gefördert vom
intermobil
Region Dresden BMBF-Leitprojekt intermobil Region Dresden
SCHLUSSBERICHT der TECHNISCHEN UNIVERSITÄT DRESDEN (Projektleiter: Prof. Dr.-Ing. habil. Dr. h. c. H. Strobel)
Band 4:
DIE FLEXIBLE S-BAHN:
NACHFRAGEORIENTIERTE
FLEXIBILISIERUNG DES BEFÖRDERUNGSANGEBOTES –
Ein neuer Zugang zur Szenarioanalyse
alternativer Strategien
erarbeitet durch
Dipl.-Ing. Sven Scholz
Lehrstuhl für Verkehrsleitsysteme und -prozessautomatisierung Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“
31.12.2004
intermobil Region Dresden
Das diesem Bericht zugrunde liegende Vorhaben wurde mit
Mitteln des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung unter dem Förderkennzeichen 19 B 9907A 8
gefördert.
Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.
Zum Geleit
Das BMBF-Leitprojekt „intermobil Region Dresden“ ist Bestandteil des Forschungs- programms
MOBILITÄT IN BALLUNGSRÄUMEN, das die Deutsche Bundesregierung in den Jahren 1997/98 mit einem bundesweiten Wettbewerb ins Leben gerufen hat.
Aus 155 Projektvorschlägen wurden zunächst 13 in die engere Wahl gezogen. Am 21. April 1998 erfolgte durch eine unabhängige Jury die endgültige Auswahl der in Abb. I genannten fünf Leitprojekte.
Stadtinfo intermobil Köln REGION DRESDEN
Wayflow Rhein- Main-Region
mobilist Stuttgart MOBINET München
Abbildung I: Ergebnis des deutschlandweiten Wettbewerbs zur Auswahl von Leitprojekten im Rahmen des Forschungsprogramms Mobilität in Ballungsräumen
Entscheidungsgrundlage für das Vorhaben intermobil Region Dresden bildete dabei die zum 30. Januar 1998 unter Federführung der TU Dresden erarbeitete Projektstrategie
intermobil Region Dresden: Intermodale Mobilitätssicherung in mittleren Ballungsräumen durch Integration innovativer Telematik-, Bahn- und Regelungstechnologien
Vorgesehen war ein komplex angelegtes Bearbeitungskonzept, das Strategien zur
• Beeinflussung der Nachfrage nach motorisierten Individualverkehr sowie zur • Optimierung des ÖPNV-Angebotes einschloss und eine Differenzierung nach lang-, mittel- und kurzfristig umsetzbaren Maßnahmen vornahm. Hieraus ergaben sich die durch Abbildung II veranschaulichten sechs Arbeitsfelder, die eng miteinander verflochten waren und durch das übergreifende Aufgabengebiet „Projektevaluation/Wirkungsanalyse“ überlagert wurde. STRATEGIEN ZUR BEEINFLUSSUNG 1. DER MIV-NACHFRAGE 2. DES ÖPNV-ANGEBOTES c MIV-reduzierende d ÖPNV-stärkende lang- RAUMSTRUKTUREN Vernetzungsstrukturen: fristig V.: TU Hamburg-Harburg/ DIE FLEXIBLE S-BAHN Landeshauptstadt? Dresden V.: DB Regio/TU Dresden? (TU Dresden) (Alcatel, DVB, FhG-IVI, DB Systems, CSC, VVO)
f flexible mittel- e MIV-reduzierende UNTERNEHMENSSTRUKTUREN: TARIFSTRUKTUREN: fristig VIRTUEL. MOBILITÄTSSYSTEME? INTERMOBIL-PASS-SYSTEM? V.: TU Dresden/SMWA V.: VVO/Siemens VDO (DB Regio, DVB, FhG-IVI, TUD)
g MIV-beeinflussendes h INFORMATIONELLE LIVE-KAMERA- & VERNETZUNG ALLER kurz- STRASSENVERKEHRS- fristig MOBILITÄTSSYSTEME? MANAGEMENTSYSTEM? V.: FhG-IVI/VVO V.: TUD/LH Dresden (STA) + Autobahnamt (DB Regio, DVB, ISUP, TUD) (FhG-IVI, ISUP, Schlothauer & Wauer)
i Projektevaluation Æ komplexe Wirkungsanalyse (Quervergleich mit anderen Leitprojekten in München, Stuttgart, Frankfurt/Main, Köln) V.: TU Hamburg-Harburg/SMWA + VVO (TU Dresden)
Abbildung II: Struktur des BMBF-Leitprojektes intermobil Region Dresden
Zur Lösung dieser Aufgaben ist eine strategische Allianz zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen (TU Dresden, Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme, TU Hamburg-Harburg), den Aufgabenträgern und Betreibern des ÖPNV (Verkehrsverbund Oberelbe, Dresdner Verkehrsbetriebe AG, DB Regio AG), der kommunalen und regionalen Ebene (Landeshauptstadt Dresden mit der Hauptabteilung Mobilität und dem Straßen- und Tiefbauamt sowie dem Freistaat Sachsen mit dem Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit sowie dem Autobahnamt Sachsen) und Industriepartnern, Ingenieurbüros und KMU (Siemens VDO, Alcatel SEL Stuttgart, CSC, DB Systems, ISUP, Schlothauer & Wauer) geschaffen worden.
Die Technische Universität Dresden war an der Bearbeitung aller sieben Teilprojekte beteiligt:
• AP 100: „Raumstrukturelle Voraussetzungen einer nachhaltigen Mobilitätssicherung“ V.: Prof. Dr.-Ing. G.-A. Ahrens, Lehrstuhl für Verkehrs- und Infrastrukturplanung, Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“
• AP 200: „Die Flexible S-Bahn“ V.: Prof. Dr.-Ing. habil. Dr. h. c. H. Strobel Lehrstuhl für Verkehrsleitsysteme und -prozessautomatisierung, Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“
• AP 300: „Virtuelle Mobilitätssysteme“ V.: Prof. Dr. rer. nat. habil. A. Schill Lehrstuhl für Rechnernetze, Fakultät Informatik
• AP 400: „Das intermobilPASS-System“ V.: Prof. Dr.-Ing. habil. Dr. h. c. H. Strobel Lehrstuhl für Verkehrsleitsysteme und -prozessautomatisierung, Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ (mit dem Unterauftragnehmer GWT-TUD mbH V.: Dipl.-Ing. H. Lorenz)
• AP 500: „Das integrierte Live-Kamera- & Straßenverkehrsmanagementsystem“ V.: Dr.-Ing. R. Franke Lehrstuhl für Verkehrsleitsysteme und -prozessautomatisierung, Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“
• AP 600: „Das intermodale Mobilitätsregelungs- und -informationssystem“ V.: Dr.-Ing. R. Franke Lehrstuhl für Verkehrsleitsysteme und -prozessautomatisierung, Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“
• AP 700: „Projektevaluation/Mobilitätsanalysen“ V.: Prof. Dr.-Ing. G.-A. Ahrens, Lehrstuhl für Verkehrs- und Infrastrukturplanung, Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“
Eine Übersicht über die von der Technischen Universität Dresden erarbeiteten Ergebnisse wird in einer zusammenfassenden Ausarbeitung vorgelegt, die als Band 1 des Schlussberichtes gilt.
Besonders interessant und wichtig erscheinende Resultate sind in speziellen Anlagenbänden dokumentiert worden, die allerdings so abgefasst wurden, dass sie autonom, d.h. ohne Kenntnis des zusammenfassenden Schlussberichtes (Band 1) und der übrigen Bände, gelesen und verstanden werden können.
Der vorliegende Band 4
DIE FLEXIBLE S-BAHN: NACHFRAGEORIENTIERTE FLEXIBILISIERUNG DES BEFÖRDERUNGSANGEBOTES – Ein neuer Zugang zur Szenarioanalyse alternativer Strategien ist dabei Grundsatzfragen mit strategischer Bedeutung aus dem o.g. Teilprojekt AP 200 (vgl. Abb. II) gewidmet.
Vorgelegt wird eine wissenschaftliche Untersuchung zur Abschätzung verkehrlicher und wirtschaftlicher Innovationspotentiale alternativer Flexibilisierungs- und Automatisierungsstrategien.
Sie führt auf Erkenntnisse mit grundlegender Bedeutung bezüglich der Erfolgschancen dieser Strategien unter Berücksichtigung verschiedener Aus- baustufen der S-Bahn Dresden, d.h. von der heute vorzufindenden Situation bis zur Vision eines vollautomatischen Betriebes.
Dresden, im Dezember 2004 Prof. Dr.-Ing. habil. Dr. h. c. H. Strobel Projektleiter TU Dresden
Danksagung
Diese Arbeit entstand w¨ahrend meiner fast 3-j¨ahrigen T¨atigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl fur¨ Verkehrsleitsysteme und -prozessautomatisierung der TU Dresden im Rahmen des vom BMBF gef¨orderten Leitprojektes intermobil Region Dres- den (BMBF-F¨orderkennzeichen: 19 B 9907A 8). All denjenigen, die in dieser Zeit zur Schaffung gedeihlicher Rahmenbedingungen fur¨ das Gelingen dieser Arbeit beitrugen, sei herzlich Dank gesagt. Meinem gesch¨atzten akademischen Lehrer, Herrn Prof. H. Strobel, der in mir das In- teresse fur¨ das Fachgebiet der automatischen und flexiblen Stadtschnellbahnen fruhzeitig¨ geweckt hat und durch dessen Engagement die Entstehung dieser Arbeit nach Abschluss meines Studiums uberhaupt¨ erst m¨oglich wurde, gilt besondere Wertsch¨atzung. Ich danke ihm fur¨ die nutzbringenden fachlichen Gespr¨ache ebenso wie fur¨ seine Bereitschaft mit der er mir auch in schwierigen Bearbeitungsphasen stets mit hilfreichem Rat zur Seite stand. Herrn Prof. J. Schutte¨ gebuhrt¨ Dank fur¨ seine wertvollen Anregungen und Hinwei- se bezuglich¨ der Betrachtungen zur Systemtechnik und Wirtschaftlichkeit des flexiblen Stadtschnellbahnbetriebs. Ein Dankeswort gilt auch Herrn Prof. D. Lohse fur¨ seine Vorschl¨age und kritischen Anmerkungen zu Fragen der Nachfragemodellierung. In diesem Zusammenhang war mir auch die enge Kooperation mit der PTV AG, Niederlassung Dresden, sehr wertvoll. In dankenswerter Weise begleitete sie die sehr komplexen objektkonkreten Fallstudien. Daruber¨ hinaus danke ich Herrn Dr. J. Br¨oring, DB Systems GmbH Frankfurt/Main, der durch seine konstruktive Kritik und wertvollen Hinweise den praktischen Teil der Arbeit positiv beeinflusste. Inhaltsverzeichnis
1Einfuhrung¨ 1 1.1Motivation...... 1 1.2 Internationale Erfahrungen und das Ziel dieser Arbeit ...... 2 1.3 Der gew¨ahlte L¨osungszugang...... 6 1.4 Resultate mit grunds¨atzlicherBedeutung...... 6
TEIL I: DER INTERNATIONALE ENTWICKLUNGSSTAND 8
2 Automatische (fahrzeugfuhrerlose)¨ Stadtschnellbahnen mit flexibler Betriebsfuhrung¨ 9 2.1KlassifizierungautomatischerBahnen...... 9 2.2 Nachfrageorientierte Angebotsflexibilisierung bei AGT-Systemen . . . . 12 2.3Schlussfolgerungen...... 21
3 Nachfrageorientierter Entwurf flexibler Bef¨orderungsangebote: Analyse bisher bekannt gewordener Verfahren 23 3.1ZielderSchrifttumsanalyse...... 23 3.2 Nutzung des Verkehrswirkungsgrades als Optimierungskriterium . . . . 28 3.3 Berucksichtigung¨ der Ruckkopplung¨ zwischen Angebot und Nachfrage . 29 3.4 Beachtung zeitlicher und r¨aumlicher Nachfrageschwankungen ...... 33 3.5 Fazit und Pr¨azisierungderAufgabenstellung...... 36
TEIL II: EIN NEUES VERFAHREN ZUR NACHFRAGEABHANGIGEN¨ OPTIMIERUNG DES VERKEHRSANGEBOTES FLEXIBLER STADTSCHNELLBAHNEN – NOVAflex-S 38
4DasvorgeschlageneL¨osungskonzept 39 4.1 Die Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes als Optimierungsaufgabe 40 4.2 Das zweistufige Bearbeitungskonzept: Nutzung aggregierter und detaillierter Nachfragemodelle ...... 45
i Inhaltsverzeichnis
5 Gewinnung eines expliziten und transparenten Ursache-Wirkungs- Zusammenhanges zwischen Angebot und Nachfrage: Nutzbarmachung eines aggregierten Modellbildungszuganges 48 5.1 Die zeitlich-r¨aumliche Aufteilung des Verkehrsaufkommens ...... 49 5.2 Die modale Aufteilung der aggregierten Verkehrsstr¨ome...... 50 5.3ApproximationderberechnetenModal-Split-Werte...... 63 5.4 Die Verkehrsstromst¨arke im h¨ochstbelasteten Streckenabschnitt . . . . . 72 5.5 Das gewonnene Grobmodell fur¨ den Zusammenhang zwischenAngebotundNachfrage...... 80
6 Entwurf einer optimalen und nachfrageabh¨angigen Zeitplansteuerung fur¨ das Bef¨orderungsangebot 82 6.1 Bestimmung optimaler Zugfolgezeiten ...... 82 6.2 Kombination von zeitlicher und r¨aumlicher Angebotsflexibilisierung . . . 93
7 Ein neues Verfahren zur Wirkungsabsch¨atzung der entworfenen Zeitplansteuerung 97 7.1Verkehrlich-betrieblicheEffekte...... 97 7.2 Energetische und ¨okologischeWirkungen...... 112 7.3PersonalmehrbedarfversusVollautomatisierung...... 121 7.4WirtschaftlichkeitdesBetriebes...... 122
TEIL III: FALLSTUDIE FLEXIBLE S-BAHN DRESDEN“: ” ERPROBUNG DES VORGESCHLAGENEN VERFAHRENS (NOVAflex-S) 128
8 Nutzung von NOVAflex-S zur Trendanalyse eines breiten Spektrums von Flexibilisierungs- und Automatisierungsszenarien 129 8.1 Raumstruktur und Verkehrsaufkommen eines exemplarischen mittleren Ballungsraumes vom Typ DRESDEN ...... 130 8.2 Bedingungen fur¨ die nachfrageabh¨angige Steuerbarkeit des Bef¨orderungsangebotes...... 134 8.3 Die verkehrlichen und wirtschaftlichen Wirkungen einer optimalen Angebotsflexibilisierung ...... 138 8.4 Nachfrageabh¨angige Steuerbarkeit des Betriebs bei ver¨andertenRaumstrukturen...... 162
ii Inhaltsverzeichnis
9 Uberpr¨ ufung¨ der Genauigkeit des vorgeschlagenen Verfahrens NOVAflex-S und Wirkungsanalyse ausgew¨ahlter Flexibilisierungs- Planf¨alle fur¨ die S-Bahn Dresden 164 9.1 Definition der zu untersuchenden Betriebsf¨alle...... 165 9.2 Das verwendete Komplexmodell zur Genauigkeitsuberpr¨ ufung...... ¨ 168 9.3GrenzenderraumstrukturellenVergleichbarkeit...... 170 9.4 Optimierungsergebnisse und daraus resultierende Bedingungen fur¨ eine nachfrageabh¨angige Steuerbarkeit des Bef¨orderungsangebotes . . . 171 9.5 Bef¨orderungsangebot der zum Vergleich herangezogenen Szenarien . . . 176 9.6 Vergleich der mit NOVAflex-S und VISEVA/VISUM vorausgesagten verkehrlichenundwirtschaftlichenWirkungen...... 182 9.7 Resumee...... ¨ 199
10 Schlussfolgerungen fur¨ die Schaffung eines Verfahrens zur Flexiblen Angebotsplanung“ 200 ” 10.1 Verbindung von aggregierter und detaillierter Nachfragemodellierung . . 201 10.2DasvorgeschlagenezweistufigeEntwurfsverfahren...... 201 10.3 Anwendung des vorgeschlagenen Verfahrens zur Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotesderS-BahnDresden...... 206 10.4DasentwickelteSoftware-WerkzeugALFa...... 212
11 Zusammenfassung 220 11.1MethodischeErkenntnisse...... 220 11.2 Praxisrelevante Erkenntnisse zu den M¨oglichkeiten und Grenzen der Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes...... 222
Literaturverzeichnis 224
ANHANG A-1
AErg¨anzende Erl¨auterungen zum verwendeten Grobmodell A-1 A.1Verkehrserzeugungund-verteilung...... A-1 A.2 Modale Aufteilung der aggregierten Verkehrsstr¨ome...... A-4
B Entwicklung flexibler Fahrpl¨ane A-11 B.1 Eingangsgr¨oßen...... A-11 B.2 Wahl geeigneter Verst¨arkerlinien zur r¨aumlichen Flexibilisierung . . . . A-14 B.3 Aufteilung der Fahrtenh¨aufigkeitaufeinzelneLinien...... A-17 B.4 Konstruktion des tageszeitabh¨angigenFahrplanes...... A-17
C Tabellarische Ubersichten¨ und Berechnungsergebnisse A-23
iii Kapitel 1
Einfuhrung¨
1.1 Motivation
Die heute bestehenden vollautomatischen Nahverkehrsbahnen, international als AGT (Au- tomated Guideway Transit 1)-Systemsbezeichnet, sind bekanntlich als Neubauvorhaben errichtet worden [21,52,58,61,86,108,120,133,163,174,197,232]. In Deutschland, wo tradi- tionell betriebene Stadt-, S- und U-Bahnen einen integralen Bestandteil ¨offentlicher Nah- verkehrssysteme bilden und eine weite Verbreitung besitzen, existiert ein nennenswerter Markt fur¨ Neubauprojekte nicht. Deshalb werden gegenw¨artig zwei Arbeitsrichtungen zur nachtr¨aglichen Automatisierung bestehender Stadtschnellbahnen untersucht:
1. Automatisierung bestehender U-Bahnen (Nurnberg,¨ Berlin, Frankfurt/Main): Die Umrustung¨ der U-Bahn-Linie 2 und der Neubau der Linie 3 in Nurnberg¨ laufen und die Er¨offnung des AGT-Betriebs ist fur¨ das Jahr 2006 geplant [123–127, 156, 169].
2. Automatisierung von S-Bahn-Linien der Deutschen Bahn AG, fur¨ die kompliziertere rechtliche und technische Rahmenbedingungen gelten. In mittleren Ballungsr¨aumen mit ca. 0,5 bis 0,8 Mio. Einwohnern k¨onnen diese Bahnen uberdies¨ nur ein Ange- bot mit geringer Attraktivit¨at, d.h. mit Taktzeiten zwischen 20 und 60 Minuten, bereitstellen (z.B. S-Bahn Dresden) [200].
Die Kernfrage, zu deren Beantwortung die vorliegende Arbeit beitragen will, lautet deshalb:
Kann durch nachtr¨agliche Automatisierung und Flexibilisierung dieser S-Bahnen eine deutliche Verbesserung der verkehrlichen Wirksamkeit und der Wirtschaftlichkeit des Betriebes gelingen?
1 Das Akronym AGT ist bereits im Jahr 1975 durch die Arbeit Automated Guideway Transit: An ” Assessment of PRT and Other New Systems“ des Office of Technology Assessment beim United States Congress als zusammenfassende Bezeichnung fur¨ fahrerlose, spurgefuhrte¨ Bahnen definiert und einge- fuhrt¨ worden [222]. Die erste umfassende Darstellung von AGT–Systemen wurde im Jahre 1982 mit der Monographie von H. Strobel vorgelegt [193].
1 Kapitel 1
1.2 Internationale Erfahrungen und das Ziel dieser Arbeit
Die Schaffung vollautomatischer (fahrer- und begleiterloser) Bahnen wird im Allgemeinen mit der Einfuhrung¨ innovativer, d.h. so genannter flexibler, Betriebsfuhrungsverfahren¨ ver- bunden. Die Automatisierung der Betriebsfuhrung¨ und die damit einhergehende Entkopp- lung von Fahr- und Dienstplanung erlauben es, den Betrieb nach folgenden Grunds¨atzen zu gestalten:
1. In den Schwachverkehrszeiten, d.h. in den fruhen¨ Morgen- und sp¨aten Abendstunden, wird die l¨angste Zugfolgezeit so kurz gew¨ahlt, dass die Wartezeit fur¨ den Fahrgast sehr klein ist und er den Fahrplan uberhaupt¨ nicht kennen muss. Wie anhand von Abb. 1.1 gezeigt wird, betr¨agt die l¨angste Zugfolgezeit des AGT-Systems VAL in Lille sechs Minuten. Andere Systeme lassen fur¨ die l¨angste Zugfolgezeit Werte von bis zu zehn Minuten zu (vgl. Abb. 2.8b und Abb. 2.8d in Kapitel 2).
2. W¨ahrend der morgendlichen und nachmitt¨aglichen Hauptverkehrszeit sowie tags- uber¨ wird das Verkehrsangebot bestm¨oglich der Verkehrsnachfrage angepasst. Wie Abb. 1.1 fur¨ das AGT-System in Lille zeigt, wird dabei die Zugfolgezeit schrittweise auf drei und zwei Minuten verkurzt¨ und erreicht w¨ahrend der absoluten Verkehrss- pitze kurzzeitig einen Wert von einer Minute. Anschließend wird mit abnehmendem Verkehrsaufkommen auch die Zugfolgezeit wieder verl¨angert.
Verkehrsaufkommen TS - Zugfolgezeit (Min.) (Anteil am Tageswert) 6
5 10%
4
3 5% 2
1
681012 14 16 18 20 22 24 Tageszeit
Abb. 1.1: Nachfrageorientierte (tageszeitabh¨angige) Angebotsflexibilisierung des Systems VAL in Lille [120]
Diese nachfrageorientierte Steuerung der Zugfolgezeit bewirkt – wie von Strobel in [196] erstmals gezeigt wurde – den entscheidenden wirtschaftlichen Erfolg der Auto- matisierung und Flexibilisierung der Betriebsfuhrung.¨ Sie fuhrt¨ zu einer hohen Auslastung der Fahrzeuge durch die Fahrg¨aste, was der so genannte Verkehrswirkungsgrad vl VA · s η = · 100 % = · 100 % (1.1) bl zl · CV
2 Kapitel 1 verdeutlicht. Dieser kennzeichnet das Verh¨altnis aus Verkehrsleistung vl (gemessen in der Zahl der Personenkilometer pro Streckenkilometer und Jahr) und Betriebsleistung bl (ge- messen in der Zahl der Platzkilometer 2 pro Streckenkilometer und Jahr) [112], das aus der Anzahl der Fahrg¨aste VA und deren mittlerer Bef¨orderungsweite s sowie der Fahrleistung zl (gemessen in der Zahl der Zugkilometer) und der Platzkapazit¨at CV der Fahrzeuge (gemessen in der Zahl der Sitz- und Stehpl¨atze pro Zug) bestimmt werden kann. Der Verkehrswirkungsgrad hat sich als besonders geeignet fur¨ die Kennzeichnung der verkehr- lichen und wirtschaftlichen Wirkungen einer nachfrageorientierten (tageszeitabh¨angigen) Angebotsflexibilisierung nach Abb. 1.1 erwiesen [196]. So liegt – wie Abb. 1.2 zeigt – der Verkehrswirkungsgrad fur¨ die besten deutschen Stadt-, S-, U-Bahnen bei 17 % bis 19 %. Die bei den vollautomatischen Bahnen nach Abb. 1.1 praktizierte nachfrageorientierte Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes er- m¨oglicht nach den bisher vorliegenden Erfahrungen eine sehr erhebliche Steigerung des Verkehrswirkungsgrades auf 25 % bis 34 % [174, 196, 197]. Fur¨ das System SKYTRAIN in Vancouver kann – wie Abb. 1.3 belegt – ein Verkehrswirkungsgrad von ca. 30 % als gesi- cherter Wert gelten 3.
η η Traditioneller Betrieb Flexibler nachfrageabhängiger Betrieb 17 bis 19% 24 bis 34%
(%) (%) 34% 30 31% 30 30% (Linie 1) 27% (Linie 1+2) 25% 20 20 17,8% 18,6% 17,2% ±1,4 ± 0,8 ±1,8
10 10 (Linie A) S-Bahn U-Bahn Stadtbahn VAL in Taipei VAL in Toulouse VAL in Lille U-Bahn Maggaly in Lyon { { { Beispiele aus Beispiel aus Beispiele aus franzö- deutschen Städten Taiwan sischen Städten
Abb. 1.2: Die Wirkung der nachfrageorientierten (tageszeitabh¨angigen) Flexibilisierung des Be- f¨orderungsangebotes auf die Erh¨ohung des Verkehrswirkungsgrades (vgl. [197])
Diese Wirkungsgradsteigerung hat – wie Abb. 1.4 belegt – auch positive Auswirkungen auf den gr¨oßten Kostenblock des Stadtschnellbahnbetriebes, d.h. auf die Aufwendungen fur¨ die Wartung und Instandhaltung der Fahrzeuge sowie der Streckeninfrastruktur und die Traktionsenergie (vgl. dazu Abb. 1.5). Dies wird plausibel, wenn man bedenkt, dass die Erh¨ohung des Verkehrswirkungsgrades unmittelbar aus dem verbesserten Verh¨altnis der nachgefragten zur angebotenen Platzkapazit¨at resultiert [197]. Die Bew¨altigung eines ge- gebenen Verkehrsaufkommens mit weniger Platzkilometern fuhrt¨ dazu, dass gleichermaßen
2 2 Fur¨ die Ermittlung der Platzkilometer sind Sitz- und Stehpl¨atze (4 Personen/m )zuberucksichtigen.¨ 3 eigene Analysen nach [7, 66, 67]
3 Kapitel 1
η SKYTRAIN in Vancouver 28% - 31%
(%) 30,8% 28,8% 29,6% 29,0% 30 27,9%
20
10
1993 19941995 1996 1999
Abb. 1.3: Verkehrswirkungsgrad des Systems SKYTRAIN in Vancouver
bk Wartung und Instandhaltung D 1,2 WI (ohne Gebäude und Grundstücke)
bkWF 1,0 B C 0,8 A
bkE
0,6 Fahrweg und 0,6 δ Streckenausrüstung WI=0,64 Treibkraftversorgung/ Energieverbrauch 0,4 0,4
δ δ =1,0 0,2 WF=0,96 0,2 E Fahrzeuge
20 40 60 80 100 120 20 40 60 80 100 120 bl - spezifische Betriebsleistung bl - spezifische Betriebsleistung (106 Platzkm/Streckenkm und Jahr) (106 Platzkm/Streckenkm und Jahr) (a) Wartungs- und Instandhaltungskosten (b) Kosten fur¨ Traktionsenergie
Abb. 1.4: Zusammenhang zwischen Betriebsleistung bl und den Betriebskosten bk bei deutschen U-Bahn-Systemen, Quelle: [197] weniger Drehgestell- und Tonnenkilometer und damit geringerer Verschleiß sowie niedrige- rer Energieverbrauch zu verzeichnen sind. Neben der verbesserten Wirtschaftlichkeit des Betriebes ergeben sich somit auch positive energetische und daraus resultierende ¨okologi- sche Wirkungen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass nicht die Einsparung von Fahrpersonal, sondern die Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes das Hauptziel der Automatisierung darstellt. So werden – wie Schutte¨ in [174] fur¨ die franz¨osischen AGT-Systeme zeigt – anstelle des nicht mehr ben¨otigten Fahrpersonals zus¨atzliche Ar- beitskr¨afte (so genannte agents de ligne“) fur¨ Dienstleistungsaufgaben (vor allem zur ” Kundenbetreuung sowie zur Erh¨ohung von Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung) einge- setzt [98, 196].
4 Kapitel 1
Traktionsenergieverbrauch ( 103 MWh/Streckenkm und Jahr ) (normiert auf mittleren Stationsabstand) 12 Kategorien für mittleren Stationsabstand: Hamburg, Mexico City, Hong-Kong 1,99 10 Berlin, München, Wien, Mailand Helsinki, Bukarest, London Lyon, Nürnberg, Lissabon, 8 Madrid, Paris, New York Prag 1,39 1,36 6 2,11 1,96 1,89 2,18 1,77 4 1,73 1,56 2,17 1,79 2,02 2 1,12 1,00 1,39 1,11 Mittlerer Stationsabstand - Referenzpunkt Londoner U-Bahn = 100% 0 50 100 150 200 250 300 bl - spezifische Betriebsleistung (106 Platzkm/Streckenkm und Jahr)
Abb. 1.5: Zusammenhang zwischen Betriebsleistung bl und dem Traktionsenergieverbrauch bei internationalen U-Bahn-Systemen, Quelle: eigene Analysen nach [219]
Unter Berucksichtigung¨ der hier skizzierten Erkenntnisse soll die oben formulierte Kern- frage und das daraus abzuleitende Ziel dieser Arbeit durch drei detaillierte Fragestellungen konkretisiert werden:
1. Unter welchen Rahmenbedingungen lassen sich die internatio- nalen Spitzenwerte des Verkehrswirkungsgrades nach Abb. 1.2 und Abb. 1.3 und die damit in Zusammenhang stehenden wirt- schaftlichen, energetischen und ¨okologischen Vorteile bei der nachtr¨aglichen Flexibilisierung und Automatisierung des Stadt- schnellbahnbetriebes in mittleren Ballungsr¨aumen erreichen? 2. Lassen sich mit der nachfrageorientierten Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes auch dann wirtschaftliche Vorteile er- zielen, wenn – im Gegensatz zu allen bisher neu gebauten AGT- Systemen – auf die Vollautomatisierung verzichtet wird, die be- kanntlich im S-Bahn-Bereich auf erhebliche technische und ju- ristische Realisierungsbarrieren st¨oßt? 3. Welche Besonderheiten sind hierbei fur¨ deutsche S-Bahnen zu beachten, fur¨ die spezielle wirtschaftliche Bedingungen in Ge- stalt des Trassenpreissystems gelten?
5 Kapitel 1
1.3 Der gew¨ahlte L¨osungszugang
Zur Beantwortung der so fixierten Fragestellungen wird zun¨achst im TEIL I (Kapitel 2 und 3) eine Analyse des internationalen Entwicklungsstandes in technischer und methodischer Hinsicht vorgenommen. Sie macht die bereits genannte Lucke¨ sichtbar, zu deren Schließung die vorliegende Arbeit beitragen will und pr¨azisiert die Aufgabenstellung. Hiervon ausgehend wird im TEIL II (Kapitel 4, 5, 6 und 7) eine neues Verfahren fur¨ die Szenarioanalyse flexibler Betriebsregime vorgestellt, das den Rahmenbedingungen beson- dere Beachtung schenkt, die in mittleren Ballungsr¨aumen anzutreffen sind. Dabei erfolgt zun¨achst die Erl¨auterung eines aggregierten Modellierungszuganges, mit dessen Hilfe die Absch¨atzung des Verkehrsaufkommens bei Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes sehr effizient m¨oglich wird. Darauf aufbauend wird eine neue nachfrageabh¨angige Steuerungs- strategie fur¨ das Bef¨orderungsangebot entworfen, die auf expliziten Gleichungen fur¨ die erforderliche Zugfolgezeit unter simultaner Berucksichtigung¨ des Ruckkopplungseffektes¨ von Angebot und Nachfrage basiert. Um die verkehrlichen, betrieblichen, energetischen, ¨okologischen und wirtschaftlichen Wirkungen der damit zu erstellenden (nachfrageorien- tierten) Betriebsszenarien abzusch¨atzen, wird schließlich ein aggregiertes Instrumentarium entwickelt. Der TEIL III der Arbeit (Kapitel 8, 9 und 10) widmet sich einer Fallstudie Flexible ” S-Bahn Dresden“. Unter Nutzung des vorgeschlagenen Modellierungskonzeptes wird zu- n¨achst anhand der in TEIL II eingefuhrten¨ Steuerungsstrategie der Entwurf nachfrage- abh¨angiger Betriebsfuhrungsszenarien¨ vorgenommen. Diese werden anschließend in ihrer Wirkung analysiert. Um die Verl¨asslichkeit der dabei mit dem aggregierten Modell ge- wonnenen Trendaussagen zu validieren, erfolgt ein Vergleich der hierbei gewonnenen Re- sultate mit den Ergebnissen einer sehr detaillierten und genauen, aber sehr aufw¨andigen Nutzrechnung mit eingefuhrten¨ Werkzeugen der Verkehrsplanung [59, 114–116, 149, 171]. Abschließend wird in Kapitel 10 ein kombiniertes zweistufiges Verfahren fur¨ die Planung flexibler Betriebsregime skizziert, welches die Vorteile der aggregierten und der komplexen Modellbildung miteinander vereint.
1.4 Resultate mit grunds¨atzlicher Bedeutung
Die Erkenntnisse der Arbeit, denen nach Ansicht des Autors eine grunds¨atzliche Bedeutung zukommt, lassen sich in funf¨ Feststellungen zusammenfassen:
1. Die nachgewiesenen verkehrlichen und wirtschaftlichen Erfolge der in Abb. 1.2 und Abb. 1.3 genannten fahrerlosen Stadtschnellbahnen lassen sich unter den Bedingun- gen mittlerer Ballungsr¨aume, z.B. der S-Bahn des Dresdner Ballungsraumes, wieder- holen.
2. Dies gelingt – in etwas eingeschr¨anktem Maße – auch bei einer Beibehaltung der manuellen Fahrzeugfuhrung,¨ d.h. bei Verzicht auf die Vollautomatisierung.
6 Kapitel 1
3. Der empirisch nachgewiesene Verkehrswirkungsgrad von mehr als 30 % wird durch die theoretischen Untersuchungen best¨atigt und kann als ein robuster oberer Grenzwert unabh¨angig vom Verkehrsaufkommen angesehen werden.
4. Voraussetzung fur¨ den verkehrlichen und wirtschaftlichen Erfolg bildet jedoch der Ubergang¨ zu kleineren Fahrzeugen; unter den Bedingungen des Dresdner Ballungs- raumes mit h¨ochstens 300 Pl¨atzen pro Zug.
5. Eine generelle wirtschaftliche Realisierungsbarriere stellt allerdings das derzeit gul-¨ tige lineare Trassenpreissystem dar, welches durch die Zugkilometer-basierte Entgel- tabrechnung einen dramatischen Anstieg der Trassengebuhren¨ und damit auch der Bestellerentgelte zur Folge h¨atte.
Unerl¨asslich ist deshalb eine Anpassung des Trassenpreissystems, die auch bei anderen Neuerungen, wie dem Karlsruher Modell und der City-Bahn Chemnitz [32, 73], praktisch umgesetzt wurde. Alternative Trassenpreissysteme, die statt des Zugkilometer einen auf die gefahrenen Tonnenkilometer bezogenen Entgeltsatz erheben, sind schon heute bei ein- zelnen Infrastrukturbetreibern in Deutschland zu finden [228] und in einigen europ¨aischen Staaten generell ublich¨ [159]. Die technologische Innovation des flexiblen Stadtschnellbahn- betriebes ist daher von einer entsprechenden wirtschaftlichen Innovation zu flankieren. Dann gelingt es eine so genannte WIN-WIN“-Situation zu schaffen bei der sowohl das ” Verkehrsunternehmen als auch der Infrastrukturbetreiber einen wirtschaftlichen Nutzen erzielen, der sonst nicht erreichbar w¨are. Den hier vorab genannten Resultaten kommt nach Auffassung des Autors eine stra- tegische Bedeutung bei der Beantwortung der eingangs formulierten Kernfragen zu. Fur¨ eine detaillierte und umfassendere Ergebnisdarstellung wird auf die Zusammenfassung der Arbeit in Kapitel 11 verwiesen.
7 Teil I
DER INTERNATIONALE ENTWICKLUNGSSTAND Kapitel 2
Automatische (fahrzeugfuhrerlose)¨ Stadtschnellbahnen mit flexibler Betriebsfuhrung¨
2.1 Klassifizierung automatischer Bahnen
Hinsichtlich der Einteilung automatischer Bahnen (AGT-Systeme) wird von Strobel in [193] in Anlehnung an US-amerikanische Studien des Office of Technology Assessment (OTA) [222] eine Unterscheidung nach der Komplexit¨at der Netzstruktur, der Fahrzeug- gr¨oße und des gewunschten¨ Betriebsmodus in drei Kategorien vorgeschlagen:
1. PRT (Personal Rapid Transit)-Systeme mit einer Fahrzeugkapazit¨at, die dem priva- ten Automobil entspricht (max. zehn Pl¨atze) und deren komplexe Netzstruktur eine umsteigefreie Start-Ziel-Bef¨orderung garantieren soll. Die Zugfolgezeiten liegen hier- bei im Bereich zwischen einer und drei Sekunden, sodass diese Systeme mit Offline- Stationen betrieben werden.
2. GRT (Group Rapid Transit)-Systeme, die eine Fahrzeugkapazit¨at zwischen zehn und 50 Pl¨atzen aufweisen und mit Zugfolgezeiten bis maximal 60 Sekunden betrie- ben werden. Durch die geringere Komplexit¨at der Netzstruktur im Vergleich zum PRT-Konzept existieren weniger alternative Routen, sodass eine direkte Start-Ziel- Bef¨orderung nur teilweise m¨oglich ist.
3. SLT (Shuttle-Loop/Singe-Line Transit)-Systeme, die Fahrzeuge mit mehr als 100 Pl¨atzen aufweisen und deren Netzstruktur entweder als einzelne Strecke (Single-Line) oder als Ringbahn (Shuttle-Loop) ausgepr¨agt ist. Die Zugfolgezeit betr¨agt mehr als 60 Sekunden und die Stationen liegen direkt im Fahrweg (Online-Stationen).
Die technische Entwicklung von PRT-Systemen hat sich nicht massenhaft durchsetzen k¨onnen [189]. Die erfolgreiche praktische Anwendung des GRT-Konzeptes beschr¨ankt sich auf eine wenige Systeme in speziellen Einsatzumgebungen, z.B. auf Flugh¨afen (Atlanta, Chicago, Dallas-Fort Worth) [189, 193]. Das SLT-Konzept hingegen hat seine praktische Anwendbarkeit und hohe verkehrliche Wirksamkeit seit der Er¨offnung des vollautomatischen und fahrerlosen Systems in Lille,
9 Kapitel 2
Frankreich, weltweit unter Beweis gestellt. Durch die flexible Betriebsfuhrung¨ (vgl. auch Kapitel 1) sind derartige Systeme in der Lage, eine hohe Wirtschaftlichkeit zu erreichen [43, 180, 196]. Eine alternative Einteilung der AGT-Systeme auf der Basis ihres Einsatzortes bzw. -zweckes l¨asst die vielseitige Verwendbarkeit dieses automatischen Verkehrsmittels deutlich werden. Im Wesentlichen haben sich AGT-Systeme heute in vier Anwendungsbereichen fur¨ die Personenbef¨orderung durchgesetzt [180, 189, 193]:
1. Als Stadtschnellbahnen mit innerst¨adtischer Erschließungsfunktion und somit als integraler Bestandteil ¨offentlicher Nahverkehrsnetze,
2. auf Flugh¨afen,
3. in Freizeitzentren und
4. als institutionell betriebene Bahnen (z.B. in Krankenh¨ausern, Beh¨orden oder Uni- versit¨aten)
Da sich diese Arbeit in erster Linie mit Stadtschnellbahnen befasst, wird auf die an- deren drei Anwendungsgebiete an dieser Stelle nur kurz eingegangen, insbesondere da sie in der Regel keine Verbindungsfunktion im Sinne ¨offentlicher Nahverkehrsmittel wahrneh- men. Automatische Bahnen bilden mittlerweile einen festen Bestandteil der Infrastruktur sehr großer Flugh¨afen mit mehreren Terminals, die durch derartige Bahnen untereinan- der verbunden sind. Bei gr¨oßeren Erweiterungen bestehender Flugh¨afen (Terminalneubau) wird heute in der Regel gleichzeitig eine entsprechende vollautomatische Bahn als Shuttle- Service mit errichtet [151]. Der Wirkungsbereich dieser Bahnen beschr¨ankt sich fast aus- schießlich auf die Bef¨orderung von Personen innerhalb des Flughafengel¨andes. In einigen Ausnahmef¨allen fungieren sie auch als Zubringer fur¨ einen Flughafen. Beispielhaft sei hier auf das System Orly-VAL in Paris verwiesen [91]. Die Verbreitung automatischer Bahnen in Freizeitzentren erreicht heute eine ¨ahnliche Dimension wie etwa auf Flugh¨afen [189]. Eine gewisse Sonderstellung nehmen automatische Bahnen bei privaten oder ¨offentlichen Institutionen ein, wobei sie in der Regel entfernt gelegene Geb¨audekomplexe miteinander verbinden. Beispielsweise werden in sehr großen Krankenh¨ausern solche Bahnen eingesetzt. Ebenfalls Verbreitung gefunden haben automatische Bahnen innerhalb von Universit¨aten oder Forschungseinrichtungen [15, 189]. Vollautomatische Stadtschnellbahnen sind durch ihre vergleichsweise einfache Netz- struktur, Zugfolgezeiten mit mehr als 60 Sekunden und Fahrzeugen mit mehr als 100 Pl¨atzen eindeutig in die Klasse der SLT-Systeme einzuordnen. Demgegenuber¨ sind die AGT-Systeme auf Flugh¨afen, in Freizeitzentren und institutionellen Einrichtungen je nach Fahrzeugkonzept entweder als SLT- oder GRT-System anzusehen [99, 151]. Die Bezeichnung eines Bahnsystems als AGT umfasst in ihrer ursprunglichen¨ Form [222] nur vollautomatische, d.h. fahrer- und begleiterlose Bahnen. Vielfach hat sich mitt- lerweile jedoch im Zusammenhang mit der Automatisierung von Schienenverkehrssystemen
10 Kapitel 2 eine differenziertere Einteilung bezuglich¨ des Automatisierungsgrades der Fahrzeugfuhrung¨ durchgesetzt. Prinzipiell lassen sich drei Klassen von Systemen unterscheiden [43, 44, 93]:
1. Fahrerbesetzter Betrieb: Die Fahrzeuge sind mit einer automatischen Fahr- und Bremssteuerung ausgerustet.¨ In der Regel gibt der Fahrer nur noch aktiv den Ab- fahrbefehl und verbleibt an der Spitze des Zuges. Beispiel hierfur¨ sind u.a. die U-Bahnen in Ankara und Bangkok [215]. Diese Betriebsform wird in der jungeren¨ Literatur [43, 93] als STO (Semi-Automated-Train-Operation) bezeichnet.
2. DTO (Driverless-Train-Operation): Vollautomatischer und fahrerloser Betrieb, bei dem jeder Zug jedoch noch mit Begleitpersonal besetzt ist, welches z.B. aktiv fur¨ die Uberwachung¨ des Fahrweges und des Einfahrvorganges in den Bahnhof sowie Serviceaufgaben zust¨andig ist. Weltweit wird dieses Art des Betriebes in London (Docklands Light Rail), Toronto (Scarborough Rapid Transit) und mehreren japa- nischen Systemen praktiziert [131].
3. MTO (Manless-Train-Operation): Vollautomatischer sowie fahrer- und begleiterlo- ser Betrieb, der vollst¨andig aus einer zentralen Leitstelle gesteuert wird. Ublicher-¨ weise befindet sich kein Personal an Bord des Zuges, wobei jedoch wanderndes Ser- vicepersonal, welches in der Regel ausschließlich zur Fahrgastbetreuung (in Notsitua- tionen oder im Falle von Betriebsst¨orungen auch als Fahrpersonal) eingesetzt wird, den Zug begleiten kann. Fur¨ diese Betriebsform findet sich auch das Akronym UTO (Unattended-Train-Operation [93] oder Unmanned-Train-Operation [43]) in der Li- teratur.
Sofern man die drei Unterscheidungsmerkmale – Automatisierungsgrad, Einsatzort und Netzkomplexit¨at/Fahrzeuggr¨oße – automatischer Bahnen zusammenfasst, ergibt sich die in Abb. 2.1 dargestellte Systematisierung. Gegenstand dieser Arbeit bilden die in die SLT-Kategorie einzuordnenden Stadtschnell- bahnen. Fur¨ eine Ubersicht¨ existierender Bahnen der PRT- und GRT-Kategorie sei auf die umfangreiche Literatur zu diesem Thema verwiesen [188,189,193]. Auf Grund der extrem kurzen Zugfolgezeiten im PRT- und GRT-Konzept existieren solche Systeme allerdings nur in der Betriebsform MTO. Da die Frage nach der Grenze einer Flexibilisierung der Betriebsfuhrung¨ bei manueller Fahrzeugfuhrung¨ Bestandteil dieser Arbeit ist, wurde auch der manuelle Fahrbetrieb in die Abb. 2.1 aufgenommen. Hinsichtlich des notwendigen Arbeitskr¨aftedarfs fur¨ die Fahr- zeugfuhrung¨ besteht dabei allerdings zu den Automatisierungsstufen DTO und STO kein Unterschied, da in jedem Falle der Zug mit Fahr- oder Begleitpersonal besetzt sein muss.
11 Kapitel 2
Fahrzeugkonzept Netzkomplexität Gegenstand dieser Arbeit PRT GRT Automatisierungsgrad S der Fahrzeugführung ell Stadtschnell- bahn
auf Flughäfen
in Freizeit- zentren
institutionell betrieben
AGT-Systeme Einsatzbereich nach Def. OTA
Abb. 2.1: Systematisierung automatischer Bahnsysteme nach der Komplexit¨at der Netzstruktur, dem Einsatzgebiet und dem Automatisierungsgrad der Fahrzeugfuhrung¨
2.2 Nachfrageorientierte Angebotsflexibilisierung bei AGT-Systemen
Im folgenden Kapitel werden die existierenden AGT-Systeme, insbesondere Stadtschnell- bahnen, kurz vorgestellt, wobei im Sinne des Untersuchungsgegenstandes dieser Arbeit vor allem die Betriebsfuhrungstechnologie¨ (Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes) im Vordergrund steht. Die erste automatische Bahn, die Teil eines ¨offentlichen Nahverkehrsnetzes ist, wur- de 1981 in Kobe mit der Port-Island-Line (Portliner) errichtet. Die L¨ange dieser Linie betr¨agt nur 6,4 km, sodass die verkehrliche Wirksamkeit bezuglich¨ eines hohen Fahrgast- aufkommens a priori eingeschr¨ankt ist. Das Bef¨orderungsangebot dieser Bahn wird, ebenso wie die gleichfalls in Kobe betriebene Rokko-Island-Line (Rokkoliner), in gewissen Grenzen flexibel gestaltet (vgl. Abb. 2.2).
TS - Zugfolgezeit (Min.) TS - Zugfolgezeit (Min.) 10 10 9 9 8 8 7 7 6 6 5 5 4 4 3 3 2 2 1 1 0 0 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 (a) Rokkoliner in Kobe [100] (b) Portliner in Kobe [100]
Abb. 2.2: Tageszeitabh¨angige Flexibilisierung der Zugfolgezeit der AGT-Systeme in Kobe
12 Kapitel 2
Die erste vollautomatische und fahrerlose Bahn, die als bedeutender Kernbestandteil eines Nahverkehrsnetzes angesehen werden kann, ist die 1983 in Lille er¨offnete VAL-Linie 1, die mittlerweile mehrmals erweitert und auch um eine zweite Linie erg¨anzt worden ist. Sie gilt bekanntermaßen als erfolgreichste automatische und flexibel betriebene Bahn weltweit (vgl. dazu auch Ausfuhrungen¨ in Kapitel 1). Die tageszeitabh¨angige flexible Anpassung des Bef¨orderungsangebotes durch Variation der Zugfolgezeit wird in Lille sehr konsequent praktiziert (vgl. Abb. 2.3 sowie [43, 44, 49, 50, 98, 105, 108, 238]).
TS - Zugfolgezeit (Min.) 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 (a) Fahrzeugtyp VAL 208 der Linie 2 (b) Station Quatre Cantons 1988 [163]
T - Zugfolgezeit (Min.) TS - Zugfolgezeit (Min.) S 10 10 9 9 8 8 7 7 6 6 5 5 4 4 3 3 2 2 1 1 0 0 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 (c) Station Quatre Cantons 1994 [91] (d) Station Quatre Cantons 1999 [91]
Abb. 2.3: Tageszeitabh¨angige Flexibilisierung der Zugfolgezeit des AGT-Systems in Lille
Fur¨ das System in Lille existieren neben der in [91, 163] empirisch belegten zeitlichen Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes auch Untersuchungen zur Umsetzung einer so genannten r¨aumlichen Flexibilisierung. Dabei erfolgt eine Anpassung des Bef¨orderungsan- gebotes in Abh¨angigkeit von der Schwankung des Aufkommens entlang der Strecke durch so genannte Kurzfahrten. Das Bef¨orderungsangebot wird dabei nicht mehr nur durch eine ein- zelne Linie, sondern durch Uberlagerung¨ zweier Linien bereitgestellt (vgl. Abb. 2.4). Zum Abbau unn¨otiger Platzkapazit¨at wird in den Außenbezirken der Region ein geringeres Be- f¨orderungsangebot als im Kernbereich des Ballungsraumes bereitgestellt. Von Mesghouni werden in [122] fur¨ die Umsetzung dieser r¨aumlichen Flexibilisierung die betriebstechno- logischen Maßnahmen der automatischen Zugsteuerung, d.h. die konkrete Gestaltung des Ein- und Aussetzvorganges des Verst¨arkerzuges, am Beispiel des Systems VAL in Lille
13 Kapitel 2
Linie B nur Vororte im Stadtgebiet Stadtgebiet Linie A in der gesamten Region
Stadt- zentrum
Abb. 2.4: R¨aumliche Flexibilisierung durch Linienuberlagerung,¨ Prinzipdarstellung nach [122] beschrieben. Die verkehrlich-betrieblichen Effekte (Rationalisierung und Einsparungspo- tenzial fur¨ ungenutzte Betriebsleistung) werden nicht diskutiert. Neben dem System in Lille wurde im Rahmen der durchgefuhrten¨ Analyse das Be- f¨orderungsangebot von acht weiteren automatischen Bahnen hinsichtlich seiner tageszeit- lichen Flexibilit¨at untersucht. Dabei wird deutlich, dass nicht alle vollautomatischen und fahrerlosen Bahnen die durch die Entkopplung von Fahr- und Dienstplanung m¨ogliche Flexibilisierung der Betriebsfuhrung¨ nutzen. Abb. 2.5b belegt, dass sich die im Jahr 2002 er¨offnete S-Bahn in Kopenhagen nur durch ein starres, wenngleich aus Fahrgastsicht sehr attraktives, Bef¨orderungsangebot auszeichnet. Ein ebenso starres Taktangebot wird von dem japanischen AGT-System in Yokohama umgesetzt (vgl. Abb. 2.5d).
TS - Zugfolgezeit (Min.) 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 (a) Fahrzeugtyp in Kopenhagen [52] (b) S-Bahn M1/M2 in Kopenhagen [52, 153]
TS - Zugfolgezeit (Min.) 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 (c) Fahrzeug Yokohama (d) Kanazawa-Seaside-Line in Yokohama [237]
Abb. 2.5: Verlauf der Zugfolgezeit der AGT-Systeme in Kopenhagen und Yokohama
14 Kapitel 2
Eine gewisse Flexibilit¨at des Bef¨orderungsangebotes weisen die Systeme in London (vgl. Abb. 2.6b) und in Kuala Lumpur (vgl. Abb. 2.7b) auf. Das AGT-System in Kuala Lumpur basiert im Wesentlichen auf dem SKYTRAIN-System in Vancouver und wurde gleichfalls von Bombardier gebaut. Es stellt heute mit mehr als 54 Mio. Fahrg¨asten pro Jahr (50 % des Personenverkehrsaufkommens im Schienenverkehr Kuala Lumpurs) das Ruckgrat¨ des ¨offentlichen Nahverkehrssystems dar [128]. Die tageszeitabh¨angige Flexibilisierung wird nicht sehr konsequent umgesetzt, jedoch findet die r¨aumliche Flexibilisierung Anwendung. Im Rahmen einer Studienreise nach Singapur und Kuala Lumpur konnte der Autor die vorhandenen Abstell- und Wendeanlagen (vgl. Abb. 2.7) der PUTRA-Linie besichtigen.
TS - Zugfolgezeit (Min.) 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 (a) Fahrzeug DLR [156] (b) Docklands Light Rail, nach [175]
Abb. 2.6: Tageszeitabh¨angige Flexibilisierung der Zugfolgezeit des AGT-Systems in London
Das volle Potenzial der flexiblen Betriebsfuhrung¨ nutzen nur die franz¨osischen Sys- teme und das japanische System Yurikamome (vgl. Abb. 2.3 und Abb. 2.8). So erbringt beispielsweise die flexibel betriebene U-Bahn-Linie D in Lyon eine um 56 % h¨ohere Fahr- tenanzahl pro Tag im Vergleich zur Linie A (414 statt 265 Zugpaare pro Tag) [58]. Dieses fur¨ den Fahrgast deutlich attraktivere Angebot verursacht jedoch nur eine 4 % h¨ohere spezifische Betriebsleistung (Platzkilometer/Streckenkilometer) auf dieser Linie. Das ka- nadische System SKYTRAIN in Vancouver nutzt ebenfalls die tageszeitabh¨angige Flexi- bilisierung [65–67]. Eine explizite Tagesganglinie der Zugfolgezeit wurde im Rahmen der Recherchearbeiten jedoch nicht gefunden. Neben der tageszeitlichen Flexibilisierung wird fur¨ eine Anpassung des Bef¨orderungsangebotes auch die Zugl¨ange variiert. Es kommen wahlweise je nach Fahrgastaufkommen und Tageszeit 2-, 4- oder 6-Wagen-Zuge¨ zum Ein- satz [60, 66]. Bei der Analyse des tageszeitabh¨angigen Zugfolgezeitprofils darf nicht vernachl¨assigt werden, dass sich dieses Angebot in der Regel an der Nachfrage orientieren muss (vgl. Abb. 1.1 fur¨ das System VAL in Lille). Eine alleinige Betrachtung der Zugfolgezeit ist da- her nicht voll aussagekr¨aftig und musste¨ im Sinne einer vollst¨andigen Darstellung noch um die jeweilige Tagesganglinie der Nachfrage erweitert werden 1. Nimmt man einen qua-
1 Der im Rahmen der Recherchearbeiten aufgenommene direkte Kontakt mit den Betreibern der ge- nannten Bahnen brachte jedoch keine Erkenntnisse hinsichtlich der Nachfragestruktur. Oftmals wurde in diesem Zusammenhang auf den betriebsinternen Charakter derartiger Daten verwiesen, sodass sie auch fur¨ Forschungszwecke nicht zur Verfugung¨ stehen.
15 Kapitel 2
TS - Zugfolgezeit (Min.) 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 (a) Fahrzeug Kuala Lumpur, Quelle: Autor (b) tageszeitabh¨angige Zugfolgezeit [148] AGT-System PUTRA" "
Setiawangsa
Stationen mit Wende- und Abstell- möglichkeit
Universität
(c) Liniennetz, nach [128] (d) Wendeanlage Setiawangsa, Quelle: Autor
Abb. 2.7: AGT-System in Kuala Lumpur (PUTRA-Linie); Tageszeitabh¨angige Flexibilisierung der Zugfolgezeit und Netzinfrastruktur zur r¨aumlichen Anpassung des Bef¨orderungsan- gebotes litativ ¨ahnlichen Verlauf der Tagesganglinie fur¨ alle Systeme nach Abb. 1.1 mit je einer markanten Aufkommensspitze am Vormittag und am Nachmittag an, so kann generell zwischen flexibel und nicht flexibel betriebenen automatischen Bahnen unterschieden wer- den. Ein derartiger qualitativer Verlauf des Verkehrsaufkommens kann fur¨ die Mehrzahl aller Nahverkehrssysteme als gesichert gelten [104, 154, 238]. Eine Ubersicht¨ der existierenden bzw. in Planung befindlichen automatischen Bahnen der SLT-Kategorie (und Einsatz als Stadtschnellbahn) enth¨alt Tab. C.2 in Anhang C auf Seite A-24 ff. Generell erkennt man, dass als g¨angige kurzeste¨ Zugfolgezeit automatischer Bahnen Werte zwischen 60 Sekunden und 180 Sekunden m¨oglich sind und in der Regel verh¨altnism¨aßig kleine Fahrzeuge, gemessen an der Einwohnerzahl der Stadt oder Regi- on, eingesetzt werden. Dies spricht also mehrheitlich fur¨ die Umsetzung der in Kapitel 1 beschriebenen Grundstrategie einer nachfrageorientierten Minimierung und Flexibilisie- rung der Zugfolgezeiten bei gleichzeitiger Nutzung kleiner Fahrzeuge anstelle des Einsatzes großer Fahrzeuge mit einem starren Takt [196, 197]. Jedoch hat die Analyse gezeigt, dass die einzelnen Bahnen dieses Konzept unterschiedlich konsequent umsetzen.
16 Kapitel 2
TS - Zugfolgezeit (Min.) 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 (a) Fahrzeugtyp VAL 208 in Rennes [191] (b) System VAL in Rennes [191]
TS - Zugfolgezeit (Min.) 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 (c) U-Bahn-Fahrzeug der Linie D in Lyon [96] (d) U-Bahn-Linie D (MAGGALY) in Lyon [208]
TS - Zugfolgezeit (Min.) 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 24:00 (e) Fahrzeug Yurikamome-Linie (f) Yurikamome-Linie in Tokyo [203]
Abb. 2.8: Tageszeitabh¨angige Flexibilisierung der Zugfolgezeit der AGT-Systeme in Rennes, Lyon und Tokyo
Zeevenhooven hebt in [238] fur¨ vollautomatische Verkehrssysteme neben den rein technischen Innovationen vor allem die M¨oglichkeit zur flexiblen Anpassung des Ange- botes an die Nachfrage hervor und sieht in dieser Anpassungsf¨ahigkeit einen Hauptvorteil gegenuber¨ konventionellen Systemen. In diesem Zusammenhang werden die Bedeutung des Verkehrswirkungsgrades, d.h. der mittleren Platzausnutzung, und dessen erhebliches Ver- besserungspotenzial durch die Flexibilisierung der Betriebsfuhrung¨ erstmals von Strobel anhand empirischer Analysen fur¨ die deutschen U-Bahn-Systeme in [196] gezeigt.
17 Kapitel 2
Strobel kommt dabei zu folgenden drei Schlussfolgerungen:
1. Traditionelle Automatisierungsstrategien, die lediglich eine Personalfreisetzung bei Beibehaltung bisher ublicher¨ Betriebsfuhrungskonzepte¨ zum Ziel haben, sind zu ver- werfen.
2. Eine zukunftsorientierte Automatisierungsstrategie besteht hingegen in der Flexibi- lisierung der Betriebsfuhrung¨ (vgl. Kapitel 1) und des Personaleinsatzes sowie
3. dem Ubergang¨ zu einem fahrerlosen Betrieb bei gleichzeitiger Umschulung des nicht mehr ben¨otigten Fahrpersonals fur¨ kundennahe Dienstleistungen.
Mehrere Autoren gehen in sehr prinzipieller Form auf die Verbesserung der Wirtschaft- lichkeit durch eine Anpassung des Bef¨orderungsangebotes an die Nachfrage ein. Allerdings findet sich kein direkter Zusammenhang zwischen der Betriebsfuhrungsstrategie¨ und dem verkehrlichen bzw. wirtschaftlichen Erfolg von AGT-Systemen. Es wird auf die Ubersichts-¨ arbeiten von Brezinski [21], David [38], Frey [58], Graham [65], Jarsaillon [91], Kehl [95], Kuhn¨ [98], Lancelot [105], Luca [118], Parkinson [142], Soulas [188] und Uster [223] verwiesen. Als Vorteile der automatischen Betriebsfuhrung¨ werden im Allgemeinen genannt:
1. h¨ohere Servicequalit¨at als im traditionellen Betrieb durch deutlich kurzere¨ Zugfolge- zeiten [98, 180],
2. h¨oheres Fahrgastaufkommen und damit mehr Fahrgeldeinnahmen [43, 98, 218],
3. identische oder h¨ohere Bef¨orderungskapazit¨at als konventionelle U-Bahnen [43, 98]
4. Senkung der Betriebskosten und Verbesserung der wirtschaftlichen Rentabilit¨at [43, 91, 118, 225],
5. spontane Anpassung der Bef¨orderungskapazit¨at bei unvorhergesehenen Nachfrage- schwankungen [98, 218],
6. Erh¨ohung der Fahrgastsicherheit, Verringerung von Vandalismus (Pr¨asenz von Ser- vicepersonal) [43, 98, 174, 196] und
7. hohe Verfugbarkeit¨ des Gesamtsystems [184].
Die genannten Punkte konzentrieren sich insbesondere auf die verkehrlich-betriebliche Wir- kung und geben nur ausgew¨ahlte Vorteile der automatisierten Betriebsfuhrung¨ wieder. Die angegebenen Literaturquellen beschr¨anken sich dabei vor allem auf Arbeiten jungeren¨ Da- tums. Prinzipiell sind die genannten Aspekte auch in ¨alteren Arbeiten der 1980er Jahre zu finden. In Bezug auf die betriebliche Flexibilit¨at der automatischen Bahnen wird mehrheitlich vor allem die ad hoc Reaktion (ereignisorientierte Flexibilisierung) auf betriebliche St¨o- rungen oder sprunghaft gestiegenes Verkehrsaufkommen hervorgehoben [50, 68, 91, 95, 98,
18 Kapitel 2
105, 218, 225]. Die erzielbaren Rationalisierungseffekte durch eine prinzipielle Anpassung des Angebotes an die Nachfrage im Tagesverlauf oder auch innerhalb des Streckennetzes werden nicht detailliert analysiert und hervorgehoben. In Bezug auf die betrieblichen Vorteile eines AGT-Systems kommt Shen in [177–184] zu folgenden Erkenntnissen:
• Fahrgastgewinne durch kurze Zugfolgezeiten,
• betriebliche Flexibilit¨at durch Variation der Zugfolgezeit und
• niedrigere Betriebskosten als Stadt-, U- und S-Bahnen.
Die von Shen durchgefuhrten¨ Studien basieren ausschließlich auf empirischen Daten der AGT-Systeme in Vancouver, Lille, Miami, Taipei und London. Außer der prinzipiellen Aussage, durch Variation der Zugfolgezeit eine h¨ohere betriebliche Flexibilit¨at zu erreichen, wird der damit verbundene Vorteil, d.h. die Reduktion von Uberkapazit¨ ¨at, nicht diskutiert. Kehl nennt in [94,95] im Zusammenhang mit der Betriebsfuhrung¨ und der Wirtschaft- lichkeit automatischer Bahnen prinzipiell folgende Kernaspekte:
• bessere Ausnutzung der Fahrzeugflotte (bzw. sogar Beschaffung einer kleineren An- zahl Fahrzeuge) durch
– Vergr¨oßerung der Bef¨orderungskapazit¨at des Zuges infolge der Einsparung der Fahrerkabine und – Verkurzung¨ der Wendezeiten am Linienende und somit Einsparung von Roll- material durch kurzere¨ Umlaufzeiten.
• allgemein bessere Anpassung des Fahrzeugeinsatzes an die tats¨achliche Nachfrage
Ein Zusammenhang zwischen der besseren Anpassung an die Nachfrage und den dadurch erzielbaren betrieblichen und ¨okonomischen Effekten wird nicht explizit aufgestellt. Fur¨ das kanadische System SKYTRAIN werden von Parkinson die Ergebnisse eines Vergleiches mit zw¨olf herk¨ommlichen Straßen- und Stadtbahnsystemen in [141, 142] vor- gestellt. Die gewonnenen Betriebserfahrungen weisen dabei die uberlegene¨ Effizienz des flexiblen Betriebes u.a. bezuglich¨ folgender Kennwerte nach:
• geringer spezifischer Energieverbrauch (Personenkilometer/kWh),
• geringere Abschreibungskosten fur¨ das Gesamtsystem,
• hohe Fahrzeugproduktivit¨at (Personenkilometer/Zugstunde) und
• hohes spezifisches Fahrgastaufkommen (Anzahl Fahrg¨aste/Streckenkilometer).
Ahnliche¨ Vergleiche von Kuhn¨ , der in [97] in allgemeiner Form Stadtbahn- und AGT- Systeme untersucht, best¨atigen diese Betriebserfahrungen.
19 Kapitel 2
Fur¨ die in Nurnberg¨ im Aus- bzw. Neubau befindlichen U-Bahn-Linie 2 und 3 liegen zwar naturgem¨aß noch keinerlei Betriebserfahrungen vor, jedoch hat die umfangreiche Vergleichsuntersuchung bezuglich¨ der Wirtschaftlichkeit und der betrieblichen Wirkung eines automatischen oder konventionellen Betriebs vier Erfolgsfaktoren identifiziert, die von Muller¨ in [123] mitgeteilt werden:
1. geringerer Fahrzeugbedarf (-40 % gegenuber¨ dem konventionellen Betrieb),
2. geringerer Energiebedarf,
3. h¨ohere Fahrgastzahlen und
4. weniger Personalbedarf.
In der Literatur wird als Folgewirkung des attraktiveren Gesamtsystems (kurzere¨ Zug- folgezeiten) eine Steigerung der Fahrgastzahlen angenommen, die bei der Systemkonfigu- ration (z.B. Bef¨orderungskapazit¨at) aber auch der Bewertung der Wirtschaftlichkeit des Betriebes nicht unberucksichtigt¨ bleiben darf [218]. Dabei weist allerdings auch eine Studie der UITP [218] auf die Schwierigkeiten hin, diese Fahrgaststeigerungen plausibel und mit vertretbarem Aufwand im Vorfeld zu prognostizieren. Das durch die deutliche Verbesserung des Bef¨orderungsangebotes auch tats¨achlich mit einem h¨oheren Fahrgastaufkommen ge- rechnet werden kann, belegen beispielhaft die Arbeiten von Kuhn¨ [98], Lardennois [108] und Marino [119]. Mehrheitlich wird in der Literatur (vgl. u.a. Fanoy [48], Frey [58], Friesen [60], Kehl [95], Lardennois [108] und Marino [119]) der Standpunkt vertreten, dass eine hohe Wirtschaftlichkeit der automatischen Betriebsfuhrung¨ maßgeblich durch Personal- einsparung erzielt wird. Auch bei dem AGT-System in Kopenhagen stand dieser Aspekt eindeutig im Vordergrund [62], obgleich die prinzipiell erzielbaren Effekte durch eine Flexi- bilisierung der Betriebsfuhrung¨ nicht genutzt werden (vgl. Abb. 2.5b). Daraus leitet sich die interessante – bisher nicht behandelte – Fragestellung nach der Grenze der Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes bei manueller Fahrzeugfuhrung¨ ab. Im Zusammenhang mit der Automatisierung der Betriebsfuhrung¨ wird oftmals sehr pauschal die M¨oglichkeit der Energieeinsparung genannt, wobei im Wesentlichen zwei Ur- sachen im Vordergrund gesehen werden:
• Einfuhrung¨ so genannter energieoptimaler Fahrweisen [78, 123, 225] und
• rechnergestutzte¨ Synchronisation der Anfahr- und Bremsvorg¨ange fur¨ eine hohe Bremsenergieruckspeisung¨ [225].
Da jedoch im Vergleich zum traditionellen Betrieb mit großen Fahrzeugen bekanntlich kleinere und damit auch leichtere Zuge¨ zum Einsatz kommen, muss diese Gewichtsre- duktion als solches schon zu einer Verringerung des Energieverbrauches fuhren.¨ Auf die- sen Aspekt wird in der Literatur jedoch nicht systematisch eingegangen. Die prinzipielle M¨oglichkeit, dass eine derartige Energieeinsparung (neben energieoptimaler Fahrweise und
20 Kapitel 2
Bremsenergieruckspeisung)¨ m¨oglich erscheint, wird von Strobel in [196] anhand des em- pirischen Zusammenhanges zwischen Betriebsleistung und Energiekosten aufgezeigt (vgl. Abb. 1.4b und Abb. 1.5). Neben den sehr knappen Erl¨auterungen zu den betrieblichen und verkehrlichen Vortei- len automatischer Bahnen werden die rein technischen Details sehr ausfuhrlich¨ behandelt. Beispielhaft seien in diesem Zusammenhang das rollende Material [77, 95, 143, 163], die Leit- und Sicherungstechnik [21, 38, 50, 55, 223], der Fahrweg und die Energieversorgung [143, 163, 202] sowie Sicherheits- und Verfugbarkeitsbetrachtungen¨ [38, 55–57, 93, 105, 223] genannt.
2.3 Schlussfolgerungen
Die zur Betriebstechnologie existierender automatischer Bahnen vorgelegte Analyse hat gezeigt, dass dem Aspekt der tageszeitabh¨angigen Flexibilisierung des Bef¨orderungsange- botes in der Literatur bisher wenig Beachtung geschenkt wird. Betriebliche Erfahrungen und technologische Details der Betriebsfuhrungsstrategie¨ werden in der Regel kaum mit- geteilt. Insbesondere in Hinblick auf die Zielstellung dieser Arbeit lassen sich somit drei Kernpunkte zusammenfassen:
1. Die Erh¨ohung der Platzausnutzung im Vergleich zum konventionellen Betrieb wird außer von Strobel [196,197], Schutte¨ [174] und der UITP [217] als maßgebender Erfolgsfaktor nicht erw¨ahnt. Statt einer formalen Beschreibung mittels eines messba- ren Kriteriums (z.B. Verkehrswirkungsgrad η), welches die Anpassung von Angebot und Nachfrage beschreibt, finden sich in der Literatur nur verbale und oft sehr un- scharfe Aussagen, ohne eine analytische Darstellung zur Erh¨ohung oder gezielten Maximierung des Platzausnutzungsgrades.
2. Hinsichtlich des Energiebedarfes gilt die Frage zu kl¨aren, ob die Energiebilanz eines traditionellen Betriebes mit großen und schweren Fahrzeugen, die vergleichsweise selten verkehren, durch h¨aufigeres Fahren mit kleineren und leichteren Fahrzeugen verbessert wird. Aus der Reduktion der Fahrzeugmasse folgt fur¨ eine einzelne Zug- fahrt unmittelbar ein niedrigerer Energieverbrauch. Ob dieser Effekt auch in der Summe aller Zugfahrten pro Tag eintritt, ist zu zeigen.
3. Uberhaupt¨ nicht untersucht wurden bisher die folgenden Fragen:
(a) Unter welchen Bedingungen ist eine Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes auch bei Beibehaltung der manuellen Fahrzeugfuhrung¨ m¨oglich? (b) In welchem Umfang steigen die Aufwendungen fur¨ zus¨atzliches Fahrpersonal und k¨onnen diese unter Umst¨anden durch Rationalisierungseffekte infolge der Einsparung von Betriebsleistung kompensiert werden?
21 Kapitel 2
Hinsichtlich der Anpassung des Bef¨orderungsangebotes an die Nachfrage lassen sich nach Abb. 2.9 bei einer Variation der Zugfolgezeit TS oder der Fahrzeuggr¨oße CV sowohl in zeitlicher als auch in r¨aumlicher Dimension vier Varianten zur Flexibilisierung unter- scheiden. Im praktischen Betrieb treten auch Mischformen dieser vier Varianten auf z.B. die Verbindung von zeitlicher und r¨aumlicher Flexibilisierung des Systems VAL in Lille (vgl. Abb. 1.1 und [122]).
Flexibilisierung des Beförderungsangebotes durch Variation der
Zugfolgezeit TS Fahrzeuggröße CV
TS (t) CV (t) Doppeltraktion zur Hauptverkehrszeit
Einfachtraktion zeitlich zur Nebenverkehrszeit
Tageszeit Tageszeit
TS Vororte doppelte Fahrzeug- Vororte kapazität im Kernnetz
Wirkungsbereich Stadtgebiet Stadtgebiet
Vororte Linie B Stadtgebiet Tageszeit Stadt- Zugfolgezeit zentrum Linien A+B Zugfolgezeit räumlich nur Linie A Stadt- zentrum einfache Fahrzeugkapazität in den Vororten
Abb. 2.9: Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes – Systematisierung betrieblicher M¨oglich- keiten
Fur¨ eine sehr detaillierte und umfassende Darstellung zur Flexibilisierung verschie- denster Angebotsmerkmale wird auch auf die Arbeiten von Krones¨ [104], Pins [146] und Pudenz [150] verwiesen. In dieser Arbeit soll das Hauptaugenmerk auf die zeitliche und r¨aumliche Flexibilisierung der Zugfolgezeit gerichtet werden.
22 Kapitel 3
Nachfrageorientierter Entwurf flexibler Bef¨orderungsangebote: Analyse bisher bekannt gewordener Verfahren
3.1 Ziel der Schrifttumsanalyse
Die angestrebte Zielstellung dieser Arbeit erfordert Methoden zur L¨osung folgender Auf- gabenstellung:
• Gegeben sind ein Stadtschnellbahnsystem, im einfachsten Fall in Form einer Durch-
messerlinie nach Abb. 2.4, mit einer entsprechenden Streckenl¨ange LS sowie die Raum- und Verkehrsnetzstrukturen und die demographischen Rahmenbedingungen des zu bedienenden Stadtschnellbahnkorridors und des zugeh¨origen Ballungsgebietes.
• Gesucht wird fur¨ ein derartiges Stadtschnellbahnsystem ein tageszeitlich und r¨aum-
lich flexibilisiertes Bef¨orderungsangebot – gekennzeichnet durch die Zugfolgezeit TS (vgl. Abb. 1.1, Abb. 2.3, Abb. 2.8) –, welches sich bestm¨oglich der aus diesem Angebot resultierenden Nachfrage anpasst, sodass der Verkehrswirkungsgrad nach Gl. (1.1) maximiert wird: vl η → = bl MAX (3.1)
Da Angebot und Nachfrage sich jedoch wechselseitig bedingen, kann ein Dimensio- nierungsvorgang nicht als reine Anpassung des Angebotes an eine vorgegebene (fixierte) Nachfrage betrieben werden. Vielmehr ist die Wirkung, die ein ver¨andertes Angebot auf die Nachfrage ausubt,¨ zu beachten. Abb. 3.1 veranschaulicht, dass hierbei also ein sehr kom- plizierter Ruckkopplungsprozess¨ zwischen Angebot und Nachfrage, d.h. ein so genanntes Henne-Ei-Problem, vorliegt. Dies ergibt sich aus folgendem Sachverhalt:
1. Die Verkehrsnachfrage, d.h. das Verkehrsaufkommen in seiner zeitlichen und r¨aumli- chen Auspr¨agung, kann naturgem¨aß nur dann berechnet werden, wenn ein konkretes Angebot, d.h. ein Fahrplan mit entsprechenden Zugfolgezeiten, vorgegeben wird.
23 Kapitel 3
Rahmenbedingungen (Raum-, Siedlungs- und Verkehrsnetzstruktur, Demographie) veränderte Nachfrage (Änderung der zeitlichen und räumlichen Ausprägung) durch Nachfrageberechnung verändertes Angebot (anhand eines gegebenen Beförderungsangebotes)
Anpassung des Beförderungsangebotes verändertes Angebot (anhand einer gegebenen Nachfrage) (z.B. tageszeitabhängige Zugfolgezeiten) durch veränderte Nachfrage
Abb. 3.1: Das Henne-Ei-Problem der nachfrageorientierten Optimierung des Bef¨orderungsan- gebotes
2. Benutzt man in einem nachfolgenden Schritt diese ermittelte Verkehrsnachfrage, um
die Zugfolgezeiten TS(t)inAbh¨angigkeit von der Tageszeit zu flexibilisieren (vgl. Abb. 1.1, Abb. 2.3, Abb. 2.8), so kann sich diese Nachfrage ver¨andern. Dies muss wiederum eine Optimierung des Bef¨orderungsangebotes nach sich ziehen, da ande- renfalls inhaltliche Widerspruche¨ auftreten.
Zus¨atzlich erschwert wird die L¨osung dieser Problemstellung durch die hohe Komple- xit¨at der Nachfragestruktur, was Abb. 3.2 verdeutlicht. Die dreidimensionale Darstellung zeigt fur¨ die gegenw¨artige Situation die Verkehrsstromst¨arke VAS der Dresdner S-Bahn- Linie S1 von Meißen nach Sch¨ona uber¨ dem Streckenverlauf x und der Tageszeit t.Beson- ders markant sind der Unterschied in stadt- bzw. landw¨artiger Richtung in Abh¨angigkeit von der Tageszeit und die r¨aumlich zwischen dem Zentrumsbereich und den Außenbezirken der S-Bahn-Linie auftretenden Nachfrageschwankungen 1. Sofern Liniennetze und Zugfolgezeiten modifiziert werden, ist mit einer Ver¨anderung dieses Gebirges in sehr schwer absch¨atzbarer Weise zu rechnen. Die gravierende Ver¨an- derung dieser Nachfrage macht Abb. 3.3 fur¨ ein angenommenes AGT-Szenario (vgl. Ab- schnitt 9.5) mit einer grundhaften Flexibilisierung, wie bei den existierenden automati- schen Bahnen nach Abb. 2.3, deutlich. Die hier skizzierten Gegebenheiten fuhren¨ zu zwei grunds¨atzlichen Schlussfolgerungen:
1. Das durch Abb. 3.1 und Gl. (3.1) beschriebene Optimierungsproblem der nachfrage- orientierten Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes erfordert fur¨ seine L¨osbar- keit einen transparenten Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Angebot und Nachfrage.
1 Die in Abb. 3.2 dargestellten Zahlenwerte wurden mit dem Verfahren VISEVA/VISUM anhand der Kalibrierungsrechnung fur¨ den Analysefall gewonnen (vgl. Abschnitt 9.2).
24 Kapitel 3
Anteil des Tages- Anteil des Tages- höchstwertes höchstwertes (%) (%) 100 100 90 90 80 80 70 70 60 60 50 50 40 40 30 30 20 20 10 10 Schöna Schöna 0 0 6 6 8 Pirna Streckenverlauf 8 Pirna Streckenverlauf 10 10 12 Heidenau 12 Heidenau 14 Dresden Hbf 14 Dresden Hbf 16 Dresden-Neustadt 16 Dresden-Neustadt 18 Coswig 18 Stunde des Tages, t 2022 Stunde des Tages, t 2022 Coswig 24 Meißen 24 Meißen (a) Fahrtrichtung von Meißen nach Sch¨ona (b) Fahrtrichtung von Sch¨ona nach Meißen
Anteil des Tages- höchstwertes (%) Fahrt von Meißen nach Schöna 100 Fahrt von Schöna nach Meißen 90
80
70
60
50
40
30
20
10 Schöna 0 6 8 Pirna Streckenverlauf 10 Heidenau 12 14 Dresden Hbf 16 Dresden-Neustadt 18 20 Coswig Stunde des Tages, t 22 24 Meißen (c) beide Fahrtrichtungen uberlagert¨
Abb. 3.2: R¨aumlich-zeitliche Auspr¨agung des Verkehrsaufkommens der Dresdner S-Bahn-Linie S1 fur¨ den Analysefall (Werte normiert auf Maximalwert des AGT-Falls, vgl. Kapitel 9)
25 Kapitel 3
Anteil des Tages- Anteil des Tages- höchstwertes höchstwertes (%) Tageshöchstwert: 100 (%) 100 Frühspitze 06:00 - 07:00 Dresden-Strehlen nach Dresden Hbf 90 90 80 80 70 70 60 60 50 50 40 40 30 30 20 20 10 10 Schöna Schöna 0 0 6 8 Streckenverlauf, x 6 Streckenverlauf, x 10 Pirna 8 Pirna 12 Heidenau 10 Heidenau 14 1214 16 Dresden Hbf 16 Dresden Hbf 18 Dresden-Neustadt Dresden-Neustadt 20 18 Stunde des Tages, t 22 Coswig 2022 Coswig 24 Meißen Stunde des Tages, t 24 Meißen (a) Fahrtrichtung von Meißen nach Sch¨ona (b) Fahrtrichtung von Sch¨ona nach Meißen
Anteil des Tages- höchstwertes (%) Fahrt von Meißen nach Schöna 100 Fahrt von Schöna nach Meißen
90
80
70
60
50
40
30
20
10 Schöna 0 6 8 Pirna Streckenverlauf, x 10 12 Heidenau 14 Dresden Hbf 16 18 Dresden-Neustadt 20 Coswig Stunde des Tages, t 22 24 Meißen (c) beide Fahrtrichtungen uberlagert¨
Abb. 3.3: R¨aumlich-zeitliche Auspr¨agung des Verkehrsaufkommens der Dresdner S-Bahn-Linie S1 im AGT-Fall (vgl. Kapitel 9)
26 Kapitel 3
2. Dieser Zusammenhang muss allerdings so einfach wie m¨oglich sein, damit eine explizi- te L¨osung der Optimierungsaufgabe gelingen kann. Nur dann l¨asst sich der iterative Prozess (Ruckkopplung)¨ nach Abb. 3.1 umgehen und das vorliegende Henne-Ei- Problem l¨osen.
Das Anliegen der nachfolgenden Schrifttumsanalyse besteht darin zu uberpr¨ ufen,¨ ob Methoden verfugbar¨ sind, die eine solche Aufgabe zu l¨osen verm¨ogen oder ob zumindest auf L¨osungsans¨atze zuruckgegriffen¨ werden kann. Abb. 3.4 verdeutlicht, dass hierbei vier Aspekte im Vordergrund stehen.
1. Welche Optimierungskriterien wurden bisher genutzt? Insbesondere ist zu prufen,¨ ob eine Maximierung des Verkehrswirkungsgrades η nach Gl. (3.1) schon einmal erfolg- reich praktiziert oder angestrebt wurde.
2. Fand in den bisherigen Arbeiten die durch Abb. 3.1 veranschaulichte Ruckkopplungs-¨ beziehung zwischen Angebot und Nachfrage Beachtung?
3. Gibt es Verfahren, die unter Berucksichtigung¨ dieses Ruckkopplungseffektes¨ eine ex- plizite L¨osung des Optimierungsproblems und damit die notwendige Operationali- sierung (beispielsweise im Sinne angebotener und nachgefragter Pl¨atze) gestatten.
4. In welchem Umfang werden bei der Bemessung des Bef¨orderungsangebotes die zeit- lichen und r¨aumlichen Schwankungen der Verkehrsnachfrage einbezogen?
Beachtung der tageszeitlichen und räumlichen Nachfrageschwankungen
Kriterien für die Reaktion der Bemessung des Nachfrage auf Beförderungs- Angebots- angebotes änderungen - Rückkopplung
explizite Anpassung des Angebotes an die Nachfrage - Operationalisierung ?
Abb. 3.4: Aspekte der Bemessung des Bef¨orderungsangebotes
27 Kapitel 3
3.2 Nutzung des Verkehrswirkungsgrades als Optimierungskriterium
Bereits vor 50 Jahren hat Lehner in [112,113] auf die hohe wirtschaftliche Bedeutung einer angemessenen Fahrzeugauslastung (von ihm erstmals als Wirkungsgrad bezeichnet) hinge- wiesen. Er nennt dabei auch den wechselseitigen Zusammenhang zwischen der Fahrzeug- auslastung einerseits und dem Verkehrsaufkommen, der Fahrzeuggr¨oße, der erforderlichen Zugfolgezeit, die ihrerseits wiederum das Verkehrsaufkommen beeinflussen kann und der Betriebsdauer andererseits. Zur eindeutigen Beurteilung der Verkehrsmittelbeanspruchung durch die Fahrg¨aste wird man daher immer nur den Wirkungsgrad, also die Platzausnut- zung, verwenden k¨onnen. Dabei fuhrt¨ Lehner in [113] auch aus, dass fur¨ eine wirtschaftli- che Verkehrsbedienung das Platzangebot m¨oglichst niedrig zu halten ist. Die Mittel hierzu sind u.a: Verkurzung¨ der Betriebsdauer (kein Betrieb in aufkommensschwachen Zeiten), Vergr¨oßerung der Zugfolgezeit und die Wahl der richtigen Fahrzeuggr¨oße. Lehner gibt jedoch auch zu bedenken, dass eine Vergr¨oßerung der Zugfolgezeit oftmals nachfragehem- mend wirkt, sodass letztlich ein Kompromiss bei der Wahl der Systemparameter gefunden werden muss. Speziell in Bezug auf moderne Stadtschnellbahnen merkt Schade in [168] an, dass deren Attraktivit¨at in Hinblick auf die Bef¨orderungskapazit¨at (Leistungsf¨ahigkeit) und die Geschwindigkeit unbestritten ist, jedoch oftmals der erreichbare Auslastungsgrad und da- mit die Wirtschaftlichkeit aus den Augen verloren wird. In seiner Arbeit [168] aus dem Jahre 1984 fordert er daher die Schaffung von Schnellbahnsystemen mit angemessener Leistungsf¨ahigkeit gerade fur¨ mittlere Ballungsr¨aume, um den Betrieb kostengunstiger¨ ge- stalten zu k¨onnen. W¨ahrend die Umsetzung dieser Forderung in Gestalt des franz¨osischen VAL-Systems (vgl. Kapitel 2) als sehr erfolgreich angesehen werden kann, besteht fur¨ die deutschen S-Bahn-Netze mittlerer Ballungsr¨aume jedoch nach wie vor grunds¨atzlicher Ver- besserungsbedarf (vgl. Kapitel 1). Ein mehrkriterieller Ansatz zur Bestimmung eines optimalen Liniennetzes, bei dem die Fahrzeuganzahl als ein Kriterium und die Bef¨orderungszeit der Fahrg¨aste sowie die Fahr- zeugauslastung (im Sinne ungenutzter Pl¨atze) als weitere Kriterien berucksichtigt¨ werden, wird von Ceder in [29] vorgeschlagen. Als gultige¨ L¨osung wird eine Kompromissvariante vorgeschlagen, die alle drei Kriterien wichtet. Die Fahrtenh¨aufigkeit jeder einzelnen Linie wird dabei so ermittelt, dass die Anzahl der ungenutzten Pl¨atze der eingesetzten Fahrzeuge minimal wird. Die Gr¨oße der eingesetzten Fahrzeuge wird ebenso wie die r¨aumliche Ver- teilung und Menge des Verkehrsaufkommens als konstant angenommen. Dies fuhrt¨ jedoch bei einer Variation der Taktzeit zwangsl¨aufig auf die bereits oben genannten inhaltlichen Widerspruche¨ bezuglich¨ der Ruckkopplung¨ von Angebot und Nachfrage (vgl. Abb. 3.1). Ein Ansatz fur¨ eine Online-Regelung des Stadtschnellbahnbetriebs wird von Große [69] vorgestellt. Dabei werden verschiedene Maßnahmen, wie Anpassung der Zugfolgezeit und Zugl¨ange (Wagenanzahl) hinsichtlich ihres Potenzials zur Erh¨ohung der Platzausnut- zung untersucht. Es wird ein Verfahren vorgestellt und im Simulationsversuch erprobt,
28 Kapitel 3 welches auf einer permanenten Messung und Auswertung der aktuellen Fahrgastzahlen, z.B. durch Ger¨ate in den Fahrzeugen, beruht. Die grunds¨atzliche Flexibilisierung des Be- f¨orderungsangebotes mit dem generellen Ubergang¨ zu kleineren Fahrzeugen wird nicht diskutiert. Die explizite Maximierung des Verkehrswirkungsgrades ist nicht Gegenstand der Betrachtungen. Er wird lediglich im Sinne einer Erfolgskontrolle fur¨ einen Vergleich der simulierten traditionellen und nachfrageorientierten Betriebsregime genutzt. Mit dem Verkehrswirkungsgrad η nach Gl. (1.1) als messbares Kriterium steht eine sehr aussagekr¨aftiger Indikator fur¨ die Beurteilung der Effizienz des Betriebs zur Ver- fugung,¨ der daruber¨ hinaus sehr gut die Unterschiede zwischen der traditionellen und der flexiblen Betriebsfuhrung¨ aufzuzeigen vermag (vgl. Abb. 1.2) und somit fur¨ eine Ver- gleich gut geeignet erscheint. Dieser sehr grunds¨atzliche Indikator, der wie in Kapitel 1 erl¨autert auch als Kosten-Nutzen-Relation aufgefasst werden kann, findet jedoch bisher in Bezug auf die Bewertung des Betriebes kaum Beachtung. Dabei muss selbstverst¨andlich einschr¨ankend angemerkt werden, dass beispielsweise Betreiberkosten fur¨ Investitionen in die Automatisierungstechnik (Streckeninfrastruktur aber auch Fahrzeugausrustung)¨ mit dem Verkehrswirkungsgrad kaum abgebildet werden k¨onnen. Die Betrachtung anhand der Platzausnutzung erhebt daher keinen Anspruch ein Kriterium fur¨ die Wirtschaftlichkeit des Gesamtsystems (beispielsweise im Hinblick auf Lebenszykluskosten) zu sein. Sofern jedoch die Anpassung des Angebotes an die Nachfrage das unmittelbare Ziel der Untersuchungen ist, stellt der Verkehrswirkungsgrad als das Verh¨altnis von genutzten zu angebotenen Pl¨at- zen ein sehr aussagekr¨aftiges Kriterium dar. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Arbeit [138] von Oum et al. hingewiesen, die in sehr umfassender Form die Brauchbarkeit von betrieblichen Indikatoren fur¨ die Bewertung der Effizienz von Schienenverkehrssyste- men behandelt.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass neben den sehr weit zuruckliegenden¨ Arbeiten von LEHNER [112, 113] keine Beitr¨age be- kannt geworden sind, die die Maximierung des Verkehrswirkungs- grades nach Gl. (3.1) als geeignetes Ziel der Optimierung darstellen. Allerdings werden auch von LEHNER Methoden zur L¨osung dieses Optimierungsproblems nicht angegeben. Diese in methodischer Hin- sicht bestehende Lucke¨ soll mit der vorliegenden Arbeit geschlossen werden.
3.3 Berucksichtigung¨ der Ruckkopplung¨ zwischen Angebot und Nachfrage
Um das Bef¨orderungsangebot gezielt an die Verkehrsnachfrage anpassen zu k¨onnen, muss die Wirkung, die das Angebot auf die Nachfrage hat, in einem transparenten Ursache- Wirkungs-Zusammenhang vorausberechenbar sein. Es existiert nach Kenntnis des Autors jedoch bisher kein Ansatz, der einen expliziten funktionalen und vor allem transparenten
29 Kapitel 3
Zusammenhang zwischen der Nachfrage und dem erforderlichen Bef¨orderungsangebot, d.h. den Systemparametern Fahrzeuggr¨oße CV , Zugfolgezeit TS und maximal zul¨assiger Aus- lastungsgrad γ, zu liefern vermag, und gleichzeitig die (nachfragerelevanten) detaillierten raumstrukturellen Rahmenbedingungen des jeweiligen Untersuchungsgebietes berucksich-¨ tigt [54]. In der Literatur finden sich nur vereinzelte Ans¨atze, die einen Zusammenhang zwi- schen der Nachfragemenge und dem Bef¨orderungsangebot (im Speziellen der Zugfolgezeit) darstellen. So werden beispielsweise von Krones¨ in [104] qualitative Uberlegungen¨ zum Verlauf einer Nachfragekurve in Abh¨angigkeit von der Zugfolgezeit angestellt. Ein empi- risch ermittelter Zusammenhang zwischen der Zugfolgezeit und dem Verkehrsaufkommen wird von Hoffler¨ et al. in [75] anhand einer Haushaltsbefragung der Stadt Hamburg dar- gestellt. Beide Beitr¨age schlagen jedoch keine funktionale Form zur Beschreibung dieser Abh¨angigkeit vor.
3.3.1 Nutzung komplexer Simulationsmodelle
Verfugbar¨ sind jedoch hoch entwickelte Simulationsmodelle, mit deren Hilfe fur¨ ein gege- benes Angebot die Verkehrsnachfrage ermittelt werden kann [74, 76, 116, 137, 229]. Diese Simulationssysteme bauen in ihrer Gesamtheit auf einer sehr disaggregierten Modellierung auf. Als Beispiel fur¨ solche Modelle wird auf die Arbeiten von Lohse [116, 171] sowie die Ubersichtsdarstellung¨ von Boyce und Bar-Gera verwiesen [19]. Da die Abbildung eines transparenten Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges jedoch nicht m¨oglich ist, kann eine Anpassung von Angebot und Nachfrage nur in einem langwierigen Iterationsprozess erfolgen [54, 171]. Die im Folgenden skizzierten methodischen Ans¨atze verfolgen zwar vordergrundig¨ kei- ne explizite Anpassung von Angebot und Nachfrage; sie nutzen jedoch zur Ermittlung eines eingeschwungenen Systemzustandes, bei dem eine Angebots¨anderung keine Nachfra- gever¨anderung mehr bewirkt, die angesprochenen komplexen Simulationsmodelle und eine entsprechende iterative Methodik. Ein derartiges Vorgehen wird von Bouma et al. zur Bestimmung eines Liniennetzes des Schienenpersonenfernverkehrs, bei dem die Anzahl der Direktfahrer innerhalb des Netzes maximal sein soll, genutzt [18]. Da bei einer Ver¨anderung des Liniennetzes sich beispiels- weise auch die Reisezeiten ¨andern, kann es zu Verlagerungen der Verkehrsstr¨ome kommen, sodass sich auch die Anzahl der Direktfahrer ¨andert. Der beschriebene Ansatz zur Planung eines Liniennetzes wird daher in Kombination mit einer disaggregierten Verkehrssimulation mehrmals wiederholt. Krista beschreibt ein Verfahren zur Fahrplanoptimierung, bei dem ein Fahrplan mit minimaler Synchronzeitensumme (zwischen verschiedenen Zugen¨ innerhalb eines Knotens auftretende Zeit zur Koordination von Anschlussen)¨ gesucht wird [102]. Die durch den Reisenden in Kauf zu nehmende Synchronzeit (zus¨atzliche Wartezeit) ¨andert sich, sofern der Fahrplan ge¨andert wird, wodurch u.U. wiederum andere Verkehrsbeziehungen (Um-
30 Kapitel 3 steigeverbindungen) bevorzugt werden. Die Fahrgaststr¨ome des optimierten Fahrplans ent- sprechen dann nicht mehr den Fahrgaststr¨omen, die der Fahrplanoptimierung zu Grunde lagen, sodass auf der Basis der neuen Str¨ome eine wiederholte Optimierung n¨otig ist, deren Ergebnis wiederum die Basis fur¨ eine erneute Simulation der Fahrgaststr¨ome bildet. Fur¨ die Planung des grenzuberschreitenden¨ und vertakteten Personenfernverkehrs wird in [85] ein Softwaresystem beschrieben. Das genutzte Nachfragemodell zur Prognose des Verkehrsaufkommens bei gegebenem Verkehrsangebot basiert dabei auf einer zeitlich und r¨aumlich disaggregierten Modellierung der drei Verkehrsarten Schienen-, Luft- und Stra- ßenverkehr. Genutzt wird dieses Modell fur¨ die Wirtschaftlichkeitsberechnung verschie- dener Betriebskonzepte, bei denen sich das Angebot hinsichtlich des Linienverlaufes, der Bedienungsh¨aufigkeit, der Haltepunktfolge der Linien und der durchschnittlichen Fahr- und Haltezeiten unterscheidet. Um bei der Planung des Verkehrsangebotes ein Gleichge- wicht zwischen Angebot und Nachfrage zu erreichen, wird der Planungsprozess in einer iterativen Vorgehensweise entsprechend oft wiederholt, bis eine Anderung¨ des Bef¨orde- rungsangebotes keine wesentliche Anderung¨ der Nachfrage mehr bewirkt. Die Komplexit¨at und nicht zuletzt auch Rechenintensit¨at dieser disaggregierten Model- le erschwert ihren Einsatz in Rahmen von Optimierungsverfahren, die die Ruckkopplung¨ von Angebot und Nachfrage explizit berucksichtigen,¨ jedoch sehr. In den genannten Verfah- ren wird ein expliziter Fahrplan bzw. ein komplettes Betriebsprogramm gesucht und keine prim¨ar strategischen Trenduntersuchungen durchgefuhrt.¨ Damit ist eine Beschr¨ankung auf wenige Varianten m¨oglich. Ein sehr umfassenden Ansatz zur Bestimmung eines optimalen Angebotes im Sinne des Liniennetzes und der Fahrtenh¨aufigkeit beschreibt Lee in [110]. Es wird dabei eine optimale Kombination von Zugen,¨ die an allen Stationen einer Strecke halten (Stop) und Zugen,¨ die bestimmte Stationen nicht bedienen (Express), gesucht (so genannte Express- Stop-Schedules vgl. [11]). Eine derartige Problemstellung l¨asst sich als Netzwerkflusspro- blem l¨osen, bei dem der Fahrgast bestrebt ist, mit minimalen so genannten generalisierten Kosten von einem Start- zu einem Zielort zu gelangen [139]. Die Wirkung des Bef¨orde- rungsangebotes auf die Nachfrage wird durch eine Nachfragefunktion berucksichtigt¨ 2,die das Verkehrsaufkommen in Abh¨angigkeit von den generalisierten Kosten des Fahrgastes bestimmt. Ein direkter Zusammenhang zur Fahrtenh¨aufigkeit wird nicht verwendet. Die Fahrzeuggr¨oße (und damit die zul¨assige Platzausnutzung) fließt nur als Randbedingung, im Sinne einer oberen Grenze, in die Optimierung ein.
3.3.2 Nutzung von Elastizit¨atskennwerten
Ein im Gegensatz zu den sehr komplexen verkehrsplanerischen Simulationsmodellen grund- s¨atzlich vereinfachter Ansatz zur Berucksichtigung¨ der Ruckkopplung¨ zwischen Angebot und Nachfrage ist im Bereich der Verkehrswirtschaftslehre verbreitet. Statt eines konkreten
2 Die Nachfragefunktion selbst wurde unter Nutzung eines verkehrsplanerischen Simulationsmodells gesch¨atzt.
31 Kapitel 3
Angebotsmerkmals, das auf die auf die Nachfrage abgestimmt werden soll, wird anhand so genannter generalisierter Nutzer- und Betreiberkosten ein globales Systemoptimium gesucht. In die generalisierten Kosten fließen kosten¨aquivalente Bewertungen z.B. der An- fangswartezeit (und damit auch der Taktzeit), der Bef¨orderungszeit, der Umsteigewarte- zeit, der Umsteigeh¨aufigkeit, des Bef¨orderungskomforts oder auch des Tarifniveaus ein. Die Abbildung der Reaktion der Nachfrage auf ein ver¨andertes Angebot findet ublicherweise¨ unter Vernachl¨assigung konkreter raum- und netzstruktureller Details – als Ursache fur¨ die Menge und die zeitlich-r¨aumliche Verteilung des Verkehrsaufkommens – statt. Genutzt werden sehr stark vereinfachende Elastizit¨atsans¨atze (Elastizit¨at e) zur Bestimmung einer ver¨anderten Nachfrage N1 bei ver¨anderten generalisierten Kosten G1 (Angebot) [136]: e G1 N1 = N0 · . (3.2) G0
Der Platzausnutzungsgrad (Verkehrswirkungsgrad) kann in diesen Optimierungsver- fahren beliebige Werte annehmen und stellt nur eine Randbedingung im Sinne einer oberen Grenze (Komfortfaktor) dar. Der in [161] beschriebene Ansatz von Rietveld et al. bestimmt eine optimale Fahr- zeuggr¨oße und Taktzeit, bei der die Gesamtkosten des Systems (Summe aus Kosten fur¨ die Wartezeit der Fahrg¨aste und den Betreiberkosten) minimal sind. Dabei werden verschiede- ne Zielstellungen des Betreibers untersucht, die einerseits auf eine reine Gewinnmaximie- rung und andererseits auf eine Maximierung des Nutzens fur¨ das Gemeinwohl ausgerichtet sind. Ein Ansatz zur Bestimmung einer optimalen Fahrzeuggr¨oße wird von Oldfield et al. beschrieben [136]. Oldfield untersucht dabei – ¨ahnlich dem flexiblen Stadtschnellbahnbe- trieb – den Kompromiss zwischen dem Einsatz verh¨altnism¨aßig großer Fahrzeuge, die mit langen Taktzeiten verkehren und den Einsatz kleinerer Fahrzeuge, die entsprechend h¨aufi- ger fahren. Einerseits verursachen kleinere Fahrzeuge h¨ohere Betriebskosten pro angebote- nem Platz als große, aber andererseits sinkt durch ein attraktiveres Bef¨orderungsangebot die Wartezeit (als Kosten¨aquivalent) der Fahrg¨aste. Daraus leitet Oldfield entsprechen- den Optimierungsbedarf ab. In das Gutekriterium¨ fließt die Summe aus den Kosten fur¨ den Betreiber, den generalisierten Kosten der Fahrg¨aste und den externen Kosten ( social ” costs“), die durch Verbesserung oder Verschlechterung des Verkehrssituation (z.B. Stau) fur¨ die Allgemeinheit entstehen, ein. Die tageszeitlichen Schwankungen der Verkehrsnachfrage bleiben bei diesem Ansatz unberucksichtigt.¨ Eine Modifikation der Taktzeit im Tagesver- lauf wird nicht unterstellt. Chien et al. behandeln in [31] die Bestimmung der optimalen Taktzeit, des Fahrprei- ses und der r¨aumliche Gestaltung eines Liniennetzes (Netzdichte). Dieser Ansatz verfolgt dabei eine st¨arkere r¨aumliche Differenzierung des Untersuchungsgebietes (kleinr¨aumliche Einteilung in einzelne Bezirke und differenzierte Betrachtung der Charakteristika dieser Be- zirke z.B. Nachfragemenge, Raumnutzung, Reisegeschwindigkeit zwischen Bezirken). Die optimale Bestimmung der Taktzeit erfolgt ausschließlich anhand der Kostenbetrachtung.
32 Kapitel 3
Die Kapazit¨at, die sich bei Einsatz einer gegebenen Fahrzeuggr¨oße mit dieser Taktzeit erbringen l¨asst, wird im Rahmen der Optimierung nicht direkt der erforderlichen Kapazi- t¨at gegenuber¨ gestellt. Erst in einem nachfolgenden Schritt wird lediglich die Einhaltung einer maximalen Fahrzeugauslastung gepruft¨ und ggf. die Taktzeit (mit Abweichung vom optimalen Wert) korrigiert. Durch die Beachtung der r¨aumlichen Schwankung des Ver- kehrsaufkommens im gesamten Gebiet und die Wahl eines entsprechenden Netzes wird den r¨aumlichen Schwankungen im weiteren Sinne entsprochen. Zur Beantwortung der eingangs gestellten Kernfrage ist die Abbildung der wechsel- seitigen Wirkung von Angebot und Nachfrage unabdingbare Voraussetzung. Neben den komplexen verkehrsplanerischen Simulationsmodellen , die eine Wirkungsabsch¨atzung nur mit einem hohen Zeit- und Mittelaufwand erlauben, existieren sehr globale Ans¨atze aus der Verkehrswirtschaftslehre, die jedoch auf Grund der reinen Kostenbetrachtung die tech- nischen Details oftmals nur unangemessen berucksichtigten¨ (vgl. Abb. 3.5).
objektkonkreter verkehrsplanerische Bezug komplexe Simulations- hoch modelle räumlich-zeitliche Differenziertheit der Nachfragestruktur Problemlösung nur mit zeitaufwendigem Iterationszyklus, umfangreiche erforderliche Datenbasis niedrig hoch Zeit- und Mittelaufwand
Elastizitäts- ansätze einfaches Rechenverfahren, geringer Datenaufwand starke Abstraktion; keine Abbildung der Raum- und Verkehrsnetzstruktur niedrig ungenügende Beachtung technischer Details zu Gunsten einer reinen Kostenbetrachtung
Abb. 3.5: Zeit- und Mittelaufwand sowie Wirklichkeitsn¨ahe bei Komplexmodellen und Elastizi- t¨atsans¨atzen
Zusammenfassend kann damit festgestellt werden, dass auch in dieser Hinsicht eine methodische Lucke¨ besteht, zu deren Schließung diese Arbeit beitragen will.
3.4 Beachtung zeitlicher und r¨aumlicher Nachfrageschwankungen
Eine Methodologie fur¨ den Entwurf eines Fahrplanes einer einzelnen U-Bahn-Linie wird von Cury et al. in [35] beschrieben. Durch optimale Wahl der Zugfolgezeit, der Halte- zeit und der maximalen Zugauslastung wird unter detaillierter analytischer Modellierung der Fahrgastankunfte¨ in jeder einzelnen Station, der Zugbesetzung, des Fahrgastein- und -ausstiegsvorganges sowie den Zugbewegungen ein komplexes nichtlineares Gutekriterium¨
33 Kapitel 3 minimiert. Es enth¨alt die Wartezeit der Fahrg¨aste, die Fahrzeit, die erforderliche Zugan- zahl und der Abweichung der Ist- von der Soll-Anzahl der Fahrg¨aste pro Zug. Diesem Ansatz liegt vor allem die zeitliche Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes innerhalb der Hauptverkehrszeit durch Optimierung der Zugfolgezeit zu Grunde. Die r¨aumlichen Schwankungen entlang der Linie werden nicht beachtet. Eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes wird von Assis et al. [12] beschrieben, wo- bei die Aufkommensschwankungen des gesamten Tages Berucksichtigung¨ finden. Um den Rechenaufwand des nichtlinearen Modells zu verringern und damit seine Anwendbarkeit unter Echtzeitbedingungen zu erm¨oglichen, werden die Gutefunktion¨ linearisiert und die Fahrzeuganzahl nicht mehr berucksichtigt.¨ Schwerpunkt dieses modifizierten Ansatzes bil- det genau genommen nicht der Entwurf eines tageszeitlich flexiblen Bef¨orderungsangebotes sondern die ad hoc Reaktion des Betriebs (Disposition) auf unerwartete Schwankungen des Fahrgastaufkommens. Lozano et al. schlagen in [117] einen Ansatz zur Aufstellung eines Fahrplanes vor, bei dem unter genauer Kenntnis der Ankunftszeiten der Fahrg¨aste an der Haltestelle die Anfangswartezeit minimiert wird. Um diese Minimierung zu erreichen, sind die Abfahrts- zeiten aufeinander folgender Fahrzeuge (und damit indirekt die Taktzeiten) entsprechend anzupassen. Fur¨ eine vorgegebene Anzahl von Fahrten pro Tag wird dann eine optimale Aufteilung dieser Fahrten auf die einzelnen Stunden des Tages gesucht, wobei der Algo- rithmus mehr Fahrten zur Hauptverkehrszeit (kurze Taktzeit) und weniger Fahrten zur Nebenverkehrszeit (l¨angere Taktzeit) anordnet. Die Fahrzeuggr¨oße wird als unendlich an- gesehen. Ahnliche¨ Ans¨atze, die zus¨atzlich noch die notwendige Fahrzeuganzahl berucksich-¨ tigen, werden von de Palma et al. [140] und Mekkaoui [121] beschrieben. Jansson entwirft in [89] ein Modell, bei dem eine Unterscheidung in zwei Tagesklas- sen (Haupt- und Nebenverkehrszeit) stattfindet. Durch optimale Wahl der Fahrzeuggr¨oße und der Taktzeit wird eine Gesamtminimum generalisierter Nutzer- und Betreiberkosten gesucht (vgl. Abschnitt 3.3.2). Optimierungsans¨atze, die die r¨aumliche Schwankung des Fahrgastaufkommens beach- ten, fuhren¨ Ceder [26–28] und Salzborn [164, 165] ein. Einzelne Fahrten eines gege- benen Fahrplans werden zu Kurzfahrten, die nicht den gesamten Linienverlauf bedienen, modifiziert. Durch diese Verkurzung¨ einzelner Fahrten, deren Bef¨orderungsangebot in den schw¨acher ausgelasteten Teilen einer Linie (vor allem in der N¨ahe des Linienendes) nicht ben¨otigt wird, gelingt es die erforderliche Fahrzeuganzahl zu reduzieren. An dieser Stelle ist das Verfahren [26] allerdings nicht konsequent, weil nicht die Reduzierung der unn¨otigen Betriebsleistung (Platzkm), sondern allein die Minimierung der Fahrzeuganzahl betrach- tet wird. Sollte die ermittelte Fahrzeuganzahl bei der Einfuhrung¨ von Kurzfahrten nicht kleiner sein als die des ursprunglichen¨ Fahrplanes, wird der Fahrplan ohne Kurzfahrten verwendet.
34 Kapitel 3
Als r¨aumliche Anpassung des Bef¨orderungsangebotes im weiteren Sinne kann man die Bestimmung eines Liniennetzes und der zu jeder Linie geh¨orenden Fahrzeugfolgezeit (Takt- zeit) auffassen. Im Gegensatz zur r¨aumlichen Uberlagerung¨ mehrerer Linien nach Abb. 2.4 wird dabei naturlich¨ das Bef¨orderungsangebot in einem Gesamtnetz variiert. Ein sehr umfangreiches Betriebsplanungsmodell wird von Hu et al. vorgeschlagen [80]. Dabei werden die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Zuge¨ sowie die Taktzeit auf den ein- zelnen Linien in optimaler Weise bestimmt. Als Kriterium finden sowohl die Maximierung des Fahrgastnutzens in Form der Wartezeit vor Fahrtantritt, der Umsteigewartezeit und der Bef¨orderungszeit als auch die Minimierung der Betreiberkosten in Form von kilometer- abh¨angigen Kosten Verwendung. Die Fahrzeuggr¨oße wird in diesem Ansatz vernachl¨assigt, wodurch allerdings der Einsatz kleiner Zuge¨ kostenm¨aßig dem Einsatz großer Zuge¨ gleich- gesetzt wird. Jara-Diaz und Gschwender besch¨aftigen sich in [90] mit dem Einfluss der Linien- netzstruktur auf Fahrzeuganzahl und Taktzeit. Dabei wird unterschieden zwischen einem umsteigefreien Liniennetz (Verbindung jeder Quelle-Ziel-Relation) und einzelnen Korri- dorlinien, die nur die wichtigsten Quellen und Ziele direkt verbinden, so dass zwangsl¨aufig umgestiegen werden muss. Sie kommen zu dem Schluss, dass eine pauschale Aussage hin- sichtlich der zu bevorzugenden Netzstruktur und damit der r¨aumlichen Nachfrageanpas- sung nicht m¨oglich ist. Insbesondere h¨angt die Angebotsstruktur von der Bewertung der Wartezeit und der Bef¨orderungszeit durch den Fahrgast sowie der r¨aumlichen Verteilung und der Menge der Nachfrage ab. Von Claessens et al. wird in [33] ein Ansatz zur Linienplanung des Schienenperso- nenfernverkehrs beschrieben. Dieser Ansatz soll dabei im Gegensatz zur klassischen Vor- gehensweise der Maximierung der Direktfahrer (vgl. [18]) eine explizite Minimierung der Betriebskosten erreichen. Dabei wird die Platzanzahl des Zuges durch die Variation der Zugl¨ange (Anzahl eingesetzter Wagen) auf jeder einzelnen Linie entsprechend der r¨aumli- chen Verteilung der Fahrg¨aste im Netz variiert. Fur¨ den Entwurf eines optimalen Liniennetzes schl¨agt Petrelli in [144] einen Op- timierungsansatz vor, der sowohl das optimale Liniennetz, die notwendige Taktzeit der Linien als auch die Fahrzeuggr¨oße bestimmt. Als Randbedingungen fließen dabei die mi- nimal und maximal zul¨assige Taktzeit sowie der maximal zul¨assige Auslastungsgrad der Fahrzeuge ein. Da die Taktzeiten durch die Optimierung modifiziert werden, erscheint die Verwendung einer festen Nachfrage aus bereits oben genannten Grunden¨ nicht zul¨assig.
35 Kapitel 3
3.5 Fazit und Pr¨azisierung der Aufgabenstellung
Die durchgefuhrte¨ Analyse, deren Ergebnisse in Tab. 3.1 auf der n¨achsten Seite zusammen- gefasst sind, fuhrt¨ hinsichtlich der betrachteten Schwerpunkte nach Abb. 3.4 zu folgenden Erkenntnissen:
1. Ein methodischer Ansatz zur expliziten die Maximierung des Verkehrswirkungsgra- des ist bisher nicht bekannt geworden. Daruber¨ hinaus findet der Verkehrswirkungs- grad bei der Bewertung der betrieblichen Effizienz kaum Anwendung.
2. Ein Ansatz zur direkten Berucksichtigung¨ der Ruckkopplung¨ zwischen Angebot und Nachfrage existiert – mit Ausnahme der sehr stark vereinfachenden Elastizit¨atenan- s¨atze – nicht.
3. Dies betrifft auch die Verfugbarkeit¨ von Verfahren zur expliziten Anpassung des Be- f¨orderungsangebotes an die tageszeitlichen und r¨aumlichen Nachfrageschwankungen.
4. Die Platzausnutzung stellt bei bekannt gewordenen Planungsverfahren lediglich eine Randbedingung im Sinne einer oberen Grenze dar, die in die Optimierung einfließt ohne selbst das Kriterium zu sein.
5. In keinem der methodischen Ans¨atze wird explizit auf die r¨aumliche Flexibilisierung zur Einsparung von Betriebsleistung (Platzkm) eingegangen. Stattdessen wird als prim¨ares Ziel dieser Vorgehensweise die Minimierung der erforderlichen Fahrzeugan- zahl genannt. Die M¨oglichkeit der r¨aumlichen Reduktion des Bef¨orderungsangebotes wird somit nur indirekt genutzt, ohne selbst Ziel der Optimierung zu sein.
6. Die Bedeutung der Fahrzeuggr¨oße wird in der Mehrzahl der Optimierungs- und Be- messungsans¨atze von ingenieurtechnischer Seite unterbewertet, indem entweder
(a) die Fahrzeuggr¨oße in der Regel fest vorgegeben ist, (b) der Einfluss einer variablen Fahrzeuggr¨oße auf Kosten im weitesten Sinne keine Berucksichtigung¨ findet oder (c) die Fahrzeuggr¨oße uberhaupt¨ nicht einfließt.
Nachfolgend soll ein neues Verfahren vorgestellt werden, um die hier identifizierten methodischen Lucken¨ zu schließen. Die dabei gew¨ahlte Vorgehensweise wird im folgenden Kapitel erl¨autert.
36 Kapitel 3
Tab. 3.1: Ubersichtsdarstellung¨ des internationalen Entwicklungsstandes atsansatz ¨ oße ¨ ¨ uckkopplung von aumlich¨ flexibel Angebot und Nachfrage Ansatz R explizite Anpassung von Angebot und Nachfrage zeitlich flexibel r Optimierung der Fahrzeuggr Nachfragemodellierung mit Komplexmodell Nachfragemodellierung mit Elastizit Optimierungskriterium Schwerpunkt technisch-technologisch orientiert Assis [12] X Fahrgastwartezeit, Fahrzeit, Soll-Ist-Zugauslastung Bouma [18] X X ∗ X Anzahl der Direktfahrer Ceder [26–28] X Fahrzeuganzahl, Fahrgastwartezeit [29] X Fahrzeuganzahl, Bef¨orderungszeit, Platzausnutzung Claessens [33] X ∗ X Betriebskosten Cury [35] X Fahrgastwartezeit, Fahrzeuganzahl, Soll-Ist-Zugauslastung Grosse [69] X X Soll-Ist-Zugauslastung Hu [80] X ∗ Fahrleistung, Wartezeit, Bef¨orderungszeit, Ubergangswartezeit¨ Intraplan [85] X k.A. † X Betriebskosten Krista [102] X X ∗ X Synchronzeitensumme Lee [110] X X ∗ X Fahrzeit, Wartezeit, Fahrpreis, Komfort und Betreiberkosten Lozano [117] X Fahrgastwartezeit Mekkaoui [121] X Fahrgastwartezeit, Fahrzeuganzahl de Palma [140] X Fahrgastwartezeit Petrelli [144] X ∗ X Fahrleistung, Einsatzzeit, Fahrzeit, Wartezeit, Umsteigevorg¨ange Salzborn [165] X Fahrzeuganzahl Schwerpunkt betriebswirtschaftlich orientiert (generalisiertes Gesamtkostenminimum) Chien [31] X X ∗ X Gewinn fur¨ Betreiber und Gemeinwohl Jansson [89] X ∗ X Betreiberkosten, Wartezeit, Fahrzeit Jara-Diaz [90] X ∗ Betreiberkosten, Wartezeit, Fahrzeit Oldfield [136] X X X Beteiber- und Nutzerkosten, externe Kosten Rietveld [161] X X X Wartezeit, Betreiberkosten
∗ im weiteren Sinne, d.h. r¨aumlich differenziertes Liniennetz aber keine Verst¨arkerlinien † keine exakten Angaben verfugbar¨
37 Teil II
EIN NEUES VERFAHREN ZUR NACHFRAGEABHANGIGEN¨ OPTIMIERUNG DES VERKEHRSANGEBOTES FLEXIBLER STADTSCHNELLBAHNEN – NOVAflex-S Kapitel 4
Das vorgeschlagene L¨osungskonzept
Die nachfrageorientierte Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes verlangt – wie in Ab- schnitt 3.1 hervorgehoben – die Verfugbarkeit¨ transparenter Ursache-Wirkungs-Zusam- menh¨ange zwischen dem Bef¨orderungsangebot, abh¨angig von der Zugfolgezeit TS(t)zur
Stunde t, sowie der Fahrzeugkapazit¨at CV und der daraus resultierenden Verkehrsnach- frage. Die Verkehrsnachfrage kann dabei beispielsweise durch die Verkehrsstromst¨arke
VAS(t, TS,x) am aufkommensst¨arksten Streckenabschnitt x = µ beschrieben werden, wo- bei zu beachten ist, dass sie selbst wiederum von der Zugfolgezeit TS(t)abh¨angt. Abb. 4.1 verdeutlicht die Verkehrsstromst¨arke am stark vereinfachten Beispiel einer Durchmesserli- nie, dem durchaus große praktische Bedeutung zukommt: Die meisten in Betrieb befindli- chen AGT-Systeme wurden zun¨achst in dieser Form geschaffen (vgl. Systeme in Lille [49], Rennes [83], Toulouse [108], Kuala Lumpur [128] und Vancouver [232]). In einer Reihe von praktischen Anwendungsf¨allen erscheint die Approximation nach Abb. 4.1 auch dann zul¨assig, wenn innerhalb eines gesamten S-Bahn-Netzes eine einzelne dominierende Linie mit wesentlich schw¨acher ausgelasteten Linien verknupft¨ ist. Dies kann – zumindest in grober N¨aherung – fur¨ das Dresdner S-Bahn-System gelten, wo die Elbtal- Linie S1 zwischen Meißen – Dresden – Sch¨ona als dominierend angesehen werden kann (vgl. Abb. 4.2). Beim Entwurf eines nachfrageorientierten Betriebsprogrammes fur¨ ein S-Bahn-System nach Abb. 4.1 ist man mit dem bereits angesprochenen Henne-Ei-Problem nach Abb. 3.1 konfrontiert:
1. Zur Bestimmung der Zugfolgezeiten TS(t) ist die Kenntnis der Verkehrsstromst¨arke
VAS(t, TS,x) notwendig.
2. Die Verkehrsstromst¨arke VAS(t, TS ,x)h¨angt jedoch ihrerseits wiederum von der Zug-
folgezeit TS(t) ab, d.h. sie ¨andert sich, sofern die Zugfolgezeit TS(t)ge¨andert wird.
Eine explizite L¨osung der Flexibilisierungsaufgabe ist deshalb unmittelbar an die L¨os- barkeit der nachfolgend definierten Optimierungsaufgabe gekoppelt.
39 Kapitel 4
x-µ 2 - 1 VAS(t,x) 2 ( σ ) = e VA (t,µ) 1,0 S 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1
-3,0 -2,5 -2,0 -1,5 -1,0 -0,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 x LS (a) beispielhafte Approximation der r¨aumlichen Anderung¨ der Verkehrsstromst¨arke durch eine Normalverteilung (standar- disiert, µ =0,σ =1)
Region Stadtzentrum
VAG(t) x x=µ VAS(t,x) LS
(b) Stadtschnellbahnstrecke in Form einer Durchmesserlinie
Abb. 4.1: Prinzipdarstellung der r¨aumlichen Schwankungen der Verkehrsstromst¨arke VAS (t, x) entlang einer Stadtschnellbahnstrecke
4.1 Die Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes als Optimierungsaufgabe
Das Ziel einer wirtschaftlichen Bemessung des Bef¨orderungsangebotes besteht in einer m¨oglichst hohen Ausnutzung der eingesetzten Platzkapazit¨at. Durch die Flexibilisierung des Bef¨orderungsangebotes soll das von der Zugkapazit¨at CV (gemessen in der Zahl der
Sitz- und Stehpl¨atze pro Zug) und der Zugfolgezeit TS(t)abh¨angende Bef¨orderungsangebot C V 3 VAGmax(t)= · 0, 06 [VAGmax]=10 Pl¨atze / Stunde und Richtung (4.1) TS(t) bestm¨oglich der tageszeitabh¨angig stark schwankenden Verkehrsnachfrage angepasst wer- den. Aus dem Bef¨orderungsangebot VAGmax folgt unter Berucksichtigung¨ der Streckenl¨an- ge LS unmittelbar die stundlich¨ angebotene Betriebsleistung (fur¨ beide Fahrtrichtungen):
CV · 0, 06 bl(t, TS )=2· LS · , (4.2) TS(t)
40 Kapitel 4
S1 Meißen - Dresden Hbf - Schöna Meißen Meißen S Mitte S
S Neusörnewitz Meißen S Triebischtal Dresden Dresden S2 Flughafen - Dresden Hbf (- Heidenau) Radebeul Grenzstr. Flughafen S S Zitschewig S Coswig S S S Radebeul-Weintraube Dresden Radebeul-West S S Klotzsche Radebeul-Ost S Dresden-Trachau S DresdenIndustriegelände S Dresden-Pieschen S DresdenBischofsplatz S Dresden Neustadt Dresden-Mitte S Dresden-FreibergerStr. S Dresden Hbf S DresdenStrehlen Freital S S Dresden DresdenReick Potschappel S S Plauen S DresdenDobritz Freital- S DresdenNiedersedlitz Hainsberg Freital S S Deuben S DresdenZschachwitz S S Tharandt S Heidenau Hainsberg West Heidenau Süd S Pirna Stadt S Heidenau Großsedlitz S Wehlen Kurort Rathen S3 Dresden Hbf - Tharandt S S Obervogelgesang S
Bad Schandau S S Krippen Königstein S
Schmilka Hirschmühle S Schöna S
Abb. 4.2: S-Bahn-Netz im Ballungsraum Dresden – Oberes Elbtal mit der dominierenden Elbtal- Linie S1 (einschließlich geplanter neuer Haltepunkte bis zum Jahr 2010) wobei durch Summation der stundlichen¨ Werte fur¨ die t¨agliche Betriebsleistung gilt: