen Mark, Märkte vor allem in Amerika gelang es Nöl- mehrere Herrensitze und Firmenbeteiligun- ting, mit neuen Geschäftspartnern und ris- gen. Entsprechend seinem Testament wurde kanten Geldtransaktionen geschickt zu spe- an der Pastorenstraße in der Neustadt das kulieren. Nun vermögend geworden, konnte katholische Nölting-Stift gegründet, das Ende er 1857 das Hamburger Bürgerrecht erwerben der 1960er-Jahre dem Bau der Katholischen und 1858 die Im- und Exportfirma Emile Nöl- Akademie weichen musste. Heute wird das ting & Co. gründen. Mit seinem aus Hanno- Familienunternehmen Nölting in der fünften ver stammenden Schwager Carl Anton Adolf Generation weitergeführt. „Charles“ Purgold tat er sich mit der Niederlas- Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser sung Nölting, Purgold & Co. in Port-au-Prince zusammen. Die vielen Ämter, die ihm jetzt angetragen wurden, waren für sein Geschäft förderlich. 1859 nahm ihn die „Hamburger Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns“ – die Wahlkör- perschaft der Commerz-Deputation, aus der 1867 die Handelskammer hervorging – als Mit- glied auf und wählte ihn zum Handelsrichter. Im selben Jahr wurde er vom Kaiser Faustin I. zum dänischen Konsul von Haiti ernannt, sechs Jahre später war er als Generalkonsul von Haiti in Hamburg tätig. Auch in zahl- reichen weiteren Funktionen wirkte Nölting mit: als Vorstandsvorsitzender der von Ham- burger Kolonialkaufleuten gegründeten Com-

der Nöltings bis Jacques Emile Louis am Rothenbaum“ und „Vom Rothen­ hrsg. von der Wirtschaftsgeschichtl. Alexandre“ und „Jacques Emile baum nach Niendorf“ Paul Theodor Forschungsstelle Hamburg, Ham­ Louis Alexandre Nölting“ Onlinefas­ Hoffmann: Die Elbchaussee, Ham­ burg, 1958; www.emile-noelting. sung: http://www.meinevorfahren. burg? 1937; Carl Schmidt-Reitz: Emi­ de/1/firmengeschichte/index.html; de (letzter Abruf 16.8.2014); Edgar le Nölting & Co. Zur Geschichte des www.rootsweb.ancestry.com/~hti­ Nölting „Emilie Nölting“ – „Jugend Hamburgischen Handels mit Haiti, wgw/familles/fiches/042777.htm 50 | Biographien von A bis Z

Informationen zum Ehe- und Familienleben

(Charles Purgold) Nölting war „auf Anregung seiner katholischen Ehefrau [Clara] (…) 1883 zu ihrem Glauben über[getreten] und stiftete den Altar für die 1991 gebaute St. Marienkirche in Altona. Nachdem Clara Nölting am 18. Juli 1898 gestorben war, wurde Emile Nölting zu einem gebrochenen Mann. Er versprach den Grauen Schwestern von der Heiligen Elisa- beth, die ihn pflegten, ein neues Heim. (…) Das im Jahre 1900 fertiggestellte fünfstöckige, als Nölting-Stift bekannte Wohnhaus war ein Geschenk Nöltings an die katholische Kirche. Durch die während der Zeit des Nationalso- zialismus stark dezimierte Zahl der Grauen Schwestern wurde es ab 1943 als normales Wohnhaus und ab 1947 auch als Pastorat der Kleinen Michaeliskirche genutzt.“

Quellen: Claus Gossler: Jacques Emile Louis Alexandre Nölting, in: Franklin Kopitzsch, Dirk Brietzke: Hamburgische Biografie. Personen­ lexikon. Bd. 4. Göttingen 2008, S. 257. 51 | Biographien von A bis Z

O’Swaldkai betrug der Anteil der Firma am Kaurihandel Kleiner Grasbrook, seit 1893; benannt nach 97 Prozent. Doch zwischen den Hamburger, William Henry O’Swald (1832–1923), Hamburger britischen und französischen Niederlassungen Kolonialkaufmann, Merchant Banker, Senator in Lagos war Palmöl zu einer umkämpften Ko- und Bürgermeister lonialware geworden, und der nigerianische Siehe auch: O’Swaldstraße, Horn (1929) Markt war längst mit Kaurigeld inflationär überschwemmt. Bevor der Schwindel aufflog, William Henry O’Swalds Vater Johann Carl Hein- war es den zwei hanseatischen Handelshäu- rich Wilhelm Oswald war ab 1822 als Super- sern gelungen, rund 500 000 Sack der Kauri- cargo für die Königlich Preussische Seehand- währung abzusetzen. Als daraufhin die Palm­ lung um die Welt gesegelt. Ganz anglophil öllieferungen stockten, gab Wm. O’Swald & änderte er den deutschen Familiennamen Os- Co. die Niederlassung in Lagos schnell auf und wald in den feiner klingenden O’Swald um. zog sich auf das Geschäft in Ostafrika zurück. 1831 gründete er das Hamburger Handelshaus Die Palmölfaktorei übernahm das Hamburger Wm. O’Swald & Co., das zunächst Leinenhan- Handelshaus Gaiser & Witt (siehe: Gaiserstraße). del zwischen den Kontinenten betrieb. 1847 Die ostafrikanische Insel Sansibar, seit 1833 gehörte er neben Adolf Jakob Hertz zu den ers- von Sultanen aus dem Oman regiert, war ein ten deutschen Kaufmännern, die eine feste Zentrum für den Menschenhandel. In langen Niederlassung in Ostafrika gründeten: ein Im- Karawanen trieben Sklavenhändler Gefangene und Exportgeschäft auf der Insel Sansibar. Ab aus dem Landesinneren zur Küste, von wo aus 1851 bestand die Anlage aus einem Wohn- sie auf die arabische Halbinsel und nach Asien haus, acht Lagergebäuden und je einem Haus deportiert wurden. Ebenso wurden Versklavte für Kopal (Baumharz für Lacke und Farben) zur Arbeit auf den sansibarischen Plan-tagen und Kaurischnecken. Während die Gehäuse gezwungen und für die Trägerkarawanen im dieser Schnecken in Westafrika ein knappes Landesinneren rekrutiert. Wm. O’Swald & Co. und daher begehrtes Zahlungsmittel waren, und andere auf Sansibar ansässige hanseati- kamen die Kauris in großen Mengen auf den sche Handelshäuser wie der Elfenbeinhändler Seychellen vor, wo sie günstig erworben wer- Heinr. Ad. Meyer (siehe: Heinrich Christian Meyer, den konnten. Der Kaurihandel lief über Sansi- unter Meyerstraße) profitierten von den Waren- bar. So kauften Wm. O’Swald & Co. und Hertz preisen, die durch unfreie Arbeit niedrig ge- & Co. zentnerweise Kaurischnecken und expe- halten werden konnten. Die Hamburger Firma dierten diese nach Lagos, dem Zentrum des Hansing & Co. betrieb eine eigene Vanilleplan- Palmölhandels in Nigeria, wo die O’Swald- tage, auf der Versklavte arbeiten mussten. Die Firma 1851 eine Palmölfaktorei gründete. Die Brüder O’Swald importierten in großen Men- Spekulation mit dem Kaurigeld sollte ein wohl gen Gewürznelken und Sesamsaat, Elfenbein gehütetes Geheimnis bleiben. 1858 stieg der und Ebenholz, Kopra (getrocknetes Kernfleisch ältere Sohn Albrecht Percy in die Firma ein von Kokosnüssen) und Kautschuk, Kopal und und im Jahr darauf, als der Vater starb, wurde Orseille (purpurnen Farbstoff) nach Europa und auch William Henry Mitinhaber. Inzwischen und verschifften Spirituosen, Glasperlen, Baum-

Quellen: burger Kolonialhandelshaus Wm. Dirk Brietzke: Hamburgische Manuel Sarrazin: Hamburgs Rolle O'Swald & Co. und die Einführung Biografie-Personenlexikon, Bd. 2, in der deutschen Kolonialpolitik. von „Techniken“ in die Kolonien Göttingen, 2003, S. 310f. ; Heiko Lücken und Spuren im heutigen 1890–1914, Hamburg 2004 (Diss.); Möhle (Hrsg.): Branntwein, Bibeln Stadtbild der Hansestadt, Hamburg Renate Hauschild-Thiessen: William und Bananen, 3. Aufl., Berlin, 2011, 2005; Lutz J. Schwidder: Das Ham­ O’Swald, in: Franklin Kopitzsch, S. 21ff.; Ulf Vierke: Die Spur der 52 | Biographien von A bis Z

wollstoffe, Gewehre, Munition und Schießpul- und den Hansestädten Hamburg, und ver nach Ostafrika. Allein in den Jahren 1887/ Lübeck einzuleiten. Der Vertrag von 1859 ga- 1888 lieferte Wm. O’Swald & Co. 35 000 Ge- rantierte den norddeutschen Niederlassungen wehre, dazu 200 000 Pfund Schießpulver. Auf auf Sansibar Schutz, Handelsfreiheit, das Recht Nachfrage des Konsuls Gustav Michahelles auf zum Erwerb von Grundbesitz sowie Meistbe- Sansibar begründete die Firma den Waffen- günstigung gegenüber Handelshäusern ande- handel mit der Unsicherheit im Landesinne- rer Nationen, ein erheblicher Vorteil ange- ren, insbesondere müssten die Elfenbeinka­ sichts der harten Konkurrenz aus England und rawanen geschützt werden. In Wirklichkeit Frankreich. Und er ebnete Handelswege bis wurden die Gewehre ebenso bei Jagden auf weit ins Innere des ostafrikanischen Festlan- Menschen sowie zur Überwachung und Ver- des. Albrecht Percy O’Swald wurde zum sansi- teidigung der Sklavenkarawanen eingesetzt. barischen Generalkonsul in Hamburg ernannt, Als 1888 die Küstenbevölkerung unter Abushi- der Leiter der Niederlassung zum hanseati- ri ibn Salim al-Harthi und Mitkämpfern gegen schen Konsul auf Sansibar. In den folgenden Landnahme und koloniale Willkürherrschaft Jahren waren alle Handelskonsuln auf Sansi- aufstand und sich mit deutschen Waffen aus- bar O’Swald-Angestellte. Im Zuge des harten gerüstet anderthalb Jahre lang behaupten Konkurrenzkampfs kam es bald zu Beschwer- konnte, erließ die Reichsregierung ein generel- den der übrigen Handelshäuser gegen die les Waffen- und Munitionsausfuhrverbot. Die ­Konsulate, diese hätten absichtlich geschäfts- Lagerbestände verkaufte Wm. O’Swald & Co. schädigende Desinformation verbreitet. Wm. an den Reichskommissar Hermann Wissmann O’Swald & Co. konterte mit dem Vorwurf an (siehe: Wißmannstraße), der den Auftrag hatte, Hansing & Co., mit der Reederei Deutsche Ost- den antikolonialen Kampf niederzuschlagen. Afrika Linie (DOAL) Abmachungen getroffen Zudem besorgte das Handelshaus bereitwillig zu haben, die zu einer Wettbewerbsverzer- einen Kredit für Wissmanns „Strafexpeditio- rung führen würden. Schließlich führte das nen“. Waffen und Kapital kamen zum Einsatz, Gerangel um nationale und private Kolonialin- als die „Wissmanntruppe“ mordend, brand- teressen zur sukzessiven Entmachtung der schatzend und plündernd durch die Lande Sultansdynastie, die mit deutschen und briti- zog. Die äußerst brutale Kriegsführung des schen Seeblockaden gegen den Sklavenhandel Reichskommissars war Gegenstand von kriti- und mit Kanonenbooten als Drohkulisse durch­ schen Debatten im Berliner Reichstag, und gesetzt werden sollte. Diese gipfelten im Einta- selbst Konsul Michahelles kritisierte das bluti- geskrieg am 27. August 1896, als die britische ge Vorgehen als „Militärdiktatur“. Gute diplo- Marine den Sultanspalast bombardier­te und matische Beziehungen zum Sultan waren die schwere Schäden verursachte. Gegen Ende des Grundlage für den prosperierenden Handel 19. Jahrhunderts konnte sich Sansibar immer zwischen Sansibar und Europa. Dem 27-jähri- weniger als Handelsplatz behaupten. 1869 ver- gen William Henry O’Swald gelang es, den fügte Wm. O’Swald & Co. über eine eigene Flot- Abschluss eines „Freundschaftsvertrags“ zwi- te von achtzehn Segelschiffen, ab 1881 wurden schen Sayyid Madschid bin Said al-Busaidi Dampfschiffe eingesetzt. Ab 1870 expandierte

Glasperlen. Akteure, Strukturen (Hrsg.): Zanzibar Under Colonial Schramm: Hamburg, Deutschland und Wandel im europäisch-ostafri­ Rule, Oxford, 1991, Eastern African und die Welt, Leistung und Grenzen kanischen Handel mit Glasperlen, Studies; Jutta Bückendorf, Schwarz- hanseatischen Bürgertums in Diss., Bayreuth 2006, Bayreuth weiss-rot über Ostafrika. Deutsche der Zeit zwischen Napoleon I und African Studies Online No. 4 (June Kolonialpläne und afrikanische Bismarck, München, 1943, S. 241; Fr. 2006); Abdul Sheriff, Ed Ferguson Realität, Münster, 1997; Percy Ernst Johannes Henschel: „19th Century: 53 | Biographien von A bis Z

die Firma mit Faktoreien an der Somaliküste, see, Endstation der Ostafrikanischen Zentral- auf der kautschukreichen Insel Madagaskar bahn, ein Handelsstützpunkt, und in der boo- sowie in der Küstenstadt Mombasa. Seit der menden Küstenstadt Mombasa, Endpunkt der Berliner Afrika-Konferenz 1885 war das Fest- britischen Ugandabahn, wurde eine Filiale er- land als Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ (heute öffnet. Zwischen den Handelshäusern, die nun Tansania, Ruanda, Burundi) annektiert, wäh- versuchten, Kolonialwaren möglichst aus ers- rend sich die private Imperial British East Afri- ter Hand weit weg von der Küste zu kaufen, ca Company 1887 das ungefähre Gebiet des entwickelte sich auch hier ein gnadenloser heutigen Kenias aneignete. Im Wettlauf um Konkurrenzkampf. Nicht nur die Präsenz der ostafrikanische Kolonialgebiete im Binnen- anderen europäischen Faktoreien an den land hatten das Deutsche Reich und Großbri- ­Handelsstationen bereitete Wm. O’Swald & tannien mit dem Bau von Eisenbahnverbin- Co. Kopfzerbrechen, sondern auch der neu dungen bis zum Victoriasee begonnen. Pas­- ­entflammte Wettbewerb mit Hansing & Co. send dazu nahm die DOAL unter dem Vorsitz und der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft des Reeders Adolph Woermann (siehe: Woer- (DOAG). 1903 gelang der O’Swald-Firma, im mannstieg) den regelmäßigen Schiffsverkehr Kautschukhandel einen Marktanteil von 70% zwischen Hamburg und den ostafrikanischen zu ergattern. Dabei wurde auch „Blutgummi“ Küstenstädten auf. Der schnel­le Transport mit aus dem „Kongo-Freistaat“, der Privatkolonie der Eisenbahn über weite Strecken ersetzte des belgischen Königs, über die kongolesische den kostspieligen Karawanenverkehr zu Fuß, Grenze nach Uganda und „Deutsch-Ostafrika“ die Transportmengen stiegen an, die Trans- geschmuggelt und per Bahn nach Dar es Sa- portkosten sanken auf ein Zehntel. Die Dampf- laam und Mombasa gebracht. Der Kautschuk- schiffe brachten die Kolonialwaren schnell gier und dem Terrorregime des Leopold II. fiel nach Hamburg. Nun war es auch möglich, in die Hälfte der kongolesischen Bevölkerung – weiten Regionen Ostafrikas neue Absatzmärk- etwa zehn Millionen Menschen – zum Opfer te für europäische Waren zu finden, Farmland („Kongo-Gräuel“). Vor dem Ersten Weltkrieg entlang der Bahnstrecke für Siedler aus Euro- machte sich die wachsende Dynamik des pa zu erschließen und Kolo­nialtruppen schnell hochspekulativen Kolonialwarengeschäfts an mobil zu machen. Von diesen günstigen Kon- der Börse bemerkbar. 1910 musste sich das ditionen überzeugt, verlagerte jetzt Wm. O’Swald-Stammhaus Sorgen um den Kopra- O’Swald & Co., wie auch andere Handelshäu- Handel machen: „Wir haben noch nie einen so ser auf Sansibar, einen Großteil der Geschäfte hin- und herspringenden nervösen Markt ge- auf das Festland. 1889 bot Reichskommissar sehen und wissen nicht, was wir tun sollen.“ Wissmann in Bagamoy Bauplätze an „(…) zur Das aggressive Vordringen der europäischen Errichtung von Filialen an die Deutschen Kolonialkaufleute und Truppen ins Landesin- Kaufleute (…)“ und versprach günstigere Zoll- nere blieb nicht ohne Widerstand und kostete bestimmungen als auf Sansibar. In Dar es viele Menschen vor Ort das Leben. Die briti- ­Salaam und Bagamoyo entstanden weitere sche Kenia-Uganda-Eisenbahn von Mombasa O’Swald-Faktoreien, in Mwanza am Victoria- nach Kisumu am Victoriasee sollte aus militär-

Humans as Merchandise – Slaves Ekkehard Launer: Aus Menschen N. in Bagamoyo“, Freun¬deskreis machen, Hamburg, 1986, S. 19–20; Bagamoyo, 2011; Uganda-Bahn, Jutta Bückendorf: „Schwarz-weiss- wikipedia, URL: de.wikipedia. rot über Ostafrika!“, Deutsche Kolo­ org/wiki/Uganda-Bahn (letzter nialpläne und afrikanische Realität, Zugriff 5.12.2014); Renate Hücking, Diss., Münster, 1995, S. 150–151. 54 | Biographien von A bis Z

strategischen Gründen in Rekordzeit fertigge- nialgesellschaft, die kolonialwirtschaftliche Un­- stellt werden. Für den Eisenbahnbau wurden ternehmen förderte und mit dem Deutschen 30 000 Kontraktarbeiter in Indien rekrutiert, Flottenverein militärische Interventionen in vielfach unter falschen Versprechungen. Unter den Kolonien befürwortete. 1916 forderte die den harten Arbeitsbedingungen kamen etwa Deutsche Kolonialgesellschaft die Gründung 10 000 von ihnen ums Leben. Im Umland der eines großen afrikanischen Kolonialreichs am Bahnstrecke leisteten die indigenen Gemein- Äquator („Deutsch-Mittelafrika“), ebenso wei­ schaften erbitterten Widerstand. 1895 töteten tere Annexionen in Asien. Ab 1894 stiegen die Massai 500 Bahnarbeiter und Soldaten am Söhne und Enkel als Gesellschafter in die Fir- Kedong-Fluss im Rift Valley. In einem Gegen- ma ein, und einige von ihnen machten eine angriff erschossen zwei britische Händler 100 kaufmännische Ausbildung in den eigenen Massai („Kedong-Massaker“). Im kenianischen Faktoreien in Ostafrika und auf Madagaskar. Hochland sabotierten die Nandi über elf Jahre Bis 1914 gehörte Wm. O’Swald & Co. zu den lang Bahntrassen und Telegraphenmasten. 1905 führenden Kolonialhändlern in Ostafrika. In wurden ihr spiritueller und militärischer Füh- den Weltkriegen kam das Geschäft wiederholt rer Koitatel Arap Samoei und seine Gefolgsleu- zum Erliegen, bis das Handelshaus Mitte des te von den britischen Kolonialeinheiten bei 20. Jahrhunderts aufgegeben wurde. ­einem Friedensgespräch aus dem Hinterhalt Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser ermordet („Nandi-Massaker“). Der riesige Vieh­ bestand der Nandi und ihre fruchtbaren Felder wurden konfisziert, die Nandi in Reservate ge- trieben. Auf ihrem kultivierten Land entlang Informationen zum Ehe- und Familienleben der Bahnstrecke durften nun europäische Siedler Plantagen für Kaffee und Tee anlegen; Verheiratet war William O’Swald mit der aus diese Cash Crops wurden über die Handels- vermögender Hamburger Kaufmannsfamilie häuser in Mombasa exportiert. Zum Dank für stammenden Olga Ruperti. „Frau Bürgermeis- seine „Verdienste“ im Kolonialhandel – in ers- ter O’Swald“, wie es im Handbuch der Wohl- ter Linie für den Handelsvertrag von 1859 – tätigkeit heißt, betätigte sich ehrenamtlich wurde William Henry O’Swald 1866 in die in der Verwaltung des Luisenhofes. Solcher Hamburgische Bürgerschaft gewählt und zum Art Aktivitäten waren damals für Frauen des Kommerzdeputierten ernannt. Von 1869 an war Hamburger Großbürgertums schicklich. Der er vierzig Jahre lang kaufmännischer Senator. Luisenhof, gegründet 1887, war eine „Anstalt Für sein Engagement für den Zoll­anschluss für gefallene Mädchen“ und hatte seinen Sitz Hamburgs an das Deutsche Reich wurde er an der Martinistr. 44. Zweck dieser Anstalt 1908 zum zweiten Bürgermeister gewählt. Von war die „Gewährung von Obdach und Schutz 1881 bis 1912 war er Präses der Deputation für für verführte Mädchen, welche vor der Entbin- Handel und Schifffahrt. 1896 initiierte der ein- dung stehen oder geboren haben, und Bewah- flussreiche Überseekaufmann die Gründung rung derselben vor tieferem Falle. Nur erstma- der Hamburger Abteilung der Deutschen Kolo- lig Gefallene, deren Vorleben und Reue über 55 | Biographien von A bis Z

ihren Fall Garantie für die Zukunft bieten, Stadtbund Hamburgischer Frauenvereine rief wurden aufgenommen. Der Aufenthalt nach zur Gründung solch eines Vereins auf. In 21 Be­- der Entbindung erstreckte sich auf 7 Monate. zirken der Stadt wurden 47 Bezirksgeschäfts- Verläßt ein Mädchen ohne Zustimmung der stellen errichtet, von denen 20 für die Erwach- Vorsteherin vorher die Anstalt, so hat sie für senenfürsorge und 27 für die Kinderfürsorge jeden Tag der Zeit nach der Entbindung 50 Pf. arbeiteten. Die Tätigkeit war rein ehrenamt- nachzuzahlen. Ausbildung in allen häuslichen lich. Geholfen wurde mit Kleidung, Lebens- Arbeiten.“1 Die Frauen mussten Kostgeld ent- mitteln, Beratung, Miet- und Gasbeihilfen, Be­- richten, auch Kosten für die Entbindung. Zwi- zahlung von Entbindungen und Krankenhaus- schen 1905 und 1907 wurden 122 Frauen auf- rechnungen etc. Die Hamburgische Frauenhil- genommen, von denen 87 Frauen entbanden. fe unterhielt Tagesräume für obdachlose Frau- „4/5 aller aufge-nommenen Mädchen sind vor en in der Böhmckenstraße und Rentzelstraße Rückfall bewahrt.”2 Unter den ledigen Müttern sowie Nähstuben. waren hauptsächlich Dienstbotinnen. In Ver- Text: Dr. Rita Bake bindung mit dem Luisenhof stand ein Kinder- heim in der Tarpenbekstraße 37. Dort wurden im Luisenhof geborene Kinder ab einem Alter von zwei bis drei Jahren bis zur Konfirmation untergebracht. Toni O’Swald, geb. Haller (1861–1929) war die Tochter des Architekten Martin Haller. Ver­- heiratet war sie seit 1890 mit dem Großkauf- mann des Kolonialhandelshauses O’Swald, Al- fred O’Swald (1861–1929). Toni O’Swald schrieb Kinderbücher, so z. B. das Buch „In der Däm­ merung – zehn Erzählungen für unsre liebe Jugend“ (1920) und Lust- und Märchenspiele. Das Thalia Theater führte 1902 den „Wohl- tätigkeitskuß“ auf, ein von Toni O’Swald ge- schriebenes Lustspiel. Das von ihr verfasste Märchenspiel „Die Wunderquelle – ein Mär- chenspiel in 4 Bildern“ mit der Musik von Oskar Fetras wurde am 27.11.1900 in den Sagebiel’­ schen Sälen in Hamburg zugunsten des „Ver­- bandes Hamburger Mädchenhorte“ erstaufge- führt. Toni O’Swald war aktiv in der Hambur- gischen Frauenhilfe 1923. Die Hamburgische Frauenhilfe gründete sich im Winter 1923/24 zur Zeit des Höhepunktes der Inflation. Der

Quelle: 1 Joachim, Hermann: Handbuch der Wohltätigkeit in Hamburg, 1809. 2 Joachim Hermann, a.a.O. 56 | Biographien von A bis Z

Schimmelmannstraße straße unterhalb der Hamburger Micha­eliskir­ Marienthal, Jenfeld, seit vor 1864; benannt che kaufen, wo er auch sein Kontor einrichtete. nach Graf Heinrich Carl von Schimmelmann Den Hamburger Kaufleuten war der neureiche (1724–1782), dänischer Finanzminister mit Zuzügler mit seiner fürstlichen Hofhaltung dem Titel Schatzmeister suspekt, und sie lehnten seine Einbürgerung ab. Siehe auch: Schatzmeisterstraße, Marienthal 1759 besaß Schimmelmann schon einen Mil- (1950) lion Taler und konnte sich das Ahrensburger Siehe auch: Schimmelmannstieg, Jenfeld (1945) Schloss und Gut mit 319 leibeigenen Bauern leis­ Siehe auch: Schimmelmannallee, Jenfeld (1951) ten, hinzu kamen weitere Schlösser, Paläste und Landgüter in Kopenhagen, Berlin, Wandsbek Im folgenden Text wird das N-Wort im histori- und Lindenborg, die größte Zuckerraffinerie schen Zitat voll ausgeschrieben.* Nordeuropas in Kopenhagen, Baumwollwebe- reien, eine Brauerei und eine Branntweinbren- Anfang des 18. Jahrhunderts siedelte sich Diet- nerei in Wandsbek, die einzige Waffenproduk- rich Jakob Schimmelmann aus der wohlhaben- tion Dänemarks in seiner Kronborg-Fabrik bei den Rostocker Kaufmannsfamilie in Demmin/ Hellebaek sowie die vier größten Zuckerplan- Vorpommern an. Sein dritter Sohn Heinrich Carl tagen auf den Dänisch-Westindischen Inseln in Schimmelmann fing eine Kaufmannslehre in der Karibik. Zudem war Schimmelmann Groß- Stettin an, stieg dann in Dresden in den Kolo- aktionär an der Königlich Dänisch-Westindisch- nialwarenhandel ein. Guinesischen-Compagnie sowie der Asiatischen Im Siebenjährigen Krieg beauftragte ihn Compagnie, die Handel in China und auf den Friedrich II. mit Getreidelieferungen für die dänischen Kolonien Tranquebar in Indien und preußischen Truppen. Als Dank durfte er die Trinquemale auf Ceylon betrieb. vom König konfiszierten Lagerbestände der Für seine nächste Aufgabe in Dänemark Meißner Porzellanmanufaktur zu günstigen – die Sanierung der Staatsfinanzen – bedank- Konditionen kaufen. Die kostbare sächsische te sich der König beim ihm mit Adelstitel und Kriegsbeute im geschätzten Wert von 300 000 berief ihn zum dänischen Schatzmeister (Fi- Talern erwarb Schimmelmann zum halben nanzminister). Als Politiker und Kaufmann in Preis. Das Porzellan ließ er in hundert Kisten Personalunion konnte Schimmelmann seine nach Hamburg schaffen und 1758 bei einer eigenen wirtschaftlichen Interessen absichern. spektakulären Auktion verkaufen, wobei er ei- Seine Plantagen, Landgüter, Fabriken und ­Ma- nen erheblichen Gewinn erzielte. 1759 half er nufakturen vernetzten Handel, landwirtschaft- dem Preußenkönig mit etwas undurchsichtigen liche Produktion und Kapitalbeschaffung, damit Geldtransaktionen aus England aus. Dabei fiel schuf er einen autarken Wirtschaftskreislauf, er mit Münzfälschung auf: Das in seinem Auf- das „System Schimmelmann“, in dessen Mit- trag geprägte Hartgeld wies einen zu niedrigen telpunkt der transatlantische Menschenhan- Silbergehalt und einen gefälschten Stempel auf. del stand. Als Kriegsgewinnler konnte Schimmelmann In Schimmelmanns Manufakturen muss- das luxuriöse Gottorper Palais in der Mühlen­ ten Waisenkinder aus Armenfürsorgeeinrich-

* Hinter dem N-Wort steckt die Be- Das Wort wird im vorliegenden Text Quellen: zeichnung „Neger“, die stark diskri- ausschließlich im historischen Zitat Heiko Möhle: Die Sklavenhändler. minierend ist. Das N-Wort tauchte zu- ausgeschrieben, weil damit deutlich Hamburgs Weg nach Übersee, in: erst im Zusammenhang mit dem trans- gemacht werden soll, wie rassistisch Heiko Möhle (Hrsg.): Branntwein, atlantischen Menschenhandel, mit Ko­ die beschriebenen Kolonialakteure Bibeln und Bananen, Neuaufl., lonialismus und „Rassentheorien“ auf. gedacht und gehandelt haben. Berlin 2011; Christian VII. König v. 57 | Biographien von A bis Z

tungen in langen Arbeitstagen Baumwolle und & Co. (siehe: Caspar-Voght-Straße und Baron-Voght- Wolle weben. Der Straßenname Kattunblei- Straße). che in Wandsbek erinnert noch heute an die Mit den eisernen Schlössern und Ketten großflächigen Bleicherwiesen für Baumwolle wurden die Gefangenen zu zweit an den Hän- am Fluss Wandse, an dessen Ufern die Stra- den und Füßen gefesselt. Auf der monatelan- ßennamen die reichen und global agierenden gen Schifffahrt über den Atlantik bekamen Tuchhändler Peter von Lengercke (siehe: Len- sie nur eine schmale Liegefläche zugewiesen. gerckestraße und Lengerckestieg) und Johannes Viele der Kinder, Frauen und Männer starben Moojer (siehe: Moojerstraße) würdigen, die mit unterwegs an Entkräftung und um sich grei- Schimmelmann Geschäfte machten. Bunt be- fenden Krankheiten. Die Überlebenden kamen druckter Baumwollstoff, billiger Branntwein, im Hafen der dänischen Insel St. Thomas an Waffen und Schießpulver gehörten zu Schim- und wurden auf die Inseln St. Croix und St. melmanns Warensortiment in Westafrika. Sei- Jan (John) verteilt, wo sie zu harter Arbeit auf ne Schiffe brachten die Ware zum Fort Chris- Schimmelmanns Zuckerrohr- und Baumwoll- tiansborg (Osu Castle) und zu den weiteren feldern verpflichtet wurden. Mit rund 1000 Sklavenburgen an der Guineaküste, wo diese Versklavten auf seinen Plantagen war der gegen Versklavte eingetauscht wurden. Nach Wandsbeker Kaufmann der größte private Ver- Bedarf hielten Werften im dänischen Altona sklaverer seiner Zeit. Weitere Mitglieder der zusätzliche Schiffe zum Chartern bereit: die Schimmelmann-Familie waren ebenfalls Plan- Firma Hinrich van der Smissen & Söhne (sie- tagenbesitzer oder Anteilsinhaber. Als „Eigen- he: Van-Der-Smissen-Straße) und das Altonaer tumsnachweis“ ließ er den Menschen, die er Unternehmen der Familie Baur (siehe: Baur- versklavte, mit einem Brenneisen die Buchsta- straße) boten speziell umgebaute und ausge- ben „BvS“ (Baron von Schimmelmann) in die rüstete Schiffe für den transatlantischen Drei- Haut einbrennen. Der „Schimmelmannsche eckshandel mit Menschen an. „Baur hat eine Wirtschaftskreislauf“ schloss sich mit der Ver- schöne zweigedeckte Fregatte von 150 Last, schiffung der Plantagenerzeugnisse Rohzu- er fordert dafür 4500 Mark Banco per Monat. cker und Baumwolle aus Westindien zur Wei- Dann kann das Schiff hingehen, wohin es soll. terverarbeitung in den eigenen Manufakturen. Von anderer Seite war (…) ein Schiff von 120 Im großen Stil betätigte sich Schimmel- Last zu 3500 Mark Banco per Monat angeboten mann auch als Menschenhändler. Vom Hafen ohne die inwendige Ausrüstung, die Bretter, ei- der Insel St. Thomas aus wurden Versklavte sernen Schlösser und was mehr dazu gehörte. im karibischen Raum oder nach Amerika wei- Es handelte sich darum, neutrale Waren von terverkauft. Das Schiff Graf Ernst Schimmel- Bordeaux nach Guinea zu bringen, von da mit mann wurde in Altona und Kopenhagen stets Negern nach S. Domingo zu fahren und mit bereitgehalten. 1780 segelte der Altonaer Car- neutralen Waren nach Hamburg zurück“, no- gadeur Anton Friedrich Gebauer über den At- tierte 1783 der ebenso am Menschenhandel in- lantik mit dem Auftrag, er solle „mit einer Par- teressierte Kaufmann Georg Heinrich Sieveking tie Sclaven nach St. Domingue weiter segeln, aus dem Hamburger Handelshaus Caspar Voght um sie dort zu verkaufen.“ Das Schiff brachte

Dänemark, Dänische Verordnung Dreieckshandel, Gewinn und pdfs/1074677101.pdf (7.11.2014); vom 16 März 1792, von Abschaffung Gewissen, Neumünster 1984; Stefan Christian Kopp und HMJokinen, des unmenschlichen N.Handels, Winkle: Firma Schimmelmann und Tafeltexte aus der Ausstellung „free­ in: Stats-Anzeigen, Bd. 17, 1792, Sohn. Der dänische Sklavenhan­ dom roads! koloniale straßennamen S. 203–205; Christian Degn: Die del, 2003, aerztekammer-ham­ • postkoloniale erinnerungskul­ Schimmelmanns im atlantischen burg.de/funktionen/aebonline/ tur“; Pauline Gräfin von Spee: Die 58 | Biographien von A bis Z

800 Fass wertvollste Kolonialwaren – Puder- stand auf Schimmelmanns Plantage Carolina. zucker und Kaffee – zurück. Schimmelmann Für seinen posthumen Ruhm sorgte Schim- konnte zufrieden sein: Bei dieser Fahrt wurde melmann schon zu Lebzeiten, indem er sich ein Reingewinn von 75 350 Reichstaler erzielt. und seiner Frau am Wandsbek-Markt ein präch- Die „Schatzmeisterin“ Caroline Tugendreich, tiges Mausoleum im klassizistischen Stil er- Schimmelmanns Frau, konnte seine Ankunft bauen ließ. Die zwei Sarkophage aus dunklem, kaum erwarten. In einem Brief 1781 schrieb sie golden geadertem Carrara-Marmor wurden an Schimmelmann: „Kommt Gehbauer [sic] 1790 mit einem Spezialtransport aus Italien nach Hamburg? … Was trägt die axie (…) was herangeschafft. Schimmelmann hinterließ sei- thun die 4 Procente welche du mir verspro- nen Nachkommen acht Millionen Reichstaler, chen von den profit (…)? ich glaube, das ich Schlösser, Paläste, Kaufmannsspeicher, Schif- nun balde eine Capitalistin sein werde, darauf fe, Gutsbesitz in Schleswig-Holstein und Dä- rechne ich ganz gewies.“ Gebauer ließ sich nemark mit leibeigenen Bauern, Fabriken und 1806 vom damaligen Stararchitekten Christian Manufakturen mit einer subproletarische Ar- Frederik Hansen eine prächtige Villa am Phi- beiterschaft sowie Eigentum an Plantagen in losophenweg in Altona bauen. Westindien mit Zuckermühlen und tausend Viel Geld brachte Schimmelmann auch der Versklavten, zudem Aktienanteile an den Handel mit Schwarzen Dienerinnen und Die- west- und ostindischen Kompanien. nern. Er ließ von seinen Plantagen junge Men- Sohn Ernst Heinrich von Schimmelmann schen bringen, die er an die Herrenhäuser in (1747–1831) wurde 1780 zum „Direktor des Schleswig-Holstein und Kopenhagen verkauf- Sklavenhandels“ der erneut gegründeten Kö- te. Europäi-sierte Namen und einige biogra- niglich Dänisch-Westindisch-Guinesischen-Com- phische Spuren sind auf den Schiffslisten und pagnie ernannt. Alarmiert durch die Haitia- Verkaufsdokumenten erhalten geblieben von nische Revolution von 1791, bei der sich die denjenigen, die im Haushalt der Schimmel- Versklavten selbst befreien konnten, und durch mann-Familie dienen mussten: Joseph Am- die Widerstandskämpfe auf den eigenen Kari­ bach, Christoph (Petersen) Tafeldecker, Emi­lia bikinseln lockerte er das grausame Strafreg­ Regina, Sabina Helena. Hans Jonatan gelang lement „St. John’s Slave Code“. Er hatte die es, 1805 nach Island zu flüchten, wo er heira- Zeichen der Zeit erkannt: Die alte Plantagen- tete; inzwischen hat er dort fast fünfhundert wirtschaft war nicht mehr profitabel. 1792 er- Nachfahren. Von Anfang an leisteten die Ver- ließ Dänemark als erstes Land ein Menschen- schleppten Widerstand. Auf der atlantischen handelsverbot, doch mit einer „Übergangszeit“ Mittelpassage kam es häufig zu Meutereien bis 1803; Versklaverei blieb weiterhin bestehen. an Bord. Viele konnten von den Plantagen in Im Vorfeld der neuen Gesetzgebung nahm der die Berge oder auf benachbarte Inseln fliehen. Menschenhandel deutlich zu: Bis 1789 wurden 1733 gelang es ihnen, die Insel St. Jan mona- von der Guineaküste schätzungsweise 12 000 telang unter ihrer Kontrolle zu halten, bevor Versklavte verschleppt, darunter viele Frau- europäische Truppen den Freiheitskampf bru- en und 2000 Kinder. „Bestandserhaltung“ der tal niederschlugen. 1779 kam es zu einem Auf- Plantagenarbeitskraft war nun die Devise, die

klassizistische Porzellanplastik der lungshaus Voght und Sieveking, (letzter Zugriff 9.12.2014). Meissener Manufaktur von 1764 1912, S. 76, URL: http://agora.sub. bis 1814, S. 23ff., URL: http://hss. uni-hamburg.de/subhh/digbib/ ulb.uni-.de/2004/0530/0530. view;jsessionid=050667DAA­ pdf (letzter Zugriff 9.12.2014); C328E12AB6CAF729B013C1A. Heinrich Sieveking: Das Hand­ jvm1?did=c1:25287&sdid=c1:25292 59 | Biographien von A bis Z

hohe Kindersterblichkeit sollte beseitigt, Ehe- road / Clear the road, let the slaves pass / We schließungen und Nachwuchs gefördert wer- are going for our freedom / We don‘t want any den. Gegen diese halbherzigen „Reformen“ bloodshed, not a drop of bloodshed / What we reagierten die versklavten Frauen mit Gebär- want is freedom, oh, give us freedom. / Come streiks. let us go to town, let us meet the General / The 1788 beauftragte Ernst Schimmelmann General’s name is Buddhoe, he‘s going to give den Botaniker und Chirurgen Paul Erdmann us pure freedom. Isert, an der Guineaküste nach einem passen- Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser den Ort für eine Versuchsplantage zu suchen. In den südlichen Akwapim-Bergen wurde Isert fündig, gründete das königlich-dänische Informationen zum Ehe- und Familienleben Gut Frederiksnopel und fing an, das Land mit bezahlten Arbeitskräften zu roden. Bereits Verheiratet war Schimmelmann seit 1747 mit zwei Monate später starb er vor Ort. Die Asan- Caroline Tugendreich, geb. Friedeborn (1730– te griffen die als Eindringlinge empfunde- 1795), Tochter eines preußischen Oberstleut- nen Plantagenbetreiber wiederholt an, und so nants und Pflegetochter des Kursächsischen wurde das Anwesen schnell wieder aufgege­- Geheimrats Heinrich Ernst von Gernsdorff. Da ben. 1848 führte General Buddhoe, der auf Schim- Caroline nicht von Gernsdorff adoptiert wor- melmannzs Plantage La Grange auf St. Croix den war, war sie auch nicht adelig. Es ging gearbeitet hatte, eine Revolution, die schließ- aber das Gerücht um, Caroline sei Gernsdorffs lich zur Befreiung von der Versklavung führ- leibliches Kind, denn es wurde ihm nachge- te. Dänemark war nun gezwungen, das perfide sagt, dass er zahlreiche außereheliche Kinder System der Versklaverei ganz aufzugeben. In- gezeugt hätte. Dieses Gerücht über Caroline des dauerten auf den Inseln unfaire Arbeits- nutzte Schimmelmann, um seine Frau als eine verhältnisse bis ins frühe 20. Jahrhundert an. geborene „von“ auszugeben. Für Schimmel- 1917 kauften die USA St. Thomas, St. Croix mann als einem bürgerlichen Emporkömm- und St. John. ling wäre es nämlich kaum möglich gewesen, 2006 stellten Bezirk Wandsbek und Stadt in den Adel einzuheiraten. Caroline und ihr Hamburg eine neu gestaltete Büste zu Ehren Gatte Schimmelmann bekamen sieben Kinder. von Heinrich Carl Schimmelmann auf dem Berühmt waren Carolines glänzenden Fähig- Wandsbeker Marktplatz auf. Wiederholte Pro- keiten, Feste mit Charme und Geschick zu ge- teste der Black Community Hamburg führten stalten. Während ihr Mann seinen Geschäften zur Entfernung des Sklavenhändlerdenkmals und Ämtern nachging, sorgte sie für den er- 2008. In einem Park auf der Insel St. Croix forderlichen gesellschaftlichen Rahmen. Nach wurde zur Erinnerung eine Büste aufgestellt, dem Tod ihres Mannes 1782 zog sie sich auf die die nicht Schimmelmann ehrt, sondern Gene- holsteinischen Güter Ahrensburg und Wands- ral Buddhoe, den Schwarzen Führer der Revo- bek und das Stadtpalais in Hamburg zurück, lution von 1848, an den auch mit einem Lied wo sie 1795 an Wassersucht verstarb. erinnert wird: Clear the road, all you clear the Text: Dr. Rita Bake 60 | Biographien von A bis Z

Schweinfurthweg eine hervorgingen. „Forschungsreisende“ wa- Tonndorf, seit 1951; benannt nach Georg August ren Kolonialpioniere, die den afrikanischen Schweinfurth (1836–1925), Afrikarreisender, Kontinent nach Flora und Fauna, Verkehrs- Botaniker wegen und Bodenschätzen untersuchten und Im folgenden Text wird das N-Wort im histori- ihre Reiseerfahrungen in Publikationen und schen Zitat voll ausgeschrieben.* Vorträgen in Europa verbreiteten. Sie ebne- ten den Weg für Missionare, Kaufleute und Schweinfurth entstammte einer großbürgerli- Kolonialtruppen und somit für die weitere chen und pietistischen Winzerfamilie aus Ba- Kolonisierung der Länder. Im Wettlauf der den-Württemberg. Um der Rekrutierung für europäischen Großmächte um Kolonialgebiete Napoleons Russlandfeldzug zu entgehen, war wurde Schweinfurth von der Berliner Akade- sein Vater nach Riga ausgewandert. Dort hatte mie beauftragt, „unbekanntes Gebiet in Afri- er einen florierenden Weinhandel aufgebaut, ka“ zu erforschen. Von 1868 bis 1871 reiste er mit dem er ganz Russland belieferte und der über Ägypten nach Khartoum und von dort ihm erheblichen Wohlstand bescherte. bis an den Quellfluss des Kongo. Dabei nahm Nach dem Studium u. a. der Ethnologie, er bereitwillig den Schutz der Karawanen der Botanik, Paläontologie und Ägyptologie in Hei- Elfenbein- und Sklavenhändler in Anspruch, delberg, München und Berlin führte Georg die auf den Routen über Handelsstationen und Schweinfurth von 1863 bis 1866 ausgedehnte Söldner, Boote und Schiffe verfügten. botanische Feldstudien in Ägypten, im Ost- Auf seinen Reisen sammelte der Botaniker sudan und in den Küstengebieten des Roten nicht nur Pflanzen, sondern auch menschliche Meers durch und verfasste eine Dissertation Schädel. Er hatte zudem den Auftrag, mög- über die Pflanzen in den Ländern am Nil. Er lichst detaillierte Informationen zu gewinnen studierte geografische Begebenheiten, und mit über die Menschen, die er aufsuchte. Er stu- seinen Erkenntnissen konnten die Karten der dierte die Lebensweisen der Bongo und Baaka, Europäer über Afrika weiter präzisiert wer- Schilluk und Dinka sowie weiterer Gemein- den. Finanziert wurde die erste Reise durch schaften. Er porträtierte sie und nahm ihre seine Mutter, die ihm dafür eine größere Sum- Körpermaße ab, zuweilen auch unter Zwang: me aus dem Erbe des Vaters auszahlte. „Mohammed (…) schleppte nun ein seltsames 1869 beauftragte ihn die Königlich Preu- Männlein trotz seines Sträubens vor mein Zelt. ßische Akademie der Wissenschaften in Berlin (…) ängstlich schreiend klammerte es sich an mit der weiteren botanischen Erforschung des Mohammed fest und warf scheue Blicke nach Niltals. Diese Expedition wurde finanziert von allen Seiten. (…) Den kleinen Mann zeichnen der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die da- und ausfragen war nicht leicht. (…) Er wurde bei nicht nur rein wissenschaftliche Ziele ver­- gemessen, ge-zeichnet, gefüttert, beschenkt folgte. Nach dem Vorbild der Royal Geographi­ und bis zur Erschöpfung ausgefragt.“ Seine cal Society in London hatten sich im Deutschen Beobachtungen notierte Schweinfurt penibel: Reich zahlreiche geografische Gesellschaften „[…] Bartwuchs an Kinn, Backen und Oberlip- gegründet, aus denen sukzessive Kolonialver­- pe findet sich nur außerordentlich vereinzelt,

* Hinter dem N-Wort steckt die auf. Das Wort wird im vorliegenden Quellen: Bezeichnung „Neger“, die stark dis­kri- Text aus-schließlich im histori­schen Matthias Fiedler: Zwischen Aben­ minierend ist. Das N-Wort tauchte zu- Zitat ausgeschrieben, weil da­mit teuer, Wissenschaft und Kolonialis­ erst im Zusammenhang mit dem tran­ deutlich gemacht werden soll, wie ras­ mus. Der deutsche Afrikadiskurs im satlantischen Menschenhandel, mit sistisch die beschriebenen Kolonialak­ 18. und 19. Jahrhundert, Köln, 2005; Kolonialismus und „Rassentheo­rien“ teure gedacht und gehandelt haben. Erika Endesfelder: Georg Schwein­ 61 | Biographien von A bis Z

und selbst in solchen Fällen erreicht das Haar Rasse eigen waren, ohne Murren gefallen.“ kaum 1,5 Centimeter Länge.“ Die Azande und Nsewue musste Schweinfurth auf den anstren- Mangbetu im Kongo bezichtigte er des Kan- genden Forschungsreisen begleiten, wobei er nibalismus, ohne jemals Augenzeuge entspre- 1871 an Dysenterie starb. „Zum Andenken an chender Rituale gewesen zu sein. Die heutige manches Vergangene“ „kaufte“ Schweinfurth Forschung wirft Schweinfurth vor, dass er sich einen weiteren „Negerknaben“ aus der Ge- mit seinen ausgiebigen Beschreibungen über meinschaft der Bongo, dessen ursprünglicher den vermeintlichen Kannibalismus bloß profi- Name Lebbe war. Die Dinka, die ihn geraubt lieren wollte und dass er versucht war zu ver- hatten, nannten ihn Tihm, und ein Sklaven- hindern, dass seine Leserschaft Mitgefühl oder händler hatte ihm schließlich den arabischen gar Sympathie für die Menschen entwickelte, Namen Allagabo („Gottesgeschenk“) Tim ge- die er beschrieb. Wie viele „Afrikaforscher“ geben. Nach Schweinfurths Auffassung wür- der Kolonialzeit glaubte auch Schweinfurth, de Allagabo Tim als „zivilisierter Mensch“ ein dass einige Gemeinschaften durch den Skla- weitaus besseres Leben in Deutschland führen venhandel „sichtbar dem Untergang“ geweiht können, als ihm „seine wilde Heimat“ je bie- wären, darum gelte es, insbesondere diese in ten könne. den wissenschaftlichen Fokus zu nehmen. 1873/74 begleitete Schweinfurth den Bre- Seine unfreiwilligen „Forschungsobjekte“ fand mer Abenteurer und späteren Kolonialbeam- der Herrenmensch in den Karawansereien: ten Friedrich Gerhard Rohlfs (siehe: Rohlfsweg, „Auch kann ich mit Massen operieren, denn in Bd.3 online) auf einer Expedition in die Liby- hier sind immer einige 300 bis 500 Sklaven sche Wüste. Nach dieser Reise ließ er sich in auf Lager, abgesehen von den dienstbaren Kairo nieder, wo er 1875 die Geographische Ge- Sklaven, die noch weit zahlreicher sind, sowie sellschaft gründete. Von dort aus folgten weite- schließlich die in der Nachbarschaft angesie- re Reisen in die Arabische Wüste. Im Alter von delten Neger, zusammen mindestens 5.000, 50 Jahren zog er 1888 mit Allagabo Tim nach mit denen ich machen kann, was ich will.“ Berlin: „Ich betrachtete ihn fortan als mein Schweinfurth hatte in Europa „Antisklave- neues Adoptivkind.“ Mit 13 Jahren schloss Al- rei-Konferenzen“ besucht und hielt gerne die lagabo Tim eine Buchbinderlehre ab, arbeitete Fahne der Bewegung hoch. Auf seinen Reisen als Kellner im Hamburger „Alster-Hotel“, dann hatte er dennoch keine Berührungsängste, sich fuhr er zur See und war schließlich im Schau- den Karawanen der Sklavenhändler anzu- stellergewerbe tätig. Schweinfurth wurde zum schließen. Ebenso sah er sich berechtigt, sich Ehrenmitglied der Deutschen Kolonialgesell- unbegrenzt an versklavten Menschen zu „be- schaft ernannt, ab 1891 war er Mitglied des dienen“. Der vermeintliche „Sklavereigegner“ Kolonialrats und Komiteevorsitzender in der entlarvte sich hier als ein neuer Kolonialherr kolonialen Carl-Peters-Stiftung. Er mischte über Leib und Leben. So hatte Schweinfurth sich nun aktiv in die Kolonialpolitik ein und den 15-jährigen Nsewue gegen seinen Willen beriet das Reichskolonialamt im Hinblick auf „mitgenommen“: „Ich ließ mir die zahlreichen Landnahme und Verwaltung in den deutschen Unarten und kleinen Teufeleien, die seiner Kolonialgebieten. In seiner Berliner Rede von

furth (1836–1925). Forscher in Ägyp­ Georg_Schweinfurth/Start.html; phie 24 (2010), S. 50f., Onlinefas­ ten und Zentralafrika, in: Catherine Franz Wallner, Ein neuer Afrika-Wan­ sung, URL: www.deutsche-biogra­ Griefenow-Mewis (Hrsg.), Afrika­ derer, in: Neue Freie Presse, Wien, phie.de/pnd137192932.html; Georg nische Horizonte. Studien zu Spra­ Nr. 2597 vom 16.11.1871; Ursula von Schweinfurth: Im Herzen von Afrika, chen, Kulturen und zur Geschichte, den Driesch: „Schweinfurth, Georg Reisen und Entdeckungen im Cen­ S. 69–74; www.schweinfurth.org/ August“, in: Neue Deutsche Biogra­ tralen Aequatorial-Afrika während 62 | Biographien von A bis Z

1886 machte er auf die enge Verknüpfung zwi- Schweinfurth wurde im Berliner Botani- schen „Afrikaforschern“ und Kolonialpionie- schen Garten beigesetzt, für seine „besonde- ren aufmerksam: „Wir Reisende und Forscher ren Verdienste“ wurde seine letzte Ruhestätte waren bislang wie die Dichter, welche die später zum Ehrengrab erklärt. Straßennamen vergangene Größe der Nation besangen und in mehreren deutschen Städten ehren den Ko- von der zukünftigen träumten; jetzt müssen lonialpionier. Der Schweinfurthweg in Ham- die eigentlichen Kämpfer herantreten, um für burg-Tonndorf, mit dem der „Afrikaforscher“ Deutschland zu streiten. Abenteurer nennt sie gewürdigt wird, hieß bis 1951 Hochbahner- der Unverstand und die Scheelsucht der Un- heim. vermögenden. Aber ein Abenteurer ist jeder Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser handelnd auftretende Poet, wenn er die Leier mit dem Schwert und den Griffel mit dem Spa- ten vertauscht.“

der Jahre 1868 bis 1871, Leipzig, tung des Kolonialismus, in: Infor­ Deutschland, Berlin, 2007; Wulf 1874; Georg Schweinfurth: Afrika­ mationen zur politischen Bildung, Köpke (Hrsg.): Afrikaner in Hamburg nisches Skizzenbuch, Berlin, 1925, Heft 264, Onlinefassung, URL: www. (Dokumentation zur gleichnamigen Onlinefassung, URL: gutenberg. bpb.de/internationales/ afrika/ Ausstellung im Museum für Völker­ spiegel.de/buch/afrikanisches-skiz­ afrika/58868/kolonialismus; Ulrich kunde), Hamburg 2011. zenbuch-3778/2 (letzter Zugriff van der Heyden: Allagabo Tim. Der 18.11.2014); Stefan Mair: Ausbrei­ Schicksalsweg eines Afrikaners in 63 | Biographien von A bis Z

Slomanstieg New York. Nach dem Tod des Vaters 1867 fiel Veddel, seit 1929; benannt nach Robert M. Robert Miles Sloman jr. auch die Reederei zu. Sloman, der Jüngere (1812–1900), Reeder, Nun sollte das „Frachtgut Mensch“ maxima- Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft len Profit bringen, und so wurden möglichst (Nationalliberale Partei), Mitglied des viele Passagiere in den Zwischendecks zu- Reichstages. „Sloman-Burg“ am Harveste- sammengepfercht. Die Reisebedingungen in huder Weg 5–6 den kleinen Zwischenräumen waren lebens- Siehe auch: Slomanstraße, Veddel (1929) gefährlich. Zum Skandal geriet eine Fahrt im Jahr 1867: Auf der 70-tägigen Reise des Seg- Robert Miles Sloman jr. begann im Alter von 16 lers Leibnitz starben 108 von 544 Passagieren. Jahren eine Lehre in der Firma seines Vaters Vor dem Obergericht Hamburg bezeugten die Robert Miles Sloman sr. Dieser hatte im Jahr ärztlichen Begutachter, dass bei der Fahrt Ty- 1800 die Schiffsmaklerei seines aus England phus ausgebrochen war aufgrund von „(…) stammenden Vaters, Kapitän William Sloman, mangelhafte(r) Ventilation, Reinlichkeit, nicht übernommen und dazu eine Reederei gegrün- angemessener ärztlicher Hülfe, ungenügender det. Während Robert Miles Sloman sr. die Ree- Nahrung und Mangels an Wasser“. Ihr Fazit derei leitete, übernahm der Junior 1841 das fand klare Worte: „Wir wollen den Gegen- Maklergeschäft. Drei Jahre zuvor hatte er 1838 stand nicht verlassen, ohne unsere Entrüstung Christine Amalia Rosalia, geb. von Stephani, und unsern Abscheu gegen die Urheber die- geheiratet. Sie war die Tochter des Freiherrn ses brutalen Mordes auszusprechen. Nichts und Obersten von Stephani und Lydia Amalie, scheint die Menschen rascher in Bestien zu geb. Westphalen. Das Paar bekam fünf Töch- verwandeln als die Aussicht, aus armen, ver- ter. Robert Miles Sloman regelte nicht nur den gleichungsweise hilflosen Menschen, wie die Verkauf von Schiffen, sondern vermittelte vor Passagiere des Leibnitz es waren, einen au- allem Verladungen zwischen Erzeugern, Spe- ßergewöhnlichen großen Profit zu machen.“ diteuren und Empfängern, sorgte also dafür, Das deutschsprachige New Yorker Journal be- dass Handel und Schifffahrt reibungslos inei- titelte: „Sloman‘s Totenschiffe wieder einmal“. nandergriffen. Erste Probefahrten nach Nord- Die Deutsche Gesellschaft der Stadt New York amerika hatten gezeigt, dass zwar die Rück- warnte von nun an deutsche Auswanderer fahrten nach Hamburg mit Landeserzeugnis- „ernstlich“, „für ihre Reise nach den Vereinig- sen voll beladen werden konnten, die Hinfahr- ten Staaten sich den Schiffen des Hrn. R. M. ten jedoch weitgehend leer blieben. So kam Sloman in Hamburg anzuvertrauen.“ Das Ver- Robert Miles Sloman sr. auf die Idee, „heimat- fahren endete dennoch in Freispruch, da nach müde Menschen“ zu befördern. Ab 1828 ver- Auffassung des Gerichts ein Verschulden der schiffte die Sloman-Reederei auswandernde Reederei nicht nachgewiesen werden konnte. Passagiere nach New York und zu weiteren Das profitable Geschäft mit Chilesalpeter Häfen in Nord- und Südamerika sowie nach lockte weitere Familienmitglieder an. Henry Bra­- Australien und Südafrika; ab 1836 gab es re- rens Sloman, Sohn eines anderen Familien­ gelmäßige Paketfahrten von Hamburg nach zweigs, sein Schwager Hermann Conrad Fölsch

Quellen: html; Obergerichtliches Erkenntniss lungen in Bezug auf die kürzlich Sibylle Küttner: „Sloman, Robert nebst den Entscheidungsgründen erhobenen Beschuldigungen von 11 Miles junior“, in: Neue Deutsche in Angelegenheiten des Hamburger Passagieren ... wegen angebl. ..., Biographie 24 (2010), S. 505–507, Schiffes „Leibnitz“ dem Rheder Hrn. 1868 (online: http://books.google. Onlinefassung, URL: www.deut­ Rob. M. Sloman in Hamburg gehö­ de/books?id=VRZAAAAAcAAJ&pg= sche-biographie.de/pnd128387599. rend: Ferner verschied. Mitthei­ PA3&hl=de&source=gbs_ 64 | Biographien von A bis Z

und der Deutsch-Chilene Federico Martin hat­- beutung des Menschen durch den Menschen ten in der Wüste Atacama in Nordchile mehre­- bezeichnen kann.“ re Salpeterminen gegründet. Die Reederei Zwischen 1870 und 1900 sind einigen Rob. M. Sloman übernahm für seinen Neffen wenigen Hamburger Kaufleuten und Reedern die Verschiffung des Salpeters. Im 19. Jahr­hun-­ aus dem Salpetergeschäft mehrere Milliarden dert nahm die Bevölkerung in Deutschland Mark zugeflossen. Nach der Jahrhundertwen- rapide zu, und das Salpeternitrat konnte den de lag ein Viertel des gesamten Salpeterabbaus enormen Bedarf an Pflanzendünger decken, in ihren Händen. Allein im Jahr 1905 impor- die Landwirtschaft ankurbeln und damit tierte Hamburg über 500 000 Tonnen Chilesal- Hun­gersnöten entgegenwirken. Salpeter dien- peter, allen voran Sloman und Fölsch. Verla- te aber auch zur Herstellung von Sprengstoff den wurde auch Guano von der Küstenregion. und Schieß­pulver, die Verwendung in den Ko- Die Minenbesitzer mussten in Chile keine lonialkriegen in Afrika und Asien fanden. Einkommenssteuer entrichten. In den chile- In der nordchilenischen Wüste Atacama nischen Hafenstädten schwelgten die Salpe- waren über ein hundert Salpeterminen von ter-Magnate im Luxus und ließen sich präch- englischen und deutschen Unternehmen ge- tige Villen und Theater bauen. Henry Brarens gründet. Die Arbeitsbedingungen für die rund Sloman kehrte 1898 nach Hamburg zurück. 70 000 überwiegend indigenen Wanderarbei- „Lex Sloman“, das 1900 erlassene Gesetz, das ter waren katastrophal. Die Knochenarbeit, Rückwanderer von der Einkommenssteuer- das Einatmen des giftigen Salpeterstaubs bei pflicht ebenso in Hamburg befreite, trug dazu Sprengungen und die extremen Temperatur- bei, dass der „Salpeterbaron“ 1912 als der schwankungen in der Wüste schlugen sich auf reichste Mann der Stadt galt. So konnte er sich die Gesundheit nieder. Kinderarbeit ab dem auch den Bau des renommierten Chilehauses achten Lebensjahr war üblich. In den Bara- leisten, an dessen Fassade er Symbole seines ckensiedlungen mussten die Familien auf engs- Reichtums verewigen ließ (siehe: Högerdamm). tem Raum wohnen, häufig ohne Betten und Trotz der Skandale und Negativschlagzeilen sanitäre Anlagen. Es gab kaum medizinische hatte Robert Miles Sloman weiterhin auf Pas- Versorgung und Schulen. Der Akkordlohn wur- sagierbeförderung gesetzt. 1882 gründete er de nicht in Geld, sondern in speziellen Mün- die kurzlebige Australia-Sloman-Linien-AG, die zen ausgezahlt, die nur in den überteuerten Lä- Auswanderungswillige nach Australien und den der Minengesellschaft Gültigkeit besaßen. im Gegenzug Gefrierfleisch nach Hamburg be- 1907 streikten zehntausende Minen- und Ha- fördern sollte. Doch Sloman gab die unrentab- fenarbeiter für bessere Arbeitsbedingungen. le Schiffslinie schnell wieder auf und gründete Chilenische Truppen, von preußischen Offi- 1888 mit Carl Ferdinand Laeisz und weite- zieren ausgebildet, massakrierten über zwei- ren Hamburger Reedern und Kaufleuten die tausend Aufständische. Der bolivianisch-chi- Aktiengesellschaft Deutsch-Australische Dampf- lenische Historiker Claudio Castellón Gatica schifffahrtsgesellschaft (DADG), die mit zeit- kommentiert: „Kein Zweifel, dass auch Sloman weise 56 Schiffen Deutschlands größte Reede- Anteil hatte an dem, was man die größte Aus- rei war. Nach wie vor hatten die Auswanderer-

toc_r&cad=2#v=onepage&q&f=fal­ Cord C. Troebst: Baden bei Ballin, in: Die Sloman-Siedlung, www.ved­ se ); Matthias Wegner: Hanseaten, Damals. Das Magazin für Geschichte del-bilder.de/slomansiedlung.html 2. Aufl., Berlin, 1999; Oldenburger und Kultur, 10/2007; Geographische (letzter Zugriff 26.9.2014); Matthias Zeitung. Nr. 52 vom 3.3.1868, Gesellschaft in Hamburg, www. Wegner: Hanseaten, 2. Aufl., Berlin, online: www.nausa.uni-oldenburg. geographie-hamburg.de (letzter 2002; Robert Krieg, Monika Nolte: de/juerjens/dokumentation.html; Zugriff 26.9.2014); Veddel-Bilder: Film Weißes Gold. Salz der Wüste, 65 | Biographien von A bis Z

transporte einen schlechten Ruf, Klagen über seien hitzeunempfindlicher. Damit bedienten schlechte Ventilation und verdorbenes Essen sie sich eines in der Kolonialzeit gängigen ras- auch auf den DADG-Schiffen drangen an die sistischen Vorurteils und rechtfertigten die Öffentlichkeit. Das Reiseangebot der Schiffs- Ausbeutung des nichteuropäischen Personals. linie wurde kaum angenommen, die Auslas- Selbstredend, dass auch die nichteuropäischen tung lag teilweise bei fünfzig Prozent oder Heizer und Kohlenzieher vor den Feuern ge- weniger, so dass die Reederei 1894 alle Pas- nauso unter Verbrennungen, Hitzschlag und sagierfahrten einstellte. 1891 kam es zu Ver- darauf folgenden Halluzinationen litten, und handlungen vor Seeämtern und einer Debatte die Suizidrate unter ihnen lag sogar noch hö- vor dem Reichstag, als Vorkommnisse auf dem her. Im Verhandlungsfall des DADG-Schiffs DADG-Dampfer Sommerfeld bekannt wurden: Sommerfeld 1892 stellte sich das Seeamt Ham- Auf zwei Fahrten waren mehrere Heizer und burg trotz aller Evidenzen auf die Seite der Kohlentrimmer über Bord gegangen, einige an Reeder und Aktionäre. Im Bericht wurden die Bord verstorben, mehrere wurden vermisst, bestehenden Ventilationsanlagen unter Deck große Teile der Mannschaft waren an den Hä- als durchaus angemessen bezeichnet. Um ei- fen „desertiert“, die gesamte Besatzung hatte ner harten Konkurrenz unter den Hamburger bei Ankunft in Hamburg abgemustert. Beklagt Reedereien aus dem Weg zu gehen, kam es zu wurde die mangelnde Luftzirkulation im Kes- zahlreichen Fusionen und Beteiligungen. selraum, die bei den Feuerleuten in vielen Fäl- 1888 übernahm die Hamburg-Amerikani- len zu Hitzschlag, Verbrennungen, Psychosen sche Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag) die und Selbsttötungen führte, ferner ungeregelte Carr-Linie, an der Sloman beteiligt war. Eigene Arbeitszeiten, der psychische Druck und die Unternehmungen, etwa die Mittelmeerfahrt so- brutalen Misshandlungen durch vorgesetzte wie weitere Beteiligungen, so am Bremer Nord-­ Maschinisten. Zwischen 1888 und 1898 ist auf deutschen Lloyd (NDL) und an der Hapag, ver- deutschen Handelsschiffen von etwa 300 Sui- größerten Slomans Geschäftsfeld. Am 20. Au- ziden auszugehen, die allermeisten der Opfer gust 1894 erlitt das DADG-Schiff Erlangen, aus waren Kohlenzieher, die häufigsten Skandale Australien und Singapur kommend, eine To- auf den Schiffen der Hamburger und Bremer talhavarie an den Malediven. Geladen hatte Reedereien. Hafenarzt Bernard Nocht forder- der Dampfer Kolonialwaren: Tee, Reis, Kaut- te effektive Ventilationssysteme unter Deck, schuk, Rattan, Teakholzplanken, Silbererz doch die Reeder dachten nicht daran, in solch und Kupferrohstein, Kokosgarne, Kokosnüsse teure Einbauten zu investieren, eher gaben und Kokosnussöl. Bis 1914 verlor die DADG sie dem nach ihrer Auffassung „missmuti- fünf weitere Schiffe auf den Ozeanen. Als Slo- gen“ und „arbeitsscheuen“ Heizpersonal, dem man 1890 aus der Firmenleitung ausschied, „moralisch verkommenen Menschenmaterial“ hinterließ er seinen Nachfolgern prosperie- die Schuld. Nun wurden auch ungelernte Ar- rende Unternehmen. Vor dem Ersten Welt- beiter aus China, Indien, Afrika und dem ara- krieg bestand die firmeneigene Sloman-Flotte bischen Raum angeheuert. Die Schiffseigner aus 22 Schiffen. Ab 1914 setzten die briti- behaupteten, die Menschen aus dem Süden schen Seeblockaden den gewinnbringenden

2001; Website zum Film Weißes Hitzschläge, Misshandlungen und me einer urbanen Moderne (= Gold. Salz der Wüste, URL: www. Suizide von Heizern und Trimmern Kulturen des Wahnsinns) (1870- krieg-nolte.de/301,0001 (letzter im transozeanischen Seeverkehr, 1930), Wien, 2012, S. 57ff., URL: Zugriff 12.11.2014); Stefan Wulf in: Hess, Volker/Heinz-Peter www.academia.edu/5736270/ und Heinz-Peter Schmiedebach: Schmiedebach (Hrsg.): Kulturen Hess_Volker_Heinz-Peter_Schmie­ Das Schiff als Ort des Wahnsinns – des Wahnsinns. Schwellenräu­ debach_eds._Kulturen_des_ 66 | Biographien von A bis Z

Kolonialwarenimporten und Salpeterfahrten für Hamburger Arbeiterkinder. Robert Krieg, ein jähes Ende. Derweil wurde in Deutsch- Filmemacher und Nachkomme der Sloman- land die kriegswichtige synthetische Salpe- und Fölsch-Familiendynastien, kann es kaum ter-herstellung eilig vorangetrieben. In den nachvollziehen, dass seine Vorfahren mit ih- 1950er-Jahren waren Kühlschiffe im Einsatz, rem Gewissen vereinbaren konnten, einerseits die Südfrüchte aus Brasilien und Ecuador im- christliche Hilfswerke in Hamburg zu fördern portierten. Die Union Afrika-Linie, die Sloman und andererseits unempfänglich zu sein gegen seit 1951 mit anderen Reedereien betrieb, wur- das harte Los und das Leid der Minenarbeiter- de bereits 1954 von den Deutsche-Afrika-Lini- familien in Chile. en (DAL), dem Nachfolger der Woermann-Li- Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser nie (siehe: Woermannstieg) übernommen. Die 1886 gegründete Union-Linie verkaufte Sloman Informationen zum Ehe- und Familienleben 1995 an Hapag. Das Slomanhaus am Baum- wall ist seit 1910 der repräsentative Sitz der Eine der Töchter des Ehepaares Sloman jun. Reederei-Holding Rob. M. Sloman & Co, wäh- war Stephani (1848–1945), verheiratet seit 1867 rend Sloman-Neptun-Schiffahrts-AG seit 1973 mit Carl Alphons Brödermann, Teilhaber der von Bremen aus operiert. 1855 hatte Robert Firma Ro. M. Sloman jr. Stephani Brödermann Miles Sloman sen. das bankrotte Hamburger unterstützte Hilfsbedürftige und versorgte Stadt-Theater als Spekulationsobjekt erwor- wäh­rend des Ersten Weltkriegs das Hambur- ben, knapp zwanzig Jahre später gelang es ger Regiment mit „Liebesgaben“; wohnte in ei­ dem Sohn, dieses für mehr als das Doppelte ner Villa an der Magdalenenstraße 65 B. Auch des Kaufpreises zu veräußern. Robert Mi- kümmerte sie sich nach dem Tod von Robert les Sloman jr. trieb die Gründung einer See- M. Sloman jun. um die Siedler auf der Veddel. fahrtsschule voran und förderte die Geogra- Zu diesem Zweck wurde 1878 eine gemein- phische Gesellschaft in Hamburg, die sich in nützige Gesellschaft gegründet, deren Ziel der erster Linie nach den Wirtschaftsinteressen Bau kleiner Siedlungshäuser für Arbeiter war. der Kolonialkaufleute richtete. Sloman war Sloman war Vorstandsmitglied der Gesell- auch der Initiator einer gemeinnützigen Bau- schaft und mit einer großen Summe an dem gesellschaft, die eine Gartenstadt-Siedlung für Bau beteiligt. Hafenarbeiter und ihre Familien baute. Die Eine Schwester von Robert M. Sloman jun. Sloman-Siedlung mit 200 Einfamilienhäusern war die Dichterin Eliza Wille, geb. Sloman wurde zwischen 1878 und 1900 fertiggestellt. (1809–1893), verheiratet mit dem Journalisten Schon nach dreißig Jahren musste sie dem Francois Wille (Redakteur der „Hamburger ­­ städtischen Neubauprogramm und der Hafen- Börsenhalle“). „Enttäuscht von der langsamen erweiterung weichen. Angeregt durch seinen Entwicklung der Verfassungsreformen in Ham- Freund, dem pietistischen Theologen Johann burg verließen sie 1851 die Stadt und erwarben Heinrich Wichern (siehe: Wichernsweg), unter­ das Gut Mariafeld am Züricher See. Hier übten stützte der tiefgläubige Sloman karitative Ein- sie eine weitgehendste Gastfreundschaft. Be- richtungen wie das Sanatorium Friedeburg sonders politische Flüchtlinge, wie Gottfried 67 | Biographien von A bis Z

Semper, Georg Herwegh, Richard Wagner, den auch seine Liebestragödie mit Mathilde We- Eliza schon vorher in Dresden kennengelernt sendonk. hatte, fanden in Mariafeld Asyl. (…) Auf Ma- Eliza Wille war aber auch eine Vertraute riafeld reifte Elizas schriftstellerisches Wirken ihres Vaters Robert Miles Sloman (1783–1867). zu höchster Vollendung. Im Jahre 1850 gab sie Er weihte sie in alle seine Erfindungen rund ihren Roman ‚Felicitas‘ heraus, 1871 den Er- um die Schiffe ein. ziehungsroman ‚Johannes Olaf‘, 1878, mit 69 Eine Großnichte von Robert Miles Sloman Jahren, ihr bestes und reifstes Werk, die No- jun. war die Schweizer Schriftstellerin Mary vellensammlung ‚Stillleben in bewegter Zeit.‘ Lavater-Sloman, geb. Sloman (14.12.1891 Ham­- (…) In der Deutschen Rundschau erschienen burg–5.12.1980 Zürich). Sie war die Tochter 1887 ihre ‚Erinnerungen an Richard Wagner‘.“ des Reeders Friedrich Loesener-Sloman und (Norddeutsche Nachrichten vom 19.4.1955) Mary Sloman, geb. Albers. Wag­ner besprach mit Eliza Wille alles, was Text: Dr. Rita Bake ihn menschlich und künstlerisch bewegte, so

Wahnsinns._Schwellenräume_ei­ 15.12.2014); Sibylle Küttner: Farbige ner_urbanen_Moderne_Kultu­ Seeleute im Kaiserreich. Asiaten ren_des_Wahnsinns_1870-1930_._ und Afrikaner im Dienst der deut­ Ed._Volker_Hess_Beate_Bin­ schen Handelsmarine, Erfurt, 2000, der_Heinz-Peter_Schmiede­ S. 66ff., 82ff. bach._Wien_2012 (letzter Zugriff 68 | Biographien von A bis Z

Stockmeyerstraße gebliebenen Enden. Fischbein, aus dem Meyer HafenCity, seit 1854; benannt nach Heinrich Regenschirme und umflochtene Spazierstöcke Christian Meyer (1797–1848), Hamburgs erster herstellte, wurde aus den Barten großer Wale Großindustrielle, der an dieser Straße eine gewonnen; zur Weiterverarbeitung wurde es Stockfabrik betrieb. hauchdünn gerissen. Die Spazierstöcke musste 2018 wurde ein weiterer Straßenabschnitt in Sohn Heinrich Christian bereits mit acht Jah- Stockmeyerstraße benannt. Dieser Straßen- ren bei jedem Wetter auf den Straßen der Ham- abschnitt gehörte vorher zum Lohseplatz. Im burger Innenstadt verkaufen, wodurch er schon Amtlichen Anzeiger vom Mai 2018 werden die in jungen Jahren zu dem Spitznamen „Stockme- Teilflächen, die be- bzw. umbenannt wurden be- yer“ kam. An eine Schulausbildung war nicht schrieben: „… die nachstehend beschriebenen zu denken; er lernte notdürftig lesen und schrei- Verkehrsflächen wie folgt umbenannt: im Be- ben und sprach nur Plattdeutsch. Heinrich Chris- zirk Hamburg-Mitte Stadtteil HafenCity – Orts- tian Meyer war sein Leben lang bestrebt, vom teil 104 –die etwa 40 m lange und etwa 17 m Hamburger Großbürgertum als „ein einfacher breite, südlich der Ericusbrücke nach Süden zur Junge vom Lande“ akzeptiert zu werden. Mit Koreastraße führende Teilfläche sowie die von zwanzig Jahren richtete er in der Hambur- der Koreastraße etwa 30 m nach Nordosten zur ger Altstadt eine kleine Werkstatt, die Spazier- Stockmeyerstraße führende Teilfläche sowie stock- und Fischbeinfabrik H. C. Meyer jr., ein. schließlich eine etwa 20 m lange, nördlich des Die Geschäfte liefen gut, und bereits vier Lohseparks belegene dreieckige Restfläche, die Jahre später bezog Meyer ein mehrstöckiges bisher mit den vorstehend genannten Teilflä- Haus, das Platz für die mittlerweile sechsköp- chen zum Lohseplatz gehörte, gemeinsam in fige Familie, ein Ladengeschäft, ein Lager und Stockmeyerstraße.“ eine Werkstatt bot. Seine Spezialität waren Siehe auch: Traunweg, in Bd. 2 der Publikation nach wie vor die Spazierstöcke und Rattan- „Ein Gedächtnis der Stadt. Nach Frauen benannt stühle, doch jetzt verarbeitete er auch weitere Straßen in Hamburg“ Rohstoffe aus den überseeischen Kolonien der Siehe auch: Charitas-Bischoff-Treppe, in Bd. 2 europäischen Großmächte: Kokosnüsse, Per- der Publikation „Ein Gedächtnis der Stadt. Nach lmutt, Schildpatt, Hippopotamus-Zähne und Frauen benannt Straßen in Hamburg“ Elfenbein. Aus diesen wurden Luxusgegen- Siehe auch: Meyerstraße stände für das aufstrebende Bürgertum ge- fertigt, anfangs Knäufe für Spazierstöcke, Re- Heinrich Christian Meyer stammte aus einer we- genschirme und Griffe für Tafelbesteck, später nig begüterten Familie, die 1803 von Nesse bei auch Klaviertasten, Billardkugeln, Fächer, Ge­- Bremerhaven nach Hamburg gezogen war. Sein betbuch- und Bürstendeckel. Aus Bambus und Vater hatte als Tischler keine Anstellung ge- Zuckerrohr wurden Waffenstöcke, scharfe Klin­ funden und betätigte sich als Rohrflechter. Aus gen in schmalen Röhren als modische Acces- Stuhlrohr (Rattan), das aus den asiatischen soires produziert. Kolonien über Holland kam, fertigte er Sitzflä- Die Elefantenjagd und der Transport der chen für Stühle sowie Ausklopfer aus den übrig sperrigen Stoßzähne waren schwierig und kost-

Quellen: venhandels), 2007, online: www. (1797–1848) – genannt „Stock­ Heinrich Adolph Meyer: Elfenbein. about-africa.de/elfenbein-weis­ meyer“. Vom Handwerker zum Gewerbe- und Industrieausstellung, ses-gold-afrikas/48-afrikani­ Großindustriellen, eine biedermei­ Hamburg, 1889; Iris Hahner: Eine scher-elfenbeinhandel-sklavenhan­ erliche Karriere. Hamburg, 1992; kurze Geschichte des Afrikanischen del (letzter Zugriff 1.9.2014); Dieter Heiko Möhle (Hrsg.): Branntwein, Elfenbeinhandels (und des Skla­ Rednak: Heinrich Christian Meyer Bibeln und Bananen, 3. Aufl., Berlin, 69 | Biographien von A bis Z

spielig, und lange Zeit gehörte Elfenbein zu den in den Kolonien für europäische Luxusgüter knappen und begehrten Rohstoffen aus Afrika. hatte schon vor Jahrzehnten begonnen. In Die daraus gefertigten Produkte galten als be- Heinrich Christian Meyers Fabrik wurden mas- sonders wertvoll. Doch mit der Kolonisierung, senhaft Federhalter aus Schildpatt hergestellt, mit zunehmendem Export von Schusswaffen der von den Bahamas, den Antillen, den Kap- nach Afrika und mit der Ausweitung der Jagd- verdischen Inseln und aus Guyana importiert gebiete tief ins Landesinnere kam deutlich wurde. Ein Freund aus Kindertagen reiste 1823 mehr Elfenbein nach Europa. In der Folge san- in Meyers Auftrag nach England, um dort ken die Weltmarktpreise. Die Agenten der eu- günstig „(…) mehrere Lots Ballzähne [von Ele- ropäischen Kaufleute drängten immer aggres- fantenkühen, Anm. d. Verf.], Bambus, Zucker- siver in das Geschäft mit dem Elfenbein vor rohr und einige Dragon Canes [Rattan, Anm. Ort, der bis dahin traditionell in den Händen d. Verf.] sowie Büffelspitzen und Ebenholz“ arabischer und afrikanischer Händler gewesen zu kaufen. Aus den Spitzen von Büffel­hörnern war. Die Handelsplätze verlagerten sich jetzt aus Südamerika ließ H. C. Meyer Schnupfta- von den Küstenorten in Afrika nach Liverpool, bakdosen produzieren. London, Antwerpen und Amsterdam. In lan- Der wirtschaftliche Aufschwung ließ das gen Karawanen mussten die schweren Elefan- neu angemietete Haus schnell zu klein werden. tenstoßzähne in wochenlangen Märschen zu 1823 erwarb Meyer ein größeres Fabrik- und den fernen Häfen getragen werden. Wie eine Wohngebäude in der Hamburger Altstadt. Für Vielzahl Träger zu finden war, meldete ein die Arbeiterschaft gründete er eine Kranken- Angestellter der Gesellschaft für Südkamerun und eine Invalidenkasse. Meyer war – für die nach Hamburg: „Die Bewohner [eines Dorfes] Gründerjahre typisch – ein patriarchalischer werden gefangengenommen, gefesselt und zur Arbeitgeber, der sich als „Vater“ seiner Arbei- Arbeit gezwungen.“ Für die europäischen Kauf- ter verstand. Für Güte und Fürsorge erwarte- leute hatten die Karawanen einen doppelten te er von seinen „Kindern“, den Arbeiterin- Nutzen: Auf dem Rückweg in Landesinnere nen und Arbeitern, Gehorsam, Loyalität, Treue mussten die versklavten Träger Tauschwaren und Dankbarkeit. Die Wochenarbeitszeit be- wie Stoffe, Perlen und weitere Luxusgüter so- trug nicht selten 87 Stunden bei einem Lohn, wie Schnaps, Waffen und Munition schultern. der gerade als Existenzminimum reichte. Der Sohn Heinrich Adolf Meyer mit dem Von einem Besuch im industrialisierten Spitznamen „Elfenbeinmeyer“ wurde zu einem England inspiriert, beschloss Meyer, seinen der weltgrößten Importeure für Elefantenstoß- Handwerksbetrieb in eine Fabrik umzubauen. zähne. Sein Unternehmen mit Fabrikation in 1836 legte er auf einem großen Grundstück Barmbek rüstete vom ostafrikanischen Sansi- auf Grasbrook den Grundstein für eine mo- bar aus Karawanen mit bis zu 600 Trägern aus. derne Produktionsstätte, die – ein Novum in Von 1880 an ließen die Händler durchschnitt- Hamburg – mit Dampfkraft betrieben wurde. lich 65 000 Elefanten pro Jahr abschlachten. Zwischen 1823 und 1838 verzwölffachte sich Der schonungslose Umgang mit menschlicher Meyers Vermögen und verdoppelte sich von da Arbeitskraft und den natürlichen Ressourcen an jeweils im Zeitraum von fünf Jahren noch

2011, S. 47ff.; Percy Ernst Schramm: Hamburg, Deutschland und die Welt. Leistung und Grenzen han­ seatischen Bürgertums in der Zeit zwischen Napoleon I. und Bismarck, München, 1943, S. 169–251. 70 | Biographien von A bis Z

einmal. Grasbrook war zu dieser Zeit noch spekulanten und der Stadt Hamburg. Doch erst eine sumpfige, vom Hochwasser bedrohte In- nach Meyers Tod kaufte die Stadt 1854 nach sellandschaft. Einige Werften hatten sich dort langem Zögern das Areal. Die Öffentlichkeit angesiedelt; ansonsten war das Gebiet klein- nahm regen Anteil an der Diskussion um die teilig parzelliert: Die Wiesen hatten lange Zeit „Grasbrook-Angelegenheit“. Es wurde verbrei- als Bleichplätze für Baumwolle gedient. Vermö ­ tet, dass die Landaufkäufe durch Private nicht gende Tuchhändler hatten hier „Wand“ (Platt- rechtmäßig gewesen seien und dass zu hohe deutsch für „Gewand“) auf Rahmengestellen Kosten für die Stadt entstanden seien. Dem Trio gespannt an der Sonne bleichen lassen; die wurde vorgeworfen, nicht „patriotisch“, also Straßennamen Alter Wandrahm und Neuer nicht im Sinne des Gemeinwohls, gehandelt Wandrahm erinnern daran. Baumwolle war ein zu haben. Heinrich Christian Meyer starb 1848 wichtiges Wirtschaftsgut im transatlantischen mit 51 Jahren an Tuberkulose. Seine Freunde Dreieckshandel, in dessen Zentrum der Men- sammelten Geld, um für ihn ein Denkmal zu schenhandel mit Versklavten aus Afrika stand. errichten. Nach mehreren Verlegungen steht 1837 erließ Hamburg ein Sklavenhandelsver- das Monument seit 1985 am Mittellandkanal in bot, indes wurden Formen von Zwangsarbeit Hammerbrook. in den Kolonien fortgesetzt. Vorausschauend Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser und in aller Stille hatte Meyer ab 1831 angefan- gen, diese kleinen „Rahmenplätze“ auf Gras- Informationen zum Ehe- und Familienleben brook günstig aufzukaufen, ab 1840 im Schul- terschluss mit dem Kaufmann Justus Ruperti Verheiratet war Heinrich Christian Meyer mit und dem Investor August Abendroth. Mit den Agathe Beusch, die er als Schüler während 37 Parzellen, zudem mit Grundstücken in Ham- seiner Schulbesuche kennengelernt hatte und merbrook und auf Billwerder, wollten die Inves- die er als 18-Jähriger gegen den Willen des Va- toren im Hinblick auf die geplante Hafen- und ters heiratete. In der Werkstatt, die er im Alter Stadterweiterung spekulieren. Sie hatten auch von 20 Jahren einrichtete, arbeitete auch seine den geplanten Bau einer Eisenbahnlinie bis nach Schwägerin Katharina Beusch, die den Haus- Berlin fest im Auge. Die Teilstrecke nach Ber- halt und den Verkauf der Waren übernahm. gedorf sollte durch eigenes Terrain führen. Zu- Das Ehepaar Meyer hatte elf Kinder. Die fünf gleich bildeten sie den zuständigen Ausschuss Töchter Amalie (geb. 1816), Bertha (geb. 1818), für die Hamburg-Bergedorfer Eisenbahn-Ge- Therese (geb. 1823), Agathe (geb. 1825) und sellschaft HBE. Dazu passend nahm Meyer Margarethe (geb. 1833) engagierten sich später auch Eisenbahnschwellen in sein Sortiment „in der politisch-religiösen Richtung der frü­- auf. Nach dem Brand 1842 war Hamburg vor hen Frauenbewegung und waren an der Grün- große Stadtplanungsaufgaben gestellt. William dung einer Hochschule für das weibliche Ge­ Lindley, englischer Ingenieur, Eisenbahn- und schlecht beteiligt. Bertha (verheiratet mit Fried­ Kanalisationsfachmann, entwickelte einen Plan rich Traun; siehe: Traunweg, in: Ein Gedächtnis der zur Entwässerung des Geländes und vermittel- Stadt. Bd. 2, Frauenbiographien von A bis Z) brachte te geschickt zwischen den drei Grundstücks- die Idee des Fröbel’schen Kindergartens nach 71 | Biographien von A bis Z

England, Margarethe, verheiratet mit Carl Schurz, gründete den ersten Kindergarten in Amerika“.1 Agathe Meyer, geb. Beusch, starb 1833 bei „der Geburt ihres elften Kindes [Mar- garethe]. Der Verlust verursachte eine tiefe Depression bei Heinrich Christian Meyer, die er durch intensivierte Tätigkeit bekämpfte.“1 Text: Dr. Rita Bake 72 | Biographien von A bis Z

Thörlstraße pulver und Sprengstoff. 1883 errichtete Thörl Heimfeld, seit 1890; benannt nach Johann die Harburger Oelfabrik Fr. Thörl, die Speiseöl Friedrich Thörl (1820–1886), Gründer der aus ägyptischer Baumwolle produzierte, bald Harburger Oelfabrik F. Thörl, Konsul, Ehren- auch Öle aus Palmkernen/Kopra, Leinsaat und bürger der Stadt Harburg Raps. Bereits 1859 hatte Gottlieb Leonhard Gai- Siehe auch: Thörlweg, Heimfeld (1941) ser (siehe: Gaiserstraße) in Harburg das Unter- nehmen Gaiser & Co. gegründet, das zu einem Johann Friedrich Thörl, verheiratet mit Maria Ka- der weltgrößten Importeure und Verarbeiter roline, geb. Körthcke (gest. 1867), mit der er von Palmöl heranwuchs. Anfangs wurde das acht Kinder hatte, besaß im niedersächsischen Palmöl eingekauft, in erster Linie in Nigeria. Dannenberg ein Manufakturwaren- und Fär- Doch bald wurden nur noch Palmkerne nach bereigeschäft und war dort seit 1848 auch Se- Harburg verschifft und erst dort nach der „Gai- nator. 1854 zog er nach Harburg, damals eine ser-Methode“ gepresst – eine weitaus kosten- Stadt im Königreich Hannover, ab 1866 Preu- günstigere Fabrikation mit hohen Gewinnmar- ßen zugehörig. Dort gründete er mit Johann gen. Palmöl und auch Kokosöl fanden einen August Diedrich Heidtmann die Firma Thörl großen Absatzmarkt in der kosmetischen und & Heidtmann, Lager für Manufacturwaaren pharmazeutischen Industrie und als Schmier- und Leinen am Lohmühlenteich. Bereits drei mittel für Maschinen. Auch die zahlreichen Jahre später findet sich im Harburger Adress- Margarinefabriken in Altona und Bahrenfeld buch vom 1857 der Eintrag „Thörl, Fr., Sena- bezogen Pflanzenfette aus Harburg. Die di- tor, Kaufmann, Procureur der Norddeutschen rekte Verarbeitung von Palmkernen in den Flussdampfschifffahrts-Gesellschaft“. Damit hat- Harburger Fabriken führte in Afrika, Latein- ­­­te der Unternehmer als Amtsinhaber eine po- amerika und der Südsee zum Kollaps der litisch einflussreiche Stellung, um auch seine heimischen Produktion und degradierte die wirtschaftlichen Interessen voranzutreiben. Als Kolonisierten zu bloßen Lieferanten billiger Procureur war Thörl zudem Staatsbedienste­ter Rohstoffe. In der Kolonie Kamerun wurde die in der Norddeutschen Flussdampfschifffahrts- Bevölkerung zur Arbeit auf den Palmölplan- Ge­sellschaft, die federführend für die Vertei- tagen der deutschen Pflanzungsgesellschaften lung der über den Harburger Hafen importier- gezwungen. Ab 1894 kam es in vielen Landes- ten Waren ins Hinterland war – ein ebenso regionen zu bewaffnetem antikolonialen Wi- strategisch wichtiger Posten für das eigene derstand, den die kaiserliche „Schutztruppe“ Geschäft. 1863 gaben Thörl & Heidtmann ih- brutal niederschlug. Mit der „Politik der ver- rem Unternehmen eine neue Ausrichtung: un- brannten Erde“ wurden ganze Dörfer nieder­- ter gleichem Namen gründeten sie eine chemi- gebrannt, Ernten und Voträte geplündert oder sche Fabrik als Aktiengesellschaft, die ab 1872 vorsätzlich vernichtet und die gefangenen Chemische Fabriken Harburg-Stassfurt hieß. Kinder, Frauen und Männer in Ketten der Feld- Hergestellt wurde u. a. Kaliumchlorid, Zinn- arbeit auf den Großplantagen oder dem Stra­- dichlorid, Soda, Natriumnitrat aus Chilesalpe- ßenbau zugeführt. Die Kameruner Handels­nie­- ter und auch Kalisalpeter für Dünger, Schieß- ­derlassungen der Hamburger Handelshäuser

Quellen: Meckelfeld und Bomlitz. Die Fabri­ Bd. 26; Theodor Bohner: Der ehrba- www.tub.tu-harburg.de/blog/2011/ kation von Schießpulver im 18. und re Kaufmann. Vom Werden und Wir- 06/08/vor-105-jahren-f-thorls-ver­ 19. Jahrhundert am Beispiel zweier ken deutscher Wirtschaft, vollst. einigte-harburger-oelfabriken-akti­ Pulvermühlen, Münster, 2009, Ver- Neubearb. des 1936 erschien. Werkes, engesellschaft-gegrundet; Carsten öffentlichungen des Hamburger Ar- Hamburg, 1956; Krause, Commerz- Walczok: Die Pulvermühlen von beitskreises für Regionalgeschichte, und Disconto-Bank, S. 155; http:// 73 | Biographien von A bis Z

C. Woermann und Jantzen & Thormählen ( s i e ­- Thörls Palmölimperium an fünf Standorten he: Woermannstieg) unterstützen diese „Strafex­- sind einige Fabrikgebäude und Lagerhäuser peditionen“ und rüsteten sie aus. Um 1890 ver- erhalten geblieben, darunter der Palmspeicher arbeiteten die Ölfabriken, unter ihnen Brinck­ an der Harburger Schlossstraße. Weitere Spu- mann & Mergell/Hobum, Heins & Asbeck, Esche-­ ren in Harburgs Stadtbild führen zu ehemali- rich & Co. und Witt & Büsch (siehe: Mergellstra- gen Fabriken für Ölpressen und -walzen sowie ße; Asbeckstraße; Witts Allee) mehr als ein Drittel zu Kaufmannskontors, Spe­ ­ditionen und Werf- der nach Europa importierten Palmölkerne. ten, die das Frachtgeschäft für die Palmkern- Nach Johann Friedrich Thörls Tod übernahm und Kokosölfabriken steu­erten. „Bei den in sein Sohn Friedrich Heinrich Ludwig Thörl die Harburg verarbeiteten tropi­schen Rohstoffen Geschäfte. Als sein älterer Bruder Max starb, handelt es sich um gigantische Mengen, die wurde Friedrich Thörl jr. 1890 auch Alleinin- aufgehäuft den Gesamtbereich um den Harbur- haber der Palmölfabrik Noblée (siehe: Noblée- ger Binnenhafen zwischen Karnapp und Sü- straße) und Thörl, die noch heute unter diesem derelbe, Nartenstraße und Ziegelwiesenkanal Namen in Harburgs Seehafen existiert. Im allein mit Palmkernen viele Meter hoch über- Laufe der nächsten Jahre baute Thörl jr. das decken würden. Die Spuren der überseeischen Firmenkonglomerat durch vielerlei Beteiligun- Warenströme stecken hier buchstäblich in den gen an und Neugründungen von weiteren Pro- Ritzen vieler Gebäude und im Hafenschlick“, duktionsstätten aus, u. a. das Werk Citadelle so der Historiker Gordon Uhlmann. Doch auch mit einem markanten Silo auf der Harburger aktuell hinterlassen die Warenströme aus dem Schlossinsel, der 2012 abgerissen wurde. 1906 globalen Süden Spuren in Harburg. 1929 wurde fasste er seine Firmen unter dem Namen F. Noblée und Thörl von Unilever übernommen; Thörl’s Vereinigte Harburger Oel­fabriken Aktien- heute ist sie im Besitz des Weltkonzerns ADM gesellschaft zusammen. 1927 ernannte ihn die Archer Daniels Midland. ADM und Europas Stadt Harburg zum Ehrenbürger. 1945 wurde zweitgrößte Fettraffinerie Cargill Refined Oils Herbert Thörl, Sohn von Friedrich Thörl jr., (Nachfolger HOBUM), beide im Seehafen Har- Chemiker und Harburger Margarinefabrikant, burg vertreten, werden von Umweltschützern von der Gestapo im Kieler Lager Nordmark fest- scharf kritisiert, weil sie für ihre Palmölplan- gesetzt. Nach seiner Freilassung zum Kriegs- tagen in Indonesien riesige Flächen Regenwald ende starb er an den Folgen der Inhaftierung. roden. Nach Ansicht der Umweltschützer wä- An ihn erinnert seit 1988 der Herbert-Thörl- ren Raps- und Sonnenblumenöl aus der nähe- Weg im Harburger Stadt­teil Rönneburg. Im ren Umgebung eine echte Alternative. Doch Zuge der Industrialisierung und der massen- das ADM-Management des Harburger Betriebs haften Verwertung der Ressourcen aus den erwidert: „Palmöl ist und bleibt der bevorzug- Kolonien wurde der alte Stadtkern Harburgs te Rohstoff. Weil er am billigsten ist.“ Vor zwei auf der barocken Schlossinsel komplett über- Jahren, im Mai 2012, meldete die Feuerwehr: formt, das Schloss großenteils abgerissen. Von „Beim Entladen des mit Palmöl beladenen

www.stolpersteine-hamburg. Zugriff 23.11.2014); Pressemittei­ genwald (letzter Zugriff 23.11.2014); de/index.php?MAIN_ID=7&­ lung Robin Wood, Palmölkonzern Andreas Göhring: Noblee & Thörl BIO_ID=1451; Eckhard Freiwald und ADM geht gegen Umweltschützer fühlt sich in Harburg wohl, Hambur­ Gabriele Freiwald-Korth: Hamburgs vor, www.planten.de/2008/11/27/ ger Abendblatt, 29.11.2005, www. alte Fabriken einst und jetzt, Erfurt, palmoelkonzern-adm-geht-ge­ abendblatt.de/hamburg/harburg/ 2013, books google (letzte Zugriff: gen-umweltschuetzer-vor (letzter article366865/Noblee-amp-Thoerl- 23.11.2014); Gordon Uhlmann: Zugriff 23.11.2014); Für Cargills fuehlt-sich-in-Harburg-wohl.html Palmöl, Kopra, Kautschuk: Koloniale Palmöl brennt der Regenwald; (letzter Zugriff 23.11.2014); Heiko Spuren in Harburg, www.afrika-ham­ www.regenwald.org/aktion/867/ Möhle (Hrsg.): Branntwein, Bibeln burg.de/afrikaharburg.html (letzter fuer-cargills-palmoel-brennt-der-re­ und Bananen, 3. Aufl., Berlin, 2011. 74 | Biographien von A bis Z

Tankschiffs Giovanni DP über eine ca. 500 m lange Pipeline trat ein Leck an der Pipeline auf.“ Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser 75 | Biographien von A bis Z

Vasco-da-Gama-Platz HafenCity, seit 2005; benannt nach Vasco da Gama (um 1469–1524), Seefahrer, entdeckte den Seeweg nach Indien

Er ist umstritten, weil er in Zusammenhang gebracht werden kann zu den Kolonialakteu- ren (siehe auch: www.freedom-roads.de zur Wanderausstellung „Freedom roads! Kolonia- le Straßennamen“). Der renommierte Histori- ker Jürgen Osterhammel schreibt zu ihm und Kolumbus: „Der Typus des ‚Entdeckers‘ war dabei von Anfang an kompromittiert. Schon Kolumbus und Vasco da Gama hatten Gewalt angewendet.“

Quelle: Jürgen Osterhammel: Die Verwand­ lung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. 4. durchges. Aufl. München 2009, S. 1166. 76 | Biographien von A bis Z

Walderseestraße im preußischen Altona strafversetzt, trat der Othmarschen, seit 1903, benannt nach Alfred Nationalkonservative für Repressionen gegen Graf von Waldersee (1832–1904), preußischer die Sozialdemokraten ein, notfalls mit Armee- Offizier, Generalstabschef der kaiserlichen Ar- einsatz, da diese nach seiner Auffassung „die mee des Deutschen Reichs, Oberbefehlshaber größte Gefahr im Kaiserreich“ darstellten. Sei- im „Boxerkrieg" (1900–1901) in China, seit 1896 ne wahre Mission in Altona galt jedoch dem Ehrenbürger von Altona, seit 1901 Ehrenbürger vom Kaiser entlassenen Reichskanzler, den er von Hamburg auf seinem Anwesen in Friedrichsruh bei Hamburg im Auge behalten sollte. Bei seinen Waldersee war Sohn eines preußischen Ge- Besuchen bei Bismarck lernte Waldersee auch nerals und schlug auch selbst die Militär- Hamburger Senatoren kennen und – häufig in laufbahn ein. Als Stellvertreter des General- Personalunion – Großkaufmänner mit hand- stabschefs Helmuth Graf von Moltke (siehe: festen kolonialen Handelsinteressen von Über- Moltkestraße) entwickelte er Strategien für Prä- see bis nach China. ventivkriege, um Deutschlands Vorherrschaft In den Opiumkriegen 1839–1842 und 1856– in Europa durchzusetzen. So schrieb der 1860 hatten die britische und französische Ko- Kriegs­treiber 1888 in sein Tagebuch: „Die Zei­- lonialmacht China zur Öffnung seiner Märkte ten sind wahrlich ernst; ich habe aber ein fel- für europäische Händler gezwungen. Damit senfestes Vertrauen, daß wir unsere Flagge hatte das Land seine Souveränität und seine durch alle Stürme führen und über alle Feinde Jahrhunderte lange Machtstellung in Asien triumphieren werden. Es werden viel[e] Men- verloren. Die gewaltsame Kolonisierung brach- schen hingeschlachtet werden; so lange man te ethnische oder religiöse Konflikte im Inne- mir aber nicht nachweist, daß man mehr als ren hervor, wie die großflächige Taiping-Re- einmal sterben kann, bin ich nicht in der Lage, bellion (1851–1864), vermutlich der weltweit den Tod für den einzelnen als ein Unglück an- größte Militärkonflikt des 19. Jahrhunderts zusehen.“ mit bis zu 20 Millionen Toten. Waldersee trug wesentlich dazu bei, dass 1897 hatte das Deutsche Reich die südchi- der noch junge Kaiser Wilhelm II. eine milita­ nesische Jiaozhou-Bucht (Kiautschou) mit der ristische Haltung einnahm, während Reichs- gleichnamigen Halbinsel und der Stadt Qing- kanzler Bismarck (siehe: Bismarckstein und Bis­- dao (Tsingtau) besetzt, dort einen Flottenstütz- marckstraße) nach den Einigungskriegen eher punkt errichtet und Handelsniederlassungen zur Mäßigung riet. Mit seinem großen Ein- gegründet mit dem Ziel, eine wirtschaftlich fluss auf den Kaiser gelang es Waldersee 1890, gewinnbringende „Musterkolonie“ mit europä- seinen politischen Konkurrenten Bismarck zu isch-„zivilisatorischer“ Mission aufzubauen. stürzen. Inzwischen zum Generalstabschef Doch dem Vordringen der europäischen Händ- befördert, spekulierte er selbst auf den Reichs- ler setzte die chinesische Bevölkerung ent- kanzlerposten, doch nach persönlichen Dif- schiedenen Widerstand entgegen. Die anti­- ferenzen mit dem Kaiser musste er 1891 zu- koloniale Yìhétuán-Bewegung (Verbände für rücktreten. Ins Kommando an der Palmaille Gerechtigkeit und Harmonie; wegen der tradi-

Quellen: 2008; Maximilian Steller: Die Präv- auszug.htm (24.9.2014); Christian www.boxeraufstand.com; Dietlind entivkriegsbestrebungen in der mili- Preuße: „Der Boxeraufstand“, Deut- Wünsche: Feldpostbriefe aus China. tärischen Führungselite im Kaiser­ sches Historisches Museum/Leben- Wahrnehmungs- und Deutungsmus­ reich und in der Donaumonarchie, diges Museum Online, Berlin 2003, ter deutscher Soldaten zur Zeit des 1885–1890, Düsseldorf, 1999, www. www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiser- Boxeraufstandes 1900/1901, Berlin, space-port.de/history/auszug/ reich/aussenpolitik/boxeraufstand; 77 | Biographien von A bis Z

tionellen Faustkampfkunst von den Europäern wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel an- spottend „Boxer“ benannt) fand immer mehr zusehen“. Die einpeitschende Kaiserrede ver­- Zulauf, auch von Frauenverbänden wie die standen die deutschen Soldaten als Freibrief Leuchtenden Roten Laternen. Dürreperioden zur Gewaltausübung. und Zeiten von Überschwemmungen mit Hun- Doch als Waldersee mit seiner Streitmacht gersnöten ließen die eigene Ohnmacht noch in China landete, war der chinesische Wider- deutlicher spüren und Yìhétuán zu einer Mas- stand schon gebrochen, das Land „befriedet“ senbewegung mit etwa 500 000 Anhängern – zur großen Enttäuschung der Zuspätkom- werden. In den christlichen Missionaren und menden. Dennoch befahl Waldersee „blutige ausländischen Kaufleuten und Besatzern sa- Vergeltung“. Die internationalen Truppen mit hen die Anhänger „fremde Teufel“, die es zu 17 000 Soldaten schlugen erneut erbarmungs- töten galt, ihre Eisenbahnschienen, Telegra- los zu. Auf zahlreichen „Strafexpeditionen“ fol­- phenmasten und Bergwerke wurden zerstört. terten, vergewaltigten und massakrierten die Das chinesische Qing-Kaiserhaus hatte die Soldaten wehrlose Zivilisten und versprengte Volkserhebung zunächst nur geduldet, später chinesische Einheiten, plünderten und zer- aktiv unterstützt. störten die Jahrtausende alten Kulturschätze Für die Großmächte, die China kolonisie- Chinas – ein Vorgehen, das alle Grenzen des ren wollten, insbesondere für das Deutsche geltenden Völkerrechts der Haager Konvention Reich, gab die Ermordung des deutschen Ge- verletzte. „Wie wir die erste Schlacht gewon- sandten Clemens von Ketteler im Juni 1900 nen hatten, da hättest Du sehen sollen, wie schließlich den willkommenen Anlass für eine wir in die Stadt einrückten. Alles, was uns militärische Intervention. Wilhelm II. rehabi- in den Weg kam, ob Mann, Frau oder Kind, litierte nun den Ruheständler Waldersee, holte alles wurde abgeschlachtet. Nun, wie da die ihn zurück nach Berlin und ernannte ihn zum Weiber schrien! Aber des Kaisers Befehl lau- Generalfeldmarschall. Der kaiserliche Befehl tet: keinen Pardon geben! – und wir haben lautete, mit deutschen Truppeneinheiten nach Treue und Gehorsam geschworen und das hal­- China zu reisen und dort das Kommando über ten wir auch“, lautete einer von vielen Feld- die internationalen Interventionstruppen zu postbriefen („Hunnenbriefe“), in denen die übernehmen. Mit seiner berüchtigten „Hun- Soldaten ihre Gräueltaten mit Stolz schilder- nenrede“ verabschiedete Wilhelm II. die deut- ten. Es folgten Grabräubereien und Verwüs­- schen Soldaten in Bremerhaven: „Kommt Ihr tungen von Palästen und Tempelanlagen im vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon großen Stil. Die Kunstobjekte wurden glei- wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. chermaßen von Soldaten, Kaufleuten und […] Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter Kon­sulatsangehörigen geplündert, an private ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, Sammler in Europa verkauft oder gleich vor der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig Ort auf dem Schwarzmarkt billig verhökert. erscheinen läßt, so möge der Name Deutsch- Am 19. Januar 1901 schrieb der Kapellmeister lands in China in einer solchen Weise bekannt F. König eine kurze Notiz in sein Tagebuch: werden, daß niemals wieder ein Chinese es „War ich an Land, 1 alte Kanne, 1 Götzen aus

John C. G. Röhl: Wilhelm II., München pass1492.wordpress.com/b-krieg- 2009, S. 199–204; www.zeit.de/ 2001, S. 339 u. 480; Maximilian frieden/mein-abschied-vom-kolo- 2000/31/200031.hunnen_.xml (24.9. Harden: Köpfe, 1910; www.karlheinz- nialkrieg (24.9.2014); Larry Clinton 2014); Till Spurny: Die Plünderung everts.de/Texte/Dienstzeit.htm Thompson: William Scott Ament and von Kulturgütern in Peking 1900/1901, (24.9.2014); Hasso Bensien: Mein the Boxer Rebellion. Heroism, Hubris, Berlin, 2008, www.galerie-spurny. Abschied vom Kolonialkrieg, com­ and the Ideal Missionary. Jefferson, de/ebenen/info/plu-peking.htm 78 | Biographien von A bis Z

dem Mudafengrab gekauft (Altertum).“ Damit Als alle Zahlungen 1938 abgeglichen waren, war das unvergleichliche Kulturerbe Chinas betrug die tatsächliche Entschädigungssumme für immer auseinandergerissen und verloren. mehr als sechshundertmillionen Silber­dollar. Im „Boxerkrieg“ wurden schätzungswei- Trotz der öffentlichen Kritik in Deutsch- se 130 000 chinesische Zivilisten er-mordet, land geriet die Rückkehr Waldersees 1901 zu in dem knapp zwei Jahre währenden Krieg einem Triumphzug. Im kolonialen Siegestau- 50 000 Gebäude zerstört. Nach Waldersees mel wurde dem nun zum „Weltmarschall“ Um- eigener Schätzung waren 500 000 Menschen getauften eine hohe Auszeichnung der Stadt obdachlos geworden. „Der Soldat muss hier Hamburg verliehen: Waldersee wurde für sei- schnell verrohen! (…) Ich muss da natürlich nen brutalen Feldzug im vermeintlichen „In- sachter auftreten, als es meinen Neigungen teresse der Erhaltung des Weltfriedens“ 1901 entspricht.“, notierte der forsche Oberbefehls- zum Ehrenbürger ernannt. Die Auszeichnung haber am 4. Dezember 1901. In Deutschland ist ihm bis heute nicht entzogen. Der wahre stieß sein brutales Vorgehen in liberalen, sozi- Grund für die Würdi-gung mag gewesen sein, aldemokratischen und kirchlichen Kreisen auf dass der General vor allem die hanseatischen massive Kritik. Im November 1900 tadelte der Handelsinteressen in China verteidigt hatte. SPD-Abgeordnete August im Reichstag, der Bis zu seinem Tode entwarf der Militarist wei- Eroberungskrieg sei „[…] eine Exekution, wo tere Kriegspläne. Aus eigenem Impuls heraus Rache geübt werden soll, die mit einem regel- entwickelte er im Vorfeld des russisch-japani- rechten Kriege nicht das allermindeste zu tun schen Kriegs einen Plan für den Einmarsch der hat. Da ist der Name Krieg wirklich zu anstän- japanischen Armee in Korea. Und tatsächlich: dig dafür; was hier passiert, ist ein gemeiner 1910 annektierte Japan nach Waldersees Plä- Rachefeldzug. […] die Art der Kriegsführung, nen Korea und leitete damit die gewalttätige das gräbt sich auf Jahrhunderte von Generati- Kolonisierung des Landes ein. on zu Generation in die Herzen der Massen der Der antikoloniale Widerstand in China chinesischen Bevölkerung ein.“ Die beteiligten führte schließlich 1911 zum Sturz des Kaiser- deutschen Kommandeure bezeugten: „Man hauses. Dabei war die Dichterin und Wider- kann mit Sicherheit sagen, dass auf einen standskämpferin Qiu Jin hervorgetreten, die wirklichen Boxer, der getötet wurde, fünfzig sich für die Befreiung Chinas genauso wie für harmlose Kulis und Landarbeiter, unter ihnen Frauenemanzipation einsetzte. Qiu Jin wurde nicht wenige Frauen und Kinder, kamen, die 1907 verraten und exekutiert; ihr zu Ehren erschlagen wurden.“ wurden später zwei Denkmäler in China er- Im „Boxer-Protokoll“ sahen die Sieger- richtet. mächte immense Reparationszahlungen vor. Der Zeit der chinesischen Republik folg- China wurde verpflichtet, 450 Millionen Sil­ber­- ten ein langer Bürgerkrieg und Kämpfe gegen unzen „Entschädigung“ zu leisten. Zehn Jah- den Invasor Japan. Im politisch geschwächten re lang machten die Sühnezahlungen rund die China, das zudem über Jahrzehnte unter den Hälfte des chinesischen Staatshaushalts aus immensen Reparationszahlungen litt, fanden und erzwangen drückende Steuererhöhun­gen. viele Menschen keine Lebensgrundlage mehr.

(24.9.2014); Arbeitskreis Hamburg Leutner, Mechthild/Mühlhahn, Klaus hungen im 19. Jahrhundert: Mission Postkolonial: Dossier Waldersee, (Hrsg.): Kolonialkrieg in China. Die und Wirtschaft in interkultureller Anlage zum Antrag auf Aberkennung Niederschlagung der Boxerbewe- Perspektive, Münster 2001; Boxe­ der Ehrenbürgerwürden für Alfred gung 1900–1901, Berlin 2007; Leut- rentschädigung, URL: http://de.wiki­ Graf von Waldersee in Hamburg und ner, Mechthild/Mühlhahn, Klaus pedia.org/wiki/Boxerentschädigung Hamburg-Altona (Oktober 2012); (Hrsg.): Deutsch-chinesische Bezie­ (letzter Zugriff 16.12.2014) 79 | Biographien von A bis Z

Chinesinnen und Chinesen ließen sich zur Informationen zum Ehe- und Familienleben Kontraktarbeit in anderen Ländern anwerben, so auch auf den Großplantagen, die seit dem Verheiratet war Waldersee seit 1874 mit der Verbot des transatlantischen Sklavenhandels reichen Amerikanerin Marie Esther Lee, ver- nach Arbeitskräften suchten. Oder sie ver- witwete Fürstin von Noer (1837–1914). Das dingten sich auf europäischen Handelsschif- Paar lebte einige Zeit in der Nähe Hannovers, fen. Auf den Dampfern der hanseatischen später in Berlin. Reedereien wurden sie meistens als Heizer Bekannt wurde Mary von Waldersee we- oder Kohlenzieher beschäftigt, und auf die- gen ihrer Unterstützung von Wohltätigkeits- sem Weg kamen sie auch nach Hamburg, wo organisationen. Gleichzeitig war sie Anhänge­ etwa zweihundert von ihnen im „Chinesen- rin der deutschen Erweckungsbewegung. Im viertel“ auf St. Pauli wohnhaft wurden. Ende „Spiegel“ vom 11.7.1962 heißt es in einem Arti­- der 1930er-Jahre verschärften Gestapo und kel über „Gräfin Waldersee: Bismarck im Un- Kriminalpolizei ihre Kontrollmaßnahmen vor terrock“: „Sie war die Tochter eines New Yorker Ort, die am 13. Mai 1944 in der „Chinesenak- Lebensmittelhändlers, residierte im zweiten tion“ gipfelten: 128 Landsleute wurden verhaf- Stock der Berliner Herwarthstraße 2, der Zent- tet, in Lager gebracht, gefoltert und erst nach rale des deutschen Generalstabs, und versuchte dem Krieg freigelassen. Auch Chong Tin Lam, dem letzten Thron-Hohenzollern die Liebe zu der Verbindungsmann der chinesischen Com- pornographischen Bildern, Zigarren und Ka- munity auf St. Pauli, erlitt ein solches Schick- sinowitzen auszutreiben. Des Kaisers amerika- sal. Am Hamburger Berg findet sich noch die nische Lady, so kommentierte damals die ‚New Hong-Kong-Bar, die Chong Tin Lam einst als York Tribune‘, sei so sehr Oberbefehlshaber Restaurant betrieb. Heute führt seine Tochter der Armee, daß sie jeden General vom höchs- Marietta Solty das Lokal. ten Posten stürzen kann‘. Und die New Yorker 1949 wurde die Volksrepublik China auf- Zeitung ‚Graphic‘ klagte: ‚Diese Amerikanerin gerufen. Sie wurde Mitglied in der Bewegung repräsentiert alles, was im preußischen Leben der Blockfreien Staaten, einem globalpoliti- und in der deutschen Politik besonders aggres- schen Modell, dem sich im Kalten Krieg viele siv, bigott und herrschsüchtig ist.‘“ vormals kolonisierte Staaten anschlossen. Mary von Waldersee war eine starke Be- Die im „Boxerkrieg“ geraubten alten Kul- fürworterin der deutsch-amerikanischen Mili- turschätze Chinas erzielen heute Millionen- tärallianz. Der Autor Alson J. Smith, der eine beträge auf internationalen Auktionen. Im Biographie über Mary von Waldersee geschrie- Fundus des Hamburger Völkerkundemuseums ben hat, „rekonstruierte das Bild einer Frau, in befinden sich einige geraubte Objekte aus der der sich christliche Demut mit einem ‚machia- Zeit der Plünderungen in China. vellischen Intrigentalent‘ verband. Seit die da- Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser mals 18-jährige Mary Lee nach dem Tod ihres Vaters 1855 den Boden Europas betreten hatte, war sie entschlossen, ‚Geld und Position, die ihr ein gnädiger Schöpfer verliehen hatte, zu 80 | Biographien von A bis Z

genießen und ihr Herz jedem zu verschließen, Von Jahr zu Jahr wuchs der Einfluß der der sie von der Macht fernhielt.‘“ amerikanischen Kalvinistin auf den künfti- Zuerst einmal heiratete sie den damals 64 gen Kaiser. Mary setzte die Erneuerung ihres Jahre alten Prinzen Friedrich zu Schleswig-Hol- christlich-sozialen Gesinnungsfreunds Stoe- stein und ließ das prinzliche Testament zu ih- cker zum Hofprediger durch, arbeitete ge- ren Gunsten ändern. Sie wurde sehr schnell meinsam mit Wilhelm das Sozialprogramm Witwe. Ihr zweiter Ehemann wurde Alfred aus, mit dem sich der Kaiser 1890 den Zorn Graf von Waldersee. „Die hartnäckige Gräfin des Kanzlers Bismarck zuzog, und wirkte ge- schickte den kränkelnden Grafen in die Kur, meinsam mit ihrem Mann beim Sturz Bismar- gewöhnte ihm das Zigarrenrauchen ab und las cks mit. (…) mit ihm jede Nacht ein Kapitel aus der Bibel“, Indes der junge Kaiser wurde allmählich heißt es in dem Artikel im „Spiegel“, der Mary seiner ältlichen Pompadour und ihrer fröm- Waldersee als diejenige Person herausstellt, die melnden Intrigen überdrüssig. Marie von Wal- ihren Mann Graf Waldersee angespornt hätte, dersee verlor just in dem Augenblick, da sie seine Karriere mit dem Ziel, Reichskanzler zu durch die Entlassung Bismarcks am Ziel ihrer werden, zielstrebig zu verfolgen. Wünsche schien, den Einfluß auf Wilhelm II. Ohne die intensive Bekanntschaft Marys Das Tor der Reichskanzlei blieb den Walder- mit dem Prinzen Wilhelm, dem späteren Kai- sees verschlossen. ser Wilhelm II., hätte es aber mit der Karriere Graf und Gräfin stürzten kurz nachein- von Waldersee so nicht geklappt. Mary von ander: Vom Frühjahr 1890 an ver-nachlässig- Waldersee und Prinz Wilhelm lernten sich um te der Kaiser die Vertraute, deren legendäre 1880 bei einer Inspektion des X. Armeekorps Macht hinter dem Thron ihm mit seiner kai- in Hannover kennen und verstanden sich auf serlichen Würde nicht mehr vereinbar schien; Anhieb. „Das innige Verständnis wurde noch 1891 schied auch Generalstabschef von Wal- durch eine Gefälligkeit gefördert, mit der die dersee aus, nachdem er gewagt hatte, die mi- US-Gräfin den Prinzen und den Hof aus einer litärischen Fähigkeiten seines kaiserlichen Verlegen-heit befreite. Sie offerierte dem seit Herrn öffentlich anzuzweifeln.“ langem zur Heirat abkommandierten Prinzen Inwieweit die hier beschriebene Rolle der als Ehepartnerin eine Großnichte ihres ersten Mary von Waldersee richtig interpretiert ist, Gatten, die Prinzessin Auguste Viktoria (…) kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. zu Schleswig-Holstein [siehe: Augustenpassage, Entsprang diese Charakterbeschreibung, die in Bd. 2]. (…) Von nun an übte die Gräfin auf der „Spiegel“ wiedergibt, nur der Phantasie des das junge Prinzenpaar einen Einfluß aus, der Biografen Alson J. Smith, einem Großneffen sich noch verstärkte, nachdem Generalquar- von Mary von Waldersee, der als Quelle den tiermeister von Waldersee in die Berliner Her- Briefwechsel zwischen Mary und ihrer Mutter, warthstraße 2 eingezogen war und Mary just der sich in der Houghton-Bibliothek der Har- im Generalstabsgebäude ‚den brillantesten, vard-Universität befindet, benutzte und dar- politisch mächtigsten und einflußreichsten aus sein Buch „A View of the Spree. New York Salon Europas‘ (Smith) eingerichtet hatte. (…) 1962“ über Mary von Waldersee schrieb? 81 | Biographien von A bis Z

Andere Quellen behaupten, es sei nicht eventuell gehabt hat. Vielleicht entspricht dies Mary von Waldersee gewesen, die einen der- auch dem Rollenbild des Autors, wie es even- maßen großen Einfluss auf Wilhelm II. gehabt tuell dem Rollenbild des Biografen Alson J. hätte, sondern der „reaktionäre Antisemit und Smith von einer zänkischen, intriganten Frau Kriegsfanatiker Graf Alfred von Waldersee entsprach. selbst. Als eine Art Ersatzvater übte Waldersee An dieser Stelle zeigt sich, dass Biografien in den 1880er-Jahren einen prägenden Einfluß immer auch das Bild des Biografen/der Biogra- auf Wilhelm aus (…)“.1 fin auf die Welt und die Geschlechter offenba- Aber auch diese Einschätzung muss in ren. Text: Dr. Rita Bake dieser Absolutheit nicht stimmen, negiert sie doch den Einfluss, den Mary von Waldersee

Quelle: 1 John C. G. Röhl: Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers. München 2001, S. 494. 82 | Biographien von A bis Z

Wißmannstraße Handelswege zu erforschen. Die Afrikanische Wandsbek, seit 1950; benannt nach: Gesellschaft und das Berliner Museum für Hermann Wilhelm Leopold Ludwig Wissmann Völkerkunde baten ihn, dabei ethnographi- (1853–1905), preußischer Offizier, „Schutz- sche Gegenstände zu sammeln. Für diese Auf- truppen“-Kommandeur in Ostafrika, Reichs- gaben wählte er die Methode des „Teilens und kommissar und Gouverneur der damaligen Herrschens“: Während er einen zugewandten deutschen Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ Machthaber zum obersten Chief machte, nahm er die weiteren Könige und ihre Begleiter als Im folgenden Text wird das N-Wort im histori- Geiseln fest, „damit sie“, wie Wissmann droh- schen Zitat voll ausgeschrieben.* te, „die Gesetze der Weißen kennenlernen“. So machte er Kalamba Mukenge Geschenke, Nach dem Abitur schlug Hermann Wissmann die während er dessen Gegner Mona Katende Militärlaufbahn ein und wurde 1874 in einer gefangen nahm und zur Unterschrift unter Rostocker Garnison zum Leutnant befördert. einen „Schutzvertrag“ und zu Tributzahlun- Wegen diverser Trunkenheitsdelikte und an- gen zwang. Zu Gast bei Kalamba Mukenges derer Eskapaden wurde er in der Kaserne der Untertanen, den rituell Cannabis rauchenden „tolle Wissmann“ genannt. Ein Pistolenduell Bena Riamba, verbat er alle davon abweichen- brachte ihm eine viermonatige Haftstrafe. 1879 den religiösen Handlungen der Gemeinschaf- weckte ein zufälliges Treffen mit dem „For- ten in weiten Teilen der Region. So konnte schungsreisenden“ Paul Pogge sein Interesse er sich leicht die übrig bleibenden rituellen für Afrika. Wissmann ließ sich beurlauben Gegenstände aneignen. In seinem Reisetage- und brach 1881 mit Pogge vom westafrika- buch beschrieb Wissmann 1885, wie er „das nischen Angola aus auf, um im Auftrag der eiserne Scepter, Regierungsinsignie der Fürs- Berliner Afrikanischen Gesellschaft den Euro- ten“ geraubt hatte. „Die Dikonga [Szepter], die päern noch unbekannte Gebiete in Zentral-af- ich nach einem Kriege mit Katende, in dem rika zu erkunden. Pogge erkrankte unterwegs ich denselben gefangen nahm, ausgeliefert und musste umkehren. Wissmann ließ sich erhielt, befindet sich mit seinem weit zurück- von der Karawane des Sklaven- und Elfenbein- reichenden Stammbaum im Berliner Museum. händlers Hamed bin Juma bin Rajab bin Mu- Katende ist jetzt machtlos, die Vereinigung hammed bin Said el-Murjebi – Tippu-Tip ge- der Baschilamboa hat nur noch historisches nannt – an die Ostküste begleiten. Mit dieser Interesse. Wie überall, so hat auch hier das Expedition konnte er nun angeben, als erster Auftreten der Feuerwaffe alles verändert.“ Ge- Europäer Äquatorialafrika von West nach Ost treu seines forschen Wahlspruchs „Finde ich durchquert zu haben. keinen Weg, so bahne ich mir einen“ erschoss Im Vorfeld der Berliner Afrika-Konferenz Wissmann Afrikaner, die sich ihm widersetz- beauftragte ihn Leopold II. von Belgien, den ten. Seine „Freunde“ ließ er schnell fallen, „Kongo-Freistaat“, ab 1885 des Königs neue wenn es ihm kolonialpolitisch opportun er- Privatkolonie, zu kolonisieren, nach Arbeits- schien. So ließ verständlicherweise die Begeis- kräften zu suchen sowie Bodenschätze und terung für die Europäer beim Paramount Chief

* Hinter dem N-Wort steckt die Be­- auf. Das Wort wird im vorliegenden Quellen: zeichnung „Neger“, die stark diskri­ Text ausschließlich im historischen Thomas Morlang: „Finde ich keinen minierend ist. Das N-Wort tauchte zu- Zitat ausgeschrieben, weil damit deut- Weg, so bahne ich mir einen“. Der erst im Zusammenhang mit dem trans- lich gemacht werden soll, wie rassis- umstrittene ,Kolonialheld‘ Hermann atlantischen Menschenhandel, mit tisch die beschriebenen Kolonialak­ von Wissmann, in: Ulrich van der Kolonialismus und „Rassentheorien“ teure gedacht und gehandelt haben. Heyden (Hrsg.): Macht und Anteil an 83 | Biographien von A bis Z

rapide nach. Da sich Wissmann über ältere kari, zu rekrutieren waren. Wissmanns Rede territoriale Rechte hinweggesetzt hatte, wirkte vor dem Reichstag war unnachgiebig: Friedens­- seine koloniale Intervention lange nach und verhandlungen kämen nicht in Frage, nur mit führte auch später noch zu ethnischen Kon- Gewalt könne nach seinen Worten „den Auf- flikten in der Region. In Deutschland hielt sich ständischen eine gründliche Lehre erteilt“ wer­- dennoch hartnäckig der Mythos, er sei „mit den. Dem Antrag für zwei Millionen Reichs- weißer Weste“ zurückgekehrt. Seine Strategie mark zur Ausrüstung und zum Unterhalt der des „Teilens und Herrschens“ wurde später Truppe stimmten die Berliner Abgeordneten zur gängigen Verwaltungspraxis in den deut- nur zu, weil Bismarck vorgab, es handele sich schen Kolonien. um eine humanitäre Mission, den Sklavenhan- 1886/1887 bereiste Wissmann erneut für del in Ostafrika zu bekämpfen. Leopold II. den Kongo – diesmal offiziell mit Auf „Strafexpeditionen“ ins Landesinne­re klar militärischem Auftrag, „Ordnung in die praktizierte die „Wissmanntruppe“ die ver­- Verhältnisse“ zu bringen. Zum zweiten Mal nichtende „Taktik der verbrannten Erde“. Ei- durchquerte er den Kontinent. Von der Deut- nem kurzen und heftigen Artilleriefeuer folg- schen Reichsregierung wurde er bald in die ten Nahkämpfe mit Bajonett. Es gelte „Trink- Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ geschickt. Seit wasser abzuschneiden oder den Feind durch 1888 leistete die Küstenbevölkerung unter Anzünden der Grasdächer und Hütten her- Abuschiri Bin Salim al-Harthi und anderen auszutreiben (…) Da man ein befestigtes Dorf Führern Widerstand gegen das provozierende nach der Einnahme meist niederzubrennen Vorgehen der Deutsch-Ost-afrikanischen Ge­ hat, ist aus praktischen Gründen stets eine sellschaft (DOAG). Aus Abushiris Sicht waren Plünderung geboten“, empfahl er in seinem die Deutschen „völlig rücksichtslos, rissen „Ratschlag zum Angriff auf eine afrikanische Flaggen herab und hissten andere auf, gaben Siedlung“. Führer der Widerstandsbewegung uns Befehle und Vorschriften, und benahmen wurden ohne Ausnahme hingerichtet, gefan- sich überhaupt, wie wenn sie die Herren des gene Kinder, Frauen, und Männer zur Zwangs- Landes und wir Alle ihre Sklaven seien. Wir arbeit auf den Plantagen der deutschen Han- sahen der Sache eine Weile zu, dann jagten delsgesellschaften verpflichtet. wir die Weißen einfach fort, wie man über- Seine Bewunderer in den Kolonialkreisen müthige Jungen fortjagt.“ So hatten die Auf- lobten Wissmann als „Deutschlands größten ständischen die DOAG zur Aufgabe von weiten Afrikaner“, und Feldmarschall Helmuth von Landesteilen gezwungen, und es war dem kai- Moltke (s. Moltkestraße) gefiel der „ausgezeich- serlichen Kreuzergeschwader nicht gelungen, nete Kerl“, weil er „feste da unten“ vorging und diesen sogenannten Araberaufstand nieder- alle „Schufte“ hängen ließ. Dagegen verurteil- zuschlagen. Nun ernannte Bismarck (siehe: ten einige Kolonialoffiziere in den eigenen Bismarckstein und Bismarckstraße) Wissmann Reihen sein Vorgehen als „äußerst grausam“. zum Reichskommissar und Befehlshaber der In einer Rede vor dem Reichstag kritisierte ersten „Schutztruppe“, für die deutsche Offi­ der linksliberale Abgeordnete Eugen Richter ziere und rund 1000 afrikanische Söldner, As­- 1889: „Wir lasen neulich, dass Herr Wissmann

der Weltherrschaft. Berlin und der Fabian: Im Tropenfieber. Wissen­ im Namen der Freiheit die ostafrika­ deutsche Kolonialismus, Münster, schaft und Wahn in der Erforschung nische Küste, in: Die Zeit, Nr. 4/2002 2005; Heiko Möhle (Hrsg.): Brannt­ Zentralafrikas, München, 2001; vom 17.1.2002; Rochus Schmidt: wein, Bibeln und Bananen. Der Thomas Morlang: Ein Schlag ins Deutschlands Kolonien. Ihre Gestal­ deutsche Kolonialismus in Afrika, Wasser. Schon einmal, 1888/89, tung, Entwicklung und Hilfsquellen, 3. Aufl., Berlin, 2011; Johannes überwachte Deutschlands Marine Bd. 1, Berlin 1894; Alexander Becker 84 | Biographien von A bis Z

schon 700 Araber und Aufständische, wie sie ger zu erziehen als die militärische. (…) Hört genannt werden, hätte erschießen lassen, wir der gute Einfluß des Europäers auf, so fällt der hören, dass bald dieses, bald jenes Dorf in Neger schnell wieder in seine alte Trägheit Flammen aufgeht. Seine Truppen ziehen sen- und Sorglosigkeit zurück.“ 1894 heiratete er gend und brennend umher, und die Aufstän- Hedwig Langen, Tochter des Kölner Zuckerfa- dischen tun dergleichen, und das ganze nennt brikanten, Kolonialkaufmanns und Erfinders man in der Sprache der vorjährigen Thronre- Eugen Langen. Damit hatte er Zutritt zu einer de, Kultur und Gesittung nach Afrika tragen!‘“ bedeutenden Industriellenfamilie, die in der Im Laufe eines Jahres gelang es Wissmann, „Kolonialbewegung“ einflussreich war. Seine die ostafrikanischen Küstengebiete zurück zu Frau stiftete 20 000 Mark für einen weiteren erobern. Seine Rückkehr nach Deutschland Dampfer, Spenden aus der Bevölkerung kamen 1890 geriet zu einem Triumphzug, er wurde in hinzu. Das am Tanganjikasee zusammen ge- den Adelsstand erhoben und zum Major beför- baute und in Betrieb genommene Schiff erhielt dert. Nach Bad Lauterberg im Harz, wo seine den Namen Hedwig von Wissmann. Mutter lebte, brachte er zwei junge Afrikaner Dann schlug der neue Reichskanzler Chlod­- mit, Moanso und Sankurru. Doch schon ein wig von Hohenlohe Wissmann als Gouverneur Jahr später entließ ihn Kaiser Wilhelm II. aus für die Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ vor. Der dem Amt: Wissmann wurde vorgeworfen, die Kaiser willigte nur ungern ein und gab ihm Truppenausgaben eigenmächtig um ein Mehr- auf den Weg, „dass nun endlich mit dem faches überzogen zu haben und fahrlässig mit Kriegführen aufgehört werden müsse.“ Zum Steuergeldern umgegangen zu sein. Trotz al- neuen Kommandeur der „Schutztruppe“ wur- ler Kritik durfte er bald wieder zu Diensten de Lothar von Trotha ernannt, der sich nicht sein: unter dem Deckmantel der „Sklaverei- an die kaiserliche Anweisung hielt, sondern zu bekämpfung“ brach er 1892 mit Schiffsteilen weiteren Feldzügen ausrückte. Gefangene Wi- zum Nyassa-See auf. Dort wurde auf der neu derstandskämpfer ließ er hinrichten; Gouver- gegründeten Station Langenburg der Dampfer neur Wissmann war persönlich bei den Exeku- Hermann von Wissmann zusammen gebaut, tionen anwesend. Neun Jahre später kämpfte der den See kontrollieren sollte; während des- Trotha als Oberbefehlshaber in der Kolonie sen richtete der Reichskommissar ein furcht- „Deutsch-Südwestafrika“, wo er sich am Völ- bares Massaker unter den Wawemba an. kermord an den Herero und Nama schuldig Wieder zurück in Deutschland, stellte machte. Wissmann trat nach knapp einem Wiss­mann seine Texte zu dem Sammelband Jahr von seinem Amt zurück, offiziell aus ge- „Afrika. Schilderungen und Ratschläge zur sundheitlichen Gründen. Die eigentliche Ursa- Vorbereitung und den Aufenthalt und den che mag gewesen sein, dass er gekränkt war, Dienst in den deutschen Schutzgebieten“ zu- weil Wilhelm II. ihm den Oberbefehl über die sammen. Darin kommt seine abschätzige Hal- „Schutztruppe“ entzogen hatte. tung zu den Menschen in Afrika deutlich zum 1896/1897 bereiste Wissmann Russland, Ausdruck: „Keine Tätigkeit ist geeigneter, den ein Jahr später Südafrika, um Großwild zu ja- Europäer für die richtige Behandlung der Ne- gen. Zuletzt lebte er auf seinem Landsitz in

u. a.: Hermann von Wissmann. ka!“. Deutsche Kolonialpläne und fried Speitkamp: Der Totenkult um Deutschlands größter Afrikaner, 2. afrikanische Realität, Münster 1997; die Kolonialheroen des Deutschen Aufl., Berlin 1907; Georg Maercker: Hermann von Wißmann: Afrika, Kaiserreichs in: zeitenblicke, Nr. 1 Unsere Schutztruppe in Ost-Afri­ Schilderungen und Ratschläge (29.7.2004), URL: zeitenblicke. ka, Berlin 1893; Jutta Bückendorf: für den Dienst in den deutschen historicum.net/2004/01/speitkamp/ „Schwarz-weiß-rot über Ostafri­ Schutzgebieten, Berlin, 1895; Win­ index.html; Barbara Köfler und Wal­ 85 | Biographien von A bis Z

Weißenbach/Österreich, wo er 1905 bei einem Schwiegervater Eugen Langen, Geschäftsfüh­ Jagdunfall durch einen Schuss aus eigenem rer der Deutschen Antisklaverei-Lotterie, brach­ Gewehr ums Leben kam. te das doppelte Ziel auf den Punkt: „gegen Kolonialgouverneur Wissmanns Vermächt­- die blutigen Greuel der Sklavenjagden und für nis war die Hüttensteuer, die verhängnisvoll die Machtstellung unseres Vaterlandes“. Der auf die ohnehin schlechten Lebensbedingun- Mythos des „Sklavenbefreiers“ lebt bis heute gen der Kolonisierten einwirkte. Ihre Erhö- derart hartnäckig weiter, dass alljährlich der hung (Kopfsteuer) war schließlich der Impuls- Traditionsverband ehemaliger Schutz- und Über­- geber für den Maji-Maji-Krieg (1905–1907), in seetruppen/Freunde der früheren deutschen dem sich Menschen aus verschiedenen ethni- Schutzgebiete e.V. vor dem Monument im Harz schen Gemeinschaften erstmals gemeinsam Kränze niederlegt. gegen die Kolonialherrschaft erhoben. Bis zu Das zweite Wissmann-Denkmal ist ein Fi- 300 000 AfrikanerInnen kamen im Maji-Maji- gurenensemble, das auch einen afrikanischen Krieg ums Leben. Wissmann selbst sollte die Soldaten (Askari) zeigt, der eine Reichsfahne Kämpfe nicht mehr erleben, denn er starb ei- über einen liegenden Löwen senkt. Es wurde nen Monat vor Kriegsausbruch. 1908 in Berlin gegossen und 1909 in Dar es Sa- War Wissmann von der „Kolonialbewe- laam in „Deutsch-Ostafrika“ eingeweiht. 1921 gung“ schon zu Lebzeiten zum Helden hoch- wurde das Ensemble als „Kriegstrophäe“ nach stilisiert, wurde erst recht nach seinem Tod London verschifft, im Imperial War Museum um ihn herum eine Legende aufgebaut. Der eingelagert und schließlich 1922 vor der neuen Verlust der deutschen „Schutzgebiete“ im Ers- Universität Hamburg, die aus dem „Kolonia- ten Weltkrieg hatte den imperialen Träumen linstitut“ hervorgegangen war, aufgestellt. Zur einen Dämpfer aufgesetzt. Die Kreise, die sich Einweihung schrieben die Hamburger Nach- noch von der „kolonialen Idee“ begeistern lie- richten: „Das Wißmann-Denkmal ist (...) das ßen, brauchten jetzt eine Identifikationsfigur, allgemeine Kolonialdenkmal Deutschlands, die sich geschickt medial verbreiten ließ. Auf das die Erinnerung an das Verlorene wachhal- Sammelbildern in Kolonialwarenverpackun- ten und an das Streben nach dem Wiederer- gen, auf Postkarten und Briefmarken, in Ge- werb des überseeischen Kolonialgebietes mah- dichten und Jugendromanen tauchte der hel- nen soll.“ denhafte Mythos Wissmann, dem „Löwen von Das Wissmann-Monument vor der Univer­ Afrika“, vielfach auf. sität Hamburg wurde zu einer zentralen kolo- Zu Wissmanns Ehren wurde 1908 in Bad nialen Weihestätte in Deutschland, doch in der Lauterberg ein Denkmal errichtet, die Denk- städtischen Öffentlichkeit war seine Aufstel- maltafel kündet: „Er kämpfte erfolgreich ge- lung von Anfang an umstritten 1935 wurde auf gen den Sklavenhandel und für die Freiheit der anderen Seite des Universitätsgebäudes das der Unterdrückten“. Die vermeintliche „Skla- koloniale Dominik-Denkmal (siehe: Dominikweg) venbefreiung“ galt als Persilschein für die Ko- aus Yaoundé/Kamerun errichtet. 1967 wurde lonisierung „Deutsch-Ostafrikas“, Wissmann das Abbild Wissmanns von APO-Studenten vom war ihr Propagandist an vorderster Front. Sein Sockel geholt, die Stadt stellte es wieder auf.

ter Sauer: Scheitern in Usambara. die Koblenzer Anti-Sklaverei-Lotte­ kp/personen/wissmann (letzter Die Meyer-Baumann’sche Expe­ rie, www.golf-dornseif.de/uploads/ Zugriff 25.11.2014); HMJokinen, Pro­ dition in Ostafrika 1888, Wiener DOA_und_Koblenzer_AntiSkla­ jekt afrika-hamburg.de, URL: www. Geschichtsblätter 53 (1998/1) 1-25, vereiLotterie.pdf (letzter Zugriff afrika-hamburg.de (24.10.2014); URL: www.sadocc.at (letzter Zugriff 25.11.2014; Kopfwelten – Köln Marcel Luwel: König Leopold II und 25.11.2014; Golf Dornseif, DOA und Postkolonial, www.kopfwelten.org/ Hermann von Wissmann, Beispiele 86 | Biographien von A bis Z

1968 stürzten die Studierenden die Sockelfi- „Trophäen, Waffen und Gebrauchsgegen­stän- ­ guren beider Denkmäler, diese wurden dann de[n]“, wurde 2005 zum hundertsten To­destag schließlich in der Sternwarte Bergedorf depo- Wissmanns eröffnet. Die Gewaltgeschichte, die niert. 1986 wurden die Figur des afrikanischen hinter den Objekten steckt, wird in der Prove- Soldaten und der bronzene Wissmann in einer nienzforschung außer Acht gelassen, eine et- Ausstellung in der ehemaligen Kampnagel-Fa- waige Rückgabe des Raubguts nicht diskutiert. brik gezeigt. 2004/2005 ließ die Künstlerin In den deutschen Städten wird Wissmann HMJokinen im Rahmen des Projekts afrika- noch heute mit 20 Straßennamen geehrt. In hamburg.de das Monument mit der beschädig- Erfurt und Leipzig wurde die Wissmannstra- ten Sockelfigur temporär am Hafentor aufstel- ße 1950 umbenannt, in Bochum 1998 und in len und in einem Webforum debattieren. Stuttgart 2009. Im November 2012 beschloss Ritualgegenstände und weitere Objekte, die Bezirksversammlung Hamburg-Wandsbek die Wissmann im Kongo und in Ostafrika er- einstimmig die Umbenennung der Wissmann­ warb oder erbeutete, werden heute im Berliner straße und des Dominikwegs (s. Dominikweg), Ethnologischen Museum ausgestellt. Eine wei- doch diesem Beschluss sind bisher keine Um- tere Sammlung, das „Afrika Museum“ im Guts- benennungen erfolgt. haus Weißenbach/Österreich, bestehend aus Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser

eines vertrauensvollen Zusammen­ 1999, S. 24–25; HMJokinen, Gordon Berlin 2008; Afrika Museum, URL: wirkens (1883–1896), Beiträge zur Uhlmann: Revisited: Hamburgs www.kultur.steiermark.at/cms/ deutschen Kolonialgeschichte Bd. 7, Wissmann-Bronze wird 100; Kolo­ beitrag/11247520/7716775 (letzter Traditionsverband ehemaliger niale Mythen, (De)Konstruktionen, Zugriff 17.12.2014) Schutz- und Überseetruppen, Brüs­ Sichtwechsel, in: Beate Binder u.a. sel, 1993, S. 25; Edition Rausch­ (Hrsg.): Kunst und Ethnographie: kunde: Hermann von Wissmann, Zum Verhältnis von visueller Kultur African High Life 1888, Löhrbach, und ethnographischem Arbeiten, 87 | Biographien von A bis Z

Woermannstieg Jantzen & Thormählen, ehemalige Agenten bei Ohlsdorf, seit 1948; benannt nach Adolph Carl Woermann, stiegen in das lukrative Afri- Woermann (1847–1911), Kaufmann, Reeder, kageschäft ein. Plantagenbesitzer, Hamburgs Reichstags- Doch die wachsende Dynamik des Kolo- abgeordneter für die Nationalliberale Partei, nialhandels bereitete den Hamburger Han- Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, delsherren auch Probleme. Die europäischen Präses der Handelskammer Hamburg und Großmächte konkurrierten hart um Handels- maßgeblich beteiligt an der Gründung der plätze an der Küste. Zugleich versuchten die deutschen Kolonialgebiete in Westafrika hanseatischen Kaufleute das Monopol des afri- Siehe auch: Woermannsweg, Ohlsdorf (1922) kanischen Zwischenhandels ins Landesinnere zu brechen. Der zunehmende Waffenimport Im folgenden Text wird das N-Wort im histori- durch europäische Händler führte immer wie- schen Zitat voll ausgeschrieben.* der zu kriegerischen Auseinandersetzungen vor Ort. Das Handelshaus C. Woermann ver- Adolph Woermanns Vater Carl Woermann war – suchte dabei, die britische und französische wie seine Vorfahren in Bielefeld – Leinenhänd- Konkurrenz auszuschalten und den antikolo- ler in den Kolonien Südamerikas und West- nialen Widerstand der lokalen Bevölkerung zu indiens. Seine Handelsaktivitäten erstreckten bekämpfen. In der starken Position als Reichs- sich später bis nach Ostindien, China und Aus- tagsabgeordneter in Berlin und als Präses der tralien. 1849 schickte er ein erstes Schiff nach Hamburger Handelskammer war Woermann Liberia an die westafrikanische Küste, wo ein beredter Verteidiger seiner Handelsinteres- von der Sklaverei befreite Afrikanerinnen und sen. Die Hamburger Kaufmannslobbyisten ba- Afrikaner aus Nord-amerika neue Siedlungs- ten Bismarck (siehe: Bismarckstraße) wiederholt kolonien gründeten. Ab 1868 gründete das um militärischen Schutz. Schließlich gab der Handelshaus C. Woermann mit dem Geschäfts- zögerliche Reichskanzler nach. Um die zuneh- partner Carl Goedelt weitere Faktoreien an der menden Rivalitäten unter den Großmächten in Küste Gabuns und Kameruns. Getauscht wur- Afrika zu beenden, lud Bismarck 1884/1885 den Baumwollstoff, Branntwein und Waffen zur Berliner Afrika-Konferenz ein. Dabei wur- gegen Palmöl, Kakao und Elfenbein. Adolph de der Kontinent wie ein Kuchen unter den Woermann besuchte die Hamburger Gelehr- kolonialinteressierten Regierungen aufgeteilt; tenschule des Johanneums und machte eine Afrikanerinnen und Afrikaner wurden nicht kaufmännische Ausbildung. Seine Grand Tour gefragt. Während der Konferenz fungierte führte ihn in die holländische Kolonie Batavia Woermann als „Berater“. (heute Jakarta), nach China, Japan und Nord- Gustav Nachtigal, Generalkonsul in Tunis, amerika. Dann reiste er nach Westafrika, wo wurde daraufhin beauftragt, nach Westafrika er in den Niederlassungen seines Vaters arbei- zu fahren, um „(…) die dort ansässigen Deut- tete. Nach dem Tod des Vaters 1880 übernahm schen unter deutschen Schutz zu stellen.“ Ge- Adolph Woermann das florierende Unterneh- stützt auf eine Drohkulisse mit Kanonenboo- men. Weitere Hamburger Handelshäuser wie ten der kaiserlichen Marine ließ Nachtigal am

1) Hinter dem N-Wort steckt die sentheorien“ auf. Das Wort wird im gehandelt haben. Bezeichnung „Neger“, die stark dis­ vorliegenden Text ausschließlich im Quellen: kriminierend ist. Das N-Wort tauchte historischen Zitat ausgeschrieben, Olayemi Akinwumi: The Colonial erstmalig im Zusammenhang mit weil damit deutlich gemacht werden Contest for the Nigerian Region dem transatlantischen Menschen­ soll, wie rassistisch die beschrie­ 1884-1900. A History of the German handel, mit Kolonialismus und „Ras­ benen Kolonialakteure gedacht und Participation, Münster 2002; Loose, 88 | Biographien von A bis Z

14. Juli 1884 die reichsdeutsche Flagge hissen mehr als 500 Unfreie, um sie als Söldner in der und erklärte die privaten „Erwerbungen“ der „Polizeitruppe Kamerun“ dienen zu lassen. Großkaufmänner in Kamerun zum deutschen Ihre Frauen wurden zur Arbeit auf den Plan- „Schutzgebiet“. Im August 1884 protestier- tagen gebracht. Auf Befehl der deutschen Of- te der Douala-Herrscher Kum’a Mbape Bele fiziere zog die Polizeitruppe durch die Lande, (Lock Priso Bell): „Bitte holen Sie Ihre Flagge trieb die Menschen aus ihren Dörfern in Re- herunter (…) Bitte lassen Sie uns unsere Frei- servate, ließ Gefangene in Ketten gelegt zum heit und bringen Sie hier nicht alles durchein- Straßenbau bringen. Die blutigen Kriegszüge ander.“ Als die Flagge gestohlen wurde, wurde brachten den Hamburger Kolonialkaufleu- Bonabéri (Hickory Town) von der deutschen ten gleich einen doppelten Nutzen: Der Han- Marine bombardiert und niedergebrannt. 1910 del ließ sich nun ins weitgehend entvölkerte sollten die Douala ihr Wohngebiet an der Küste Landesinnere ausweiten, zugleich wurde der verlassen und den europäischen Handelshäu- Nachschub an Arbeitskräften gesichert. Aller- sern Platz machen. Alle Petitionen der Douala- dings führte die schlechte Behandlung der zur und Akwa-Herrscher und ihrer Delegationen Arbeit Gezwungenen zu hohen Todesraten. in Berlin stießen auf taube Ohren. Auch Rudolf 1893 standen die „Dahomey-Söldner“ der „Po- Douala Manga Bell kämpfte nur mit Worten, lizeitruppe Kamerun“ auf gegen die Schikanen doch ohne Erfolg, denn 1913 begann die Kolo- und Prügelstrafen der deutschen Offiziere und nialverwaltung, die Gebäude abzureißen. Um der Beamten der Kolonialverwaltung. Der Wi- ein Exempel zu statuieren, wurde der Doua- derstand wurde bald von der Übermacht des la-König am 8. August 1914 wegen „Hochver- deutschen Militärs zerschlagen. Nach der Ko- rats“ verurteilt und erhängt. loniegründung in Kamerun schien den Ham- Adolph Woermann gilt als Inbegriff des burger Großkaufmännern der Weg frei zur rücksichtslosen Kolonialkaufmanns. Mit sei- Enteignung des fruchtbaren Kulturlandes am ner Privatarmee ging er 1889 gegen die Ma- Kamerunberg. Das Gouvernement vertrieb die limba vor, die seine Handelsniederlassung auf Bakweri, die lokalen Kleinbauern, verbannte ihrem Gebiet nicht dulden wollten. Weitere sie in Reservate und ließ ihre etwa 80 Dörfer Dörfer in Kamerun und Togo, deren Bewoh- niederbrennen. Seit 1897 waren riesige Plan- nerschaft seinen Geschäftsinteressen entge- tagen angelegt, die sich fest in der Hand der gentrat, ließ er plündern und die Gefangenen Hamburger Handelshäuser C. Woermann und zur Zwangsarbeit auf seine Plantagen brin- Jantzen & Thormählen befanden; 1899 wur- gen. Der „königliche Kaufmann“ schreckte den diese im Firmenkonsortium Moliwe-Ge- auch nicht vor Menschenhandel zurück: 1890 sellschaft zusammengefasst. Die vertriebenen kaufte das Hamburger Handelshaus Wölber & Bakweri reagierten mit passivem Widerstand, Brohm Versklavte in Dahomey (heute Benin), Arbeitsverweigerung und Auswanderung. In ein Woermann-Dampfer brachte diese in den Südwestafrika hatte der Bremer Schnaps- und Kongo, wo sie zur Arbeit am Eisenbahnbau Waffenhändler Adolf Lüderitz 1883 mit be- verpflichtet wurden. In Dahomey und Togo er- trügerischen Verträgen Land von den !Aman warb auch Hauptmann Karl von Gravenreuth (Bethanier-Nama) enteignet, 1884 hatte Kanz-

Hans-Dieter: „Jantzen, Wilhelm“, und Bananen. Der deutsche Koloni­ L’Afrique s’annonce au rendez-vous, in: Neue Deutsche Biographie 10 alismus in Afrika, Neuaufl., Berlin, la tête haute!, Douala, 2012; AfricA­ (1974), S. 349 f. [Online¬fassung]; 2011; Sebastian Conrad: Deutsche venir (Hrsg.): Déclaration solennelle URL: http://www.deutsche-biogra­ Kolonialge-schich¬te, München, du Prince Kum’aNdumbe III sur les phie.de/pnd117084042.html; Heiko 2008; Krause: Commerz- und débuts de la résistance des peuples Möhle (Hrsg.): Branntwein, Bibeln Disconto-Bank; Kum’aNdumbe III, camerounais à l’occupation coloni­ 89 | Biographien von A bis Z

ler Bismarck „Reichsschutz“ für das „Lüderitz- Destillerien auf seinen Landgütern. Die Alko- land“ gewährt. Landnahme und Entrechtung holeinfuhren nach Afrika wurden staatlich der lokalen Bevölkerung führten auch hier zu subventioniert und konnten den Zoll unkon- antikolonialem Widerstand. 1904 standen die trolliert passieren. An der westafrikanischen Herero gegen die deutsche Willkürherrschaft Küste war Schnaps zum allgemeinen Zah- auf. Im folgenden Krieg verübte die deutsche lungsmittel avanciert, und mit einem Netz- „Schutztruppe“ einen Genozid; schätzungs- werk von 24 Faktoreien konnte die Firma C. weise achtzig Prozent der etwa 80 000 Herero Woermann den Absatzmarkt schnell beherr- und mehr als die Hälfte der 10 000 Nama wur- schen. Staatsbedienstete wurden mit Schnaps den getötet. Die überlebenden Menschen, die in bezahlt; bei Gericht war es üblich, Strafen die Omaheke-Wüste geflüchtet und entkräftet mit Branntwein abzugelten. Auf Woermanns zurückgekehrt waren, wurden in Konzentra- Plantagen erhielten die Arbeiterinnen und tionslager verschleppt. Woermann profitierte Arbeiter einen Teil ihres Lohns in Form von nicht nur vom Krieg, sondern auch von sei- Spirituosen. Kritik an den Schnapsexporten nen Folgen. Auf seinen Schiffen sicherte sich kam von Missionaren, welche die verheeren- Woermann ein Monopol für die Truppenbe- de Alkoholsucht in weiten Teilen der Kolonie förderungen, für die er überhöhte Transport- anprangerten. Ebenso brachte der Kolonieg- kosten verlangte. Aus den Konzentrations- ründer Gustav Nachtigal seinen Unwillen zum lagern holte der Handelsherr Kinder, Frauen Ausdruck: „Was soll ich aber an dieser West- und Männer zur Zwangsarbeit beim Bau der küste (...)? Die Hamburger Schnapsinteressen Bahntrasse, die weiträumig durch das Gebiet stärken? Damit ist wenig Ehre zu holen.“ Da der Herero führte und die Otavi-Kupfermine in sah sich der Reichstag schließlich veranlasst, der Wüste mit der Küstenstadt Swakopmund die koloniale Alkoholfrage zu debattieren. Der verbinden sollte. Den Großteil des Kupferer- sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete zes importierte die Otavi-Minen- und Eisen- August Bebel (siehe: Bebelallee) tadelte: „Die bahn-Gesellschaft (OMEG) zur Verarbeitung Besitzer des Feuerwassers benutzen das als in der Norddeutsche Affinerie in Hamburg. Die Lockmittel, sie [die lokale Bevölkerung] dazu Kupfermine war im Besitz der Norddeutschen zu bringen, für sie zu arbeiten, sich an sie zu Bank, der Kriegsgewinnler Woermann ihr verkaufen und in jeder Weise sich von ihnen Großaktionär. Fatale Auswirkungen zeigten ausbeuten zu lassen.“ Woermann konterte zy- auch die Schnapslieferungen in die Koloni- nisch: „Im übrigen glaube ich nicht, dass den en, an denen Woermann maßgeblich beteiligt Negern durch den Schnaps ein sehr großer war. Zu Beginn der reichsdeutschen Koloni- Schaden zugefügt wird. Ich meine, dass es da, alherrschaft ab 1885 waren etwa 70 Prozent wo man Zivilisation schaffen will, hier und da aller Hamburger Exportgüter nach Westafrika eines scharfen Reizmittels bedarf (...).“ 1889 Spirituosen. In der Hansestadt und Umgebung pries er im Reichstag: „Der Branntwein ist der hatten sich mehrere Schnapsbrennereien ge- Punkt, wodurch sich die Deutschen überhaupt gründet, wie Harder & de Voss, Heinrich Hel-­ in den Handel Westafrikas haben hineinboh- bing und J. F. Nagel, und selbst Bis­marck besaß ren können.“

ale, 28 août 1884 – 28 août 2013, (Hrsg.), Deutsches Kolonial-Lexikon, Togo 1884-1914. Eine Geschichte au mausolée de Lock Priso (Kum’a Leipzig, 1920, Bd. II, S. 353 f., On­ der deutschen „Musterkolonie“ auf Mbape), Douala, 2013, PDF-Down­ lineversion: www.ub.bildarchiv-dkg. der Grundlage amtlicher Quellen, load, URL: http://kurzurl.net/Wsd3Z uni-frankfurt.de/ Bildprojekt/Lexi­ Berlin 1988; Jochen Meissner, Ulrich (letzter Zugriff 30.8.2014); Baltzer: kon/php/suche_db.php?such-na­ Mücke, Klaus Weber: Schwarzes „Kongobahnen“, in: Heinrich Schnee me=Kongobahnen ; Peter Sebald: Amerika: eine Geschichte der 90 | Biographien von A bis Z

Die Woermann-Linie entwickelte sich zur men die Deutsche Afrika-Linien/John T. Ess- größten Privatreederei der Welt. Sie fuhr die berger die DOAL, die Woermann-Linie wurde Häfen an der afrikanischen Westküste an. abgewickelt. Heute ist die C. Woermann GmbH Vom Kautschukgeschäft, das wegen der Au- & Co. KG ein mittelständisches Im- und Ex- toindustrie boomte, profitierte der Reeder und portunternehmen mit Niederlassungen in Ni- Plantagenbesitzer. 1890 gründete Woermann geria, Ghana und Angola, Woermann & Brock in einem Konsortium von Banken und weite- ist eine Supermarktkette in Namibia. Ihren ren Hamburger Kaufleuten die staatlich sub- Firmensitz hat C. Woermann nach wie vor im ventionierte Deutsche Ostafrika-Linie (DOAL), 1899 gebauten „Afrikahaus“ in der Großen deren Aufsichtsratsvorsitzender er wurde. Die Reichenstraße 27. Am Eingang des Kontorhau- DOAL-Schiffe fuhren bis nach Südafrika, und ses steht die Plastik eines Kriegers aus Togo, so konnte Woermanns Linienverkehr den ge- im Innenhof säumen zwei Elefantenfiguren samten afrikanischen Kontinent umspannen. die Tür zum Treppenhaus. Die goldfarbige Öl- Woermanns mächtiger Einfluss auf die palme am Torgitter erinnert an eine gewichti- Kolonialpolitik beruhte auf seinen vielen Be- ge Quelle von Woermanns Reichtum. teiligungen an Überseeunternehmen, Banken, In Namibia wurde 2002 – zwölf Jahre Reedereien, Minen- und Eisenbahngesell- nach der staatlichen Unabhängigkeitserklä- schaften sowie auf seinen politischen Ämtern. rung – der Gedenkort „Heroes’ Acre“ errich- Er saß in 14 Aufsichtsräten und hatte persön- tet mit 174 Ehrengräbern in Würdigung der lichen Zugang zum Reichskanzler Bismarck. antikolonialen Freiheitskämpferinnen und „King Woermann“ war nicht nur sechs Jahre -kämpfer. Dort ist auch die letzte Ruhestät- lang einflussreicher Abgeordneter Hamburgs te der unvergessenen Volkshelden unter den im Berliner Reichstag, sondern auch Berater Herero und Nama, die im Krieg 1904–1908 im Reichskolonialamt und im Kolonialrat, Vor- gegen die deutsche Kolonialherrschaft kämpf- standsmitglied in der Deutschen Kolonialge- ten: Samuel Maharero, Hendrik Witbooi und sellschaft und des Vereins Westafrikanischer Jakob Morenga. Für den Völkermord, den die Kaufleute. Nach seinem Tod 1911 beschrieb ihn deutsche „Schutztruppe“ verübte, fordern die Albert Ballin (siehe: Ballindamm, Ballinkai, Ballin­- Herero Wiedergutmachung und eine offizi- Park), Generaldirektor der Hamburg-Amerikani- elle Entschuldigung. 1998 verklagten sie die schen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag), Bundesregierung, die Deutsche Bank und als in seinem Nachruf als „Urbild des Hanseaten“ Rechtsnachfolger der Woermann-Linie die Ree- und den „größten opferfreudigsten Privatree- derei Deutsche Afrika-Linien. Ihre Klage wurde der, den die Hansestädte je gesehen haben“. beim internationalen Gerichtshof in den Haag 1905 unterhielten 23 europäische Firmen und vor amerikanischen Zivilgerichten abge- über 200 Faktoreien in Kamerun; Woermann wiesen. gehörten 30 davon. Durch Verluste in den Welt- Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser kriegen mussten Handelshaus und Reederei wiederholt von Grund auf umstrukturiert wer- den. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernah-

Sklaverei, München, 2008; Dominik arch, 6:3, S. 422; Casper Erichsen, machen. Wie sich das Handelshaus J. Schaller: „Ich glaube, dass die David Olusoga: The Kaiser's Ho­ Woermann an Afrika entwickelt hat, Nation als solche vernichtet werden locaust: 's Forgotten Geno­ Hamburg, 1986; Fritz May-wald: Die muss: Kolonialkrieg und Völkermord cide and the Colonial Roots of Na­ Eroberer von Kamerun, Berlin, 1933, in: „Deutsch-Südwestafrika‘ 1904- zism, Leipzig, 2010; Renate Hücking, Deutschlands Kolonialhelden, Bd. 1907“. In: Journal of Genocide Rese­ Ekkehard Launer: Aus Menschen N. 2; zum Dahomey-Sklavenhandel der 91 | Biographien von A bis Z

Informationen zum Ehe- und Familienleben Reichenstraße 27 eine eigene Firma gründen konnte. Verheiratet war Carl Woermann seit 1837 mit Carl und Eleonore Woermann bekamen Eleonore, geb. Weber, seiner Cousine und Toch­- zehn Kinder, u. a. Adolph Woermann, der die ter seines Prinzipals David Friedrich Weber aus Firma später übernahm. Bielefeld. Dieser hatte 1811 gemeinsam mit sei- In der überwiegend größeren Anzahl von nem Cousin Gottlieb Woermann (1780–1839) Biografien über Männer wird nicht auf deren das Leinen-Handelshaus „Woermann und Familienleben eingegangen. Sie haben zwar Weber“ in Bielefeld gegründet. David Fried- oft Frau und Kinder, doch ob, und wenn ja, rich Weber war seit 1814 mit Henriette, geb. welche Rolle sie als Vater oder auch als Ehe- Nottebohm (1782–1886) verheiratet. Im Jahr mann einnahmen, ist meist nicht Gegenstand seiner Heirat zog das Ehepaar nach Hamburg, der Biografie. Damit folgen solche Biografien, um hier unter der Firma D. F. Weber & Co. mit auch wenn sie kritisch über den beruflichen Bielefelder Leinen Überseehandel zu betrei- Werdegang des Mannes berichten, dem Rol- ben. Das Ehepaar bekam acht Kinder. In ihrem lenklischee, nach dem der Mann das Geld Stadthaus am Neuen Jungfernstieg 11, dort wo nach Hause zu bringen, im Berufsleben seinen heute das Hotel Vier Jahreszeiten steht, und Mann zu stehen sowie im gesellschaftlichen in ihrem Landhaus in Övelgönne pflegten die Leben Erfolg zu haben hat, z. B. durch seine Webers große Gesellschaften. Im Winter wa- Aktivitäten in Ehrenämtern und Vereinen. Die ren die so genannten Weber-Abende, zu denen Frau hingegen hat zu Hause die treu sorgende Henriette Weber jeden zweiten Mittwoch in Gattin zu sein, die für den Haushalt, die Kin- ihr Haus am Neuen Jungfernstieg 11 einlud, der, eventuell vorhandenes Dienstpersonal, von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Jun- für ein heimeliges bzw. repräsentatives Heim, ge wie ältere Menschen, oft bis zu 80 Perso- für das emotionale Glück des Ehemannes so- nen, folgten der Einladung zu Vorträgen aus wie in finanziell begüterten Familien für den den unterschiedlichsten Themenbereichen. gesellschaftlichen Glanz, der sich nicht durch Danach lud die Dame des Hauses zu einem die Ausrichtung von Festen und Zusammen- Imbiss ein, der an kleinen Tischen gereicht künften, sondern auch durch wohltätige Ak- wurde, wo sich die illustre Gesellschaft bei tivitäten äußern kann, sorgt. Entsprechend Häppchen und Schnittchen angeregt über das diesen Geschlechtsrollenzuweisungen, die Vorgetragene unterhielt. auch ein bestimmtes gesellschaftlich sankti- Carl Woermann wurde durch die Heirat oniertes emotionales Verhalten gegenüber der mit Eleonore Weber – beide kannten sich von Gattin, den Kindern, dem Personal, Fremden Kindesbeinen an – der Schwiegersohn von und Geschäftspartnern verlangt, wird – aber Henriette Weber. Zur Hochzeit bekam Eleo- auch dies oft nur spärlich – ein patriarchaler nore ein erhebliches Erbteil ausgezahlt. Carl Vater gezeichnet, der z. B. wie Carl Woermann erhielt von seinem Vater ebenfalls eine gro- zu Weihnachten „immer die Zeit [fand], sei- ße Geldsumme, so dass der damals 24-Jähri- ne kleinen Kinder persönlich auf den Dom ge mit diesem Geld unter der Adresse Große zu führen, den Weihnachtsmarkt Hamburgs?

Fa. Wölber & Co. mit Woermann: Meuterei, www.golf-dornseif.de/ nemann, 150 Jahre C. Woermann Togo unter deutscher Herrschaft, uploads/Der%20Reichstag%20 1837-1987, Hamburg, 1987. URL: www.digitalis.uni-koeln.de/ und%20die%20 Kameruner%20 JWG/jwg_5_20-28.pdf (letzter Meuterei.pdf; Dirk Bavendamm, Zugriff 30.11.2014); Golf Dornseif: Günther Jantzen, Gerhard Sendler: Der Reichstag und die Kameruner Heinrich Woermann, Jürgen Zwer­ 92 | Biographien von A bis Z

Denn Frau Eleonore hatte gewöhnlich dazu In zweiter Ehe war Adolph Woermann mit keine Zeit infolge einer mütterlichen Behinde- Gertrud, der Tochter des hanseatischen Ge- rung: die meisten ihrer Kinder, und das Haus sandten Krüger verheiratet. Er hatte die da- in der Großen Reichenstraße war kinderreich, mals 22-Jährige auf dem Geburtstagsempfang sind im Dezember geboren. Die Kinder aber des Fürsten Bismarck kennengelernt, den die- verlangten nach dem Dom. Und eine Tochter ser anlässlich seines 70. Geburtstages gegeben hat behalten, daß es für ihren Vater nichts hatte. Damals befand sich Adolph Woermann Schöneres in der Welt zu erblicken gab als eine „mitten in großer Einsamkeit: seine geliebte ausfahrende Brigg und eine hoffende Frau.“1 Frau, die zarte Ella von Hoßtrup, die Pflege- Um Frau und Schiff, die Glückserscheinun- rin in seiner Krankheit, lag im Grabe. Einen gen seines Lebens, miteinander zu verbinden, Trost von über den Sternen gab es nicht. Un- nannte er eine seiner Briggs „Eleonore“. Die sere Väter, ein großer Teil der geistigen und Schiffstaufe übernahm die Gattin. wirtschaftlichen Führung unseres Volkes in Eleonore Woermann starb kurz nach der jener Zeit, hatten keinen Himmel (…), da- Geburt ihres zehnten Kindes. Ca. zehn Jahre für wachten sie selber streng über sich selbst später hatte der „verwaiste Mann (…) für sich und fühlten in diesem einsamen Trotz das und seine Kinder Aline, die Tochter des Kon- Ewige. Zwischen kopierten Geschäftsbriefen, suls Ferber, geheiratet. Er hatte sie nicht bitten Behördenschreiben und Vortragsentwürfen wollen, ihm den Haushalt zu führen, wie er erscheinen plötzlich auf den gleichen blauen Großmutter Henriette Weber gestand, weil er Pro-Patria-Bogen, auf denen die Schreiben an fürchtete, dabei sein Herz an sie zu verlieren. Bismarck entworfen sind, unter den wenigen Die verständige Frau hatte ihm dann zuge- Papieren, die von Adolph Woermann erhalten sprochen, daß er dann nur sie und niemand sind, Verse. Sie sind von Frau Ella auf einen anders verpflichtete; so war Aline Ferber ein- der Bogen abgeschrieben. Der Mann, der sein gezogen, und es war gekommen, wie es der Innerstes so streng verschlossen hielt und Mann vorausgesehen hatte. Sie wurde die sonst nichts auf Verse gab, hat sie zu seinen Mutter Eduard Woermanns“.2 Akten genommen; die Rückseite des Bogens Der zweite Sohn Carl Woermanns, Adolph, ist mit Ziffern von seiner Hand bedeckt. Ir- übernahm die Firma und heiratete Ella von gendwie sprachen die schlechten Verse doch Hoßtrup. Als Adolph Woermann wegen einer ein Stück seines eigenen Fühlens an und wur- Tropenerkrankung ca. zwei Jahre – von 1877 den, nachdem die geliebte Frau sie einmal bis 1879 – fast dauernd zu Bette lag, pflegte abgeschrieben hatte, mitaufgehoben: … Kein Ella ihren Mann aufopferungsvoll. Doch kurz Vater waltet mir im Himmel, mir meine Fehler nach seiner Genesung erkrankte auch sie zu verzeih’n. In dieses Lebens Kampfgewim- und verstarb nach langem Leiden. „Jahre hat mel auf eigner Kraft steh ich allein. … Noch Adolph Woermann um Ella von Hoßtrup ge- blitzt das Schwert in meiner Rechten, ich bin trauert, die nur so kurz die Seine hatte sein ein Ritter, ich bin frei. Frei als ein Ritter ging dürfen. Nur ein Schiff trug jetzt ihren Namen auch Adolph Woermann durch das Leben und über See.“3 hielt es für das Beste daran. Aber er war nach

Quellen: 3 Theodor Bohner, a.a.O., S. 121. 1 Theodor Bohner: Die Woer­ 4 Theodor Bohner, a.a.O., manns. O. O.; [1935] Nachdruck zum S. 167ff. 100-jährigen Jubiläum des Hauses C. Woermann, S. 53. 2 Theodor Bohner, a.a.O., S. 87f. 93 | Biographien von A bis Z

dem Tode der jungen Frau dafür in Einsam- Männerseele dieser Zeit verstehende Theodor keit zurückgesunken. Jetzt durfte auch sein Bohner (1882–1963), Publizist, Verbandsfunk- Herz wieder leben. Kurz vor Pfingsten hielt er tionär und liberaler Politiker, Abgeordneter brieflich um die fast fünfzehn Jahre Jüngere der Deutschen Demokratischen Partei. Nach an. Die Verlobung erfolgte im Sommer, als die dem Tod Adolph Woermanns gründete seine Krügers ein paar Tage in Hamburg waren. Die Witwe Gertrud 1912 die Adolph Woermann Trauung aber geschah, da der Vater der Braut Gedächtnis-Stiftung. Sie prägte die Stiftung krank im Süden Heilung suchte, am 19. Ok- bis zu ihrem Tod 1945. Ziel der Stiftung war tober 1885 in Lugano. An der Hochzeitstafel Hilfe zur Selbsthilfe. Junge bedürftige Leute, saßen außer den Geschwistern und nächs- „deren geistige und körperliche Anlagen ver- ten Verwandten Hermann Grimm und seine muten lassen, dass etwas Tüchtiges aus ihnen Frau – er ein Sohn Wilhelms, des jüngeren werden kann“, bekamen Unterstützung zum der beiden jedem deutschen Kind vertrauten Zwecke der Berufsausbildung. Noch heute be- Brüder Grimm, sie eine Tochter Bettinas, die steht die Stiftung und gewährt Beihilfen zur den ‚Briefwechsel Goethes mit einem Kinde‘ Berufsausbildung und Hilfe in Notlagen. geführt hatte. Denn die junge Frau brachte Text: Dr. Rita Bake ein hohes geistiges Erbe in die Ehe mit, wie schon Ella von Hoßtrups Großvater ein geisti- Eine Stieftochter von Gertrud Woermann war ger Führer in Hamburg gewesen war. Es ist be- die Malerin, Bildhauerin und Kunsthandwer­ zeichnend, daß Adolph Woermann jedes Mal kerin Hedwig Woermann (1879–1960). Sie er- bei der Eheschließung unbewußt auch danach hielt in ihrer Jugend als „Malweib“ in Worps- gesucht hat. Und dann wurde die Kinderwiege wede bei dem Maler Fritz Mackensen eine wieder im Hause Woermann aufgestellt, die Ausbildung. Dort arbeitete sie auch mit den Welt blühte wieder. Bald fuhr auch ein Damp- Malerinnen Ottilie Reylaender und Paula Mo- fer ‚Gertrud Woermann‘ übers Meer. Keine dersohn-Becker (siehe: Modersohnstraße, in Bd. größere Freude für Adolph Woermann, als 2, der Publikation „Ein Gedächtnis der Stadt. Nach mit der ganzen Familie die erste Fahrt eines Frauen benannt Straßen in Hamburg“) zusammen. solchen Dampfers ein Stück Wegs zu beglei- Zu Ottilie Reylaender entwickelte sich eine ten! Die Kapitäne lächeln: Frau Gertrud Woer- enge Freundschaft. Hedwig Woermann blieb mann fürchtet frauenhaft die Seekrankheit. allerdings nur einige Monate in Worpswede. Sie verzichtet zunächst lieber auf die Reise. Danach zog sie nach Paris, kurze Zeit später Aber dann ist sie unerwartet doch in Antwer- gefolgt von Ottilie Reylaender. Dort wurde sie pen und fährt mit nach den Kanarischen In- Schülerin des Bildhauers bei Antoine Bour- seln. Die Sehnsucht nach dem geliebten Mann delle, bis sie dann 1903 nach Rom ging, um hat sie getrieben. Bis nach Swakopmund und dort als Künstlerin bis 1908 zu leben. Ihren Lüderitzbucht hinunter ist sie auf Woermann- Lebensunterhalt verdiente sie sich mit bild- schiffen noch mit ihm gefahren. Und wenn hauerischen Porträts. In Rom lernte sie den die Söhne in Afrika waren, besuchte sie sie Bildhauer Johann Jaenichen kennen, einen auch noch im Alter draußen“,4 schreibt der die ehemaligen Finanzassessor. Das Paar heirate- 94 | Biographien von A bis Z

te 1908. Im selben Jahr stellte Hedwig Woer- und Wustrow. Um Platz in ihren Wohnungen mann im Hamburger Kunstverein aus und in zu schaffen, schuf sie auf Seide gemalte Roll- Dresden, wo ihr Onkel Direktor der Königli- bilder, die sie aufrollen und in handlichen Käs- chen Gemäldesammlung war. Ein Jahr nach ten verstauen konnte. Zu diesem Thema hielt der Hochzeit zog das Paar 1909 in die Nähe sie auch Vorträge. Nach der Machtübernahme von Paris und wohnte auf einem Bauernhof. durch die Nationalsozialisten wurde Hedwig Als der Erste Weltkrieg begann, musste Woermann, „als Tochter eines Hamburger das Paar nach Deutschland zurückkehren. Reeders, für ihre [die der Nazis] Ideologie“ Dort fand es eine neue Bleibe in Dresden. vereinnahmt. „Die Nazis erklärten ihre Kunst Über den Ersten Weltkrieg äußerste sich Hed- laut ‚National-Zeitung‘ vom März 1939 zu wig Woermann: „Daß der Krieg sein muß ist ‚ein(em) Stück bildnerischen Volkstums und furchtbar aber wenn man erlebt, dass ein gan- damit echter Volkskunst‘. (…) Vor dem Ein- zes Volk in ungeheure Begeisterung auszieht marsch sowjetischer Truppen 1945 [Hedwig und jeder zu jedem Opfer bereit ist für das Woermann war mit ihrem Mann 1936 wieder Große – absolut für eine Idee – das ist unbe- nach Wustrow gezogen] beschließen Hedwig schreiblich!“1 Woermann und Hanns Jaenichen aus Angst In Dresden waren die Wohnverhältnisse vor dem ‚Danach‘, ihrem Leben ein Ende zu so beengt, dass Hedwig Woermann zu malen setzen. Jaenichen stirbt, Woermann überlebt begann. In der Malerei verarbeitete sie ihre Er- (…).“2 innerungen an die Afrikareise im Jahre 1911. 1958 musste Hedwig Woermann aus fi- So entstanden Werke mit den Titeln „Schwar- nanziellen Gründen ihr Haus in Wustrow ver- ze Frau am Meer“ oder „Fatima am Meer“. Da- kaufen, zwei Jahre später verstarb sie. bei stehen die Menschen im Mittelpunkt der Text: Dr. Rita Bake Komposition, die an den Malstil von Paul Gau- guin erinnert. 1919 zog das Paar nach Wustrow in der Eine Tochter von Carl Woermann war auch die Nähe der Künstlerkolonie Ahrenshoop in ein Stifterin Luise Friederike Bohlen, geb. Woer- von Hedwig Woermann erworbenes Bauern- mann (1853–1949). Verheiratet war sie mit haus. Sie wandte sich nun der Neuen Sachlich- dem Kaufmann Johannes Friedrich Eduard keit zu und malte Porträts und Charakterstudi- Bohlen, Teilhaber der Firma Woermann, Di- en; die Landschaft spielte nur eine sekundäre rektionsmitglied der Deutschen Ostafrika- Li- Rolle in ihrem künstlerischen Schaffen. In den nie, Generalkonsul von Kongo. Das Paar hatte 1920er-Jahren war sie an mehreren Ausstellun- vier Kinder und wohnte in der Badestraße 42. gen in Berlin beteiligt. Drei Jahre lang – von Auf der Gedenktafel in der Rotunde der Ham- 1927 bis 1930 – war sie Mitglied im Verein der burger Kunsthalle wird Luise Bohlen als „Frau Künstlerinnen zu Berlin. Gertrud Woermann Gen. Kons. Bohlen“ für 1901 als Stifterin ge- unternahm viele Reisen nach Südamerika, nannt. Asien und Afrika. Einige Jahre lebte sie auch Text: Dr. Rita Bake in Buenos Aires, dann aber wieder in Paris

Quellen: 2 Alice Gudera etc., a.a.O., 1 Alice Gudera, Donata Holz, Bir­ S. 100. git Nachtwey, Bärbel Schönbohm: … und sie malten doch! Geschichte der Malerinnen. Worpswede, Fischerhu­ de, Bremen. Bremen 2007, S. 98.